Der Urkundenprozeß unter besonderer Berücksichtigung von Verfassung (rechtliches Gehör) und Vollstreckungsschutz [1 ed.] 9783428475506, 9783428075508

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Der Urkundenprozeß unter besonderer Berücksichtigung von Verfassung (rechtliches Gehör) und Vollstreckungsschutz [1 ed.]
 9783428475506, 9783428075508

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Christian Hertel . Der Urkundenprozeß

Schriften zum Prozess recht Band 109

Der Urkundenprozeß unter besonderer Berücksichtigung von Verfassung (rechtliches Gehör) und Vollstreckungs schutz

Von Dr. Christian Hertel

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Hertel, Christian: Der Urkundenprozess unter besonderer Berücksichtigung von Verfassung (rechtliches Gehör) und Vollstreckungsschutz / von Christian Hertel. - Berlin : Duncker und Humblot, 1992 (Schriften zum Prozessrecht ; Bd. 109) Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1992 ISBN 3-428-07550-1 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1992 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0582-0219 ISBN 3-428-07550-1

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1991/92 von der Juristischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg als Dissertation angenommen. Für die Drucklegung konnten die bis zum März 1992 veröffentlichte Literatur und Rechtsprechung Berücksichtigung finden. Das Thema geht auf eine Anregung von Herrn Professor Dr. Dr. h. c. Peter Arens zurück, mit dem ich oft Gelegenheit hatte, über den behandelten Problembereich zu diskutieren. Diese Gespräche waren eine entschei~ dende Hilfe für mich. Nach dem unerwarteten Tod von Herrn Professor Peter Arens wurde die Arbeit von Herrn Professor Dr. Dieter Leipold weiterbetreut, dem ich hierfür sowie für zahlreiche wertvolle Hinweise besonders danke. Mein Dank gilt auch Herrn Prof. Dr. Elmar Bund für die Erstellung des Zweitgutachtens. Dieses Buch widme ich meinen Eltern. Freiburg, im April 1992

Chrislian BeTtel

Inhalt Einleitung ........................................................................................................ 17 A. Das Verhältnis von Verfassung und einfachgesetzlicher Regelung, insbesondere der Zivilprozeßordnung ................................................. 22

I.

Das Grundrechtsverständnis .......................................................... 22 1. Verfassungsvorrang und Bindung des Gesetzgebers ............ 22 2. Überprüfbarkeit durch ein Verfassungsgericht .................... 23

11. Mehrfunktionalität der Grundrechte durch den Einfluß der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ........................ 24 1. Die klassischen Grundrechtsfunktionen ............................... 24 2. Mehrfunktionalität und objektive Wertordnung .................. 25 III. Verhältnis von Verfassung und Prozeßrecht im besonderen .... 1. Prozeßgrundrechte ................. ................................................. 2. Materiellen Grundrechten entspringende Verfahrensschutzrechte .............................................................................. 3. Allgemeine Verfahrensgrundrechte ...................................... a) Einführung ......................................................................... b) Zuschlagsentscheidungen ................................................. c) Verfassungsrechtliche Grundlagen ................................. d) Gefahren für die ZPO ...................................................... 4. Mittelbare Drittwirkung von Grundrechten .........................

26 26 26 27 27 27 29 30 30

IV. Bedeutung für den Urkundenprozeß - Das Recht auf Beweis . 1. Allgemeines .............................................................................. 2. Verfassungsrechtliche Grundlage des Rechts auf Beweis .. a) Justizgewährungsanspruch ............................................... b) Gleichheitsgrundsatz ........................................................

31 31 32 32 33

Inhalt

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c) Das rechtliche Gehör ....................................................... aa) Inhalt .......................................................................... bb) Umfang ...................................................................... cc) Kernbestand und Mehrfunktionalität .................... dd) Rechtliches Gehör vor der Entscheidung als Grundsatz, rechtliches Gehör im nachhinein als Ausnahme ............................................................ ee) Verfassungsrechtliche Grundlage der Einschränkung des Rechts auf Beweis ......................... ff) Rechtliches Gehör und Beibringungsgrundsatz

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V. Rechtliches Gehör, materielle Rechtskraft und effektiver Rechtsschutz .................................................................................... 46 VI. Einheitliche Betrachtung von Erkenntnis- und Vollstrekkungsverfahren ................................................................................ 49 B. Urkunden-, Wechsel- und Scheckprozeß ............................................. 51 I.

Der Urkundenprozeß ..................................................................... 51

11. Der Wechsel- und Scheckprozeß .................................................. 53 III. Verfassungsrechtliche Interessenlage ........................................... 53 IV. Vergleich mit anderen abgekürzten Verfahrensarten ................ 1. Urkundenprozeß und Mahnverfahren .................................. a) Bedeutung von Widerspruch und Einspruch ................. b) Rechtliches Gehör, Rechtskraft und Einlassungszwang .................................................................................. 2. Urkundenprozeß und vorläufiger Rechtsschutz .................. 3. Urkundenprozeß und vollstreckbare Urkunde .................... a) Die vollstreckbare Urkunde ............................................ b) Verzicht auf Rechtsschutz ............................................... c) Empfänger der Verzichtserklärung ................................ d) Ergebnis ............................................................................. 4. Schlußfolgerung ........................................................................

54 54 54 55 56 58 58 59 60 61 62

V. Das besondere Rechtsschutzbedürfnis wegen erhöhter Beweiskraft ....................................................................................... 64

Inhalt

VI. Das Nachverfahren ......................................................................... 1. Bedeutung des Nachverfahrens als Rechtfertigungsgrund .......................................................................................... 2. Eingriffe, die nicht auf einer Beweismittelbeschränkung beruhen ...................................................................................... 3. Eingriffe, die auf einer Beweismittelbeschränkung beruhen ...................................................................................... a) Nachträglicher Ausgleich des Vollstreckungsschadens ist möglich .......................................................................... b) Irreparable Schäden ......................................................... aa) Immaterielle Nachteile ............................................ bb) Rufschäden ................................................................ cc) Irreparable Schäden aufgrund faktischer Unmöglichkeit ........................................................... c) Zwischenergebnis .............................................................. VII. Der Verzicht .................................................................................... 1. Der Grundrechtsverzicht ........................................................ 2. Der Verzicht auf das rechtliche Gehör im allgemeinen ..... 3. Wechselprozeß und Verzicht auf rechtliches Gehör .......... a) Problemstellung ................................................................ b) Beschränkung des rechtlichen Gehörs als Bestandteil des materiellen Rechts ...... .............................. ................. 4. Rechtliches Gehör, Klagbarkeit und Justizgewährungsanspruch .................................................................................... 5. Der Verzicht auf rechtliches Gehör im Urkundenprozeß .. a) Zulässigkeit ........................................................................ b) Erklärungsadressat ........................................................... 6. Verzichtserklärung und Prozeßgrundrecht ......................... 7. Vorläufiges Ergebnis ............................................................... 8. Verzichtserklärung im Wechselprozeß ................................. 9. Verzichtserklärung im Urkundenprozeß ....................... VIII. Rechtfertigung des Urkundenprozesses durch ein rein öffentliches Interesse ..................... ................................................. 1. Ausgangslage ............................................................................ 2. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu § 554b ZPO ............................................................................... 3. Übertragbarkeit auf den Urkundenprozeß ..........................

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10

c.

Inhalt

Historische Entwicklung des Urkundenprozesses

I.

100

Notwendigkeit einer eingehenden Darstellung ......................... 100

11. Entwicklung im Gebiet des heutigen Norditaliens ................... 1. confessus in iure ..................................................................... 2. iudex chartularius ................................................................... 3. c1ausula executiva ................................................................... 4. Der eigentliche Executivprozeß ...........................................

101 101 103 104 104

III. Die Entwicklung in Deutschland ................................................. 105 IV. Der gemeinrechtliche Executivprozeß im 19. Jahrhundert und dessen Einbettung in die Theorie der summarischen Prozesse .......................................................................................... 1. Ausgangslage .......................................................................... 2. Die Theorie der summarischen Verfahren ........................ 3. Der gemeinrechtliche Executivprozeß ................................ a) Verfahrenseröffnung ...................................................... b) Produktionstermin .......................................................... c) Beweisregel und Streitgegenstand ................................ d) Urkundenqualität ............................................................ e) Vorläufigkeit der Entscheidung .................................... 1) Vollstreckungsschutz ...................................................... 4. Würdigung des gemeinrechtlichen Executivprozesses unter dem Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs ............. 5. Vom Urkundenbeweis zum Urkundenbeweis ..................... V.

106 106 107 108 108 109 110 112 112 113

113 114

Der Streit um die Beibehaltung des Urkundenprozesses ........ 117 1. Die hannoveranischen Protokolle ........... ............................. 117

2.

Die Motive zur CPO von 1877 ............................................. 121

D. Rechtfertigung wegen sofortiger Liquidstellung des urkundlich belegten Anspruchs - Beweisbedürftigkeit von nicht bestrittenen, zugestandenen und offenkundigen Tatsachen im Urkundenprozeß . 124 I.

Rechtslage ...................................................................................... 124

11. Auslegung nach dem Wortlaut .................................................... 126 III. Systematische Auslegung ............................................................. 129 1. Rechtsprechung des BGH .................................................... 129 2. Funktion der Urkunde .......................................................... 129

Inhalt

11

3. Unterschiedliche Behandlung von nicht bestrittenen, zugestandenen und offenkundigen Tatsachen? .................. 132 IV. Teleologische Auslegung .............................................................. 134 V. Historische Auslegung .................................................................. 135 VI. Zusammenfassung ......................................................................... 137 E. Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahren ........................................ 138 I.

Verfassungswidrigkeit des Urkundenprozesses? ...................... 138

11. Notwendigkeit einer eigenständigen Untersuchung der Einstellungsmöglichkeiten nach §§ 707 und 719 ZPO ................... 139 F. Das Ermessen des Zivilrichters .......................................................... 142 I.

Ermessen im allgemeinen ............................................................ 142

11. §§ 707, 719 ZPO als Ermessensregelungen ............................... 1. Äußerungen der Rechtsprechung ........................................ 2. Äußerungen in der Literatur ................................................ a) Die Ansicht Wieczoreks .................................................. b) Überwiegende Ansicht ................................................... 3. Verhältnis von Erfolgsprognose und Ermessen ................. a) Meinung Künkels ............................................................. b) Meinung Schneiders ........................................................ 4. Vorläufiges Ergebnis .............................................................

143 143 144 144 145 145 145 146 148

III. Ermessen im Zivilprozeß ............................................................. 1. Verwaltungsrechtlicher Handlungsspielraum und verfassungsrechtliche Begründung ...................................... 2. Ermessen des Zivilrichters im Unterschied zum Verwaltungsrecht ................................................................... a) Die Ansicht Fenges und deren Auswertung ................. b) Die Ansicht von Schmidt-Lorenz und deren Auswertung ......................................................................

149 149 150 150 152

IV. Eigene Ansicht, insbesondere unter Auswertung der Thesen Henckels ................................................................................... 154 1. Verwaltungsverfahrensrechtliches und richterliches Ermessen ................................................................................. 154

12

Inhalt

2. Einfluß der Prozeßmaximen 3. Das dogmatische Verständnis vom Verhältnis des materiellen Zivilrechts zum Prozeßrecht und die daraus resultierende Ablehnung eines Handlungsspielraums im Vollstreckungsschutz ............................................................. a) Die Thesen Henckels ...................................................... b) Sonstige Meinungen ....................................................... aa) Die Ansicht von Lippross ....................................... bb) Die Ansicht Weylands ............................................ ce) Die MeinungArens ................................................. c) Zuordnung des Schuldnerschutzes zum öffentlichen Recht ................................................................................. d) Verdienst Henckels ......................................................... e) Faktische Kürzung einer Rechtsposition durch den Schuldnerschutz ............................................................... f) Der Vollstreckungsschutz mit überwiegend privatrechtlicher Wertung ........................................................ g) Die Abtrennung des Schuldnerschutzes von anderen Regelungen des Vollstreckungsrechts mit Hilfe des Vollstreckungsrechtsverhältnisses ................................ 4. Bestätigung der Ansicht durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ................................................... a) Verfassungskonforme Auslegung ................................. b) Materielles und Prozeßrecht ......................................... c) EinbruchsteIlen der Grundrechte in das Prozeßrecht .................................................................................. 5. Verfahrensermessen im Zivilprozeß ................................... 6. Ergebnis ..................................................................................

155

156 156 158 158 158 159 159 160 161 161 163 164 164 165 165 166 167

G. Die Einstellungsvorschriften der §§ 707, 712, 719 ZPO .................. 168 I.

Einleitung

168

11. Der unersetzbare Nachteil ........................................................... 169 III. Weitere Einstellungskriterien ...................................................... 171 IV. Die Interessenabwägung .............................................................. 1. Art des Interesses ................................................................... 2. Überwiegendes Interesse ...................................................... 3. Frühere Ansicht .....................................................................

172 172 173 173

Inhalt

4. Die Gesetzesnovelle von 1977 .............................................. 5. Heutige Ansicht ...................................................................... 6. Kritische Würdigung der Gesetzesnovelle von 1977 ......... a) Die ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbaren Urteile ................................................................... b) Vollstreckbarkeit des Vorbehaltsurteils ohne Leistung einer Sicherheit ............................................... c) Verbriefung bei Scheck und Wechsel........................... d) Übertragung auf den gewöhnlichen Urkundenprozeß ...............................................................................

13

175 178 179 179 180 181 182

V.

Die Erfolgsprognose ................................................................... 183

VI.

Verhältnis von Interessenabwägung und Erfolgsaussicht

185

VII. Grundrechtsbetroffenheit als weiteres Einstellungskriterium? .............. ...... ........ ............... .... .......... .................. ..... .... 186 VIII. Lösungsvorschlag ......................................................................... 187 IX.

Unterschiedliche Behandlung von § 719 und § 707 ZPO ...... 190 1. § 719 ZPO .............................................................................. 190 2. § 707 ZPO .............................................................................. 190

H. Zusammenfassung und Ausblick ....................................................... 192 Literaturverzeichnis

1%

Abkürzungsverzeichnis aA. Abs. AcP a.F. Alt. a.M. Anm. Art. BAG BAGE BayVerfGH BayVerfGHE BayVerfGHG BayVerwGH BayVerwGHE BB BGB BGH BGHZ BT-Drucks. BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerwG BVerwGE CPO DAVorm DB f., (ff.) FamRZ FS

GG Gm.S. GRUR HGB hM

anderer Ansicht Absatz Archiv für die civilistische Praxis alte Fassung Alternative anderer Meinung Anmerkung Artikel Bundesarbeitsgericht Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts Bayerische Verfassungsgerichtshof Entscheidungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs Bayerische Verfassungsgerichtshofgesetz Bayerische Verwaltungsgerichtshof Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs Der Betriebs-Berater Bürgerliehes Gesetzbuch Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bundestagsdrucksache Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverfassungsgerichtsgesetz Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Civilprozeßordnung Der Amtsvormund Der Betrieb folgend(e) Zeitschrift für das gesamte Familienrecht Festschrift Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Gemeinsame Senat Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht Handelsgesetzbuch herrschende Meinung

Abkünungsveneichnis Hs. IheringsJb i.V.m. Jur. Büro JW JZ

Kap.

KG KO LG LM LZ mAnm. MDR Mot. m.w.N, n.F. NJW NJW-RR NVwZ OLG OLGZ Prot. Rdnr. RG RGZ Rspr. S. SAE SchG str. Übers. VersR Vorb. VwGO VwVfG WG WM ZIP ZPO ZZP

lS

Halbsatz Iherings Jahrbücher für die Dogmatik des bürgerlichen Rechts in Verbindung mit Juristische Büro Juristische Wochenschrift Juristenzeitung Kapitel Kammergericht Berlin Konkursordnung Landgericht Nachschlagewerk des BGH, hg. von Lindenmeier, Möhring u.a. Leipziger Zeitschrift für Deutsches Recht mit Anmerkung Monatszeitschrift für Deutsches Recht Motive mit weiteren Nachweisen neue Fassung Neue Juristische Wochenschrift NJW-Rechtsprechungs-Report Zivilrecht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Oberlandesgericht Entscheidungen der Oberlandesgerichte in Zivilsachen Protokolle Randnummer Reichsgericht Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Rechtsprechung Satz / Seite Sammlung arbeitsrechtlicher Entscheidungen Scheckgesetz streitig Übersicht Versicherungsrecht Vorbemerkung( en) Verwaltungsgerichtsordnung Verwaltungsverfahrensgesetz Wechselgesetz Wertpapier-Mitteilungen; seit 1977: Zeitschrift für Wirtschaftsund Bankrecht Zeitschrift für Wirtschaftsrecht; bis 1982: Zeitschrift für Wirt schaftsrecht und Insolvenzpraxis Zivilprozeßordnung Zeitschrift für Zivilprozeßrecht

Einleitung Der Urkundenprozeß gehört heute in der Wissenschaft eher zu den weniger beachteten Rechtsgebieten des Zivilprozeßrechts. Dies mag unter anderem daran liegen, daß die Praxis von ihm in seiner Grundform kaum Gebrauch macht. Unter Einbeziehung des Scheck- und Wechselprozesses entfielen auf den Urkundenprozeß im Jahre 1981 0,5 % aller bei den Amtsgerichten und 2,6 % aller bei den Landgerichten erledigten Verfahren!. Im Zusammenspiel mit dem Zwangsvollstreckungsrecht kann er aber zu einem für den Beklagten unkalkulierbaren Risiko werden. Jene Gefahren aufzuzeigen und entsprechende Lösungsvorschläge herauszuarbeiten, ist Ziel der vorliegenden Arbeit. Dies mögen zwei Fallbeispiele illustrieren: Die Gläubigerin, eine konkursgefährdete GmbH, verlangt im Urkundenprozeß die Zahlung des Kaufpreises für eine bereits gelieferte Wart? Als Beweis hierfür legt sie den schriftlich fIXierten Kaufvertrag sowie eine vom Schuldner bestätigte Empfangsquittung vor. Der Beklagte erhebt aufgrund eines Mangels die Einrede der Wandelung, welche er jedoch nicht mit den in §§ 598, 595 Abs. 2 u. 3 ZPO erforderlichen Beweismitteln belegen kann. Daraufhin ergeht ein dem Antrag der Klägerin entsprechendes Vorbehaltsurteil, das gem. §§ 599 Abs. 3, 704 Abs. 1, 708 Nr. 4 ZPO ohne Leistung einer Sicherheit vollstreckt wird. Zuvor hatte der Beklagte vergeblich versucht, durch einen Antrag nach § 707 Abs. 1 S. 2 ZPO eine Einstellung der Zwangsvollstreckung zu erreichen. Kurz darauf geht die GmbH in Konkurs. Im Nachverfahren wird das Vorbehaltsurteil gem. §§ 600 Abs. 2, 302 Abs. 4 s. 2 ZPO aufgehoben und die Klage abgewiesen, nachdem der Schuldner den Mangel durch einen Zeugen beweisen konnte. Aus §§ 600 Abs. 2, 302 Abs. 4 S. 3, 4 und § 717 Abs. 2 ZPO verlangt er nun seinen Kaufpreis zurück. Da der Beklagte weder aus- bzw. absonderungsberechtigt ist noch die Stellung eines Massegläubigers innehat, muß er sich mit der Konkursquote zufrieden geben. 1 Statistisches

2

Bundesamt S. 26, 39. Dazu KG Berlin LM § 719 Abs. 2 ZPO Nr. 26.

2 Hortel

18

Einleitung

Hätte der Schuldner den Zeugenbeweis gleich führen können oder wäre die Zwangsvollstreckung bis zum Abschluß des Nachverfahrens eingestellt worden, wäre ein solcher Nachteil für ihn nicht eingetreten. Im zweiten Fall macht der Gläubiger im Urkundenprozeß eine Forderung geltend; dazu legt er eine schriftliche Anerkenntniserklärung gem. § 781 BGB vor. Der Schuldner, dem der Konkurs droht, bestreitet zwar nicht die abgegebene Erklärung, wendet aber ein, er sei gem. § 123 Abs. 1 BGB anfechtungsberechtigt, weil er zur Abgabe einer Willenserklärung durch widerrechtliche Drohung bestimmt worden sei. Da er dies nicht mit einer Urkunde zu beweisen vermag, ergeht auch hier ein Vorbehaltsurteil, welches sofort vollstreckt wird. Zumindest auch aufgrund der Vollstreckung muß der Beklagte Konkurs anmelden, was bei ihrem Unterbleiben eventuell hätte vermieden werden können. Im Nachverfahren kann der Schuldner die widerrechtliche Drohung beweisen. Der Konkursverwalter macht Schadensersatzansprüche aus §§ 6 Abs. 2 KO, 600 Abs. 2 i.V.m. § 302 Abs. 4 S. 3,4 ZPO; § 717 Abs. 2 ZPO; § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 Abs. 1 StGB; § 826 BGB geltend. Zwar mag es denkbar sein, daß der Schadensersatzanspruch finanziell vollen Ausgleich gewährt. In der Regel wird es aber unmöglich sein, die genaue Höhe des Schadens zu berechnen. Zudem ist der Betrieb des Schuldners durch den Konkurs ruiniert, der von Amts wegen auch dann fortzuführen ist, wenn z.B. die Forderung des den Konkurs betreibenden Gläubigers wegfällt3. Der Urkundenprozeß soll als summarische, schleunige Prozeßart dem Kläger durch beschränkte Beweismittel vorläufigen Rechtsschutz gewähren4 . Die genannten Fälle zeigen aber, daß das vorläufige Vorbehaltsurteil zu einem für den Beklagten nicht mehr zu beseitigenden Schaden, rechtliche Vorläufigkeit zu einer tatsächlichen Endgültigkeit führen kann. Nicht nur, daß insofern der provisorische Charakter des Urkundenprozesses verloren geht, es fragt sich außerdem, welches durch die Verfassung geschützte Recht dem Gläubiger die Befugnis einräumt, mit dem Risiko der Unverrückbarkeit in das Vermögen des Schuldners vollstrecken zu können und so in sein Recht auf Beweis einzugreifen. 3 Zum umgekehrten Fall, daß der einen kleinen Handwerksbetrieb leitende Gläubiger Konkurs anmelden muß, nachdem die Zwangsvollstreckung aus einem Titel über eine fünfstellige Summe (leichtfertig) vorläufig eingestellt worden ist, Teplit7ky Kap. 57 Rdnr. 38 Fn. 80. 4 Habscheid ZZP 96,306 (313); LükeIPrüuing S. 321.

Einleitung

19

Diese Frage ist um so dringlicher geworden, nachdem das BVerfG damit begonnen hat, verfassungsrechtliche Grundsätze, insbesondere auf dem Gebiet des vorläufigen Rechtsschutzes, in das Zivilprozeßrecht einfließen zu lassen. Zudem ist das einzige für den Schuldner in Betracht kommende Regulativ, nämlich die Einstellung der Zwangsvollstreckung bis zum Abschluß des Nachverfahrens, seit 14 Jahren nur noch eine stumpfe Waffe. Während der Gesetzgeber von 1877 beim Erlaß der CPO noch davon ausging, daß bei einem Interessenkonflikt zwischen Gläubiger und Schuldner letzterer die Oberhand behalten sollte5 , hat er 100 Jahre später in der Vereinfachungsnovelle von 1977 den Gläubiger bevorzugt. Danach geht bei einer Kollision seiner Belange mit denen des Schuldners, weil beiden ein nicht zu ersetzender Nachteil droht, gern. §§ 712 Abs. 2 S. 1, 719 Abs. 2 S. 1 ZPO ein überwiegendes Interesse des Gläubigers vor>. Es gilt deshalb, drei· divergierende Entwicklungen auf jeweils verschiedenen Rechtsgebieten aufzuzeigen und miteinander in Einklang zu bringen. Gemeint ist das Verhältnis von ZPO und Grundgesetz, die historische Entwicklung des Urkundenprozesses zu einem summarischen Verfahren sowie die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung7• In einem ersten Abschnitt befasst sich die Abhandlung zunächst mit dem veränderten Verständnis vom Verhältnis des Verfassungsrechts zum Zivilprozeßrecht, geprägt durch die ständige Rechtsprechung des BVerfG. Längst sind Grundrechte nicht mehr nur Abwehrrechte einzelner. Sie durchdringen heute jedes Rechtsgebiet in Form von Auslegungskriterien als Ausfluß einer objektiven Wertordnung.

In einem nächsten Kapitel ist der Einfluß des Verfassungsrechts auf ausgewählte abgekürzte Verfahrensarten in der ZPO zu prüfen. Untersucht werden dabei neben dem Urkunden-, Scheck- und Wechselprozeß der vorläufige Rechtsschutz, die vollstreckbare Urkunde und das Mahnverfahren.

Vgl. §§ 647, 651 CPO von 1877; Mol. I S. 426, 429 f.; Mot. 11 S. 515 f. ; Mot. III S. 429. BT-Drucks. 7/2729 S. 45,109. 7 Auch in anderem Zusammenhang wird das Verhältnis von rechtlichem Gehör, Nachverfahren und vorläufiger Einstellung der Zwangsvollstreckung untersucht. So gelangt Hoeren NJW 1991, 410 (411) zu dem Ergebnis, die rein auf Praktikabilitätserwägungen beruhende Verbindung von Pfandungs- und ÜbeIWeisungsbeschluß sei wegen Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 1 GG i.V.m. § 834 ZPO verfassungswidrig. 5 6

Einleitung

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Mit Hilfe eventuell gefundener Parallelen sollen Rückschlüsse gezogen werden. Anschließend soll der geschichtliche Werdegang des Urkundenprozesses dargestellt werden. Es ist ein Hauptanliegen der Arbeit, auf die Diskrepanz von heutigem und damaligem Verständnis aufmerksam zu machen. Nach Ansicht des Verfassers liegt das auch an der oft kritiklosen und rein auf Praktikabilitätsgründen beruhenden Übernahme einzelner Gerichtsentscheidungen. So ist z.B. heute im Hinblick auf den Anwendungsbereich des Urkundenprozesses allgemeine Meinung, daß eine einzige Urkunde ausreichend ist, um im schleunigen Urkundenprozeß klagen zu können, wenn der Beklagte nur die sonstigen Tatsachen nicht bestreitet. Dabei spielt die Qualität der Urkunde kaum eine Rolle. Der Gläubiger muß sich deshalb weder um die Anerkennung einer Urkunde noch um eine Unterschrift durch den Schuldner bemühen, geschweige denn, daß er nur mit dessen Einverständnis im Urkundenprozeß zu klagen berechtigt wäre. Anders als etwa bei der Unterwerfung unter die sofortige Zwangsvollstreckung ist hier der Einfluß des Schuldners bei der Erstellung der Urkunde verschwindend gering; dabei entstammen beide Institute derselben geschichtlichen Wurzel8. Berücksichtigt man zudem, daß heute jedes größere Rechtsgeschäft schriftlich aufgezeichnet wird, ist es ein leichtes für den Gläubiger, sich die für die Klage im Urkundenprozeß notwendigen Unterlagen zu beschaffen. In einem weiteren Kapitel wird das Verhältnis von Urkundenprozeß und Schuldnerschutz vertieft zu behandeln sein. Fraglich ist, ob die Regeln über die vorläufige Einstellung der Zwangsvollstreckung, die ebenso ein summarisches Verfahren darstellen, einen unter verfassungsrechtlichen Aspekten zu betrachtenden Schutz bieten, sollte im Erkenntnisverfahren durch Beweisbeschneidung eine nicht zu rechtfertigende einseitige Grundrechtseinschränkung erfolgen. Der Schuldner hat hier abgesehen von der oft nicht realisierbaren Möglichkeit, urkundlich belegte Einwendungen im Urkundenprozeß vorzutragen, das erste Mal die Gelegenheit, durch eigene Einflußnahme eine mittels Vorbehaltsurteil vorgezogene Vollstreckung zu verhindern. Es sollen Kriterien herausgearbeitet werden, die eine Aussage darüber treffen, wann einzustellen ist bzw. wann ein überwiegendes Interesse des Gläubigers einer Einstellung entgegensteht. Schließlich ist zu untersuchen, ob dem Gericht, das über die Einstellungsanträge zu entscheiden hat, ein Ermessen im Sinne einer Auswahl unter 8 Briegleb

(1845) S. 36.

Einleitung

21

mehreren gleichermaßen rechtmäßigen Rechtsfolgeanordnungen zusteht. Von diesem Standpunkt scheint die überwiegende Ansicht in Rechtsprechung und Literatur auszugehen. Sollte wirklich ein Handlungsspielraum im vorgenannten Sinne bestehen, könnte dies im Hinblick auf die Rechtsprechung des BVerfG sowie die Erkenntnis, daß mangelnder Vollstreckungsschutz den Anspruch des Schuldners auf rechtliches Gehör zumindest faktisch kürzen kann, zu Schwierigkeiten führen.

A. Das Verhältnis von Verfassung und

einfachgesetzlicher Regelung, insbesondere der Zivilprozeßordnung I. Das Grundrechtsverständnis Vor allem zwei Umstände haben dazu beigetragen, daß die Frage nach der Einwirkung der Grundrechte auf das Zivilprozeßrecht neueren Datums ist. Gemeint sind der Vorrang der Verfassung vor der einfachgesetzlichen Regelung sowie die Überprütbarkeit von Normen und Entscheidungen auf ihre Verfassungsmäßigkeit1.

1. Verfassungsvorrang und Bindung des Gesetzgebers Die zum Zeitpunkt des Erlasses der Civilprozeßordnung im Jahre 1877 zugrunde liegende Bismarcksche Reichsverfassung von 1871 kannte - abgesehen von der in Art. 3 geregelten Niederlassungs- und Gewerbefreiheit keine reichseinheitlich geregelten Individualgrundrechte. Man begründete dies damit, daß Grundrechte bereits Gemeingut geworden und in den einzelstaatlichen Verfassungen festgelegt seien. Tatsächlich sprach man aber dort nicht von Grundrechten, sondern von Garantien staatsbürgerlicher Rechte2• Darüberhinaus war zu dieser Zeit eine Bindungswirkung des Reichsgesetzgebers an das Verfassungsrecht einzelner Staaten schon wegen des Vorrangs des Reichsrechts nicht anerkannt. Anders als bei den Vorbildern des nordamerikanischen und des französischen Rechts war es in Deutschland nicht die Volkssouveränität allein, wel1 Zur Entwicklung der Grundrechte: Arem, Ringvorlesung S. 87 ff; Böckenförde, Modeme deutsche Verfassungsgeschichte; Hesse, Ringvorlesung S. 1 ff; Pieroth/Schlink Rdnr. 32 bis 45; Wahl, Der Staat 1979, 321 ff.; 1981,485 ff.; Weyland S. 21 ff. 2 Insb. die Preußische Verfassungsurkunde von 1850, Titel 11; Verfassungsurkunde des Königreichs Baiem von 1818, Titel IV; Verfassung von Baden aus dem Jahre 1818; Verfassung von Württemberg aus dem Jahre 1819; Weyland S. 22; Pieroth/Schlink Rdnr. 33, 38.

I. Das Grundrechtsverständnis

23

che über den Charakter eines Grundrechts zu entscheiden hatte. Bedeutung und Dogmatik der Grundrechte wurden geprägt durch den deutschen Konstitutionalismus, der Elemente monarchischer Legitimität und demokratischer Volkssouveränität miteinander vermischte3. Grundrechte verstand man nicht als originäre, dem Staat vorausliegende, überpositive Ansprüche des einzelnen, sondern als derivative, erst vom Staat verliehene Rechte4 • Zum einen war deshalb nur die Exekutive, nicht aber die Legislative an Grundrechte gebunden, weil ihr Inhalt durch Gesetze erst verwirklicht werden mußte. Es gab keine Gleichheit durch das Gesetz, sondern lediglich vor dem GesetzS. Zum anderen fehlte es an der Vorstellung, die Verfassung sei gegenüber den sonstigen Gesetzeswerken vorrangigli. So heißt es z.B. in Art. 3 des Titel 11 der Preußischen Verfassungsurkunde von 1850: "Die Verfassung und das Gesetz bestimmen, unter welchen Bedingungen die Eigenschaft eines Preußen und die staatsbürgerlichen Rechte erworben, ausgeübt und verloren werden."

2. Überprütbarkeit durch ein Verfassungsgericht Selbst wenn man mit Erlaß der Weimarer Reichsverfassung die aufgezeigten Schwächen als überwunden betrachten wollte, war bis dato die Befugnis, gerichtliche Entscheidungen sowie Gesetze auf ihre Verfassungsmässigkeit zu überprüfen, wenn überhaupt, dann nur in sehr eingeschränktem Maße ausgebildet. Erst 1925 gestand das Reichsgericht der Judikative zu, eine verfassungsrechtliche Kontrolle des einfachen Rechts vorzunehmen7• Zwar sah die Weimarer Verfassung eine Verfassungsgerichtsbarkeit vor, doch war sie noch zu schwach ausgebildet, als daß der Grundrechtskatalog Einfluß auf die übrigen Gesetzeswerke hätte ausüben können. Die Kompetenz des Staatsgerichtshofs beschränkte sich hauptsächlich auf Streitigkeiten

3 Wahl, Der Staat 1979,321 (347); Böckenförde, Modeme deutsche Verfassungsgeschichte, S. 159 ff.; PierothjSchiin/c Rdnr. 34; deswegen im übrigen auch der preußische Verfassungskonflikt 1861-1865. 4 PierothjSchiin/c Rdnr. 46. 5 PierothjSchiin/c Rdnr. 36. 6 Weyland S. 22; Wahl, Der Staat 1981, 485 ff.; selbst in der Weimarer Republik war die Frage des Vorrangs bis zuletzt umstritten. 7 RGZ 111, 320 (322 ff.); Weyland S. 23 m.w.N. in Fn. 15 f.

24

A. Das Verhältnis von Verfassung und fachgesetzlicher Regelung

zwischen Reich und Ländern8 . Dagegen kannte man weder Rechtsbehelfe des Bürgers, noch waren Normenkontrollverfahren zulässig9. Erst mit Schaffung des Grundgesetzes und Einrichtung des BVerfG waren die normativen Grundlagen für eine alle Rechtsgebiete durchdringende Grundrechtsgeltung gelegt 10• Das gilt vor allem für die nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG vorgesehene Verfassungsbeschwerde. Von diesem Zeitpunkt an war es Aufgabe des höchsten deutschen Gerichts, jener Geltung auch tatsächlich Wirkung zu verschaffen.

11. Mehrfunktionalität der Grundrechte durch den Einfluß der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 1. Die k1assichen Grundrechtsrunktionen

Unter den klassischen Grundrechtsfunktionen versteht man diejenigen, welche dem Individuum einen subjektiv-öffentlichen Anspruch gegen den Staat einräumen11 • Jellinek unterscheidet dabei drei Kategorien, nämlich den negativen Status, welcher die Freiheit vom Staat postuliert l2, den positiven Status, der Forderungen an den Staat stellt und Leistungsrechte betrifft13, sowie den aktiven Status. Letzterer umfasst die Leistungen für den Staat, zu denen die staatsbürgerlichen Rechte gehören l4. 8 Art. 15 Abs. 3 für den Streit über die Ausführung von Reichsgesetzen durch die Landesregierung; Art. 18 Abs. 8 für den Streit über die Vermögensauseinandersetzung im Rahmen von Gebietsabtretung bzw. -vereinigung; Art. 19 Abs. 1 für sonstige Streitigkeiten zwischen Reich und Länder; Art. 59 regelte den Organstreit innerhalb des Reichs; Art. 90 S. 2 betraf den Umfang der Enteignungen infolge des Eisenbahnbaus im Verhältnis von Reich und Land, nicht dagegen die Enteignung von Privatpersonen; vgl. dazu Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs. 9 Pieroth/Schlink Rdnr. 1224; Scheuner in: PS für das BVerfG, Bd. 1, S. 1 ff. (44 ff.); Wahl, Der Staat 1981, 485 ff.; Weyland S. 23 ff. 10 Arens, Ringvorlesung S. 87 ff. 11 Jellinek, Georg S. 86; Alexy, S. 159 ff. sowie zur kritischen Würdigung der Jellinelcschen Staatstheorie S. 229 ff., 243 ff. 12 Jellinek, Georg S. 94 ff.; darunter fallen in der Regel die überpositiven, naturrechtlichen Grundrechte, allen voran die Menschenwürde. 13 A.a.O. S. 114 ff.; hier ist Freiheit ohne den Staat nicht möglich, weil der einzelne auf entsprechende staatliche Vorkehrungen angewiesen ist. Es fallen darunter die Prozeßgrundrechte, insbesondere der Anspruch auf rechtliches Gehör, aber auch der auf Rechtsschutz,

11. Mehrfunktionalität der Grundrechte

25

2. Mehrfunktionalität und objektive Wertordnung

Das BVerfG hat schon bald die Qualifizierung eines Grundrechts lediglich als Individualanspruch aufgegeben. Nachdem Lüth als Leiter der Hamburger Pressestelle zum Boykott des Films "Unsterbliche Geliebte" von Veit Harlan - er hatte in der Zeit des Nationalsozialismus den antisemitischen Film "Jud Süß" gedreht - aufgerufen hatte, klagte die Produktions- und VerleihfIrma mit Erfolg aus § 826 BGB auf Unterlassung des Aufrufs. Die Verfassungsbeschwerde Lüth's führte zur Aufhebung des zivilgerichtlichen Urteils l5 . Das Gericht führt zunächst aus, das Grundgesetz sei keine wertneutrale Ordnung, sondern habe in seinem Grundrechtsabschnitt zur Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte eine objektive Wertordnung aufgerichtet l6 . Die verfassungsrechtliche Grundentscheidung gelte dabei für alle Bereiche des Rechts, wobei insbesondere Generalklauseln und Ermessensvorschriften der Ausstrahlungswirkung von Grundrechten Geltung verschaffen könnten. Eine Rechtfertigung sei dabei im Rahmen einer Güterabwägung vorzunehmen. Im bürgerlichen Recht entfalte sich der Rechtsgehalt der Grundrechte mittelbar durch die privatrechtlichen Vorschriften. Im konkreten Fall war die Vorschrift des § 826 BGB im Geiste des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG auszulegen, was zum Erfolg der Verfassungsbeschwerde führte 17. Damit ging das BVerfG erstmals über den Wortlaut des Art. 1 Abs. 3 GG hinaus, der nur das Verhältnis von Staat und Bürger, nicht aber von Bürger zu Bürger regelt. Aus der objektiv-rechtlichen Funktion wurden im Laufe der Zeit verschiedene Wirkungen der Grundrechte entwickeltl8, so z.B. Teilhabe- und Leistungsrechte, Maßstäbe für die Gestaltung staatlicher Einrichtungen, Schutzpflichten des Staatesl9, vor allem aber grundrechtliche Vorgaben für die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts. Für das S. 124. Es handelt sich dabei durchweg um nicht dem Staat vorausliegende, sondern erst von ihm gewährte Grundrechte; Pieroth/Schlink Rdnr. 46. 14 Jellinek, Georg S. 136 ff. IS BVerfGE 7, 198. 16 BVerfGE

7,198 (205); siehe auch BVerfGE 2,1 (12); 5, 85 (134 ff., 197 ff.); 6, 32 (40 f.).

Georg S. 206, 210; Hesse, Ringvorlesung S. 1 (9 ff.). 18 BVerfGE 6,55 (76); 8, 71 (78); 8,210 (221); 35, 79 (113 fC.); 39, 1 (42 ff.); 47, 327 (369); 49, 89 (142); 50,290 (336 C.); 52,357 (365); 54, 2TI (299 C.); 55, 37 (68); 56,54 (78); 66, 116 (135); 75, 40 (62 ff.); speziell zu den Verfahrensrechten BVerfGE 63, 131 (141); zu Teilhabe17 Jellinek,

und Leistungsrechten BVerfGE 33, 303 (333); Pieroth/Schlink Rdnr. 30 CC.; Alexy S.475 Cf. 19 BVerfG NJW 1987, 2287.

A. Das Verhältnis von Verfassung und fachgesetzlicher Regelung

26

Verhältnis von Zivilprozeßrecht und Verfassung bedeutsam geworden sind unter anderem die mittelbare Drittwirkung von Grundrechten und die aus materiellen Grundrechtspositionen abzuleitenden Verfahrensrechte20•

111. Verhältnis von Verfassung und Prozeßrecht im besonderen21 Versucht man, nach den Argumenten zu differenzieren, mit deren Hilfe das BVerfG zu einer Korrektur zivilprozessualer Entscheidungen gelangt, lassen sich vier Grundlinien ausmachen. Dabei muß jeweils die Prüfungskompetenz des Gerichts gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG i.V.m. §§ 90 ff. BVerfGG eröffnet sein. 1. Prozeßgrundrechte

Am unproblematischsten ist die Berufung auf ein grundrechtsgleiches Prozeßrecht nach den Art. 101 ff. GG; unproblematisch deswegen, weil sie die Judikative als Teil der öffentlichen Gewalt gem. Art. 1 Abs. 3 GG unmittelbar binden, ausdrücklich geregelt und in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG erwähnt sind22. 2. Materiellen Grundrechten entspringende Verfahrensschutzrechte

Weiter entnimmt das Gericht den in Art. 1 ff. GG normierten Grundrechten über die eben erwähnte objektive Wertordnung Verfahrensschutzrechte, um den materiellen Kern der Gewährleistungen nicht zu entwerten. So beeinflusse die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG nicht nur die Ausgestaltung des materiellen Vermögensrechts, sondern wirke auch auf

BVerfGE 24, 367 (401); 46, 325 (333 ff.). Stürner NJW 1979, 2334 ff.; BmdajWeber ZZP 96, 285 ff. 22 Interessanterweise sind bis 1984 45% aller Verfassungsbeschwerden, die nahezu die gesamte Tätigkeit des BVerfG abdecken, auf eine Verletzung des rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG gestützt worden; Arens, Ringvorlesung S. 87; Schumann NJW 1985, 1134 20

21

(1135).

III. Verhältnis von Verfassung und Prozeßrecht im besonderen

27

das zugehörige Verfahrensrecht ein, welches gegebenenfalls verfassungskonform auszulegen sei23 •

3. Allgemeine VerfahrensKJ"Undrechte

a) Einführung Einen anderen Weg hat das oberste deutsche Gericht durch Entwicklung allgemeiner Verfahrensgrundrechte beschritten24 • Zu nennen sind die Grundsätze des fair trial25 sowie der prozessualen Waffengleichheit26, aber auch der Justizgewährungsanspruch bzw. der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz27, mit deren Hilfe sich das BVerfG Eingriffsmöglichkeiten in die zivilprozessuale Rechtsprechung verschafft hat.

b) Zuschlagsentscheidungen Zunächst fällt auf, daß die Begründung bzw.. Herleitung solcher verfassungsrechtlicher Grundsätze nicht einheitlich vorgenommen wird. Als Beispiel sei das Recht auf ein faires Verfahren anhand von vier in den Jahren 1976 bis 1979 ergangenen Zuschlagsentscheidungen erwähnt. Im Rahmen einer Teilungsversteigerung versäumte es das Vollstrekkungsgericht, die Antragsstellerin gem. § 139 ZPO darauf hinzuweisen, wie sie einen Zuschlag in Höhe von etwa 1/70 des Grundstückswertes hätte verhindern können. Das BVerfG sah darin einen Verstoß gegen das nach Art. 3 Abs. 1 GG geschützte Willkürverbot. Das Verfahrensrecht diene nicht nur 23 BVerfGE 24, 367 (400 f.); 38, 175 (181); 46, 325 (334 f.); Arem, Ringvorlesung S. 100 f.; zu den aus materiellen Grundrechten abzuleitenden Verfahrensrechten überhaupt Pieroth/Sch/ink Rdnr. 121 f. 204 Zur Abgrenzung der einzelnen Rechte vgl. Vollkommer in: Gedächtnisschrift für Brum, S. 197 ff. 25 qVerfGE 49, 220 (225); 51, 150 (156); 52, 131 (143 ff.); 57, 250 (275); 70, 297 (308); Arem, Ringvorlesung S. 100 ff.; Stein/lonas/Leipold vor § 128 Rdnr. 62. 26 BVerfGE 52, 131 (143 ff., 156); 55, 72 (93 f.); danach ist das Gebot der Waffengleichheit eine Ausprägung der Rechtsstaatlichkeit und des allgemeinen Gleichheitssatzes; Vollkommer in: FS für SChwab, S. 503; Stümer NJW 1979, 2334 (2337); Stein/Jonas/Leipold vor § 128 Rdnr. 63 f.; Schrameck S. 2n ff. n BVerfGE 35, 382 (401 f.); 49, 252 (256 f.); Klamaris in: FS für Schwab, S. 269.

