Der Wahrheitsgehalt der Religion [Reprint 2022 ed.] 9783112687307

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Der Wahrheitsgehalt der Religion [Reprint 2022 ed.]
 9783112687307

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsübersicht
I. Einleitender Teil
Die weltgeschichtliche Krise der Religion
a. Das Problem der Religion
b. Die Eigentümlichkeit des Christentums
c. Die Bewegung der Neuzeit wider das Christentum
d. Das Wiedererstarken der Religion
e. Die Aufgabe der Gegenwart
II. Die Begründung der universalen Religion
Einleitende Erwägungen
A. Die Verwickelung des menschlichen Lebens
1. Sie Zweiheit im menschlichen Leben
2. Der Widerspruch im menschlichen Leben
3. Vergeblicher Versuch einer Überwindung des Widerspruches
B. Das Aufsteigen einer neuen Welt
1. Der Umriß der neuen Welt
2. Der überweltliche Charakter des Geisteslebens
3. Der neue Anblick des menschlichen Geisteslebens
C. Die Thatsache der universalen Religion
1. Die Wendung zur Religion
2. Die Entwicklung der universalen Religion
Zusammenfassung
III. Der Widerspruch gegen die Religion
Einleitung
a. Die Darlegung des Widerstandes
1. Der Widerstand der Natur
2. Der Widerstand der Kultur
3. Der Widerstand im eignen Gebiet des Geisteslebens
4. Die Undurchsichtigkeit der menschlichen Lage
b. Die Erwägung des Widerstandes
1. Die Unzulänglichkeit vorgeschlagener Abhülfen
2. Die Unmöglichkeit einer Verneinung
3. Die Notwendigkeit weiterer Thatsächlichkeit
IV. Die charakteristische Religion
Einleitung
a. Die Weitererschließung des Geisteslebens
1. Die Behauptung der Religionen
2. Das Aufsteigen einer neuen Lebenstiefe
b. Der Inhalt der charakteristischen Religion
1. Einführung
2. Entwicklung
c. Der Gesamtanblick von Religion und Leben
1. Das Problem des Bösen
2. Sie positive Wirkung der Religion
3. Die religiöse Deutung des Lebens
4. Glaube und Zweifel
V. Ewiges und Zeitliches im Christentum
A. Das Ewige im Christentum
1. Der unverlierbare Kern
2. Die notwendige Weiterbildung
B. Das Zeitliche im Christentum und die Notwendigkeit neuer Formen
C. Die Lage und Aufgabe der Gegenwart
Namen- und Sachregister

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DER WAHRHEITSGEHALT DER

RELIGION VON

RUDOLF EUCKEN

LEIPZIG VERLAG VON VEIT & COMP. 1901

Druck yon Metzger & Wittig in Leipzig.

Vorwort. Zur Einführung des Werkes mögen nur einige wenige Worte dienen. Es will keineswegs ein System der Religionsphilosophie sein; für ein solches Unternehmen ist die Lage der Gegenwart viel zu verworren und die Stellung der Religion in ihr viel zu unsicher. Was heute not thut, ist vielmehr solcher Unsicherheit entgegenzuwirken; wie das nicht geschehen kann ohne eine Verständigung über das Wesen und den Wert der Religion, so treibt es zwingend auch zu einer Beleuchtung des Ganzen des Menschenlebens. In der geistigen Anarchie unserer Zeit läßt sich an keinen festen und zugestandenen Punkt anknüpfen, alle Erörterung tieferer Art hat auf die Grundlagen zurückzugehen und von hier aus neu aufzubauen. So mußten auch wir uns aus einer allgemeinen Erwägung des menschlichen Daseins erst Schritt für Schritt zu der Stelle hinarbeiten, wo das Problem der Religion hervorbricht, um sich dann freilich bald als den Mittelpunkt alles Strebens nach Seele und Sinn unseres Daseins zu erweisen. Bei solcher Fassung der Frage bildet für uns weitaus die Hauptsache der Entwurf des Gesamtbildes, die großen zusammenhaltenden Umrisse, eine charakteristische Beleuchtung unserer ganzen Wirklichkeit. Wir suchten dafür, unabhängig von aller und jeder Partei, einen eignen Weg; dabei hat sich gewiß viel bloß Subjektives und Individuelles eingemischt, für das keine Schonung erbeten wird. Aber mit dem Bewußtsein großer Mangelhaftigkeit der näheren Ausführung verbinden wir die feste Überzeugung, daß der hier eingeschlagene Weg ein notwendiger ist, und daß er dem inneren Bedürfnis vieler entspricht, die

Vorwort.

IV

mit einem starken Verlangen nach Religion ein deutliches Bewußtsein der Unzulänglichkeit der gegenwärtigen Formen der Religion verbinden. Wir selbst fühlen uns durchaus als Suchende und wenden uns daher auch an Suchende; wir hoffen auf die Sympathie und auf die Mitarbeit mancher von denen, die in diesen Dingen nicht schon abgeschlossen haben und aus der Starrheit eines vermeintlichen Besitzes alles Streben nach einer fertigen Schablone messen, deren Leben vielmehr noch in frischem Fluß ist und neuen Eindrücken offen steht; wir richten uns an die, welche mit uns die gegenwärtige Verflachung und Verflüchtigung des Geisteslebens als einen nicht länger erträglichen Notstand empfinden und die nicht davor zurückscheuen, auch in schroffem Widerspruch zur breiten Zeitoberfläche eine Erneuerung des Lebens zu suchen. J e n a , im Mai 1901.

Rudolf Eucken.

Inhaltsübersicht. I. E i n l e i t e n d e r T e i l .

Seite

Die weltgeschichtliche Krise der Religion

1

a. Das Problem der Religion

1

b. Die Eigentümlichkeit des Christentums c. Die Bewegung der Neuzeit wider das Christentum

. . . .

8 18

1. Die Wandlung der Grundrichtung

19

2. Die Wandlungen der Arbeit a. Naturwissenschaft und Religion

23 23

ß. Die geschichtliche Denkweise und die Religion y. Die Philosophie und die Religion

. . .

3. Zusammenfassung

40

d. Das Wiedererstarken der Religion e. Die Aufgabe der Gegenwart II. D i e B e g r ü n d u n g d e r u n i v e r s a l e n

27 31 43 53

Religion.

Einleitende Erwägungen

59

a. Die Verwickelung des menschlichen Lebens

04

1. Die Zweiheit im menschlichen Leben

64

2. Der Widerspruch im menschlichen Leben

71

a. Die Ohnmacht der geistigen Triebkräfte

71

ß. Das geistige Unvermögen des Menschen f . Das Dunkel des menschlichen Geisteslebens

74 . . . .

3. Vergeblicher Versuch einer Überwindung des Widerspruches

81 83

Inhaltsübersicht. Seite

b. Das Aufsteigen einer neuen Welt

91

1. Der Umriß der neuen Welt «. Die Befreiung vom kleinen Ich

93 93

ß. Die Überwindung des inneren Gegensatzes f . Der Gewinn eines geistigen Selbst

101 114

S. Entwickelungen und Ausblicke

124

2. Der ¡iberweltliche Charakter des Geisteslebens 3. Der neue Anblick des menschlichen Geisteslebens

.

.

.

c. Die Thatsache der universalen Religion 1. Die Wendung zur Religion «. Das Problem der Religion ß. Die nähere Gestaltung des Problems f . Das Wirken eines weltüberlegenen Lebens aa. Die erste Erscheinung des heuen Lebens bb. Die Gottesidee an. Die Idee des Absoluten ßß. Religion und Wissenschaft r r . Gottheit und Welt öä. Gottheit und Mensch cc. Die seelische Anknüpfung der Religion

132 138 155 155 155 156 165

. . . .

16. 172 172 182 186 192 197

i . Die Entwicklung der universalen Religion n. Die Religion bei sich selbst

200 200

aa. Der Hauptbestand bb. Die nähere Ausführung ß. Die Religion und das allgemeine Leben aa. Das Streben nach Unendlichkeit

200 206 213 213

bb. Das Verlangen nach Freiheit . . . . . . . . cc. Das Verlangen nach Ewigkeit . . dd. Die Bewegung zur Einheit und Innerlichkeit . . .

216 219 222

ee. Die Bewegung zur Moral ff: Das Verlangen nach Größe Zusammenfassung

228 231 '-37

.

. .

III. D e r W i d e r s p r u c h g e g e n d i e R e l i g i o n . ileitung n. Die Darlegung des Widerstandes 1. Der Widerstand der Natur

239 244 244

Inhaltsübersicht.

vii Seite

2. Der Widerstand der Kultur

248

3. Der Widerstand im eignen Gebiet des Geisteslebens «. Die Zersplitterung des Geisteslebens

. . 257 259

ß. Die Spaltung im Geistesleben

268

f. Die Ohnmacht der Moral 4. Die Undurchsichtigkeit der menschlichen Lage

268 . . . .

b. Die Erwägung des Widerstandes . 1. Die Unzulänglichkeit vorgeschlagener Abhülfen

273 291

. . . .

291

2. Die Unmöglichkeit einer Verneinung

203

3. Die Notwendigkeit weiterer Thatsächlichkeit

301

IV. D i e c h a r a k t e r i s t i s c h e R e l i g i o n . Einleitung

303

a. Die Weitererschließung des Geisteslebens

304

1. Die Behauptung der Religionen

304

2. Das Aufsteigen einer neuen Lebenstiefe «. Die Möglichkeit einer solchen Tiefe ß. Die ersten Andeutungen einer größeren Tiefe . . . .

320 320 322

f . Die Wendung zur Hauptthatsache

331

b. Der Inhalt der charakteristischen Religion

339

1. Einführung

339

2. Entwicklung «. Der neue Lebensprozeß

346 346

ß. Der Gedanken- und Lebenskreis der charakteristischen Religion aa. Die Gottesidee und das Verhältnis zu Gott

360 . . .

360

bb. Die religiöse Gemeinschaft

366

f . Die Bedeutung der Geschichte

371

c. Der Gesamtanblick von Religion und Leben

382

1. Das Problem des Bösen

383

2. Die positive Wirkung der Religion

385

3. Die religiöse Deutung des Lebens

387

4. Glaube und Zweifel

394

Vili

Inhaltsübersicht Seit«

V. E w i g e s und Z e i t l i c h e s im C h r i s t e n t u m

400

a. Das Ewige im Christentum

401

1. Der unverlierbare Kern

401

2. Die notwendige "Weiterbildung

405

n. Die Weiterbildung gegenüber der Natur

406

ß. Die Weiterbildung gegenüber der Geschichte und Kultur

413

f . Die Weiterbildung

gegenüber

den Wandlungen

des

Geisteslebens

418

b. Das Zeitliche im Christentum und die Notwendigkeit neuer Formen c. Die Lage und Aufgabe der Gegenwart

425 438

I. Einleitender Teil. Die weltgeschichtliche Krise der Religion. a. Das Problem der Religion. •

er sich um den Wahrheitsgehalt der Religion bemüht, der braucht nicht ihren kümmerlichen Anfängen nachzuspüren und auch nicht ihr langsames Aufklimmen zu verfolgen, er darf sich sofort auf ihre Höhe versetzen. Denn erst hier erlangt das Wahrheitsproblem eine volle Klarheit und erst hier gewinnt es eine zwingende Macht. Eine solche Höhe erreicht die Religion aber erst, wo sie aufhört ein bloßes Stück einer Volkskultur zu sein, und wo sie sich zugleich von aller bloßen Naturmythologie befreit: sie muß dem ganzen übrigen Leben selbständig entgegentreten und den Anspruch erheben, es von sich aus neu zu gestalten, neu zu gestalten dadurch, daß sie dem Menschen inmitten der Zeit ein ewiges Sein, inmitten der Welt eine Überwelt erschließt, daß sie ihm eine Offenbarung göttlichen Wollens, ja göttlichen Wesens zuführt. Wie eine solche Offenbarung unser ganzes Leben unter einen neuen Anblick stellt, so ruft sie den Menschen auf zu einer großen Entscheidung, zur größten und folgenschwersten, die sein Dasein kennt. — Eine derartige, vermeintliche Offenbarung erscheint aber nicht nur an einer, sondern an mehreren Stellen der Geschichte, und verschieden ist auch der Inhalt der „geschichtlichen", der „positiven" Religionen. Aber durch alle Mannigfaltigkeit geht dasselbe Problem, und ein entschiedenes Nein, wie ein freudiges Ja ist allen Religionen gemeinsam. EÜCKEN, Wahrheitsgehalt der Religion.

1

2

Einleitender Teil.

