Der Wille als Ursache: Zum Verhältnis von Natur und Moral in spekulativer und praktischer Hinsicht bei Kant 349599324X, 9783495993248

Der Beweis der Willensfreiheit bildet nach Kant den „Schlussstein“ eines kohärenten Systems der theoretischen und prakti

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Der Wille als Ursache: Zum Verhältnis von Natur und Moral in spekulativer und praktischer Hinsicht bei Kant
 349599324X, 9783495993248

Table of contents :
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Vorbemerkungen
Einleitung
Teil 1 Ursache und Gesetz
I. Ursachen in der Natur
§ 1. Notwendigkeit im Zusammenhang der Naturereignisse
§ 1.1 Hume zum Problem der Kausalität und Kants Antwort
1.1.1 Die Humesche Gabel
1.1.2 »Schranken« zu »Grenzen« der Erkenntnis erweitern
§ 1.2 Kausalität und die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung
§ 2. Notwendigkeit in der Ursache
§ 3. Exkurs: Kants Erwachen und Humes »Funkenschlag«
i. Ergebnis des ersten Kapitels
II. Von der Ursache zum Grund
§ 4. Zum Verhältnis von Natur und Freiheit
§ 4.1 »Überschreitung von Schranken«
§ 4.2 Die dritte Antinomie und ihre Beweise
4.2.1 Der Beweis der Thesis
4.2.2 Der Beweis der Antithesis
4.2.3 Der Gegenstand der Auseinandersetzung
§ 5. Auflösung der dritten Antinomie
§ 5.1 Unterscheidung in dynamische und mathematische Antinomien
§ 5.2 Die zwei Charaktere der Ursache
§ 5.3 Ursachenbestimmung und Handlungsbegründung
§ 6. Exkurs: Praktische und transzendentale Freiheit im »Kanon«
ii. Ergebnis des zweiten Kapitels
Teil 2 Wille und Gesetz
III. Der reine Wille
§ 7. Die Bestimmung des reinen Willens
§ 7.1 Das Verhältnis von Wille und Vernunft
7.1.1 Hume zur Unabhängigkeit von Vernunft und Wille
7.1.2 Der Wille als praktische Vernunft
§ 7.2 Deduktion des reinen Willens in ›Grundlegung III‹
7.2.1 Autonomie des Willens
7.2.2 Notwendige Annahme eines freien Willens
§ 7.3 Der Zirkel
7.3.1 Freiheit und Gesetz als »Wechselbegriffe«
7.3.2 Das Sollen des reinen Willens
§ 8. »causa noumenon« in der ›Kritik der praktischen Vernunft‹
§ 8.1 Die praktische Erweiterung des Ursachenbegriffs
§ 8.2 Das »Faktum« der praktischen Notwendigkeit
iii. Ergebnis des dritten Kapitels
IV. Handlung und Moral
§ 9. Zurechnung von Handlungen
§ 9.1 Zur moralischen Verantwortung bei Hume
§ 9.2 Der moralische Wert einer Handlung bei Kant
§ 10. Reflexion und Täuschung über die eigenen Handlungsgründe
§ 10.1 Kontrafaktische Selbstreflexion
§ 10.2 Möglichkeit der Selbsttäuschung
§ 10.3 Zurechnung böser Handlungen und das Reinhold-Problem
iv. Ergebnis des vierten Kapitels
V. Fazit: Autonomie und Authentizität
§ 11. Was soll ich tun?
§ 12. Wer will ich sein?
Literatur

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Praktische Philosophie

Eytan Celik

Der Wille als Ursache Zum Verhältnis von Natur und Moral in spekulativer und praktischer Hinsicht bei Kant

https://doi.org/10.5771/9783495993255

101

https://doi.org/10.5771/9783495993255

Praktische Philosophie Herausgegeben von Christoph Horn Axel Hutter Karl-Heinz Nusser Bert Heinrichs Band 101

https://doi.org/10.5771/9783495993255

Eytan Celik

Der Wille als Ursache Zum Verhältnis von Natur und Moral in spekulativer und praktischer Hinsicht bei Kant

https://doi.org/10.5771/9783495993255

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Diss., Bayreuth, Univ., 2023 ISBN 978-3-495-99324-8 (Print) ISBN 978-3-495-99325-5 (ePDF)

1. Auflage 2024 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2024. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495993255

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Januar 2023 der Kulturwissen‐ schaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth als Dissertation vor‐ gelegt und am 17. Mai 2023 von ihr angenommen. Diese Arbeit erhielt eine finanzielle Unterstützung durch ein Promotionsstipen‐ dium der Friedrich-Ebert-Stiftung sowie durch das Projekt Chan‐ cengleichheit der Universität Bayreuth. Begutachtet wurde die Arbeit von Alice Pinheiro Walla als Erst‐ gutachterin und von Jens Timmermann als Zweitgutachter, denen ich an dieser Stelle für ihre wertvolle Betreuung und Expertise wäh‐ rend des gesamten Prozesses danken möchte. Alice Pinheiro Walla hat mich als Doktormutter nicht nur intellektuell gefordert, sondern als Mentorin auch persönlich gefördert und unterstützt, wofür ich ihr zu Dank verpflichtet bin. Jens Timmermann danke ich darüber hinaus für die Möglichkeit eines Forschungsaufenthalts an der Uni‐ versity of St. Andrews. Es sind seine kritischen Anmerkungen, Hin‐ weise und die gemeinsamen Diskussionen gewesen, durch die diese Arbeit gewachsen ist. Meinem akademischen Lehrer, Bernd Ludwig, bin ich für den Austausch und seine kritischen Kommentare zu vielen Teilen dieser Arbeit ebenso zu Dank verpflichtet wie für die Möglichkeit, den Fortschritt dieser Arbeit im Göttinger Oberseminar präsentieren zu dürfen. In diesem Zusammenhang möchte ich mich bei allen Teilnehmer*innen des Göttinger Oberseminars und im Besonderen bei Andreas Brandt und Stefan Klingner für den konstruktiven Aus‐ tausch und ihre kritischen Anmerkungen bedanken. Heiner Klemme und Monika Betzler danke ich für die Möglichkeit, Ausschnitte aus dieser Arbeit für die Diskussion in ihren jeweiligen Kolloquien zur Verfügung zu stellen. Schließlich danke ich meiner Familie und den vielen Menschen, die diese Arbeit inhaltlich und freundschaftlich begleitet und unter‐ stützt haben.

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Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil 1 Ursache und Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Ursachen in der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

§ 1. Notwendigkeit im Zusammenhang der Naturereignisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 1.1 Hume zum Problem der Kausalität und Kants Antwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Die Humesche Gabel . . . . . . . . . . . . 1.1.2 »Schranken« zu »Grenzen« der Erkenntnis erweitern . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 1.2 Kausalität und die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 2. Notwendigkeit in der Ursache . . . . . . . . . . . . . .

56

§ 3. Exkurs: Kants Erwachen und Humes »Funkenschlag« .

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i.

Ergebnis des ersten Kapitels . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Von der Ursache zum Grund . . . . . . . . . . . . . .

81

§ 4. Zum Verhältnis von Natur und Freiheit . . . . . . . . § 4.1 »Überschreitung von Schranken« . . . . . . . § 4.2 Die dritte Antinomie und ihre Beweise . . . . . 4.2.1 Der Beweis der Thesis . . . . . . . . . . 4.2.2 Der Beweis der Antithesis . . . . . . . . 4.2.3 Der Gegenstand der Auseinandersetzung .

. . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

§ 5. Auflösung der dritten Antinomie . . . . . § 5.1 Unterscheidung in dynamische und mathematische Antinomien . . . . § 5.2 Die zwei Charaktere der Ursache . . § 5.3 Ursachenbestimmung und Handlungsbegründung . . . . . . .

. . . . . . .

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§ 6. Exkurs: Praktische und transzendentale Freiheit im »Kanon« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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ii.

Ergebnis des zweiten Kapitels . . . . . . . . . . . . . .

140

Teil 2 Wille und Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . .

143

III. Der reine Wille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

145

§ 7. Die Bestimmung des reinen Willens . . . . . . . . . . § 7.1 Das Verhältnis von Wille und Vernunft . . . . . 7.1.1 Hume zur Unabhängigkeit von Vernunft und Wille . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2 Der Wille als praktische Vernunft . . . . . § 7.2 Deduktion des reinen Willens in ›Grundlegung III‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Autonomie des Willens . . . . . . . . . . 7.2.2 Notwendige Annahme eines freien Willens . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 7.3 Der Zirkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.1 Freiheit und Gesetz als »Wechselbegriffe« 7.3.2 Das Sollen des reinen Willens . . . . . .

. .

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§ 8. »causa noumenon« in der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 8.1 Die praktische Erweiterung des Ursachenbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . § 8.2 Das »Faktum« der praktischen Notwendigkeit . .

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iii.

Ergebnis des dritten Kapitels . . . . . . . . . . . . . .

217

IV. Handlung und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . .

219

§ 9. Zurechnung von Handlungen . . . . . . . . . . . . . . § 9.1 Zur moralischen Verantwortung bei Hume . . . .

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8 https://doi.org/10.5771/9783495993255

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Inhaltsverzeichnis

§ 9.2 Der moralische Wert einer Handlung bei Kant . . § 10. Reflexion und Täuschung über die eigenen Handlungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . § 10.1 Kontrafaktische Selbstreflexion . . . . . § 10.2 Möglichkeit der Selbsttäuschung . . . . § 10.3 Zurechnung böser Handlungen und das Reinhold-Problem . . . . . . . . . . .

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. . . . . . . . . . . . . . .

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. . . . .

257

Ergebnis des vierten Kapitels . . . . . . . . . . . . . .

262

V. Fazit: Autonomie und Authentizität . . . . . . . . .

265

§ 11. Was soll ich tun? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

265

§ 12. Wer will ich sein? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

275

iv.

9 https://doi.org/10.5771/9783495993255

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Vorbemerkungen

Der Titel dieser Arbeit »Der Wille als Ursache« ist durch den Ab‐ schnitt »Von dem Befugnisse der reinen Vernunft, im praktischen Gebrauche, zu einer Erweiterung, die ihr im spekulativen für sich nicht möglich ist« (KpV, 50–57) inspiriert worden. Dieser Abschnitt wurde bisher nur in geringem Maß in der Literatur rezipiert, bringt jedoch den Grundgedanken des Verhältnisses von Kants praktischer und theoretischer Philosophie treffend zusammen.1 Im Fokus dieses Abschnittes stehen unter anderem der Ursachenbegriff und Humes Einfluss auf Kants Verständnis von Kausalität in Bezug auf die Mög‐ lichkeit eines reinen Willens. Deswegen beleuchtet der erste Teil dieser Arbeit den Begriff der Ursache in Kants theoretischer Philoso‐ phie. Dabei werden im ersten Kapitel Humes und Kants Verständnis von Kausalität einander gegenübergestellt, um mögliche Unterschie‐ de und Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Insbesondere wird her‐ ausgestellt, dass Humes Einfluss auf Kant so grundlegend war, dass dieser Kant aus dem »dogmatischen Schlummer« erwecken konnte. In diesem Zusammenhang vertrete ich hier die These, dass Hume sowohl in Bezug auf die Antinomieproblematik als auch bei der De‐ duktion der reinen Verstandesbegriffe einen entscheidenden Funken geschlagen hat, der Kants Transzendentalphilosophie in grundlegen‐ der Weise beeinflusst hat. Im zweiten Kapitel wird schließlich der Frage nachgegangen, in‐ wiefern Kant neben einer Naturnotwendigkeit eine Kausalität aus Freiheit annimmt und damit Handlungen anhand von Gründen erklärt. Dazu wird die dritte Antinomie aus der ›Kritik der reinen Vernunft‹ analysiert und die zunächst sich widersprechenden Bewei‐ se der Thesis und Antithesis im Detail aufgeschlüsselt. Im Anschluss 1 Zu erwähnen ist hierbei der Kommentar von Beck, der den Abschnitt zwar diskutiert, aber als eine wiederholte Referenz auf die ›Kritik der reinen Vernunft‹ versteht, vgl. Beck, L. W., A Commentary on Kant’s Critique of Practical Reason, S. 181–183 vgl. ähnlich die Stelle ähnlich interpretierend Ameriks, K., »Pure Rea‐ son of Itself Alone Suffices to Determine the Will« (42–57), S. 97.

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Vorbemerkungen

daran soll dann Kants Auflösung der dritten Antinomie diskutiert werden. Dabei steht vor allem der Begriff der »transzendentalen Freiheit« im Fokus dieser Untersuchungen. Die entscheidende The‐ se, die diese Arbeit hierbei aufstellt, lautet, dass es sich bei der transzendentalen Freiheit um die Bedingung der Möglichkeit von Gesetzmäßigkeiten handelt. Die Idee der transzendentalen Freiheit betrifft damit sowohl die spekulative Philosophie, die sich mit den Gesetzen der Natur befasst, als auch die praktische Philosophie, die sich mit den Gesetzen der Moral befasst. Insbesondere das Verständ‐ nis des Ursachenbegriff wird hiervon stark beeinflusst, da aus der Auflösung der dritten Antinomie hervorgeht, dass eine Ursache zwei Charaktere haben muss: Einen intelligiblen und einen empirischen Charakter. Der intelligible Charakter bezieht sich hierbei auf die Gesetzmäßigkeit in der Ursache, die sowohl eine naturgesetzliche als auch auch eine sittliche sein könnte, ohne dem zeitlichen Charakter der Ursache zu widersprechen. Mit dem dritten Kapitel beginnt der zweite Teil dieser Arbeit, der sich vorwiegend auf die praktische Philosophie Kants konzentriert und dabei die Ergebnisse der ersten beiden Kapitel zusammenführt. In diesem dritten Kapitel versuche ich, Kants Begriff des reinen Willens zu bestimmen. Dazu konzentriere ich mich im Besonderen auf den dritten Abschnitt der ›Grundlegung zur Metaphysik der Sit‐ ten‹, indem ich die These vertrete, dass Kant hier den reinen Willen zu deduzieren versucht. In diesem Kapitel gehe ich auch der Frage nach, ob und wie Kant seine Position in der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ mit dem »Faktum der reinen Vernunft« verändert hat. Dabei vertrete ich zunächst die These, dass Kant die Möglichkeit des reinen Willens nicht mehr auf Grundlage der Beschaffenheit des Menschen, sondern als praktische Erweiterung des Ursachenbe‐ griffs rechtfertigt. Die praktische Wirklichkeit der Freiheit zeigt sich schließlich durch das »Faktum der reinen Vernunft«, das ich hier, so meine These, als das Faktum der sittlichen Notwendigkeit inter‐ pretiere. Dabei meint das »Faktum« hier explizit die Tatsache, dass uns eine sittliche Verbindlichkeit gegeben ist. Damit kann zumindest in praktischer Hinsicht die Wirklichkeit der Freiheit gezeigt werden, deren Möglichkeit und Wirklichkeit in spekulativer Hinsicht nicht gezeigt werden konnten. Deswegen ist mit dem »Faktum der reinen Vernunft« der »Schlußstein« (KpV, 3) eines Systems der Philosophie gelegt.

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Vorbemerkungen

Das vierte Kapitel fasst schließlich die Konsequenzen der vorge‐ stellten Lesart zusammen. Dabei gehe ich auf verschiedene Fragestel‐ lungen ein, die sich mit der theoretischen Philosophie überschnei‐ den. Ich stelle dabei heraus, dass es genauso schwer ist, den wahren Grund unserer Handlung zu bestimmen, wie die wirkliche Ursa‐ che eines Naturereignisses herauszufinden. Eine wesentliche These dieses Kapitels lautet, dass Gründe sowie Ursachen nur kontrafak‐ tisch bestimmt werden können, weil sie empirisch unzugänglich sind. Ein Problem, das sich aus der Unzugänglichkeit unserer Hand‐ lungsgründe ergibt, ist das der Selbsttäuschung. Mit der Analyse dieses Problems möchte ich zeigen, dass es mit dieser Lesart auch möglich ist, über Kants Philosophie hinauszugehen und Fragen zu beantworten, die auch noch die aktuelle Philosophie beschäftigen. Insbesondere die Frage nach der Authentizität ist ein Aspekt, der in der modernen Philosophie aufgekommen ist und hier zumindest in Grundzügen aufgegriffen werden kann. Im fünften Kapitel sollen die Ergebnisse dieser Arbeit anhand der vier Fragen, die Kant seiner Philosophie zugrunde gelegt hat, einge‐ ordnet werden. Dabei stehen die beiden Fragen »Was soll ich tun?« und »Was ist der Mensch?« im Fokus der Auseinandersetzung. Ins‐ besondere die letzte Frage, so argumentiere ich, sollte eigentlich in die Frage »Wer will ich sein?« umformuliert werden. Denn nachdem Kant in praktischer Hinsicht die Wirklichkeit der Freiheit gezeigt hat, steht der Mensch zwar immer unter dem moralischen Gesetz, aber die Nötigung, nach diesem zu handeln, geht von ihm selbst aus. Die Frage also, warum ich nach dem Gesetz handeln soll, hat mit dem Selbstverständnis des Subjekts zu tun. Ich behaupte in diesem Schlusskapitel, dass unser Bedürfnis nach Authentizität und damit die Achtung vor unserer eigenen Person uns zur moralischen Handlung motivieren. Zur Zitierweise: Die Schriften Kants werden nach der Ausgabe der Preußischen Aka‐ demie der Wissenschaften unter Angabe der Band- und Seitenzahl zitiert, zum Beispiel AA 6:448. Ausnahmen bilden die folgenden Werke Kants, bei denen die Bandzahl durch Abkürzungen ersetzt wird:

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Vorbemerkungen Kritik der reinen Vernunft (Originalpaginierung A- und B-Auflage)

KrV A/B

Kritik der praktischen Vernunft

KpV

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten

GMS

Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik [...]

Prol.

Kritik der Urteilskraft

KU

Zitate aus den Reflexionen werden mit einem »R« abgekürzt. Ver‐ weise auf die von Werner Stark editierte ›Vorlesung zur Moralphilo‐ sophie (Nachschrift Kähler)‹ werden mit »Kähler« abgekürzt. Kants Hervorhebungen sind als gesperrt markiert, weggelassene Hervor‐ hebungen sind nicht gekennzeichnet. Eigene Hervorhebungen, Aus‐ lassungen, Ergänzungen oder Einfügungen in einem Zitat sind als solche kenntlich gemacht und ggf. mit den Initialen der Autorin E.C. markiert. Die Schriften Humes werden ebenfalls und unter Angabe der Seitenzahl aus den folgenden Ausgaben zitiert: A Treatise of Human Nature (künftig: ›Treatise‹)

A Treatise of Human Natur. A Critical Edition. Edited by David Fate Norton and Mary J. Norton. Oxford: Oxford University Press 2007. (Sigel: THN).

An Enquiry Concerning Human Understanding (künftig: ›Enquiry‹)

An Enquiry Concerning Human Understanding. Edit‐ ed by Tom L. Beauchamp. Oxford: Oxford University Press 1999. (Sigel: EHU)

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Einleitung

»Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.« (KpV, 161)

Im Alltag werden wir regelmäßig damit konfrontiert, den Zusam‐ menhang zwischen einer bestimmten Ursache und einer Wirkung von für uns unerklärlichen Ereignissen herauszufinden. Wenn wir beispielsweise auf dem Dachboden ein Poltern hören, versuchen wir, diesen ungewöhnlichen Bewegungen auf die Spur zu kommen, ehe wir von übernatürlichen Kräften ausgehen, die dort herumgeistern. Mögliche Ursachen für diese Geräusche können entweder eine Lei‐ tung in der Wand oder auch Tiere, wie Nager oder Marder, sein, die sich auf dem Dachboden niedergelassen haben. Da man aus dem Poltern allein nicht auf die konkrete Ursache schließen kann, sondern alle potenziellen Ursachen überprüfen muss, zeigt dieses Beispiel nur allzu deutlich, wie aufwendig die Suche nach der Ur‐ sache sein kann. Denselben Vorgang finden wir auch beim Arzt, der von der Konzentrationsschwäche oder Müdigkeit des Patienten allein nicht darauf schließen kann, welche Krankheit die Ursache für diese Symptome ist. Wie bei einem Experiment stellt auch der Arzt Vermutungen über mögliche Krankheiten an, nach denen er untersucht und anschließend Medikamente verschreibt. Sowohl das Poltern auf dem Dach als auch die Diagnose des Arztes zeigen ein‐ deutig, dass eine Ursache nicht einfach zu bestimmen ist. Dennoch hält uns das nicht davon ab, eine (zumeist natürliche) Ursache bei diesen Ereignissen zu vermuten und nach dieser zu suchen. Es sind nicht nur die Ursachen, die schwer zu ermitteln sind, sondern auch die Gründe für das Handeln. Wenn ich eine Person jeden Morgen dabei beobachte, wie sie statt mit dem Auto mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt, fallen mir unterschiedliche Gründe zur Erklärung dieses Verhaltens ein: Die Person zieht vielleicht aus

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Einleitung

gesundheitlichen oder finanziellen Gründen das Fahrrad dem Auto vor, vielleicht aber auch, weil sie die Umwelt schützen möchte, oder sie besitzt einfach keinen Führerschein, sodass ihr nur das Fahrrad als einziges Fortbewegungsmittel zur Verfügung steht. Abhängig da‐ von, was der wirkliche Grund der Handlung ist, beeinflusst dies unser Urteil über die Person. Wenn die Person beispielsweise aus ökologischen Gründen das Fahrrad dem Auto vorzieht, dann hal‐ ten wir die Person für verantwortungsvoll und nachsichtig. Wenn wir aber feststellen, dass die Person einfach keinen Führerschein besitzt und deshalb das Fahrrad dem Auto vorzieht, dann sind wir weder von der Handlung beeindruckt noch an ihr interessiert. Von außen betrachtet, ist es allerdings schwer, den wahren Grund einer Handlung herauszufinden. Die Person kann zwar behaupten, dass sie das Auto aus Verantwortung gegenüber der Umwelt stehen lässt. Die Frage, ob dabei jedoch nicht immer auch ein eigenes Interesse dahintersteckt, um beispielsweise die Nachbarn von der eigenen Selbstaufopferung für die Umwelt zu beeindrucken, kann nicht mit absoluter Gewissheit beantwortet werden. Obwohl nun der Grund unserer Handlungen gleichermaßen schwer zu ermitteln ist wie die Ursachen in der Natur, ist man doch eher geneigt, die Möglichkeit moralisch motivierter Gründe für unser Handeln infrage zu stellen, als dass unsere natürliche Beschaffenheit unser Handeln determi‐ niert. Dieses hat nicht zuletzt damit zu tun, dass Moralität im Han‐ deln Freiheit voraussetzt, die mit der Naturnotwendigkeit schwer zu vereinbaren ist. Die Frage nach dem Verhältnis von Freiheit und Natur hat in der Philosophie Kontroversen ausgelöst und zu verschiedenen Positionierungen geführt. Die heutige Hirnforschung liefert deutli‐ che Hinweise auf neurologische Determiniertheit menschlicher Ent‐ scheidungen im Alltag. Und zwar selbst dann, wenn wir sie als frei getroffen wahrnehmen. Dass gibt nicht wenig Anlass, die Debatte über den Mythos der Möglichkeit eines freien Willens für beendet zu erklären und die philosophischen Positionen, die sich für einen freien Willen aussprechen, für überholt zu erachten. Allerdings zeigt sich philosophiegeschichtlich, dass die von der Hirnforschung heute vertretende Position des Determinismus schon zu Kants Zeiten ver‐ treten wurde, gegen die er mit der Annahme einer absoluten Freiheit

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Einleitung

unter anderem argumentiert.2 Dabei soll diese Arbeit nicht den Ver‐ such darstellen, den wissenschaftlich fundierten Determinismus des Menschen aufgrund neuronaler Prozesse im Gehirn zu hinterfragen. Im Gegenteil – diese Arbeit zeigt auf, inwieweit mit Kant dieser De‐ terminismus gleichzeitig mit der Annahme einer absoluten Freiheit unseres Willens zu vereinbaren ist, und, dass wir weder das eine noch das andere abschwächen müssen. Bereits die sogenannten Kompatibilisten, die in der Tradition von Hume und Hobbes stehen, haben versucht, Freiheit und Naturge‐ setzlichkeit in einen Ausgleich zu bringen.3 Dabei vertritt beispiels‐ weise Hume jedoch keinen absoluten Freiheitsbegriff, sondern einen bedingten, der mit der Naturnotwendigkeit zu vereinbaren ist (vgl. EHU, sec. 8, part 1.23). Diesem Verständnis nach wird der Kompati‐ bilismus auch als »weicher« Determinismus gefasst.4 Demgegenüber stehen die sogenannten Inkompatibilisten, die von einem absoluten Freiheitsbegriff ausgehen und diesen nur dann für möglich halten, wenn der Mensch nicht naturgesetzlich determiniert ist. Während der Inkompatibilismus die Freiheit also nicht gänzlich ablehnt, leug‐ net der »harte« Determinismus die Möglichkeit der Freiheit völlig. Der Versuch, die absolute Freiheit mit der Natur zu vereinbaren, wurde in der Tradition also entweder vollständig abgelehnt (harter Determinismus) oder es wurde ein Entweder-oder (Inkompatibilis‐ mus) befürwortet.5 Für Kant stellt sich nun heraus, dass die Freiheit, die es mit der Natur zu vereinbaren gilt, zwei Bedingungen erfüllen muss: Zum einen muss die Freiheit eine absolute Freiheit sein und nicht eine bedingte Freiheit, wie sie der Kompatibilismus vertritt, und zum anderen darf die Freiheit, obwohl sie selbst keine Natur‐ notwendigkeit ist, auch nicht im Widerspruch zu ihr stehen. Damit

2 Bojanowski erwähnt u.a. Schulz als einen Vertreter, der von einem empirischen Determinismus ausgeht und sogar eine empirische Sittenlehre entwickelt. Vgl. Schulz, J. H., Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre für alle Menschen, ohne Unterschied der Religionen, nebst einem Anhange von den Todesstrafen. Erster Teil., S. 76. Vgl. Bojanowski, J., Kants Theorie der Freiheit, S. 1. 3 Vgl. Keil, G., Willensfreiheit, S. 50. 4 Für einen Überblick über die Debatte, ob Hume ein Kompatibilist und damit einen »weichen« Determinismus vertritt, vgl. Millican, P., Hume’s Determinism, S. 611. 5 Vgl. Keil, G., Willensfreiheit, S. 11.

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Einleitung

werde ich in dieser Arbeit gegen die These argumentieren, dass Kant ein Kompatibilist im traditionellen Sinne war.6 Von dieser anspruchsvollen Aufgabe, sowohl eine absolute Frei‐ heit als auch einen absoluten Determinismus in der Natur wider‐ spruchsfrei anzunehmen, hängt das System der Philosophie ab. Dass das System aus den Gegenständen der Natur und Freiheit besteht, behauptet Kant in der ›Kritik der reinen Vernunft‹: Die Gesetzgebung der menschlichen Vernunft (Philosophie) hat nun zwei Gegenstände, Natur und Freiheit, und enthält also sowohl das Na‐ turgesetz, als auch das Sittengesetz, anfangs in zwei besonderen, zuletzt aber in einem philosophischen System. (KrV, A 840)

Kant kann dabei als ein besonderer Vertreter jener Aufklärungsphi‐ losophen angesehen werden, der sich der Herausforderung gestellt hat, Freiheit und Natur miteinander zu vereinbaren, und ein kohä‐ rentes System entwickelt hat, in dem die theoretisch spekulative und die praktische Philosophie widerspruchsfrei zusammengehen. Das übergeordnete Ziel dieser Arbeit wird sein, Aspekte aufzeigen zu können, inwieweit es ihm gelungen ist, ein solches kohärentes System zu entwickeln, von dessen Unvollständigkeit Kant selbst in der ›Grundlegung‹ noch ausging (vgl. GMS, 391). Während Kant in der ›Grundlegung‹ behauptet, dass es zum Zweck eines vollständi‐ gen Systems der Philosophie einer ›Kritik der praktischen Vernunft‹ bedürfe, stellt Förster demgegenüber fest, dass er dort ebenso we‐ nig die versprochene Einheit nachweisen konnte.7 Um der Frage nach der vollendeten Vernunfteinheit nachgehen zu können, ist der Gegenstand entscheidend, der nach Kant das vermittelnde Glied eines Systems der Philosophie darstellt. Dabei soll das Problem einer Architektonik der reinen Vernunft, wie Krijen der Kant-Forschung vorwirft, weniger auf die internen Verhältnisse der praktischen Phi‐ losophie als vielmehr auf das Verhältnis von praktischer und theo‐ retischer Philosophie eingehen.8 In dieser Arbeit zeigt sich, dass 6 Vgl. im Besonderen Wood, A. W., Kant’s Compatibilism, S. 73–101, vgl. kritisch dieser Position gegenüber Xie, S. S., What Is Kant: A Compatibilist Or An Incom‐ patibilist? A new interpretation of Kant’s solution to the free will problem, S. 53–76. 7 Vgl. Förster, E., »Was darf ich hoffen?« Zum Problem der Vereinbarkeit von theoretischer und praktischer Vernunft bei Immanuel Kant, S. 169. 8 Vgl. Krijnen, C., Kants Kategorien der Freiheit und das Problem der Einheit der Vernunft, S. 318.

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Einleitung

insbesondere am Begriff der Ursache und seinem Verhältnis zum Willen dieser Zusammenhang spätestens in der ›Kritik der prakti‐ schen Vernunft‹ nicht nur mehr als deutlich wird, sondern auch einen zentralen Gegenstand der kantischen Philosophie bildet. Ich vertrete hier die These, dass die erste Voraussetzung für ein System der Philosophie nach Kant eine »Revolution der Denkart« ist, die sowohl die Theorie als auch die Praxis umfasst. Als geschei‐ tert gilt die Revolution dann, wenn sie keinerlei Einfluss auf die Praxis hat und damit ein leeres Gedankengebäude bleibt, oder wenn sie schlichtweg illegitim ist, weil es ihr an theoretischer Begründung mangelt. In der Zeit der Aufklärung war es gerade die Wissenschaft, die eine solche Revolution sowohl in ihrer Methodik als auch in ihrer Theorie durchlaufen hat. An diesem Vorbild sollte nun auch im Bereich der Philosophie in der Zeit der Aufklärung eine Revolution unternommen werden. In der B-Vorrede zur ›Kritik der reinen Vernunft‹ spricht Kant von einer »Revolution der Denkungsart« (KrV, BXI), die die Ma‐ thematik und die Naturwissenschaften vollzogen haben und dass eine ebensolche auch der Metaphysik vorbehalten ist, um »den si‐ cheren Gang einer Wissenschaft einzuschlagen« (KrV, BXIV ). Der revolutionäre und historische Umschwung, der die Mathematik zu einer sicheren Wissenschaft machte, ging vom »glückliche[n] Einfall eines einzigen Mannes« (KrV, BXI) aus. Kant bezieht sich hierbei auf Thales‘ Basiswinkelsatz, »der den gleichschenkligen Triangel demonstrierte« (KrV, BXI) und dabei zeigen konnte, dass mathema‐ tische Beweise weder empirisch noch analytisch aus dem Begriff selbst, sondern durch die Konstruktion der ihr zugrunde liegenden Begriffe in reiner Anschauung möglich sind. Auch die Naturwissen‐ schaft schreitet, wenn auch im Vergleich zur Logik und Mathematik langsam, vom bloßen »Herumtappen« zum »Heeresweg der Wissen‐ schaft« (KrV, BXII) voran. Der Fortschritt der Naturwissenschaft wird vor allem von der Einsicht getragen, dass ihre Erkenntnisse nicht aus der empirischen Beobachtung resultieren, sondern dass die Vernunft »mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen [...] müsse« (KrV, BXIII). Mithilfe von Experimenten etabliert die Naturwissenschaft eine methodische Herangehenswei‐ se, durch die sie die Natur nötigt, »auf ihre Fragen zu antworten« (KrV, BXIII). So erkannte Galilei nicht einfach aufgrund von Beob‐ achtung, dass alle Körper mit der gleichen Beschleunigung fallen

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(Fallgesetz), sondern er hatte bereits eine Annahme formuliert, die er dann weiterverfolgte, indem er verschieden schwere Kugeln eine schräge Fläche hinabrollen ließ. Kant verfolgt nun den Versuch, eine »Revolution der Denkart« nach dem Vorbild der erwähnten Wissenschaften »nachzuahmen« (KrV, BXVI). Ein erster wesentlicher Schritt, um diese Revolution voranzutreiben, ist die Neuformulierung von bereits etablierten Hy‐ pothesen. In der Philosophie ging man bisher (aus Kants Perspek‐ tive) von der Annahme aus, dass sich unsere Erkenntnis nach den Gegenständen richtet. Problematisch an dieser Annahme ist, dass mit ihr die Möglichkeiten unserer Erkenntnis auf die Empirie eingeschränkt werden, wohingegen die neue Annahme, dass sich die Gegenstände nach unserer Erkenntnis richten, das Potenzial auf‐ weist, unsere Erkenntnismöglichkeiten a priori zu erweitern. Die »Umänderung der Denkart« in der Philosophie beschreibt damit einen Wechsel der Perspektive zwischen Mensch und Erkenntnisge‐ genstand, der in der Literatur auch unter dem Ausdruck der »koper‐ nikanischen Revolution« gefasst wird und nicht zuletzt auf die von Kant selbst aufgestellte Analogie mit Kopernikus zurückzuführen ist: Es ist hiermit eben so, als mit dem ersten Gedanken des Copernicus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ. (KrV, BXVI).

Mit der »kopernikanischen Revolution« ist die Ablösung des geozentrischen Weltsystems durch das heliozentrische Weltbild ge‐ meint. Förster stellt allerdings heraus, dass Kopernikus vielmehr eine neue Erklärung für die Bewegung des Sternenhimmels gegeben hat und weniger als Vorbild einer naturwissenschaftlichen Revoluti‐ on im Sinne Galileis angesehen werden kann.9 Im weiteren Verlauf der Vorrede wird schließlich einsichtig, dass Kant die Analogie zu Kopernikus nicht aufgrund ihres vermeintlich revolutionären Cha‐ rakters gewählt hat, sondern als historisches Vorbild für eine erfolg‐ reich bestätigte Hypothese. Kopernikus nahm nämlich zunächst nur hypothetisch an, dass die Bewegung der Sterne am Abendhimmel vielmehr aus der Bewegung 9 Vgl. Förster, E., Die Vorreden, S. 49f.

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des Beobachters erklärt werden kann. Die Hypothese erwies sich als produktiv und mit ihr ging auch eine folgenreiche Entdeckung ein‐ her. Denn hätte es Kopernikus »nicht gewagt[,] [...] die beobachteten Bewegungen nicht in den Gegenständen des Himmels, sondern in ihrem Zuschauer zu suchen« (KrV, BXXIII Fn.), dann wäre bis heute das »unsichtbare« (vgl. ebd.) Newtonsche Gravitationsgesetz unent‐ deckt geblieben. Erst diese Entdeckung konnte der Hypothese von Kopernikus überhaupt Gewissheit verschaffen. Und genau darum geht es Kant bei dem Vergleich mit Kopernikus: So wie Kopernikus die Bewegung des irdischen Beobachters zunächst nur hypothetisch annahm, wird auch Kant zunächst nur hypothetisch annehmen, dass sich nicht unsere Anschauung »nach der Beschaffenheit der Gegenstände«, sondern sich der »Gegenstand (als Objekt der Sinne) nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögen[s]« (KrV, BXVII) richtet. Wie die Kopernikanische Wende stellt auch Kant eine folgenreiche Entdeckung in Aussicht: Nämlich das Schaffen ei‐ nes Freiraums für Moral (vgl. KrV, BXXIVff.). Die Freiheit und ihre Gesetze, die die Grundpfeiler der Moral bilden, würden nämlich genauso unentdeckt bleiben wie die Newtonschen Gesetze, wenn keine »Umänderung der Denkart« stattfindet. Die von Kant vorangetriebene Revolution kann sogar im weiten Sinne als der letzte Rettungsversuch gesehen werden, der über das Schicksal der Metaphysik entscheidet. In der Vergangenheit vor Kant sind von Rationalisten als auch von Empiristen viele Versuche unternommen worden, die Metaphysik zu kritisieren. Aus Kants Perspektive war jedoch kein Angriff auf die Metaphysik so gefährlich wie der von David Hume (vgl. Prol., 257). Von Hume ging die Frage aus, mit welcher Gewissheit wir die im Begriff der Kausalität enthal‐ tende Notwendigkeit annehmen können. Dabei konnte er feststellen, dass unsere Vernunft nicht fähig ist, Notwendigkeiten einzusehen, und wir weder aus Begriffen noch empirisch von zwei unabhängi‐ gen Ereignissen sagen können, dass sie notwendig miteinander ver‐ knüpft sind. Das hat Hume jedoch nicht dazu veranlasst, den Begriff der Kausalität für seine Maßstäbe gänzlich in Zweifel zu setzen oder abzulehnen. Aufgrund des Gesetzes der Assoziation, nach dem wir die Ereignisse entsprechend einer beobachteten Gewohnheit in Ver‐ bindung zueinander bringen, können wir aus den Ereignissen eine Notwendigkeit ableiten. Auf diese Weise versuchte Hume, den Be‐ griff nicht über die Erfahrung hinausgehend zu gebrauchen, indem

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er ihn auf dieselbe einschränkte. Kant stimmt mit Hume überein, dass Erfahrung dazukommen muss, um vom Begriff der Kausalität einen sicheren Gebrauch machen zu können. Gegenüber Hume kri‐ tisiert Kant jedoch, dass die Herleitung der im Begriff enthaltenden Notwendigkeit immer nur subjektiv ist, weshalb die der Kausalität zugrunde liegende objektive Notwendigkeit nicht gesichert ist. Kants neuer Denkansatz verspricht dementgegen also, die Not‐ wendigkeit, die der Natur a priori zugrunde liegt, beweisen zu kön‐ nen. Denn die »veränderte Methode« (KrV, BXVIII) besteht darin, dass der Verstand nur die Gesetze erkennt, die er selbst a priori in die Natur hineinlegt, und diese Gesetze eben nicht aus der Empirie schöpft. Nach Kant ist der Begriff der Kausalität (und das mit ihm verbundene Kausalgesetz) als Verstandesbegriff die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung und ist somit gegenstandskonstitutiv. Mit einer »Deduktion der reinen Verstandesbegriffe« zeigt Kant schließlich auf, »wie sich Begriffe a priori auf Gegenstände bezie‐ hen können« (KrV, A 85/B 117). Aus der Deduktion ergibt sich das Resultat, dass die Verstandesbegriffe auf Erscheinungen restringiert sind. Die Kategorien im Allgemeinen und die Kategorie der Kausa‐ lität im Speziellen sind sogar »von gar keinem Gebrauche, wenn man sie von aller Sinnlichkeit absondert« (KrV, B 305). Auf diese Weise bleibt der von Hume vorgelegte Grundsatz, den Gebrauch der Kausalität nicht über die Grenze der Erfahrung hinauszutreiben, unangetastet. Das wesentliche Problem besteht nun darin, dass wir über die‐ se Grenze der Erfahrung nie hinauszukommen scheinen, »welches doch gerade die wesentliche Angelegenheit dieser [Metaphysik als] Wissenschaft ist« (KrV, BXIX). Das, was die Vernunft notwendiger‐ weise über die Grenze möglicher Erfahrung hinaustreibt, ist das Be‐ dürfnis nach dem »Unbedingten«, durch die sich die Vernunft aller‐ dings in einen Widerspruch mit sich selbst verwickelt. Insbesondere ist dies in der dritten Antinomie der Fall, bei der dieses Unbedingte, die transzendentale Idee der Freiheit als Erstursächlichkeit in ein wi‐ dersprüchliches Verhältnis mit dem Naturdeterminismus gerät. Hier zeigt sich zum ersten Mal das eng verknüpfte Verhältnis zwischen spekulativer und praktischer Philosophie Kants, denn dann, wenn er diesen Widerspruch nicht auflösen kann, kann auch die Moral nicht gerechtfertigt werden. Diesen Widerspruch der dritten Antinomie kann Kant nur dadurch auflösen, dass er zwischen Erscheinungen

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und Dingen an sich unterscheidet. Dieselben Gegenstände können auf diese Weise »von zwei verschiedenen Sichtweisen betrachtet werden« (KrV, BXVIII), einerseits als Gegenstände möglicher Erfah‐ rung und andererseits als über die Erfahrungsgrenze hinausgehend und bloß denkbare Gegenstände. Auf diese Weise gehören auch Frei‐ heit und Natur zwei unterschiedlichen Gegenstandsbereichen an. In spekulativer Hinsicht gelingt es Kant jedoch nicht, die Wirk‐ lichkeit und Möglichkeit der Freiheit zu zeigen. Das bedeutet aber insbesondere auch, dass die Annahme von Naturgesetzen genauso unklar ist wie die transzendentale Freiheit, die ihnen als Bedingung zugrunde liegt. Dieser letzte »Schlussstein«, der das System der Phi‐ losophie komplettiert, ist erst durch die Praxis im »Faktum der reinen Vernunft« gegeben. Das moralische Gesetz, das sich durch das Faktum der sittlichen Notwendigkeit offenbart, erlaubt, auf die praktische Wirklichkeit der Freiheit zu schließen. Dieses, so wird in dieser Arbeit argumentiert, ist jedoch nur dann möglich, wenn man den Willen als eine praktische Erweiterung des Ursachenbegriffs betrachtet. Auf diese Weise kann Kant in der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ den freien Willen als Ursache in praktischer Hinsicht rechtfertigen und muss dazu nicht mehr, wie in der ›Grundlegung‹ versucht, über die intelligible Beschaffenheit eines Menschen speku‐ lieren. Dass Kants Errungenschaften aus der Perspektive dieser Arbeit tatsächlich eine »Revolution der Denkart« darstellen, zeigt sich insbesondere darin, dass sich mit ihr über Kants Philosophie hin‐ ausgehen lässt und Fragen nach Authentizität und Selbsttäuschung bereits mit Kant zu beantworten sind. Innerhalb der Moralphiloso‐ phie Kants ist es möglich, einen freien Willen anzunehmen, dessen Bestimmungsgrund das Moralgesetz ist. Dabei stellt sich jedoch das Problem heraus, dass der Mensch als sinnlich-bedingtes Wesen vom moralischen Gesetz nur genötigt werden kann. Ein entscheidendes Ergebnis dieser Arbeit besteht darin zu argumentieren, dass wir uns als vernünftige Wesen selbst dazu nötigen müssen, uns dem morali‐ schen Gesetz zu unterwerfen. Da wir allerdings die Gründe unseres Handelns nicht mit absoluter Gewissheit bestimmen können, ist es auch hier möglich, uns selbst in den Glauben zu versetzen, nach den richtigen Gründen gehandelt zu haben. Dem Menschen kommt damit zwar das Vermögen der Autonomie zu, seine Handlung nach der Vorstellung des moralischen Gesetzes selbst zu bestimmen, aber

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Einleitung

gleichzeitig auch die Freiheit, sich über den wahren Grund selbst zu täuschen. Die Selbsttäuschung ist möglich, weil sich der Mensch einreden kann, nach der richtigen Maxime gehandelt zu haben, und ihr auch ein moralischer Wert zukommt, aber eigentlich eine andere Maxime überprüft wurde. Deshalb ist es notwendig, sein Handeln einer Selbstprüfung zu unterziehen, die, über die Prüfung des kate‐ gorischen Imperativs hinausgehend, nicht allein die Verallgemeiner‐ barkeit der Maxime feststellt, sondern eine Reflexion veranlasst, die über die wirkliche Maxime unserer Handlung entscheidet.

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Teil 1 Ursache und Gesetz

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I. Ursachen in der Natur

§ 1. Notwendigkeit im Zusammenhang der Naturereignisse Es ist ein alltäglicher Vorgang, Ursachen für bestimmte Gescheh‐ nisse anzunehmen und sie durch diese zu erklären: Bei starken Bauchschmerzen wird als Ursache auf das am Tag zuvor zu sich genommene fettige Essen geschlossen oder die Linderung der Kopf‐ schmerzen wird mit den zuvor eingenommenen Kopfschmerztablet‐ ten erklärt. Eine genaue Bestimmung der Ursache von Geschehnis‐ sen ermöglicht es, diese nicht nur nachvollziehbar und erklärbar zu machen, sondern sie ebenso auf zukünftige Geschehnisse zu über‐ tragen: Beim nächsten Essen sollte eher auf fettige Speisen verzich‐ tet werden oder aufgrund der zufriedenstellenden Wirkung werden einem Freund bei gleichen Symptomen dieselben Kopfschmerzta‐ bletten empfohlen. Doch oftmals stellt sich heraus, dass die Ursa‐ chen, auf die geschlossen wird, nicht immer die wirklichen sind: Ein fettiges Essen führt beim nächsten Mal nicht zu den erwarteten Bauchschmerzen oder die Kopfschmerztabletten erzielen bei einem Freund nicht denselben Effekt. Dies zeigt, dass Ursachen nicht immer eindeutig zu bestimmen sind und eine Vielzahl von mögli‐ chen Erklärungen von Geschehnissen infrage kommt, sodass zum Beispiel auch eine Krankheit die Ursache für die unangenehmen Bauchschmerzen sein kann. Bei dieser Vielzahl an möglichen Ursachen fragt sich, was uns überhaupt dazu legitimiert oder aber auch veranlasst, eine bestimm‐ te Ursache anzunehmen und damit andere mögliche Ursachen aus‐ zuschließen. Dies ist nur dann möglich, wenn von einer notwendi‐ gen Verbindung zwischen einer Ursache und ihrer Wirkung ausge‐ gangen wird, sodass es genau nur eine wirkliche Ursache für die beobachtete Wirkung gibt. Die Rechtfertigung einer notwendigen Verbindung zwischen Ursache und Wirkung ist gleichbedeutend mit der Rechtfertigung des Kausalitätsprinzips, das damit den Ausgang

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I. Ursachen in der Natur

der Frage nach der Ursachenbestimmung wesentlich beeinflusst. Zu‐ mindest zeigt sich dies deutlich am Beispiel der Diskussion zwischen David Hume und Immanuel Kant, deren Positionen oftmals kon‐ trär zueinander betrachtet werden. Während Hume die notwendige Beziehung von Ursache und Wirkung auf Grundlage empirischer Erfahrung für unbegründet hält und nur durch eine psychologische Gewohnheit erklärt, hält Kant am Anspruch fest, die Notwendigkeit in der Beziehung zwischen Ursache und Wirkung einer Rechtferti‐ gung zu unterlegen, die jedoch nur a priori aus reinem Verstand und unabhängig von Erfahrung erfolgen kann. Der Ausgangspunkt beider Untersuchungen betrifft die Notwendigkeit in der Kausalität, die beide versuchen, gleichermaßen zu rechtfertigen. Inwiefern Hume Einfluss auf die Philosophie Kants ausgeübt hat und diese in Teilen sogar als Modifikation derselben zu lesen ist, ist lange Zeit innerhalb der Kantforschung nur in geringem Umfang be‐ achtet worden. Die These von Hermann Cohen, dass »nicht in erster Linie zwischen Hume und dem Verfasser der ›Kritik der reinen Vernunft‹ ein Verhältnis besteht, sondern nur zwischen Hume und dem Kant der vorkritischen Jahre«10, verwundert nicht zuletzt bei der Vielzahl von namentlicher – wenn auch nicht immer positiver – Erwähnung Humes und dem von Kant selbst in den ›Prolegomena‹ sowie in der ersten Kritik erwähnten Einfluss. Vielmehr sind es nach Cohen Leibniz und Newton gewesen, die stärker auf Kant gewirkt hätten. Entsprechend führte dies nicht nur dazu, die Anerkennung von Humes Einfluss in Kant-Interpretationen zurückzudrängen und seine Philosophie nur als die Vorstufe der kritischen Philosophie zu bewerten. Doch auch umgekehrt finden sich Interpretationen, die, Position für Hume einnehmend, davon ausgehen, dass er mit seiner Philosophie die kritische Philosophie bereits widerlegen konnte und Kants Schrift ›Kritik der reinen Vernunft‹ aus einem Mangel an Verständnis der Humeschen Philosophie geschrieben wurde.11 Seit dem Neukantianismus gilt das Verhältnis in der Forschung jedoch als aufgearbeitet und Humes prägende Rolle innerhalb der

10 Cohen, H., Humes Verhältnis zu Kant, S. 73. 11 Vgl. Craig, E., David Hume: Eine Einführung in seine Philosophie, S.135.

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§ 1. Notwendigkeit im Zusammenhang der Naturereignisse

Philosophie Kants als gleichermaßen geklärt.12 Schließlich war es auch Hume, der Kant nach dessen eigenem Zeugnis aus seinem »dogmatischen Schlummer« (Prol, 260) weckte und durch ihn die Relevanz des Ursachenbegriffs gerade in Bezug auf die Glaubwürdig‐ keit der Metaphysik als Wissenschaft »in Gedanken kommen ließ« (KrV, B 19). In einem Brief an Herder im Jahr 1768 nimmt Hume sogar »den obersten Platz«13 unter den Philosophen für Kant ein. Kant sieht mit Hume ein, dass die Frage, was eine Ursache bestimmt, nicht allein durch bloße Begriffszergliederung, sondern mit voraus‐ gehender Erfahrung beantwortet werden muss. In diesem Kapitel soll ein direkter und fruchtbarer Einfluss von Hume auf Kant nachgewiesen werden. Ausgehend vom Ursachen‐ begriff, drückt sich dieser Einfluss nicht nur in der theoretischen, sondern auch in Kants praktischer Philosophie aus. Denn trotz der vergangenen zahlreichen Auseinandersetzungen mit Hume und Kant lassen sich, gerade was die Analyse des Kausalitätsbegriffs be‐ trifft, in der Forschungsliteratur oftmals wenig beachtete, aber doch sehr relevante Stellen in Kants philosophischen Schriften finden, die die Diskussion mit Hume um ein Weiteres aufschlüsseln können. Nachdem beispielsweise Höffe die Textstellen aufgeführt hat, in de‐ nen Kant in der Diskussion zur Kausalität auf Hume eingeht, wird zwar die Einleitung der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ erwähnt, doch die aufschlussreiche Auseinandersetzung Kants mit Hume im Abschnitt »Von dem Befugnisse der reinen Vernunft, im praktischen Gebrauche, zu einer Erweiterung, der ihr im spekulativen für sich nicht möglich ist« (KpV, 50–57) wird in der genannten Schrift nicht genannt.14 In diesem Abschnitt rechtfertigt Kant gegenüber Hume die widerspruchsfreie Möglichkeit eines reinen Willens als prakti‐ sche Erweiterung des Ursachenbegriffs, nachdem er die Wirklichkeit der Freiheit mit dem »Kreditiv des moralischen Gesetzes« (KpV, 83) bewiesen hat, das seinerseits durch das »Faktum der reinen Vernunft« gerechtfertigt ist. Dieses wird der Ausgangspunkt der Dis‐ kussion in der zweiten Hälfte dieser Arbeit sein. 12 Vgl. Hoppe, H., Kants Antwort auf Hume, S. 335–350 und vgl. Rang, B., Natur‐ notwendigkeit und Freiheit. Zu Kants Theorie der Kausalität als Antwort auf Hume, S. 24–56. 13 Briefkorrespondenz Kant an Herder, 9. Mai 1768 (AA 10: 74). 14 Vgl. Höffe, O., Kants Kritik der reinen Vernunft: die Grundlegung der modernen Philosophie, S. 187.

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I. Ursachen in der Natur

Um eine erste Annäherung an die der Arbeit übergeordnete Frage zu gewinnen, nämlich inwieweit der Wille als Ursache zu verstehen ist, wird sich die erste Hälfte dieser Arbeit mit dem Begriff der Ursache beschäftigen. Im ersten Kapitel wird zu diesem Zweck die Möglichkeit der Ursachenbestimmung in der Natur untersucht und, damit zusammenhängend, die Rechtfertigung ihrer notwendigen Verknüpfung mit der Wirkung diskutiert. Dabei wird der Position Kants die These Humes gegenübergestellt, dass eine notwendige Verknüpfung zwischen Ursache und Wirkung zwar zur Kohärenz der Erfahrung vorausgesetzt werden muss, aber nur mittels subjekti‐ ver Gewohnheit und damit assoziativ begründet werden kann. Kant hingegen betont, dass in dem Begriff der Ursache die notwendige Verknüpfung zur Wirkung enthalten ist. Diese notwendige Verknüp‐ fung ist die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung, ohne die es unmöglich wäre, die Erfahrung einer Veränderung zu machen. Des‐ halb ist nach Kant der Begriff der Kausalität ein Verstandesbegriff, der von jeder Erfahrung unabhängig ist. Inwiefern Kant diese Posi‐ tion rechtfertigt und die Anwendung dieser Begriffe auf Erfahrung begründet, wird in § 1.2 dieser Arbeit dargelegt. Abschließend soll nicht allein auf die Unterschiede im Allgemei‐ nen, sondern im Besonderen auch auf die Gemeinsamkeiten zwi‐ schen Hume und Kant eingegangen werden. Die Untersuchung zeigt, dass beide in ihrem Kausalitätsbegriff große Übereinstimmung haben: Sowohl Kant als auch Hume nehmen einen nomologischen Charakter in der Kausalität an. Das heißt, beide gehen davon aus, dass im Begriff der Kausalität ein Gesetz enthalten ist, wobei der wesentliche Unterschied in der Begründung dieses Gesetzes der Kausalität liegt. Im zweiten Kapitel dieser Arbeit wird aufgezeigt, dass sich mit der notwendigen Verknüpfung von Ursache und Wirkung die Vernunft in einem Widerspruch verliert. Dieses erfasst Kant im Dialektik-Ab‐ schnitt der ersten Kritik unter dem Begriff der dritten Antinomie, die den Schwerpunkt der Auseinandersetzung ausmacht. Dabei wird der Widerspruch aufgelöst, indem Kant auf Grundlage seines transzen‐ dentalen Idealismus einen doppelten Charakter der Ursache ableitet, durch den sowohl Natur als auch Freiheit widerspruchslos bestehen können. Dieses Zwischenergebnis ist eine essenzielle Voraussetzung für die weitere Betrachtung eines freien Willens.

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§ 1. Notwendigkeit im Zusammenhang der Naturereignisse

§ 1.1 Hume zum Problem der Kausalität und Kants Antwort

Auf erkenntnistheoretischer Grundlage stellt Hume heraus, dass die notwendige Verknüpfung von Ursache und Wirkung weder analy‐ tisch (d.h. aus Denkakten a priori) noch empirisch (a posteriori) begründet werden kann. Da diese Beziehung grundlegend zur Ko‐ härenz der Erfahrung beiträgt, muss ihr notwendiger Gebrauch gerechtfertigt werden, was nach Hume nur durch eine psychologi‐ sche Gewohnheit erfolgen kann. In diesem Unterkapitel wird Hu‐ mes Grundverständnis von Kausalität analysiert und, damit zusam‐ mengehend, seine wesentlichen erkenntnistheoretischen Ansichten dargelegt. Da Humes Kausalitätsbegriff einer der Hauptgründe für Kants Kritik an Hume ist, kann man anhand einer Analyse der Hu‐ meschen Gabel diese Kritik einfacher nachvollziehen.15 Kant vertritt dabei die Position, dass das Prinzip der Kausalität ein synthetischer Satz a priori ist und damit die Bedingung der Möglichkeit von Er‐ fahrung ist. 1.1.1 Die Humesche Gabel Im vierten Abschnitt der ›Enquiry‹ untergliedert Hume alle Gegen‐ stände des menschlichen Denkens in zwei Arten: »Relations of Ide‐ as« und »Matters of Fact«, die sogenannte »Humesche Gabel«.16 Die erste Art enthält die Lehren der Geometrie, Algebra und Arith‐ metik, die entweder auf demonstrativer (Geometrie) oder intuitiver 15 Die folgende Auseinandersetzung wird sich, ähnlich zu Guyers Herangehens‐ weise, vorwiegend auf die ›Enquiry‹ beziehen, da Kant diese, anders als bei‐ spielsweise die ›Treatise‹, bereits 1755 durch Sulzers Übersetzung vorlag, vgl. Guyer, P., Knowledge, Reason, and Taste, S. 75. Dennoch wird die ›Treatise‹ an bestimmten Stellen herangezogen, da, wie Beck bereits angemerkt hat, Kants Kausalitätsverständnis dem Humeschen hier im Besonderen nahesteht, vgl. Beck, L. W., The Prussian Hume and Scottish Kant, S. 112. Dabei ist jedoch anzumerken, dass die ›Treatise‹ erst zwischen 1790–92 übersetzt wurde, als die erste und zweite Auflage der ›Kritik der reinen Vernunft‹ bereits veröffentlicht waren. In der Forschungsliteratur wird die Meinung vertreten, dass Kant nur sehr geringe Englischkenntnisse hatte und es damit ausgeschlossen sei, dass er die ›Treatise‹ in der originalen Schriftsprache gelesen hat. Auf die erstaunlichen Parallelen bezüglich derselben Metaphorik, der sich sowohl Kant als auch Hu‐ me in der ›Treatise‹ bedienen, sei aber mit Groos hingewiesen, vgl. Groos, K., Hat Kant Hume’s Treatise gelesen?, S. 177–181.

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I. Ursachen in der Natur

(Arithmetik) Gewissheit beruhen. Ihre Sätze lassen sich durch bloße Denktätigkeit (a priori) entdecken, unabhängig von ihrer wirklichen Existenz: Though there never were a circle or triangle in nature, the truths, demonstrated by Euclid, would for ever retain their certainty and evi‐ dence. (EHU sec. 4, part 1.1)

Die Wahrheit intuitiver und demonstrativer Urteile hängt also nicht davon ab, ob Erfahrung von ihnen in der Natur gemacht werden kann. Vielmehr wird ihre Validität dadurch gewährleistet, dass ge‐ zeigt wird, dass die Annahme ihres Gegenteils zu Widersprüchen führen würde. Die Wahrheit der »Matters of Fact« kann hingegen weder intuitiv noch demonstrativ begründet werden, da ihr Gegen‐ teil, ohne einen Widerspruch zu evozieren, immer möglich ist: That the sun will not rise tomorrow is no less intelligible a proposition, and implies no more contradiction, than the affirmation, that it will rise. (EHU sec. 4, part 1.2).

Wenn von Tatsachen widerspruchsfrei das Gegenteil angenommen werden kann, stellt sich die Frage, auf welcher Grundlage ihnen geglaubt werden kann. Eine Antwort auf diese Frage ist nach Hume möglich, indem zuvor erklärt wird, wie wir überhaupt zu einer Er‐ kenntnis von Ursache und Wirkung kommen, da alles Tatsachenwis‐ sen auf der Beziehung zwischen Ursache und Wirkung beruht (EHU sec. 4, part 1.4). Die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung kann nach Hume nicht durch Denkakte a priori begründet werden, wofür er zwei Argumentationsschritte aufzeigt: (1) Ursache und Wirkung sind im‐ mer nur Vorstellungen (ideas)17 von etwas Seiendem (THN I; 2,6 [4]), wobei Vorstellungen nur Abbilder sinnlicher Eindrücke (im‐ pressions) sind. Während Eindrücke durch sinnliche Wahrnehmung entstehen, sind Vorstellungen dann immer nur gedankliche Kopien des sinnlich Wahrgenommenen. Die notwendige Verknüpfung von 16 Vgl. Von der Lühe, A., Wie ist eine empirische Wissenschaft vom Menschen möglich? Humes skeptische Zweifel und ihre skeptische Lösung (Abschnitt II und III), S. 56. 17 Hume verwendet den Begriff »ideas«, der jedoch in der deutschen Übersetzung Idee zu Doppeldeutigkeiten führen kann und daher den Übersetzungen gleich‐ kommend auch hier als Vorstellung übersetzt wird.

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§ 1. Notwendigkeit im Zusammenhang der Naturereignisse

zwei Vorstellungen anzunehmen, ist deshalb nicht zu begründen, da sie über den sinnlichen Eindruck, den wir von den Gegenständen haben, hinausgeht, weil kein Gegenstand die Existenz eines anderen impliziert: There is no object, which implies the existence of any other if we consider these objects in themselves, and never look beyond the ideas which we form of them (THN I; 3,6 [1]).

Daraus wird gefolgert, dass die Wirkung von der Ursache verschie‐ den ist und daher niemals in der Ursache selbst entdeckt werden kann (vgl. EHU sec. 4, part 1.8). (2) In der Konsequenz bedeutet dies, dass eine Wirkung auf einen Gegenstand sowohl mit als auch ohne einen anderen Gegenstand als Ursache gedacht werden kann. Hierdurch kritisiert Hume gleichzei‐ tig den in der Philosophie intuitiv für wahr angenommenen Grund‐ satz, »dass etwas, das zu existieren beginnt, eine Ursache haben müsse«18: Ein Gegenstand kann in einem Augenblick als existierend und im nächsten Augenblick als nichtexistierend gedacht werden, ohne diesen Vorgang mit der Vorstellung einer Ursache verbinden zu müssen, da der Gegenstand und seine Ursache unabhängig vonein‐ ander sind. Da die Wirkung nicht direkt aus der Ursache abzuleiten ist, könnte immer eine alternative Ursache für sie verantwortlich sein. Es zeigt sich also, dass »jeder demonstrative Beweis, der für die Notwendigkeit von Ursache vorgebracht worden ist, trügerisch und sophistisch ist«19. Hume zieht den Schluss, dass die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung theoretisch nicht zu rechtfertigen ist. Es ist nach Hume nicht nur analytisch unmöglich, die Notwen‐ digkeit in Beziehungen von Gegenständen zu rechtfertigen, sondern auch empirisch, was nur induktiv aus der Erfahrung heraus erfol‐ gen kann. Die Bedingung für induktive Schlüsse ist die Annahme, dass »die Zukunft der Vergangenheit ähneln würde«20. Wird nun 18 »[…] that whatever begins to exist, must have a cause of existence« (THN I; 3,3 [1]). 19 »[…] every demonstration, which has been produc’d for the necessity of a cause, is fallacious and sophistical« (THN I; 3,3 [4]). 20 »We have said, that all arguments concerning existence are founded on the relation of cause and effect; that our knowledge of that relation is derived entirely from experience; and that all our experimental conformable conclu‐

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I. Ursachen in der Natur

beobachtet, dass auf eine bestimmte Ursache eine bestimmte Wir‐ kung folgt, so resultiert unter der Annahme, dass Zukunft und Ver‐ gangenheit sich entsprechen, dass auch in Zukunft diese Ursache dieselbe Wirkung zur Folge hat. Damit wäre ein induktiver Beweis des Kausalitätsprinzips eine petitio principii, da die notwendige Vor‐ aussetzung, um induktive Schlüsse ziehen zu können, bereits die Existenz einer notwendigen kausalen Relation zwischen Ursachen und Wirkungen impliziert (vgl. ebenda). Nachdem nun dargelegt wurde, warum Kausalität weder analy‐ tisch noch empirisch gerechtfertigt werden kann, stellt sich die Fra‐ ge, weshalb in der Praxis trotzdem kausale Schlüsse gezogen werden. Dies geschieht deshalb, weil die Kausalität essenziell für Erfahrung ist und alle unsere »Gedankengänge (reasonings)« (EHU sec. 4, part 1.4) und Erfahrungssätze auf ihr gründen. Sie ist die einzige Vorstellungsbeziehung, die über die Sinne hinausgeht und die Ge‐ genstände zuallererst in Zusammenhang zueinander setzt, was durch ›abstraktes Denken‹ eben nicht erfolgen kann: And as the power, by which one object produces another, is never discoverable merely from their idea, ›tis evident cause and effect are relations, of which we receive information from experience, and not from any abstract reasoning or reflexion. (THN I; 3,1 [1]).

Mit ihr können wir also aus zunächst zwei voneinander unabhän‐ gigen und nicht gegenwärtigen Tatsachen Verknüpfungen in Form von Ursache und Wirkung herstellen (EHU sec. 4, part 1.4). Dabei schließen wir in gewisser Weise mechanisch vom Einzelnen auf das Allgemeine, indem wir durch die Erwartung ähnlicher Ereignisse zu diesem Schluss verleitet werden. An die Summe unserer Erfahrungs‐ schlüsse angelehnt, beruhen daher alle unsere Erfahrungsbeweise nur auf Ähnlichkeit (similarity): »From causes, which appear simi‐ lar, we expect similar effects« (EHU sec. 4, part 2.20). Wir erinnern uns an den Gegenstand Flamme und verbinden mit diesem, dass wir im Zusammenhang mit diesem Gegenstand die Empfindung Wärme hatten (vgl. EHU sec. 5, part 1.8). Das Erste nennen wir dann Ursache und das Zweite dann die Wirkung. Mit dem Prinzip der Gewohnheit als »die große Führerin im Menschenleben« (EHU sec. sions proceed upon the supposition, that the future will be conformable to the past« (EHU sec. 4, part 2.19).

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§ 1. Notwendigkeit im Zusammenhang der Naturereignisse

5, part 1.6) wird aufgrund eines Sich-Erinnerns die Verbindung zwi‐ schen dem mehrfachen Zusammengehen der Gegenstände herge‐ stellt. Humes Antwort auf die Frage, aus welchen anderen Gründen, wenn schon nicht aus Vernunftgründen, wir kausale Zusammenhän‐ ge erkennen, ist mit dem Prinzip der Gewohnheit, und zwar als eines psychologischen Grundbedürfnisses, somit nur pragmatisch gegeben.21 Da alle gewohnheitsmäßigen Verbindungen zwischen den Gegen‐ ständen einem Prinzip des Glaubens unterliegen, sind alle aus der Gewohnheit abgeleiteten Tatsachen immer nur Tatsachenglauben: […] having found, snow and cold, have always been conjoined together; if flame or snow be presented anew to the senses, the mind is carried by custom to expect heat or cold, and to believe, that such a quality does exist, and will discover itself upon a nearer approach. (EHU sec. 5, part 1.8).

Der Glaube (belief ) darf jedoch nicht mit dem Begriff der Fiktion (fiction) verwechselt werden, denn im Gegensatz zu einer Fiktion ist der Glaube ein Gefühl (feeling) oder eine Empfindung (sentiment) und nicht mit dem Willen verbunden (vgl. EHU sec. 5, part 2.11). Ausgehend von dieser Empfindung, ist es zuerst möglich, zwischen ablehnenden und zustimmenden Vorstellungen zu unterscheiden. Im Gegensatz zu einer Fiktion ist mit dem Glauben eine lebhafte und gegenwärtige Vorstellung eines Gegenstandes verbunden. Pro‐ blematisch merkt Hume selbst an dem Prinzip der Gewohnheit an, dass der religiöse Glauben nach demselben Prinzip verfährt und die Gewohnheit Aberglaube und solche aus ihr abgeleiteten Unwahrheiten rechtfertigen könnte. Deshalb ist es wichtig, dass ge‐ rade den Ursachen, die unregelmäßiger (irregular) und ungewisser (uncertain) (vgl. EHU sec. 6, 4) auftreten, eine möglichst objekti‐ ve Tatsachenbestimmung zugrunde liegt, da ihnen unterschiedliche 21 Beck zeigt, dass Hume zwar das Prinzip der Kausalität nur aufgrund von Ge‐ wohnheit rechtfertigen kann, er aber bereits erkennt, dass dann, wenn diese An‐ nahme nicht getroffen werden würde, eine kohärente Erfahrung nicht möglich wäre und deshalb aus praktischen Gründen zwingend getroffen werden muss: »Statt einer einfach induktiven Erklärung skizziert Hume erstaunlicherweise einen recht Kantischen Ansatz. Er sieht in der praktisch-bedingten menschli‐ chen Forderung nach Kohärenz der Erfahrung die Wurzel eines fiktiven (nicht induktiven!) Glaubens an die Ausnahmslosigkeit der kausalen Bedingtheit über‐ haupt«, Beck, L. W., Über die Regelmässigkeit der Natur bei Kant, S. 45.

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Wirkungen zugeschrieben werden können, so kann etwa die gleiche Medizin bei unterschiedlichen Menschen anders wirken. Das heißt, dass der Geist, ehe er Vergangenes auf Zukünftiges überträgt, alle diese unterschiedlichen Wirkungen mitberücksichtigt und ihm diese gegenwärtig sein müssen. Mithilfe von Experimenten kann man schließlich die Häufigkeit des Auftretens einer Wirkung bestimmen und ihr hierdurch ein bestimmtes Gewicht zugeschrieben werden (vgl. ebd.). 1.1.2 »Schranken« zu »Grenzen« der Erkenntnis erweitern Humes Ansatz, den Dogmatismus zu überwinden, steht Kant zwie‐ gespalten gegenüber: Zum einen merkt er in den ›Prolegomena‹ positiv an, dass Hume bestrebt war, den dogmatischen Gebrauch der Vernunft über die Grenzen möglicher Erfahrung zu korrigieren (vgl. Prol., 360). Zum anderen kritisiert er, dass Hume anstelle des Dog‐ matismus den Skeptizismus setzt, wodurch sich die Vernunft auf der anderen Seite in ihrer Erkenntnisgewinnung zu sehr einschränkt.22 22 In der Forschungsliteratur stellt sich grundsätzlich die Frage, was Kant am Skeptizismus von Hume kritisiert. Es gibt beispielsweise die Position von Guyer, der behauptet, dass Kant mit seiner Kritik an Hume und dessen Verständnis von Kausalität einen anderen Zweifel adressiert, als Hume selbst im Sinn hatte. Nach Guyer richtet sich der skeptische Zweifel vor allem gegen das Problem der Induktion, welches Kant in seiner Antwort auf Hume nicht behandelt, vgl. Guyer, P., Kant’s Answer to Hume?, S. 130. Beck auf der anderen Seite behauptet, dass Kants Kritik am Skeptizismus nicht so weit ging, Humes Begriff von Kau‐ salität abzulehnen. Denn in der zweiten Analogie Kants und in der ›Treatise‹ erkennt Beck, dass beide Autoren einen ähnlichen Begriff von Kausalität vertre‐ ten haben. Beck, L. W., The Prussian Hume and Scottish Kant, S. 112. Dagegen ist anzumerken, dass Humes Skeptizismus zwar auch die notwendigen kausa‐ len Zusammenhänge in der Natur anzweifelt, jedoch richtet sich der Zweifel vielmehr gegen den vernünftigen Ursprung als Rechtfertigung solcher metaphy‐ sischen Begriffe, wie den der Kausalität. In den ›Prolegomena‹ verweist Kant auf eben diesen Punkt, wenn er schreibt: »Es war nicht die Frage, ob der Begriff der Ursache richtig, brauchbar und in Ansehung der ganzen Naturerkenntnis unentbehrlich sei, denn dies hatte Hume niemals in Zweifel gezogen; sondern ob er durch die Vernunft a priori gedacht werde und auf solche Weise eine von aller Erfahrung unabhängige innere Wahrheit [...] habe [...]« (Prol., 258). Kants Kritik gegen Hume richtet sich vor allem gegen seinen Empirismus, der einen Skeptizismus zur Folge hat und sich auf die Rechtfertigung der Notwendigkeit im Begriff der Kausalität umschlägt (vgl. KpV, 52).

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§ 1. Notwendigkeit im Zusammenhang der Naturereignisse

Mit einer Kritik der Vernunft führt Kant einen »wahren Mittelweg« (Prol., 360) zwischen dem Dogmatismus und Skeptizismus ein, der nichts anderes als eine Grenzbestimmung der Vernunft ist und damit »das Feld der möglichen Erfahrung« (Prol., 360) zu ermitteln ver‐ sucht. Der Ertrag seiner Untersuchung besteht darin, die Schranken der empirischen Erkenntnis bis zu einer Grenze möglicher Erfah‐ rung erweitern zu können, die zwischen dem unterscheidet, was wir erkennen und was wir denken können. Dabei besteht der Mittelweg darin, zu klären, ob neben empirischer und analytischer Erkennt‐ nis, von denen Hume ausgegangen ist, eine weitere, synthetische Erkenntnis a priori möglich ist. Diese synthetische Erkenntnis muss jedoch mittels einer Deduktion gerechtfertigt werden, da sie sonst wieder in den Dogmatismus umschlagen würde. Obwohl Hume (nach Kant) eine Deduktion versucht hat, die er am Ende seiner Untersuchung jedoch für unmöglich hielt, rechnet es Kant ihm dennoch hoch an, dass ihm im Vergleich zu seinen Vorgängern der Versuch einer Deduktion überhaupt eingefallen war (vgl. Prol., 260). So war es auch Hume, der Kant aus dem »dogma‐ tischen Schlummer« erweckt und die kritische Philosophie in eine richtige Richtung gelenkt hat: Ich gestehe frei: die Erinnerung des David Hume war eben dasjenige, was mit vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unter‐ brach, und meinen Untersuchungen im Felde der speculativen Philoso‐ phie eine ganz andere Richtung gab (Prol., 260).

Diese Erinnerung zeichnete sich als notwendiger Weckruf aus, um den von der Humeschen Philosophie ausgehenden Angriffen auf die Metaphysik als Wissenschaft entschieden entgegenhalten zu können: Seit Lockes und Leibnizens Versuchen, oder vielmehr seit dem Entste‐ hen der Metaphysik, so weit die Geschichte derselben reicht, hat sich keine Begebenheit zugetragen, die in Ansehung des Schicksals dieser Wissenschaft hätte entscheidender werden können, als der Angriff den David Hume auf dieselbe machte. (Prol., 257).

Während Humes Angriff auf die Metaphysik zunächst nur die »po‐ lizeilose Dialektik« (Prol., 351) betraf, um »den Gebrauch der Ver‐ nunft nicht über das Feld aller möglichen Erfahrung, dogmatisch hinaus zu treiben« (Prol., 360), führte seine Kritik der Metaphysik jedoch irgendwann so weit, die »Erfahrungsgrundsätze« (Prol., 360) selbst in Zweifel zu ziehen. Dabei wird am Beispiel der Kausalität

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nicht die Unentbehrlichkeit ihres Gebrauches angezweifelt, sondern im Gegenteil gezeigt, dass von der Kausalität die Kohärenz der Erfahrung abhängt, da nur mit ihr Zusammenhänge in der Welt be‐ schrieben werden können. Damit richtet sich der Humesche Skepti‐ zismus allein gegen den a priorischen Ursprung dieser Grundsätze (vgl. Prol., 259). Hume ging es also nicht darum, wie Paulsen be‐ tont, alles Wissen über die Gegenstände überhaupt in Zweifel zu ziehen, wie man ihm irrtümlicherweise vorgeworfen hat, sondern nur das Wissen über die Gegenstände anzuzweifeln, die nicht in der Erfahrung liegen.23 Hume ging also davon aus, dass er über die Gegenstände, die er wahrnimmt, nicht mehr aussagen kann als das, was er wahrnimmt. Auch wenn Hume nicht alles Wissen anzweifelt, schränkt sich der Empirismus hiernach dennoch deutlich in den Möglichkeiten seiner Erkenntnisgewinnung ein. Dieses macht Kant am Beispiel der Ober‐ flächenbestimmung der Erde in der »Methodenlehre« der ›Kritik der reinen Vernunft‹ deutlich. Eine empirische Flächenbestimmung zur Erreichung des Horizontes ist nach Kant nicht möglich, da, »wohin ich nur komme, ich immer einen Raum um mich sehe, dahin ich weiter fortgehen könnte« (KrV, A 759/B 787). Allein unter der Annahme, dass die Erde eine Kugel ist, lässt sich ihre Fläche aufgrund von mathematischen Beziehungen und Messungen von Distanzen bestimmen. Durch diese mathematischen Urteile wird die Erfahrungserkenntnis aus den gemessenen Distanzen erweitert, sodass die Erdoberfläche doch bestimmt werden kann. In der rein empirischen Erdkunde sind vielmehr Schranken gesetzt, wodurch die Grenzen möglicher Erdbeschreibung nicht erkannt werden kön‐ nen (vgl. KrV, A 759/B 787). Demnach ist im übertragenen Sinne auch das Vermögen der Vernunft selbst nur auf das Empirische beschränkt. Analog war es Hume nicht möglich, die Notwendigkeit in der Kausalität zu begründen, weil er sich darauf beschränkt hat,

23 Nach Paulsen richte sich Hume gegen diejenigen, die behaupten, dass eine Erkenntnis aus reiner Vernunft möglich sei. Am Beispiel des Kausalitätsgesetzes zeigt Hume schließlich, dass sie, gerade weil sie für die Erfahrung vorausgesetzt werden muss, auch nur aus der Erfahrung ableitbar und nicht aus der Vernunft deduzierbar ist, vgl. Paulsen, F., Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Kanti‐ schen Erkenntnistheorie, S. 130.

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nicht über die Gegenstände der Erfahrung hinauszugehen.24 Für Kant ist Hume demnach »einer dieser Geographen der menschli‐ chen Vernunft« (KrV, A 760/B 788), die alle Fragen unserer reinen Vernunft für unbestimmbar halten, da sie außerhalb des unbestimm‐ baren Horizontes liegen.25 Dies veranlasst Kant zu dem Schluss, dass Humes Skeptizismus gegenüber dem Dogmatismus zwar ein weiterer Schritt ist, die Ver‐ nunft aber, da sie nur auf das Empirische eingeschränkt bleibt, nicht gänzlich von der Zensur befreien kann: Der erste Schritt in Sachen der reinen Vernunft, der das Kindesalter derselben auszeichnet, ist dogmatisch. Der eben genannte zweite Schritt skeptisch, und zeugt von Vorsichtigkeit der durch Erfahrung gewitzig‐ ten Urteilskraft. Nun ist noch ein dritter Schritt nötig […] welches nicht Zensur, sondern Kritik der Vernunft ist. (KrV, A 761/B 789).

Eine Kritik der Vernunft als dritter Schritt nutzt hingegen die Un‐ wissenheit als Antrieb, um Nachforschungen anzustellen, und zwar »kritisch, durch Ergründung der ersten Quelle unserer Erkenntnis« (KrV, A 758/B 786).26 Der Anspruch einer Kritik der Vernunft, die Quellen unserer Erkenntnis neu zu ergründen, erfordert, die Erkenntnisschranken des Empirismus durch Grenzen zu ersetzen. Grundsätzlich ist sie also mit der Aufgabe konfrontiert, nicht allein

24 So schreibt Kant: »Aus dem Unvermögen unserer Vernunft nun, von diesem Grundsatz [Kausalität, vgl. hierzu KrV, A 737/B 765] einen über alle Erfahrung hinausgehenden Gebrauch zu machen, schloß er die Nichtigkeit aller Anma‐ ßungen der Vernunft überhaupt über das Empirische hinaus zu gehen.« (KrV, A 760/B 788). 25 Die geografische Metaphorik und der Ausdruck »Geographen der menschli‐ chen Vernunft« sind eine Kritik Kants an Hume, die sich nach Brandt auf Humes‘ eigene Wortwahl in der ›Enquiry‹ oder zumindest auf die von Sulzer übernommene Übersetzung von 1755 bezieht. Dort heißt nämlich: »Wenn wir auch nicht weiter gehen können, als bis zu dieser geistlichen Erdbeschreibung, oder zu diesem Abrisse der verschiedenen Theile und Kräfte des Gemüthes ...«, vgl. Brandt, R., Einführung, S. 11. 26 Als Kontrast hierzu findet sich eine Stelle in der ›Enquiry‹, in der Hume ein Eingeständnis seiner Unwissenheit preisgibt, die nach ihm aber unüberwindbar scheint: »Where we trace the principles of the human mind through a few steps, we may be very well satisfied with our progress; considering how soon nature throws a bar to all our enquiries concerning causes, and reduces us to an acknowledgement of our ignorance.« (sect. 7, part I).

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herauszustellen, »wie Erkenntnis möglich ist«, sondern, damit eng verbunden, bis wohin die Grenze unserer Erkenntnis reicht. Hiervon ausgehend, fragt sich Kant, ob unabhängig von Erfah‐ rung eine »nicht physische, sondern metaphysische« (Prol., 265) Erkenntnis möglich ist. Angeleitet durch Hume, der der Vernunft das Vermögen absprach, »solche Verknüpfungen nur im allgemeinen, zu denken« (Prol., 258), verfolgt Kant nach Carl mit einer »Deduktion der Kategorien« ein zweifaches Ziel: Zum einen will er aufzeigen, dass die Kategorien a priori aus dem reinen Verstand stammen (Prol., 260) und daher nicht aus »Erfahrung abgeleitet« (Prol., 260) werden können. Zum anderen sind sie keine »bloße Erdichtung« (Prol., 258), da ihnen außerdem objektive Realität zusteht und sie sich a priori auf Erfahrung anwenden lassen.27 Der »Deduktion der Kategorien« kommt nach Kant daher ein besonderer Stellenwert zu, da sie »zuerst die Möglichkeit einer Metaphysik« (Prol., 260) als Wissenschaft, basierend auf deduzierten Prinzipien und Methoden, ausmacht. In der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ lässt sich für Kant das Re‐ sümee ziehen, dass Hume dadurch, dass er die Gegenstände der Er‐ fahrung für Dinge an sich hielt, keine Notwendigkeit der Kausalität erkennen und ihr somit auch keine Erkenntnis a priori einräumen konnte (vgl. KpV, 53).28 Hume steht mit dieser Verwechslung (»wie es doch auch fast überall geschieht« (ebd.)) nicht alleine da, denn 27 Vgl. Carl, W., Der schweigende Kant, S. 147. 28 Der Vorwurf von Kant Hume gegenüber, zwischen Dingen an sich und Erschei‐ nungen nicht unterschieden zu haben, zeigt nach Guyer auf, dass Kant Hume nicht gelesen hat. Guyer betont schließlich, dass Hume die Unterscheidung nicht geläufig war: »But Kant’s main thesis here,[...] does not sound like any‐ thing said by Hume, to whom after all Kant’s distinction between appearances and things in themselves was unknown«, Guyer, P., Kant’s Answer to Hume?, S. 129. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Kant mit dem Vorwurf nur darauf aufmerksam machen will, dass die Gegenstandsbereiche zwischen dem, was wir wissen und nur denken können, nicht ausreichend abgesteckt sind. In der zweiten Kritik zeigt er beispielsweise gegen Mendelssohn und Spinoza, dass auf Grundlage der transzendentalen Differenz Gott als Schöpfer nicht die Ursache von Erscheinungen sein kann, »weil der Begriff der Schöpfung nicht zu der sinnlichen Vorstellungsart der Existenz und zur Causalität gehört [...]« (KpV, 102). Dagegen argumentiert Kant gegenüber Hume, dass wir mit dieser trans‐ zendentalen Unterscheidung berechtigt sind, über die Welt mehr aussagen zu können, als Hume angenommen hat, weil wir es mit den Gegenständen in der Welt gerade nicht mit Dingen an sich, sondern Erscheinungen zu tun haben.

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auch die dogmatische Metaphysik versuchte, ihre Erkenntnis über Dinge an sich durch bloße Begriffe zu erschließen. Dahingegen kann mit einer kritischen Metaphysik herausgestellt werden, dass die Ge‐ genstände der Erfahrung nur Erscheinungen sind und nicht Dinge an sich. Mithilfe einer Kritik der Vernunft ist eine Grenzbestimmung der Vernunft festgelegt, mit der die Schranken der sinnlichen Welt zwar übertreten werden können, wenngleich eine Erkenntnis außer‐ halb der Schranken der Erfahrung nicht möglich ist. In den ›Pro‐ legomena‹ unterscheidet Kant daher metaphorisch zwei »Räume«, denen er entweder die Eigenschaft »leer« oder »voll« zuschreibt, abhängig davon, ob Erfahrung von ihnen möglich ist: Oben (§33, 34) haben wir die Schranken der Vernunft in Ansehung aller Erkenntniß bloßer Gedankenwesen angezeigt: jetzt, da uns die transcendentalen Ideen dennoch den Fortgang bis zu ihnen nothwendig machen und nur also gleichsam bis zur Berührung des vollen Raumes (der Erfahrung) mit dem leeren (wovon wir nichts wissen können, den Noumenis) geführt haben, können wir auch die Grenzen der reinen Vernunft bestimmen; (Prol., 354).

Während der »volle Raum« unserer Erfahrung zugänglich ist, ist der »leere Raum« unabhängig von Erfahrung, von dem wir also auch nichts wissen können. Da sich unsere Anschauung von Dingen auf unsere Sinne beschränkt, können wir diese nur erkennen, wie sie uns erscheinen. Die Dinge an sich bleiben für uns daher leer, da sie »nicht Objekt unserer sinnlichen Anschauung« (KrV, B 307) sind und damit von der Vernunft nicht erkannt werden können. Die Gegenstände der Erfahrung können somit nur Erscheinungen sein. Wir können uns zwar keinen Begriff vom Ding an sich machen, unsere Vernunft kann sich jedoch nicht »frei vor der Nachfrage nach diesen« (Prol., 351) machen. Die Grenze zwischen diesen beiden Räumen kann zwar nicht überschritten, die Erkenntnis aber bis zu dieser Grenze erweitert werden (Prol., 357). Das Noumenon im »negativen Verstande« markiert somit als »Grenzbegriff« die Sinnenwelt und die Vernunftwelt, »um die sinnliche Anschauung nicht bis über die Dinge an sich selbst auszudehnen« (KrV, B 310). Mit einer Grenzbestimmung hätte Hume feststellen müssen, dass seine Erkenntnis nicht bis zur Grenze der Möglichkeit von Erfah‐ rung ausgeweitet und die Vernunft in ihren Erkenntnisfähigkeiten beschränkt ist. Auf diese Weise hätte er nach Kant einsehen können, dass dann, wenn Ursache A gesetzt wird, es einen Widerspruch gäbe,

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wenn B als Wirkung nicht (notwendigerweise) folgen würde. Dies wäre ihm nach Kant nur dann gelungen, wenn er die Gegenstände in der Erfahrung nur als Erscheinungen und nicht als Dinge an sich betrachtet hätte: Aus meinen Untersuchungen aber ergab es sich, daß die Gegenstände, mit denen wir es in der Erfahrung zu thun haben, keineswegs Dinge an sich selbst, sondern blos Erscheinungen sind, und daß, obgleich bei Dingen an sich selbst gar nicht abzusehen ist, ja unmöglich ist einzuse‐ hen, wie, wenn A gesetzt wird, es widersprechend sein solle, B, welches von A ganz verschieden ist, nicht zu setzen (die Nothwendigkeit der Verknüpfung zwischen A als Ursache und B als Wirkung), es sich doch ganz wohl denken lasse, daß sie als Erscheinungen in einer Erfahrung auf gewisse Weise (z.B. in Ansehung der Zeitverhältnisse) nothwendig verbunden sein müssen und nicht getrennt werden können, ohne derje‐ nigen Verbindung zu widersprechen, vermittelst deren diese Erfahrung möglich ist, in welcher sie Gegenstände und uns allein erkennbar sind (KpV, 53).

Kant argumentiert in der Weise, dass es uns unmöglich ist, Erfah‐ rung von der notwendigen Verknüpfung von Dingen an sich zu machen, da diese epistemologisch nicht zugänglich sind. Zwischen Erscheinungen können wir jedoch zumindest im zeitlichen Verhält‐ nis eine Ordnung ausmachen, die nur mittels einer notwendigen Verknüpfung zwischen den Erscheinungen zustande kommen kann. Die Annahme einer solchen notwendigen Verknüpfung ist die Be‐ dingung für Erfahrung überhaupt und muss deswegen a priori vor‐ ausgesetzt werden. Dabei muss jedoch über die von Hume (auf empirische Erkenntnis) gesetzte Schranke hinausgegangen werden, da Notwendigkeiten nicht empirisch festgestellt werden können.29 Gleichzeitig wird die Erkenntnis jedoch nicht über die Grenze der Vernunft hinaus erweitert, da sich die gewonnenen Prinzipien a priori nur auf Erscheinungen anwenden lassen. Dadurch ist einer‐ seits gewonnen, dass die Erfahrungserkenntnis nicht über ihre Mög‐ lichkeiten hinausgreift und auf Erscheinungen begrenzt bleibt, wo‐ bei sie andererseits bis zur Grenze der Vernunft erweitert wird. Erst mit diesen Prinzipien a priori ist die Vernunft dazu fähig, über die Grenzen der Erkenntnis zu blicken, die die Denkbarkeit 29 »Erscheinungen geben gar wohl Fälle an die Hand, aus denen eine Regel mög‐ lich ist, nach der etwas gewöhnlicher maßen geschieht, aber niemals, daß der Erfolg notwendig sei [...]« (KrV, B 124).

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von den transzendentalen Begriffen, wie Gott, Freiheit und Unsterb‐ lichkeit, ermöglichen. Da Hume keine Prinzipien a priori angenom‐ men hat, ist es ihm auch versagt, über diese Begriffe zu urteilen. Dies wirft ihm zumindest Kant in der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ vor: [D]enn er [Hume] verlangte, wie bekannt, nicht mehr, als daß statt aller objektiven Bedeutung der Nothwendigkeit im Begriffe der Ursache eine blos subjektive, nämlich Gewohnheit, angenommen werden, um der Vernunft alles Urtheil über Gott, Freiheit und Unsterblichkeit abzuspre‐ chen [...] (KpV, 13).