28

A. Das Verhältnis von Verfassung und fachgesetzlicher Regelung

der Herbeiführung richtiger, sondern auch gerechter Entscheidungen. Zwar werden weder fair trial noch prozessuale Waffengleichheit erwähnt, jedoch wird eine Interpretation in diesem Sinne vorgenommen28• In einer weiteren Entscheidung lag das Problem darin, daß ein Grundstück zwangsversteigert und weit unter Wert zugeschlagen wurde, ohne daß dem Eigentümer genügend Zeit blieb, rechtzeitig Vollstreckungsschutz zu beantragen. Diesmal wurde der Verfassungsverstoß der verfahrensrechtlichen Komponente des Art. 14 GG entnommen29• In einem ganz ähnlichen Fall berief sich das Gericht darüberhinaus auf den dem Rechtsstaatsprinzip entspringenden Anspruch auf eine faire Verfahrensführung sowie auf den grundrechtlichen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz30 . In der letzten Zuschlagsentscheidung ging es wie in der ersten um eine Teilungsversteigerung. Unabhängig davon, ob es sich um eine Versteigerung im Rahmen einer Zwangsvollstreckung oder um eine Teilungsversteigerung handele, sei eine rechtsstaatliehe Verfahrensgestaltung durch verfassungskonforme Auslegung der Verfahrensvorschriften notwendig. Unmittelbar aus Art. 14 GG folge die Pflicht der Gerichte, bei Eingriffen in dieses Grundrecht einen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten. Dies schließe den Anspruch auf eine faire Verfahrensführung ein, der zu den wesentlichen Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips gehöre31 . 28

BVerfGE 42, 64 (72 f.). Es ist ohnehin schwierig, eine genaue Definition zu geben. So ver-

steht das BVerfG unter "Waffengleichheit" eine im Zivilprozeß bestehende Ausprägung der in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Rechtsstaatlichkeit und des allgemeinen Gleichheitssatzes, welche zu verstehen sei als die verfassungsrechtlich gewährleistete Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Parteien vor dem Richter, der - auch im Hinblick auf Art. 103 Abs. 1 GG den Prozeßbeteiligten im Rahmen der Verfahrensordnung gleichermaßen die Möglichkeit einzuräumen habe, alles für die gerichtliche Entscheidung Erhebliche vorzutragen und alle zur Abwehr des gegnerischen Angriffs erforderlichen prozessualen Verteidigungsmittel selbständig geltend zu machen. Entsprechend sei der Richter zu einer objektiven, fairen Verhandlungsführung verpflichtet (BVerfGE 52, 131 (156 f.) m.w.N.). Problematisch an einer solchen Definition ist ihre Offenheit, was dem Grundsatz der Rechtsklarheit und Vorhersehbarkeit widerspricht. 29 BVerfGE 46,325 (335); Arens, Ringvorlesung S. 100. 30 BVerfGE 49,

220 (225 f., 228).

BVerfGE 51, 150 (156); so auch BVerfGE 46, 202 (210), wonach sich die Vorschriften der StPO über die notwendige Mitwirkung und die Bestellung eines Verteidigers im Strafverfahren als Konkretisierungen des Rechtsstaatsprinzips in seiner Ausgestaltung als Gebot fairer Verfahrensführung darstellten. 31

III. Verhältnis von Verfassung und Proußrecht im besonderen

29

Obwohl der jeweilige Beschwerdeführer auch Art. 103 Abs. 1 GG als verletzt ansah, ist das BVerfG darauf nicht eingegangen32 • Dies mag daher rühren, daß nach der hM Art. 103 Abs. 1 GG nur das rechtliche Gehör in einem bereits eingeleiteten Verfahren schützt, nicht jedoch das Recht auf Zugang zum Gericht umfasst33• Schließlich sei noch die Arzthaftungsentscheidung vom 27.07.1979 erwähnt, die ohne scharfe Trennung von Waffengleichheit und fair trial den verfassungsrechtlichen Ansatzpunkt der Institute aus dem Rechtsstaatsprinzip und Art. 3 Abs. 1 GG entnimmt34• c) Verfassungsrechtliche GlUndlagen

Letztendlich existiert keine klare Aussage, aus welchen Vorschriften sich die allgemeinen Verfahrensgrundrechte ableiten lassen35 • Wenn nicht Art. 3 Abs. 1 GG herangezogen wurde, entnahm man die Verfahrensgarantien Art. 14 GG und dem Rechts- bzw. Sozialstaatsprinzip. Man könnte deshalb meinen, auf Schwierigkeiten zu stoßen, sobald nichtvermögensrechtliche Streitigkeiten den Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde bildeten, weil Art. 20 Abs. 3 GG, wichtigster Anknüpfungspunkt für das Rechtsstaatsprinzip, in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG i.V.m. §§ 90 BVerfGG nicht erwähnt ist. Das BVerfG verbindet jedoch Art. 20 Abs. 3 GG mit dem in Art. 2 Abs. 1 GG verkörperten Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und subjektiviert insofern den Rechtsstaatsgedanken, betont allerdings gleichzeitig die dort notwendigerweise strikte Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgebots36•

32 BVerfGE 42,64 (68 ff.); 46, 325 (329); 49, 220 (223); 51, 150 (153); vgl. aber die abweichende Meinung des Richters Geiger in BVerfGE 42,75 ff. 33 Vollkommer in: Gedächtnisschrift für Bruns, S. 200 f. m.w.N.; Arens, Ringvorlesung S. 103. 34 BVerfGE 52,131 (144); teilweise wird in der Literatur auch das Sozialstaatsprinzip angeführt, so Vollkommer in: PS für SChwab, 1990, S. 503 f. m.w.N.; wiederum anders Stein/lonas/Leipold vor § 128 Rdnr. 65, der ein Recht auf faire Verfahrensführung dem Anspruch auf rechtliches Gehör in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip entnimmt. 3S So daß die Vornahme einer Gesamtschau geboten zu sein scheint, BVerfGE 74, 228 (230). 36 BVerfGE 38, 105 (115); 39, 238 (242 f.); 41, 246 (249); 69, 381; zur Subjektivierung des Rechtsstaatsprinzips über Art.2 Abs. 1 GG vgl. Mauder S. 10 ff.; Arens, Ringvoriesung S. 103; Vollkommer in: Gedächtnisschrift für Bruns, S. 213 f.

A. Das Verhältnis von Verfassung und fachgesetzlicher Regelung

30

d) Gefahren für die ZPO

Die Gefahren für die ZPO liegen auf der Hand. Nicht nur, daß Rechtsunklarheit darüber besteht, welche Verfassungsartikel im einzelnen Träger der Verfahrensrechte sind37• Über die Heranziehung und gleichzeitige Ausweitung des Art. 2 Abs. 1 GG wird das BVerfG zu einer Superrevisionsinstanz, die es ermöglicht, vermehrt auf prozeßrechtliche Entscheidungen des BGH einzuwirken und so das eigentlich eher etwas strenger zu handhabende und mit scharfen Konturen versehene Zivilprozeßrecht aufzuweichen38• Verstärkt wird diese Tendenz durch die Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sowie der immer wieder zu findenden Aussage des BVerfG, der Inhalt des Anspruchs auf ein faires Verfahren stehe nicht von vorn herein fest, sondern bedürfe einer wertenden Konkretisierung im Einzelfa1l39 . Mit Arens40 wird man jedoch den Machtzuwachs von Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber den Fachgerichten als Preis für die Einzelfallgerechtigkeit sehen müssen.

4. Mittelbare Drittwirkung von Grundrechten Die bisherigen Argumentationslinien betrafen Fälle, in denen die Rechtsprechung als Träger öffentlicher Gewalt in Ausübung der in den Verfahrensordnungen niedergelegten Prozeßgrundsätze gem. Art. 1 Abs. 3 GG unmittelbar an das Verfassungsrecht gebunden ist, weil öffentliches Recht vorliegt. Davon zu trennen ist die Entscheidung in der Sache selbst41 . Hier geht es um das Verhältnis zweier Privatpersonen untereinander, weil das Recht, um das gestritten wird, direkt betroffen ist. Ermöglicht wird die über den Wortlaut des Art. 1 Abs. 3 GG hinausgehende mittelbare Drittwirkung von Grundrechten über die objektive Wertordnung im Wege verfassungskonformer Auslegung, wobei als Einbruchstellen des Verfassungsrechts in das einfache Gesetz unbestimmte Rechtsbegriffe und Ermessensvorschriften dienen42 • 37 Stein/lonas/Leipold vor §

128 Rdnr. 66 zum Anspruch auf ein faires Verfahren. Ringvorlesung S. 87 f., 110 f.; vgl. außerdem die in § 31 BVerfGG vorge~ehene Bindungswirkung. 39 BVerfGE 63, 45 (61); Vol/kommer in: Gedächtnisschrift für Brum, S. 215. 38 Arem,

Ringvorlesung S. 111. Pieroth/Schlink Rdnr. 208.

40 Arem, 41

IV. Das Recht auC Beweis

31

Zu finden sind solche Normen natürlich im Privatrecht selbst, so z.B.

§§ 242,826 BGß. Wie noch zu zeigen sein wird43, trifft man auch im Pro-

zeßrecht auf diese Problematik, dann nämlich, wenn es um Gerichtsentscheidungen geht, die zwar über das zwischen den Parteien streitige Verhältnis selbst kein Urteil treffen, dieses jedoch faktisch modifizieren. Gedacht ist dabei vor allem an das Zwangsvollstreckungsrecht.

IV. Bedeutung f'ür den Urkundenprozeß - Das Recht auf Beweis 1. Allgemeines

Ausgehend von dem beschriebenen Hintergrund muß jede Prozeßart, auch der Urkundenprozeß, den verfassungsrechtlichen Vorgaben genügen. Während im gewöhnlichen Zivilprozeß alle fünf Mittel des Strengbeweises, nämlich Augenschein, Zeuge, Sachverständiger, Urkunde und Parteivernehmung zugelassen sind, beschränkt sich der Urkundenprozeß gem. §§ 592 S. 1, 595 Abs. 2, 3, 597 Abs. 2, 598 ZPO zunächst auf Urkunden und eingeschränkt - auf Parteivernehmung, bevor nach Erlaß eines vorläufig vollstreckbaren Vorbehaltsurteils in einem Nachverfahren sämtliche Beweismittel zugelassen werden. Fraglich ist, ob überhaupt, und wenn ja, wie ein Recht auf Beweis in unserer Verfassung abgesichert ist. Wenn die öffentliche Hand die Selbsthilfe - abgesehen von wenigen Ausnahmen, so Z.ß. in §§ 229 ff., 859 BGB - verbietet, muß sie einen staatlichen Rechtsschutz zur Verfügung stellen, der es Privatpersonen ermöglicht, ihnen zustehende Rechte nicht nur vollständig feststellen zu lassen, sondern auch durchzusetzen. Um aber einen wirksamen Rechtsschutz zu garantieren, muß eine auf dem Dispositionsgrundsatz aufbauende ZivilprozeBordnung Beweismittel zur Verfügung stellen, damit die Parteien die Wahrheit ihrer tatsächlichen Behauptungen zur Überzeugung des Gerichts nachweisen können. Gleichzeitig muß das Gericht verpflichtet sein, die vorgebrachten Beweise zu würdigen.

42 BVerfGE 7, 198 (205 C.); 8, 210 (221); Pieroth/Schlink Rdnr. 101, 202 Cf.; Hesse Rdnr. 79 CC.; Schwabe S. 10 C.; nur das BAG geht in ständiger Rechtssprechung (seit BAGE I, 185 (193 C.» von einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte aus. 43F.

32

A. Das Verhältnis von Verfassung und fachgesetzlicher Regelung

2. Verfassungsrechtliche Grundlage des Rechts auf Beweis

a) Justizgewährungsanspruch Der Anspruch auf Rechtsschutz als Ersatz für die Selbsthilfe ist heute als sogenannter Justizgewährungsanspruch verfassungsrechtlich anerkannt'". Habscheid und Klamaris gehen davon aus, daß er auf ein Verfahren gerichtet sein müsse, das zur effektiven Durchsetzung privater Rechte geeignet sei. Ein effektiver Rechtsschutz verlange aber auch, daß der tatsächliche, dem geltend gemachten Recht zugrundeliegende Lebenssachverhalt festgestellt werde. Sie entnehmen deshalb das Recht auf Beweis dem Justizgewährungsanspruch45 • Dabei neigt Habscheid dazu, den Justizanspruch in Anlehnung an Baur aus Art. 103 Abs. 1 GG abzuleiten46• Die Ansicht Baurs widerspricht jedoch dem Wortlaut des Artikels. Danach ist das Gehör vor Gericht zu gewähren, setzt also ein bereits eingeleitetes Verfahren voraus. Dagegen garantiert der Justizgewährungsanspruch die Eröffnung des Verfahrens47• Zuzugeben ist, daß ein effektiver Rechtsschutz, Effektivität im Sinne einer möglichst vollständigen Wahrheitserforschung, sowohl das "ob" (= Verfahrenseröffnung) als auch das "wie" (= Verfahrensgestaltung) eines Prozesses berührt, ein Zusammenhang von Rechtschutz und Anhörungsrecht durchaus

44 BVerfGE 3, 364; K1amaris in: FS für SChwab, S. 274; Vollkommer in: Gedächtnisschrift für Bruns, S. 197 ff.; Habscheid ZZP 96, 306 (307 f.) m.w.N. 4S Habscheid ZZP 96, 306 (307); Klamaris in: FS für Schwab, S. 274. 46 Habscheid ZZP 96, 306 (307), in Fn. 9 VelWeis auf ZZP 67, 197; letztlich läßt er aber offen, aus welcher Bestimmung des Grundgesetzes der Justizgewährungsanspruch abzuleiten ist, weil nach überwiegender Meinung von seiner verfassungsrechtlichen Gewährleistung ausgegangen werden müsse; Baur AcP 153, 393 (396 ff.); nach seiner Ansicht fehlt eine ausdrückliche verfassungsrechtliche Anerkennung des Rechts auf ein Tätigwerden der Gerichte; die Lücke sei durch Art. 103 Abs. 1 GG zu füllen. Der Wortlaut schließe eine solche Interpretation nicht aus, weil er nicht auf die Gewährung beiderseitigen Gehörs abstelle, was auf ein bereits eröffnetes Verfahren hinweise. Vielmehr werde nur von einem Anspruch "auf rechtliches Gehör" gesprochen, der auch das Recht auf Anrufung der Gerichte umfasse; vgI. außerdem Vollkommer in: Gedächtnisschrift für Bruns, S. 201 f. 47 SChmidt-Aßmann in Maunz/Dürig Art. 103 I Rdnr. 7; Vollkommer in: Gedächtnisschrift für Bruns, S. 201 f.; Mauder S. 16 ff.; Henckel ZZP 101, 481 (483).

IV. Das Recht auf Beweis

33

bestehr48. Die Ableitung des Rechtsschutz- bzw. Justizanspruchs49 aus Art. 103 Abs. 1 GG ist jedoch nicht notwendig, weil sich ein Rückgriff auf das Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG anbietet, auf welchem letztlich auch das rechtliche Gehör fußt50• Die Verbindung von Rechtsschutz und Beweisrecht geht indessen nicht so weit, als daß man beides ein und demselben Rechtsinstitut entnehmen müßte. Wie das rechtliche Gehör ist auch die Forderung nach einer verfassungsrechtlichen Absicherung des Beweisantritts- und -führungsrecht davon abhängig, daß der Weg zu den Gerichten erst einmal eröffnet ist. Demzufolge kommt eine Ableitung des Beweisrechts aus dem Justizgewährungsanspruch nicht in Betracht.

b) Gleichheitsgmndsatz

Denkbar wäre eine Herleitung des Rechts auf Beweis aus der gern. Art. 3 Abs. 1 GG garantierten prozessualen Waffengleichheit51 • Danach müßte beiden Parteien in gleichem Umfang die Möglichkeit zustehen, alles Erhebliche vorzutragen52• BVerfG NJW 1982, 1636 (1637); BVerfGE 54, 2TI (291); 55, 1 (6). Vollkommer in: Gedächtnisschrift für Bruns, S. 197 ff. unterscheidet beide Begriffe, stützt sie jedoch auf die selbe verfassungsrechtliche Grundlage (vgl. dort Fn. 14 und 23), und be48

49

zeichnet den Rechtsschutzanspruch als qualifizierten Justizanspruch; eine Differenzierung, die bei der ohnehin etwas verwirrenden Rechtsprechung des BVerfG im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Anknüpfungspunkte nicht geboten zu sein scheint.

so BVerfGE 1, 332 (347); 9, 89 (95); Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig Art. 103 I Rdnr. 2,

4 f., 7; Henckel ZZP 101, 481 (482 f.); Stein/!onas/Leipold vor § 128 Rdnr. 12. Auf welche verfassungsrechtliche Grundlage das Recht auf Zugang zum Gericht gestützt werden kann, ist überhaupt umstritten, vgI. Vollkommer in: Gedächtnisschrift für Bruns, S. 198 Rdnr. 14. Während das BVerfG früher Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG heranzog (E 3,359 (364); Habscheid ZZP 96, 306 (307», eine Schlußfolgerung, die vom Wortlaut des Artikels nicht mehr gedeckt ist, weil nur die Position des Richters, nicht aber der Zugang selbst geregelt ist, entnimmt das Gericht die RechtSSChutzgarantie heute dem vom Prozeß materiell betroffenen Grundrecht in einer Zusammenschau mit dem Rechts- und Sozialstaatsprinzip (BVerfGE 35, 348 (361 C.); 37, 132 (148); 39, 276 (294); 42, 64 (74 ff.); 46, 325 (334 f.); NJW 1979,534; Stümer NJW 1979, 2334, so wohl auch die hM). Art. 19 Abs. 4 GG kommt als Rechtsgrundlage nicht in Betracht, weil öffentliche Gewalt im Sinne dieses Artikels nicht die Rechtsprechung ist (Vollkommer in: Gedächtnisschrift für Bruns, S. 204, Mauder S. 16 ff.). SI Schilken Rdnr. 120. 52

BVerfGE 52,131 (156 f.).

3 Hcrtel

34

A. Das Verhältnis von Verfassung und fachgesetzlicher Regelung

Würde man diesen Grundsatz z.B. auf den Urkundenprozeß anwenden, könnte auf den ersten Blick von einer Ungleichbehandlung auszugehen sein. Auch wenn dort beiden Parteien wesentliche Beweismöglichkeiten abgeschnitten sind53, hat nur der Kläger die Wahl zwischen dieser Prozeßart und dem ordentlichen Zivilprozeß; ebenso kann nur er gern. § 596 ZPO in das normale Verfahren überwechseln54 . Es ist aber die Frage zu stellen, ob nicht über Art. 3 Abs. 1 GG der Anspruch auf rechtliches Gehör umgangen bzw. entwertet wird und deshalb eine Herleitung des Rechts auf Beweis aus dem Gleichheitsgrundsatz ausscheidet. Dies wäre der Fall, wenn Art. 103 Abs. 1 GG nicht nur das Recht umfaßt, Tatsachenbehauptungen aufzustellen, sondern auch das Recht, entsprechende Beweise zu beantragen. Wäre das Beweisrecht aus dem Prinzip prozessualer Waffengleichheit abzuleiten, wäre Prüfungsmaßstab das Willkürverbot; ein Verfassungsverstoß läge erst dann vor, wenn die Fehler in der Rechtsanwendung schlechterdings nicht mehr verständlich sind, und sich deswegen der Schluß aufdrängt, daß sie auf sachfremden Erwägungen beruhen. Dagegen geht Art. 103 Abs. 1 GG über eine bloße Willkürprüfung hinaus. Soweit deshalb ein prozessuales Gleichbehandlungsgebot vom Schutzbereich des Art. 103 Abs. 1 GG um faßt wird, geht das rechtliche Gehör als lex specialis gegenüber Art. 3 Abs. 1 GG vor55 .

S3 Habscheid

ZZP %, 306 (313).

Was er immer dann versuchen wird, wenn er nicht in der Lage ist, sämtliche beweisbedürftigen Tatsachen mit Urkunden zu belegen. 55 BVerfG NJW 1987, 2733 (2734); zuvor ging die Rechtsprechung von einem umgekehrten Spezialitätsverhältnis zwischen Art. 103 Abs. 1 GG und 3 Abs. 1 GG aus, dazu Mauder S.46 ff. mit Verweis auf zwei strafprozessuale Fragen betreffende Entscheidungen des BVerfG (E 33, 367 (383); 38, 105 (115 ff.) scheint Stümer NJW 1979, 2334 (2336) das Recht auf Beweis in Form effektiver Wahrheitserforschung auf das fair-trial-Prinzip stützen zu wollen. Abgesehen davon, daß im Unterschied zum Strafverfahren der Zivilprozeß das öffentliche Interesse an einer Aufklärung durch den Verhandlungsgrundsatz hinten anstellt, wird man auch hier Art. 103 Abs. 1 GG als lex specialis ansehen müssen. 54

IV. Das Recht auf Beweis

35

c) Das rechtliche Gehör

aa) Inhalt56 Nach Art. 103 Abs. 1 GG, letztlich ein Ausfluß des Rechtsstaatsgedankens und der Menschenwürde57, muß den Verfahrensbeteiligten die Gelegenheit geboten sein, sich zu allen einschlägigen Tat- und Rechtsfragen des konkreten Verfahrens zu informieren und zu äußern58. Streitig ist die Frage, ob sich das Anhörungsrecht nur auf den gesamten Sachverhalt bezieht oder auch rechtliche Ausführungen umfaßt59• Weiter hat der Richter das jeweilige Vorbringen zur Kenntnis zu nehmen und für die zu treffende Entscheidung in Erwägung zu ziehen60 • Tauchen deshalb nach der letzten mündlichen Verhandlung neue, für die Entscheidung erhebliche Tatsachen auf, ist das Gericht gehalten, die Parteien nochmals anzuhören. Grundsätzlich muß derjenige, der einen Anspruch geltend macht, den rechtsbegründenden Tatbestand beweisen, während dem Gegner der Beweis der rechtshindernden, rechtsvernichtenden und rechtshemmenden Merkmale obliegt61 . Damit das Anhörungsrecht nicht zu einer Farce wird, muß das Zivilverfahrensrecht Beweismittel zur Verfügung stellen, um die vorgebrachten Behauptungen durch das Gericht auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen zu lassen. Weiter ist die Garantie erforderlich, geeignete Beweismittel im Einzelfall vorbringen zu können, sowie die generelle Ver-

56 BVerfGE 9, 89 (95); Waldner S. 13 ff., 21 ff., 51 ff.; SChmidt-Aßmann in Maunz/Dürig Art. 103 I Rdnr. 66 ff.; Schrameck S. 100 ff. 57 BVerfGE 7, 53 (57); 7, 275 (279); 9, 89 (95); 26,66 (71); 30, 1 (27); SChmidt-Aßmann in Maunz/Dürig Art. 103 I Rdnr. 2 ff.; Mal/der S. 3 ff., 10 ff. SB BVerfGE 6, 19 (20); 15, 303 (307); 28, 378 (384); 36, 85 (87); 49, 364 (367); 62, 320 (322); 64, 135 (144); 67, 154 (155). 59 Bejahend BVerfGE 9, 231 (235 f.); Waldner Rdnr. 69 ff.; sehr weit, unter Einbeziehung

eines Rechtsgesprächs, Amdt NJW 1959, 6 ff.; SChmidt-Aßmann in Maunz/Dürig Art. 103 I Rdnr. 66, 85, zum Rechtsgespräch Rdnr. 78, zur gerichtlichen Hinweispflicht Rdnr. 76 f.; Arens, Ringvorlesung S. 92; verneinend KG NJW 1954, 1410. 60 BVerfGE 11, 215 (220); 18,380 (383); 34, 344 (347); 42, 364 (367 f.); 49, 212 (215); 53, 219 (223); 54, 86 (91); 59, 330 (333). 61 Lüke/Prütting S. 48.

36

A. Das Verhältnis von Verfassung und fachgesetzlicher Regelung

pflichtung des Richters, jene Beweismittel bei der Urteilsfindung zu berücksichtigen und zu bewerten62 . So ist z.B. Art. 103 Abs. 1 GG betroffen, wenn ein in der Vorinstanz gestellter Beweisantrag in der Berufungsinstanz nicht ausdrücklich wiederholt und deshalb nicht berücksichtigt worden ist63. Ebenso liegt ein Verstoß vor, wenn das Fachgericht ohne sachlichen Grund nicht alle von dem Antragsteller benannten Zeugen hört, sondern eigenmächtig eine Auswahl aus dem Zeugenangebot trifft64 • Allerdings macht das BVerfG insofern eine Einschränkung, als die Nichtberücksichtigung eines von den Fachgerichten als erheblich angesehenen Beweisangebots erst dann gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstößt, wenn sie im Prozeßrecht keine Stütze mehr findet. Demzufolge deckt das Beweisrecht einen Teilbereich des in Art. 103 Abs. 1 GG gewährleisteten rechtlichen Gehörs ab65 . Vom Recht auf Beweis zu trennen ist die sich aus dem materiellen Recht ergebende Beweislastverteilung66. In diesem Zusammenhang wird der unterschiedliche Schutzbereich der nach Art. 3 Abs. 1 GG geschützten prozessualen Waffengleichheit und des Anspruchs auf rechtliches Gehör verständlich. In der Entscheidung des BVerfG zum Arzthaftungsprozeß67 ging es darum, Regeln zu entwickeln und verfassungsrechtlich abzusichern, mit deren Hilfe die stringente Beweislastverteilung im Vertrags- und Schadensersatzrecht zu Gunsten des Patienten abgemildert werden konnte, weil er sich kaum einen Einblick in 62 KJamaris in: FS für Schwab, S. 274. Dagegen ergeben sich für die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme sowie die Beweisregeln aus Art.l03 Abs. 1 GG keine Vorgaben, BVerfGE 1, 418 (429); 52, 131; 62,392 (396); ebenso für den Anspruch auf bestimmte Beweismittel bzw. bestimmte Arten von Beweismitteln, BVerfGE 57,250 (274); 63, 45 (60); SteinjJonasjLeipold vor § 128 Rdnr. 63; Mauder S. 12; eingeschränkt SChmidt-Aßmann in Maunz/Dürig Art. 103 I Rdnr. 85; Dürig in Maunz-Dürig Art. 103 I Rdnr. 31, 73. 63 BVerfG NJW 1982, 1636 (1637). 64 BVerfGE 60, 250 (252); vgl auch BVerfGE 50, 32 (36); 65, 305 (307); 69, 141 (143 f.); 69, 145 (148 ff.); Waldner Rdnr. 75 ff. M BVerfGE 57, 250 (275 ff.); 63, 45 (62); 64, 224 (227); 69, 141 (143); BVerfG NJW 1960, 31; ATens, Ringvorlesung S. 92; Waldner Rdnr. 72 ff.; SteinjJonas/Leipold vor § 128 Rdnr. 37; /(f)pp NJW 1988, 1708; vgI. aber SChmidt-Aßmann in Maunz/Dürig Art. 103 I Rdnr. 85; Dürig in Maunz/Dürig Art. 103 I Rdnr. 31, 73; vom BeweisantragsreCht ist das Ablehnungsrecht von Beweisanträgen zu trennen, Waltlner Rdnr. 74 ff. 66 Mauder S. 12; Dürig in Maunz/Dürig Art. 103 I Rdnr. 73; aA. Amdt NJW 1959, 6 (7). 67 BVerfGE 52,131.

IV. Das Recht auf Beweis

37

die medizinischen und juristischen Feinheiten eines - fehlgeschlagenen Heileingriffs zu verschaffen vermochte. Die Frage war nicht, ob einer Partei Gelegenheit zur Äußerung gegeben wird, sondern wie diese Äußerung im Rahmen des einfachen Verfahrensrechts zu berücksichtigen ist. Letzteres betrifft nicht mehr das rechtliche Gehör, während Art. 3 Abs. 1 GG und das Rechtsstaatsprinzip die materiellrechtliche Beweislast korrigieren können. Nach einer weiteren Entscheidung des BVerfG vom 30.01.1985 soll Art. 103 Abs. 1 GG als Prozeßgrundrecht sicherstellen, daß die von den Fachgerichten zu treffende Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in der unterlassenen Kenntnisnahme oder der Nichtberücksichtigung eines Sachvortrags der Parteien haben68• Das Gericht hatte die Frage zu beantworten, ob ein an sich zulässiger Beweisantrag aus Gründen abgelehnt werden konnte, die im Verantwortungsbereich der beweispflichtigen Partei lagen69 • Davon zu unterscheiden ist die Beschränkung des Beweisrechts durch die

§§ 592 ff. ZPO. Da sowohl Kläger als auch Beklagter im Urkundenpro-

zeß nur mit Urkunden einen Beweis führen dürfen und können 70, ist das Recht auf Beweis in Form einer Beweismittelbeschränkung betroffen71. Die §§ 592 ff. ZPO regeln dagegen weder die Beweislast noch die Berücksichtigung eines Beweisangebots, sondern schränken - zumindest vorläufig - das Beweisantragsrecht der Prozeßparteien ein72. Anders als bei der letztgenannten Entscheidung des BVerfG sind im Urkundenprozeß bestimmte Beweismittel von vom herein unzulässig.

68 (f}

BVerfGE 69, 141 (143 f.); Fn. 65. Waldner Rdnr. 74 ff.; z.B. kann ein Beweis unabhängig davon, ob er durch Zeugen oder

Urkunden geführt wird, aufgrund mangelnder Erheblichkeit abgelehnt werden, wenn die Tatsache gern. § 291 ZPO offenkundig ist. 70 Die Parteivernehmung ist gern. § 595 Abs. 2 ZPO nur eingeschränkt zugelassen. 71 Habscheid ZZP 96, 306 (312); auf der Klägerseite liegt allerdings kein echter Eingriff vor, sondern ein tatsächliches Nichtgebrauchen einer grundrechtlich geschützten Rechtsposition. Denn wie schon festgestellt, hat der Kläger anders als der Beklagte die Wahl zwischen Urkundenprozeß und ordentlichem Verfahren; vgI. A. IV. 2. b). 72 Waldner Rdnr. 72 ff, 380.

A. Das Verhältnis von Verfassung und fachgcsctzlicher Regelung

38

bb) Umfang Subsumiert man das Beweisantragsrecht unter Art. 103 Abs. 1 GG, stellt sich die weitere Frage, inwieweit wegen eines sich an den Urkundenprozeß anschließenden Nachverfahrens, das alle Beweismittel zuläßt, überhaupt noch von einem verfassungsrechtlichen Eingriff in das Recht auf Gehör gesprochen werden kann. Zu untersuchen ist deshalb die Reichweite des Art. 103 Abs. 1 GG. Es würde zu einer unerträglichen Verzögerung eines Rechtsstreits führen, wenn die Parteien alle möglichen Äußerungen auf Art. 103 Abs. 1 GG stützen könnten. Deshalb ist nur ein solcher Vortrag gedeckt, der aus Sicht der Parteien mit dem Gegenstand des Rechtsstreits in Zusammenhang steht und objektiv wenigstens möglicherweise erheblich ist, solange das Gericht noch keine bestimmte Rechtsansicht hat 73. Was im einzelnen erheblich ist, hängt nicht nur vom materiellen, sondern auch vom Prozeßrecht ab74 • So umfaßt Art. 103 Abs. 1 GG nicht das Recht, mit einem solchen Vorbringen gehört zu werden, das nach §§ 592 S. 1, 595 Abs. 2, 598, 599 Abs. 1, 600 Abs. 1 ZPO ins Nachverfahren gehört75• In diesem Zusammenhang wurde der BayVerfGH angerufen, weil der Beschwerdeführer sein Recht auf Gehör mit der Begründung verletzt sah, daß den Fachgerichten des Ausgangsverfahrens bei ihrer Entscheidung über die Zulässigkeit von Angriffs- und Verteidigungsmittel im Urkundenprozeß möglicherweise Verfahrensfehler unterlaufen seien, weil der Nachweis der Vertretungsbefugnis zu den klagebegründenden Tatsachen im Sinne des § 592 S. 1 gehöre und deshalb nicht, wie vom Instanzgericht angenommen, erst im Nachverfahren zu prüfen sei76• Das Nachverfahren ruhte seinerzeit. Der BayVerfGH wies die Beschwerde als unzulässig ab. Im Urkundenprozeß gehöre die Durchführung des Nachverfahrens zum Erfordernis der 73 Stein/lonas/Leipold vor

§ 128 Rdnr. 40; ebenso ergibt sich die Verpflichtung, erhebliche

Beweisantritte zu berücksichtigen, BVerfGE 60, 247 (249); 60, 250 (252); BVerfG NJW 1991, 285 (286). 74

BVerfG NJW NJW 1980, 1737 f.; 82,1636 (1637); weitere Beispiele: sachliche Unerheb-

lichkeit, nach § 296 ZPO präkludiertes Vorbringen, Beschränkung der Nachprüfung auf Rechtsfragen im Revisionsverfahren. 75

Waldner Rdnr. 68; Stein/lonas/Leipold vor § 128 Rdnr. 40; Schmidt-Aßmann in Maunz/

Dürig Art. 103 I Rdnr. 86. 76 BayVerfGHE 31, 195 (196 f.).

IV. Das Recht auf Beweis

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Erschöpfung des Rechtswegs im Sinne des Art. 47 Abs. 2 S. 1 BayVerfGHG, wenn dieses die rechtliche Möglichkeit biete, die dem Urkundenprozeß eigentümlichen Beschränkungen auszuräumen und sich für solche Einwendungen Gehör zu verschaffen, die mangels geeigneter Beweismittel oder wegen eines eventuellen Verfahrensfehlers des Gerichts im Vorverfahren nicht gewürdigt worden seienn . Eine Verfassungsbeschwerde ist deshalb nicht möglich, wenn zwar ein Verstoß gegen § 592 S. 1 ZPO vorliegt, dies aber von der anderen Partei noch im Nachverfahren gerügt werden kann. cc) Kernbestand und Mehrfunktionalität78 Habscheid79 spricht von einer zulässigen Begrenzung des Rechts auf Beweis, also nach der hiesigen Auffassung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, weil sie nur eine vorläufige sei. Auf seiten des Klägers stünde die Rechtskraft einer erneuten Geltendmachung des Anspruchs in einem späteren ordentlichen Verfahren nicht entgegen, weil nicht das Nichtbestehen des Anspruchs selbst festgestellt werde, sondern nur die mangelnde Verfolgbarkeit des Anspruchs im Urkundenprozeß. Auf der Beklagtenseite sei dem Interesse, grundsätzlich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln das Recht beweisen zu können, trotz des Abschneidens von Beweismöglichkeiten im Urkundenprozeß durch das Nachverfahren Genüge getanso. Wie im ersten Einleitungsbeispiel gezeigt, kann bereits durch die Vollstreckung aus dem Vorbehaltsurteil gem. §§ 599 Abs. 3, 704 Abs. 1, 708 Nr. 4 ZPO ein später nicht mehr durch das Nachverfahren ausgleichbarer Schaden entstehen. Fraglich ist, was für einen Zweck die Berufung auf das Nachverfahren noch erfüllen soll, wenn faktisch die Wirkung eines Endurteils erzielt worden ist. Habscheids Aussage hat deshalb vor Art. 103 Abs. 1 GG nur Bestand, wenn dessen Schutzbereich nicht weiter als der in der ZPO vorgesehene Rechtsschutz gehen würde. Dafür könnte immerhin die Überlegung sprechen, daß der Anspruch auf rechtliches Gehör erst 72 Jahre nach Erlaß der CPO auf Verfassungsebene gehoben wurde.

Zwar ist das Anhörungsrecht in der ZPO nur vereinzelt ausdrücklich vorgeschrieben. Doch war es schon vor Inkrafttreten des Grundgesetzes als ein 77 A.a.O.

S. 197.

BVerfGE 9, 89 (98); 18,399 (404); 49, 329 (342). 79 Habscheid ZZP 96, 306 (313). 80 A.a.O. S. 314. 78

A. Das Verhältnis von Verfassung und fachgesetzlicher Regelung

40

das gesamte Prozeßrecht durchdringender Verfahrensgrundsatz anerkannt81 • Bei Erhebung desselben auf Verfassungsebene ging man vom vorverfassungsrechtlichen Gesamtbild des Prozeßrechts aus, weil letzteres rechtsstaatlichen Forderungen hinsichtlich der Gewährung des rechtlichen Gehörs genügte82• In einer frühen Entscheidung bemerkte deshalb der BayVerfGH, die Funktion des Art. 103 Abs. 1 GG erschöpfe sich darin, der verfahrensrechtlichen Bedeutung des Anspruchs auf rechtliches Gehör Verfassungsrang zu verleihen83• Wäre es dabei geblieben, könnte man den Urkundenprozeß heute als unproblematisch verfassungsgemäß abtun, unabhängig von der Frage, welche Wirkungen die vorläufige Vollstreckbarkeit eines Vorbehaltsurteils entfalten kann. Das BVerfG ist indessen darüber hinausgegangen, und zwar in mehrerlei Hinsicht. Auch wenn Art. 103 Abs. 1 GG grundsätzlich die Ausgestaltung der ZPO dem einfachen Gesetzgeber anheimstellen wollte, kann der Verfassungsartikel unmittelbar in das Gerichtsverfahren eingreifen, wenn das Anhörungsrecht nicht oder nicht ausdrücklich in der ZPO vorgesehen ist84. Art. 103 Abs. 1 GG beinhaltet insofern nicht nur eine formelle, sondern zudem eine materielle Komponente, die absolut und unabhängig von jeder Verfahrensordnung eine verfassungsrechtliche Minimalforderung bzw. einen Kernbestand statuiert. Darüber hinaus ist das Anhörungsrecht sowohl subjektives Grundrecht als auch eine objektive, mit Verfassungsrang ausgestattete Verfahrensnorm, die 81

Waldner Rdnr. 269 f.

BVerfGE 9,89 (95 f.); SChmidt-Aßmann in Maunz/Dürig Art. 103 I Rdnr. 20 ff; Dürig in Maunz/Dürig Art. 103 I Rdnr. 44. 83 BayVerfGHE 4,21 (28); im selben Band betont aber der BayVerwGH in E 4,164 (173), 82

daß in den Fällen, in denen das rechtliche Gehör nicht ausdrücklich vorgesehen sei, eine Lükkenfüllung durch die Grundsätze des Rechtsstaats geboten seien; nach Blomeyer 16 V 1 ist der Grundsatz vorgängigen Gehörs für den Zivilprozeß zu weit gefaßt. Dies belegten Prozeßformen, die wie der einstweilige Rechtsschutz oder der Urkundenprozeß die Gewährung nachträglichen Gehörs zuließen; ähnlich Dürig in Maunz/Dürig Art. 103 I Rdnr. 44: "Es handelt sich hierbei nicht um Einschränkungen des Art. 103 Abs. 1 GG, sondern Art. 103 Abs. 1 GG reicht nach seinem Sinn und seiner Intension von vornherein nicht so weit, die traditionellen Verfahrenstypen als solche zu revolutionieren." 114

BVerfGE 6, 12 (14 f.); 7, 95 (98); 8, 253 (255 f.); 9, 89 (96); 17, 356 (361); 21, 132 (137);

24, 56 (62); SteinjJonasjLeipold vor § 128 Rdnr. 16; Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig Art. 103 I Rdnr. 23; Dürig in Maunz/Dürig Art. 103 I ': .:1nr. 23; Waldner Rdnr. 278.

IV. Das Recht auf Beweis

41

die gesamte Prozeßordnung überwölbt85 • Soweit eine Entscheidung in das Ermessen des Gerichts gestellt ist, steht die Ermessensbetätigung unter dem Vorbehalt der Gewährung ausreichenden rechtlichen Gehörs, was Art. 103 Abs. 1 GG zu einem Auslegungskriterium werden läßtB6. Da die Zwangsvollstreckung zum gerichtlichen Verfahren gehört, findet auch dort Art. 103 Abs. 1 GG Anwendung, soweit nicht die Einwendung durch eine rechtskräftige Hauptsacheentscheidung präkludiert ist87, und Rechtsprechungstätigkeit ausgeübt wird. Dagegen verlangt Art. 103 Abs. 1 GG keine Anhörung bei reinen Vollstreckungsmaßnahmen88.

dd) Rechtliches Gehör vor der Entscheidung als Grundsatz, rechtliches Gehör im nachhinein als Ausnahme Zweck des Gehörs ist es, den Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit zu geben, auf die Entscheidungsfindung des Gerichts Einfluß zu nehmen. Bei Gerichtsentscheidungen, die der materiellen Rechtskraft fähig sind, so z.B. bei Endurteilen, ist regelmäßig eine vorherige Anhörung unerläßlich89 . Das hat grundsätzlich auch bei Vorbehalts- und Zwischenurteilen zu gelten, soweit sie in bezug auf Rechtsmittel und Zwangsvollstreckung als Endurteile anzusehen sind (§§ 599 Abs. 3, 302 Abs. 3 ZPO, wohl auch §§ 280 Abs. 2 S. 1, 304 Abs. 2 1.Hs ZPO)90. Nach Ansicht des BVerfG91 sind vom Grundsatz vorheriger Anhörung bzw. vorherigen vollständigen Beweises Ausnahmen denkbar, wenn nicht abschließend über einen Sachverhalt geurteilt wird, vielmehr nur vorläufige Maßnahmen zur Regelung eines einstweiligen Zustandes oder zur einstweiligen Sicherung privater oder öffentlicher Rechte getroffen werden92 . "Die 8S SChmidt-Aßmann in Maunz/Dürig Art. 103 I Rdnr. 2 CC.; Maunz in Maunz/Dürig Art. 103 I Rdnr. 7 CC.; Waldner Rdnr. 278. 86 BVerfGE 9, 89 (96); BGHZ 84, 24 (29); Waldner Rdnr. 280 CC., 361 C.; Stein/lonasjLeipold vor § 128 Rdnr. 17; Schneider MDR 1973, 356 (357). trT BVerfGE 6,300 (305); Zöller/Stöber vor § 704 Rdnr. 28; Vollkommer Rechtspfleger 1982, 1 (7); Schneider MDR 1973, 356 (357). 88 Steinjlonas/Leipold vor § 128 Rdnr. 21, 48. IJ.I BVerfGE 9,89 (96); Steinjlonas/Leipold vor § 128 Rdnr. 45; Schmidt-Aßmann in Maunz /Dürig Art. 103 I Rdnr. 92 C.; Waldner Rdnr. 351 CC. 90 AA. Blomeyer § 16 V 1. 91 BVerfGE 9, 89 (96 CC., insb. 98). 92 SChmidt-Aßmann in Maunz/Dürig Art. 103 I Rdnr. 93, 149.