Nirgends kann die Religion den Affekt und die Arbeit für eine neue Welt verlangen, ohne den Menschen energisch von der alten loszureißen, ohne ihm zu verleiden und zu vergällen, was ihn bis dahin erfüllte und beglückte. Keine wahrhaftige und hinreißende Wendung zur Uberwelt ohne eine Zerwerfung mit dieser Welt, ohne ein tiefes Empfinden ihres Elends und ihrer Nichtigkeit. So stark aber wird die Verneinung erst, wenn in der Welt nicht nur dieses oder jenes, sondern wenn sie in dem Ganzen ihres Seins und ihres Aufbaus mißfällt, wenn in ihr nicht nur viel Schmerz und Leid waltet, sondern auch alles von ihr verheißene Glück unzulänglich wird, wenn nicht nur von draußen her der Mensch bedroht und bedrängt wird, sondern ihn auch der Stand seines eignen Innern ängstet und quält. Nur aus einer völligen Erschütterung des nächsten Lebens, nur aus einer Weltflucht kann ein wahrhaftiges, wesenerfüllendes Verlangen nach Religion entspringen, und nur bei solchem Verlangen kann in der Seele des Menschen Religion geboren werden. Je härter und entschiedener aber das Nein, desto kräftiger und freudiger wird das Ja, das sie ihm entgegensetzt. Als Mitteilung Gottes, der höchsten Macht und Vollkommenheit, bringt die Religion nicht bloß irgendwelche Linderung des Schmerzes, irgendwelche Erhöhung der Freude, sondern sie verheißt die gänzliche Befreiung von allem Übel, die Versetzung in ein vollendet seliges Leben. Nicht bloß eine irgendwie höhere, sondern die allerhöchste, schlechthin abschließende Welt will sie eröffnen und an ihrer Unendlichkeit und Ewigkeit dem endlichen und sterblichen Wesen Anteil geben. Ihr genügt nicht die Vervollkommnung des Menschen in seiner Menschlichkeit, sondern zur Göttlichkeit selbst soll er aufsteigen, irgendwie soll eine Einigung von göttlichem und menschlichem Wesen vollzogen werden. Indem die Religion so unermeßliche Aussichten eröffnet, ein so übermenschliches Ziel in alle Enge und Mühe des menschlichen Daseins hineinpflanzt, durch tiefsten Schmerz hindurch höchste Seligkeit verheißt, versetzt sie unser Dasein in die gewaltigsten Aufregungen, Bewegungen, Leidenschaften. Alles Streben konzentriert sich auf die eine Frage; das menschliche

3 Leben erhält eine ungeahnte Größe und Würde, indem ganze Welten in seinem Bereiche zusammentreffen und zur Entscheidung aufrufen. Nach der Stellung zu jenem beherrschenden Mittelpunkte zerlegt sich die ganze Weite des Daseins in ein Für oder Wider; die sonstige Schätzung der Güter wird nicht nur verändert, sondern umgekehrt, indem als gut nunmehr nur das gilt, was die Empfänglichkeit für das Göttliche steigert, während mit allem Glanz seiner Erscheinung zum Übel wird, was uns diese Welt wert macht und unser Herz an sie fesselt. „Wer nicht hasset seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Bruder, Schwester, auch dazu sein eigenes Leben, der kann nicht mein Jünger sein." Bei solcher Erhebung über die Welt war die Religion zugleich die stärkste Macht innerhalb der Welt. Nichts hat die Menschen so eng verbunden, aber auch nichts sie so schroff entzweit wie die Religion; nichts hat die Individuen so in sich selbst vertieft, nichts den eigentümlichen Charakter der Völker so zwingend hervorgetrieben als die Überzeugungen von göttlichen Dingen. Was immer das Leben an Heroischem enthält, das hat seine tiefsten Wurzeln in der Religion; ihren eigentümlichen Heroismus aber entwickelt die Religion namentlich gegenüber dem Leiden, in dem willigen, ja freudigen Leiden für die Sache Gottes. Nichts konnte den Menschen bis zur letzten Tiefe erregen, nichts seine volle Hingebung gewinnen, was nicht an seine Religion anknüpft oder bei sich selbst zu einer Art Religion wird. Ja es scheint aller Glaube der Menschheit und des Menschen an sich selbst, alle Würde und Größe unabtrennbar von einem Glauben an das Innewohnen eines Göttlichen in seinem Wesen, an die Gegenwart ewiger und übernatürlicher Kräfte in seinem Wirken. Wen daher einmal das religiöse Problem in der Tiefe seiner Seele gepackt hat, den läßt es nicht wieder los; er mag es zurückdrängen, abschütteln, in weiteste Ferne verbannen, er kann nicht umhin, an die Verneinung den stärksten Affekt zu setzen, die Entscheidung jener Frage für die allerwichtigste zu erachten; der Unglaube selbst wird ihm eine Sache des Glaubens. Sö erweist sich in Wahrheit als die stärkste Macht innerhalb der Welt die Überzeugung von der Überwelt. 1*

4

Einleitender Teil.

Aber zugleich war die Religion ein Zeichen, dem stets hart und leidenschaftlich widersprochen wurde. Und zwar nicht nur von außen her, sondern auch aus dem tiefsten Ernst ringender Seelen. Immer von neuem erhob sich die Frage, ob denn eine Mitteilung des Göttlichen an den Menschen, eine Erhebung des Menschen zu göttlichem Leben irgendwie möglich sei, ob nicht alle Behauptung dessen beim Versuch der Durchführung bald scheitern müsse. Muß nicht alles, was zum Menschen wirken will, menschliche Art annehmen, in seine Begriffe eingehen, sich seinen Interessen empfehlen? Wird es aber damit nicht herabgezogen in alle Enge und Trübe des irdischen Kreises und allen Schranken unseres Wesens unterworfen? Oft geriet das Göttliche sogar in den Dienst kleinmenschlicher Absichten, die Starken der Welt rissen es an sich und erniedrigten es zum Mittel ihrer Zwecke. Die Religion verhieß dem Menschen ein neues Leben, ein reines Herz, aber hat sie nicht oft nur tiefer in die Interessen des natürlichen Lebens verstrickt und Haß und Neid, Eitelkeit und Heuchelei der Menschen noch raffinierter gemacht? Auch die große Welt entspricht nicht dem Bilde des religiösen Glaubens. Könnte sie sich so gleichgültig verhalten gegen das in ihr aufstrebende geistige Leben, könnte sie der Unvernunft und der Ungerechtigkeit so breiten Raum gewähren, stünde sie unter der Obhut einer allmächtigen Vernunft und einer unendlichen Liebe? So greift der Zweifel um sich wie ein verzehrendes Feuer, er leckt nicht nur von außen an der Religion, er findet den Weg auch in ihr Allerheiligstes und erzeugt eine quälende Unsicherheit; gerade tief von der Sehnsucht nach dem Göttlichen ergriffene Gemüter empfanden den Widerspruch des Augenscheins besonders schmerzlich und konnten in den üblichen Beschwichtigungen keinen Trost finden; ja selbst unter den leitenden Geistern der Religion wurden manche von höchster Höhe des Schaffens immer wieder zurückgeschleudert in die tiefsten Abgründe des Zweifels. Ein Starrwerden des Zweifels verwandelt aber mit Einem Schlage den Gesamtanblick: der freudige Aufechwung ist gehemmt, die aufstrebende Kraft gelähmt; was eben noch selbstverständlich dünkte, wird jetzt unmöglich; die Uberwelt, dem Gläubigen das Allergewisseste und Aller-

5 vertrauteste, weicht zurück in eine unzugängliche Ferne, ja sie verflüchtigt sich zu einer leeren Illusion. Die Religion erscheint dann als ein grandioser Irrtum des Menschengeistes, der bloße Spiegelbilder des eignen Seins in das große All hineinwirft und von solchen Spiegelbildern die Erfüllung aller Wünsche erhofft, welche ihm die rauhe Wirklichkeit versagt. Ein solches Sichsonnen und -wonnen in erträumten Idolen wäre dazu kein harmloses Spiel. Denn es würde an nichtigen Schein die Kräfte und Empfindungen vergeuden, derer die wahren Aufgaben des Lebens aufs Dringendste bedürfen, es würde unser Dasein zerspalten, es würde den Sinn der ganzen Wirklichkeit verfälschen. Von solcher Fälschung, Spaltung, Schwächung unser Dasein zu befreien, müßte dann als eine besonders wichtige Angelegenheit gelten, und der Kampf gegen die Religion würde die heiligste aller Pflichten. So ist hier alle Yermittelung ausgeschlossen: ist die Religion nicht die höchste und fruchtbarste aller Wahrheiten, so ist sie die schwerste und verderblichste aller Irrungen, ist sie nicht das Werk Gottes, so ist sie ein Kind der Lüge und Finsternis. Wie nun bei diesem kritischen Punkt, an dem die Richtung des ganzen Lebens hängt, zu einer sicheren Entscheidung gelangen, wie dem unerträglichen Schwanken zwischen Glauben und Zweifel entrinnen? Die geschichtlichen Religionen haben diese Frage in ihrer Weise beantwortet, sie haben sie beantwortet nicht durch spekulative Theorien, sondern durch das Thatsächliche ihrer Leistung; sie haben nicht weitläufig darüber reflektiert und diskutiert, wie göttliche Herrlichkeit in die menschliche Welt eingehen könne, sondern sie haben die Möglichkeit des Unmöglichen durch den Aufweis der Wirklichkeit zu erhärten unternommen. In den begründenden Persönlichkeiten sowohl als in den religiösen Gemeinschaften schien das Wunderbare anschauliche Gegenwart geworden, die Idee zu Fleisch und Blut verkörpert: im Besitz so überzeugender Thatsächlichkeit fühlten sich die Religionen aller Unsicherheit überhoben und gegen allen Zweifel gepanzert. Leider war aber die Sache nicht so einfach, wie sie sich den Gläubigen darstellte; vielmehr ward, was den Zweifel niederschlagen sollte, selbst ein Quell neuen Zweifels. Es ist eine Thatsache geschichtlicher Art, woran sich

6

Einleitender Teil.

Glauben und Leben befestigen sollen. Eine solche Thatsache ist nicht möglich ohne eine unterscheidende Besonderheit; je individueller sie sich ausprägt, mit desto größerer Kraft wird sie wirken. Aber als eine Grundlage religiöser Wahrheit muß dieselbe Thatsache zugleich von bleibender und allgömeiner Gültigkeit sein, ja sie muß sich klar und sicher über alles andere Dasein hinausheben und es unter sich bringen. Liegt darin nicht ein Widerspruch? Enthält alle Individualität nicht auch eine Partikularität, und muß die Festlegung und alleinige Verehrung dieses Partikularen nicht vieles Berechtigte und Unentbehrliche ausschließen, wird sie das menschliche Leben nicht in einen zu engen Rahmen pressen, ihm nicht auch die Möglichkeit einer Weiterentwickelung rauben? Solche Verengung würde aber einen geistigen Druck bewirken, den früher oder später die Menschheit mit unwiderstehlicher Kraft' abschütteln müßte. Erklärt sich hingegen die Religion bereit, ihre Thatsachen mit den anderen geschichtlichen Daten in Eine Linie zu stellen und alle Wandlungen des Lebens zu teilen, wo bleibt dann die Göttlichkeit, wo das Vermögen aus dem Wandel der Zeit in eine ewige Ordnung zu erheben? Daß hier in Wahrheit schwere Verwickelungen entstehen, bestätigt der rascheste Blick auf die Geschichte der Religionen. Jede geschichtliche Religion entnimmt ihrer Umgebung eigentümliche Uberzeugungen von der Welt, eigentümliche Schätzungen vom Leben. Die Besonderheit dessen pflegt sich dem Anhänger zu verbergen, der Fremde bemerkt sie sofort und empfindet zugleich eine Grenze. So ruht z. B. in Indien alles religiöse Schaffen auf einem starken Gefühl der Flüchtigkeit und Nichtigkeit alles Daseins, auf der Uberzeugung von dem Walten einer moralischen Kausalität, welche jeder Handlung entsprechende Folgen giebt, auf der Annahme endlich der Seelenwanderung als eines Grundgesetzes für alle „atmenden" Wesen. Das zusammen erzeugt große Fragen, und diese Fragen weisen auch der Antwort ihre Richtung; kann die Antwort befriedigen, wo die Fragen nicht geteilt werden? Den Mittelpunkt der geschichtlichen Religionen' bildet das Leben und Wirken der begründenden Persönlichkeiten. Nichts giebt der Gegenwart einer Überwelt in unserem Kreise eine

Das Problem der Religion.