Mit der deduzierten Notwendigkeit in der Kausalität als Bedingung möglicher Erfahrung verliert sich die Vernunft in der Anwendung dieses Prinzips in einen vermeintlichen Widerspruch mit sich selbst, der aber dann, wenn er aufgelöst werden kann, die widerspruchs‐ freie Annahme einer transzendentalen Freiheit zur Folge hat. Hume hingegen verwehrt der Vernunft jedes Urteil über Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, da er der Ursache lediglich eine subjektive Not‐ wendigkeit zuschreibt, die nur aufgrund von Erfahrung begründet werden kann.30 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass eine Grenzbestim‐ mung Hume davor bewahrt hätte, die Vernunft auf die Empirie zu beschränken und damit nicht ihr volles Potenzial auszuschöpfen. Während Hume nach Kant also sein Schiff am Strand verfaulen lässt, bereitet dieser sich, nach dem das Land des reinen Verstandes »durchmessen« und jeder Gegenstand in ihm bestimmt wurde, auf die Erkundung des Ozeans vor, »dem eigentlichen Sitze des Scheins, wo manche Nebelbank, und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt« (KrV, B 295).31

30 Der Zusammenhang zwischen Hume und der Antinomie im Kontext des dog‐ matischen Schlummers wird im nachfolgenden Exkurs diskutiert. 31 »Allein diese Prolegomena werden ihn dahin bringen, einzusehen, daß es eine ganz neue Wissenschaft sei, von welcher niemand auch nur einen Gedanken vorher gefaßt hatte, wovon selbst die bloße Idee unbekannt war, und wozu von allem bisher Gegebenen nichts genutzt werden konnte, als allein der Wink, den Humes Zweifel geben konnte, der gleichfalls nichts von einer dergleichen mögli‐ chen förmlichen Wissenschaft ahndete, sondern sein Schiff, um es in Sicherheit zu bringen, auf den Strand (den Skeptizismus) setzte, da es denn liegen und verfaulen mag […]« (Prol., 261/262).

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§ 1.2 Kausalität und die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung

In den vorangegangenen Untersuchungen habe ich dargelegt, dass nach Kant die empirischen Schranken zu Grenzen erweitert werden müssen. Dabei wurde noch nicht konkretisiert, wie genau Kant die von Hume aufgeworfenen Probleme in Bezug auf den gerechtfertig‐ ten Gebrauch der Kausalität lösen konnte. Insbesondere die Frage danach, wie sich Verstandesbegriffe auf Erfahrung anwenden lassen und somit die Humesche Gabel in einen, nach De Boer bezeich‐ neten Kantischen Dreizack (»Kant’s Trident«32) erweitert wird, ist bisher nicht geklärt. Dazu wird in der ersten Hälfte dieses Paragrafen untersucht, wie Kant den a priorischen Ursprung der Kausalität als Verstandesbegriff sowie ihre Anwendung auf wirkliche Erfahrung rechtfertigt. In der zweiten Hälfte des Paragrafen wird mithilfe der zweiten Analogie, die als Antwort auf Hume gesehen wird, disku‐ tiert, inwiefern das allgemeine Prinzip der Kausalität die Bedingung für empirische Gesetze ist. Der Begriff der Kausalität ist wie die anderen transzendentalen Grundsätze der Erfahrung die Bedingung der Möglichkeit von Er‐ fahrung. Kants Anspruch zeigt sich daher darin, den Ursprung der Kausalität unabhängig von allem Empirischen, das heißt a priori, zu ergründen.33 Um hieraus jedoch Erfahrung zu ermöglichen, muss im ersten Schritt die Rechtfertigung von Begriffen a priori durch die Möglichkeit ihrer Anwendung auf Sinnlichkeit gezeigt und im zweiten Schritt schließlich dargelegt werden, wie eine Anwendung im Konkreten erfolgt. Während Ersteres mit der »Deduktion der reinen Verstandesbegriffe« begründet wird, wird die Diskussion der Anwendung im Zweiteren, dem »Schematismuskapitel«, fortgesetzt. Zunächst soll dargelegt werden, wie Erkenntnis nach Kant über‐ haupt möglich ist. Nach ihm gibt es zwei Stämme menschlicher Erkenntnis: Sinnlichkeit und Verstand. Damit Erfahrung von Ge‐ genständen möglich ist, müssen diese die Bedingungen unseres Er‐ kenntnisvermögens erfüllen, das heißt, sie müssen zum Ersten in der Anschauung als Erscheinung gegeben sein und zum Zweiten durch den Verstand gedacht werden (vgl. KrV, B 125, B 29). Die Formen 32 De Boer, K., Kant’s Response to Hume’s Critique of Pure Reason, S. 397–404. 33 Vgl. Baum, M., Kants »Möglichkeit der Erfahrung«, S. 155ff.

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der Sinnlichkeit sind Raum und Zeit und die Begriffe des Verstandes sind Kategorien, womit sich zwei Typen a priorischer Begriffe zeigen (KrV, B 118). Für den »Rechtsanspruch«34 der Kategorien – und so auch der Kausalität – muss also gezeigt werden, dass sich Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen können und notwendige Bedin‐ gungen unserer Erkenntnis sind, anderenfalls wird dieser »als bloßes Hirngespinst gänzlich aufgegeben werden müsse[n]« (KrV, B 123). Dieses zeigt Kant schließlich mit einer transzendentalen Deduktion auf. Die Deduktion der Verstandesbegriffe ist im Gegensatz zu Raum und Zeit, die »wir mit leichter Mühe begreiflich machen können« (KrV, B 121), vor Schwierigkeiten besonderer Art gestellt. Mit Raum und Zeit als Formen der Sinnlichkeit kann uns ein Gegenstand überhaupt erst erscheinen, sodass sie »die Bedingung der Möglich‐ keit der Gegenstände als Erscheinung a priori enthalten« (KrV, B 122). Die reinen Verstandesbegriffe hingegen »stellen uns gar nicht die Bedingung vor, unter denen die Gegenstände in der Anschauung gegeben werden« (KrV, B 122), sodass uns ohne die »Funktionen des Verstandes« (KrV, B 122) Gegenstände in der Anschauung gegeben werden können. Es folgt daher eine transzendentale Deduktion der Verstandesbegriffe, die sich in zwei Teile aufteilen lässt.35 Im ersten 34 Kant führt den Begriff der Deduktion mit Rückgriff auf den juristischen Sprach‐ gebrauch seiner Zeit ein, mit dem eine faktische und rechtmäßige Verfügbarkeit ausgedrückt wird: »Die Rechtslehre, wenn sie von Befugnissen und Anmaßun‐ gen reden, unterscheiden in einem Rechtshandel die Frage über das, was Rech‐ tens ist, (quid juris) von der, die die Tatsache angeht, (quid facti) und indem sie von beiden Beweis fordern, so nennen sie den erstern, den die Befugnis, oder auch den Rechtsanspruch dartun soll, die Deduktion« (KrV, A 84/B 116). In einem Gerichtsverfahren geht es bei Tatsachenfragen zunächst nur um den allgemeinen Sachverhalt: Zum Beispiel, wo sich der Angeklagte zum Zeitpunkt der Straftat aufhielt. Rechtsfragen klären auf der anderen Seite beispielsweise, ob oder welche Rechtsnorm die angeklagte Person verletzt hat. Übertragen auf das Problem der reinen Verstandesbegriffe, stellt sich hier im Gegensatz zu empiri‐ schen Begriffen, deren objektive Realität durch Erfahrung bewiesen wird, die Frage, inwiefern wir von ihnen einen rechtmäßigen Gebrauch machen können. Denn aus der Erfahrung wird ihr rechtmäßiger Gebrauch nicht hinreichend einsichtig, weshalb die von diesen Begriffen ausgehende Beziehung auf Objekte eine Deduktion benötigt. Vgl. Henrich, D., Kant’s Notion of a Deduction and the Methodological Background of the First Critique, S. 29–46. 35 Ob es sich hier tatsächlich um zwei Schritte eines Beweises handelt oder ob es sich bei diesen beiden Schritten um zwei eigenständige Beweise handelt, wird in

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Teil der Deduktion (§ 15–20/21) wird gezeigt, dass uns mit den Ka‐ tegorien überhaupt Gegenstände der Erfahrung gegeben werden. Hieraus folgt die objektive Gültigkeit der Kategorien (vgl. KrV, A 111), da, um aus ihnen Erkenntnis zu ermöglichen, sie auf Anschau‐ ung restringiert sein müssen. In den Paragrafen 22–25 weist Kant schließlich auf diese Grenzen des Gebrauches der Kategorien hin. Im zweiten Teil der Deduktion (§ 26) zeigt Kant, dass die kategorial bestimmten Gegenstände darüber hinaus in unserem Verstand not‐ wendig miteinander verbunden sind (vgl. KrV, B 159).36 der Literatur kontrovers diskutiert. Die zweite Lesart widerspricht nach Henrich dem, was Kant in der Deduktion schreibt und bezieht sich dabei auf § 21 der Deduktion, in dem Kant schreibt, dass die Absicht der Deduktion erst dann er‐ reicht ist, wenn die objektive Gültigkeit der Kategorien erfolgt ist. Vgl. Henrich, D., The Proof-Structure of Kant’s Transcendental Deduction, S. 642. Henrich stellt sich damit gegen die These Patons, dass die transzendentale Deduktion in der zweiten Auflage aus einer subjektiven und objektiven Deduktion bestehe, die Kant in der ersten Auflage nicht deutlich unterscheidet, vgl. Paton, H. J., Kant’s Metaphysics of Experience, S. 241. Während in der objektiven Deduktion (§ 15–20) die objektive Gültigkeit der Kategorien bewiesen wird, erklärt die subjektive Deduktion (§ 21–26) die Anwendung der Kategorien auf menschliche Anschauung (»the subjective machinery which makes understanding possible as a faculty of human knowlege«), ebenda, S. 501. Allison hingegen stimmt zwar Henrichs Modell des »two-steps-in-one-proof« zu, wobei er nicht mit ihm über die Platzierung der zwei Schritte in der Deduktion übereinkommt, vgl. Allison, H. E., Kant’s Transcendental Idealism, S. 162. Nach Allison ist der erste Teil der Deduktion von sinnlicher Anschauung abstrahiert und damit allgemeiner, der zweite Teil hingegen betrachtet die Restriktion der Kategorien auf unsere sinnliche Anschauung und ist spezieller, vgl. ebenda. Zwar kann, von Allisons Lesart ausgehend, die in der Literatur ebenso infrage gestellte Kompatibilität des Deduktionskapitels und des Schematismuskapitels gerechtfertigt werden, wobei sich zeigen wird, dass der von Allison genannte zweite Schritt bereits im ersten Deduktionsschritt gezeigt wurde. Hier vertrete ich die These, dass es sich tatsächlich um zwei Teile innerhalb der Deduktion handelt, da sich die Gegenstandsbereiche der beiden Abschnitte klar voneinander trennen lassen. 36 »Ohne diese ursprüngliche Beziehung auf mögliche Erfahrung, in welcher alle Gegenstände der Erkenntnis vorkommen, würde die Beziehung derselben auf irgendein Objekt gar nicht begriffen werden« (KrV, A 94/B 127). Gegen Locke und Hume wendet Kant also zweierlei ein: 1. Dass die sinnlich gegebenen Gegenstände bereits kategorial durch den Verstand bestimmt sein müssen, um von ihnen überhaupt Erfahrung machen zu können. Und darüber hinaus, dass es 2. auch eine Verstandesleistung ist, die Gegenstände miteinander notwendig verbunden zu denken und nicht, wie Hume es tat, aufgrund einer Regel der Assoziation. (Vgl. KrV, A 94/B 127). Vgl. Ludwig, B., Sollte die Kritik der reinen

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§ 1. Notwendigkeit im Zusammenhang der Naturereignisse

Dem ersten Teil der Deduktion folgend, sind die Kategorien als reine Verstandesbegriffe sogleich Bedingung und Möglichkeit, unter denen allein etwas als Gegenstand überhaupt gedacht wird (KrV, B 126). Ohne die Verstandesbegriffe ist »nichts als Objekt der Erfah‐ rung möglich« (KrV, B 126) und nur durch sie ist die Synthesis des Mannigfaltigen zu einer Erkenntnis möglich. Die objektive Gül‐ tigkeit der Kategorien scheint hierdurch begründet, da »durch sie allein Erfahrung (der Form des Denkens nach) möglich sei« (KrV, A 93/B 126). Eine Erkenntnis von Erscheinungen kann aber nur in der Vereinigung aus beidem – Anschauung und Begriffe – entspringen: Ohne Sinnlichkeit würden uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, An‐ schauung ohne Begriffe blind. (KrV, A 50/B 74).

Im Gegensatz zu Raum und Zeit, die sich allein auf Gegenstände37 der Sinne richten, können sich die Verstandesbegriffe »auf Gegen‐ stände der Anschauung überhaupt« (KrV, B 148) erstrecken. Da sie aber nur Werkzeuge des Denkens und Urteilens sind und so‐ mit »nichts als Gedankenformen, die bloß das logische Vermögen enthalten, das mannigfaltige in der Anschauung Gegebene in ein Bewusstsein a priori zu vereinigen« (KrV, B 305/306), sind sie ohne ihren Gebrauch auf mögliche Anschauung nur abstrakte Formen. Die Vernunftbegriffe sind daher auf die mögliche Anschauung re‐ stringiert und nur in der Verbindung mit sinnlich Gegebenen haben sie »Bedeutung und Sinn« (KrV, A 154/B 194) und objektive Realität, anderenfalls sind sie leere Begriffe. In der Folge bedeutet das, dass die Verstandesbegriffe auf Erscheinungen angewandt werden müs‐ sen, um ihnen eine Erkenntnisbedeutung zuschreiben zu können. Im zweiten Teil der Deduktion (§ 26), der dem Titel entsprechend einen »allgemein möglichen Erfahrungsgebrauch der reinen Ver‐ standesbegriffe« (KrV, B 159) behandelt, soll »jetzt« erklärt werden, »wie alles, was unseren Sinnen nur vorkommen mag, unter den Vernunft die Vollständigkeit der Urteilstafel tatsächlich (nur) »vor Augen stellen«? Allgemeine Logik und Transzendentalphilosophie in Kants Deduktion der reinen Verstandesbegriffe, S. 487. 37 Dabei bleibt der Gegenstand in begrifflicher Hinsicht unbestimmt: »Diejenige Anschauung, welche sich auf den Gegenstand durch Empfindung bezieht, heißt empirisch. Der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung heißt Erscheinung« (KrV, B 34).

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Gesetzen stehen müsse« (KrV, B 159). Dazu soll die Möglichkeit verdeutlicht werden, dass durch die Kategorien die Gegenstände a priori miteinander verbunden sind. Kant führt dazu folgendes Argument auf: Da Raum und Zeit nicht nur Formen der Anschau‐ ungen sind, sondern Anschauungen selbst, unterliegen auch diese den Kategorien des Verstandes und werden durch diese bestimmt. Folglich sind die Kategorien die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung, weil alle Synthesis unter den Kategorien steht, mit denen Erscheinungen verknüpft gedacht werden können (vgl. KrV, B 159). Nun zeigt sich jedoch das Problem, dass reine Verstandesbegrif‐ fe mit der empirischen Anschauung ungleichartig sind und dass daher geklärt werden muss, wie die Anwendung der Kategorien auf Erscheinungen überhaupt möglich ist. Dies zeigt sich beispiels‐ weise am Begriff der Kausalität, von dem doch »niemand sagen wird« (KrV, A 137/B 176), dass dieser (und die in ihm enthaltene Notwendigkeit) empirisch durch die Sinne angeschaut werden kann, wie auch Hume bereits zeigen konnte. Während Kant bisher also nur die Beziehung von Begriffen a priori auf mögliche Erfahrung nachgewiesen hat, muss die Möglichkeit der Begriffe a priori auf wirkliche Erfahrung (d.h. auf empirische Gegenstände) noch gezeigt werden:38 38 In der Forschungsliteratur wird kontrovers diskutiert, inwiefern das Schematis‐ muskapitel vom Deduktionskapitel der B-Auflage i) zu unterscheiden ist und, damit verbunden, ii) ob das Schematismuskapitel etwas über die Ergebnisse des Deduktionskapitels hinausgehendes zeigen konnte. Auf der einen Seite ist beispielsweise Adickes vertreten, der das Schematismuskapitel für redundant hält, da Kant innerhalb der Deduktion zeigen konnte, dass sich die Kategorien auf Anschauung anwenden lassen, vgl. Adickes, E., Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft. Mit einer Einleitung und Anmerkungen, S. 171. Auf der anderen Seite behauptet u.a. Allison, dass sowohl das Deduktions- als auch das Schema‐ tismuskapitel relevant und kompatibel sind: »The questions the Schematism addresses is not wether the categories apply to appearances (that question is dealt with in the Deduction) but under what (sensible) conditions they can do so. Moreover, that question is both perfectly coherent and largely unaddressed by the Deduction« Allison, H. E., Kant’s Transcendental Idealism, S. 203. Eine ähnliche Meinung vertritt auch La Rocca, der die Kompatibilität beider Kapitel damit begründet, dass im Deduktionskapitel zunächst nur gezeigt wird, wie sich Begriffe a priori auf Gegenstände überhaupt beziehen können, während der Schematismus des reinen Verstandes aufzeigt, wie reine Verstandesbegriffe auf Erscheinungen, also auf einzelne Gegenstände, angewandt werden können. Vgl. La Rocca, C., Schematismus und Anwendung, S. 130. Bereits Cohen hat auf

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Nun ist klar, daß ein Drittes geben müsse, was einerseits mit der Kate‐ gorie, andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen muß, und die Anwendung der ersteren auf letzte möglich macht. (KrV, A 138/B 177).

Und dieses Dritte, das sozusagen als Vermittlungsinstanz zwischen den Kategorien und der Anschauung dient, nennt Kant das Schema. Dieses Dritte soll dazu verhelfen, in »allen Subsumtionen eines Ge‐ genstandes unter einen Begriff« (KrV, A 137/B 176) eine Gleichartig‐ keit zwischen beiden ausfindig zu machen: Der empirische Begriff eines Tellers ist zum Beispiel mit dem geometrischen Begriff Kreis in Bezug auf die Rundung gleichartig. Kant unterscheidet insgesamt zwischen drei verschiedenen Sche‐ mata, da eben auch zwischen drei verschiedenen Begriffen unter‐ schieden werden muss: den reinen sinnlichen Begriffen, den empiri‐ schen Begriffen und den reinen Verstandesbegriffen. Die Schemata der empirischen und der rein sinnlichen Begriffe sind dadurch defi‐ niert, dass sie »einem Begriff sein Bild [...] verschaffen« (vgl. KrV, A 140/B 180). Am Beispiel des Dreiecks zeigt Kant, dass dem rein sinnlichen Begriff kein Bild entsprechen würde, da ein Bild die Allgemeinheit eines Dreiecks in sich, das heißt aller recht- oder schiefwinkligen usw., nicht erreichen könnte. Wenn ich mir also ein Dreieck denke, dann wird sich vermittels der Einbildungskraft ein Dreieck durch ein Schema vorgestellt. Das Schema eines Dreiecks kann daher nur in Gedanken existieren und damit nur als »eine Re‐ gel der Synthesis der Einbildungskraft, in Ansehung reiner Gestalten den Umstand aufmerksam gemacht, dass der Begriff des Gegenstandes in den jeweiligen Kapiteln anders gebraucht wird: Im Deduktionskapitel geht es um die Anwendung der Kategorien auf Gegenstände überhaupt, wohingegen im Schematismuskapitel die Anwendung auf Gegenstände der Erfahrung gezeigt wird. Cohen, H., Kants Theorie der Erfahrung, S. 387. Vgl. hierzu außerdem Caimi, M., Der Schematismus der reinen Verstandesbegriffe, S. 205. Aus meiner Perspektive zeigt sich die Relevanz des Schematismus bereits in der Tatsache, dass ohne die Schemata die Regeln des Verstandes inhaltsleer wären und mit ihnen also allererst sinnvoll wiedergegeben werden können. Ich stimme hier mit de Boer überein, dass auf diese Weise ein dogmatischer Gebrauch der Kausalität verhindert werden kann, den Hume befürchtet und kritisiert hat. Wenn dem Begriff der Kausalität immer ein Schema korrespondieren muss, dann kann dieser nicht über die Grenzen der Erfahrung gebraucht werden, weil er auf Erscheinungen restringiert ist. Vgl. De Boer, K., Kant’s Response to Hume’s Critique of Pure Reason, S. 401.

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im Raume« (KrV, A 141/B 180) definiert werden. Am Beispiel des Hundes zeigt Kant auf, dass der empirische Begriff eine allgemeine Regel ist. Der Anblick eines Hundes bietet hierfür zunächst das Bild und das Schema ist die Gestalt des Hundes (eines vierfüßigen Tieres), die mittels der Einbildungskraft einen allgemeinen Begriff bestimmt. Der Begriff und die Gestalt in Verbindung können also erst den Unterschied zwischen Hunden und anderen Tieren verdeut‐ lichen. Mittels des Schemas kann ein bestimmtes Bild einem Begriff zugeordnet werden. Im Gegensatz zu den empirischen und rein sinnlichen Begriffen ist das Schema der reinen Verstandesbegriffe in kein Bild zu brin‐ gen. Aufgrund der bereits genannten Ungleichartigkeit zwischen den reinen Verstandesbegriffen und der empirischen Anschauung kann eine Subsumtion der Erscheinungen auf Kategorien nur durch das transzendentale Schema der Zeit erfolgen. Denn sie erfüllt das Krite‐ rium, mit den Kategorien und der Erscheinung in Gleichartigkeit zu stehen, das heißt, dass sie »rein (ohne alles Empirische) und doch einerseits intellektuell, andererseits sinnlich sein [muss]« (KrV, A 138/B 177). Die Zeit ist mit den Kategorien deshalb gleichartig, da sie auf einer Regel a priori beruht, und sie ist ebenfalls mit den Erscheinungen deshalb gleichartig, da sie in »jeder empirischen Vorstellung des Mannigfaltigen enthalten ist« (KrV, A 139/B 178). Die transzendentalen Schemata übernehmen hiernach die Aufgaben des Realisierens und des Restringierens der Verstandesbegriffe (vgl. KrV, A 146/B 186), sodass jeder Kategorie daher ein Schema zugeschrie‐ ben wird, das einer Zeitbestimmung a priori nach Regeln folgt.39 Am Beispiel der Kausalität zeigt sich, dass dieser Begriff seiner logischen Form nach nicht zwischen dem unterscheiden kann, was die Ursache und was die Wirkung ist und ihr Verhältnis lediglich dahin gehend bestimmt ist, »als daß es so etwas sei, woraus das Dasein eines andern schließen läßt« (KrV, B 301). Zwischen Ursache und Wirkung in zeitlicher Folge, nach der »die erstere die letztere in der Zeit, als die Folge […] bestimmt« (KrV, B 234), kann nur durch das Schema unterschieden werden. Das Schema des Prinzips der Kausalität lautet dementsprechend:

39 Vgl. Höffe, O., Kants Kritik der reinen Vernunft: die Grundlegung der modernen Philosophie, S. 155.

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Das Schema der Ursache und der Kausalität eines Dinges überhaupt ist das Reale, worauf, wenn es nach Belieben gesetzt wird, jederzeit etwas anderes folgt. Es besteht in der Sukzession des Mannigfaltigen, in so fern sie einer Regel unterworfen ist. (KrV, A 143/B 183).

Die Apprehension des Mannigfaltigen ist zunächst nur sukzessiv, das heißt, sie zeichnet lediglich eine Aufeinanderfolge der Erscheinun‐ gen auf. Das Schema legt der Sukzession eine Regel zugrunde, in der das Mannigfaltige der Erscheinungen – »welche ein Geschehen enthält« – in der Zeit bestimmt wird. Das Schema der Kausalität gibt entsprechend eine Regel vor, dass etwa dem, was geschieht, etwas anderes vorhergehen muss. Wir können festhalten, dass mit dem Schema der mögliche empi‐ rische Gebrauch der Kausalität auf Gegenstände nach der entspre‐ chenden Zeitfolge gegeben ist. Der Schematismus gibt lediglich vor, welche sinnlichen Bedingungen erfüllt sein müssen, um von Katego‐ rien Gebrauch machen zu können. Die transzendentalen Schemata sind nur Begriffe, die die Kategorien (als Begriff ) in der Anschauung (als Bild) daher nicht in concreto darstellen können, sie geben jedoch vor, welche Zeitbedingungen erfüllt sein müssen, vermittels derer die Kategorie in der Erfahrung gefunden werden kann.40 Im Schematismuskapitel hat Kant dargelegt, nach welchem zeitli‐ chen Schema als gleichartigem Vermittlungsglied eine Anwendung der Verstandesbegriffe auf Anschauung möglich ist. Für den wirk‐ lichen »Gebrauch der Begriffe« (KrV, B 304), um mit ihnen zur objektiven Erfahrungserkenntnis zu gelangen, fehlt allerdings »noch eine Funktion der Urteilskraft« (ebd.), nämlich die Wahrnehmun‐ gen unter Regeln zu subsumieren. Diese Regel wird dabei mittels der sogenannten »Analogien der Erfahrung« vorgegeben, durch die beispielsweise zwei unabhängige Ereignisse in ein Verhältnis zuein‐ 40 Im folgenden Zitat veranschaulicht Kant dieses anhand des Beispiels des Ur‐ sachenbegriffs. Auch wenn sich Kant hier nicht explizit auf das Schema der Kategorien bezieht, kann nichts anderes gemeint sein, da auch hier die Zeitbe‐ stimmung als Vermittlung zwischen Begriffen und Anschauung zu verstehen ist, insofern als dass das Schema eine in der Zeit interpretierte Kategorie ist: »Vermittelst des Begriffs der Ursache gehe ich wirklich aus dem empirischen Begriffe von einer Begebenheit (da etwas geschieht) heraus, aber nicht zur Anschauung, die den Begriff der Ursache in concreto darstellt, sondern zu den Zeitbedingungen überhaupt, die in der Erfahrung dem Begriffe der Ursache gemäß gefunden werden möchten« (KrV, A 723 Fn.).

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ander gesetzt werden können und als regulativer Grundsatz für die Erscheinungen gelten (vgl. KrV A 180/B 222). Im Folgenden wird sich zeigen, dass die den »Analogien der Erfahrung« zugrunde lie‐ genden Grundsätze die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung und damit synthetische Urteile a priori sind. In dieser Hinsicht stellen sie zugleich eine besondere Voraussetzung sowohl für wissen‐ schaftliche als auch alltägliche Urteile dar. Dem Zweck der Arbeit folgend, wird ausschließlich der Beweis der zweiten Analogie der Erfahrung behandelt, da hier der Grund‐ satz der Kausalität bewiesen und daher oftmals als eine »Antwort auf Hume« ausgelegt wird.41 Insgesamt unterscheidet Kant drei »Analogien der Erfahrung« voneinander, denen jeweils ein Grund‐ satz zugrunde liegt: 1. »Der Grundsatz der Beharrlichkeit der Sub‐ stanz«, 2. »der Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetze der Kausalität« und 3. »der Grundsatz des Zugleichseins, nach dem Gesetze der Wechselwirkung, oder Gemeinschaft«. Die »Analogien der Erfahrung« stellen innerhalb der Tafel der Grundsätze eine der vier Klassen dar und bilden somit ein Äquivalent zur Tafel der Kate‐ gorien (KrV, A 160/B 200). Die in der »Analytik der Grundsätze« vorgenommenen Beweise der insgesamt zwölf Grundsätze sind nach Kant deshalb notwendig, da sie anderenfalls nichts weiter als dog‐ matische Lehrsprüche wären, die Kants Anspruch einer »kritischen Philosophie« vollständig nicht erfüllen würden. Ein Grundsatz ist also insofern kein Lehrsatz, als »dass er seinen Beweisgrund, näm‐ lich Erfahrung erst möglich macht und bei dieser immer vorausge‐ setzt werden muss« (KrV, A 737). In dem Beweis der zweiten Analogie wird zweierlei gezeigt: Ers‐ tens wird nachgewiesen, inwiefern in den Grundsätzen des Verstan‐ des die Anwendung der schematisierten Kategorien auf Erscheinun‐ gen ermöglicht wird und damit diese notwendig für Erfahrungs‐ erkenntnis sind sowie objektive Gültigkeit beanspruchen können. Zweitens werden wir in der Folge auch sehen, dass in der Anwen‐ dung des reinen Verstandesbegriffs der Kausalität auf Erscheinungen die notwendige Verknüpfung der Wahrnehmungen vorausgesetzt ist, woraus sich der Grundsatz einer objektiven und gesetzmäßigen Zei‐ 41 Beck beispielsweise geht davon aus, dass Kant mit der zweiten Analogie eine Antwort auf Humes skeptische Haltung gegenüber den notwendigen und allge‐ meingültigen Charakter der Kausalität gegeben hat, vgl. Beck, L. W., Über die Regelmässigkeit der Natur bei Kant, S. 46.

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tordnung der Ereignisse ergibt. Die Ereignisse folgen damit nicht einer Zufälligkeit und können nicht allein durch Gewohnheit be‐ stimmt werden – worin sich bereits ein entscheidendes Argument gegen Hume bemerkbar macht. Der zweiten Analogie wird in der B-Auflage folgendes Prinzip unterlegt: »Alle Veränderung geschehen nach dem Gesetze der Ver‐ knüpfung der Ursache und Wirkung« (KrV, B 232). In der Beweis‐ führung der B-Auflage behauptet Kant zunächst, dass durch die Wahrnehmung zwei aufeinanderfolgender Erscheinungen (»d.i. ein Zustand der Dinge zu einer Zeit ist, dessen Gegenteil im vorigen Zustand war« (KrV, B 233) das objektive Verhältnis allein durch das synthetische Vermögen der Einbildungskraft unbestimmt bleibt. Da die Zeit selbst nicht wahrgenommen werden kann, ist die Wahrneh‐ mung dieser Zustände durch die Einbildungskraft beliebig und kann in unterschiedlicher Reihenfolge erfolgen– hängt sie doch immer vom Subjekt ab, das wahrnimmt: Hiernach wäre es mir allein auf Grundlage der Wahrnehmung möglich, AB oder BA zu setzen, wie Kant am Beispiel des Hauses demonstriert: In dem vorigen Beispiele von einem Hause konnten meine Wahrneh‐ mungen in der Apprehension von der Spitze desselben anfangen, und beim Boden endigen, aber auch von unten anfangen, und oben endi‐ gen, imgleichen rechts oder links das mannigfaltige der empirischen Anschauung apprehendieren. (KrV, B 238).

Dies wäre aber nur ein »Spiel der Vorstellungen« (KrV, A 194/B 239), da die Folge der Wahrnehmungen nur subjektiv in der Apprehensi‐ on liegen würde. Das Verhältnis der Erscheinungen, welches festlegt, welche die Vorhergehende und welche die Nachfolgende ist (KrV, A 194/B 239), könnte objektiv nicht bestimmt werden. Um nun das Verhältnis der Zustände objektiv bestimmen zu können, »muß das Verhältnis zwischen den beiden Zuständen so gedacht werden, daß dadurch als notwendig bestimmt wird, welcher derselben vorher, welcher nachher und nicht umgekehrt müsse gesetzt werden« (KrV, B 234). Wenn also das objektive Verhältnis der Zustände durch Wahrnehmung selbst nicht erkannt werden kann, dann muss dieses als notwendig verknüpft gedacht werden, um ein objektives Zeit‐ verhältnis bestimmen zu können. Die Kausalität enthält als reiner Verstandesbegriff diese Notwendigkeit einer synthetischen Einheit, sodass sie die Bedingung dafür ist, dieses Verhältnis notwendig ver‐ knüpft zu denken und somit objektiv in der Zeit bestimmen zu kön‐

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nen. Nur mit den reinen Verstandesbegriffen ist es also möglich, die Zustände in Zusammenhang zu denken und Erfahrung aus ihnen zu gewinnen. Innerhalb des A-Beweises kann veranschaulicht werden, inwiefern eine Umkehrung der Aufeinanderfolge der Erscheinungen als Ge‐ schehnisse ohne Widersprüche unmöglich zu setzen ist, wenn wir uns das Verhältnis der Zustände als kausal verknüpft denken. Wäh‐ rend am Beispiel des Hauses – als eines sich nicht verändernden Objekts – gezeigt werden konnte, dass die Folge der Wahrnehmung keiner bestimmten Ordnung unterliegt und einzig vom Subjekt vor‐ gegeben werden kann, gilt dieses nicht für Geschehnisse: Allein ich bemerke auch: daß, wenn ich an einer Erscheinung, wel‐ che ein Geschehen enthält, den vorhergehenden Zustand der Wahrneh‐ mung A, den folgenden aber B nenne, daß B auf A in der Apprehension nur folgen, die Wahrnehmung A aber auf B nicht folgen, sondern nur vorhergehen kann. (KrV, B 237).

Bei einem flussabwärts treibenden Schiff ist es unmöglich, es zu‐ erst unterhalb und nachher oberhalb des Stromes wahrzunehmen (KrV, A 192/B 237). Die Kausalität findet vermittelt ihres Schemas schließlich genau dann Anwendung und Bedeutung, wenn das Auf‐ einanderfolgen der Wahrnehmungen (Sukzession des Mannigfalti‐ gen) einer Regel unterliegt, und zwar in der Art, dass auf die Erscheinungen eine Ordnung der Zeit nach a priori übertragen wird (KrV, A 199/B 245). Die Unumkehrbarkeit der Reihenfolge der Erscheinungen setzt bereits voraus, dass der Verstand die Zeit‐ ordnung auf die Erscheinungen übertragen hat und ihnen a priori eine bestimmte Stelle in der Zeit zuerkennt. Hierdurch ist es mög‐ lich, eine Erscheinung als Folge einer vorhergehenden Erscheinung zu einer gegebenen Zeit notwendig zu bestimmen. Wenn vorher festes Wachs zu einem anderen Zeitpunkt weich ist, muss angenom‐ men werden, dass etwas vorhergegangen ist. Zwar »kann ich nicht von der Begebenheit zurückgehen und dasjenige bestimmen (durch Apprehension) was vorhergeht« (KrV, A 193/B 239) und dadurch die Verknüpfung der Sonneneinstrahlung mit dem geschmolzenen Wachs herstellen, jedoch muss ein Vorgang stattgefunden haben, der das Wachs zum Schmelzen gebracht hat. Hier setzt Kants Kritik an Hume an, die den Unterschied zwi‐ schen beiden deutlich macht. Denn im Gegensatz zu Kant behauptet

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Hume, dass von den »Matters of Fact« widerspruchsfrei ihr Gegen‐ teil behauptet werden kann, wie zum Beispiel, dass die Sonne mor‐ gen aufgeht oder nicht aufgehen wird. Dass also das Schiff auch flussaufwärts treiben könnte, würde sich nach Hume nicht wider‐ sprechen. Nach Höffe behauptet Kant hier aber auch nicht, dass das Schiff nicht auch flussaufwärts treiben könnte. Vielmehr geht es Kant nur darum, aufzuzeigen, dass dem Ereignis des flussabwärts treibenden Schiffs eine Regel zugrunde liegt, die notwendig und damit unumkehrbar ist.42 Da Hume hingegen nicht zwischen der Folge von Zuständen und der Folge bloßer Eindrücke unterschieden hat, war es ihm nach Beck auch nicht möglich zu erkennen, dass sowohl die Eindrücke von einem Haus als auch die Folge eines sich bewegenden Schiffs Regeln voraussetzen.43 Beck folgert hieraus, dass ohne diese Regeln es Hume schließlich auch nicht erlaubt ist, von objektiven Ereignissen zu sprechen, die sich aufgrund von Gewohn‐ heit kategorisieren lassen, etwa nach dem Prinzip »same cause – same effect«.44 Mit seiner zweiten Analogie gibt Kant schließlich eine Antwort darauf, dass objektive Ereignisse gerechtfertigt werden können, indem Ursache und Wirkung notwendig und nicht assozia‐ tiv miteinander verknüpft sind.45 Der Grundsatz, dass jede Verände‐ rung eine Ursache hat, kann aber nicht aufgrund von Gewohnheit bewiesen werden, sondern muss a priori vor jeder Erfahrung voraus‐ gesetzt werden. Es stellt sich heraus, dass das Prinzip »Jede Veränderung hat eine Ursache« die Bedingung für die Bestimmung von Ursachen in der Natur ist. Denn die objektive Zeitbestimmung ist notwendig, um überhaupt (empirische) Gesetze ableiten zu können. Da die Ur‐ sachen der Erscheinungen nicht direkt aus der Erfahrung entnom‐ men werden können, kann lediglich die Veränderung der Zustände beobachtet werden. Dazu müssen die Zustandsveränderungen stets schablonenhaft ablaufen, was eben eine objektive Zeitbestimmung 42 Vgl. Höffe, O., Kants Kritik der reinen Vernunft: die Grundlegung der modernen Philosophie, S. 191. 43 Vgl. Beck, L. W., The Prussian Hume and Scottish Kant, 127f. 44 Vgl. ebenda, S. 128. 45 So schreibt Beck: »Kant’s Second Analogy is meant to provide precisely this justification for talk about objective events [...] he also shows that the concepts of objective event and cause and effect are related to each other necessarily, and not by mere association«, ebenda.

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voraussetzt. Sofern diese schablonenhaft ablaufen, z.B. Wachs dann schmilzt, wenn es Hitze ausgesetzt ist, lässt sich eine Ursache für diese Veränderung bestimmen, z.B. Wachs hat einen Schmelzpunkt. Ob wir für jeden singulären Kausalsatz (wie: Wachs schmilzt dann, wenn es Hitze ausgesetzt ist) ein empirisches Kausalgesetz (wie: Wachs hat einen Schmelzpunkt) finden können, das wie das all‐ gemeine Kausalprinzip Anspruch auf Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit hat, ist eine andere Frage, die im Folgenden geklärt werden soll.46

§ 2. Notwendigkeit in der Ursache Während für Kant das Kausalitätsprinzip ein Beispiel eines syntheti‐ schen Satzes a priori ist und damit Notwendigkeit und strenge Allge‐ meinheit enthält, kann Hume auf der anderen Seite den Ursprung der Notwendigkeit nicht unabhängig von Erfahrung begründen. 46 Die Frage, ob mit dem allgemeinen Kausalprinzip auch empirische Kausalgeset‐ ze begründet werden können, verneint beispielsweise Beck. Denn nach ihm ging es Kant nicht darum, für jedes Ereignis ein Kausalgesetz zu finden, da Ereignisse »zwar Wirkungen irgendwelcher Ursachen sind, aber zueinander nicht in einer kausalen Beziehung stehen«, Beck, L. W., Über die Regelmässig‐ keit der Natur bei Kant, S. 49. Diese Ansicht gründet vor allem auf der Annah‐ me, dass die zweite Analogie nur eine gesetzmäßige Zeitfolge der Ereignisse begründet. Zwar beweist Kant, dass wir notwendigerweise eine Ursache a prio‐ ri annehmen müssen. Welche konkrete Ursache eine bestimmte Veränderung hat, ist jedoch nicht das Ziel der zweiten Analogie. Auch Buchdahl, der eine sogenannte »schwache Lesart« der zweiten Analogie vertritt, behauptet, dass das Kausalprinzip zwar als Bedingung für empirische Gesetze gilt, aus ihm aber nicht die Notwendigkeit der empirischen Gesetze geschlussfolgert werden könnte, vgl. Buchdahl, G., Metaphysics and the Philosophy of Science: The classical Origins Descartes to Kant, S. 652. Demgegenüber steht Friedman mit seiner »starken Lesart« der zweiten Analogie, der behauptet, dass sich aus dem Kausalitätsprinzip empirische Gesetze ergeben, vgl. Friedman, M., Causal Laws and the Foundations of natural science, S. 170 [Anm. 14]. Vgl. kritisch zu Fried‐ mans Position Allison, H. E., Causality and Causal Laws in Kant: A Critique of Michael Friedman, S. 292. Ich unterstütze hier Keils Position, der behauptet, dass sich aus dem allgemeinen Kausalprinzip zwar keine empirischen Gesetze a priori ableiten lassen, ihnen dennoch eine Notwendigkeit zukommt Keil, G., Wo hat Kant das Prinzip vom nomologischen Charakter der Kausalität begründet?, S. 567.

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Dafür erkennt aber auch Hume die zur Kohärenz der Erfahrung notwendige Gesetzmäßigkeit der Kausalität an, die jedoch nur durch eine psychologische Gewohnheit begründet wird. In diesem Para‐ grafen soll untersucht werden, inwiefern sich diese Gesetzmäßigkeit in der Kausalität – oder ihr sogenannter nomologischer Charakter – in Humes und Kants Begriff von Kausalität wiederfindet und von ihr unterscheidet. Dabei stellt sich heraus, dass sowohl Kant als auch Hume die Gesetzmäßigkeit im Begriff der Ursache voraussetzen. Kant legt gegen Hume jedoch dar, dass sich dieser nicht erst aus der Erfahrung ergibt, sondern für Erfahrung vorausgesetzt werden muss. Dazu hat Kant anstelle der These Humes, dass die kausalen Beziehungen nur assoziativ in Verbindung gesetzt werden können, das »Prinzip der Affinität« aufgestellt, das »im Verstande seinen Sitz hat, und die notwendige Verknüpfung aussagt« (KrV, A 766/B 794).47 Mit Verweis auf die dem Kapitel zugrunde liegende Frage gilt es zu klären, was uns überhaupt dazu berechtigt, für ein Ereignis eine bestimmte Ursache anzunehmen. Insbesondere in Bezug auf die Forschung und Wissenschaft, deren einziger Nutzen nach Hume darin besteht, auf Grundlage der Ursache zukünftige Ereignisse vor‐ hersagen zu können, ist eine rechtmäßige Anwendung des Begriffs erforderlich (vgl. EHU sec. 7, part 2.29). Dabei behauptet Hume zunächst, dass unsere Vorstellungen von der Ursache aufgrund der Beschränktheit unseres Verstandes immer unvollkommen sind, wes‐ halb auch eine genuine Definition der Ursache problematisch er‐ scheint: Yet so imperfect are the ideas which we form concerning it, that it is impossible to give any just definition of cause, except what is drawn from something extraneous and foreign to it. [...] we cannot remedy this inconvenience, or attain any more perfect definition, which may point

47 Kant unterscheidet zwischen empirischer und transzendentaler Affinität. Dabei umfasst Erstere die Affinität der Naturgesetze, während Letztere »alle Erschei‐ nungen in einer durchgängigen Verknüpfung nach Gesetzen« (KrV, A 112) be‐ schreibt und somit als Voraussetzung für die empirische Affinität gilt. Da von dem Prinzip der Affinität die systematische Einheit der Natur möglich ist, macht sie auch überhaupt den Grund der Assoziation des Mannigfaltigen aus (vgl. KrV, A 112). Vgl. außerdem hierzu Ludwig, B., Aufklärung über die Sittlichkeit. Zu Kants Grundlegung einer Metaphysik der Sitten, S. 198 [Anm. 225].

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out that circumstance in the cause, which gives it a connexion with its effect. (EHU sec. 7, part 2.29).

Eine »perfekte« Definition müsste nach Hume die im Begriff der Ursache enthaltene Notwendigkeit zu ihrer Wirkung einschließen, wozu uns jedoch der empirische Zugang fehlt, und für die wir die Grenzen unserer Erfahrungsmöglichkeiten überschreiten müssen. Der Ursachenbegriff ist also umfangreicher, als unsere Erfahrung von ihm reicht, woraus aber nicht folgt, dass Hume den Begriff der Ursache gänzlich ablehnt.48 Es stellt sich lediglich heraus, dass ihre Definition, wenngleich sie unvollständig bleibt, nur durch etwas bestimmt werden kann, das ihr als »extraneous and foreign« (ebd.) korrespondiert. Ausgehend von diesen einschränkenden Bestimmungen des Ursa‐ chenbegriffs, folgen zwei Definitionen des Begriffs, die nach Hume zeigen sollen, wie eine Anwendung derselben möglich ist:49 [D1] […] we may define a cause to be an object, followed by another, and where all the objects, similar to the first, are followed by objects similar to the second (EHU sec. 7, part 2. 29). [D2] […] an object followed by another, and whose appearance always conveys the thought to that other (ebd.).

Nach der ersten Definition ist eine Ursachenbestimmung aufgrund einer regelmäßigen Abfolge von Ereignissen möglich. Die Definition drückt aus, dass auf ein Ereignis A als Ursache ein anderes Ereig‐ nis B als Wirkung folgt, woraus sich die allgemeine Regel ableiten lässt, dass auf alle A’s alle B’s folgen. Dabei beruht diese Definition 48 Strawson, der die Position auch vertritt, stellt sich damit gegen die weitverbrei‐ teten Interpretationen, die behaupten, Hume habe dem Begriff der Ursache keinen Wert beigemessen. Vgl. Strawson, G., The Secret Connexion. Causation, Realism, and David Hume. S. 189. 49 Diese beiden Definitionen erinnern an die in der ›Treatise‹ vorgenommene Definition der Ursache aus philosophischer und natürlicher Perspektive. An‐ zumerken ist an dieser Stelle, dass dieser Vergleich mit der ›Treatise‹ in der Literatur kontrovers diskutiert wird. Dabei ist vor allem problematisch, dass in der ›Enquiry‹ diese Unterscheidung keine Rolle mehr spielt, sodass sie für das Verständnis der Ursache irrelevant erscheint. Für die der Arbeit zugrunde stehende Frage ist diese Kontroverse zunächst nicht von zentraler Bedeutung. Vgl. für eine ausführliche Abhandlung dieser Kontroverse mit einem Überblick zur Forschungsdebatte Beebee, H., ›Hume’s Two Definitions: The Procedural Interpretation‹, S. 243–274.

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darauf, dass gleichartige Ereignisse mit gleichartigen Ereignissen zusammenhängen (vgl. EHU sec. 7, part 2.28). In der ›Treatise‹ fügt Hume zu der Definition der Ursache noch hinzu, dass eine Kausalbeziehung zwischen zwei Ereignissen dann vorliegt, wenn sie zeitlich und räumlich nahe beieinanderliegen (vgl. THN I; 3,14 [31]). Diese Kriterien beschreiben, zusammengenommen, die von Hume etablierte Regularitätstheorie der Kausalität.50 Nach der zweiten De‐ finition wird die Ursache hingegen nicht mittels einer regelmäßigen Abfolge bestimmt, sondern mittels eines psychologischen Mechanis‐ mus, durch den wir einen gegebenen Gegenstand gedanklich mit einem anderen Gegenstand assoziieren. Beiden Definitionen ist zunächst das gemeinsam, dass mit ih‐ nen Kausalurteile gefällt werden können, ohne eine notwendige Verknüpfung zwischen Ursache und Wirkung in der Natur zu postu‐ lieren. Da wir vom Begriff der Ursache oder vom Begriff der Kraft keine Vorstellung haben, wie sie an sich sein mögen (»as it is in itself«, EHU sec. 7, part 2.29, Fn.17), wäre ein solches Vorhaben schlicht unmöglich. Deshalb kann der Begriff der Ursache nur durch etwas bestimmt werden, das von ihm unabhängig ist (»both these definitions of cause be drawn from something foreign to the cau‐ se«, ebd.) und gleichzeitig mit der Erfahrung übereinstimmen muss. Dieses kann den Definitionen entsprechend entweder durch die Be‐ obachtung gleichmäßiger Ereigniszusammenhänge oder durch die gedankliche Vorstellung von der Verbindung zwischen Ursache und 50 Nach der Regularitiätstheorie, die auf der Ursachendefinition von Hume beruht, ist über die Ursache nicht mehr auszusagen als ihre räumliche, zeitliche und regelmäßige Verbindung zur Wirkung. Damit stellt sich die Regularitätstheorie gegen die metaphysische Behauptung, eine notwendige Verknüpfung zwischen Ursache und Wirkung annehmen zu können. Allerdings ist die Regularitäts‐ theorie nicht frei von Kritik. In der Literatur wird zum Beispiel das Problem diskutiert, dass von singulären Ereignissen die Ursache deshalb nicht bestimmt werden kann, weil ihnen keine Regularität zugrunde liegt. Dass aber auch Hu‐ me in solchen Ereignissen eine Ursache vermutet, wenngleich sie nicht durch regelmäßige Beobachtung bestimmt werden kann, ist mit seinem grundsätzli‐ chen Verständnis von Ursache zu begründen. Er bestreitet grundsätzlich nicht die Existenz von Ursachen, sondern nur ihre empirische Bestimmung in der Natur und mit der Regularitätstheorie kann zumindest eine Annäherung an den gesetzmäßigen Charakter in der Ursache gewonnen werden. Ob Hume neben der Regularitätstheorie ein ebensolches Verständnis von Ursache vertreten hat, wird allerdings kontrovers diskutiert, vgl. Garrett, D., The Representation of Causation and Hume’s Two Definitions of ›Cause‹, S. 167–190.

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Wirkung erfolgen. Von den beiden Definitionen ausgehend, wird demnach jeweils eine andere Perspektive eines Ereignisses vermit‐ telt, was Hume am Beispiel der Vibration illustriert: We either mean, that this vibration is followed by this sound, and that all similar vibrations have been followed by similar sounds: Or, that this vibration is followed by this sound, and that upon the appearance of one, the mind anticipates the sences, and forms immediately an idea of the other (EHU sec. 7, part 2.29).

Wenn wir zum Beispiel sagen, dass die Schwingung einer Saite die Ursache eines bestimmten Tons ist, dann drücken wir mit der Aussa‐ ge zweierlei aus: Zunächst behaupten wir aufgrund von Erfahrung, dass die Schwingung einer bestimmten Saite beständig mit einem bestimmten Ton zusammenhängt (»constantly conjoined« EHU sec. 8, part 1.15). Dass wir darüber hinaus eine notwendige Verknüp‐ fung (»necessary connection«) von der Schwingung und dem Ton annehmen, ist bloß ein Produkt unserer Einbildungskraft. Aus der Beobachtung gleichartiger Fälle entsteht nämlich die Vorstellung der notwendigen Verknüpfung zwischen Ursache und Wirkung. Diese Vorstellung ist demnach nicht etwas, das den Gegenständen an sich zukommt, sondern sich uns aufgrund einer psychologischen Ge‐ wohnheit aufdrängt. Die notwendigen Verknüpfungen in der Natur bestehen zum einen aus dem beständigen Zusammengehen zweier Ereignisse und zum anderen aus der aus der Gewohnheit abgeleite‐ ten Erwartung, dass aus dem einen Ereignis das andere folgt. Unsere Vorstellung von Notwendigkeit beruht allein auf diesen beiden Um‐ ständen: »Beyond the constant conjunction of similar objects, and the consequent inference from to the other, we have no notion of any necessity, or connexion« (EHU, sec. 8, part 1.5). Hierin zeigt sich eine wesentlich verbindende Schnittstelle zwi‐ schen den beiden, von Hume aufgestellten Definitionen der Ursache, die ihnen gleichermaßen eine besondere Relevanz zuschreibt: Erst eine wahrgenommene Regelmäßigkeit eines vorhandenen Eindrucks lässt auf die Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung schließen. Einzelfälle vermitteln dementgegen schließlich nicht die Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung von zwei Ereignissen. Die einmali‐ ge Beobachtung des Zusammenpralls zweier Billardkugeln erlaubt es zum Beispiel noch nicht, auf eine kausale Verbindung der beiden Kugeln zu schließen. Erst eine regelmäßige Abfolge beider Ereignisse ergibt eine gleichförmige Erfahrung, aus der eine kausale Verknüp‐

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fung abgeleitet werden kann (vgl. EHU sec. 7, part 2.30). Schluss‐ folgernd haben Ereignisse nach Hume genau dann einen kausalen Zusammenhang, wenn sie regelmäßig und ohne Ausnahmen zusam‐ men auftreten. Damit ist die Bedingung eines gesetzmäßigen Cha‐ rakters in der Kausalität gewährleistet, die zuerst einen Rückschluss auf die Ursache erlaubt. Mit der regelmäßigen Abfolge und der daraus abgeleiteten gewohnheitsmäßigen Verknüpfung zweier Ereig‐ nisse können wir auf einen nicht empirischen Begriff wie den der Notwendigkeit schließen. Die These, dass der Begriff der Kausalität mit Notwendigkeit verbunden ist, kommt demnach nicht erst mit Kant auf, sondern wird bereits von Hume vertreten. Die von Hume vorausgesetzte Gesetzmäßigkeit in der Kausalität wird nach Davidson als der nomologische (von altgriechisch nomos: Gesetz/Ordnung) Charakter der Kausalität bezeichnet. Das Prinzip des nomologischen Charakters gründet sich wie bei Hume auf der Tatsache, dass der kausale Zusammenhang von zwei Ereignissen empirisch nicht beobachtet werden kann. Das einzig Wahrnehmbare ist die zeitliche Aufeinanderfolge von Ereignissen, nicht aber, dass ein Ereignis notwendigerweise die Ursache eines anderen Ereignis‐ ses ist. Nach Davidsons Definition des Prinzips fallen aufeinander kausal wirkende Ereignisse demnach unter ein Gesetz: The second principle is that where there is causality, there must be a law: events related as cause and effect fall under strict deterministic laws. (We may term this the Principle of the Nomological Character of Causality.).51

Davidson versucht, mithilfe des Prinzips eine Antwort auf die Frage zu geben, in welchen Fällen wir berechtigt sind, von einem kausa‐ len Zusammenhang zwischen zwei Ereignissen auszugehen. Nach ihm geschieht das immer dann, wenn nach dem Gesetz auf alle A’s alle B’s folgen. Im Umkehrschluss bedeutet dies – so auch bei Hume –: Wenn die Aufeinanderfolge von zwei Ereignissen nicht als allgemeines Gesetz beschrieben werden kann, dann liegt auch keine kausale Beziehung vor. Kritisch ist anzumerken, dass sich Hume nur auf singuläre Kausalaussagen bezieht, aus denen zwar Gesetze und Regeln abzuleiten sind, jedoch die Entscheidung, wann genau eine Veränderung als kausal bestimmt gilt, subjektiv getroffen wird und damit auch, welche Verallgemeinerung als gesetzesartig gelten 51 Davidson, D., Essays on actions and events, S. 208.

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soll. Wenn Kant also schreibt: »Er [Hume] schloß also fälschlich aus der Zufälligkeit unserer Bestimmung nach dem Gesetze, auf die Zufälligkeit des Gesetzes selbst […]« (KrV, A 766/B 794), dann greift diese Kritik an Hume den eben genannten Punkt an: Zwar erfüllen die Gesetze einerseits selbst das psychologische Bedürfnis nach Gesetzmäßigkeit, wobei sie andererseits immer nur zufällig und willkürlich bestimmt werden. Im Unterschied zu Hume geht Kant davon aus, dass die Erfah‐ rung von Veränderung aus dem Gesetz der Kausalität und nicht umgekehrt das Gesetz aus der Erfahrung abzuleiten sind. Für Kant ist die Gesetzmäßigkeit von Kausalität »so offenbar« im Begriff der Ursache gegeben, womit die von Keil vertretene These, Kant habe an keiner Stelle die Gesetzmäßigkeit in Kausalität zu begründen versucht, erstmals einsichtig wird:52 Ja in dem letzteren enthält selbst der Begriff einer Ursache so offenbar den Begriff einer Notwendigkeit der Verknüpfung mit einer Wirkung und einer strengen Allgemeinheit der Regel, daß er gänzlich verloren‐ gehen würde, wenn man ihn, wie Hume tat, von einer öfteren Beigesel‐ lung dessen was geschieht, mit dem was vorhergeht, und einer daraus entspringenden Gewohnheit, (mithin bloß subjektiven Notwendigkeit) Vorstellungen zu verknüpfen, ableiten wollte. (KrV, B 5).

Gegenüber Hume betont Kant zunächst, dass eine aus der Gewohn‐ heit der Erfahrung begründete Regel nur eine empirische Allgemein‐ heit und damit »bloß« eine subjektive Notwendigkeit zuzuschreiben ist. Dabei bezieht sich der Begriff der »subjektiven Notwendigkeit« auf die von Hume vertretene Annahme einer psychologischen Not‐ wendigkeit der Kausalität. Der notwendige Charakter des Ursachen‐ begriffs wird damit immer nur in Abhängigkeit zu seinen Wirkun‐ gen bestimmt. Die aus der Gewohnheit der Erfahrung resultieren‐ den Regeln hätten daher immer nur den Anspruch auf eine empiri‐ sche Allgemeinheit, und zwar so lange, bis sich keine Ausnahme von der Regel finden lässt: Erfahrung gibt niemals ihren Urteilen wahre oder strenge, sondern nur angenommene und komparative Allgemeinheit (durch Induktion), so daß es eigentlich heißen muß: soviel wir bisher wahrgenommen haben, findet sich von dieser oder jener Regel keine Ausnahme. (KrV, B 4). 52 Keil, G., Wo hat Kant das Prinzip vom nomologischen Charakter der Kausalität begründet?, S. 565.

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Während Hume also lediglich »bei dem synthetischen Satze der Verknüpfung der Wirkung mit ihren Ursachen (Principium causa‐ litatis) stehen blieb« (KrV, B 19), beschreibt Kant das Verhältnis von Ursache und Wirkung in der Art, als »daß die Wirkung nicht bloß zu der Ursache einfach hinzu komme, sondern durch dieselbe gesetzt sei« (KrV, B 124). Kant zufolge ist die Beschaffenheit der Ursache durch das wesentliche Merkmal bestimmt, wonach ohne eine Ursache etwas anderes nicht geschehen würde. Dahin gehend ist schließlich auch das allgemeine Kausalprinzip formuliert: »Alles, was geschieht, hat eine Ursache« (KrV, B 13). Die Gesetzesmäßigkeit in der Kausalität ist durch die strenge Allgemeinheit und Notwen‐ digkeit, die der Begriff der Ursache mit sich führt, gegeben. Für Kant ist es daher unmöglich, widerspruchsfrei eine Ursache zu denken, die nicht unmittelbar mit ihrer Wirkung verbunden ist. In der Frage nach der Ursachenbestimmung lassen sich die do‐ kumentierten Aussagen von Kant und Hume ähnlich auslegen, die Frage ist für beide gleichermaßen nicht letztendlich zu beantworten. Dabei ist die Ursache selbst zwar nicht beobachtbar, muss jedoch allein a priori gegeben sein, da eine Veränderung stattgefunden hat: Wenn also vorher festgewesenes Wachs schmilzt, so kann ich a priori erkennen, daß etwas vorausgegangen sein müsse, (z.B. Sonnenwärme), worauf dieses nach einem beständigen Gesetze gefolgt ist, ob ich zwar, ohne Erfahrung, aus der Wirkung weder die Ursache, noch aus der Ursache die Wirkung, a priori und ohne Belehrung der Erfahrung be‐ stimmt erkennen könnte. (KrV, A 766).

Im aufgeführten Wachsbeispiel lassen sich alternative Ursachen fin‐ den, die das Wachs neben der Sonnenwärme genauso gut zum Schmelzen hätten bringen können. Daran wird deutlich, wie schwie‐ rig es ist, solche singulären Kausalaussagen unter dem geeigneten empirischen Gesetz zu subsumieren. In Anlehnung an Davidsons Definition des nomologischen Charakters der Kausalität wäre die‐ ses allerdings erforderlich. Für Davidson gilt jedoch auch, dass für wahre kausale Ereignisse ein subsumierendes Gesetz existiert, unab‐ hängig davon, ob das Gesetz im Konkreten bestimmt werden kann oder nicht.53 Auch Kant geht davon aus, dass unabhängig von den 53 Vgl. Davidson, D., Essays on actions and events, S. 215, vgl. außerdem Keil, G., Wo hat Kant das Prinzip vom nomologischen Charakter der Kausalität begrün‐ det?, S. 567.

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Möglichkeiten der Ursachenbestimmung zunächst allein ausschlag‐ gebend ist, dass jede Veränderung durch eine Ursache »gesetzt« ist. Hierdurch steht a priori fest, dass es ein Gesetz geben muss, das in der Ursache enthalten ist. Dabei kann die Frage, nach welchem »beständigen Gesetz« die Veränderung erfolgt ist oder durch welche Ursache, schließlich »nur Erfahrung« (KrV, A 766/B 794) beantwor‐ ten und ist nicht allein aus bloßen »Begriffen a priori« (ebd.) zu erkennen. Mit Hume sieht auch Kant ein, dass eine tatsächliche Ursachen‐ bestimmung nur aufgrund von beobachtbaren Gesetzmäßigkeiten möglich ist.54 Während Hume aber die einzelnen Ereignisse asso‐ ziativ miteinander kausal in Verbindung setzt, wird bei Kant die Gesetzmäßigkeit in Kausalität bereits im Denken angenommen und vorausgesetzt. Die Ursache einer Veränderung kann somit zwar auch nie endgültig bestimmt werden, aber als ein notwendiges und allge‐ meines Gesetz gedacht werden, welches aus Vorhersagen resultiert, die sich aus der strengen Allgemeinheit des gedachten Gesetzes erge‐ ben und empirisch oder kontrafaktisch überprüft werden können. Zusammenfassend behauptet Hume, dass ohne Erfahrung nicht auf das jeweilige Gesetz geschlossen werden kann, das dem Ereignis zugrunde liegt. Am Beispiel des ersten Menschen, der noch keine Erfahrung von der Welt gesammelt hat, zeigt Hume auf, dass er a priori nicht wissen kann, dass eine Billardkugel, die in Richtung einer zweiten Billardkugel angestoßen wurde, mit dieser zusammen‐ prallen wird (vgl. EHU sec. 4, part 1.6). Während das für Hume ein Beleg dafür ist, dass wir aus der Empirie nicht auf die notwendige Verknüpfung von Ursache und Wirkung schließen können, zeigt sich für Kant, dass Hume hier nur den empirischen Aspekt der Ursache erfasst. Zunächst stimmt Kant mit Hume darin überein, dass Erfahrung notwendig ist, um den Zusammenprall der Kugel vorhersagen zu können. Anders als Hume geht Kant jedoch davon aus, dass der erste Mensch der Welt unabhängig von Erfahrung zumindest sagen könnte, dass einer Veränderung notwendigerweise eine Ursache vorausgehen muss. Im Folgenden wird sich zeigen, dass sich, ausgehend von dieser Notwendigkeit, die Vernunft in Widersprüche verliert. Wie sich in 54 Ludwig, B., Aufklärung über die Sittlichkeit. Zu Kants Grundlegung einer Meta‐ physik der Sitten, S. 198 [Anm. 225].

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der Auflösung dieser Antinomie der Vernunft noch zeigen wird, kommt der Ursache neben ihrem empirischen noch ein intelligibler Charakter zu, der vorausgesetzt werden muss, um von Gesetzmäßig‐ keiten in der Natur ausgehen zu können. Inwiefern Kant die Annah‐ me der beiden Charakter der Ursache rechtfertigt, die überdies den Widerspruch zwischen Freiheit und Natur in der dritten Antinomie auflösen, ist Gegenstand des folgenden zweiten Kapitels.

§ 3. Exkurs: Kants Erwachen und Humes »Funkenschlag« In verschiedenen Kontexten gibt Kant nach eigenem Zeugnis be‐ kannt, dass er »vor vielen Jahren« (Prol., 260) aus einem dogmati‐ schen Schlummer erwachte. In der Forschungsliteratur wird heute noch kontrovers diskutiert, was die Ursache seines Erwachens war. Die Frage ist insofern berechtigt, als Kant selbst gleich zwei Gründe für sein Erwachen nennt, die zunächst in keinem Zusammenhang zueinander stehen. Den ›Prolegomena‹ folgend, ist es David Hume gewesen, der den dogmatischen Schlummer »zuerst« (Prol., 260) unterbrach, indem ihm die Idee der Deduktion überhaupt in den Sinn kam. An anderer Stelle in den ›Prolegomena‹ (vgl. Prol., 338) sowie in dem bekannten Brief an Garve von 1798 ist es hingegen die »Antinomie der reinen Vernunft«, die für die Erweckung verant‐ wortlich gemacht wird.55 Ich vertrete die These, dass die vermeintlich beiden Erweckungs‐ gründe in einem systematischen Zusammenhang zueinander stehen und auf Hume zurückgeführt werden können. Dieser Ansatz fin‐ det sich bereits in der Forschungsliteratur und ist umstritten. Die bisherigen Versuche, die beiden Erweckungsgründe miteinander zu verbinden, gründen allerdings vielmehr auf eine geschichtliche und 55 »Nicht die Untersuchung vom Daseyn Gottes, der Unsterblichkeit etc. ist der Punct gewesen von dem ich ausgegangen bin, sondern die Antinomie der r. V.: Die Welt hat einen Anfang -: sie hat keinen Anfang etc. bis zur vierten : Es ist Freyheit im Menschen, – gegen den: es ist keine Freyheit, sondern alles ist in ihm Naturnothwendigkeit; diese war es welche mich aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckte und zur Critik der Vernunft selbst hintrieb, um das Scandal des scheinbaren Widerspruchs der Vernunft mit ihr selbst zu heben.« (AA XII, 257f.).

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weniger auf eine systematische Herangehensweise.56 Unter Berück‐ sichtigung beider Aspekte zeigt sich hingegen, dass eine umfassende Antwort auf die Schlummer-Problematik überhaupt möglich ist. Dabei werde ich mich allein auf den Begriff der Kausalität ein‐ grenzen. Diese Einschränkung erklärt sich dadurch, dass der Begriff der Kausalität als Schnittmenge sowohl in der Auseinandersetzung mit Hume als auch in der Antinomie-Problematik eine essenzielle Rolle spielt. Hieraus geht hervor, dass die entscheidende Einsicht, die Hume Kant mitgeben konnte, darin besteht, dass Dinge an sich im Gegensatz zu Erscheinungen unabhängig voneinander sind. Auf dieser Basis ist es Kant nicht nur möglich, i) eine notwendige Ver‐ knüpfung der Erscheinungen rechtfertigen zu können, sondern auch ii) die Idee einer transzendentalen Freiheit als absolute Spontaneität anzunehmen, die in der Konsequenz iii) eine Ablösung der rationa‐ len Theologie aus der Philosophie erlaubt. Damit stelle ich die These auf, dass der geschlagene »Funken« Humes vor allem die Kantische Erkenntnis betrifft, Gott als Ursache für die Welt auszuschließen. Humes Einfluss auf die Philosophie Kants ist nach Kants eigenen Äußerungen zunächst ambivalent. Auf der einen Seite äußert sich Kant in der ersten Auflage der ›Kritik der reinen Vernunft‹ eher negativ über Hume und bezeichnet seine Ansichten als »skeptische Verirrung« (KrV, A 767/B 795). Nur zwei Jahre später in den ›Pro‐ legomena‹ findet sich auf der anderen Seite die bekannte Reminis‐ zenz an Hume, die ihn explizit für die Erweckung aus dem dog‐ matischen Schlummer verantwortlich macht: So war es schließlich sein »scharfsinniger Vorgänger« (Prol., 260), dem eine Deduktion überhaupt in den Sinn kam.57 In diesem Zusammenhang wurde in der Forschungsliteratur versucht, einerseits den Einfluss Humes auf 56 Vgl. Kreimendahl, L., Kant – Der Durchbruch von 1769, S. 41ff. Vgl. hierzu kri‐ tisch Brandt, R., Lothar Kreimendahl: Kant – Der Durchbruch von 1769 (Book Review), S. 100–111. Dass das Problem des dogmatischen Schlummers vermehrt unter systematischen Gesichtspunkten betrachtet wird, zeigen vor allem die Untersuchungen von Kienzler, vgl. hierzu Kienzler, W., Kants Erwachen aus dem dogmatischen Schlummer, S. 23–38 und vgl. außerdem De Boer, K., Kant’s Response to Hume’s Critique of Pure Reason, 376–406. 57 Unabhängig davon, wie Kant von Hume spricht, ändert sich nichts an der Tatsache, dass Kants Kritik an Hume immer den empirischen Ursprung der reinen Verstandesbegriffe betrifft, wie Watkins behauptet, sodass Kant ihm zu‐ folge seine Haltung gegenüber Hume im Laufe der Zeit nie geändert hat, vgl. Watkins, E., Kant and the Metaphysics of Causality, S. 381.

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Kant in Bezug auf das Deduktionsproblem herauszustellen und an‐ dererseits zu klären, ob Kant eine überzeugende Antwort auf Humes Skeptizismus geben konnte.58 Aus dem vorhergehenden Kapitel können wir festhalten, dass Hu‐ mes Angriff auf die Metaphysik als notwendiger Weckruf verstanden werden muss, der Kant dazu verleitet haben könnte, über einen möglichen a priorischen Ursprung der Grundsätze wie den der Kau‐ salität nachzudenken. Inwiefern es aber Hume tatsächlich zu dieser Einsicht gebraucht hätte, stellt im Besonderen Carl infrage. Zunächst verweist Carl auf die Thesen in Kants vorkritischer Schrift ›Nova Dilucidatio‹, die 1755 und damit im selben Jahr wie die deutsche Übersetzung der ›Enquiry‹ erschienen ist.59 Hier argumentiert Kant bereits, dass ein Kausalurteil nicht analytisch sein kann. Denn wäh‐ rend eine Ursache immer durch das bestimmt ist, was ihm folgt, geht bei einer Begriffsanalyse das Bestimmte dem Bestimmenden nicht voraus, sondern das Subjekt ist mit seinem Prädikat identisch: Im Voraus bestimmend ist der, dessen Begriff dem zu bestimmenden vorhergeht, d.h. ohne dessen Voraussetzung das Bestimmte nicht ein‐ zusehen ist. [...] Zu diesem kann man auch den identischen Grund rechnen, wo der Begriff des Subjekts wegen seiner völligen Identität mit dem Prädikat dieses bestimmt; z.B. ein Dreieck hat drei Seiten; hier geht der Begriff des Bestimmten dem Begriff des Bestimmenden weder voraus, noch folgt er ihm nach. (AA 01:391).

Carl macht darauf aufmerksam, dass dieser Gedanke in der späteren Unterscheidung vom »logischen Grund« und »Realgrund« fortge‐ setzt wird. Beispielsweise stimmt Kant Hume in der Methodenlehre der ›Kritik der reinen Vernunft‹ zu, dass es uns unmöglich ist, aus Begriffen sagen zu können, welche konkreten Wirkungen aus einem Realgrund folgen. Nur aus der Erfahrung können wir zum Beispiel sagen, dass das Sonnenlicht »festgewesenes Wachs« schmel‐ zen, gleichzeitig aber »Thon härten« (KrV, A 766/B 794) kann. In seiner 1766 erschienenen Schrift »Träume eines Geistersehers« ist hingegen erstaunlich, wie sehr die Ansichten Kants mit denen Humes übereinstimmen. Kant vertritt nämlich die These, dass das Verhältnis einer Ursache zu ihrer Wirkung nicht nur analytisch 58 Vgl. Guyer, P., Kant’s Answer to Hume?, S. 130. 59 Vgl. Carl, W., Der schweigende Kant, S. 148.

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aus Begriffen zu bestimmen und damit »unmöglich jemals durch Vernunft einzusehen [ist], sondern dass diese Verhältnisse lediglich aus Erfahrung genommen werden [müssen]« (AA 02:370). Da Kant, wie Hume, davon ausgeht, dass eine Ursache unabhängig von ihrer Wirkung ist, »[entspringt] niemals ein Widerspruch«, wenn ich sie voneinander trenne, weil »kein Zusammenhang vermöge der Ein‐ stimmung anzutreffen [ist]« (AA 02:370). Tonelli weist aus philoso‐ phiegeschichtlicher Perspektive jedoch darauf hin, dass die Annah‐ me, jedes besondere Kausalurteil lasse sich nur aus der Erfahrung ableiten, unter den Aufklärungsphilosophen dieser Zeit weitverbrei‐ tet war.60 Die Tatsache also, dass Kant bereits anhand dieser Belege über den Unterschied analytischer und synthetischer Urteile Bescheid wusste, lässt nach Carl an der einflussreichen Rolle Humes zumin‐ dest in dieser Hinsicht zweifeln.61 Auf welches Problem hat Kant aber dann geantwortet, das ent‐ sprechend der Vorrede in den ›Prolegomena‹ durch den Humeschen Zweifel ausgelöst wurde und sogar eine ›Kritik der reinen Vernunft‹ zur Folge hatte (vgl. Prol., 261)? Kants Antwort bezieht sich im Be‐ sonderen auf den Humeschen Grundsatz, den Verstandesgebrauch nicht über die Gegenstände möglicher Erfahrung dogmatisch hin‐ austreiben zu wollen. Dem zustimmend, zeigt Kant am Beispiel der Kausalität auf, dass dieser als reiner Verstandesbegriff nicht über den Gebrauch des Verstandes hinausgeht, sondern der möglichen Erfah‐ rung zugrunde liegt. Geht man davon aus, dass Kant mit Hume auf die Idee der »Deduktion der reinen Verstandesbegriffe« gekommen ist, dann tat er das, um mit ihr in erster Linie diese Grenze der Metaphysik zu bestimmen. In einem Brief an Herz aus dem Jahr 1772 schreibt Kant schließlich: 60 Hier macht Tonelli auf den Umstand aufmerksam, dass Crusius beispielsweise behauptet hat, dass der »Begriff der Kausalität selbst nicht aus der Erfahrung [entsteht], die bloß das Zusammensein oder Nacheinandersein gewisser Dinge vermittelt. Indessen können die besonderen Kausalbeziehungen nur aufgrund der Erfahrung festgestellt werden«, vgl. Tonelli, G., Die Anfänge von Kants Kritik der Kausalbeziehungen und ihre Voraussetzungen im 18. Jahrhundert, S. 445. Crusius vertritt damit bereits die These, dass die einzelnen Kausalurteile synthetisch sind und das Prinzip der Kausalität anders als die einzelnen Urteile einen a priorischen Ursprung hat. 61 Vgl. Carl, W., Der schweigende Kant, S. 148.

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Indem ich auf solche Weise die Quellen der Intellectualen Erkentnis suchte, ohne die man die Natur u. Grentzen der metaphysic nicht be‐ stimmen kan, brachte ich diese Wissenschaft in wesentlich unterschie‐ dene Abtheilungen und suchte die transscendentalphilosophie, nemlich alle Begriffe der gäntzlich reinen Vernunft, in eine gewisse Zahl von categorien zu bringen, aber nicht wie Aristoteles, der sie so, wie er sie fand, in seinen 10 praedicamenten aufs bloße Ungefehr neben einander setzte; (AA 10:132).

Da dieser Brief zum ersten Mal das Problem der Verstandesbegriffe zum Ausdruck bringt, ist man dazu geneigt, den Zeitpunkt der Er‐ weckung aus dem dogmatischen Schlummer auf das Jahr 1772 zu le‐ gen. Die Datierung des Erwachens auf das Jahr 1772 mit Verweis auf den Brief an Herz ist jedoch auch nicht ganz unproblematisch: Zum einen wird in diesem Brief Hume nicht einmal erwähnt, zum ande‐ ren betont Kant, dass er sich »selbst« die Frage gestellt hat, »auf wel‐ chem Grunde die Beziehung desienigen, was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand [beruht]« (AA 10:132). Hinzu kommt, dass trotz dieser vermeintlichen Erweckung die Fertigstellung der ›Kritik der reinen Vernunft‹ weitere 9 Jahre in Anspruch genommen hat und der eigentliche Zeitpunkt der Veröffentlichung Kants eigene Erwartungen nicht erfüllte. Es wird sich zeigen, dass der Humesche Zweifel weitreichendere Konsequenzen hatte als »nur« das Problem der Deduktion. Eine zweite Gruppe von Interpreten stellt nun demgegenüber die These auf, dass die Erweckung Kants aus dem Schlummer weitaus früher als 1772 anzusetzen ist. Auf diese These kommen sie, weil sie den zweiten dogmatischen Schlummer, den Kant beispielsweise in dem zuvor erwähnten Brief an Garve von 1798 den Antinomien zuschreibt, mit dem ersten hier bereits vorgestellten Schlummer in einen Zusammenhang setzen wollen. Mit Verweis auf die bereits fortgeschrittene Jahreszahl des Briefes an Garve könnte sich sicher‐ lich der ein oder andere finden, der Kant eine Altersdemenz vor‐ wirft.62 Tatsächlich muss man sich zeitlich erst gar nicht so weit von dem erstgenannten Schlummer, für dessen Erweckung Kant Hume 1783 in den ›Prolegomena‹ verantwortlich macht, wegbewegen. In ebendiesem Werk, um genau zu sein in § 50, ist schließlich Folgen‐ des zu lesen: 62 Vgl. Beck, L. W., The Prussian Hume and Scottish Kant, S. 119.

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Dieses Produkt der reinen Vernunft in ihrem transzendenten Gebrauch [d.h. die kosmologischen Ideen bzw. die Antinomie] ist das merkwür‐ digste Phänomen derselben, welches auch unter allen am kräftigsten wirkt, die Philosophie aus ihrem dogmatischen Schlummer zu erwe‐ cken und sie zu dem schweren Geschäfte der Kritik der Vernunft selbst zu bewegen. (Prol., 338).

Es ist vielleicht der absurden Vorstellung zu verdanken, Kant aus gleich zwei unterschiedlichen dogmatischen Schlummern wecken zu müssen, die Kreimendahl/Gawlick und später auch Kienzler einen Zusammenhang zwischen den beiden Schlummern vermuten ließ.63 Kreimendahl und Gawlick behaupten schließlich, dass Hume für die Entdeckung der Antinomie verantwortlich ist und damit eine Erwe‐ ckung aus dem Schlummer ermöglicht hat.64 Dabei beziehen sie sich auf den frühen Hume, das heißt den Verfasser der ›Treatise‹ und des Textes »Nachtgedanken eines Zweiflers«. Mit Bezug auf die in der ›Treatise‹ vorkommende Antinomie, die unter dem Titel »Nacht‐ gedanken eines Zweiflers« von Johann Georg Hamann übersetzt und 1771 veröffentlicht wurde, wird von Kreimendahl die Erweckung auf das Jahr 1769 datiert. Entsprechend der Reflexion 5037 soll dieses das »große Licht« (AA 18:69) von ›69 entzündet und im selben Jahr zur Entdeckung der Raum-Zeit-Lehre geführt haben.65

63 Die jeweiligen Forschungsberichte kommen jedoch auf unterschiedliche Ergeb‐ nisse: Kienzler kommt auf das Ergebnis, dass die Erweckung zwischen 1755 und 1760 stattgefunden haben muss, während Gawlick und Kreimendahl Kants Erwachen auf 1769 setzen. Mit Verweis auf die zeitgenössische Biographie von Borowski macht Kienzler darauf aufmerksam, dass dieser zwei Autoren nennt, die in den 1750er Jahren großen Einfluss auf Kant ausgeübt haben: Hutcheson und Hume. Kienzler betont außerdem, dass der von Hume ausgehende Impuls nicht unbedingt nur ein Problem betraf, sondern einen Impuls gab, für die Philosophie einen Neuanfang zu finden. Vgl. Kienzler, W., Kants Erwachen aus dem dogmatischen Schlummer, S. 30. Vgl. kritisch hierzu Kreimendahl, L., Eine neue Hypothese zu Kants früher philosophischer Entwicklung? Erwiderung auf Wolfgang Kienzler, S. 43–60. Dass Kant nach Kienzler daher vielmehr einen Erweckungsprozess bis hin zu seiner Transzendentalphilosophie erlebt hat, ist auch eine These, die hier vertreten wird. 64 Vgl. Gawlick, G. and Kreimendahl, L., Hume in der deutschen Aufklärung, S. 197. 65 Kants Erwachen in Bezug auf die Deduktion auf das Jahr 1769 vorzuverlegen, da dieses Jahr Kant nach eigenen Angaben »großes Licht« gab, betrachtet Klemme beispielsweise kritisch. Er argumentiert, dass das Licht anscheinend nicht so groß sein konnte, um es noch 1770 vor der Herausgabe seiner »Dissertatio«

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Die Standhaftigkeit dieser These hängt schließlich davon ab, ob Kant bereits vor der Veröffentlichung der Nachtgedanken, die auf das Jahr 1771 zu datieren ist, schon 1768/69 Zugriff auf diese hatte. Unter anderem diese Unstimmigkeit und die Tatsache, dass Kant Hume nie im Kontext der Antinomie-Problematik erwähnt, stoßen in der Forschungsliteratur auf einen verbreiteten Dissens bezüglich der Thesen Kreimendahls. Dies zeigt sich unter anderem in der Rezension Brandts zu Kreimendahls Untersuchungen, der dem Au‐ tor schließlich einen »selbsterzeugten hermeneutischen Zirkel«66 vorwirft. Zwar rückt dieser die Lehre von der Antinomie der reinen Vernunft in das Zentrum seiner Untersuchungen, kann dem »phi‐ losophisch interessierte[n] Leser«67 aber nicht erklären, was Kant eigentlich systematisch unter einer »Antinomie der reinen Vernunft« versteht. Die Philosophie wird nach Brandts eigener Aussage »von der Philologie und Geschichte jämmerlich erstickt«68. Dieser Kritik folgend, wird hier der Ansatz einer systematischen Interpretation nachgegangen, aus der deutlich hervorgeht, welche Position Hume für die Auflösung der Antinomie eingenommen hat. Die entscheidende Frage bei der Untersuchung der SchlummerProblematik lautet weniger, wann und wer der Auslöser des Erwa‐ chens war, sondern worin das Dogmatische in Kants Schlummer besteht. Der Begriff »dogmatisch« bedeutet nach Kant der unbe‐ gründete Gebrauch der Vernunftprinzipien ohne eine vorangehende Kritik ihres Vermögens (vgl. KrV, B XXXV ). Um herauszufinden, aus welchen unbegründeten dogmatischen Annahmen Kant erweckt einzubauen. Diese ist schließlich völlig unberührt von dieser Problematik und vom Humeschen Zweifel. Vgl. Klemme, H., Kants Philosophie des Subjekts, S. 40. 66 Brandt, R., Lothar Kreimendahl: Kant – Der Durchbruch von 1769 (Book Re‐ view), S. 104. 67 ebenda, S. 103. 68 Brandt schlägt die Möglichkeit einer systematischen Lesart vor, die die beiden genannten Schlummer zusammenführen könnten und auch in diesem Ansatz berücksichtigt wird: »Ein mögliche Konstruktion im Rohbau: Die Kausalfrage, allgemein vorgestellt: die Frage der Verstandesbegriffe überhaupt, führt bei nä‐ herer Überlegung darauf, daß ihre Anwendung auf Erscheinungen des mundus sensibilis zu wahren Erkenntnissen führt (gegen die Humesche Skepsis), in der Anwendung jedoch auf den Weltbegriff der reinen Vernunft (ein stück des mundus intelligibilis der Dissertation von 1770) entsteht eine – wenn auch nur scheinbare – Antinomie der nunmehr gewinnbaren »reinen Vernunft« (wovon in der Dissertation noch nicht die Rede ist)«, ebenda S. 104.

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werden musste, ist ein Vergleich zwischen seinen vorkritischen und nachkritischen Schriften hilfreich. Dabei lässt sich die Tendenz erkennen, dass von den vorkritischen Schriften bis hin zur ersten Auflage der ›Kritik der reinen Vernunft‹ Gott als Urheber und Schöpfer der Welt immer mehr durch die Idee der transzendentalen Freiheit verdrängt wird. Dieser Prozess ist in der ersten Kritik abgeschlossen, in der Gott aus der kausa‐ len Beschreibung der Welt exkludiert und die Existenz der Welt stattdessen rein durch eine transzendentale Freiheit erklärt wird. Im Gegensatz zu Gott ist die transzendentale Freiheit kein schöpfe‐ risches Wesen, das die Existenz von Gegenständen hervorbringt, sondern gemäß der dritten Antinomie als gesetzter erster Anfang eine notwendige Bedingung für die Erfahrung als Ganzes. Dass in dieser Hinsicht ein Erweckungsprozess stattgefunden haben muss, zeigen noch die dogmatischen Thesen, die Kant 1755 in der ›Nova Dilucidatio‹ vertreten hat: Denn hier tritt Gott noch als notwendiges Wesen und damit als vorgängiger Grund für die Welt auf. So heißt es, dass »wollte man Gott aufheben, nicht allein das ganze Dasein der Dinge, sondern auch die innere Möglichkeit selbst ganz und gar vernichtete« (ND, Sectio II, Prop. VII, 435). Daraus folgt für Kant dort, dass die Notwendigkeit Gottes bereits durch die Unmöglichkeit bewiesen ist, seine Nichtexistenz zu denken. Dabei vertritt Kant im Gegensatz zu Baumgarten und Wolff die Meinung, dass allein Gott absolut notwendig ist, da dieser keinen ihm vorausgehenden Grund braucht, der ihn bestimmt. Den endlichen Wesen hingegen kommt keine Notwendigkeit ihrer Existenz zu. Die einzige Notwendigkeit, die ihnen zukommt, betrifft allein die Beziehung zwischen existie‐ renden endlichen Dingen. Kant führt hier das Beispiel des Dreiecks auf, indem er zunächst behauptet, dass dieses auch nicht existieren könnte und damit keiner Notwendigkeit unterliegt. Die Verhältnisse innerhalb des Dreiecks sind jedoch notwendig so bestimmt, dass dieses drei Seiten hat. In der kritischen Phase ist es vor allem die »Deduktion der reinen Verstandesbegriffe«, aus der sich die folgenreiche Einsicht ergibt, dass sich diese nur auf Gegenstände möglicher Erfahrung anwenden lassen und nicht darüber hinausreichen. Daran knüpft die Erkenntnis an, dass es keines Gottes bedürfe, um die notwendige Verknüpfung von endlichen Dingen vorauszusetzen. In der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ löst sich Kant vollends von seinen dogma‐

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tischen Altlasten und erklärt, warum Gott nicht als kausaler Urheber von Erscheinungen verstanden werden kann: Folglich, wenn ich von Wesen in der Sinnenwelt sage: sie sind erschaf‐ fen, so betrachte ich sie so fern als Noumenon. So, wie es also ein Widerspruch wäre, zu sagen, Gott sei ein Schöpfer von Erscheinungen, so ist es auch ein Widerspruch zu sagen, er sei, als Schöpfer, Ursache der Handlungen in der Sinnenwelt, mithin als Erscheinungen, wenn er gleich als Ursache des Dasein der handelnden Wesen (als Noumenon) ist. (KpV, 102).

Dem Zitat folgend, kann nicht widerspruchsfrei behauptet werden, dass Gott i) Schöpfer von Erscheinungen und ii) als Schöpfer die Ursache von Handlungen in der Sinnenwelt ist. Dieser Widerspruch ergibt sich aus zweierlei Gründen: Zum einen ist anzumerken, dass der Schöpfungsbegriff »nicht zu der sinnlichen Vorstellungsart der Existenz und zur Kausalität gehört, sondern nur auf Noumenen bezogen werden kann« (KpV, 102). Dieses ergibt sich zum anderen daraus, dass Gott als Schöpfer auch Ursache der Erscheinungen und, damit einhergehend, die Ursache von Raum und Zeit wäre, was die Kausalität Gottes der Zeit nach bedingt, die wiederum dem Begriff seiner zeitlichen Unabhängigkeit widerspricht. Worauf Kant hier also hinauswill, ist, dass man keine notwendige kausale Bedin‐ gung zwischen Gott und den Erscheinungen annehmen kann, da sie raumzeitlich unabhängig voneinander sind, und es grenzüberschrei‐ tend wäre, eine solche Verknüpfung anzunehmen. Ebendieses Motiv der Unabhängigkeit der Dinge an sich findet sich in prominenter Weise bei Hume. Nachdem Kant in der zweiten Kritik Humes Fehler darin erkennt, Dinge an sich und Erscheinungen zu verwechseln, leuchtet nach Kant auch ein, weshalb Hume den Begriff der Ursache für »trüglich und falsches Blendwerk erklärte« (KpV, 53). Da Dinge an sich nach den Kategorien des Verstandes nicht beschreibbar sind, weil diese nur auf sinnliche Anschauung angewandt werden können, kann das kausale Verhältnis von etwas als Ursache zu etwas anderem als Wirkung nicht notwendig durch Dinge an sich bestimmt werden. Da Hume die Gegenstände der Erfahrung nach Kant als Dinge an sich betrachtete, befürchtete dieser zu Recht den dogmatischen Gebrauch des Kausalitätsprinzips. Wenn dieses Prinzip nicht auf Erscheinungen restringiert ist, dann kann es über die Grenze mög‐ licher Erfahrung hinaus angewandt und sogar von einer Tatsache

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auf die Existenz von etwas anderem (wie Gott) geschlossen werden. Für Hume musste also Erfahrung dazu kommen, um über die Dinge rechtmäßig urteilen zu können.69 Da Hume jedoch erkennt, dass er die Notwendigkeit in der Kausalität, »welche das Wesentliche des Begriffs der Kausalität ausmacht« (KpV, 53), empirisch nicht deduzieren kann, kann er ihr aufgrund von Gewohnheit lediglich eine subjektive Notwendigkeit zuschreiben. Der Humesche Zweifel, gesteht daher Kant, der ihn zu der ›Kritik der reinen Vernunft‹ be‐ wegt hat, »[ging] doch viel weiter, und [umfasste] das ganze Feld der reinen theoretischen Vernunft im synthetischen Gebrauche, mithin auch dasjenigen, was man Metaphysik überhaupt nennt« (KpV, 52). Der Humesche Zweifel ist schließlich nicht damit aufgehoben, allein zeigen zu können, dass die Anwendung der reinen Verstandes‐ begriffe zu Erkenntnissen führt. Es muss, dem Humeschen Grund‐ satz folgend, außerdem gezeigt werden, dass ihre Anwendung nicht über die Grenze der Erfahrung hinausgeht. Denn es stellt sich he‐ raus, dass sich die Vernunft in der Anwendung dieser Prinzipien a priori und so auch in der Kausalität in Widersprüche verliert. Ausgehend von der Notwendigkeit in der Ursache, stellt sich näm‐ lich unmittelbar die Frage, ob es ein erstes unbedingtes Ereignis gibt, das die Reihe von Ereignissen verursacht. In dieser Vorstellung eines unbedingten Ereignisses als ersten Anfang ist bereits die Idee der transzendentalen Freiheit enthalten. Die Schwierigkeit zeigt sich nun dahin gehend, dass sowohl ein erster Anfang als auch ein infi‐ niter Regress von Ursache und Wirkung bewiesen werden können. Dass die Erfahrungsgrundsätze »noch weiter führten, als Erfahrung reicht« (Prol., 351), erkannte auch Hume, weshalb er diese selbst 69 Karin de Boer verfolgt in ihrer Untersuchung die These, dass das Humesche Problem im Besonderen in seinem Kausalitätsverständnis begründet lag, das als Antwort gegen die dogmatische Metaphysik formuliert wurde, um die Möglich‐ keit von Gottesbeweisen zu untergraben. Dass Kant Hume auch so gelesen hat, zeigt sie mit Verweis auf die zweite Kritik, in der Hume die Verwechslung von Erscheinungen und Dingen und an sich vorgeworfen wird. De Boer, K., Kant’s Response to Hume’s Critique of Pure Reason, S. 398. Dass aber mit Bezug auf diese Stelle auch ein konzeptioneller Zusammenhang zwischen den vermeint‐ lich beiden Schlummern besteht, steht nicht im Fokus der Untersuchungen von De Boer. Tatsächlich zeigt sich, dass nach Kant durch den von Hume ange‐ nommenen dogmatischen Gebrauch der Kausalität eine Deduktion dergleichen notwendig ist und eine Erfahrung dazu kommen muss, um den Begriff nicht über die Grenzen der Möglichkeit von Erfahrung zu gebrauchen.