42

A. Das Verhältnis von Verfassung und fachgesetzlicher Regelung

Sicherung gefährdeter Interessen kann jedoch einen sofortigen Zugriff notwendig machen, der nicht nur eine Aufklärung des Sachverhalts nicht zuläßt, sondern sogar eine vorgängige Anhörung des Betroffenen ausschließt; ja es kann, wenn schwerwiegende Interessen auf dem Spiele stehen, sogar geboten sein, auf eine an sich mögliche Anhörung des Betroffenen zu verzichten, um ihn nicht zu warnen"93• Daraus leitet das BVerfG zwei Prinzipien ab. Zunächst sei der Gesetzgeber gehalten, Eingriffe, vor deren Erlaß kein vollständiges rechtliches Gehör gewährt werde, an enge gesetzliche Voraussetzungen zu binden94 . Zudem sei ein Absehen vom Grundsatz vorherigen Gehörs nur zulässig, wenn dies unabweisbar sei, um nicht den Zweck der Maßnahme zu gefährden, und außerdem nachträglich eine Anhörung ermöglicht werde95 . Ein Vergleich mit Art. 104 GG, der zwar nur das Verfahren bei Freiheitsbeschränkungen regelt, jedoch nicht umsonst unmittelbar neben Art. 103 GG steht, zeigt, daß dem Grundgesetz eine ausnahmsweise nachträgliche Anhörung nicht fremd ist96 • Prüft man den Urkundenprozeß anhand dieser zwei Prinzipien durch, stellt sich die Frage, warum die Anforderungen, die an die Urkunde als Beweismittel gestellt werden, so gering sind. Auch der Urkundenprozeß muß sich an den Voraussetzungen, die das BVerfG für den einstweiligen Rechtsschutz als vorläufige Maßnahme aufgestellt hat, messen lassen; d.h. neben

93

BVerfGE 7, 95 (99); 9, 89 (98); 18, 399 (404); so z.B. § 922 Abs. 1 S. 1 ZPO, wobei die

Entscheidung, ob eine mündliche Verhandlung stattfindet, in das Ermessen des Gerichts gesteilt ist; ZöllerjVollkommer § 922 Rdnr. 1; Waldner Rdnr. 351 ff. 94

Wie noch zu zeigen sein wird, ist er dieser Aufgabe zwar beim vorläufigen Rechtsschutz,

nicht aber beim Urkundenprozeß, z.B. durch Eingrenzung des Urkundenbegriffs, gerecht geworden. Zuzugeben ist allerdings, daß die Gefahr, beim vorläufigen Rechtsschutz faktisch endgültige Entscheidungen herbeizuführen, man denke z.B. an die Leistungsverfügung im Rahmen von Unterhaltsansprüchen (Habscheid ZZP 96, 306 (315); Jauernig, Zwangsvollstrekkungs- und Konkursrecht, § 37 III), um ein vielfaches größer ist als beim Urkundenprozeß. 95 BVerfGE 9, 89 (98); beim vorläufigen Rechtsschutz ergibt sich die nachträgliche Anh~ rung aus §§ 936, 924 ZPO, soweit überhaupt kein Gehör gewährt wurde, bzw. aus der Klagemöglichkeit im ordentlichen Verfahren, soweit die Anforderungen an den Überzeugungsgrad des Richters (vgl. §§ 936, 920 Abs. 2 ZPO) betroffen sind. Beim Urkundenprozeß sind gem. § 600 Abs. 1 ZPO im Nachverfahren alle Beweismittel zugelassen. Weiter BVerfGE 7, 95 (99); 18,399 (404); 49, 329 (342); 57, 346 (359 f.); BayVerfGHE 32, 153 (155); Dürig in Maunz/ Dü· rig Art. 103 I Rdnr. 93; Mauder S. 14 f.; Waldner Rdnr. 352, 360 ff. 96 BVerfGE 9, 89 (100); Dürig in Maunz/Dürig Art. 103 I Rdnr. 45.

IV. Das Recht auf Beweis

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der Gewährung eines Nachverfahrens bedarf es eines besonderen Rechtsschutzbedürfnisses des Urkundenklägers, welches schleunigen Rechtsschutz erfordert. Das verkennt HabscheitP', wenn er meint, dem Interesse der Parteien, grundsätzlich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln ihr Recht beweisen zu können, sei trotz des Abschneidens von Beweismöglichkeiten im Urkundenprozeß letztlich durch die Möglichkeit einer neuen Klage im ordentlichen Verfahren bzw. durch das Nachverfahren Genüge getan. Er hätte zuvor untersuchen müssen, ob das Nachverfahren in allen denkbaren Fällen das rechtliche Gehör auch tatsächlich gewährt.

ee) Verfassungsrechtliche Grundlage der Einschränkung des Rechts auf Beweis Um vor dem Grundgesetz Bestand zu haben, bedürfen alle Einschränkungen des Rechts auf Beweis einer besonderen Legitimation98 . Umstritten ist dabei die Herleitung eines Rechtfertigungsgrundes.

Blomeyer99 kommt erst gar nicht dazu, einen Eingriff rechtfertigen zu müssen, weil er sowohl vorläufigen Rechtsschutz als auch Urkundenprozeß als Ausnahmen von Art. 103 Abs. 1 GG nicht in dessen Schutzbereich einbezieht. In Wirklichkeit wird jedoch beim Urkundenprozeß ein Teil des vorgebrachten Sachverhalts und der zulässigen Beweismittel in das Nachverfahren verlagert, das Anhörungsrecht somit nur zeitlich verschoben, nicht aber aufgehoben, was letztendlich der Prozeßbeschleunigung dienen solll00. Nach Ansicht des BVerfG ist es der Rechtsstaatsgedanke, der dem Betroffenen wenigstens nachträglich die Gelegenheit geben muß, sich gegen die angeordnete Maßnahme zu wehren 101 . Mauder zieht daraus den Schluß, Art. 103 Abs. 1 GG umfasse nach dem BVerfG nur die Gewährung rechtlichen Gehörs vor Erlaß einer Entscheidung, während eine nachträgliche Anhörung dem Art. 20 Abs. 3 GG entspringenden Rechtsstaatsprinzip zu entnehruen seil02 . 97 Habscheid

98

ZZP 96,306 (313 f.); B. VI. 1.

BVerfG NJW 1972, 2214

99 Blomeyer !OO

§ 16 V.

(2216).

Waldner Rdnr. 354 f., 380; auch Rdnr. 68 Fn. 13; zur Relativierung des Art. 103 Abs. 1

GG Rdnr. 381. 101

BVerfGE 9,89 (98); 18,399 (404); 49, 329 (342). S. 14 f.

102 Mauder

44

A. Das Verhältnis von Verfassung und fachgesetzlicher Regelung

Jedoch würde sich diese Auffassung mit dem Wortlaut des Art. 103 Abs. 1 GG nicht vertragen, der vom Anspruch auf rechtliches Gehör vor Gericht, nicht aber vor Erlaß einer Entscheidung spricht, geschweige denn, daß es einen Anhaltspunkt gäbe, warum der Verfassungsartikel teleologisch zu reduzieren wäre. Es fällt auf, daß Mauder vom Rechtsstaatsprinzip, das BVerfG dagegen in den zitierten Entscheidungen vom Rechtsstaatsgedanken spricht, ohne auch nur annähernd erkennen zu lassen, Art. 20 Abs. 3 GG für die nachträgliche Gewährung rechtlichen Gehörs heranziehen zu wollen. Das Gericht hat wie im übrigen die ganz herrschende Lehre auch - immer wieder betont, das Anhörungsrecht sei ein spezieller Ausfluß des Rechtsstaatsprinzipsl03, und scheint in seinen Ausführungen zum erst nach Erlaß einer Entscheidung zu gewährenden Gehör diesem Standpunkt Ausdruck verleihen zu wollen. In einer neueren Entscheidung vom 03.11.1983 104 betont es denn auch, in Sonderfällen (gemeint sind Arrest, einstweilige Verfügung und Haftbefehl) sei das Absehen von einer vorherigen Anhörung unter Umständen mit Art. 103 Abs. 1 GG vereinbarlos . Selbst wenn man dem BVerfG unterstellen wollte, das rechtliche Gehör je nach Zeitpunkt auf zwei verschiedene Verfassungsgrundlagen zu stützen, müßte nach dem Sinn einer solchen Differenzierung gefragt werden. Einerseits wäre beim Schutzbereich von Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 103 Abs. 1 GG kein Unterschied festzustellen, weil Art. 103 Abs. 1 GG als normgeprägter Verfassungsartikel das Rechtsstaatsprinzip nur besonders ausformuliert; andererseits enthalten weder Art. 103 Abs. 1 GG noch Art. 20 Abs. 3 GG einen GesetzesvorbehaltlO6. Nicht zuletzt ist eine Entscheidung auch wegen einer Verletzung des Rechtsstaatsprinzips mit der Verfassungsbeschwerde anfechtbar l07.

103 BVerfGE 9,89 (95); 39, 156 (168); so auch Mauder S. 10; Herzog in Maunz/Dürig Art. 20 VII Rdnr. 27; SChmidt-Aßmann in Maunz/Dürig Art. 103 I Rdnr. 2 ff., 5; v. MangoldjKJein/ Starck Art. 103 Anm. 2 spricht von einem in einem Rechtsstaat selbstverständlichen Recht. 104 BVerfG NJW 1984,719; eigentümlichelWeise auch von Mauder S. 24 in Fn. 25 zitiert; ähnlich auch BVerfGE 18, 399. lOS Unter ausdrücklichen Bezug auf BVerfGE 49,329 (342); 7, 95 (99); 9, 89 (101, 105). 106 Zum Verhältnis von Rechtsstaatsprinzip und Anspruch auf rechtliches Gehör in Bezug auf den Schutzbereich und die Schranken SChmidt-Aßmann in Maunz/Dürig Art. 103 I Rdnr. 4 f., 18, zu den Schranken bei Art. 103 Abs. 1 GG überhaupt Rdnr. 14 ff. 107 A. IIl. 3. d).

IV. Das Recht auf Beweis

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Eingriffe durch den Ausschluß vorheriger Anhörung können somit allenfalls über den Grundsatz der Einheit der Verfassung ihre Rechtfertigung in kollidierendem Verfassungsrecht finden, so z.B. in der Rechtssicherheit, der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege oder in Form des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz, aber auch in den materiellen Grundrechten108• ff) Rechtliches Gehör und Beibringungsgrundsatz Im Zivilprozeß gilt der Beibringungs- bzw. Verhandlungsgrundsatz. Danach bestimmen allein die Parteien, nicht dagegen der Richter, welcher Streitstoff Verhandlungsgegenstand des Verfahrens ist, welche Tatsachen feststellungsbedürftig sind und auch festgestellt werden109. Verhandlungsmaxime und rechtliches Gehör decken sich zwar nicht, ergänzen sich jedoch und wirken aufeinander ein. So besagt erstere, daß das Gericht nur den von den Parteien vorgebrachten Streitstoff berücksichtigen darf, während sich erst aus Art. 103 Abs. 1 GG die Pflicht ergibt, den Streitstoff in die Entscheidungsfindung einzubeziehen110• Daneben modifiziert die aus dem Beibringungsgrundsatz resultierende Parteienverantwortung das rechtliche Gehör. Art. 103 Abs. 1 GG ist nicht erst Genüge getan, wenn die Parteien tatsächlich gehört worden sind, sondern schon dann, wenn eine Anhörungsmöglichkeit gegeben wurde, von der die Verfahrensbeteiligten Gebrauch machen konnten111. Genau diese Möglichkeit hat der Beklagte im Urkundenprozeß nicht. Während beim Urkundenkläger kein Eingriff in das Beweisantragsrecht vorliegt, weil er jederzeit die Gelegenheit hat, sich anderer Beweismittel zu bedienen, indem er entweder von vornherein im ordentlichen Verfahren klagt, oder aber für den Fall, daß er bereits die Klage im Urkundenprozeß erhoben hat, gern. § 5% ZPO davon Abstand nimmt, ist der Beklagte an das Rdnr. 1189; Hesse Rdnr. 72, 317 ff. Zivilprozeßrecht Rdnr. 13 ff.; Rosenberg/Schwab § 78 11. Zwar ist die Verhandlungsmaxime - anders als der Dispositionsgrundsatz in § 308 Abs. 1 ZPO - im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt, jedoch als Prozeßgrundsatz anerkannt. Im übrigen läßt die ZPO erkennen, daß sie vom Verhandlungsgrundsatz ausgeht, so z.B. im Umkehrschluß gem. §§ 616, 617, 640, 293 S. 2 ZPO. Dagegen ist der Richter an die Rechtsauffassung der Parteien nicht gebunden Gura novit curia). 110 Waldner Rdnr. 13. 111 BVerfGE 5,9 (10 f.); Arens, Ringvorlesung S. 91; SteinjJonas/Leipold vor § 128 Rdnr. 30. 108 Pieroth/Sch/ink 109 Arens,

46

A. Das Verhältnis von Verfassung und Cachgesetzlicher Regelung

Verhalten des Gegners gebunden. Er muß gegen seinen Willen mit der Vorlegung bzw. Beantragung anderer Beweismittel als Urkunden bis zum Erlaß eines vollstreckungsfähigen Urteils zu Gunsten des angeblichen Gläubigers warten. Nur hier kann von einer Einschränkung des Art. 103 Abs. 1 GG gesprochen werden. Es ist deshalb nicht richtig, wenn Habscheid 112 von einer offenkundigen Beschränkung des Rechts auf Beweis beider Parteien spricht, weil ihnen wesentliche Beweismöglichkeiten abgeschnitten seien.

v. Rechtliches Gehör, materielle Rechtskraft und effektiver Rechtsschutz Fraglich ist, was zu geschehen hat, wenn eine unter Beschränkung des Beweisrechts ergangene, von der rechtlichen Idee her vorläufige Entscheidung durch ihre Vollstreckung faktisch eine endgültige Wirkung erzielt, weil der dadurch entstandene Schaden im nachhinein nicht mehr ausgeglichen werden kann. Ein solcher Fall ist denkbar, wenn ungerechtfertigt das Konkursrisiko auf die gegnerische Partei verlagert wird. Häufig kommt dies bei der sog. Leistungsverfügung vor113, deren Ziel es ist, einen Anspruch nicht nur provisorisch zu sichern, sondern den Gläubiger vorläufig zu befriedigen. Verfügungsgrund ist dabei ein dringendes Bedürfnis nach sofortiger Erfüllung. Ein solches liegt - insbesondere bei Ansprüchen auf Unterhaltszahlungen - dann vor, wenn sich der Antragsteller in einer wirtschaftlichen Notlage befindet. Ein rechtlich nach § 945 ZPO be112 Habscheid

ZZP 96, 306 (313). S. 315 C.; ZöllerjVollkommer § 940 Rdnr. 6; § 935 Rdnr. 2; vor § 916 Rdnr. 1; Schi!ken S. 17 ff.; SteinfJonas/Grunsky vor § 935 IV; nach Klette GRUR 1982,471 ist die einstweiligen Einstellung der Zwangsvollstreckung aus Unterlassungs-Urteilsverfügungen im Rahmen der einstweiligen Verfügung in der Regel unzulässig, weil der vorläufige Rechtsschutz seinen Sinn verlieren würde; so auch BGH JZ 1965, 540 mit Anmerkung Baur, S. 541 f.; OLG Nürnberg GRUR 1983, 469 (470); ähnlich BGH GRUR 1979,807 = MDR 1979,996, wobei zwar keine einstweilige Verfügung vorlag, das ergangene Unterlassungsurteil aber bei Einstellung wegen der zeitlichen Begrenzung seine materielle Wirkung verloren hätte; ebenso OLG Köln WM 1973, 665; Teplitzky 57. Kap. Rdnr. 38 ff.; Pastor S. 373 f.; einschränkend allerdings OLG Celle NJW-RR 1987, 190; nach Leipold BAG SAE 1973, 217 (218) drohen bei befri~teten Unterlassungsverfügungen beiden Parteien nicht zu ersetzende Nachteile. Denn w'...lrend der Schuldner die unterlassene Tätigkeit in der verstrichenen Zeit nicht mehr nachholen kann, wenn ein EinsteIlungsantrag abgelehnt wird, ist für den Gläubiger der den Unterlassungsanspruch verkörpernde Titel bei Einstellung der Vollstreckung für die vergangene Zeit illusorisch. 113 A.a.O.

V. Rechtliches Gehör, Rechtskraft und effektiver Rechtsschutz

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stehender Schadensersatzanspruch wird hier in aller Regel nicht mehr durchsetzbar, ein bleibender Schaden unabwendbar sein. Von der Wirkung her ähnlich ist die bereits erwähnte Konstellation, daß ein Urkundenkläger zwischen der Vollstreckung aus dem Vorbehaltsurteil und dem Abschluß des Nachverfahrens Konkurs anmelden muß114. Beide Male wird der Kernbereich des Art. 103 Abs. 1 GG berührt. Man könnte auch sagen, daß ähnlich einer materiell rechtskräftigen Entscheidung, allerdings ohne Gewährung ausreichenden rechtlichen Gehörs, vollendete Tatsachen geschaffen werden. Müßte man nicht, wenn ein solcher Eingriff absehbar ist, die Voraussetzungen für ein materiell rechtskräftiges Urteil auf das Provisorium übertragen? Ist es nicht zwingend, rechtliche Vorläufigkeit, die zu einer faktischen Endgültigkeit führt, mit rechtlicher Endgültigkeit gleichzusetzen? Das BVerfG hat immer wieder betont, der Betroffene müsse in Fällen, in denen ohne Anhörung ein Eingriff vorgenommen werde, Gelegenheit haben, sich nachträglich gegen die angeordnete Maßnahme zu wehren, durch die in einschneidender Weise in seine Rechtsstellung eingegriffen bzw. ihm ein bleibender rechtlicher Nachteil zugefügt werde, der nicht oder nicht vollständig wieder behoben werden könne115. Eigentümlicherweise ging es in besagten Entscheidungen um Eingriffe, die wie ein Haftbefehl oder eine Beschlagnahme zwar vollendete Tatsachen schaffen, andererseits aber ex nunc aufgehoben werden können, soweit die nachträgliche Zulassung einer Anhörung zum Erfolg für den Betroffenen geführt hat. Das rechtliche Gehör konnte also noch eine tatsächliche Wirkung erzielen. Wenn aber eine Geldforderung zwangsweise und einmalig durchgesetzt wird und dadurch ein irreparabler Schaden entsteht, ist eine Rückgängigmachung nicht mehr möglich. In solchen Fällen argumentiert das BVerfG mit dem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz. "Der in Art. 19 Abs. 4 GG verbürgte umfassende und effektive gerichtliche Schutz...wird illusorisch, wenn die Verwaltungsbehörden irreparable Maßnahmen durchführen, bevor die Gerichte deren Rechtmäßigkeit geprüft haben"116. Der Rechtsschutzanspruch des Bürgers sei um so stärker zu berücksichtigen und dürfe um so Vgl. Einleitung. 9,89 (98); 18,399 (404). 116 BVerfGE 35,382 (401 f.). 114

115 BVerfGE

A. Das Verhältnis von Verfassung und fachgesetzlicher Regelung

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weniger zurückstehen, je schwerwiegender die ihm auferlegte Belastung sei und je mehr die Maßnahmen Unabänderliches bewirkten117• Zwar spricht das Gericht nur von dem in Art. 19 Abs. 4 GG garantierten Rechtsschutz gegenüber der Verwaltung; im Zivilprozeß ergibt sich jedoch der gleiche Anspruch aus den verschiedenen Prozeß- und materiellen Grundrechten in Verbindung mit dem in Art. 20 Abs. 3 GG niedergelegten Rechts- und Sozialstaatsprinzip118. Ein effektiver Rechtsschutz setzt voraus, daß er tatsächlich etwas bewirkt. Aus ihm ergibt sich deshalb die Gleichstellung von rechtlicher und faktischer Endgültigkeit. Dann sind aber die Voraussetzungen für eine abschließende Rechtmäßigkeitskontrolle auf provisorische Entscheidungen zu übertragen, wenn sie entgegen ihrer Intention Unabänderliches bewirken können. Eine Ausnahme kann nur dort Geltung beanspruchen, wo schützenswerte Positionen auf Seiten des Gläubigers entgegenstehen119• Wenn das BVerfG die Rechtmäßigkeitskontrolle der Gerichte erwähnt, gehört dazu die Gewährung rechtlichen Gehörs. Zum vorläufigen Rechtsschutz im Verwaltungsrecht führt es aus, daß man sich nicht mit einer bloßen Erfolgsprognose der Hauptsacheentscheidung zufrieden geben könne, sondern die Frage erschöpfend klären und insoweit über eine lediglich summarische Prüfung hinausgehen müsse, soweit unersetzbare Nachteile drohten120• Eine Gerichtsentscheidung kann nur dann in Rechtskraft erwachsen, wenn den Prozeßbeteiligten zuvor die Möglichkeit zur Wahrnehmung vollständigen rechtlichen Gehörs gewährt wurde, weil die Parteien auf den Gang des Verfahrens müssen Einfluß nehmen können121 . Der Kreis ist deshalb wie 117 BVerfGE 37,150 (153); 46, 166 (178); 69, 315 (363). 118 Sog.

effektiver Rechtsschutz; BVerfGE 10, 264 (267); 25, 352 (365); 35, 263 (274); 35,

382 (401); 40, 272 (275); 46, 325 (334 f.); 77, 275 (284); Vollkommer in: Gedächtnisschrift für Bruns, S. 212 ff., 216 ff; ZöUer/Vollkommer Ein!. Rdnr. 102. 119 So beim vorläufigen Rechtsschutz die Eilbedürftigkeit. 120 BVerfGE 35,382 (402); 69, 315 (363). 121

Henckel S. 105. Nach Seetzen NJW 1982, 2337 (2343), VII 4), mit VelWeis auf BVerfGE

47, 146 (161), wird eine Entscheidung dem Sinn der Rechtskraft nicht gerecht, wenn sie die Rechtslage nicht klärt; dies gelte insbesondere für ein Urteil, das wegen einer Verletzung des rechtlichen Gehörs auf eine Verfassungsbeschwerde hin der Aufhebung unterliegt; auf dieses Urteil könnten sich die Parteien nicht einrichten; eine solche Entscheidung könne zwar formell, nicht aber materiell rechtskräftig werden; um das BVerfG zu entlasten, soll hiergegen eine im Gesetz nicht geregelte Anhörungsrüge möglich sein. Braun S. 71 f.; ders. NJW 1981,

425 Cf.; 1983,1403 ff.; 1984,348 ff. will dagegen eine Entscheidung trotz eines Verstoßes gegen

VI. Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahren

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folgt ZU schließen. Ein Eingriff unter Beschneidung des Rechts auf Beweis ist nur möglich, wenn er provisorisch ist. Droht dagegen ein irreparabler Schaden, sind wegen des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz rechtliche und tatsächliche Endgültigkeit gleichzusetzen. Beide Male müssen die Voraussetzungen der materiellen Rechtskraft vorliegen. Diese wiederum setzt die vollständige Gewährung rechtlichen Gehörs voraus122. Wenn im Ergebnis trotz Einschränkung des Art. 103 Abs. 1 GG im Zivilprozeß eine endgültige Entscheidung soll ergehen dürfen, muß ein im Grundgesetz verankerter Rechtfertigungsgrund vorliegen. Ob der Urkundenprozeß diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben genügt, wird im folgenden zu klären sein. Zuvor ist jedoch zu untersuchen, ob das Vollstreckungsrecht in die Prüfung mit einbezogen werden kann.

VI. Einheitliche Betrachtung von Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahren123 Die Verletzung einfachgesetzlicher Verfahrensvorschriften führt erst dann zu einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, wenn gleichzeitig das verfassungsrechtlich gebotene Mindestmaß nicht mehr gewahrt wird124. Nicht nur, daß die Prüfungskompetenz des BVerfG auf die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts beschränkt ist, auch der Gesetzgeber ist in entsprechendem Umfang frei, Formen und Verfahren, in denen rechtliches Gehör in den Prozeßordnungen gewährt wird, verschieden auszugestalten. "Die einzelne Vorschrift und die Wirkung ihrer Verletzung muß daher jeweils im Wirkungszusammenhang aller einschlägigen Normen der Verfahrensordnung gesehen werden"125. Das bedeutet für den Urkundenprozeß zunächst, hinsichtlich der Gewährleistung rechtlichen Gehörs Vor- und Nachverfahren nicht getrennt, sondern zusammen zu betrachten. Das heißt aber weiter, Art. 103 Abs. 1 das rechtliche Gehör in Rechtskraft eIWachsen lassen, läßt aber eine Durchbrechung der Rechtskraft durch analoge Anwendung des § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO zu; siehe im übrigen Gaul Rechtsptleger 1971, 41 (45); Dürig in MaunzjDürig Art. 103 I Rdnr. 26. 122 Gaul Rechtsptleger 1971, 41 (45). 123 BVerfGE 26, 215 (222); 31, 275 (290); 42, 64 (73); 42, 263 (265); 44, 353 (373); 46,325 (333); 49, 220 (225); BVerfG NJW 1979, 2607; Dütz DB 1980, 1069 (1070 f.); Müssig ZZP 98, 324 (330) Fn. 29 m.w.N. 124 BVerfGE 54, 117 (123); 54, 277 (291). 125 BVerfG NJW 1982, 1636 (1637). 4 Hertel

50

A. Das Verhältnis von Verfassung und fachgesetzlicher Regelung

GG im Vollstreckungsrecht besonders zu beachten, wenn die Zur-Verfügung-Stellung aller Beweismittel im Nachverfahren den durch die Zwangsvollstreckung eingetretenen status quo unberührt lassen würdel26• Der Zusammenhang von Erkenntnisverfahren und Zwangsvollstrekkungsrecht wird beim Vollstreckungsschutz, z.B. §§ 707, 712, 719, 765a, 721 ZPO, deutlich. Selbst wenn die Entscheidung in der Sache selbst formal unberührt bleibt, ist nicht zu verkennen, daß durch Einstellung oder NichteinsteIlung die Wirkung eines Erkenntnisses faktisch entwertet werden kann127•

126 BVerfGE 6, 300 (305); Zöller/Stöber vor § 704 Rdnr. 28; Vol/kommer Rechtspfleger 1982,1(7). 127 Uppross S. 181; Gaul Rechtspfleger 1971, 81 (92); ähnlich auch Waldner Rdnr. 355 f., der das in § 921 Abs. 2 S. 2 ZPO eingeräumte Ermessen bei der Fcstlegung einer Sicherheitsleistung wegen Art. 103 Abs. 1 GG für bedenklich erachtet.

B. Urkunden-, Wechsel- und Scheckprozeß I. Der Urkundenprozeß Der Urkundenprozeß zeichnet sich als summarisches Verfahren dadurch aus, daß er gem. §§ 592 S. 1,595 Abs. 2 und 3, 598 ZPO - dem Namen entsprechend - nur Urkunden als Beweismittel zuläßt, und zwar auf Seiten beider ParteienI. Eigentümlich ist dieser Prozeßart nicht die formelle Beschleunigung, sondern die Gewährung eines vorläufigen gerichtlichen Beistandes aufgrund einer unvollständigen Sachprüfung. Dadurch erhält der Gläubiger auf schnellerem Wege als im ordentlichen Verfahren einen Titel, der ihm einen Zugriff auf das Vermögen des Gegners ohne Leistung einer Sicherheit erlaubt (§§ 599 Abs. 3, 704, 708 Nr. 4 ZPO). Dieses selbständig mit Rechtsmitteln anfechtbare Urteil ist seinem Wesen nach nur ein auflösend bedingtes Endurteil, weil es unter dem Vorbehalt der Geltendmachung der Rechte des Beklagten in einem sich unmittelbar anschließenden Nachverfahren ergeht (§§ 599, 600 Abs. 1 ZPO)2. Lediglich in dem Fall, daß das Urteil nicht aufgrund der eigentümlichen Beschränkungen des Urkundenprozesses erlassen wird, handelt es sich um eine endgültige Entscheidung3. 1 Habscheid ZZP 96, 306 (313); gern. § 595 Abs. 2 ZPO ist bezüglich der Echtheit oder Unechtheit einer Urkunde sowie bezüglich anderer als der in § 592 ZPO erwähnten Tatsachen auf Antrag auch die Parteivernehmung zulässig, deren Bedeutung aber nicht überschätzt werden sollte. Da eine Vernehmung des Beweisführers von Amts wegen (§ 448 ZPO) ausscheidet und die nach § 447 ZPO notwendige Zustimmung für die Vernehmung der eigenen Partei meist nicht zu erlangen ist, besteht nur die Möglichkeit, den Gegner gern. § 445 ZPO als Partei zu vernehmen. Im Hinblick auf dessen Prozeßvortrag, der erst die Beweisaufnahme erforderlich macht, wird auch seine Vernehmung als Partei kaum zum Erfolg führen. Bestreitet z.B. der Kläger eine vom Beklagten vorgebrachte Einwendung, wird der Kläger seinen Vortrag· hier das Nichtbestehen der Einwendung - kaum nur deshalb abändern, weil er jetzt als förmliches Beweismittel im Prozeß verwendet wird. Nicht zuletzt ist der Antrag auf Parteivernehmung gern. § 445 Abs. 1 ZPO gegenüber dem Urkundenbeweis subsidiär. 2 BGH NJW 83,1111. 3 Z.B. bei Fehlen einer Prozeßvoraussetzung, bei Anerkenntnis, Verzicht oder Säumnis, sawie bei Unstatthaftigkeit im Sinne des § 597 Abs. 2 ZPO.

52

B. Urkunden-, Wechsel- und Scheckprozeß

Weitere Besonderheiten ergeben sich daraus, daß lediglich Ansprüche auf Zahlung einer bestimmten Geldsumme oder einer bestimmten Quantität anderer vertretbarer Sachen im Urkundenprozeß einklagbar sin9. Auch diese letzte Bastion fiel bald der raschen Entwicklung des Prozeßrechts zum Opfer, nachdem der erstmals im deutschen Strafverfahrensrecht eingeführte Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung Einzug in das Zivilprozeßrecht hielt70. Der Richter konnte nicht nur das Beweisfüh-

66 HProt.

S. 3206: "dieses sei eine sonderbare Fiktion; denn wie könne man z.B. daraus, daß

jemand einen Schuldschein ausstelle, schließen, daß er sich sofort der Execution unterwerfen wolle"; vgI. auch Stein S. 93, 95. 67 Z.B. NorddtProt. S. 1088 f., 2551, vgl. auch § 672 des Entwurfs einer Civilprozeßordnung fur den Norddeutschen Bund von 68 Vgl. Fn. 57.

1870.

(ß Stein S. 94 mit Verweis auf Sächs.ErI.PO.I724 Anh.§ 4; § 726 der Prozeßordnungen von Baden aus dem Jahre 1832 und 1841, § 694 der Prozeßordnung von Baden aus dem Jahre 1851 sowie § 644 der Prozeßordnung von Baden aus dem Jahre 1864; HProt. S. 3202, 3218 ff., 3231 ff., 6068 ff. sowie § 473 des entsprechenden Entwurfs von 1866; NorddtProt. S. 1227,

1229 f., 1086 f., 2525 sowie § 563 des Entwurfs einer CivilproceBordnung für den Norddeutschen Bund von 1870; §§ 505, 509 des 1. Entwurfs. 70 Mot. I S. 314 ff. sowie § 235 des 1. Entwurfs; Mot. 11 S. 263 f. sowie § 244 des 2. EJ\tWUrfs; § 455 des Entwurfs einer Civilproceßordnung für den Norddeutschen Bund von 1810; § 421 des Entwurfs einer Proceß-Ordnung in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten für den Preußischen 8*

116

C. Historische Entwicklung des Urkundenprozesses

rungsergebnis, sondern den gesamten Inhalt der Verhandlungen zur Grundlage seines Urteils machen. Infolge dessen war auch der Indizienbeweis zulässig71• Nur die formelle Beweiskraft von Urkunden unterlag noch einer gesetzlichen Beweisregel72• Im Ergebnis führte die aufgezeigte Entwicklung dazu, daß der Gesetzgeber von 1877 eine Urkunde vorfand, die innerhalb weniger Jahrzehnte zu einem reinen Beweisinstrument neben anderen degradiert wurde. Aus der einstigen executorischen Kraft der Urkunde durch Unterwerfung des Schuldners war ein reines Liquiditätsmittel entstanden, dessen Funktion allein darin lag, Beweis zu erbringen, ohne den Ablauf des Gerichtsverfahrens zu verzögern. Daß man nicht auch andere "liquide" bzw. präsente Beweismittel zuließ, kann wohl nur historisch begründet werden73. Treffend schreibt Stein: "Nach dem Gesetze aber ist nur der gelungene Beweis "mit Urkunden" erforderlich ... , und selbst der mit zerfetzten Zetteln oder mit eigenen Aufzeichnungen des Gläubigers auf die einzelnen Momente des Thatbestandes, ja vielleicht auf einzelne Indizien für jedes von ihnen gerichtete Mosaikbeweis nicht grundsätzlich ausgeschlossen, ein Spott auf die Bevorzugung "urkundlicher Ansprüche". Damit ist der Urkundenprozeß bei einem Endpunkte der Entwicklung angelangt, den man nur mit seinen Ausgängen in dem echten instrumentum guarentigiatum und der deutschen Gerichtsurkunde zu vergleichen braucht, um zu sehen, daß eine noch weitere Versumpfung nur noch durch den Verzicht auf die Urkunde überhaupt möglich ist"74. Aus dem Urkundenbeweis wurde ein Urkundenbeweis. Staat von 1864; § 306 des hannoveranischen Entwurfs einer allgemeinen Civilproceßordnung für die deutschen Bundesstaaten von 1866; Art. 345 der Prozeßordnung in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten für das Königreich Bayern von 1869; Art. 443 der Civilprozeßordnung für das Königreich Württemberg von 1868. Die zögerliche Einführung des Grundsatzes im Verfahren vor dem Zivilrichter beruhte darauf, daß man dort - anders als in der Strafprozeßordnung - die Verhandlungsmaxime gefährdet sah, sie aber schließlich mit der unabhängigen Stellung des Richters, dem Mündlichkeitserfordemis sowie der Verpflichtung zu einer ausführlichen Urteilsbegründung rechtfertigte. 71 Mot. 11 S. 264; Stein S. 96. 72 Mol. 11 S. 333 ff. sowie §§ 244 Abs. 2, 361 - 364 des 2. Entwurfs; vgl. heute §§ 286 Abs. 2, 415 ff. ZPO zur formellen Beweiskraft, §§ 437 ff. ZPO zur Feststellung der Echtheit und § 256 Abs.l ZPO zur Klagemöglichkeit; zuvor jedoch muß die Urkunde in freier Beweiswürdigung für echt erachtet worden sein; Teske S. 123 ff.; Schreiber S. 22 f.; B. V.; dagegen unterlag nach § 350 f. des 1. Entwurfs auch die materielle Beweiskraft einer Beweisregel; Mot. I S. 338 ff. 73 Vgl. Fn. 20. 74 Stein S. 96 f.

V. Der Streit um die Beibehaltung des Urkundenprozcsses

117

Mit Stein ist der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingetretene Wandel zu verurteilen. Dies gilt zwar nicht für die Einführung der freien Beweiswürdigung mit Abschaffung von Beweisregel und -interlocut, aber für den nun sehr weiten Anwendungsbereich des Urkundenprozesses durch Verzicht auf besondere QualifIkationsmerkmale im Verhältnis zu sonstigen Beweisurkunden. Wie noch zu zeigen ist, hat der BGH diese Linie durchaus großzügig weiterentwickelt. Nun ist es zwar legitim, daß der Gesetzgeber in Widerspruch zur früheren Rechtslage neue Voraussetzungen für die Zukunft festlegt. In dem Moment aber, in dem es nicht mehr darauf ankommt, daß die vorgelegte Urkunde einen Verzicht auf ein ordinarium oder die Zustimmung zu einer entsprechend eingeschränkten Verteidigung von Seiten des Schuldners erkennen läßt, der Beklagte nicht einmal an der Aufstellung der Urkunden mitgewirkt haben muß, in diesem Moment kann ein durch die Vollstreckung aus dem Vorbehaltsurteil entstandener Dauerschaden nicht mehr damit entschuldigt werden, der Schuldner habe sich bereits bei Aufstellung der Urkunde willentlich einer beschleunigten Vollstreckung unterworfen. Denn die Urkunde ist nur noch Beweismittel. Ein freier Verzicht auf rechtliches Gehör konnte dem Schuldner nicht mehr nachgesagt oder unterstellt werden. Im Anschluß an die Einführung der freien Beweiswürdigung war umstritten, ob der Executivprozeß überhaupt noch in eine Prozeßordnung aufgenommen werden sollte. Neben den Motiven zur CPO befaßten sich damit am ausführlichsten die hannoveranisehen Protokolle von 1864.

v. Der Streit um die Beibehaltung des Urkundenprozesses 1. Die hannoveranisehen Protokolle75

Gegen eine Beibehaltung des Executivprozesses wurden im wesentlichen zwei Gründe vorgebracht, wobei der eine die Verfahrensart selbst, der andere das sonstige Prozeßrecht betraf. Teile der Kommission waren der Ansicht, der Executivprozeß stelle einen Rechtsschutzausgleich für das oft schleppende ordentliche Verfahren dar. 75 Der Entwurf einer allgemeinen deutschen Civilprozeßordnung, den eine aus Vertretern der Einzelstaaten (ohne Preußen) gebildete Kommission 1864 ausgearbeitet haUe, kam infolge der Auflösung des deutschen Bundes nicht mehr zur Verabschiedung.

118

C. Historische Entwicklung des Urkundenprozesses

Nachdem man aber dazu übergegangen war, das normale Gerichtsverfahren schleuniger und elastischer zu gestalten, was nicht zuletzt seine Ursache in der Einführung des Mündlichkeitsgrundsatzes hatte, wurde das praktische Bedürfnis für eine besondere Prozeßart verneint. Zudem kannten auch andere Prozeßordnungen, z.B. die von Preußen oder Österreich, sowie der code de procedure, ein formell beschleunigtes Verfahren, das aber die materielle Verteidigung nicht einschränkte76• Darüberhinaus war vorgesehen, ein Verfahren nach dem Vorbild der hannoveranischen Prozeßordnung einzuführen, welches aus öffentlichen executorischen Urkunden die sofortige Vollstreckung ohne Erkenntnisverfahren ermöglichen sollte77, eine Prozeßform, die dem ursprünglichen Gedanken der confessio sehr nahe kam. Auch hier meinten große Teile der Kommission, der Executivprozeß sei mangels Rechtsschutzbedürfnis obsolet geworden. Andere gingen davon aus, daß mit Aufhebung der Vorschriften über die Beweiskraft von Privaturkunden dem Executivprozeß die Existenzberechtigung genommen worden sei, weil die formelle Natur desselben und das richterliche Ermessen sich gegenseitig ausschließen würden78 • Zwar versuchte man, die Beweiskraft von Privaturkunden über die Echtheitsregel des § 497 (heute § 416 ZPO) zu retten, doch war das nur ein beschränkter Ersatz, weil sowohl Echtheit als auch materielle Beweiskraft der freien Beweiswürdigung unterliegen sollten. Schließlich sah man in einem etwaigen "frivolen" Verhalten des Gläubigers eine Gefahr für den Schuldner79 •

76 HProt.

S. 3205 f., 3212, 3223 f., 3226 f. S. 3207, 3221, 3232; vgl. auch § 794 Abs. 1 Nr. 5 ZPO. 78 HProt. S. 3231, 6068 f. sowie § 364 des entsprechenden Entwurfs von 1866. 79 HProt. S. 3276 ff. Im Gegensatz zur 7 Jahre später eingesetzten Kommission, die in ihren Motiven den Grundstein für die heutige ZPO legte, versuchte die Civilproceßcommission zu Hannover auf verschiedenste Weise, den Anwendungsbereich des Executivprozesses möglichst in engen Grenzen zu halten. Ein Vorschlag war es, nur bestimmte Forderungsarten zuzulassen, so z.B. in Anlehnung an die badischen Prozeßordnungen sowie das Nassauische Gesetz von 1859 persönliche bzw. vertragliche Ansprüche; HProt. S. 3208. Andere wiederum sahen nicht im Anspruchstypus, sondern in der Urkundenqualität den Ansatz für eine Begrenzung des Urkundenprozesses, indem die den klagebegründenden Anspruch ausweisenden Urkunden zumindest konkludent einen Unterwerfungswillen des Beklagten ausweisen oder die Unterschrift desselben tragen sollten; HProt. S. 3217 ff., 3236; denn aus der geschichtlichen Ent77 HProt.

V. Der Streit um die Beibehaltung des Urkundenprozesses

119

Dagegen erscheinen die Argumente für eine Beibehaltung des Executivprozesses eher oberflächlich. So hieß es des öfteren, das Kreditrecht, insbesondere die kaufmännische Anweisung und der Wechselverkehr müssten geschützt werdenso. Auf den Unterschied beispielsweise einer Wechselforderung und einer normalen urkundlich belegbaren Kaufpreisforderung wurde jedoch nicht eingegangen. Das Wesen eines Wechsels liegt neben seiner Unabhängigkeit gegenüber der ihm zugrunde liegenden Verbindlichkeit in der juristischen Strenge und schnellen Durchsetzbarkeit, was jedem Schuldner bekannt sein dürfte. Gerade deshalb erklärt er sich durch das Akzept mit einer paraten Execution einverstanden81 • Wenn es also wirklich das Kreditrecht gewesen wäre, welches man hätte in Schutz nehmen wollen, gäbe es den heutigen Urkundenprozeß nicht. Vielmehr hätte man sich auf den Wechsel- und Scheckprozeß beschränkt. Auch das Argument, ein Vorbehaltsurteil werde erfahrungsgemäß aufrechterhalten, ist nicht stichhaltit2 • Immerhin sind Fälle denkbar, in denen das Vorbehaltsurteil im Nachverfahren kassiert wird. Die Einschränkung des rechtlichen Gehörs kann indessen nicht mit einem tatsächlichen Befund, sondern nur mit einem rechtlich anerkannten Interesse ausgeglichen werden. Wenn schließlich der einstweilige Ausschluß illiquider Verteidigungsmittel über das Rechtsschutzbedürfnis wegen eines "augenblicklich dringenden Rechtsverhältnisses" gerechtfertigt wurde83, ist der vorläufige Rechtsschutz, nicht aber der Urkundenprozeß die richtige Prozeßart. Nirgendwo sonst wurde die Gefahr, daß das provisorische Urteil zu einer faktischen Endgültigkeit führen konnte, mehr gesehen als von jener Kommission. Zwar versuchte man, sie bereits durch Begrenzung des Klagegegenstandes zu bannen84, doch wurde der Schwerpunkt auf den Vollstrekkungsschutz gelegt. wicklung heraus müsse der Schuldner im Falle eines Rechtsstreits den Inhalt der Urkunde dem Urteil zur Grundlage dienen lassen; HProt. S. 3223 C., 3227, 3230. 80 HProt. S. 3206 C., 3226 C., 3233, 3264, 3266 mit VeIWeis auC die condictio certi des römischen Rechts, welche mit ihrer Strenge DarlehnsCorderungen Schutz gewähren sollte. 81 Nur einmal heißt es zur Qualifikation der Urkunden, daß sich aus ihnen der stillschweigende Wille, eine parate Execution zu begründen, ergeben müsse, HProt. S.3217. 82 HProt. S. 3213 C., 3222, 3232; vgI. auch 2. Kap. VIII. 83 HProt. S. 3232. 84 Es wurde der Vorschlag gemacht, den Anspruch auC vertretbare Sachen zu beschränken, weil bei Zerstörung eines unvertretbaren Gegenstandes ein Ersatz nicht möglich, die Gefahr provisorischer Überantwortung dagegen bei vertretbaren Sachen geringer sei; HProt. S. 3208 f.,

120

C. Historische Entwicklung des Urkundenprozesses

Zum Teil glaubte man, den Schuldner ausreichend durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung schützen zu können, teilweise sollte ihm die Vollstreckung überhaupt bis zum Abschluß des Nach- bzw. Berufungsverfahrens erspart bleibenss. Je nach Urteilstypus sollte der Schuldnerschutz unterschiedlich sein. Hatte der Gläubiger ein Urteil erstritten, dem eine vollständige Erörterung des Rechtsstreits vorausgegangen war, wollte man eine Abwägung zwischen den Interessen des Gläubigers und denen des Schuldners vornehmen. Wurde hingegen der Beklagte mit Einreden und Dupliken zum Nachverfahren verwiesen, sollte sein Antrag, also allein das Interesse des Schuldners, für die Einstellung der Zwangsvollstreckung ausschlaggebend sein86• Dahinter steckte die Überlegung, daß bei einem wegen Einschränkung des Beweisrechts unvollständigen Erkenntnis der Schutz des Schuldners ein höherer sein mußte, weil noch nicht feststand, ob der Anspruch des Klägers im Nachverfahren wieder beseitigt werden würde. Zum Konkursrisiko meinte ein Abgeordneter, der Schuldner "sei stets in Gefahr, die von ihm vorläufig gezahlte Summe nicht zurückzuerhalten, da der reichste Kläger zur Zeit der Beendigung des ordentlichen Verfahrens arm geworden sein könne"S7. Vor diesem Hintergrund muß man erstaunt sein, daß durch die Verfahrensvereinfachungsnovelle von 1977 den Interessen des Gläubigers bei einer einstweiligen Einstellung der Zwangsvollstreckung im Kollisionsfall der Vorrang 3213, 3220, 3224 f. Ähnlich waren die Ansichten in Bezug auf dingliche Rechtsverhältnisse; sie seien ihrer Natur nach auf Endgültigkeit bedacht; HProt. S. 3224, 3232. 8S HProt. S. 3210 f., 3216, insb. 3264 ff. zur Frage, wann ein erheblicher Grund im Sinne des § 490 Abs. I des entsprechenden Entwurfs vorlag. 86 HProt. S. 3257 mit Verweis auf Art. 623 des bayerischen Entwurfs. Dagegen erscheint der Vorschlag, nach der Rechtskraft zu differenzieren, nicht überzeugend. So sollte bei einem rechtskräftigen Urteil, gegen welches Einreden vorbehalten waren, die Sicherheitsleistung, Hinterlegung oder Einstellung der Zwangsvollstreckung schwerer zu erreichen sein als bei einem nicht rechtskräftigen Erkenntnis, weil auf der K1ägerseite das Moment der Rechtskraft zu berücksichtigen sei; vgI. HProt. S. 3268 f. Zwar ist die Rechtskraft ein die Gläubigerposition verstärkender Faktor, welcher aber unberücksichtigt bleiben muß, wenn der Schuldner sich mit Mitteln wehren möchte, auf denen das Vorbehaltsurteil gerade nicht aufbaut. Vernünftiger erscheint eine Unterscheidung nach dem eingelegten Rechtsmittel. Denn legt der Beklagte gegen das Vorbehaltsurteil Berufung ein, verzichtet er gleichzeitig auf sein rechtliches Gehör, weil auch das Berufungsverfahren nur Urkunden als Beweismittel zulässt. Strengt er dagegen das Nachverfahren an, will er sich vollständiges Gehör verschaffen. 1fT HProt. S. 3264, 3266.