1

überzeugendere Kraft als die sichere Festigkeit, mit der solche Persönlichkeiten im Göttlichen wurzeln, ihr gänzliches Erfülltsein von dieser einen Beziehung, die schlichte Einfalt und die anschauliche Nähe, welche die geheimnisvolle Tiefe in ihnen erlangt hat. Die Gemüter gewinnen und die Gedanken beherrschen hätten sie nun und nimmer gekonnt ohne eine mächtige Phantasie, welche dem Eeich des Unsichtbaren sichtbare Gestalten abzuringen und alle Mannigfaltigkeit in ein zusammenhängendes Reich zu verbinden verstand. Nichts schien weiter hinaus über alles menschliche Vermögen, und nichts unterwarf mit zwingenderer Kraft die Geister, als der unauflösliche Zusammenhang und die eindringliche Vorhaltung einer solchen Gedankenwelt. Aber dies alles ist eben in dem, worin es groß ist, zugleich individuell und unterscheidend; so hat auch das religiöse Leben,, das von dort ausströmt, einen durchaus individuellen Charakter; grundverschieden hat Jesus, hat Buddha, hat Muhamed auf die Menschheit gewirkt. Wird nun die besondere Art des einen allen Völkern und allen Zeiten zusagen, schließt sie nicht manches aus, was die Menschheit nicht aufgeben kann, nicht aufgeben darf? Und müssen damit nicht unerträgliche Verengungen, härteste Konflikte entstehen? Auch die Gestaltung der Religion zu einer Weltmacht auf dem Boden der Geschichte kann sich nicht der Besonderheit vergänglicher Lagen entziehen. Jene Machtentfaltung verlangt vor allem ein durchgebildetes Gedankenreich, für den Aufbau eines solchen kann nur die umgebende Kultur die Mittel bieten, und wenn bei diesem Werke die Kultur nur zu dienen scheint, so wirkt sie in Wahrheit zugleich stark auf die Religion zurück. Jene Kultur aber war die besonderer Völker und Zeiten, früher oder später wird das Ganze der Menschheit über sie hinausgehen; hat nun die Religion sich mit ihr untrennbar verkettet, so wird aus dem Bruch mit der alten Kultur notwendig auch eine Entzweiung mit der überkommenen Religion. So erwachsen Zweifel über Zweifel. Das Ewige scheint der Macht der Zeit zu verfallen, sobald es den Boden der Zeit betritt; besteht es aber auch hier auf seiner Unwandelbarkeit, so scheint es alle Bewegung zu hemmen und selbst die

8

Einleitender Teil.

Möglichkeit einer Geschichte aufzuheben. Aber die Geschichte ist da und erzeugt unermüdlich Neues, ein unzerstörbarer Lebensdrang der Menschheit verwirft jenen aufgezwungenen Stillstand. Und von hier aus will es leicht scheinen, als sei jene Thatsächlichkeit der geschichtlichen Religionen gar nicht göttlichen und ewigen Ursprungs, sondern sie sei nur die Festlegung einer besonderen menschlichen und zeitlichen Leistung, ein unberechtigtes Sichhinausheben aus dem Strom der Entwickelung, eine Bindung des gesamten Laufes der Geschichte an einen einzelnen Punkt. Das Durchschauen einer solchen Usurpation wäre zugleich ein Aufruf zu mannhaftem Widerstande im Interesse von Freiheit und Wahrheit. So wird das geschichtliche Element, das die Religion stützen sollte, zu einer schweren Belastung; die Zweifel gegen die Realität des Göttlichen scheinen von hier aus nur noch verstärkt. Gleich den Eingang zur Religion versperrt daher die Frage nach der Wahrheit oder Unwahrheit des Ganzen; je mehr wir darüber grübeln und uns zergrübeln, desto weiter scheint alle sichere Antwort zurückzuweichen. „Gott ist das Leichteste und Schwerste, so zu erkennen; das Erste und Leichteste in dem Lichtweg, das Schwerste und Letzte in dem Weg des Schattens" (LEIBNIZ).

b. Die E i g e n t ü m l i c h k e i t des Christentums. Das allgemeine Problem der Religion wächst mächtig an Kraft und Anschaulichkeit mit der Wendung zum Christentum. Dem Christentum muß auch, wer es nicht vom Standpunkt des Gläubigen, sondern des Forschers betrachtet, eine überragende Größe zuerkennen. Zunächst gehört es in die höhere der beiden Gruppen, in welche die geschichtlichen Religionen zerfallen. Sie sind nämlich entweder Gesetzesreligionen oder Erlösungsreligionen. Jenen ist der Kern der Religion die Verkündigung und Verfechtung einer sittlichen Ordnung, welche aus übeclegener Höhe die Welt beherrscht. Aus heiligem Willen ergeht an uns ein strenges Gesetz für das ganze Leben, für Werke, Worte, Gedanken; ein großer Lohn winkt seiner Er-

Die Eigentümlichkeit des Christentums.

9

füllung, eine schwere Strafe seiner Übertretung, wenn nicht in dieser, so in jener Welt. So wird das Leben in seiner ganzen Ausdehnung fest an eine übersinnliche Welt gekettet und zu stündlicher Arbeit, zu unablässiger Entscheidung für oder wider Gott angehalten. Ein solcher Aufruf wäre unmöglich ohne die Uberzeugung, daß der Mensch aus eigner Kraft die Wahl zu vollziehen vermag, daß sein Wille stark genug ist, dtm Guten zu folgen. Diese Uberzeugung aber erklären die Erlösungsreligionen für viel zu optimistisch, ja verkehrt; sie finden in dem, was dort selbstverständlich dünkte, das schwerste aller Probleme, die wichtigste Frage und Sorge. Ihnen gilt der Mensch als von Grund aus unfähig zum Guten, und zugleich scheint diese nächste Welt durchaus verfehlt; so verlangen sie eine völlige Umwälzung und Erneuerung, die alte Welt muß versinken, ein neuer Mensch geboren werden, dann erst läßt sich auch unser Thun für das Gute gewinnen. Damit erwachen unermeßliche Verwickelungen und die ganze Schwere der Weltprobleme fällt unmittelbar auf die Seele des Menschen. Aber der Verwickelung entspricht eine Vertiefung, das Leben wird unvergleichlich stärker erregt, erschüttert, umgewandelt; schon das bloße Aufwerfen der Frage macht aus den Gesetzesreligionen, bei allen Vorzügen ihrer größeren Einfachheit, Durchsichtigkeit, Rationalität, eine niedere Stufe; diese mag äußerlich noch so viel Raum behaupten und sich weit kulturfreundlicher geberden, innerlich ist sie von der weltgeschichtlichen Bewegung gerichtet und überwunden. Bei den Erlösungsreligionen aber scheidet sich ein indischer und ein christlicher Typus. Wie beide das Böse von verschiedenen Ursprüngen ableiten, so suchen sie auch die Heilung in verschiedener Richtung. Die indischen Religionen sehen in dem Dasein der Welt überhaupt ein Übel, mit ihrer ganzen natürlichen Beschaffenheit erscheint sie als ein Reich des Bösen. Denn mit allem, was sie enthält, ist sie flüchtig und nichtig, nichts in ihr vermag sich bleibend zu behaupten, Glück und Liebe dauern einen bloßen Augenblick, auch die innigsten Verbindungen der Menschen gleichen flüchtigen Begegnungen von Holzsplittern im unermeßlichen Ozean. Fruchtloser Aufregung und unaufhörlicher Täuschung ist daher verfallen, wer solchem

10

Einleitender Teil.

flüchtigen Schein eine Wirklichkeit beimißt, und an ihm sein Glücksverlangen stillen will. So gilt es eine Befreiung von diesem unseligen Wahn; sie wird erfolgen, wenn wir mit ganzer Kraft unserer Seele den Schein als Schein durchschauen. Denn damit verliert er seine Macht über uns, es versinkt das ganze Reich der Täuschung mit seinen gleißenden Gütern, es erlischt aller ihm zugewandte Affekt, und das Leben wird eine stille, heilige Ruhe, der Stand eines traumlosen Schlafes, sei es durch das Eingehen in das ewige Sein hinter dem Schein, wie in der brahmanischen Spekulation, sei es durch die Auflösung in ein völliges Nichts, wie im strengen Buddhismus. Hier wie da eröffnet sich kein neues Leben mit neuen Gütern, hier wie da liegt die erlösende Kraft im Intellekt und vollziehen die Entscheidung die einzelnen Individuen; die Führer können ihnen nur den rechten Weg zeigen, nicht die Arbeit abnehmen. Weltentsagende Weisheit, ruhige Sammlung des Gemütes, voller Gleichmut gegen alle Schicksale, darin liegt hier das Ziel des Lebens. „Wenn ich weiß, daß mein eigner Leib nicht mein ist, und daß doch die ganze Erde mein ist, und wiederum, daß sie beides mein und dein ist, dann kann kein Leid geschehen." Welch anderen Geist atmet das Christentum! Auch das Christentum findet die Welt voll Leid und Elend, und in seinem Aufstreben wie an seinen Höhepunkten gleitet es darüber nicht so rasch hinweg wie das zahme und bequeme Durchschnittschristentum des Alltages. Aber wie es die Wurzel des Elends nicht in einer unwandelbaren Natur der Dinge findet, so kann es auch nicht die Welt schlechthin verwerfen. Ihr Grundbestand erscheint vielmehr als ein vollkommenes Werk göttlicher Weisheit und Güte. Aber dieser Grundbestand ist entstellt und verdorben durch moralische Schuld: eine freie That, der Abfall vernünftiger Wesen, hat schweres Elend, hat Tod und Verderben in die Welt gebracht. So tief geht dies Elend und so sehr lähmt es die Kraft der Wesen, daß die Welt aus eignem Vermögen sich nun und nimmer zum Guten zurückfinden kann. So muß Gott selbst zur Hilfe kommen, er thut es, indem er dem moralischen Fall eine moralische Erneuerung entgegensetzt, er thut es durch die Eröffnung eines Reiches der Liebe und Gnade, welches das Gesetz in die innerste Gesinnung auf-

Die Eigentümlichkeit des Christentums.

11

nimmt und zugleich in überschwenglicher Weise erfüllt Durch dieses unmittelbar gegenwärtige Reich Gottes gewinnt der Mensch jenseit aller Beziehungen zur Welt ein neues Leben, ja ein neues Wesen; über alles Leid und alle Schuld sieht er sich hinausgehoben zur göttlichen Seligkeit und Vollkommenheit. So ersteht hier aus aller Erschütterung und Vernichtung ein neuer, reinerer Lebensdrang; das Verhältnis zu Gott giebt dem Menschen wie der Menschheit wieder einen unvergleichlichen Wert; es versinkt unser Kreis nicht nach indischer Art in den Abgrund der Ewigkeit, sondern er erhält durch die notwendige Entscheidung für oder wider Gott eine große Aufgabe und durch den ihm zugewiesenen Aufbau eines Reiches Gottes auf Erden eine große Geschichte; aus Wirkung und Gegenwirkung von Gutem und Bösem ergiebt sich ein weltumspannendes Drama, voll schwerster Verwickelungen und dunkler Rätsel, aber auch voll unergründlicher Tiefen und unermeßlicher Hoffnungen. Indem dies christliche Leben eine Weltverneinung und eine Welterneuerung mit einander verflicht, indem es durch tiefsten Schmerz zu seliger Vollendung aufsteigt, zugleich aber für die menschliche Lage auch inmitten der Rettung das Bewußtsein von Schuld und Leid festhält, entwickelt es eine den anderen Religionen unbekannte Weite der Empfindung und gewinnt es eine unablässige innere Bewegung. Nichts liegt dem Christentum ferner als ein Abschwächen und Ausreden des Schmerzes; wozu bedürfte es einer Erlösung, wenn das Leid nicht mit überlegener Schwere auf uns lastete? Aber alles Leid kann hier den Menschen nicht bezwingen und zur Verzweiflung treiben, wird er doch durch göttliche Liebe in eine neue Welt gehoben, der alle feindliche Macht nichts anhaben kann. Diese Welt ist jedoch immer neu dem Reich des Dunkels abzuringen, und auch in die Seligkeit hinein klingt ein tiefer Schmerz, sie behütend vor aller trägen Ruhe und allem schwelgenden Genießen. Die Sache liegt für den Menschen so, daß in einer Sphäre des Glaubens und Hoffens schon als sicherer Besitz ergriffen wird, was dem übrigen Leben erst als fernes Ziel vorschwebt. So wird das menschliche Dasein zugleich ein Haben und Entbehren, ein Ruhen und Streben, Freude und Schmerz, Gewißheit und Zweifel. Diese Zweiseitigkeit giebt dem christ-