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angezweifelt hat. Mit Verweis auf die Reflexion 5116 dauerte es also nicht lange, dass Kant auf solche Weise »die ganze dogmatische Theorie dialektisch fand«, was sich gerade dann zeigt, wenn wir dem Ursprung solcher metaphysischen Begriffe, wie dem der Kau‐ salität, nachgehen möchten. Wäre es Kant nicht gelungen, diesen Widerspruch aufzulösen, müsste man auch die Notwendigkeit in der Naturkausalität wie Hume nur durch Psychologie annehmen. Mit der Auflösung ist es Kant darüber hinaus möglich, Gott aus der kausalen Beschreibung der Welt zu exkludieren und die Existenz der Welt rein durch eine transzendentale Freiheit zu erklären. Sie ist kein schöpferisches Wesen, das die Existenz von Gegenständen hervorbringt, sondern lediglich die Bedingung für die Möglichkeit von Gesetzmäßigkeit, das heißt der Kausalität und damit auch für die Erfahrung als Ganzes (vgl. Kap. II). Auf diese Weise ist der konzeptionelle Zusammenhang zwischen Hume, der Deduktion und der Auflösung der Antinomie möglich, der sich vor allem am Begriff der Kausalität nachzeichnen lässt. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich, vom dogmatischen Schlummer ausgehend, eine Art Entwicklungsprozess in Kants Den‐ ken nachzeichnen lässt, der in den 1770-Jahren seinen Anfang nimmt. Wenn das Kausalitätsprinzip als ein möglicher Grund be‐ stimmt wird, der Kant aus dem dogmatischen Schlummer geweckt hat, dann kann die Datierung des Erwachens nicht vor der Veröf‐ fentlichung der »Dissertatio« im Jahre 1770 liegen.70 Für die hier vertretene These ist es relevant, dass Kant dort noch die Meinung vertritt, dass Gott sowohl als »Grund des Erkennens« als auch als »Grund des Entstehens« zu begreifen ist (»Dissertatio« § 9). An die Stelle des »principium cognoscendi« ist damit noch keine trans‐ zendentale Freiheit getreten. Somit ist der erste Schritt in Richtung einer ›Kritik der reinen Vernunft‹ die Entdeckung der Kategorien, die Kant zum ersten Mal in dem bereits zitierten Brief an Herz im Jahr 1772 formuliert. Mit der Deduktion der Kategorien beweist 70 Nach Beck vertritt Kant 1770 noch dogmatische Positionen und übernimmt in Teilen sogar noch Wolffs Ontologie, die er in der »Kritik der reinen Vernun‐ ft« schließlich vollständig verwirft: »What he does say is hardly more than a warmed-over version of some parts of Wolff ’s ontology, and this little is jettisoned when he comes to write the Dialectic of Pure Reason, for by then he has realized that there is no synthetic knowlege of what is not spatial and temporal.« Beck, L. W., The Prussian Hume and Scottish Kant, S. 116.

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Kant schließlich, dass sich die reinen Verstandesbegriffe nur auf Gegenstände möglicher Erfahrung anwenden lassen und nicht da‐ rüber hinausreichen. Mit dieser Entdeckung geht schließlich die folgenreiche Einsicht einher, die sich gegen eine rationale Theologie wendet, nämlich in der Weise, dass es keines Gottes bedürfe, um die notwendige Verknüpfung der endlichen Dinge vorauszusetzen. In demselben Brief an Herz heißt es schließlich: »Allein der Deus ex Machina in der Bestimmung des Ursprungs und der Gültigkeit unsrer Erkenntnisse [ist] das ungereimteste was man nur wählen kan [...]« (AA 10:132). Dabei sind Kants Untersuchungen vom Hu‐ meschen Zweifel geleitet, die Grenze möglicher Erfahrung nicht zu überschreiten und anstelle von Gott eine transzendentale Freiheit zu setzen, die widerspruchsfrei zur Natur angenommen werden kann und bei der keine Moral möglich wäre. Der dogmatische Schlummer ist im Zeitstrahl auf der folgenden Seite zusammengefasst und zeichnet den Erweckungsprozess Kants, ausgehend von seiner vorkritischen Phase bis hin zu seiner kriti‐ schen Phase, nach. Dabei ist die Zeitperiode blau hinterlegt, in der der Erweckungsprozess stattgefunden hat. Ein Indiz für den Anfang des Prozesses stellt dabei der Brief an Herz von 1772 dar, in dem sowohl die Idee der Deduktion als auch die Abkehr von der rationalen Theologie zum ersten Mal werden. Spätestens mit der Veröffentlichung der ›Kritik der reinen Vernunft‹ im Jahr 1781 muss der Erweckungsprozess abgeschlossen sein, da mit ihr die kritische Phase ihren Anfang nimmt.

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i. Ergebnis des ersten Kapitels In diesem Kapitel wurde der Versuch unternommen, eine Antwort auf die in der Forschungsliteratur viel diskutierte Frage zu formulie‐ ren, »wie Kant auf Hume geantwortet hat«. Inwiefern diese Frage‐ stellung für das der Dissertation zugrunde liegende Thema interes‐ sant ist, zeigt sich in zweierlei Hinsicht. Zum einen ist in der Auseinandersetzung mit Hume deutlich geworden, was Kant unter dem Begriff der Ursache versteht, den er durch Humes philosophische Untersuchung für gefährdet betrachtet hat. In der Gegenüberstellung der beiden philosophischen Theorien hat sich jedoch als besondere Gemeinsamkeit herausgestellt, dass der nomologische Charakter der Kausalität sowohl bei Hume als auch bei Kant im Begriff der Ursache vorausgesetzt wird. Während Kant die Notwendigkeit der Ursache im Denken voraussetzt, ver‐ sucht Hume, auf die Gesetzmäßigkeit in der Ursache mit einer Re‐ gel der Assoziation zu schließen. Dass nach Kant der Begriff der Ursache allerdings nicht über die Grenzen der möglichen Erfahrung gebraucht werden kann, sondern auf Anschauung restringiert sein muss, ist mit der Deduktion gezeigt. Es ist diese Einsicht, die dem Ursachenbegriff besondere Relevanz zuschreibt, was nicht zuletzt durch seine zentrale Bedeutung für die Erweckung Kants aus dem dogmatischen Schlummer ersichtlich wird. Ein wesentlicher Ertrag Humes konnte schließlich bis hin zur Abkehr Kants von der rationa‐ len Theologie nachgezeichnet werden. Zum anderen ist herauszustellen, dass die Problematik der Not‐ wendigkeit in der Kausalität, die maßgeblich von Hume aufgezeigt wurde, als ein zentraler Punkt in Kants philosophischem Projekt zu betrachten ist. An dieser Stelle lässt sich bereits vermuten, dass Kants Begriff der Kausalität ein wichtiger Dreh- und Angelpunkt ist, der nicht nur einen wesentlichen Kern seiner theoretischen, sondern auch seiner praktischen Philosophie betrifft. Dabei sind die Paralle‐ len zur praktischen Philosophie, die im Folgenden aufgezeigt wer‐ den, also keineswegs zufällig, sondern deuten auf eine Kontinuität in Kants Kausalitätsbegriff sowohl in der ›Kritik der reinen Vernunft‹ als auch in der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ hin. Insbesondere wird sich dieses in Bezug auf die Frage, wie der Wille als Ursache zu verstehen ist, zeigen. Wie genau diese Parallelen im Detail aussehen, wird im zweiten Teil dieser Arbeit nachgezeichnet. Im Sinne der

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i. Ergebnis des ersten Kapitels

Fragestellung soll im folgenden Kapitel zunächst analysiert werden, inwiefern Kant mit dem doppelten Charakter der Ursache die wider‐ spruchslose Möglichkeit einer transzendentalen Freiheit, und zwar als der Bedingung von Zurechnung, aufzeigt.

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§ 4. Zum Verhältnis von Natur und Freiheit Es ist nicht einfach, die Gründe für das Handeln einer Person durch bloße Beobachtung zu ermitteln. Wenn etwa eine Person dabei beobachtet wird, wie sie eine große Geldsumme an einen wohltätigen Verein spendet, dann kann eine Vielzahl von möglichen Gründen ausgemacht werden: Zum Beispiel könnte die Person ge‐ spendet haben, um in der Öffentlichkeit als hilfsbereit oder selbstlos wahrgenommen zu werden. Oder sie könnte aber auch gespendet haben, weil sie sich moralisch dazu verpflichtet gefühlt hat. Solche Gründe schließen sich zunächst nicht gegenseitig aus und kommen gleichermaßen infrage. Doch was legitimiert uns überhaupt, Hand‐ lungsgründe anzunehmen, die sich nicht empirisch bestimmen las‐ sen? Unter der Voraussetzung des allgemeinen Kausalitätsprinzips, nach dem »jede Veränderung eine Ursache hat«, könnte zwar ein Grund einer Handlung angenommen werden, doch müsste dieser wie das Prinzip selbst unter Zeitbedingungen stehen. Damit kann der Grund einer Handlung immer nur Natur sein, weshalb in der ›Kritik der reinen Vernunft‹ innerhalb der sogenannten Freiheitsan‐ tinomie nicht unvermittelt die Frage gestellt wird, »ob ich in mei‐ nem Handeln frei, oder, wie andere Wesen, an dem Faden der Natur und des Schicksals geleitet sei« (KrV, A 463/B 491). Auf Grundlage der dritten Antinomie werde ich in diesem Kapitel, dieser Frage nachgehend, verdeutlichen, dass die Annahme von Handlungsgrün‐ den in derselben Art und Weise legitimiert ist wie die Annahme von Naturursachen. Die Frage, wie Handlungsgründe bestimmt werden können, ist analog zu der Frage nach der Ursachenbestimmung in der Natur zu betrachten. Somit zeigt sich, dass die Handlungsgrün‐ de mit derselben Methodik wie Naturursachen erschlossen werden können, nämlich kontrafaktisch.

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II. Von der Ursache zum Grund

In diesem Kapitel soll insbesondere auf zwei Probleme eingegan‐ gen werden, die nach der Sekundärliteratur mit der dritten Antino‐ mie einhergehen. Das erste Problem umfasst dabei die Frage, ob die Freiheit in der ›Kritik der reinen Vernunft‹ ausreichend behandelt wurde. Ich vertrete die These, dass die Freiheitsfrage in der ›Kritik der reinen Vernunft‹ dahin gehend beantwortet worden ist, als dass Freiheit und Natur zugleich widerspruchslos denkbar sind, die Fra‐ ge jedoch, »wie« eine solche Freiheit möglich ist, unbeantwortet bleibt. Angesichts dessen verfolgt die Auflösung der dritten Antino‐ mie selbst nicht den Anspruch, die »Möglichkeit und Wirklichkeit der Freiheit« (vgl. KrV, A 558/B 586) aufzuzeigen, sondern lediglich, »daß Natur der Kausalität aus Freiheit [...] nicht widerstreite« (ebd.). Dies gelingt ihr mithilfe des transzendentalen Idealismus, durch den zwar nicht die Kompatibilität von Natur und Freiheit gezeigt wird, sondern ihnen nur unterschiedliche Gegenstandsbereiche zu‐ geschrieben werden können.71 Diese Interpretation steht der gängi‐ gen These der Sekundärliteratur entgegen, die die Freiheitsfrage in der ersten Kritik für nicht beantwortet hält und diese erst mit der Deduktion der Freiheit in der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ vermutet. Diese Position wird allgemein unter der sogenannten »procrastination-These«72 gefasst. Mit dem Hinweis, dass die zweite 71 Timmermann macht mit Verweis auf die klassischen Vertreter des Kompati‐ bilismus, zu denen u.a. Hume, Locke und Hobbes gezählt werden, darauf aufmerksam, dass es ihnen zwar um den Ausgleich von Freiheit und Natur ging, wobei vielmehr die Handlungs- und weniger die Willensfreiheit mit dem Naturdeterminismus vereinbart werden sollen. In diesem Sinne beschreibt Hu‐ mes Freiheitsbegriff die Fähigkeit, eine Handlung willensgemäß auszuführen, sofern man sich gegen äußere Hindernisse oder Zwänge durchsetzen kann. Vgl. Timmermann, J., Sittengesetz und Freiheit, S. 82, (vgl. hierzu auch § 9.1). Da unser Handeln von bestimmten Bedingungen abhängt, kann eine freie Handlung immer nur relativ zu ihren Bedingungen betrachtet werden, die ihr natürliches Umfeld vorgibt. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern versucht Kant nach Bojanowski, keinen relativen, sondern einen absoluten Freiheitsbegriff mit dem Naturdeterminismus zu vereinbaren und kann der Tradition entsprechend nicht als Kompatibilist bezeichnet werden, vgl. Bojanowski, J., Kants Theorie der Freiheit, S. 7. So verfügt der Mensch nach Kant über einen absolut freien Willen, wodurch er sein Handeln nach Vernunftgründen bestimmen kann. 72 Vertreter der »procastination-These« sind u.a. Allison, H. E., Kant’s Ground‐ work for the Metaphysics of Morals: A commentary, S. 350. Wood, A. W., Kantian Ethics, S. 124. Dieser These kritisch gegenübergestellt, behauptet Ludwig, dass die Frage nach der Freiheit in der spekulativen Philosophie ihrer Möglichkeit

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Kritik an das erinnert, »was in der Kritik der reinen Vernunft gesagt war« (KpV, 97), wird der Ertrag der Interpretation in dieser Arbeit sein, eine Kohärenz zwischen Kants theoretischer und praktischer Philosophie herzustellen. Insbesondere für das Problem der Zurech‐ nung kann auf diese Weise auf die Ergebnisse der spekulativen Phi‐ losophie zurückgegriffen werden. Eine zweite Schwierigkeit, die mit der dritten Antinomie einher‐ geht, betrifft die Frage, in welchem Kontext das Freiheitsproblem innerhalb der dritten Antinomie zu lesen ist. Ich vertrete dabei die These, dass die Auflösung der dritten Antinomie in doppelter Hinsicht unerlässlich ist: zum einen als Grundlage für eine Moral‐ philosophie und zum anderen für die Annahme der Notwendigkeit in der Naturkausalität. Der entscheidende Schritt hierbei ist, dass ich die transzendentale Freiheit als die Möglichkeit von Prinzipien interpretiere. In früheren Interpretationen der dritten Antinomie lag bisher der Fokus auf dem Aspekt, dass ihre Auflösung die Vorausset‐ zung für eine Moralphilosophie ist.73 Da der Fokus dieser Arbeit auf nach ausreichend beantwortet wurde. Dabei verweist er zunächst auf den Ein‐ fluss Humes, da auch für Kant gleichermaßen allein aus Begriffen a priori unbegreiflich ist, »wie« Kausalität möglich ist und daher nur davon ausgegan‐ gen werden kann, dass sie möglich ist (vgl. KrV, A 770/B 798). Denn die Frage, »wie« eine solche Kausalität möglich sei, kann genauso wenig für die Naturkausalität beantwortet werden, sodass wir uns »damit begnügen müssen, [...] daß eine solche vorausgesetzt werden müsse« (KrV, A 488). Parallel dazu gliedert sich die Freiheitsfrage demnach auch auf zwei Ebenen, von denen zumindest eine beantwortet werden kann und schließlich in der »Kritik der reinen Vernunft« auch wird: Die Frage nach dem »wie« wird in der Auflösung auch gar nicht mehr gestellt, sodass sich »nur« die Frage stellt, »ob auch Frei‐ heit stattfinden könne, oder diese durch jene unverletzliche Regel [der Natur] völlig ausgeschlossen sei.« (KrV, A 536). Vgl. Ludwig, B., ›Die Kritik der reinen Vernunft hat die Wirklichkeit der Freiheit nicht bewiesen, ja nicht einmal deren Möglichkeit.‹: Über die folgenreiche Fehlinterpretation eines Absatzes in der Kritik der reinen Vernunft., S. 405. 73 Vgl. Höffe, O., Kants Kritik der reinen Vernunft: die Grundlegung der modernen Philosophie, S. 253. Auch wird in der Literatur der Standpunkt vertreten, dass die dritte und vierte Antinomie im Gegensatz zu den ersten beiden Antinomien aufgelöst werden und damit beide wahr sein können, weil, von ihnen ausge‐ hend, Religion und Moral überhaupt eine Rechtfertigung erhalten und ihnen damit ein größerer Wert zukommt. Dass im Besonderen der dritten Antinomie und ihrer Auflösung auch ein spekulatives Interesse anhaftet, wird dabei völlig übersehen. Auch Strawson teilt diese Meinung, indem er schreibt: »What un‐ derlies Kant’s deviation from the »true« critical solution of the third and fourth

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II. Von der Ursache zum Grund

der Zurechnung von Handlungen liegt, braucht sie somit sowohl eine erkenntnistheoretische als auch eine moralische Perspektive, da Handlungen immer einen intelligiblen als auch empirischen Cha‐ rakter haben. Um diese Interpretation zu begründen, soll im ersten Schritt die allgemeine Problemstellung der Antinomien dargelegt und gezeigt werden, wie die Vernunft zu den Antinomien gelangt. Im zweiten Schritt soll die Validität des Thesis- sowie Antithesis-Beweises der dritten Antinomie mithilfe einer genauen schrittweisen Beweisana‐ lyse gezeigt werden. Daraufhin soll präzisiert werden, inwiefern sich die bewiesenen Thesen widersprechen und an welchem Punkt sie unvereinbar miteinander scheinen. Aus dieser Analyse der Pro‐ blemstellung geht bereits hervor, dass die Auflösung der dritten Antinomien genau dann möglich ist, wenn zeitliche und kausale Reihen getrennt voneinander betrachtet werden können. Daran an‐ schließend, soll in einem dritten Schritt anhand der Auflösung der Antinomien gezeigt werden, dass dies genau dann möglich ist, wenn Ursachen zwei Charaktere zugeschrieben werden: ein intelligibler und ein empirischer Charakter. Ein wesentlicher Aspekt hierbei ist, dass der intelligible Charakter zeitlos zu betrachten ist (Kausalität durch Freiheit), während der empirische Charakter der Ursache un‐ ter Zeitbedingungen steht (Naturkausalität). Ausgehend von dieser Auflösung, ist schließlich die Bestimmung von Ursachen möglich. Da der intelligible Charakter nicht zugänglich ist, können Ursachen nie in letzter Konsequenz bestimmt werden, sondern es können mögliche Ursachen immer nur kontrafaktisch ausgeschlossen wer‐ den. Zuletzt soll in einem Exkurs außerdem darauf eingegangen werden, wie diese Interpretation das Verhältnis von transzendentaler und praktischer Freiheit innerhalb der ›Kritik der reinen Vernunft‹ beschreibt.

antinomies? The factors are many and complex. But it is obvious enough what, in the case of Freedom v. Universal Causality, is the chief of them. It has nothing to do with the interests of theoretical reason. It has to do with the interests of »pure practical reason«, i.e. of morality«, Strawson, P., The Bounds of Sense, S. 213.

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§ 4. Zum Verhältnis von Natur und Freiheit

§ 4.1 »Überschreitung von Schranken«

Das Kernproblem der Antinomie betrifft die Forderung der Ver‐ nunft, die Welt als Ganzes mithilfe ihrer Prinzipien vollständig erklären zu können. In der folgenden Untersuchung soll auf Grund‐ lage der transzendentalen Dialektik dargelegt werden, wie die Ver‐ nunft dieser Forderung nachkommt und inwieweit sie in dieser Frage an ihre Grenzen stößt. Kant zeigt hier, dass sich die Vernunft beim Versuch, absolute und vollständige Aussagen über die Welt zu tätigen, in Widersprüche verwickelt. Dies erklärt sich aus der Heran‐ gehensweise der Vernunft, nach der sie die Regeln des Verstandes unter eine Einheit (bzw. ein Prinzip) zu bringen versucht und dazu alle Bedingungen bis hin zum Unbedingten ausfindig machen muss, die unter diese Regel fallen. Für Kant stellt sich heraus, dass der Widerspruch in den Antinomien nur mit dem transzendentalen Idealismus aufgelöst werden kann. Bevor sich der Frage gewidmet wird, wie diese Auflösung im Einzelnen möglich ist, ist zunächst zu klären, wieso überhaupt eine Auflösung notwendig ist. In diesem Abschnitt werde ich das entscheidende Argument vorbringen, dass durch eine fehlende Auflösung eine widersprüchliche Metaphysik die Folge wäre und Humes Einwürfe gegen eine Metaphysik als Wissenschaft vollends berechtigt wären. Hieraus erwächst die The‐ se, dass Hume auch in der Antinomieproblematik eine wesentliche Funktion zugeschrieben werden muss und die Erweckung aus dem »dogmatischen Schlummer« ihre Spuren bis hierhin hinterlässt. In der transzendentalen Dialektik wird zwischen den Begriffen der Vernunft und des Verstandes unterschieden, wodurch ihnen je‐ weils ein unterschiedlicher Gegenstandsbereich zugeschrieben wird. Im Gegensatz zu den Begriffen des Verstandes, mit denen allein die Erkenntnis eines Gegenstandes sowie seine Bestimmung möglich sind (KrV, A 301/B 357), lassen sich die Begriffe der Vernunft nicht innerhalb von Erfahrung beschränken, sondern greifen über die Er‐ fahrungserkenntnis hinaus. Ihre Begriffe werden daher transzenden‐ tale Ideen genannt, die »nicht willkürlich erdichtet, sondern durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben« (KrV, A 327/B 384) sind. Die transzendentalen Ideen sind wie die Kategorien auch der Natur der Vernunft entsprungen, sodass sie, wie alles andere auch, »was in der Natur gegründet ist[,] zweckmäßig und mit dem richtigen Gebrauch desselben einstimmig sein [muss]« (KrV, A 698/B 726).

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II. Von der Ursache zum Grund

Die transzendentalen Ideen haben hiernach zwar keinen konstitu‐ tiven, aber dafür einen regulativen Gebrauch, »den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten«, indem sie den Verstandesbegriffen »die größte Einheit neben der größten Ausbreitung [...] verschaffen« (KrV, A 644/B 672). Die Vernunft bezweckt, die Verstandesregeln unter die »kleinste Zahl der Prinzipien (der allgemeinen Bedingun‐ gen)« (KrV, A 305/B 361) zu bringen. Ein Prinzip ist also die Vereini‐ gung aller Bedingungen, die unter eine Regel fallen. Um auf diese Prinzipien schließen zu können, muss die Vernunft also die Totalität aller unter den Regeln stehenden Bedingungen voraussetzen. Die Forderung der Vernunft nach der Vollständigkeit der Reihen liegt ihr schließlich als Grundsatz zugrunde, der die transzendenta‐ len Ideen zuerst notwendig macht: »Die Vernunft fordert dieses nach dem Grundsatze: wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Summe der Bedingungen, mithin das schlechthin Unbedingte gegeben, wodurch jenes allein möglich war.« (KrV, A 409/B 436).

Ausgehend von dem ihr gegebenen Bedingten, setzt die Vernunft voraus, dass auch die Vollständigkeit der Bedingungen gegeben ist. Indem die Vernunft »die Kategorie zu transzendentalen Ideen macht« (KrV, A 409/B 436), erweitert sie die empirische Synthe‐ sis bis zum Unbedingten und gibt ihr so absolute Vollständigkeit. Die transzendentalen Ideen sind deshalb nichts anderes »als bis zum Unbedingten erweiterte Kategorien« (KrV, A 409/B 436). Die kosmologischen Ideen lassen sich entsprechend der Tafel der Kate‐ gorien anordnen, wobei nicht alle Kategorien als Vernunftbegriffe »taugen« (KrV, A 409/B 436). Es müssen zwei Bedingungen erfüllt werden, um als kosmologische Idee erweitert werden zu können: Zum einen muss gelten, dass die Synthesis der Erscheinungen eine Reihe ausmacht und zum anderen muss die Reihe der Bedingungen untergeordnet sein (KrV, A 409/B 436). In der dritten Antinomie handelt es sich um die Kategorie der Relation, in der nur die Kausa‐ lität als Einzige die Kriterien zu einer transzendentalen Idee erfüllt. Mit ihr ist eine Reihe von Ursache und Wirkung gegeben, insofern man von der Wirkung als das Bedingte zu der Bedingung, das heißt der Ursache, aufsteigen kann (KrV, A 414/B 441/B 442). Die Kategorien der Substanz und Gemeinschaft können nicht zu einer kosmologischen Idee erweitert werden, da die Akzidenzien und die

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§ 4. Zum Verhältnis von Natur und Freiheit

Gemeinschaft von Substanzen nicht unter-, sondern beigeordnet sind und so auch keine Reihe ausmachen. Nachdem Kant nicht nur die Relation, sondern auch die ande‐ ren drei Kategorien der Quantität, Qualität und Modalität auf ihre Möglichkeit hin überprüft hat, zu transzendentale Ideen erweitert werden zu können, kommt er auf insgesamt vier kosmologische Vernunftbegriffe: 1. »Die absolute Vollständigkeit der Zusammensetzung des gegebenen Ganzen aller Erscheinungen«, 2. »Die absolute Vollständigkeit der Teilung eines gegebenen Ganzen in der Erscheinung«, 3. »Die absolute Vollständigkeit der Entstehung einer Erscheinung überhaupt«, 4. »Die absolute Vollständigkeit der Abhängigkeit des Daseins des Ver‐ änderlichen in der Erscheinung« (KrV, A 415/B 443).

Jede der kosmologischen Ideen umfasst die Welt als Ganzes. Die erste Idee beschäftigt sich mit der Möglichkeit einer räumlichen Weltgrenze und eines zeitlichen Weltanfangs, die zweite Idee geht der Frage nach, ob die Welt aus einfachen Teilen besteht. Die dritte Idee setzt sich hingegen mit der widerspruchsfreien Möglichkeit einer absoluten Selbsttätigkeit neben einer Naturnotwendigkeit aus‐ einander, während die vierte Idee schließlich erörtert, ob das Dasein veränderlicher Dinge von einem notwendigen Wesen abhängt (vgl. KrV, A 418/B 446).74 Die kosmologischen Ideen stellen allesamt Fragen nach der abso‐ luten Vollständigkeit, die in Abhängigkeit von der Vorstellung des Unbedingten in zweifacher Weise beantwortet werden können:75 74 Vgl. Höffe, O., Kants Kritik der reinen Vernunft: die Grundlegung der modernen Philosophie, S. 241. 75 Die sich widersprechenden Annahmen über das Unbedingte, die in den Bewei‐ sen der Antinomie später als Thesis und Antithesis einander gegenübergestellt werden, zeigen, dass auch die Antithesis von einem Unbedingten ausgeht. Dimpker/Kraft/Schönecker betonen zwar auch, dass, wenngleich die Antithesis im Gegensatz zur Thesis nicht von einem Unbedingten anfängt (vgl. KrV, A 467/B 495), sie dennoch »mit einem Begriff des Unbedingten operiert« Dimp‐ ker, H., Kraft, B., and Schönecker, D., Torsionen der dritten Antinomie. Zum Widerstreit ihrer Beweise und Anmerkungen, S. 183. Schopenhauer behauptet hingegen, dass die Antithesis mit der Idee des Unbedingtes unvereinbar sei: »Dem Begriff einer unendlichen Reihe widerspricht es geradezu, daß sie ganz

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II. Von der Ursache zum Grund

Dieses Unbedingte kann man sich nun gedenken, entweder als bloß in der ganzen Reihe bestehend, in der also alle Glieder ohne Ausnahme bedingt und nur das Ganze derselben schlechthin unbedingt wäre, und dann heißt der Regressus unendlich; oder das absolute Unbedingte ist nur ein Teil der Reihe, dem die übrigen Glieder derselben untergeord‐ net sind, der selbst aber unter keiner anderen Bedingung steht. (KrV, A 417/B 445).

Das Unbedingte kann entweder als Anfang einer Reihe oder als unendlicher Regress gedacht werden. Das Problem an der Vorstel‐ lung des Unbedingten ist, dass es selbst nie allein durch Erfahrung bestimmt werden kann und die Vernunft ihrer Forderung nach Voll‐ ständigkeit selbst nie nachkommen wird. Damit bleibt das Ganze der Erscheinungen auch nur eine Idee, »[...] da wir dergleichen niemals im Bilde entwerfen können« (KrV, A 328/B 384) und damit vorerst nur ein »Problem ohne alle Auflösung« (KrV, A 328/B 384) bleibt. Die Vernunft gerät in einen Widerstreit mit sich selbst, da weder der Anfang noch der Regress empirisch verifiziert werden können. Hierdurch ist auch das Problem der Antinomie ausgemacht, in der es zwei Möglichkeiten gibt, die die Idee einer »Vollständigkeit der Entstehung einer Erscheinung überhaupt« (KrV, A 415/B 443) bestimmen können. Die Vernunft bleibt zwischen beiden Positionen (Thesis und Antithesis), die sich zwar gegenseitig ausschließen, aber jede, für sich genommen, »gültige und notwendige Gründe« (KrV, A 421/B 449) hat, zwiegespalten. Um die Vernunft aus diesem Wider‐ streit zu lösen, soll mithilfe der »transzendentalen Antithetik« das Ziel verfolgt werden, eingebildete und einseitige Scheinwahrheiten der Vernunfterkenntnisse aufzudecken. Sie handelt nicht davon, eine neue »Zweifelslehre« (Refl. 5037) zu etablieren, sondern eher davon, die natürliche Illusion der Vernunft aufzuzeigen. Dabei wird der »transzendentale Schein«, sollte er auch mit guten Gründen als ein solcher erkannt werden, sich nicht vollends auflösen. Ebenso wie sich analog hierzu auch die Illusion nicht vermeiden lässt, dass das Wasser in der Mitte des Meeres höher scheint, als am Ufer (KrV, A 287/B 354). gegeben sei«. Schopenhauer, A., Die Welt als Wille und Vorstellung, S. 669f. Schopenhauer nimmt hier im Grunde die Position der Thesis ein, die, wie sich zeigen wird, genau das an der Antithesis kritisiert und daher einen ersten Anfang annehmen muss.

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§ 4. Zum Verhältnis von Natur und Freiheit

Eine kritische und widerspruchsfreie Auflösung des Problems ist unumgänglich, da ihr ansonsten nur zwei weniger befriedigende Alternativen offenstehen, um sich aus ihrem dialektischen Zustand zu lösen: [...] sich entweder einer skeptischen Hoffnungslosigkeit zu überlassen, oder einen dogmatischen Trotz anzunehmen und den Kopf steif auf gewisse Behauptungen zu setzen, ohne den Gründen des Gegenteils Gehör und Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. (KrV, A 407/B 434).

Die Vernunft kommt aus diesem gespaltenen Zustand nur dann heraus, wenn sie sich entweder aus einem »dogmatischen Trotz« heraus für eine Seite entscheidet oder aus der »skeptischen Hoff‐ nungslosigkeit« beiden Seiten absagt. Was den Skeptiker selbst »frohlockt« (Prol., 339), bedeutet das Scheitern des Kantischen Pro‐ jekts, die Metaphysik als Wissenschaft zu etablieren, da die aus ihr abzuleitenden Grundsätze gleichermaßen dialektisch und trüglich wären (vgl. Prol., 365). Von Hume inspiriert, erkennt Kant, dass das »Stehen und Fallen der Metaphysik« (KrV, B 19) von der Fra‐ ge abhängen, wie synthetische Urteile a priori möglich sind, um sich nicht zuletzt von ihrem alten »schwankenden Zustande der Ungewißheit und Widersprüche« (KrV, B 19) loszumachen. Dieses erfordert aber gleichermaßen eine kritische Auflösung der Antino‐ mien, schließlich sind die transzendentalen Ideen nicht mehr als grenzüberschreitende Prinzipien a priori, die überhaupt den »dia‐ lektischen Kampfplatz« (KrV, A 422/B 450) bereitet haben. Es muss also eine Auflösung folgen, um nicht, der skeptischen Hoffnungslo‐ sigkeit gleichkommend, eine Entsagung solcher Prinzipien a priori folgen zu lassen. Mit dem schwerwiegenden Problem, was die Antinomien aufwer‐ fen, versucht Kant daher, im zweiten Hauptstück der transzenden‐ talen Dialektik eine Auflösung aufzuzeigen. Die Auflösung dieses Widerstreits soll auf Grundlage des transzendentalen Idealismus er‐ folgen, der einen Ausgleich beider Standpunkte schafft. Die Antino‐ mien, die die Vernunft in einen sich selbst widerstreitenden Zustand versetzt, entstehen genau dann, wenn also »[...] das Unbedingte in der Sinnenwelt« (Refl. 6418) gesucht wird. Die Reflexion bezieht sich auf all diejenigen philosophischen Positionen, die anstelle eines transzendentalen Idealismus einen Realismus vertreten haben und in der dritten Antinomie vordergründig dem Dogmatismus und Em‐ pirismus zugeschrieben werden:

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Findet sich nun, wenn man annimmt, unsere Erfahrungserkenntnis richte sich nach den Gegenständen als Dinge an sich selbst, daß das Un‐ bedingte ohne Widerspruch gar nicht gedacht werden könne; dagegen, wenn man annimmt, unsere Vorstellung der Dinge, wie sie uns gegeben werden, richte sich nicht nach diesen, als Dingen an sich selbst, sondern die Gegenstände vielmehr, als Erscheinungen, richten sich nach unserer Vorstellungsart, der Widerspruch wegfalle; (KrV, B XX).

Der Ertrag aus den Antinomien wird daher der indirekte Beweis sein, dass nur mit der Unterscheidung von Ding an sich und Er‐ scheinungen der Widerstreit der Vernunft aufgelöst werden kann und das Unbedingte als etwas außerhalb der Sinnenwelt bestimmt werden muss: Man kann aber auch umgekehrt aus dieser Antinomie einen wahren, zwar nicht dogmatischen, aber doch kritischen und doktrinalen Nut‐ zen ziehen: nämlich die transzendentale Idealität der Erscheinungen dadurch indirekt zu beweisen, wenn jemand etwa an den direkten Be‐ weis in der transzendentalen Ästhetik nicht genug hätte. (KrV, A 506/B 543).

Aber nicht nur der transzendentale Idealismus im Allgemeinen ist Ergebnis der Auflösung der dritten Antinomie. Es wird sich zeigen, dass zum einen Freiheit nur mit einer bereits vorausgesetzten Na‐ turkausalität denkbar ist, sowie zum anderen Naturkausalität nur mit Freiheit widerspruchsfrei möglich ist. Um diese Beziehung näher zu bestimmen, sollen im Folgenden die Beweise der dritten Antino‐ mie analysiert werden. § 4.2 Die dritte Antinomie und ihre Beweise

In der dritten Antinomie werden zwei Positionen als »Thesis« und »Antithesis« einander gegenübergestellt: Während die Thesispositi‐ on von der Annahme einer Freiheit ausgeht, geht die Antithesis da‐ von aus, dass »keine Freiheit [ist]« (B 473). Die Beweisführung der Thesis als auch die der Antithese erfolgen apagogisch, d.h. durch die Widerlegung der jeweils gegenteiligen Behauptung.76 Im folgenden 76 Die apagogische Beweisart kann nach Kant zur Folge »zwar Gewißheit aber nicht Begreiflichkeit der Wahrheit in Ansehung des Zusammenhangs mit den Gründen ihrer Möglichkeit hervorbringen. Daher sind [sie] mehr eine Nothülfe,

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Unterkapitel sollen die Beweise der Thesis und Antithesis im Detail und in ihren einzelnen Beweisschritten aufgeschlüsselt werden. Ich werde dabei zeigen können, dass sowohl der Beweis der Thesis als auch der Antithesis valide sind. Dazu wird in der folgenden Beweis‐ analyse von der Annahme ausgegangen, dass sowohl Thesis als auch Antithesis den durch die zweite Analogie bewiesenen Grundsatz der Kausalität als Prämisse voraussetzen. Dem in der Literatur nicht ausgemachten Selbstwiderspruch der Thesis sowie der Uneinigkeit darüber, an welcher Stelle im Beweis der Antithesis der Widerspruch auszumachen ist, kann mit dieser Voraussetzung Abhilfe geleistet werden. Durch die Validität beider Beweise kann die Auflösung der Antinomie zuerst notwendig begründet werden, sodass sich nicht fälschlicherweise dogmatisch auf eine der beiden Seiten geschlagen werden kann.77

als ein Verfahren, welches allen Absichten der Vernunft ein Genüge thut. Doch haben diese einen Vorzug der Evidenz vor den directen Beweisen darin: daß der Widerspruch allemal mehr Klarheit in der Vorstellung bei sich führt, als die beste Verknüpfung und sich dadurch dem Anschaulichen einer Demonstration mehr nähert.« (KrV, A 789/B 817f.) Die apagogische Beweisart bringt zwar keine direkten und positiven Gründe vor, doch kann mit ihr zumindest die Falschheit einer Erkenntnis abgeleitet werden, indem man aus ihr eine falsche Folge ablei‐ tet: »Um z.B. darzuthun, daß die Erde nicht platt sei, darf ich ohne positive und direkte Gründe vorzubringen, apagogisch und indirekt nur so schließen: Wäre die Erde platt, so müßte der Polarstern immer gleich hoch sein; nun ist dieses aber nicht der Fall, folglich ist sie nicht platt.« (AA 09:52) Daraus würde jedoch nicht gleich folgen, dass die Erde eine Kugel ist. Mit einem Widerspruchsbeweis kann nur gesagt werden, was nicht der Fall ist, und nicht, was der Fall ist. Diesem Verfahren entsprechend, folgen die Beweise der Thesis und Antithesis. 77 Beispielhaft gilt hier Strawsons Ansicht, dass die Antithesis richtig, die Thesis aber falsch ist, und damit die uneingeschränkte Gültigkeit des Kausalgesetzes durch die Antithesis verteidigt, statt das praktische Interesse, das durch die Thesis verfolgt wird: »Since the series does not exist as a whole, there is no question of its existing either as an infinite whole or, as it is asserted in the thesis, as a finite whole with a first, uncaused member. Every member of the series which is actually ›met with‹ in experience, however, may, and must, be taken to have an antecedent cause. The thesis, then, is false, the antithesis true. « Strawson, P., The Bounds of Sense, S. 209.

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4.2.1 Der Beweis der Thesis Die Thesis der dritten Antinomie entspricht ihrem genauen Wort‐ laut: Die Kausalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus wel‐ cher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Kausalität durch Freiheit zu Erklärung derselben anzu‐ nehmen notwendig. (KrV, A 444/B 472).

Hier wird bereits grundlegend behauptet, dass neben einer »Kausali‐ tät nach Gesetzen der Natur« eine zweite Kausalität durch Freiheit notwendig angenommen werden muss. Die hier für rechtmäßig vorausgesetzte Naturkausalität findet ihre Begründung bereits in der zweiten Analogie, aus der hervorgeht, dass nur unter ihr eine objektive Zeitfolge der Geschehnisse gesetzmäßig begründet werden kann. Die Erscheinungen der Welt können daher aus ihr abgeleitet und damit ihre Verhaltensweisen prognostiziert werden, was die Grundlage jeder naturwissenschaftlichen Forschung bestimmt. Ne‐ ben einer Naturkausalität muss nun eine zweite Kausalität durch Freiheit notwendig angenommen werden, mit der die Erscheinun‐ gen der Welt als Ganzes (insgesamt) abgeleitet und erklärt werden können. Es folgt ein apagogischer Beweis (KrV, A 444/B 472 – A 446/B 474), der aufzeigen soll, dass die gegenteilige Behauptung der These zu einem Widerspruch führt. Dazu geht man von der gegenteiligen Behauptung aus, dass es nur eine Naturkausalität gibt und diese Annahme zu einem Widerspruch führt. Damit wäre gezeigt, dass eine zweite Kausalität notwendig angenommen werden muss. Die Prämisse und ihre Folgerung lauten demnach: (1) Man nehme an, es gebe keine andere Kausalität als nach Gesetzen der Natur; (2) so setzt alles, was geschieht, einen vorigen Zustand voraus, auf den es unausbleiblich nach einer Regel folgt.

Diese Prämisse besteht aus zwei Teilen: Im ersten Teil findet sich im Wesentlichen die negierte These und der zweite Teil besteht aus ihrer direkten Folgerung, die durch das einleitende »so« gekenn‐ zeichnet wird. Während zunächst nicht klar ist, wie sich der Zusam‐ menhang zwischen dem ersten und zweiten Teil ergibt, liefert die Formulierung des zweiten Teils, (dass alles, was geschieht, einen

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vorigen Zustand voraussetzt), einen Verweis auf die zweite Analogie. Denn diese Formulierung im Thesisbeweis erinnert an den Grund‐ satz der zweiten Analogie der A-Auflage, der da lautet: »Alles, was geschieht (anhebt zu sein) setzt etwas voraus, worauf es nach einer Regel folgt« (KrV, A 189). Was zunächst als eine unbegründete Fol‐ gerung aus der genannten Annahme erscheint, kann mit Beweis der zweiten Analogie der Erfahrung vorausgesetzt werden. Dort konnte schließlich gezeigt werden, dass nur unter dem Grundsatz der Kausalität eine objektive Zeitfolge von aufeinanderfolgenden Er‐ scheinungen und damit die Ordnung der Folge von Geschehnissen notwendig bestimmt werden können. Kant betrachtet die Prämisse und ihre Folgerung als gleichbedeu‐ tend, weshalb er im Laufe des Beweises nicht die Prämisse selbst, sondern ihre Folgerung zum Selbstwiderspruch führt und durch diesen die Thesis beweist. In der Folgerung werden grundsätzlich zwei Aussagen getroffen: Zum einen, dass i) etwas geschieht, und zum anderen, dass ii) dieses einen vorigen Zustand voraussetzt, worauf es nach einer Regel folgt. Die Strategie des Beweises besteht darin, zu zeigen, dass die zweite Folgerung der ersten Aussage wider‐ spricht und so die Prämisse ad absurdum geführt wird. Der erste Teil des Beweises zeigt auf, dass Ursachen als Gescheh‐ nisse zu verstehen sind, da ansonsten die Folgerung i), dass etwas ge‐ schieht, verletzt wäre. Aus der Konsequenz von ii) resultiert, dass ein jedes Geschehnis einen Zustand voraussetzt. Dieser vorausgehende Zustand muss nun selbst etwas sein, das in der Zeit geschehen ist: (3) Nun muß aber der vorige Zustand selbst etwas sein, was geschehen ist (in der Zeit geworden, da es vorher nicht war), weil, wenn es jederzeit gewesen wäre, seine Folge auch nicht allererst entstanden, sondern immer gewesen sein würde.

Wenn der vorige Zustand etwas wäre, das nicht erst geschehen, sondern jederzeit gewesen ist, dann wäre es auch nicht ersichtlich, wann das aus ihm wirkende Ereignis entstanden ist, weil es jederzeit gewesen sein würde. Hume merkt in der ›Treatise‹ bereits die Schwierigkeit an, dass dann, wenn die Ursache gleichzeitig mit ihrer Wirkung wäre, daraus die »Vernichtung der Zeit« hervorgehen würde: The consequence of this wou’d be no less than the destruction of that succession of causes, which we observe in the world; and indeed, the

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utter annihilation of time. For if one cause were co-temporary with its effect, and this effect with its effect, and so on, ‘tis plain there wou’d be no such thing as succession, and all objects must be co-existent. (THN I; 3,2 [7]).

Wesentlich für die Beziehung von Ursache und Wirkung sind ins‐ besondere die Relationen der zeitlichen Aufeinanderfolge und der Kontiguität, aufgrund derer die Gegenstände überhaupt in einem kausalen Zusammenhang gedeutet werden können. Damit geht für Hume jedoch noch nicht einher, dass jeder Wirkung eine Ursache vorausgehen muss. Dies steht im Gegensatz zu Kant, der mit der zweiten Analogie der Erfahrung bereits zeigen konnte, dass mit ihr die Gegenstände der Erfahrung unter ein objektives Zeitverhältnis gesetzt werden können und jede Veränderung eine Ursache haben muss. Im zweiten Beweisschritt wird Kant die gerade bewiesene Tatsa‐ che, dass eine Ursache als Geschehnis verstanden werden muss, gegen i) ausspielen. Dazu zeigt er zunächst, dass dann, wenn die Ursache als Geschehnis verstanden wird, es unter der Prämisse zu einem infiniten Regress kommt: (4) Also ist die Kausalität der Ursache, durch welche etwas geschieht, selbst etwas Geschehenes, welches nach dem Gesetze der Natur wiederum einen vorigen Zustand und dessen Kausalität, dieser aber einen noch älteren voraussetzt usw.

Dieser unendliche Regress entsteht gerade deshalb, weil für die Er‐ klärung, warum etwas geschehen ist, in der Reihe der Begebenheiten immer weiter zurückgegangen werden muss. Jedes zu erklärende Er‐ eignis unterliegt einer Ursache, die als ein Geschehnis entsprechend dem »Gesetz der Natur«78 wiederum selbst einen vorigen Zustand voraussetzt, wobei auch dieser wiederum einen noch älteren Zu‐ stand voraussetzt usw. Die Konsequenz hieraus lautet: (5) Wenn also alles nach bloßen Gesetzen der Natur geschieht, so gibt es jederzeit nur einen subalternen, niemals aber einen ersten Anfang [...] 78 Malzkorn zustimmend, zeigt sich der Unterschied zwischen dem »Gesetz der Natur« (Singular) und den »Gesetzen der Natur« (Plural) vorwiegend darin, dass Ersteres auf den bewiesenen Grundsatz der zweiten Analogie verweist, während Zweiteres die empirischen Gesetze, die der Veränderung zugrunde liegen, meint. Vgl. Malzkorn, W., Kants Kosmologie-Kritik, S. 203.

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Geschieht alles nach den bloßen Gesetzen der Natur, dann kann, wie in der Thesis bereits behauptet wird, nicht vollständig, son‐ dern immer nur bedingt erklärt werden, warum die Wirkung inner‐ halb eines Regresses geschehen ist. Die bestimmte Ursache einer bestimmten Wirkung kann nur dann ausgemacht werden, wenn alle ihr vorhergehenden Glieder der Reihe als Ganzes gegeben sind. Da ein unendlicher Regress jedoch ohne Grenzen und ohne Anfang ist, kann diese Reihe der voneinander abstammenden Ursachen aber niemals in ihrer Vollständigkeit und unbedingt erfasst werden: (6) und [so gibt es] also überhaupt keine Vollständigkeit der Reihe auf der Seite der voneinander abstammenden Ursachen.

Unter der Annahme, dass es nur eine Kausalität nach den Gesetzen der Natur gibt, können die Wirkungen in einer unendlichen Kausal‐ reihe nie vollständig erklärt werden, da ihr kein erster Anfang zu‐ grunde gelegt ist. Die Forderung der Vernunft nach Vollständigkeit und einer letzterklärenden unbedingten Ursache kann infolgedessen nicht erfüllt werden.79 Es zeigt sich zwar einerseits, dass die Naturkausalität die Frage nach dem ersten Anfang nicht beantworten kann, ihn aber anderer‐ seits dennoch voraussetzen muss, da ansonsten nichts geschieht, worin schließlich der Selbstwiderspruch gründet: (7) Nun besteht aber eben darin das Gesetz der Natur: daß ohne hin‐ reichend a priori bestimmte Ursache nichts geschehe. 79 Einige Autoren erheben hier den Vorwurf eines Zirkelschlusses, nach welchem Kant unbegründet den ersten Anfang als unbedingte Ursache voraussetzt, wäh‐ rend doch die Antithesis, der Forderung der Vernunft gleichkommend, die unendliche Reihe der Ursachen als das Unbedingte versteht. Die Thesis müsste also zeigen, warum das Unbedingte nur als erster Anfang möglich ist. Dem ist zu entgegnen, dass Kant dies tatsächlich nicht explizit im Beweis zeigt und damit den Verdacht eines Zirkelschlusses erregen mag. Es lässt sich jedoch auf einfache Art und Weise einsehen, dass das Unbedingte notwendigerweise in Form eines ersten Anfangs hier eingebracht werden muss. Da im ersten Beweisschritt bereits gezeigt wurde, dass Ursachen Geschehnisse sein müssen, kommt es nicht infrage, dass die Reihe der Ursachen selber als das Unbeding‐ te verstanden werden kann. Eine Ursache als Geschehnis kann hier lediglich dann unbedingt sein, wenn ihr keine andere Ursache vorausgeht, und muss so zwangsläufig als erster Anfang verstanden werden. Vgl. Dimpker, H., Kraft, B., and Schönecker, D., Torsionen der dritten Antinomie. Zum Widerstreit ihrer Beweise und Anmerkungen, S. 207. Vgl. außerdem Bojanowski, J., Kants Theorie der Freiheit, S. 101f.

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(8) Also widerspricht der Satz, als wenn alle Kausalität nur nach Na‐ turgesetzen möglich sei, sich selbst in seiner unbeschränkten Allge‐ meinheit, und diese kann also nicht als die einzige angenommen werden.

Mit dem Ausdruck wird der Widerspruch eingeleitet, der rein formal aus zwei Teilen besteht: Während der erste Teil aus dem vorherge‐ henden Beweisschritt schlussfolgert, dass es in einem Regress keine hinreichend bestimmte Ursache a priori gibt, zieht der zweite Teil die Folgerung, dass »nichts geschieht«, das erst zum Widerspruch mit der Prämisse führt. In der Literatur sorgt im Besonderen der Ausdruck »hinreichend bestimmte Ursache a priori«80 für besonde‐ re Schwierigkeiten, was nicht minder eine verfehlte Interpretation des Thesis-Beweises mit sich führt.81 Für die Interpretation des 80 Dieser Ausdruck erinnert vom Wortlaut her an das Prinzip des zureichenden Grundes, der von Leibniz in § 31 der Monadologie wie folgt formuliert wird: »Im Sinne des zureichenden Grundes finden wir, dass keine Tatsache als wahr oder existierend gelten kann und keine Aussage als richtig, ohne dass es einen zureichenden Grund [principe de la raison suffisante] dafür gibt, dass es so und nicht anders ist, obwohl uns diese Gründe meistens nicht bekannt sein mögen.« Das Prinzip drückt aus, dass jede Tatsache eine Ursache bzw. einen Grund hat, auch, wenn uns dieser nicht bekannt ist. Ob in der Thesis hier vom zureichenden Grund im Leibnizschen Sinne die Rede ist, ist zunächst zu bezweifeln. Die Thesis geht schließlich wie die Antithesis auch vom bereits bewiesenen Grundsatz der Kausalität aus, dass jede Veränderung eine Ursache hat. Dem Prinzip des zureichenden Grundes ist jedoch kein Beweis unterlegt: »Daher sind auch alle Versuche, den Satz des zureichenden Grundes zu bewei‐ sen nach dem allgemeinen Geständnisse der Kenner, vergeblich gewesen, ehe die transzendentale Kritik auftrat, hat man lieber, da man diesen Grundsatz doch nicht verlassen konnte, sich trotzig auf den gesunden Menschenverstand berufen, (eine Zuflucht, die jederzeit beweist, daß die Sache der Vernunft ver‐ zweifelt ist,) als neue dogmatische Beweise versuchen zu wollen« (KrV, A 783/B 811f.). Während Leibniz das Prinzip nur analytisch voraussetzt, beweist Kant, von Hume angeleitet, den Grundsatz als ein synthetisches Urteil a priori, das überhaupt den Grund möglicher Erfahrung ausmacht. 81 Schopenhauer beispielsweise bezeichnet die Argumentation in der Thesis als »Taschenspielerei« und hält die notwendige Annahme eines ersten Anfangs für unbegründet, Schopenhauer, A., Die Welt als Wille und Vorstellung, S. 667. Auf Schopenhauer beziehend, sieht Kemp Smith ebenfalls nicht ein, inwiefern eine natürliche Ursache nicht »hinreichend« genug sein kann, um seine Wir‐ kung zu erklären. Wie Allison richtig anmerkt, fehlt durch diese Lesart von Schopenhauer und Smith der Selbstwiderspruch, auf den die Thesis eigentlich abzielt, vgl. Allison, H. E., Kant’s Theory of Freedom, S. 16. Zunächst ist der

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Ausdrucks soll mit Heimsoeth zunächst festgehalten werden, dass das »a priori« in diesem Ausdruck nicht in seiner geläufigen, nicht empirischen Verwendung zu verstehen ist, sondern in seiner älteren vorkritischen Bedeutung »vom Vorhergehenden« gelesen werden muss.82 Unter dieser Voraussetzung würde der Satz umformuliert also lauten können, dass ohne eine vorhergehende (im Text: a priori) Ursache, die hinreichend bestimmt werden kann, nichts geschieht. Demnach argumentiert Kant in der Thesis, dass ein Ereignis nur dann hinreichend bestimmt ist, wenn die Vollständigkeit der Reihe gewährleistet ist, was jedoch einen ersten Anfang voraussetzt. Wird im Gegensatz von einer nicht endenden Kausalkette ausgegangen, ist die Vollständigkeit der Reihe nicht gegeben. Die Erklärung eines Er‐ eignisses reicht damit unendlich weit in der Kausalkette zurück, da die vorhergehende Ursache nie vollständig und damit hinreichend bestimmt werden kann. Aus der Konsequenz der Anfangslosigkeit einer Reihe entsteht der Widerspruch mit dem »Gesetz der Natur« (im Singular). Im vierten Beweisschritt musste nach dem Gesetz der Natur ein Geschehnis einen vorigen Zustand voraussetzen. Mit diesem Gesetz wird also eine notwendige Verbindung zwischen Ursache (voriger Zustand) Lesart entgegenzuhalten, dass nicht ohne eine fehlende »hinreichende Ursache« nichts geschehe, sondern durch eine »hinreichend a priori bestimmte Ursache«, wonach ohne einen ersten Anfang der Kausalität der Ursache betreffend, nichts geschehe. Kant geht es daher nicht, wie Kemp Smith andeutet, darum, die Un‐ endlichkeit der Reihe zu kritisieren: »That the series of antecedent causes can‐ not be completed is due to its actual infinitude, not to any insufficiency in the causality which it embodies«, Kemp Smith, N., A Commentary to Kant’s ›Cri‐ tique of Pure Reason‹, S. 493. Per se findet Kant die Unendlichkeit der Reihe nicht problematisch, er zeigt lediglich die Problematik einer ersten Ursache der Reihe an (sei sie auch ein infiniter Regress), ohne die eben nichts geschieht. 82 Vgl. Heimsoeth, H., Vierfache Vernunftantinomie, Natur und Freiheit, intelligi‐ bler und empirischer Charakter, S. 239. Auch Timmermann stimmt der These Heimsoeths zu, verweist jedoch auch auf die einschlägige Stelle in der »Kritik der reinen Vernunft« hin, die diese These bestätigen. Dass Kant das »a priori« in einem anderen Sinn gemeint haben könnte, zeigt sich in KrV, A 332/B 389, indem hier zwischen absteigenden Reihen a parte posteriori und aufsteigenden Reihen a parte priori unterschieden wird. Vgl. Timmermann, J., Sittengesetz und Freiheit, S. 90. Während beim Ersteren nur ein potenzieller Fortgang des Ereig‐ nisses gedacht werden kann, da die Reihe eine werdende und nicht gegebene Reihe ist, kann ein Ereignis nur durch die ihm zurückliegenden Ereignisse a parte priori hinreichend erklärt werden.

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und Wirkung (Geschehnis) etabliert. Es besagt dem Kausalprinzip entsprechend einerseits, dass zu jeder Veränderung auch eine Ursa‐ che existieren muss. Daraus kann andererseits gefolgert werden, dass ohne Ursache auch keine Veränderung stattfinden kann. Ebendies wirft die Thesis der Antithesis vor, da die vollständige Bestimmung der Ursache in einer unendlichen Reihe von Begebenheiten nicht möglich ist. Mit der Naturkausalität als einzig angenommener Kau‐ salität sind zwar unendlich viele Bedingungen gegeben, die aber, zusammengenommen, nicht hinreichend sind, um ein Ereignis zu erklären. Der Widerspruch zur Prämisse findet sich schließlich da‐ rin, dass ohne hinreichende Erklärung der Veränderung nicht ein‐ mal gesagt werden kann, dass dieser Veränderung überhaupt eine Ursache vorausgeht. Es müsste also durch ii) letztendlich gefolgert werden, dass nichts geschieht, das i) widerspricht. Damit konnte der Beweis zum einen zeigen, dass die Naturkau‐ salität, wenn sie als die einzige Kausalität angenommen wird, sich selbst widerspricht und eine zweite Kausalität entsprechend der Thesis notwendig voraussetzt: (9) Demnach muss eine Kausalität angenommen werden, durch wel‐ che etwas geschieht, ohne daß die Ursache davon noch weiter, durch eine andere vorhergehende Ursache, nach notwendigen Ge‐ setzen bestimmt sei, d.i. eine absolute Spontaneität der Ursachen, eine von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen, mithin transzendentale Freiheit, ohne welche selbst im Laufe der Natur die Reihenfolge der Erscheinungen auf der Seite der Ursachen niemals vollständig ist.

Angelehnt an die Beweisführung, muss die Kausalität durch Freiheit zwei Funktionen erfüllen: Erstens muss die Ursache als Geschehnis verstanden werden können, ohne dass zweitens der Ursache eine andere vorhergeht, wodurch die Reihe nicht in einem unendlichen Regress endet, sondern einen bestimmten Anfang hat. Dieses kann nur durch eine absolute Spontaneität der Ursachen erfüllt werden, nach welcher eine Reihe von Wirkungen nach Naturgesetzen selbst anfangen könne. Die Kausalität durch Freiheit versteht sich also als transzendentale Freiheit, die die Vollständigkeit der Ursachen er‐ möglicht und sowohl Notwendigkeit als auch strenge Allgemeinheit der Naturkausalität gewährleistet.

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4.2.2 Der Beweis der Antithesis Die Antithesis lautet entsprechend: Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur. (KrV A445/ B473)

Auch die Antithesis führt einen indirekten Beweis (KrV A 445/B 473 – A 447/B 475) vor und geht dementsprechend von der gegenteiligen Annahme dessen aus, was es zu beweisen gilt: (1) Setzet: es gebe eine Freiheit im transzendentalen Verstande, als eine besondere Art von Kausalität, nach welcher die Begebenheiten der Welt erfolgen könnten nämlich ein Vermögen, einen Zustand, mit‐ hin auch eine Reihe von Folgen desselben, schlechthin anzufangen;

Es folgt die Prämisse, dass Freiheit ein transzendentaler Charakter zukommt, wodurch sie »eine besondere Art von Kausalität« ist und das Vermögen besitzt, einen Zustand von selbst anzufangen. Durch den Beweis soll gezeigt werden, dass unter der Annahme einer Kau‐ salität durch Freiheit diese der Naturkausalität widerspricht, weshalb die Naturkausalität in der Prämisse indirekt vorausgesetzt werden muss. Die Naturkausalität bestimmt dabei, der zweiten Analogie entsprechend, die Folge von Zuständen innerhalb einer Reihe, die mit einer Kausalität durch Freiheit im Widerspruch steht.83 Dazu

83 Grundsätzlich wird gegen die beispielsweise auch von Allison vertretene Annah‐ me, dass die zweite Analogie den wesentlichen Kern des Beweises bestimmt, das Argument vorgebracht, Kant hätte den durch die Antinomien erst indirekt zu beweisenden transzendentalen Idealismus bereits voraussetzen müssen. Vgl. Allison, H. E., Kant’s Theory of Freedom, S. 23. Sowohl Thesis als auch Antithe‐ sis müssten daher eigentlich von einem »naiven Realismus« ausgehen, der zwi‐ schen Dingen an sich und Erscheinung nicht unterscheidet, sodass das Gesetz der Naturkausalität unter dieser Voraussetzung eigentlich nicht für bewiesen erklärt und damit auch nicht angenommen werden könnte, vgl. Ortwein, B., Kants problematische Freiheitslehre, S. 30 [Fn. 38]). Auch Timmermann verweist dabei auf den Umstand, dass sowohl die Thesis als auch die Antithesis stell‐ vertretend den Dogmatismus und Empirismus in einen Widerstreit versetzen, denen die kritischen Ergebnisse der Analytik nicht zugänglich sein konnten. Vgl. Timmermann, J., Sittengesetz und Freiheit, S. 94. Während Timmermann dem Argument Allisons noch zustimmt, dass der »transzendentale Realist der Antithese« auch die zweite Analogie anerkennen würde, geht dieser dennoch davon aus, dass dies nicht das wesentliche Argument des Beweises ist und

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erklärt Kant erneut, wie der Zusammenhang zwischen Freiheit und Naturkausalität in der Thesis gedacht wird: (2) so wird nicht allein eine Reihe durch diese Spontaneität, sondern die Bestimmung dieser Spontaneität selbst zur Hervorbringung der Reihe, d.i. die Kausalität, wird schlechthin anfangen, so daß nichts vorhergeht, wodurch diese geschehende Handlung nach beständi‐ gen Gesetzen bestimmt sei.

Hier finden sich zwei Aussagen, die im Beweis gegeneinander ausge‐ spielt werden: Es gilt zu zeigen, dass die transzendentale Freiheit, verstanden als i) ein Vermögen spontaner Selbstverursachung einer Kausalreihe, nicht ii) mit dem Gesetz der Natur zu vereinbaren ist. Demnach wird behauptet, dass aus dem spontan hervorgebrachten Anfang eines Zustands nichts vorhergeht, worauf der spontan her‐ vorgebrachte Anfang nach einer Regel folgen könnte. Denn würde diesem Anfang etwas vorhergehen, müsste der Anfang selbst natur‐ determiniert sein und damit der transzendentalen Freiheit wider‐ sprechen. Ebendieses soll im nächsten Schritt erläutert werden, auf welchen der erwartete Widerspruch im Beweis der Antithesis folgt, der sich insbesondere durch die sprachliche Formulierung eines »Es setzt aber« erstmalig kennzeichnet: (3) Es setzt aber ein jeder Anfang zu handeln einen Zustand der noch nicht handelnden Ursache voraus.

Aus diesem Argument wird zunächst deutlich, dass dann, wenn man von einem Anfang spricht, zwischen zwei zeitlich aufeinanderfolgen‐ den Zuständen unterschieden werden muss: Zum einen zwischen einem Zustand nach dem Anfang (Zustand der handelnden Ursa‐ che) und zum anderen dem Zustand vor dem Anfang (Zustand der noch nicht handelnden Ursache), wobei sich der Anfang zeitlich zwischen diesen beiden Zuständen befindet.84 Ein Anfang setzt ge‐ keinen Selbstwiderspruch mit der Antithesis zugrunde liegenden Prämisse her‐ vorbringt. 84 Der Thesis gegenübergestellt, verwendet Kant hier nicht den Begriff des Ge‐ schehnisses, sondern den des Handelns. In der transzendentalen Analytik wird das Verhältnis von Geschehnis und Handlung so beschrieben, dass etwas, das geschieht, auf einer Handlung beruht und Handlung damit der »Grund von allem Wechsel« (KrV, A 205/B 250) ist. Den Begriff der Handlung also einer moralischen Deutung im Sinne der Willensfreiheit zu unterlegen, sei entgegen‐

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nau deshalb einen vorhergehenden Zustand voraus, weil er ansons‐ ten unbestimmt wäre. Wenn »ein jeder Anfang zu handeln« keinen vorigen Zustand hat, aus dem er erfolgt ist, dann hat alles jederzeit angefangen, sodass auch keine Veränderung möglich wäre, die einen Anfang rechtfertigt. Da dieses für jeden Anfang gilt, ist schließlich auch ein dynamisch erster Anfang, also eine spontan handelnde Ursache, hiervon nicht ausgeschlossen. Es zeigt sich jedoch, dass der dynamisch erste Anfang in keinem kausalen Zusammenhang mit keiner vorausgehenden und noch nicht handelnden Ursache steht: (4) und ein dynamisch erster Anfang der Handlung einen Zustand, der mit dem vorhergehenden eben derselben Ursache gar keinen Zusammenhang der Kausalität hat, d.i. auf keine Weise daraus erfolgt. (KrV A 445/B 473).

Es lassen sich in diesem Absatz zwei wesentliche Argumente finden: Das erste Argument gründet auf dem Gesetz der Natur, welches besagt, dass allem, was geschieht, etwas vorhergehen muss, worauf es nach einer Regel folgt. Da die Kausalität durch Freiheit aber unabhängig vom Naturgesetz wirkt, steht die spontan handelnde Ur‐ sache in keinem kausalen Zusammenhang zu ihrem vorhergehenden Zustand, der noch nicht handelnden Ursache. Dadurch wäre die All‐ gemeingültigkeit des Gesetzes der Natur verletzt und eine Kausalität nach Gesetzen der Natur nicht möglich. Das zweite Argument besagt weiterhin, dass dann, wenn es keinen Zustand einer nicht handeln‐ den Ursache gibt, der Anfang sich also nicht zwischen diesen beiden, zeitlich voneinander getrennten Zuständen befinden kann. So muss der Anfang notwendigerweise Teil des Zustands der handelnden Ursache sein. Dies würde jedoch direkt zum Widerspruch führen, da die Zustände der handelnden Ursache durch die Naturkausalität bestimmt sind und nicht durch die transzendentale Freiheit. Der Position der Antithesis folgend, konnte hier bereits der Be‐ weis erbracht werden, dass die Annahme einer Freiheit mit der Na‐ turkausalität im Widerspruch steht, und damit gezeigt ist, dass sich die Prämisse selbst widerspricht. Aus dem ersten Argument folgernd, zuhalten, dass auch hier in der Antithesis unter dem Begriff der Handlung zunächst nur eine beginnende Kausalreihe gemeint ist, von der also ein Ge‐ schehnis ausgehen soll. Zumindest kann aber festgehalten werden, dass von einer Handlung etwas ausgeht. Vgl. Gerhardt, V., Handlung als Verhältnis von Ursache und Wirkung. Zur Erkenntnis des Handlungsbegriffs bei Kant, S. 104ff.

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wird daher der Schluss gezogen, dass die »Freiheitskausalität« nicht mit dem Kausalgesetz der Natur übereinkommt: (5) Also ist die transzendentale Freiheit dem Kausalgesetze entgegen,

Aufgrund dessen, dass jedem Anfang immer etwas vorhergehen muss, die transzendentale Freiheit aber unabhängig vom Naturge‐ setz wirkt, ist mit ihr keine »Einheit der Erfahrung« möglich, was schließlich auch die Gesetzmäßigkeit der Naturkausalität untermi‐ niert:85 (6) und eine solche Verbindung der sukzessiven Zustände wirkender Ursachen, nach welcher keine Einheit der Erfahrung möglich ist, (7) die also auch in keiner Erfahrung angetroffen wird, mithin ein leeres Gedankending.

85 Der Widerspruch ist nach verschiedenen Interpreten im fünften Beweisschritt enthalten: Vgl. Kemp Smith, N., A Commentary to Kant’s ›Critique of Pure Reason‹, S. 493; Strawson, P., The Bounds of Sense, S. 208f. Für Dimpker/Kraft/ Schönecker zeigt sich, hiervon abweichend, der Widerspruch von Freiheit und Natur eben genau darin, dass freiheitskausale Ursachen nicht mit dem Begriff des Naturgesetzes zu vereinbaren sind, da mit ihm keine Einheit der Erfahrung möglich ist. Vgl. Dimpker, H., Kraft, B., and Schönecker, D., Torsionen der dritten Antinomie. Zum Widerstreit ihrer Beweise und Anmerkungen S. 214. Boja‐ nowski merkt jedoch richtig an, dass das »und« in »und eine solche Verbindung [...]« nicht kausal, sondern explikativ zu lesen ist und damit nur die Konsequenz aus dem im Schritt (3) erbrachten Widerspruch meint. Vgl. Bojanowski, J., Kants Theorie der Freiheit, S. 104. – Timmermann hingegen zeigt, dass hier ein weiterer Widerspruch zu finden ist: Dass Freiheit aufgrund ihrer Spontanität generell der Gesetzmäßigkeit, die analytisch in einer Kausalität enthalten ist, widerspricht, vgl. Timmermann, J., Sittengesetz und Freiheit, S. 95. Dem ist zu entgegnen, dass bereits in der Thesis gezeigt wurde, dass, solange Freiheit als ein erster Anfang verstanden wird, dem nichts vorhergeht, es zu keinem Widerspruch kommt. Hier wird Freiheit lediglich als Mittel zur Erklärung des ersten Anfangs einer Kausalreihe, welchen die Naturkausalität nicht erklären kann, verstanden. Die Naturkausalität erklärt alle aus der transzendentalen Frei‐ heit folgenden Zustände, welche wiederum nicht im Gegenstandsbereich der transzendentalen Freiheit liegen. Da die beiden Gegenstandsbereiche von Frei‐ heit und Naturkausalität hier unabhängig voneinander sind, können sie in der Thesis auch nicht im Widerspruch zueinander stehen. Dieser erfolgt nämlich erst in der Antithesis, die zeigt, dass einem Anfang etwas vorhergehen muss und das also bedeutet, dass sowohl die Naturkausalität als auch die transzendentale Freiheit den Anspruch erheben, diesen Anfang zu erklären.

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§ 4. Zum Verhältnis von Natur und Freiheit

Die Möglichkeit der Einheit von Erfahrung erfolgt nur dann, wenn die Zustände in eine aufeinanderfolgende, voneinander abhängen‐ de Reihenfolge gesetzt werden können. Erst so ist zu erklären, warum eine Wirkung geschehen ist. Das spontane Auftreten von freien Ursachen, die in keinem kausalen Zusammenhang mit der ihr vorhergehenden, noch nicht handelnden Ursache stehen, unter‐ brechen schließlich die Reihe der voneinander kausal abhängenden Ereignisse. Bereits Hume wies darauf hin, dass die Gegenstände der Erfahrung nur mit Kausalität in einen Zusammenhang gesetzt werden können, wodurch Erfahrung von ihnen überhaupt möglich ist. Aufgrund des fehlenden Zusammenhangs ist die transzendentale Freiheit gerade deshalb ein leeres Gedankending, weil sowohl die aus der freien Ursache entstandene Wirkung als auch die freie Ursa‐ che selbst nicht durch ein ihnen vorhergehendes Ereignis a parte priori bestimmt werden können. Die transzendentale Freiheit ist damit nicht aufgrund von Erfahrung zu rechtfertigen. Mit dem Beweis ist der Schluss zu ziehen, dass es nur eine Naturk‐ ausalität gibt, mit der allein die Begebenheiten in der Welt erklärt werden können: (8) Wir haben also nichts als Natur, in welcher wir den Zusammen‐ hang und Ordnung der Weltbegebenheiten suchen müssen.

Da der transzendentalen Freiheit keine Anschauung zugrunde liegt, kann auch von ihr keine Erfahrung gemacht werden. Mit ihr ist es nicht möglich, die Begebenheiten in der Welt zu erklären, da auch die Zusammenhänge, die sie beschreibt, empirisch nicht zugänglich sind. Der Zusammenhang und die Ordnung aller Geschehnisse kön‐ nen daher nur aufgrund der Naturkausalität erklärt werden, mit der allein durch das Beobachten des regelmäßigen Auftretens die Gegenstände der Erfahrung in Kontext zueinander gesetzt werden. Da alles schließlich nur nach Gesetzen der Natur wirkt – was zu zeigen, das Beweisziel war – kann neben der Naturkausalität keine zweite Kausalität durch Freiheit angenommen werden. Zum einen, weil gezeigt werden konnte, dass Freiheit unabhängig von den Naturgesetzen wirkt, und zum anderen, weil sie selbst gesetzlos ist. Damit wäre auch unter der hypothetischen Annahme, dass Gesetze der Freiheit im Weltlauf einfließen, diese wiederum dem Naturgesetz unterworfen, da alle Gesetzmäßigkeiten in der Welt nur durch die Natur bestimmt sein können:

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II. Von der Ursache zum Grund

(9) Die Freiheit (Unabhängigkeit) von den Gesetzen der Natur, ist zwar eine Befreiung vom Zwange, aber auch vom Leitfaden aller Regeln. Denn man kann nicht sagen, daß, anstatt der Gesetze der Natur, Gesetze der Freiheit in die Kausalität des Weltlaufs eintreten, weil, wenn diese nach Gesetzen bestimmt wäre, sie nicht Freiheit, sondern selbst nichts anders als Natur wäre.

Während also mit der Naturkausalität im Gegensatz zu einer trans‐ zendentalen Freiheit eine gesetzmäßige Einheit der Natur möglich ist, unterscheiden sich Natur und Freiheit wie Gesetzmäßigkeit und Gesetzlosigkeit: (10) Natur also und transzendentale Freiheit unterscheiden sich wie Gesetzmäßigkeit und Gesetzlosigkeit, davon jene zwar den Ver‐ stand mit der Schwierigkeit belästigt, die Abstammung der Bege‐ benheiten in der Reihe der Ursachen immer höher hinauf zu suchen, weil die Kausalität an ihnen jederzeit bedingt ist, aber zur Schadloshaltung durchgängige und gesetzmäßige Einheit der Erfahrung verspricht, da hingegen das Blendwerk von Freiheit zwar dem forschenden Verstande in der Kette der Ursachen Ruhe verheißt, indem sie ihn zu einer unbedingten Kausalität führet, die von selbst zu handeln anhebt, die aber, da sie selbst blind ist, den Leitfaden der Regeln abreißt, an welchem allein eine durchgängig zusammenhängende Erfahrung möglich ist.

Die Antithesis gesteht ein, dass unter der Annahme einer Naturkau‐ salität die letztendliche Ursache in der Reihe der Begebenheiten nie‐ mals bestimmt werden kann und das Bedürfnis der Vernunft nach dieser nie befriedigt werden kann. Für die Antithesis wiegt jedoch das Versprechen nach »gesetzmäßiger Einheit der Erfahrung« mehr als die Freiheit, die nur ein »Blendwerk« ist und eine unbedingte Kausalität verheißt, die selbst durch keine Erfahrung bestimmt wer‐ den kann. Die Freiheit, die den »Leitfaden der Regeln abreißt«, ist losgelöst von allen Bedingungen, durch die die Ereignisse in der Welt in einen durchgängigen Zusammenhang gesetzt und nicht erklärt werden können. 4.2.3 Der Gegenstand der Auseinandersetzung Der Widerstreit zwischen Thesis und Antithesis gründet einerseits auf der Annahme der Thesis, dass zur Erklärung der Geschehnisse in der Welt eine zweite Kausalität notwendig anzunehmen ist. Die

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§ 4. Zum Verhältnis von Natur und Freiheit

Antithesis macht andererseits deutlich, dass eine Kausalität durch Freiheit anzunehmen, unmöglich ist, da sie dem Grundsatz der Kausalität widerspricht. Da Thesis und Antithesis in einem kontra‐ diktorischen Widerspruch zueinander stehen, können beide Sätze weder gleichzeitig wahr noch falsch sein, sodass dann, wenn das »eine wahr ist: so ist das andere falsch und umgekehrt« (AA 09:119). Nur eine Auflösung des Widerstreits durch den transzendentalen Idealismus erlaubt, beide Beweise gleichzeitig als wahr anzunehmen, zumindest ist dies der kritische Anspruch. Dafür muss vorab geklärt werden, was den Kern der Auseinandersetzung ausmacht, der eine Auflösung erfordert. Ich werde hier argumentieren, dass der Gegen‐ stand ihres Streites von der Vorstellung des Unbedingten abhängt: Entweder als erster Anfang oder als ein infiniter Regress, wobei der erste Anfang kausal und der infinite Regress zeitlich betrachtet wer‐ den. Wenn man nun eine Perspektive findet, in der zwischen zeitli‐ chen und kausalen Reihen unterschieden werden kann, ist bereits die Voraussetzung einer Auflösung gegeben, die zwischen Thesis und Antithesis vermittelt. Eine Auflösung ist unabdinglich. Denn kann diese nicht geliefert werden, ist sich im Umkehrschluss für eine der beiden Seiten zu entscheiden, wenngleich die Vorteile der anderen Seite verkannt werden und wir in der Entscheidung »nicht den logischen Probier‐ stein der Wahrheit, sondern bloß unser Interesse befragen« (KrV, A 465/B 493). Thesis und Antithesis sind unterschiedliche und widerstreitende Prinzipien zugrunde gelegt, die in gleicher Weise entgegengesetzte Interessen in ihren Beweiszielen verfolgen und den Gegenstand ihres Streites zuerst ausmachen. Die beiden Prinzipien, die den Argumentationsschemata der Antithesis und Thesis entspre‐ chen, sind zum einen der »reine Empirismus«, der mit der Antithe‐ sis »vollkommene Gleichförmigkeit« in den Behauptungen hat, und zum anderen der »Dogmatismus«, der der Thesis zugeschrieben ist, – obwohl ihr neben den »intellektuellen Anfängen« auch eine »empirische Erklärungsart innerhalb der Reihe der Erscheinungen« zugrunde liegt (vgl. KrV A 465/B 493f.).86 86 Unklar scheint zu sein, wer hier gegen wen genau ausgespielt wird und ob überhaupt historische Persönlichkeiten hinter diesen Positionen zu vermuten sind. Klar ist, dass innerhalb der Thesis die Position des Dogmatismus verteidigt wird, während mit der Antithesis die empiristische Position vertreten ist. Fol‐

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Die Thesis verfolgt sowohl ein praktisches als auch ein spekulati‐ ves Interesse (KrV B 494). Die Grundsteine für Religion und Moral, wie die Annahme eines Anfangs der Welt, die der Unsterblichkeit der Seele sowie die eines Weltschöpfers, können erst durch die trans‐ zendentale Freiheit gelegt werden und damit das praktische Interesse der Vernunft befriedigen. Durch die Annahme der transzendentalen Ideen und die eines ersten Anfangs als das Unbedingte kann man »völlig a priori die ganze Kette der Bedingungen fassen, und die Ableitung des Bedingten begreifen« (KrV, A 466/B 494), sodass die Thesis also auch ein spekulatives Interesse verfolgt. Die Antithesis kann hingegen nicht ein Unbedingtes als ersten Anfang annehmen, sodass sich diese in der Frage nach der unbe‐ dingten Ursache in einen Regress verliert. Dies ist schließlich auch, was der Thesis mehr »Popularität« (KrV, A 467/B 495) verschafft, da sich der Verstand für gewöhnlich mit den Folgen statt mit den Gründen auseinandersetzt und durch eine unbedingte Ursache Be‐ friedigung in der Suche erfährt. Die Antithesis, die auf den Prinzipi‐ en des Empirismus beruht, verfolgt im Vergleich dazu kein derlei praktisches Interesse und nimmt der Moral und Religion nicht nur »alle Kraft und Einfluss« (KrV, A 468/B 496), sondern raubt ihnen außerdem »alle diese Stützen« (KrV, A 466/B 494), die durch die Thesis gelegt werden. Die Antithesis verfolgt demnach vielmehr ein spekulatives Interesse, das nach dem empirischen Argumentations‐ prinzip die Erscheinungen in der Welt erklärt. Dem Empirismus zufolge ist es dem Verstand daher nicht erlaubt, in die Gebiete der »idealisierenden Vernunft« überzugehen und »seine Geschäfte zu verlassen«, denn er hat es nicht nötig, die »Kette der Naturordnung gende Paare, zwischen denen der Streit hätte stattfinden können, werden nun in Erwägung gezogen: Newton & Leibniz und Leibniz & Hume. Für das erste Paar legt Al-Azm überzeugend dar, dass einige Argumente im Briefwechsel zwischen des Newtonianers S. Clarke mit G. W. Leibniz vorgefunden werden können. Vgl. Al-Azm, S. J., The origins of Kant’s arguments in the Antinomies, S. 87. Vgl. auch Kants eigene Bemerkung im Anhang zu den ›Prolegomena‹ (Prol., 379). Ohne den historischen Mehrwert dieser Debatte absprechen zu wollen, kann eine solche Zuordnung unter anderem jedoch zu einer Relativierung der Kantischen Position in den Beweisen führen – für deren Richtigkeit er doch bürgt. Zumal das Prinzip der Thesis, wie Kant ausdrücklich selbst anmerkt, nicht in vollem Umfang dem Dogmatismus zuzuschreiben ist und nur als wider‐ streitendes »Unterscheidungsmerkmal« (KrV, A 466/ B 494) in Dogmatismus und reinen Empirismus klassifiziert wird.

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§ 4. Zum Verhältnis von Natur und Freiheit

[zu] verlassen, um sich an Ideen zu hängen, deren Gegenstände er nicht kennt, weil sie als Gedankendinge niemals gegeben werden können;« (KrV, A 469/B 497). Nimmt man aber ein Vermögen der transzendentalen Freiheit an, dann ist zwischen »Erfahrung und Traum« (KrV, A 469/B 479) nicht mehr zu unterscheiden. Der hier dargestellte Empirismus unterscheidet also bereits indirekt zwischen den unterschiedlichen Gegenstandsbereichen, die dem Verstand und der Vernunft zugeschrieben werden können. Im Umkehrschluss be‐ deutet das zum einen aber auch, dass Verstand und Vernunft in kei‐ nerlei Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen (vgl. KrV, A 468/B 496 f.) und der Empirismus nicht berechtigt ist, die transzendentalen Ideen »dreist [zu] verneine[n]« (KrV, A 471/B 499), da er sonst selbst dogmatisch wäre. Auf der anderen Seite wäre also die Thesis in ähnlicher Weise nicht berechtigt, ihre transzendentalen Ideen auf Naturereignisse anzuwenden. Hierdurch ist bereits der Umriss des Streitthemas geschaffen worden, der sich vor allem auf die mög‐ liche Grenzüberschreitung der unterschiedlichen Gegenstandsberei‐ che der jeweiligen Seite bezieht. Der Widerstreit zwischen Thesis und Antithesis handelt im Allge‐ meinen von der Frage, ob ein Ausgleich zwischen transzendentaler Freiheit und Determinismus möglich ist, und im Speziellen davon, ob eine unbedingte Ursache mit einer objektiven Zeitbestimmung zu vereinbaren ist. Der Antithesis zufolge kann in einer Welt, die na‐ turkausal bestimmt ist, keine transzendentale Freiheit angenommen werden, ohne der Naturkausalität die Notwendigkeit abzusprechen (vgl. KrV, A 451/B 479). Bereits im Beweis macht die Antithesis da‐ rauf aufmerksam, dass dann, wenn ein unbedingter Anfang der Welt oder einer Reihe angenommen wird, ihr auch nach dem Prinzip der Kausalität – welches wohlgemerkt sowohl Antithesis als auch Thesis für gültig anerkennt – der Zeit nach etwas vorhergegangen sein muss. Ansonsten wäre die Kausalität an einem Punkt in der Reihe unterbrochen, somit nicht notwendig und folglich eine objek‐ tive Zeitbestimmung nicht möglich. Ein erster Anfang als absolute Spontaneität steht also im Widerspruch zur Kausalität, der nur dann aufgehoben werden kann, wenn der Anfang zeitlich betrachtet wird, wobei sie dann gleichzeitig nicht unbedingt sein kann. In der An‐ merkung zur Antithesis versucht diese, der Thesis zwar insofern entgegenzukommen, als ein solches Vermögen »außerhalb der Welt« (KrV, A 451/B 479) angenommen werden könnte, wobei ihr dann

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eine gewisse Sinnlosigkeit anhaftet: »[...] wiewohl es immer eine kühne Anmaßung bleibt, außerhalb dem Inbegriffe aller möglichen Anschauung, noch einen Gegenstand anzunehmen, der in keiner Wahrnehmung gegeben werden kann« (KrV, A 451/B 479). Kompro‐ misslos erachtet die Antithesis es jedoch für unmöglich, ein solches Vermögen der Freiheit innerhalb der Welt anzunehmen. Dies ist tatsächlich etwas, von dem die Thesis ausgeht, wenn sie die »Be‐ greiflichkeit eines Ursprungs der Welt« (KrV, A 449/B 477) nutzt, um mit ihr »mitten im Laufe der Welt verschiedene Reihen (KrV, A 450/B 478)« von selbst anzufangen, und den Substanzen in der Welt also das Vermögen zuschreibt, aus Freiheit zu handeln. Mit der Thesis ist anzuerkennen, dass den Zuständen selbst kein erster Anfang zugeschrieben werden kann und »eine sukzessive Rei‐ he in der Welt nur einen komparativ ersten Anfang haben kann, indem doch immer ein Zustand der Dinge in der Welt vorhergeht« (KrV, A 450/B 478). Entsprechend der Argumentation in der Thesis muss die Idee der transzendentalen Freiheit notwendig zur Erklä‐ rung der Erscheinungen in der Welt angenommen werden. Da sie einen ersten Anfang einer Kausalreihe überdies nicht der Zeit, son‐ dern »der Kausalität nach« annimmt, widerspricht sie auch nicht der Forderung, dass jedem Ereignis in der Welt zeitlich etwas vor‐ hergehen muss. Während in einer zeitlichen Reihe einem jeden Anfang ein Zustand vorhergehen muss, wie die Antithesis richtig angemerkt hat, kann, ausgehend von einer kausalen Reihe, sehr wohl eine spontane Ursache angenommen werden. Kant führt zur Veranschaulichung des Unterschieds von zeitlicher und kausaler Ur‐ sächlichkeit das Beispiel des willkürlichen »Aufstehens« vom Stuhl ein. Während der Zeit nach das Aufstehen vom Stuhl sehr wohl eine Fortsetzung einer ihm vorhergehenden Reihe ist, wird durch die »Entschließung«, aufzustehen, der Kausalität nach eine neue Kausalreihe begonnen, die unabhängig von den vorherigen Ereignis‐ sen betrachtet werden kann. Die entscheidende Frage hierbei ist nicht, was die natürliche Ursache ist, die zum Aufstehen geführt hat, sondern vielmehr, was der Grund dafür ist, die begonnene Kausalreihe vom Moment des Aufstehens zu betrachten.87 Gründe 87 Bojanowski verweist hierbei auf das Stuhl-Beispiel von Friedrich Wagner, das von Kant möglicherweise genutzt wird und als seine Fortsetzung verstanden werden könnte. In der Fortsetzung des Aufstehens vom Stuhl folgt in Wagners

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§ 4. Zum Verhältnis von Natur und Freiheit

dafür, den Anfang der Reihe dort anzusetzen, betreffen vor allem die Zurechnung von menschlichen Handlungen. Denn durch das Aufstehen vom Stuhl lässt sich vermuten, dass ein Wille desjenigen besteht, das zu tun, was schließlich nach dem Aufstehen erfolgt. Die Frage danach, aus welchem Grund diese Kausalreihe betrachtet wird, ist für das Verständnis der Antinomien irrelevant und berührt damit bereits den Bereich der praktischen Philosophie. Zunächst scheint es so, als hätte die Thesis ein überzeugendes Angebot gegen die Antithesis: Und zwar kann man sich, zeitlich betrachtet, darauf einigen, dass es zwar einen infiniten Regress gibt, aber man innerhalb dieses infiniten Regresses willkürlich (durch die transzendentale Freiheit) eine Ursache als kausal ersten Anfang auswählen und unbedingt von den vorherigen Ursachen und Wir‐ kungen betrachten kann. Auf dieses Angebot lässt sich jedoch die Seite der Antithesis nicht ein, so argumentiert sie schließlich in folgender Weise: »Wenn ihr kein mathematisch Erstes der Zeit nach in der Welt annehmt, so habt ihr auch nicht nötig, ein dynamisch Erstes der Kausalität nach zu suchen.« (KrV, A 449/B 477). Die Thesis ist entsprechend dem Beweis der zweiten Analogie nicht dazu berechtigt, Kausalität und Zeit losgelöst voneinander zu betrachten. Das Ergebnis der zweiten Analogie besagt nämlich, dass Kausalität die notwendige Voraussetzung für eine objektive Zeitbestimmung ist. Eine objektive Zeitbestimmung wiederum ist die notwendige Voraussetzung für eine kohärente Erfahrung. Dieses Verhältnis von Zeit und Kausalität bestimmt also, dass dann, wenn ein Anfang der Zeit nach nicht möglich ist, dem empirischen Prinzip entsprechend, jede Voraussetzung möglicher Erfahrung genommen ist. Daher ist es auch »nicht nötig«, einen Anfang der Kausalität nach anzunehmen. Andererseits könnte nun die Thesis in gleicher Weise erwidern, dass die Antithesis notwendige kausale Zusammenhänge nicht erklären Beispiel, das den meisten Zeitgenossen Kants bekannt war, schließlich eine moralische Handlung (in seine Tasche zu greifen und das Geld aus der Tasche zu spenden). Vgl. Bojanowski, J., Kants Theorie der Freiheit, S. 107. Ein Grund also, das Aufstehen vom Stuhl als Anfangspunkt einer neuen Reihe auszusuchen, könnte an der Fortsetzung des Stuhl-Beispiels unter anderem sein, dem Han‐ delnden den freien Entschluss zuzuschreiben, spenden zu wollen. Dass Kant aber die Fortsetzung des Beispiels von Wagner nicht in der Anmerkung zur Thesis aufführt, wodurch es schließlich moralisch neutral bleibt, hat sicherlich damit zu tun, dass der Anfang einer Reihe willkürlich und damit auch unabhän‐ gig von moralischen Handlungen gesetzt werden kann.