V. Der Streit um die Beibehaltung des Urkundenprozesses

121

eingeräumt wurde88, ohne danach zu differenzieren, gegen welches Urteil welches Rechtsmittel eingelegt wird, ganz zu schweigen davon, daß man nicht auf die Berechtigung des heutigen Urkundenprozesses eingegangen ist. 2. Die Motive zur CPO von 1877

Sowohl §§ 505, 509 des 1. Entwurfs als auch die entsprechenden Motive sahen als Erfordernis für die Zulässigkeit des Urkundenprozesses den Beweis aller zur Begründung des Anspruchs erforderlichen Tatsachen durch vollbeweisende Urkunden vorB9. Dabei verstand man das Erfordernis vollbeweisender Urkunden nur im Zusammenhang mit den Vorschriften über die gesetzliche Beweiskraft von Urkunden. Dagegen sollte die Unterwerfung unter den urkundlich festgestellten Inhalt des Rechtsverhältnisses zur paraten Execution nicht Platz greifen bei Urkunden, die ohne Aussicht auf sofortige Vollstreckbarkeit ausgestellt worden waren. "Urkunden, welchen die gesetzliche Beweiskraft fehlt, weil sie nicht aus dem Willen der Betheiligten hervorgegangen sind, ... eignen sich zu der dem Urkundenbeweise gewährten Begünstigung nicht, da sie an der hervorragenden Eigenthümlichkeit des Beweises nicht Theil nehmen"90. Grundlage des Urkundenverfahrens war insofern konsequent "die Kraft des Urkundenbeweises und die an dieselbe sich anschließende, als vorhanden anzunehmende Absicht der Parteien, durch Urkunden einen einfachen, durchgreifenden Beweis zum Zweck der erleichterten Rechtsverfolgung für und gegen sich herzustellen"91. Hier schien also der Unterwerfungswille des Beklagten unter ein vereinfachtes Verfahren von Bedeutung. Demgegenüber sah man aber von einer Unterscheidung nach Urkunden, die über den Anspruch selbst errichtet wurden oder nicht, ab, "da der Urkundenbeweis im eminenten Sinn, wie er nach dem Grunde des Verfahrens gefordert werden muß, über das Fundament des Anspruchs kaum anders als durch solche Urkunden, welche von dem Verpflichteten ausgestellt sind, geführt werden kann"92, und stellte so den Liquiditätsgedanken gegenüber dem Unterwerfungswillen in den Vordergrund93. Zudem wurden bereits BT-Drucks. 7/2729 S. 45, 109. Mol. I S. 401. 90 Mot. I S. 402 f. 91 Mol. I S. 400. 92 Mol. I S. 401; Mol. II S. 453. 88

IJ)

93

Stein S. 95.

122

C. Historische Entwicklung des Urkundenprozesses

nach dem 1. Entwurf gern. §§ 350 f. privaten Urkunden, soweit sie vom Aussteller unterschrieben waren, sowie öffentlichen Urkunden die volle Beweisfähigkeit nur eingeschränkt, nämlich in bezug auf die formelle Beweiskraft, beigelegt94. Im übrigen galt der in § 235 des 1. Entwurfs niedergelegte Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung. Diese etwas widersprüchliche Ansicht löste der 2. Entwurf dahingehend, daß zugunsten des Liquiditätsgedankens auf vollbeweisende Urkunden verzichtet wurde95 . Mehr noch als in den hannoveranisehen Protokollen war die Beibehaltung des Executiv-, nunmehr Urkundenprozesses umstritten96 • Zwar wurde gegen den Urkundenprozeß die Elastizität des ordentlichen Verfahrens, die damalige Möglichkeit der Landesgesetzgeber, Schuldtiteln exekutorische Kraft zu verleihen, sowie die bereits anderweitige Bevorzugung urkundlicher Ansprüche vorgebracht, indem man öffentliche, vor einem Notar oder Gericht aufgenommene Urkunden zur sofortigen Zwangsvollstreckung zuließ97. Dennoch kam der Gesetzgeber zum Ergebnis, daß ein Rechtsschutzbedürfnis für die Aufrechterhaltung dieser Prozeßart vorhanden sei. "Das Motiv für die Gewährung des Executiv- (Urkunden-) Prozesses liegt in der PrimaFacie-Liquidität des urkundlichen Anspruchs, in der Möglichkeit, den Schuldbrief bereits als einen richterlichen Urtheilsbrief anzusehen, weil der Schuldner sich der summarischen Kognition durch vertragsmäßige Übereinkunft mit dem Gläubiger unterworfen habe,,98. Deswegen sollte der Kläger ein besonderes, vom ordentlichen Verfahren sich unterscheidendes Recht auf abgekürzte Verhandlung und schnellere Vollstreckung haben. Im Urkundenprozeß sah man die gerechte Lösung des Widerstreits zwischen dem Verlangen nach schleuniger Rechtshilfe und dem Anspruch auf rechtliches Gehör. Widersprüchlich sind diese Feststellungen nicht nur heute, sie waren es bereits vor knapp 120 Jahren99 • Denn in den Motiven heißt es auch, daß nicht nur den Anspruch verkörpernde Schriftstücke, sondern sämtliche Ur94 Mot. I S. 338 f.; zum nahezu übereinstimmenden Wortlaut der §§ 235, 350 ff. des 1. Entwurfs und §§ 259, 380 ff. CPO 1877 vgl. Stein S. 95. 95 Mot. 11 S. 453; Mol. 111 S. 388; Stein S. 95 f. 96 Mot. I S. 400 ff.; Mot. 11 S. 450 ff. = Mot. 111 S. 386 ff. 97 Mot. 11 S. 453 f. = Mot. 111 S. 388. 98 Mol. 11 S. 451 = Mot. 111 S. 387. 99 Man berief sich hierbei auf Briegleb, übersah aber, daß er wiederum strengere Anforderungen an die den Anspruchstatbestand beweisenden Urkunden stellte.

V. Der Streit um die Beibehaltung des Urkundenprozesscs

123

kunden Beweismittel sein konnten1OO• Darunter fielen auch solche, die nur mittelbar auf die eingeklagte Forderung hinwiesen; ein verbriefter Anspruch war dagegen nicht notwendig. Folglicherweise war auch ein besonderes Rechtsschutzbedürfnis nicht mehr gegeben. Wenn für die Bevorzugung urkundlicher Ansprüche auf Art. 822 der Bayerischen Pozeßordnung verwiesen wurde, der den direkten Vollstrekkungszugriff ohne Erkenntnisverfahren zuließ, soweit die den Anspruch verkörpernde Urkunde vor Gericht oder Notariat erstellt war 101, unterstützt der Verweis nur letztgenannte Erkenntnis, weil sich in diesem Fall der Beklagte mit einer vorzeitigen Vollstreckung einverstanden erklärt hatte. All dies wird auch der damalige Gesetzgeber gesehen haben. Es ging ihm wohl um etwas anderes. Der Wechsel war seit jeher das Mittel, auf schnellem Wege Warenaustausch und Kreditgeschäft zu ermöglichen und zu verbinden. Nachdem nun die Mobilität desselben durch Abschaffung der sogenannten Persollalexecutioll eingeschränkt worden war, wollte man in Wechselsachen zumindest ein abgekürztes Erkenntnisverfahren einrichten, zumal auch fast alle anderen partikularrechtlichen Prozeßordnungen ein dementsprechendes Verfahren kannten. Da der Wechselprozeß aber lex specialis zum Urkundenprozeß war, mußte der Gesetzgeber auch letzteren aufnehmen. Warum er nicht nur den Wechselprozeß als außerordentliches Verfahren installierte, bleibt ungeklärt. Außerdem schien man sich von dem ca. 600 Jahre alten Executivprozeß, der gleichzeitig das Zugpferd für die zu jener Zeit mannigfaltige, das summarische Prozeßverfahren betreffende Literatur darstellte, nicht lösen zu können, wenn man sich auf die "Lage der gegenwärtig noch obwaltenden Anschauungen" berief102• Der einzige Umstand, der an den gemeinrechtlichen Executivprozeß noch ganz schwach erinnerte, war der, daß zur Zulässigkeit der Klage der Beweis aller anspruchsbegründenden, also auch der nichtstreitigen Tatsachen durch Urkunden erforderlich war103•

Mot. 11 S. 452 f. = Mot. III S. 388. Mol. 11 S. 452 = Mot. III S. 388. 102 Mot. 11 S. 454 = Mol. III S. 389. 103 Mot. 11 S. 453, 456 = Mot. 111 S. 388, 390. 100 101

D. Rechtfertigung wegen sofortiger Liquidstellung des urkundlich belegten Anspruchs - Beweisbedürftigkeit von nicht bestrittenen, zugestandenen und offenkundigen Tatsachen im Urkundenprozeß J. Rechtslage Dem Urkundenbesitzer soll durch die §§ 592 ff. ZPO ein vorläufiger Rechtsschutz gewährt werden, weil er seine Forderung durch eine oder mehrere Urkunden beweisen kann, die infolge ihrer Beweiskraft dem Gericht ohne Beweisaufnahme eine vorläufige Entscheidung ermöglichen1. Zwar ist bereits festgestellt worden, daß die erhöhte Beweiskraft nur für bestimmte, nämlich unterschriebene, nicht aber für alle Beweisurkunden gilt 2, und deshalb keine der Prozeßart anhaftenden Eigentümlichkeit darstellt. Besondere Rechtsschutzvoraussetzung könnte aber die urkundliche Verkörperung des Anspruchs, unmittelbar oder mittelbar durch Indizienbeweis, sein. Dies würde voraussetzen, daß sämtliche zur Begründung des Klagebegehrens erforderlichen Tatsachen durch zum Beweis taugliche Urkunden belegt werden müßten. Das ist unproblematisch bei streitigen Tatsachen, dagegen fraglich, wenn offenkundige, nicht bestrittene bzw. zugestandene Tatsachen im Sinne der §§ 291, 138 Abs.3, 288 ZPO vorliegen. Sowohl die hannoveranischen Protokolle3 als auch die Motive4 sahen in der Existenz der Urkunden eine Bedingung des klägerischen Prozeßrechts, gingen also davon aus, daß der angebliche Gläubiger erst einmal sämtliche anspruchsbegründenden Tatbestandsmerkmale durch Urkunden zu belegen hatte, bevor sich der Gegner auf die Klage einlassen mußte. Die Privilegierung der im Urkundenprozeß klagenden Partei sollte ihre Rechtfertigung in der antizipierten Beweisführung über den Klagegrund haben. 1 BGHZ 62, 286 (290). 2B. V. 3 HProt. S. 3887; vgI. auch Bayer S. 104 C.; Briegleb (1845) S. 240. 4 Mol. I S. 401; Mol. 11 S. 453, 456, 459; Mol. III S. 388, 390 Cf.; ebenso Endemann (1879), Bd. 2, S. 548 C.

I. Rechtslage

125

Auch das Reichsgericht ging anfangs davon aus, daß der Urkundenprozeß nur gestattet sei, wenn sämtliche zur Begründung des Anspruchs erforderlichen Tatsachen durch Urkunden bewiesen werden könnenS. Doch schon vier Jahre später brach der erste Senat6 mit dieser Auffassung. Er führt aus, die Abweisung der im Urkunden- und Wechselprozeß erhobenen Klage wegen Nichtbeifügung einer Urkunde zur Klageschrift oder wegen Nichtantretung des Beweises durch Vorlegung einer Urkunde im Verhandlungstermin finde alsdann nicht statt, wenn die durch die Urkunde zu beweisende Tatsache keines Beweises bedürfe7 . Die Pflicht zur Ankündigung der als Beweismittel zu benutzenden Urkunden in der Klageschrift durch urschriftliche oder abschriftliche Beifügung derselben erstrecke sich nicht weiter als die Pflicht zur Antretung und Führung des Beweises8. Jene Ansicht wurde später auch vom BGU übernommen und ist heute herrschend in Rechtsprechung und Lehre9. Sie führt dazu, daß nicht mehr die Urkundlichkeit, sondern die Liquidität des Anspruchs entscheidet lO • Selbst wenn die hM dogmatisch unter Abkehr von der geschichtlichen Entwicklung richtig sein sollte, muß sie sich über die Folgen bewußt sein. s RGZ 3,377 (378); 5, 351 (352); 5, 381 (383 f.). Urteil vom 10. Juli 1884, RGZ 12, 131. S. 133; in einer weiteren Entscheidung machte der zweite Senat (RGZ 13, 369 (372» die Einschränkung, "daß die Frage, ob etwa ein sofortiges Zugestehen ...von dem urkundlichen Nachweise ...entbunden hätte, nicht zu lösen ist", da ein solches Geständnis nicht vorlag. Offenbar war diese Frage innerhalb des Reichsgerichts zur damaligen Zeit umstritten. 8 Die Ansicht, der Urkundenbeweis des anspruchsbegründenden Tatbestandes habe keine andere Bedeutung und Stellung als der Beweis im ordentlichen Verfahren, soll nach Meinung Steins von Sydow begründet worden sein; Stein S. 99 mit Verweis auf Sydow, Bd. 2, S. 479. 9 RGZ 13, 369 (370 ff.); 102, 328 (330 f.); 142, 303 (306); 30, 405 (408); BGHZ 62, 286 (287ff.); BGH WM 1985, 738 (739); Lüke/Prütting S. 322 f., 326; Rosenberg/Schwab § 164 11 c; Zimmermann § 592 Rdnr. 5; Zöller/Schneider § 592 Rdnr. 10 f.; BaumbachjLauterbach/ Hartmann § 592 3 B; Wieczorek § 592 C IV a; Steinjlonas/Schlosser § 592 Rdnr. 11; § 597 Rdnr. 4; Alternativkommentar/Klein § 592 Rdnr. 7; Gloede MDR 1974, 895 ff.; nach Lüke/ Prütting S. 323 führte die hM zu einer wesentlichen Ausdehnung des Anwendungsbereichs, die nicht unbedenklich sei; denn auch bei voll zugestandenem Klagevorbringen nach §§ 138 Abs. 3, 288 ZPO habe der Kläger kein Recht auf eine sofortige, vorläufig vollstreckbare - hinzuzufügen wäre noch: ohne Leistung einer Sicherheit - Vorabentscheidung; a.A. Stümer NJW 1972, 1257 ff.; JZ 1974, 681 f.; Bull NJW 1974, 1513 f.; lauernig § 89 I. 10 Stein S. 106 f.; Stümer JZ 1974, 681 f. bezeichnet den Urkundenprozeß als Geständnisprozeß. 6

7 A.a.O.

126

D. Rechtfertigung wegen LiquidstelIung des Anspruchs

Zunächst wäre es vermessen, noch von einem erhöhten Rechtsschutzbedürfnis wegen antizipierten Urkundenbeweises zu sprechen. Darüberhinaus müssen sich die Anhänger des insofern erweiterten bzw. erleichterten Urkundenprozesses fragen, warum sie lediglich Urkunden als Beweismittel zulassen, wenn doch nur noch die Liquidität des Anspruchs entscheidend ist. Warum wird beispielsweise nicht der präsente Zeuge, der nicht zu einem besonders anzuberaumenden Beweistermin geladen werden müßte, zum "Urkundenprozeß" zugelassen? Warum soll es nicht möglich sein, ein Augenscheinsobjekt, soweit es so beschaffen ist, daß es im Rahmen eines laufenden Prozesses im Gerichtssaal begutachtet werden könnte, als Beweismittel einzuführen? 11. Schon hier kann festgehalten werden, daß - folgt man der überwiegenden Ansicht - kein Rechtfertigungsgrund für einen irreparablen Eingriff in das Recht auf Gehör auszumachen ist. Im folgenden ist zu untersuchen, ob der hM zugestimmt werden kann. Als Ausgangspunkt soll ein Urteil des 8. Zivilsenats des BGH vom 24.04.197412 dienen, welches sich so intensiv wie nirgendwo sonst mit der Beweisbedürftigkeit nichtstreitiger Tatsachen beschäftigt. Dabei soll nach den vier klassischen Auslegungskriterien vorgegangen werden.

11. Auslegung nach dem Wortlaut Zunächst spricht § 592 S. 1 ZPO von der Klagebefugnis im Urkundenprozeß, "wenn die sämtlichen zur Begründung des Anspruchs erforderlichen Tatsachen durch Urkunden bewiesen werden können." Schon hier wird der Leser darüber im ungewissen gelassen, ob der Beweis einer jeden Tatsache nicht nur angetreten, sondern auch geführt werden muß, oder ob er lediglich angetreten, geführt jedoch nur dann werden muß, wenn die Tatsache streitig ist. Je nachdem, auf welches Wort man die Betonung legt, entweder auf "bewiesen werden können" oder auf "bewiesen werden können", läßt § 592 S. 1 ZPO beide Auslegungsmöglichkeiten zu13. Der BGH ist nun der Ansicht, selbst wenn man von einer erfolgreichen Beweisführungspflicht des Urkundenklägers ausgehen wolle, enthalte § 597 Abs. 2 ZPO eine Einschränkung des in § 592 ZPO ausgesp" ,"'lchenen Grund11 Schmidt S. 573; Btieg/eb (1859) S. 311 ff., 316 ff. 12 BGHZ 62, 13

286 mit Anm. Stümer JZ 1974, 681 f.

BGHZ 62, 286 (289); Endemann (1879), Bei. 2, S. 538; Stein S. 100.

11. Auslegung nach dem Wortlaut

127

satzes, weil dort von "einem dem Kläger obliegenden Beweis" die Rede sei l4 • Dies habe man als Hinweis auf die allgemeinen Beweisvorschriften, insbesondere §§ 288, 291, 138 Abs. 3 ZPO zu verstehen. Die vom BGH gezogene Schlußfolgerung, § 597 Abs. 2 ZPO wirke als Einschränkung des § 592 S. 1 ZPO, ist nicht zwingend. Genausogut ließe sich das Gegenteil vertreten, nämlich daß hinsichtlich des anspruchsbegründenden Tatbestandes § 592 S. 1 ZPO eine Ausnahme von § 597 Abs. 2 ZPO sei. Außerdem muß man sich fragen, warum der Gesetzgeber den komplizierten Weg gewählt hat, in § 592 S. 1 ZPO die zur Begründung des Klageanspruchs erforderlichen Tatsachen zu regeln, während § 595 Abs. 2 ZPO von den anderen "als der im § 592 erwähnten Tatsachen" spricht, wenn über § 597 Abs. 2 ZPO ohnehin dasselbe Ergebnis erzielt wird. Warum hat er nicht eine einheitliche Regelung getroffen? Welcher innere Grund rechtfertigt es, als dann noch einzig übrigbleibendes Unterscheidungskriterium bei nicht klagebegründenden Tatbestandsmerkmalen auf Antrag die Parteivernehmung zuzulassen? Diese Fragen bleiben unbeantwortet. Liest man § 597 Abs. 2 ZPO weiter, heißt es, daß die Klage in der gewählten Prozeßart unstatthaft ist, "selbst wenn in dem Termin zur mündlichen Verhandlung der Beklagte nicht erschienen ist...". In den Augen des BGH darf die dem Kläger, der seine Forderung auf eine Urkunde stützen kann, eingeräumte Vorzugsstellung nach der Ausnahmevorschrift des § 597 Abs. 2 ZPO indessen nicht so weit gehen, daß der in der Regel ihm obliegende Urkundenbeweis durch die Fiktion des § 331 Abs. 1 ZPO ersetzt werde1S • Dann müßte dieser Halbsatz eine Ausnahmeregelung sein. Hier läßt sich ebenso das Gegenteil vertreten. Der Wortlaut des § 597 Abs. 2 ZPO beginnt den Nebensatz mit "selbst wenn". Im allgemeinen bedeutet dies eine Schlußfolgerung a majore ad minum. Wenn der Beklagte säumig ist, wird dem Klageantrag bei Schlüssigkeit gern. § 331 Abs. 2 ZPO entsprochen. Der Beklagte wird so behandelt, als ob er sämtliche Anspruchsvoraussetzungen nicht bestritten hat. Soweit deshalb schon bei Fernbleiben des Beklagten kein Vorbehaltsurteil ergeht, gilt das

14

A.a.O. S. 289 f.

IS A.a.O.

S. 290; nach Lüke/Priitting S. 323 muß der Kläger bei Säumnis des Beklagten also alle anspruchsbegründenden Merkmale beweisen; ohne eine Begründung abzugeben, soll das allerdings nicht bei offenkundigen Tatsachen nach § 291 ZPO gelten; Stümer JZ 1974, 681.

128

D. Rechtfertigung wegen Liquidstellung des Anspruchs

erst recht für den Fall, daß der Beklagte zwar erschienen ist, gewisse anspruchsbegründende Tatsachen jedoch unstreitig stellt16• Diese Wertung kann im übrigen auch den §§ 333, 138 Abs. 3 ZPO entnommen werden. Nach § 333 ZPO wird derjenige, der im Termin zwar erscheint, aber nicht verhandelt, als säumig angesehen. "Verhandeln" ist dabei jede handelnde Teilnahme am Prozeßbetrieb in der mündlichen Verhandlung17. Das Bestreiten bzw. Nichtbestreiten deckt einen Teilbereich des Verhandelns ab, so daß auch dann verhandelt werden kann, wenn nicht bestritten wird. Wenn der Kläger deshalb mangels vollständigen Urkundenbeweises abgewiesen wird, weil der Beklagte nicht verhandelt, muß dasselbe Ergebnis erst recht eintreten, wenn der Beklagte nicht bestreitet, aber vielleicht verhandelt. Auch die am Schluß des § 597 Abs. 2 ZPO angeführte 2. Alt. widerlegt bereits nach dem Wortlaut die Auslegung des BGH. Denn wenn der Beklagte "nur aufgrund von Einwendungen widersprochen hat", gesteht er den anspruchsbegründenden Tatbestand ein bzw. bestreitet ihn zumindest nicht. Es wäre unlogisch, denjenigen Beklagten besser zu stellen, der unstatthafte oder unbegründete Einwendungen vorbringt, ohne von der Erfolgslosigkeit seines Vorbringens zu wissen, als denjenigen, der aus Gründen einer Prozeßbeschleunigung die Einwendungen erst gar nicht vorträgt, weil er von deren UnstaUhaftigkeit oder Unbegründetheit bereits Kenntnis hat18• Im Ergebnis kann festgehalten werden, daß der Wortlaut allenfalls offenläßt, ob anspruchsbegründende Tatsachen, soweit sie unstreitig, offenkundig oder zugestanden sind, mit Urkunden bewiesen werden müssen. Keinesfalls vertretbar ist die Ansicht, § 597 Abs. 2 ZPO sei eine Sonderregelung gegenüber § 592 S. 1 ZPO.

16 Zu Recht rät Stümer JZ 1974, 681 (682) dem Beklagten, den Termin zu versäumen und die ordentliche Klage abzuwarten, gegen die er sich voll verteidigen kann, wenn der Urkundenkläger Beweislücken hat, die er durch das wahrheitsgemäße Zugestehen des Beklagten zu schließen hofft. 17 Baumbach/LAuterbach/Hartmann § 333 2. 18 Stümer JZ 1974, 681 zieht daraus die Konsequenz, daß § 597 Abs. 2 ZPO nicht auf die allgemeinen Beweisregeln, sondern auf § 592 ZPO verweise; ebenso ders. in NJW 1972, 1257 (1258).

III. Systematische Auslegung

129

111. Systematische Auslegung 1. Rechtsprechung des BGB Der BGH führt weiter aus, es sei auf die allgemeinen Vorschriften des Beweisrechts zurückzugreifen, weil die §§ 592 ff. ZPO keine Sonderregelung enthielten l9 . Das soll insbesondere deutlich werden bei den schlüssigen Einwendungen des Beklagten im Urkundenprozeß. Seien sie unstreitig, zugestanden oder offenkundig, könne nicht zweifelhaft sein, daß sie schon im Urkundenprozeß zur Abweisung der Klage führen müßten, auch dann, wenn sie nicht durch Urkunden bewiesen werden könnten. Desweiteren ist der Senat der Meinung, der Urkundenbeweis sei einerseits Erfordernis der Beweisführung und andererseits Prozeßvoraussetzung. Da jedoch im Urkundenprozeß keine gesonderte Prüfung der Statthaftigkeit dieser Prozeßart stattfinde, weil es gem. § 593 Abs. 2 S. 1 ZPO genüge, wenn die Urkunden mit einem vorbereitenden Schriftsatz vorgelegt werden, sollen Statthaftigkeit wie Begründetheit der Klage erst in der mündlichen Verhandlung geprüft werden, zumal die eine nicht weiter ginge als die andere20 • 2. Funktion der Urkunde Fraglich ist, ob sich die Urkunde in ihrer Funktion als Beweismittel erschöpft, oder aber ob sie gleichzeitig Prozeßvoraussetzung ist21 . Wenig plausibel erscheint dabei der von der Rechtsprechung vorgenommene Vergleich mit den Einwendungen. Dies hat folgenden Grund. Zunächst ist keine Regelung ersichtlich, die, ähnlich § 592 S. 1 ZPO für den klagebegründenden Tatbestand, für die Einwendungen einen Urkundenbeweis des gesamten Sachverhalts vorschreibt. Vielmehr ist der die Einwendungen regelnde § 598 ZPO mit § 597 Abs. 2 ZPO vergleichbar, weil beide Male vom "obliegenden Beweis" die Rede ist. Es fehlt also eine Vorschrift, die eventuell mit § 598 ZPO in einem Regel-Ausnahme-Verhältnis stehen könnte. Zudem will der Urkundenprozeß den Kläger durch Einräumung einer schnelleren Vollstreckungsmöglichkeit begünstigen. Es wäre deshalb nicht 19

BGHZ 62, 286 (289).

20 A.a.O. S. 288, 291 f. 21

So Habscheid ZZP 96, 306 (313); LükejPrütting S. 323; Schmidt S. 576.

9 Hertel

130

D. Rechtfertigung wegen Liquidstellung des Anspruchs

verständlich, in der Belclagtenstation über die Qualifikation der Urkunde als Beweismittel hinauszugehen. Wenn überhaupt, dann hätte allenfalls der Urkundenkläger wegen des erhöhten Rechtsschutzbedürfnisses eine weitere Prozeßvoraussetzung zu erfüllen. Eben weil bei den Einwendungen eine dem § 592 S. 1 ZPO entsprechende Regelung fehlt, bleibt nichts anderes übrig, als auf die allgemeinen Beweisgrundsätze, also auch auf die §§ 138 Abs. 3, 288, 291 ZPO zurückzugreifen; deswegen muß hier Unstreitiges in der Tat nicht urkundlich belegt werden. Daß die Prüfung der Statthaftigkeit des Urkundenprozesses logisch vor derjenigen der Begründetheit zu erfolgen habe, steht nach der Ansicht des BGH der Berücksichtigung unstreitiger, zugestandener oder offenkundiger Tatsachen bei der Prüfung der Statthaftigkeit nicht entgegen, weil sowohl die Statthaftigkeit des Urkundenprozesses wie die Begründetheit der Klage erst in der mündlichen Verhandlung zu prüfen seien22 . Daraus kann indessen nicht gefolgert werden, daß der Kläger die nicht beweisbedürftigen Tatsachen nicht urkundlich zu belegen bräuchte. Denn daß der Prüfungszeitraum zusammenfällt, heißt noch nicht, daß auch der Prüfungs umfang identisch ist. Mißverständlich ist außerdem der in diesem Zusammenhang gemachte Hinweis auf § 593 Abs. 2 ZPO. Daraus kann weder gefolgert werden, daß der Kläger die den Anspruchstatbestand beweisenden Urkunden (in Urschrift oder in Abschrift) erst in der mündlichen Verhandlung vorlegen muß, noch, daß die Statthaftigkeit des Urkundenprozesses nur die Urkundenvorlage über streitige Tatsachen umfasst. Zwar ergibt sich aus § 593 Abs. 2 S. 1 ZPO, daß die Urkunden nicht der Klageschrift beigefügt werden mÜssen. In S. 2 des § 593 Abs. 2 ZPO, welcher als eine Schutzvorschrift des Beklagten zu verstehen ist, heißt es aber, daß im Normalfall zwischen der Zustellung des vorbereitenden Schriftsatzes und dem Termin zur mündlichen Verhandlung eine Einlassungsfrist von mindestens zwei Wochen (§ 274 Abs. 3 S. 1 ZPO) liegen muß23. Ob nun der Kläger seine Beweismittel bereits in der Klageschrift oder erst später in einem vorbereitenden Schriftsatz vorlegt, kann für den Umfang des klägerischen Beweises dahingestellt bleiben. 22 BGHZ 62, 286

(291 f.).

Baumbach/Lauterbach/Hanmanll § 593 2 A; Zöller/Schneider § 593 Rdnr. 6; AlternativIwmmentar/Klein § 593 Rdnr. 3; Tlwmas/Putzo § 593 3; zwar kann der Beklagte auf die Ein23

haltung der Frist gem. § 295 ZPO verzichten (RGZ 114, 365 (371», doch handelt es sich dabei um eine Ausnahme; zur Abkürzung der Frist § 226 ZPO; zum Wechselprozeß § 604 Abs. 2, 3ZPO.

III. Systematische Auslegung

131

Beide Male weiß er - abgesehen von einer vorangegangenen Absprache noch nicht, wie sich im einzelnen der Beklagte im Prozeß verteidigen wird, weil zwischen Urkundenvorlegung und Einlassung des Beklagten in der mündlichen Verhandlung ein nicht geringer Zeitraum liegt. § 592 Abs. 2 ZPO spricht wegen seines zweiten Satzes zumindest nicht für die Auffassung des BGH. Eher ließe sich das Gegenteil vertreten. Denn wenn der Beklagte spätestens zwei Wochen vor der mündlichen Verhandlung erfährt, welche anspruchsbegründenden Tatsachen der Kläger nicht mit Urkunden zu beweisen vermag, kann er sich eher auf ein Bestreiten dieser Tatsachen einrichten. Wenn der Kläger zu dem Zeitpunkt, in dem er die Urkunden einreicht, noch gar nicht wissen kann, welche - einmal abgesehen von den offenkundigen - Tatsachen der Kontrahent im Prozeß zugestehen bzw. nicht bestreiten wird, müßte er, um vor Beginn der mündlichen Verhandlung sicher zu gehen, daß er nicht nach § 597 Abs. 2 ZPO abgewiesen wird, den gesamten Anspruchsgrund beweisen24• Die Frage ist zudem, welchen Sinn eine besondere Zulässigkeitsvoraussetzung noch haben soll, wenn sie nicht nur hinsichtlich des Prüfungszeitraums, sondern auch des -umfangs mit der Begründetheit der Klage identisch ist. In Wahrheit ist sie überflüssig, so daß es ehrlicher wäre, auf das Erfordernis des Urkundenbeweises als Statthaftigkeitsbedingung gänzlich zu verzichten. Gegen die Auffassung des BGH spricht ein weiteres Argument. Die wesentlichen Voraussetzungen der Zulässigkeit des Urkundenprozesses als einer besonderen Prozeßart, also seine Rechtsschutzvoraussetzungen, wozu einerseits die Eignung des Streitgegenstandes zum Urkundenprozeß, andererseits die Urkundlichkeit der Klagetatsachen gehören, sind der Disposition der Parteien entzogen und von Amts wegen zu prüfen. Sie können deshalb nicht durch ein Geständnis des Beklagten ersetzt werden. Zwar bedarf es im Rahmen der Begründetheit keines Beweises mehr, die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Prozeßart bleiben aber davon unberührt25 • Das gesteht auch der BGH ein, wenn alle anspruchsbegründenden Tatsachen vom Beklagten zugestanden oder nicht bestritten werden26• Der Urkundenprozeß sei in einem solchen Fall zweifellos unstatthaft, da für ihn eine sich auf die Klageforderung beziehende Urkunde begriffsnotwendig sei. 24 Stümer NJW 1972, 1257 (1259). 2S Gloede 26

MDR 1966,103 ff.

BGHZ 62, 286 (292) mit VelWeis auf Wieczorek § 592 Anm. C 11 a.

132

D. Rechtfertigung wegen Liquidstellung des Anspruchs

Es zeigt sich, daß der Senat zumindest in einer solchen Fallkonstellation die beeinflußbare Beweisbedürftigkeit von der der Disposition entzogenen Zulässigkeitsvoraussetzung trennt. Unlogisch ist diese Konsequenz allemal. Denn wenn die Rechtsprechung sich schon derart vom Gesetzeswortlaut, insbesondere der §§ 592 S. I, 597 Abs. 2 ZPO löst, bleibt fraglich, woher sich auf einmal besagte "Begriffsnotwendigkeit" ergeben soll; etwa aus dem Wort "Urkundenprozeß"? Warum sollen, um die Worte des BGH zu gebrauchen, mit Hilfe der allgemeinen Beweisvorschriften nur Lücken geschlossen werden, warum soll mindestens eine Urkunde vorliegen27? Weshalb können für den Urkundenprozeß nicht zwei oder drei Urkunden erforderlich sein? Es scheint der Rechtsprechung letztlich darum zu gehen, diese Prozeßart nicht gänzlich ad absurdum zu führen. Genau das würde sie tun, wenn sie die Beweisbedürfigkeit oder Liquidität allein in den Vordergrund stellt. Keinesfalls ergibt sich die vom BGH gezogene Schlußfolgerung aus der Statthaftigkeit. Gestärkt durch den Wortlaut des § 597 Abs. 2 ZPO, der Statthaftigkeit und Urkundenbeweis miteinander verbindet, ergibt die systematische Auslegung, daß sich die Funktion der Urkunde nicht nur in der eines Beweismittels erschöpft, sondern daß sie insofern gleichzeitig Zulässigkeitsvoraussetzung ist, als der Kläger alle anspruchsbegründenden Tatsachen mit Urkunden belegen muß28. Stein drückt sich folgendermaßen aus: "Der Urkundenbeweis ist nach der CPO zwar nicht mehr faktisch antizipiert, wie im gemeinen Recht, wo er vom Beweisverfahren ins sogenannte erste Verfahren gelegt wurde, aber er ist logisch antizipiert, indem er die Erklärung des Beklagten, welche die Beweisbedürftigkeit sonst ...schafft oder begrenzt, begrifflich präexistiert"29.

3. Unterschiedliche Behandlung von nicht bestrittenen, zugestandenen und offenkundigen Tatsachen? Bisher wurden die §§ 138 Abs. 3, 288 und 291 ZPO immer in einem Atemzug genannt. Ob dies seine Richtigkeit hat, soll nun untersucht werden. BG" a.a.O.; Steinjlonas/Schlosser § 597 Rdnr. 4. Stümer NJW 1972, 1257 (1258 f.); hier auch zum Verhältnis von § 592 ZPO und der umfassenden Erklärungs- und Wahrheitspflicht nach § 138 Abs. 1, 2 ZPO. 29 Stein S. 108. r7

2B

111. Systematische Auslegung

133

Mit folgender Begründung unterscheidet Schlosser das Nichtbestreiten vom Geständnis30. Der besondere Rechtsschutz des Urkundenprozesses verlange, daß der Kläger den Anspruchsgrund nicht nur behaupte, sondern auch entsprechenden Beweis antrete. Korrespondierend hierzu beschränke sich die Erklärungspflicht des Beklagten auf die Echtheit der mitgeteilten Urkunden; hingegen habe er sich nicht über die Klagebehauptungen selbst zu erklären. Deswegen könne sich auch das Schweigen des Beklagten gem. § 138 Abs. 3 ZPO oder die Säumnis nach § 331 Abs. 1 ZPO nur auf die Echtheit der Urkunden, nicht aber auf den Klagegrund selbst beziehen, so daß entsprechend § 597 Abs. 2 2.HS 1. u. 2. Alt. ZPO dies dem Kläger nicht zugute kommen könne. Dagegen soll anscheinend das Geständnis nach § 288 ZPO die Klagetatsachen selbst betreffen31 . Jene Unterscheidung ist abzulehnen. Zunächst scheint Schlosser, ähnlich der von Briegleb entwickelten, heute jedoch überwundenen "Aliud-Theorie"32, von zwei verschiedenen Streitgegenständen in Urkundenprozeß und Nachverfahren ausgehen zu wollen, ohne dies allerdings auszusprechen, wenn sich die Erklärungspflicht des Beklagten auf die Echtheit der Urkunden beschränken soll. Zudem ist kein Grund ersichtlich, hinsichtlich des Erklärungsumfangs eine unterschiedliche Behandlung von ausdrücklich zugestandenen und nicht bestrittenen Tatsachen vorzunehmen. Denn das Gesetz unterscheidet nur in der Rechtsfolge, nämlich bei der Widerrufbarkeit. Zu denken wäre aber an eine Differenzierung nach zugestandenen und nicht bestrittenen Tatsachen einerseits sowie offenkundigen Tatsachen33 andererseits34. 30 SteinfJonas/Schiosser, 19. Aufl., 1968, § 597 III 1; offenbar hat Schlosser diese Unterteilung in der 20. Aufl., § 597 Rdnr. 4 aufgegeben; danach stünden das Nichtbestreiten und das Geständnis in ihrer Verläßlichkeit und raschen Verfügbarkeit dem Urkundenbeweis nicht nach, sondern hätten prozessual gesehen sogar absoluten "Beweiswert". Auf seine Einteilung in der Vorauflage geht er dagegen nicht ein. 31 Schlosser a.a.O., allerdings ohne Begründung. 32 Briegleb S. 343; Stein S. 9 f., 54, 102; Bayer S. 85, 104; Osterloh S. 43, 85; Münch S. 61 ff.; außerdem C. IV. 3. c). 33 Offenkundigkeit liegt vor, wenn die Tatsache entweder allgemein kundig, also einem größeren Kreis von Personen bekannt ist, und der Richter die Überzeugung von der Wahrheit aus der Allgemeinkunde SChöpft, oder gerichtskundig ist, indem das Gericht sie aus einer jetzigen oder früheren amtlichen Tätigkeit kennt. 34 RGZ 12, 131 (133); 13, 369 (370); Stein S. 132 ff.; Stümer NJW 1972, 1257 (1260); ders. JZ 1974, 681 (682); Stein ZPO, 10. Aufl., Bd. 11, 1913, § 592 Rdnr. 5; ebenso Gloede MDR 1974, 895; Jauemig § 89 I.