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Einleitender Teil.

liehen Leben unvergleichlich mehr innere Bewegung und innere Weite, als sie die übrigen Religionen besitzen. Auch insofern ist jenes Leben besonders reich, als es zwei Stufen in sich schließt: innerhalb des gesamten Christentums wirken vereint der Glaube Jesu selbst und der Glaube der Gemeinde an Jesus Christus. Dort die Verkündigung des Reiches Gottes auf Erden, dieses Reiches der Liebe und des Friedens, die Begründung einer neuen Welt in der reinen Innerlichkeit des Gemütes, ein Vertrauen auf das in Gott gegründete Menschenwesen, ein Einladen Aller zur Teilnahme an dem großen Werke. Jugendfrisches Empfinden, hilfsbereites Thun, weltüberwindende Liebe werden von hier aus die Träger der eigentümlich christlichen Ethik. Der Glaube an Christus dagegen beginnt mit einem dunkleren Bilde vom Leben und einer geringeren Schätzung des menschlichen Vermögens. Das Böse ist hier bis zur Lust an der Zerstörung, zur teuflischen Auflehnung gesteigert; so muß auch die Gegenwirkung wachsen, und es wird ihre Seele das sühnende und erlösende Leiden, das Eintreten des Gottmenschen für die selbst zur Rettung unfähige Menschheit. Damit wird das Leid in die Gottheit selbst aufgenommen, der Mensch ganz und gar auf ein Wunder unverdienter Gnade angewiesen, das Verhältnis von Gott und Mensch noch inniger gestaltet und das göttliche Leben noch tiefer der Geschichte eingesenkt. Hier entfaltet der religiöse Charakter des Christentums seine volle Kraft, und die Liebe muß hier dem Glauben den Vorrang lassen. Das Zusammentreffen dieser beiden Stufen ergiebt schwere Verwickelungen, aber ihr Miteinander bildet auch eine besondere Stärke des Christentums. Denn so ist nicht nur von Gott her ein neues Leben entwickelt, sondern es wird dieses Leben auch in den Zusammenstoß mit der feindlichen Welt begleitet und dadurch zu noch weiterer Erschließung, zu noch siegreicherer Bewährung getrieben. So hat das Christentum die Gegensätze und die Erfahrungen des Lebens in einem weiteren Umfange in sich aufgenommeu und sie kräftiger verarbeitet, als irgend eine andere Religion; es übertrifft zugleich sie alle durch die Fülle seiner Angriffspunkte, sowie durch eine fortlaufende innere Bewegung und das Vermögen einer unablässigen Weiterbildung.

Die Eigentümlichkeit des Christentums.

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Daß sich aber alles so miteinander entwickeln kann, und daß alles Mühen und Streben sich immer wieder zu einer sicheren Thatsächlichkeit zurückfindet, das gewährt dem Christentum die überragende und beherrschende Persönlichkeit Jesu. Es ist kaum möglich, den tiefen Eindruck, mit dem diese Persönlichkeit jedes unbefangene Gemüt ergreift, einigermaßen in Begriffe umzusetzen. Diese Gestalt erhält ein volles Licht nur aus den geschichtlichen Zusammenhängen und ihr Vorstellungskreis ist eng verwachsen mit der Besonderheit eines einzelnen Volkes und seiner damaligen Lage; aber alle Besonderheit hindert nicht das kräftigste Durchscheinen einer allgemeinmenschlichen Art, die mit unversieglicher Kraft zu allen Völkern und Zeiten wirkt. Eigentümlich ist eine große Einfachheit und Schlichtheit, aber die Einfachheit selbst erweckt hier die Empfindung einer unergründlichen Tiefe, eines großen-Geheimnisses. Bei äußerer Niedrigkeit erscheint eine überwältigende innere Hoheit, bei herzlicher Freude an allem Guten und Schönen der Welt die tiefste Empfindung des Schmerzes, bei weichstem Gefühl die männlichste Thatkraft, welche den Kampf gegen eine widerstrebende Welt mutig aufnimmt und tapfer besteht. Alle Mannigfaltigkeit der Lebensentfaltung wird getragen und beseelt durch das eine Grundgefühl der völligen Gemeinschaft mit dem himmlischen Vater; die belebende Kraft dieses Gefühles ist es vornehmlich, welche allen Äußerungen zugleich eine wunderbare Innigkeit und durchsichtige Klarheit verleiht. Dazu das ergreifende Schicksal dieser Persönlichkeit, das wir weniger in dem blutigen Tode finden als in der großen Einsamkeit, dem Mangel irgendwelches tieferen Verständnisses das ganze Leben hindurch. Aber die unsagbare Wehmut, die über dem Ganzen liegt, wird überwogen durch einen Heroismus neuer Art, der das Leid von innen her überwindet, und dessen Siegeskraft den sichersten Thatbeweis für die Wirklichkeit der neuen, dem Christentum eigentümlichen Welt erbringt. Mehr als bei irgend einer anderen Religion verschmilzt hier das Ganze der Gedankenwelt mit der begründenden Persönlichkeit; in dieser Persönlichkeit ist eine zwingende Hinaushebung über die nächste Ordnung der Dinge vollzogen, zugleich aber ist durch sie ein schroffer Riß und mit ihm die Notwendigkeit einer großen Ent-

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Scheidung in das Dasein der Menschheit gekommen. Der unermeßliche Ernst, der von dem Wirken und Leiden Jesu ausgeht, verwandelt alles naive Auskosten der Freuden dieser Welt in Frivolität und alle Beruhigung bei dieser, wenn auch noch so ausgeschmückten und veredelten Welt in eine unerträgliche Flachheit. So wird von Jesus an nicht nur ein neuer Abschnitt der Weltgeschichte gerechnet, es ist durch ihn in Wahrheit die größte Umwandlung des menschlichen Daseins vollzogen. Endlich sei auch der Vorzüge gedacht, welche die Geschichte des Christentums und die Entfaltung einer christlichen Welt aufweist. Jüdischem Boden entsprossen, fand das Christentum seine Durchbildung vornehmlich bei den Griechen und Römern; hätte es ohne solche Verpflanzung leicht eine jüdische Sekte bleiben können, so ward ihm durch sie rasch die Enge einer nationalen Art abgestreift und eine universale Wirkung eröffnet. Die Verbindung mit jenen Völkern ward für das Christentum namentlich dadurch bedeutsam, daß hier zweierlei zu seinen Gunsten zusammenwirkte. Einmal begegnete die aufstrebende Religion einer großen und ausgereiften Kultur: ihr Wirken zur ethischen Erneuerung der Menschheit fand die wertvollste Ergänzung in dem Erkenntnisdrang und dem Schönheitssinn der Griechen, in der Willensenergie und dem Organisationsvermögen der Römer. Zugleich aber fand sie in der damaligen Menschheit trotz alles reichen Kulturbesitzes eine entgegenkommende Stimmung. Denn die Herrlichkeit des alten Lebens hatte sich erschöpft und der Anbruch des Abends verriet sich in immer tieferen Schatten; namentlich seit Beginn des dritten Jahrhunderts unterdrückte ein tiefes Gefühl der Ermattung alles freudige Streben und erweckte zugleich bei minder entsagenden Naturen ein leidenschaftliches Verlangen nach übermenschlicher Hilfe. Indem das Christentum diesem Verlangen entgegenkam, konnte seine Weltverneinung, sein Streben nach einer neuen Welt in den Gemütern die vollste subjektive Wahrheit erlangen. So entwickelte es sich zu einer weltumfassenden Organisation, zur Kirche, die dem unsichtbaren Gottesreich eine unmittelbare Gegenwart verlieh; es entstand ein großes, durchaus von der Religion beherrschtes Lebens- und Kultursystem,

Die Eigentümlichkeit des Christentums.

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das die geistige Leitung der Menschheit zuversichtlich an sich nahm. In Wahrheit wurde die christliche Kirche der Halt des versinkenden Altertums und die Erzieherin neu aufstrebender Völker; durch alle Wandlungen der Zeiten, inmitten der härtesten Anfechtungen und trotz aller inneren Spaltungen bleibt sie die gewaltigste geistige Macht des geschichtlichen Lebens. So bildet das Christentum mit dem Ganzen seines Wirkens und Seins die Religion der Religionen. Aber zugleich enthält es weit mehr Probleme, gerät es in mehr Kampf nach außen und in mehr Zwist bei sich selbst, hat es eine irrationalere Art als alle übrigen Religionen. Das lassen alle Hauptpunkte deutlich erkennen. Das Christentum entwickelt aus dem Verhältnis von Persönlichkeit zu Persönlichkeit eine neue Welt und macht diese zum Kern aller Wirklichkeit. Die seelische Tiefe dieser Welt ist unbestreitbar, aber wird sie nicht zu eng für den Reichtum des Daseins, kann sie auch nur alle Seiten des ethischen Lebens umspannen? Ja, droht nicht immer die Gefahr, daß das hier eröffnete Reich der Liebe und des Friedens, bei Ablösung von der übrigen Welt, eine Sache bloßer Stimmung werde und gegen die harte Realität der Weltmächte nicht genügend aufkomme? — Im Christentum wird der Mensch durch die Wesensgemeinschaft mit Gott besonders hoch gehoben, höher als in irgend einer anderen Religion. Aber bringt die Vergöttlichung des Menschen nicht eine Vermenschlichung des Göttlichen mit sich, hat nicht eine anthropomorphe Fassung der höchsten Dinge im Christentum besonders weit um sich gegriffen? — Keine Religion ist so eng wie das Christentum mit der Geschichte verflochten, keine hat daher auch so schwer an dem Problem zu tragen, wie historische Vorgänge mit ihrer Individualität zugleich ewig und allgemeingültig sein können. — Keine Religion umfaßt so große Gegensätze und so verschiedene Stufen, keine hat daher um die Einheit ihres Charakters so hart zu kämpfen, keine ist so sehr der Gefahr ausgesetzt, daß sich die einzelnen Seiten gegen einander isolieren und verfehlte Bildungen erzeugen. Bald wurde der Bruch mit der Welt nicht entschieden genug vollzogen und nicht kräftig genug festgehalten; dann blieb der

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Einleitender Teil.

natürliche Lebenstrieb ungebrochen und es gab bequeme Kompromisse mit allen weltlichen Interessen; bald aber entstand eine starre Weltverneinung, welche alle Arbeit an der Wirklichkeit stocken ließ und in ihren äußersten Konsequenzen selbst das Gemüt mit eisiger Leere bedrohte. Auch die beiden Stufen fanden sich nicht leicht glücklich zusammen; bei einer Spaltung aber drohte einerseits eine Verkennung der übernatürlichen Grundlagen der Religion und eine Überschätzung der bloßen Moral, auf der anderen aber eine trübselige Verfinsterung des Lebens und eine Erdrückung aller eigenen Thätigkeit des Menschen. So hat das Christentum fortwährend seine eigene Einheit schweren Verwickelungen abzuringen. Am meisten Sorge und Streit aber brachte die religiöse Fassung der begründenden Persönlichkeit Jesu. Bei ihrer einzigartigen Stellung konnte es dem Christentum nicht genügen, mit Jesus zu glauben, es bedurfte auch eines Glaubens an Jesus Christus. Und dieser Glaube mußte zum Ausdruck bringen, daß in dem Erlöser Gott nicht nur mit einzelnen Erweisungen und Kräften, sondern mit der ganzen Tiefe seines Wesens gegenwärtig sei, daß in seiner Person sich Göttliches und Menschliches zu untrennbarer Einheit verbinden. Insofern ist die Überzeugung von der göttlichen Natur Christi dem Christentum unentbehrlich, es kämpft an dieser Stelle um nichts Geringeres als um seine absolute Wahrheit und seine bleibende Geltung. Aber wie läßt sich jene Einigung irgend denkbar machen, und ist nicht die kirchliche Lehre von der Gottheit Christi als der zweiten Person der Dreieinigkeit schon deshalb wenig glücklich, weil sie eine unerläßliche Wahrheit der Religion mit metaphysischen Spekulationen verquickt und dabei die Vorstellungsweise eines besonderen Zeitalters festlegt, die späteren Geschlechtern mythologisch zu werden droht. Auch in der Geschichte des Christentums entsprachen den dargelegten Vorteilen große Gefahren und Verwickelungen. Der antike Lebenskreis, den das Christentum seiner Gedankenwelt einverleiben wollte, war ihm viel fremder und feindlicher als den ersten Jahrhunderten zum Bewußtsein kam, die ihn durch das Medium einer tiefreligiösen Stimmung betrachteten. Denn die alte Kultur wird getragen von einem kräftigen Glauben an

D i e Eigentümlichkeit des Christentums.