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kann, da sie sich durch die fehlende Erstursächlichkeit in einen infi‐ niten Regress verliert und dem Kausalitätsprinzip widerspricht, das die Bedingung einer objektiven Zeitbestimmung ausmacht. Sowohl Thesis als auch Antithesis richten ihre Argumentation auf Grundlage der Naturkausalität aus, wovon Erstere die zeitliche Komponente und Zweitere die notwendig verknüpfende Komponente der Ereig‐ nisse verletzt. Die Aufgabe, die der Auflösung bleibt, ist also, beiden Seiten eine Möglichkeit anzubieten, wie kausale und zeitliche Reihen getrennt voneinander betrachtet werden können.

§ 5. Auflösung der dritten Antinomie Die Auflösung der dritten Antinomie ist in drei Abschnitten unter‐ teilt: Der erste Abschnitt leitet allgemein in die Auflösung ein, im zweiten Abschnitt erfolgt ein »Schattenriß« (KrV A 538/B 566 – A 541/B 569) der Auflösung, »damit man den Gang der Vernunft in Auflösung desselben dadurch besser übersehen möge« (KrV, A 542/B 570). Im dritten Abschnitt folgt abschließend die »Erläute‐ rung« (KrV A 542/B 570 – A 558/B 586). Dass Kant zwischen dem ersten Abschnitt der Auflösung und dem dritten Abschnitt ihrer Erläuterung einen Schattenriss liefert, wirkt auf einige Interpreten redundant. Nicht zuletzt unterstützt diese Lesart die These, dass die ›Kritik der reinen Vernunft‹ ein über mehrere Schaffensjahre hinweg zusammengesetztes Werk ist und dadurch einige Abschnitte und so auch die Auflösung einen Mangel an Kohärenz aufweisen.88 Entge‐ gen der verbreiteten Meinung innerhalb der Sekundärliteratur werde ich in diesem Kapitel die These vertreten, dass die Auflösung nicht wiederholend ist, sondern jeder Abschnitt, für sich genommen, Argumente aufwirft, die konsequent aufeinander aufbauen: Wäh‐ rend im ersten Abschnitt mit der Unterscheidung von dynamischen und mathematischen Antinomien die notwendige Voraussetzung der Auflösung geliefert wird, indem eine Ursache aus zwei Perspektiven betrachtet werden kann, wird im zweiten Abschnitt darauf eingegan‐ 88 Ein Vertreter dieser These ist Kemp Smith, der von einem »patchwork charac‐ ter« der Kritik der reinen Vernunft ausgeht: »It cannot be too often repeated that the Critique is not a unitary work, but the patchwork record of twelve years of continuous development«, Kemp Smith, N., A Commentary to Kant’s ›Cri‐ tique of Pure Reason‹, S. 196.

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§ 5. Auflösung der dritten Antinomie

gen, worin sich die beiden Perspektiven voneinander unterscheiden, und im dritten Abschnitt wird schließlich gezeigt, in welchem Ver‐ hältnis diese zueinander stehen. Dieser Gliederung entsprechend, ist auch der folgende Paragraf aufgebaut. Es wird daher zum Verständ‐ nis der Auflösung der Antinomie der ihr vorausgehende Abschnitt mit dem Titel »Schlussanmerkung zur Auflösung der mathematisch transzendentalen, und Vorerinnerung zur Auflösung der dynamischtranszendentalen Ideen« als erster Interpretationsschritt analysiert werden.

§ 5.1 Unterscheidung in dynamische und mathematische Antinomien

Die vier Widerstreite werden nach Kant in jeweils mathematische und dynamische Antinomien eingeteilt: Dabei zählen die erste und zweite Antinomie zu den mathematischen und die dritte und vierte zu den dynamischen Antinomien. Der wesentliche Unterschied zwi‐ schen den dynamischen und mathematischen Antinomien besteht darin, dass das erste Paar im Gegensatz zum zweiten Paar aufgelöst werden kann. Dies hängt damit zusammen, dass die dynamische Verknüpfung der Reihen der Erscheinungen auch ungleichartige und sinnlich unabhängige Bedingungen zulässt, wohingegen in der mathematischen Verknüpfung nur sinnlich gleichartige Bedingun‐ gen als Teil der Reihe betrachtet werden können (vgl. KrV, A 529/B 557). Es wird sich herausstellen, dass der ungleichartige Charakter in den dynamischen Antinomien ein wesentliches Argument dafür ist, widerspruchsfrei ein Unbedingtes annehmen zu können und den Ausgleich zwischen Natur und Freiheit zu schaffen. Der verbrei‐ tenden Meinung in der Literatur, Kant habe in der dritten und vierten Antinomie eine andere Auflösungsstrategie verfolgt, weil ih‐ nen wesentliche Funktionen für Religion und Moral anhängen, ist dieses Argument entgegenzuhalten: Davon abgesehen, dass mit die‐ ser Position nicht nur die Auflösung, sondern auch die »Echtheit« der Antinomien angezweifelt werden, zeigt sich anhand der dritten Antinomie ein wesentliches Argument für die Auflösung. In der drit‐ ten Antinomie wird Kant beispielsweise zeigen, dass die Ungleichar‐ tigkeit zwischen Ursache und Wirkung dem Begriff der Kausalität

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bereits vorausgesetzt werden kann und die Eigenschaft damit nicht erst künstlich hinzugefügt wurde.89 Zurückzuführen ist die Unterscheidung von dynamischen und mathematischen Antinomien auf die Analytik. Hier werden die Ka‐ tegorien in mathematische und dynamische klassifiziert, von denen sich das erste Kategorienpaar »auf Gegenstände der Anschauung (der reinen sowohl als empirischen)« bezieht und das zweite Ka‐ tegorienpaar sich auf »die Existenz dieser Gegenstände (entweder in Beziehung auf einander oder auf den Verstand)« (KrV, B 110) richtet.90 Ebenso wie die Grundsätze unterliegen auch die transzen‐ dentalen Ideen dem System der Kategorien und lassen sich in ma‐ thematische und dynamische Ideenpaare unterscheiden. Aus den vier Kategorienklassen (Quantität, Qualität, Relation und Modalität) 89 Bojanowski kritisiert zwar auch diese Interpretation, führt jedoch als Argument nur an, dass es Kant in der Auflösung nicht allein um Moral und Religion geht, sondern auch um »die Möglichkeit einer systematischen Wissenschaft« Boja‐ nowski, J., Kants Theorie der Freiheit, S. 121. Doch auch mit diesem Argument ist der Vorwurf, Kant habe ein größeres Interesse an der dritten und vierten Auflösung gehabt, wodurch man ihm unter anderem auch ein dogmatisches Verfahren unterstellen kann, nicht aufgehoben. Vgl. dagegen Esteves, J. C. R., Mußte Kant Thesis und Antithesis der dritten Antinomie der Kritik der reinen Vernunft vereinbaren?, S. 146–170. 90 Diese Aufteilung der Kategorien in dynamische und mathematische erfolgt im Kapitel der Kategorien als Ergänzung in der B-Auflage (KrV, B 110). In der Literatur gibt dies Anlass zu der Annahme, dass die Unterscheidung für die Ka‐ tegorientafel »unerheblich« sei, keine Rolle spielt und allein für die Auflösung vorgebracht wurde, vgl. Röttges, H., Kants Auflösung der Freiheitsantinomie, S. 42. Bojanowski gibt jedoch den Hinweis, dass die Unterscheidung bereits in den Grundsätzen zu finden ist, vgl. Bojanowski, J., Kants Theorie der Freiheit S. 122. Gerade dann, wenn es um die Frage geht, wie sich Kategorien konkret auf Gegenstände beziehen können, ist die Unterscheidung von mathematischen und dynamischen Grundsätzen wesentlich. Die dynamischen Grundsätze bezie‐ hen sich auf das Dasein der Erscheinungen, denen eine objektive Gültigkeit zukommt. Im Gegensatz zu den mathematischen ist mit den dynamischen Kategorien daher ein echter Gegenstandsbezug möglich, weshalb die dynami‐ schen Grundsätze auch die »eigentlichen Naturgesetze [sind]« (Prol., 307). Vgl. Vigo, A. G., Kategoriale Synthesis und Einheit des Bewusstseins. Zu Kants Lehre vom Verhältnis zwischen Wahrnehmung und Erfahrung., S. 170. Auch den dynamischen Antinomien kommt eine wesentliche Funktion zu, sind sie doch schließlich die einzigen Antinomien, die sich auflösen lassen und damit Aussa‐ gen über die Welt als Ganzes zulassen. Mit den dynamischen Grundsätzen und Antinomien sind Aussagen sowohl über die Natur im Konkreten also auch im Ganzen möglich.

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§ 5. Auflösung der dritten Antinomie

ergeben sich vier kosmologische Ideen, denen zwei widerstreitende Aussagen in Form von Thesis und Antithesis zukommen: Die erste kosmologische Idee betrifft die »absolute Vollständigkeit der Zusam‐ mensetzung« der Welt im Raum und der Zeit nach und behandelt die kosmologische Frage nach der räumlichen und zeitlichen Be‐ grenztheit bzw. Unbegrenztheit der Welt.91 Ausgehend vom zweiten kosmologischen Schluss, wird versucht, die Einheit der Welt in qua‐ litativer Hinsicht zu verstehen, und dafür die Kategorie der Realität (Materie) totalisiert. Nach der Idee der absoluten Vollständigkeit der »Theilung« kann die Materie aus einfachen Teilen zusammen‐ gesetzt bzw. als unendlich teilbar gedacht werden. Die erste der dynamischen Ideen versucht, das Weltganze zu erklären, indem sie die absolute Vollständigkeit der »Entstehung« einer Erscheinung zu bestimmen versucht und dazu in der Kategorie der Relation die Kausalität totalisiert. Die zweite dynamische Idee totalisiert unter der Kategorie der Modalität die Paare Notwendigkeit und Zufällig‐ keit, indem durch die »absolute Vollständigkeit der Abhängigkeit des Daseins« ein schlechthin notwendiges Wesen zu bestimmen versucht wird. Betrachtet das erste Paar der Ideen die räumliche und zeitliche Zusammensetzung der Erscheinungen, betrifft das zweite Paar allein das Dasein der Erscheinungen. Beiden Paaren kommen demnach unterschiedliche Funktionen in der Erklärung des Weltganzen zu. Von diesen vier »Weltbegriffen« betrachten die ersten beiden Be‐ griffe die Welt im engeren Sinne als das »mathematische Ganze« aller Erscheinungen, während die beiden anderen Weltbegriffe das Weltganze als ein »dynamisch Ganzes« beschreiben und daher »transzendente Naturbegriffe« (KrV, A 420/B 448) genannt werden. Bereits im »System der kosmologischen Ideen« weist Kant auf die Unterscheidung von Welt und Natur hin, die, wie er betont, »im Fortgange wichtiger werden« (KrV, A 420/B 448). Insbesondere die Frage, ob Aussagen über die Welt als Ganzes möglich sind, hebt die Tragweite der Auflösungen der Antinomien im Besonderen hervor. 91 In der Kategorie der Quantität werden nicht die Einheit, Vielheit und Allheit auf ihre Tauglichkeit hin geprüft, eine transzendentale Idee zu konstituieren, sondern Raum und Zeit. Schmucker merkt an, dass der ersten kosmologischen Idee, so gesehen, eigentlich auch keine Kategorie der Quantität zugrunde liegt, vgl. Schmucker, J., Das Weltproblem in Kants Kritik der reinen Vernunft, S. 98f.

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II. Von der Ursache zum Grund

Mit Blick darauf, dass sich die Behauptungen der ersten und zweiten Antinomie als falsch erweisen, können Aussagen über das Weltganze zumindest in engerer Bedeutung nicht getätigt werden. Aussagen über das Weltganze sind jedoch auch mit den Naturbegriffen mög‐ lich, da Natur und Welt nicht losgelöst voneinander zu betrachten sind und sogar »bisweilen in einander« (KrV, A 418/B 446) überge‐ hen, sodass »dieselbe Welt« Natur genannt wird und eine zweite Weltidee bezeichnet. Mit der Auflösung der dynamischen Antinomie wären also Aussagen über die Welt als Ganzes in einem weiteren Sinne möglich.92 Angesichts dieser Konsequenzen gilt es zu klären, warum die mathematischen Antinomien im Gegensatz zu den dynamischen Antinomien nicht aufgelöst werden können. Da die ersten beiden Weltbegriffe auf die sinnliche Welt restringiert sind, können diese auch keine über die Sinnenwelt hinausgehende Aussagen über das Weltganze tätigen. Denn der den Ideen zugrunde liegende Verstan‐ desbegriff erfordert, dass in der mathematischen Synthesis der Er‐ scheinungen die Bedingung mit dem Bedingten gleichartig ist, wäh‐ rend in der dynamischen Synthesis die Bedingung und das Bedingte ungleichartig sind: Allein der Verstandesbegriff, der den Ideen zum Grunde liegt, enthält entweder lediglich eine Synthesis des Gleichartigen, (welches bei jeder Größe, in der Zusammensetzung sowohl als Teilung derselben, voraus‐ gesetzt wird,) oder auch des Ungleichartigen, welches in der dynami‐ schen Synthesis, der Kausalverbindung so wohl, als der des Notwendi‐ gen mit dem Zufälligen, wenigstens zugelassen werden kann. (KrV, A 530/B 558).

In den mathematischen Antinomien bestehen die Reihen nur aus gleichartigen und sinnlichen Teilen, sodass auch die Bedingungen als Reihenglieder sinnlich sein müssen. Dies bedeutet, dass die ge‐ suchte unbedingte Bedingung in der Reihe immer gleichartig zu dem Bedingten und damit eine sinnlich erfahrbare Erscheinung sein muss. Das Unbedingte ist jedoch nicht Gegenstand der Möglichkeit von Erfahrung und damit empirisch nicht bestimmbar. Der Fehler der ersten beiden Antinomien ist also der Versuch, die Erscheinun‐ 92 Vgl. Heimsoeth, H., Vierfache Vernunftantinomie, Natur und Freiheit, intelligi‐ bler und empirischer Charakter, S. 333.

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§ 5. Auflösung der dritten Antinomie

gen (Sinnenwelt) und das Ding an sich (absolute Vollständigkeit) in einem Begriff zu vereinen: In der ersten Klasse der Antinomie (der mathematischen) bestand die Falschheit der Voraussetzung darin: daß, was sich widerspricht (näm‐ lich Erscheinung als Sache an sich selbst), als vereinbar in einem Begrif‐ fe vorgestellt würde. (Prol., 343).

Folglich ist es also auch unmöglich, weder eine raum-zeitliche Welt‐ größe noch die Einfachheit von Materie oder die Unendlichkeit von Teilen zu bestimmen, da ihnen keine sinnliche Anschauung zugrun‐ de liegt. In der ersten und zweiten Antinomie wird, so gesehen, »um Nichts« (KrV, A 501/B 529) gestritten, da Thesis und Antithesis in beiden Fällen die Fragen nach dem Unbedingten nicht beantworten können und deshalb beide nicht aufgelöst werden können. Für die Auflösung der dynamischen Antinomien zeigt sich nun »dieses Besondere«: »[...] daß, da sie es nicht mit einem Gegenstande, als Größe betrachtet, sondern nur mit seinem Dasein zu tun haben, man auch von der Größe der Reihe der Bedingungen abstrahieren kann, und es bei ihnen bloß auf das dynamische Verhältnis der Bedingung zum Bedingten ankommt [...]« (KrV, A 534/B 563).

Da das Verhältnis zwischen Bedingung und Bedingtem ungleichartig ist, kann auch eine Bedingung unabhängig von raum-zeitlichen Be‐ stimmungen angenommen werden. Das eröffnet zunächst die Mög‐ lichkeit, auch Kausalursachen annehmen zu können, die nicht unter zeitlichen Bedingungen stehen. Damit lassen die dynamischen Rei‐ hen »eine ungleichartige Bedingung [zu], die nicht Teil der Reihe ist, sondern, als bloß intelligibel, außer der Reihe liegt [...]« (KrV, A 530/B 558). Neben den zeitlichen Ursachen, die innerhalb der Reihe bestehen, können auch intelligible Ursachen, die außerhalb der Reihe stehen, angenommen werden und damit ist ein theoretisch Unbedingtes denkbar. Diese doppelte Perspektive auf die Ursache ist nur deshalb möglich, weil der Kausalitätsbegriff keine notwendige Gleichartigkeit zwischen Ursache und Wirkung erfordert: [...] dagegen in der Verknüpfung der Ursache und Wirkung kann zwar auch Gleichartigkeit angetroffen werden, aber sie ist nicht notwendig; denn der Begriff der Kausalität (vermittelst dessen durch Etwas etwas ganz davon Verschiedenes gesetzt wird) erfordert sie wenigstens nicht. (Prol., 343).

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In den ›Prolegomena‹ weist Kant darauf hin, dass mit dem Begriff der Kausalität zwei voneinander unabhängige und voneinander Ver‐ schiedenartige verknüpft werden, weshalb nach Hume daher auch eine Rechtfertigung dieser Verknüpfung erforderlich ist, die weder analytisch noch empirisch zu beweisen ist. Auf diesem Merkmal der Unabhängigkeit, die der Kausalität zugeschrieben wird, kann schließlich die Auflösung der dritten Antinomie erfolgen und Frei‐ heit und Natur widerspruchsfrei angenommen werden. Während innerhalb der mathematischen Antinomie der unaufge‐ löste Widerspruch darin bestand, das Unbedingte in den Erschei‐ nungen zu bestimmen, liegt die Falschheit der zweiten Klasse der Antinomie darin, etwas, das »vereinbar ist, als widersprechend« (Prol., 343) vorauszusetzen. Dazu muss unter anderem die dritte An‐ tinomie zeigen, dass diese nicht allein auf die Sinnenwelt restringiert ist und der Widerspruch aufgelöst werden kann, wenn die Naturnot‐ wendigkeit bloß auf Erscheinungen und die Freiheit bloß auf Dinge an sich selbst bezogen werden. Thesis und Antithesis können auf diese Weise zwei unterschiedliche Gegenstandsbereiche zugeschrie‐ ben werden. Die kontradiktorischen Gegensätze der dynamischen Antinomie werden mit der Auflösung im Gegensatz zu den mathe‐ matischen Antinomien nicht in konträre, sondern in subkonträre Gegensätze gestellt. Ersteres bedeutet, dass Thesis und Antithesis in den mathematischen Antinomien beide nicht wahr, aber dafür falsch sein können, während Thesis und Antithesis in den dynamischen Antinomien nicht beide falsch, aber dafür beide wahr sein können. In der Frage, ob neben Natur auch eine Freiheit widerspruchsfrei an‐ genommen werden kann, muss aber noch gezeigt werden, inwiefern Ursachen intelligible Bedingungen und gleichzeitig ein empirisches Ereignis sein können. § 5.2 Die zwei Charaktere der Ursache

Zur Auflösung der dritten Antinomie setzt Kant die Bedingung, dass der Grundsatz der Kausalität, der den beiden Beweisen als Prämisse vorausgesetzt ist, nicht an Gültigkeit verlieren darf. Die Auflösung muss also zeigen, dass Freiheit, ohne im Widerspruch mit der Naturgesetzlichkeit stehend, angenommen werden kann. Zu diesem Zweck stellt Kant auf Grundlage des transzendentalen Idea‐

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lismus die Überlegung an, inwiefern der Begriff der Ursache sowohl aus einer empirischen als auch aus einer intelligiblen Perspektive betrachtet werden kann. Obwohl Allison diese Unterscheidung für nicht ganz unproblematisch hält, werde ich zeigen, dass Kant einen intelligiblen Charakter der Ursache sogar annehmen muss, wenn er von Gesetzmäßigkeiten in der Natur ausgeht.93 Meine These ist also, dass aus der transzendentalen Freiheit als absolute Spontaneität die Gesetzmäßigkeiten hervorgehen, die dem intelligiblen Charakter der Ursache anhaften und durch ihr sinnliches Schema den empiri‐ schen Charakter der Ursache zum Ausdruck bringen. Hierzu werde ich im folgenden Paragrafen das Verhältnis des intelligiblen und empirischen Charakters der Ursache analysieren und anschließend herausstellen, inwiefern diese doppelte Perspektive der Ursache die Annahme einer transzendentalen Freiheit legitimiert. Die Auflösung des Widerstreits setzt die »Anerkennung« (KrV, A 543/B 571) der Naturnotwendigkeit in der Reihe aller Begebenhei‐ ten bereits voraus, da die »Richtigkeit jenes Grundsatzes, von dem durchgängigen Zusammenhang aller Begebenheiten der Sinnenwelt, nach unwandelbaren Naturgesetzen« (KrV, A 536/B 564) feststeht und keinen Abbruch erleiden darf. Die Anerkennung einer notwen‐ digen Verknüpfung der Begebenheiten in der Natur gründet dabei auf dem Grundsatz der Kausalität. Diese gesetzte Bedingung, die Kant der Auflösung voranstellt, kann der transzendentale Realismus nicht leisten und wird deshalb von der Auflösungsstrategie ausge‐ schlossen. Kant stellt die These auf, dass mit dem transzendentalen Realismus »weder Natur noch Freiheit übrig« (KrV, A 543/B 571) bleiben. Wird nämlich mit dem transzendentalen Realismus eine absolute Realität in den Gegenständen der Erfahrung vorausgesetzt, kann nicht widerspruchsfrei neben den Gesetzen der Natur auch eine Freiheit angenommen werden, was die Antithesis eindrücklich gezeigt hat. In gleicher Weise bleibt nun auch keine Natur »übrig«, weil keine kohärente Erfahrung von kausalen Zusammenhängen möglich ist, wie die Thesis schließlich bewiesen hat. Mit dem transzendentalen Idealismus ist hingegen nicht nur die Notwendigkeit der Naturzusammenhänge gerechtfertigt, sondern gleichzeitig auch die transzendentale Freiheit widerspruchsfrei denk‐ bar: »Denn, sind Erscheinungen Dinge an sich, ist Freiheit nicht 93 Vgl. Allison, H. E., Kant’s Theory of Freedom, S. 30.

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zu retten« (KrV, A 536/B 564), wodurch gleichzeitig die praktische Freiheit vertilgt wäre (vgl. KrV, A 534/B 562). Mit dem transzenden‐ talen Idealismus kann der Widerspruch zwischen Freiheit und Natur aufgelöst werden, indem ihnen unterschiedliche Gegenstandsberei‐ che zugeschrieben werden: »Ist aber Naturnotwendigkeit bloß auf Erscheinungen bezogen, und Freiheit bloß auf Dinge an sich selbst, so entspringt kein Widerspruch« (Prol., 343). Dies ist notwendig, da die Antithesis gezeigt hat, dass die Annahme einer Freiheit »un‐ ter den Ursachen der Erscheinungen« (KrV, A 543/B 571) notwen‐ digerweise in Widerspruch mit der Naturkausalität steht, da mit ihr die Reihe der Begebenheiten unterbrochen wird. Während vom Standpunkt der Thesis und Antithesis aus ein Entweder-Oder von Freiheit und Natur möglich war, wird Kant auf Grundlage des trans‐ zendentalen Idealismus zeigen, dass ein Sowohl-Als-Auch von Natur und Freiheit anzunehmen möglich ist. Konnte zuvor also eine jede Wirkung in der Welt entweder nur aus Natur oder nur aus Freiheit entspringen, fragt sich alternativ, ob die gleiche Wirkung zugleich als Naturwirkung und als Wirkung aus Freiheit angesehen werden kann: Hier ist die Frage: ob, wenn man in der ganzen Reihe aller Begebenhei‐ ten lauter Naturnotwendigkeit anerkennt, es doch möglich sei, eben dieselbe, die einer Seits bloße Naturwirkung ist, doch anderer Seits als Wirkung aus Freiheit anzusehen, oder ob zwischen diesen zweien Arten von Kausalität ein gerader Widerspruch angetroffen werde. (KrV, A 543/B 571).

Es gilt also, zu untersuchen, ob ein und dieselbe Wirkung, die »nach Natur bestimmt ist, auch Freiheit enthalten könne« (KrV, A 536/B 564). Denn auf diese Weise kann der Wirkung zugleich eine intelligi‐ ble Ursache und eine empirische Ursache zugrunde gelegt werden, sodass sie einerseits frei und andererseits naturnotwendig bestimmt werden kann (KrV, A 537/B 565).94 94 Inwiefern eine intelligible Ursache eine Wirkung hervorbringen kann, ist für Bennett innerhalb des Kantischen Begriffs einer Kausalität durch Freiheit nicht klar definiert: »On that account, an event has a noumenal cause only at second hand, by being an appearance of something which has a noumenal cause« Bennett, J., Kant’s Dialectic, S. 194. Unter der Voraussetzung also, dass eine intelligible Ursache eine Wirkung hervorbringt, wäre die Bestimmung einer Ursache nicht möglich, da von der Wirkung nicht direkt auf die Ursache ge‐

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So würden denn Freiheit und Natur, jedes in seiner vollständigen Be‐ deutung, bei eben denselben Handlungen, nachdem man sie mit ihrer intelligiblen oder sensiblen Ursache vergleicht, zugleich und ohne allen Widerstreit angetroffen werden. (KrV, A 541/B 569).

Aus der Erläuterung der mathematischen und dynamischen Ver‐ nunftbegriffe hat Kant dargelegt, dass das Verhältnis der Bedingun‐ gen zum Bedingten in den dynamischen Vernunftbegriffen ungleich‐ artig betrachtet werden kann. Daraus wurde ersichtlich, dass Be‐ dingungen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Kausalreihe betrachtet werden können und mit dem Bedingten ungleichartig sind. Eine Wirkung kann demnach sowohl unter intelligiblen als auch empirischen Bedingungen verursacht werden. Kant rechtfertigt die Annahme einer differenten Gegenstandsbetrachtung mit der Re‐ ferenz auf den transzendentalen Idealismus. Die Gegenstände der Sinne sind keine Dinge an sich, das heißt, ihnen muss »ein tran‐ szendentaler Gegenstand zum Grunde liegen« (KrV, A 538/B 566), der sie zuerst zu Vorstellungen bestimmt, wodurch dem transzen‐ dentalen Gegenstand die Eigenschaft zukommt, dass er erscheint. Kant schreibt den Gegenständen der Sinne damit eine »doppelte Seite« (KrV, A 538/B 566) zu, von denen die eine in der Sinnenwelt erscheint und sinnlich affizierbar ist und die andere Seite des Ge‐ genstands nicht Erscheinung ist und keiner Anschauung zugrunde liegt. Kant bezeichnet an dem Schattenriss »dasjenige an einem Gegenstande der Sinne, was selbst nicht Erscheinung ist« (KrV, A 538/B 566), als intelligibel. Der transzendentale Idealismus ermöglicht es, Ursachen aus zwei Perspektiven zu denken. Dazu definiert Kant zunächst im Allgemei‐ nen, dass eine jede Ursache einen Charakter haben muss: »Es muss aber eine jede wirkende Ursache einen Charakter haben, d.i. ein Ge‐ schlossen werden kann. Bennett geht jedoch auch von dem Fall aus, dass die noumenalen Ursachen in einem linearen Verhältnis zu ihren Wirkungen stehen können, sodass noumenale Ursachen auch in der empirischen Wirkung als Erscheinung enthalten sind: »In this version, an event’s noumenal cause is the item of which it is an appearance.«, ebenda, S. 195. Bennett verkennt durch seine Interpretation, dass Kant nicht explizit zwischen noumenalen und empirischen Ursachen unterscheidet, sondern einer Ursache sowohl einen noumenalen als auch empirischen Charakter zuschreibt. Einer Ursache kann damit neben ihrem empirischen Charakter auch ein noumenaler zugeschrieben werden. Vgl. hierzu auch Willaschek, M., Praktische Vernunft, S. 312 [Anm. 14].

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setz ihrer Kausalität, ohne welches sie gar nicht Ursache sein würde« (KrV, A 539/B 567). Eine jede wirkende Ursache muss demnach einen Charakter haben, der sich durch das Gesetz ihrer Kausalität bestimmen und unterscheiden lässt.95 Das Verhältnis einer Ursache zu ihren Wirkungen ist durch einen jeweils spezifischen gesetzlichen Zusammenhang bestimmt. Da Gesetzmäßigkeiten nicht aus der Em‐ pirie abgeleitet, sondern lediglich durch Empirie überprüft werden können, kommt der Ursache sowohl ein empirischer als auch ein intelligibler Charakter zu. Es soll hier die These aufgestellt werden, dass mit der zweifachen Perspektive von Ursachen diese sowohl empirisch als auch gesetzmäßig gedacht werden können. Mittels des empirischen Charakters können überhaupt nur die kausalen Zusammenhänge in der Welt beobachtet werden und erlauben so Rückschlüsse auf den intelligiblen Charakter. Den beiden Charakter der Ursache kommen unterschiedliche Ei‐ genschaften zu, die zunächst unvereinbar scheinen: Auf der einen Seite steht der empirische Charakter der Ursache, der unter zeitli‐ chen Bedingungen steht, und auf der anderen Seite der intelligible Charakter der Ursache, der zeitlich unbestimmt ist. Da die Wirkun‐ gen als Erscheinungen »dem Gesetze aller Zeitbestimmung« (KrV, A 540/B 568) unterliegen, kann dem empirischen Charakter einer Ur‐ sache durch die Beobachtungen von Wirkungen ein bestimmtes re‐ gelhaftes Verhalten zugeschrieben werden. Der intelligible Charakter einer Ursache hingegen steht »unter keinen Zeitbedingungen« (KrV, A 539/B 567), sodass in ihm auch keine Handlung »entstehen oder vergehen« (KrV, A 539/B 567) kann. Der intelligible und empirische Charakter greifen aber auch ineinander über: Während Ersterer als die »transzendentale Ursache« (KrV, A 546/B 574) des empirischen Charakters der Ursache gedacht wird, wird Zweiterer als »das sinnli‐ 95 Der Begriff des »Charakters« darf nicht im allgemeinen gebräuchlichen Sinne menschlicher Eigenschaftsbeschreibung verstanden werden, auch wenn Kant diesen später auch auf den Menschen beispielhaft anwenden wird. Heimsoeth verweist auf die Logik-Vorlesungen Kants, indem dort der Charakter als »Merk‐ mal, Unterscheidungsgründe, Kennzeichen im eigentlichen Verstande« begrif‐ fen wird. Vgl. Heimsoeth, H., Vierfache Vernunftantinomie, Natur und Freiheit, intelligibler und empirischer Charakter, S. 346. Willaschek stellt heraus, dass der Begriff des Charakters aus der Semiotik kommt und in diesem Sinne in der Anthropologie als »Unterscheidungszeichen« gebraucht wird. Vgl. Willaschek, M., Praktische Vernunft, S. 274. Der Begriff soll im Folgenden, dieser Bedeutung entsprechend, verwendet werden.

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che Zeichen« (KrV, A 546/B 574) und als »das sinnliche Schema« (KrV, B 581) des intelligiblen Charakters der Ursache bezeichnet. Der intelligible Charakter einer Ursache kann also nur »dem empi‐ rischen Charakter gemäß gedacht werden« (KrV, A 553/B 568) und »den obersten Erklärungsgrund« (KrV, A 546/B 574) ausmachen. Da der empirische Charakter selbst nur »durch Erfahrung er‐ kannt« wird, können aus ihm keine Gesetze abgeleitet werden. Denn »nach der Beschaffenheit und den Schranken unserer Er‐ kenntnisvermögen« (KU, BXXXII [183]) können weder Gesetzmä‐ ßigkeiten noch Notwendigkeiten in den Ereignissen empirisch ein‐ gesehen werden.96 Mit Ertl ist auf die zwischen 1776 und 1783 ver‐ fasste Reflexion hinzuweisen, die deutlich macht, dass nach dem empirischen Charakter zumindest sehr wohl Regeln formuliert wer‐ den können: Empirisch kan man wol regeln herausbringen, aber nicht Gesetze; wie Kepler im Vergleich mit Newton; den zu den letzteren gehört nothwen‐ digkeit, Mithin, daß sie a priori erkannt werden. (AA 28: 176).

Am Beispiel der Planetenbahn zeigt sich, dass es zunächst nur eine empirische Regel dafür geben kann, die beschreibt, wie sich die Planeten bewegen. Erst das Gravitationsgesetz, das hinter dieser Planetenbewegung steht, zeigt, dass diese Planetenbahnen notwen‐ digerweise in dieser Konstellation erscheinen. Die Planetenbahnen können in diesem Beispiel als das »sinnliche Schema« des Gravitati‐ onsgesetzes verstanden werden. Dabei ist der empirische Charakter der Ursache als ein sinnliches Schema, als das vermittelnde Glied zwischen der Wirkung und dem intelligiblen Charakter der Ursache zu verstehen.97 Das Schema kann also als ein Hinweis auf das Gesetz 96 Vgl. Ertl, W., Kants Auflösung der »dritten Antinomie«, S. 145. 97 Demgegenüber steht der Ansatz, dass zwischen dem empirischen und intelli‐ giblen Charakter der Ursache ein kausaler Zusammenhang bestehe. Ortwein hebt dabei hervor, dass »[n]ur im Rahmen dieses Ansatzes die Kausalität des Dinges an sich mit intelligibler Ursache und phänomenaler Wirkung eine echte Wirkmächtigkeit im Sinne Kants haben [kann]«, Ortwein, B., Kants problemati‐ sche Freiheitslehre, S. 98. Mit dieser Interpretation gehen jedoch zwei Probleme einher: i) Eine intelligible Ursache müsste diesem Ansatz nach aber zeitlich etwas vorangehen, um die Ursache von etwas anderem sein zu können. Die Antithesis hat schließlich zeigen können, dass sie ansonsten dem Naturgesetz widersprechen würde. ii) Ist darüber hinaus auch von keinen »intelligiblen Ursachen«, sondern, wie Kant ausdrücklich betont, von zwei Charakteren einer

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verstanden werden, das hinter den jeweiligen empirischen Regeln steht. Der empirische Charakter kann demnach, wie Willaschek schreibt, als die »Gesamtheit ihrer möglichen Wirkungen [...]« be‐ schrieben werden, die »in einem Gesetz zum Ausdruck kommen«98. Jeder empirische Charakter einer Ursache ist mit seinen Wirkun‐ gen als Erscheinungen der Naturkausalität verbunden. Nach diesem Charakter steht die Ursache entsprechend der Naturkausalität »in der Reihe empirischer Bedingungen«, sodass seine Kausalität »in den Erscheinungen (des vorigen Zustands)« (KrV, A 540/B 568) anzutreffen ist. Den Zeitbedingungen unterworfen, unterliegen die Zustände der Welt einer Veränderung. Durch den empirischen Cha‐ rakter einer Ursache stehen die Wirkungen notwendig in einem Zusammenhang und müssen sich »nach den Naturgesetzen erklären lassen« (KrV, A 540/B 568). Der intelligible Charakter einer Ursache erfüllt hingegen die gleichen Voraussetzungen, die wir dann erwar‐ ten müssen, wenn wir eine Kausalität durch Freiheit annehmen, und kann damit gleichermaßen als ein »Vermögen« verstanden werden, »einen Zustand von selbst anzufangen« (KrV, A 533/B 561, vgl. A 541/B 569). Der intelligible Charakter kann »niemals unmittelbar gekannt werden, weil wir nichts wahrnehmen können, als so fern es erscheint« (KrV, A 540/B 568). Da der intelligible Charakter frei »von allem Einflusse der Sinnlichkeit« ist, unterliegt dieser auch kei‐ ner Zeitbestimmung, sodass er in keiner Verknüpfung mit Ursachen steht, die Erscheinungen sind (KrV, A 539/B 567). Wie die »Freiheit, im kosmologischen Verstande« (KrV, A 533/B 561) ist damit auch der intelligible Charakter unabhängig von der Naturnotwendigkeit zu betrachten. Analog zur transzendentalen Freiheit, die ebenfalls »nichts von der Erfahrung entlehntes« hat, muss auch der intelligi‐ ble Charakter – wie die Antithesis fordert – als etwas »außerhalb der Welt« (KrV, A 451/B 479) Stehendes bestimmt werden. Durch die Unterscheidung des intelligiblen und empirischen Charakters der Ursache sind Freiheit und Natur also gleichzeitig denkbar. Ein Problem, das die eigentliche Schwierigkeit der Auflösung ausmacht und auch den Streit zwischen Thesis und Antithesis be‐ stimmt, bleibt jedoch noch offen: In welchem Verhältnis steht die Ursache die Rede, die also in keinem kausalen Verhältnis zueinander stehen können. Der empirische Charakter der Ursache gibt lediglich das Schema des intelligiblen Charakters vor. 98 Willaschek, M., Praktische Vernunft, S. 118.

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transzendentale Freiheit als absolute Spontaneität zur Kausalität des intelligiblen Charakters einer Ursache, die strikte Notwendigkeit enthält? Beide repräsentieren den zeitlosen Aspekt in der Auflösung und müssen miteinander vereinbart werden. Die Notwendigkeit des intelligiblen Charakters der Ursache bezieht sich auf die Gesetzmä‐ ßigkeit, welche die aufeinanderfolgenden Zustände der zeitlichen Reihen bestimmt. Diese Gesetzmäßigkeiten unterliegen selbst kei‐ nen Zeitbedingungen und infolgedessen auch keiner Naturnotwen‐ digkeit. Damit kann auch nicht gesagt werden, was der Ursprung der Gesetze ist, sodass wir auch nicht notwendig die Frage beantworten können, »wie ein solches möglich sei« (KrV, A 448/B 476). Der rechtmäßige Gebrauch dieses Gesetzes, das heißt, dass wir durch das empirische Zeichen des Gesetzes die Wirkung unter eine empirische Regel subsumieren können, die wiederum keiner Willkür unterliegt, kann nur über die transzendentale Freiheit gedacht werden. Daraus folgt die These, dass die transzendentale Freiheit die Gesetze ver‐ ursacht, mit denen die Notwendigkeiten in der Welt beschrieben werden können, und zwar spontan.99 99 Die These, dass von der transzendentalen Freiheit Gesetze ausgehen, unterstützt bereits die aus den wahrscheinlich 1760er Jahren entstandene Reflexion 3858: »Bei allen Handlungen liegt der Grund, die caussalitaet, (der Materie nach) in der Natur; der Form nach aber entweder blos in der natur, e. g. Anziehung, oder in einem andern Vermögen, welches die Kräfte der Natur innerlich dirigirt. Das letztere ist Freyheit.« Einen Hinweis darauf, wie die Freiheit die Natur innerlich dirigiert, bietet die Auflösung in den ›Prolegomena‹, indem dort die »Vernunft die Ursache dieser Naturgesetze« ist. Der Zusammenhang zwischen Vernunft und Freiheit erfolgt bereits in der ›Kritik der reinen Vernunft‹, wonach die Vernunft selbst nicht in der Zeit ist und in ihrer Kausalität keinen Bedingungen der Erscheinung unterworfen ist, von diesen also auch nicht bestimmt wird, sondern selbst bestimmend ist, vgl. KrV, A 556/B 584. Die Vernunft ist daher frei von aller Naturnotwendigkeit. Da sie außerdem die Naturgesetze selbst bestimmt, kann sie mit diesen auch nicht im Widerspruch stehen. Das zusam‐ menfassende Ergebnis in den ›Prolegomena‹ lautet demnach: »Die Freiheit hindert also nicht das Naturgesetz der Erscheinungen, so wenig, wie dieses der Freiheit des praktischen Vernunftgebrauchs, der mit den Dingen an sich selbst, als bestimmenden Gründen, in Verbindung steht, Abbruch tut«, Prol., 346. Handlungen aus Vernunft geschehen daher aus objektiven Gründen, da sie »aus Prinzipien, ohne Einfluß der Umstände der Zeit oder des Orts Handlungen die Regel geben«, Prol, 345. Die Vernunft hat also nach objektiv-bestimmenden Gründen Kausalität. Die subjektiv bestimmenden Gründe einer Handlungen sind demgegenüber Naturursachen. Eine Handlung, der ein objektiver Grund zugrunde liegt, der also keine andere Ursache vorausgeht und die unbedingt ist,

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Ohne die transzendentale Freiheit wären keine Gesetzmäßigkeit in der Natur und damit auch keine Naturgesetze zu denken. Mit der transzendentalen Freiheit können die kausalen Zusammenhänge in der Welt als Ganzes erklärt werden. Auf dieses kosmologische Problem hatte bereits die Thesis hingewiesen, weshalb sie neben der Naturkausalität noch die Notwendigkeit einer Kausalität durch Freiheit »zur Erklärung derselben [der Erscheinungen der Welt]« (KrV, A 444/B 472, E.C.) annahm. Damit wird die transzendentale Freiheit nicht nur in einem praktischen, sondern gemeinsam mit der Naturkausalität auch in einem erkenntnistheoretischen Kontext behandelt. Durch die Transzendentalphilosophie sind Natur und Freiheit widerspruchslos miteinander zu vereinbaren, was mit dem empirisch-psychologischen Begriff der Freiheit nicht möglich wäre: Daher die Frage von der Möglichkeit der Freiheit die Psychologie zwar anficht, aber da sie auf dialektischen Argumenten der bloß reinen Ver‐ nunft beruht, samt ihrer Auflösung lediglich die Transzendentalphiloso‐ phie beschäftigen muß. (KrV, A 535/B 563).

Die psychologische Freiheit ist mechanisch zu verstehen und im eigentlichen Sinne nicht frei, da sie im Gegensatz zur transzenden‐ talen Freiheit der Naturkausalität unterliegt. Die empirisch-psycho‐ logische Freiheit steht unter allen Zeitbestimmungen, sodass bei‐ spielsweise menschliche Handlungen, sollten sie nicht nur durch körperliche Bewegungen, sondern auch durch Vorstellungen hervor‐ gebracht sein, immer der Naturnotwendigkeit unterworfen sind.100 Deswegen wäre eine Auflösung zwischen Natur und Freiheit unter der Voraussetzung einer empirisch-psychologischen Freiheit nicht möglich gewesen. Durch die transzendentale Freiheit steht Freiheit unter keinen Zeitbestimmungen und ist damit unabhängig von Na‐ geht immer ein erster Anfang voraus, und zwar selbst dann wenn die gleiche Handlung in der Reihe der Erscheinungen ein subalterner Anfang ist, vgl. Prol., 346. 100 So wie die physischen Geschehnisse unterliegen also auch die Vorstellungen der Naturkausalität. Nach Kant sind Vorstellungen in derselben Weise mitein‐ ander verkettet wie empirische Begebenheiten auch. Dadurch lassen sich die einzelnen Glieder der Vorstellungskette zurückverfolgen bis hin zur ersten Vorstellung, die nicht aus Freiheit und damit nicht in der »Gewalt« des Subjekts geschehen ist. (KpV, 96) Die psychologische Freiheit führt immer Naturnotwendigkeit bei sich, sodass der Grund einer Handlung durch ihn vorhergehende andere Bedingungen bestimmt ist und niemals frei sein kann.

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turnotwendigkeit. Mit der transzendentalen Freiheit kann daher von einer absoluten Spontaneität in Handlungen ausgegangen werden, die den »eigentlichen Grund der Imputabilität« (KrV, A 448/B 476) ausmacht. Würde dem Willen nämlich eine psychologische Freiheit zugesprochen werden, dann hätten seine Handlungen denselben Status wie die eines automaton spirituale, das nur durch seine Vor‐ stellungen betrieben wird: »[...] wenn die Freiheit unseres Willens keine andere als die letztere (etwa psychologische und komparative, nicht transzendentale, d.i. absolute, zugleich) wäre, so würde sie im Grunde nichts besser, als die Freiheit eines Bratenwenders sein, der auch, wenn er einmal aufgezogen worden, selbst seine Bewegung verrichtet« (KpV, 97). Unter der transzendentalen Freiheit ist dem Bratenwender keine Freiheit zuzuschreiben. Zwar bewegt sich dieser von selbst, doch erst, nachdem er durch etwas anderes »aufgezogen« worden ist und damit ihm also keine spontane Selbstverursachung zuzuschreiben ist. Die Auflösung der dritten Antinomie konnte mithilfe des Ur‐ sachenbegriffs die beiden scheinbar widerstreitenden Kausalitäten miteinander vereinbaren. Was folgt, ist kein Freiheitsbeweis, denn die Wirklichkeit und Möglichkeit der Freiheit wird in der Auflösung der Antinomie nicht gezeigt, sondern nur, dass sich Natur und Freiheit nicht widersprechen. Wäre das der Anspruch der dritten Antinomie gewesen, dann hätten unter der Voraussetzung, dass mit der transzendentalen Freiheit intelligible Gesetzmäßigkeiten ge‐ meint sind, in der Auflösung der dritten Antinomie die Wirklichkeit und Möglichkeit dieser Gesetzmäßigkeiten gezeigt werden müssen. Die Wirklichkeit intelligibler Ursachen kann aber nicht gezeigt wer‐ den, da »aus der Erfahrung niemals« (KrV, A 558/B 586) auf Gesetz‐ mäßigkeiten als das wirkliche Vermögen der transzendentalen Frei‐ heit geschlossen werden kann. Die Möglichkeit der Freiheit konnte hingegen deshalb nicht gezeigt werden, »weil wir überhaupt von kei‐ nem Realgrunde und keiner Kausalität aus bloßen Begriffen a priori die Möglichkeit erkennen können« (KrV, A 558/B 586). Während die Wirklichkeit eines bloßen Begriffs nur in Zusammenhang mit Erfahrung gezeigt werden kann, ist die Möglichkeit eines Begriffs durch eine mögliche Anwendung auf wirkliche Gegenstände bewie‐ sen. Am Beispiel der Kausalität zeigt sich, von Hume ausgehend, dass empirisch kein notwendiger Zusammenhang zwischen einer Wirkung und ihrer Ursache erkannt werden kann. Da es nicht mög‐

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lich ist zu erkennen, wie eine Ursache wirkt, können wir auch nicht erkennen, wie Kausalität möglich ist, sondern es muss davon ausge‐ gangen werden, »[...] daß eine solche vorausgesetzt werden müsse« (KrV, A 488/B 476). Dieses gilt sowohl für die Naturkausalität, die eine kohärente Erfahrung möglich macht, als auch für die Freiheit »als eines der Vermögen, welche die Ursache von den Erscheinun‐ gen unserer Sinnenwelt enthalte« (KrV, A 558/B 586). Dass ein Wesen aber Freiheit hat, ist nicht von der bewiesenen Wirklichkeit und Möglichkeit der Freiheit abhängig, sondern nur davon, dass sie sich wenigstens widerspruchslos denken lässt: Ob ich nun gleich meine Seele, von der letzteren Seite betrachtet, durch keine spekulative Vernunft, (noch weniger durch empirische Beobach‐ tung,) mithin auch nicht die Freiheit als Eigenschaft eines Wesens, dem ich Wirkungen in der Sinnenwelt zuschreibe, erkennen kann, darum weil ich ein solches seiner Existenz nach, und doch nicht in der Zeit, bestimmt erkenn müßte, (welches, weil ich meinem Begriffe, keine An‐ schauung unterlegen kann, unmöglich ist,) so kann ich mir doch die Freiheit denken, d.i. die Vorstellung davon enthält wenigstens keinen Widerspruch in sich [...]«. (KrV, B XXVIII).

Eben das hat die Auflösung der dritten Antinomie auf Grundlage des transzendentalen Idealismus leisten können. Was anfänglich, wie die Kopernikanische Planetenbewegung, zunächst nur als Hypothese formuliert war (KrV, BXXIII), durch die aber die »unsichtbare« Newtonsche Anziehungskraft entdeckt werden konnte, führte zu der folgenreichen Entdeckung der Moral. Um dem menschlichen Willen Freiheit zuschreiben zu können, geht das nur unter der notwendigen Voraussetzung der transzendentalen Freiheit. Obwohl die transzen‐ dentale Freiheit als »absolute Spontaneität« zu bezeichnen ist, die nicht aus der Erfahrung bestimmt und demzufolge auch nicht im Handeln erkannt werden kann, hat sie dennoch einen praktischen Einfluss auf das menschliche Handeln. Für das Problem der Zurech‐ nung ist die transzendentale Freiheit also von entscheidender Bedeu‐ tung.

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§ 5.3 Ursachenbestimmung und Handlungsbegründung

Unter der Voraussetzung des transzendentalen Idealismus konnte die transzendentale Freiheit neben der Natur widerspruchsfrei ange‐ nommen werden. Den Schlüssel zu dieser Auflösung liefert dabei der Ursachenbegriff, dem zwei Charaktere zugeschrieben werden können. Während der empirische Charakter der Ursache unter den unwandelbaren Naturgesetzen steht, die nicht durch Freiheit durch‐ brochen werden dürfen und können, ist der intelligible Charakter der Ursache von jeder zeitlichen Bestimmung freigesprochen. Die Ursache wird von zwei Perspektiven aus betrachtet: Zum einen soll sie das sinnliche Schema und zum anderen die transzendentale Ur‐ sache eines Ereignisses sein. Im dritten »erläuternden« Abschnitt der Auflösung muss im Besonderen der Frage nachgegangen wer‐ den, wie eine Ursache nicht nur aus theoretischer, sondern auch aus praktischer Sicht zugleich empirisch und intelligibel sein kann. Kant gibt zu, dass die »Unterscheidung, die, wenn sie im Allgemei‐ nen und ganz abstrakt vorgetragen wird, äußerst subtil und dunkel erscheinen muss«, verspricht jedoch, dass sie »sich aber in der An‐ wendung aufklären wird« (KrV, A 537/B 565). Das Anwendungsbei‐ spiel hierfür soll der Mensch sein, dem nicht nur ein empirischer Charakter, sondern auch ein intelligibler Charakter zugeschrieben werden kann.101 Um den Menschen als taugliches Beispiel für die Auflösung der Freiheitsantinomie gebrauchen zu können, muss aus‐ reichend »erläutert« werden, inwiefern die Ursachen menschlichen Handelns sowohl einen empirischen als auch intelligiblen Charakter aufweisen. Der Mensch als Naturding unterliegt in seinem Handeln, wie jede andere Wirkung in der Sinnenwelt, den empirischen Gesetzen und 101 Mit dem Beispiel deutet sich in der Auflösung gleichzeitig eine Themenver‐ schiebung an, da von der kosmologischen Freiheit, eingebettet in die Frage nach einem Weltanfang, zu einer praktischen Freiheit im handlungstheoreti‐ schen Sinne übergegangen wird. Dieser Übergang von der Kosmologie zur Moral scheint zunächst unvermittelt. Zwar wird im Auflösungsabschnitt nicht die Moral erörtert, denn diese Erörterung findet erst später im Kanon statt, da die »Vorschrift des Verhaltens« nicht im spekulativen Verstande, sondern in der praktischen Vernunft behandelt wird. Wenn es aber um die Willensfreiheit geht, dann setzt die Auflösung jedoch eine kosmologische Voraussetzung, ohne diese Ersteres nicht gedacht werden könnte, vgl. Höffe, O., Kants Kritik der reinen Vernunft: die Grundlegung der modernen Philosophie, S. 254.

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muss dementsprechend auch einen empirischen Charakter haben (vgl. KrV, A 546/B 574). Gleichzeitig wird davon ausgegangen, dass die Handlung eines Menschen aus einem bestimmten Handlungs‐ grund heraus erfolgt. Um einen solchen Handlungsgrund rechtfer‐ tigen zu können, muss ein intelligibler Charakter vorausgesetzt werden, sodass das menschliche Wesen neben seinen empirischen Bestimmungen »an sich selbst auch ein Vermögen hat, welches kein Gegenstand der sinnlichen Anschauung ist, wodurch es aber doch Ursache von Erscheinungen sein kann« (KrV, A 538/B 566). Was genau am menschlichen Wesen dieses Vermögen ist, das es als Ursache mit einem intelligiblen Charakter auszeichnet, soll in drei aufeinander aufbauenden Schritten erklärt werden. Der erste Schritt ist zu zeigen, dass dann, wenn Menschen Hand‐ lungen zugeschrieben werden, eine transzendentale Freiheit voraus‐ gesetzt werden muss. Sie gewährleistet für menschliche Handlungen, »daß obgleich etwas nicht geschehen ist, es doch habe geschehen sollen [...]« (KrV, A 534/B 562) und ist damit die Grundvorausset‐ zung für einen Handlungsgrund, da sie ansonsten allein durch die Naturkausalität notwendig bestimmt wäre und somit keine alternati‐ ve Handlung zulassen würde. Wie oben gezeigt, wird in dieser Inter‐ pretation die These vertreten, dass die transzendentale Freiheit als die Möglichkeit von Gesetzmäßigkeit verstanden werden kann. Alle Gesetzmäßigkeiten setzen die Möglichkeit verschiedener Gescheh‐ nisse voraus und regulieren diese, indem sie die Geschehnisse auf diejenigen beschränkt, die der Gesetzmäßigkeit folgen. Sollte es nur eine einzige Möglichkeit für ein Geschehnis geben, gäbe es nichts zu regulieren und ein Gesetz wäre überflüssig. Ein Beispiel wären Ge‐ setze im rechtlichen Sinne. Gäbe es keine Möglichkeit, ein bestimm‐ tes Gesetz zu brechen, dann würde ein solches Gesetz nie erlassen werden, da es schlichtweg nichts reguliert. Somit gewährleistet die Annahme einer transzendentalen Freiheit verschiedene Möglichkei‐ ten von Geschehnissen, auf die sich ein »Sollen« beziehen kann. Im zweiten Schritt wird gezeigt, dass nicht nur ein Sollen möglich ist, wie im ersten Schritt gezeigt, sondern auch die Möglichkeit besteht, nach diesem Sollen zu handeln. Kant macht darauf auf‐ merksam, dass dem Menschen im Gegensatz zum Tier ein »Vermö‐ gen beiwohnt, sich, unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe, von selbst zu bestimmen« (KrV, A 534/B 562). Dieses Vermögen, den Grund seiner Handlung unabhängig von sinnlichen

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§ 5. Auflösung der dritten Antinomie

Antrieben zu bestimmen, wird die freie oder menschliche Willkür genannt. Den Tieren kommt zwar auch eine Willkür zu, wobei diese »nur durch Neigung (sinnlichen Antrieb, stimulus) bestimmbar« (MS, 213) ist. Bei einem Wesen, das über eine tierische Willkür verfügt, dessen Handlungen nur auf die Befriedigung seiner Neigun‐ gen ausgerichtet sind, gibt es keinen Grund, ihre Wirkungen nicht anders als empirisch zu erklären. Die leblose und tierischbelebte Na‐ tur kommt daher kein intelligibler Charakter zu: »Bei der leblosen, oder bloß tierischbelebten Natur, finden wir keinen Grund, irgend‐ ein Vermögen uns anders als bloß sinnlich bedingt zu denken.« (KrV, A 546/B 574). Während die tierische Willkür also nur ein arbitrium brutum ist, ist die menschliche Willkür zwar auch sinnlich (»arbitrium sensitivum«), wobei sie nicht durch Neigung necessiert, sondern affiziert wird. Die menschliche Willkür ist damit »nicht brutum, sondern liberum« (KrV, A 534/B 562). Der Mensch ist im Unterschied zum Tier nicht durch seine Begierden determiniert und kann sich diesen, aus welchen Beweggründen auch immer, widerset‐ zen. Die freie Willkür des Menschen wird später im dritten Auflö‐ sungsabschnitt nicht nur negativ, sondern auch positiv beschrieben: Mit der »Unabhängigkeit von empirischen Bedingungen« wird die negative Freiheit bezeichnet, während die zweite positive Freiheit »ein Vermögen« meint, »eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen« (KrV, A 554/B 582). Die freie Willkür des Menschen zeichnet sich zum einen also durch die Unabhängigkeit der sinnli‐ chen Antriebe und zum anderen durch die Selbstbestimmung aus. Da nun die Möglichkeit eines Sollens und die Möglichkeit nach diesem Sollen zu handeln, gegeben sind, fehlt nur noch das Vermö‐ gen, sich ein solches Sollen zu setzen. Im Gegensatz zu Naturhand‐ lungen, deren Ursachen immer Erscheinungen sein müssen und nur als solche bestimmt werden können, liegt dem Sollen keine Erschei‐ nung zugrunde: Dieses Sollen nun drückt eine mögliche Handlung aus, davon der Grund nichts anders, als ein bloßer Begriff ist; da hingegen von einer bloßen Naturhandlung der Grund jederzeit eine Erscheinung sein muß. (KrV, A 547/B 575).

Das Sollen kann empirisch nicht bestimmt werden, da es keine Tatsachen, sondern immer nur »mögliche Handlungen« beschreibt. Überdies hat das Sollen der Imperative keinen Einfluss auf »den Lauf der Natur« (KrV, A 547/B 575) und ist also von den Naturgeset‐

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zen unabhängig. Da dieses Sollen also »in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt« (KrV, A 547/B 575) und über die empirischen Bedingungen hinausgeht, ist es dem Verstand auch nicht möglich, ein solches Sollen in der Natur einzusehen (vgl. KrV, A 547/B 575). Schließlich kann der Verstand nur erkennen, »was da ist, oder gewe‐ sen ist, oder sein wird« (KrV, A 547/B 575). Naturgeschehnisse so‐ wie mathematische Aussagen können keinem Sollen unterliegen, da sie sonst ihre Notwendigkeiten abgesprochen bekommen würden. Zwar können Naturbedingungen durch die sinnlichen Reize das menschliche Wollen beeinflussen, sie können aber niemals ein Sol‐ len hervorrufen. Nur die Vernunft, die »Maß und Ziel, ja Verbot und Ansehen entgegen setzt« (KrV, A 548/B 576), kann ein solches Sollen aussprechen. Obwohl die Wirkungen einer Handlung, die aus einem Sollen heraus geschieht, den Naturbedingungen unterliegen, »gibt die Vernunft nicht demjenigen Grunde, der empirisch gegeben ist« (KrV, A 548/B 576).102 Die Vernunft gibt demnach eigene Gründe zur Handlung auf, die gerade keiner Naturordnung, sondern einer durch die Vernunft selbst gemachten »Ordnung nach Ideen« (KrV, A 548/B 576) folgen. Während das Sollen der Vernunft in der Natur nicht notwendig bestimmt werden kann, kann durch die Vernunft eine Handlung aber für notwendig erklärt werden, »die doch nicht geschehen sind und vielleicht nicht geschehen werden« (KrV, A 548/B 576). Jede Handlung, die geschieht, steht zwar einerseits unter der Naturordnung, wobei sie gleichzeitig auch aus Vernunft heraus geschehen kann. Als Vernunftwesen ist der Mensch damit nicht allein dazu in der Lage, sich selbst Imperative aufzugeben, sondern ist auch fähig, nach diesen zu handeln: Dass diese Vernunft nun Kausalität habe, wenigstens wir uns derglei‐ chen an ihr vorstellen, ist an den Imperativen klar, die wir in allem Praktischen den ausübenden Kräften als Regeln aufgeben. (KrV, A 547/B 575).

Imperative sind Sollenssätze, die wir uns als Regeln aufgeben und damit »eine Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen ausdrücken, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt« (KrV, A 547/B 575). 102 »[...] sie, die Vernunft, wird aber darum nicht selbst durch die Sinnlichkeit bestimmt (welches unmöglich ist), und ist daher auch in diesem Falle frei.« (Prol., 346).

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Die menschliche Handlung kann als Ergebnis dieser dreistufigen Untersuchung aus zwei Perspektiven betrachtet werden: Zum einen sind dem Grund seines Handelns ein empirischer und zum anderen ein intelligibler Charakter in Form von Imperativen zuzuschreiben. Damit stehen die Imperative, die sich der Mensch setzt, auf der‐ selben Ebene wie die Naturgesetze. Dies ermöglicht es, Handlungs‐ gründe auf dieselbe Art und Weise zu ergründen wie Naturursachen. Analog zur Bestimmung von Naturursachen in den Wissenschaf‐ ten besteht das Problem darin, dass Handlungsgründe intelligibel und damit nicht direkt zugänglich sind: »In allem diesem verfährt man, wie überhaupt in der Untersuchung der Reihe bestimmender Ursachen zu einer gegebenen Naturwirkung« (KrV, A 554/B 582). Auf Handlungsgründe kann nur indirekt mithilfe des Verhältnisses zwischen ihrem empirischen und intelligiblen Charakter geschlos‐ sen werden. Das Verhältnis zwischen intelligiblem und empirischem Charakter ist in der Weise definiert, als dass das Erstere die »trans‐ zendentale Ursache« und das Zweite das »sinnliche Schema« des ersteren ist. So wie nun von der Bewegung der Planetenbahn als dem sinnlichen Zeichen des empirischen Charakters auf die transzenden‐ tale Gesetzmäßigkeit geschlossen wird, muss es möglich sein, über die Beobachtung der menschlichen Handlungen Rückschlüsse auf seinen intelligiblen Charakter ziehen zu können: So hat denn jeder Mensch einen empirischen Charakter seiner Willkür, welcher nichts anders ist, als eine gewisse Kausalität seiner Vernunft, so fern diese an ihren Wirkungen in der Erscheinung eine Regel zeigt, danach man die Vernunftgründe und die Handlungen derselben nach ihrer Art und ihren Gnaden abnehmen, und die subjektiven Prinzipien seiner Willkür beurteilen kann. (KrV, A 549/B 577).

Die subjektiven Prinzipien oder Maximen müssen in der gleichen Weise beurteilt werden können wie auch naturbedingte Ereignisse, sofern sie eine Regelmäßigkeit in ihren Wirkungen aufzeigen. So‐ wohl für die Natur- und Vernunftordnung gilt, dass ihre Ursache einer Regel unterliegen muss und damit ein Gesetz ihrer Kausalität erfordern. Wenn die Vernunft also auch einen empirischen Charak‐ ter hat, dann »[...] [hängen] in beiden Fällen die Wirkungen nach beständigen Gesetzen zusammen« (Prol., 346), die sich in der Er‐ scheinung zeigen müssen. Da jede Ursache »eine Regel voraussetzt« (KrV, A 549/B 577) und »jede Regel eine Gleichförmigkeit der Wir‐

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kungen erfordert« (KrV, A 549/B 577), kann über die Beobachtung der Wirkung eine transzendentale Ursache bestimmt werden. Dies ist indirekt dadurch möglich, dass »ein anderer intelligibler Charak‐ ter einen anderen empirischen Charakter gegeben haben [würde]« (KrV, A 556/B 584).103 Somit lässt sich gewissermaßen durch ein Ausschlussverfahren eine Ursache bestimmen, indem man sich die Frage stellt, ob eine Wirkung auch dann eingetreten wäre, wenn eine bestimmte Ursache nicht gewirkt hätte. Ist dies der Fall, lässt sich diese Ursache als Grund der Wirkung ausschließen. Diese Herange‐ hensweise wird auch kontrafaktische Ursachenbestimmung genannt. Kontrafaktische Theorien gehen davon aus, dass ein x eine Ursache von y ist in der Form, als dass dann, wenn x nicht gegeben wäre, auch y nicht eingetreten wäre. Es werden also mögliche Aussagen über die Welt getroffen, die nicht geschehen oder nicht geschehen sind. Der Satz »Das Glas wäre nicht zerbrochen, wenn ich es nicht losgelassen hätte« ist ein gängiges Exemplar für ein solches kontraf‐ aktisches Konditional. 103 Von diesem Satz ausgehend, wird darauf geschlossen, dass sich auch jeder Mensch durch einen anderen intelligiblen Charakter auszeichnet, dessen in‐ dividuelle Eigenschaften im empirischen Handeln hervorgehen. Um Hand‐ lungen zurechnen zu können, zeichnet sich also jeder Mensch durch einen anderen Charakter aus, der ihm vor jeder Handlung zugesprochen wird. Scho‐ penhauer und Wood sprechen hier von einer Charakterwahl im Platonischen Sinne, wonach die Menschen also bereits vor der Geburt ihren intelligiblen Charakter wählen, vgl. Wood, A. W., Kant’s Compatibilism, S. 92. Eine solche Lesart wird der Moralphilosophie Kants jedoch nicht gerecht, müsste doch jede Handlung bereits vorherbestimmt sein und der Kategorische Imperativ in seiner Zwecksetzung für sinnlos erklärt werden. Vielmehr bezieht sich hier »intelligibler Charakter« auf den intelligiblen Charakter der Ursache des menschlichen Handelns. In diesem Sinne ist dem Lügner notwendigerweise eine Ursache zuzuschreiben, die die Lüge bewirkt, so wie den Planetenbah‐ nen notwendigerweise das Gravitationsgesetz als Ursache vorhergehen muss. Warum gerade diese Ursache das Lügen hervorbringt, kann genauso wenig beantwortet werden wie die Frage, warum gerade das Gravitationsgesetz die Ursache für die Bewegung der Planetenbahn ist: »Warum aber der intelligible Charakter gerade diese Erscheinungen und diesen empirischen Charakter un‐ ter vorliegenden Umständen gebe, das überschreitet so weit alles Vermögen unserer Vernunft es zu beantworten, ja alle Befugnis derselben nur zu fragen [...].« (KrV, A 557/B 585). Vgl. hierzu Ertl, W., Kants Auflösung der »dritten Antinomie«, S. 165ff. Entscheidend für die Zurechnung ist hierbei nur, dass er es tut und gleichzeitig die Möglichkeit hatte, nicht zu lügen.

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Ein Beispiel liefert Kant in der Auflösung der Antinomie anhand der Lüge. Die Bestimmung des Handlungsgrundes eines Lügners erfolgt zunächst grundsätzlich über seinen empirischen Charakter. Dazu werden all die äußeren Bedingungen in Erwägung gezogen, die ein solches Verhalten, wie das der Lüge, rechtfertigen können. Kant zählt hier folgende Beurteilungskategorien auf: Mögliche Er‐ klärung für sein Verhalten könnten die schlechte Erziehung, eine üble Gesellschaft, sein Naturell usw. liefern. Zwar lässt sich empi‐ risch durch die Analyse des Lebenslaufs einer bestimmten Person das Verhalten erklären, dieses gibt aber nicht Grund genug, ihm die Handlung des Lügens zuzurechnen oder ihn dafür zu tadeln. Sie wären schließlich nur Rechtfertigungsgründe. Der Tadel des Tä‐ ters gründet vielmehr auf der Annahme der freien Willkür, die in der menschlichen Natur vorhanden ist, und zeigt, dass dieser auch hätte anders handeln können.104 Somit sind keine der aufgezählten Bedingungen, unter denen der Lügner steht, letztlich Ursachen sei‐ ner Handlung. Die Handlung kann in seinem vollen Umfang dem Handelnden zugerechnet werden, unabhängig von den empirischen Bedingungen: [...] die Handlung wird seinem intelligiblen Charakter beigemessen, er hat jetzt, in dem Augenblicke, da er lügt, gänzliche Schuld; mithin war die Vernunft unerachtet aller empirischen Bedingungen der Tat, völlig frei, und ihrer Unterlassung ist diese gänzlich beizumessen. (KrV, A 555/B 583).

Da die Zurechnung von Handlung immer von empirischen Kriteri‐ en abhängt, kann auch die Transzendentalphilosophie nicht in vol‐ lem Umfang eine Lösung für das Zurechnungsproblem anbieten.105 In einer Fußnote betont Kant daher ausdrücklich, dass die morali‐ sche Zurechnung von Handlungen (ebenso wie die Bestimmung von 104 Der Mensch hätte anders und damit nach Vernunft handeln können. Eine böse Handlung, wie die einer boshaften Lüge, ist eben unter dem Gesichtspunkt, dass man sie auch hätte lassen können, allererst böse: »Eine [...] an sich böse Handlung, die man unterlassen sollte, ist darum eben böse, weil wir sie ohne einen objektiv (sc. der Vernunftgesetzlichkeit gemäßen) zureichenden Grund tun; und der Wille ist böse, weil er subjektiv (sc. in seinen »Maximen«) nidit durch eben dieselbe Regel bestimmt wird.« (AA 18:254, Nr. 5613). 105 »Denn die Frage, ob der Angeklagte bei seiner That im Besitz seines natürlich Verstands-Beurtheilungsvermögens gewesen sei, ist gänzlich psychologisch [...]«. (AA 7:213f.).

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Naturursachen) weder aus Selbst- noch aus Fremdbeobachtung mit einer absoluten Evidenz möglich ist: Die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) bleibt uns daher, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verbor‐ gen. Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen werden. Wie viel aber davon reine Wirkung der Freiheit, wie viel der bloßen Natur und dem unverschuldeten Fehler des Tempera‐ ments, oder dessen glücklicher Beschaffenheit (merito fortunae) zuzu‐ schreiben sei, kann niemand ergründen, und daher auch nicht nach völliger Gerechtigkeit richten. (KrV, A 551/B 579)106.

Zwar ist es möglich, durch Beobachtung des empirischen Charakters Gründe zu finden, warum der Mensch in der jeweiligen Handlung entsprechend gehandelt hat, indem man beispielsweise Rückschlüsse auf seine Biografie zieht. Es besteht aber immer die Möglichkeit, dass die Handlung auch durch »reine Wirkung der Freiheit« gesche‐ hen ist. In welchem Maße aber die Handlung dem empirischen Charakter und dem intelligiblen Charakter zuzuschreiben ist, »kann niemand ergründen«. Dieses Wissen bleibt sowohl den Beobachten‐ den als auch dem Handelnden selbst »verborgen«. Denn dieses wäre nur mit Einsicht in den intelligiblen Charakter möglich, sodass der moralische Wert von Handlungen nicht »nach völliger Gerechtig‐ keit« bestimmt werden kann.

106 In der »Metaphysik der Sitten« bietet Kant mithilfe eines Ausschlussverfahrens an, wieviel eine Handlung aus Freiheit oder bloßen Natur bestimmt sein kann: »Subjectiv ist der Grad der Zurechnungsfähigkeit (imputabilitas) der Handlungen nach der Größe der Hindernisse zu schätzen, die dabei haben überwunden werden müssen. – Je größer die Naturhindernisse (der Sinnlich‐ keit), je kleiner das moralische Hinderni[s] (der Pflicht), desto mehr wird die gute That zum Verdienst angerechnet; z. B. wenn ich einen mir ganz fremden Menschen mit meiner beträchtlichen Aufopferung aus großer Noth rette. Dagegen: je kleiner das Naturhinderniß, je größer das Hinderni[s] aus Gründen der Pflicht, desto mehr wird die Übertretung (als Verschuldung) zugerechnet.« (AA 06:228) In jedem Fall wird die Handlung dem Menschen zugeschrieben, ist es jedoch hier nur die Frage, wie viel Schuld und vor allem wie viel Verdienst ihm zugesprochen werden kann.

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§ 6. Exkurs: Praktische und transzendentale Freiheit im »Kanon«

§ 6. Exkurs: Praktische und transzendentale Freiheit im »Kanon« Im Folgenden werde ich zeigen, dass die Annahme einer transzen‐ dentalen Freiheit nicht nur in kosmologisch-spekulativer, sondern auch in praktischer Hinsicht relevant ist. Hinsichtlich des »Kanons« der Methodenlehre der ›Kritik der reinen Vernunft‹ ist diese The‐ se nicht ganz unproblematisch. Wird im Dialektik-Abschnitt zwar noch behauptet, dass mit der »Aufhebung« der transzendentalen Freiheit auch die praktische Freiheit »vertilg[t]« (KrV, A 364/B 562) wäre, heißt es entsprechend dem Kanon-Abschnitt, dass die »Fra‐ ge wegen der transzendentalen Freiheit [...] gleichgültig beiseite« (KrV, A 803/B 831) gesetzt werden kann. Einige Interpreten erklären diese vermeintlich unvereinbaren Behauptungen Kants damit, dass die beiden Kapitel aus verschiedenen Entwicklungsphasen stammen und im veröffentlichten Werk zusammengeflickt wurden, was zuwei‐ len als die »Patchwork-Theory« bezeichnet wird.107 Während also der Kanon-Abschnitt Kants vorkritischer Zeit zugeschrieben wird, finden sich erst im Dialektik-Abschnitt seine kritischen Einsichten wieder. Einen alternativen Lösungsvorschlag, nach dem die beiden Abschnitte in keinem Widerspruch zueinander stehen, sondern sich nur auf verschiedene Gegenstandsbereiche beziehen, werde ich in diesem Beitrag leisten. In der Literatur wird als häufiges Gegenargument zur »Patch‐ work-Theory« die Tatsache vorgebracht, dass Kant in der zweiten Auflage der ›Kritik der reinen Vernunft‹ den Kanon-Abschnitt kei‐ ner weiteren Revision unterzog und vorhandene Unstimmigkeiten

107 Vgl. Kemp Smith, N., A Commentary to Kant’s ›Critique of Pure Reason‹, S. 569f. Auch Kawamura vertritt die These, dass das Problem der Freiheit verschiedenen Schaffensperioden angehört und und daher zu verschiedenen Lösungsmodellen geführt hat, Kawamura, K., Spontaneität und Willkür, S. 156. Vgl. außerdem Schönecker, D., Kants Begriff transzendentaler und praktischer Freiheit: Eine entwicklungsgeschichtliche Studie, der eine »gemäßigte Patch‐ work-These« vertritt und davon ausgeht, dass Kant im Kanon noch ältere Thesen vertritt, die mit anderen Thesen innerhalb der »Kritik der reinen Vernunft« kollidieren. Vgl. kritisch hierzu Geismann, G., Zur Rolle der Freiheit in Kants (Moral-) Philosophie, S. 386–422.

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zum Dialektik-Abschnitt vorab ausgeräumt hätte.108 Abgesehen da‐ von, dass Kant seine Revision auch aus zeitlichen Gründen nicht be‐ enden konnte, ist in systematischer Hinsicht eine Übereinstimmung beider Abschnitte zu vermerken. Kant spricht beide Male in der gleichen Bedeutung von der transzendentalen und praktischen Frei‐ heit:109 Die transzendentale Freiheit wird demnach in Abgrenzung zur praktischen Freiheit als etwas bestimmt, das »eine Unabhängig‐ keit dieser Vernunft selbst (in Ansehung ihrer Kausalität, eine Reihe von Erscheinungen anzufangen,) von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt fordert« (KrV, A 803/B 831). Die »Freiheit im prakti‐ schen Verstande« wird entsprechend der beiden Abschnitte als »freie Willkür« (KrV, A 534/B 562) verstanden, die im Gegensatz »un‐ abhängig von sinnlichen Antrieben, mithin durch Bewegursachen, welche nur von der Vernunft vorgestellt werden, bestimmt werden kann« (KrV, A 802/B 830). Die menschliche Willkür ist ein arbitri‐ um liberum, da dem Menschen ein Vermögen innewohnt, »sich von selbst zu bestimmen« (KrV, A 534/B 562). Im Gegensatz zum Tier, dessen Willkür nur ein arbitrium brutum ist, kommt ihm daher die Fähigkeit zu, sein Handeln nach selbstbestimmten Zwecken zu richten und dieses damit entweder aus sinnlichen oder vernünftigen Bewegursachen ausrichten zu können. Zwar wird alles das, was mit der freien Willkür, »es sei als Grund oder Folge, zusammenhängt« (KrV, A 802/B 830), praktisch genannt, das Handeln nach vernünfti‐ gen Zwecken gilt jedoch als die eigentliche moralische Praxis. Zwar spricht diese Übereinstimmung zunächst für die Kompa‐ tibilität von Kanon und Dialektik, wobei das Problem und die vermeintliche Widersprüchlichkeit zwischen Kanon und Dialektik damit jedoch noch nicht gelöst sind. Für die Vereinbarkeit der bei‐ den Abschnitte muss nämlich gezeigt werden, dass einerseits i) dem Kanon nach die praktische Freiheit durch Erfahrung und damit ohne transzendentale Freiheit erkannt und bewiesen werden kann, während sie aber andererseits ii) der Dialektik nach gleichzeitig 108 Vgl. Ertl, W., Kants Auflösung der »dritten Antinomie«, S. 126. Bojanowski fügt überdies noch ein zweites Argument hinzu, das gegen eine Flickwerk-Theorie spricht, und verweist dafür auf die Schulz-Rezension von 1783. In dieser betont Kant auch zwei Jahre nach der »Kritik der reinen Vernunft« erneut die Un‐ abhängigkeit der praktischen Freiheit von der transzendentalen Freiheit. Vgl. Bojanowski, J., Kants Theorie der Freiheit, S. 199. 109 Vgl. Allison, H. E., Kant’s Theory of Freedom, S. 55.

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§ 6. Exkurs: Praktische und transzendentale Freiheit im »Kanon«

auf der transzendentalen Idee der Freiheit gründen muss. Zunächst können wir mit Bezug auf unser eigenes und alltägliches Handeln das Vermögen einer praktischen Freiheit selbst erfahren. Denn wir erkennen unsere praktische Freiheit allein darin, dass wir nicht nur unabhängig von sinnlichen Antrieben, sondern auch durch vernünf‐ tige Bewegursachen unser Handeln bestimmen können: Ebenso, wie ich aus gesundheitlichen Gründen auf eine Süßigkeit verzichten kann. Dem Menschen kommt damit das Vermögen zu, nach einem Zweck zu handeln, der »in Ansehung unseres ganzen Zustands be‐ gehrungswert, d.i. gut und nützlich ist« (KrV, A 802/B 830) selbst gesetzt wird. Dazu müssen wir uns nicht erst die Idee einer transzen‐ dentalen Freiheit vorstellen, aus der wir von selbst anheben können, zu handeln. Wenn es also um die Praxis des Menschen geht, interes‐ siert die Frage nach der transzendentalen Freiheit nicht und kann in dieser Hinsicht ausgeklammert werden. Der Freiheitsbegriff bei Kant wird in der Dialektik und im Kanon demnach aus zwei Perspektiven diskutiert: Zum einen aus der Per‐ spektive der spekulativen und zum anderen aus der der praktischen Philosophie. Ob also die Willkür in derselben Handlung durch anderweitige Einflüsse bestimmt sei und in »Ansehung höherer und entfernterer wirkenden Ursachen nicht wiederum Natur sein möge« (KrV, A 803/B 831), ist keine praktische Frage. Denn »im Praktischen« befragen wir die Vernunft lediglich »um die Vorschrift des Verhaltens«, das heißt nach dem, »was zu tun sei« (KrV, A 800/B 828). Wenn es um das »Tun und Lassen« geht, dann sind weniger die vorausgegangenen Ursachen als vielmehr der Zweck, nach dem sich unsere Handlung richten soll, von Bedeutung. Kant verweist daher im Kanon-Abschnitt darauf, dass das Problem der transzendentalen Freiheit als »oben abgetan bei Seite« (KrV, A 801/B 829f.) gesetzt werden kann, obwohl hier von keiner Relativierung der selbigen Freiheit auszugehen ist. Es wird lediglich zum Ausdruck gebracht, dass der Gegenstandsbereich der transzendentalen Freiheit in der spekulativen Philosophie liegt. In dieser Hinsicht bleibt sie auch ein »Problem«, weil die Freiheit nur als eine transzendentale Idee behandelt werden konnte, die »dem Naturgesetze, mithin aller möglichen Erfahrung zuwider zu sein scheint« (KrV, A 803/B 831) und weder ihre Wirklichkeit noch Möglichkeit aufgezeigt werden konnten.

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Daraus ist jedoch nicht der Schluss zu ziehen, dass die Ergebnis‐ se der Dialektik für den Kanon irrelevant sind. Um mit Beck zu argumentieren, ist sogar davon auszugehen, dass Kant auch im Ka‐ non die transzendentale Freiheit als die Bedingung der praktischen Freiheit versteht.110 In der Dialektik betont Kant bereits die notwen‐ dige Annahme der transzendentalen Freiheit auch in moralischer Hinsicht, indem sie »den eigentlichen Grund der Imputabilität« ausmacht. Wäre der Widerspruch zwischen Natur und Freiheit in der dritten Antinomie nicht aufgelöst worden, dann wäre der Grund einer Handlung wie bei einer Naturursache auch durch das zeitlich ihr Vorhergehende bestimmt: Alle Handlungen stehen also unter dem Prinzip des Determinismus: nur man kann sie nur dann praedeterminiert nennen, wenn die Gründe der Handlung in der vorigen Zeit anzutreffen sind; das Gegentheil aber muß man annehmen, wenn die Gründe der Handlung nicht praedeter‐ miniert sind, sondern der Handelnde Urheber und vollständige Ursache seiner Handlung ist. Im ersteren Fall ist die Handlung nicht in seiner Gewalt, in letzterem Fall bestimmt sich der Handelnde lediglich allein selbst zur Handlung ohne Zutritt äußerer Ursachen. (AA 27: 504).

Kant fasst dieses Problem unter den Begriff des »Prädeterminismus« zusammen, nach dem also Handlungen genau dann prädeterminiert sind, wenn auch die Gründe der Handlungen zeitlich bedingt sind und unter dem Naturgesetz liegen. Auf diese Weise kann eine Hand‐ lung, in der ein Mensch einen anderen totschlägt, auch nur als ein unter den Naturgesetzen stehendes bestimmendes Ereignis verstan‐ den werden (vgl. ebd.). Der Totschlag wird als natürliches Ereignis aufgefasst, das durch ein zeitlich vorhergehendes vorherbestimmt ist. Die Handlung kann dem Handelnden nicht zugerechnet werden, weil er nicht als »Urheber« oder als »vollständige Ursache« betrach‐ tet werden kann, da die Handlung nicht in seiner »Gewalt« lag und damit auch nicht die Auswirkungen seiner Tat hätte beeinflus‐ sen können. Beabsichtigt man, die Handlung also in ihrem vollen Umfang zuzurechnen, dann muss man annehmen können, dass die »Gründe der Handlung nicht prädeterminiert sind« und unabhän‐ gig von Naturursachen von dem Handelnden selbst bestimmt wer‐ den können. Ein Handeln, das uns selbst und nicht der Natur zuge‐ schrieben werden kann, das heißt »ohne Zutritt äußerer Ursachen« 110 Vgl. Beck, L. W., A Commentary on Kant’s Critique of Practical Reason, S. 190.

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§ 6. Exkurs: Praktische und transzendentale Freiheit im »Kanon«

selbstbestimmt ist, kann nur unter der Idee der transzendentalen Freiheit gedacht werden. Unter der Voraussetzung der transzenden‐ talen Idee der Freiheit kann nämlich an dem vernünftigen Wesen ein Vermögen gedacht werden, »eine Reihe von Zuständen von selbst anzufangen« (Prol., 346). Es obliegt aber der spekulativen Philoso‐ phie aufzuzeigen, dass bei ein und derselben Handlung zugleich Natur und Freiheit widerspruchsfrei angenommen werden können, weshalb Kant nicht zuletzt deswegen im Kanon auf die Auflösung der dritten Antinomie innerhalb der Dialektik verweist. Einen Beweis der transzendentalen Idee der Freiheit konnte Kant jedoch nicht erbringen und daher ein Problem für die spekulative Philosophie bleibt, das die Freiheit in praktischer Hinsicht hingegen nicht tangiert: Alle diese speculative Betrachtungen der Widersprüche schaden aber nicht dem practischen Begriff der Freiheit. Denn dieser sieht nicht, wie etwas geschieht, sondern daß es geschehen soll, und sollen setzt Freiheit voraus. [...] Alle diese Streitigkeiten über den transcendentalen Begriff der Freiheit haben auf das Practische keinen Einfluß. Denn da sehe ich nicht auf die oberste Ursache, sondern auf den letzten Zweck. (AA 29: 903).

Die Streitigkeiten über die transzendentale Freiheit haben keinen Einfluss auf die praktische Freiheit, weil Ersteres mit einem Problem konfrontiert ist, das Zweitere nicht interessiert. Denn in der Praxis geht es nicht um die Bestimmung der obersten oder unbedingten Ursache, sondern um den letzten Zweck. Während im ersten Fall zur Erklärung einer Handlung die Ursachen der Kausalreihe vollständig bestimmt werden müssen, geht es im zweiten Fall um den Zweck der Handlung, das heißt um das, was zukünftig passieren soll.111 Das Handeln wird demnach nicht durch Naturursachen, sondern durch objektive Vernunftgründe bestimmt, »welche sagen, was geschehen soll, ob gleich es vielleicht nie geschieht« (KrV, A 802/B 830). Diese praktischen Gesetze, »welche Imperativen, d.i. objektive Gesetze der Freiheit sind« (KrV, A 802/B 830), unterscheiden sich demnach von den Naturgesetzen, »die von dem handeln, was geschieht«. Während in praktischer Hinsicht also ein Handeln nach praktischen Gesetzen vorausgesetzt wird, werden in theoretischer Hinsicht die Bedingun‐ 111 Vgl. Geismann, G., Kant über Freiheit in spekulativer und in praktischer Hin‐ sicht, S. 294.

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gen dargelegt, unter denen die praktische Freiheit angenommen werden kann. Da die praktischen Gesetze keine Naturgesetze sind, muss von einer Unabhängigkeit der Natur ausgegangen werden, was nur unter der Voraussetzung einer transzendentalen Freiheit denkbar ist. Will man also die Möglichkeit der praktischen Freiheit erklären, dann führt dies zwangsläufig zu der Frage nach der trans‐ zendentalen Freiheit, die in spekulativer Hinsicht aber ein Problem bleibt. Diesen Standpunkt vertritt auch Kant im Abschnitt der Dia‐ lektik. Zusammenfassend kann also zu der Frage, inwieweit die trans‐ zendentale Freiheit gleichzeitig die Voraussetzung und dennoch im Praktischen irrelevant ist, folgende Feststellung getroffen werden: Die transzendentale Freiheit als die Möglichkeit für Prinzipien über‐ haupt ist die Voraussetzung für ein Sollen. Denn dann, wenn keine Prinzipien gegeben oder möglich sind, ist unklar, was man tun soll. Wie diese Möglichkeit von Prinzipien aus den Naturprinzipien heraus erwächst, ist das ungelöste Problem der dritten Antinomie, das nur beispielhaft mittels des Menschen aufgelöst wurde. Da aber bereits durch die Existenz des Menschen und die Möglichkeit, sich Prinzipien denken zu können, gezeigt ist, dass dieses Problem zu lö‐ sen ist, spielt die Frage nach dem Wie für die Praxis keine Rolle. Da‐ mit interessiert uns einerseits im alltäglichen Leben die Frage nach der transzendentalen Freiheit zwar nicht, wobei sie andererseits nur unter ihrer Voraussetzung überhaupt eine Legitimation erhält.

ii. Ergebnis des zweiten Kapitels Wie im ersten Kapitel dieser Arbeit dargelegt, konnte Kant zwar im Gegensatz zu Hume eine Notwendigkeit in der Ursache deduzieren, woraus sich einerseits der Vorteil, die Denkbarkeit der transzenden‐ talen Idee der Freiheit ergibt, aber andererseits der Nachteil eines Widerspruchs zwischen ihr und der Natur erwächst. Dieser Wider‐ spruch ist dabei ohne die Voraussetzung der Transzendentalphiloso‐ phie unmöglich zu lösen, ohne sich, wie in der dritten Antinomie dargelegt wurde, auf die Seite des Skeptizismus oder Dogmatismus zu stellen. Die Auflösung dieses Widerspruches verfolgt den Ansatz, zwischen nicht-zeitlichen und zeitlichen Reihen zu unterscheiden, sodass die zeitlichen Reihen allein durch Natur bestimmt sind, aber

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ii. Ergebnis des zweiten Kapitels

nicht-zeitliche Reihen durch Freiheit. Damit wäre der Widerspruch aufgelöst, weil sich Natur und Freiheit auf unterschiedliche Gegen‐ standsbereiche beziehen. Der Begriff der Ursache spielt in der Auflösung der dritten Anti‐ nomie eine essenzielle Rolle: Denn Kant setzt einen doppelten Cha‐ rakter der Ursache voraus und unterscheidet hier zwischen ihrem intelligiblen und empirischen Charakter. Inwiefern Kant diesen dop‐ pelten Charakter rechtfertigt, wurde in § 5.2 dieser Arbeit diskutiert. Während der empirische Charakter der Ursache unter zeitlichen und damit unter naturkausalen Bedingungen steht, ist der intelligi‐ ble Charakter einer Ursache unabhängig von zeitlichen Bedingun‐ gen zu betrachten und damit frei. Diese doppelte Perspektive und der zeitlose Charakter, aus der wir eine Ursache betrachten können, sind nicht nur wesentlich, um widerspruchsfrei eine transzendentale Freiheit zu denken. Diese müssen sogar vorausgesetzt werden, wenn wir überhaupt Naturgesetze annehmen wollen. Aus meiner Analyse hat sich herausgestellt, dass die Auflösung in‐ sofern notwendig war, als dass die Idee der Freiheit eine notwendige Bedingung von Gesetzmäßigkeiten ist, sowohl in erkenntnistheoreti‐ scher als auch in praktischer Hinsicht. Obwohl Kant in spekulativer Hinsicht weder die Wirklichkeit noch die Möglichkeit der Freiheit gezeigt hat, wird in praktischer Hinsicht die objektive Realität der Freiheit aus dem durch das Faktum gegebenen moralischen Gesetz folgen. Dieses macht schließlich den »Schlussstein« in Bezug auf die Freiheitsproblematik aus.