134

D. Rechtfertigung wegen Liquidstellung des Anspruchs

Die Gleichstellung notorischer mit zugestandenen Tatbestandsmerkmalen beruht auf ihrer gleichen Wirkung, nämlich der fehlenden Beweisbedürftigkeit. Während jedoch bei Offenkundigkeit einer Tatsache ex ante, also vor Beginn eines Prozesses feststeht, daß sie nicht bewiesen werden muß, gelangt man beim zugestandenen Sachverhalt erst ex post, d.h. während oder mit Beendigung der mündlichen Verhandlung zur Gewißheit, ob ein Beweis erforderlich ist. Anders ausgedrückt ist das Notorische absolut und vom Verhalten der Parteien unabhängig, das Zugestandene dagegen relativ, weil vom Prozeßverhalten des Gegners beeinflußbar35. Für den Urkundenprozeß bedeutet dies, daß bei offenkundigen Tatsachen schon zum Zeitpunkt der Klageerhebung feststeht, daß ein Beweis nicht erforderlich ist. Sinn und Zweck des Urkundenbeweises als Statthaftigkeitsvoraussetzung liegt auch darin, die Richtigkeit des geltend gemachten Anspruchs zu gewährleisten, bzw. Rechtsklarheit und -sicherheit im Rechtsverkehr zu schaffen. Wissen aber nicht nur die Parteien bei Klageerhebung, sondern auch die Allgemeinheit von der Richtigkeit einer Tatsache, wäre es aus Rechtsschutzgründen nicht verständlich, dennoch einen Urkundenbeweis zu verlangen. Schließlich soll der schleunige Rechtsschutz nicht allein der Urkunde wegen gewährt werden. Kommt es z.B. für den Klagegrund darauf an, ob es am 16. Dezember um 18.00 Uhr dunkel war, wäre es widersinnig, hierfür eine Urkunde zu verlangen. Das Tatbestandsmerkmal muß zwar in den Prozeß eingeführt, nicht aber bewiesen werden36 •

IV. Teleologische Auslegung Weiter meint die Rechtsprechung, es handele sich um einen nicht zu rechtfertigenden Formalismus, eine Klage auch dann als im Urkundenprozeß unstatthaft abzuweisen, wenn durch Urkunden ein vollständiger Beweis S. 132 ff., insb. 134 f. NJW 72, 1257 (1260) möchte die gerichtskundigen Tatsachen ausnehmen; es sei nicht einzusehen, warum der Kläger Rechtsschutzvorteile nur deshalb erhalten soll, weil klagebegründende Tatsachen dem Gericht bekannt seien, und er zu dieser völlig zuflilligen Beweislage nichts beigetragen habe. Das ist aber nicht der Punkt. Zum einen könnte man das g1eicl)e Argument auch bei den allgemeinkundigen Tatsachen anbringen. Denn ob gerade ein solches Merkmal Anspruchsvoraussetzung ist, das weite, verständige Kreise für feststehend halten, kann zuflillig sein. Zum anderen kann es ohnehin nicht darauf ankommen, ob der Beklagte mit der Beweislage nach den Gegebenheiten des Rechtsverkehrs rechnen mußte oder nicht, weil er bei Erstellung einer Beweisurkunde nicht einmal mitgewirkt haben muß. 3S Stein

36 Stürner

V. Historische Auslegung

135

nicht erbracht werden könne, die eingeklagte Forderung aber aufgrund der vorgelegten Urkunden und der unstreitigen, zugestandenen oder offenkundigen Tatsachen bewiesen sei37• Schon nach den Motiven sind Gründe für die Gewährung des schleunigen Urkundenprozesses die Prima-Facie-Liquidität des urkundlichen Anspruchs sowie die Möglichkeit, den Schuldbrief bereits als einen richterlichen Urteilsbrief anzusehen38. Auch heute wird betont, die innere Rechtfertigung für die Privilegierung des Urkundeninhabers ergebe sich aus der erhöhten und zuverlässigeren Beweiskraft der Urkunde, nicht dagegen aus der Liquidität des Anspruchs39 • Selbst wenn aufgrund des erweiterten Urkundenbegriffs von einem richterlichen Urteilsbrief ebensowenig die Rede sein kann wie von einer erhöhten Beweiskraft der Urkunde, ist es doch die Liquidstellung ex ante durch Urkundenvorlage, die dem von der Rechtsprechung beteuerten Formalismus durchaus seinen Sinn gibt.

v. Historische Auslegung Schließlich verkennt der BGH nicht, daß sich die Motive eindeutig für die Beweisbedürftigkeit aller anspruchsbegründenden Tatsachen aussprechen, weil sich der damalige Gesetzgeber am gemeinrechtlichen Executivprozeß orientiert habe40 • Unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des 3. Senats vom 11.10.195141 war man jedoch der Ansicht, ein Wille des Gesetzgebers, der in der schriftlichen Niederlegung keinen Ausdruck gefunden habe, brauche nicht berücksichtigt zu werden. Genaugenommen möchte das angeführte Urteil etwas anderes aussagen. Der Rahmen der Auslegung würde gesprengt, wollte man vom klaren Wortlaut gesetzlicher Bestimmungen abweichen42. Nur dann könne der BGHZ 62,286 (292); ähnlich auch Stein/!onasjSchlosser, 19. Autl., § 597 1111. Mol. 11 S. 451; Mol. 111 S. 387. 39 Stümer NJW 1972, 1257 (1258). 40 BGHZ 62, 286 (289) mit VeIWeis auf Mot. III S. 388, 391 f.; vgl. hierzu statt aller Stein S. 101, der wegen der Offenheit der entsprechenden Vorschriften des Urkundenprozesses, insb. § 568 Abs. 2 CPO a.P. = § 597 Abs. 2 ZPO, zu dem Ergebnis gelangt, man könne brauchbare Resultate nur mit Hilfe allgemeiner, insbesondere geschichtlicher Aspekte erzielen. 41 LM BGB § 133 (0) Nr. 3. 42 LM BGB § 133 (0) Nr. 3 BI. 2. 37

38

136

D. Rechtfertigung wegen Uquidstellung des Anspruchs

Wille des Gesetzgebers keine Berücksichtigung finden, wenn er überhaupt nicht zum Ausdruck gekommen sei, nicht aber, wenn er - so der 3. Senat "irgendwie" berücksichtigt worden sei. Wie bereits festgestellt, läßt der Wortlaut der §§ 592 S. 1, 597 Abs. 2 ZPO offen, ob nichtstreitige Tatsachen beweisbedürftig sind. Insbesondere wegen § 592 S. 1 ZPO, der von "sämtlichen zur Begründung des Anspruchs erforderlichen Tatsachen" spricht, muß der Richter davon ausgehen, daß zumindest unklar geblieben ist, ob ein nichtstreitiger Sachverhalt beweisbedürftig ist. Bei den Ausführungen des 8. Senats gewinnt man dagegen eher den Eindruck, der gesetzgeberische Wille müsse expressis verbis in den Wortlaut aufgenommen worden sein43 . Wäre dies tatsächlich so, müßte man sich fragen, wozu das Institut der historischen Auslegung noch nützen soll, wenn nicht bei unklarem Gesetzestext. Die Ansicht des 8. Zivilsenats deckt sich deshalb nicht mit dem von ihm zitierten Urteil. Zudem widerspricht sie allgemeinen Grundsätzen der Methodenlehre. Danach steht der Wortsinn einer geschichtlichen Interpretation nicht entgegen, wenn er wie bei den §§ 592 ff. ZPO verschiedene Deutungsmöglichkeiten offenläßt44• Da schließlich nach Erlaß der CPO keine grundlegende Wandlung in der Ansicht über die Beweisbedürftigkeit nichtstreitiger Tatsachen eingetreten ist, hätte der 8. Zivilsenat des BGH gerade wegen des undurchsichtigen Gesetzeswortlauts auf den in den Motiven deutlich zum Ausdruck kommenden Willen des Gesetzgebers zurückgreifen müssen.

43

BGHZ 62, 286 (289).

44

Larenz, Methodenlehre, Systematischer Teil, Kap. 4 Nr. 2 c); nach BVerfGE 79, 106

(121) ist für die Interpretation eines Gesetzes maßgebend der in ihm zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers. Andere sprechen von der "Andeutungstheorie", so Bydlinski S. 563 Rdnr. 380 m.w.N.; nach BGH LM BGB § 133 (D) Nr. 3 BI. 2 könne ein Rechtssatz, der im Gesetz nicht einmal angedeutet sei, sondern nur in den Materialien stehe, nicht durch Auslegung Geltung erlangen. Erst wenn die Ausdrucksweise des Gesetzgebers zweifelhaft bzw. unklar sei, könne auf die Entstehungsgeschichte des Gesetzes bzw. die Absicht des Gesetzgebers zurückgegriffen werden. Jene Andeutungen finden sich im Urkundenprozeß sowohl bei § 592 S. 1 ZPO als auch bei § 597 Abs. 2 letzt.HS. 1. u. 2. Alt. ZPO.

VI. Zusammenrassung

137

VI. Zusammenfassung Alle vier Auslegungsmethoden führen zu demselben Ergebnis, nämlich daß auch der nichtstreitige Sachverhalt eines Urkundenbeweises bedarf, weil letzterer beim anspruchsbegründenden Tatbestand nicht nur Beweiserfordernis, sondern auch Zulässigkeitsvoraussetzung ist. Der untersuchten Entscheidung des BGH45 kann nur teilweise zugestimmt werden. Wesentlich ist, daß die Doppelfunktionalität der Urkunde nicht dadurch geschmälert wird, daß auch auf die Zulässigkeit die allgemeinen Beweisvorschriften der §§ 138 Abs. 3, 288 ff., 291 ZPO angewandt werden. Nur bei offenkundigen Tatsachen im Sinne des § 291 ZPO bedarf es keines Urkundenbeweises. Hier weiß der Kläger bereits zum Zeitpunkt der Klageerhebung, daß sie nicht beweisbedürftig sind.

4580HZ 62, 286.

E. Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahren I. Verfassungswidrigkeit des Urkundenprozesses? Weitere Rechtfertigungsgründe für einen irreparablen Eingriff in das rechtliche Gehör sind nicht ersichtlich. Auch wenn Art. 103 Abs. 1 GG am Gesamtgefüge der ZPO nichts ändern soll, kann diese Prämisse nur Geltung beanspruchen, solange der Kernbereich des rechtlichen Gehörs unangetastet bleibt!. In den Situationen aber, in denen einerseits ein zuvor eingetretener Zustand über das Nachverfahren faktisch nicht mehr geändert werden kann, andererseits die im Urkundenprozeß vorgelegten Urkunden sich auf ihre Funktion als Beweismittel beschränken, kommt man bei isolierter Betrachtung des Erkenntnisverfahrens zu dem überraschenden Schluß, daß der Urkundenprozeß verfassungswidrig ist. Die §§ 592 ff. ZPO sowie die Wirkung ihrer Verletzung müssen jedoch im Zusammenhang mit allen einschlägigen Normen des Zivilprozeßrechts betrachtet werden2• Die bisherigen Untersuchungen beschränkten sich auf den Urkundenprozeß als Erkenntnisverfahren. Es bleibt also weiterhin zu prüfen, ob nicht das Vollstreckungsrecht die Möglichkeit eines Ausgleichs bietet. Da jedoch der Vollstreckungszugriff das zum endgültigen Schaden führende Ereignis ist, können diesen Zustand nur solche Vorschriften verhindern, die eine Vollstreckung aus dem Vorbehaltsurteil einstweilig verbieten. Vorab sei bemerkt, daß auch im Vollstreckungsrecht der Grundsatz der Parteiverantwortung mit der Folge Anwendung findet, daß ein Schuldnerschutz nur dann in Betracht kommt, wenn der Betroffene einen entspre·chenden Antrag stellt. Unterläßt er dies, obwohl ein bleibender Schaden droht, kann er sich nicht im nachhinein auf einen Verstoß gegen die Verfassung berufen.

1 A IV. 2. c) ce). 2AVI.

11. Notwendigkeit einer eigenständigen Untersuchung

139

11. Notwendigkeit einer eigenständigen Untersuchung der Einstellungsmöglichkeiten nach §§ 707 und 719 ZPO Der wesentliche Nachteil für den im Urkundenprozeß unterlegenen Beklagten besteht in zweierlei Hinsicht. Der obsiegende Gläubiger erhält gem. §§ 599 Abs. 3, 704 Abs. 1 ZPO einen Vollstreckungstitel, obwohl im Erkenntnisverfahren eine lediglich beschränkte Sachverhandlung stattgefunden hat3• Zudem wird das Urteil gem. § 708 Nr. 4 ZPO grundsätzlich ohne Sicherheitsleistung für vorläufig vollstreckbar erklärt. Der Schuldner muß deshalb versuchen, zumindest bis zum Abschluß des Nach- oder Berufungsverfahrens eine Einstellung der Zwangsvollstreckung zu erwirken. Zunächst besteht für ihn die Möglichkeit, die Vollstreckung gem. § 711 S. 1 ZPO durch Leistung einer Sicherheit oder durch Hinterlegung des streitbefangenen Gegenstandes abzuwenden. Hier muß jedoch die Sicherheitsleistung bzw. Hinterlegung wirtschaftlich möglich sein. Die Abwendungsbefugnis hilft dem unterlegenen Beklagten dagegen nicht weiter, wenn er aus finanziellen Gründen dazu nicht in der Lage ist. Selbst bei Leistung einer Sicherheit kann der Gläubiger die Befugnis zur Vollstreckung durch eigenes Verhalten aufrecht erhalten, indem er gem. § 711 S. 1 letzt. Hs. ZPO entweder seinerseits eine Sicherheit leistet, oder aber von seinem Antragsrecht auf Vollstreckbarkeitserklärung ohne Sicherheitsleistung nach §§ 710, 711 S. 2 ZPO Gebrauch macht. Denkbar ist weiterhin ein Antrag des Schuldners, das Vorbehaltsurteil gem. § 712 Abs. 1 S. 2 ZPO nicht für vorläufig vollstreckbar zu erklären, wenn ihm ein unersetzbarer Nachteil droht und er zur Sicherheitsleistung nicht in der Lage ist. Er wird aber nicht zum gewünschten Erfolg führen. Gem. § 714 Abs. 1 ZPO ist der Antrag vor Schluß der mündlichen Verhandlung zu stellen, auf die das Vorbehaltsurteil ergeht, also im Urkundenprozeß selbst. Nach § 713 ZPO soll eine Anordnung nach § 712 ZPO unterbleiben, wenn die Rechtsmittelvoraussetzungen gegen das (zu fällende) Urteil unzweifelhaft nicht vorliegen. Daraus ergibt sich, daß Anträge nach § 712 ZPO zur Instanz rechnen, und die materielle Erfolgsprognose eines

3 Stein,

202.

ZPO, 12. und 13. Aufl., 1926, Bd 11, Vorb. zum Urkunden- und Wechselprozeß, S.

140

E. Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahren

Nach- bzw. Berufungsverfahrens unberücksichtigt bleibt4. Nicht berücksichtigt werden deshalb auch die Aussichten des voraussichtlich unterliegenden Bekagten, mit anderen Beweismitteln als Urkunden im Nachverfahren eine ihm günstigere Entscheidung herbeizuführen, weil im Urkundenprozeß nur Urkunden und gem. § 595 Abs. 2 ZPO Antrag auf Parteivernehmung zulässig sind. Dahingestellt bleiben kann auch, ob ein Schutzantrag nach § 712 Abs. 1 ZPO im Wege einer Vorabentscheidung der Rechtsbehelfsinstanz gem. § 718 ZPO zulässig ist. Denn ihm ist mangels Rechtsschutzbedürfnisses nicht zu entsprechen, wenn das geltend gemachte Ziel durch eine Entscheidung nach §§ 707, 719 ZPO erreicht werden kann 5; dies liegt dar an, daß es sich bei den §§ 707, 719 ZPO um ein einfach ausgestaltetes, allen praktischen Bedürfnissen und rechtlichen Belangen des Berufungsführers bzw. Beklagten im Nachverfahren gerecht werdendes Verfahren handelt, das nicht nur eine schnelle Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ermöglicht, sondern auch die materiellen Erfolgsaussichten des Nach- bzw. Berufungsverfahrens berücksichtigt. Was für den Schuldner bleibt, ist ein Einstellungsantrag nach §§ 707, 719 ZPO. Inwieweit jedoch diese Vorschriften dem unterlegenen Beklagten einen "Anspruch" auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung geben, soweit die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen, bleibt zweifelhaft. Der Wortlaut "kann" in § 707 Abs. 1 S. 1 ZPO (in Verbindung mit § 719 Abs. 1 S. 1 ZPO) scheint dem Richter ein Ermessen in dem Sinn einzuräumen, daß er unter mindestens zwei rechtmäßigen Rechtsfolgeanordnungen eine auzuwählen kann. Mit dieser Formulierung kann aber auch lediglich die Unmöglichkeit für den Gesetzgeber angesprochen sein, für jeden denkbaren Fall eine bestimmte Entscheidung zu treffen. Nach herrschender Ansicht richtet sich die Einstellungsanordnung unter anderem nach der Erfolgsaussicht im Nach- bzw. Berufungsverfahren sowie einer Interessenabwägung zwischen den Belangen des Gläubigers und denen des Schuldners6. Wenn dem Richter darüber hinaus ein weiterer Entscheidungsspielraum in Form einer Auswahlbefugnis unter mehreren zuläs4 Sonst müßte das Instanzgericht über die materiellen Aussichten eines Rechtsmittels gegen das eigene Urteil entscheiden, noch bevor dieses erlassen ist. s Karlsruhe OLGZ 86,254 (255 C.); bejahend z.B. OLG Hamm NJW-RR 1987, 252; verneinend OLG Frankfurt MDR 1982, 415. 6 G. IIl.

11. Notwendigkeit einer eigenständigen Untersuchung

141

sigen Anordnungen zustehen sollte, würde man die beiden genannten Kriterien entwerten. So kann es für den im Urkundenprozeß unterlegenen Beklagten einen Unterschied machen, ob eine Vollstreckung eingestellt oder gegen Sicherheitsleistung des Gläubigers fortgesetzt wird, z.B. wenn die Zwangsmaßnahmen zum wirtschaftlichen Ruin führen. Dagegen würden Interessenabwägung und Erfolgsprognose eine überragende Rolle einnehmen, wenn je nach Ergebnis nur eine Entscheidung zulässig wäre. Die Bedeutung dieser beiden Gesichtspunkte hängt also von der Entscheidungsfreiheit des Richters ab. Ungereimtheiten könnten außerdem bestehen, wenn einerseits im Rahmen eines bestehenden Rechtsfolgeermessens ein Vollstreckungsschutzantrag negativ beschieden werden könnte, andererseits die anschließende Zwangsvollstreckung des Vorbehaltsurteils zu einer faktischen Kürzung des Art. 103 Abs. 1 GG führt. Fraglich wäre, wie sich die Auswahl unter mindestens zwei rechtmäßigen Anordnungen zur dargelegten Rechtsprechung des BVerfG verhält. Nicht zuletzt sind die §§ 707, 719 ZPO für den Urkundenprozeß deshalb von Bedeutung, weil die Normen der das Erkenntnisverfahren regelnden §§ 592 ff. ZPO hinsichtlich der vorläufigen Beschränkung des Beweisrechts kein Ermessen enthalten. Vielmehr sind außer Urkunden und zum Teil der Parteivernehmung alle anderen Beweismittel stringent ausgeschlossen. Zunächst bedarf es deshalb einer Klärung, inwieweit dem Richter ein Freiraum zusteht. Anschließend sind die Einstellungskriterien der genannten Vorschriften zu untersuchen und mit dem Urkundenprozeß in Einklang zu bringen.

F. Das Ermessen des Zivilrichters I. Ermessen im allgemeinen Von Ermessen spricht man, wenn bei Verwirklichung eines gesetzlichen Tatbestandes nicht nur eine, sondern mehrere gleichermaßen rechtmäßige Rechtsfolgen in Betracht kommeni. Dieser Handlungsspielraum wird begrenzt durch den Zweck des Gesetzes, übergeordnete Verfahrensgesichtspunkte sowie durch verfassungsrechtliche Aspekte. Welche der Rechtsfolgen der Entscheidungsträger wählt, ist im Rahmen des Ermessensspielraums eine Frage der Zweckmäßigkeit. Erst wenn dieser überschritten wird, ist die Maßnahme rechtswidrig. Der Entscheidungsträger ist verpflichtet, sein Ermessen tatsächlich auszuüben; ansonsten liegt eine Verletzung des Rechts auf fehlerfreien Ermessensgebrauch vor2. Im Einzelfall kann als einzig ermessensgerechte Entscheidung wegen einer Ermessensreduzierung auf null nur eine Anordnung verbleiben3. Dann sind Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit identisch. 1 HM;

Maurer § 7 Rdnr. 6; Schmidt-Lcrenz S. 1,8 m.w.N., 15, 50, 58,172; Schiffczyk S. 13, 26

f.; Erichsen/Manens § 12 11 2 b; zu den abweichenden Meinungen vgl. Schiffczyk S. 14 f.; zur Frage, ob neben dem Rechtsfolge- auch ein Tatbestandsermessen anzuerkennen ist, Jellinek, Walter S. 30 ff.; Schmidt-Lcrenz S. 15 ff.; Schiffczyk S. 29 ff., m.w.N. Die hM trennt das Ermessen vom unbestimmten Rechtsbegriff. Diese Unterscheidung folgt dem Normaufbau. Während das Ermessen auf der Rechtsfolgenseite erscheint, ist der unbestimmte Rechtsbegriff ein Problem des gesetzlichen Tatbestandes, dazu Schiffczyk S. 8 f.; Maurer § 7 III. Der Handlungsfreiraum beim Ermessen ist die Regel (vgl. auch §§ 114 VwGO, 40 VwVfG). Dagegen kommt auf Seiten des unbestimmten Rechtsbegriffs nur ausnahmsweise ein Beurteilungsspielraum in Betracht, BVerwGE 23, 194 (200 f.); 39, 197; 60, 245 (252); 62, 330 (340); Erichsen/Manens § 12 11 1 b m.w.N.; SChiffczyk S. 9 f.; zur schwierigen Abgrenzung des unbestimmten Rechtsbegriffs vom Tatbestandsermessen, soweit man letzeres anerkennt, Schmidt-Lcrenz S. 31 ff.; zur Geschichte von Ermessen und unbestimmten Rechtsbegriff, Faber § 14 I sowie die Graphik aufS. 97. 2 Sogenannter Ermessensnichtgebrauch, Kopp § 114 Rdnr. 14; Eyermann/Fröhler § 114 Rdnr.6. 3 BVerwGE 31, 32.

11. §§ 707, 719 ZPO als Ermessensregelungen

143

Die Überprüfung einer Ermessensentscheidung im verwaltungsgerichtliehen Verfahren ist beschränkt auf ihre Rechtmäßigkeit4 • Zweckmäßigkeitserwägungen im Rahmen des Ermessensspielraums sind hingegen der Kontrolle entzogen5 . Eine Ausnahme besteht nur bei gesetzlicher Anordnung;. Wann im Einzelfall der Gesetzgeber ein Ermessen einräumt, kann sich aus dem Wortlaut der Vorschrift sowie aus ihrem Normzweck ergeben7•

11. §§ 707, 719 ZPO als Ermessensregelungen Folgt man dem Wortlaut der Vollstreckungsschutzvorschriften, drängt sich nach dem eben Gesagten die Vermutung auf, es handele sich um Ermessensregelungen. So ergibt sich aus § 707 Abs. 1 S. 1 ZPO, auf den auch § 719 Abs. 1 S. 1 ZPO verweist, daß das Gericht anordnen kann, die Zwangsvollstreckung gegen oder ohne Sicherheitsleistung einstweilen einzustellen oder nur gegen Sicherheitsleistung stattfinden zu lassen und die Vollstrecungsmaßregeln gegen Sicherheitsleistung aufzuheben. Dies trifft genauso für § 707 Abs. 1 S. 2 ZPO zu, der für den Fall der Einstellung ohne Sicherheitsleistung lediglich zusätzliche Tatbestandsvoraussetzungen aufstellt.

1. Äußerungen der Rechtsprechung Bei der Frage, ob wegen Vorliegens einer greifbaren Gesetzeswidrigkeit entgegen § 707 Abs. 2 S. 2 ZPO ausnahmsweise eine Beschwerde möglich ist, führt das OLG Frankfurt aus, allein die Tatsache, daß das Gericht bei der zugrundeliegenden Entscheidung ein Ermessen auszuüben habe, könne die Zulassung des an sich nicht gegebenen Rechtsmittels nicht rechtferti4

Nach Eyermann/Fröhler § 114 Rdnr. 1 (mit Hinweis auf BVerfGE 67, 100 (139» ist der

richterlichen "Kontrolldichte" insoweit eine Schranke gesetzt, als der "Kernbereich executiver Eigenverantwortung" von der parlamentarischen Verantwortung ausgenommen ist. S Maurer § 7 Rdnr. 11 - 15. 6 So

schreibt § 68 Abs. 1 S. 1 VwGO die Überprüfung des Verwaltungsaktes auf Recht- und

Zweckmäßigkeit durch die Widerspruchsbehörde vor. Dies hat durchaus seine Berechtigung. Sinn des Widerspruchsverfahren ist nicht nur die Entlastung der Gerichte und die Schaffung einer weiteren Rechtsschutzinstanz für den Bürger, sondern auch die Selbstkontrolle der Verwaltung. 7

Schiffczyk S. 41; Schmidt-Lorenz S. 50 ff.

144

F. Das Ermessen des Zivilrichters

gen8• "Ermessensfehler wiegen nicht grundsätzlich schwerer als Fehler bei der Anwendung zwingender gesetzlicher Bestimmungen... Verkennt das Gericht seine Befugnis, Ermessen ausüben zu dürfen oder aber die Grenzen dieses Ermessens, liegt noch keine greifbare Gesetzeswidrigkeit vor". Nach Ansicht des OLG Köln ergibt sich aus dem Wortlaut "kann", daß

§ 707 Abs. 1 S. 1 ZPO dem Gericht ein Ermessen einräumt9.

Noch weiter geht das RG. "... Die Rechtslage ist insofern anders als beispielsweise in den durch §§ 157 Abs. 2 S. 2 ZPO oder § 707 Abs. 2 S. 2 ZPO geregelten Fällen ... Die behandelten Entscheidungen werden der Anfechtung im Beschwerdeweg entzogen, weil sie im wesentlichen Ermessenssache sind, in den Fällen des § 707 auch eine Entschließung der höheren Instanz über einstweilige Beschränkung der Zwangsvollstreckung der in der Sache selbst demnächst zu treffenden Entscheidung der Vorinstanz nicht vorgreifen soll"1O. Während die Beschlüsse der genannten Oberlandesgerichte nur konstatieren, § 707 Abs. 1 S. 1 ZPO ermögliche Entscheidungen, die in das Ermessen des Gerichts gestellt seien, zeigt das RG darüber hinaus die sich hieraus ergebenden Konsequenzen auf. Wenn eine Beschwerde aufgrund Ermessens nicht möglich sein soll, bedeutet dies nichts anderes, als daß ein überprüfungsfreier Raum besteht, insofern mehrere in gleicher Weise rechtmäßige Anordnungen zulässig sind. Ob dabei § 157 Abs. 2 S. 2 ZPO ebenso wie § 707 Abs. 2 S. 2 ZPO zu behandeln ist, wird sich noch zeigen. 2. Äußerungen in der Literatur

a) Die Ansicht Wieczoreks Nach Wieczorek hat das Gericht nur teilweise einen Ermessensspielraum 11. Er unterscheidet zwischen der Einstellung als solcher und der Art der Einstellung. Während eingestellt werden müsse, sobald die Prozeßbedingungen des § 707 ZPO vorlägen, stehe die Art der Einstellung - abgesehen von den Sonderregeln, im besonderen des § 707 Abs. 1 S. 2 ZPO - im freien Ermessen des Gerichts. Beschluß vom 21.7.1988, NJW-RR 1989, 62. Beschluß vom 8.9.1986, NJW-RR 1987, 189. 10 RGZ 144, 86 (88); vgI. auch RGZ 47,419 (420).

8 9

11

Wieczorek § 707 D I b 1, D 11.

11. §§ 707, 719 ZPO als Ennesscnsregelungen

145

b) Überwiegende Ansicht Nach herrschender Lehre entscheidet das Vollstreckungsgericht im Rahmen der §§ 707, 719 ZPO nach freiem bzw. pflichtgemäßem Ermessenl2. Dabei habe es nur die Grenzen der Ausübung richterlichen Ermessens zu beachten. Eine rein handwerksmäßige Einstellung ohne Prüfung einer Erfolgsprognose des Rechtsmittels ist gesetzwidrigl3. Es liegt dann ein Ermessensnichtgebrauch vor. Darüberhinaus kommen als Ermessensfehler in Betracht Ermessensüber- und -unterschreitung sowie Ermessensmißbrauch. Letzterer sei gegeben, wenn sich das Gericht nicht ausschließlich vom Zweck der Ermessensvorschrift leiten lassel4 .

3. Verhältnis von Erfolgsprognose und Ermessen Nach weitverbreiteter Ansicht ist der voraussichtliche Erfolg der Anfechtung im Rahmen des richterlichen Ermessens zu berücksichtigen l5.

a) Meinung Künkels Bei der Frage der Anfechtbarkeit von Einstellungsverfügungen nach

§§ 707, 769 ZPO geht Künkel 16 von einer auf Ermessensfehler und allge-

meine Gesetzmäßigkeit beschränkten Überprüfungskompetenz des Beschwerdegerichts aus, weil dem entscheidenden Prozeßgericht ein Ermes-

12 Schneider MDR 1973, 356.; 1985, 547 (548); Dütz DB 1980, 1069 (1074); Zöller/ Schneider/Herget § 707 Rdnr. 7, SteinjJonas/Münzberg § 707 Rdnr. 5; Zimmermann § 707 Rdnr. 3; Baumbach/Lauterbach/Hartmann § 707 3 A; Alternativkommentar/Schmidt-von Rhein § 707 Rdnr. 5; RosenbergjGaul/Schilken § 11 III 2 c. Die Wortwahl "freies Ennessen", so z.B.

Schneider, oder "pflichtgemäßes Ennesscn", z.B. RosenbergjGaul/Schilken, erscheint willkürlich, weil keine Konsquenzen gezogen werden; Pastor S. 912 spricht von einer "Billigkeitsentscheidung" . 13 Schneider MDR 1973, 356; Baumbach/Lauterbach/Hartmann § 707 2 F mit Verweis auf KG FamRZ 1978, 413. 14 Maurer § 7 Rdnr. 11 ff.

1S OLG Karlsruhe MDR 1986, 1033 (1034); OLG Stuttgart DAvonn 1985, 716; Zöller/ Schneider/Herget § 707 Rdnr. 7, 9; SteinjJonasjMünzberg § 707 Rdnr. 5. 16 Künkel MDR 1989, 309 (310 ff.). 10 Hertel

146

F. Das Ermessen des Zivilrichters

sensspielraum zustehe. Unter Hinweis auf eine Entscheidung des OLG Stuttgart 17 soll die Aussicht auf Erfolg aber Einstellungsvoraussetzung seinl8 . Dabei gehe es nicht um Ermessen, sondern um die Ausfüllung eines unbestimmten Rechtsbegriffs im Rahmen einer dem Charakter des Anordnungsverfahrens nach § 769 ZPO entsprechenden summarischen Prüfung. Die Frage, ob und mit welchem Inhalt bei entsprechender Erfolgsaussicht die einstweilige Anordnung zu erlassen sei, stehe im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Abgesehen davon, daß der zitierte Beschluß des OLG Stuttgart die Erfolgsaussichten dem Ermessen zurechnetl9, ist unklar, welcher unbestimmte Rechtsbegriff bei § 769 ZPO gemeint ist. Auch der "nicht zu ersetzende Nachteil" in § 707 Abs. 1 S. 2 ZPO umfaßt nicht die Erfolgsprognose.

b) Meinung Schneiders Schneider setzt sich in mehreren Abhandlungen mit dem Verhältnis von Ermessen und Erfolgsaussicht auseinander2°. Er beschäftigt sich zunächst mit der Frage, wie sich das freie Ermessen des Gerichts bei der Bescheidung von Einstellungsanträgen durch Grundsätze und Richtlinien aus dem Bereich der Unkontrollierbarkeit in den Bereich der Berechenbarkeit überführen läßt21 . Da unter anderem die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung aus einem für vorläufig vollstreckbar erklärten Urteil den Schuldner vor ungerechtfertigter Zwangsvollstreckung schützen soll, müsse zumindest die Möglichkeit einer rechtswidrigen Vollstreckung gege170LG Stuttgart DAVorm 1985, 716. 18 ähnlich Wieczorek § 719 A 11, der offensichtlich im Rahmen einer Ermessensprüfung nur eine Interessensabwägung vornehmen, nicht dagegen die Erfolgsaussicht des Rechtsmittels bzw. Nachverfahrens berücksichtigen möchte, weil darin eine unzulässige Vorwegnahme der Endentscheidung liege. 19 Dazu führt es aus: "Die Entscheidung über die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung ist in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts gestellt. Hierbei spielt die Erfolgsaussicht...eine entscheidende Rolle". Ebenso ZöllerjSchneiderjHerget § 769 Rdnr. 6; ähnlich OLG Hamm MDR 1988,241, das die Erfolgsprognose einer Vollstreckungsabwehrklage deswegen als nicht zum Ermessen gehörend ansieht, weil es dem Beschwerdegericht generell versagt sei, die Erfolgsaussichten der zugrundeliegenden Klage zu überprüfen, nicht aber, weil stattdessen die ErfolgsaUssicht unter einen unbestimmten Rechtsbegriff zu subsumieren wäre. 20 Schneider MDR 1973, 356 Cf.; 1980,529 ff.; 1985, 547 ff.; 1987, 64 f. 21 Schneider MDR 1973, 356 (357 f.).

11. §§ 707, 719 ZPO als Ermessensregelungen

147

ben sein. Diese Überlegung führt Schneider zu dem Ergebnis, nicht nur die Zulässigkeit der zugrunde liegenden Klage, sondern auch die sachliche Erfolgsaussicht im Rahmen des Ermessens zu prüfen. Scheinbar widersprüchlich äußert er sich später22, wenn er ausführt, die Beurteilung der Erfolgsprognose sei nur Grundlage der Ermessensausübung, man habe zwischen Ermessensausübung und Erfolgsprüfung zu unterscheiden. Hintergrund dieser Zweiteilung ist wohl die Überlegung, die Ebene der Ermessensausübung sowie deren Überschreitung durch das über den Einstellungsantrag befindende Gericht von der Frage der Überprüfbarkeit der Erfolgsaussichten durch ein Beschwerdegericht zu trennen. Gem. § 707 Abs. 2 S. 2 ZPO, der nach hM auch bei § 769 ZPO Anwendung findet23, ist eine Anfechtung des Einstellungsbeschlusses grundsätzlich ausgeschlossen. Ausnahmsweise, nämlich bei Vorliegen einer "greifbaren Gesetzeswidrigkeif', soll dennoch eine Beschwerde in Betracht kommen 24 • Greifbar sei eine Gesetzeswidrigkeit auch dann, wenn das Gericht seine Befugnis, Ermessen ausüben zu dürfen, verkenne oder Ermessen in einem nicht mehr gedeckten Umfang ausübe 25 • Wenn man nun jede Überschreitung des Ermessensspielraums mit der Beschwerde anfechten könnte, würde das auch die Möglichkeit einer Überprüfung der sachlichen Erfolgsaussichten eröffnen. Gerade dies will § 707 Abs. 2 S. 2 ZPO vermeiden. Sinn der Vorschrift ist es unter anderem, zu verhindern, daß durch Zulassung der Beschwerde einer Entscheidung in der Hauptsache vorgegriffen wird26 . MDR 1987, 62 (63). SteinjJonas/Münzberg § 769 Rdnr. 16.

22 Schneider 23

24 BGH NJW-RR 1986, 738; Schneider MDR 1980,529.

OLG Frankfurt MDR 1979, 317; Schneider MDR 1985, 547 (548). § 11 III 7; Mot. III S. 427; zudem besteht gar kein Bedürfnis, eine Anfechtung zuzulassen, weil das Instanz- oder Rechtsmittelgericht den Einstellungsbeschluß jederzeit abändern könnte. Nach Schneider MDR 1980, 529 (530) soll § 707 Abs. 2 S. 2 ZPO in erster Linie verhindern, die Ermessensausübung des Vordergerichts zum Gegenstand eines Beschwerdeverfahrens zu machen. Das kann aber nur für den Fall einer Ermessensüberschreitung gelten. Anderenfalls würde er von einem der hM widersprechenden Ermessensbegriff ausgehen. Denn ist dem Gericht die Überprüfungsbefugnis entzogen, weil die Gefahr einer Vorwegnahme besteht, impliziert diese Aussage gleichzeitig die theoretische Möglichkeit einer gerichtlichen Nachprüfung, gäbe es § 707 Abs. 2 S. 2 ZPO nicht. Da dem Beschwerdegericht nur eine Rechtmäßigkeits-, nicht aber eine Zweckmäßigkeitskontrolle erlaubt ist, müßte Schneider von einem Ermessensbegriff ausgehen, der nicht mindestens zwei, sondern nur eine dem Recht entsprechende Entscheidung kennt; ähnlich das sich ausdrücklich auf seine Aus2S

26 Rosenberg/Gaul/Schilken

148

F. Das Ermessen des Zivilrichters

Die Erfolgsaussichten sind deshalb zwar im Rahmen des Ermessens zu berücksichtigen, weil durch sie der Ermessensspielraum eingeengt wird; sie werden aber wegen des Zwecks des § 707 Abs. 2 S. 2 ZPO im Rahmen einer Anfechtung des Einstellungsbeschlusses nicht überprüft. 4. Vorläufiges Ergebnis

Nach herrschender Ansicht in Rechtsprechung und Literatur steht dem über den gem. §§ 707, 719 ZPO gestellten Antrag entscheidenden Gericht ein Ermessensspielraum zu. Ob damit aber ein Ermessen in dem vorgenannten Sinn, nämlich die freie Auswahl einer von mehreren gleichermaßen rechtmäßigen Rechtsfolgen, gemeint ist, bleibt offen. Ein Vergleich mit § 712 Abs. 1 S. 2 ZPO verdunkelt das Problem eher. Zwar kann auch hier das Gericht zwischen zwei Anordnungsmöglichkeiten wählen. Dennoch werden von denjenigen, die einen Ermessensspielraum bei §§ 707, 719 ZPO bejahen, unterschiedliche Auffassungen vertreten. Während Schmidt von Rhein eine Auswahl nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vornehmen wi1l27, damit nur eine mögliche rechtmäßige Entscheidung zulässt, geht Hartmann ebenso wie bei § 707 ZPO von einem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts aus28 . Eine Begrenzung der Untersuchung auf die Vollstreckungsschutzvorschriften ist unbefriedigend, weil eine eindeutige Lösung nicht gefunden werden kann. Um eine abschließende Klärung herbeiführen zu können, bedarf es eines Rückgriffs auf das Verhältnis von Ermessen und Zivilprozeß im allgemeinen.

führungen berufende OLG Celle NJW-RR 1987,190; Hauptzweck des § 707 Abs. 2 S. 2 ZPO sei es, zu vermeiden, daß die in das Ermessen des Gerichts gestellte Entscheidung Gegenstand eines Beschwerdeverfahrens werde, wogegen eine Überschreitung der Ermessensausübung entgegen dem Gesetzeswortlaut Prüfungsgegenstand sein könne. r! Altemativlrommentar/Schmidt-von Rhein § 712 Rdnr. 5; danach ist in der Regel die Beschränkung auf die Maßnahmen des § 720a Nr. 1, 2 ZPO ausreichend; nur ausnahmsweise sei das Urteil nicht für vorläufig vollstreckbar zu erklären. 28 Baumbach/Lauterbach/Hartmann § 712 5; § 707 3 A; wiederum anders Stein/Jonas/ Münzberg § 712 Rdnr. 5; § 707 Rdnr. 5, der einmal vom pflichtgemäßen Ermessen, ein anderes Mal vom freien Ermessen ausgeht.

III. Ermessen im Zivilprozeß

149

111. Ermessen im Zivilprozeß 1. Verwaltungsrechtlicher Handlungsspielraum und verfassungsrechtliche Begründung Im Verwaltungsrecht ist die Ermessensproblematik weitgehend geklärt29 • Eine bedenkenlose Übernahme der Verwaltungsrechtsdogmatik auf den Zivilprozeß käme indessen nur in Betracht, wenn die Zielsetzungen miteinander vergleichbar wären. Diese sind deshalb abzustecken. Verfassungsrechtlich stellt das Ermessen eine Modifizierung des in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG niedergelegten Gewaltenteilungsprinzips dar. Grundsätzlich ist die Verwaltung gem. Art. 20 Abs. 3 GG an Recht und Gesetz gebunden (Gesetzmäßigkeit der Verwaltung). Ausnahmsweise kann die Gesetzgebung der Verwaltung einen Handlungsspielraum eröffnen, indem sie letztere entweder zum Erlaß von Rechtsvorschriften ermächtigt (z.B. gem. Art. 80 Abs. 1 GG zum Erlaß von Rechtsverordnungen) oder ihr ein Ermessen einräumt. Grenze dieses Handlungsspielraums ist jedoch der Vorbehalt des Gesetzes. Ein Eingriff darf danach nur durch oder aufgrund eines Gesetzes erfolgen. Darüberhinaus müssen die wesentlichen Entscheidungen über Eingriffe vom Gesetzgeber selbst getroffen werden30• In diesem Rahmen wird die Entscheidungsbefugnis von der Legislative auf die Exekutive verlagert. Aber auch zu Lasten der Judikative findet eine Verschiebung statt, soweit das Handeln der öffentlichen Gewalt nicht normiert ist; denn die Gerichte können nur noch prüfen, ob Entscheidungsspielräume überschritten worden sind31 . Hintergrund der Einräumung von Ermessen ist es, den besonderen Umständen des Einzelfalles Rechnung zu tragen, und ihn dadurch in seiner Eigenart nicht nur gerecht, sondern auch zweckmäßig zu entscheiden. Da die vollziehende Gewalt in bestimmten Bereichen gegenüber der Judikative mehr Praxisnähe und spezifische Sachkenntnis besitzt, soll der Verwaltungsbehörde die Letztentscheidungskompetenz zustehen. Damit einhergehend besteht die Besorgnis der Gefährdung einer freien Verwaltung durch 29 Erichsen/Manens

§ 12 11 2 m.w.N.; Maurer § 7; Faber § 14; Wolff/Bachof § 31; Forsthoff

§5. 30 Sogenannte

Wesentlichkeitslehre, BVerfGE 61, 260 (275); Pieroth/Schlink Rdnr. 306 ff.;

Faber § 14 11. 31

BVerfGE 61, 82 (11l).

150

F. Das Ennessen des Zivilrichters

juristischen Formalismus wie auch die Furcht vor Mißgriffen der Verwaltungsgerichtsbarkeit32 •

2. Ermessen des Zivilrichters im Unterschied zum Venvaltungsrecht Ganz anders stellt sich die Situation eines entscheidenden Zivilgerichts dar. Zunächst einmal ist es nicht Verwaltungsbehörde, sondern gem. Art. 92 GG Rechtsprechungsorgan. Ein Spannungsverhältnis, bezogen auf die Nachprütbarkeit des Verwaltungsermessens zwischen zwei staatlichen Gewalten besteht nicht, so daß von einer funktionellen Eigenständigkeit, Gestaltungsfreiheit und selbständigen Verantwortlichkeit gegenüber der Judikative nicht gesprochen werden kann33 • Vielmehr handelt es sich nur um eine Verlagerung auf die nächste Instanz innerhalb der selben Gewalt. Was den erwähnten Sachverstand anbelangt, ist von einem umgekehrten Verhältnis auszugehen. Gerade weil das Berufungsgericht, um eine Tatsacheninstanz zu nennen, höher qualifiziert ist als das Eingangsgericht und einen Wissensvorsprung gegenüber der unteren Instanz hat, somit mehr Vertrauen genießt, kommt es zu einem zweiten Gerichtsverfahren. Dem kontrollierten Gericht einen Raum der Eigenverantwortlichkeit zuzubilligen, besteht kein Anlaß.

a) Die Ansicht Fenges und deren Auswertung Ohne auf die Unterscheidung von Gericht und Verwaltungsbehörde einzugehen, ist für Fenge das Ermessen ein zentraler Begriff, der für das ganze Rechtsgebiet Geltung beanspruche34 • Richterliches und Verwaltungsermessen seien insofern substantiell gleichartig. Zwar macht er diese Ausführungen beim Tatbestandsermessen, sieht aber den Unterschied zum Rechtsfolgeermessen nicht in der denktechnischen Struktur, sondern in seinem materiellen Gehalt3S • Deshalb greife auch das Problem der Rechtsfolge erst ein, wenn mit Hilfe des Tatbestandsermessens die allgemeine Richtung der Ent32 BVerwGE 8,272 (273); Tezner S. 15; Sclunidt-Lorenz S. 166 ff.; Schiffczyk S. 6; ähnlich für die Einräumung eines Beurteilungsspielraums BVerwGE 39, 197 (203 ff.). 33 Sclunidt-Lorenz S. 168 f. 34 Fenge S. 117.

3S A.a.O.