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eine Vernunft der Welt, und es ist die Arbeit in der Welt, wofür sie die ganze Kraft des Menschen aufbietet. Verstrickt ferner nicht das Griechentum mit seiner Gleichsetzung von Geist und Intellekt das Christentum in einen Intellektualismus, der seiner innersten Art widerspricht, und ist seine Formenfreude, sein Drängen nach anschaulicher Darstellung und künstlerischer Gestaltung so leicht vereinbar mit jener Herrschaft der reinen Gesinnung, welche das Christentum verkündet? Auch die römische Art mit ihrem Begehren weltlicher Macht, ihrem Voranstellen der Organisation, ihrer juridischen Behandlung aller Verhältnisse paßt wenig zu dem Gottesreich der Liebe und des Friedens. Zur Überwindung solcher Widersprüche hätte es einer gigantischen Kraft bedurft, die jene müde und matte Zeit nicht besaß; so entstand die Gefahr, daß das Fremde das Christentum, wenn nicht überwältigte, so doch weit von seiner Bahn ablenkte. Auch sonst war jene Müdigkeit ein großer Mißstand für eine in der Bildung begriffene und zur Weltherrschaft aufstrebende Religion. Denn es kam damit ein Mehltau des Greisenalters gleich in ihre Anfänge; das Freudige, Mutige, Mannhafte, worauf eine zur Universalität berufene Religion nicht verzichten darf, erhielt hier nur eine verkümmerte Gestalt, die passive Seite der Religion überwog weit die aktive. Nach verschiedenen Richtungen erhielt hier die christliche Welt eine Gestalt, welche keineswegs aus dem Wesen des Christentums notwendig folgt, und welche, als das Erzeugnis einer besonderen Zeit, unmöglich alle Zeiten binden kann. Die religiöse Empfindung jener kraftlosen und hyperraffinierten Zeit stand vornehmlich unter dem Bewußtsein der Verderbnis und der Hilflosigkeit des Menschen, sie suchte vor allem Rettung und Ruhe, sie wollte völlige Entlastung von eigner Verantwortung. Aus solcher Stimmung glaubte man das Göttliche'um so höher zu ehren, je tiefer man den Menschen herabsetzte, je mehr man ihm alles eigne Vermögen nahm; zugleich suchte man zur Beschwichtigung des Zweifels möglichst handfeste Daten, brachte dem Mirakulösen, dem Magischen den bereitesten Sinn entgegen und ließ ohne eine sinnliche Verkörperung nichts als wirklich gelten. Solche Bestrebungen hat namentlich AUGUSTIN in ein großes EDCKEN , Wahrheitsgehalt der Religion.

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System gebracht; jene schroffe Entgegensetzung von Göttlichem und Menschlichem und jene Bindung des Geistigen an das Sinnliche, des unsichtbaren Gottesreiches an die sichtbare Kirche, sie wirken aus seiner Gedankenwelt fort auf die Jahrhunderte und Jahrtausende. Zugleich aber ergab sich ein eigentümliches Verhältnis von Religion und Kultur. Jene besaß den ganzen Affekt des Menschen; diese konnte um so weniger die Kräfte bewegen, als sie mit der Leistung des Altertums als fertig und abgeschlossen galt. So fand sie nur so weit Anerkennung, als sie sich der Religion unterwarf und in den Dienst ihrer Zwecke stellte; es erwuchs ein spezifisch religiöses, ja kirchliches Lebenssystem, das, mit seiner energischen Konzentration alles Strebens, in der Sintflut jener Epoche der Menschheit eine schützende Arche bot, das aber eine geistige Verengung enthielt, welche lebensfroheren und selbständigeren Zeiten unerträglich werden mußte. So konnte jene erste Gestaltung des Christentums für die Dauer nicht ohne Anfechtung bleiben. Die erste Gegenbewegung großen Stiles erfolgte auf dem eignen Boden der Religion: in der Reformation. Ein Teil der römischen und griechischen Einflüsse wird hier ausgeschieden, die Bindung des Geistigen an das Sinnliche teils aufgehoben, teils gemildert, Religion und Kultur erhalten mehr Selbständigkeit gegeneinander. Teilweise ist das ein Zurückgreifen auf das Christentum vor jener mittelalterlichen Gestaltung, andererseits aber bildet es einen Ausfluß moderner Denkweise. Bei aller Größe der Leistung bleibt das Ganze in einem unfertigen Stande und kann nicht verhindern, daß in der Neuzeit eine Bewegung aufkommt, welche nicht nur die kirchliche Form des Christentums, sondern das Christentum selbst, ja darüber hinaus alle und jede Religion angreift und in einen Kampf um Sein oder Nichtsein verwickelt.

c. D i e B e w e g u n g der N e u z e i t wider das Christentum. In einen Konflikt mit Religion und Christentum gerät die Neuzeit nicht nur an einzelnen Stellen, sondern mit dem Ganzen ihres Strebens, und sie folgt dabei nicht bewußter Absicht,

Die Bewegung der Neuzeit wider das Christentum.

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sondern es ist die Substanz der Arbeit, die mit zwingender Kraft einen Zusammenstoß bereitet. Mag dabei nicht alle Verantwortung der Individuen fehlen, diese Verantwortung ist nicht der Art, daß der Mensch sie dem Menschen zurechnen und vorrücken dürfte. So heißt es, die Bewegung von der Zufälligkeit der Individuen und Parteien abzulösen und ihrer sachlichen Notwendigkeit nachzugehen. Eine Störung der überkommenen Ordnung war es schon, daß überhaupt eine neue Kultur aufkam. Denn das Neue konnte nicht umhin dem Alten viel Kraft und Teilnahme zu entziehen. Die Spannung wuchs dann in dem Maße, als das neue Leben eine selbständige und entgegengesetzte Art entwickelte. Und das geschah bald, es geschah sowohl dadurch, daß jenes in dem Ganzen seines Strebens immer ausschließlicher die Richtung auf die Welt der Erfahrung nahm und sich zugleich immer mehr von der Religion entfernte, als auch dadurch, daß eine energische Arbeit das innere Gewebe des Lebens durchaus veränderte und alle Größen unterwühlte, worauf die religiöse, zumal die christliche Uberzeugung ruhte. Daß beides im Ergebnis zusammentraf und sich gegenseitig stützte, verlieh dem Ganzen der Gegenbewegung eine scheinbar unwiderstehliche Kraft 1. Die Wandlung der Grundrichtung. Die Wandlung der Grundrichtung hat sich nicht in Einem Zuge, sondern in drei Stufen vollzogen. Im 15. und 16. Jahrhundert erfolgt die Ausbildung eines Kreises weltlicher Kultur neben der Religion; das 17. beginnt eine universale Idealkultur, welche alle Spaltung von Welt und Uberwelt überwinden möchte, indem sie das Göttliche gänzlich in unsere Welt aufnimmt, zugleich aber diese vergeistigt und verklärt; das 19. endlich bringt die Herrschaft einer Realkultur, welche den Menschen durchaus der Natur und Gesellschaft einfügt und ihn mit ihren Aufgaben vollauf beschäftigt. So wich die Überwelt immer weiter zurück und das sinnliche Dasein umklammerte den Menschen immer fester als seine ausschließliche Welt und Heimat. Dem Mittelalter gegenüber bedeutet die Renaissance eine große geistige Umwälzung. Ein neues Leben erhebt sich voll frohen Mutes, ein schwerer Druck weicht von den Geistern, es 2*

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fällt die Enge der Vorstellungen, die dem Menschen bisher das Bild seiner selbst wie der Welt getrübt hatten, er entdeckt nicht nur ferne Länder, er entdeckt allererst sich selbst, gewinnt ein stolzes Bewußtsein seiner Kraft und nimmt freudig Besitz von dem unermeßlichen Reichtum der umgebenden Welt. Zweierlei ist es vornehmlich, womit sie ihn entzückt und festhält: die Lebensfülle, welche überall aufquillt, und die Schönheit, welche aus allen ihren Gestalten hervorleuchtet. Aus solchen Überzeugungen und Erfahrungen erwächst das Ideal einer harmonischen Bildung des ganzen Menschen; im modernen Kulturstaat findet das Streben zum Diesseits einen festen Halt und eine beherrschende Einheit; so entsteht auch auf geistigem Gebiet ein dieser Welt zugewandtes und von ihren Aufgaben erfülltes Leben. Aber bei aller Selbständigkeit gerät die neue Art noch nicht in einen Krieg mit der alten, auf der Höhe der Renaissance scheinen die beiden Welten einander eher zu suchen als zu fliehen. Gerade deshalb gilt die nächste Welt als herrlich und unerschöpflich, weil sie einen Ausdruck und Abglanz der Gottheit bildet; die Religion aber empfängt die wertvollste Förderung durch eine mit weit reicheren Mitteln arbeitende Kunst, welche den hehren Gestalten des Glaubens eine seelische Nähe und entzückende Anmut verleiht. So beharren zunächst zwei Kreise nebeneinander, ein froher, ^a stürmischer Lebensdrang verträgt sich noch mit gläubiger Erwartung eines Jenseits. Bald aber wurde ein solches Nebeneinander als ein innerer Widerspruch empfunden, und ein Verlangen nach Einheit begann sich siegreich durchzusetzen. Das geschah auf der Höhe des Schaffens, schon seit SPINOZA, in der Weise, daß sich diese Welt und das göttliche Sein zu einer einzigen, untrennbaren Wirklichkeit verbinden; indem das Göttliche sich durch die ganze Welt ergießt und ihr eine Tiefe giebt, entwächst sie der unmittelbaren Erscheinung und verwandelt sich in ein lückenloses Reich der Vernunft. Die Gottheit aber, so auf das Ganze der Welt bezogen, muß alles Eng- und Bloßmenschliche ablegen, sie wird, allen umgrenzten Begriffen entwachsend, zur allumfassenden Ewigkeit und Unendlichkeit. Alsdann kann die Religion nicht mehr ein besonderes Gebiet sein, das aus jenseitiger Höhe das Dasein beherrscht, vielmehr wird sie um so mehr ihre Aufgabe

Die Bewegung der Neuzeit wider das Christentum.

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zu erfüllen scheinen, je mehr sie ohne eigne Gestalt das ganze Leben durchdringt und inmitten aller Arbeit seine unsichtbaren Gründe gegenwärtig hält. Der Kern unseres Daseins liegt hier bei den Gebieten, welche den Menschen mit dem großen All verbinden und- zu einem Weltleben führen: bei Wissenschaft und Kunst. Sie schaffen gegenüber dem gemeinen Alltagsleben eine neue, geistige Wirklichkeit, sie veredlen damit alle menschlichen Verhältnisse, sie lassen den Menschen inmitten dieses Daseins eine Unendlichkeit und Ewigkeit gewinnen. Je mehr sich so unsere Wirklichkeit in Vernunft verwandelt, je mehr ein Reich der Gesetze und der Gestalten aus dem Chaos des anfänglichen Weltbildes hervorschaut, desto mehr entfällt das Bedürfnis nach einer besonderen Religion. Nur denen mag sie ein Wegweiser zur Idealität sein, welchen die Höhe des geistigen Schaffens versagt ist. „Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, Der hat auch Religion. Wer diese beiden nicht besitzt, Der habe Religion!" Aber mit allem Glanz ihrer Schöpfungen hat auch die Idealkultur die Menschheit nicht dauernd festgehalten. Einerseits besagt ihre Vergeistigung der Wirklichkeit eine Überschreitung der Erfährung, die späteren Geschlechtern als eine bloß subjektive Zuthat zu schwerem Anstoß wurde, andererseits erwacht ein stärkeres Gefühl für alles Dunkel und Leid der Welt und verhindert es, sie als ein Reich der Vernunft zu verehren. So wird aller Umdeutung und inneren Erhöhung der Wirklichkeit der Krieg angesagt und der Mensch ausschließlich auf den unmittelbaren Befund, auf das der sinnlichen Anschauung Zugängliche angewiesen; hier allein soll er seine Arbeit finden, hier allein sein Glück suchen. Den damit abgesteckten Kreis überschreiten, das heißt das Leben verfälschen und zerstören. Die energische Durchführung dessen bewirkt eine Sichtung und Umwandlung des Daseins vom Gesamtbilde bis in alle einzelnen Gebiete. Das Seelenleben kann sich nicht mehr auf sich selbst, in die „heilig stillen Räume des Herzens" zurückziehen, sondern es entwickelt sich nur mit und an der Umgebung; die Wissenschaft wird aus einem Begreifen der Dinge aus ihren inneren Gründen ein Ermitteln und Ordnen der Erscheinungen, die Kunst aus dem Entwerfen einer neuen Welt an der Hand einer