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Teil 2 Wille und Gesetz

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III. Der reine Wille

§ 7. Die Bestimmung des reinen Willens In der Natur sind Regelmäßigkeiten auf Grundlage von Schemata zu erkennen: Wir können etwa die Bewegung von Planeten auf bestimmten Bahnen beobachten. Ausgehend von diesen Regelmä‐ ßigkeiten, schließen wir darauf, dass sich die Planeten notwendiger‐ weise in diesen bestimmten Bahnen bewegen müssen und der Bewe‐ gung damit eine Gesetzmäßigkeit zugrunde gelegt ist. Inwiefern sich die Annahme dieser Gesetzmäßigkeit rechtfertigen lässt, ist, wie im vorigen Kapitel dargestellt, zunächst unklar, da sich aus empirischen Tatsachen Gesetzmäßigkeiten aufgrund ihrer enthaltenen Notwen‐ digkeit nicht ableiten lassen. Wie wir gesehen haben, stellt Kant in der dritten Antinomie heraus, dass nur unter der Annahme einer transzendentalen Freiheit Gesetzmäßigkeiten in der Natur denkbar sind. In spekulativer Hinsicht kann die transzendentale Freiheit also angenommen werden, ohne mit der Naturkausalität im Widerspruch zu stehen. Darüber hinaus ist sie als Bedingung für Gesetzmäßigkei‐ ten überhaupt auch Bedingung für das moralische Gesetz und bildet somit ein Scharnier zwischen Kants praktischer und theoretischer Philosophie. Gegenüber der theoretischen Philosophie zeigt sich nun in prak‐ tischer Hinsicht, dass das Verhältnis zwischen Freiheit und dem Sit‐ tengesetz nicht in gleicher Weise bestimmt werden kann. Auch hier ist zwar die transzendentale Freiheit Bedingung für das Sittengesetz, jedoch kann das Sittengesetz selbst nicht wie die Naturgesetze als die Bedingung von Erfahrung begründet werden. Zwar setzen wir das Sittengesetz in gleicher Weise wie die Naturgesetze voraus, doch muss hier die Frage, wie ein solches Gesetz und damit ein freier Wille möglich sind, anders beantwortet werden. Deswegen laufen wir im Praktischen sogar Gefahr, dass sowohl Freiheit als auch das Sittengesetz als »Hirngespinste« und damit als Produkt unserer Ein‐ bildungskraft abgetan werden könnten, da weder das eine noch das

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andere aufgrund von Erfahrung begründet werden können. Sie kön‐ nen sich nur gegenseitig erklären, sodass ein Zirkel von Erklärungen (›GMS III‹) entsteht, der weder die Freiheit noch das Gesetz schluss‐ endlich rechtfertigt. Im dritten Abschnitt der ›Grundlegung‹ und in der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ zeigt Kant zwei verschiedene Ansätze auf, die einen praktischen Gebrauch der Freiheit und des Sittengesetzes dennoch erlauben, wobei der erste Ansatz durch den zweiten ersetzt wird. Im Gegensatz zur verbreiteten Auffassung in der Sekundärlitera‐ tur, dass in der ›Grundlegung III‹ der kategorische Imperativ oder das Sittengesetz deduziert wird, vertrete ich hier die weniger verbrei‐ tete These, dass der reine Wille aus den »Vernunftideen« deduziert wird.112 Vom Standpunkt der ›Grundlegung‹ aus betrachtet, ist es dem Menschen als Sinnenwesen möglich, sich selbst auch als ein intelligibles Wesen mit einem freien Willen zu denken. Um diese These zu überprüfen, habe ich den dritten Abschnitt der ›Grundle‐ gung‹ analysiert und in zwei wesentliche Argumente gegliedert: Im ersten Argument zeigt Kant auf, dass die Annahme einer Freiheit des Willens dann notwendig vorausgesetzt werden muss, wenn wir uns als Vernunftwesen begreifen. Dieses allein ist aber nicht ausreichend, um einen freien Willen annehmen zu können, denn es muss noch die Möglichkeit gezeigt werden, dass der Mensch als Sinnenwesen über einen reinen Willen verfügen kann. Das zweite Argument führt nun auf, dass sich die Freiheit des Willens nicht empirisch beweisen lässt. In der Auflösung dieses Problems wird argumentiert, dass im Menschen aber eine »reine Tätigkeit« stattfindet, die die Hervorbringung von Ideen ermöglicht, was auf den Menschen als intelligibles Wesen und damit auf einen freien Willen schließen lässt. Es zeigt sich in der Auseinandersetzung mit dem dritten Abschnitt der ›Grundlegung‹ jedoch das ungelöste Problem, dass es ohne 112 Vgl. unter anderem Allison, H. E., Kant’s Groundwork for the Metaphysics of Morals: A commentary, S. 331. Schönecker, D. and Wood, A. W., Immanuel Kant »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, S. 197. Bojanowski, J., Die Deduktion des Kategorischen Imperativs, S. 83. Guyer, P., Kant’s Groundwork for the Metaphysics of Morals: A Reader’s Guide, S. 147. Kaulbach, F., Immanu‐ el Kants »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, S. 139. Henrich, D., Die Deduktion des Sittengesetzes, S. 55–112. Dem entgegen vertritt auch Ludwig die These, dass in der GMS III die Idee des reinen Willens deduziert wird, vgl. Ludwig, B., Aufklärung über die Sittlichkeit. Zu Kants Grundlegung einer Metaphysik der Sitten, S. 97.

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§ 7. Die Bestimmung des reinen Willens

Anschauung theoretisch unmöglich ist, etwas über die intelligible Beschaffenheit eines vernünftigen Wesens auszusagen. Unter Hinzu‐ ziehung der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ führe ich Argumente auf, die aufzeigen sollen, dass Kant seine Herangehensweise, einen reinen Willen zu rechtfertigen, in diesem Werk im Vergleich zur ›Grundlegung‹ verändert hat. Ich stütze meine Argumentation dabei vorwiegend auf den Abschnitt in der zweiten Kritik (vgl. KpV, 50– 57), in dem Hume eine außerordentlich prominente Rolle einnimmt und der in der Literatur wenig beachtet wird. Dem Abschnitt geht dabei folgender Titel voraus »Von dem Befugnisse der reinen Ver‐ nunft, im praktischen Gebrauche, zu einer Erweiterung, die ihr im spekulativen für sich nicht möglich ist« (KpV, 50). Von diesem Abschnitt ausgehend, lautet die zweite, diesem Kapitel zugrunde liegende These demnach: In der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ wird der reine Wille mit einer Erweiterung des schon gerechtfer‐ tigten Ursachenbegriffs auf das Praktische begründet. Diese The‐ se rechtfertige ich anhand von zwei Argumentationsschritten: Im ersten Schritt wird der reine Wille als intelligibler Charakter der Ursache als möglicher Begriff gerechtfertigt. Dass der reine Wille als intelligible Kausalität auch objektive Realität hat, ist durch das ihm zugrunde liegende Gesetz gegeben. Inwiefern dieses Gesetz wiederum vorausgesetzt werden kann, wird mit dem Faktum der Vernunft, von dem die sittliche Notwendigkeit ausgeht, behandelt. Der wesentliche Ertrag dieses Kapitels besteht also in der Einsicht, dass im Vergleich zur ›Kritik der reinen Vernunft‹ das Verhältnis von Gesetz und Kausalität in der zweiten Kritik umgekehrt ist: Während dort der rechtfertigende Gebrauch der Kausalität auf Anschauung noch gezeigt werden muss, von der die notwendige Annahme von Gesetzmäßigkeiten in der Natur ausgeht, kann hier mit dem vor‐ ausgesetzten moralischen Gesetz auf eine Kausalität aus Freiheit ge‐ schlossen werden, die nicht »auf Phänomene eingeschränkt« (KpV, 55) ist. Spätestens mit der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ und dem durch ein Faktum gegebenen moralischen Gesetz kann sich Kant von der noch in der ›Grundlegung‹ herrschenden Sorge befreien, das moralische Gesetz und die Freiheit als »Hirngespinste« abzuwer‐ ten.113 113 Vgl. Timmermann, J., Emerging Autonomy: Dealing with the Inadequacies of the »Canon« of the Critique of Pure Reason (1781), S. 120.

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§ 7.1 Das Verhältnis von Wille und Vernunft

Im Vergleich zu Hume stellt sich erneut ein wesentlicher Unter‐ schied zu Kants praktischer Philosophie dar. Während Hume von einer Unabhängigkeit des Willens von der Vernunft ausgeht, be‐ hauptet Kant in der ›GMS III‹, dass der »Wille nichts anderes als praktische Vernunft« ist. Die Vernunft macht damit den Bestim‐ mungsgrund des reinen Willens aus, wodurch ein Handeln unab‐ hängig von unseren sinnlichen Bedingungen möglich ist. In der folgenden Untersuchung soll dargelegt werden, dass sowohl Hume als auch Kant unterschiedliche Ansichten bezüglich der Möglichkeit einer praktischen Vernunft aufgrund ihrer erkenntnistheoretischen Ergebnisse vertreten. So zeigt sich, dass Hume die Verknüpfung von Vernunft (Verstand) und Willen auf Grundlage seiner erkenntnis‐ theoretischen Gabel nicht vertreten kann, wohingegen Kant dieses notwendig im Begriff des Willens voraussetzt. 7.1.1 Hume zur Unabhängigkeit von Vernunft und Wille Welche Auffassung Hume hinsichtlich einer vernunftgeleiteten Mo‐ ralphilosophie vertritt, lässt sich aus dem dritten Abschnitt des letz‐ ten Buches seines dreiteiligen Werks ›A Treatise of Human Nature‹ rekonstruieren. Hier kritisiert Hume den unbegründet hohen Stel‐ lenwert der Vernunft, den sie bei einer Vielzahl von Moralphiloso‐ phen einnimmt. Diese wollen die Möglichkeit eines tugendhaften Lebens allein in einem Handeln nach den Geboten der Vernunft erkennen (vgl. THN II; 3,3 [1]). Hume stellt dementgegen die These auf, dass die Vernunft keine motivationale Wirkung auf den Willen hat und es vielmehr die Begierden sind, die einen Willensakt hervor‐ bringen oder verhindern können. Nach Hume ist die Vernunft damit weder als principium executionis (Prinzip der Ausführung) noch als principium diiudicationis (Prinzip der Beurteilung) zu verstehen: Ihr fehlt damit nicht nur jegliches Vermögen, um über den Willen zu bestimmen, sondern nach Hume auch die moralischen Kriterien, nach denen man zwischen dem sittlich Guten und Bösen unterschei‐ den kann. Inwiefern Hume dies begründet, ist Gegenstand der fol‐ genden Auseinandersetzung.

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Humes Ansichten zum Verhältnis von Vernunft und Wille erge‐ ben sich aus seinem bereits in seiner Epistemologie verankerten Vernunftverständnis, nach dem diese lediglich als ein abstraktes Regelwerk bezeichnet wird, der zwei auf diese Funktion reduzierte Tätigkeiten zugeschrieben werden:114 The understanding exerts itself after two different ways, as it judges from demonstration or probability; as it regards the abstract relations of our ideas, or those relations of objects, of which experience only gives us information. (THN II; 3,3 [2]).

Aus den Tätigkeiten, die der Vernunft zugeschriebenen werden, wird deutlich, dass ihr keine motivationale Rolle zukommt und sie viel‐ mehr mit dem Urteilen von Beziehungen zu tun hat, die entweder abstrakter oder empirischer Natur sind. Mit der ersten Tätigkeit kann die Vernunft aus den abstrakten Beziehungen unserer Ideen Wahrheiten der Logik und der Mathematik ableiten und mit der zweiten Tätigkeit kann die Vernunft auf Grundlage von Erfahrung die kausalen Verhältnisse der Gegenstände beurteilen. Warum Hume die Vernunft nun als principium executionis ab‐ lehnt, ergibt sich bereits aus den unterschiedlichen Gegenstandsbe‐ reichen, die der Vernunft und dem Willen zugeschrieben werden, und beide daher nicht miteinander kompatibel sein können. Denn während sich der Wille auf die Welt der Realitäten (»world of reali‐ ties«) bezieht, referiert die Vernunft hingegen auf die Welt der Vor‐ stellungen (»world of ideas«) (THN II; 3,3 [2]), die sich durch ab‐ straktes und demonstratives Denken auszeichnet und somit niemals Einfluss auf unser Handeln haben kann. Mit der zweiten Vernunfttä‐ tigkeit hingegen ist insofern ein Einfluss auf unser Handeln möglich, als dass von der Vernunft der Handlungsimpuls zwar geleitet (»di‐ rected«), aber nicht selbst von ihr ausgeht (vgl. THN II; 3,3 [3]). Denn der eigentliche Impuls, der uns überhaupt dazu verleitet, einen Gegenstand aufzusuchen oder zu meiden, hängt von dem Gefühl ab, welches wir in Zusammenhang mit dem Gegenstand empfinden. Stellt sich beispielsweise ein Gefühl der Neigung einem Gegenstand 114 Hume unterscheidet nicht konsequent zwischen Verstand (understanding) und Vernunft (reason) und verwendet diese an manchen Stellen sogar syno‐ nym. Im Folgenden wird der Begriff Vernunft, der sowohl Verstand als auch Vernunft implizieren soll, durchgehend verwendet, um mögliche Verwirrun‐ gen zu vermeiden.

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gegenüber ein, dann wünschen wir diesen Gegenstand, wodurch dieser zum Zweck unserer Handlung wird. Erst unter dieser gegebe‐ nen Voraussetzung denken wir zuerst über die Mittel nach, die zum Erreichen des Zwecks nötig sind. Nach Hume wird der Vernunft allein die Rolle zugeschrieben, die kausalen Beziehungen zwischen den Mitteln und den zu erreichenden Zwecken ausfindig zu machen. In der zeitgenössischen Philosophie wird diese Tätigkeit der Ver‐ nunft auch als instrumentelle Vernunft betitelt. In der Literatur wird die Frage behandelt, ob Humes Begriff der instrumentellen Vernunft um den Begriff einer praktischen Vernunft erweitert und, damit verbunden, seiner Moraltheorie eine Norma‐ tivität zugrunde gelegt werden kann.115 Darunter ist die Position vertreten, dass Hume lediglich ein instrumentelles Verständnis der praktischen Vernunft vertritt.116 Ein wesentliches Argument beruht dabei auf der von Humeanern aufgestellten Rationalitätsbedingung: Obwohl die Motivation zum Handeln von einem Begehren ausgeht, hat eine Person erst dann einen Grund zum Handeln, wenn die Vernunft die Mittel ausfindig gemacht hat, die nötig sind, um den Zweck zu erreichen. Der Humeaner James Dreier beispielsweise ver‐ tritt diese These, wenn er schreibt: »The special status of instrumen‐ tal reason is due to its being the sine qua non of having reasons at all.«117 Daneben gibt es allerdings auch die Position, die behauptet, Hume habe einen über die instrumentelle Vernunft hinausgehenden Begriff der praktischen Vernunft.118 Magri behauptet beispielswei‐ se, dass Hume dem Begriff einer praktischen Vernunft gegenüber grundsätzlich nicht skeptisch eingestellt ist und der Vernunft bei Hu‐ me tatsächlich auch die Rolle zukommt, über Gründe zu reflektieren und zwischen ihnen abzuwägen.119 Ein wesentliches Argument für diese These ist, dass nach Hume ein objektives und vernünftiges Ab‐ wägen unserer Wünsche und Motive aufgrund konstitutiver Regeln 115 Vgl. für einen Überblick über diese Debatte Pauer-Studer, H., Kommentar zu David Hume: Über Moral, S. 310. 116 Vgl. Zoglauer, T., Die Vernunft: Ein Sklave der Affekte? Zur Kritik am morali‐ schen Subjektivismus., S. 147. 117 Dreier, J., Humean Doubts about the Practical Justification of Morality, S. 99. 118 Vgl. Magri, T., Natural Obligation and Normative Motivation in Hume’s Trea‐ tise, S. 248. 119 Vgl. ebenda, S. 242 und vgl. Pauer-Studer, H., Kommentar zu David Hume: Über Moral, S. 311.

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möglich ist, wodurch ein gesellschaftliches soziales Zusammenleben überhaupt erst denkbar ist, da sonst jeder Mensch willkürlich seinen natürlichen Neigungen folgen würde.120 Die Annahme, dass Humes Philosophie einen Begriff der prakti‐ schen Vernunft entwickelt hat, wird auch in der Literatur kritisch diskutiert.121 Im Folgenden sind zwei wesentliche Probleme hervor‐ zuheben. Das erste Problem betrifft den Umstand, dass der Vernunft bei Hume keine herausragende Rolle zukommt.122 Da die Vernunft kein »Wollen« auslösen und damit niemals Handlungsmotiv sein kann, kann sie im Umkehrschluss auch nicht das Wollen verhindern oder in einen Widerstreit mit den Leidenschaften geraten (vgl. THN II; 3,3 [4]). Die Unterdrückung oder Verhinderung des Impulses einer Leidenschaft gelingt nur mit einem ihr entgegengesetzten Impuls, was wiederum der Vernunft das Vermögen abspricht, den Willen bestimmen zu können. In dieser Hinsicht ist die Vernunft allenfalls ein Hilfsmittel, das zum Zweck einer möglichen Absicht eingesetzt wird, die sich ausschließlich nach dem Wollen richtet, das von der Leidenschaft hervorgerufen wird.123 Mit Humes Aussage, die Vernunft sei bloß »Sklavin der Leidenschaften«, wird das hierarchi‐ sche Verhältnis der Vernunft gegenüber den Leidenschaften deutlich hervorgehoben: We speak not strictly and philosophically when we talk of the combat of passion and of reason. Reason is, and ought only to be the slave of the passions, and can never pretend to any other office than to serve and obey them. (THN II; 3,3 [4]).

Obwohl die Vernunft den Leidenschaften untergeordnet ist, können diese andererseits der Vernunft zuwiderlaufen und als unvernünftig gelten. Dies tritt beispielsweise dann ein, wenn eine Leidenschaft – hier führt Hume die Hoffnung, Furcht usw. als Beispiele an – von etwas ausgeht, das nicht von einem realen Gegenstand hervor‐ gerufen wird. Ein zweiter Grund ist, wenn Mittel gewählt werden, 120 Vgl. Magri, T., Natural Obligation and Normative Motivation in Hume’s Trea‐ tise, S. 243. 121 Vgl. im Besonderen Milligram, E., Was Hume a Humean?, S. 76. 122 Vgl. Pauer-Studer, H., Kommentar zu David Hume: Über Moral, S. 315. 123 Baillie schreibt der Vernunft in diesem Zusammenhang zwar eine beratende (advisory), aber keine leitende (non-executive) Rolle zu, vgl. Baillie, J., Hume on Morality, S. 93.

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die dem beabsichtigten Zweck zuwiderlaufen (vgl. THN II; 3,3 [6]). Demzufolge werden unvernünftige Leidenschaften immer von einem falschen Urteil begleitet, sodass nach Hume eigentlich nicht die Leidenschaft, sondern das mit ihr zusammengehende Urteil ver‐ nunftwidrig ist. Hinzu kommt, dass eine Leidenschaft nur ein »ur‐ sprüngliches Etwas« (»an original existence«, THN II; 3,3 [5]) ist, das heißt, keine repräsentative Eigenschaft besitzt und weder etwas behaupten noch aussagen kann, weshalb es auch keiner Wahrheit oder der Vernunft entsprechen oder widersprechen kann. Kritisch ist an dieser Stelle anzumerken, dass es zunächst nicht einleuchtet, warum das Urteil unvernünftig ist, wenn die Vernunft ihr Urteil über die nötigen Mittel erst retrospektiv abgibt und damit nur a posteriori wirken kann. Wenn die Vernunft bei der Zweckbe‐ stimmung keine Rolle spielt, ist auch im Vorhinein keine Einschät‐ zung bezüglich der Möglichkeit zur Erreichung des Zwecks gegeben. Wenn ich beispielsweise auf dem Mond zu Abend essen will, ist dies zunächst denkbar. Da ich aber nicht die nötigen Mittel dafür habe, kann hier nicht das Vernunfturteil das Problem sein, sondern eher, dass ich unmögliche Dinge will, für die mir nicht die Mittel zur Verfügung stehen. Die Vernunft müsste, hiervon ausgehend, bereits in die Zweckbestimmung involviert sein, um prospektiv über die Möglichkeit der Mittel urteilen zu können.124 124 Ob Humes Moralphilosophie die Möglichkeit aufweist, über die Zwecke zu reflektieren, wird auch in der Literatur diskutiert, hängt damit schließlich auch die Frage nach der moralischen Motivation ab. Geht man nämlich davon aus, dass Humes Moralphilosophie jegliche Form der moralischen Reflexion abge‐ sprochen werden muss, dann wäre das menschliche Handeln allein von unse‐ ren Leidenschaften getrieben. Mit dieser vertretenden Position wird Hume in der Literatur daher auch häufig als »Internalist« verstanden. Die Anhänger des »Internalismus« vertreten die Ansicht, dass der Handlungsgrund von einer internen Motivation ausgeht (»wunschbasierter Internalismus«). Wenn eine Person beispielsweise den Wunsch oder das Begehren hat, A zu tun, dann wird sie auch durch A motiviert zu handeln. Im Gegensatz hierzu geht der »Externalismus« davon aus, dass uns etwas auch dann zum Handeln motivie‐ ren kann, wenn beispielsweise kein Wunsch gegeben ist. Das heißt, dass eine Person auch dann einen Grund zum Handeln hat, selbst wenn sie nicht durch einen Wunsch oder Ähnliches motiviert ist, zu handeln. Vgl. Williams, B., In‐ ternal and external reasons, S. 101. Da Kant in seiner Moralphilosophie davon ausgeht, dass wir uns zum moralischen Sollen unabhängig von Wünschen mo‐ tivieren können, wird seine Position von einigen Interpreten »externalistisch« verstanden. Vgl. Korsgaard, C. M., Skepticism about Practical Reason, S. 11. Im

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Und hierin knüpft das zweite umstrittene Problem an, das sich zu‐ mindest aus kantischer Perspektive gegen die Auffassung einer prak‐ tischen Vernunft bei Hume stellt. Während bei Hume die Vernunft nur dazu da ist, die Mittel zur Erreichung eines gegebenen Zwecks zu bestimmen, kann sie sich bei Kant auch in Form von kategori‐ schen Imperativen selbst Zwecke setzen. Da die Bestimmung der Mittel bei Kant in Form von hypothetischen Imperativen nur sagen, »daß die Handlung zu irgend einer möglichen oder wirklichen Ab‐ sicht gut sei« (GMS, 414) und nicht, »ob der Zweck vernünftig oder gut sei« (GMS, 415), zeichnen diese auch nur bedingt das praktische Vermögen der Vernunft aus. Eben darum gehört die instrumentelle Vernunft nach Hume, die nur die nötigen Mittel zu einem bestimm‐ ten Zweck ausfindig machen soll, zur theoretischen und nicht zur praktischen Philosophie, der nur die Sittlichkeit zugrunde liegt.125 Bei Kant ist der Vernunftbegriff hingegen mit der Sittlichkeit mittels eines kategorischen Imperativs verknüpft, der »eine Handlung als für sich selbst, ohne Beziehung auf seinen anderen Zweck, als objek‐ tiv-notwendig vorstellt« (GMS, 413). Da die Vernunft und Sittlichkeit bei Hume unterschiedliche Berei‐ che der Philosophie tangieren, kann die Vernunft auch nicht zum Fall von Hume spricht sich Korsgaard zunächst dagegen aus, dass bei ihm nur ein Handeln nach bloßen Leidenschaften möglich ist, und schreibt seiner Theorie sogar eine Methode des reflektierten Zustimmens und Bestätigens (»reflective endorsement«, ebenda, S. 11) zu. Eine solche reflexive Rolle könnte der Vernunft beispielsweise genau dann zugeschrieben werden, wenn sie unter den möglichen Zwecken nur die wählen würde, die unter vernünftigen Bedin‐ gungen umgesetzt werden könnten. Damit käme der Vernunft einerseits eine überhöhte Rolle zu, die Hume ausdrücklich ablehnt, und andererseits würde seine Moralphilosophie eine normative Beurteilung implizieren, die Korsgaard selbst infrage stellt. Ob überhaupt eine Normativität in dem Begriff instrumen‐ teller Vernunft vertreten werden kann, ist zweifelhaft, wenn die Zwecke durch Wünsche bestimmt werden und somit jedes Handeln, das seinen Wünschen folgt, dem instrumentellen Prinzip entspricht und niemals verletzen kann. 125 Auch Kant muss seine Aussage, dass die hypothetischen Imperative zur prak‐ tischen Philosophie gehören, in der »Kritik der Urteilskraft« revidieren. Sie gehören der theoretischen Philosophie an und haben es mit dem »praktischen Teil einer Philosophie der Natur« (KU 197) zu tun. Inwiefern diese revisionisti‐ sche Aussage mit der »Grundlegung« zusammengeht, wonach Kant dort die hypothetischen Imperative noch zur praktischen Philosophie gezählt hat, vgl. Klemme, H., Gehören hypothetische Imperative zur praktischen Philosophie? Wille und praktische Vernunft in Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und in der »Ersten Einleitung« in die Kritik der Urteilskraft, S. 209.

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moralischen Handeln motivieren. Die Vernunft ist ohne ein Begeh‐ ren selbst nicht handlungswirksam und kann weder Zwecke selbst setzen noch ist sie dazu fähig, über die moralische Angemessenheit der Zwecke zu urteilen. Sollte beispielsweise eine Leidenschaft nicht auf falschen Voraussetzungen beruhen und die Mittel zur Erreichung des Zwecks vernünftig gewählt worden sein, dann kann die Vernunft diese Leidenschaft – unabhängig davon, wie willkürlich diese ist – nicht als unvernünftig kritisieren: ‘Tis not contrary to reason to prefer the destruction of the whole world to the scratching of my finger. ‘Tis not contrary to reason for me to choose my total ruin, to prevent the least uneasiness of an Indian or person wholly unknown to me. ‘Tis as little contrary to reason to prefer even my own acknowledg’d lesser good to my greater, and have a more ardent affection for the former than the latter. (THN II; 3,3 [6]).

Mit der Vernunft wird allein über die Mittel zur Erreichung des jeweiligen Zwecks geurteilt und nicht über den Zweck selbst, ganz gleich, ob dieser die »Zerstörung der Welt« verfolgt. Es ist offen‐ sichtlich, dass sich Hume hier gegen ein rationalistisches Vernunft‐ bild richtet. Denn während beispielsweise nach dem Rationalisten Christian Wolff die Vernunft dazu fähig ist, moralisch zu urteilen und zwischen Gutem und Schlechtem zu unterscheiden, gewichtet die instrumentelle Rationalität bei Hume den Zweck nicht nach seinem moralischen Wert, ihr wird vielmehr ein solches Vermögen abgesprochen.126 Hume stellt sich demnach gegen die Vorstellung der Vernunft als principium diiudicationis, das heißt, durch die das Beurteilungskrite‐ rium von Moral vorgegeben wird. Dafür werden von ihm wieder zwei Argumente vorgebracht, die wie beim Problem der Kausalität die fehlenden epistemologischen Grundbedingungen der Vernunft aufzeigen. Nach Hume liegt weder der Ursprung der Moral in der Vernunft, noch ist die moralische Unterscheidung zwischen Laster und Tugend eine Tatsache, die empirisch von der Vernunft erkannt werden kann:

126 Während sich der Wille bei Wolff auf das richtet, was der Handelnde selbst für gut hält, zwingt ihn die Vernunfteinsicht zu moralisch gutem Handeln. Somit ist schlechtes Handeln allein ein »Mangel an Einsicht«, Arndt, H. W., Einleitung, S. XIV.

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If the thought and understanding were alone capable of fixing the boundaries of right and wrong, the character of virtuous and vicious either must lie in some relations of objects, or must be a matter of fact, which is discover’d by our reasoning. [...] it must be an object of one of these operations, nor is there any third operation of the understanding, which can discover it. (THN III; 1,1 [18]).

Hume wendet sich dabei gegen die verbreitete Ansicht, dass aus der Vernunft die Sittlichkeit entspringt. Dieses ergibt sich aus der Tatsache, dass für alle vernünftigen Wesen gleich gültige Unterschie‐ de des sittlich Gebotenen oder Verbotenen bestehen (vgl. THN III; 1,1 [4]). Daraus folgt, dass dem Sittlichen selbst ein notwendiger Wahrheitswert zugeschrieben werden müsste, wie der demonstrati‐ ven Wahrheitserkenntnis und aus der Vernunft zu deduzieren ist. Dagegen behauptet Hume, dass der Vernunft und der Sittlichkeit unterschiedliche Prinzipien zugrunde gelegt sind und damit das eine nicht durch das andere begründet werden kann: As long as it is allow’d, that reason has no influence on our passions and actions, ‘tis in vain to pretend, that morality is discover’d only by a deduction of reason. An active principle can never be founded on an inactive; (THN III; 1,1 [7]).

Während die Vernunft passiv ist, wird das Prinzip der Sittlichkeit hingegen aktiv beschrieben, muss dieses doch einen direkten Ein‐ fluss auf unser Handeln und damit auf unsere Leidenschaften haben, da die sittlichen Regeln sonst nicht umgesetzt werden würden. Hume führt noch ein weiteres Argument auf, warum die Vernunft nicht die Quelle der Sittlichkeit sein kann. Nach Hume gibt es genau nur zwei Vernunfturteile, die unsere Handlungen begleiten: Erstens kann mit der Vernunft festgestellt werden, dass es einen Gegenstand gibt und die Existenz dieses Gegenstandes bei uns eine bestimmte Gefühlsregung hervorruft. Zweitens gibt uns die Vernunft die Mittel vor, mit denen ein Gegenstand erreicht werden kann (vgl. THN III, 1,1 [12]. Obwohl nun mit der Vernunft falsche Schlüsse als Irrtümer über eine Tatsache möglich sind, sind diese zwar unvernünftig, aber moralisch wertneutral: But tho’ this be acknowledg’d, ‘tis easy to observe, that these errors are so far from being the source of all immorality, that they are commonly very innocent, and draw no manner of guilt upon the person who is so unfortunate as to fall into them. (THN III; 1,1 [12]).

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Würde der moralische Wert unserer Handlung von einem Vernunf‐ turteil bestimmt werden, dann hätten wir zum einen auch eine mo‐ ralische Verpflichtung gegenüber leblosen Gegenständen, da auch über sie Urteile gefällt werden (vgl. THN III; 1,1 Fn. 68). Zum ande‐ ren zeigt sich, dass der moralische Wert unserer Handlung immer vom Urteil der anderen abhängen würde, da unsere Handlungen bei uns selbst kein falsches oder richtiges Urteil verursachen kön‐ nen, sondern nur auf andere eine Wirkung hat, sofern diese beob‐ achtet wird. Zur Veranschaulichung führt Hume das Beispiel der Nachbarsfrau ein, die hypothetisch mit ihrem Nachbarn vertraulich verkehrt. Wenn jemand diese Handlung beobachtet, kann dieser den falschen Schluss ziehen, dass das der Ehemann der Nachbarsfrau ist. Gesetzt den Fall also, die Vorhänge wären zugezogen und niemand könnte diese Handlung sehen, dann hätte sich der Handelnde dieser Logik zufolge keiner Unsittlichkeit schuldig gemacht. Für Hume kann daher ein auf Vernunft basierender Irrtum nicht die Quelle des Unsittlichen (»source of all immorality«) sein (vgl. THN III; 1,1 [15]). Im zweiten Teil seiner Beweisführung bringt Hume das »entschei‐ dende« Argument vor, dass moralische Tatsachen also bereits beste‐ hen müssten, ehe die Vernunft diese erkennen kann: For before reason can perceive this turpitude, the turpitude must exist; and consequently is independent of the decisions of our reason, and is their object more properly than their effect. (THN III; 1,1 [25]).

Wenn die Sittlichkeit als Tatsache gegeben wäre, dann folgt für Hu‐ me, dass auch alle vernünftigen oder nicht vernünftigen Wesen der Laster und Tugend fähig wären. Der Vernunft käme nämlich nur die einzige Aufgabe zu, die Laster oder die Tugend zu erkennen, worauf dann der Tadel oder das Lob einer Handlung folgt. Tieren, die vielleicht über kein hohes Maß an Vernunft verfügen, könnte man zwar absprechen, die Pflichten und die Nötigung der Sittlichkeit zu erkennen, aber nicht das Bestehen der Pflichten (vgl. THN III; 1,1 [25]). Die Vernunft ist demnach nur dazu da, die moralischen Tatsachen zu finden, die sie selbst nicht erzeugen (»produce«) kann (vgl., ebd.). Hume zieht jedoch den Schluss, dass Laster und Tugend keine Tatsachen sind, die von der Vernunft erkannt werden könnten, und damit bringt er das letzte Argument vor, dass Sittlichkeit kein

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§ 7. Die Bestimmung des reinen Willens

Gegenstand der Vernunft ist. Laster und Tugend sind keine Eigen‐ schaften, die den Gegenständen anhaften und von außen abgelesen werden können. Hume führt das Beispiel des absichtlichen Mords an, an dem durch bloße Betrachtung kein Laster ihm als Tatsache anhaftet: The vice entirely escapes you, as long as you consider the object. You never can find it, till you turn your reflection into your own breast, and find a sentiment of disapprobation, which arises in you, towards this action. Here is a matter of fact; but ‘tis the object of feeling, not of reason. (THN III; 1,1 [26]).

Für Hume ist das sittliche Sollen oder Nichtsollen aus keiner Tat‐ sache zu erkennen, weshalb die Vernunft das Sollen auch nicht empirisch bestimmen kann. Das bedeutet aber nicht, dass das Sollen nach Hume nicht möglich ist. Das Sollen oder Nichtsollen drückt für ihn nur eine andere Art von Beziehung aus, die notwendigerwei‐ se beachtet und erklärt werden muss: »For as this ought, or ought not, expresses some new relation or affirmation, ‘tis necessary that it shou’d be observ’d and explain’d;« (THN III; 1,1 [27]). Dass wir uns am Ende doch nicht für die Zerstörung der Welt entscheiden oder eine Handlung für lasterhaft erklären, gibt nicht die Vernunft vor, sondern ein Gefühl. In dieser Hinsicht wird die Sittlichkeit viel mehr gefühlt als beurteilt (»Morality, therefore, is more properly felt than judg’d of«, THN III; 1,2 [1]). Nach Hume wird zusammenfassend deutlich, dass die Moral völ‐ lig unabhängig von der Vernunft ist. Die Vernunft kann sie weder erkennen, noch kann die Moral aus der Vernunft abgeleitet werden. Die Vernunft ist ebenso wenig dazu in der Lage, Einfluss auf unser Handeln zu nehmen, da sie, ihrer Disposition geschuldet, unseren Willen nicht bestimmen kann. Die Vernunft wird bei Hume ledig‐ lich als instrumentelle Vernunft verstanden, die nicht die Zwecke vorgeben oder beurteilen kann, sondern nur die Mittel ausfindig macht, um die durch die Leidenschaften vorgegebenen Zwecke zu erreichen. Im Vergleich zu Kant wird im Folgenden gezeigt, dass seine praktische Philosophie vieler dieser Ansichten entgegensteht. Der wesentliche Unterschied ist, dass nach Kant die Vernunft selbst Zwecke setzen kann und somit über den rein instrumentellen Ge‐ brauch hinausgeht. Die Verknüpfung zwischen der Vernunft und der Sittlichkeit besteht darin, dass die Vernunft mittels eines katego‐ rischen Imperativs einsehen kann, welche Maxime moralisch sind.

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Mittels dieser von der Vernunft vorgegebenen Norm hat sie Einfluss auf die Zwecksetzung unserer Handlung. 7.1.2 Der Wille als praktische Vernunft In der ›Grundlegung‹ behauptet Kant, dass der »Wille nichts ande‐ res als praktische Vernunft« (GMS, 412) ist. Entgegen der Position Humes hält Kant es für möglich, dass die Vernunft den Willen prak‐ tisch bestimmt. Dem Willen kommt dementsprechend das Vermö‐ gen zu, sich im Handeln nach den Vernunftprinzipien ausrichten zu können. Da der menschliche Wille aber nicht nur notwendigerweise durch die Vernunftprinzipien, sondern auch durch Neigungen und Wünsche zum Handeln bewegt wird, handelt es sich nicht um einen heiligen Willen. Daraus folgt der Anspruch, aufzeigen zu müssen, inwieweit überhaupt ein unausbleiblich durch Vernunft bestimmter Wille oder eine praktische Vernunft, möglich ist. Zu diesem Zweck soll in diesem Abschnitt analysiert werden, wie Kant den Willen in der ›Grundlegung‹ definiert und wie das Verhältnis von Wille und Vernunft zu verstehen ist. Dabei stellt sich heraus, dass dem Willen oder der praktischen Vernunft das Vermögen zukommt, sowohl in‐ strumental als auch moralisch aufgrund von Prinzipien zu handeln, die ihn nötigen. Die Frage nach dem Verhältnis von Wille und Vernunft wird besonders gut im folgenden Absatz in der ›Grundlegung‹ auf den Punkt gebracht, in dem Kant hier eine allgemeine Bestimmung des Willens vorlegt, die in der Literatur unterschiedlich interpretiert wird.127 In ihm wird der Überschritt von einem von Neigungen bestimmten Willen hin zu der Möglichkeit eines freien, nach ver‐ nünftigen Prinzipien ausgerichteten Willens nachgezeichnet. Nach‐ folgend werden die insgesamt vier Sätze des Absatzes zum besseren Verständnis seiner Argumentationsstruktur im Detail analysiert und gedeutet: [i] Ein jedes Ding wirkt nach Gesetzen. [ii] Nur ein vernünftiges We‐ sen hat das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d.i. nach Prinzipien zu handeln, oder einen Willen. [iii] Da zur Ableitung der 127 Vgl. Timmermann, J., Sittengesetz und Freiheit, S. 66–72, der einen umfassen‐ den Überblick über die kritischen Diskussionspunkte innerhalb der Literatur vermittelt.

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Handlungen von Gesetzen Vernunft erfordert wird, so ist der Wille nichts anderes als praktische Vernunft. [iv] Wenn die Vernunft den Willen unausbleiblich bestimmt, so sind die Handlungen eines solchen Wesens, die als objektiv notwendig erkannt werden, auch subjektiv not‐ wendig, d.i. der Wille ist ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft, unabhängig von der Neigung, als praktisch notwendig, d.i. als gut erkennt. (GMS, 412).

Der erste Satz [i] enthält die Aussage, dass ein jedes Ding nach Gesetzen wirkt. Mit einem »Ding« sind zeitliche Naturdinge ge‐ meint, die nach Gesetzen wirken. Der Begriff des Naturdings um‐ fasst dabei sowohl unbelebte Gegenstände, wie Pflanzen, als auch belebte Gegenstände, wie Tiere und Menschen. Das Wirken dieser Naturdinge ist passiv nach diesen Gesetzen ausgerichtet und ihnen vollkommen unterlegen. Dies ermöglicht andererseits, ihr Wirken vollkommen nach diesen Gesetzen beschreiben zu können, wie ein vom Baum fallender Apfel als die Wirkung des Gravitationsgesetzes. Der Mensch als Naturding ist also dem Wirken der Naturgesetze in Form seiner Neigungen unterworfen. Problematisch ist diese Aussage jedoch genau dann, wenn wir dem Menschen einen freien Willen zuschreiben wollen, dieser aber aus der Konsequenz der ersten Aussage als Naturwesen durch die Naturgesetze vollständig determiniert ist. Der zweite Satz [ii] der Passage unterscheidet jedoch unter den Naturdingen auch solche, die willensbegabt und vernünftig sind, denen also ein darüber hin‐ ausgehendes Vermögen zukommt, nämlich »nach der Vorstellung der Gesetze, d.i. nach Prinzipien zu handeln«. Aufgrund der Mehr‐ deutigkeit des Begriffs »Gesetze« im zweiten Satz wird in der For‐ schungsliteratur kontrovers diskutiert, von welchen Gesetzen oder Prinzipien Kant ausgeht, wie im Folgenden erläutert wird. Anknüp‐ fend an die erste These, liegt die Überlegung zunächst nahe, dass hiermit auch Naturgesetze gemeint sein könnten. Ein Vertreter die‐ ser Lesart ist Cramer, demzufolge ein vernünftiges Wesen einerseits den Naturgesetzen unterliegt und andererseits nach der Vorstellung der Naturgesetze handeln kann.128 Während Duncan auf der ande‐ ren Seite behauptet, dass es sich hierbei um das moralische Gesetz handelt, vertritt Cramer die Ansicht, dass der Ausdruck »morali‐ sches Gesetz« nicht im Plural vorkommt und daher vielmehr Na‐ 128 Vgl. Cramer, K., Hypothetische Imperative?, S. 170–174.

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turgesetze gemeint sind.129 Es leuchtet zunächst ein, dass sich der vernünftige Mensch in jeder seiner Handlungen die gesetzmäßige Ordnung der Natur vor Augen führen muss, um überhaupt über die Möglichkeit und Umsetzbarkeit seiner Handlung urteilen zu können. Mit Allison ist jedoch zu erwidern, dass diesem Verständnis nach nicht einzusehen ist, inwiefern ein Handeln nach moralischen Vorstellungen möglich ist und dem kategorischen Imperativ somit die Grundbedingung entzogen wird.130 Im Unterschied zum ersten Satz spricht Kant hier außerdem nicht einfach nur vom Wirken »nach Gesetzen«, sondern von einem Han‐ deln »nach der Vorstellung« von Gesetzen. Während ein Naturding sich nicht frei dazu entscheiden kann, ob es nach dem Gravitations‐ gesetz handeln soll oder nicht, impliziert ein Handeln nach der Vorstellung von Gesetzen ein bewusstes Befolgen dergleichen. Hier bedeutet das »Handeln nach der Vorstellung von Gesetzen« nicht das Befolgen bestimmter Gesetze (wie im ersten Satz), sondern allgemeiner Prinzipien, wie es weiter heißt, durch die der Mensch vermögend ist, sein Handeln nach einer gesetzmäßigen Ordnung zu richten. Da Kant zwar zwischen subjektiven und objektiven Prin‐ zipien unterscheidet und die Maxime zu den subjektiven Prinzipi‐ en zählt, argumentiert Bittner, dass mit dem Begriff des Gesetzes Maximen gemeint sind.131 Das Problem der Interpretation besteht darin, dass Maxime lediglich subjektive Grundsätze sind, die aus allgemeinen Handlungsprinzipien abgeleitet werden müssen. Von diesen allgemeinen oder objektiven Prinzipien geht zuerst eine fest‐ gelegte Ordnung aus, aus der dann subjektive Prinzipien abgeleitet

129 Vgl. Duncan, A. R., Practical Reason and Morality. A Study of Immanuel Kant’s Foundations for the Metaphysics of Morals, S. 103 und vgl. Cramer, K., Hypothetische Imperative?, S. 167. Timmermann hat allerdings gegen Cramers Behauptung einschlägige Literaturhinweise vorlegen können, die das Gegenteil aufzeigen und nachweisen, dass das moralische Gesetz auch im Plural auftritt, vgl. Timmermann, J., Sittengesetz und Freiheit, S. 67. 130 Vgl. Allison, H. E., Kant’s Groundwork for the Metaphysics of Morals: A com‐ mentary, S. 151f. 131 Wie Bittner vertritt auch Paton die Lesart, dass ein Handeln nach der Vorstel‐ lung von Gesetzen Maximen meint. Vgl. Bittner, R., Maximen, S. 492 und vgl. Paton, H. J., The Categorical Imperative: A Study in Kant’s Moral Philosophy, S. 81f.

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werden können.132 Da an dieser Stelle der ›Grundlegung‹ noch vom allgemeinen Willen die Rede ist, der den heiligen Willen einschließt, können hier nicht Maxime als subjektive Prinzipien gemeint sein.133 Das »Handeln nach der Vorstellung von Gesetzen« beschreibt da‐ mit ein Vermögen vernünftiger Wesen, ihr Handeln nach objektiven Prinzipien auszurichten.134 Im Unterschied zu einem Tier, dessen Handeln nur nach seinem Instinkt und durch die Gesetze der Natur bestimmt ist, hat »nur« ein vernünftiges Wesen eine »freie Willkür«, d.h., es kann sich durch Vorstellungen bestimmen, die vernünftige Prinzipien enthalten. Die Willkür ist also insofern frei, als dass sich das vernünftige Wesen dazu entscheidet, sein Handeln an vernünf‐ 132 So etabliert zum Beispiel das allgemeingültige Kausalitätsprinzip eine Ord‐ nung, die besagt, dass jeder Veränderung eine Ursache vorhergegangen sein muss. Dabei ist jedoch nicht klar, welche konkreten Ursachen und welche Ge‐ setzmäßigkeiten der notwendigen Verbindung zwischen Ursache und Wirkung zugrunde gelegt sind. Es muss nämlich Erfahrung noch dazu kommen. Es wird lediglich dargestellt, dass es eine solche Gesetzmäßigkeit gibt, die Ursache und Wirkung zeitlich ordnet. Ebenso könnte man von einem Prinzip im Prak‐ tischen reden: Wenn ich den Zweck will, will ich auch die Mittel, was das sogenannte Prinzip der Zweckrationalität ausdrückt. Welche konkreten Mittel ich für einen jeweiligen Zweck einsetzen muss, ist mit dem Prinzip allein noch nicht gegeben. 133 Timmermann führt das Argument an, dass es sich hierbei noch um die allgemeine Bestimmung des Willens handelt, sodass die Eigenschaften des Willens sowohl auf den heiligen als auch auf den sinnlich vernünftigen Willen zutreffen sollen. Werden demnach unter den Prinzipien der Vernunft Maxime als subjektive Grundsätze verstanden, denen also auch ein sinnlich zeitlicher Charakter zukommt, kann diese Definition nicht auf den heiligen Willen, als dasjenige, das von keinerlei Neigung affiziert werden kann, zutreffen. Vgl. Timmermann, J., Sittengesetz und Freiheit, S. 68. 134 Willaschek vertritt auch die These, dass zwar alle Lebewesen nach Vorstell‐ ungen handeln, vernünftige Wesen jedoch auch »nach der Vorstellung von ra‐ tionalen Prinzipien und damit zugleich nach Maximen [handeln]« Willaschek, M., Praktische Vernunft, S. 86. Sie richten schließlich ihr Handeln nach ihnen aus, weil sie der Überzeugung sind, dass ihre subjektiven Handlungsprinzipien vernünftig sind. Willaschek vertritt demnach die Lesart, dass die Vorstellung, nach Gesetzen zu handeln, »psychologische Gesetze« beschreibt, die mit den Vorstellungen des Handelnden übereinstimmen. Vgl. ebenda, S. 83. Auch wenn ich Willaschek in seiner Lesart in Teilen zustimme, geht es Kant hier zunächst weniger darum, ob die Gesetze oder Prinzipien nach denen wir unser Handeln ausrichten, auch meine Überzeugungen treffen. Es geht allein um die Möglich‐ keit, sein Handeln nach vernünftigen Prinzipien ausrichten zu können und demnach auch um die Möglichkeit einer instrumentellen Vernunft.

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tigen Überlegungen auszurichten und weniger an seinen Affekten oder Trieben. Dies ist etwa dann der Fall, wenn ich trotz des Verlan‐ gens auf eine Tafel Schokolade aus gesundheitlichen Gründen auf den Verzehr verzichte, um zukünftig nicht unter Krankheiten zu leiden, die durch Übergewicht verursacht werden können. Damit ist mein Handeln durch den zukünftigen Vorteil bestimmt, mich auch im Alter gut und gesund zu fühlen, und nicht durch das unmittelba‐ re Verlangen, das ich in dem Moment verspürt habe. Das (bedingt) objektive Prinzip hierbei ist also, dass man dann, wenn man zu viele Süßigkeiten isst, im Alter Diabetes bekommt.135 Damit aber der Wille Handlungen aus vernünftigen Prinzipien ableiten kann, ist entsprechend der Aussage des dritten Satzes [iii] Vernunft erforderlich. Ein Vernunftschluss beschreibt damit »eine Form der Ableitung einer Erkenntnis aus einem Prinzip« (KrV, A 301/B 358), in dem er unter eine allgemeine Regel Einzelfälle subsumiert, die in einem Syllogismus den Ober- und Untersatz aus‐ machen. Wenn ich beispielsweise eine Prüfung bestehen will und Lernen das notwendige Mittel ist, leite ich aus dem allgemeinen Prinzip der Zweckrationalität, »Wer den Zweck will, will auch die Mittel«, die Regel ab, dass ich zum Bestehen einer Prüfung lernen muss. Da die Vernunft also mit dem von ihr aufgestellten Syllogis‐ mus praktisch Einfluss auf unser Handeln ausübt, kommt ihr die Eigenschaft zu, »praktisch« zu sein. Damit zeigt sich, dass der dritte Satz als direkte Antwort auf Humes Einwände gegen eine praktische Vernunft verstanden werden kann. Nach Hume gehören der Wille und die Vernunft unterschiedli‐ chen Gegenstandsbereichen an, wonach der Vernunft die Rolle zu‐ kommt, über die Mittel zu urteilen, und der Wille hingegen den Zweck einer Handlung bestimmt. Da Zweck und Mittel also unab‐ hängig voneinander sind, hat weder das Mittel Einfluss auf den Zweck, noch kann der vom Willen gesetzte Zweck die Mittel bestim‐ men. Daraus folgt, dass dann, wenn eine Handlung nicht den ge‐ wünschten Zweck erreicht, nicht der Wille, der unabhängig von der 135 Man unterscheidet zwischen bedingten und unbedingten objektiven Prinzipi‐ en: Ein objektives Prinzip ist genau dann bedingt, wenn sich mein Handeln nach den Regeln der Klugheit oder Geschicklichkeit ausrichtet. Das objektive Prinzip ist dann unbedingt, wenn die Handlung unabhängig von diesen Re‐ geln kategorisch gefordert wird. Vgl. Schadow, S., Achtung für das Gesetz, S. 139.

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Vernunft seine Zwecke bestimmt, unvernünftig gewesen ist, sondern lediglich die Mittel, die die Vernunft zur Erreichung der Zwecke setzt (s.o. 7.1.1). Kant allerdings geht von einer notwendigen Verknüpfung zwischen Mitteln und Zwecken aus, wenn er den Willen mit prakti‐ scher Vernunft gleichsetzt.136 Zunächst ist im Wollen bereits »analy‐ tisch« enthalten, dass, wer den Zweck will, auch das dazu nötige Mittel will (vgl. GMS, 417), und andersherum gilt auch, dass, wer die Mittel nicht will, auch nicht den Zweck wollen kann. Geht von der Vernunft die Einsicht aus, welche Mittel ergriffen werden müssen, um den Zweck zu erreichen, hat die Vernunft folglich auch Einfluss auf die Zwecksetzung, da nur diejenigen Zwecke gewollt werden können, zu denen die nötigen Mittel vorhanden sind. Deswegen werden Wille und praktische Vernunft bei Kant gleichgesetzt, da der Wille das Vermögen ist, praktisch das umzusetzen, was die Vernunft vorgibt zu tun, um den Zweck zu erreichen. Nach Kant sind damit nicht die aus der Vernunft abgeleiteten Prinzipien problematisch, sondern der Zweck, den der Wille wählt. Die von der Vernunft aus‐ gewählten Mittel sind nämlich immer aus Prinzipien abgeleitet, die notwendigerweise den vorgegebenen Zweck erfüllen, und sind damit das, »was die Vernunft unabhängig von der Neigung, als praktisch notwendig, d.i. als gut erkennt« (GMS, 412). Im vierten Satz [iv] wird also in Konsequenz festgestellt, dass dann, wenn der Wille das Vermögen ist, nach der Vorstellung von unbedingt objektiven Prinzipien zu handeln, der Wille das Vermö‐ gen ist, unabhängig von Neigungen das »praktisch Gute« umzuset‐ zen. Das »praktisch Gute« umfasst dabei zwei Kategorien von Prin‐ zipien: Diese, die die »Abhängigkeit des Willens von den Prinzipien der Vernunft an sich selbst« (GMS, 413) angeben und jene, die den Willen zum »Behuf der Neigung« bestimmen. Ersteres beschreibt ein praktisches Interesse des Willens, das sich auf die Handlung selbst bezieht und Zweiteres beschreibt ein pathologisches Interesse des Willens, das sich auf den »Gegenstand der Handlung« (GMS, 136 Eine solche notwendige Verknüpfung zwischen Mittel und Zweck ist auf Grundlage der Humeschen Erkenntnistheorie nicht zu rechtfertigen. Hume geht davon aus, dass die notwendige Verknüpfung von Ursache und Wirkung (und somit auch Mittel und Zweck) nur aus dem gewohnheitsmäßigen Ablauf abgeleitet werden kann. Insbesondere können keine Zukunftsprognosen aufge‐ stellt werden, dass ein bestimmtes Mittel den gewünschten Zweck erreicht.

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413) richtet. Ist das Interesse pathologisch, dann gibt die Vernunft praktische Regeln an, »wie dem Bedürfnisse der Neigung abgeholfen wird« (GMS, 413). Das praktische Interesse bezieht sich andererseits auf keinen äußeren Gegenstand, sondern auf die Prinzipien der Vernunft selbst. Damit wird der Wille vollständig von der Vernunft bestimmt und nicht durch die Vorstellung von Gegenständen, die die Befriedigung der Neigungen zum Zweck haben.137 Dem menschlichen Willen kommt im Unterschied zu einem hei‐ ligen Willen bloß ein »Vermögen« zu, seine Handlungen nach der Vorstellung von vernünftigen und objektiven Prinzipien auszurich‐ ten und zu planen. Der heilige Wille ist demgegenüber vollkommen von der Vernunft bestimmt und steht notwendigerweise »unter objektiven Gesetzen (des Guten)« (GMS, 413). Da ein Vermögen zunächst nur die möglichen Fähigkeiten eines vernünftigen Wesens beschreibt, geht mit diesem noch kein notwendiger Gebrauch ein‐ her. In der Regel wird der menschliche Wille nicht hinlänglich von der Vernunft bestimmt, da dieser außerdem »subjektiven Bedingun‐ gen (gewissen Triebfedern) unterworfen« (GMS, 412) ist, die mit den Gesetzen der Vernunft in Konflikt stehen. Während der Wille eines heiligen Wesens auch immer mit den Gesetzen der Vernunft zusammengeht, fällt bei einem sinnlich vernünftigen Wesen der Wille nicht unbedingt mit dem zusammen, was die Vernunft ihm vorschreibt, zu tun. Nachdem nun im Allgemeinen dargelegt wurde, wie Vernunft praktisch sein kann, soll im folgenden Abschnitt konkret gezeigt werden, wie der Wille eines sinnlich bedingten Wesens, (»wie es bei Menschen wirklich ist«, GMS 413), durch die Vernunft bestimmt 137 In der Literatur wird die Bestimmung des Willens auf zwei Arten unterschie‐ den: Nach Bittner kann bei der Willensbestimmung zwischen genitivus objec‐ tivus und genitivus subjektivus unterschieden werden. In der ersten Hinsicht wird der Wille durch eine Regel bestimmt und ist damit Objekt derselben. In der zweiten Hinsicht bestimmt der Wille die Regel selbst. Vgl. Bittner, R., Maximen, S. 486 [Anm. 4]. Dem ist zu entgegnen, dass die Regeln von der Vernunft selbst kommen und nicht von dem Willen bestimmt werden können. Dagegen kann der Wille den Zweck selbst setzen und ist insofern selbstbestimmt, wobei hier zwischen subjektiven und objektiven Zwecken (d.h. solchen, die auf Triebfedern oder praktischen Prinzipien beruhen) unterschie‐ den werden muss. Die Selbstbestimmung des Willens gilt nach Kant nur dann, »sofern er sich bloß durch Vernunft bestimmt« (GMS, 427).

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werden kann. Dabei stellt sich heraus, dass die menschliche Ver‐ nunft oft in Konflikt mit den sinnlich bedingten Reizen gerät. Dies ist etwa dann der Fall, wenn eine Handlung als vernünftig eingesehen wurde, aber die aktuell empfundenen Reize mit dieser Einsicht kollidieren. Eine Handlung, die nach dem ausgerichtet ist, was unmittelbar begehrt wird, setzt das Vermögen einer praktischen Vernunft nicht voraus. Damit geht jedoch nicht einher, dass eine ver‐ nünftige Willensbestimmung per se unabhängig von Reizen erfolgen muss. So kann die Vernunft zum Beispiel den Willen nötigen, die unmittelbaren Reize zugunsten von Zukünftigen zu unterdrücken. Im Unterschied zu den aktuellen Reizen verleiten mich die zukünf‐ tigen Reize überhaupt dazu, vernünftige Überlegungen zu treffen, um die Vorstellung des zukünftigen Guten vermittels Prinzipien zu erreichen.138 Der Wille ist damit zwar von der Vernunft bestimmt, aber nur in instrumenteller Hinsicht, denn sie urteilt nicht darüber, »ob der Zweck vernünftig oder gut sei« (GMS, 415). Wird der Wille hingegen »unausbleiblich« von der Vernunft bestimmt, dann wäre dieser vermögend, unabhängig von der Neigung nach dem zu han‐ deln, was von der Vernunft als unbedingt »gut« erkannt wird. Der Wille eines sinnlich vernünftigen Wesens geht damit nicht unbedingt mit dem objektiv Notwendigen zusammen. Genau in die‐ sem Moment kann das subjektive Wollen mit dem objektiven Sollen in Konflikt geraten. Die objektiven Gesetze der Vernunft wirken auf diesen »subjektiv zufälligen« Willen deshalb nötigend: [...] so sind die Handlungen, die objektiv als notwendig erkannt werden, subjektiv zufällig, und die Bestimmung eines solchen Willens, objekti‐ ven Gesetzen gemäß, ist Nötigung, d.i. das Verhältnis der objektiven Gesetze zu einem nicht durchaus guten Willen wird vorgestellt als die Bestimmung des Willens eines vernünftigen Wesens zwar durch Gründe der Vernunft, denen aber dieser Wille seiner Natur nach nicht notwendig folgsam ist. (GMS, 412/413).

Eine Nötigung beschreibt das Spannungsverhältnis zwischen den von der Vernunft vorgelegten objektiven Gesetzen und einem Wil‐ len, der seiner Natur nach diesen Gesetzen »nicht notwendig folg‐ sam ist«. Dieses objektive Gesetz, welches von der Vernunft vorge‐ 138 Ludwig unterscheidet die erste und zweite Neigung nach Kantischer Termi‐ nologie in zukünftige und aktuelle Reize. Ludwig, B., Aufklärung über die Sittlichkeit. Zu Kants Grundlegung einer Metaphysik der Sitten, S. 58.

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legt wird, heißt dann ein Gebot, wenn es auf den Willen nötigend wirkt. Diesem Gebot liegt eine Formel zugrunde, die Imperative hei‐ ßen und in hypothetisch und kategorisch gebietende Imperative un‐ terschieden werden. Wenn die Vernunft praktische Regeln vorgibt, wie von »einer möglichen Handlung als Mittel zu etwas anderem« (GMS, 413) gelangt werden kann, dann gebietet der Imperativ der Vernunft hypothetisch. Wenn eine Handlung als objektiv-notwendig, das heißt »ohne die Beziehung auf einen anderen Zweck« (GMS, 413) vorgestellt wird, dann gebietet der Imperativ der Vernunft kate‐ gorisch.139 Innerhalb der hypothetischen Imperative unterscheidet Kant wei‐ terhin zwischen problematisch-praktischen und assertorisch-prakti‐ schen Prinzipien. Erstere besagen, ob die Handlung »zu irgend einer möglichen Absicht« gut sei, und die Zweiteren, ob die Handlung »zu irgend einer wirklichen Absicht gut sei« (GMS, 414). Der katego‐ rische Imperativ ist demgegenüber ein apodiktisch praktisches Prin‐ 139 Beide Imperative sagen, was praktisch notwendig getan werden muss: Der hy‐ pothetische Imperativ sagt, welche Mittel notwendig sind, um einen bestimm‐ ten Zweck zu erreichen. Der kategorische Imperativ auf der anderen Seite gebietet eine Handlung, die an sich gut und notwendig ist. In der Sekundärlite‐ ratur wird diskutiert, ob die hypothetischen Imperative in gleicher Weise einen normativen Charakter haben und ob sie überhaupt als Imperative legitimiert sind. Auf der einen Seite vertritt beispielsweise Korsgaard den Standpunkt, dass die hypothetischen Imperative nicht ohne die kategorischen Imperative existieren können, vgl. Korsgaard, C. M., The Normativity of Instrumental Reason, S. 250. Den hypothetischen Imperativen liegt damit in gleicher Weise ein normativer Charakter zugrunde, weil die Vernunft auch hier Einfluss auf das Handeln hat und Prinzipien gebietet, nach denen sich das vernunftbegabte Wesen ausrichten soll. Auf der anderen Seite werden Ansichten vertreten, dass sich der hypothetische Imperativ als weisende Handlungsregel von etwas außerhalb abhängig ist, worauf der Wille keinen Einfluss hat, und daher nicht analytisch aus dem Wollen abgeleitet werden kann, sondern nur synthetisch ist. Wenn der Adressat also einen Zweck will, zu dem er die Mittel bereits kennt, dann will er die Handlung ohnehin, weshalb auch kein Imperativ nö‐ tig ist. Vgl. Cramer, K., Hypothetische Imperative?, S. 211 und hierzu kritisch Bittner, R., Hypothetische Imperative, S. 224. Mit Ludwig ist hiergegen zu erwi‐ dern, dass der hypothetische Imperativ als ein »analytisch-praktischer Satz« i) in praktischer Hinsicht ein Sollen oder Müssen ausdrückt und ii) damit eine Nötigung des Willens enthält, die analytisch bereits im Willen enthalten ist. Ludwig, B., Aufklärung über die Sittlichkeit. Zu Kants Grundlegung einer Metaphysik der Sitten, S. 64. Vgl. auch Allison, H. E., Kant’s Groundwork for the Metaphysics of Morals: A commentary, S. 164.

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zip, das eine Handlung »ohne Beziehung auf irgend eine Absicht, d.i. auch ohne irgend einen Zweck für sich als objektiv notwendig erklärt« (GMS, 414). Da zu jeder möglichen Absicht auch unendlich viele Mittel denk‐ bar sind, vorausgesetzt, dass die Absicht unter gegebenen »Kräften« beispielsweise der Naturgesetze auch umsetzbar ist, kommt es daher darauf an, die bestmöglichen Mittel zur Erreichung des Zwecks zu bestimmen. Dem sogenannten Imperativ der Geschicklichkeit kommt damit kein moralischer Wert zu, denn es kommt lediglich darauf an, die besten Mittel eines jeweiligen Zwecks zu bestimmen. Der Zweck ist dabei jedoch sinnlich bedingt, wodurch die Handlung selbst von jedem moralischen Wert frei ist: Unabhängig von jeder moralischen Beurteilung sind daher ein Arzt und ein Giftmischer vom »gleichen Wert«. Beiden wird objektiv vorgeschrieben, welche die besten Mittel sind, die entweder den Patienten gesund machen, oder im anderen Fall, welche Mittel nötig sind, die das Gift am tödlichsten wirken lassen. Neben den möglichen Absichten, die vernünftige Wesen immer nur verfolgen können, gibt es nun einen Zweck, den alle vernünf‐ tigen Wesen »nach einer Naturnotwendigkeit haben, und das ist die Glückseligkeit« (GMS, 415). Das assertorisch-praktische Prinzip stellt sich damit »die praktische Notwendigkeit einer Handlung als Mittel zur Beförderung der Glückseligkeit vor« (GMS, 415). Dem Prinzip kommt deshalb Notwendigkeit zu, nicht weil es sich auf eine mögliche und damit ungewisse Absicht richtet, sondern auf eine Absicht, die a priori vorausgesetzt werden kann. Der Imperativ ist insofern hypothetisch, als dass er sich auf die »Wahl der Mittel zur eigenen Glückseligkeit bezieht« (GMS, 416). Mittels der Klugheit werden die besten Mittel zur Erreichung einer bestimmten Absicht, hier der Glückseligkeit, gegeneinander abgewogen. Die hypotheti‐ schen Imperative werden immer in Form eines Konditionalsatzes ausgedrückt: Wenn ich A will, dann muss ich B tun. Das gilt sowohl für eine jede mögliche Absicht als auch für diejenige, die auf Glück‐ seligkeit abzielt. Der hypothetische und der kategorische Imperativ unterscheiden sich in Bezug auf die »Ungleichheit der Nötigung des Willens« (GMS, 416). Dabei gibt der Imperativ der Geschicklichkeit Regeln der Klugheit und Ratschläge vor und der kategorische, oder auch der Imperativ der Sittlichkeit genannt, gibt Gebote im Sinne von

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Gesetzen vor. Damit ist der Imperativ der Sittlichkeit der einzige Im‐ perativ, der eine unbedingte Notwendigkeit in Form von Gesetzen vorgibt, »denen gehorcht, d.i. auch wider Neigung Folge geleistet werden muß« (GMS, 416). Den Ratschlägen des Imperativs der Klugheit kommt zwar auch eine Notwendigkeit zu, jedoch nur unter der Bedingung, dass der Mensch diesen Ratschlag zu seiner eigenen subjektiven Glückseligkeit zählt. Die Imperative der Geschicklich‐ keit nennt Kant technisch, die der Klugheit pragmatisch und die der Sittlichkeit moralisch. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass nach Kant die Vernunft praktischen Einfluss auf unser Handeln hat, indem sie unseren Wil‐ len zum Handeln nach ihren Prinzipien nötigt. Da unser Wille auch von Neigungen bestimmt ist, gerät dieser mit den Gesetzen der Ver‐ nunft in Konflikt. Deshalb treten diese Gesetze bei sinnlich beding‐ ten Vernunftwesen als Imperative auf, die ihnen hypothetisch oder kategorisch sagen, was getan werden muss oder soll. Während nach den hypothetischen Imperativen nur die Mittel zur Erreichung eines bestimmten Zwecks vorgegeben werden, gebietet die Vernunft nach dem kategorischen Imperativ moralische Zwecke, die unabhängig von den Bedürfnissen des Handelnden gesetzt werden. Der kategori‐ sche Imperativ wird damit durch zweierlei bestimmt: Erstens ist er ein reines Prinzip, von dem zweitens eine Nötigung und damit ein unbedingtes Sollen ausgehen. Damit ist allerdings noch nicht geklärt, »wie ein kategorischer Imperativ möglich [ist]« (GMS, 453). Die Frage nach der Möglichkeit des kategorischen Imperativs und der von ihm ausgehenden Nötigung lässt sich nur beantworten, wenn wir voraussetzen können, dass mit dem sinnlich-affizierten Charak‐ ter des Willens auch ein reiner Charakter einhergeht, durch den sich der Wille entsprechend dieser Nötigung selbst bestimmt. § 7.2 Deduktion des reinen Willens in ›Grundlegung III‹

Es gibt einige Passagen in Kants philosophischen Schriften, die als dunkel bezeichnet werden können; der dritte Abschnitt der ›Grund‐ legung‹ wird seit Dieter Henrichs Aufsatz zur Deduktion des Sit‐ tengesetzes und der umfangreichen Literatur, die darauf folgte, zu

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dieser Sammlung gezählt.140 Insbesondere die Frage, was der Gegen‐ stand des dritten Abschnitts ist und welchen Zweck dieser verfolgt, wirft Kontroversen in der Literatur auf. Die prominenteste Position geht davon aus, dass hier der kategorische Imperativ oder das Sit‐ tengesetz deduziert wird. Dem steht unter anderem die Position Ludwigs gegenüber, die behauptet, dass die Idee des reinen Willens deduziert wird.141 In der Folge wird deutlich, dass mit der zweiten Lesart auch ein konzeptioneller Zusammenhang zur ›Kritik der praktischen Vernunft‹ möglich ist, in der Kant nach der verbreiteten Meinung mit dem »Faktum der reinen Vernunft« die Deduktion des kategorischen Imperativs für gescheitert erklärt. In diesem Kapitel argumentiere ich, dass dies nicht der Fall ist und dass vielmehr die Deduktion des reinen Willens aus der unkritischen Voraussetzung des intelligiblen Charakters des Menschen für verfehlt erklärt und durch das »Faktum« ersetzt wird. Da Kant den Begriff der Deduktion an drei unterschiedlichen Stellen und Kontexten verwendet, ist es nicht sonderlich überra‐ schend, dass in der Literatur Uneinigkeit über die Deduktions-Fra‐ ge herrscht. Ganz im Gegenteil scheint diese Uneinigkeit sogar mit Blick auf den Text ihre Berechtigung zu finden.142 Eine Gegen‐ überstellung der Textstellen zeigt, dass diese in Bezug auf den Ge‐ genstand der Deduktion unterschiedlicher nicht sein können: Am Anfang des dritten Abschnitts spricht Kant von einer »Deduktion des Begriffs der Freiheit«, in der Mitte spricht Kant rückblickend von der »Richtigkeit dieser Deduktion«, wobei hier der Gegenstand 140 Henrich, D., Die Deduktion des Sittengesetzes, S. 55–112. 141 Vgl. Ludwig, B., Aufklärung über die Sittlichkeit. Zu Kants Grundlegung einer Metaphysik der Sitten, S. 97. Auch der Idee kritisch gegenüberstehend, dass Kant den kategorischen Imperativ in GMS III deduziert, vgl. Puls, H., Sittliches Bewusstsein und kategorischer Imperativ in Kants ›Grundlegung‹, S. 7f. und vgl. außerdem Sedgwick, S., Kant’s Groundwork of the Metaphysics of Morals, S. 186. 142 Allison weist auf diesen Umstand hin, schreibt Kant aber eine einfache Unauf‐ merksamkeit zu und beachtet dieses Problem nicht weiter, vgl. Allison, H. E., Kant’s Groundwork for the Metaphysics of Morals: A commentary, S. 275. Lud‐ wig vertritt hingegen die These, dass sich die Dunkelheit des dritten Abschnitts dann auflöst, wenn der Frage nach dem Deduktionsobjekt nachgegangen wird, welches aufgrund der vielseitigen Hinweise Kants im Text nicht eindeutig zu bestimmen ist, vgl. Ludwig, B., Was wird in Kants ›Grundlegung‹ eigentlich deduziert? Über einen Grund der vermeintlichen Dunkelheit des ›Dritten Ab‐ schnitts‹, S. 431f.

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nicht klar benannt wird, und am Ende von der »Deduktion des obersten Prinzips der Moralität«. Hiervon ausgehend, bieten sich zwei Interpretationsmöglichkeiten an: Zum einen könnte man an‐ nehmen, dass drei unabhängige Deduktionen mit unterschiedlichen Gegenständen stattfinden und zum anderen könnte es sich hierbei um einen Prozess handeln, bei dem die drei Deduktionen Zwischen‐ schritte repräsentieren und aufeinander aufbauen. Da, dem ersten Modell folgend, alle Deduktionen gleichwertig zu betrachten sind, wäre es entsprechend widersprüchlich, einen dieser Deduktionen als die entscheidende Deduktion hervorheben zu wollen. Im zweiten Modell ist die Reihenfolge, in der die Deduktionen im Text erwähnt werden, entscheidend. Einem Prozess gleichkommend, können wir in der erstgenannten Deduktion die Bedingung, in der zweiten die eigentliche Deduktion und die dritte als das, was aus ihr folgt, inter‐ pretieren. Dies gilt jedoch nur unter der Voraussetzung, dass der reine Wille den Gegenstand der Deduktion in der vierten Sektion bezeichnet. Im Folgenden werde ich die These vertreten, dass Kant im dritten Abschnitt die Deduktion des reinen Willens aufzeigt. Die »Schlußanmerkung« (GMS, 463) gibt einen Hinweis darauf, was das eigentliche Ziel der Deduktion im dritten Abschnitt ist, die nämlich die übergeordnete Frage nach der Möglichkeit und Wirk‐ lichkeit der Freiheit des Willens betrifft. Hier ist Kant bemüht, auf die Parallelen zwischen dem praktischen und spekulativen Gebrauch der Vernunft aufmerksam zu machen, die beide auf das Ziel des »Unbedingt-Notwendigen« (GMS, 463) hinführen. In spekulativer Hinsicht musste in »Ansehung der Natur« (GMS, 463) eine unbe‐ dingte oberste oder erste Ursache der Welt angenommen werden, um eine notwendige Verknüpfung von Ereignissen in der Natur un‐ ter Naturgesetzen voraussetzen zu können. Die Annahme einer un‐ bedingten Ursache setzt damit die Bedingung der Möglichkeit von Gesetzmäßigkeit überhaupt voraus. In praktischer Hinsicht führt die Vernunft »in Absicht auf die Freiheit« (GMS, 463) und ihrer Gesetze auf die praktische Notwendigkeit, die unseren Handlungen unterliegt. Dieses Bedürfnis der Vernunft, ihre Erkenntnis bis zum Unbe‐ dingten erweitern zu wollen, ist aber nicht uneingeschränkt möglich. Denn die absolute Notwendigkeit kann die Vernunft weder in spe‐ kulativer noch in praktischer Hinsicht begründen. Da die begrenzte menschliche Vernunft immer nur eine bedingte Notwendigkeit er‐

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kennen kann, verliert sie sich also in ständiger Nachfrage nach der unbedingten Bedingung, der nichts vorhergeht und die nicht durch raumzeitliche Bedingungen eingesehen werden kann. Sowohl in theoretischer als auch praktischer Hinsicht ist die Vernunft aufgrund ihres Bedürfnisses daher »genötigt« (GMS, 463), das Unbedingte unter der Idee einer transzendentalen Freiheit als absolute Sponta‐ neität anzunehmen, auch wenn es für uns weiterhin unerklärbar ist. Dieses betrifft eben auch die absolute Notwendigkeit eines unbe‐ dingt praktischen Gesetzes, »dergleichen der kategorische Imperativ sein muß« (GMS, 463), das uns unbegreiflich bleiben muss. Auch in spekulativer Hinsicht gilt, dass der Begriff der Naturnot‐ wendigkeit kein Erfahrungsbegriff, sondern gerade, weil er den Be‐ griff der Notwendigkeit mit sich führt, ein Begriff a priori ist. Im Gegensatz zur Freiheit bestätigt sich aber der Begriff der Natur auf‐ grund von Erfahrung, wonach alles, was geschieht, notwendig nach Naturgesetzen bestimmt ist und daher für eine kohärente Erfahrung vorausgesetzt werden muss. Während die objektive Realität der Frei‐ heit zweifelhaft bleibt und nur als Idee der Vernunft angenommen werden kann, beweist die Natur als Verstandesbegriff ihre Realität »an Beispielen in der Erfahrung« (GMS, 455). Der Begriff der Freiheit, der »niemals nach irgendeiner Analogie ein Beispiel unterlegt werden mag« (GMS, 459), kann niemals »be‐ griffen« (GMS, 459) oder »eingesehen« (GMS, 459) werden. Es kann demnach genauso wenig erklärt werden, ob etwas aus Freiheit geschehen ist, weil wir auf kein Gesetz zurückführen können, »de‐ ren Gegenstand in irgendeiner möglichen Erfahrung gegeben wer‐ den kann« (GMS, 459). Nach der ›Kritik der reinen Vernunft‹ wäre daher eine Deduktion der Freiheit als Idee nicht möglich, da ihr kein empirischer Gegenstand korrespondiert.143 Wenn der Begriff der Deduktion im erweiterten Sinne als »Rechtfertigung« verstanden 143 Mit Ludwig muss kritisch angemerkt werden, dass Kant den Begriff der De‐ duktion als terminus technicus verwendet. Da er ihn in anderen Zusammen‐ hängen auch als »Ableitung« oder »Rechtfertigung« verwendet, weist Ludwig darauf hin, dass Kant terminologisch unsauber arbeitet, vgl. ebenda, S. 433. Ein Blick in die erste Kritik zeigt jedoch, dass wir den Begriff der Deduktion hier in diesem erweiterten Sinn verwenden können. In der Kritik der reinen Vernunft wird mittels einer transzendentalen Deduktion der rechtmäßige Ge‐ brauch reiner Begriffe auf Erfahrung gezeigt und, damit einhergehend, ihre objektive Realität. Sicherlich kann nicht davon ausgegangen werden, dass Frei‐ heit oder Gesetz, denen keine Anschauung zugrunde liegt, ihren rechtmäßigen

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wird, dann stellt sich unmittelbar die Frage, gegenüber wem etwas gerechtfertigt werden muss bzw. wen das in der Deduktion vorgeleg‐ te Argument überzeugen soll. Insbesondere in der vierten Sektion des dritten Abschnitts wird klar, dass der Moralskeptiker zu einem – wenn nicht zu dem – Adressaten gehört. Da aber die Wirklichkeit der Freiheit nicht gezeigt werden kann, wird sich dieser nicht von einem rein analytischen Argument überzeugen lassen. Mit der Einsicht, dass uns die Freiheit und die ihr vorauszusetzen‐ de praktische Notwendigkeit unbegreiflich sind, folgt jedoch nicht, dass diese grundsätzlich in Zweifel zu ziehen sind, da wir uns im‐ mer noch als frei »denken« können. Insbesondere dann, wenn wir über unser Handeln nachdenken, sehen wir die Notwendigkeit der Freiheit ein. Man könnte also nun geneigt sein zu behaupten, dass ebendiese Notwendigkeit deduziert wird. Das Problem hierbei ist jedoch, dass man sich im Vergleich zur Kausalität in spekulativer Hinsicht nicht auf Erfahrung beziehen kann. Diese Notwendigkeit ließe sich bestenfalls indirekt zeigen, da sie keine Anschauung hat. Der entscheidende Schritt in der Deduktion ist zu sagen, dass der Mensch als Wesen der sinnlichen Welt auch Ideen hat und damit auch zur intelligiblen Welt gezählt werden muss. Dies legt den Standpunkt nahe, dass eben die Deduktion des reinen Willens der entscheidende Schritt in der Deduktion ist. Durch die Deduktion des reinen Willens wird auf die Freiheit und, von ihr ausgehend, auf das moralische Gesetz geschlossen. 7.2.1 Autonomie des Willens Wenn es um die Frage geht, wie moralische Handlungen möglich sind, dann geht mit ihr die Frage nach der Möglichkeit eines freien Willens einher. In der ersten Sektion des dritten Abschnitts ergibt sich dieser Zusammenhang aus dem negativen und positiven Begriff der Freiheit, der dem Willen zum einen als Kausalität zugrunde liegt und zum anderen das Vermögen zuschreibt, sich selbst nach vernünftigen Gesetzen zu bestimmen. Unter der Voraussetzung, dass Gebrauch durch eine Deduktion dieser Art erhalten. Dennoch muss ihr eine Deduktion vorausgehen und damit ihr rechtmäßiger Gebrauch vor dem Mo‐ ralskeptiker verteidigt werden, weshalb der Begriff der Deduktion in diesem erweiterten Sinne verstanden werden muss.

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der Wille eine Kausalität ist und diese die Eigenschaft der Freiheit hat, muss ihr als Kausalität auch ein Gesetz zugrunde liegen, das unabhängig von Naturgesetzen ist. Dieses Gesetz kann somit nur vom Willen selbst mittels seiner Autonomie gegeben sein. Dem Titel des Abschnitts folgend, soll hier also vordergründig das zunächst nur begriffliche Verhältnis zwischen Freiheit und Autonomie bestimmt werden, wozu der Begriff der Freiheit als »Schlüssel zur Erklärung der Autonomie des Willens« dient. Bemerkenswert ist hierbei, dass schon allein aus dieser analytischen Betrachtung heraus das Prinzip der Sittlichkeit und aus diesem schließlich der kategorische Impera‐ tiv abgeleitet werden können. Der Wille wird in der ersten Sektion als eine Art von Kausalität beschrieben, sodass er definitionsgemäß zugleich die Ursache als auch die aus ihr hervorgehende Wirkung als Handlung enthält: Der Wille ist eine Art von Kausalität lebender Wesen, sofern sie ver‐ nünftig sind, und Freiheit würde diejenige Eigenschaft dieser Kausalität sein, da sie unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wir‐ kend sein kann; so wie Naturnotwendigkeit die Eigenschaft der Kausali‐ tät aller vernunftlosen Wesen, durch den Einfluß fremder Ursachen zur Tätigkeit bestimmt zu werden. (GMS, 446).

Der Kausalität des Willens kommt weiterhin die Eigenschaft der Freiheit zu, wodurch sie »unabhängig von fremden sie bestimmen‐ den Ursachen wirkend sein kann« (GMS, 446) und nicht wie die Naturnotwendigkeit »durch den Einfluß fremder Ursachen zur Tä‐ tigkeit bestimmt« (GMS, 446) ist. Ein freier Wille bedeutet dement‐ sprechend, dass sich dieser unabhängig von natürlichen Ursachen bestimmen kann, während vernunftlose Wesen andererseits voll‐ ständig durch Naturgesetze determiniert sind. Da die Bestimmung der Kausalität des Willens bisher nur in Abgrenzung zur Naturkau‐ salität erfolgt ist, konnte der Begriff der Freiheit als Unabhängigkeit zur Naturnotwendigkeit auch nur negativ »erklärt« werden. Einer‐ seits können wir mit dem negativen Begriff der Freiheit zwar auf die Unabhängigkeit des Willens zu den Naturgesetzen schließen. Ande‐ rerseits ist der Wille aber noch nicht autonom, da er noch gesetzlos ist und unser Handeln vielmehr einer Zufälligkeit und weniger einer Notwendigkeit unterliegt. Auf den negativen Begriff der Freiheit folgt jedoch auch eine posi‐ tive Erklärung der Freiheit, »der desto reichhaltiger und fruchtbarer

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ist« (GMS, 446). Freiheit im positiven Sinne schafft Ursachen, die im Gegensatz zu den physischen Ursachen auf eine andere Natur als die der Sinnenwelt verweisen. Ähnlich wie bei den Naturursa‐ chen, denen die Naturgesetze zugrunde liegen müssen, um eine notwendige Verbindung zur Wirkung zu etablieren, muss auch dem Willen als Kausalität, die nicht durch fremde Ursachen bestimmt ist, eine praktische Notwendigkeit zukommen, die ihr durch ein Gesetz verliehen werden muss. Dieses beschreibt aber nichts anderes als den nomologischen Charakter der Kausalität, den Kant bereits in der ersten Kritik voraussetzt, wonach »eine jede wirkende Ursache einen Charakter haben [muss], d.i. ein Gesetz ihrer Kausalität, ohne welches sie gar nicht Ursache sein würde« (KrV, A 539). In der ›Grundlegung‹ greift Kant dieses entsprechend wieder auf, sodass »der Begriff der Kausalität den von Gesetzen bei sich führt« (GMS, 446).144 Daraus folgt, dass ein freier und zugleich gesetzloser Wille undenkbar und damit als »Unding« zu deklarieren ist. Der freie Wille unterliegt einem Kausalgesetz, das ihm praktische Notwendig‐ keit verleiht, selbst aber nicht das Naturgesetz ist. Im Gegensatz zur Heteronomie der Naturnotwendigkeit, nach der die Ursache einer Wirkung durch eine ihr vorhergehende Ursache bestimmt ist, kommt dem Willen vielmehr die Eigenschaft der Autonomie zu, das heißt die Möglichkeit, »spontan« und damit aus sich selbst heraus ein Gesetz zu sein. Der positive Begriff der Freiheit ist demnach die Autonomie des Willens. Auf die Frage, woher dieses Gesetz kommt, das der freie Wille sich selbst gibt und dem er gleichzeitig unterworfen ist (vgl. GMS, 431), erkennt Korsgaard ein fundamentales Problem in dem Prinzip der Autonomie des Willens: But because the will is free, no law or principle can be imposed on it from outside. Kant concludes that the will must be autonomous: that is, it must have its own law or principle. And here again we arrive at the problem. For where is this law to come from? If it is imposed on the will from outside then the will is not free. So the will must adopt the law for itself. But until the will has a law or principle, there is nothing from which it can derive a reason. So how can it have any reason for adopting one law rather than another?145 144 Vgl. außerdem hierzu Ludwig, B., Aufklärung über die Sittlichkeit. Zu Kants Grundlegung einer Metaphysik der Sitten, S. 103 und Fn. 225.

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Mit Verweis auf den zweiten Abschnitt der ›Grundlegung‹ argumen‐ tiert Korsgaard, dass der Wille als praktische Vernunft nicht ohne rationalen Grund handeln kann, weshalb auch der freie Wille sein Handeln nach Prinzipien ausrichten muss. Da das Prinzip oder Ge‐ setz dem freien Willen nicht von außen aufgedrängt werden kann, spricht Kant diesem eine Autonomie zu, wodurch der Wille sich das Gesetz selbst auferlegen kann. Es stellt sich sogleich die Frage, woher dieses Gesetz nun kommt. Das Problem zeigt sich nach Korsgaard nun dahin gehend, dass das Gesetz, das sich der Wille gibt, bereits einen Grund seiner Handlung auszeichnet, dem wiederum ein Ge‐ setz oder Prinzip vorausgegangen sein muss, aus dem er den Grund zuerst ableiten kann. Als Lösung für Korsgaards Problem kann ar‐ gumentiert werden, dass im Begriff des freien Willens bereits das Gesetz enthalten ist, sodass sich das Problem eines vermeintlichen Zirkels auflöst. Dass dieses Gesetz kein geringeres als das Sittengesetz ist, ergibt sich wiederum aus den Ausführungen Kants selbst. Der autonome Wille, der sich selbst ein Gesetz ist, bezeichnet nach Kant daher auch ein Prinzip, »nach keiner anderen Maxime zu handeln, als die sich selbst auch als ein allgemeines Gesetz zum Gegenstande haben kann« (GMS, 447), was aber nichts anderes als die Formel des kategorischen Imperativs und das Prinzip der Sittlichkeit beschreibt. Während ein vollkommen guter Wille notwendig nach dem Prinzip der Autonomie handelt, gilt dieses Prinzip für ein unvollkommenes Wesen, das zwar frei, aber sinnlich affiziert ist, als ein kategorischer Imperativ. Obwohl hier noch die Frage des Moralskeptikers, warum sich unvollkommene Wesen dem unbedingten Sollen des kategori‐ schen Imperativs unterwerfen sollen, unbeantwortet bleibt, steht in jedem Fall fest, dass ein freier Wille und das Prinzip der Sittlichkeit notwendig zusammengehen. Deshalb gilt nach Kant auch das Äquivalent, dass »ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei ist« (GMS, 447).146 Dieser Satz drückt eine Definition aus und bestimmt den Geltungsbereich der sittlichen Gesetze. Die sittlichen Gesetze bezie‐ 145 Korsgaard, C. M., The Sources of Normativity, S. 98. 146 In der Sekundärliteratur werden verschiedene Vorschläge unterbreitet, wie diese Aussage zu interpretieren ist. Schönecker und Wood gehen beispielsweise davon aus, dass Kant mit dieser Aussage die Gleichsetzung von Freiheit und Sittlichkeit ausdrückt, und fassen sie daher unter der sogenannten »Analyzi‐

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hen sich auf nichts anderes als den freien Willen und dieser steht un‐ ter allen Umständen unter diesen Gesetzen. Zur Veranschaulichung der Beziehung zwischen sittlichen Gesetzen und dem freien Willen kann folgende Analogie aus der Physik herangezogen werden: Ein geladenes Teilchen und ein Teilchen, das unter den MaxwellschenGesetzen steht, sind einerlei. Mit diesem Satz wird ausgedrückt, dass sich über geladene Teilchen nichts weiter aussagen lässt, außer, dass die Maxwellschen-Gesetze auf diese Anwendung finden. Der Begriff eines geladenen Teilchens steckt also nur den Anwendungsbereich der Maxwellschen-Gesetze ab, so wie ein freier Wille an dieser Stelle nur den Anwendungsbereich der sittlichen Gesetze absteckt. Wenn wir also von einem freien Willen sprechen, dann können wir nichts anderes meinen als einen Willen, auf denen die sittlichen Gesetze Anwendung finden, wie Kant im Vorhergehenden gezeigt hat. Die Diskussionen in der Sekundärliteratur stellen zwei mögliche Interpretationen der Formulierung Kants vor: Dabei ist ein freier Wille entweder einer, der unter sittlichen Gesetzen »tatsächlich immer moralisch handelt«, »handeln soll« oder »handeln will«.147 tätsthese«. Das heißt, dass ein freier Wille immer das Gute will und folglich im Begriff eines mit einem freien Willen begabten Vernunftwesens analytisch seine Autonomie enthalten ist, vgl. Schönecker, D. and Wood, A. W., Immanuel Kant »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, S. 176. Allison andererseits vertritt die These, dass Freiheit und Sittlichkeit in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander stehen. Diese Position wird als die »Reciprocity The‐ sis« bezeichnet, vgl. Allison, H. E., Morality and Freedom: Kant’s Reciprocity Thesis, S. 394. Bojanowski hingegen schlägt an Stelle der Analyzitätsthese die Bezeichnung »Identitätsthese« vor, da mit ihr das bikonditionale Verhältnis von Freiheit und Gesetz stärker hervorgehoben wird, vgl. Bojanowski, J., Die Deduktion des Kategorischen Imperativs, S. 91. Diese Identität kann aber nur eine begriffliche Identität zwischen einem freien Willen und einem Willen unter sittlichen Gesetzen meinen, was nichts anderes als eine Definition aus‐ drückt. Einer Definition kommt darüber hinaus immer die Eigenschaft der Re‐ ziprozität zu. Da eine Definition weder beweisbar noch widerlegbar ist, kann aber nicht von einer »These« gesprochen werden, vgl. Ludwig, B., Aufklärung über die Sittlichkeit. Zu Kants Grundlegung einer Metaphysik der Sitten, S. 199 [Fn. 228]. Was Kant also in diesem Abschnitt zeigt, ist nicht die Konstruktion einer These, die er später beweisen möchte, sondern eine sinnvolle Definition für »freier Wille«. Vgl. außerdem § 10.3 dieser Arbeit, in dem dieser Satz auch in Bezug auf die Zurechnung böser Handlungen diskutiert wird. 147 Vgl. Schönecker, D. and Wood, A. W., Immanuel Kant »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, S. 176f.