S. 139 f., 141.

III. Ermessen im Zivilprozeß

151

scheidung festgelegt sei. Die Frage, wie die Gewährung oder Versagung des Schutzes im einzelnen gestaltet werde, bleibe gegenüber der Entscheidung, ob überhaupt Schuldnerschutz zu gewähren sei, sekundär. Rechtsfolgeermessen sei nur mit gleichzeitiger Variation des Tatbestandes möglich. Kritik hervorrufen müssen Fenges Ausführungen nicht nur wegen der fehlenden Differenzierung zwischen gerichtlichem und Verwaltungsermessen, sondern auch, weil eine Abhängigkeit des Rechtsfolgeermessens vom unbestimmten Rechtsbegriff heute grundsätzlich abgelehnt wird36 • Nach Fenge bedeutet Ermessen Freiheit in der Rechtsanwendung. Rechtsanwendung sei wiederum ein erkennungstheoretisches Problem37• Soweit sich die erkennungstheoretische Möglichkeit einer eindeutigen Wertschau ergäbe, bleibe dem Ermessen wenigstens dort ein notwendiger Raum offen, wo eine mehrseitige Wertbetrachtung gefordert werde38• Fraglich ist bereits, in welchem Verhältnis der das Ermessen eingrenzende Gesetzeszweck zur (mehrseitigen) Wertbetrachtung bzw. zu den widerstreitenden Bewertungsfaktoren stehen soll. Selbst wenn man nicht von einer Identität der Begriffe ausgeht, steht doch zumindest fest, daß der von Fenge geprägte Ermessensbegriff nicht dem der hM entspricht. Die Wahlmöglichkeit unter mindestens zwei gleichermaßen rechtmäßigen Rechtsfolgen gibt dem Richter nämlich die Freiheit, die Wirklichkeit zu beeinflussen. Ermessen ist deshalb nicht nur Rechtsanwendung, sondern auch Rechtsgestaltung. SoU dagegen eine Wertung vorgenommen werden, hat der Richter lediglich festzustellen, was in der Vergangenheit war oder momentan ist39• Die Wirklichkeit selbst bleibt indessen unberührt. Insofern konsequent sieht Fenge den Richter als "Mittler im Streit der Interessensgegensätze", der den Ausgleich zwischen gegensätzlichen Kräften im konkreten Fall herbeiführen soll. Um den besonderen Umständen des Einzelfalles gerecht zu werden, gehe einher mit dem weitgehenden Verzicht auf eine abstrakte gesetzliche Regelung die Ermächtigung des Richters zur Entscheidung nach eigenem Ermessen40• 36 Sogenannte

Koppelungstatbeständej Ausnahmen z.B. Gm. S. BVetwGE 39, 3SS (366 Cf.)

zu § 131 Abs. 1 S. 1 AO a.F.= § 227 AO n.F.j BVetwGE 18, 247 (249 ff.) zu § 3S 11 BauGB. 37 Fenge S. 117, 119. 38 Aa.O. S. 120, unter Bezug auf Forsthoff, 7. Aufl., S. 77, der unter Wertbegriff z.B. Ordnung und Vernunft, Sicherheit und Gefahr sowie Gerechtigkeit und Willkür versteht. 39 SChiffczyk S. 28, 53 f. 40 Fenge S. 123.

152

F. Das Ermessen des Zivilrichters

Das aber kann nur dazu führen, lediglich eine Entscheidung als die rechtmäßige anzuerkennen. Im Hinblick auf die Einstellungsregelungen der §§ 707, 719 ZPO und deren Grundrechtsintensität mag das Ergebnis von Fenge begrüßenswert sein, allein die Begründung ist falsch. Sollten richterliches und Verwaltungsermessen wirklich gleichartig sein, müßte zudem § 114 VwGO für die Überprüfbarkeit richterlicher Ermessensentscheidungen anwendbar sein. Das jedoch lehnt Fenge ab41 •

b) Die Ansicht von Schmidt-Lorenz und deren Auswertung Schmidt-Lorenz geht von der Notwendigkeit einer eigenständigen Bestimmung des richterlichen Ermessens aus42 • Er will den Unterschied zum Verwaltungsermessen nicht nur in der Sachkunde und dem Gewaltenteilungsprinzip, sondern auch darin sehen, daß bei der gerichtlichen Kontrolle eines Verwaltungsaktes das Einzelinteresse des Bürgers eine wesentlich größere Rolle spiele als bei der Revision. Ohne aber diese Punkte wieder aufzugreifen43, kommt er später bei den sogenannten "Kann"-Vorschriften zu einem ähnlichen Ergebnis wie Fenge in Form einer gegenseitigen Abhängigkeit von Tatbestands- und Rechtsfolgeermessen. Da man bei der Feststellung des Tatbestandes typischerweise unbestimmten Rechtsbegriffen begegne, falle die Entscheidung über die Verfahrensweise des Gerichts bereits auf der Tatbestandsseite einer Norm. Demzufolge räume das Wort "kann" kein Ermessen im Sinne einer Wahlmöglichkeit ein, sondern bezeichne lediglich die Zulässigkeit einer bestimmten Anordnung44. Wie bereits bei Fenge angesprochen, sind Vorschriften, die bei Kombination eines unbestimmten Rechtsbegriffs im Tatbestand mit einem Ermessensspielraum auf der Rechtsfolgenseite als Koppelungstatbestand bezeichnet werden, nicht ungewöhnlich. Sie zeichnen sich dadurch aus, daß jeweils unabhängig voneinander über Tatbestand und Rechtsfolge befunden wird. 41 A.a.O. S. 130; vielleicht mit dem Hintergrund, den Begriff des Vollstreckungsanspruchs nicht ad absurdum zu führen. 42 Schmidl-Lorenz S. 6 f., 163 ff., 172, 174. 43 Mit Hilfe jener Argumentation verneint er allerdings auf S. 163 ff. eine analoge Anwendung des § 114 VwGO. Wenn aber ein Ermessen richterlich kontrolliert werden kann, handelt es sich nur um ein scheinbares Ermessen. Wesensmerkmal einer Auswahl zwischen zwei oder mehreren Verhaltensweisen ist doch gerade das kontroll freie Reservat. 44 A.a.O. S. 54 ff., insb. S. 60 f.; zu den das Gerichtsverfahren betreffenden sowie auf reinen Zweckmäßigkeitserwägungen beruhenden Anordnungen S. 87, 123 ff.

III.

Ermessen im Zivilprozeß

153

Nur ausnahmsweise wirkt das eine Element auf das andere ein; man spricht dann von einem scheinbaren Koppelungstatbestand45 . Dies ist denkbar, wenn sich der im Tatbestand stehende unbestimmte Rechtsbegriff als Bestandteil und Zielsetzung der Ermessensermächtigung entpuppt46. Wegen der Nähe zum Tatbestandsermessen, welches aus verfassungsrechtlichen Gründen abgelehnt wird, ist die Fallgruppe sehr selten. Meist beeinflußt umgekehrt der Tatbestand das Ermessen. In verfassungskonformer Auslegung wird aus dem Wort "kann" eine rechtliche Verpflichtung"7. Wann im Einzelfall ein echter oder unechter Koppelungstatbestand vorliegt, hängt mit Faber und seiner "Käseglockentheorie" davon ab, ob der unbestimmte Rechtsbegriff bereits sämtliche zu berücksichtigenden Interessen und Gesichtspunkte abdeckt oder lediglich eine Teilabwägung umfassr48. Nur bei letzterem Fall können weitere Erwägungen Gegenstand einer gehaltvollen Ermessensentscheidung sein. Für diesen Ansatz spricht auch die Überlegung, eine Abwägung nicht doppelt vornehmen zu müssen. Der Meinung von Schmidt-Lorenz, die Entscheidung über die Verfahrensweise des Gerichts falle beim Vorliegen unbestimmter Rechtsbegriffe bereits auf der Tatbestandsseite, kann deshalb nur dann gefolgt werden, wenn der unbestimmte Rechtsbegriff eine Prüfung aller notwendigen Aspekte zuläßt. Daß dies nicht immer der Fall ist, zeigt er selbst am Beispiel des § 554b ZP049. Danach kann das Revisionsgericht die Annahme einer Revision ablehnen, wenn die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat. Die Erfolgsaussichten einer Revision fallen dabei nicht unter den Begriff "grundsätzliche Bedeutung". Vielmehr soll nach Schmidt-Lorenz eine Ablehnung ausgeschlossen sein, wenn zwar die Streitsache keine grundsätzliche Bedeutung hat, sich jedoch die Erfolgsaussichten der Revision nicht klar absehen lassen50 . Die fehlende grundsätzliche Bedeutung führt also nicht automatisch zur Nichtannahme einer Revision. Zusätzlich muß die Erfolgsprognose der Revision negativ ausfallen. § 14 III b. Z.B. Gm. S. BVerwGE 39, 355 (366 ff.). 47 Z.B. BVerwGE 18, 247 (251); BGH MDR 1981, 652; Battis/Krautzberger/Löhr § 3S Rdnr. 47; danach bestehe im Rahmen des § 3S Abs. 2 BauGB wegen Art. 14 GG ein Rechtsanspruch auf Zulassung des Vorhabens, sofern öffentliche Belange nicht entgegenstünden. 48 Faber § 14 III b, S. 106. 49 Schmidt-Lorenz S. 83 ff; zu § 348 ZPO S. 74 ff. so Schmidt-Lorenz S. 86 mit Verweis auf BaumbachjLauterbach/Albers § 554b 1 B; so auch BVerfGE 49, 148 (156 f.); 54, 277 (285). 4S Faber 46

154

F. Das Ermessen des Zivilrichters

Ähnlich sieht die Situation bei den der Untersuchung zugrundeliegenden Einstellungsvorschriften aus. Weder aus dem Begriff des "nicht zu ersetzenden Nachteils" in § 707 Abs. 1 S. 2 ZPO, noch daraus, daß "der Schuldner zur Sicherheitsleistung nicht in der Lage ist", kann etwas für eine Abwägung der Interessen von Gläubiger und Schuldner oder für die Erfolgsprognose entnommen werden. Es bleibt deshalb eine Prüfungsmöglichkeit nur im Rahmen der Bestimmung einer Rechtsfolge. Ob eine Auswahl unter mehreren rechtmäßigen Rechtsfolgen in Betracht kommt, oder aus verfassungsrechtlichen Gründen nur eine Möglichkeit existiert, ist damit freilich noch nicht gesagt. Im übrigen ist anzumerken, daß Schmidt-Lorenz einen Teil seiner Ausführungen relativiert, da er von zwei verschiedenen Ermessensbegriffen ausgeht. Während er anfangs noch den Ermessensbegriff der hM zugrunde legt51, führt er später bei seiner Untersuchung über die Stellung des Richters aus, die Arbeitsthese, Ermessen bedeute die Wahlmöglichkeit zwischen mindestens zwei gleichermaßen richtigen Entscheidungen, sei dahingehend zu konkretisieren, daß auch bei der Ermessensbetätigung richtig und dem Recht entsprechend, weil dem Gesetzeszweck folgend, stets nur eine Entscheidung sein könneS 2• Zwei verschiedene Betrachtungsweisen, die eine aus der Sicht des Richters, die andere aus der des Gesetzes, sind bei ein und demselben Fall aber nicht denkbar. Im übrigen kann auch der Gesetzeszweck mehr als nur eine rechtmäßige Entscheidung zulassen.

IV. Eigene Ansicht, insbesondere unter Auswertung der Thesen Henckels 1. Verwaltungsverfahrensrechtliches und richterliches Ermessen

Weder die speziell auf §§ 707, 719 ZPO abstellenden Untersuchungen noch die Ausführungen zum Ermessen im Zivilprozeß konnten eine befriedigende und abschließende Klärung herbeiführen. Zwar wird der Unterschied von verwaltungsrechtlichem und gerichtlichem Ermessensspielraum angesprochen, Konsequenzen werden jedoch nicht gezogen; dabei bietet S1

Schmidt-Lorenz S. 1, 8, 15,50,172. S. 135, 173.

S2 A.a.O.

IV. Eigene Ansicht

ISS

sich dieser Ansatzpunkt für eine Unterscheidung geradezu an, wenn man berücksichtigt, daß Hintergrund eines kontrollfreien Raums zugunsten der Verwaltung ihre besondere Sachkenntnis gegenüber der Judikative ist. Zudem fehlt eine den §§ 40 VwVfG, 114 VwGO entsprechende Regelung in der ZPO; ein Anhaltspunkt für das Vorhandensein einer Gesetzeslücke ist nicht ersichtlich.

2. Einfluß der Prozeßmaximen Aber nicht nur dieser Aspekt spricht gegen ein Ermessen des Zivilrichters in dem Sinn, daß er unter mehreren rechtmäßigen Rechtsfolgen nach Zweckmäßigkeitserwägungen auswählen könnte. Auch die einzelnen Prozeßmaximen haben bei der Frage eines Handlungsspielraums Bedeutung. Während das Verwaltungsverfahrensrecht im allgemeinen dem Amtsermittlungs- und Offlzialprinzip unterliegt, ist das Zivilgericht streng an die Anträge der Parteien sowie deren tatsächliches Vorbringen gebunden; es gelten hier Dispositions- und Verhandlungsgrundsatz. Auch wenn Schiffczyk?3 einen Einfluß verschiedener Prozeßmaximen auf das Ermessen ohne Begründung ablehnt, ist zu berücksichtigen, daß die Zwangsvollstreckung dem Gläubiger dient, er nach dem Prinzip der Parteiherrschaft Herr des Verfahrens ist. Als solcher ist er berechtigt, Beginn, Art, Umfang und Ende der Zwangsvollstreckung festzulegen. Seine Rechte, insbesondere die Existenz eines Vollstreckungsanspruchs gegen den Staat, würden beeinträchtigt, wenn der Richter von den verbleibenden, grundsätzlich zur Disposition des Gläubigers stehenden Möglichkeiten eine herausgreifen und als verbindlich für das weitere Verfahren erklären könnte. Die Rechte des Gläubigers enden aber dort, wo die des Schuldners beginnen. Für den Schuldner muß deshalb dasgleiche gelten, wenn es darum geht, den Umfang seines Schutzbereichs abzustecken. Durch das Stellen eines Antrages nach den §§ 712, 707, 719 ZPO verleiht der Schuldner dem auch ihm zustehenden Grundsatz der Parteiherrschaft Ausdruck.

53 sChiffczyk S. 110.

156

F. Das Ermessen des Zivilrichters

3. Das dogmatische Verständnis vom Verhältnis des materiellen Zivilrechts zum Prozeßrecht und die daraus resultierende Ablehnung eines Handlungsspielraums im Vollstreckungsschutz

a) Die Thesen Henckels Nicht zuletzt ist auf die dogmatischen Grundlagen des Zwangsvollstrekkungsrechts, im besonderen des Vollstreckungsschutzes zurückzugreifen, um eine Aussage über das Vorhandensein von Ermessensspielräumen treffen zu können. Ausgangspunkt soll dabei Henckels Verständnis von materiellem Recht und Prozeßrecht sein54. Danach dient das Zwangsvollstrekkungsrecht der Ausübung subjektiver Privatrechte mit staatlicher Hilfe. Im Unterschied zu solchen Regeln, die der Vollstreckungsgewalt des Staates absolute Grenzen setzten, insofern einer gesetzlichen Ermächtigung bedürften, keinen Raum für eine Abwägung von Gläubiger- und Schuldnerinteressen ließen und deshalb dem Gläubiger noch nichts von seinem Recht nähmen, stünden die Vollstreckungsschutzvorschriften. Sie ordneten zwar prozessuale Rechtsfolgen an, enthielten aber inhaltlich materielle Wertungen. Da die dem Gläubigerrecht gezogenen Schranken dem subjektiven Recht des Schuldners dienten, verfolge der Vollstreckungsschutz den Zweck, subjektive Privatrechte voneinander abzugrenzen. Nicht die Handlungsbefugnisse des Gläubigers selbst würden dabei beschnitten, sondern die im subjektiven Recht verkörperte Rechtsrnacht, das Recht mit staatlicher Hilfe durchzusetzen55 . Der Vollstreckungsschutz sei somit mittelbar privatrechtlich orientiert. Die Grenze des Rechts des Gläubigers sieht Henckel in der Menschenwürde sowie der Persönlichkeit des Schuldners56• Mit Überschreitung dieser Grenze begebe sich der Gläubiger in den Bereich unzulässiger Rechtsausübung. Damit sei der Schuldnerschutz aber nichts anderes als die Konkretisierung unzulässiger Rechtsausübung durch Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe57• Während Handlungsermessen von Rechts wegen mehrere 54 Hencke/ 55 A.a.O.

S. 349 Cf.

S. 351, 356 f., siehe auch S. 359; dort spricht er von einer Drittwirkung der Grund-

rechte, geht insoweit von einem materiell-rechtlichen Verständnis des Vollstreckungsschutzes aus.

56 Hencke/

S. 358.

~ A.a.O. S. 375,405; in Fn. 61 zitiert er zwar Fenge S. 117 ff. als aA., der ein Handlungser-

messen bejahe. Im Ergebnis liegen beide gar nicht so weit auseinander, weil Fenge Ermessen als Rechtsanwendung definiert (vgl. 0.).

IV. Eigene Ansicht

157

gleich richtige Entscheidungen voraussetze, sei für die Frage, wann eine unzulässige Rechtsausübung vorliege, nur eine richtige Entscheidung möglich. Deshalb enthielten die Vollstreckungsschutzbestimmungen keine Ermächtigung zur Gestaltungsfreiheit und seien keine Ermessensvorschriften. Vielmehr beruhe die unbestimmte Fassung der Schutzvorschriften auf der Unmöglichkeit für den Gesetzgeber, jeden Einzelfall in fest umrissenen Tatbeständen festzulegen. Offen bleibt noch die Frage, ob auch die §§ 707, 719 Abs. 1 ZPO zu den Vollstreckungsschutzvorschriften zu zählen sind. Henckel scheint eher vom Gegenteil auszugehen. Nach seiner Ansicht dient der Vollstreckungsschutz der Begrenzung bestehender materieller Ansprüche58 • Dennoch müsse die Gefahr der Vollstreckung unrichtiger Urteile in Kauf genommen werden. Durch die Gewährung von Rechtsmitteln, die Möglichkeit der vorläufigen Einstellung der Zwangsvollstreckung und die Vollstreckungsgegenklage sei aber alles Denkbare getan, um dies zu verhindern59 • Auch wenn die §§ 707,719 Abs. 1 ZPO auf die Einlegung eines Rechtsmittels bzw. auf die Fortsetzung des Rechtsstreits im Nachverfahren Bezug nehmen, ja selbst deren Erfolgsaussichten zu berücksichtigen sind, wird man diese Vorschriften zum Vollstreckungsschutz zählen müssen. Anders als bei Berufung, Einspruch und Vollstreckungsgegenklage60 wird gem. §§ 707, 719 ZPO nicht über den materiellen Anspruch selbst entschieden. Zudem berücksichtigen sie in Form einer Interessenabwägung und der Forderung nach einem nicht ersetzbaren Nachteil die wirtschaftlichen Folgen einer Zwangsvollstreckung; genau das, was Z.B. auch den §§ 811 ff. ZPO, aber auch § 765a ZPO zugrunde liegt. Der Unterschied besteht allenfalls darin, daß die Einstellung der Zwangsvollstreckung nur einen vorläufigen Schuldnerschutz darstellt, und dieser - wie im übrigen auch § 765a ZPO - nur auf Antrag ge58 Henclcel

!W

S. 356. A.a.O. S. 357.; nicht eindeutig auch auf S. 284:·...SO ist zum Beispiel in § 719 Abs. 2 ZPO

nicht einmal vorausgesetzt, daß die Revision Aussicht auf Erfolg haben werde, sondern es kommt lediglich darauf an, ob die Vollstreckung einen nicht zu ersetzenden Nachteil bringen würde. Diese Sonderregelung für die Abgrenzung möglicher Rechtspositionen erfolgt weder auf der Grundlage noch durch Gewährung subjektiver Rechte. Die Entscheidung nach §§ 719, 707 ZPO stellt deshalb nicht einen Schutzanspruch des Schuldners fest, sondern gestaltet die Verfahrenslage nach Gesichtspunkten, die der besonderen Situation des noch offenen Prozesses entsprechen ... •. 60 Zwar richtet sich die Vollstreckungsabwehrklage gegen die Vollstreckbarkeit des Titels, jedoch geschieht dies aufgrund von materiellrechtlichen Einwendungen, die den durch das Urteil festgestellten Anspruch betreffen.

158

F. Das Ermessen des Zivilrichters

währt wird. Schließlich darf nicht übersehen werden, daß ein Vollstrekkungsschutz nach §§ 811 ff. ZPO auch gegen unrichtige Urteile möglich ist, was besonders dann in Betracht kommt, wenn das Urteil unanfechtbar ist61.

Henclcel gelangt zum Ergebnis, daß den Vollstreckungsschutzvorschriften nicht nur zivilrechtliehe Wertungen zugrunde lägen, sondern diese überhaupt aufgrund ihres Zweckes, das Gläubiger- vom Schuldnerrecht abzugrenzen, dem materiellen Privatrecht zuzuordnen seien. Dies hat zum Teil erhebliche Kritik hervorgerufen. b) Sonstige Meinungen aa) Die Ansicht von Lippross

Lippross will die Bestimmungen des Vollstreckungsschutzes dem Prozeßrecht und damit dem öffentlichen Recht zuordnen, weil durch sie Zwangsbefugnisse der Vollstreckungsorgane eingeschränkt würden62 ; er räumt aber gleichzeitig ein, daß deswegen keine Rückschlüsse auf die zugrunde liegenden Prinzipien und Wertvorstellungen gezogen werden könnten. Da der Vollstreckungsschutz der Verwirklichung des materiellen Rechts diene, sei er mit demselben existentiell verknüpft. Dennoch besäßen die Vollstrekkungsschutzvorschriften Eigenheiten, die dem materiellen Recht fremd seien, so z.B. §§ 808, 811 ZPO, die nicht auf die sachenrechtliehe Eigentumslage, sondern auf den Gewahrsam abstellten63 . Während das materielle Recht allein den Anspruch als solchen betrachte, berücksichtige der VoUstreckungsschutz außerdem die soziale Komponente, wie §§ 850 ff. ZPO belegen würden64 • bb) Die Ansicht Weylands Für die Frage, in welchem Umfang der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Zwangsvollstreckungsrecht Anwendung findet, ist nach WeylantJ65 nicht aus61 Das Ergebnis wäre nur mit der materiellen RechtskraCttheorie zu vermeiden, nach der Urteilsinhalt und materielle Rechtslage stets übereinstimmen. Herrschend ist aber die prozessuale Theorie, wonach das Urteil die materielle Rechtslage unberührt läßt. 62 Lippross

S. 113 f., 115 CC. S. 84 C. 64 Ähnlich auch SleinjJonas/Münzberg § 811 Rdnr. 1 - 4; § 850 Rdnr. 1 mit VelWeis auf das 63 A.a.O.

Sozialstaatsprinzip. 6S Weyland S. 30 ff., 33, 35.

IV. Eigene Ansicht

159

schlaggebend die abstrakte Zuordnung des Vollstreckungsrechts zum öffentlichen oder Privatrecht; vielmehr seien die Ursachen entscheidend, die zu einer unterschiedlichen Anwendungsdichte des Grundsatzes führten. Einerseits finde keine frei verantwortliche Begegnung von Gläubiger und Schuldner statt, würden sich die staatlichen Vollstreckungsorgane doch nicht als unbeteiligte Dritte in ein gleichgeordnetes Rechtsverhältnis schieben, sondern auf Verlangen des Gläubigers für diesen tätig werden. Andererseits bleibe dem Gläubiger gar nichts anderes übrig, als sich des Staates zu bedienen, weil dieser als Ersatz für das Selbsthilfeverbot das Zwangsmonopol innehabe. Weyland sieht deshalb in jedem Zwangsvollstreckungsakt einen hoheitlichen Eingriff in die Rechte des Bürgers. Auch er gelangt zum Ergebnis, der Zwangsvollstreckung lägen öffentlich-rechtliche Wertungen zugrunde. cc) Die MeinungArens Eine differenzierende Ansicht vertritt Arens66 • Er schließt zwar nicht aus, daß der Vollstreckungsschutz, soweit er zur Verkürzung einer materiellen Rechtsposition führe, auch auf materiell-rechtlichen Wertungen beruhen könne. Im Gegensatz zu Henckel gewinnt er jedoch dem Prozeßrecht eigene Wertungen ab, die ebenso einen Verlust des materiellen Rechts verursachen könnten. Darüber hinaus geht er wie Henckel davon aus, daß die Vollstrekkung nicht in einem öffentlichen Interesse, sondern zugunsten des Gläubigers erfolge.

c) Zuordnung des Schuldnerschutzes zum öffentlichen Recht

Zunächst ist festzuhalten, daß entgegen der geschilderten Ansicht von Henckel mit der hM67 das gesamte Vollstreckungsrecht, also auch der Vollstreckungsschutz, in das öffentliche Recht einzureihen ist, was sich bereits aus der formalen Zuordnung des Vollstreckungsrechts zum Zivilprozeß ergibt68 . Zudem ist die von Henckel vorgenommene Schlußfolgerung, materiell-zivilrechtliche Wertungen würden die Einordnung in materielles Privat66 Arens

AcP 173, 250 (270 C.).

67 SteinjJonas/Münzberg vor

§ 704 Rdnr. 16; Baumbach/Lauterbach/Hantnann Eint III 2 B;

Zöller/Stöber vor § 704 Rdnr. 1; lauemig § 8 11 1 8; Weyland S. 35. 68 Arens,

Zivitprozeßrecht Rdnr. 502 C.

160

F. Das Ermessen des Zivilrichters

recht bedingen69, nicht zwingend. Dies trifft für das Verhältnis von öffentlichem zu privatem Recht genauso zu wie für das von materiellem und Prozeßrecht. So berücksichtigt Z.B. das im Familienrecht geregelte Unterhaltsrecht ebenso öffentliche Interessen; dennoch ist es privatrechtlich geregelt. Auch die Ansicht, die Normen des Vollstreckungsschutzes seien Spezialregelungen der unzulässigen Rechtsausübung70, ist bedenklich. In Theorie und Praxis nimmt der Vollstreckungsschutz einen weiten Bereich ein, er gehört heute praktisch zum Regelfall. Die unzulässige Rechtsausübung soll dagegen eher einen Ausnahmetatbestand markieren. Mit Arens würde deshalb diesem Gedanken zuviel aufgebürdet, zöge man ihn zur Erklärung der beschränkten Vollstreckung heran71.

d) Verdienst Henckels

Selbst wenn man entgegen Henckel nicht von einem zivilrechtlichen Charakter der Vollstreckungsschutzvorschriften ausgehen mag, liegt sein Verdienst doch darin, für die Frage des Ermessens im Zivilprozeß richtungsweisende Grundlagen geschaffen zu haben. Das gilt nicht nur für die Zweiteilung der Vorschriften des Zwangsvollstreckungsrechts in solche, die einem Gesetzesvorbehalt unterliegen und solchen des Vollstreckungsschutzes, sondern auch für die materiell-rechtliche Wertung letztgenannter Regelungen sowie die hier überaus bedeutsame Frage des Einflusses der Grundrechte auf das Vollstreckungsrecht. Letztendlich ist für das Ermessen weniger entscheidend die Frage, welchem Rechtsgebiet die VoUstreckungsschutzvorschriften abstrakt zuzuordnen sind, vielmehr ist auf die der Vorschrift zugrunde liegende Wertung abzustellen. Ist diese überwiegend materiell-rechtlicher Natur, schließt das eine Handlungsfreiheit in Form der Auswahl unter mehreren gleichermaßen rechtmäßigen Rechtsfolgeanordnungen aus. Denn immer dann geht es um die Abgrenzung des Gläubigerrechts von dem des Schuldners, bei der nur eine Lösung denkbar ist.

(J}

Henckel S. 349 ff., 358 f.

70 A.a.O.

71 Arens

S. 368.

AcP 173, 250 (271).

IV. Eigene Ansicht

161

e) Faktische Kürzung einer Rechtsposition durch den Schuldnerschutz Entgegen Henckel'2 ist unter dem subjektiven Recht des Gläubigers jedoch nicht die Macht, das Recht mit staatlicher Hilfe durchzusetzen, zu verstehen. Welche materiell-rechtliche Unsicherheit würde entstehen, wenn der heute unter den Pfändungsschutz fallende Schuldner morgen einen großen Lotteriegewinn landet. Indessen ist nicht zu verkennen, daß der erstrittene Titel zwar unberührt bleibt, wenn beispielsweise einem Vollstreckungsschutzantrag nach § 765a ZPO durch Einstellung der Zwangsvollstreckung stattgegeben wird, seine Wirkung aber faktisch aufgehoben wird. Wenn also von einer Abgrenzung subjektiver Privatrechte die Rede ist, dann im Bereich des Schuldnerschutzes nicht in rechtlicher, vielmehr in faktischer Hinsicht. f) Der Vollstreckungsschutz mit überwiegend privatrecht/icher Wenung

Einige Autoren entnehmen die öffentliche Wertung insbesondere dem Sozialstaatsprinzip73. Nicht abzustreiten ist die Absicht des Gesetzgebers, mit dem Vollstreckungsschutz auch jenem Prinzip Ausdruck zu verleihen74• Nach Münzberg würde der Schuldner der Sozialhilfe unterliegen, wenn eine Kahlpfändung zulässig wäre75; danach wäre der Staat verpflichtet, mit der einen Hand zu geben, was er zuvor mit der anderen dem Schuldner zugunsten eines Gläubigers weggenommen hätte. Münzberg meint aber andererseits, daß der Gläubiger keineswegs die Aufgabe habe, die staatliche Sozialhilfe zu entlasten. Genau das würde er jedoch tun, wenn der Gläubiger seinen Anspruch nur deshalb nicht durchzusetzen vermag, weil Sozialhilfe und Pfändungsverbote aufeinander abgestimmt wären. Im übrigen ist zu bedenken, daß der Staat nicht wieder nimmt, was er vorher gegeben hat. Während die Sozialhilfe als öffentlich-rechtlicher Anspruch das Vermögen des Staates mindert, beruht der Anspruch des Gläubigers auf einer zivilrechtlichen Verpflichtung des Schuldners. Das Vermögen des Staates wird nicht angetastet. Er hilft ledig72 Henckel

73 Lippross

S. 356 f.

S. 118 ff., SteinjJonas/Münzberg § 811 Rdnr. 1 - 4. BT-Drucks. 8/693 S. 45. 7S SteinjJonasjMünzberg § 811 Rdnr. 3 f. 74

11 Hortel

162

F. Das Ermessen des Zivilrichters

lieh, einen fremden Anspruch durchzusetzen. Gäbe es kein aus dem Selbsthilfeverbot resultierendes Zwangsmonopol, könnte der Gläubiger rechtlich auf die Hilfe des Staates verzichten. Ein Vergleich mit der Sozialhilfe ist schon deshalb fehl am Platz. Außerdem könnte der Schuldner - was die Regel sein sollte - freiwillig, auch mit den dem Pfändungsschutz unterfallenden Gegenständen, den Anspruch des Gläubigers befriedigen. In diesen Fällen wäre die Sozialhilfe nicht zu versagen. Aufgabe des Zivilprozesses ist es, die Ausübung und Durchsetzung materiell-rechtlicher Ansprüche zu ermöglichen. Solchen Vorschriften, die den materiellen Anspruch faktisch kürzen, müssen deshalb materiell-rechtliche Wertungen zugrunde gelegt werden. Wenn Weyland76 danach differenziert, ob sich Rechtssubjekte im Privatrechtsverkehr freiverantwortlich begegnen oder sich wegen der Mithilfe des Staates in einer Art Über-jUnterordnungsverhältnis befinden, darf bei der zweiten Fallgruppe nicht übersehen werden, daß sie doch das Resultat der ersten ist, und die Ursache in der ursprünglich freiverantwortlichen Begegnung der Parteien liegt. Zwar ist im Verhältnis Staat - Schuldner der öffentlich-rechtliche Eingriffscharakter nicht zu verkennen. Würde jedoch der Schuldner freiwillig zahlen, müßte man weiter von einer Gleichordnung und damit materiell-rechtlichen Wertung ausgehen. Nicht viel anders darf es sich verhalten, wenn er rechtsuntreu die Zahlung verweigert mit der Folge, daß der Gläubiger seinen Anspruch zwangsweise durchsetzt. Von dem Grundsatz ausgehend, daß der Schuldner letztendlich auch die hoheitliche und zwangsweise Durchsetzung des Anspruchs durch den Staat zu verantworten hat, kann dem Zwangsvollstreckungsrecht die materiell-rechtliche Wertung nicht fern liegen. Das muß vor allem für den Vollstreckungsschutz gelten, bei dem das Verhältnis von Gläubiger und Schuldner stärker im Mittelpunkt einer Interessenabwägung steht als das von Staat und Bürger. Der Ansatz von Henckel kann insoweit nicht in Frage gestellt werden. Mit Arens ist zumindest im Bereich des Schuldnerschutzes davon auszugehen, daß nicht das öffentliche Interesse, sondern das der Parteien im Vordergrund steht77.

76

Weyland S. 32 f.

77 Arens AcP 173,250 (271).

IV. Eigene Ansicht

163

g) Die Abtrennung des Schuldnerschutzes von anderen Regelungen des Vollstreckungsrechts mit Hilfe des Vollstreckungsrechtsverhältnisses Warum Henckel gerade den Vollstreckungsschutz von anderen Eingriffsvorschriften aus dem Zwangsvollstreckungsrecht trennt, mag folgende Überlegung veranschaulichen. Dem Vollstreckungsverfahren liegt ein in Dreiecksform angeordnetes Vollstreckungsrechtsverhältnis zugrunde, an dem Gläubiger, Schuldner und Staat beteiligt sind. Stellt der Gläubiger einen Antrag auf Vornahme einer Vollstreckungshandlung, entsteht zwischen ihm und dem Staat das "Antragsverhältnis", welchem, soweit die gesetzlichen Voraussetzungen der Vollstreckung vorliegen, der Vollstrekkungsanspruch als subjektiv öffentliches Recht zugrunde liegt78. Gleichzeitig kommt zwischen Staat und Schuldner das "Eingriffsverhältnis" zustande, das seine Bezeichnung dem grundrechtsintensiven Eingriffscharakter verdankt, insbesondere im Hinblick auf Art. 2 Abs. 2, 13, 14 GG. Letztlich besteht auch zwischen Gläubiger und Schuldner untereinander eine rechtliche Verbindung. Sie ist jedoch nicht identisch mit dem materiellen Anspruch, sondern beruht auf Titel und Klausel79 . Überträgt man die Henckel'sche Einteilung auf das Vollstreckungsrechtsverhältnis, sind die Vorschriften, die der Vollstreckungsgewalt absolute Grenzen setzenSO, dem Eingriffsverhältnis zwischen Staat und Schuldner zuzuordnen. Eine Zwangsmaßnahme, die ohne gesetzliche Ermächtigung in Grundrechte des Schuldners eingreift, ist rechtswidrigBl. So ist z.B. eine Vollstreckung zur Nachtzeit oder an Sonn- und Feiertagen ohne richterliche Erlaubnis (§ 761 Abs. 1 ZPO) mit der Achtung der Menschenwürde nicht vereinbar. Mit Henckel muß hier der Grund für das Schutzbedürfnis des Schuldners und der Maßstab für den Umfang des Schutzes in den Rechtsbeziehungen des Schuldners zum Staat gesucht werden82• Der Anspruch des Gläubigers gegen den Schuldner bleibt dagegen unberührt, weil nach der Interessenlage der Parteien nicht gefragt ist, und die Vollstreckung auch am nächsten Morgen bzw. an einem Werktag möglich ist. Diese Art von Vollstreckungsvorschriften zeichnet sich dadurch aus, daß sie dem Vorbehalt des Gesetzes unterliegen und infolgedessen unmittelbar gem. Art. 1 Abs. 3 78 Rosenberg/GauljSchilken § 79 Rosenberg/GauljSchilken

80 Henckel

81

S. 350 f. Henckel S. 350.

82 A.a.O.

11·

S. 350.

8 11.

§ 8 11 3 m.w.N.

164

F. Das Ermessen des Zivilrichters

GG an die Grundrechte gebunden sind. Da Ermessen eng mit dem Vorbehalt des Gesetzes zusammenhängt, wäre es hier theoretisch denkbar. Anders der Vollstreckungsschutz. So wie die Schadensersatzpflicht nach

§ 717 Abs. 2 ZPO bei einer ungerechtfertigten Vollstreckung aus einem für

vorläufig vollstreckbar erklärten Urteil an das "Basis- oder Vollstreckungsverhältnis" zwischen Gläubiger und Schuldner anknüpft83, gilt entsprechendes für die Einstellung oder Beschränkung der Zwangsvollstreckung. Beide Male wird der Anspruch des Gläubigers gekürzt, das eine Mal rechtlich, beim Vollstreckungsschutz faktisch. Im Unterschied zur ersten Normkategorie stehen materielle Interessen im Vordergrund. Konsequent spricht Henckel von einer Drittwirkung der Grundrechte84 . Da Privatinteressen überwiegen, ist für einen Gesetzesvorbehalt im Sinne einer Eingriffsmöglichkeit von seiten des Staates kein Platz. Ähnlich dem Recht der Exekutive zum Erlaß von Rechtsverordnungen gem. Art. 80 Abs. 1 GG ist das Ermessen ein Ausfluß des Vorbehaltsprinzips, somit ohne dasselbe undenkbar. Es kann nur eine Entscheidung richtig sein8S •

4. Bestätigung der Ansicht durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

a) Verjassrmgskonfomze Auslegung Die Entscheidungen des BVerfG zeigen eine ähnliche Linie auf. Das Gericht entnimmt dem Grundgesetz in seinem Grundrechtsabschnitt eine die gesamte Rechtsordnung durchdringende objektive WertordnungB6. Unter anderem ergäben sich hieraus, insbesondere für das materielle Zivilrecht, Vorgaben für die Auslegung und Anwendung der Gesetze. So führt das Gericht aus, daß "von mehreren Auslegungsmöglichkeiten diejenige den Vorzug verdient, die einer Wertentscheidung der Verfassung besser entspricht"87. 83 RosenbergjGauljSchilken 84 Henckel

S. 359.

§ 8 Il 3 b.

8S Gaul Rechtspfleger 1971, 81 (92) räumt dem Vollstreckungsgericht bei Vollstreckungsschutzmaßnahmen kein Handlungsermessen ein, weil sie faktisch auf die Entscheidung in der Sache selbst einwirkten; es handele sich um echte Rechtsanwendung. 86 BVerfGE 7,198 (205 C.); A. 11.2. 1fT BVerfGE 8, 210 (221); 21, 306 (311); 30, 173 (187 f., 196 f.); 34, 269 (280); 73, 261 (269).

IV. Eigene Ansicht

165

b) Materielles und Prozeßrecht Da der Vollstreckungsschutz dem Prozeßrecht angehört, bleibt die materielle Rechtslage eigentlich unberührt. Die bereits angeführte Gleichstellung von rechtlicher und faktischer Kürzung einer materiellen Rechtsposition wird aber im Hinblick auf die Einwirkung der Grundrechte auch vom BVerfG nicht in Frage gestellt, was die Rechtsprechung zum vorläufigen Rechtsschutz, zum Zwangsversteigerungsrecht, aber auch zu § 554b ZPO belegt88. So führt das Gericht aus: "... , bedeutet der grundrechtliche Anspruch auf effektiven Rechtsschutz, daß die Gerichte im jeweiligen Verfahren der normativen Geltung der Grundrechte tatsächliche Wirksamkeit verschaffen müssen...Dem Verfahrensrecht kommt hierbei eine wesentliche Rolle zu. Es dient nicht nur dem Ziel, einen geordneten Verfahrensgang zu sichern, sondern ist im grundrechtlieh relevanten Bereich auch das Mittel, im konkreten Fall dem Grundrechtsträger zu seinem verfassungsmäßigen Recht zu verhelfen. Demgemäß muß das Verfahrensrecht im Blick auf die Grundrechte ausgelegt und angewendet werden. Bei mehreren Auslegungsmöglichkeiten ist diejenige zu wählen, die dem Gericht ermöglicht, die Grundrechte der Verfahrensbeteiligten durchzusetzen und zu verwirklichen"S9.

c) EinbruchsteIlen der Grundrechte in das Prozeßrecht Die mittelbare Drittwirkung von Grundrechten kann sich natürlich nur dort entfalten, wo das Medium der das jeweilige Rechtsgebiet unmittelbar beherrschenden Vorschriften dies zulässt. In Betracht kommen unbestimmte Rechtsbegriffe oder Formulierungen, die verschiedene Rechtsfolgen vorsehen, um so als EinbruchsteIlen der Grundrechte fungieren zu können. Es ist deshalb zwischen gesetzlichem und richterlichem Vollstreckungsschutz zu differenzieren90 • Während bei diesem sowohl Tatbestand als auch Rechtsfolge fest umschrieben sind, z.B. §§ 811, 850c ZPO, wird bei jenem 88 Zu § 80 Abs. 5 VwGO BVerfGE 69, 315 (363); zu § 32 BVerfGG E 76,253 (255 f.); 77, 121 (124); ähnlich auch E 35, 382 (402); 67,43 (61 f.); zur verfassungskonformen Auslegung des § 554 b ZPO BVerfGE 54, 117 (123 ff.); 54, 277 (285 ff.)(Plenarentscheidung); zur Erfolgsaussicht in unbedeutenden Nebenpunkten BVerfG NJW 79, 533; zum Zuschlag im Rahmen eines Zwangsversteigerungsvcrfahrcns A. IIl. 3. b); V.; F. IV. 3. e). 19 BVerfGE 49, 252 (257). 90 Lippross S. 140 f.; Fenge S. 114 ff., 120 ff., 124 ff.

166

F. Das Ennessen des Zivilrichters

ein auf Grund einer die Umstände des Einzelfalls abwägenden Entscheidung individueller Vollstreckungsschutz gewährt. Die §§ 707,719 bilden einen Teil des richterlichen Vollstreckungsschutzes. Das Wort "kann" gibt dem Richter die Möglichkeit, von mehreren Rechtsfolgen diejenige herauszusuchen, die in concreto rechtens ist.

5. Verfahrensermessen im Zivilprozeß Nicht nachkontrollierbare Zweckmäßigkeitsentscheidungen eines Zivilrichters sind allenfalls denkbar, wenn das Gericht durch Ausgestaltung des Verfahrens eine Art Verwaltungstätigkeit ausübt; in Betracht kämen z.B. das die Beweisaufnahme, die Art und den Umfang der Beweiserhebung betreffende Verfahren91 , die Trennung oder Verbindung von Prozessen, die FestIegung von Fristen und Terminen, ... usw.92 • Das Gericht übt in diesen Fällen keine Rechtsprechung aus. Das "Verfahrensermessen" ist dadurch gekennzeichnet, daß nicht direkt in die subjektiven Rechte der Parteien eingegriffen wird. Doch auch hier ist der Richter nicht völlig frei. Zum einen kann es sich nicht um ein wirklich freies, sondern allenfalls pflichtgemäßes Ermessen handeln. Das BVerfG93 leitet aus dem Rechtstaatsprinzip gem. Art. 20 Abs. 3 GG ein Recht auf faire Verfahrensführung ab, welches verfassungsrechtliche Leitlinie der verfahrensrechtlichen Ermessensausübung bildet. Ein Verstoß dagegen ist als Verfahrensfehler zu werten, der bereits im Rahmen von Beschwerde, Berufung und Revision geltend gemacht werden kann94 . Andererseits ist die Unterscheidung nach Verwaltungs- und Rechtsprechungstätigkeit des Zivilrichters lediglich als grobe Faustregel zu betrachten und mit Vorsicht zu handhaben. Ohnehin werden sich keine festen Konturen bilden lassen, sondern eher ein fließender Übergang stattfinden, der je nach Betroffenheit subjektiver Rechte den Umfang des Handlungsspielraums beeinflußt. So kann die Bestimmung einer Frist zur Klageerwiderung so kurz bemessen sein, daß nicht nur der Anspruch auf faire VerfahrensfühSchiffczyk S. 53. Nach Waldner Rdnr. 284 ff. ist eine Beeinträchtigung des rechtlichen Gehörs bei prozeßtechnischen oder nur vorbereitenden Maßnahmen nicht denkbar; ähnlich SteinjJonasjLeipold 91

92

vor § 128 Rdnr.47. 93 BVerfGE 46,325 (334); 49, 220 (225); 51, 150 (156); 54, 2n (291). !14 SteinjJonasjLeipold vor § 128 Rdnr. 67.