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leichtbeschwingten Phantasie eine möglichst treue Wiedergabe des unmittelbaren Eindrucks der Dinge; im Handeln weicht das Streben nach innerer Bildung, nach harmonischer Entfaltung des ganzen Menschen der Selbsterhaltung im harten Kampfe mit der physischen und sozialen Umgebung, der rastlosen Sorge um die ökonomischen Grundlagen des Daseins. So entsteht ein neuer, durchaus realistischer Lebenstypus, wie er nie zuvor mit solcher Kraft und Bewußtheit auftrat; er bewährt sich durch ungeahnte Leistungen, er eröffnet eine Fülle großer Aufgaben, die den Menschen immer ausschließlicher einnehmen und immer atemloser beschäftigen. Mit seiner exakten Forschung, seiner Bewältigung der Natur, seinen Triumphen der Technik, seiner Verbesserung der Existenzbedingungen für alles was Menschengesicht trägt, scheint dies Leben im Stande, alle wirkliche Kraft des Menschen zu verwerten und alle berechtigte Hoffnung zu erfüllen. Je mehr es aber auch die geistige Arbeit an diese Wirklichkeit bindet, desto schattenhafter, desto unhaltbarer wird alle und jede Religion; auch die abgeschwächte Form des Pantheismus findet jetzt keinen Platz mehr. Dabei kann jene Realkultur ganz wohl zugeben, daß der menschliche Lebenskreis nur einen kleinen Ausschnitt aus einer unendlichen Wirklichkeit bildet, ja daß er mit allem seinen Wollen und Leisten einer bloßen Oberfläche angehört, hinter der eine dunkle und unzugängliche Tiefe liegt. Aber solche Anerkennung einer wegen jener Unzugänglichkeit praktisch für uns bedeutungslosen Tiefe besagt nicht den mindesten Gewinn für die Religion, sie bleibt aus diesem Leben endgültig verbannt. So hat die Bewegung der modernen Welt die Menschheit immer weiter von der Religion entfernt: einem Nebeneinander von Religion und Kultur folgte eine Kultur, welche sich selbst zu einer Religion vertiefen wollte, folgte endlich eine Kultur ohne alle und jede Religion. Diese Phasen liegen nicht nur nacheinander, sondern auch nebeneinander. Denn es wirken die früheren fort und bestreiten den späteren die Herrschaft, wunderlich mischt sich oft bei den einzelnen Individuen Verschiedenartiges und Widersprechendes durcheinander. Aber wie viel die Neuzeit bei sich selbst an Gegensätzen und Kämpfen enthalten mag, den Hauptgegenstand der Kämpfe bildet stets

23 die Welt, und in allem Streit wächst ihre Bedeutung, wächst die Macht, womit sie den Menschen umklammert. Selbst wenn dabei die Religion nicht direkt angegriffen, j a wenn sie als ein unentbehrlicher Schutz des Menschen gepriesen wird, sie verliert ihre alte Stellung und Herrschaft, sie tritt mehr und mehr in den Hintergrund und muß sich aus der Gemeinschaft geistiger Arbeit in die Besonderheit subjektiver Stimmung zurückziehen. Die Beziehung zum Göttlichen, früher unmittelbar und selbstverständlich, wird nun schwankend und unsicher, sie erscheint um so unmöglicher, je mehr die neue Denkweise sich aller Begriffe bemächtigt Bei so eingreifender Wandlung kann die Uberzeugung des ganzen Menschen keine Hilfe leisten, wenn die geistige Arbeit mit der Religion in Konflikt gerät; zu einem solchen Konflikt aber drängt in der That das Wirken und Schaffen der Neuzeit auf allen Gebieten. 2. Sie Wandlungen der Arbeit. In knapper Zusammenfassung der großen Wandlungen dürfen wir sagen, daß sowohl das Verhältnis des Menschen zur Natur, als das geschichtlich-gesellschaftliche Dasein, als der Kern des Geisteslebens durch die Bewegungen der letzten Jahrhunderte völlig verändert sind. Sowohl die Naturwissenschaft als die geschichtlich-gesellschaftliche Betrachtung der Dinge als die Grundüberzeugung der Philosophie geraten daher mit der überkommenen Religion in den härtesten Konflikt, immer weniger läßt sich die Unversöhnlichkeit dieses Kampfes verschleiern, immer deutlicher wird, daß hier nicht Individuen gegen Individuen, sondern geistige Mächte gegen geistige Mächte stehen, und daß die Entscheidung jenseit aller Willkür der Menschen liegt. a. Naturwissenschaft und Religion. Die überkommene Religion ist eng verwachsen mit dem alten Naturbilde. Dies Bild war anthropomorpher und geocentrischer Art: um die Erde, als den ruhenden Mittelpunkt, bewegte sich das ganze All, und über sein Schicksal entschied, was auf der Erde vorging. Die Natur empfing ihr Leben aus höherer Hand und wurde durchwaltet von inneren Kräften;

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geistigen und göttlichen Zwecken, wenn auch nur als ein Gleichnis, zu dienen, das war ihre vornehmste Aufgabe; ihr inneres Gewebe blieb ein tiefes Geheimnis, das völlig zu entschleiern nur kecker Frevel unternehmen konnte. So war und fühlte sich ihr gegenüber der Mensch durchaus ohnmächtig, alles Gelingen galt als ein Werk göttlicher Gnade, nicht menschlicher Kraft und Kunst. Die greifbarste Veränderung dessen ist die unermeßliche Erweiterung des Horizontes, welche die neuere Naturwissenschaft vollzogen hat. Die Erde wird ein mittelgroßer Trabant eines Weltkörpers, der selbst nur ein Stern unter zahllosen Sternen ist, der in dem unbegrenzten All durch nichts ausgezeichnet scheint. Alle Größen unseres Kreises sinken zu winziger Kleinheit gegenüber den Lichtjahren der Astronomie. Kann nun noch, was auf dem verschwindenden Trabanten vorgeht, über dieses unermeßliche All entscheiden? So aber will es die kirchliche Uberzeugung mit der Lehre vom Sündenfall, der alles Elend und auch den Tod erst in die ursprünglich vollkommene Welt brachte; so durchdringt es die ganze Heilslehre bis zum großen Weltgericht. Die überkommene religiöse Lehre stellt Himmel und Erde in den schroffsten Gegensatz; die Religion davon abzulösen, ist nicht gar so leicht. Denn nicht nur verschwindet die alte Anschaulichkeit, wenn nicht mehr vom hohen Himmel her die Gottheit waltet, nicht mehr der Mensch aus der Sorge und Qual des Erdenlebens dahin hoffnungsfroh aufblicken darf; was wird aus dem „Niedergefahren zur Hölle", dem „Aufgefahren gen Himmel", wenn alle räumlichen Gegensätze wie überhaupt so auch für die Religion hinfällig werden? Noch eingreifendere Wandlungen ergiebt eine innere Umbildung der Begriffe. Die ganze neuere Naturwissenschaft ruht auf der Überzeugung, daß die Natur keinerlei innere Kräfte enthält, daß ihr Lauf nicht seelischen Antrieben folgt, sondern durch die mechanischen Mächte von Druck und Stoß getrieben wird. Zugleich erscheint in ihr eine große Einfachheit und Gleichförmigkeit, jede besondere Erscheinung steht innerhalb des großen Gewebes und ist aus ihm zu verstehen. Vor dem klaren Licht der neuen Begriffe verschwindet alles Traumhafte und Geheimnisvolle der älteren Art, die Dinge haben nichts zu

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enthüllen oder anzudeuten, sie sind für uns nicht mehr als sie der Forschung zu erkennen geben. Diese rationale Denkweise stößt mit der alten Überzeugung bald akut zusammen bei der Lehre von den Wundern, den sinnlichen Wundern. Die Regelmäßigkeit des Naturlebens wurde auch früher nicht verkannt, aber sie erschien nicht als ein Ausfluß einer eigenen Natur der Dinge, sondern als eine „Gewohnheit des göttlichen Handelns". Eine gelegentliche Abweichung von solcher Gewohnheit hatte nichts Befremdliches, die Wahl außerordentlicher Mittel bei außerordentlichen Zwecken konnte vielmehr nur als angemessen, ja als selbstverständlich gelten. So blieb der Glaube an Wunder die allgemeine Uberzeugung bis in die Neuzeit hinein, selbst die radikalsten Richtungen des Reformationszeitalters haben die Wunder nicht angefochten. Dann aber kam mit G A L I L E I und DESCARTES die exakte und mechanische Naturbegreifung. Mit der Austreibung aller seelischen Kräfte und der Verwandlung in ein System von Massen und Bewegungen machte .sie die Natur zu einem in sich selbst gegründeten und von eignen Notwendigkeiten beherrschten Reiche. Nunmehr wurde das Wunder mit seiner Einführung einer neuen Kausalität eine unerträgliche Durchbrechung einer allgemeinen Ordnung, eine Verneinung der gesamten wissenschaftlichen Denkart. Es war der ehrliche und mutige SPINOZA, der diese Konsequenz zuerst deutlich aussprach. Etwas Übernatürliches innerhalb des eignen Reiches der Natur, so zeigt er, ist gar nichts anderes als etwas Widernatürliches. So wird den Wundern der Krieg erklärt, er greift zuerst langsam, dann rascher um sich; läßt sich leugnen, daß im Bewußtsein der Menschheit der Glaube an sie immer stärker erschüttert ist, daß sie aus einer Stütze der Religion immer mehr eine Belastung geworden sind? Zugleich aber steht außer Zweifel: das Christentum kann sich schwer von den Wundern trennen, schwerer als irgendwelche andere Religion. Denn ihm ist das Wunder nicht bloß eine freundliche Begleitung und TJmsäumung des Glaubens, auf die sich zur Not verzichten ließe, sondern die Lehre von der leiblichen Auferstehung Christi hat es in den'Mittelpunkt seiner Überzeugungen verpflanzt, hat es dieser Religion so fest eingeprägt, daß sie mit ihm zu stehen und zu fallen scheint. „Ist Christus nicht auferstanden, so ist

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euer Glaube eitel", das war die Überzeugung des größten Apostels. Ohne Wunder demnach, so scheint es, kein Christentum; mit dem Wunder aber keine rationale Naturerklärung, keine moderne Naturwissenschaft! Und das Wunder ist nur der Punkt des akuten Zusammenstoßes der Gegensätze, in Wahrheit reicht die Kampflinie viel weiter. Denn die Verwandlung in ein seelenloses Getriebe muß die Natur durchaus gleichgültig machen wie gegen alle geistigen, so auch gegen alle religiösen und moralischen Zwecke; nach ehernen ewigen Gesetzen verfolgt sie ihre Bahn, unbekümmert darum, was der Mensch gut oder böse nennt. „Denn unfühlend Ist die Natur: Es leuchtet die Sonne Uber Bös' und G-ute, Und dem Verbrecher Glänzen, wie dem Besten, Der Mond und die Sterne."