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Diese Interpretationen sind in zweierlei Hinsicht problematisch. Zu‐ nächst stehen sie unter der Prämisse, dass der Begriff des freien Willens sich tatsächlich auf ein Realexistierendes, was »soll«, »han‐ delt« oder »will«, anwenden lässt. Aus der ersten Sektion ergibt sich diese Annahme jedoch noch nicht.148 Des Weiteren wird teil‐ weise suggeriert, dass ein freier Wille die Möglichkeit hätte, nicht nach dem Sittengesetz zu handeln oder handeln zu wollen. Dies widerspricht jedoch gerade der Definition eines freien Willens, für den die sittlichen Gesetze als Gesetze immer Geltung finden. Die eigentliche Frage ist also nicht, in welcher Form der freie Wille unter den sittlichen Gesetzen steht, sondern inwieweit sich der Begriff anwenden lässt. Der Moralskeptiker sollte sich deshalb auch nicht fragen, warum er sich den sittlichen Gesetzen unterwerfen sollte, sondern vielmehr, ob er überhaupt einen freien Willen hat.149 Nachdem Kant in diesem Abschnitt zunächst also nur aufgezeigt hat, dass sich aus der Begriffszergliederung der Freiheit das oberste Prinzip der Sittlichkeit ableiten lässt und damit der Schlüssel zur Erklärung der Autonomie ist (vgl. GMS, 447), wird in den folgenden Sektionen aufgezeigt, inwieweit sich der Begriff eines freien Willens anwenden lässt. In der folgenden zweiten Sektion stellt Kant dafür dar, dass wir als vernünftige Wesen notwendig annehmen müssen, dass sich dieser Begriff auf uns anwenden lässt.

148 Mit Bezug auf Schönecker und Wood können die ersten beiden Deutungen der Analytizitätsthese insofern kritisiert und verworfen werden, als dass es bzgl. der ersten Deutung nicht immer der Fall ist, dass ein sinnlich-vernünftiges Wesen mit einem freien Willen immer moralisch handelt. Auch die Deutung, dass ein freier Wille, der unter dem Gesetz steht und nach ihm handeln soll, wird verworfen. Es wird richtig angemerkt, dass in der ersten Sektion die Geltung des kategorischen Imperativs noch nicht bewiesen ist. Sie schlagen daher die dritte Lesart der Analytizitätsthese vor, die besagt, dass ein freier Wille immer das Gute will. Vgl. ebenda, S. 177. Auch diese Lesart wird von mir kritisiert. 149 Wenn Kant also von einem Moralskeptiker spricht, dann versteht er darunter keinen Amoralisten, der das moralische Gesetz per se leugnet. Unter einem Moralskeptiker versteht Kant jemanden, der das moralische Gesetz nicht an‐ zweifelt, aber wissen möchte, wie in einer bedingten Natur (des Menschen) ein unbedingtes oder kategorisches Sollen möglich ist. Er sucht also nach einem Erklärungsgrund für die Moral, deren Existenz er nicht infrage stellt. Vgl. Rosefeldt, T., Kant über das Sollen als Wollen, S. 287.

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7.2.2 Notwendige Annahme eines freien Willens In der zweiten Sektion des dritten Abschnitts der ›Grundlegung‹, der unter dem Titel »Freiheit muß als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden« steht, liefert Kant einen Beweis für die notwendige Annahme einer Voraussetzung eines frei‐ en Willens für vernünftige Wesen. Am Ende der ersten Sektion wird bereits in Aussicht gestellt, dass diese »Deduktion der Freiheit aus der reinen praktischen Vernunft« erfolgen soll. Entgegen der in der Literatur aufgestellten These, dass Kant von der Freiheit der theore‐ tisch-spekulativen Vernunft auf die Freiheit der praktischen Vernunft schließt, lässt sich hier der Einwand erheben, dass aus theoretischer Hinsicht weder die Wirklichkeit noch die Möglichkeit einer prakti‐ schen Freiheit bewiesen werden konnten und entsprechend kein Schluss von der Freiheit der theoretischen Vernunft auf die Freiheit der praktischen Vernunft möglich ist.150 Weiterhin schreibt Kant, dass diese Folgerung auch nicht nötig sei und wir uns »von der Last befreien [können], die die Theorie drückt« (GMS, 448, Fn.). Es wird sich vielmehr zeigen, dass bei einem praktischen Gebrauch der Vernunft notwendigerweise dem Willen die Eigenschaft der Frei‐ heit zugeschrieben werden muss, weil es sonst dem allgemeinen Vernunftbegriff widerspricht. Dieses Beweisziel kann allerdings nur »a priori« dargetan wer‐ den, da es »schlechterdings unmöglich« ist, die Freiheit »aus gewis‐ sen vermeintlichen Erfahrungen von der menschlichen Natur darzu‐ tun«, da diese dann nur sinnlich-vernünftigen und nicht »jedem vernünftigen Wesen« zugesprochen wird (vgl. GMS, 448). Dasselbe gilt nun auch für das Gesetz der Sittlichkeit, das nicht »für uns bloß als für vernünftige Wesen«, sondern »für alle vernünftige[n] Wesen« gilt. Da dieses Gesetz aber aus der Freiheit abgeleitet werden muss, gilt es zu beweisen, dass auch die Freiheit als Eigenschaft des Willens für alle vernünftigen Wesen beigelegt werden muss.151 150 Vgl. Schönecker, D. and Wood, A. W., Immanuel Kant »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, S. 192. Vgl. hierzu kritisch Bojanowski, J., Kants Theorie der Freiheit, S. 216f. [Fn. 77]. 151 Timmermann zustimmend, kann nicht davon ausgegangen werden, dass hier die menschliche Freiheit bewiesen wird. Aus dieser fälschlichen Annahme wäre die Deduktion des Sittengesetzes bereits abgeschlossen, da die Freiheit die ratio essendi der Autonomie ist. Damit wäre der eigentliche Gegenstand

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Die Beweisstruktur gliedert sich entsprechend eines syllogisti‐ schen Ansatzes in einen Ober-, Unter- und Schlusssatz. Dem Ober‐ satz geht folgende Behauptung voraus: Ich sage nun: Ein jedes Wesen, das nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln kann, ist eben darum in praktischer Rücksicht wirklich frei, d.i. es gelten für dasselbe alle Gesetze, die mit der Freiheit unzertrennlich verbunden sind, ebenso als ob sein Wille auch an sich selbst und in theoretischer Philosophie gültig, für frei erklärt würde. (GMS, 448).

Die wesentliche Aussage in diesem Absatz ist zunächst, dass die Idee der Freiheit eine notwendige Bedingung fürs Handeln ist. Auf den ersten Blick könnte man den ersten Satz so lesen, dass es bestimm‐ te Wesen gibt, die »nicht anders« können, als unter der Idee der Freiheit zu handeln. Im Umkehrschluss wäre es also auch denkbar, dass es Wesen gibt, die sehr wohl auch unabhängig von der Idee der Freiheit handeln können. Damit wäre die Idee der Freiheit in dieser Lesart nur eine hinreichende Bedingung fürs Handeln. Es ist jedoch hervorzuheben, dass für bestimmte Wesen kein Handeln als unter der Idee der Freiheit möglich ist und damit »nicht anders«, das heißt notwendigerweise und nur unter ihr handeln können. Eine mögliche Erklärung, warum ausgerechnet die Idee der Freiheit für bestimmte Wesen eine notwendige Bedingung fürs Handeln ist, betrifft die Zurechnung von Handlungen. In der ›Kritik der prakti‐ schen Vernunft‹ weist Kant beispielsweise explizit darauf hin, dass

der GMS III abgeschlossen, was jedoch die Frage offen lässt, welchen Zweck die weiteren drei folgenden Sektionen erfüllen. Vgl. Timmermann, J., Kant’s Groundwork of the Metaphysics of Morals. A Commentary., S. 127 [Fn. 17]. Oliver Sensen vertritt demgegenüber, dass »die Existenz des Moralgesetzes aus einem einfachen Modus Ponens [besteht]: Sek. 1: Wenn es Freiheit gibt, dann gibt es das Moralgesetz. Sek. 2: Es gibt Freiheit [...]« Sensen, O., Die Begründung des Kategorischen Imperativs, S. 236. Porcheddu argumentiert kri‐ tisch hierzu, dass dann, wenn Kant einen gültigen Beweis der Freiheit bereits in Sektion 2 geliefert hätte, sich der berühmte Zirkel in der dritten Sektion erübrigen würde, vgl. Porcheddu, R., Wie argumentiert Kant in den Sektionen 2 und 3 des Deduktionskapitels der Grundlegung?, S. 233. Mit Verweis auf die genannten Punkte behaupte auch ich, dass es in der zweiten Sektion allein um die notwendige Annahme der Freiheit geht. Was noch zu zeigen gilt, ist daher, dass wir uns als sinnlich-vernünftige Wesen auch in praktischer Hinsicht als wirklich frei denken können. Dieses ist schließlich Thema der dritten Sektion.

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ohne die Freiheit (im transzendentalen Sinne) keine Zurechnung möglich ist (vgl. KpV, 97). Aus dem zweiten Teilsatz ergibt sich nun die zunächst irritierende Behauptung, dass diese Wesen, für die die Idee der Freiheit eine not‐ wendige Bedingung fürs Handeln ist, »eben darum« auch praktisch »wirklich« frei sind. Die Irritation ergibt sich mit einem Verweis auf die Auflösung der dritten Antinomie, in der es deutlich heißt, dass dort weder die Wirklichkeit noch die Möglichkeit der Freiheit bewiesen werden können. Mit der Auflösung der dritten Antinomie konnte Kant lediglich aufzeigen, dass die Vereinbarkeit von Freiheit und Naturnotwendigkeit denkmöglich ist. Dass Kant nun seine An‐ sichten in der ›Grundlegung‹ revidiert haben soll, ist mit Verweisen innerhalb der ›Grundlegung‹ selbst nicht vertretbar. In der fünften Sektion des dritten Abschnitts der ›Grundlegung‹ schreibt Kant beispielsweise mit einer direkten Referenz auf die Ergebnisse des Dialektik-Abschnitts der ersten Kritik, dass zum einen die objektive Realität der Freiheit als Vernunftidee »an sich zweifelhaft ist«, und wir zum anderen auch »niemals« begreifen können, »wie Freiheit möglich ist«.152 Da aber in theoretischer Hinsicht zumindest gezeigt werden konnte, dass Freiheit widerspruchsfrei denkmöglich ist, kön‐ nen wir in praktischer Hinsicht die Handlungen eines Wesens unter der Idee der Freiheit betrachten und so tun, »als ob« es auch in theoretischer Hinsicht »für frei erklärt würde«. Unabhängig davon, ob in theoretischer Hinsicht weder die Wirklichkeit noch die Mög‐ lichkeit der Freiheit bewiesen werden konnten und damit auch un‐ bestimmt bleiben muss, ob freie Handlungen möglich sind, kann ein Wesen dennoch gemäß dieser Idee handeln und somit in praktischer Rücksicht für frei erklärt werden, für das die Gesetze der Freiheit Gültigkeit haben.153 152 Weitere Referenzen auf die Auflösung der dritten Antinomie und der Ansicht, dass Freiheit zwar nicht erkennbar, aber denkmöglich ist, erfolgen auch in späteren Schriften, wie zum Beispiel in der zweiten Auflage der Einleitung zur ersten Kritik (vgl. KrV, B XXVIII) oder auch in der zweiten Kritik, in der deren Auflösung sogar als voraussetzungswürdig und essenziell gilt (vgl. KpV, 97). 153 In einer Metaphysik-Vorlesung von 1782/83 heißt es, dass Freiheit zwar eine Idee ist, sein Handeln aber gemäß dieser Idee auszurichten, »frei sein im praktischen Verstande« bedeutet. Hieraus zieht Kant folgende Konsequenz: »Die Freiheit ist [...] practisch nothwendig – der Mensch muss also nach einer Idee von Freiheit handeln, und anders kann er nicht.« Da Freiheit praktisch

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Wird im Obersatz noch etwas vage von einem jeden Wesen ge‐ sprochen, grenzt sich – wie bei einem syllogistischen Schluss üblich – der Untersatz auf jedes vernünftige Wesen mit einem Willen ein, dessen Handlungen notwendigerweise unter der Idee der Freiheit stehen müssen: Nun behaupte ich: daß wir jedem vernünftigen Wesen, das einen Willen hat, notwendig auch die Idee der Freiheit leihen müssen, unter der es allein handle.

Dem Untersatz folgt das Argument, das begründen soll, warum wir einem willensbegabten Vernunftwesen die Idee der Freiheit leihen »müssen«. Das Argument besagt, dass wir uns i) in einem solchen Wesen eine praktische Vernunft denken, wodurch ihm ii) eine eigene Kausalität zustehen muss: Denn in einem solchen Wesen denken wir uns eine Vernunft, die prak‐ tisch ist, d.i. Kausalität in Ansehung ihrer Objekte hat.

Im zweiten Abschnitt der ›Grundlegung‹ hat Kant gezeigt, dass die Vernunft praktischen Einfluss auf unser Handeln hat, indem von ihr die Handlungsprinzipien abgeleitet werden, nach denen sich der Wille richtet (vgl. 6.1.2). Diesem Ergebnis folgend, wurden der (all‐ gemeine) Wille und die praktische Vernunft einander gleichgesetzt. Darüber hinaus wird im dritten Abschnitt die praktische Vernunft oder der Wille um die Eigenschaft erweitert, eine »Kausalität in An‐ sehung ihrer Objekte« zu besitzen. Ausgehend von dieser Willensbe‐ stimmung, kann allererst die Idee der Freiheit etabliert werden, die mit Rückblick auf die erste Sektion »unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend sein kann« (GMS, 446) und der Naturkausalität gegenübersteht. Im Gegensatz zur Naturkausalität, die als die »Kausalität aller vernunftlosen Wesen« beschrieben wird, kommt die Kausalität aus Freiheit schließlich nur lebenden Wesen zu, die »vernünftig sind«.154 notwendig ist, kann der Mensch nicht anders, als sein Handeln nach der Idee der Freiheit auszurichten. Diese praktische Notwendigkeit ergibt sich aus der Zurechnung von Handlungen überhaupt. 154 Im Kontext des Zurechnungsproblems ist mit Porcheddu bereits festzuhalten, dass willensbegabte Vernunftwesen ausschließlich unter der Idee der Freiheit handeln und dieses für jede Form von Handlung gilt, so auch für unmora‐ lische Handlungen. Diese These steht der Analytizitätsthese gegenüber, die

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Im Folgenden argumentiert Kant, dass die Eigenschaft der Kau‐ salität der praktischen Vernunft keine andere als die der Freiheit sein kann, da sich die Vernunft nur unter dieser Voraussetzung als selbstbestimmt begreifen kann: Nun kann man sich unmöglich eine Vernunft denken, die mit ihrem eigenen Bewußtsein in Ansehung ihrer Urteile anderwärtsher eine Len‐ kung empfinge, denn alsdenn würde das Subjekt nicht seiner Vernunft, sondern einem Antriebe die Bestimmung der Urteilskraft zuschreiben.

Eine Vernunft, die ihre Urteile »anderwärtsher« und nicht durch sich selbst fällt, ist unmöglich zu denken. Das Subjekt könnte auf diese Weise die »Bestimmung der Urteilskraft« nicht seiner Ver‐ nunft, das heißt, sich selbst, sondern einem äußeren Einfluss oder natürlichen Antrieb zuschreiben. Bereits in der Auflösung der drit‐ ten Antinomie hebt Kant schließlich auch hervor, dass sich die Zu‐ rechnung oder der »Tadel« einer Handlung auf ein »Gesetz der Ver‐ nunft« gründet, welches »das Verhalten des Menschen, unangesehen aller genannten empirischen Bedingungen, anders hätte bestimmen können und sollen« (KrV A 555/B 583). Dieses gilt nur unter der Bedingung, dass der Vernunft i) eine Kausalität zukommt und ii) diese die Eigenschaft der transzendentalen Freiheit mit sich führt: Sie, die Vernunft, ist allen Handlungen des Menschen in allen Zeitum‐ ständen gegenwärtig und einerlei, selbst aber ist sie nicht in der Zeit, und gerät etwa in einen neuen Zustand, darin sie vorher nicht war; sie ist bestimmend, aber nicht bestimmbar in Ansehung desselben. (KrV A 556/B 584).

Die wesentlichen Eigenschaften der Vernunft sowohl in theoreti‐ scher als auch in praktischer Hinsicht sind ihr zeitloser Charakter und ihre Unabhängigkeit von äußeren Einflüssen. Diese Eigenschaf‐ ten müssen auch notwendig vorausgesetzt werden, wenn sich die Vernunft als »Urheberin ihrer Prinzipien« begreifen will: Sie muß sich selbst als Urheberin ihrer Prinzipien ansehen, unabhängig von fremden Einflüssen, folglich muß sie als praktische Vernunft, oder als Wille eines vernünftigen Wesens, von ihr selbst als frei angesehen werden; d.i. der Wille desselben kann nur unter der Idee der Freiheit

nämlich behauptet, dass nur ein sittlicher Wille unter der Idee der Freiheit steht. Vgl. ebenda, S. 235.

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ein eigener Wille sein und muß also in praktischer Absicht allen ver‐ nünftigen Wesen beigelegt werden. (GMS, 448).

Die besondere Eigenschaft, die der Vernunft ihrer allgemeinen Be‐ stimmung nach zukommt, ist, sich selbst Prinzipien zu geben und dieser Akt der eigenen Prinzipiengebung kann wiederum nur un‐ abhängig von äußeren Einflüssen erfolgen. Deswegen muss die Ver‐ nunft »folglich« auch in praktischer Hinsicht, was mit dem Willen eines vernünftigen Wesens gleichbedeutend ist, »selbst als frei ange‐ sehen werden«.155 Wenn man der Vernunft also keinen »eigenen« Willen zugestehen könnte, dann wäre sie nicht unabhängig von anderen Einflüssen. Bei einem Willen, der nicht frei ist, kann die reine Vernunft den Willen nicht nach ihren Prinzipien bestimmen, weshalb sie sich auch nicht als Urheberin ihrer Prinzipien begreifen kann, da diese praktisch vom Willen als Kausalität nicht umgesetzt werden können. Der Wille von vernünftigen Wesen muss als frei vorausgesetzt werden, da es sonst nicht mit dem Selbstverständnis der Vernunft übereinkommt und ihr widerspricht. Ein »eigener« und nicht fremdbestimmter Wille ist nur unter der Idee der trans‐ zendentalen Freiheit überhaupt denkbar und nur unter dieser Vor‐ aussetzung kann die Vernunft als Urheberin von Prinzipien ange‐ sehen werden, durch die ich mich zum Handeln bestimme und mir auch »selbst« zurechnen kann. Es folgt also der Schluss, dass wir annehmen müssen, dass willensbegabte Vernunftwesen notwen‐ digerweise unter der Idee der Freiheit handeln und deshalb auch angenommen werden kann, dass sie praktisch wirklich frei sind. 155 Nach Schönecker wird mit dem »folglich« in diesem Satz die Handlungsfrei‐ heit aus der Spontaneität unseres Denkens abgeleitet, Schönecker, D., Kant: Grundlegung III – Die Deduktion des kategorischen Imperativs., S. 231. Boja‐ nowski argumentiert dagegen, dass der Text eine solche Lesart nicht hergibt und daher auch nicht von der theoretischen Freiheit des Urteilens auf die prak‐ tische Freiheit geschlossen werden kann, vgl. Bojanowski, J., Kants Theorie der Freiheit, S. 216. Mit Prauss müssen sowohl die Freiheit des Denkens als auch die Freiheit des Handelns vorausgesetzt werden, da sich die Vernunft sonst selbst widerspricht, vgl. Puls, H., Freiheit als Unabhängigkeit von bloß subjektiv bestimmenden Ursachen —: Kants Auflösung des Zirkelverdachts im dritten Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 536. Dem ist hinzuzufügen, dass ohne die Freiheit des Willens die Vernunft auch nicht als Urheberin ihrer Prinzipien zu begreifen (was sie aber »muß«) ist, weil ihr sonst keine »eigene« Kausalität zukommt. »Folglich« muss also in praktischer Hinsicht allen vernünftigen Wesen ein freier Wille beigelegt werden.

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III. Der reine Wille

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Kants angekündigte »De‐ duktion der Freiheit« eine Deduktion ist, die auf einem syllogisti‐ schen Schluss beruht. Diese kann übersichtlichkeitshalber in folgen‐ der verkürzter Form dargestellt werden: O. Alle willensbegabte Wesen, die unter der Idee der Freiheit handeln, sind praktisch wirklich frei. U. Wir müssen annehmen: Vernünftige Wesen mit einem Willen han‐ deln notwendigerweise unter der Idee der Freiheit. C. Wir müssen annehmen: Vernünftige Wesen sind praktisch wirklich frei.

Hieraus wird deutlich, dass Kant im Gegensatz zu einer trans‐ zendentalen Deduktion, die die Rechtfertigung von Begriffen a priori anstrebt, eine Deduktion im Sinne eines syllogistischen Ver‐ nunftschlusses versucht. Die wesentliche Argumentation im Unter‐ satz ist in der Weise zusammenzufassen, als dass i) der praktischen Vernunft als Urheberin ihrer eigenen Prinzipien eine Kausalität aus Freiheit zukommt, und da ii) der Wille die Kausalität dieser besagten Vernunft ist, müssen wir ihm Freiheit zusprechen. Kant hat somit beweisen können, dass ein vernünftiges Wesen notwendigerweise unter der Idee der Freiheit handeln muss, weshalb für dieses Wesen die Gesetze der Freiheit praktische Gültigkeit haben, unabhängig eines theoretischen Beweises der Freiheit. Denn obwohl der Idee der Freiheit in theoretischer Hinsicht kein Beweis zugrunde gelegt werden kann, kann ihr in praktischer Hinsicht dennoch Bedeutung zukommen, da sie auch nur einen praktischen Anspruch erfüllt.

§ 7.3 Der Zirkel

Mindestens ebenso umstritten wie der vermeintliche Freiheitsbeweis in der zweiten Sektion der ›GMS III‹ ist der Zirkel von Freiheit und Sittlichkeit der dritten Sektion des Deduktionskapitels. Es herrscht in der Sekundärliteratur heute noch Uneinigkeit darüber, worin der Zirkel sowie seine Auflösung eigentlich bestehen. Da Kant selbst nur von einer »Art Zirkel« (GMS, 450) spricht, wird kontrovers disku‐ tiert, ob wir es hier mit einem tatsächlichen Zirkel zu tun haben.156

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§ 7. Die Bestimmung des reinen Willens

Mit Blick auf die Kontroversen innerhalb der Literatur wird im Folgenden zunächst eine Analyse des Zirkels und des Auswegs aus diesem erfolgen. Dabei werde ich die These vertreten, dass sich allein aus der begrifflichen Herleitung des reinen Willens und des moralischen Gesetzes innerhalb der ersten Sektion ein Zirkel von »Scheinerklärungen« ergibt, da nur ein Begriff mit dem anderen erklärt werden kann und umgekehrt. Aus diesem Zirkel ergibt sich, dass die Idee der Freiheit nicht einfach nur zur Erklärung des Sitten‐ gesetzes vorausgesetzt werden kann, da hieraus selbst nicht einsich‐ tig wird, woher das moralische Gesetz nötigt und selbst bloß voraus‐ gesetzt wird. Die zweite These, die ich hier vertreten werde, lautet, dass neben der notwendigen Annahme eines reinen Willens auch die »Möglichkeit«157 gezeigt werden muss, wodurch der Zirkel auch verhindert werden kann. Denn auf diese Weise können die Idee der Freiheit und das moralische Gesetz nicht bloß als irgendwelche Chimären oder Hirngespinste abgetan werden. Infolgedessen werde ich zeigen, dass es einen »wirklichen« Grund gibt, den Menschen als 156 Puls beispielsweise behauptet, dass der Zirkel nur in einem Zirkelverdacht liegt und nicht in »circulus vitiosus«, vgl. ebenda, S. 538. Auch Ludwig schreibt, dass es für Kant diesen Zirkel gar nicht gibt und der Verdacht nur aufgeworfen wurde, um zur nächsten Aufgabe didaktisch hinzuführen, Ludwig, B., Aufklä‐ rung über die Sittlichkeit. Zu Kants Grundlegung einer Metaphysik der Sitten, S. 202 [Fn. 242]. Während die verbreitete Meinung den Zirkel als »circulus in probando« deutet, geht Quarfood davon aus, dass der Zirkel nur einem »circu‐ lus in probando« ähnelt, vgl. Quarfood, M., The circle and Two Standpoints (GMS III, 3), S. 290. Auch Horn, Mieth und Scarano bestreiten dieses, vgl. Horn, C., Mieth, Corinna, Scarano, Nico, Immanuel Kant. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Kommentar, S. 281. Schönecker hat zeigen können, dass es sich um eine »petitio principii« und nicht um eine »circulus in probando« handelt, vgl. Schönecker, D., Die ›Art von Zirkel‹ im dritten Abschnitt von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 192f. Vgl. auch den umfang‐ reichen und hilfreichen Forschungsbericht von Berger zum Zirkelproblem, Berger, L., Der »Zirkel« im dritten Abschnitt der Grundlegung – Eine neue Interpretation und ein Literaturbericht, S. 31ff. 157 So schreibt Kant selbst, dass zur Möglichkeit eines kategorischen Imperativs noch einige Vorarbeiten nötig sind: »Was dieses dritte sei, worauf uns die Freiheit weist und von dem wir a priori eine Idee haben, läßt sich hier sofort noch nicht anzeigen und die Deduktion des Begriffs der Freiheit aus der reinen praktischen Vernunft, mit ihr auch die Möglichkeit eines kategorischen Impe‐ rativs, begreiflich machen, sondern bedarf noch einiger Vorarbeiten« (GMS, 447). Im Folgenden muss also geklärt werden, was das »Dritte« ist, aus dem die Möglichkeit eines kategorischen Imperativs folgt.

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Wesen in der Sinnenwelt notwendig unter der Idee der Freiheit zu denken. Im Kern findet sich nach Kant der Ausweg aus diesem Zirkel schließlich darin, dass der Mensch sich als Sinnenwesen auch zur intelligiblen Welt zählen kann, da ihm ein »wirkliches Vermögen« der Vernunft zukommt, sich nicht nur von Gegenständen affizieren zu lassen. Der Vernunft kommt mit ihren Ideen eine »reine Sponta‐ neität« zu, über die Sinnlichkeit hinausgehen zu können, und die Kausalität ihres Willens daher auch unter der Idee der Freiheit »den‐ ken« kann. Die »Richtigkeit dieser Deduktion« (GMS, 454) zeigt sich abschließend dahin gehend, als dass dem menschlichen Willen sowohl ein reiner als auch ein empirischer Charakter zukommen und dadurch kein unbedingtes Wollen, sondern ein kategorisches Sollen voraussetzt, um Handlungen gemäß der »Autonomie des Wil‐ lens« zu vollziehen. Der reine Wille ist also die »oberste Bedingung« für ein Sollen und damit für die Möglichkeit eines kategorischen Imperativs überhaupt. Ohne einen solchen Ausweg wären die Einwände des Moralskep‐ tikers, der zwar nicht das Sittengesetz selbst, aber die unerklärte Möglichkeit der praktischen Notwendigkeit und damit die Voraus‐ setzung für eine uneingeschränkte Gültigkeit desselben in Zweifel setzt, vollkommen berechtigt. Parallel zur Antinomieproblematik in der ›Kritik der reinen Vernunft‹ können wir auch hier ohne einen Ausweg aus dem Zirkel »nicht den logischen Probierstein der Wahr‐ heit, sondern bloß unser Interesse befragen« (KrV, A 465/B 493), das sich entweder dogmatisch für die Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes oder skeptisch für ihre Abwesenheit entscheidet. Deswegen ist Kant bestrebt, einen Ausweg zu finden, der nur mittels seiner transzendentalphilosophischen Differenz innerhalb der vierten Sek‐ tion gelöst werden kann. Das Ziel muss demnach sein, die dem Sit‐ tengesetz zugrunde gelegte praktische Notwendigkeit zu beweisen, was aber weder analytisch noch empirisch möglich ist. Demnach zeigen sich in der Frage nach der praktischen Notwendigkeit des Sittengesetzes die gleichen Herausforderungen wie beim Kausalitäts‐ problem, auf die Hume hingewiesen hat. Wenn auch Humes Skep‐ tizismus nicht so weit reicht, den Begriff der Kausalität an sich infrage zu stellen, konnte er dennoch überzeugend darlegen, dass analytische und empirische Einsichten in Notwendigkeiten nicht möglich sind. Dieses kann also nur über ein »Drittes« erfolgen,

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»worauf uns die Freiheit weist« (GMS, 447). Es wird sich in der Folge zeigen, dass, weil wir uns als intelligible Wesen begreifen, wir uns notwendigerweise unter die Idee der Freiheit denken müssen, woraus sich die Verbindlichkeit des Gesetzes ergibt, das die Freiheit begleitet. 7.3.1 Freiheit und Gesetz als »Wechselbegriffe« Das übergeordnete Ziel der »Deduktion der Freiheit aus der reinen praktischen Vernunft« der zweiten Sektion ist es, von der Idee der Freiheit auf den »bestimmten Begriff der Sittlichkeit« zu schließen. Dabei lässt sich, wie oben gezeigt, das moralische Gesetz aus der Idee der Freiheit des Willens analytisch herleiten: »Wenn also Frei‐ heit des Willens vorausgesetzt wird, so folgt die Sittlichkeit samt ihrem Prinzip daraus durch bloße Zergliederung ihres Begriffs« (GMS, 447). Während Kant also in der ersten Sektion aufgezeigt hat, dass die Idee der Freiheit und das moralische Gesetz notwendiger‐ weise zusammenfallen müssen, beginnt ab der zweiten Sektion die vermeintliche »Deduktion der Freiheit« in der zuerst die Notwen‐ digkeit einer Annahme der Freiheit für vernünftige Wesen gezeigt werden soll. In der zweiten Sektion konnte Kant zwar aufzeigen, dass wir die Idee der Freiheit notwendigerweise voraussetzen müs‐ sen, »wenn wir uns ein Wesen als vernünftig mit Bewußtsein seiner Kausalität in Ansehung der Handlungen, d.i. mit einem Willen be‐ gabt, uns denken wollen [...]« (GMS, 449), die »Wirklichkeit« der Freiheit konnte hingegen »nicht einmal in uns selbst und in der menschlichen Natur« (GMS, 449) bewiesen werden. Dies ist inso‐ fern problematisch, als dass zwar »das echte Prinzip [wenigstens] genauer, als wohl sonst geschehen« (GMS, 449) bestimmt ist, die Gültigkeit und praktische Notwendigkeit des moralischen Gesetzes aber nicht »bewiesen« sind, sondern lediglich in der Idee der Frei‐ heit »vorausgesetzt« werden (vgl. GMS, 449). Daraus folgt jedoch noch nicht die Einsicht, »woher also das moralische Gesetz verbinde« (GMS, 450), weshalb genauso wenig eine »genugtuende Antwort« auf den Moralskeptiker möglich ist, der nicht nur nach der »vorausgesetzten Wichtigkeit« (GMS, 450) dieses Gesetzes fragt, sondern wissen will, »warum« man sich dem Gesetz unterwirft und »worauf« die Wertschätzung dem Gesetz ge‐

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genüber gründet (vgl. GMS, 449). Die Frage ist insofern berechtigt, als dass bei vernünftigen Wesen die Vernunft ohne Hindernisse zwar praktisch ist und das Sollen gleichzeitig ein Wollen ist, bei sinnlichvernünftigen Wesen ist hingegen »die Notwendigkeit der Handlung nur ein Sollen«. Ohne eine nachvollziehbare »Erklärung«158 ist bei einem sinnlich-vernünftigen Wesen nicht einsehbar, warum sich die‐ ses ohne zwingenden Grund oder treibendes Interesse dem Moral‐ gesetz unterwerfen soll. Sollte das moralische Gesetz also nicht allein als »Erbittung ei‐ nes Prinzips«159 (GMS 453) von »gutgesinnten Seelen« verstanden werden, dann muss die dem Gesetz zugrunde liegende Verbindlich‐ keit bewiesen werden. Eine reine Begriffszergliederung wäre eine unbegründete Voraussetzung des verbindenden Charakters des mo‐ ralischen Gesetzes, da man sich in dieser in einem Zirkel von Schei‐ nerklärungen verlieren würde, wie Kant im Folgenden verdeutlicht: [i] Wir nehmen uns in der Ordnung der wirkenden Ursachen als frei an, um uns in der Ordnung der Zwecke unter sittlichen Gesetzen zu denken, [ii] und wir denken uns nachher als diesen Gesetzen unterwor‐ fen, weil wir uns die Freiheit des Willens beigelegt haben, [iii] denn Freiheit und eigene Gesetzgebung des Willens sind beides Autonomie, mithin Wechselbegriffe, [iv] davon aber einer eben um deswillen nicht dazu gebraucht werden kann, um den anderen zu erklären und ihm Grund anzugeben, [v] sondern höchstens nur, um in logischer Absicht verschieden scheinende Vorstellungen von eben demselben Gegenstan‐ de auf einen einzigen Begriff (wie verschiedene Brüche gleichen Inhalts auf die kleinste Ausdrücke) zu bringen. (GMS, 450).

Im ersten Teilsatz [i] wird der freie Wille zum Zweck des morali‐ schen Gesetzes vorausgesetzt: Denn wir können uns »in der Ord‐ 158 Ludwig weist auf den Unterschied zwischen der »Erklärung« und »Begrün‐ dung« des Geltungsanspruches des Sittengesetzes hin und weist auf einschlä‐ gige Textstellen hin, die aufzeigen, dass Kant vielmehr von einer Erklärung desgleichen ausgeht. So fragt der Moralskeptiker, »warum« er sich dem Sitten‐ gesetz unterwerfen soll und nicht nach der Rechtfertigung des Sittengesetzes selbst, die eine Begründung desgleichen suggerieren würde. Der Moralskepti‐ ker fragt also vielmehr nach einer »Erklärung des Sollens«, Ludwig, B., Aufklä‐ rung über die Sittlichkeit. Zu Kants Grundlegung einer Metaphysik der Sitten, S. 108f. 159 Die Geltung des Prinzips würde damit auf einem falschen Schluss beruhen, auf einer petitio principi.

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nung der wirkenden Ursachen«, d.h. in der Ordnung der Natur, nur unter sittlichen Gesetzen denken, wenn wir uns als frei anneh‐ men. Im zweiten Teilsatz [ii] dient die Freiheit als Erklärungsgrund für die Gültigkeit des moralischen Gesetzes: Denn die Freiheit ist die Bedingung dafür, dass wir uns dem Sittengesetz unterworfen denken können.160 Daraus ergibt sich, dass die Freiheit einerseits als Konsequenz aus der Annahme moralisch-sittlicher Gesetze folgt und gleichzeitig aber die Bedingung dafür ist, dass man überhaupt solche Gesetze annehmen kann. Das entscheidende Problem zeigt sich nun darin, dass die Wil‐ lensfreiheit und die Selbstgesetzgebung, wie in der ersten Sektion bereits vorausgesetzt, »beide Autonomie« und daher »Wechselbe‐ griffe« [iii] sind, weshalb die Freiheit nicht gebraucht werden kann, um das Sittengesetz zu erklären und umgekehrt [iv]. Wenn also beispielsweise die Notwendigkeit der Freiheit durch den Begriff des Sittengesetzes erklärt wird, dann erklärt es sich im Grunde durch sich selbst. Der Jäsche-Logik folgend, »[werden] Begriffe, die einerlei Sphäre haben, Wechselbegriffe (conceptus reciproci) genannt« (4: 98.5–6). Dies ist auch der Grund, weshalb wir dann in einen Zirkel zu geraten drohen, wenn wir die Wechselbegriffe miteinander zu erklären versuchen, da sie sich dieselbe »Sphäre« teilen. Um den Verdacht eines Zirkels zu umgehen, muss also der Anspruch sein, die Begriffe Freiheit und Sittengesetz unabhängig voneinander erklären zu können, das heißt: Es muss die Möglichkeit bestehen, einen ei‐ genständigen »Grund angeben zu können« (GMS, 453). So schreibt Kant in der zweiten Zirkelformulierung am Ende der dritten Sektion zusammenfassend:

160 Dass wir im ersten Teilsatz die Freiheit zum Zweck des Sittengesetzes voraus‐ setzen, darauf deutet das »um« hin und genauso weist das »weil« im zweiten Teilsatz darauf hin, dass die Freiheit als Erklärungsgrund für das Sittengesetz gilt. Vgl. Schönecker, D., Die ›Art von Zirkel‹ im dritten Abschnitt von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 193. Da die Freiheit nun im ersten Teilsatz als »Zweck« und in zweiten Teilsatz als »Grund« angegeben wird, ist mit Porcheddu zu argumentieren, dass deshalb auch von keinem circulus in probando ausgegangen werden kann, da in beiden Teilsätzen die Verhältnisse andere sind und damit von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen. Vgl. Porcheddu, R., Wie argumentiert Kant in den Sektionen 2 und 3 des Dedukti‐ onskapitels der Grundlegung?, S. 240.

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Nun ist der Verdacht, den wir oben rege machten, gehoben, als wäre ein geheimer Zirkel in unserem Schlusse aus der Freiheit auf die Autonomie und aus dieser aufs sittliche Gesetz enthalten, daß wir nämlich vielleicht die Idee der Freiheit nur um des sittlichen Gesetzes willen zum Grunde legten, um dieses nachher aus der Freiheit wiederum zu schließen, mithin von jenem gar keinen Grund angeben könnten, sondern es nur als Erbittung eines Prinzips, das uns gutgesinnte Seelen wohl gerne einräumen werden, welches wir aber niemals als einen erweislichen Satz aufstellen könnten. (GMS, 453).

Im Vergleich zur ersten Zirkelformulierung macht Schönecker auf die hier vorkommenden sprachlichen Unterschiede aufmerksam: Während in der ersten Zirkelformulierung die Idee der Freiheit angenommen wurde, um uns unter das sittliche Gesetz zu denken, kommt hier der Zusatz einer Erklärung hinzu, dass wir dies nämlich um seinetwillen tun.161 Nur weil wir uns dem Sittengesetz unterwor‐ fen denken wollen, folgt hieraus jedoch noch nicht der Geltungsan‐ spruch des Sittengesetzes, da eine Scheinerklärung kein »erweisli‐ cher Satz« ist. Zusammenfassend weist der Zirkel auf das Problem hin, dass wir nicht berechtigt sind, die nicht zu beweisende Freiheit zum Zweck des Sittengesetzes und mit ihm des kategorischen Impe‐ rativs vorauszusetzen. Es wird sich zeigen, dass wir diesen Zirkel nur dann umgehen können, wenn sowohl Freiheit als auch das Sittenge‐ setz unabhängig voneinander ihre Berechtigung finden. Damit also die Sittlichkeit nicht einfach als »Hirngespinst« (GMS, 445) abgetan werden kann, reicht es nicht aus, wie in der zweiten Sektion geschehen, das Prinzip aus bloßer Begriffsanalyse herzulei‐ ten. Denn eine solche analytische Herleitung würde keinen Beweis für die im Begriff enthaltene Notwendigkeit aufzeigen. Parallel zum Ursachenbegriff hat Kant nämlich bereits gegenüber Hume darauf hingewiesen, dass die in der Ursache enthaltene Notwendigkeit nur dann annehmbar ist, wenn sie als Begriff a priori bestimmt wird. In derselben Weise ist nun auch das Prinzip der Sittlichkeit ein syn‐ thetischer Satz, der, da er apodiktisch gebietet, nur a priori erkannt werden kann, weshalb man »über die Erkenntnis der Objekte und zu einer Kritik des Subjekts, d.i. der reinen praktischen Vernunft, hinausgehen [müsste]« (GMS, 440), um ihn zu bestimmen. Um also das Prinzip der Sittlichkeit a priori notwendig voraussetzen zu 161 Vgl. Schönecker, D., Die ›Art von Zirkel‹ im dritten Abschnitt von Kants Grund‐ legung zur Metaphysik der Sitten, S. 195.

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können, muss aufgezeigt werden, dass es einen »möglichen syntheti‐ schen Gebrauch der reinen praktischen Vernunft gibt« (GMS, 445). 7.3.2 Das Sollen des reinen Willens Nachdem Kant in der zweiten Sektion zeigen konnte, dass das Han‐ deln eines willensbegabten Vernunftwesens notwendig als unter der Idee der Freiheit angenommen werden muss, gilt es, jetzt aufzuzei‐ gen, inwiefern wir dieses nun auch für den Menschen als ein sinn‐ lich affiziertes Wesen voraussetzen müssen. Wenn Kant dies nicht zeigen kann, bleiben die Begriffe der Freiheit und des Gesetzes bloß »chimärische Ideen«, die sich als Wechselbegriffe zwar analytisch aus dem Anderen ergeben, aber keine Erklärung liefern. Findet Kant auf der anderen Seite einen Ausweg aus dem vermeintlichen Zirkel, kann dem Willen die Freiheit in praktischer Hinsicht wirklich zuge‐ schrieben und, damit einhergehend, eine Antwort auf den Grund der Verbindlichkeit des Sittengesetzes (GMS, 450) gegeben werden. Da die Wechselbegriffe Freiheit und Gesetz zur Autonomie des Wil‐ lens hinführen, wäre diese das übergeordnete Ziel, das dem Ausweg aus dem Zirkel zugrunde liegt. Im Vorgriff auf den Ausweg aus dem »geheimen Zirkel« (GMS, 453) wird dieser unter der Bedingung des transzendentalen Idealis‐ mus erfolgen und damit einem ähnlichen Argumentationsgang wie in der Auflösung der dritten Antinomie nachgehen. Timmermann merkt zu Recht an, dass hier im Gegensatz zur Auflösung der dritten Antinomie nicht von zwei »Perspektiven« die Rede ist, sondern der Mensch als Auflösungsgegenstand sich selbst von zwei »Standpunk‐ ten« aus betrachten kann.162 Dies macht begrifflich insofern einen Unterschied aus, als dass sich, vom Standpunkt ausgehend, eine andere Perspektive auf den Gegenstand ergeben kann. Wenn also das Subjekt eine andere Perspektive auf etwas gewinnen will, dann ist dieses nur möglich, wenn es seinen Standpunkt verändert. Dieses gilt nun auch für unser Handeln, weshalb Kant auch rhetorisch fragt, ob der Mensch nicht einen anderen Standpunkt einnimmt, wenn »wir uns durch Freiheit als a priori wirkende Ursachen den‐ ken« (GMS, 450). In derselben Weise, wie wir den natürlichen Ursa‐ 162 Vgl. Timmermann, J., Kant’s Groundwork of the Metaphysics of Morals. A Commentary., S. 133 [Fn. 30].

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chen sowohl einen empirischen als auch einen intelligiblen Charak‐ ter zuschreiben können, können wir unseren Willen als »a priori wirkende Ursache« (GMS, 450) denken und unsere Handlungen als Wirkungen selbst bestimmen, sodass ihnen ein intelligibler Wert zukommt. Mit Eidam ist darauf hinzuweisen, dass der doppelte Standpunkt des Menschen, sich auch als causa noumenon zu denken, die Frage aufwirft, wie eine solche Ursache a priori in die Sinnenwelt wirken kann.163 Die Denkbarkeit der Freiheit allein lässt demnach keinen Schluss auf ihre objektive Realität zu, sodass wir auch nicht sagen können, ob eine Handlung wirklich aus Freiheit geschehen ist oder nicht. Die »Auskunft« (GMS, 450) oder der Ausweg aus dem »ge‐ heimen Zirkel« kann demnach auch nicht aufzeigen, wie Freiheit möglich ist, sondern nur, dass sie notwendig vorausgesetzt werden muss: Als ein vernünftiges, mithin zur intelligiblen Welt gehöriges Wesen kann der Mensch die Kausalität seines eigenen Willens niemals anders als unter der Idee der Freiheit denken; denn Unabhängigkeit von den bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt (dergleichen die Vernunft je‐ derzeit sich selbst beilegen muß) ist Freiheit. (GMS, 452).

Wenn sich der Mensch vom Standpunkt eines zur intelligiblen Welt gehörigen Wesens betrachtet, dann muss dieser der Kausalität seines Willens notwendigerweise die Eigenschaft der Freiheit zuschreiben, da nur mit ihr die Unabhängigkeit von fremden, sie bestimmenden Ursachen denkmöglich ist. Ein Ausweg aus dem Zirkel kann inso‐ weit vorgenommen werden, als dass die Idee der Freiheit nicht mehr nur zum Zweck der Sittlichkeit angenommen werden muss, sondern einen eigenen, vom Sittengesetz unabhängigen »Grund« hat. Damit ist der Ausweg aus dem Zirkel jedoch noch nicht endgültig erreicht. Dem Willen fehlt noch das Vermögen, sich selbst nach einem Gesetz zu bestimmen. Dass aber mit der Idee der Freiheit der Begriff der Autonomie des Willens unzertrennlich verbunden ist, wurde bereits in der ersten Sektion gezeigt. Dem folgte schließlich in der zweiten Sektion, dass dieses Gesetz das Sittengesetz ist, durch das wir uns

163 Vgl. Eidam, H., ›Das einzige Faktum der reinen Vernunft‹: Zum Verhältnis von Freiheit und Sittengesetz in Kants praktischer Philosophie, S. 509.

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der vierten Sektion entsprechend als sinnliche Wesen verpflichtet denken.164 Diesem Ausweg geht nun die wesentliche Frage voraus, mit wel‐ cher Rechtfertigung sich der Mensch als sinnliches Wesen gleich‐ zeitig auch als Wesen der intelligiblen Welt zugehörig betrachten kann. Parallel zur Auflösung des »vermeintlichen« Widerspruchs in der dritten Antinomie erfolgt auch hier der Ausweg aus dem »geheimen Zirkel« unter der Voraussetzung der transzendentalen Unterscheidung von »Erscheinungen« und »Dingen an sich«. Diese Unterscheidung erfordert zumindest in praktischer Hinsicht »kein subtiles Nachdenken« (GMS, 450) und wird vom »gemeinsten Ver‐ stand« (GMS, 450) auch unabhängig von der in der ›Kritik der reinen Vernunft‹ etablierten transzendentalen Unterscheidung getä‐ tigt. Vielmehr ist der »nachdenkende Mensch« durch ein »Gefühl« veranlasst, zwischen den Vorstellungen zu unterscheiden, die »ohne unsere Willkür kommen (wie die der Sinne)« und denen, die »wir lediglich aus uns selbst hervorbringen« (GMS, 451). Ebendiese nur »rohe« (GMS, 451) Unterscheidung der Verstandes- und Sinnen‐ welt verleitet den Menschen dazu, der »Erscheinung seiner Natur« (GMS, 451) ein intelligibles »Ich« zugrunde zu legen. Der Mensch darf sich jedoch nicht »anmaßen zu erkennen, wie er an sich selbst sei« (GMS, 451). Da der Verstand nämlich auf die Sinnlichkeit restringiert ist, kann dieser immer nur Erkenntnis von den Erscheinungen, aber niemals von den Dingen an sich machen, unabhängig davon, welche »angestrengtesten Aufmerksamkeit und Deutlichkeit, die der Verstand hinzufügen mag« (GMS, 451). Der »gemeinste Verstand« kann zwar hinter den Gegenständen der Sin‐ ne immer noch ein für ihn »Unsichtbares, für sich selbst Tätiges« (GMS, 452) erwarten, wobei er dieses Unsichtbare nicht »zum Ge‐ genstand der Anschauung machen« (GMS, 452) darf. Der Mensch wird »nicht um einen Grad klüger« (GMS, 452), wenn er die er‐ kenntnisresistente Verstandeswelt, die im Gegensatz zur Sinnenwelt unter keinen raumzeitlichen Bedingungen steht, in der also keine Veränderung stattfindet und »immer dieselbe bleibt« (GMS, 451), als Gegenstand seiner Erkenntnis machen will.

164 Vgl. Ludwig, B., Aufklärung über die Sittlichkeit. Zu Kants Grundlegung einer Metaphysik der Sitten, S. 112.

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Eine mögliche intelligible Erkenntnis von sich selbst, die Kant hier zwar aufführt, aber nicht weiter diskutiert, ist nur unter der Bedingung gegeben, wenn sich der Mensch selbst »schafft« (GMS, 451). Es stellt sich die Frage, inwiefern sich der Mensch durch die Schöpfung seiner selbst neben seinem empirischen Wesen a priori auch als intelligibles Wesen begreifen könnte. Dazu ist zunächst festzuhalten, dass der aus sich selbst schaffende Mensch gleichsam seine eigene Ursache und sein eigener Schöpfer oder Urheber wäre, dem also absolute Spontaneität, das heißt eine transzendentale Frei‐ heit zukäme, durch die er sich unabhängig von den ihn bestimmen‐ den Ursachen selbst bestimmt. Mit dieser Eigenschaft ginge notwen‐ digerweise eine Zughörigkeit zur Verstandeswelt einher. Dagegen spricht aber, dass der Mensch »eine von den Erscheinungen der Sinnenwelt, und in so fern auch eine der Naturursachen« (KrV, A 546/B 574) ist, die unter den Bedingungen der Naturgesetze stehen. Da nun »unter den Ursachen in den Erscheinungen sicherlich nichts sein [kann], welches eine Reihe schlechthin und von selbst anfangen könnte« (KrV, A 543/B 571), kann sich der Mensch auch nicht durch seine eigene Spontaneität selbst erschaffen. Die einzige »Kundschaft« (GMS, 451), die der Mensch über sich also einziehen kann, ist empirisch bedingt, auch wenn er eine »inne‐ re Empfindung« (GMS, 451) von sich hat. Der Begriff der »inneren Empfindung« ist mit Bezug auf die Reflexion 7265 im Zusammen‐ hang mit dem Gefühl von Lust und Unlust zu betrachten. Dabei haften diese nicht als Eigenschaften eines Gegenstandes an, sondern werden im Subjekt, das durch einen Gegenstand sinnlich affiziert wird, hervorgebracht. Dieses Vermögen, das Kant andernorts auch als »sinnliche Willkür« (KrV, A 543/B 562) bezeichnet, ist nicht ausreichend, um eine Erkenntnis davon zu haben, wie der Mensch an sich sei. Daher bekommt der Mensch als sinnlich affiziertes Wesen einen Begriff von sich selbst »natürlich [...] durch den in‐ neren Sinn und folglich nur durch die Erscheinung seiner Natur und die Art, wie sein Bewußtsein affiziert wird« (GMS, 452). Dem Ausdruck »innerer Sinn« kommt in Kants theoretischer Philosophie eine besondere Rolle zu, wird doch in ihm »das Geheimnis des Ursprungs unserer Sinnlichkeit« (KrV, A 278/B 334) vermutet. Kant unterscheidet zwischen einem äußeren und inneren Sinn: Mittels des äußeren Sinns stellen wir uns die Gegenstände außer uns vor. Mit dem inneren Sinn schaut sich das Gemüt selbst oder seinen

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Zustand an (vgl. KrV, B 37). Damit ist keine Anschauung von der Seele selbst gemeint, sondern nur die Anschauung unseres inneren Gemütszustandes (vgl. KrV, B 37). Um einen solchen Gemütszu‐ stand wahrnehmen zu können, muss das Gemüt überhaupt affiziert werden. Der Mensch bekommt dann durch die Veränderung seines Gemütszustandes als eine innere Erfahrung eine Vorstellung von sich selbst. Diese Veränderung als Abfolge von Gemütszuständen kann nur unter zeitlichen Bedingungen geschehen, sodass wir uns bewusst darüber sind, zeitliche Wesen bzw. Erscheinungen zu sein. Somit kann der Mensch auf Grundlage dieses »inneren Sinnes« nicht rechtmäßig auf eine intelligible Natur seiner selbst und damit auch nicht, von einer Introspektion ausgehend, darauf schließen, ein vernünftiges Wesen zu sein. Kant stellt zunächst ohne weitere Begründung die Behauptung auf, dass sich der Mensch weder »über die lauter Erscheinungen zusammengesetzte Beschaffenheit seines eigenen Subjekts« (GMS, 451) noch durch das ihm »notwendigerweise« zugrunde liegende Ich auszeichnet.165 Denn, abgesehen von den »bloßen Wahrneh‐ mungen« und der passiven »Empfänglichkeit von Empfindungen«, die der Mensch als Sinnenwesen (er-)leidet, findet in ihm eine »reine Tätigkeit« statt, die »unmittelbar zum Bewußtsein gelangt« und durch die er sich zur intellektuellen Welt zählen »muss«. Der Ausdruck der »reinen Tätigkeit« wird von Kant als die Hervorbrin‐ gung von Ideen durch die Vernunft verstanden. Diese Selbsttätigkeit der Vernunft ist insofern rein, als dass die Ideen der Vernunft unab‐ 165 Diese Stelle könnte auch als eine Referenz auf die A-Deduktion gelesen wer‐ den, in der das empirische Bewußtsein notwendigerweise in einem »einigen Selbstbewusstsein verbunden sein müsse« (KrV, A 118). In diesem Sinne muss das Bewusstsein meiner Selbst oder in diesem Fall ein Ich »als einer notwendi‐ gen Bedingung der Möglichkeit aller Vorstellungen [...]« vorausgesetzt werden, »weil [sich] diese in mir doch nur dadurch vorstellen, daß sie mit allem ande‐ ren zu einem Bewußtsein gehören, mithin darin wenigstens müssen verknüpft werden können« (KrV, A 116). In der B-Deduktion revidiert Kant hingegen diesen Punkt wieder. So ist nicht vom dem empirischen Bewusstsein auf ein intelligibles Selbst zu schließen: »Denn das empirische Bewußtsein, welches verschiedene Vorstellungen begleitet, ist an sich zerstreut und ohne Beziehung auf die Identität des Subjekts« (KrV, B 133). Ich kann mir dann zwar meiner selbst als »Verbindungsvermögen« bewusst sein, jedoch habe ich keine Vorstel‐ lung oder Erkenntnis davon, »wie ich mir erscheine, noch wie ich an mir selbst bin, sondern nur daß ich bin« (KrV, B 157).

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hängig von jeder Anschauung und damit aus reiner Spontaneität entspringen. Würde man hingegen unter dieser reinen Tätigkeit die Spontaneität des Verstandes vermuten, dann wäre diese Tätigkeit nicht »rein«. Denn für eine mögliche Erkenntnis muss Anschauung hinzukommen, wodurch die Gegenstände überhaupt gegeben wer‐ den, die der Verstand dann unter Begriffe bringen kann. Dem Men‐ schen kommt mit der Vernunft also ein »wirkliches« Vermögen zu, über die Grenze der Sinnlichkeit hinausgehen zu können, wodurch sich dieser von »allen anderen Dingen, ja von sich selbst, sofern er durch Gegenstände affiziert wird, unterscheidet« (GMS, 452). Vom Standpunkt der Vernunft aus betrachtet, zählt der Mensch nicht allein zur Sinnenwelt, sondern ist auch Teil der Verstandeswelt, und weil das so ist, muss er sich notwendig auch die Freiheit zuschrei‐ ben (dieses ergibt sich aus dem Beweis in Sektion II). Hiervon ausgehend, ist es dem Menschen als Sinnenwesen möglich, sich selbst auch als ein intelligibles Wesen mit einem freien Willen zu begreifen. Damit ist der Verdacht des Zirkels behoben. Der Frage hingegen, warum wir genötigt sind, dem Sittengesetz zu folgen oder anders ausgedrückt: »wie ein kategorischer Imperativ möglich ist«, muss noch nachgegangen werden. Dieses bestimmt schließlich den Abschluss der Deduktion eines reinen Willens.166

166 Bojanowski scheint nun zu behaupten, dass die Frage, wie das Gesetz für uns Menschen ein Imperativ sein kann, in Kants Freiheitstheorie eine »unter‐ geordnete Bedeutung« einnimmt, Bojanowski, J., Kants Theorie der Freiheit, S. 225 [Fn. 78]. Wenn das Ziel in der ›Grundlegung‹ nicht in der Deduktion des Moralgesetzes gesucht wird, sondern in der Frage, woher uns das Gesetz nötigt, dann ist dieser Umstand sehr wohl von großer Bedeutung für Kants Freiheitstheorie. Sofern wir uns als sinnlich-affizierte Wesen auch einen reinen Willen und damit Freiheit zuschreiben können, geht von diesem reinen Willen ein kategorisches Sollen aus. Hierdurch zeigt sich erneut eine Parallele zur dritten Antinomie: Denn die Frage nach der Rechtfertigung der Notwendig‐ keit, die den Naturgesetzen zugrunde liegt, führte dort zur transzendentalen Freiheit als der Bedingung von Gesetzmäßigkeit. Es scheint, als würde Kant in seiner praktischen Philosophie eine ähnliche Strategie, wenngleich nicht den‐ selben Weg einschlagen wollen, indem er von der notwendigen Voraussetzung der Freiheit auf die Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes zu schließen versucht. Dass diese Herangehensweise mit der in der ›Grundlegung‹ aufge‐ führten Begründung nicht ganz unproblematisch ist und in der zweiten Kritik mit der Einsicht des »Faktums der reinen Vernunft« auch hinfällig wird, wird im nächsten Paragrafen diskutiert.

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§ 7. Die Bestimmung des reinen Willens

In der vierten Sektion wird auf Basis der vorhergehenden Ergeb‐ nisse nun behauptet, dass vom reinen Willen, den wir uns notwen‐ digerweise als Glied der intelligiblen Welt zuschreiben müssen, ein »kategorisches Sollen« ausgeht: Und so sind kategorische Imperative möglich, dadurch, daß die Idee der Freiheit mich zu einem Gliede einer intelligiblen Welt macht, wodurch, wenn ich solches allein wäre, alle meine Handlungen der Autonomie des Willens jederzeit gemäß sein würden, da ich mich aber zugleich als Glied der Sinnenwelt anschaue, gemäß sein sollen, welches katego‐ rische Sollen einen synthetischen Satz a priori vorstellt, dadurch, daß über meinen durch sinnliche Begierden affizierten Willen noch die Idee ebendesselben, aber zur Verstandeswelt gehörigen, reinen, für sich selbst praktischen Willens hinzukommt, welcher die oberste Bedingung des ersteren nach der Vernunft enthält; (GMS, 454).

In diesem Absatz wird mit der Möglichkeit der kategorischen Impe‐ rative der Abschluss der Deduktion eingeleitet, die sich aus dem doppelten Charakter des Willens ergibt: Aus der Beobachtung unse‐ rer Handlungen können wir sehen, dass unsere Handlungen nicht immer der Autonomie unseres Willens gemäß sind. Dieses ist aber kein Argument gegen die Möglichkeit eines reinen Willens, sondern nur ein Indiz für unser sinnlich-affiziertes Wesen, das uns außer‐ dem zukommt. Da aber der reine Wille dem sinnlichen Willen zu‐ grunde liegt, geht von ihm ein »kategorisches Sollen« aus, sodass unsere Handlungen der Autonomie des Willens gemäß sein sollen. Inwiefern dies ein synthetischer Satz a priori ist, zeigt sich in der Analogie zur Deduktion der Kategorien, die Kant hier zieht: So wie nämlich zu den Anschauungen überhaupt Begriffe hinzukommen müssen und »dadurch synthetische Sätze a priori [...] möglich ma‐ chen« (GMS, 454), kommt auch zu »meinem durch sinnliche Be‐ gierden affizierten Willen« (GMS, 454) ein reiner Wille hinzu. Diese Deduktion des reinen Willens wird nun durch den »praktischen Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft« (GMS, 454) bestätigt: Denn selbst der »ärgste Bösewicht«, dessen Wille nur von seinen Neigungen bestimmt ist, ist sich »eines guten Willens bewußt« (GMS, 454) von dem das moralische Sollen ausgeht. Wir können resümieren, dass also das gesuchte »Dritte« aus der ersten Sektion der reine Wille ist, der uns auf »die Freiheit weist« und der sich selbst durch ein Sollen und dem Sittengesetz entsprechend nötigt. Die »Vorbereitung«, die in Sektion 1–4 getätigt

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III. Der reine Wille

werden musste, um diesen Schluss zu erlauben, ist kurz zusammen‐ zutragen: Während in der ersten Sektion gezeigt wurde, dass im Begriff der Freiheit (begriffs-)analytisch das Sittengesetz enthalten ist, folgt in der zweiten Sektion die Notwendigkeit der Freiheit. In der dritten Sektion muss daher auch die Wirklichkeit der Freiheit gezeigt werden, da sie sonst und mit ihr das Sittengesetz einfach als Hirngespinst abgetan werden können. Es zeigt sich schließlich in der vierten Sektion, dass die Freiheit zur Erklärung des Sollens, das vom reinen Willen ausgeht, vorausgesetzt werden muss. Auf diese Weise kommt der Freiheit unabhängig vom Sittengesetz ein eigenständiger Grund zu, weshalb der drohende Zirkel von Scheinerklärungen, durch die sich die »Wechselbegriffe« Freiheit und Gesetz gegenseitig erklären, vermieden werden konnte. In der anschließenden Diskussion in der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ wird im Hinblick auf die Deduktion des reinen Willens die Kritik herausgearbeitet, dass es ohne Anschauung theoretisch unmöglich ist, etwas über die intelligible Beschaffenheit eines ver‐ nünftigen Wesens auszusagen. Es reicht also nicht aus, nur aus den Ideen, die er hat, auf seinen intelligiblen Charakter zu schließen. Deshalb versucht Kant, in der zweiten Kritik eine andere, weniger dogmatische Strategie zu verfolgen, aus der sich sowohl die Verbind‐ lichkeit des Gesetzes als auch die objektive Realität der Freiheit ergeben.

§ 8. »causa noumenon« in der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ In der Literatur wird behauptet, dass Kant in der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ nun einen anderen Weg einschlägt, um das moralische Gesetz zu beweisen, weshalb seine Freiheitstheorie in der ›Grundlegung‹ überflüssig wird.167 Andere gehen sogar davon aus, dass Kant in der zweiten Kritik einsieht, das Moralgesetz gar nicht beweisen zu können und deswegen das »Faktum der reinen Vernunft« voraussetzt. In diesem Paragrafen werde ich zwar auch behaupten, dass Kant im Vergleich zur ›Grundlegung‹ eine andere 167 Vgl. ebenda, S. 225.

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§ 8. »causa noumenon« in der ›Kritik der praktischen Vernunft‹

Strategie wählt, diese jedoch nicht zum Zweck der vermeintlich ver‐ fehlten Deduktion des Moralgesetzes, sondern vielmehr zum Zweck einer kritischen Lehre der Willensfreiheit dient.168 Innerhalb der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ sind zwei wesent‐ liche Fortschritte zu verzeichnen, die als die dem Paragrafen zugrun‐ de liegenden Thesen zu betrachten sind: Im Gegensatz zur ›Grund‐ legung‹ wird der reine Wille nicht mehr dadurch gerechtfertigt, dass wir uns als intelligible Wesen begreifen können und unseren Willen notwendig unter der Idee der Freiheit denken müssen. In der zwei‐ ten Kritik versucht Kant, einen weniger dogmatischen Ansatz für die Rechtfertigung eines reinen Willens zu verfolgen. Die erste These, die ich hier vertreten und diskutieren werde, bezieht sich zunächst nur auf die mögliche Annahme einer Kausalität aus Freiheit. Dazu bezieht sich Kant in der zweiten Kritik erneut auf die bisher wenig rezipierte Diskussion mit Hume und erinnert an die in der ›Kritik der reinen Vernunft‹ gewonnene Einsicht bezüglich des Ursachenbe‐ griffs. Der Abschnitt »Von dem Befugnisse der reinen Vernunft, im praktischen Gebrauche, zu einer Erweiterung, der ihr im spekulati‐ ven für sich nicht möglich ist« (KpV, 50–57), wird dabei die Grund‐ lage meiner Argumentation ausmachen. Daraus resultiert schließlich das Ergebnis, dass wir den bereits deduzierten Begriff der Ursache wegen seines a priorischen und nicht empirischen Ursprungs auf das Praktische erweitern und dem reinen Willen als Ursache eine Kausalität aus Freiheit zuschreiben können. Im zweiten Teil dieses Paragrafen stelle ich weiterhin die These auf, dass dieser Kausalität aus Freiheit, deren Anwendung nicht auf Gegenstände möglicher Er‐ fahrung restringiert ist, durch das Faktum der praktischen Notwen‐ digkeit dennoch eine objektive Realität zukommt. Denn von diesem Faktum ausgehend, können wir auf das Moralgesetz schließen, das die Bedingung für eine Kausalität aus Freiheit ist. Daraus ergibt sich die sowohl in der ›Grundlegung‹ als auch in der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ übergeordnete Fragestellung, 168 Dass sich Kant in der Vorrede der »KpV« zwar auf die »Grundlegung« bezieht, den dritten Abschnitt aber auslässt, kann als Indiz dafür gesehen werden, dass er hier einen anderen Weg einschlägt, dieses Verhältnis zwischen Gesetz und Freiheit anders zu bestimmen: »Es setzt zwar die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten voraus, aber nur in so fern, als diese mit dem Prinzip der Pflicht vorläufige Bekanntschaft macht und eine bestimmte Formel derselben angibt und rechtfertigt; sonst besteht es durch sich selbst« (KpV, 8).

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III. Der reine Wille

»woher das moralische Gesetz verbinde«. Während in der ›Grund‐ legung‹ jedoch von der notwendigen Annahme der Freiheit über den reinen Willen als Zwischenglied auf die Verbindlichkeit des Gesetzes geschlossen wurde, behauptet Kant nun in der ›Kritik der praktischen Vernunft‹, dass diese praktische Notwendigkeit als »Faktum der reinen Vernunft« vorausgesetzt ist. Meine Lesart steht dabei der verbreiteten Annahme, dass es sich um ein Faktum des moralischen Gesetzes handelt, entgegen. Stattdessen gehe ich davon aus, dass das Faktum die Bedingung für Letzteres ist. Damit stellt sich auch ein wesentlicher Unterschied zur spekulativen Philosophie heraus: Denn während wir dort die Notwendigkeit in der Natur rechtfertigen müssen, können wir hier in der praktischen Philoso‐ phie die praktische Notwendigkeit als Faktum der reinen Vernunft voraussetzen. Entsprechend der Reihenfolge der beiden hier vertretenen Thesen ist auch der Paragraf in zwei Unterpunkte gegliedert, die jeweils Argumente dafür liefern sollen, und zwar in i), dass der reine Wille als Ursache zu betrachten ist, wodurch zumindest in praktischer Hinsicht eine intelligible Kausalität angenommen werden kann, und in ii), inwieweit ein Faktum der reinen Vernunft als die Bedingung des Moralgesetzes anzunehmen ist, aus dem schließlich die objektive Realität der intelligiblen Kausalität folgt. § 8.1 Die praktische Erweiterung des Ursachenbegriffs

Wenn wir von einem Wesen sprechen, das einen freien Willen hat, dann meinen wir, dass die Ursache seines Handelns unabhängig von zeitlichen Bedingungen ist. In dieser Hinsicht wird ein Wesen, das einen freien Willen hat, unter den Begriff einer »causa noumenon« gefasst. Problematisch an diesem Begriff ist, dass er im Vergleich zum Begriff einer Ursache im theoretischen Sinne keine Bedingung für mögliche Erfahrung ist und aufgrund seiner unmöglichen An‐ wendung auf Phänomene sogar als »Hirngespinst« abgetan werden kann. Grundlegend stellt sich also die Frage, wie die Annahme eines reinen Willens und damit eine intelligible Kausalität zu rechtfertigen ist. In diesem Unterabschnitt vertrete ich die These, dass Kant in der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ den reinen Willen im »prakti‐ schen Interesse« der Zurechnung und damit von Moral überhaupt

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§ 8. »causa noumenon« in der ›Kritik der praktischen Vernunft‹

als Erweiterung des bereits theoretisch deduzierten Ursachenbegriffs auf die intelligible Welt begründet. Wie im vorherigen Kapitel darge‐ stellt, unterscheidet sich diese Begründung von der ›Grundlegung‹ in der Hinsicht, als dass Kant dort den reinen Willen aus der Be‐ schaffenheit des Menschen ableitet, der aufgrund seiner Ideen zur intelligiblen Welt gehörig gedacht werden muss. In der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ wird aus dem bereits deduzierten Ursachen‐ begriff eine Befugnis zum praktischen Gebrauch erteilt, der zwar keine Rückschlüsse auf die theoretische Beschaffenheit eines Wesens erlaubt, aber den reinen Willen als »causa noumenon« rechtfertigt. Dieser Paragraf ist in zwei wesentliche Gliederungspunkte aufge‐ teilt: Im ersten Teil wird mit Bezug auf die spekulative Philosophie die widerspruchslose Annahme einer intelligiblen Kausalität und damit eines reinen Willens als »causa noumenon« diskutiert. Kant selbst bezieht sich hierbei erneut auf Hume, dem er gegenüber also nicht nur die Notwendigkeit in der Kausalität, sondern auch die grenzüberschreitende intelligible Kausalität rechtfertigen muss. Im zweiten Teil des Paragrafen wird mit Kant darüber hinaus gezeigt, dass diese intelligible Kausalität nicht einfach nur möglich ist, son‐ dern mit einem Faktum der sittlichen Notwendigkeit auch objektive Realität hat. Zur Rechtfertigung einer »causa noumenon« in praktischer Hin‐ sicht verweist Kant im Abschnitt »Von dem Befugnisse der reinen Vernunft, im praktischen Gebrauche, zu einer Erweiterung, die ihr im Spekulativen für sich nicht möglich ist« zunächst auf die in der ›Kritik der reinen Vernunft‹ begriffliche Bestimmung der Ursache, aus der sich schließlich eine mögliche praktische Erweiterung des Begriffs ableiten lässt: Nun ist der Begriff eines Wesens, das freien Willen hat, der Begriff einer causa noumenon, und daß sich dieser Begriff nicht selbst widerspreche, dafür ist man schon dadurch gesichert, daß der Begriff einer Ursache als gänzlich vom reinen Verstande entsprungen, zugleich auch seiner objektiven Realität in Ansehung der Gegenstände überhaupt durch die Deduktion gesichert, dabei seinem Ursprunge nach von allen sinn‐ lichen Bedingungen unabhängig, also für sich auf Phänomene nicht eingeschränkt (es sei denn, wo ein theoretischer bestimmter Gebrauch davon gemacht werden wollte), auf Dinge als reine Verstandeswesen allerdings angewandt werden können. (KpV, 55).

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III. Der reine Wille

Aus diesem Absatz ist zunächst festzuhalten, dass dem Begriff der Ursache zwei wesentliche Merkmale zugeschrieben werden: Erstens ist der Ursachenbegriff ein Verstandesbegriff, dessen objektive Reali‐ tät als deduzierter Begriff »gesichert« ist. Zweitens ist der Ursprung des Begriffs unabhängig von sinnlichen Bedingungen. Diese Merk‐ male decken sich zunächst mit den Eigenschaften, die Kant in der ›Kritik der reinen Vernunft‹ den Kategorien im Allgemeinen zuschreibt: Dieses ist nun die Verzeichnung aller ursprünglich reinen Begriffe der Synthesis, die der Verstand a priori in sich enthält, und um deren willen er auch nur ein reiner Verstand ist; indem er durch sie allein etwas bei dem Mannigfaltigen der Anschauung verstehen, d.i. ein Objekt dersel‐ ben denken kann. (KrV, A 80/B 106).

Mit dieser Definition sind die Kategorien des Verstandes ursprüngli‐ che, reine Begriffe und Vorstellungen a priori, die eine Synthesis des Mannigfaltigen leisten, mit denen es überhaupt möglich ist, Objekte zu denken. Dem in theoretischer Hinsicht bestimmten Ursachenbegriff ge‐ genübergestellt, fällt ein wesentlicher Unterschied zum Begriff der »causa noumenon« auf: Der »causa noumenon« kommt die Eigen‐ schaft zu, ein »möglicher, denkbarer« (KpV, 56) Begriff zu sein, der aber aufgrund der ihm fehlenden empirischen Grundlage in theoretischer Hinsicht ein »leerer Begriff« (KpV, 56) ist, aus dem keine Erkenntnis zu schöpfen ist und dem damit auch keine objek‐ tive Realität zusteht. Da die Eigenschaften der »causa noumenon« also nicht mit dem theoretischen Ursachenbegriff übereinstimmen, ist dieser Begriff eigentlich selbstwidersprüchlich. Denn während der deduzierte Begriff der Ursache auf Gegenstände der Erfahrung restringiert ist, wäre es widersprüchlich, von einer Ursache zu spre‐ chen, die, über die Grenzen der Erfahrung hinausgehend, auf »No‐ umena« angewandt werden kann. Kant behauptet nun, dass sich dieser Widerspruch insofern nicht ergibt, als dass der Ursache nun ebenfalls auch ein reiner Charakter zukommt, der nicht auf Phäno‐ mene eingeschränkt ist und damit auch auf »Dinge als reine Verstan‐ deswesen« Anwendung findet. Mit Verweis auf die Auflösung der dritten Antinomie sind die Merkmale des Begriffs der »causa noumenon« mit dem Begriff des intelligiblen Charakters der Ursache identisch. Der intelligible Cha‐ rakter ist dabei zunächst vom empirischen Charakter der Ursache

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§ 8. »causa noumenon« in der ›Kritik der praktischen Vernunft‹

zu unterscheiden. Der empirische Charakter ist zeitlich und damit naturkausal bestimmt, der somit ein Merkmal aller Naturdinge ist. In der ›Kritik der reinen Vernunft‹ fragt sich Kant bereits, ob es neben der empirischen Kausalität auch eine intelligible Kausalität geben könnte (vgl. A 544/B 572), durch die es möglich ist, auch einen ursprünglichen und intelligiblen Charakter der Ursache aus‐ zumachen. Diesem Charakter käme damit aber keine empirische, sondern eine intelligible Kausalität zu, durch die wir Ursachen auch als frei betrachten können (vgl. KrV, A 550/578). Diese Kausalität aus Freiheit konnte in spekulativer Hinsicht nur als problematischer Begriff angenommen werden. In praktischer Hinsicht können wir je‐ doch auf Grundlage der spekulativen Philosophie einen praktischen Gebrauch desselben Begriffs rechtfertigen: Nun verlange ich aber auch dadurch nicht die Beschaffenheit eines Wesens, so fern es einen reinen Willen hat, theoretisch zu kennen; es ist mir genug, es dadurch nur als ein solches zu bezeichnen, mithin nur den Begriff der Kausalität mit dem der Freiheit (und was davon un‐ zertrennlich ist, mit dem moralischen Gesetze, als Bestimmungsgrunde derselben) zu verbinden; welche Befugnis mir, vermöge des reinen, nicht empirischen Ursprungs des Begriffs der Ursache, allerdings zu‐ steht, indem ich davon keinen anderen Gebrauch als in Beziehung auf das moralische Gesetz, das seine Realität bestimmt, d.i. nur einen praktischen Gebrauch zu machen mich befugt halte. (KpV, 56).

Nach Kant sind wir in der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ insofern befugt, von einem reinen Willen als intelligible Kausalität praktisch Gebrauch machen zu können, als dass er sich mit der Ursache den »reinen, nicht empirischen Ursprung« teilt. Hiervon ausgehend, stellt Kant nun in Aussicht, den reinen Willen als intelligible Kau‐ salität aus dem »ursprünglichen« Begriff der Ursache rechtfertigen zu können. Anders als die Deduktion des reinen Willens in der ›Grundlegung‹ versucht Kant, den reinen Willen also nicht nur aus der Beschaffenheit eines vernünftigen Wesens abzuleiten. Er verwirft somit seine Argumentation aus der ›Grundlegung‹ mit der Überlegung, dass es in theoretischer Hinsicht unmöglich ist, von der intelligiblen Beschaffenheit eines Wesens auf die Möglichkeit eines reinen Willens zu schließen. Es klingt so, als ob Kant seine Ansprüche in dieser Hinsicht reduziert hat, wenn er schreibt, dass es ihm schon »genug« wäre, »es dadurch nur als solches zu bezeich‐ nen«. Dem Absatz entnehmend, geht es Kant also lediglich darum,

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dem Willen auch einen reinen Charakter zuzuschreiben und damit eine intelligible Kausalität annehmen zu können (»mithin nur den Begriff der Kausalität mit dem der Freiheit [...] zu verbinden«). Diese Befugnis, eine intelligible Kausalität annehmen zu können, steht ihm aufgrund des nicht empirischen Ursprungs der Ursache zu, wobei sie hierdurch aber noch keine Realität hat. Die übergeordnete Frage, die Kant hier beantwortet hat, betrifft die Möglichkeit der Anwendung der Kausalität auf Gegenstände au‐ ßerhalb möglicher Erfahrung. Im Gegensatz zu Hume betont Kant schließlich erneut, sei es ihm selbst in spekulativer Hinsicht gelun‐ gen, aus dem Begriff der Ursache die notwendige Verknüpfung zwei voneinander verschiedener Gegenstände zu deduzieren (vgl. KpV, 53). Dieses hat er jedoch nur in Bezug auf Gegenstände möglicher Erfahrung zeigen können, denn von Dingen an sich ist es unmöglich einzusehen, wie zwei voneinander verschiedene Dinge notwendig zusammengehen. Von Erscheinungen einer Erfahrung ist hingegen eine notwendige Verknüpfung von zwei verschiedenen Gegenstän‐ den denkbar. Denn zumindest in zeitlicher Hinsicht würde ein Wi‐ derspruch entstehen, wenn man das, was passiert ist, unabhängig von dem betrachtet, was ihm vorherging. Mit der Annahme einer Kausalität aus Freiheit zeigt sich nun das Problem, dass mit ihr die Grenze möglicher Erfahrung überschritten wird, auf die die Kategorien des Verstandes ursprünglich restringiert waren. Es ist gerade diese Grenzüberschreitung der Vernunft in praktischer Hinsicht, die mit der spekulativen Vernunft unvereinbar ist. Die Auflösung dieses Problems erfolgt schließlich am Begriff der Ursache selbst. Kant betont, dass, wenn er wie Hume es tat, die Gegenstände der Erfahrung für Dinge an sich selbst angenommen hätte, der Begriff der Ursache dann ein »falsches Blendwerk« wäre (KpV, 53). Dadurch, dass Kant aber aufgrund seiner Transzenden‐ talphilosophie zwischen Erscheinungen und Dingen an sich unter‐ scheiden konnte, war es ihm auch möglich, den a priorischen und nicht empirischen Ursprung des Ursachenbegriffs zu deduzieren. Dieses scheint nun die Bedingung überhaupt dafür zu sein, den reinen Willen als Ursache begreifen zu können: Aber eben dieses, daß ich sie auch nur in diesem Fall gerettet habe, daß ich gewiesen habe, es lassen sich dadurch doch Objekte denken, obgleich nicht a priori bestimmen: dieses ist es, was ihnen einen Platz

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§ 8. »causa noumenon« in der ›Kritik der praktischen Vernunft‹

im reinen Verstand gibt, von dem sie auf Objekte überhaupt (sinnliche oder nicht sinnliche) bezogen werden. (KpV, 54).

Da wir neben dem apriorischen Ursprung nun auch einen reinen und nicht empirischen Ursprung der Ursache ausmachen können, ist es möglich, den reinen Willen als Ursache zu begreifen, wenn‐ gleich dieser nicht a priori zu bestimmen und von ihm keine An‐ wendung auf Gegenstände möglicher Erfahrung möglich ist: »Denn, daß dieser Begriff auch in Beziehung auf ein Objekt nichts Unmögli‐ ches enthalte, war dadurch bewiesen, daß ihm sein Sitz im reinen Verstande bei aller Anwendung auf Gegenstände der Sinne gesichert war [...]« (KpV, 54). Es ist damit möglich, von einem Willen als Ur‐ sache zu sprechen, wenn wir nur den ursprünglichen (intelligiblen) Charakter der Ursache nutzen. Die Kausalität kann aufgrund der fehlenden Anwendung auf Erscheinung aber keine Naturkausalität sein, sondern nur eine intelligible Kausalität. Unabhängig davon, so Kant, ob der Begriff der Kausalität »auch von Noumenon gebraucht werden kann«, zeigt sich nun, »daß im‐ mer die objektive Realität des Begriffs bleibt« (KpV, 55). Durch die Deduktion der Kausalität auf Gegenstände der Erfahrung ist die objektive Realität der Naturkausalität gesichert. Es stellt sich nun heraus, dass auch der intelligiblen Kausalität eine objektive Realität zumindest zum Zweck des praktischen Gebrauches zugesprochen werden kann: Im Begriffe eines Willens aber ist der Begriff der Kausalität schon ent‐ halten, mithin in dem eines reinen Willens der Begriff einer Kausalität mit Freiheit, d.i. die nicht nach Naturgesetzen bestimmbar, folglich keiner empirischen Anschauung, als Beweises seiner Realität, fähig ist, dennoch aber in dem reinen praktischen Gesetze a priori, seine objekti‐ ve Realität doch (wie leicht einzusehen) nicht zum Behufe des theoreti‐ schen, sondern bloß praktischen Gebrauchs der Vernunft vollkommen rechtfertigt. (KpV, 55).

Im Vergleich zur Naturkausalität kann die Realität der Kausalität aus Freiheit durch keine empirische Anschauung bewiesen werden. Die objektive Realität kommt der Kausalität genau dann zu, wenn wir ein Gesetz a priori ausmachen können, das ihr zugrunde liegt. Denn mit Bezug auf den nomologischen Charakter der Kausalität konnte ich bereits im ersten Kapitel ausmachen, dass, mit Hume gespro‐ chen, nur dann von kausalen Verhältnissen auszugehen ist, wenn

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ihnen eine Notwendigkeit zugrunde liegt, »welche das Wesentliche des Begriffs der Kausalität ausmacht« (KpV, 53). Bisher wurde nur dargelegt, dass aufgrund des reinen, nicht em‐ pirischen Ursprungs der Ursache eine intelligible Kausalität wider‐ spruchsfrei mit dem theoretischen Ursachenbegriff zu vereinbaren und damit möglich ist. Inwiefern dieser Kausalität nun ein Gesetz a priori zugrunde liegt und damit objektive Realität hat, muss Kant noch zeigen. Es wird sich herausstellen, dass die »objektive Realität eines reinen Willens im moralischen Gesetze a priori durch ein Faktum gegeben [ist]« (KpV, 55). Auf Grundlage dieses Faktum ist es möglich, ein Gesetz a priori anzunehmen, von dem ausgehend, schließlich auf die objektive Realität eines reinen Willens geschlos‐ sen werden kann. Nur unter dieser Bedingung ist unabhängig von empirischen Prinzipien eine »unvermeidliche Willensbestimmung« möglich. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass von dem reinen Willen zwar keine Realität in theoretischer Hinsicht möglich ist, aber in dem Begriff eines reinen Willens eine Kausalität aus Freiheit enthal‐ ten ist, insofern der Wille nicht nach Naturgesetzen, sondern durch ein moralisches Gesetz bestimmbar ist. Deshalb ist seine objektive Realität in praktischer Hinsicht vollkommen gerechtfertigt, auch wenn diese in theoretischer Hinsicht nicht gezeigt werden kann. Ins‐ besondere die Frage, inwiefern die Annahme eines reinen Willens in praktischer Absicht durch ein Faktum gerechtfertigt ist, soll im fol‐ genden Unterabschnitt ausführlich dargelegt werden. Dazu werden wir sehen, dass das moralische Gesetz zwar in praktischer Absicht den Willen de facto nötigt, jedoch eine Erkenntnis darüber in theo‐ retischer Hinsicht, insbesondere wie dies geschieht, nicht möglich ist. § 8.2 Das »Faktum« der praktischen Notwendigkeit

Nachdem Hume die Notwendigkeit in der Kausalität weder analy‐ tisch noch empirisch aufzeigen konnte, kommen auch seine Unter‐ suchungen bezüglich der Frage nach dem Ursprung moralischer Verbindlichkeiten zum selben Ergebnis. Für Hume sind Moral und Vernunft unterschiedlichen Gegenstandsbereichen zuzuordnen, so‐ dass die Normativität in der Moral nicht aus der Vernunft abzulei‐

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ten ist. Während bei Kant die Notwendigkeit in der Kausalität in spekulativer Hinsicht problematisch bleibt und nur mit einer trans‐ zendentalen Freiheit denkmöglich ist, kann die sittliche Verbindlich‐ keit hingegen als »Faktum« vorausgesetzt werden. Dieses zeigt sich durch das moralische Gesetz, welches das Faktum der sittlichen Verbindlichkeit »an die Hand [gibt]« (KpV, 43). In der Forschungsliteratur gibt es Uneinigkeit darüber, welche Funktion oder Bedeutung dem von Kant in der ›Kritik der prakti‐ schen Vernunft‹ verwendeten Begriff des Faktums zukommen soll. Es werden sogar Meinungen vertreten, die dem von Kant zuweilen auch als »Faktum der reinen Vernunft« verwendeten Ausdruck keine größere Aufmerksamkeit schenken wollen und diesen entweder als »Unding« abtun oder als Kapitulation Kants verstehen, dem die De‐ duktion des Sittengesetzes nicht gelungen sei.169 Dem Anspruch die‐ ser Autoren, eine Deduktion oder Rechtfertigung des moralischen Gesetzes zu liefern, ist zu erwidern, dass dieser grundsätzlich aus‐ sichtslos ist. Wie bereits im vorigen Kapitel gezeigt, liegen sowohl eine Begründung des Sittengesetzes als auch des Naturgesetzes und damit die Frage, »wie« ein solches Gesetz möglich ist, außerhalb unseres Erkenntnishorizonts. Denen also, die einen theoretischen Beweis der Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit abverlangen, erwi‐ dert Kant sogar in scharfer Polemik: »Sie wollen beweisen; wohlan! so mögen sie denn beweisen, und die Kritik legt ihnen, als Siegerin, ihre ganze Rüstung zu Füßen« (KpV, 5). Damit ist Allison zumindest in der Hinsicht zuzustimmen, dass Kant in der ›Kritik der prakti‐ schen Vernunft‹ die Deduktion für unmöglich hielt, wobei dem noch hinzuzufügen ist, dass Kant dieses grundsätzlich und damit auch schon bereits in der ›Grundlegung‹ für unmöglich gehalten hat.170 Nicht zuletzt deswegen wurden Versuche unternommen, die Plausibilität eines »Faktums der reinen Vernunft« zu retten. Exem‐ plarisch ist hier die Interpretation von White Beck heranzuziehen, der das Faktum als eine Art »Schöpfung der Vernunft« darstellt, das den transzendentalen Grund des moralischen Gesetzes ausmachen

169 Repräsentativ für diese Ansicht stehen Prauss, G., Kant über Freiheit als Auto‐ nomie, S. 115 und vgl. außerdem Böhme, H. and Böhme, G., Das Andere der Vernunft, S. 347. 170 Vgl. Allison, H. E., Kant’s Theory of Freedom, S. 227ff.

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soll.171 Eine ähnliche Ansicht vertritt auch Willaschek, wenn er das Faktum als eine »Tat« der Vernunft begreift, nach der sich die Ver‐ nunft selbst das Sittengesetz gibt.172 Neben der verbreiteten Lesart, das »Faktum der Vernunft« als eine »zurechenbare Tat« zu verstehen, wird noch eine zweite Lesart vertreten, die das Faktum als »Tatsache« auffasst. Im Folgenden wer‐ de ich die These vertreten, dass mit dem Faktum die Tatsache der praktischen Notwendigkeit gemeint ist. Es wird sich herausstellen, dass nur unter der Voraussetzung der (praktischen) Notwendigkeit als Faktum überhaupt die Möglichkeit von Gesetzmäßigkeit und da‐ mit die objektive Realität der transzendentalen Freiheit in der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ erwiesen sind. Das Einzige, das Kant also auf Grundlage seiner Transzendentalphilosophie zu zeigen anstrebt, ist, dass es denkmöglich und mit der praktischen Vernunft sogar wirklich ist, Notwendigkeiten in der Natur anzunehmen. Dafür wer‐ de ich zum einen zeigen, dass das Faktum nicht in der empirischen Bedeutung des Tatsachenbegriffs verstanden werden kann, sondern ihm ein Notwendigkeitscharakter zugrunde liegt und er dadurch zeitlos ist. Das Faktum kann also nur als einzige Tatsache der rei‐ nen Vernunft verstanden werden. Zum anderen werde ich entgegen einigen Interpretationen darlegen, dass das »Faktum der Vernunft« nicht als »Tat der Vernunft« und damit als Vernunftprodukt ange‐ sehen werden kann, diesem in seiner eigentlichen Begriffsdeutung sogar entgegensteht. Die Uneinigkeit zum Begriff des Faktums innerhalb der For‐ schungsliteratur ist dem Umstand geschuldet, dass dieser, aus dem Lateinischen abgeleitet, sowohl »Tat« als auch »Tatsache« bedeu‐ ten kann. Hinzu kommt, dass im Text die Doppeldeutigkeit des Faktumsbegriffs gleichermaßen von Kant verwendet wird, was eine 171 Vgl. White Beck, L., Das Faktum der Vernunft: Zur Rechfertigungsproblematik in der Ethik., S. 280 und vgl. Bojanowski, J., Kants Theorie der Freiheit, S. 62, der ebenfalls die Gegebenheit des moralischen Gesetzes als eine Art Schöpfung der Vernunft versteht. 172 Vgl. Willaschek, M., Praktische Vernunft, S. 181. Eine Interpretation, die eine etwas andere Richtung einschlägt, vertritt Schönecker, der der Faktum-Theorie nämlich ein intuitionistisches Argument zugrunde legt und nach ihm das Gefühl der »Achtung« dabei einen rechtfertigenden Grund des Faktums als das moralische Gesetz ausmacht (vgl. Schönecker, D., Das gefühlte Faktum der Vernunft. Skizze einer Interpretation und Verteidigung, S. 100ff.).