IV. Eigene Ansicht

167

rung, sondern auch das rechtliche Gehör sowie die Verfahrensrechte einzelner materieller Grundrechte beeinträchtigt sind. 6. Ergebnis Ein Ermessen im Sinne eines Handlungsspielraums, der die Auswahl zweier gleich rechtmäßiger Rechtsfolgen erlaubt, besteht bei den Einstellungsvorschriften der §§ 707, 719 sowie § 712 ZPO trotz ihres Wortlauts nicht95 • Dies liegt vor allem dar an, daß beim Vollstreckungsschutz durch faktische Einwirkungen auf die Entscheidung in der Hauptsache materielle Wertungen im Vordergrund stehen, und die mittelbare Drittwirkung von Grundrechten in Form verfassungskonformer Auslegung nur eine Lösung zuläßt. Damit ist eine "Kann"-Vorschrift auf der Rechtsfolgenseite nicht bedeutungslos. Sie soll auf mehrere Entscheidungsmöglichkeiten, von denen im konkreten Fall nur eine rechtens ist, hinweisen%. Es ist für den Gesetzgeber unmöglich, für jede nur denkbare Fallkonstellation voraussehend eine passende Regelung zu treffen. Eine solche Katalogisierung würde der Einzelfallgerechtigkeit nur schaden. Es ist deshalb Aufgabe des Richters, die Konkretisierung vorzunehmen.

95 96

Im Ergebnis auch 80HZ 44, 138 (142 f.); Gaul Rcchtspfleger 1971, 81 (92). BT-Drucks. 7/2729 S. 109 zu § 712 Abs. 1 S. 2 ZPO:"Unter den möglichen Anordnungen

wird die zu wählen sein, die einerseits ausreicht, um die dem Schuldner drohende Gefahr eines nicht zu ersetzenden Nachteils abzuwenden, andererseits die Interessen des Gläubigers so wenig wie möglich beeinträchtigt. Die Entscheidung, das Urteil nicht für vorläufig vollstreckbar zu erklären, wird demnach nur zulässig sein, wenn anders ein nicht zu ersetzender Nachteil vom Schuldner nicht abzuwenden ist."

G. Die Einstellungsvorschriften der §§ 707, 712, 719 ZPO I. Einleitung Mit Hilfe der Vorschriften über die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung soll das Entstehen später nicht mehr beseitigbarer Zustände vor endgültiger Klärung der materiellen Rechtslage vermieden werdeni. Oft drohen jedoch sowohl dem Gläubiger als auch dem Schuldner irreparable Eingriffe, z.B. wenn es sich um eine hohe Vollstreckungssumme handelt, und beide Parteien konkursgefährdet sind. Vergleichbares findet sich auch im Wettbewerbsrecht bei einstweiligen Unterlassungsverfügungen oder solchen, die befristet sind. Wegen des Zeitfaktors wird sowohl eine prozessuale Wirkung erzielt als auch in die materielle Rechtslage eingegriffen, soweit die Zwangsvollstreckung eingestellt wird2• Wenn beide Parteien wegen Zahlungsschwierigkeiten nicht in der Lage sind, eine Sicherheit zu erbringen, es also lediglich darum geht, wer das Konkursrisiko zu tragen hat, helfen die §§ 710, 711 ZPO dem im Urkundenprozeß unterlegenen Beklagten nicht weiter3. Soweit der Rechtsstreit nach Verkündung des Vorbehaltsurteils fortgesetzt wird, kann das Gericht auf Antrag die Einstellung der Zwangsvollstreckung ohne Sicherheitsleistung anordnen, wenn glaubhaft gemacht wird, daß der Schuldner zur Sicherheitsleistung nicht in der Lage ist und die Vollstreckung einen nicht zu ersetzenden Nachteil bringen würde (§ 707 Abs. 1 S. 1, 2 ZPO). Legt der Beklagte Berufung gegen das Vorbehaltsurteil ein, was nach § 599 Abs. 3 ZPO 1 DunkJ/Moe//erjBaur/FeldmeierjWetela:lmp

J Rdnr. 1 f.; Waldner Rdnr. 41 ff., 380. Bei einstweiligen Unterlassungsverfügungen lehnt die hM eine Einstellung der Zwangsvollstreckung grundsätzlich ab; BGH NJW 1965, 1276 = JZ 1965, 540; OLG Nümberg GRUR 1983,469 (470); OLG Stuttgart LM § 719 Abs. 2 ZPO Nr. 33; Teplitzky 57. Kap. Rdnr. 38 ff.; Klette GRUR 1982, 471 ff.; Pastor S. 911 ff.; Stein/lonas/Münzberg § 719 Rdnr. 17; § 707 Rdnr. 6 Pn. 21, 42. 3 KG Berlin LM § 71911 Nr. 26; Stein/lonas/Münzberg § 719 Rdnr. 17; § 707 Pn. 21, 39, 42; wenn beiden Parteien nicht zu ersetzende Nachteile drohen, BAG SAE 73, 216 f. mit Anmerkung Leipo/d S. 217 ff.; E. 11. 2

11. Der unersetzbare Nachteil

169

möglich ist, scheint er sich dem Wortlaut folgend gem. § 719 Abs. 1 S. 1 ZPO mit dem gleichen Erfolg wehren zu können4 • Dagegen wird ihm § 712 Abs. 1 S. 2 ZPO kaum weiterhelfen, weil ein entsprechender Antrag zur Instanz gerechnet wird und gegenüber §§ 707 Abs. 1, 719 Abs. 1 ZPO subsidiär ist. Dennoch soll - soweit möglich - auch auf diese Vorschrift eingegangen werden, um einen besseren Gesamtüberblick über die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung ohne Sicherheitsleistung zu gewinnen.

11. Der unersetzbare Nachteil Allen drei Vorschriften gemeinsam ist die Gefahr eines aus der Vollstrekkung resultierenden nicht zu ersetzenden Nachteils. Erfaßt werden irreparable Schäden, die aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht mehr rückgängig gemacht bzw. ausgeglichen werden könnenS. Das ist z.B. der Fall, wenn der Gläubiger wegen Zahlungsschwierigkeiten den nach §§ 717 Abs. 2, 3 bzw. 600 Abs. 2, 302 Abs. 4 S. 3 ZPO bestehenden Schadensersatzanspruch nicht mehr begleichen kann6• Ist das Ausmaß des Schadens trotz § 'lß7 ZPO nicht genau absehbar, so bei Kundenausfall oder Zerstörung der wirtschaftlichen Existenz des Vollstreckungsschuldners, droht gleichfalls ein

4 Zum Verhältnis zu § 765a ZPO vgI. OLG Bremen NJW 1969, 1260; OLG Celle MDR 1969,60; Rosenberg/Gaul/Schilken § 43 12; Stein/lonas/Münzberg § 765a Rdnr. 35; Zöller/ Schneider/Herget § 707 Rdnr. 5; Baumbach/Lauterbach/Hanmann § 707 1; Zimmermann § 707 Rdnr. 2. s RGZ 79, 223 (224); BGHZ 21, 377 (378); Altemativkommentar/Schmidt-von Rhein § 707 Rdnr. Ba; Baumbach/Lauterbach/Hanmann § 707 3 C b; § 712 2 A; 7192 A a; Zöller/Schneider/Herget § 707 Rdnr. 13; § 719 Rdnr. 6 m.w.N.; Stein/lonas/Münzberg § 707 Rdnr. 11 ff.; § 719 Rdnr. 10 ff.; Rosenberg/Gaul/Schilken § 11 111 3 a; Pastor S. 913; DunkJ/MoellerjBaur/ Feldmeier/Wetekamp J Rdnr. 25. 6 Stein/lonas/Münzberg § 707 Rdnr. 13; aA. Baumbach/Lauterbach/Hanmann § 712 2 A; Thomas/Putzo 712 2 a, die mit Recht darauf hinweisen, daß der angebliche Schuldner durch Sicherheitsleistung nach § 712 Abs. 2 S. 2 ZPO geSChützt werden kann. Wenn aber der Kläger konkursgefährdet ist, wird er erfahrungsgemäß kaum in der Lage sein, eine Sicherheit zu erbringen, so daß das Argument faktisch ins Leere laufen dürfte; die Vollstreckung hängt dann nicht vom unersetzbaren Nachteil, sondern davon ab, ob die Interessen des Gläubigers überwiegen. Nach OLG Frankfurt MDR 1982, 239 liegt ein unersetzbarer Nachteil nicht vor, wenn der Gläubiger die gefährdeten Vermögensgegenstände durch Geldleistungen ersetzen kann.

170

G. Die Einstellungsvorschriften der §§ 7fJ7, 712, 719 ZPO

nicht ZU ersetzender Nachteil7• Aus rechtlichen Gründen nicht gegeben ist ein Anspruch z.B. nach § 717 Abs. 2, 3 ZPO, aber auch bei immateriellen Schäden wegen § 253 BGB8. Bei wie im Urkundenprozeß auf Geld, Wertpapiere oder sonstige geldwerte Leistungen gerichteten Urteilen kann von einem irreparablen Schaden nicht schon dann gesprochen werden, wenn eine Rückgängigmachung der Zwangsvollstreckung lediglich gefährdet oder wahrscheinlich nicht möglich ist, sondern erst, wenn wegen der Vermögenslage des Gläubigers die Wiedererlangung des Vollstreckungsgegenstandes so gut wie aussichtslos bzw. offenkundig ist9. Auf Seiten des vermeintlichen Schuldners reicht eine bloße Kreditgefährdung bzw. -erschwerung für §§ 707 Abs. 1 S. 2, 712 Abs. 1 S. 2, 719 Abs. 1 ZPO nicht aus, weil praktisch bei jeder Zwangsvollstreckung mit derartigen Begleiterscheinungen gerechnet werden muß lO• Erst beim Verlust der Existenzgrundlage kann von einem nicht zu ersetzenden Nachteil gesprochen werdenll .

7

BGH NJW 1955, 1635; OLG Hamm OLGZ 87. 89; OLG Hamm, Urteil vom 15.7.1986,

4 U 177/86; Baumbach/LAuterbach/Hanmann § 707 3 C b. 8 BGH MDR 1951, 482 gegen OGH NJW 1950, 600; das OGH nahm einen unersetzbaren Nachteil nur an, wenn ein Anspruch nach dem Gesetz gegeben, ein Ausgleich aus rein tatsächlichen Gründen aber nicht möglich war; Stein/lonas/Münzberg § 707 Rdnr. 11; § 719 Rdnr. 10; zum Umfang des § 717 Abs. 2 ZPO, insb. bei ideellen Beeinträchtigungen und Kreditschäden Müssig ZZP 98, 324 (330 f.) mit VeIWeis auf BGHZ 85, 110 (113); einen weiteren Nachteil sieht er in der zeitlichen und sachlichen Nachrangigkeit der Schadensersatzpflicht; B. VI. 3. b) bb). 9 BGHZ 18,398 (399 f.); 21, 377 (378); BGH LM § 109 ZPO Nr. 1; Dunkl/Moeller/Baur/ FeldmeierjWetekamp J Rdnr. 26 - 28; Dütz OB 1980, 1069; dagegen ist die schlechte wirtschaftliche Lage des Vollstreckungsgläubigers kein Grund, die Einstellung anzuordnen, wenn dem Schuldner gestattet war, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung abzuwenden, und ihm dies wirtschaftlich möglich war, BGH LM § 719 ZPO Nr. 9, 12, 13, 20; Alternativkommentor/Schmidl-von Rhein § 707 Rdnr. Ba. 10 BGH NJW 1952, 425 f.; Baumbach/Lauterbach/Hanmann § 707 3 C b; Stein/lonas/ Münzberg § 7fJ7 Rdnr. 11 stellt auf den Einzelfall ab. U ZölJer/Scluu!ider/Herget § 707 Rdnr. 13; es muß sich dann aber um einen ausgeübten Betrieb handeln; droht indessen der Konkurs einer reinen Beteiligungs-AG, einer in Liquidation stehenden oder liquidierten Gesellschaft, kann ein irreparabler Schaden nicht entstehen; BGH BB 1986, 2018; BGH NJW-RR 1987, 62; OLG Frankfurt MDR 1982, 239; 1985 507; Jur.Büro 1985, 782.

111. Weitere Einstellungskriterien

171

Schließlich muß es gerade die Vollstreckung sein, die zum Nachteil führt. Verliert deshalb der Vollstreckungsschuldner einen Teil seines Kundenstamms, nachdem letzterer vom Erlaß eines Urteils erfahren hat, scheidet eine Einstellung ausl2. Schon hier können für den eine Einstellung anstrebenden Urkundenbeklagten Beweisschwierigkeiten entstehen. Es ist denkbar, daß zunächst nur die Gefahr eines Konkurses besteht, wegen widriger Begleitumstände später dennoch ein Konkursantrag gestellt werden muß.

IH. Weitere Einstellungskriterien Wenn feststeht, daß trotz des Wortes "kann" in §§ 707 Abs. 1 S. 1, 719 Abs. 1 S. 1 ZPO bzw. der Wahlbefugnis in § 712 Abs. 1 ZPO dem Richter bei seiner Prüfung kein Ermessen zusteht 13, stellt sich die Frage, nach welchen weiteren Einstellungskriterien zu entscheiden ist. Nach ganz einhelliger Ansicht sind dies die Erfolgsprognose eines einzulegenden Rechtsbehelfs sowie die Abwägung der Interessen von Gläubiger und Schuldnerl4• Das Gesetz scheint diese beiden Umstände stillschweigend anzuerkennen.

§§ 712 Abs. 2 S. 1, 719 Abs. 2 S. 1 letzt. Hs. ZPO setzen eine Interessenabwägung voraus; und § 713 ZPO, der die Prüfung der Rechtsmittelaussichten durch das Instanzgericht für § 712 ZPO auf die Zulässigkeit beschränkt,

geht von einer zumindest summarischen Abklärung der formellen und materiellen Erfolgsprognose ausl5 • 12 Vgl.

auch Wortlaut der §§ 707 Abs. 1 S. 2 letzt.HS, 712 Abs. 1 S. I, 719 Abs. 2 S. 1 ZPO:

"die Vollstreckung würde einen nicht zu ersetzenden Nachteil bringen"; Dütz DB 1980, 1069 (1071); Stein/Jonas/Münzberg § 707 Rdnr. 10; nicht ausreichend, wenn der Schaden aus einem Konkursantrag droht oder wegen einer freiwilligen Leistung eintritt; B. VI. 3. b) bb). 13 F. 14 Zur Interessenabwägung OLG Köln MDR 1975, 850; BT-Drucks. 7/2729 S. 45; BaumbachjLauterbachjHartmann, 35. Aufl., § 712 1; § 710 1; BaumbachjLauterbachjHartmann § 7125; Schneider MDR 1973, 356 ff.; zur Erfolgsaussicht Dunkl/Moeller/Baur/Feldmeier/ Wetekamp J Rdnr. 6 ff.; Dütz DB 1980, 1069 (1070, 1073); Klette GRUR 1982, 471 (472); zum Verhältnis von Erfolgsaussicht und Interessenabwägung Leipold, Anmerkung zu BAG SAE 1973, 216 (217 ff.). IS OLG Frankfurt NJW 1957, 594 (595); OLG Koblenz WM 1981, S45; Stein/lonas/Münzberg § 719 Rdnr. 17; Klette GRUR 1982, 471 (472); Altemativkommentar/Schmüü-von Rhein § 707 Rdnr. 5.

172

G. Oie Einstellungsvorschriften der §§ 707, 712, 719 ZPO

Bei § 707 ZPO fehlt eine entsprechende Regelung. Dennoch wird auch hier eine Gegenüberstellung widerstreitender Belange verlangt, da die Rechtsposition des Gläubigers nicht außerhalb der anzustellenden Erwägungen steht, vielmehr auch sein Sicherungsbedürfnis zu berücksichtigen istl6.

IV. Die Interessenabwägung17 Klärungsbedürftig ist, welche Art von Interessen geschützt werden, und wie zu entscheiden ist, wenn die Belange von gleichem Gewicht sind, bzw. nicht ermittelt werden kann, welche Partei schwerer getroffen wird. 1. Art des Interesses Nach Schneider hat das Gericht die beiderseitigen Belange der Parteien sorgfältig abzuwägen l8. Er läßt den Leser aber im ungewissen, was darunter im einzelnen zu verstehen ist. Oft findet sich die Formulierung, es seien materiellrechtliche und voUstreckungsrechtliche Erwägungen wie auch die wirtschaftlichen Auswirkungen für beide Parteien einzubeziehenl9• Die ersten beiden Gesichtspunkte sind jedoch identisch mit einer summarischen Prüfung der Erfolgsaussichten eines einzulegenden Rechtsbehelfs, ein nach der hL neben der eigentlichen Interessenabwägung ohnehin zu prüfendes Einstellungskriterium. Maßgebend sind für das Interesse deshalb die durch die Vollstreckung oder Einstellung der Vollstreckung verursachten wirtschaftlichen Auswirkungen für eine Partei. Im Hinblick auf den Urkundenprozeß ist dies jedoch nicht unbedenklich. Wenn der endgültige Ausgang des Rechtsstreits im Nachverfahren noch nicht abzusehen ist, wird es vorwiegend auf die öko160LG Celle NJW 1962, 2356; OLG Frankfurt NJW 1976, 2137; BaumbachjLauterbach/ Hanmann § 707 3 C b; Stein/lonas/Münzberg § 707 Rdnr. 11; Dütz OB 1980, 1069 (1070). 170LG Köln MOR 1975, 850; OLG Köln OLGZ 79, 113 (114); BaumbachjLauterbach/ Hartmann § 712 5; DunldjMoellerjBaur/FeldmeierjWetel«lmp J Rdnr. 19, 24; Dütz OB 1980, 1069 (1070 f.); unt NJW 1957, 594; Pastor S. 914. 18 Schneider MOR 1973, 356; Baur, Anmerkung zu BGH JZ 1965, 540 (541 f.) spricht von irreparablen Verhältnissen in rechtlicher Hinsicht und meint damit den drohenden Verlust der materiellen Wirkung des Urteils. 19 Dunld/MoellerjBaur/FeldmeierjWetel«lmp J Rdnr. 19,24; Dütz OB 1980, 1069 (1070) mit Verweis auf Zöller/Scherübl, 12. Auf!. § 707 III 2.

IV. Die Interessenabwägung

173

nomischen Auswirkungen einer Einstellung ankommen. Da beim selben Streitgegenstand diese unabhängig sind von der Frage, ob z.B. aufgrund eines im Urkundenprozeß erstrittenen Vorbehaltsurteils oder eines Endurteils vollstreckt wird, dem ein alle Beweismittel zulassendes Erkenntnisverfahren vorausgegangen war, bräuchte der Richter bei seiner Einstellungsverfügung nie zu überlegen, wie der vollstreckbare Titel zustande gekommen war2°. 2. Übenviegendes Interesse Ein für den Urkunden-, Wechsel- und Scheckprozeß weitreichender Gesichtspunkt ist die Frage nach der Bevorzugung des Gläubiger- oder des Schuldnerinteresses, wenn - wie sehr oft - die Abwägung zu keinem eindeutigen Ergebnis führt. Denn es ließe sich folgende These aufstellen: Wenn schon das in Art. 103 Abs. 1 GG garantierte Recht auf Beweis ohne Rechtfertigung beschnitten wird, kann es nur rechtens sein, dem Schuldnerinteresse, insbesondere bei später nicht mehr ausgleichbaren Nachteilen, den Vorzug zu geben, wenn der Vollstreckungsschuldner eine Einstellung der Zwangsvollstreckung begehrt.

3. Frühere Ansicht Ohne einen Zusammenhang zwischen summarischem Verfahren und Einstellungsvoraussetzungen herzustellen, ging man früher von einer derartigen Ansicht aus. In § 887 des Norddeutschen Entwurfs von 1870 heißt es: "Wenn glaubhaft gemacht ist, daß die Vollstreckung des Urteils dem Schuldner einen nicht zu ersetzenden Nachteil bringen würde, so ist in den Fällen des § 884 auf Antrag des Schuldners auszusprechen, daß dasselbe nicht vorläufig vollstreckbar sei, und in den Fällen der §§ 885 und 886 der Antrag des Gläubigers zurückzuweisen" 21 • Selbst bei einer Sicherheitsleistung von Sei-

20 Nur Dütz OB 1980, 1069 (1070) spricht von einer "Rechtsposition" des Gläubigers, die Einstellungskriterium sei. 2! NorddtProt. S. 2604; § 884 Nr. 6 des entsprechenden Entwurfs von 1870 regelte die vorläufige Vollstreckbarkeit von Urteilen, die im Urkunden- und Wechselprozeß ergangen waren; nach § 885 konnten auch noch andere als die in § 884 angeführten Urteile für vorläufig vollstreckbar erklärt werden, wenn dem Gläubiger ansonsten ein schwer zu ersetzender, ein

174

G. Die EinstellungsvorschriCten der §§ 707, 712, 719 ZPO

ten des Gläubigers sollte bei Interessengleichheit den Belangen des Schuldners der Vorzug gegeben werden, soweit ihm ein unverhältnismäßiger oder unersetzlicher Nachteil drohte22• In diesem Sinn sprach sich der Gesetzgeber von 1877 sowie die damalige Literatur in Zweifelsfällen für eine Begünstiglmg des Schuldners aus23• Es verstehe sich von selbst, daß der Gläubiger mit seinem Verlangen nach einer zwangsweisen Durchsetzung des erhaltenen Titels vor dessen Rechtskraft nicht durchzudringen vermag, wenn die Voraussetzungen des § 603 CPO (1877), vor allem ein nicht zu ersetzender Nachteil, vorlägen. In diesem Falle müsse das Interesse des Schuldners als das stärkere den Ausschlag geben 24• Schon bevor die Vereinfachungsnovelle von 1977 die Bevorzugung der Gläubigerinteressen in §§ 712 Abs. 2 S. 1, 719 Abs. 2 S. 1 letzt. HS. ZPO festlegte, versuchte die Rechtsprechung, sich des Problems anzunehmen. Noch 1956 betont der BGH: "Schafft die Vollstreckung eines für vorläufig vollstreckbar erklärten Urteils zeitweise endgültige Verhältnisse, die auch beim Erfolg der Revision bestehen bleiben, so ist das ein nicht zu ersetzender Nachteil, der zur Einstellung der Zwangsvollstreckung berechtigt"25. Erstmals 1975 sprach sich das OLG Köln für die Bevorzugung der Gläubigerinteressen aus, wandte sich gegen die Gesetzesmotive und begründete unverhältnismäßiger oder ein schwer zu ermittelnder Nachteil entstand; ähnlich auch Art. 684 der Civilprozeßordnung für das Königreich Württemberg von 1868. ']2 NorddtProt. S. 1962. 23 §§ 574, 571 des 1. Entwurfs; Mot. I S. 426, 429 C.; § 591 des 2. Entwurfs; Mot. 11 S. 515 f.; § 603 des 3. Entwurfs; Mot. 111 S. 429; §§ 647, 651 CPO von 1877; Endemann (1879), 3. Bd. S. 123; nach Puchelt S. 489 erfordere § 650 CPO einen schwer zu ersetzenden oder schwer zu ermittelnden &:haden für den Gläubiger, während § 651 CPO einen nicht zu ersetzenden Nachteil auf der &:huldnerseite verlange. Daraus erkläre sich der Vorrang der Belange des

&:huldners bei einen Interessenskonflikt; nach Stein/lonas/Münzberg, 19. Aufl., § 712 Rdnr. 14 könne der Gläubiger durch Erbieten zur Sicherheitsleistung nach § 713 (a.F.) ZPO die Rechtsfolgen des § 712 ZPO nicht abwenden, selbst wenn ihm noch schwerere Nachteile drohen würden als dem &:huldner. Die dadurch entstehende Lücke im &:hutz lebenswichtiger Interessen des Gläubigers könne nur durch den Erlaß einer einstweiligen Verfügung geschlossen werden. 24

Im übrigen ging auch der Gesetzgeber von 1977 davon aus, daß bis dato bei Drohen glei-

cher &:häden die &:huldnerinteressen vorgingen, und eine Zwangsvollstreckung aus dem nicht reChtskräftigen Urteil insofern ausgeschlossen war; BT-Drucks. 7/2729 S. 45. 2S BGHZ 21, 377 (378); ähnlich OLG Celle NJW 1962, 2356 (2357); OLG Zweibrücken OLGZ 74, 250; Schneider MDR 1973, 356 ff.

IV. Die Interessenabwägung

175

die Entscheidung mit dem Sinn und Zweck der Einstellungsregelungen26• In

§§ 708 ff. ZPO habe der Gesetzgeber bereits nach Fallgruppen unterschie-

den, die maßgebenden Interessenabwägungen vorgenommen und vorgeschrieben, wann und unter welchen Einschränkungen die Zwangsvollstrekkung betrieben werden dürfe.

4. Die Gesetzesnovelle von 1977

Nach Ansicht des Gesetzgebers von 1977 wächst mit der Dauer des Zivilverfahrens die Gefahr einer Anspruchsvereitelung durch Vermögensverfall des Schuldners. Der Gläubiger habe deshalb häufig ein dringendes Bedürfnis an einer Durchsetzung bzw. Sicherung seiner Ansprüche ohne Rücksicht auf einen von dem Schuldner ergriffenen Rechtsbehelf27. Um einen besseren Rechtsschutz zu gewähren, hat der Entwurf unter anderem die Durchsetzung nicht rechtskräftiger Urteile erleichtert und gleichzeitig die Einstellung der Zwangsvollstreckung erschwert. Bei den §§ 712 Abs. 2, 719 Abs. 2 ZPO sah man das Ziel vor allem dadurch verwirklicht, bei einer Interessenkollision, z.B. wenn beiden Parteien ein nicht zu ersetzender Nachteil droht, zukünftig ein überwiegendes Interesse des Gläubigers vorgehen zu lassen. Der Gesetzgeber von 1977 ging davon aus, daß bis dato das Schuldnerinteresse vorrangig war, soweit beiden Parteien ein gleicher Schaden drohte28 • Der Wortlaut "überwiegendes Interesse" in §§ 712 Abs. 2 S. 1, 719 Abs. 2 S. 1 letzt. HS. ZPO ist insofern unglücklich, als er zu dem Mißverständnis führen könnte, ein Aufschub der Befriedigung muß dem Gläubiger empfindlichere Nachteile zufügen als dem Schuldner die Vollstreckung29. 260LG Köln MDR 1975, 850; ebenso OLG Düsseldorf OLGZ 79. 113 (114); OLG Frankfurt NJW 1984, 2955; OLG Köln NJW·RR 1987, 189 (190); OLG Düsseldorf MDR 1987. 415. Zwar lehnen schon BGH NJW 1965, 1276 = JZ 1965, 540; OLG Stuttgart LM § 719 11 ZPO Nr. 27 eine Einstellung der Zwangsvollstreckung ab. dies jedoch nicht wegen eines überwiegenden Gläubigerinteresses. sondern auf Grund des drohenden Verlustes der materiellen Wirkung des Urteils in der Sache selbst; dazu auch BGB MDR 1979, 996; BAG NJW 1972, 1775.

27 BT.Drucks. 7/2729 S. 44. 28 A.a.O. S. 45. 108 f. zu §§ 712.719 ZPO; so heute noch Altemativkommentar/Schmidl-von Rheill § 712 Rdnr.4. 29 Steill/Jollas/Miillzberg § 712 Rdnr. 9.

176

G. Die Einstellungsvorschriften der §§ 707, 712, 719 ZPO

Zunächst ist damit nicht gemeint, daß in Zweifelsfällen die Belange des Gläubigers vorgehen30 . Schon aus dem Wortlaut des § 712 Abs. 2 S. 1 ZPO ("Dem Antrag des Schuldners ist nicht zu entsprechen, wenn ein überwiegendes Interesse des Gläubigers entgegensteht.") ergibt sich, daß der Schuldner zwar für einen bei ihm zu erwartenden irreparablen Schaden beweispflichtig ist, der Gläubiger aber sein überwiegendes Interesse darlegen und - bei Bestreiten durch den Schuldner - auch glaubhaft machen muß31. Bei Zweifeln am Überwiegen der Gläubigerinteressen muß deshalb dem Schutzantrag des Schuldners stattgegeben werden32. Das Interesse des Gläubigers überwiegt jedoch nicht erst dann, wenn ein Aufschub der Befriedigung dem Gläubiger empfindlichere Nachteile zufügen kann als dem Schuldner die Vollstreckung. Schon der Entwurf stellt klar, daß im Kollisionsfall das Gläubigerinteresse Vorrang hat33 . Zwar reicht allein das gewöhnliche Interesse an einer baldigen Erfüllung für eine Anwendung der §§ 712 Abs. 2 S. 1 bzw. 719 Abs. 2 S. 1 ZPO nie aus, doch muß die Tatsache, daß der Gläubiger einen vollstreckbaren Titel in der Hand hält, zusätzlich zu seinen Gunsten ins Gewicht fallen34 • Insofern stellt die Gesetzesnovelle von 1977 eine wesentliche Erleichterung für den Gläubiger dar. Zwar hat eine den §§ 712 Abs. 2 S. 1,719 Abs. 2 S. 1 letzt. HS. ZPO entsprechende Regelung, wonach dem Antrag des Schuldners nicht zu entsprechen ist, wenn ein überwiegendes Interesse des Gläubigers entgegensteht, in § 707 ZPO keinen Eingang gefunden. Dennoch wird man dort eine ähnliche Bewertung vorzunehmen haben. Während sowohl § 712 ZPO als auch § 719 ZPO davon ausgehen, daß der vollstreckbare Titel noch nicht rechtskräftig ist, schließt § 707 ZPO - einmal abgesehen vom Vorbehaltsurteil - formell und materiell rechtskräftige Urteile ein. Dies ergibt sich zum einen aus der 30 So aber Thomas/Plltzo § 712 2 b; auch Altematil'kommemar/Schmidt-l"On Rhein § 712 Rdnr. 4, allerdings im Zweifel zugunsten des Schuldners. 31 Stein/lonas/Miinzberg § 712 Rdnr. 9; Ballmbach/Lauterbach/Hanmann § 712 Rdnr. 5; Zö//er/Schneider/Herget § 712 Rdnr. 6; anders aber Zö//er/Schneider/Herget § 707 Rdnr. 10. 32 Dagegen trifft bei § 719 Abs. 2 S. 1 letzt. HS. ZPO den Schuldner die volle Darlegungsund Glaubhaftmachungslast, also auch dafür. daß nicht überwiegende Interessen des Gläubigers entgegenstehen. Nach Miinzberg ergebe sich dies sowohl aus dem Wortlaut (" ... und nicht...") als auch aus dem Zweck der Verfahrensvereinfachungsnovelle 1977. Stein/lonas/ Münzberg § 719 Rdnr. 19. 33 BT-Drucks. 7/2729 S. 45, 109. 34 Stein/lonas/Münzberg § 712 Rdnr. 9; Rosenberg/Galil/Schi/ken § 14 III 2 b. VII 2 a.

IV. Die Interessenabwägung

177

systematischen Stellung des § 707 ZPO, der sich vor den Regelungen über die vorläufige Vollstreckbarkeit befindet. Zum anderen spricht er mit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§§ 233 ff. ZPO) sowie der Wiederaufnahme des Verfahrens (§§ 578 ff. ZPO) gesetzliche Fälle einer Rechtskraftdurchbrechung an. Beide Situationen setzen ihrer Natur nach ein völlig abgeschlossenes Verfahren voraus35 • Wenn deshalb bereits bei einem noch nicht rechtskräftigen Urteil im Konfliktfall ein überwiegendes Interesse des Gläubigers vorgeht, muß dies - a majore ad minum - erst recht gelten, soweit die siegreiche Partei einen Titel in der Hand hält, der nur noch mit außerordentlichen Rechtsbehelfen angefochten werden kann. Aus Rechtssicherheitsgründen ist der Vollstreckungsgläubiger noch schützenswerte~. Zwei Aussagen des Gesetzgebers von 1977 lassen erkennen, daß er bei der Gläubigerbegünstigung nicht unbedingt an den Urkundenprozeß gedacht hat, so wie er heute von der herrschenden Ansicht in Rechtsprechung und Lehre vertreten wird. Zunächst erschien ihm die Erleichterung der Vollstreckung aus nicht rechtskräftigen Urteilen im Hinblick auf die angestrebte, möglichst erschöpfende Behandlung des Streitstoffs bereits im ersten Rechtszug als gerechtfertigt 37 • Genau das fehlt beim Urkundenprozeß. Die gesetzlichen Regelungen, so §§ 502 S. 2, 595 Abs. 2, 3, 597 Abs. 2, 598 ZPO, legen gerade eine nicht abschließende Prüfung fest. Außerdem soll die unbedingte vorläufige Vollstreckbarkeit der Urteile im Urkunden-, Scheck- und Wechselprozeß dem Gläubiger eine rasche Durchsetzung "verbriefter Ansprüche" ermöglichen38 • Das mag für die beiden letztgenannten summarischen Verfahren wohl richtig sein. Ob aber von einem verbrieften Anspruch die Rede sein kann, wenn der Urkundenbeklagte bei der Erstellung einer Beweisurkunde nicht beteiligt worden war, bzw. wegen mangelnder Beweisbedürftigkeit eine Urkunde vom Kläger gar nicht erst vorgelegt werden muß, ist noch zu klären.

35

Mot. 11 S. 426.

36

Nach Dütz DB 1980, 1069 (1070); Miissig ZZP 98, 324 (335) sind die in § 707 ZPO ge-

nannten Erkenntnisverfahren weitgehend abgeschlossen; im Ergebnis auch OLG Köln MDR 1975, 850; SteilljJollas/Miillzberg § 707 Rdnr. 11; zur Frage der besseren Einordnung der vorläufigen Vollstreckbarkeit eines Vorbehaltsurteils in § 719 ZPO statt in § 707 ZPO Rosenberg! Gaul/Schi/keil § 11 III 2 Fn. 36. 37

BT-Drucks. 7/2729 S. 44.

38 Aa.O.

12 Hertel

S. 106.

178

G. Die Eir.stellungsvorschriften der §§ 707, 712, 719 ZPO

5. Heutige Ansicht Auch die herrschende Ansicht in der Literatur geht davon aus, daß bei einem überwiegenden Interesse des Gläubigers ein Antrag nach §§ 707, 712, 719 ZPO erfolglos ist39 • Die Zwangsvollstreckung ist schon dann nicht einzustellen oder sonstwie zu beschränken, wenn dem Vollstreckungsschuldner ein nicht zu ersetzender Nachteil zugefügt werden würde und er zur Sicherheitsleistung oder Hinterlegung nicht imstande sei, soweit nur die Belange des Gläubigers von einigem Gewicht sind. Nach Hartmallll darf das Gericht wegen des Regelungszwecks - der Verstärkung der GläubigersteIlung - an die Voraussetzungen, unter denen ein Interesse des Gläubigers überwiegt, keine zu harten Anforderungen stellen40. Allerdings wird das gewöhnliche Vollstreckungsbedürfnis allein nicht ausreichen, weil sonst kaum mehr eine Einstellungsanordnung getroffen werden könnte41 , Bei etwa gleichgroßer Beeinträchtigung dürfte es aber den Ausschlag zugunsten der den Titel innehabenden Partei geben42. Von einem überwiegenden Interesse des Gläubigers wird man deshalb auch dann sprechen können, wenn auf Schuldnerseite ein nicht zu ersetzender Nachteil zu erwarten ist, während - entsprechend der Wertung des § 710 ZPO - auf der gegnerischen Seite ein schwer zu ersetzender oder schwer abzusehender Schaden genügen dürfte43 •

39 Balllllbacll/Lallterbacll/Hartmallll.

35. Aun., § 712 1; Ballmbacll/Lallterbacll/Hartmallll

§ 7125; Tllomas/Piltzo § 712 2 b; SleilljJollas/Miillzberg § 712 Rdnr. 9; Diilz DB 1980, 1069

(1070 f.); 1120; Miissig ZZP 98. 324 (330 f.); D/IIlkl/Moe//er/Balir/FeldmeierjWetekamp J Rdnr. 63; Rosellberg/Galil/Scllilkell § 14 III vor I, 2 b; soweit ersichtlich geht nur ScllmidtVOll Rheill in Alternativkommentar § 712 Rnr. 4 davon aus, daß im Zweifel zugunsten des Schuldners zu entscheiden sei, weil der Nachteil, der ihm durch die Vollstreckung entstehe, nur schwerer wiedergutgemacht werden könne als ein Nachteil des Gläubigers. Seine Begründung ist aber insofern nicht schlüssig, als im Präzedenzfall, daß beiden Parteien ein irreparabler Schaden droht, weder auf der einen noch auf der anderen Seite etwas wiedergutgemacht werden kann. Im übrigen stellt er sich ausdrücklich gegen die Motive des Gesetzgebers von 1977 in BT-Drucks. 7/2729 S. 45,109. 40 Balmlbacll/Lallterbacll/Hartmallll § 7125. 41 OLG Celle, Beschluß vom 22.12.1986. 9 U 232/86. 42 Altematil'kommelllar/Scllmidt-I'oll Rlleill § 712 Rdnr. 4; Ballmbach/Lallterbach/Hartmallll § 712 5; SteilljJonas/Miinzberg § 712 Rdnr. 9. 43 SteinjJonas/Miinzberg § 710 Rdnr. 4 ff; § 707 Rdnr. 10 ff; § 712 Rdnr. 9; PlIcllelt S. 489.

IV. Die Interessenabwägung

179

6. Kritische Würdigung der Gesetzesnovelle von 1977 Sicherlich mag die seit 1977 zum Ausdruck kommende Verstärkung der Stellung des Gläubigers grundsätzlich eine richtige politische Entscheidung gewesen sein. Nicht nur, daß die unterlegene Partei zuvor in nicht wenigen Fällen aus taktischen Überlegungen ein Rechtsmittel eingelegt hat, um den Abschluß eines Rechtsstreits zu verzögern; auch die in der Vergangenheit vermehrt aufgenommenen Schuldnerschutzbestimmungen, man denke an § 765a oder §§ 721, 794a ZPO, schienen eine Akzentsetzung zugunsten des Gläubigers notwendig zu machen. Es fragt sich aber, ob der Gesetzgeber nicht insofern über sein Ziel hinausgeschossen ist, als er eine Regelung getroffen hat, die pauschal für alle Prozeßarten, insbesondere die in § 708 ZPO aufgeführten, gilt, und die nicht auf den Eigentümlichkeiten der einzelnen Verfahrenstypen aufbaut.

a) Die olme SicherlzeitsleistulJg vorläufig vollstreckbaren Urteile Den in § 708 ZPO aufgeführten Urteilen liegen Besonderheiten zu Grunde, die nicht nur eine Durchsetzung vor Rechtskraft, sondern auch ohne Sicherheitsleistung erlauben. Versäumnis-, Anerkenntnis- und Verzichtsurteil beruhen auf Nachlässigkeit bzw. freiwilligem Verhalten und entsprechen somit der aus Dispositions- und Verhandlungsgrundsatz resultierenden Parteienverantwortung44. Die vorläufige Vollstreckbarkeit ohne Sicherheitsleistung der in § 708 Nr. 6 ZPO genannten Urteile ist im Zusammenhang mit dem vorläufigen Rechtsschutz (§ 925 ZPO) zu sehen, während § 708 Nr. 7 ZPO ein besonderer Streitgegenstand zugrunde liegt. Die bei verbotener Eigenmacht in Betracht kommende Besitzklage ist unter weitgehender Abschneidung von Einwendungen nach § 863 BGB auf eine rasche

44 Anerkenntnis und Venicht führen dazu, daß ein ursprünglich zu entscheidender Streit nicht mehr vorliegt ;im Interesse einer Prozeßbeschleunigung soll das Risiko einer Säumnis erhöht werden; die säumige Partei werde zunächst so behandelt, als wolle sie nicht streiten oder als habe sie ihren Rechtsschutz verwirkt, vgl. Henclcel S. 42, 46. § 708 Nr. 3 ZPO beruht auf der Erwägung, daß es sich bei diesen Urteilen nur noch um die Vollstreckung der Kosten handelt; nach Rosenberg/GauljSchilken § 14 11 1 sei bei den Nr. 1 - 3 des § 708 ZPO maßgebend der Gedanke, daß der Unterlegene das Urteil selbst veranlaßt habe.

180

G. Die Einstellungsvorschriften der H 707, 712, 719 ZPO

Wiederherstellung des Rechtsfriedens gerichtert5. § 708 Nr. 10 und 11 ZPO beruhen schließlich auf prozeßwirtschaftlichen Überlegungen46•

b) Vollstreckbarkeit des Vorbehaltsurteils ohne Leistung einer Sicherheit Bei den angeführten Urteilen hat die Vollstreckbarkeit ohne Sicherheitsleistung durchaus ihren Sinn. Gleiches müßte für die in § 708 Nr. 4,5 ZPO genannten besonderen Prozeßarten zutreffen, zumal es dem Zweck der gesetzlichen Verfahrens- und Entscheidungsgliederung in §§ 592 ff. ZPO widersprechen würde, könnte die Vollstreckbarkeit des Vorbehaltsurteils bis zum Ende des Nachverfahrens hinausgezögert werden. Zur Aufnahme dieser summarischen Verfahren schreibt der Gesetzgeber von 1977, daß "die unbedingte vorläufige Vollstreckbarkeit der Urteile im Urkunden-, Wechsel- und Scheckprozeß dem Gläubiger eine rasche Durchsetzung verbriefter Ansprüche ermöglichen so1l0047. Nach den Motiven zur CPO von 1877 wurde die Vollstreckbarkeit der Vorbehaltsurteile durch den Zweck des Verfahrens bedingt48 . Die Berechtigung des Schuldners, bei Einlegung der Berufung oder Anstrengung des Nachverfahrens den Forderungsbetrag zu hinterlegen oder Sicherheit zu verlangen, widerspreche diesem Zweck, weil sie die volle Verfügung des Gläubigers über den Schuldbetrag ausschließe49•

4S AltemativkommentarjSchmidt-von Rhein § 708 Rdnr. 10; BT-Drucks. 7/2729 S. 106; ähnlich auch § 708 Nr. 8 ZPO, wonach nur auf diese Weise der Zweck der den Streitgegenstand bildenden Verpflichtung erreicht werden kann, so S. 428 des 1. Entwurfs; S. 518 des 2. Entwurfs; in den Fällen der Nr. 7 - 9 ist die Abhilfebedürftigkeit ausschlaggebend, Rosenbergj GauljSchilken § 14 11 1 (g, h, i). 46 § 708 Nr. 10 ZPO soll den BGH von Revisionen entlasten, die nur eingelegt werden, um Zeit zu gewinnen. Bei § 708 Nr. 11 ZPO droht wegen der Geringfügigkeit kein unersetzbarer Schaden; ThomasjPutzo § 708 2 k. 47 BT-Drucks. 7/2729 S. 106. 48 Mot. I S. 428; Mot. 11 S. 518; Mot. III S. 428; auch schon Art. 549 der Prozeßordnung in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten für das Königreich Bayern von 1869; Art. 86S der Civilprozeßordnung für das Königreich Württemberg von 1868; § 48S der Allgemeinen bürgerlichen Proceßordnung für das Königreich Hannover von 1850; Art. 135 des code de procedure. 49 Vgl. auch Förster S. 347; RosenbergjGauljSchilken § 14 11 1 (d) spricht außerdem von der Eilbedürftigkeit, die auch in den Fällen des Urkundenprozesses den Ausschlag gebe.