Steht nun zugleich die Winzigkeit des menschlichen Kreises gegenüber der Unermeßlichkeit der Natur deutlich vor unseren Augen, so liegt die Wendung nahe, alles was uns von der Natur unterscheidet und über sie zu erheben scheint, für einen bloßen Wahn, eine leere Einbildung und Uberhebung zu erklären. So wird der Mensch ein bloßes Naturwesen, und von der Natur her ist er bis in alle Verzweigung seines Daseins zu verstehen. Bedeutet er aber nichts besonderes mehr, sondern wird er zum „Tropfen am Eimer" einer undurchsichtigen Unendlichkeit, so wird es zu einer Thorheit, die geistigen Größen, diese besondere Erscheinung seines Kreises, in das Weltall hineinzutragen, so kann sein Thun nichts über das hinaus bedeuten, was es seinem eignen Befinden leistet. Damit aber ist der Religion und ist auch einer den Zwecken des bloßen Menschen überlegenen Moral aller Boden entzogen. Die Klärung der Begriffe von der Natur hat zugleich unser praktisches Verhalten zur Umgebung verwandelt. Eine Natur, deren Gewebe sich bis in die feinsten Fäden auflöset und von den einfachsten Anfängen her verstehen läßt, gestattet uns, ihre Kräfte für unsere eignen Zwecke zu kombinieren und zu lenken;

27 während der Mensch früher der Natur wehrlos gegenüberstand, macht die glänzende Entwickelung der Technik ihn zu ihrem Herrn und Gebieter, es verschwinden aus ihr die Entfernungen, zahlreiche neue Kräfte werden entdeckt und sofort verwertet, der Lebensprozeß beschleunigt und verstärkt, die Spannung und der Genuß des Daseins unermeßlich gesteigert. Ausgestattet mit so viel neuen Waffen, kann der Mensch getrost den Kampf mit aller Unvernunft des Daseins aufnehmen, Not und Krankheit in ihren Wurzeln angreifen und, wenn nicht völlig aufheben, so doch mehr und mehr einschränken. Aus jedem Erfolg wächst ein neues Problem hervor, fortwährend eröffnen sich neue Aussichten, und es wird keine Grenze als endgültig anerkannt; aber auch innerhalb der heutigen Grenzen giebt es so viel zu thun, daß das Bewußtsein ganz von der Größe des menschlichen Vermögens erfüllt ist. Nun wird der Mensch nicht in kindlicher Gesinnung auf ein übernatürliches Eingreifen hoffen und harren, sondern männlichen Mutes nimmt er die Sache selbst in die Hand und erwartet den Erfolg nicht sowohl vom Gebet als von seiner Arbeit. Nun wird ihm die Welt, die ihm so viel zu thun giebt, zur vertrauten Heimat, an die er sich mit allen Fasern seines Wesens gefesselt fühlt. Was aber wird bei solchen Uberzeugungen aus der Religion? ß. Die geschichtliche Denkweise und die Religion. Nun brauchte sich die Religion durch alle Angriffe von draußen her nicht einschüchtern zu lassen, wenn sie im eignen Reich des Menschen eine feste Stellung und unbestreitbare Wirksamkeit behauptete, wenn sie namentlich das geschichtliche Leben sicher beherrschte. So war es früher: alle Begriffe von der Geschichte unterlagen dem Einfluß der Religion. Die menschliche Geschichte hatte eine geringe Ausdehnung, und ihren Hauptinhalt bildete der Zusammenstoß von Gutem und Bösem, ihr Endzweck war die Erziehung der Menschheit für die Ewigkeit. Die spirituellen Interessen standen nicht nur weitaus voran, sondern alle Hingebung an die materiellen, an irdische Güter schien ein Raub an dem Einen, was not thut. Die bewegende Kraft der Weltgeschichte lag letzthin bei Gott, sein Wille erschien in den Ereignissen, sein Plan gab dem Ganzen einen

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Zusammenhang, seine Weisheit hatte alle Wege verordnet. — Das alles hat sich, weniger durch schroffe Katastrophen als durch allmähliche Losbröckelung und Umbildung, bis zum Grunde verändert. Wie die räumliche so ist auch die zeitliche Ausdehnung der Welt ins Unermeßliche gewachsen, selbst bei der Erde rechnet die Wissenschaft mit Millionen von Jahren; die Dauer des Menschengeschlechts hat darin einen recht bescheidenen Platz, und innerhalb ihrer schrumpft wiederum die Epoche der Kultur stark zusammen gegenüber der ungemessenen Weite der „prähistorischen" Zeiten. Da durch ein schließliches Versagen unentbehrlicher Bedingungen auch der Dauer des organischen und mit ihm des geistigen Lebens ein festes Ziel gesetzt scheint, so dünkt der modernen Denkart das ganze menschliche Sein eine bloße Episode des Weltprozesses, ein flüchtiges Meteor, das aufleuchtet und verschwindet. Und um dieser Episode willen sollte die ganze Welt bestehen und ihren Zwecken sollte alle Unermeßlichkeit dienen?! Tiefer noch waren die Wandlungen innerer Art: wie die Natur, so entwickelte auch die Geschichte eine Selbständigkeit; wie dort alles Ubernatürliche, so ward hier alles Ubergeschichtliche ausgeschieden. Eigne Triebkräfte werden innerhalb des menschlichen Kreises erkannt, eigne Ziele hier aufgewiesen , die Erscheinungen direkt miteinander verkettet und schließlich in einen einzigen großen Zusammenhang vereinigt. Dieser Zusammenhang lehrt alle besondere Leistung verstehen, auch das Größte erscheint nicht als ein isoliertes Wunder, sondern als der Höhepunkt einer durchgehenden Bewegung, es wächst hervor aus allgemeinen Bedingungen und Umgebungen. Einen solchen eignen Zusammenhang der Dinge verfechten kann die geschichtliche Betrachtung nicht, ohne alles Eingreifen jenseitiger Mächte abzuweisen; schon dadurch wird sie eine entschiedene Gegnerin der überkommenen Religion. Sie wird es in noch höherem Grade mit der Erkenntnis einer aufsteigenden, von Stufe zu Stufe sicher fortschreitenden Bewegung, mit der Verwandlung der Geschichte in einen durch seine eigne Kraft getriebenen Entwickelungsprozeß. Die Selbständigkeit des geschichtlichen Lebens wird dadurch noch stärker hervorgekehrt, die Aussicht auf eine bessere, einer unendlichen

29 Steigerung fähige Zukunft verleiht dem Dasein eine große Aufgabe und Spannung in sich selbst, die religiöse Hoffnung eines seligen Lebens im Jenseits verblaßt vor solchem Glauben an die Zukunft im Diesseits. Ja, indem das zeitliche Dasein sich zu einer großen Kette aufsteigender Bewegung zusammenschließt und jeder Augenblick die Aussicht gewinnt, in dem Ganzen unverlierbar fortzuwirken, erfährt das zeitliche Dasein eine gewaltige innere Erhöhung; nicht mehr erscheint nun alles in ihm als flüchtig und nichtig, nicht mehr alles zeitliche Erlebnis wie der Traum eines Schattens, nicht mehr trennt eine starre Kluft Zeit und Ewigkeit. Und zugleich erhebt sich ein stolzes Kraftgefühl der Menschheit, durch deren Arbeit sich jener Aufstieg vollzieht, und als deren Werk jetzt die Vernunft des Daseins gilt. Noch in einer anderen Richtung widerspricht der Entwickelungsgedanke schroff der Religion, namentlich einer auf geschichtliche Thatsachen gegründeten Religion. Denn diese läßt das Göttliche und Ewige an einem besonderen Punkt in die Bewegung eintreten und verlangt, daß es, selbst unwandelbar, ihren ganzen weiteren Lauf beherrsche; die Entwickehingsidee mit ihrem rastlosen Fortschritt dagegen macht die Wahrheit zum Kind der Zeit; was kräftig wirken will, muß dem jeweiligen Stande der Dinge entsprechen, nach den Bedürfnissen der lebendigen Gegenwart haben sich alle Einrichtungen und Überzeugungen fortwährend umzuwandeln; was seiner eignen Zeit genügt, kann eben deshalb nicht allen genügen. Solche Überzeugung stempelt jegliche Festlegung eines Gedanken- und Glaubensgehalts zu einem unerträglichen Druck; alle Bindung an eine besondere Zeit wird zu einer auf die Dauer vergeblichen Zurückstauung des unerschöpflichen Lebensstromes. So heißt die Entwickelung zum Grundgesetz der Geschichte erheben nichts anderes als alle geistigen Größen flüssig machen, die Wahrheit von Grund aus relativieren, alles Absolute aus dem Leben streichen. Auf die Absolutheit ihrer Wahrheit kann aber die Religion ebensowenig verzichten wie auf ihre Unwandelbarkeit. Denn das Göttliche dem Fluß und Wandel der Zeit unterordnen, das heißt es erniedrigen und zerstören. Und wie soll der Mensch, den die Entwickelungsidee ganz in die Zeit

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versetzt und mit ihren Aufgaben erfüllt, auch nur eine Sehnsucht nach einem Eeich der Ewigkeit bewahren? So erhellt überall der unversöhnliche Gegensatz zwischen der überkommenen religiösen und der modernen geschichtlichen Betrachtung der Dinge. Und diese moderne Betrachtung ist nicht eine bloße Theorie geblieben, sie hat das Leben und Handeln ergriffen, sie hat sich durch große Leistungen und Erfolge bewährt. Der Mensch hat vieles beweglich gefunden, was ihm früher starr gegenüberstand, er hat vieles verändert und verbessert draußen und drinnen, er hat viel Unvernunft aus seinen Verhältnissen entfernt, er kann es unternehmen, von sich aus den Lauf der Dinge zu lenken. Durch das alles ist er enger verwachsen mit der Welt; hier sieht er alle seine Kräfte festgehalten, hier vermag er so Großes zu leisten, daß kein Gefühl der Hilfsbedürftigkeit aufkommen kann. Dieselbe Verschiebung zur Immanenz erscheint auch in der inneren Gestaltung der Güter, die das Streben beherrschen. Die altreligiöse Uberzeugung erwartete nur vom Jenseits echtes Glück, das Diesseits hatte ihr nur einen Wert, sofern es jenes vorbereitete. Aus solcher "Gesinnung hieß auf der Höhe des Mittelalters das himmlische Jenseits schlechthin das „Vaterland" (patria). Nun hat das Diesseits immer mehr Güter, auch geistiger Art, innerhalb seines eignen Bereiches erschlossen und vermag uns damit immer stärker anzuziehen. Es ist offenbar geworden oder doch mehr zur Empfindung gelangt, daß der Mensch eine Fülle von Kräften in sich trägt, welche nur die Arbeit des Lebens entwickeln kann; schon die Aufgabe einer Verbindung dieser Mannigfaltigkeit zum Ganzen einer Persönlichkeit steckt unserer Arbeit ein hohes Ziel. Was aber vom Einzelnen gilt, gilt noch mehr von der gesamten Menschheit. Uberaus viel zeigte sich hier einer Erweckung, Belebung, Steigerung fähig. Und zugleich erhielten die großen Komplexe menschlichen Zusammenseins und geistiger Arbeit auf dem Boden dieser Wirklichkeit größere Ziele und Kräfte. Wissenschaft und Kunst fanden innerhalb dieser Welt unermeßlich viel zu thun; der Staat wurde als Kulturstaat ein selbständiger Träger und eine eigentümliche Konzentration des geistigen Lebens; die Nationen wuchsen zu geistigen Individualitäten und verlangten die höchste

31 geistige und moralische Kraft; die soziale Bewegung mit ihrem Verlangen, allen Einzelnen an Besitz, Bildung, Lebensgenuß vollen Anteil zu geben, erzeugte gewaltige Bewegungen und entzündete ungeheure Leidenschaften; alles das macht das Diesseits immer mehr zur ganzen und ausschließlichen Welt des Menschen. Unter solchen Wandlungen verfliegt auch die der älteren Denkart eigentümliche Geringschätzung der materiellen Güter. Nicht nur werden sie jetzt für die Entwickelung auch der geistigen Kräfte unentbehrlich, sondern es giebt ihnen auch die Ausbildung großer wirtschaftlicher Einheiten in den einzelnen Nationen eine innere Erhöhung und Veredlung. Das Gesamtergebnis aller dieser Bewegungen ist die stärkste Festhaltung des Menschen in dem weltlichen Lebenskreise, von dem ihn abzulösen ein Hauptanliegen der Religion war. So wird ihr das geschichtlich gesellschaftliche Dasein der Menschheit ein schroffer Gegner, ein Gegner keineswegs durch bloße Theorien, sondern vornehmlich durch das Ganze seiner thatsächlichen Entfaltung, ein Gegner auch da, wo sich der Widerspruch dem Bewußtsein der Individuen gänzlich versteckt. y. Die Philosophie und die Religion. Nicht nur von der großen Welt her, sondern auch vom eignen Gebiet des Menschen aus wurde die Religion unterwühlt und erschüttert. Aber vielleicht konnte sie sich vor allen Wandlungen der Arbeit in ein Innerstes der Seele flüchten und sich hier des Zusammenhanges mit einer überweltlichen Macht versichern. Dringt aber der Angriff auch in diese innerste Region vor, so scheint der letzte Halt gebrochen und eine Auflösung unvermeidlich. Sehen wir also, wie die Sache an diesem entscheidenden Punkte steht. Es handelt sich hier um die innere Beschaffenheit des Lebens, das der Religion zu Grunde lag. Worin bestand früher das Leben geistiger Art und worin fand es seine Aufgabe? Es war zunächst ein Verkehren und Sichmitteilen von Menschern zu Menschern, dann aber ein ähnliches Verhalten zu Mächten, welche jenseit unseres Bereiches stehen, aber in der Aneignung menschenähnlich gestaltet wurden. So verkehrte der Mensch mit einer ihm scheinbar verwandten, von seelischen Kräften erfüllten