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ambivalente Deutung bestärkt. Im Besonderen zeigt sich dies in einigen Reflexionen Kants, auf die sich auch Willaschek bezieht. Mit dem Verweis auf die Reflexion 6784 in »A. G. Baumgartens Initia philosophiae practicae prima« scheint Kant unter einem »fac‐ tum« einerseits eine zurechenbare Handlung zu verstehen: »[...] und eine Handlung, die unter einem moralischen (gebot- oder Verbot-) Gesetze steht, heißt eine that. Ein jedes factum ist entweder meri‐ tum oder demeritum, keines ist adiaphoron«.173 In der Reflexion 6783, die in der Analyse von Willaschek zwar auch aufgeführt, aber nicht weiter diskutiert wird, ist unter einem »factum« andererseits eine freie Handlung zu verstehen, die unter keinen Gesetzen steht: »Wenn etwas als eine freye Handlung, die nach moralischen Geset‐ zen nicht necessitiert ist, angesehen werden kan, so ist es ein fac‐ tum«. Es zeigt sich, dass Kant innerhalb der Reflexionen den Begriff des Faktums inkonsequent verwendet. Während entsprechend der ersten Reflexion dem Anschein nach von mehreren »facta« (»ein je‐ des factum«) ausgegangen werden muss, ist in der zweiten Reflexion nur von einem »factum« die Rede, das frei und damit unabhängig von bestimmenden Bedingungen ist. Auch wenn unklar ist, welches Gewicht diesen Reflexionen beige‐ messen werden sollte, findet sich in der »Metaphysik der Sitten« der Begriff des Faktums in ähnlicher Bedeutung zur ersten Reflexi‐ on wieder. Hier wird das »factum« mit einer Tat gleichgesetzt, die unter Gesetzen (der Verbindlichkeit) steht (vgl. 6:223). Wenngleich mit dieser Definition das Faktum als eine zurechenbare Handlung verstanden werden kann, geht damit nicht einher, dass das Faktum die zurechenbare Handlung selbst sein muss. In der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ heißt es daher auch nicht, dass sich durch ein Faktum die reine Vernunft »als Tat«, sondern »in der Tat« praktisch beweist: Diese Analytik tut dar, daß reine Vernunft praktisch sein, d.i. für sich, unabhängig von allem Empirischen, den Willen bestimmen könne – und dieses zwar durch ein Faktum, worin sich reine Vernunft bei uns in der Tat praktisch beweiset, nämlich die Autonomie in dem Grundsatze der Sittlichkeit, wodurch sie den Willen zur Tat bestimmt. (KpV, 42). 173 Neben dieser Reflexion verweist Willaschek noch auf die folgenden anderen Reflexionen hin, in denen Kant unter dem »factum« tatsächlich eine zurechen‐ bare »that« versteht: R 7288, R 7292, R 3579. Vgl. Willaschek, M., Praktische Vernunft, S. 329.

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III. Der reine Wille

Der Ausdruck »in der Tat« kann in diesem Kontext ebenfalls dop‐ peldeutig gelesen werden: Entweder kann dieser so verstanden wer‐ den, dass sich die reine Vernunft durch ein Faktum »in der Tat«, das heißt »tatsächlich«, oder »in einer Tat« durch das Handeln praktisch beweist. Das Faktum wäre im zweiten Fall als ein Mittel zu verstehen, durch das die Vernunft »den Willen zur Tat bestimmt« und so ihr praktisches Vermögen gewinnt. Diese Lesart könnte je‐ doch den Eindruck erwecken, dass sich das Faktum empirisch im Handeln bestimmen lässt. Es ist eher davon auszugehen, dass »in einer Tat« immer das Faktum als Bedingung vorausgesetzt werden muss, und zwar als Verbindlichkeit, die diese allererst zurechenbar macht. Wenn ich beispielsweise einen Apfel fallen sehe, erkenne ich nicht das Gravitationsgesetz als Grund des Fallens des Apfels, vielmehr zeigt sich das Gesetz nur in diesem Vorgang. So wie man unter der Voraussetzung der Notwendigkeit in der Natur überhaupt Naturereignisse bestimmten Gesetzen zuschreiben kann, kann auch nur unter Bedingung des Faktums der Vernunft allererst ein mora‐ lisches Gesetz angenommen und damit Handlungen zugerechnet werden.174 Aus anderer Stelle, und zwar in der Einleitung der zweiten Kritik, geht am deutlichsten hervor, dass der Ausdruck »in der Tat« im Sinne von tatsächlich oder faktisch gelesen werden muss: Nun tritt hier ein durch die Kritik der reinen Vernunft gerechtfertigter, obzwar keiner empirischen Darstellung fähiger Begriff der Kausalität, nämlich der der Freiheit, ein, und wenn wir anjetzt Gründe ausfindig machen können, zu beweisen, daß diese Eigenschaft dem menschlichen Willen (und so auch dem Willen aller vernünftigen Wesen) in der Tat zukomme, so wird dadurch nicht allein dargetan, daß reine Vernunft praktisch sein könne, sondern sie allein, und nicht die empirisch-be‐ schränkte, unbedingterweise praktisch sei. (KpV, 15).

Würde man in diesem Absatz den Ausdruck »in der Tat« als eine praktische Tat oder Handlung lesen, dann würde sich das Beweisziel 174 In der »Grundlegung« hebt Kant hervor, dass eine jedes Gesetz Notwendigkeit impliziert und nur unter diese Voraussetzung angenommen werden kann: »Je‐ dermann muß eingestehen, daß ein Gesetz, wenn es moralisch, d.i. als Grund einer Verbindlichkeit, gelten soll, absolute Notwendigkeit bei sich führen müs‐ se; [...] daß mithin der Grund der Verbindlichkeit hier nicht in der Natur des Menschen oder den Umständen in der Welt, darin er gesetzt ist, gesucht werden müsse, sondern a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft [...]«. (GMS, 389).

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§ 8. »causa noumenon« in der ›Kritik der praktischen Vernunft‹

der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ selbst widersprechen. Denn einerseits würde sie von der Prämisse ausgehen, dass die Kausalität der Freiheit keiner empirischen Darstellung fähig ist, und anderer‐ seits doch beweisen wollen, dass dem menschlichen Willen der Be‐ griff der Kausalität der Freiheit in einer Tat zukomme. Das Ziel der zweiten Kritik kann daher nur sein, aufzuzeigen, dass dem Willen »in der Tat« oder eben als ein Faktum die Kausalität der Freiheit zukommt. Durch das Faktum der sittlichen Verbindlichkeit ist näm‐ lich die Bedingung gesetzt, auf der die reine Vernunft den Willen unbedingt und damit unabhängig von Naturgesetzen praktisch »zur Tat« bestimmen kann. In der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ zeigt sich nun sehr deut‐ lich, dass die dort mit dem Faktum einhergehenden Eigenschaften nicht mit der einer empirischen »Tat« übereinkommen. Dies ist bereits daraus zu entnehmen, als dass das Faktum als das »einzige Faktum der reinen Vernunft« bezeichnet wird: Doch muss man, um dieses Gesetz ohne Mißdeutung als gegeben anzu‐ sehen, wohl bemerken, daß es kein empirisches, sondern das einzige Faktum der reinen Vernunft sei, die sich dadurch als ursprünglich ge‐ setzgebend (sic volo, sic iubeo) ankündigt. (KpV, 31).

Wenn nun das »Faktum der Vernunft« als eine »Tat der Vernunft« gelesen wird, dann muss es eine nicht empirische Tatsache sein. Diesem Umstand geschuldet, versteht Willaschek die Tat daher als ein selbstschöpferischer Akt der Vernunft, wodurch uns diese das Gesetz »gibt« und daraus allererst das Bewusstsein des moralischen Gesetzes folgt: »Das Faktum besteht deshalb darin, daß die Vernunft das ›moralische Gesetz‹ gibt, und zwar gibt sie es uns Menschen«.175 In dieser Interpretation wird die Vernunft demnach als Urheberin des Faktums verstanden, wodurch der Ausdruck »Faktum der Ver‐ nunft« als genitivus subjektivus gelesen wird, was jedoch nicht ganz unproblematisch ist.176 In diesem Sinne wird das Faktum nämlich als ein konstruktivistischer Akt der Vernunft angesehen, wodurch das 175 ebenda, S. 182. 176 Zu einer detaillierteren Aufschlüsselung der Problematik in Bezug auf die Interpretation Willascheks zum »Faktum der Vernunft« vgl. auch Steigleder, K., Kants Moralphilosophie, S. 102–108. Im Gegensatz zu Willaschek vertritt Steigleder die Ansicht, dass das Faktum doppeldeutig als »Tatsache« und als »Tat der Vernunft« zu verstehen ist. Dabei zeigt sich auch hier die Schwie‐

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III. Der reine Wille

Gesetz seine unbedingte Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit verliert, da die Notwendigkeit immer an die Bedingung geknüpft ist, dass die Vernunft sie erst hervorruft. Insbesondere ist nicht klar, woraus oder auf welcher Grundlage die reine Vernunft ein solches Gesetz schöpfen sollte. Ein jedes Gesetz enthält nämlich die (unbe‐ dingte) Notwendigkeit, deren Möglichkeit und Wirklichkeit nie auf Grundlage reiner Vernunft bewiesen werden können. Um nun eine Notwendigkeit als Voraussetzung von Gesetzen an‐ nehmen zu können, muss diese als unabhängige Tatsache gegeben sein. Der Ausdruck »Faktum der Vernunft« kann deshalb auch als genitivus objektivus und damit als »Faktum für die Vernunft« gele‐ sen werden. In diesem Sinne kann das Faktum als zur Vernunft zugehörig und ihr zugleich zugrundeliegend verstanden werden. Da‐ durch ist nämlich nicht nur die Bedingung für Gesetze der Vernunft erfüllt, sondern vielmehr noch die einzige Voraussetzung der reinen Vernunft gegeben, durch das sie allererst ihren gesetzgebenden Cha‐ rakter erhält, denn durch dieses kündigt sich die Vernunft als »ur‐ sprünglich gesetzgebend« an. Damit geht das Faktum selbst »[...] vor allem Vernünfteln über seine Möglichkeit und allen Folgerungen, die daraus zu ziehen sein möchten, [vorher]« (KpV, 91). Auf diese Weise ist sein reiner Charakter gesichert, der vermittels keiner empirischen Anschauung bestimmt werden kann und dem somit auch keine em‐ pirischen Bedingungen vorhergehen. Unter der Voraussetzung der sittlichen Verbindlichkeit, die als Faktum gegeben ist, schöpft die Vernunft das moralische Gesetz, was Kant selbst als »Produkt der Vernunft« (KpV, 20) bezeichnet. Demgegenüber ist im Gegensatz zu Hume die Vernunft ein principium diiudicationis. Das Analogon zum »Faktum der Vernunft« in der praktischen Philosophie ist die transzendentale Freiheit in der spekulativen Phi‐ losophie. Zumindest zeigt sich, dass die der transzendentalen Idee der Freiheit zugeschriebenen Eigenschaften mit denen des Faktums bis zu einem gewissen Grad übereinstimmen. Wie im vorigen Ka‐ pitel zur dritten Antinomie dargelegt, wird der transzendentalen Freiheit ein zeitloser Charakter zugeschrieben, die deshalb nicht auf‐ grund von Erfahrung bestimmt werden kann und damit unabhängig von empirischen Bedingungen ist. In der dritten Antinomie und rigkeit, die Deutung des Faktums als unabhängige Tatsache mit der als ein Vernunftprodukt oder Tat der Vernunft zusammenzubringen.

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§ 8. »causa noumenon« in der ›Kritik der praktischen Vernunft‹

ihrer Auflösung konnte gezeigt werden, dass sich Freiheit und Natur‐ notwendigkeit nicht nur nicht widersprechen, sondern die transzen‐ dentale Freiheit als die Möglichkeit von Gesetzmäßigkeit notwendig vorausgesetzt werden muss, um Erscheinungen überhaupt unter Ge‐ setzmäßigkeiten denken zu können. Auch das Faktum »[ist] auf kei‐ ner, weder reinen noch empirischen Anschauung gegründet« (KpV, 31), weshalb es auch durch keine Deduktion bewiesen werden kann (vgl. KrV, 47). Obwohl es uns also »unerklärlich« (KpV, 43) bleibt, kommt ihm im Gegensatz zur transzendentalen Freiheit dennoch apodiktische Gewissheit zu: »Auch ist das moralische Gesetz gleichsam als Faktum der reinen Ver‐ nunft, dessen wir uns a priori bewusst sind und welches apodiktisch ge‐ wiß ist, gegeben, gesetzt, daß man auch in der Erfahrung kein Beispiel, da es genau befolgt wäre, auftreiben konnte.« (KpV, 47).

Das Bewusstsein des moralischen Gesetzes gilt als Faktum, welches »sich für uns selbst aufdringt« (KpV, 31) und das man »nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft, z.B. dem Bewußtsein der Frei‐ heit (denn dieses ist uns nicht vorher gegeben), herausvernünfteln kann« (ebd.). In der ›Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‹ hatte Kant noch einen anderen Ausgangspunkt gewählt und das Sittenge‐ setz aus dem Begriff der Freiheit abgeleitet (vgl. GMS, 447). In der zweiten Kritik wird sich von diesem vorkritischen Standpunkt gelöst und vielmehr die Einsicht gewonnen, dass vom Bewusstsein des moralischen Gesetzes als das höchste Prinzip auf die Realität der Freiheit geschlossen werden kann.177 Hieraus erschließt sich, dass das Faktum der Vernunft eine her‐ ausragende Stellung in Kants Philosophie einnimmt. Mit dem Fak‐ tum der Vernunft zeichnet sich die praktische Philosophie als Auf‐ bau und Unterbau von Kants spekulativer Philosophie ab, durch das die objektive Realität der Freiheit bestätigt werden kann, welche noch in der ersten Kritik »bloß gedacht werden konnte« (KpV, 6). In der Vorrede der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ betont Kant sogar, dass der Begriff der Freiheit, »so fern dessen Realität durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist, [...] 177 Zum entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang von GMS und KpV vgl. Ludwig, B., Aufklärung über die Sittlichkeit. Zu Kants Grundlegung einer Meta‐ physik der Sitten, S. 131–142.

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nun den Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der spekulativen Vernunft [ausmacht]« (KpV, 3).178 Wenngleich der Freiheit im praktischen Gebrauch die objektive Realität »zugestanden« werden kann, welche ihr im spekulativen Gebrauch »abgesprochen« werden musste, geht damit nicht einher, dass die praktische Philosophie nur dazu dient, »um Lücken des kri‐ tischen Systems der spekulativen Vernunft auszufüllen (denn diese ist in seiner Absicht vollständig) [...]« (KpV, 7). Vielmehr eröffnet nach Kant der unterschiedliche Gebrauch desselben Begriffs eine »sehr befriedigende Bestätigung der konsequenten Denkungsart der spekulativen Kritik« (KpV, 6). Diese zeigt sich darin, dass die den Erscheinungen zugrunde gelegten Dingen an sich keine inhaltslee‐ ren Begriffe sind, sondern für die Möglichkeit von Gesetzen in der Erscheinungswelt vorausgesetzt werden können. Dass wir die trans‐ zendentale Freiheit notwendigerweise annehmen müssen, hat Kant hinreichend im Dialektik-Abschnitt der ›Kritik der reinen Vernunft‹ zeigen können, indem sie die Bedingung von Gesetzmäßigkeit ist. Im Thesis-Beweis der dritten Antinomie wird argumentiert, dass nur unter der Bedingung einer transzendentalen Freiheit als »absolute Spontaneität« die Notwendigkeit in Naturereignissen und damit die Gesetzmäßigkeit in der Natur denkbar sind. Hume zustimmend, ist auch nach Kant keine Notwendigkeit der Naturereignisse empirisch feststellbar. Diese ist lediglich durch die transzendentale Idee der Freiheit denkbar. In der praktischen Philosophie bestimmt die trans‐ zendentale Freiheit daher auch konsequenterweise die Bedingung für das moralische Gesetz, welches uns »gegeben« ist. Die Freiheit selbst wird damit nicht in spekulativer Hinsicht bewiesen, sondern sie wird als die Bedingung von Gesetzen durch das Vorhandensein eines in praktischer Hinsicht bestimmten Gesetzes »bestätigt« (KpV, 6).

178 An anderer Stelle schreibt Kant daher auch, dass das moralische Gesetz das »Kreditiv« der Freiheit ist (vgl. KpV, 48). Timmermann macht auf den Um‐ stand aufmerksam, dass insbesondere in der englischsprachigen Literatur das Kreditiv als ein Kreditiv für das moralische Gesetz verstanden wird (vgl. Beck, L. W., A Commentary on Kant’s Critique of Practical Reason, S. 174), wobei das moralische Gesetz seine Rechtfertigung bereits durch das »Faktum der reinen Vernunft« erfährt, vgl. Timmermann, J., Das Creditiv des moralischen Gesetzes, S. 112.

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§ 8. »causa noumenon« in der ›Kritik der praktischen Vernunft‹

Dies beschreibt das Wechselverhältnis zwischen dem moralischen Gesetz und der Freiheit, das in der ›Grundlegung‹ noch zu einem Zirkelproblem geführt hat. Kant fasst hier das Verhältnis zwischen Gesetz und Freiheit anders zusammen, sodass ihm auch erst keine »Inkonsequenzen« (KpV, 4 Anm.) vorgehalten werden können: Da die Freiheit ohne das Gesetz nicht »angenommen« werden kann, ist dieses Gesetz die »ratio cognoscendi« derselben, während das mora‐ lische Gesetz gleichsam nicht »anzutreffen« ist, wenn die Freiheit nicht als Bedingung gegeben ist, weshalb sie die »ratio essendi« des Gesetzes ist. Auf diese Weise kommt der Freiheit im Vergleich zu den anderen Ideen ein besonderer Status zu: Freiheit ist aber auch die einzige unter allen Ideen der spekulativen Vernunft, wovon wir die Möglichkeit a priori wissen, ohne sie doch ein‐ zusehen, weil sie die Bedingung des moralischen Gesetzes ist, welches wir wissen. (KpV, 4).

In der spekulativen Vernunft sind wir einerseits dazu »genötigt«, die transzendentale Freiheit anzunehmen und in praktischer Hinsicht »wissen« wir andererseits im Gegensatz zu den Ideen Gott und Unsterblichkeit auch von ihr. In dieser Weise muss die Idee der Freiheit zu den Tatsachen oder »unter die scibilia mit gerechnet wer‐ den«, da sich ihre »Realität [...] durch praktische Gesetze der reinen Vernunft und diesen gemäß in wirklichen Handlungen, mithin in der Erfahrung dartun lässt« (KU, 468). Das moralische Gesetz, das uns als Faktum gegeben ist, gibt uns in unserem Handeln ein Sollen vor. In der Erfahrung zeigt sich das in der Art, als dass A oder Nicht-A getan werden kann. Am Beispiel des Lügners in der ›Kritik der reinen Vernunft‹ hätte der Lügner zunächst auch anders handeln können, d.h. nicht lügen können. Obzwar dies nicht in spekulativer Hinsicht gezeigt werden kann, dass er tatsächlich anders hätte handeln können, ist es ihm jedoch als Fakt bewusst. In derselben Weise zeigt sich dieses nun auch am zweiten Galgen-Beispiel in der ›Kritik der praktischen Vernunft‹. Hier wird der Betroffene gezwungen, ein falsches Zeugnis abzulegen, da ihm andererseits der Tod durch Erhängen bevorsteht. In erster Linie will das Beispiel hervorheben, dass sich der Betroffene bewusst darüber ist, unter einem unbedingten Gebot zu stehen: Nämlich kein falsches Zeugnis abzulegen. Und weil das so ist, weiß er auch über die Möglichkeiten seiner Handlung, nämlich A zu tun oder Nicht-A zu tun:

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III. Der reine Wille

Ob er es tun würde, oder nicht, wird er vielleicht sich nicht getrauen zu versichern; daß es ihm aber möglich sei, muß er ohne Bedenken einräumen. Er urteilet also, daß er etwas kann, darum weil er sich bewusst ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre. (KpV, 30).

Das moralische Gesetz ist im Bewusstsein des Handelnden und selbst dann, wenn er sich dafür entscheidet, ein falsches Zeugnis ab‐ zulegen, um sein eigenes Leben zu retten, wird es ihm zugerechnet, weil er sich des Vorhandenseins von alternativen Handlungsmög‐ lichkeiten bewusst ist. Was anhand dieser Beispiele deutlich wird, ist, dass wir vom Sollen Erfahrung machen können. Von diesem Sollen schließen wir auf die Freiheit. In Bezug auf Hume hat Kant also das Sein-Sollen-Problem aufgelöst, indem er nicht vom Sein auf das Sol‐ len schließt, sondern das Sein des Sollens als Fakt aufzeigt.179 Und dieses ist möglich, weil uns das Sollen durch das moralische Gesetz gegeben ist und sich in der Erfahrung bestätigt. Da dieses Sollen nun die Freiheit voraussetzt, geht mit ihr also auch die objektive Realität der Freiheit einher, die für jede andere Gesetzmäßigkeit und so auch die der Naturgesetze vorausgesetzt werden muss. Dieses Faktum der praktischen Notwendigkeit lässt also ein Ge‐ setz »erkennen« (KpV, 43), das uns zumindest einen Hinweis auf die intelligible Welt liefert, wenngleich wir es auch nicht spekula‐ tiv aufzeigen können. Das Faktum beweist somit, i) dass Vernunft praktisch ist und mit ihr eine Willensbestimmung einhergeht, »die unvermeidlich ist« (KpV, 55) und ii) die Realität der Freiheit damit gegeben ist: Denn wenn sie, als reine Vernunft, wirklich praktisch ist, so beweiset sie ihre und ihrer Begriffe Realität durch die Tat, und alles Vernünfteln wider die Möglichkeit, es zu sein, ist vergeblich. Mit diesem Vermögen steht auch die transzendentale Freiheit nunmehro fest [...] (KpV, 3)

Mit dem Faktum beweist die Vernunft also ihr praktisches Vermö‐ gen, indem sie mit ihrem gesetzgebenden Charakter (vgl. KpV, 29)

179 »Nun kam es bloß darauf an, daß dieses Können in ein Sein verwandelt würde, d.i. daß man in einem wirklichen Falle, gleichsam durch ein Faktum, beweisen könne: daß gewisse Handlungen eine solche Kausalität (die intellek‐ tuelle, sinnlich unbedingte) voraussetzen, sie mögen nun wirklich, oder auch nur geboten, d.i. objektiv praktisch notwendig sein.« (KpV, 104).

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iii. Ergebnis des dritten Kapitels

den Willen zur Tat bestimmen kann, wodurch der Wille gleicherma‐ ßen seinen gesetzlichen Charakter erhält.

iii. Ergebnis des dritten Kapitels In diesem Kapitel wurden zunächst die unterschiedlichen Auffassun‐ gen von Hume und Kant über die Möglichkeit einer praktischen Vernunft behandelt. Dabei kann der wesentliche Unterschied zwi‐ schen den beiden Autoren darin gesehen werden, dass für Hume die Vernunft weder principium executionis noch principium diiudi‐ cationis ist und damit keinerlei Einfluss auf unser Handeln hat. Der Vernunft kommt nur ein instrumentelles Vermögen zu, nach der sie zwar die Mittel zur Erreichung des vom Willen gesetzten Hand‐ lungszwecks, aber nicht die Zwecke selbst mit entscheidet. Für Kant hingegen können wir genau die gegenteilige Position festmachen. Da Kant jedoch davon ausgeht, dass die Vernunft neben ihrem instru‐ mentellen Vermögen auch ein unbedingtes Vermögen zukommt, den Willen zu bestimmen, steht Kant unter der Beweislast, die Möglich‐ keit eines solchen »reinen Willens« zu beweisen. In der ›Grundlegung III‹ habe ich schließlich Argumente vorbrin‐ gen können, die für die Deduktion eines reinen Willens sprechen. Das wesentliche Argument lautet, dass sich der Mensch aufgrund der Vernunftideen als Glied der intelligiblen Welt betrachten kann und er daher praktisch wirklich frei ist. Als vernünftiges Wesen kommt dem Menschen daher ein reiner Wille zu. Da der Mensch außerdem ein sinnliches Wesen ist, wirkt der unbedingte Wille auf ihn in Form eines kategorischen Sollens nötigend. In der ›Grundle‐ gung‹ hat Kant die Strategie verfolgt, in praktischer Hinsicht die Freiheit voraussetzen zu können, mit der er dann nach der ersten Sektion auf das Sittengesetz schließen kann. In der ›Kritik der prak‐ tischen Vernunft‹ dreht er die Strategie um, indem hier nun von der praktischen Notwendigkeit als Faktum als der Bedingung für das moralische Gesetz auf die objektive Realität der Freiheit geschlossen werden kann. Über diese auch bereits von Ludwig vertretene These, dass in der ›Grundlegung‹ von der Freiheit aufs Gesetz und in der zweiten Kritik von dem Gesetz auf die Freiheit geschlossen wird, hinausgehend, konnte ich zweierlei aufzeigen: Zum einen, dass der Begriff eines reinen Willens durch den Begriff der Ursache gerecht‐

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III. Der reine Wille

fertigt ist. Erst durch die Annahme des Willens als Ursache können wir zumindest in praktischer Hinsicht eine intelligible Kausalität, die unabhängig von empirischen Bedingungen ist, annehmen. Dass die intelligible Kausalität zum anderen objektive Realität hat, ist durch das Faktum als die Bedingung für das moralische Gesetz gezeigt. Durch die Gegenüberstellung der ›Grundlegung III‹ und der zweiten Kritik ist es möglich gewesen, herauszustellen, welche Fort‐ schritte Kant bezüglich der Deduktion eines reinen Willens gemacht hat. Dabei hat sich auch hier wieder herausgestellt, dass Humes Einfluss bis in Kants praktische Philosophie reicht, die auf dem Be‐ griff der Ursache als Wille beruht und entsprechend eine intelligible Kausalität möglich ist.

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IV. Handlung und Moral

§ 9. Zurechnung von Handlungen In den vorherigen Kapiteln wurde sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht die Grundlage dafür gelegt, konkrete Pro‐ blemstellungen für die moralische Praxis zu adressieren, wie zum Beispiel das Zurechnungsproblem. Dabei sind drei wesentliche Er‐ gebnisse der vorangegangenen Kapitel hervorzuheben: Im ersten Kapitel konnte gezeigt werden, dass dem Begriff der Ursache immer ein Gesetz zugrunde liegt. Dass neben den Naturursachen wider‐ spruchsfrei auch eine Freiheit angenommen werden kann und daher Gründe als Erklärung von Handlungen infrage kommen, wurde im zweiten Kapitel gezeigt. Im dritten Kapitel konnte schließlich mit Verweis auf die ›Kritik der praktischen Vernunft‹ der Wille als Ursa‐ che begriffen werden, dem per definitionem ein Gesetz zugrunde liegt. Daraus ergibt sich nun die erste konkrete Problemstellung für die moralische Praxis: Da der Wille genauso unzugänglich ist wie eine Ursache in der Natur, von diesem aber der moralische Wert einer Handlung abhängt, ist unklar, wie wir den moralischen Wert bestimmen können. Diese Frage hängt eng mit dem epistemo‐ logischen Problem der Ursachenbestimmung zusammen. Deswegen findet man auch hier ähnliche Unterschiede zwischen Kant und Hume wie in der Epistemologie, die im ersten Teil dieses Kapitels behandelt werden sollen. Ebenso wie Kant stellt sich auch Hume die Frage, wovon der mo‐ ralische Wert unserer Handlung abhängt. In diesem Zusammenhang diskutiere ich in der ersten Hälfte des vierten Kapitels, inwiefern Hume die Erklärung von Handlungen analog zu Naturereignissen behandelt, aus der sich die moralische Praxis von Lob und Tadel ergibt. Um eine Handlung nach Hume zur Verantwortung ziehen zu können, muss wie bei den Naturereignissen der Handlung eine Notwendigkeit zugrunde liegen und gleichzeitig eine Freiheit vor‐ ausgesetzt werden, nach der die handelnde Person auch anders hät‐

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IV. Handlung und Moral

te handeln können. Eine zentrale Aufgabe dieses Kapitels besteht demnach darin, Humes Argumentation zu entschlüsseln, mit der er die Kompatibilität von Naturnotwendigkeit und Freiheit begründet. Daraus ergibt sich, dass nach Hume das Wollen und Handeln des Menschen in einem kausalen Zusammenhang zueinander stehen, sodass die Handlungsabsicht notwendigerweise durch den Charak‐ ter, die Persönlichkeit oder die Wünsche erklärt werden kann und nicht durch reine Willkür. In der Gegenüberstellung zu Hume findet sich bei Kant der mo‐ ralische Wert einer Handlung nicht in der moralischen Praxis des Lobens und Tadelns, sondern in dem Grund der Handlung. Nach Kant hat eine Handlung schließlich genau dann einen moralischen Wert, wenn sie »pflichtgemäß aus Pflicht« geschieht. Da wir kei‐ nen empirischen Zugang zu den wahren moralischen Gründen un‐ serer Handlung haben, können wir nicht mit absoluter Gewissheit verdienstliche Handlungen zurechnen, da immer auch die »Selbst‐ liebe« den Handlungsgrund ausmachen könnte. In diesem Kapitel diskutiere ich die These, dass eine Annäherung an den wahren mo‐ ralischen Handlungsgrund nur mit dem hier vorgestellten Modell einer kontrafaktischen Selbstreflexion möglich ist. Dabei ist jedoch noch nicht ausgeschlossen, dass wir uns über den wahren Wert der Handlung selbst täuschen können. Innerhalb der Moralphilosophie Kants kann diese Selbsttäuschung auch als der Ursprung allen Übels verstanden werden. In der zweiten Hälfte dieses Kapitels wird disku‐ tiert, inwiefern durch das Phänomen der Selbsttäuschung auch eine Antwort auf das Reinhold-Problem möglich ist und damit auch eine Antwort auf die Frage, wie böse Handlungen zugerechnet werden können. § 9.1 Zur moralischen Verantwortung bei Hume

Nach Hume beruht das Fundament unserer Gesellschaft auf Lohn und Strafe (»rewards and punishments« EHU, sec. 8, part 2.28). Ent‐ sprechend werden auch unsere Handlungen nach diesen Motiven bewertet: Moralisch gute Handlungen werden gelobt, während un‐ moralische Handlungen getadelt werden. Dieses Bewertungsmuster ist allgemein anerkannt und wird erfahrungsgemäß in der Praxis umgesetzt. Für Hume stellt sich hier also weniger die Frage, ob wir

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§ 9. Zurechnung von Handlungen

jemanden moralisch zur Verantwortung ziehen können, sondern was uns überhaupt dazu berechtigt, dies zu tun. Dazu muss es nach ihm möglich sein, der handelnden Person ihre Handlung auch zuzurechnen, indem wir ihr Freiheit zuschreiben. Denn würden nach dem »Prinzip des Determinismus« alle Ereignisse, das heißt, menschliche Handlungen eingeschlossen, einer Naturnotwendigkeit unterliegen, dann hätte sich die Frage nach der Zurechnung erüb‐ rigt. Die Herausforderung besteht nun darin, die Vereinbarkeit von Freiheit und dieser Notwendigkeit aufzeigen zu können, ohne dabei einen Widerspruch zu evozieren. Da Hume den Anspruch verfolgt, die menschliche Freiheit mit der Notwendigkeit zu vereinbaren, wird er auch als Kompatibilist bezeichnet.180 Er bezeichnet sein Projekt daher als »reconciling project with regard to the question of liberty and necessity« (EHU, sec. 8, part 1.23). In diesem Abschnitt soll dargelegt werden, wie Hume Zurechnung versteht, um dies anschließend mit dem Kantischen Ansatz zu ver‐ gleichen. Dazu soll hier das Verhältnis von Freiheit und Notwendig‐ keit vorwiegend in Bezug auf den achten Abschnitt »Of Liberty and Necessity« in der ›Enquiry‹ untersucht werden. Dabei vertritt Hume zwei Thesen, die als Diskussionsgrundlage der folgenden Auseinan‐ dersetzung dienen: Zum einen behauptet Hume, dass i) Freiheit von Notwendigkeit abhängt, und zum anderen, dass ii) Freiheit und Notwendigkeit notwendige Voraussetzungen für moralische Verant‐ wortung sind. Da Humes Freiheitsbegriff in seine epistemologische Theorie zum Begriff der Kausalität eingebunden ist, können sowohl Freiheit als auch Notwendigkeit widerspruchsfrei angenommen wer‐ den. Mit seinem Begriff der Kausalität wird Hume also zum einen argumentieren, dass sich dieser nicht nur auf Ereignisse, sondern 180 Der Standardlesart zufolge kann Humes Position als kompatibilistisch verstan‐ den werden: Vgl. zum Beispiel Davidson, D., Freedom to Act, S. 139; Kane, R., A Contemporary Introduction to Free Will, S. 12 und vgl. außerdem Strawson, G., Free Will, S. 294. Auf der anderen Seite gibt es aber auch die Lesart, die Hume als Deterministen interpretiert: Vgl. hierzu u.a. Kemp Smith, N., The Philosophy of David Hume, S. 407f.; Russell, P., Freedom and Moral Sentiment: Hume’s Way of Naturalising Responsibility, S. 57; Garrett, D., Cognition and Commitment in Hume’s Philosophy, S. 127f.. Vgl. kritisch gegen die Position, dass Hume Determinist sei Harris, J., Of Liberty and Necessity, S. 69 [Fn. 15]. Nach Harris ist der Determinismus mit Humes Skeptizismus und seinem Verständnis von Kausalität nicht zu vereinbaren. Vgl. für einen Überblick über die Debatte außerdem Millican, P., Hume’s Determinism, S. 611–642.

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IV. Handlung und Moral

auch auf unser Handeln anwenden lässt. Dass unserem Handeln eine kausale Notwendigkeit zugrunde liegt, ist zum anderen essen‐ ziell, um sie als frei begreifen und damit der handelnden Person zurechnen zu können. Im Folgenden soll dargelegt werden, wie Hume zunächst den Begriff der Notwendigkeit in der Natur begründet und, daran an‐ schließend, den damit zu vereinbarenden Begriff der Freiheit defi‐ niert. Mit Verweis auf den § 1.1. dieser Arbeit, der das Problem der kausalen Notwendigkeit nach Hume behandelt hat, sind die wichtigsten Einsichten diesbezüglich kurz festzuhalten: Nach Hume ist es sowohl empirisch als auch analytisch nicht möglich, auf die notwendige Verknüpfung von zwei Ereignissen zu schließen. Dass wir dennoch eine Vorstellung von kausaler Notwendigkeit haben, geht aus einer psychologischen Gewohnheit hervor, die sich aus einer regelmäßigen Abfolge von Ereignissen ableitet. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass ohne eine regelmäßige Abfolge der Ereig‐ nisse in der Natur keine notwendige Verknüpfung zwischen ihnen vorstellbar ist: »Our idea, therefore, of necessity and causation arises entirely from the uniformity, observable in the operations of nature« (EHU, sec. 8, part 1.5). Übertragen auf das menschliche Handeln, heißt das in der Konsequenz: Wenn menschliches Handeln nicht als etwas Zufälliges, sondern als etwas Notwendiges behauptet werden soll, dann muss es auf einer Regelmäßigkeit beruhen, aus der sich allererst eine Notwendigkeit ableiten lässt.181 In der Debatte um die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendig‐ keit verspricht Hume auf Grundlage seiner Definition von Freiheit, eine Wende einzuleiten (vgl., EHU sec. 8, part 1.1 – 3). Die Frage nach der Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit ist nach Hume deswegen lange umstritten gewesen, weil bisher keine über‐ zeugende Definition von Freiheit formuliert wurde, die die Kontro‐ verse zu einem schnellen Ende gebracht hätte (»[...] and that a few 181 Schließlich gibt es nach Hume auch nur eine Art von Ursachen und so auch von Notwendigkeit, die mit der gegebenen Definition übereinstimmen muss: »[...] that there is but one kind of necessity, as there is but one kind of cause, and that the common distinction betwixt moral and physical neces‐ sity is without any foundation in nature«, THN I; 3,14 [33]. Demnach muss entsprechend den beiden Definitionen von Ursache eine konstante Beziehung zwischen zwei Objekten bestehen, um in unserem Verstand eine Vorstellung von Notwendigkeit zu erzeugen.

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§ 9. Zurechnung von Handlungen

intelligible definitions would immediately have put an end to the whole controversy«, EHU sec. 8, part 1.2). Im ›Treatise‹ gilt es nach Hume daher, zwischen zwei Begriffen von Freiheit zu unterscheiden, von denen zumindest einer widerspruchsfrei mit der Notwendigkeit zu vereinbaren ist: Few are capable of distinguishing betwixt the liberty of spontaneity, as it is call’d in the schools, and the liberty of indifference; betwixt that which is oppos’d to violence, and that which means a negation of necessity and causes. The first is even the most common sense of the word; and as ‘tis only that species of liberty, which it concerns us to preserve, our thoughts have been principally turn’d towards it, and have almost universally confounded it with the other. (THN II; 3,2 [1]).

Die »Freiheit der Indifferenz« auf der einen Seite ist mit der Not‐ wendigkeit nicht zu vereinbaren (»and that which means a negation of necessity and causes«); vielmehr handelt es sich bei dieser Art der Freiheit um eine Willkür, wonach der Mensch, käme sie ihm zu, ohne einen bestimmten Grund handeln würde. Mit dieser Freiheit wäre es daher nicht möglich, die handelnde Person zur moralischen Verantwortung zu ziehen, da ihr kein beständiger Charakter zugrun‐ de liegt, aus dem das Motiv der Handlung nachvollzogen werden könnte. Die »Freiheit der Spontaneität«, die oft mit der Ersten ver‐ wechselt wird, bedeutet hingegen, dass ein Handeln ohne äußere Zwänge möglich ist (»that which is oppos’d to violence«). Unter der »Freiheit der Spontaneität« ist also eine Handlungsfreiheit zu verste‐ hen, nach der wir angesichts der äußeren Umstände tun können, was wir tun wollen: By liberty, then, we can only mean a power of acting or not acting, according to the determinations of the will; that is, if we choose to remain at rest, we may; if we choose to move, we also may. Now this hypothetical liberty is universally allowed to belong to every one, who is not a prisoner and in chains. Here then is no subject of dispute. (EHU, sec. 8, part 1.23).182

182 In der ›Enquiry‹ taucht die Unterscheidung zwischen diesen beiden Formen von Freiheit nicht mehr auf; stattdessen führt er den Begriff der »hypothetical liberty« ein, die mit der »Freiheit der Spontanität« identisch ist. Vgl. hierzu auch Botterill, G., Hume on Liberty and Necessity, S. 277–300, der die Unter‐ schiede zu dieser Problematik zwischen ›Treatise‹ und ›Enquiry‹ nachzeichnet.

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IV. Handlung und Moral

Diese Definition der Handlungsfreiheit enthält zwei wesentliche Punkte: Erstens beschreibt sie je nach der Determiniertheit unseres Willens die tatsächliche Ausführung oder Unterlassung einer Hand‐ lung. Unser Wille ist nach Hume von unseren Leidenschaften selbst kausal bestimmt, sodass unsere Handlung immer nach den Leiden‐ schaften ausgerichtet ist, die am stärksten auf den Willen wirken. Zweitens wird die Handlungsfreiheit in Anbetracht der äußeren Um‐ stände allgemein jedem zugestanden (»universally allowed to belong to every one«). Diese Handlungsfreiheit kommt einem Inhaftierten beispielsweise nicht zu, da er aufgrund der äußeren Umstände nicht frei nach seinen eigenen Bedürfnissen handeln kann. Dieser kann zwar wollen, das Gefängnis zu verlassen, aber aufgrund der ver‐ schlossenen Tore kann er nicht frei nach seinem Willen handeln. Zusammengenommen sind wir in unserem Handeln genau dann frei, wenn wir i) nicht durch äußere Umstände an unserem Handeln gehindert oder gegen unseren Willen zum Handeln gezwungen wer‐ den sowie ii) unser Handeln nicht zufällig, sondern beabsichtigt ist und notwendigerweise mit unseren Motiven zusammenhängt. Diese Freiheit kann ohne Widerspruch mit der Notwendigkeit zu‐ sammengebracht werden, weil sie die Begriffe Zufall und Zwang, die der Notwendigkeit widerstreiten, aus ihrer Definition ausschließt. Damit ist unser Handeln einerseits frei von äußeren Zwängen, so‐ dass wir auch anders hätten handeln können, und andererseits sind wir gleichzeitig durch unseren eigenen Willen zu unserem Handeln bestimmt. Von dieser Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit ausge‐ hend, ist zuerst die Voraussetzung gesetzt, Handlungen moralisch zurechnen zu können. Mit Humes Freiheitsthese geht nämlich ein‐ her, dass die Ursache unseres Handelns nicht willkürlich ist, sondern bei uns selbst liegt, was schließlich das Wesen der Notwendigkeit ausmacht (»now this is the very essence of necessity«, THN II; 3,2 [2]). Daraus erklärt sich auch, warum wir selbst bei den willkürlichs‐ ten Handlungen versuchen, auf die Motive der Person zu schließen, die sie ausgeführt hat. Dazu versucht man, sich sogar ein Bild von der Person, von ihrem Charakter und ihren Lebensumständen zu machen, um ihre Beweggründe besser verstehen zu können. Weil wir also eben nicht davon ausgehen, dass die Ursache der Handlung zufällig geschehen ist, sondern in der Persönlichkeit oder im Cha‐

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rakter begründet liegt, rechnen wir der Person die Handlung zu und können sie für gute Taten loben und für schlechte Taten kritisieren: Actions are, by their very nature, temporary and perishing; and where they proceed not from some cause in the character and disposition of the person who performed them, they can neither redound to his honour, if good; nor infamy, if evil. The actions themselves may be blameable; they may be contrary to all the rules of morality and reli‐ gion: But the person is not answerale for them; and as they proceeded from nothing in him, that is durable and constant, and leave nothing of that nature behind them, it is impossible he can, upon their account, become the object of punishment or vengeance. (EHU, sec. 8, part 2.29).

Um also jemanden für seine Taten zur Verantwortung ziehen zu können, müssen wir die Handlung der Persönlichkeit zurechnen, von der sie ausgeht. Hume argumentiert, dass eine Handlung zeit‐ lich und damit vergänglich ist, weshalb wir etwas Beständiges an‐ nehmen, auf das die Handlung zurückgeführt werden kann. Nach Hume kann es sich dabei nur um eine mit Denken und Bewusstsein begabte Persönlichkeit handeln, ohne die die Handlung sonst nicht stattgefunden hätte. Hume begründet dieses damit, dass nur ein solches Wesen beispielsweise ein Motiv der Rache seiner Handlung zugrunde legen kann. Wenn also die Ursache nicht im Charakter oder der Persönlichkeit der handelnden Person liegt, dann können wir ihr weder ihre guten noch bösen Handlungen zurechnen. Der Mensch wird auf diese Weise immer unabhängig von seinen Hand‐ lungen betrachtet werden können und bleibt ganz gleich, welche verbrecherischen Taten er begeht, »rein und unbefleckt« (EHU, sec. 8, part 2.29). Unter der Bedingung also, dass der Mensch Ursache seiner Hand‐ lungen ist, lassen unsere Handlungen Rückschlüsse auf unseren Charakter oder unsere Persönlichkeit zu, da diese nicht aus rei‐ ner Willkür, sondern aus einem den Willen bestimmenden Beweg‐ grund heraus geschehen sind. Diese Beweggründe stammen dabei nicht aus der Vernunft, sondern aus unseren Gefühlen, von denen nicht allein die Unterscheidung zwischen sittlichen und unsittlichen Handlungen ausgeht, sondern auch die Motivation, moralisch zu handeln. Für Hume steht deshalb fest, dass all unsere Moralität auf diesen Gefühlen beruht (»All morality depends upon our senti‐ ments;«, THN III; 2,5 [4]), weshalb auch unsere moralischen Über‐

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zeugungen auf die genannten »moralischen Gefühle« zurückzufüh‐ ren sind. Unsere Handlungen können genau dann als Gegenstände unserer »moralischen Gefühle« angesehen werden, wenn sie als äußerliche Indikatoren für unseren innerlichen Charakter, unsere Leidenschaften und Neigungen gelten: For as actions are objects of our moral sentiment, so far only as they are indications of the internal character, passions, and affections; it is impossible that they can give rise either to praise or blame, where they proceed not from these principles, but are derived altogether from external violence. (EHU, sec. 8, part 2.31).

Wenn sich also ein Mensch dazu gedrängt fühlt, einem in Not leidenden Menschen zu helfen, dann schließen wir auf einen ehren‐ werten Charakter, dem das Wohlergehen seiner Mitmenschen wich‐ tig ist. Es besteht allgemeiner Konsens darüber, dass menschliche Hand‐ lungen oft Ausdruck unserer Gefühlslage sind und daher auch in Be‐ zug auf die den Willen bestimmenden Beweggründe der handelnden Person erklärt werden können (vgl. EHU, sec. 8, part 2.27). Hume versucht, darüber hinaus zu zeigen, dass eine kausale Erklärung menschlicher Handlungen möglich ist und dass zwischen den Hand‐ lungen und Motiven eine regelmäßige Abfolge beobachtet werden kann: We must now show, that as the union betwixt motives and actions has the same constancy, as that in any natural operations, so its influence on the understanding is also the same, in determining us to infer the existence of one from that of another. (THN II; 3,1 [14]).

Die Ableitung einer notwendigen Verknüpfung zwischen Handlung und Motiv beruht dabei auf der Verbindung von gleichen Handlun‐ gen und gleichen Beweggründen, Neigungen und Umständen (vgl. EHU, sec. 8. part 2.27). Wie bei den Ereignissen in der Natur werden wir auch von unserem Verstand dazu genötigt, auf das notwendige Verhältnis einer bestimmten Handlung zu einem bestimmten Motiv zu schließen. Diese These von Hume, dass das menschliche Handeln in der‐ selben Weise wie Naturereignisse erforscht und vorhergesagt wer‐ den kann, ist in Anbetracht der charakterlichen Unterschiede des Menschen nicht ganz unproblematisch. Bereits durch Beobachtung können wir erkennen, dass andere Menschen unterschiedlich auf be‐

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stimmte Umstände reagieren. Hume ist dieser Einwand, dass kausale Notwendigkeit schwer mit dem menschlichen Verhalten zu verein‐ baren ist, nicht fremd: »Necessity is regular and certain. Human conduct is irregular and uncertain. The one, therefore, proceeds not from the other« (THN II; 3,1 [11]).183 Doch wie in der Natur gilt aber auch hier: Wenn unregelmäßige Handlungen beobachtet werden, dann stellt dies nicht die kausale Notwendigkeit infrage, sondern weist nur darauf hin, dass uns die Ursache bisher verborgen geblieben ist. Hume stellt daher in Aussicht, dass keine Verbindung beständiger ist als die zwischen bestimmten Handlungen und gewis‐ sen Motiven und Charakteren (vgl. THN II; 3,1 [14]). Der wesentliche Ertrag aus Humes Untersuchung besteht darin, dass seine Lehre von Freiheit und Notwendigkeit keinesfalls zur Moral im Widerspruch steht, sondern im Gegenteil ihr sogar voraus‐ gesetzt werden muss (vgl. EHU. sec. 8, part 2.26). Ebenso wie wir auch in der Natur eine notwendige Verknüpfung von Ereignissen voraussetzen müssen, um eine kohärente Erfahrung der Natur zu machen, müssen wir sie nun zum Zweck der Moral auch zwischen unseren Motiven und Handlungen voraussetzen. Andererseits wäre es nicht möglich zu erklären, wieso bestimmte Handlungen belohnt oder bestraft werden. Da der Sinn der Motive Lohn und Strafe (»re‐ wards and punishments«) nun darin besteht, positiv Einfluss auf das Handeln zu nehmen, setzt dieses einen notwendigen Zusammen‐ hang von Motiv und Handlung voraus, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. Nach Hume können wir es aber als ein »grundlegen‐ des Prinzip« voraussetzen, dass diese Motive einen gleichförmigen Einfluss auf unser Handeln ausüben und gewohnheitsmäßig mit ihr zusammenhängt, weshalb wir diese Verbindung für notwendig erachten:184 183 Im Appendix geht Hume erneut auf diesen Vorwurf ein und führt eine ein‐ drückliche Analogie auf, die aufzeigt, dass die Verhaltensweisen der Menschen sehr wohl einer Gleichförmigkeit zugrunde liegen: »Thirty grains of opium will kill any man that is not accustomed to it; tho’ thirty grains of rhubarb will not always purge him. In like manner the fear of death will always make a man go twenty paces out of his road; tho’ it will not always make him do a bad action«, Treatise, Abstract, S. 416 [32]. 184 Auch hier wird wieder durch Humes Theorie die rationale Theologie kritisiert: Während wir beim Menschen aufgrund von Erfahrung sagen können, dass die Vorstellung von Lohn und Strafe auf einem Gefühl beruht, da wir von

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All laws being founded on rewards and punishments, it is supposed as a fundamental principle, that these motives have a regular and uniform influence on the mind, and both produce the good and prevent the evil actions. We may give to this influence what name we please; but as it is usually conjoined with the action, it must be esteemed a cause, and be looked upon as an instance of the necessity, which we would here establish. (EHU, sec. 8, part 2.28).

Die Motive Lohn und Strafe haben insofern einen kausalen Einfluss auf unser Handeln, als dass sie sowohl gute Handlungen hervorrufen als auch die schlechten verhindern. Wenn wir beispielsweise von außen eine Handlung beobachten, die uns gut gefällt, halten wir entweder die Handlung oder die Person für tugendhaft. Wenn wir umgekehrt beobachten, dass die Person eine Handlung begangen hat, die uns missfällt, dann hat in beiden Fällen unsere Reaktion eine Wirkung auf die betreffende Person (vgl. THN III; 2,5 [4]). Die von außen stattfindende Bewertung einer Handlung führt nach Hume schließlich dazu, dass wir je nach Lob oder Tadel oder Lohn und Strafe die Handlung in Zukunft verstärken oder bestimmte Handlungsgewohnheiten ändern oder verhindern wollen. Nach Hu‐ me sind wir also in der Lage, unsere Handlungen im Lichte der Situation zu ändern, da die moralische Bewertung unserer Handlun‐ gen andernfalls zwecklos wäre. Das setzt allerdings voraus, dass wir uns auch als Ursache unserer Handlungen begreifen müssen und die Motive unseres Handelns nicht aus reiner Willkür entstehen, sondern notwendig aus unseren Neigungen, Wünschen usw. ent‐ sprungen sind. Die Zurechnung von Handlungen ist damit insofern essenziell, als dass wir nur unter dieser Voraussetzung Personen in ihrem Handeln bestärken oder kritisieren können. Um die Zurechnung von Handlungen zu ermöglichen, hat Hume zusammenfassend zeigen können, dass wir sowohl Freiheit als auch Notwendigkeit voraussetzen müssen. Nach Hume ist die Handlung eines Menschen genau dann frei und zurechenbar, wenn die Ursache Gefühlen fähig sind, Erfahrung machen zu können, ist uns dies bei einem höheren Wesen nicht möglich. Wir können daher nicht einsehen, auf welcher Grundlage (selbst, wenn es ein Gefühl ist) dieses Wesen Lohn und Strafe verteilt. Dieses ist aber offensichtlich auch nicht nötig, da wir aus uns selbst heraus entscheiden können, was sittlich gut oder schlecht ist und dazu kein höheres Wesen als Richter benötigen. Vgl. Russell, P., Hume on Responsibility and Punishment, S. 543–544.

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der Handlung notwendig in seinem Charakter oder seiner Persön‐ lichkeit begründet liegt. Sofern die handelnde Person nicht durch äußerliche Umstände zum Handeln gezwungen oder daran gehin‐ dert wurde, kann ihr auch die Tat zugerechnet werden. Dieses ist jedoch nur unter der Bedingung möglich, wenn zwischen unseren Motiven und Handlungen ein notwendiger Zusammenhang ange‐ nommen werden kann. Entsprechend seiner Epistemologie hat Hu‐ me argumentiert, dass wir die Notwendigkeit aus der regelmäßigen Abfolge und aus dem daraus resultierenden gewohnheitsmäßigen Zusammengehen dieser Ereignisse ableiten müssen. Hume erwartet also, unser Handeln wie physikalische Ereignisse in der Natur er‐ klären zu können. Dass unsere Motive einen kausalen Einfluss auf unsere Handlung haben, zeigt sich schließlich anhand der Motive von Lohn und Strafe. Mit Bezug auf die eingangs genannten The‐ sen ist nun festzuhalten, dass die Notwendigkeit als Voraussetzung der Freiheit angenommen werden muss, damit wir uns überhaupt als Ursache unserer eigenen Handlung begreifen können. In dieser Hinsicht sind auch Freiheit und Notwendigkeit miteinander zu ver‐ einbaren, wodurch wir unser Handeln zurechnen und moralisch zur Verantwortung ziehen können. § 9.2 Der moralische Wert einer Handlung bei Kant

Sowohl Hume als auch Kant gehen der Frage nach, unter welchen Bedingungen wir eine Handlung als moralisch wertvoll erachten können. Im Gegensatz zu Humes Position geht Kant jedoch davon aus, dass Handlungen gerade dann keinen sittlichen Wert haben, wenn sie allein auf den Motiven von Lohn und Strafe beruhen. Für Kant hängt die »Schätzung des ganzen Werts unserer Handlungen« (GMS, 397) demnach nicht von der Absicht oder den Folgen der Handlung ab, sondern davon, ob wir auch aus moralisch »guten« Gründen gehandelt und diese auch wirklich die Handlung bestimmt haben. Einer Handlung ist nach Kant nur dann ein moralischer Wert zuzuschreiben, wenn diese »aus Pflicht« geschehen ist. In diesem Abschnitt sollen Kants und Humes Verständnis mora‐ lischer Verantwortung zueinander ins Verhältnis gesetzt und analy‐ siert werden. Der erste Schritt dieser Analyse zeigt zunächst die konzeptionellen Unterschiede bei Hume und Kant auf. Um eine

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Handlung zur Verantwortung ziehen zu können, muss auch bei Kant Freiheit vorausgesetzt werden. Im Gegensatz zu Hume ist der Unterschied zu vermerken, dass Kant einen absoluten, Hume dagegen einen relativen oder bedingten Begriff von Freiheit vertritt. Kant bezeichnet diese bedingte Freiheit auch als »psychologische und comparative« Freiheit, die einem »Bratenwender« gleichgestellt, »einmal aufgezogen worden, von selbst seine Bewegungen verrich‐ tet« (KpV, 97). Mit dieser an Leibniz gerichteten Kritik wendet sich Kant gegen den bedingten Freiheitsbegriff, wodurch sich die Kritik somit auch gegen Hume richtet: Mit dem Bild des Bratenwenders verdeutlicht Kant, dass dieser durch etwas ihm Vorhergehendes (et‐ was, das ihn aufzieht) determiniert ist und damit nie absolut frei ist. Hume konnte zeigen, dass die Freiheit mit der Naturnotwendigkeit vereinbar ist, und zwar insofern, als dass die ausgeführte Handlung aus unseren »natürlichen« Wünschen, Einstellungen usw. resultiert und dem Urheber daher zugerechnet werden kann. Schließlich gilt auch für Hume, dass, um jemanden für sein Handeln moralisch zur Verantwortung ziehen zu können, die (bedingte) Freiheit des Urhe‐ bers der Handlung vorausgesetzt werden muss, der die Handlung auch gewollt hat und die damit nicht aus reinem Zufall geschehen ist.185 Neben der absoluten Freiheit des Urhebers der Handlung stellt sich ein zweiter wesentlicher Unterschied zu Hume heraus: Wäh‐ rend Hume die dem Handeln zugrundeliegende Notwendigkeit aus der gewohnheitsmäßigen Abfolge von Motiv und Handlung abzulei‐ ten versucht, liegt bei Kant der Handlung bereits ein Gesetz zugrun‐ 185 Mit Humes kompatibilistischer Theorie übereinstimmend, behaupten auch Schulz und Bieri, dass unter der Voraussetzung einer absoluten Freiheit un‐ seres Willens unser Handeln nur zufällig und daher nicht der Person, und demnach dem Urheber der Handlung, zuzurechnen ist. Mit einem bedingten Begriff der Freiheit ist der Wille auch immer »jemandes Wille« und damit die Frage nach der Urheberschaft der Handlung geklärt, Bieri, P., Das Handwerk der Freiheit, S. 239. Vgl. außerdem Schulz, J. H., Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre für alle Menschen, ohne Unterschied der Religionen, nebst einem Anhange von den Todesstrafen. Erster Teil., S. 163f.. Nach der kompatibilisti‐ schen Position müssen sich die Gründe des Handelns auch immer aus den Einstellungen, Überzeugungen usw. der handelnden Person ergeben. Dabei kommt es eben nicht darauf an, ob diese Gründe spontan und ursprünglich entstanden sind, was Kant eben am Bild des »Bratenwenders« kritisiert. Vgl. hierzu Bojanowski, J., Ist Kant ein Kompatibilist?, S. 61.

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de. Hier schlägt Kants Kritik an Hume durch, die er bereits an dessen Epistemologie ausgeübt hatte (vgl. § 2). Denn bereits dort vermerkte Kant, dass die notwendige Verknüpfung von Ursache und Wirkung nicht aus der gewohnheitsmäßigen Abfolge abzuleiten ist, da die Verknüpfung immer nur subjektiv notwendig ist. Stattdessen setzt Kant die Notwendigkeit der Ursache in der Natur a priori voraus, so wie auch die Verbindlichkeit moralischen Handelns im Begriff der freien Ursache als Erweiterung der natürlichen Ursache gegeben ist. Aufgrund des nomologischen Charakters der Kausali‐ tät liegt auch der freien Ursache in der Kausalität aus Freiheit ein Gesetz a priori zugrunde. Damit ist die moralische Zurechnung möglich, wenn eine absolute Freiheit vorausgesetzt werden kann, der ein Gesetz a priori vorausgeht. Während also bei Hume die äußerliche Handlung Gegenstand der moralischen Beurteilung von Lob und Tadel ist, gilt bei Kant das der Handlung zugrunde liegende Gesetz als Norm der moralischen Beurteilung. Bevor sich der Frage zugewandt wird, wie das Gesetz als Norm bei Kant gelten kann, soll im zweiten Schritt dieser Analy‐ se mit Kant diskutiert werden, inwiefern der moralische Wert unse‐ rer Handlungen nicht in den subjektiven Gründen von Belohnung und Bestrafung liegen kann. In den Vorlesungsnachschriften zur Moralphilosophie geht Kant bereits davon aus, dass diese zwar als Mittel der Ausübung und Unterlassung guter und böser Handlun‐ gen genutzt werden können, aber sie nicht den Grund moralischer Handlungen ausmachen können:186 Der BewegungsGrund soll moralisch seyn; der Grund eine gute Hand‐ lung zu thun soll nicht in der Belohnung gesetzt werden, sondern die Handlung soll belohnt werden weil sie gut ist, so soll auch nicht der Grund eine böse Handlung zu unterlassen in die Strafen gesetzt werden, sondern die Handlung soll unterlassen werden, weil sie böse ist. (Kaeh‐ ler S. 85, § 116ff.). 186 In den Vorlesungsnachschriften zur Moralphilosophie vertritt Kant zwar die auch später noch anzutreffende Position, dass der sittliche Wert einer Hand‐ lung nicht von der Absicht, sondern nur vom Grund abhängt. Es ist jedoch anzumerken, dass Kant in seiner Philosophie einen Entwicklungsprozess durchlief, was sich insbesondere darin zeigt, dass Kant in den Nachschriften beispielsweise noch keinen Begriff der »Achtung« hat. Insbesondere dieser Be‐ griff gibt Aufschluss darüber, warum man aus moralischen Gründen handeln soll, die in der Kaehler Moralvorlesung so noch nicht zu finden ist.

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Ob ich also eine gute Handlung ausführe oder eine böse Handlung unterlasse, kann nach Kant nicht davon abhängen, ob ich für diese belohnt oder bestraft werde. Eine böse Handlung muss unterlassen werden, nicht weil ich die Strafe fürchte, sondern weil die Handlung böse ist. Belohnung und Bestrafung können zwar als Konsequenzen für die Handlung angeführt werden, sie sollten aber nicht der Grund der Handlung sein: Die gute Handlung wird nicht getan, weil ich eine Belohnung erwarte, sondern die Handlung wird belohnt, weil sie gut ist. Als subjektive Beweggründe können Belohnung und Be‐ strafung als ein moralischer Kompass dienen, um »den Mangel der Moralitaet zu ersetzen« (Kaehler S. 86, § 116ff.). Wenn beispielsweise jemand für eine gute Handlung eine Belohnung erfahren hat, dann wird diese Person diese Handlung in Zukunft wiederholen wollen, um erneut belohnt zu werden. Eine Person, die hingegen böse ge‐ handelt hat, wird aufgrund dieser Handlung eine Strafe erfahren, durch die sie aber nicht notwendigerweise die böse Handlung unter‐ lassen wird, sondern andere Wege finden wird, wie sie die Strafe in Zukunft umgeht. Für Kant hängt der moralische Wert demnach vom Grund der Handlung ab: »Es kommt nicht darauf an, daß die Handlungen ge‐ schehen, sondern aus was für einer Quelle sie geschehen« (Kaehler S. 110, § 5/6). Neben den Handlungen also, die zum Zweck der Be‐ lohnung ausgeführt werden, können auch Handlungen unterschie‐ den werden, die »aus reiner Moralitaet« (Kaehler S. 80, § 116ff.) geschehen sind. Kant nennt die erste Art der Belohnung »antreiben‐ de« und die zweite »vergeltende Belohnung« (Kaehler S. 80, § 116ff.). Wenn beispielsweise jemand eine große Spende tätigt, dann können wir hier nicht notwendigerweise vom moralischen Wert einer Hand‐ lung ausgehen. Die Person könnte nämlich zu dieser großzügigen Spende angetrieben worden sein, weil sie für sich ein höheres Anse‐ hen in der Gesellschaft erwartet. Wenn die Spende allerdings aus guter Gesinnung geschehen ist, dann hat die Handlung einen mora‐ lischen Wert und kann belohnt werden: »Der moralisch Gesinnte ist darum einer unendlichen Belohnung und Glükseligkeit fähig, weil er immer bereit ist solche gut gesinnte Handlungen auszuüben« (Kaehler S. 81, § 116ff.). Im dritten Schritt dieser Analyse behauptet Kant gegen Hume, dass eine gute Handlung also genau dann verdienstlich oder lobens‐ wert ist, wenn sie aus den richtigen Gründen geschieht. Eine morali‐

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sche Handlung, sofern sie »pflichtmäßig aus Pflicht« geschieht, ist immer verdienstlich, da die handelnde Person nicht nur dem Gesetz gemäß handelt, sondern das Gesetz zum Prinzip ihrer Handlung macht. Eine Handlung, die bloß pflichtgemäß ist, enthält zwar Lega‐ lität, aber keine Moralität (vgl. KpV, 118): »Denn bei dem, was mora‐ lisch gut sein soll, ist es nicht genug, daß es dem sittlichen Gesetze gemäß sei, sondern es muß auch um desselben willen geschehen;« (GMS, 390). Ein Versprechen zu geben und sich daran zu halten, suggeriert zunächst eine gewisse Moralität in der Handlung. Hält sich aber die Person nur an ihr Versprechen, um sich selbst am Ende dafür zu loben, dass sie sich daran gehalten hat, dann ist der Hand‐ lung zwar Legalität zuzusprechen, da das Versprechen immer noch eingehalten wurde, doch keine Moralität, da nicht das moralische Gesetz der Grund der Einhaltung war als vielmehr der Eigennutz oder die Selbstliebe: »ich will aus Menschenliebe einräumen, daß noch die meisten unserer Handlungen pflichtmäßig sein; sieht man aber ihr Dichten und Trachten näher an, so stößt man allenthalben auf das liebe Selbst, was immer hervorsticht [...]« (GMS, 407). Den meisten Handlungen, die, von außen betrachtet, zwar dem Gesetz gemäß sind, kommt damit kein moralischer Wert zu, da der Grund ihrer Handlung entweder von unmittelbaren Neigungen oder von selbstsüchtiger Absicht abhängt. Nur dann, wenn die Handlung auch einer Notwendigkeit unterliegt, das heißt nur ausgeführt wurde, weil es das Gesetz gebietet, dann hat die Handlung einen moralischen Wert. Eine Handlung »aus Pflicht« auszuführen, bedeutet für Kant also, nicht »aus Neigung« zu handeln. Das ist die erste Bestimmung des Pflichtbegriffs, den Kant im ersten Abschnitt der ›Grundlegung‹ vornimmt, es folgen noch zwei weitere Sätze, die im Folgenden Gegenstand der Auseinandersetzung werden sollen (vgl. GMS 398– 401).187 Die Tatsache, dass unsere Handlungen nach dem ersten 187 Welcher der erste Satz der insgesamt drei Sätze der Pflicht sein soll, den Kant in der ›Grundlegung‹ nicht klar benennt, hat in der Literatur kontroverse Diskussionen ausgelöst. Einige halten den Text für zu ungenau, um eine klare Position abzugeben und verlässlich urteilen zu können, worin der erste Satz besteht, vgl. Horn, C., Mieth, Corinna, Scarano, Nico, Immanuel Kant. Grund‐ legung zur Metaphysik der Sitten. Kommentar, S. 187. Die Standardlesart dieses Satzes geht davon aus, dass eine Handlung genau dann einen moralischen Wert hat, wenn sie »aus Pflicht« geschieht, vgl. Wolff, R. P., The Autonomy of

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Satz nur dann einen moralischen Wert haben, wenn sie unabhängig von Neigungen geschehen, ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass Neigungen den Menschen als sinnliches Wesen auszeichnen. Nicht unbegründet ist prima facie, also die Kritik Schillers, der Kants Mo‐ ralphilosophie als unpraktisch und nicht anwendbar erachtet, weil er das sinnliche Wesen ganz außer Acht lässt.188 Falls also jemand aufgrund eines positiven Gefühls eine Handlung ausführt und diese Handlung zu einer positiven Wirkung führt, dann hat die Handlung für Kant tatsächlich keinen moralischen Wert. Das heißt aber nicht, dass ich in der Ausführung der Handlung aus Pflicht keinerlei Nei‐ gungen verspüren darf, um ihr einen moralischen Wert zuschreiben zu können. Die traditionellen Kant-Interpretationen gehen hingegen davon aus, dass eine Handlung keinen moralischen Wert hat, wenn es einen unterstützenden Handlungsgrund außerhalb der alleinigen Pflichterfüllung gibt.189 Daraus folgt, dass schon Handlungen, die z. B. durch Liebe oder Mitgefühl emotional geleitet sind, unmoralisch Reason, S. 65 und vgl. außerdem Paton, H. J., Groundwork of the Metaphysics of Morals. Annotated translation and analysis, S. 18–19. Auch Guyer schlägt die Richtung der Standardlesart ein, wenn er schreibt: »The first proposition, as we can glean from Kant’s examples, is that an action is an expression of a good will and has moral worth only insofar as it is actually done from duty as its motive, not merely insofar it is in outward conformity with the requirements of morality« Guyer, P., Kant’s Groundwork for the Metaphysics of Morals: A Read‐ er’s Guide, S. 40. Eine zweite Gruppe von Interpreten behauptet dagegen, dass dem ersten Satz der Pflicht zur Folge eine Handlung aus Pflicht eine Handlung aus Achtung fürs Gesetz ist, Schönecker, D. and Wood, A. W., Immanuel Kant »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, S. 60, vgl. außerdem Richter, P., Kants ›Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‹. Ein systematischer Kommentar, S. 49. In seiner Interpretation verfolgt Timmermann den Anspruch, den dritten Satz als eine Kombination aus dem ersten und zweiten Satz zu lesen, und ver‐ sucht, das Element der »Notwendigkeit« des dritten Satzes in den ersten Satz einzubinden. Nach ihm lautet der erste Satz daher: »An action that coincides with duty has moral worth if and only if its maxim produces it by necessity, even without or contrary to inclination« Timmermann, J., Kant’s Groundwork of the Metaphysics of Morals. A Commentary., S. 26. Mit Ludwigs Interpretation übereinstimmend, behaupte auch ich, dass einer Handlung genau dann ein moralischer Wert zukommt, wenn sie »aus Pflicht« und nicht »aus Neigung« getan wird, vgl. Ludwig, B., Aufklärung über die Sittlichkeit. Zu Kants Grundle‐ gung einer Metaphysik der Sitten, S. 43. 188 So schreibt Schiller: »Gewissenskrupel: Gerne dien ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung, so wurmt mir oft, dass ich nicht tugendhaft bin«, Schiller, F., Sämtliche Werke, Bd. I, S. 299.

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sein müssen. Zu der oben aufgeführten These legen andere Interpre‐ tationen Kants Moralphilosophie nicht derartig streng aus. Sie argu‐ mentieren, dass, solange das tatsächliche Motiv der Handlung nicht emotional bedingt ist, sondern der Pflichterfüllung dient, die Hand‐ lung einen moralischen Wert haben kann, auch wenn Gefühle sie leiten.190 Die Handlung des Krämers innerhalb der ›Grundlegung‹ ist nicht deshalb ohne moralischen Wert, weil er eine Beziehung zu seinen Kunden aufgebaut hat, die er gleichberechtigt behandeln will, sondern weil der Grund seines Handelns ausschließlich im Eigennutz liegt (vgl. GMS, 397). Denn die Handlung des Krämers ist dadurch motiviert, dass er seinem Geschäft nicht schaden möchte, was der Fall wäre, wenn er einen Kunden besser oder schlechter behandelt als den Rest. Das Motiv des Krämers ist damit sinnlich bedingt und falls er keinen Eigennutz mehr aus der pflichtgemäßen Handlung für sich beanspruchen kann, dann kann es sein, dass er in Zukunft nicht das Richtige tun wird. Dementsprechend sind Hand‐ lungen, die allein aus Neigung geschehen, unberechenbar und damit dem Zufall überlassen, ob sie einer Pflicht gemäß sind. Das heißt aber nicht, dass Neigungen nicht die Handlung begleiten dürfen, oh‐ ne ihnen den moralischen Wert abschreiben zu müssen, sie können dann nur nicht den eigentlichen Grund der Handlung ausmachen.191 Eine Handlung aus Pflicht hat nach Kant ihren »moralischen Wert nicht in der Absicht«, sondern im »Prinzip des Wollens« (GMS, 399) selbst. Dieses ist der zweite Satz über die Pflicht.192 Denn »aus dem vorigen [ist] klar« (GMS, 400), dass eine Hand‐ lung nur dann einen unbedingten moralischen Wert hat, wenn der Grund der Handlung nicht in den Neigungen liegt, sondern aus 189 Vgl. Weber, M., The Motive of Duty and the Nature of Emotions: Kantian Reflection on Moral Worth, S. 183f. 190 Diese Position vertritt beispielsweise Herman, B., On the Value of Acting from the Motive of Duty, S. 382 und außerdem Paton, H. J., The Categorical Impera‐ tive: A Study in Kant’s Moral Philosophy, S. 47f. 191 Vgl. Schadow, S., Achtung für das Gesetz, S. 149. 192 Dem Wortlaut nach lautet der zweite Satz: »Der zweite Satz ist: eine Handlung aus Pflicht hat ihren moralischen Wert nicht in der Absicht, welche dadurch erreicht werden soll, sondern in der Maxime, nach der sie beschlossen wird, hängt also nicht von der Wirklichkeit des Gegenstandes der Handlung ab, son‐ dern von dem Prinzip des Wollens, nach welchem die Handlung, unangesehen aller Gegenstände des Begehrungsvermögens, geschehen ist.« (GMS, 400).

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Pflicht geschieht. Damit kann der Wert der Handlung auch nicht von »der Wirklichkeit des Gegenstandes der Handlung« (GMS, 400) abhängen, da dieser Gegenstand als etwas außerhalb von uns Stehendes das Begehrungsvermögen subjektiv affiziert und wiede‐ rum nur von unseren Neigungen geleitet ist. Der moralische Wert der Handlung liegt im »Prinzip des Wollens« und das Prinzip wie‐ derum ist ein Gesetz, das unabhängig von empirischen Bestimmun‐ gen den Willen unbedingt bestimmt: »Da ich den Willen aller An‐ triebe beraubt habe, die ihm aus der Befolgung irgend eines Gesetzes entspringen könnten, so bleibt nichts als die allgemeine Gesetzmä‐ ßigkeit der Handlung überhaupt übrig [...]« (GMS, 402). Nach dem zweiten Satz wird also behauptet, dass der Handlung aus Pflicht ein Gesetz zugrunde liegt. Daraus geht hervor, dass auch unsere subjektiven Handlungsprinzipien als Maximen diesem Gesetz als objektives Prinzip entsprechen sollen, um ihnen einen moralischen Charakter zuschreiben zu können.193 Als Folgerung aus den ersten beiden Sätzen lautet nun der dritte Satz der Pflicht: »Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz« (GMS, 400). In welchem Zusammenhang steht nun dieser Satz mit den anderen beiden Sätzen? Insbesonde‐ re der Ausdruck »Achtung fürs Gesetz«, der hier zum ersten Mal genannt wird, ergibt sich nicht unmittelbar als Folgerung aus den ersten beiden Sätzen und verdient daher besondere Aufmerksamkeit. 193 Timmermann macht auf die begrifflichen Unstimmigkeiten des zweiten Satzes aufmerksam, die im Besonderen im Begriff des »Prinzips« deutlich werden. Zum einen gibt der Ausdruck »Prinzip des Wollens« zunächst nicht her, ob hierbei ein subjektives oder objektives Prinzip gemeint ist. Zum anderen unterscheidet Kant im selben Absatz weiterhin zwischen einem materiellen und formellen Prinzip des Wollens (vgl. GMS, 420), sodass einigen Autoren zufolge die Maxime als subjektives Prinzip auch eine formelle Eigenschaft zukommt. Mit Timmermann ist darauf hinzuweisen, dass eine Maxime dem objektiven Prinzip entsprechen soll, aber selbst Material ist und damit immer einen Zweck verfolgt. Vgl. Timmermann, J., Kant’s Groundwork of the Meta‐ physics of Morals. A Commentary., S. 39 [Anm. 55]. Timmermanns Argument bekräftigend, wird bereits dieses aus dem Satz zur Pflicht erkennbar. Denn hier können wir zumindest das wesentliche Merkmal der Maxime bestimmen, dass eine Handlung nach ihr »beschlossen« wird. Das heißt, eine Handlung erhält mit der Maxime ihren Zweck. Dahingegen wird nach dem »Prinzip des Wollens« die Handlung nicht beschlossen, sondern ist im Gegenteil von »allen Gegenständen des Begehrungsvermögens« unabhängig und damit ein »Prinzip a priori« (GMS, 400) ist.

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§ 9. Zurechnung von Handlungen

Zunächst ist die Aussage des ersten Teilsatzes zu betrachten, wonach die Pflicht die Notwendigkeit einer Handlung ist. Da eine Pflicht immer ein »Sollen« ausdrückt, ist die Handlung aus Pflicht immer mit einer Nötigung verbunden und kann entsprechend dem ersten Satz gleichzeitig nicht aus Neigung geschehen.194 Die moralische Notwendigkeit in unserem Handeln drückt sich uns in Form dieser Nötigung auf: »Für Menschen und alle erschaffene vernünftigen We‐ sen ist die moralische Notwendigkeit Nötigung, d.i. Verbindlichkeit […]« (KpV, 81). Um den zweiten Teilsatz zur Achtung zu interpretie‐ ren, ist es erforderlich, noch einmal in Erinnerung zu rufen, was Kant im zweiten Satz sagt. Die Handlung aus Pflicht unterliegt, dem zweiten Satz folgend, einem Gesetz, nach dem sie handelt. Und dieses Gesetz ist auf keine Absicht ausgerichtet, sondern liegt dem »Prinzip des Willens« selbst zugrunde. Das heißt, eine Handlung geschieht aus einem Gesetz heraus, das aber kein Naturgesetz ist, sondern ein Gesetz, für das wir eine »Achtung« haben. Der dritte Satz sagt also aus, dass wir das Richtige nicht »aus Neigung« tun, sondern deshalb, weil es das Richtige »aus Pflicht« ist, und etwas »aus Pflicht« tun, heißt etwas »aus Achtung« tun (vgl. KpV, 81):195 Nun soll eine Handlung aus Pflicht den Einfluß der Neigung, und mit ihr jeden Gegenstand des Willens ganz absondern, also bleibt nichts für den Willen übrig, was ihn bestimmen könne, als objektiv das Gesetz und subjektiv reine Achtung für dieses praktische Gesetz, mithin die Maxime, einem solchen Gesetz, selbst mit Abbruch aller meiner Nei‐ gungen, Folge zu leisten. (GMS, 400/401).

Wenn der Handlungsgrund »aus Pflicht« und damit unabhängig von Neigungen ist, dann ist der Wille »objektiv« durch ein Gesetz 194 Vgl. Ludwig, B., Aufklärung über die Sittlichkeit. Zu Kants Grundlegung einer Metaphysik der Sitten, S. 45. 195 Der Begriff der Achtung ist damit, wie Timmermann schreibt, »the moral op‐ ponent« der nicht-moralischen Neigungen, Timmermann, J., Kant’s Ground‐ work of the Metaphysics of Morals. A Commentary., S. 40. Auch Ludwig hält die Ausdrücke »aus Neigung« und »aus Achtung« für »komplementäre Prä‐ dikatausdrücke«, sodass eine Handlung, die nicht »aus Neigung« geschieht, dann »aus Achtung« passiert ist, Ludwig, B., Aufklärung über die Sittlichkeit. Zu Kants Grundlegung einer Metaphysik der Sitten, S. 44. Beide Ausdrücke geben somit gleichermaßen an, warum jemand gehandelt hat, entweder »aus Achtung« oder »aus Neigung«, vgl. Bittner, R., Achtung und ihre moralische Bedeutung, S. 342.

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IV. Handlung und Moral

bestimmt, für das er »subjektiv« aus »Achtung« handelt. Die Ach‐ tung für das Gesetz ist damit »unzertrennlich mit der Vorstellung des Gesetzes in jedem endlichen vernünftigen Wesen verbunden« (KpV, 80). In der ›Grundlegung‹ erläutert Kant in einer Fußnote (vgl. GMS, 401, Anm.), was er unter dem Begriff der »Achtung« versteht, der für das Verständnis seiner Moralphilosophie eine wesentliche Rolle einnimmt.196 Nach Kant gleicht die »Achtung« zwar einem Gefühl (vgl. GMS, 401, Anm.), aber im Unterschied zu Hume ist es kein sinnliches oder »durch Einfluss empfangenes« (ebd.) Gefühl, das als Motiv unserem Handeln zugrunde liegt. Im Gegenteil geht mit der Achtung das Bewusstsein einher, dass mein Wille einem Gesetz untergeordnet ist (vgl. ebd.). Der Fokus liegt dabei nicht, wie Bittner schreibt, auf der Achtung als ein Motiv der Handlung, sondern auf dem Gesetz, dass die handelnde Person »achtet« und deshalb ihr Handeln nach diesem Gesetz ausrichtet.197 Der »Gegenstand der Achtung ist also lediglich das Gesetz« (GMS, 401, Anm.), das sich wiederum die Vernunft selbst gibt, weshalb auch die »Achtung« ein vernunftgewirktes Gefühl ist. Die »Achtung für das Gesetz« ist gleichzeitig auch eine »Selbst‐ achtung«. Schließlich ist uns das Gesetz nicht von außen aufgezwun‐ gen worden, sondern wir sind es selbst, die sich das Gesetz aufer‐ legen. Die Achtung vor mir selbst ist eine Bedingung dafür, mich dem Sittengesetz zu unterwerfen, nach ihm zu handeln und kritisch über die Gründe meiner Handlung zu reflektieren. Und dass dies die einzige Möglichkeit ist, meine Gründe annähernd zu bestimmen, ist das Thema des nächsten Abschnitts.198 196 Vom Begriff der Achtung gehen in moralischer Hinsicht zwei wesentliche Funktionen aus: Zum einen die »Achtung für das Gesetz«, das heißt das »Bewußtsein der Unterordnung meines Willens unter einem Gesetz« (GMS, 401, Anm.) und zum anderen die Achtung sich selbst (Selbstschätzung) und anderen moralischen Wesen gegenüber, vgl. Schadow, S., Art. Achtung, S. 18. Ina Goy nennt Ersteres den »nomologischen Aspekt« und Letzeres den »per‐ sonalen Aspekt« der »Achtung, Goy, I., Immanuel Kant über das moralische Gefühl der Achtung, S. 338. 197 Vgl. Bittner, R., Achtung und ihre moralische Bedeutung, S. 342. 198 »Also demüthigt das moralische Gesetz unvermeidlich jeden Menschen, in‐ dem dieser mit demselben den sinnlichen Hang seiner Natur vergleicht. Dasjenige, dessen Vorstellung als Bestimmungsgrund unseres Willens uns in unserem Selbstbewußtsein demüthigt, erweckt, so fern als es positiv und Be‐

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§ 10. Reflexion und Täuschung über die eigenen Handlungsgründe

§ 10. Reflexion und Täuschung über die eigenen Handlungsgründe Um das Problem zu verstehen, das sich hinter der Möglichkeit ver‐ birgt, die Gründe unseres Handelns zu bestimmen, sei kurz auf das erste Kapitel zum Problem der Ursachenbestimmung verwiesen: Dort konnte mit Kant gezeigt werden, dass zur Bestimmung der Ursachen in der Natur i) die Ursache a priori gegeben sein und ii) Erfahrung dazu kommen muss, um eine konkrete Ursache eines Ereignisses auf der Grundlage regelmäßiger Abläufe zu bestimmen. Da aber der Begriff der Ursache, wie im dritten Kapitel diskutiert wurde, im noumenalen Bereich ein leerer Begriff ist, weil ihm keine empirische Anschauung zugrunde liegt, ist auch grundsätzlich nicht erkennbar, ob jemand aus reinen Handlungsgründen, das heißt aus reinem Willen heraus, gehandelt hat. Dies bedeutet auch, dass nicht erkennbar ist, ob eine Handlung bloß »pflichtgemäß« oder »pflicht‐ gemäß aus Pflicht« geschehen ist. Das ist aber wichtig, da die Frage nach der moralischen Zurechnung auf die Frage nach den Hand‐ lungsgründen abzielt, um diese nicht nur zu rechtfertigen, sondern um ihnen überhaupt Moralität zuschreiben zu können. Wenn wir unser Handeln moralisch nicht zurechnen können, hat das schließ‐ lich fatale Konsequenzen, stellt sich doch unmittelbar die Frage, warum wir uns dann überhaupt noch moralisch verhalten sollen. Aufgrund der kontrafaktischen Selbstreflexion soll eine Methode vorgestellt werden, durch die zumindest eine Annäherung an die wirklichen Handlungsgründe möglich ist. Es ist anzumerken, dass Kant diese Methode nicht explizit erwähnt, aber aus einschlägigen Textstellen geht hervor, dass er diese implizit voraussetzt. Ein zweites Problem, das sich aus der Möglichkeit der Selbst‐ reflexion ergibt, ist die Selbsttäuschung. Da die Annäherung der wahren Gründe unserer Handlung von unserer Selbstreflexion ab‐ hängt, können wir uns gleichzeitig aus Gründen der »Selbstliebe« täuschen. In dem zweiten Unterkapitel dieses Paragrafen soll disku‐ tiert werden, dass die Selbsttäuschung ein wesentlicher Faktor ist, durch den wir uns den wahren Wert unserer Handlung einbilden, um der eigentlichen Reflexion zu entgehen. Die Selbsttäuschung stimmungsgrund ist, für sich Achtung. Also ist das moralische Gesetz auch subjektiv ein Grund der Achtung« (KpV, 74).

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IV. Handlung und Moral

nimmt dabei außerdem ein besonderes Gewicht in Bezug auf böse Handlungen ein. Mit dem Phänomen der Selbsttäuschung wird es schließlich möglich sein, auf das von Reinhold angesprochene Prob‐ lem der unmöglichen Zurechnung von bösen Handlungen in der Kantischen Philosophie zu antworten. § 10.1 Kontrafaktische Selbstreflexion

Nachdem im vorhergehenden Kapitel herausgestellt wurde, dass der moralische Wert einer Handlung nach Kant nicht in der Ab‐ sicht, sondern im Handlungsprinzip begründet liegt, gilt es zu untersuchen, ob und inwiefern der wahre Grund unserer Handlung ermittelt werden kann. Da jede Handlung das Potenzial aufweist, ausschließlich durch Neigungen motiviert zu sein, kann es passie‐ ren, dass wir Handlungen für moralisch gut halten, obwohl nur das »liebe Selbst« die treibende Kraft für die Handlung war. Der empirische und der intelligible Charakter des Menschen sind somit nicht voneinander völlig losgelöst zu betrachten (vgl. KrV, A 551/B 579). Deshalb scheint es unmöglich, »durch Erfahrung einen einzi‐ gen Falle mit völliger Gewißheit auszumachen« (GMS, 407), bei dem die Handlung auf moralischen Gründen beruht. Nicht zuletzt dieser Einsicht ist es geschuldet, dass sich Philosophen überhaupt dazu veranlasst sahen, die moralische Gesinnung in menschlichen Handlungen insgesamt zu leugnen, wie Kant betont: Daher es zu aller Zeit Philosophen gegeben hat, welche die Wirklichkeit dieser Gesinnung in den menschlichen Handlungen schlechterdings abgeleugnet, und alles er mehr oder weniger verfeinerten Selbstliebe zugeschrieben haben, ohne doch deswegen die Richtigkeit des Begriffs von Sittlichkeit in Zweifel zu ziehen, vielmehr mit inniglichem Bedau‐ ern der Gebrechlichkeit und Unlauterkeit der menschlichen Natur Er‐ wähnung taten, die zwar edel genug sei, sich eine so achtungswürdige Idee zu ihrer Vorschrift zu machen, aber zugleich zu schwach, um sie zu befolgen [...]. (GMS, 406).

Es liegt in der scheinbar widersprüchlichen Natur des Menschen, einerseits das Vermögen zu besitzen, seine Handlungen nach sittli‐ chen Prinzipien auszurichten, und andererseits nicht die Stärke zu besitzen, diese zu »befolgen«. Der Zweifel dieser Philosophen reich‐ te dabei nicht so weit, den Begriff der Sittlichkeit selbst in Abrede zu

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§ 10. Reflexion und Täuschung über die eigenen Handlungsgründe

stellen, sondern nur die Schwäche der menschlichen Natur zu bekla‐ gen. Gegen diese Einwände räumt Kant ein, dass es zwar unmöglich ist, den wahren Wert der Handlung zu erkennen, allerdings nur deshalb, weil der moralische Wert nicht aus der äußerlichen Hand‐ lung zu erkennen ist, sondern in unseren, der Handlung zugrunde liegenden Prinzipien liegt (vgl. GMS, 407). In der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ schlägt Kant eine zwei‐ gliedrige »Methode« vor, die einen objektiven und subjektiven An‐ satz zur möglichen Ermittlung des moralischen Wertes einer Hand‐ lung aufweist: Die Methode nimmt also folgenden Gang. Zuerst ist es nur darum zu thun, die Beurtheilung nach moralischen Gesetzen zu einer natürlichen, alle unsere eigene sowohl als die Beobachtung fremder freier Handlun‐ gen begleitenden Beschäftigung und gleichsam zur Gewohnheit zu ma‐ chen und sie zu schärfen, indem man vorerst frägt, ob die Handlung objectiv dem moralischen Gesetze, und welchem, gemäß sei; [...] Der andere Punkt, worauf die Aufmerksamkeit gerichtet werden muß, ist die Frage: ob die Handlung auch (subjectiv) um des moralischen Gesetzes willen geschehen, und also sie nicht allein sittliche Richtigkeit als That, sondern auch sittlichen Werth als Gesinnung, ihrer Maxime nach, habe. (KpV, 159).