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und auch als Ganzes seelenartigen Natur, so waren auch die Götter der älteren Religionen nur größere Menschen, und der Umgang mit ihnen glich dem innerhalb des menschlichen Kreises. So blieb der Mensch bei aller äußeren Erweiterung innerlich an den eignen Kreis gebannt. Wohl wirkte jene Ausstrahlung in die Welt zur Befestigung, Klärung und mehr und mehr auch zur Veredlung seines Wesens, aus der makrokosmischen Vergrößerung kehrte es in geläuterter Gestalt zu sich selbst zurück. Aber bei aller Ausdehnung, selbst auch in der Erhebung der Gottheit zu einem sittlichen Ideal, erfolgte kein Bruch mit der menschlichen Lebensform, vielmehr blieb das unmittelbare Befinden des Menschen, seine seelische Zuständlichkeit, das Grundmaß, das die ganze Wirklichkeit, das auch die Begriffe von dem als übermenschlich Verehrten beherrschte. Tieferblickenden Geistern konnte die Enge des Ganzen nicht entgehen; so haben manche sich eifrigst bemüht, die Gottesidee über bloßmenschliche Begriffe und das religiöse Leben über bloßmenschliche Affekte hinauszuheben. Aber im Großen und Ganzen blieb die Sache beim alten Stande, bis die Neuzeit eine große Umwälzung des Lebens vollzog. Sie that das nicht in direkter Sichtung auf jenes Ziel, aber eine anderswo einsetzende Bewegung führte zu ihm als einem notwendigen Ergebnis. Eine unerläßliche Voraussetzung der älteren Art war ein ungestörter Zusammenhang von Mensch und Welt, ein leichtes Uberfließen des Lebens von der einen Seite zur anderen; Seelisches und Sinnliches, Inneres und Äußeres waren hier noch nicht entzweit, auch innerlich trug das eine ein gutes Stück vom anderen an sich. Die Neuzeit begann ein so enges Bündnis als eine Erschleichung, ja eine Unmöglichkeit zu empfinden, ihr eröffnet sich zwischen dem Menschen und seiner Umgebung eine schroffe Kluft. Beherrscht aber einmal der Gegensatz das Bewußtsein, so kann kein Zweifel darüber walten, daß der Ausgangspunkt des Lebens im Subjekt liegt, daß sich hier alles darstellen und von hier alles entfalten muß. Aber zugleich bleibt die große Welt innerlich gegenwärtig, und es erscheint ein völliger Verzicht auf sie als durchaus unmöglich; so gilt es, sich vom Subjekt her ein Weg dahin zu bahnen und den verlornen Besitz durch mühsame Arbeit neu zu erringen.

33 Wie aber sollte das möglich sein ohne eine energische Scheidung innerhalb des Subjektes selbst; was bloß seiner Besonderheit, seiner Zuständlichkeit angehört, das ist von den Dingen aufs strengste fernzuhalten und, sofern es in ihrem Bilde steckt, auszuscheiden; nur dann kann die Seele die entfremdete Welt zurückgewinnen, wenn sie in sich selbst eine Weltkraft enthält, wenn sie selbst eine unpersönliche, affektlose, sachliche Thätigkeit aufzubringen vermag. Eine solche glaubt aber 'die Neuzeit thatsächlich vorzufinden, nämlich in dem Denken, dem von allem menschlichen Begehren abgelösten und allein den Dingen zugewandten Denken. So ist es das Denken, das den Menschen wieder mit der Welt verbindet und dessen Wirken ihm ein neues, wahreres Leben aufbaut; vor seinem Forum ist nunmehr alles zu begründen, was sich als wirklich behaupten will; nur was ihm klar und deutlich erwiesen ist, darf künftig als wahr gelten. Damit beginnt eine Durchmusterung und Sichtung des ganzen überkommenen Lebensstandes; was die Feuerprobe nicht besteht, wird unbarmherzig vertrieben; was sie besteht, durchleuchtet, gekräftigt, enger zusammengeschlossen. Der Beginn einer neuen Epoche des Geisteslebens ist unverkennbar. Alles was vor der großen Wendung liegt, erscheint als ein naiver, jetzt endgültig überwundener Lebensstand; das Leben ruht nun nicht mehr auf dem unmittelbaren Eindruck oder der geschichtlichen Autorität, sondern allein auf dem Denken; eine rationale Kultur, ein Vernunftzeitalter beginnt, die Forderungen des Denkens sind es, welche nun die Arbeit beherrschen und ihr die Richtung weisen. Die neue, kritische Denkart bekundet sich zunächst in einer tiefgehenden Veränderung der Stellung zur Geschichte, also einem für eine historische Religion hochwichtigen Punkte. Das Verlangen nach Austreibung aller subjektiven Zuthat und nach Herausschälung des reinen Sachverhaltes erzeugt einen harten Zusammenstoß mit der altgeheiligten Uberlieferung. Diese Uberlieferung, bisher unbedenklich als lautere Wahrheit hingenommen, wird jetzt zu einem bloßen Bilde, einer problematischen Erscheinung, einer Spiegelung der Thatsachen im Subjekt, ja in einer ganzen Reihe von Subjekten; Irrtum nicht bloß, sondern KUCKEN , Wahrheitsgehalt der Religion.

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auch Tendenz, wenn auch unbewußte, haben hier manches getrübt; so liegt zwischen dem Bilde und der Sache oft ein weiter Abstand, nur eine gewissenhafte und methodische Forschung kann hier zur Wahrheit führen. Es erwächst die historische Kritik, sie muß sich schließlich auch der religiösen Uberlieferung zuwenden, auch hier das herkömmliche Bild mannigfach berichtigen. Wo früher ein ungeschiedenes Ganzes an uns kam, da entdeckt jetzt der geschärfte Blick große Abweichungen und Widersprüche, nicht nur in nebensächlichen Angaben und einzelnen Daten, sondern auch in fundamentalen Dingen, wie z. B. das neue Testament grundverschiedene Bilder von Jesus, entgegengesetzte Fassungen des Christentums enthält; was dem Glauben späterer Zeiten zur Hauptsache wurde, das fehlt in den klassischen Urkunden nicht selten ganz oder erscheint doch nur in leisesten Anfängen; ein weiter Abstand zwischen der kirchlichen Dogmenlehre und der Bibel läßt sich einer unbefangenen Betrachtung nicht wohl verschleiern. Dazu die Frage der Echtheit der Quellen mit ihren bald leidenschaftlichen, bald minutiösen Diskussionen. Ob dabei die Kritik positiver oder negativer abschließe, ist lange nicht so wichtig als dies, daß die Uberlieferung überhaupt zu ihrer Glaubwürdigkeit der wissenschaftlichen Prüfung bedarf, daß das Göttliche sich nicht mehr unbefangen hinnehmen, sondern nur durch mühsame Gedankenarbeit des Menschen hindurch aneignen läßt. Denn ihr Reflektieren und Räsonnieren zerstört unwiederbringlich den Heiligenschein, der jene Uberlieferung früher umfing; das grelle Tageslicht der kritischen Beleuchtung verscheucht unbarmherzig jenes traumhafte Halbdunkel, in dem die religiöse Phantasie wundersame Fäden zwischen Himmel und Erde spann. So verliert die Religion in eben dem Maße, wie 'die Geschichte gewinnt. Das präzisere Sehen selbst, die genauere Fixierung der besonderen Zeit, dies notwendige Ergebnis einer kritischen Denkart, ist einer geschichtlichen Religion ungünstig, sofern deutlich sehen auch die Grenzen und damit die Unterschiede von anderen Epochen gewahren heißt. Das aber verhindert ein unmittelbares Verschmelzen des eignen Lebens mit jener andersartigen Zeit. So kann nun der Protestantismus nicht mehr als eine einfache Wiederaufnahme des alten Christentums gelten.

Die Bewegung der Neuzeit wider das Christentum.

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Aber die Erschütterung der geschichtlichen Grundlagen des religiösen Lebens reicht noch weiter: es ist nicht bloß der besondere Inhalt, der zur Abweichung zwingt, es ist die Geschichte überhaupt, welche zur Begründung der Religion nicht mehr tauglich scheint. Denn das Denken, dem die moderne Welt ,die Führung des Lebens überweist, vermag die Geschichte nicht als eine Quelle ewiger Wahrheiten anzuerkennen. Eine solche Wahrheit muß einer unmittelbaren Vergegenwärtigung fähig sein, sie muß sich jedem und jederzeit darthun lassen; das aber vermag sie nur als in der zeitlosen Natur der Vernunft begründet und von hier aus stets neu erweisbar. Ein Ereignis der Vergangenheit dagegen mag in die geschichtlichen Zusammenhänge noch so tief eingegriffen haben und in seinen Folgen bis auf uns fortwirken, es wird damit noch keineswegs ein Stück unseres eignen Lebens; wir können es nicht unmittelbar erfahren, nicht selbst auf seine Gültigkeit prüfen, nicht in einen eignen Besitz verwandeln. Das aber verlangen nach neuerer Überzeugung vor allem religiöse Grundwahrheiten. So zerwerfen sich Vernunft und Geschichte bis zu schroffstem Gegensatz, und eine Begründung wie alles geistigen Lebens so auch der Religion auf die Geschichte findet den schärfsten Widerspruch. „Zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden" (LESSING). Wenn sich aber derart das Leben der Bindung an die Geschichte entwindet, so wird es zu einem Unding und einem unerträglichen Druck, das Seelenheil des Menschen an die willige Aufnahme historischer Vorgänge oder vielmehr als historisch behaupteter Vorgänge zu binden. .,Daß ein Geschichtsglaube Pflicht sei und zur Seligkeit gehöre, ist Aberglaube" (KANT). Kann solche Auflösung der alten Verschmelzung von Vernunft und Geschichte irgendwelche Religion tiefer berühren und erschüttern als das Christentum, die am meisten historische aller Religionen? Das sind große Wandlungen, die zunächst die Form des Lebens verändern, mit ihr jedoch auch den Inhalt umbilden. Aber auch direkt wird der bisherige Inhalt angegriffen, sowohl durch eine Verschiebung des Verhältnisses von Geistigem und Sinnlichem, als durch eine Verlegung des 3*

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Schwerpunktes innerhalb des Geisteslebens. Mit der Entfaltting einer weltumspannenden Denkthätigkeit hebt sich das Geistige freier über alles Sinnliche hinaus, fühlt sich in dem eignen Bereiche durchaus selbständig und behandelt das Sinnliche nicht mehr als einen wesentlichen Bestandteil des Lebens, sondern als eine bloße Erscheinung und Darstellung geistiger Vorgänge; wertvoll am Sinnlichen scheint nun nicht sowohl der unmittelbare Eindruck und Genuß als die Leistung für geistige Zwecke, namentlich für die Steigerung geistigen Lebens. Ein großer Wendepunkt des menschlichen Daseins, im besonderen der Kulturarbeit, ist nicht zu verkennen. Zur Vollständigkeit einer Handlung gehörte früher ein sinnliches Element. Das Rechtsgeschäft war nicht gültig ohne eine genau bestimmte sinnfällige Leistung, die politische Gewalt schien geknüpft an den Besitz besonderer Stätten, wie das Kaisertum an den der Stadt Rom, der Staatsbegriff schied sich, nicht von der Persönlichkeit des Herrschers, ähnlich hatten Handel und Wandel, ähnlich auch die verschiedenen Zweige der geistigen Arbeit eine sinnliche Gebundenheit; überall war das Sinnliche kein gleichgültiges Zeichen, sondern ein unentbehrlicher und fester Bestandteil des Lebens. — Die Neuzeit vollzieht eine Befreiung des Geistigen von solcher Gebundenheit, sie erhebt es zu einer bei sich selbst befindlichen, keiner Ergänzung bedürftigen Wirklichkeit, sie vollzieht überall eine Umsetzung der Größen ins Unsinnliche, Gedankenhafte, Ideelle. Selbst die Natur wird der Wissenschaft ein System von unsichtbaren Kräften und Gesetzen; Staat und Gesellschaft werden Gedankengrößen, die aus der Notwendigkeit ihres Begriffes Konsequenzen entwickeln und Ansprüche erheben; auch sich selbst sieht jetzt der Mensch vornehmlich durch sein Denken hindurch und erfaßt sich damit als Persönlichkeit, Individualität u. s. w. So wird das ganze Leben in das Element des Gedankens getaucht und dadurch vergeistigt, alle Umwandlung im Besonderen aber ist eine Bekräftigung der Selbständigkeit und Überlegenheit des Geistes überhaupt. Einer so bedeutenden Wendung des Lebens kann sich auch