Im ersten Schritt können wir nach Kant aufgrund der einfachen Beobachtung fremder Handlungen zunächst beurteilen, ob diese ob‐ jektiv dem moralischen Gesetz gemäß ist. Im zweiten Schritt stellt sich die weitaus schwierigere Frage, ob diese Handlung, subjektiv betrachtet, um des »moralischen Gesetzes willen geschehen« ist. Erst dann ist der Handlung ein sittlicher Wert zuzuschreiben. Diese objektiven Kriterien reichen aber nicht aus, um den wahren morali‐ schen Wert der Handlung zu bestimmen. Denn bei jeder Handlung, die objektiv dem moralischen Gesetz gemäß ist, können immer noch Neigungen den eigentlichen Grund der Handlung ausmachen, deren Einfluss wir empirisch schwer ermitteln können. Bei einer wohltäti‐ gen Spende kann zum Beispiel die Angst vor sozialer Ächtung der eigentliche Grund der Handlung sein und nicht unbedingt die reine Wohltätigkeit.199 Das heißt, dass anhand der äußeren Handlung der 199 In der ›Metaphysik der Sitten‹ hält Kant fest, dass es heuristische Faktoren gibt, nach denen eine Handlung aus moralischer Sicht gelobt oder getadelt werden kann. Diese Faktoren geben also Hinweise darauf, ob eine Handlung

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moralische Wert nicht schlussendlich eingeschätzt werden kann, aber zumindest liefert sie einen ersten Anhaltspunkt. Deshalb hängt der zweite Schritt, um den moralischen Wert der Handlung bestim‐ men zu können, subjektiv von der Maxime der handelnden Person ab. Die Frage, »worauf die Aufmerksamkeit gerichtet werden muß«, lautet also, ob die Handlung nicht nur dem Gesetz gemäß, sondern auch »aus Pflicht«, das heißt »(subjectiv) um des moralischen Ge‐ setzes willen geschehen« (KpV, 159) ist. Ein subjektives Prinzip, nach dem der Mensch sein Handeln aus‐ richtet, bezeichnet Kant auch als »Maxime«.200 Ob die aus der Maxi‐ me hervorgegangene Handlung einen moralischen Wert hat, hängt von der Übereinstimmung der Maxime mit dem moralischen Gesetz ab, die mittels des kategorischen Imperativs ermittelt werden kann. Letztlich bezieht sich die Formel des kategorischen Imperativs nur auf die Maxime: »handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde« (GMS, 421). Durch die Formel des kategorischen Imperativs kann getestet werden, ob die Maxime verallgemeinerbar ist und dadurch widerspruchsfrei angenommen werden kann. In der ›Grundlegung‹ diskutiert Kant zur Veranschaulichung unterschiedliche Alternativen von Maximen und erläutert im Anschluss, warum sie nicht zur Ver‐ allgemeinerung taugen (vgl. GMS, 421–423). Eines dieser Beispiele betrifft die Selbsttötung: Kann ich es mir zur Maxime machen, mich aus Selbstliebe zu töten, um mich von meinen Schmerzen zu befrei‐ nicht nur gemäß, sondern auch aufgrund des Gesetzes erfolgt ist. Die erste Frage, die sich hierbei stellt, lautet, ob die Handlung gesetzeskonform war. Wenn dies nicht der Fall ist, kann natürlich ausgeschlossen werden, dass es sich hierbei um eine moralische Handlung handelt. Kant spricht hierbei von einer moralischen Verschuldung (demeritum). Die zweite Frage ist, wenn die Handlung gesetzeskonform war, geht sie dann über das Gesetz hinaus und ist verdienstlich (meritum) oder erfüllt sie lediglich die Norm und damit ihre Schuldigkeit (debitum) (vgl. AA 6:227). Eine Handlung ist also genau dann zu loben, wenn jemand über die vom Gesetz vorgegebenen Pflichten hinaus handelt, die weder vom Gesetz erzwungen werden noch jemandem geschul‐ det sind. Zu solchen verdienstlichen Pflichten zählt Kant die Liebespflichten, die als positive und weite Pflichten einem Wohlgefallen dienen, auf die aber niemand einen Anspruch hat (vgl. AA 6:448), wobei dies am Beispiel der wohltätigen Spende nicht immer eindeutig ist. 200 Vgl. für eine detaillierte Analyse des Maximenbegriffs vgl. Timmermann, J., Sittengesetz und Freiheit, S. 145–188 und vgl. außerdem Timmermann, J., Kant’s Puzzling Ethics of Maxims, S. 39–52.

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§ 10. Reflexion und Täuschung über die eigenen Handlungsgründe

en? Diese Maxime kann nicht bestehen, weil es in diesem Fall dem Gesetz der Natur widerspricht. Dieselbe Natur, die zur »Beförderung des Lebens [antreibt]«, kann nicht gleichzeitig wollen, »das Leben selbst zu zerstören« (GMS, 422). Handlungen, die eine solche Ma‐ xime zum Grund haben, kommt nach Kant also kein moralischer Wert zu. Besteht die Maxime hingegen den Test und kann widerspruchs‐ frei als allgemeines Gesetz gelten, dann stimmt sie mit dem kate‐ gorischen Imperativ überein und die aus ihr folgende Handlung hat einen moralischen Wert. Dadurch ist zwar gesichert, dass ein Handeln nach der Maxime sowohl »pflichtgemäß« als auch »aus Pflicht« ist, ob dies jedoch die wirkliche Maxime war, die der Grund einer Handlung ist, bleibt unklar.201 Ich kann beispielsweise vorge‐ ben, dass ich meinem Freund beim Umzug aus Liebespflicht gehol‐ fen habe. In Wahrheit helfe ich meinem Freund beim Umzug, weil er entweder mein Freund ist oder weil ich mir als Entschädigung erhoffe, dieselbe Unterstützung von meinen Freunden bei meinem Umzug zu bekommen. Da also der sittliche Wert einer Handlung von außen betrachtet niemals die wahre Gesinnung offenbart, kann 201 Bernecker behauptet, dass die Prüfung der Maxime durch den kategorischen Imperativ »nur ein Aspekt der moralischen Beurteilung [ist]«, Bernecker, S., Kant zur moralischen Selbsterkenntnis, S. 166. Nach ihm steht also noch nicht fest, dass die geprüfte Maxime auch einen moralischen Wert habe; es kom‐ me also darauf an, dass sich der Handelnde die Maxime aus Pflicht selbst zuschreibt, so Bernecker, vgl. ebenda, S. 166. Dagegen ist mit Timmermann und Höffe zu argumentieren, dass der kategorische Imperativ ein Prinzip der Sittlichkeit ist, der nicht nur die Legalität, sondern auch deren Moralität prüft. Der kategorische Imperativ prüft damit den sittlichen Wert einer Handlung und gebietet, »aus Pflicht« zu handeln, vgl. Timmermann, J., Sittengesetz und Freiheit, S. 176 und Höffe, O., Kants kategorischer Imperativ als Kriterium des Sittlichen, S. 98. Damit ist es auch nicht, wie Noller behauptet, möglich, dass eine Maxime durch Vernünfteln »nur den Schein von Moralität und Konfor‐ mität zum Sittengesetz suggeriert«, Noller, J., Vernünfteln. Kant über die Ratio‐ nalität des Bösen, S. 31. Eine Maxime, die durch den kategorischen Imperativ geprüft wird, besteht entweder diesen Test oder nicht. Wenn sie diesen Test nun nicht besteht, von der Vernunft aber dennoch für richtig erkannt wird, dann wäre die Vernunft unvernünftig. Sicherlich ist es möglich, sich über eine Maxime zu täuschen, jedoch nur in der Hinsicht, ob die geprüfte Maxime tatsächlich der Handlung zugrunde lag. Nur der erfolgreich geprüften Maxime kommt ein moralischer Wert zu und diese deckt sich nicht zwangsläufig mit der tatsächlichen.

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es sein, dass jemand entweder nur zufällig oder dem Anschein nach pflichtgemäß handelt und seine eigentliche Maxime dem Sittenge‐ setz widerspricht.202 Neben der Maximenprüfung durch den kategorischen Imperativ muss daher auch gleichzeitig eine »Selbstprüfung« oder »Selbstfor‐ schung« über den wahren Grund unserer Handlung erfolgen: Dahin gehört die Selbstprüfung und die Selbstforschung ob die Gesin‐ nungen auch moralische Reinigkeit haben. Die Quellen müssen unter‐ sucht werden, aus denen die Gesinnungen entspringen, ob aus Ehre, oder aus Wahn, oder aus Aberglauben, oder aus reiner Moralitaet. (Kaehler S. 183, §§150ff.).

Da jedoch eine vollständige Introspektion, wie Kant in der ›Grund‐ legung‹ betont, nicht möglich ist, besteht selbst bei der »schärfsten Selbstprüfung« der eigenen Gründe die Möglichkeit, sich selbst über den wahren Wert seiner Handlung zu täuschen:203 Denn ist bisweilen der Fall, daß wir bei der schärfsten Selbstprüfung gar nichts antreffen, was außer dem moralischen Grunde der Pflicht mächtig genug hätte sein können, uns zu dieser oder jener guten Hand‐ lung und so großer Aufopferung zu bewegen; es kann aber daraus gar nicht mit Sicherheit geschlossen werden, daß wirklich gar kein gehei‐ mer Antrieb der Selbstliebe unter der bloßen Vorspiegelung jener Idee die eigentliche bestimmende Ursache des Willens gewesen sei, dafür wir denn gerne uns mit einem fälschlichen angemaßten edleren Bewe‐ 202 Dies ist der Tatsache geschuldet, dass Maxime nicht erfahrbar sind. Das heißt, wenn ich jemanden dabei beobachte, wie er Menschen gleichberechtigt behan‐ delt, kann ich noch nicht darauf schließen, dass das seine wirkliche Maxime war. Vgl. dagegen Allison, H. E., Kant’s Theory of Freedom, S. 93. 203 Dies ist auch der Grund, weshalb es unmöglich ist, die wahre Maxime unserer Handlungen zu bestimmen. Diese Tatsache ist insbesondere darauf zurückzu‐ führen, dass wir keine intellektuelle Anschauung von uns selbst haben. Wenn Kant dagegen schreibt, dass wir uns »durch bloße Apperzeption« (KrV, A 546/B 547) selbst erkennen, dann meint er Klemme zufolge nur, dass wir uns als spontane und intelligible Wesen begreifen, die nicht nur Natur sind, vgl. Klemme, H., Spontaneität und Selbsterkenntnis. Kant über die ursprüngliche Einheit von Natur und Freiheit im Aktus des ›Ich denke‹ (1785-1787), S. 210. Vgl. außerdem die ›Religionsschrift‹: »[...] (ja selbst die innere Erfahrung des Menschen an ihm selbst läßt ihn die tiefen seines Herzens nicht so durch‐ schauen, daß er von dem Grunde seiner Maximen, zu denen er sich bekennt, und von ihrer Lauterkeit und Festigkeit durch Selbstbeobachtung ganz sichere Kenntniß erlangen könnte)« (AA 06:63).

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gungsgrunde schmeicheln, in der Tat aber selbst durch die angestren‐ geste Prüfung hinter die geheimen Triebfedern niemals völlig kommen können, weil, wenn vom moralischen Werte die Rede ist, es nicht auf die Handlungen ankommt, die man sieht, sondern auf jene inneren Prinzipien derselben, die man nicht sieht. (GMS, 407).

Kant macht hierbei auf den Umstand aufmerksam, dass derselbe Mensch, der aus Gründen der Selbstliebe und aus Eigennutz han‐ delt, seine Handlung aufgrund dieser »geheimen Antriebe« fälsch‐ lich bewerten kann. Er täuscht sich dahin gehend selbst, als dass er seinen Handlungsgründen einen vermeintlich moralischen Wert zuschreibt. Schließlich gesteht sich der Mensch ungern ein, dass er, wie beim oben genannten Beispiel, dem Freund nur aus Eigen‐ nutz seine Unterstützung beim Umzug angeboten hat. Kant zieht also den Schluss, dass wir nicht einmal bei der »angestrengtesten Prüfung« auf die »inneren Prinzipien« stoßen, die als Gründe den moralischen Wert unserer Handlungen bestimmen. Die Ermittlung des wahren Werts unserer Maxime erfordert da‐ her eine aufrichtige Selbstreflexion, wodurch diese zumindest annä‐ hernd bestimmt werden können. Die Aufrichtigkeit in der Ergrün‐ dung und Erforschung unserer Handlungsquelle ist daher auch ein »Gebot aller Pflichten gegen sich selbst«: Erkenne (erforsche, ergründe) dich selbst nicht nach deiner physischen Vollkommenheit (der Tauglichkeit oder Untauglichkeit zu allerlei dir beliebigen oder auch gebotenen Zwecke), sondern nach moralischen in Beziehung auf deiner Pflicht – dein Herz,- ob es gut oder böse sei, ob die Quelle deiner Handlungen lauter oder unlauter, und was entweder als ursprünglich zur Substanz des Menschen gehörend, oder als abgelei‐ tet (erworben oder zugezogen) ihm selbst zugerechnet werden kann und zum moralischen Zustande gehören mag. (AA 06:441).

Die moralische Selbsterforschung ist notwendig, weil wir nur auf diese Weise ergründen können, welchen wahren moralischen Wert unsere Handlungen haben. Denn es reicht nicht aus, physisch die »Tauglichkeit oder Untauglichkeit« einer Handlung zu bewerten. Den wahren Wert unserer Handlungen und ob unser Herz »böse oder gut sei«, bringen wir nur durch die Erforschung unserer mo‐ ralischen Einstellung zustande, die sich wiederum in unseren Pflich‐ ten und Prinzipien widerspiegeln. Um dem Gebot der moralischen Selbsterkenntnis folgen zu können, ist die »Unparteilichkeit in Beur‐ theilung unserer selbst« (AA 06:441) daher eine Pflicht gegen sich

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selbst, durch die wir allein unseren »inneren moralischen Werth oder Unwerth« bestimmen können. Der erste Schritt in Richtung moralischer Selbsterkenntnis ist dabei nicht der Versuch, sich selbst vergewissern zu wollen, dass der Grund der Handlung vollständig aus Pflicht geschehen ist und kein anderes Motiv zum Handeln bewegt hat, sondern vielmehr zu prüfen, was der Handlung aus Pflicht entgegenstehen könnte: Aber so viel er bei der sorgfältigsten Selbstprüfung in sich selbst wahrnehmen kann, nicht allein keiner solchen mitwirkenden Motive, sondern vielmehr Selbstverläugnung in Ansehung vieler der Idee der Pflicht entgegenstehenden, mithin der Maxime zu jener Reinigkeit hin‐ zustreben zu bewußt zu werden: das vermag er; und das ist auch für seine Pflichtbeobachtung genug. Hingegen die Begünstigung des Einflusses solcher Motive sich zur Maxime zu machen, unter dem Vor‐ wande, daß die menschliche Natur eine solche Reinigkeit nicht verstatte (welches er doch auch nicht mit Gewißheit behaupten kann): ist der Tod der Moralität. (TP, AA 08:285).

Als Sinnenwesen ist nicht abzustreiten, dass das menschliche Wesen Neigungen und Wünsche usw. hat, die sehr wohl Einfluss auf das Handeln nehmen können. Davon also ausgehen zu wollen, dass unsere Handlung unabhängig dieser Motive geschehen ist, läuft auf eine Selbsttäuschung hinaus. Da man also aufgrund dieser fremden Einflüsse nie mit Gewissheit den Grund der Handlung erfahren kann, könnte man auch grundsätzlich die »Reinigkeit« der mensch‐ lichen Natur negieren. Dies wäre nach Kant aber »der Tod der Moralität«. Um diesem zu entgehen, muss also vielmehr zur »Rei‐ nigkeit« der Maxime hingestrebt werden. Mithilfe einer kontrafaktischen Herangehensweise kann ich die »Reinigkeit« meiner Maxime selbst überprüfen, indem ich alle dazu‐ gehörigen äußerlichen Einflüsse von der Maxime isoliere. So wie wir schließlich auch in einem Experiment versuchen, alle äußerlichen Einflüsse abzuschotten, um eine bestimmte Naturursache isoliert zu betrachten, soll nun auch in Bezug auf die Ermittlung unserer Ma‐ xime vorgegangen werden. Bei der kontrafaktischen Selbstreflexion soll sich der Handelnde fragen, ob er eine bestimmte Handlung auch unter anderen Umständen ausführen würde. Kant illustriert dies am Beispiel des Menschenfreundes in der ›Grundlegung‹:204 204 Vgl. Bernecker, S., Kant zur moralischen Selbsterkenntnis, S. 172.

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Gesetzt also, das Gemüt jenes Menschenfreundes wäre vom eigenen Gram umwölkt, der alle Teilnehmung an anderer Schicksale auslöscht, er hätte immer noch Vermögen, andern Notleidenden wohlzutun, aber fremde Not rührte ihn nicht, weil er mit seiner eigenen genug beschäf‐ tigt ist, und nun, da keine Neigung ihn mehr dazu anreizt, risse er sich doch aus dieser tödlichen Unempfindlichkeit heraus und täte die Hand‐ lung ohne alle Neigung, lediglich aus Pflicht, alsdann hat sie allererst ihren echten moralischen Wert. (GMS, 398).

Beobachten wir einen Menschenfreund dabei, wie er Notleidende unterstützt und sich um seine Mitmenschen kümmert, können wir nicht mit absoluter Gewissheit sagen, wie viel Selbstliebe den Grund der Handlung ausmacht. Wenn wir aber den gleichen Menschen da‐ bei beobachten, wie er nun, »vom eigenen Gram umwölkt« und mit seinem eigenen Problem beschäftigt, dennoch weiterhin Menschen in Not unterstützt, dann können wir ausschließen, dass er dies »oh‐ ne alle Neigung«, die ihn dazu hätte reizen können, getan hat. Die Handlung dieser Person ist damit ein moralischer Wert zuzuschrei‐ ben. Mit diesem Beispiel will Kant natürlich nicht behaupten, dass wir uns alle zum Misanthropen entwickeln müssen, um den morali‐ schen Wert unserer Handlung zu bestätigen. Worauf aber Kant mit diesem Beispiel aufmerksam machen will, ist, dass der Wert der Handlung einfacher zu ermitteln ist, wenn Neigungen keine Rolle spielen.205 Mit einer kontrafaktischen Reflexion ist es zumindest rückblickend möglich, all die Neigungen, die einen möglichen Ein‐ fluss auf die Handlungen ausüben könnten, wegzudenken und zu überprüfen, ob die Handlung auch dann stattgefunden hätte, wenn aus ihr nicht die Befriedigung bestimmter Neigungen folgen würde. Wenn ich mir selbst also nicht sicher bin, aus welchen Gründen ich gehandelt habe, dann kann ich erfragen, ob ich auch dann noch so gehandelt hätte, wenn die Handlung keinen Vorteil oder Nachteil für mich bedeuten würde. Damit es am Beispiel der Um‐ zugshilfe nicht auf eine Selbsttäuschung hinausläuft, muss ich mich also fragen, ob ich auch unabhängig anderer Motive meine Unter‐ stützung anbieten würde. In diesem Fall, also wenn es sich i) nicht um einen guten Freund handeln würde und ii) ich nicht dieselbe Unterstützung bei meinem eigenen Umzug erwarten könnte. Mittels 205 Auf diese Art und Weise lässt sich auch die oben erwähnte, in der ›Metaphysik der Sitten‹ vorkommende Heuristik erklären, dass Handlungen, die entgegen von Naturhindernissen stattfinden, am ehesten einen moralischen Wert haben.

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IV. Handlung und Moral

der Methode werden alle möglichen Neigungen von der Maxime unabhängig betrachtet und analysiert und kann dadurch erkannt werden, ob die Maxime unabhängig von Neigungen und damit rein ist. Die kontrafaktische Reflexion bietet damit sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht ein Modell an, die Ursachen oder Gründe unseres Handelns zu ermitteln. Dazu muss aber die Bereit‐ schaft des Handelnden vorausgesetzt werden, sich selbst zu reflektie‐ ren und zu fragen, ob ich wirklich aus Pflicht gehandelt oder weil ich mir doch Vorteile aus der Handlung für mich selbst erhofft habe. Die grundlegende Frage, warum ich mich als handelnde Per‐ son einer solchen Kritik unterziehen sollte, ist in derselben Weise zu beantworten wie etwa die Frage danach, wieso ich mich dem Sittengesetz unterwerfen soll: und zwar aus Achtung vor meiner eigenen Person. Sich dem Sittengesetz zu unterwerfen, heißt, einen autonomen Willen zu besitzen, und die kritische Reflexion prüft die Echtheit dieser Autonomie in meiner Handlung. § 10.2 Möglichkeit der Selbsttäuschung

Da wir in der Reflexion unserer Handlungsgründe auf unser eigenes Urteil angewiesen sind, ermöglicht dies, dass wir uns auch einreden können, aus Gründen gehandelt zu haben, die nicht die tatsächli‐ chen Gründe sind. Dies passiert deswegen, da der moralische Wert einer Handlung eben von diesen Gründen abhängt. So können wir etwa unsere Handlungen damit augenscheinlich aufwerten, dass wir sie (im Nachhinein) mit den richtigen Gründen ausstatten, auch wenn diese nicht die tatsächlichen Gründe der Handlung waren. Dieses beschreibt das Phänomen der Selbsttäuschung. Im folgenden Abschnitt soll das Phänomen der Selbsttäuschung im Kontext moralischer Handlungen erklärt werden. Dabei lassen sich innerhalb der Moralphilosophie Kants zwei Momente der mo‐ ralischen Selbsttäuschung ausmachen: Zum einen kann man sich über die strenge Gültigkeit des moralischen Gesetzes täuschen. Zum anderen kann man zwar die strenge Gültigkeit anerkennen, aber sich über die Handlungsmaxime, von der der moralische Wert einer Handlung ausgeht, täuschen. Die erste genannte Form der Selbst‐ täuschung geht nach Kant mit einer »moralischen Arroganz« und

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§ 10. Reflexion und Täuschung über die eigenen Handlungsgründe

»Philautie« (einer moralischen Eigenliebe) einher und die zweite Form mit einer »inneren Lüge« (AA 6:430). Obwohl das Thema der Selbsttäuschung in der Literatur von zu‐ nehmendem Interesse ist, weist Noller darauf hin, dass das Phäno‐ men der Selbsttäuschung weniger mit dem Problem unmoralischer Handlungen als vielmehr mit moralischer Überforderung zu tun hat.206 Der Fokus dieser Untersuchung soll auf der Frage liegen, inwiefern die Selbsttäuschung nicht nur die Bedingung der Möglich‐ keit von bösen Handlungen ist, sondern, damit zusammenhängend, auch als Antwort auf die Zurechnung unmoralischer Handlungen betrachtet werden kann.207 Dazu soll zunächst allgemein dargelegt werden, was man aus der Perspektive Kants unter dem Begriff der Selbsttäuschung verstehen kann. Im zweiten Teil wird die Selbsttäu‐ schung als Erklärung für die Möglichkeit böser Handlungen ange‐ führt. Damit ist gezeigt, dass auch böse Handlungen zugerechnet werden können, auch wenn Freiheit nur dann besteht, wenn der Handelnde unter dem moralischen Gesetz steht. Auf diese Art und Weise lässt sich das von Reinhold aufgeworfene Problem der Zu‐ rechnung von bösen Handlungen beantworten. Das erste Moment der moralischen Selbsttäuschung ist die Un‐ willigkeit, seine Handlungsweisen nach den Forderungen des Ge‐ setzes zu reflektieren und zu verbessern. Dabei ist man entweder grundsätzlich mit seinen moralischen Handlungen zufrieden (»Phil‐ autie«), auch wenn diese nicht perfekt sind, oder man bildet sich ein, dass man bereits die moralische Perfektion erreicht hat (»mora‐ lische Arroganz«). Diese Arten der (Fehl-)Einschätzung oder Selbst‐ überschätzung beschreibt Kant in seiner Vorlesungsnachschrift zur Moralphilosophie wie folgt:

206 Vgl. Noller, J., Vernünfteln. Kant über die Rationalität des Bösen, S. 31. Auch Papish macht bereits in ihrer umfangreichen Analyse auf den Umstand auf‐ merksam, dass das Phänomen der Selbsttäuschung in der Literatur bisher weniger im Verhältnis zum Bösen betrachtet wird, Papish, L., Kant on Evil, Self-Deception, and Moral Reform, S. 4. 207 Die These, dass die Selbsttäuschung die Bedingung des Bösen ist, vertritt auch Papish. Mit ihr soll auch hier die Meinung vertreten werden, dass die Selbsttäuschung keine notwendige, sondern nur eine hinreichende Bedingung des Bösen ist. Ihr zufolge können auch »unsocial sociability« (ebenda, S. 90) als Ursache des Bösen begriffen werden.

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IV. Handlung und Moral

Die Philautie oder moralische Eigenliebe ist der Arroganz oder dem moralischen Eigendünkel entgegengesetzt. Der Unterschied der Philau‐ tie von der Arroganz ist, daß die Philautie nur eine Neigung ist mit seinen Vollkommenheiten zufrieden zu seyn, die Arroganz aber eine unbillige Anmaassung aufs Verdienst macht, sie eignet sich mehr mora‐ lische Vollkommenheiten zu, als ihr zukommen, die Philautie macht keine Forderung, nur sie ist mit sich zufrieden und macht sich keine Vorwürfe; die Arroganz ist stoltz auf ihre moralische Vollkommenheit; die Philautie ist nicht stoltz, sondern glaubt unsträflich und so unschul‐ dig zu seyn, die Arrogantz ist also ein schädlicherer Fehler; (Kaehler S. 199, §194/171).

Dem Begriff der moralischen Arroganz stellt Kant die moralische Eigenliebe (»Philautie«) gegenüber: Während die moralische Eigen‐ liebe lediglich eine allgemeine Zufriedenheit mit seinen Handlungen beschreibt, zeichnet sich die moralische Arroganz durch eine mora‐ lische Überhöhung aus. Im Gegensatz zur moralischen Arroganz stellt die Philautie weder Forderungen noch macht sie Vorwürfe und ist sich jedoch ihrer moralischen Unzulänglichkeiten bewusst. Die Arroganz hingegen gibt aufgrund ihres Stolzes vor, ein unange‐ messenes Maß an moralischem Verdienst erreicht zu haben und ist daher im Vergleich »ein schädlicherer Fehler«. Denn die Konse‐ quenz aus der selbst zugeschriebenen moralischen Vollkommenheit ist, dass man es selbst nicht für nötig hält, über seine Handlungen zu reflektieren. Der Ursprung sowohl für die moralische Eigenliebe als auch für die Arroganz ist, so Kant fortführend, die fehlende Prüfung seiner Handlungen durch das moralische Gesetz: [...] die Philautie prüft sich nicht selbst mit dem moralischen Gesetz als mit der Richtschnur sondern mit Beyspielen und dann hat man wohl Ursach mit sich zufrieden zu seyn; die Beyspiele moralischer Men‐ schen sind Maasstäbe aus der Erfahrung, aber das moralische Gesetz ist ein Maasstab aus der Vernunfft; vergleicht man sich nun mit dem ersten Maasstabe, so entspringt daraus die Philautie oder auch wohl die Arroganz. Die Arrogantz entspringt entweder wenn man das moralische Gesetz sich enge und nachsichtlich denkt, oder wenn der moralische Richter in uns partheyisch ist. Ie weniger man das moralische Gesetz strenge macht und je weniger uns der innerliche Richter strenge beur‐ theilt; desto arroganter kann man seyn. (Kaehler S. 199, §194/171).

Die moralische Zufriedenheit, die entweder in der Eigenliebe oder in der Arroganz enthalten ist, ergibt sich aus dem empirischen

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§ 10. Reflexion und Täuschung über die eigenen Handlungsgründe

Maßstab ihres moralischen Werts, der sich aus dem Vergleich mit anderen Menschen ergibt. Da dieses immer subjektiv und empirisch ist, und nicht wie das moralische Gesetz als Maßstab der Vernunft allgemeingültig, kann es vorkommen, dass auch böse Handlungen für moralisch richtig gehalten werden, wenn das Richtmaß nur ein (angeblich) moralisches Vorbild ist. Neben der moralischen Arroganz und Eigenliebe, die das Handeln weniger nach dem Gesetz und vielmehr nach empirischen Gegeben‐ heiten bewerten, gibt es nun diejenigen, die vorgeblich nach dem moralischen Gesetz handeln, was weitaus problematischer ist: Alle bezeugte Ehrerbietung gegen das moralische Gesetz, ohne ihm doch, als für sich hinreichender Triebfeder, in seiner Maxime das Übergewicht über alle andere Bestimmungsgründe der Willkür einzu‐ räumen, ist geheuchelt und der Hang dazu innere Falschheit, d. i. ein Hang, sich in der Deutung des moralischen Gesetzes zum Nachtheil desselben selbst zu belügen (III, 5); weswegen auch die Bibel (christli‐ chen Antheils) den Urheber des Bösen (der in uns selbst liegt) den Lügner von Anfang nennt und so den Menschen in Ansehung dessen, was der Hauptgrund des Bösen in ihm zu sein scheint, charakterisirt. (AA 6:42).

Kant wirft denen Heuchelei und einen »Hang« zur »inneren Falsch‐ heit« vor, die dem moralischen Gesetz »Ehrerbietung« bezeugen, es aber nicht als die »hinreichende Triebfeder« bestimmen. In dem Moment, in dem wir uns selbst belügen, dass unsere Maxime einen moralischen Wert hat, obwohl wir aus Neigung gehandelt haben, ist nach Kant der »Urheber des Bösen« im Lügner zu setzen. Mit demselben Verweis auf das Christentum heißt es auch in der ›Me‐ taphysik der Sitten‹, dass nicht der »Brudermord (Kains)« als das erste Verbrechen gilt, sondern die Lüge (vgl. 6:431).208 Da nun angerissen wurde, welche Bedeutung der »inneren Lüge« für die Moralität zukommt, soll kurz erläutert werden, was genau damit gemeint ist. Auch wenn Kant nur an wenigen Stellen expli‐ 208 Eine Möglichkeit, worauf sich Kant hier beziehen könnte, ist die Lüge der Schlange gegenüber Eva vor dem Sündenfall. Die Schlange behauptet nämlich, dass, wenn Eva von der von Gott verbotenen Frucht isst, Gott sie nicht bestra‐ fen werde. So entsteht eine Täuschung (zwar keine Selbsttäuschung) darüber, ob eine Handlung der Norm (hier Gott) angemessen ist. Als Konsequenz daraus folgt eine schlechte Handlung, nämlich der ursprüngliche Sündenfall des Menschen, vgl. Genesis 3,5.

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zit über die Selbsttäuschung als Phänomen schreibt, kann jedoch die »innere Lüge« als solche verstanden werden. Nach Kant kann die Lüge sowohl aus einer rechtlichen und ethischen Perspektive betrachtet werden, die er auch als die »äußere« und »innere Lüge« bezeichnet (vgl. AA 6:430). Bei der »inneren Lüge« kommt es im Gegensatz zur »äußeren Lüge« nicht auf den durch sie verursachten Schaden an, sondern auf die Unaufrichtigkeit sich selbst gegenüber und damit auf die Selbsttäuschung. Der Gegenstand der Verachtung ist, anders als bei der äußeren Lüge, nicht die belogene Person, sondern man selbst, wodurch die »Würde der Menschheit in der ei‐ genen Person« (06:430) verletzt wird. Mit der »inneren Lüge« wird die kritische Selbstreflexion ausgehebelt, indem man sich selbst den moralischen Wert einer Handlung erheuchelt und sich aus Furcht vor Strafe zum Beispiel den an sich guten Zweck seiner Handlung einbildet. Ein Serienmörder kann es sich zum Beispiel zum guten Zweck seiner Handlung anrechnen, nur andere Mörder zu ermorden oder ermordet zu haben. Die »innere Lüge« oder Selbsttäuschung ist durch eine »Schwachheit« (AA 6:430) gekennzeichnet, die nicht nur einen Ausweg aus unangenehmen Situationen mit anderen, son‐ dern auch aus der Reflexion mit sich und den eigenen Prinzipien ermöglicht. So wie der Liebhaber sich nicht nur die Fehler seiner Geliebten nicht eingestehen will, versucht er auch, seine eigenen Fehler zu ignorieren (vgl. AA 6:430). Die Selbsttäuschung kommt genau dann zum Tragen, wenn man keine Bereitschaft hat, seine oder auch die Fehler der anderen zu suchen. Nicht zuletzt deshalb ist die Selbsttäuschung, oder im Speziellen die »innere Lüge«, der »Urheber des Bösen«, da mit ihr der wahre Wert einer Handlung verborgen bleibt. Wie aber ist es möglich, sich selbst zu täuschen oder zu belügen? Ist man nicht zu einer Lüge nur dann fähig, wenn man sich der Wahrheit bewusst ist? Und wenn ja, wie kann man sich der Wahrheit bewusst sein, aber gleichzeitig darüber getäuscht werden? Diese Fra‐ gen scheinen zunächst einen Widerspruch aufzudecken. Wenn eine Lüge als eine »vorsätzliche Unwahrheit« gegenüber einer (zweiten) Person definiert wird, dann setzt auch die Möglichkeit einer »inne‐ ren Lüge« diese (zweite) Person voraus. Bei der inneren Lüge sind jedoch gleichzeitig der Lügner und die belogene Person in einem Subjekt vereint:

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§ 10. Reflexion und Täuschung über die eigenen Handlungsgründe

Die Wirklichkeit mancher inneren Lüge, welche die Menschen sich zu Schulden kommen lassen, zu beweisen, ist leicht, aber ihre Möglichkeit zu erklären scheint doch schwer zu sein; weil eine zweite Person dazu erforderlich ist, die man zu hintergehen die Absicht hat, sich selbst aber vorsätzlich zu betrügen einen Widerspruch in sich zu enthalten scheint. (AA 6:430).

Es scheint für Kant grundsätzlich die Wirklichkeit der »inneren Lüge« oder der Selbsttäuschung außer Frage zu stehen. Aus der Erfahrung können wir schließlich viele Beispiele ausmachen, die auf eine Selbsttäuschung hinweisen, wie oben schon an verschiedenen Beispielen dargelegt. Dennoch ist kritisch anzumerken, dass nicht in allen Fällen eindeutig ist, ob hier wirklich eine Selbsttäuschung vorliegt oder, wie Beier sagt, die Selbsttäuschung auch nur als Vor‐ wand benutzt wird, um die Schuld von sich zu weisen. Beier führt das Beispiel von Albert Speer an, der unglaubwürdig behauptet, sich über die Verbrechen der Hitlerregime selbst etwas vorgemacht zu haben.209 Die Möglichkeit der »inneren Lüge« ergibt sich hingegen erst mit der Auflösung des Widerspruchs, der nach Kant jedoch nur ein scheinbarer ist. Die Auflösung stützt sich dabei auf die Natur des Menschen als physisches (homo phaenomenon) und als moralisches Wesen (homo noumenon) (vgl. AA 6:429). Die »innere Lüge« ist ge‐ nau dann möglich, wenn das physische Wesen sich selbst als Sprach‐ maschine missbraucht, das heißt, sich selbst als Mittel zur Mitteilung von Lügen benutzt, was mit dem moralischen Wesen des Menschen nicht zu vereinbaren ist. In diesem Fall verletzt der Mensch seine Pflicht zur Wahrhaftigkeit, da dieser »an die Bedingung« (AA 6:429) des moralischen Wesens gebunden ist und seine Gedanken mit dem übereinstimmen müssen, was der Mensch als physisches Wesen de‐ klariert.210 Wenn man also die »innere Lüge« als einen Dialog mit 209 Vgl. Beier, K., Selbsttäuschung, S. 16. 210 Annen argumentiert dem entgegen, dass das moralische Wesen das physische Wesen als Sprachmaschine benutzt. Hierbei stellt sich die Frage, inwieweit ein moralisches Wesen zur Lüge fähig ist, obwohl die Lüge im Allgemeinen als unmoralisch gilt. Insbesondere in der zitierten Stelle der ›Metaphysik der Sitten‹ schreibt Kant explizit, dass »[sich] der Mensch, als moralisches Wesen (homo noumenon), [...] nicht als bloßes Mittel (Sprachmaschine) brauchen [kann]«, (AA 6:429). Vgl. Annen, M., Das Problem der Wahrhaftigkeit in der Philosophie der deutschen Aufklärung, S. 237.

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sich selbst versteht, dann wäre der Adressat bzw. der Belogene das moralische Wesen und der Lügner das physische Wesen. Es ist nicht zuletzt der menschlichen Natur als physisches Wesen geschuldet, von der ein »natürlicher Hang« zur Selbsttäuschung aus‐ geht, wie Kant bereits in der ›Grundlegung‹ betont. Als physisches Wesen hat der Mensch schließlich auch Wünsche und Neigungen, aufgrund derer auch »jene strengen Gesetze der Pflicht« angezwei‐ felt werden: Hieraus entspringt aber eine natürliche Dialektik, d.i. ein Hang, wider jene strengen Gesetze der Pflicht zu vernünfteln und ihre Gültigkeit, wenigstens ihre Reinigkeit und Strenge, in Zweifel zu ziehen, und sie, wo möglich, unseren Wünschen und Neigungen angemessener zu ma‐ chen, d.i. sie im Grunde zu verderben und um ihre ganze Würde zu bringen, welches denn doch selbst die gemeine praktische Vernunft am Ende nicht gutheißen kann. (GMS, 405).

Kant weist darauf hin, dass wir sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht eine Dialektik vorfinden, die aber aus genau entgegengesetzten Bedingungen entsteht. Die Vernunft verliert sich in spekulativer Hinsicht in Widersprüche, wenn sie die Grenze mög‐ licher Erfahrung übersteigt, indem sie versucht, die auf Anschauung restringierten Verstandeskategorien auf Dinge an sich anzuwenden. In praktischer Hinsicht hingegen entsteht der Widerspruch genau dann, wenn die sinnlichen Triebfedern Einfluss auf die praktischen Gesetze haben, denen aber ein rein intelligibler Charakter zukom‐ men muss (vgl. GMS, 404). Auf der einen Seite stehen also die »Vorschriften« der Vernunft und auf der anderen Seite die eigenen Bedürfnisse und Neigungen, die mit den Ersteren oft in Konflikt ge‐ raten können und in ihrer Gesamtheit unter dem Begriff der Glück‐ seligkeit zusammengefasst werden (vgl. GMS, 405). Zum Beispiel kann der Wunsch, reich zu werden, gegen die Pflicht zur Aufrichtig‐ keit verstoßen, wenn ich andere Menschen dafür betrügen oder täu‐ schen muss (vgl. GMS, 422). Es sind die beiden Ansprüche, durch die »[d]ie gemeine Menschenvernunft [...] schnell in eine Zweideu‐ tigkeit [gerät], um alle echten sittlichen Grundsätze gebracht zu werden (GMS, 405).211 211 So wie in spekulativer Hinsicht verliert sich auch die Vernunft im praktischen Gebrauch in eine Dialektik (vgl. KpV, 192), die gleichermaßen aufgelöst wer‐ den muss. Dafür, so Kant, bedarf es aber einer vollständigen Kritik unserer

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§ 10. Reflexion und Täuschung über die eigenen Handlungsgründe

Der Moment der Selbsttäuschung tritt genau dann ein, wenn man, abhängig von der Intensität seiner Bedürfnisse oder Neigun‐ gen, über die »Strenge« um die praktischen Gesetze zu »vernünf‐ teln« anfängt.212 Der Begriff des »Vernünftelns« ist bei Kant negativ konnotiert und meint den mangelnden Gebrauch seiner eigenen Vernunft; so erklärt Kant den Begriff in der ›Religionsschrift‹ als etwas, das »ohne gesunde Vernunft« (AA 06:200) ist. Auch in dem oben zitierten Absatz drückt das Vernünfteln nichts Positives aus, vielmehr wird sich mit ihm ein scheinbarer Ausweg aus der Dia‐ lektik erschlichen, der die Befriedigung seiner Neigungen erlaubt und zugleich der Tugend gerecht wird.213 Die Vernunft wird dabei Vernunft, um »Ruhe« (GMS, 406) zu finden. Dabei entspringt die Dialektik wie im spekulativen Gebrauch der Vernunft aus der Suche nach dem Unbe‐ dingten für das (praktisch) Bedingte. Das Verhältnis der Dialektik in Kants theoretischer und praktischer Philosophie wird im Hinblick auf den Gegen‐ standsbereich kontrovers diskutiert, vgl. Pinheiro Walla, Alice, Happiness in Kant’s Practical Philosophy, S. 55. In praktischer Hinsicht steht das Unbedingte »unter dem Namen des höchsten Guts« (KpV, 108). Der erste Satz der prakti‐ schen Antinomie behauptet, dass Glückseligkeit notwendig eine tugendhafte Gesinnung hervorbringt und der zweite Satz lautet, dass die Tugend notwen‐ dig Glückseligkeit hervorbringt. Während in der unaufgelösten Dialektik der spekulativen Vernunft ein Ausweg nur möglich ist, indem man sich auf eine der beiden kontradiktorisch gegenüberstehenden Seiten stellt, die entweder zum Skeptizismus oder Dogmatismus führt, ist dieser Ausweg hier nicht mög‐ lich. Dazu müssten sowohl Thesis als auch Antithesis wahr sein. Der erste Satz aber in der praktischen Dialektik ist »schlechterdings falsch«, weshalb es ein falscher Ausweg in praktischer Hinsicht wäre, sich einzureden, dass Glückseligkeit auch zur Tugend führt. Vgl. außerdem zur Gegenüberstellung der spekulativen und praktischen Antinomie der reinen Vernunft, Förster, E., Die Dialektik der reinen praktischen Vernunft (107–121), S. 181. 212 Sticker argumentiert, dass es gerade das »Vernünfteln« gegen die Strenge des moralischen Gesetzes ist, das die Dialektik in der praktischen Philosophie ausmacht, und verweist dabei auf einschlägige Stellen in der ›Grundlegung‹, vgl. Sticker, M., Rationalizing (Vernünfteln), S. 18. 213 Noller vertritt sogar die These, dass durch das Vernünfteln eine neue morali‐ sche Ordnung gebildet wird: »Es wird sich dabei zeigen, dass in praktischer Hinsicht das Vernünfteln darin besteht, Gründe gegen die absolute Geltung des Sittengesetzes vorzubringen und sich so eine eigene moralische Ordnung zu konstruieren, innerhalb deren die eigene Handlung schließlich als gut er‐ scheint«, Noller, J., Vernünfteln. Kant über die Rationalität des Bösen, S. 31. Dagegen ist zu argumentieren, dass keine eigene moralische Ordnung gebildet wird, sondern dass durch das Bewusstsein des moralischen Gesetzes mittels des Vernünftelns versucht wird, seine Einstellungen mit diesem zu vereinba‐

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als Mittel zum Zweck gebraucht, um vermeintlich vernünftige Vor‐ aussetzungen zu schaffen, um unser Handeln vor dem Sittengesetz zu verteidigen. Eine dieser falschen Prämissen besteht schließlich darin, zu behaupten, dass die eigene Glückseligkeit eine tugendhafte Gesinnung selbst hervorbringt (vgl. KpV, 114). Beispielsweise könnte jemand behaupten, dass er mit seinem durch Betrug erworbenen Reichtum positive Veränderung herbeiführen wird, indem er seinen Reichtum für eine gute Sache einsetzt und den Armen hilft. Auf diese Weise kann man aufgrund der Selbsttäuschung glauben, etwas Gutes zu tun, während man unbedacht die Pflichten verletzt, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben.214 Die Selbsttäuschung verfolgt damit eine bestimmte Absicht, die nicht darin bestehen kann, das moralische Gesetz an sich »wegzu‐ vernünfteln«, – was nach Kant auch unmöglich wäre, weil es spä‐ testens in der zweiten Kritik als Faktum gegeben ist. Die Selbsttäu‐ schung des Menschen ist eher darauf ausgerichtet, die anerkannten Gesetze der Pflichten zu seinen Gunsten zu modifizieren, um sich selbst den wahren Grund seiner Handlung vorzutäuschen. Damit ist festzuhalten, dass die Selbsttäuschung nach dem Verständnis von Kant nicht willkürlich und damit unbewusst, sondern eben absicht‐ lich geschieht. Eine absichtliche Selbsttäuschung wäre zum Beispiel denkbar, wenn ich meiner Pflicht nicht nachkomme und die Wahr‐ heit zu meinem eigenen Vorteil zurechtbiege.215 Aufgrund dieses Kri‐ teriums ist die Selbsttäuschung die Bedingung für die Möglichkeit der Zurechnung böser Handlungen. Denn es obliegt der freien Wahl des handelnden Subjekts, sich über den Wert seiner Handlung zu ren. Auf diese Weise entsteht dann die Selbsttäuschung hinsichtlich des morali‐ schen Werts der Handlung. 214 Auch Papish geht davon aus, dass das Böse nicht allein Ausdruck von Selbstlie‐ be ist und seine Ursache nur in der Auslebung seiner eigenen Neigungen fin‐ det. Im Gegenteil zeigt sich, dass das Böse gerade dann entsteht, wenn jemand versucht, seinen Willen zu überdeterminieren (»overdetermination«), indem er das moralische Gesetz und die Selbstliebe in die Maxime einzubinden versucht, vgl. Papish, L., Kant on Evil, Self-Deception, and Moral Reform, S. 48. Vgl. außerdem zum Verhältnis von Gewissen und Selbsttäuschung Sticker, M., When the Reflective Watch-Dog Barks: Conscience and Self-Deception in Kant, S. 85–104. 215 Annen verweist mit Jakob auf die Möglichkeit hin, dass auch die »innere Lüge« eine Absicht verfolgt, vgl. Annen, M., Das Problem der Wahrhaftigkeit in der Philosophie der deutschen Aufklärung, S. 237.

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§ 10. Reflexion und Täuschung über die eigenen Handlungsgründe

täuschen. So wie es auch in gleicher Weise zur Freiheit des Menschen gehört, über den wahren Grund seiner Handlung zu reflektieren: Was der Mensch im moralischen Sinne ist, oder werden soll, gut oder böse, dazu muß er sich selbst machen oder gemacht haben. Beides muß eine Wirkung seiner freien Willkür sein; denn sonst könnte es ihm nicht zugerechnet werden, folglich er weder moralisch gut noch böse sein (AA 06:44).

In diesem Sinne geht vom Menschen selbst die Freiheit aus, gut oder böse zu handeln. Ohne diese vorausgesetzte freie Willkür, also die freie Wahl zu reflektieren oder nicht, wäre es unmöglich, Handlun‐ gen zuzurechnen, noch als moralisch gut oder böse zu bewerten. Die Selbsttäuschung kann dabei als der Ursprung böser Handlungen begriffen werden und ist dabei auch ein Ausdruck von Freiheit, da sie ohne das Faktum des moralischen Gesetzes nicht möglich wäre. § 10.3 Zurechnung böser Handlungen und das Reinhold-Problem

Wenn wir böse Handlungen beobachten oder erfahren müssen, dann fragen wir uns oft, wie dies geschehen konnte und wer dafür verantwortlich zu machen ist. Hierbei gibt es zwei Aspekte, die aus Kantischer Perspektive zu beachten sind: Einerseits muss angenom‐ men werden, dass der Wille der handelnden Person einer Hetero‐ nomie ausgesetzt ist.216 Andererseits muss gleichzeitig vorausgesetzt werden, dass der handelnden Person eine Freiheit zugrunde liegt, mit der sie den Willen nach dem moralischen Gesetz als Bestim‐ mungsgrund ausrichten kann. Inwiefern ein Wille, dessen Handlung nur dann zurechenbar ist, wenn er frei ist und damit unter dem Sit‐ tengesetz steht, gleichzeitig böse Handlungen hervorbringen kann, wird in diesem Abschnitt diskutiert. Dabei vertrete ich die These, dass die Selbsttäuschung, und zwar als der eigentliche Ursprung böser Handlungen, aus einer Spontaneität des Denkens heraus ent‐ steht, die der handelnden Person voll zuzurechnen ist. 216 Korsgaard vertritt beispielsweise diese Position: »[B]adness is a kind of het‐ eronomy. The bad person is determined from outside, for he is a conduit for forces working in him and through him, and he is to that extent, internally, enslaved«, Korsgaard, C. M., Self-Constitution. Agency, Identity, and Integrity, S. 161.

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Inwiefern böse Handlungen innerhalb der Moralphilosophie Kants zurechenbar sind, hat bereits zu seiner Zeit eine große Kon‐ troverse ausgelöst. Seit der Rezension von Reinhold wird sogar de‐ klariert, dass böse Handlungen der Kantischen Moralphilosophie entsprechend nicht zurechenbar sind. Zwar konnte der Wille ent‐ gegen der Philosophie Humes aus der »Sklaverei der Begierden« befreit werden, wobei dieser Reinhold zufolge in der Kantischen Philosophie wiederum zum »Sklaven der Denkkraft« gemacht wur‐ de.217 Die zunächst berechtigte Kritik von Reinhold bezieht sich dabei auf den von mir als Definition identifizierten Satz in der ›Grundlegung‹ (vgl. 6.2.1): »also ist ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetze einerlei« (GMS, 447). Das bereits hier zum Ausdruck kommende wechselseitige Verhältnis von Freiheit und Sittengesetz schließt aus, dass unsittliche Handlungen aus Freiheit geschehen können und damit nicht zurechenbar sind. Klemme ver‐ zeichnet dabei sogar eine »Antinomie der praktischen Vernunft«, nach der Freiheit vorausgesetzt werden muss, um Handlungen zuzu‐ rechnen und gleichzeitig aber Freiheit aufgegeben werden muss, um überhaupt von bösen Handlungen sprechen zu können.218 Seit der Kritik Reinholds wurden viele Versuche unternommen, diesem Vorwurf zu entgegnen, schließlich trifft sie den Kern der Moralphilosophie Kants.219 Der Anspruch dieser hier vorliegenden Untersuchung ist es dabei nicht, eine umfassende Analyse der verschiedenen Lösungsansätze zu versuchen, sondern lediglich auf Grundlage der hier gewonnenen Perspektive eine Lösungsmöglich‐ keit anzubieten. Ein gängiger Lösungsansatz in der Literatur basiert

217 Reinhold, K. L., Erörterung des Begriffs von der Freiheit des Willens. Gekürzte Neuauflage des 8. Briefes aus dem zweiten Band der ›Briefe über die Kantische Philosophie‹, S. 268. 218 »Wenn wir ihre Möglichkeit nicht begreifen, dann liegt offenbar eine Antino‐ mie der praktischen Vernunft vor, nämlich zwischen These der praktischen Vernunft, dass wir Menschen uns faktisch zum Guten wie zum Schlechten ent‐ scheiden können, und der These der reinen praktischen Vernunft, dass wir das moralisch Schlechte nicht wählen können, ohne unsere Freiheit aufzuheben« Klemme, H., Moralisches Sollen, Autonomie und Achtung. Kants Konzeption der »libertas indifferentiae« zwischen Wolff und Crusius, S. 223. 219 Für eine detaillierte Auseinandersetzung der genannten Problematik vgl. Boja‐ nowski, J., Kant und das Problem der Zurechenbarkeit, 207–228.

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auf der sogenannten »Fähigkeitsinterpretation«220. Dieser Interpre‐ tation liegt die Prämisse zugrunde, dass ein freier Wille, der unter dem Gesetz steht, nicht bedeutet, dass der freie Wille immer nach dem Moralgesetz handelt. Dieser Lesart zufolge liegt die Freiheit des Willens in der Fähigkeit, entweder nach dem Moralgesetz zu handeln oder eben nicht. Damit geht jedoch eine Abschwächung des ursprünglichen Satzes einher. Denn steht ein freier Wille »unter dem moralischen Gesetz«, dann handelt er notwendigerweise »nach diesem Gesetz« und kann sich nicht dagegen entscheiden. Eben ge‐ nauso, wie sich ein Elektron nicht dagegen entscheiden kann, nach den Maxwellschen-Gesetzen zu agieren. Gleichwohl ist die Unterscheidung zwischen »unter dem morali‐ schen Gesetz« und »nach dem moralischen Gesetz« notwendig und sehr hilfreich, um das Reinhold-Problem zu lösen. Kant geht dabei nicht explizit auf diese Unterscheidung ein, wobei sie sich jedoch in Übereinstimmung mit Kant folgendermaßen treffen lässt: i) Eine Handlung ist aus der Perspektive des empirischen Beobachters selbst nie frei, da sie immer zeitlich bedingt ist. Dennoch kann sie »nach« dem moralischen Gesetz geschehen. Die Präposition »nach« bezieht sich demnach immer auf Handlungen. Deshalb kann eine Handlung nach oder gemäß dem Gesetz beurteilt und damit zugeschrieben werden. ii) Die Präposition »unter« bezieht sich auf Subjekte, die entweder frei sind oder eben nicht. Vernünftige Wesen müssen als frei angenommen werden und stehen damit immer »unter« dem moralischen Gesetz, wie Kant in der zweiten Sektion der ›Grundle‐ gung‹ gezeigt hat. Der Mensch als freies Vernunftwesen steht demnach immer »un‐ ter« dem moralischen Gesetz. Gegen Bojanowskis These, dass der Mensch zwar »unter« dem Gesetz steht, aber nicht immer »nach« dem Gesetz handelt, ist Folgendes zu argumentieren: Nach dieser Lesart kommt dem moralischen Gesetz einerseits eine strenge Not‐ 220 Ein Vertreter dieser Interpretation ist Bojanowski, der behauptet, dass der Wille eines freien Vernunftwesens notwendigerweise dem Gesetz unterworfen ist, wobei damit nicht einhergeht, dass dieser »immer schon dem Gesetz entspricht, sondern nur, dass dieses Gesetz für alle vernünftigen Wesen ver‐ bindlich ist«, ebenda, S. 220. Blöser weist außerdem darauf hin, dass Paton als Erster die Lesart vertreten hat, vgl. Paton, H. J., The Categorical Imperative: A Study in Kant’s Moral Philosophy, S. 213 und vgl. zur Analyse der »Fähigkeitsin‐ terpretation« außerdem Blöser, C., Zurechnung bei Kant, S. 74.

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wendigkeit und Allgemeinheit zu, aber gleichzeitig besteht eine Will‐ kür darin, ob man nun nach dem Gesetz handelt oder nicht. Hierbei handelt es sich um einen Widerspruch: Genauso wenig können wir uns dazu entscheiden, nicht aus dem Fenster zu fallen, obwohl wir unter dem Gravitationsgesetz stehen. Wie sind nun böse Hand‐ lungen trotzdem möglich? Der einzige Ausweg, der sich zunächst ergibt, ist zu argumentieren, dass wir nicht immer »unter« dem moralischen Gesetz stehen. Hier gilt aber auch, dass der notwendige Charakter des moralischen Gesetzes genauso infrage gestellt werden würde, wenn man sich willkürlich entscheiden könnte, ob man »unter« dem Gesetz steht oder nicht. Damit sind alle vernünftigen Erklärungen, wie es zu bösen Handlungen kommen kann, ausge‐ schöpft. Dies ist aber wenig überraschend, da es widersprüchlich wäre, wenn böse Handlungen aus Vernunftgründen erklärbar sind. Es sind vielmehr die Selbsttäuschung und die mit ihr einhergehende fehlende Selbstreflexion auf Basis der Vernunft, die zu bösen Hand‐ lungen führen, wie im vorherigen Abschnitt dargelegt wurde. Blöser weist darauf hin, dass innerhalb der »Fähigkeitsinterpreta‐ tion« Kant in seiner Replik auf Reinhold keine zureichende Antwort auf die Frage gegeben hat, wovon es abhängt, ob eine moralische Handlung ausgeführt wird oder nicht.221 Innerhalb der »Fähigkeits‐ interpretation« lassen sich zwei Möglichkeiten bestimmen, die bei‐ de, nach Blöser, nicht zufriedenstellend sind:222 Die erste Möglich‐ keit beschreibt eine naturkausale und die zweite eine vernünftige Erklärung. Während bei der naturkausalen Erklärung wieder das Problem besteht, dass böse Handlungen nicht frei und damit un‐ zurechenbar sind, zeigt sich bei der vernünftigen Erklärung das Problem, dass böse Handlungen gerade unvernünftig sind. Zunächst einmal lässt sich hier einwenden, dass die Zurechnung einer Hand‐ lung nicht davon abhängen kann, ob die Handlung frei ist, son‐ dern davon, ob die handelnde Person frei und damit »unter dem moralischen Gesetz« steht. Das heißt, die Frage danach, wie böse Handlungen möglich sind, ergibt sich aus der Frage, wie es möglich ist, dass der Mensch entweder »unter dem moralischen Gesetz« stehen kann oder nicht. Wie oben argumentiert, steht der Mensch als freies Vernunftwesen immer »unter dem moralischen Gesetz«. 221 Vgl. ebenda, S. 75. 222 Vgl. ebenda, S. 75.

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§ 10. Reflexion und Täuschung über die eigenen Handlungsgründe

Der Mensch kann sich lediglich darüber hinwegtäuschen, dass dies der Fall ist, und kann dem nur mithilfe seines Vermögens zur Selbst‐ reflexion entgegenwirken. Warum der Mensch manchmal von diesem Vermögen Gebrauch macht und manchmal nicht, ist eine psychologische Frage und da‐ mit schwer aus philosophischer Perspektive zu beantworten. Die Frage hingegen, wann jemand unmoralisch handelt, lässt sich genau mit den zwei von Blöser genannten Möglichkeiten erklären: i) Der Mensch handelt strikt nach seinen Neigungen und täuscht sich da‐ rüber hinweg, dass er »unter dem moralischen Gesetz« steht. Dies ist ihm zuzurechnen, weil er als vernünftiges Wesen die Möglichkeit hätte, zu reflektieren und damit festzustellen, dass er notwendiger‐ weise unter dem moralischen Gesetz steht. ii) Der Mensch erkennt sich als Vernunftwesen zwar als »unter dem moralischen Gesetz« stehend an, aber täuscht sich selbst in Bezug auf die wirkliche Hand‐ lungsmaxime. Dies ist ihm zuzurechnen, weil er selbst der Urheber der Selbsttäuschung ist. Damit ist die Selbsttäuschung der Grund böser Handlungen, da sie verhindert, dass die Vernunft praktisch werden kann. Die grundlegende Frage ist, wie man nun verhindern kann, dass man sich selbst täuscht. Der erste Schritt ist, dass man seine Maxime durch den kategorischen Imperativ überprüft: Die Frage ist also diese: ist es ein notwendiges Gesetz für alle vernünf‐ tigen Wesen, ihre Handlung jederzeit nach solchen Maximen zu beur‐ teilen, von denen sie selbst wollen können, daß sie zu allgemeinen Gesetzen dienen sollen? (GMS, 426).

Besteht eine Maxime diesen Test durch den kategorischen Impera‐ tiv, ist zunächst sichergestellt, dass keine subjektiven Neigungen in dieser Maxime enthalten sind und damit diese als allgemeingültig gedacht werden kann. Es besteht allerdings jederzeit die Möglich‐ keit, dass die geprüfte Maxime nicht meine wirkliche Maxime war. Es lässt sich zum Beispiel prüfen, ob es ein allgemeines Gesetz sein könnte, Menschen aus der Armut zu helfen. Zwar würde die‐ se Maxime die Prüfung bestehen, daraus folgt jedoch nicht, dass das auch die wirkliche Maxime der Handlung war. Diese könnte nämlich auch lauten, armen Menschen zu helfen, aber dafür andere zu betrügen. Diese Maxime würde hingegen nicht bestehen. Zur Prüfung der Maxime durch den kategorischen Imperativ muss also noch ein wesentliches Moment dazu kommen, nämlich, die Pflicht

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IV. Handlung und Moral

der Aufrichtigkeit gegen sich selbst zu erfüllen. Das Böse besteht hier nach Kant demnach »nicht in den Neigungen, sondern in der verkehrten Maxime« (AA 06:57, Anm.). Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass auf das Rein‐ hold-Problem folgendermaßen zu antworten ist: Erstens steht der Mensch als vernünftiges Wesen grundsätzlich immer und jeder‐ zeit unter dem moralischen Gesetz und deswegen ist ihm jede böse Handlung zuzurechnen und er muss auch danach handeln. Zweitens, da er aber auch das Vermögen besitzt, sich darüber zu täuschen, dass er unter dem moralischen Gesetz steht, sind böse Handlungen möglich. Da diese Selbsttäuschung vom Menschen als Urheber seiner Handlung selbst ausgeht, sind ihm böse Handlungen trotzdem zuzurechnen, auch wenn sein Wille im Moment der bösen Handlung nicht frei war.

iv. Ergebnis des vierten Kapitels In diesem Kapitel konnte gezeigt werden, dass dann, wenn es um die Frage der Zurechnung von Handlungen geht, die praktische und die theoretische Philosophie eine Schnittstelle aufweisen. Zurechnung ist nur dann möglich, wenn hinreichend begründet werden kann, dass die handelnde Person auch Urheber ihrer Handlung ist. Hume hat zu diesem Zweck behauptet, dass dies nur möglich ist, wenn das Wollen und die Handlung in einem kausalen Zusammenhang zuein‐ ander stehen. Diese Kausalität kann nur dann angenommen werden, wenn die Handlung einer gewohnheitsmäßigen Abfolge entspricht, aus der dann eine Notwendigkeit abgeleitet werden kann. Diese gewohnheitsmäßige Abfolge kann wiederum nur dann angenommen werden, wenn wir einen beständigen Charakter der handelnden Per‐ son voraussetzen. Auch bei Kant ist Zurechnung nur dann möglich, wenn man den Willen der handelnden Person als Ursache begreift. Im Gegensatz zu Hume wird diese Kausalität nicht aus einer Ge‐ wohnheit abgeleitet, sondern ist analytisch im Begriff des Willens enthalten. Bei Kant zeigt sich nun das Problem, dass der Wille als Ursache empirisch nicht zugänglich ist und damit auch Handlungen schlussendlich nicht zurechenbar sind. In diesem Kapitel wurde daher im zweiten Teil die kontrafaktische Selbstreflexion als ein Lösungsansatz vorgestellt, mit dem eine An‐

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iv. Ergebnis des vierten Kapitels

näherung an die wahren Gründe des Handelns durch sich selbst möglich ist. Die handelnde Person kann sich damit nur durch eine aufrichtige Reflexion den Grund ihrer Handlung selbst erfragen. Die Bedingung, dass die Reflexion aufrichtig sein muss, ist deshalb notwendig, weil mit der Selbstreflexion auch immer eine Selbsttäu‐ schung über die wahren Gründe der Handlung möglich ist. So ist es auf der einen Seite möglich, eine Maxime durch den kategorischen Imperativ auf seine Allgemeingültigkeit zu prüfen, die am Ende aber nicht die wirkliche Maxime der Handlung war. Die handelnde Per‐ son redet sich auf diese Weise ein, dass der Maxime, ob gut oder böse, ein moralischer Wert zukommt und mit den Prinzipien der Moral vereinbar ist. Nicht zuletzt diese Selbsttäuschung kann als die Ursache des Bösen verstanden werden.

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V. Fazit: Autonomie und Authentizität

§ 11. Was soll ich tun? Diese Arbeit verfolgt die übergeordnete Fragestellung, inwieweit die theoretische und die praktische Philosophie Kants ein kohärentes Ganzes bilden. Zunächst lassen sich entsprechend der ›Methoden‐ lehre‹ der ›Kritik der reinen Vernunft‹ das praktische und das speku‐ lative Interesse der Vernunft in drei Fragen vereinigen, die zunächst voneinander unabhängige Gegenstandsbereiche der Philosophie ab‐ decken: »Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?« (KrV, A 805/B 833). Dabei ist die Frage, »Was kann ich wis‐ sen?«, rein spekulativ und betrifft die Erkenntnistheorie, während die Frage, »Was soll ich tun«, die Moral berührt und bloß praktisch ist. Die dritte Frage hingegen tangiert sowohl den theoretischen und den praktischen Bereich der Philosophie und hat mit der Religion zu tun. Doch auch die zweite Frage, die zwar bloß praktisch ist, kann nicht völlig losgelöst von der spekulativen Philosophie beantwortet werden. Es muss nämlich gezeigt werden, wie oder ob ein solches Sollen überhaupt möglich ist, womit die Bedingung der Moral ge‐ setzt wird, was die praktische Philosophie allein nicht leisten kann. Schließlich kann die Frage, inwiefern neben dem Sein auch ein Sol‐ len anzunehmen ist, nur spekulativ beantwortet werden, weshalb die theoretische Philosophie der praktischen Philosophie vorausgehen muss. Kant spricht in der Vorrede zur zweiten Auflage der ›Kritik der reinen Vernunft‹ sogar von einem »positiven und sehr wichtigen Nutzen« (KrV, BXXV ) der ersten Kritik für den praktischen Ge‐ brauch der reinen Vernunft: Daher ist eine Kritik, welche die erstere [die Vernunft im spekulativen Gebrauch] einschränkt, so fern zwar negativ, aber, indem sie dadurch zugleich ein Hindernis, welches den letzteren Gebrauch einschränkt, oder gar zu vernichten droht, aufhebt, in der Tat von positivem und sehr wichtigem Nutzen, so bald man überzeugt wird, daß es

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V. Fazit: Autonomie und Authentizität

einen schlechterdings notwendigen praktischen Gebrauch der reinen Vernunft (den moralischen) gebe, in welche sie sich unvermeidlich über die Grenzen der Sinnlichkeit erweitert, dazu sie zwar von der spekula‐ tiven keiner Beihülfe bedarf, dennoch aber wider ihre Gegenwirkung gesichert sein muß, um nicht in Widerspruch mit sich selbst zu geraten. (KrV, B XXV ).

Der positive Nutzen der »Kritik« besteht darin, den Gebrauch der spekulativen Vernunft einzuschränken, um den Gebrauch der prak‐ tischen Vernunft zu ermöglichen, die sich über die Grenze der Sinn‐ lichkeit erweitert. Zwar bedarf die Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch »keine Beihülfe« der spekulativen Vernunft, allerdings wäre es ohne eine »vorhergehende Kritik« (KrV, BXXVII) nicht möglich gewesen, widerspruchsfrei den Willen des Menschen gleich‐ zeitig als frei und der Naturnotwendigkeit unterworfen zu denken. Damit soll an die Erkenntnisse angeknüpft werden, die Kant zwei Jahre vor der B-Auflage der ersten Kritik in der ›Grundlegung‹ ver‐ öffentlicht hatte. Im dritten Abschnitt der ›Grundlegung‹ wurde ge‐ zeigt, dass dem Menschen als sinnlich-vernünftiges Wesen notwen‐ digerweise ein reiner Wille zukommt. Wie bereits in § 7.2 dargelegt, muss die Freiheit des Willens notwendig vorausgesetzt werden, wenn sich der Mensch als Vernunftwesen begreift. Dass der Mensch ne‐ ben seinem sinnlichen Charakter auch einen intelligiblen Charakter und damit einen reinen Wille hat, ist möglich, weil in ihm eine »reine Tätigkeit« stattfindet, die Ideen hervorbringt. Ausgehend von der dem Menschen zugeschriebenen Freiheit des Willens, konnte die Sittlichkeit abgeleitet werden, die zuvor Gefahr lief, als »Hirnge‐ spinst« abgestempelt zu werden. Dem Menschen kommt ein freier Wille zu und damit das Vermögen, nach einem moralischen Sollen zu handeln. Dass die ›Grundlegung‹ von der widerspruchsfreien Möglichkeit eines freien Willens ausgehen kann, gründet auf der vorausgesetz‐ ten transzendentalen Differenz von Erscheinungen und Dingen an sich der ersten Kritik. Dabei konnte Kant herausstellen, dass die theoretische Vernunfterkenntnis auf »bloße Erscheinungen« (KrV, BXXIX) beschränkt ist, wohingegen von Dingen an sich keine Er‐ fahrung und somit auch kein theoretisches Wissen möglich sind, zumindest aber denkmöglich (vgl. KrV, BXXVI) sind. So wie das »Objekt in zweierlei Bedeutung« (KrV, BXXVII) genommen werden kann, kann auch dem Menschen ein doppelter Charakter ohne Wi‐

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§ 11. Was soll ich tun?

derspruch zugeschrieben werden: Der Mensch kann sich als Glied der Verstandeswelt als frei und gleichzeitig als ein den Naturgesetzen unterworfenes Phänomen denken. Aufgrund der Grenzbestimmung der spekulativen Vernunft ist es also überhaupt möglich, »der Sitt‐ lichkeit ihren Platz, und die Naturlehre auch den ihrigen« (KrV, BXXIX) zu behaupten. Den Beweis der widerspruchsfreien Annahme von Freiheit und Natur hat Kant in der Auflösung der dritten Antinomie der ›Kritik der reinen Vernunft‹ auf Grundlage seines transzendentalen Idealis‐ mus vorgelegt. Welche Tragweite der Auflösung der dritten Antino‐ mie zukommt, wird nicht zuletzt dadurch deutlich, dass ohne die widerspruchsfreie Annahme der Freiheit auch keine Moral möglich wäre. Denn »die Moral [setzt] notwendig Freiheit (im strengsten Sinne) als Eigenschaft unseres Willens voraus« (KrV, BXXVIII). Mit dem transzendentalen Idealismus wird die folgenreiche Einsicht der Möglichkeit von Moral (BXXIVff.) in Aussicht gestellt, der in glei‐ cher Weise ein revolutionärer Wert zugeschrieben werden kann wie der kopernikanischen Wende. Es zeigt sich mit der widerspruchs‐ freien Annahme von Natur und Freiheit durch die Auflösung der dritten Antinomie jedoch ein zweites wichtiges Moment. In Kapitel II habe ich die These aufgestellt, dass die Freiheit als transzendentale Idee die Bedingung für Gesetzmäßigkeit überhaupt ist. Ihr kommt damit nicht nur für die Moral ein besonderer Stellenwert zu, son‐ dern auch für das Bestehen der Naturwissenschaft im Allgemeinen. Um meine These zu bekräftigen, habe ich in § 4 die Beweise der dritten Antinomie, die in Form von Thesis und Antithesis einen Widerspruch aufzeigen, und ihre Auflösung analysiert. Dabei geht die These auf der einen Seite von einem ersten Anfang aus, der nur durch eine Kausalität aus Freiheit bestimmt ist. Die Antithesis geht auf der anderen Seite nur von einer Naturkausalität aus und endet somit in einem infiniten Regress der Ursachen und Wirkungen. Da beide Beweise wahr sind, ist Kant genötigt zu zeigen, dass selbst dann, wenn nicht geklärt werden kann, ob es tatsächlich einen ers‐ ten Anfang gibt, zumindest eine widerspruchsfreie Antwort möglich sein muss. Wäre es Kant nicht gelungen, diesen Widerspruch aufzu‐ lösen, müsste man auch die Notwendigkeit in der Naturkausalität wie Hume nur durch Psychologie annehmen und, damit zusammen‐ hängend, das Projekt einer Transzendentalphilosophie für geschei‐ tert erklären.

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V. Fazit: Autonomie und Authentizität

Die Auflösung der dritten Antinomie verfolgt das Ziel, aufzeigen zu können, inwiefern neben naturkausalen Zusammenhängen auch eine unbedingte Ursache, die also nicht durch eine ihr vorhergehen‐ de Ursache bestimmt ist, möglich ist. Dabei gilt es, wie in § 5 be‐ handelt, zwischen kausalen und zeitlichen Reihen zu unterscheiden, wobei die kausalen Reihen der Freiheit und die zeitlichen Reihen der Natur zugeschrieben werden. Auf diese Weise beziehen sich Natur und Freiheit auf unterschiedliche Gegenstandsbereiche und der Widerspruch wäre aufgelöst. Im Konkreten kommt dem Ursa‐ chenbegriff innerhalb der Auflösung der dritten Antinomie eine be‐ deutende Rolle zu: Kant unterscheidet zwischen einem intelligiblen und empirischen Charakter der Ursache. Dabei steht der empirische Charakter der Ursache unter zeitlichen und naturkausalen Bedin‐ gungen, während der intelligible Charakter unabhängig und damit frei von zeitlichen Bedingungen ist. Mit dem zeitlosen Charakter der Ursache ist die Bedingung der Idee einer transzendentalen Freiheit gesetzt, die wiederum vorausgesetzt werden muss, um von Gesetz‐ mäßigkeiten in der Natur ausgehen zu können. Die Idee der trans‐ zendentalen Freiheit als »absolute Spontaneität« hat einen zeitlosen Charakter und teilt diese Eigenschaft mit den Gesetzmäßigkeiten in der Natur, die zwar alles in der Natur bestimmen, aber nicht aus der Empirie direkt abgeleitet werden können, wie Hume zeigen konnte. Die transzendentale Freiheit gilt deshalb als notwendige Bedingung dafür, um überhaupt Gesetzmäßigkeiten zu denken. In der ›Kritik der reinen Vernunft‹ betont Kant, dass mit der widerspruchsfreien Annahme der transzendentalen Freiheit weder die Wirklichkeit noch die Möglichkeit bewiesen sind. Da sich die transzendentale Freiheit als Idee nicht in der Erfahrung zeigt, ist es schlicht unmöglich, sie in theoretischer Hinsicht zu beweisen. Diesen Standpunkt vertritt Kant konsequenterweise auch in seiner praktischen Philosophie. Es wirkt zunächst mit seiner theoretischen Philosophie unvereinbar, wenn er in der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ die Wirklichkeit der Freiheit behauptet. Wie in § 8 disku‐ tiert, ist die objektive Realität der Freiheit »durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen« (KpV, 3). Da die Freiheit wiederum die Bedingung des moralischen Gesetzes ist, wissen wir auch von ihrer »Möglichkeit a priori« (KpV, 4). Freiheit und Gesetz beschreiben nach Kant ein wechselseitiges Verhältnis, in dem die Freiheit die ratio essendi des Gesetzes und das Gesetz die ratio co‐

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§ 11. Was soll ich tun?

gnoscendi der Freiheit sind: Das moralische Gesetz, das uns als Fak‐ tum gegeben ist, berechtigt uns in praktischer Hinsicht, eine Freiheit anzunehmen, wobei die Freiheit aber gleichzeitig die Bedingung des moralischen Gesetzes ist. Da uns das moralische Gesetz durch ein Faktum gegeben ist, durch das sich die Idee der Freiheit offenbart, ist es auch in praktischer Hinsicht ausreichend, dass in theoretischer Hinsicht die Freiheit »keine innere Unmöglichkeit (Widerspruch)« (KpV, 4) enthält. Und dass dies so ist, wurde bereits in spekulativer Hinsicht innerhalb der Auflösung der dritten Antinomie gezeigt. Dieses macht in der Freiheitsproblematik nun den »Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der speculati‐ ven Vernunft aus [...]« (KpV, 4). Mit dem »Schlußstein« ist ein System der kritischen Philosophie vollendet, das eine Kohärenz zwischen theoretischer und praktischer Philosophie etabliert. Diese Kohärenz wäre genau dann gefährdet, wenn Kant nicht aufzeigen könnte, wie es mit der theoretischen Vernunft zu vereinbaren ist, dass der Wille, hinsichtlich seiner Kau‐ salität, durch das moralische Gesetz bestimmt wird, das durch das Faktum gegeben ist. Während Kant in der ›Kritik der reinen Ver‐ nunft‹ behauptet, dass die Kausalität als Verstandesbegriff auf Er‐ scheinungen restringiert sein muss, ist im Begriff des reinen Willens eine Kausalität aus Freiheit enthalten, die nicht durch Naturgesetze bestimmbar ist, sondern sich im Gegenteil »über alle Bedingungen der Sinnenwelt wegsetzt« (KpV, 50). Wie ich in § 8 dargelegt habe, behandelt Kant dieses Problem in der zweiten Kritik und bietet eine Lösung an, bei der der reine Wille als Ursache angesehen werden kann, was ihm die Befugnis verleiht, zumindest in praktischer Hin‐ sicht eine intelligible Kausalität anzunehmen. Die ›Grundlegung‹ und die ›Kritik der praktischen Vernunft‹ ver‐ folgen damit gleichermaßen den Anspruch, den reinen Willen zu deduzieren. Anders als in der ›Grundlegung‹ versucht Kant, in der zweiten Kritik nicht den reinen Willen aus der Beschaffenheit des Menschen zu deduzieren oder »ihn theoretisch zu kennen« (KpV, 56), sondern ihn auf Grundlage des bereits deduzierten Begriffs der Ursache zu rechtfertigen. Im Gegensatz zum Ursachenbegriff ist der reine Wille jedoch nicht a priori zu bestimmen und auch nicht auf Gegenstände möglicher Erfahrung anzuwenden, weshalb der reine Wille in theoretischer Hinsicht zwar ein möglicher und denk‐ barer, aber »leerer Begriff« (KpV, 56) bleibt. Für den praktischen

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V. Fazit: Autonomie und Authentizität

Gebrauch des reinen Willens ist es allerdings ausreichend, dass sich der reine Wille und der Ursachenbegriff denselben »reinen, nicht empirischen Ursprung« teilen. Auf diese Weise ist es möglich, einen reinen Willen als praktische Erweiterung des Ursachenbegriffs anzu‐ nehmen und damit »den Begriff der Kausalität mit dem der Freiheit [...] zu verbinden« (KpV, 56). Dem reinen Willen als intelligible Kau‐ salität kommt dann durch das Faktum gegebene moralische Gesetz »als Bestimmungsgrund derselben« (KpV, 56) praktische Realität zu. Ein wesentliches Ergebnis dieser Arbeit ist, dass mit dem Begriff der Ursache ein vermittelndes Glied zwischen Theorie und Praxis ausgemacht ist, von dem aus ein System der Philosophie überhaupt erst begründet werden kann. Denn eine praktische Erweiterung der Ursache ist nur dann möglich, wenn dieser in theoretischer Hinsicht bereits gerechtfertigt wurde. Von einem Begriff, der in theoretischer Hinsicht nichtig ist, lässt sich schließlich auch kein praktischer Ge‐ brauch begründen (vgl. KpV 56). Gegenüber Hume räumt Kant daher ein, dass der praktische Gebrauch einer sinnlich-unbedingten Kausalität nur möglich ist, weil er diesen in theoretischer Hinsicht auf Erscheinungen einschränkte und damit seine objektive Realität sicherte. Da nun entgegen der Ansicht Humes der Ursachenbegriff einen nicht-empirischen Ursprung hat (vgl. Prol., 259), seine objek‐ tive Realität aber durch die Deduktion »in Ansehung der Gegen‐ stände überhaupt [...] gesichert« (KpV, 55) ist, ist er in praktischer Hinsicht nicht nur auf Phänomene eingeschränkt. Der Begriff der Ursache als praktische Erweiterung kann somit auch auf »Dinge als reine Verstandeswesen« (KpV, 55) angewandt werden. Der Stellenwert, den Kant dem Ursachenbegriff zuschreibt, zieht sich von seiner theoretischen bis hin zur praktischen Philosophie und ihm kommt insbesondere in der Frage nach dem Erweckungs‐ grund aus dem dogmatischen Schlummer eine besondere Rolle zu, wie ich in § 6 aufzeigen konnte. Diese Arbeit hat dabei darlegen können, dass die unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Ansätze von Hume und Kant, wie sich am Beispiel der Ursache zeigen konn‐ te, den Ausgang ihrer praktischen Philosophie bestimmen konnte. Gleichzeitig macht die praktische Philosophie den »Schlußstein« der ganzen Philosophie aus. Einerseits fällt die Praxis mit der Theo‐ rie zusammen, sodass die Frage »Was soll ich tun?« und die Moral ungültig wären, und andererseits bietet die praktische Philosophie

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§ 12. Wer will ich sein?

ausreichend Grundlage, um den Begriff der Freiheit nicht als »Hirn‐ gespinst« zu verstehen.

§ 12. Wer will ich sein? Die drei oben in der ›Kritik der reinen Vernunft‹ von Kant gestellten Fragen vereinen sich in der Frage »Was ist der Mensch?«. Zum ersten Mal aufgeworfen hat sie Kant in der Jäsche-Vorlesung über Logik und ein weiteres Mal in einem Brief an Carl Friedrich Stäudlin am 4. Mai 1793: Mein schon seit geraumer Zeit gemachter Plan der mir obliegenden Bearbeitung des Feldes der reinen Philosophie ging auf die Auflösung der drei Aufgaben: 1) Was kann ich wissen? (Metaphysik) 2) Was soll ich thun? (Moral) 3) Was darf ich hoffen? (Religion); welcher zuletzt die vierte folgen sollte: Was ist der Mensch? (Anthropologie; über die ich schon seit mehr als 20 Jahren jährlich ein Collegium gelesen habe).

Die vierte anthropologische Frage zielt nicht auf eine biologische, empirische Klassifizierung des Menschen ab, wie zunächst sugge‐ riert wird. Nach Brandt ist mit der Frage der Versuch verbunden, »Ursprung, Umfang und Grenze der menschlichen Erkenntnis«223 zu ergründen. Dabei wird der Mensch als ein Wesen bestimmt, das sich aufgrund von Vernunft Wissen aneignen sowie hoffen, glauben und sich moralisch verhalten kann. Anders als eine Maschine oder ein Tier ist der Mensch nicht nur dazu fähig, über sich selbst als Gattung zu reflektieren, sondern auch die Grenzen seiner Erkennt‐ nis selbst zu bestimmen und sein Handeln nach moralischen Prinzi‐ pien auszurichten. Die menschliche Gattung zeichnet sich im Beson‐ deren dadurch aus, sich selbst unter den Bedingungen der Freiheit zu denken und zu bestimmen. Es ist die Fähigkeit des Menschen, sich von jeder Art von Fremdbestimmung befreien zu können und sich autonom den Gesetzen der Moral zu unterwerfen. Die Autonomie des Menschen und die damit verbundene Freiheit werfen jedoch eine schwierige Frage auf, die sich für Tiere und Maschinen nicht stellt: »Wer will ich sein?« Zunächst einmal muss diese Frage notwendigerweise damit beantwortet werden, dass ich 223 Brandt, R., Die Bestimmung des Menschen als Zentrum der Kantischen Philoso‐ phie, S. 18.

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V. Fazit: Autonomie und Authentizität

zumindest eine Person sein möchte, mir also Freiheit zugeschrieben werden kann - auch wenn hier noch nicht klar ist, um was für eine Person es sich handelt. Das Person-Sein ist gewissermaßen die Voraussetzung dafür, sinnvoll zu fragen, wer man sein will. Dies ist aber nur dann der Fall, wenn ich mich, als unter dem Sittengesetz stehend, betrachte. Unterwerfe ich mich hingegen nicht dem Sittengesetz, bedeutet dies auf der anderen Seite, dass ich mich selbst als »Nichtswürdigkeit« betrachte und keine Achtung vor mir selbst habe, da ich die Fähigkeiten, die mir als vernünftiges Wesen zukommen, nicht ausschöpfe. Es muss mit dieser Fähigkeit auch eine Achtung für meine eigene Person verbunden sein. Die Achtung ist eine subjektive Triebfeder des Menschen, durch die er sich dem Sittengesetz unterwirft. Erst mit dieser Achtung für meine Person reflektiere ich über mein Handeln und frage mich, ob ich nach dem moralischen Gesetz gehandelt habe, weshalb mit der Selbstachtung auch eine Selbstreflexion einhergeht. Mit der Frage »Wer will ich sein?« leite ich schließlich diese Reflexion ein, die zwar eine Autono‐ mie im Sinne der Selbstbestimmung voraussetzt, aber aufgrund des Wunsches nach Authentizität motiviert wird. Wie ich in § 10 diskutiert habe, kann sich auch in der Reflexi‐ on über die wirklichen Gründe unseres Handelns das liebe Selbst über den wahren moralischen Wert unserer Handlungen täuschen. Dies ist möglich, weil der Mensch nicht nur ein vernunftbegabtes, sondern auch ein sinnliches Wesen ist, das in vielen Fällen »aus Neigung« und nicht »aus Pflicht« handelt. Hinzukommt, dass wir, von außen betrachtet, nicht beurteilen können, ob eine Handlung bloß aus Neigung geschehen ist, da auch diese dem moralischen Ge‐ setz gemäß sein kann. Ein Versprechen zu geben und sich daran zu halten, suggeriert zunächst eine gewisse Moralität in der Handlung. Die Person kann sich allerdings auch nur an das Versprechen halten, weil sie sich daraus einem bestimmten Vorteil erhofft. Da das Ver‐ sprechen zwar eingehalten wurde, ist die Handlung zwar »pflichtge‐ mäß« und damit Legalität, ihr aber keine Moralität zuzuschreiben (Vgl. KpV, 117). Der wahre moralische Wert einer Handlung zeigt sich nach Kant damit allein im Beweggrund, aus dem gehandelt wird. Eine Annäherung an den wahren Grund unserer Handlung ist, wie in § 10.1 dargestellt, durch eine kontrafaktische Selbstreflexion möglich. So kann sich das Subjekt selbst die Frage stellen, ob es auch

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§ 12. Wer will ich sein?

dann noch sein Versprechen gehalten hätte, wenn es sich keinen Vorteil daraus erhoffen könnte. Diese Reflexion setzt dabei zweierlei voraus: Erstens muss der Wunsch nach Authentizität bestehen und zweitens setzt sie auch Aufrichtigkeit in der Prüfung voraus. Wenn sich eine Person beispielsweise nicht als moralisches Wesen begreift, dann wird sich diese auch nicht der Reflexion unterziehen. Ande‐ rerseits können auch Personen, gerade weil sie sich als moralisch begreifen wollen, unter dem Deckmantel der Moralität über den wahren Wert ihrer Handlung selbst täuschen. Dieses ist beispielswei‐ se dann der Fall, wenn die falsche Maxime auf ihre Allgemeinheit hin überprüft wird. Sartre zufolge kann die Unaufrichtigkeit bei der Prüfung unserer vermeintlich wahren Maxime als Mangel an Authentizität beurteilt werden. Dabei ist Sartres Begriff der »Unaufrichtigkeit (mauvaise foi)« mit dem der Selbsttäuschung gleichzusetzen.224 In seinem Werk ›Das Sein und das Nichts‹ gibt Sartre verschiedene Beispiele an, die veranschaulichen sollen, was er unter dem Begriff der Unaufrichtig‐ keit oder Selbsttäuschung begreift. Eine Frau, die mit einem Mann ausgeht, der ihr zugeneigt ist, will sich nicht eingestehen, dass sie sich in gleicher Weise zu ihm hingezogen fühlt. Die Frau täuscht sich über ihre Gefühle für diesen Mann, indem sie den romantischen Rahmen des Treffens mit dem Mann ausblendet und von einer rein freundschaftlichen Begegnung ausgeht. Unter Selbsttäuschung versteht Sartre also eine Form des »Sich-selbst-Belügens«, durch die die betroffene Person versucht, sich selbst die Wahrheit zu verbergen oder zu verfälschen.225 Da der Mensch »dazu verurteilt [ist], frei zu sein«226, und alle Lebensentscheidungen und Verantwortung auf ihm lasten, versucht er, sich dieser mittels der Selbsttäuschung zu entsagen. Nach Beier weist Sartres Freiheitsbegriff zwei Aspekte auf: Zum einen bedeutet die menschliche Freiheit im negativen Sinne die Unabhängigkeit von jeder Form von Determination, wodurch sich der Mensch im posi‐ tiven Sinne der freien Selbstbestimmung fähig ist.227 Wir können uns nicht auf einen Gott beziehen, der die Verantwortung für unser 224 Vgl. Beier, K., Selbsttäuschung, Selbstbestimmung und Authentizität bei Sartre, S. 421. 225 Vgl. Sartre, J.-P., Das Sein und das Nichts, S. 122. 226 ebenda, S. 950.

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V. Fazit: Autonomie und Authentizität

Verhalten übernimmt, wodurch sich mit der Freiheit das Gefühl der Angst und der Verlassenheit offenbart.228 Die Selbsttäuschung ist dabei ein Ausweg oder gar eine Flucht vor dieser Freiheit und der mit ihr einhergehenden Verantwortung, indem man sich selbst wie einen Gegenstand betrachtet, der keinen Einfluss auf die gegebene Situation hat. Vor Sartre hat auch bereits Kant diese Auffassung vertreten, wo‐ bei für Kant die Selbsttäuschung nicht als Entsagung der Freiheit, sondern selbst ein Ausdruck der Freiheit des Menschen ist und ihm damit voll zuzurechnen ist. Kant ist schließlich die Einsicht zu ver‐ danken, dass es keinen Gott als Urheber der Welt bedarf, von dem die Wahrheiten über die Welt ausgehen und uns gleichermaßen über diese täuschen kann. Seit Kant geht die Bestimmung des Menschen schließlich vom Menschen selbst aus. Die Erkenntnis, der Glaube und die Moral finden ihre Quelle in der Vernunft des Menschen. Es braucht damit keinen Gott, durch den wir uns die Welt als Ganzes erklären können oder der uns zum moralischen Handeln motiviert. Ebenso wenig braucht es einen Gott, der die Verantwortung für unser Fehlverhalten übernimmt. In dieser Hinsicht wird Descartes’ Täuschergott durch das Selbstbewusstsein des Menschen ersetzt, der selbst die Quelle jeder Täuschung ist, sei es über sich selbst oder über die Natur. Wir sind für jede Handlung selbst verantwortlich, was sicherlich beängstigend wirken kann, aber gleichzeitig kommt uns eine seit der Aufklärung neu gewonnene Macht zu, die dem Menschen auf diese Art vorher nie zugesprochen wurde, nämlich die der Selbstbestimmung.

227 Vgl. Beier, K., Selbsttäuschung, Selbstbestimmung und Authentizität bei Sartre, S. 427. 228 Vgl. ebenda, S. 428.

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