IV. Die Interessenabwägung

181

Der gemeinrechtliche Executivprozeß aber hatte damals einen anderen Sinn als das heutige UrkundenverfahrenSo. Während sich der Beklagte in jenem durch Mitwirkung an der Erstellung der den streitigen Anspruch verkörpernden Urkunde freiwillig mit einer vorzeitigen Durchsetzung bei Abkürzung des Erkenntnisverfahrens einverstanden erklärte, liegt in diesem die Besonderheit nur noch in der Beschränkung der Beweismittel. Zunächst verlangte der Zweck des Verfahrens tatsächlich eine beschleunigte Vollstreckung, was auch in den Motiven von 1877 zum Ausdruck kommt. Es drängt sich aber der Verdacht auf, daß diese Ansicht bis in die heutige Zeit übernommen wurde, obwohl der Charakter der summarischen Prozeßart längst ein ganz anderer geworden war. Das lassen auch die Materialien zur letzten Gesetzesnovelle erahnen, wenn sie von "verbrieften Ansprüchen" sprechen51 • Wesensmerkmal verbriefter Ansprüche ist doch gerade, daß der Schuldner seine Unterschrift unter ein Papier setzt, damit der Gläubiger die Forderung schneller und sicherer realisieren kann. c) Verbriefung bei Scheck und Wechsel

Interessanterweise schien man sich bei Wechsel- und Scheckvorbehaltsurteil an die urkundliche Verkörperung des Anspruchs zu erinnern52 • In den vor Inkrafttreten der Gesetzesnovelle von 1977 ergangenen Entscheidungen ging es zwar unmittelbar um das nunmehr gelöste Problem, ob die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung aus einem Wechsel- oder Scheckvorbehaltsurteil in entsprechender Anwendung der §§ 707, 719, 769 ZPO a.F. zulässig war. Mittelbar, und das ist heute im Rahmen der nach §§ 707 Abs. 1 S.2 ZPO n.F. vorzunehmenden Interessenabwägung genauso von Bedeutung, war das Schutzbedürfnis des Beklagten im Urkundenprozeß angesprochen. Insbesondere in Wechsel- und Schecksachen habe der Gesetzgeber dem Interesse des Wertpapierinhabers, möglichst bald und unter bewußter Beschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten des Beklagten wegen des in der Urkunde verbrieften Anspruchs53 vollstrecken zu können, im weiten Umfang, und nicht nur durch die Möglichkeit, ein Vorbehaltsurteil zu erwirken,

SOc. 51 BT-Drucks. 7/2729 S. 106. 520LG Zweibrücken NJW 1968, 112; OLG Celle MDR 1969, 60; OLG Bremen NJW 1969, 1260; KG MDR 1973, 57; OLG Ramm MDR 1975,850; Stein/lonas/Schlosser § 599 Rdnr.6; Stein/Jonas/Münzberg § 707 Rdnr. 6. 53 Daran mag der Gesetzgeber von 1977 gedacht haben, BT-Drucks. 7/2729 S. 106.

182

G. Die Einstellungsvorschriften der §§ 707, 712, 719 ZPO

Rechnung getragen54 • Der Wechsel verbriefe den Anspruch in einer Weise, die es dem Gläubiger ermögliche, besonders leicht und schnell zu seinem Geld zu kommen. Würde die Zwangsvollstreckung aus einem solchen Vorbehaltsurteil nachträglich bis zum Abschluß des Nachverfahrens suspendiert werden, wären Sinn und Zweck des summarischen Verfahrens weitgehend aufgehoben, vor allem die Trennung des beschleunigten Teils bis zum Vorbehaltsurteil vom Nachverfahren55. Neben der Verbriefung wird auf die Funktion des Wechsels im Wirtschaftsleben, insbesondere im Zahlungs- und Kreditverkehr abgestellt. Im allgemeinen Interesse des Wechsel- und Scheckkredits sei bei der Abwägung der Belange von Gläubiger und Schuldner ein strenger Maßstab anzulegen56 . "Das weiß regelmäßig jeder, der eine Wechselverbindlichkeit eingeht,,57.

d) Übertragung auf den gewöhnlichen Urlamdenprozeß Ein im Vergleich zum ordentlichen Zivilprozeß schnellerer Vollstrekkungszugriff ohne Sicherheitsleistung wird dann gerechtfertigt sein, wenn der Anspruch urkundlich verkörpert ist. Dies dürfte nicht nur auf die eben erörterten besonderen Prozeßarten, sondern auch auf den Urkundenprozeß zutreffen, soweit die beizutreibende Forderung wie z.B. in §§ 780, 781, 783 Cf., 793 ff. BGB, 363 HGB oder sonst als Wertpapier verbrieft ist. Von einem "verbrieften Anspruch" im Sinne des Gesetzgebers von 1977 kann aber nicht mehr ausgegangen werden, wenn mindestens ein anspruchsbegründendes Tatbestandsmerkmal wegen Unstreitigkeit nicht urkundlich 54 OLG Celle MDR 1969, 60. ss OLG Bremen NJW 1969,1260. 56 OLG Celle MDR 1969, 60; OLG Bremen NJW 1969, 1260; OLG Hamm MDR 1975, 850; SteinfJonas/Schiosser § 599 Rdnr. 6; Stein/Jonas/Münzberg § 707 Rdnr. 6; selbst die Ansicht, die § 707 ZPO a.F. auf das Vorbehaltsurteil analog anwenden wollte, kam zum Ergebnis, daß für die Einstellung trotz ·unabweisbaren praktischen Bedürfnisses· ein strenger Maßstab anzulegen sei; vgI. OLG Karlsruhe MDR 1969, 931; auf die wirtschaftliche Relevanz des Wechselprozesses wird bereits auf S. 454 des 2. Entwurfs hingewiesen; danach sei bei der Ausdehnung des Wechselverkehrs die völlige Beseitigung des Wechselprozesses - eine bloße Spezies des Urkundenprozesses - untunlich. "Nachdem der Werth des Wechsels durch Abschaffung der Personalexecution beschnitten, würde ihn die Zulassung der gewöhnlichen prozessualen Vertheidigung des Beklagten ...seiner praktischen Bedeutung berauben"; C. VI. 2. 57 OLG Bremen NJW 1969, 1260.

V. Die Erfolgsprognose

183

belegt ist, sieht man einmal von den offenkundigen Tatsachen aty58; ebenso, wenn der Beklagte an der Erstellung der Urkunde mittels Unterschriftsleistung nicht beteiligt war, weil er nur so seinen Willen, eine vorzeitige Durchsetzung zuzulassen, bekunden kann-S9• Dem Gesetzgeber von 1977 ist deshalb der Vorwurf zu machen, daß er bei der vorläufigen Vollstreckbarkeit des Vorbehaltsurteils nicht danach differenziert hat, wie der gem. §§ 599 Abs. 3, 704 Abs. 1, 708 Nr. 4, 5 ZPO vollstreckbare Titel zustande gekommen ist. Dies gilt um so mehr, als im Entwurf ein Hauptargument für den besseren Rechtsschutz des Gläubigers die bereits im ersten Rechtszug angestrebte, möglichst erschöpfende Behandlung des Streitstoffs war60• Dagegen geht dem Vorbehaltsurteil gerade keine vollständige Streitverhandlung voraus. Statt den Rechtsschutz pauschal für alle vorläufig vollstreckbaren Urteile zugunsten des Gläubigers zu erleichtern, wäre es besser gewesen, nach dem Zustandekommen der einzelnen Titel zu differenzieren.

V. Die Erfolgsprognose61 Zweck der Vereinfachungsnovelle war es unter anderem, einer Prozeßverschleppung durch Einlegung aussichtsloser Rechtsmittel vorzubeugen62• Für die Prüfung eines Einstellungsantrags ist deshalb weiterhin die Erfolgsaussicht des Rechtsbehelfs63 maßgebend, insbesondere wenn sie wegen SB

D. III. 3.

Dagegen wird es keinen Unterschied machen, ob sich eine Tatsache unmittelbar oder mittelbar aus der Urkunde ergibt, weil die Wahrheitsfindung der freien richterlichen Beweiswürdigung nach § 286 ZPO unterliegt; in der Praxis dürfte die zweite Variante jedoch äußerst selten sein. 60 BT-Drucks. 7/2729 S. 44. 61 Zur Berücksichtigung der Erfolgsaussichten im Rahmen einer Entscheidung nach §§ 707, 719, 712 ZPO vgl. BGHZ 8, 47 (49); OLG Frankfurt NJW 1957, 594 (595); BAG NJW 1m, Ins; OLG Köln MDR 1975, 850; OLG Koblenz WM 1981,545; OLG Köln NJW-RR 1987, 189 (190); OLG Düsseldorf MDR 1987, 415; OLG Celle MDR 1987, 505; OLG Bamberg NJW-RR 1989, 576; BroxjWalker Rdnr. 179; Dütz DB 1980, 1069 (1070, 1073); Dunkl/Moeller/ Baur/FeldmeierjWetekamp J Rdnr. 6 ff.; Kiene GRUR 1982, 471 (472); Leipold SAE 1973, 217 (218 f.); Schneider MDR 1973, 356 (358). 62 BT-Drucks. 7/2729 S. 44; DlInkl/Moeller/BaurjFeldmeierjWetekamp J Rdnr. 6. 63 Wann ausnahmsweise auf die Erfolgsaussicht des Rechtsmittels und der Klage abzustellen ist, Leipold SAE 1973, 217 (219). 59

184

G. Die Einstellungsvorschriften der §§ 707, 712, 719 ZPO

Vorliegens von Rechtsbehelfsschrift und Erwiderung schon eher abzuschätzen ist64 • Im einzelnen wird verlangt, daß Rechtsbehelf bzw. Rechtsmittel zulässig sind; bei Unzulässigkeit des Hauptantrags ist auch der Vollstreckungsschutzantrag abzuweisen6S • Darüber hinaus ist summarisch zu untersuchen, ob der Hauptantrag in der Sache selbst Erfolg verspricht66 . Um jedoch einer faktischen Präjudizierung des Urteils vorzubeugen, ist die Begründetheitsprüfung auf eindeutige, offensichtliche Fälle zu beschränken67. Andererseits soll der Schuldner vor der Gefahr einer ungerechtfertigten Zwangsvollstreckung geschützt werden. Soweit deshalb der Hauptantrag in der Sache nur möglicherweise Erfolg zu versprechen scheint, drohen nach wie vor rechtswidrige Erzwingungsakte; z.B. wenn zwecks Beurteilung der Sach- und Rechtslage Beweise zu erheben sind, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Einstellungsantrag noch nicht vorliegen. Allein dieser Unwägbarkeit wegen kann das Gesuch noch nicht abgelehnt werden68• Stellt der Schuldner einen Antrag nach § 712 Abs. 1 S. 2 ZPO, sind die sachlichen Erfolgsaussichten gem. § 713 ZPO überhaupt nicht zu würdi-

OLG Köln NJW-RR 1987, 189. BOHZ 8, 47 (49); Diitz OB 1980, 1069 (1073); Dlillkl/Moeller/Balir/FeldmeierjWetekamp J Rdnr. 8; Zöller/Sc/meidt7/Herget § 707 Rdnr. 9; Sc/meider MDR 1973, 356 (358) möchte immer die Rechtsbehelfsbegründung abwarten. 66 Nicht weiter verfolgt werden kann die Frage, aus welchen Bestandteilen sich die Erfolgsprognose im einzelnen zusammensetzt. So wird neben der objektiven Richtigkeit der angefOChtenen Entscheidung sicherlich eine Rolle spielen, inwieweit eine Partei subjektiv in der Lage ist, Beweismittel anzubringen. Beim Urkundenprozeß kann dies für den Ausgang des Nachverfahrens durchaus bedeutsam sein. Zudem wird die Beweislastverteilung zu berücksichtigen sein. 67 Dütz OB 1980, 1069 (1070,1073); DUllkl/Moeller/Baur/FeldmeierjWetekamp J Rdnr. 8; Altemativkammelllar/Schmidt-voll Rhein § 707 Rdnr. 5; Baumbach/Lauterbach/Hartmann § 707 2 F; SteilljJollas/Müllzberg § 707 Rdnr. 5; Tlwmas/Putzo § 7074 c; Zöller/Schneider/ Herget § 707 Rdnr. 9; § 719 Rdnr. 5. 68 Aitemativkommelllar/Schmidt-voll Rheill § 707 Rdnr. 5; Ballmbach/Lalllerbach/Hartmann § 707 2 F möchte mit Verweis auf OLG Celle NJW-RR 87, 190 (gemeint ist wohl S. 189) auch bei der Erfolgsprognose im Zweifel den Gläubiger bevorzugen. Das erschc.lnt unlogisch. Denn wenn die Prüfung der Begründetheit des Rechtsmittels auf eindeutige Fälle beschränkt ist, muß in Zweifelsfallen vornehmlich auf eine Interessenabwägung abgestellt werden. Nur hier kann deshalb der Gläubiger bevorzugt werden. 64

6S

VI. Verhältnis von Interessenabwägung und Erfolgsaussicht

185

gen69• Hintergrund ist dabei die Überlegung, die Aufgabe des Instanzgerichts zur Beurteilung der Rechtsmittelaussichten sachgerecht auf die Frage der voraussichtlichen Zulässigkeit zu beschränken, was auf Rechtsmittelgerichte nicht zutriffeo. Außerdem ist ein Rechtsmittel noch nicht eingelegt. Schwer absehbar wird der mögliche Ausgang der BegründetheitspfÜfung im Nachverfahren sein. Gerade weil der Urkundenprozeß von Gesetzes wegen eine Beweismittelbeschränkung vorschreibt, kann der entscheidende Richter die mögliche Weiterentwicklung des Prozesses nur erahnen, weil er nicht weiß, welche Beweismittel der Beklagte später vorlegt 71. Die Erfolgsprognose allein wird deshalb in aller Regel nicht zu einer negativen oder positiven Bescheidung des Vollstreckungsschutzantrages führen72 •

VI. Verhältnis von Interessenabwägung und Erfolgsaussicht Da die (sachliche) Erfolgsaussicht nur eines von mehreren Prüfungskriterien ist, fragt sich, welches Gewicht ihr im Nachverfahren zukommt. Mit Leipold73 wird man, um eine faktische Vorwegnahme des Urteils in der Hauptsache zu vermeiden, differenzieren müssen. In den Fällen, in denen - nach dem Kenntnisstand zum Zeitpunkt der Verhandlung über den Vollstreckungsschutzantrag - die Erfolgsaussichten des Hauptbegehrens eindeutig aussichtslos oder klar begründet sind, werden hauptsächlich sie zu berücksichtigen sein (sog. vorausprüfende oder materiell-akzessorische Eilentscheidung) . (J) Bevor im Jahre 1924 § 713a ZPO, der dem heutigen § 713 ZPO entspricht, eingeführt wurde (dazu SteinIJonas, 15. Aufl., § 713a), schien man im Gegensatz zu den §§ 707, 719 ZPO eine Prüfung der voraussichtlichen Zulässigkeit und Begründetheit gänzlich abzulehnen. So schreibt Förster S. 353 zu § 651 epo (= § 712 ZPD), der Umstand, ob der Schuldner das Urteil anfechte und ob die materielle Rechtslage Aussicht auf Abänderung des Urteils biete oder nicht, sei für die Entscheidung aus § 651 ePD gleichgültig. 70 Rosenberg/Gaul/Schilken § 14 III 2 c; Stein/Jonas/Münzberg § 719 Rdnr. 17. 71 Ähnlich Leipold SAE 1973, 217 (218), der davon ausgeht, daß sich die Erfolgsaussichten bei der Entscheidung über einstweilige Maßnahmen in der Regel nicht klar abschätzen lassen. 72 Da nach Zöller/Schneider/Herget § 719 Rdnr. 3 eine Beweisantizipation im Rahmen des Vollstreckungsschutzantrages möglich ist, könne eine Einstellung abgelehnt werden, wenn die angebotenen Beweise bei der gegebenen Sach- und Rechtslage unter Berücksichtigung der Beweislastverteilung aussichtslos erschienen, z.B. wenn der vom Beklagten angeführte Zeugenbeweis nur einen unwesentlichen Nebenpunkt betreffe. '13 Leipold SAE 1973, 217 (218 f.).

186

G. Die Einstellungsvorschriften der §§ 707, 712, 719 ZPO

Soweit ein Rechtsmittelerfolg nur möglich ist bzw. wahrscheinlich erscheint, wird die Abwägung der Belange von Gläubiger und Schuldner ausschlaggebend sein (sog. offene, interessenabwägende Eilentscheidung). Hier werden kumulativ Erfolgsprognose und Interessenabwägung berücksichtigt 74• Diese Gedanken wird man dahingehend ergänzen können, daß die Erfolgsprognose der Haupsacheentscheidung stets auf die Gewichtung wirtschaftlicher Belange bei einer Interessenabwägung einwirkt. Je höher bzw. eindeutiger deshalb die Aussichten eines Rechtsmittels sind, umso geringer werden die Interessen des Gläubigers anzusetzen sein, wobei der Übergang fließend ist. Selbst wenn also wegen der unsicheren Beweislage von einem möglichen Obsiegen des Beklagten im Nachverfahren auszugehen ist, müßte zudem eine Interessenabwägung zu seinen Gunsten erfolgen. Drohen beiden Kontrahenden irreparable Schäden, wird spätestens seit 1977 von einem überwiegenden Interesse des Gläubigers auszugehen und letztendlich der Vollstreckungsschutzantrag abzulehnen sein.

VII. Grundrechtsbetroffenheit als weiteres Einstellungskriterium? Für den Beklagten in einem Urkundenprozeß kann das Ergebnis nur unbefriedigend sein. Eine Vollstreckung, betrachtet als Eingriff in fremdes Vermögen, ist nicht allein durch den bereits vorliegenden Titel gerechtfertigt, wenn ein Nachverfahren durchgeführt werden soll, und zuvor das Recht auf Beweis abgeschnitten wurde. Wegen der Gefahr, ohne eine Vollstrekkungsvoraussetzung endgültig und unkorrigierbar in Grundrechtspositionen des Schuldners rechtswidrig einzugreifen, müssen im Vollstreckungsverfahren verfassungsrechtliche Grundsätze beachtet werden75 • Um unzulässige Grundrechtsbeeinträchtigungen auf seiten des Schuldners zu verhindern, kann es sogar geboten sein, die Realisierung eines rechtskräftigen Urteils zeitweise aufzuschieben76. 74 Aa.O. 75 Dütz

S. 218.

OB 1980, 1069 (1070) mit VelWeis auf BVerfGE 42, 64 (73); 46, 325 (333); 49, 220

(225); BVerfG NJW 1979,2607; Müssig ZZP 98, 324 (330 Fn. 29); nach Waldller Rdnr. 41 ff., 380 muß die tatsächlich bestehende Gefahr einer endgültigen Versagung rechtlichen Gehörs durch entsprechende Auslegung der zivilprozessualen Vorschriften verhindert werden. 76 Dütz

OB 1980, 1069 (1071).

VIII. Lösungsvorschlag

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Der Richter wird deshalb nicht umhinkommen, das Zustandekommen eines vollstreckbaren Titels zu würdigen. So macht es einen Unterschied, obwie bei der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bzw. der Wiederaufnahme des Verfahrens - ein mit allen rechtsstaatlichen Mitteln ausgerüstetes Verfahren stattgefunden hat oder nicht77• Bei der vorläufigen Einstellung der Zwangsvollstreckung aus einem Vorbehaltsurteil ist nicht nur eine beiderseitige Anhörung unentbehrlich78; wichtiger noch ist die Berücksichtigung der zuvor im Erkenntnisverfahren lediglich eingeschränkten Gewährung rechtlichen Gehörs79. Weiter wird für die Grundrechtsbetroffenheit von Bedeutung sein, ob der Beklagte im Urkundenprozeß bei der Erstellung der Beweisurkunde mitgewirkt und entsprechend auf sein Recht auf Beweis eingeschränkt verzichtet hat. VIII. Lösungsvorschlag Neben der Interessenabwägung und einer Erfolgsprognose ist auch die sogenannte Grundrechtsbetroffenheit Einstellungskriterium. Sie wird immer zu bejahen sein, wenn vor Erlaß eines vollstreckbaren Titels gegen verfassungsrechtlich geschützte Verfahrensgrundsätze verstoßen wurde. Aufgabe des über den Einstellungsantrag entscheidenden Richters wird es deshalb sein, den bisherigen Prozeßveriauf dahingehend zu untersuchenso. 77 In anderem Zusammenhang beklagt Schneider MDR 1973, 356 (357) die oft vorschnelle, formularmäßige Einstellung nach §§ 707, 719 ZPO ohne Anhörung des Gegners und weist damit auf die Bedeutung des Art. 103 Abs. 1 GG sowie der verfassungskonformen Auslegung im Vollstreckungsverfahren hin. Er fragt sich, ob nicht eine einstweilige Einstellung bis zur Äußerung des Gegners hinreichend ist. Ebenso wie über eine verfassungskonforme Auslegung der §§ 707 Abs. 2 S. 1,719 Abs. 3 ZPO eine Anhörung des Vollstreckungsgläubigers in Erwägung zu ziehen ist, muß aber zu Gunsten des vermeintlichen Schuldners bei der Einstellungsentscheidung berüCksiChtigt werden, ob ihm im vorangegangenen Erkenntnisverfahren ausreichend rechtliches Gehör gewährt worden ist. 78 Schneider MDR 1973, 356 (357); Waldner Rdnr. 336; BaumbachjLauterbach/Hartmann §7073A. 79 Ähnliches ist bei § 921 Abs. 2 S. 2 ZPO anerkannt. Dem Antragsgegner darf kein unersetzbarer Nachteil dadurch entstehen, daß er vor Erlaß einer Entscheidung nicht gehört wurde. Wenn sich deshalb der Arrest unter Umständen im nachhinein als falsch herausstellt, und ein Schaden für den Antragsgegner entstehen kann, besteht hinsichtlich der Anordnung einer SicherheitSleistung kein Ermessen; Schwab/Gottwald S. 54 f. 80 Henclcel S. 44 ff. gelangt zu einem ähnlichen Ergebnis, wenn auch mit anderer Begründung. Er untersucht am Beispiel des § 708 Nr.3 (a.F.) ZPO den Prozeßzweck als Wertmaß-

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G. Die Einstellungsvorschriften der §§ 707, 712, 719 ZPO

Soweit ein irreparabler Nachteil droht, liegt eine Verletzung vor, wenn der Beklagte eines Urkundenprozesses nicht mindestens in einer Urkunde zu erkennen gegeben hat, sich freiwillig mit einem vorzeitigen Eingriff in sein Vermögen einverstanden zu erklären81 • Hat er dies wie z.B. bei Unterzeichnung eines Wechsels, Schecks oder abstrakten Schuldversprechens getan, liegt eine Grundrechtsbetroffenheit nicht vor, weil er konkludent bis zum Eintritt in das Nachverfahren auf sein Recht auf Beweis verzichtet hatB2. Klärungsbedürftig ist darüberhinaus die Reihenfolge der zu prüfenden Einstellungskriterien. Was hat beispielsweise zu geschehen, wenn die wirtschaftlichen Interessen des Gläubigers überwiegen, der Vollstreckungstitel jedoch unter Verletzung des Grundgesetzes ergangen ist? Im einzelnen wird zunächst die Frage der Grundrechtsbetroffenheit zu untersuchen sein. Ist sie positiv zu bescheiden, muß dem Einstellungsantrag stattgegeben werden, ohne daß es einer Untersuchung der beiden weiteren Kriterien bedarf. Erst wenn das Zustandekommen des vollstreckbaren Titels

stab beim Versäumnisverfahren. Die teleologische Interpretation einer Norm des Prozeßrechts setze voraus, daß ihr Zweck aus dem Sinnzusammenhang bestimmt werde. Es zeige sich, daß die Auslegung jeder Norm der ZPO mit dem Zweck, den der Zivilprozeß zu erfüllen habe, in Einklang gebracht werden müsse. Dies führt Henckel dazu, die Zwangsvollstreckung aus einem Versäumnisurteil nach §§ 707, 719 ZPO einzustellen, wenn dem Beklagten die Säumnis nicht zugerechnet werden könne, nicht aber, wenn er sie verschuldet habe. Da jedoch für die Zulässigkeit eines Einspruchs nach §§ 338, 341 Abs. 1 ZPO das Verschulden der Säumnis keine Tatbestandsvoraussetzung und insofern für die im Rahmen der Vollstreckungsschutzvorschriften zu prüfende Erfolgsprognose ohne Bedeutung ist, muß auch nach Henckel der Verlauf des bisherigen Verfahrens, und um nichts anderes geht es hier, besonders berüCksichtigt werden. Auch wenn er beim Prozeßzweck als Prüfungsmaßstab ansetzt, sind es letztendlich die verfassungsrechtlich geschützten Verfahrensgrundrechte, die dem Beklagten genommen werden. Nach Zöller/Schneider/Herget § 712 Rdnr. 2 soll der bisherige Verlauf des Verfahrens erheblich sein. 81 Wenn dagegen mindestens ein Merkmal des anspruchsbegründenden Tatbestandes wegen mangelnder Beweisbedürftigkeit nicht urkundlich belegt wurde, darf bereits kein Vorbehaltsurteil ergehen. Die Klage wäre gem. § 597 Abs. 2 ZPO abzuweisen; vgI. dazu D. 82 B. VII. 8.; beim vorläufigen Rechtsschutz fehlt es an einer Grundrechtsbetroffenheit wegen der Eilbedürftigkeit, die ihrerseits durch Art. 14 GG bzw. dem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz verfassungsrechtlich abgesichert ist, so Habscheid ZZP 96, 306 (314 f.); ebenso beim Versäumnisurteil, weil der Schuldner von seinem Anspruch auf rechtliches Gehör tatsächlich keinen Gebrauch gemacht hat.

VIII. Lösungsvorschlag

189

rechtsstaatlichen Grundsätzen genügt, kommt der Richter zur Prüfung der Erfolgsprognose sowie einer InteressenabwägungB3. Für den ersten Ausgangsfall84 würde das bedeuten, daß trotz eventuellen Überwiegens der Gläubigerinteressen die Zwangsvollstreckung aus dem Vorbehaltsurteil gem. § 707 Abs. 1 S. 2 ZPO einzustellen wäre. Auch wenn der Schuldner seine Unterschrift unter den nunmehr vom Gläubiger im Urkundenprozeß vorgelegten Kaufvertrag gesetzt haben mag, wollte er damit nicht im beschriebenen Umfang auf sein Gehör verzichten. Anders stellt sich die Situation in Fall 2 dar. Mit Abgabe der Schuldanerkenntniserklärung gem. § 781 BGB nahm der Beklagte zumindest stillschweigend in Kauf, das Konkursrisiko bis zum Abschluß des Nachverfahrens zu übernehmen, so daß es an einer Grundrechtsbetroffenheit fehlt. Bei Überwiegen der Belange des Gläubigers wäre hier deshalb der Antrag auf Einstellung der Zwangsvollstreckung abzuweisen gewesen. Als gesetzlicher Anhaltspunkt bietet sich eine Analogie zu § 719 Abs. 1 S. 2 2. Hs. 1Alt ZPO an. Auch wenn darin nur ein Spezialfall, nämlich das nicht in gesetzlicher Weise ergangene Versäumnisurteil geregelt ist, enthält der Halbsatz doch einen allgemeinen Rechtsgedanken. Der Schutz des Schuldners hat dann vorzugehen, wenn der Vollstreckungstitel unter Verletzung gesetzlicher Vorschriften ergangen ist85 . Nicht in "gesetzlicher Weise ergangen" ist er analog § 719 Abs. 1 S. 2 2. Hs. 1Alt ZPO auch dann, wenn zwar die einfachgesetzlichen Regelungen (hier §§ 592 ff. ZPO) eingehalten, nicht jedoch die verfassungsrechtlich garantierten Prozeßgrundrechte beachtet worden sind86• 83 Ebenso könnte der Bezug zur Verfassung über die Abwägung der wirtschaftlichen Auswirkungen bei Gläubiger und Schuldner hergestellt werden. Ein Interesse auf Seiten des Gläubigers würde dann nur überwiegen, wenn es gleichzeitig rechtlich schützenswert ist, also vor der Verfassung Bestand hat. Ansonsten müßte es dem Schuldner gegenüber zurücktreten, selbst wenn die wirtschaftlichen Auswirkungen den Gläubiger härter träfen. In diese Richtung scheint auch Müssig ZZJ? 98, 324 (329 f.) zu tendieren, wenn er von schützenswerten Gläubigerinteressen spricht. Selbst wenn ein Interesse des Gläubigers an einer schnellen Zwangsvollstreckung vorliegen sollte, müsse gern. § 719 Abs. 1 S. 2 2. Us. ZPO eingestellt werden, weil der Schuldner mit einern fehlerhaft ergangenen Versäumnisurteil bzw. Vollstreckungsbescheid nicht rechnen dürfe. 84 Vgl. Einleitung. 8S Aus § 700 Abs. 1 ZPO ergibt sich die Anwendbarkeit des § 719 Abs. 1 S. 2 2. Us. lA1t. ZPO auch auf den Vollstreckungsbescheid; Müssig ZZP 98,324 (330); Stein/Jonas/Münzberg § 719 Rdnr. 4. 86 Siehe E. I.

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G. Die Einstellungsvorschriften der §§ 707, 712, 719 ZPO

IX. Unterschiedliche Behandlung von § 719 und § 707 ZPO Legt der Beklagte gegen das Vorbehaltsurteil aus dem Urkundenprozeß gem. §§ 599 Abs. 3, 511 ff. ZPO Berufung ein, kommt eine Einstellung der Zwangsvollstreckung nach § 719 Abs. 1 S. 1 ZPO in Betracht. Verfolgt er dagegen gem. §§ 599 Abs. 1, 600 Abs. 1 ZPO das Nachverfahren weiter, wäre der Vollstreckungsschutz nach § 707 Abs. 1 S. 2 ZPO zu beurteilen. Nicht möglich ist dagegen ein Antrag nach § 712 Abs. 1 S. 2 zpoB7•

1. § 719ZPO Ein Begehren nach § 719 Abs. 1 S. 1 ZPO wird negativ zu bescheiden sein. Zwar setzt der Beklagte mit Einlegung der Berufung gegen das Vorbehaltsurteil das Verfahren fort; die Berufungsverhandlung unterliegt jedoch den gleichen Beschränkungen wie in der ersten Instanz. Auch hier sind gem. §§ 592 S. 1,595 Abs. 2, 3, 597 Abs. 2, 598 ZPO nur Urkunden als Beweismittel zugelassen. Ein Schuldner, der sich nicht auf die dem Urkundenprozeß eigentümliche Beweismittelbeschränkung beruft, ist nicht schutzwürdig, soweit die wirtschaftlichen Auswirkungen auf Seiten des Gläubigers überwiegen, weil er von seiner nach Erlaß des Vorbehaltsurteils bestehenden Möglichkeit, sich der anderen Beweismittel zu bedienen, keinen Gebrauch macht. 2. § 707 ZPO Es bleibt deshalb § 707 Abs. 1 S. 2 ZPO. Mit Einleitung des Nachverfahrens verschafft sich der Beklagte Zugang zu weiteren Beweismitteln und somit rechtliches Gehör. Nur hier kann Art. 103 Abs. 1 GG verletzt sein88• Auch wenn Müssig89 die Einstellung der Zwangsvollstreckung ohne Sicherheitsleistung nur unter besonderen Voraussetzungen zulassen will, weil den in § 707 ZPO unmittelbar geregelten Fällen letztlich die Vorstellung ei1fT Siehe

E. 11. wenn der Kläger im Urkundenprozeß sämtliche anspruchsbegründenden Tatsachen mit Urkunden versehen hat, die in der Summe über ihre Beweisfunktion hinaus stillschweigend von Schuldnerseite einen vorzeitigen Vollstreckungszugriff erlauben. IN Müssig ZZP 98,324 (335 f.). 88 Anders,

IX. Unterschiedliche Behandlung von § 719 und § 707 ZPO

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nes bereits eingeleiteten und mit Wissen des Schuldners weitgehend geführten Rechtsstreits zugrunde liege, während das für ein nicht in gesetzlicher Weise ergangenes Versäumnisurteil nicht zutreffe, liegt doch die analoge Anwendung des in § 719 Abs. I S. 2 2.Hs. IAlt. ZPO niedergelegten Gedankens dem gem. § 599 ZPO erlassenen Vorbehaltsurteil wesentlich näher. Beim gesetzwidrigen Versäumnisurteil oder Vollstreckungsbescheid kommt Müssig zum Ergebnis, die Zwangsvollstreckung ohne weitere Erschwernis einstweilen ohne Sicherheitsleistung einzustellen, weil der Schuldner nicht die Möglichkeit gehabt habe, die Verurteilung ohne streitiges Verfahren zu vermeiden90 . Genau das trifft zum Teil auch auf den gesetzmäßigen Urkundenprozeß zu. Hier kann ebenso ein Urteil ergehen, ohne daß der Beklagte zuvor vollständig seinen Einfluß hat ausüben können. Aus verfassungsrechtlicher Sicht gibt es kein rechtlich geschütztes Interesse, welches dem Gläubiger eine bevorzugte Vollstreckung einräumt, soweit der Schuldner sich nicht in mindestens einer Urkunde damit einverstanden erklärt hat. In diesem Fall genügt ein Antrag des Beklagten auf Einstellung der Zwangsvollstreckung, wenn er nachweist, daß eine zwangsweise Durchsetzung zu einem nicht ersetzbaren Schaden führen kann, und er im Nachverfahren andere Beweismittel als Urkunden gebrauchen will.

90

A.a.O. mit Verweis auf LG Düsseldorf MDR 1981, 941.

H. Zusammenfassung und Ausblick Das Ergebnis der Arbeit läßt sich wie folgt thesenartig zusammenfassen: Die gesamte Rechtsordnung ist im Lichte der heutigen Verfassungsinterpretation zu betrachten. Danach sind Grundrechte und grundrechtsgleiche Verfahrensrechte nicht nur subjektive Abwehransprüche einzelner, sondern gleichzeitig Ausdruck einer objektiven Wertordnung, die auch in der Zivilprozeßordnung ihren Niederschlag gefunden hat. Die im Urkundenprozeß geregelte Beschränkung des Beweisrechts bedeutet bei gleichzeitiger Vollstreckbarkeit des Vorbehaltsurteils einen Eingriff in das verfassungsrechtlich gewährleistete Recht auf Gehör. Eine Rechtfertigung läßt sich weder aus einer erhöhten Beweiskraft der Urkunde ableiten noch mit dem mit Schadensersatznormen verbundenen Nachverfahren begründen. Auch die urkundliche Belegung als Zulässigkeitsvoraussetzung kann nicht herangezogen werden, weil nach der Rechtsprechung des BGH Statthaftigkeit und Beweisbedürftigkeit demselben Prüfungsumfang unterliegen. Der als Rechtfertigungsgrund in Betracht kommende eingeschränkte Verzicht auf rechtliches Gehör kann indessen wegen des weiten Urkundenbegriffs nur bei einem Teil der zugelassenen Urkunden unterstellt werden. Die Anspruchsdurchsetzung gern. §§ 599 Abs. 3, 704 Abs. 1, 708 Nr. 4 ZPO wird allzuoft mit der Eilbedürftigkeit in Zusammenhang gebracht. Eine solche ist aber für den Urkundenprozeß nicht notwendig. Läge sie tatsächlich vor, könnte dem Kläger über Arrest oder einstweiliger Verfügung weitergeholfen werden, ohne daß es des Urkundenbeweises bedürfte. Schließlich bleibt die aus der Sicht des Grundgesetzes tragbare Lösung, über die einstweilige Einstellung der vorläufigen Zwangsvollstreckung einen Ausgleich herbeizuführen. Denn die entsprechenden Vorschriften lassen trotz ihres Wortlauts ein Ermessen im Sinne einer Auswahl unter mindestens zwei gleich rechtmäßigen Rechtsfolgeanordnungen nicht zu. Außerdem verlangt die verfassungskonforme Auslegung eine Berücksichtigung der Frage, ob das dem Vollstreckungstitel vorausgegangene Verfahren rechts-

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staatlichen Grundsätzen genügt hat. Deshalb ist auf Antrag des Schuldners ohne Prüfung einer Erfolgsprognose und der gegenseitigen Interessen die Zwangsvollstreckung einzustellen, wenn auf rechtliches Gehör nicht verzichtet wurde, das Nachverfahren angestrengt worden ist, und ein bleibender Nachteil droht. Im Hinblick auf die Rechtsprechung des BVerfG zum Anspruch auf rechtliches Gehör1 können die Bedenken allerdings nicht ganz ausgeräumt werden. Auch wenn die Beweismittelbeschränkung im Urkundenprozeß zu einer Einstellung der Zwangsvollstreckung führt, so geschieht dies erst nach Erlaß des Vorbehaltsurteils. Ist der Betroffene mit dieser Verschiebung nicht einverstanden, und sind auch die Interessen des Gläubigers nicht gefährdet, gibt es keinen Grund, einen schnelleren Zugriff auf das Vermögen des Schuldners zuzulassen, ohne daß zuvor eine vollständige Verhandlung über die Streitsache stattgefunden hat. Unter zivilprozessualen Aspekten erscheint der Ausgleich im Zwangsvollstreckungsrecht nicht gerade als die ideale Lösung. Sinn und Zweck der in den §§ 592 ff. ZPO geregelten Aufteilung in Urkundenprozeß und Nachverfahren besteht darin, dem Kläger durch eine schleunige Zwangsdurchsetzung seines Anspruchs bevorzugten Rechtsschutz zu gewähren. Die Zweiteilung ist aber in bestimmten Fällen überflüssig, wenn ohne weiteres bis zum Abschluß des Nachverfahrens eine Vollstreckung verhindert werden kann. Um dieses Ergebnis zu erreichen, ließe sich erwägen, bereits im Erkenntnisverfahren, nämlich bei der Zulässigkeit des Urkundenprozesses, eine verfassungsgerechte Einschränkung vorzunehmen. Eingedenk der geschichtlichen Entwicklung jener Prozeßart bietet sich in Abkehr von den in den §§ 415 ff. ZPO getroffenen Regelungen die Schaffung eines eigenen Urkundenbegriffes für den Urkundenprozeß an. Diese "qualifizierte Urkunde" hätte sich an den verfassungsrechtlichen Vorgaben sowie deren Verzichtsmöglichkeit zu orientieren. Zum Urkundenprozeß zuzulassen wären deshalb nur solche Beweisurkunden, bei deren Errichtung der Schuldner durch Unterzeichnung mitgewirkt hat2• Darüberhinaus müßte er wenigstens in einer Urkunde mit seiner Unterschrift, wenn nicht ausdrücklich, dann doch konkludent zu erkennen gegeben haben, unter Verlagerung des Konkursrisikos mit einer vorzeitigen Vollstreckung bei 1 BVerfGE

9,89 (98); A. IV. 2. c) dd); VI. 3. a).

2 Zumindest müßte er von der Existenz einzelner Urkunden Kenntnis haben. 13 Hertel

194

H. Zusammenfassung und Ausblick

eingeschränktem Erkenntnisverfahren einverstanden zu sein, soweit sich unmittelbar an den Erlaß des Vorbehaltsurteils das Nachverfahren anschließt. Andere Beweisurkunden, z.B. solche, die allein vom Gläubiger erstellt worden sind, und von denen der Schuldner keine Kenntnis hat, wären dagegen unstatthaft. Auch eine vom Schuldner unterschriebene schriftliche Ausfertigung eines Kaufvertrages wäre kein taugliches Beweismittel; zwar wollte der spätere Beklagte den Vertragsabschluß zu Beweiszwecken abgesichert sehen, nicht aber in der Regel einen vorzeitigen Vollstreckungseingriff in sein Vermögen ermöglichen. Dafür wären besondere Anhaltspunkte von Nöten. Wenngleich damit die Nähe zur vollstreckbaren Urkunde im Sinne des

§ 794 Abs. 1 Nr. 5 ZPO offensichtlich zu Tage treten würde, ist zu berück-

sichtigen, daß beide Institute derselben geschichtlichen Wurzel entsprungen sind. Darüberhinaus würde dieses Konzept dem Urkundenprozeß seinen ursprünglichen, bis zum Erlaß der CPO bestehenden Sinn wiedergeben. Schließlich spricht auch der Gesetzgeber von 1977 davon, die unbedingte vorläufige Vollstreckbarkeit der Urteile im Urkunden-, Wechsel- und Scheckprozeß solle dem Gläubiger eine rasche Durchsetzung "verbriefter Ansprüche" ermöglichen3. Der Weg zu einer entsprechenden Einschränkung des Urkundenbegriffs könnte über eine teleologische Reduktion des § 592 S.l ZPO erfolgen. Man versteht darunter die Zurückführung der im Gesetz enthaltenen, nach ihrem Wortsinn zu weit gefaßten Regel auf den ihr nach dem Regelungszweck oder dem Sinnzusammenhang des Gesetzes zukommenden Anwendungsbereich4• Auch in anderem Zusammenhang ist von den Gerichten jene Auslegungsmethode angewandt worden. So ist nach der Rechtsprechung die Schriftvergleichung (§ 441 ZPO) im Urkundenprozeß trotz des offenen Wortlauts des § 595 Abs. 2 ZPO unzulässig, weil sie entweder Augenscheinoder Sachverständigenbeweis se? Begründet wird dies mit dem überragen-

3

BT-Drucks. 7/2729 S. 106.

Methodenlehre, Systematischer Teil, Kap. Sie). NJW 1991, 1993 (1994 f.) mit VelWeis auf LG Bonn ZIP 1982, 166. Ebensowenig werden schriftlich fIXierte Sachverständigengutachten bzw. Zeugenaussagen für zulässig erach4 Larenz,

S Becht

tet, obwohl der Wortlaut des § 595 Abs. 2 ZPO nicht entgegensteht, und das Ersetzungsverbot

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den Beweiswert der Urkunde und dem besonderen Verfahrenszweck des Urkundenprozesses in Form einer Verfahrensbeschleunigung. Eine teleologische Reduktion in dem hier vorgeschlagenen Umfang dürfte jedoch scheitern, wenn man wie der BGH die Privilegierung des Urkundenprozesses in der besonderen Beweiskraft der Urkunde erblickt6. Auch die vom Gesetzgeber 1877 aufgegriffene Ansicht Brieglebs, wonach das Motiv für die Gewährung des Urkundenprozesses in der Prima-fade-Liquidität des urkundlichen Anspruchs, in der Möglichkeit, den Schuldbrief bereits als einen richterlichen Urteilsbrief anzusehen, liegt, weil der Schuldner sich der summarischen Kognition durch vertragsgemäße Übereinkunft mit dem Gläubiger unterworfen habe7, kann nicht herangezogen werden. Schon damals waren alle Beweisurkunden ohne Einschränkung zum Urkundenprozeß zugelassen. Gegen eine teleologische Einschränkung spricht schließlich das Bestehen zweier Urkundenbegriffe, zum einen die zum Urkundenprozeß zugelassene Urkunde (enger Urkundenbegriff), zum anderen die Beweisurkunde im Sinne der §§ 415 ff. ZPO (weiter Urkundenbegriff). Anders als bei der vollstreckbaren Urkunde gem. § 794 Abs. 1 Nr. 5 ZPO gibt es einen konkreten Anhaltspunkt für eine solche Differenzierung in den §§ 592 ff. ZPO nicht. Was bleibt, ist der Appell an den Gesetzgeber, im Interesse eines verfassungsgerechten Urkundenprozesses den Urkundenbegriff für den anspruchsbegründenden Tatbestand einzuschränken.

des § 250 S. 2 StPO im Zivilprozeß keine Anwendung findet; BGHZ I, 218 (220 f.); BGH WM 1967,367 (369); BGH NJW 1976, 294 (295); Becht NJW 1991, 1993 (1994). 6 BGHZ I, 218 (220); für Privaturkunden gilt das aber nur im Rahmen von § 416 ZPO; zur Beweiskraft vgI. B. V. 7 Vgl. Mot. 11 S. 451; Mot. 111 S. 387. 13"

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Schrameck, Bemhard: Umfang der materiellen Rechtskraft bei Vollstreckungsbescheiden, Frankfurt 1989 (zit.: Schrameck). Schreiber, Klaus: Die Urkunde im Zivilprozeß, Berlin 1982 (1.it.: Schreiber). Schumann, Ekkehard: Die Wahrung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs - Dauerauftrag für das BVerfG?, NJW 1985, 1134 ff.

SChwab/Gottwald: Verfassung und Zivilprozeß, Bielefeld 1984 (zit.: SChwab/Gottwald). Schwabe, Juergen: Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, München 1971 (zit.: Schwabe). Seetzen, Uwe: Die Anhörungsrüge kraft Verfassungsrechts, NJW 1982, 2337 ff. Seetzen/Bralm: Anhörungsrüge oder Wiederaufnahmeklage?, Teil A, NJW 1984, 347 ff. Soerget/Sieben: Bürgerliches Gesetzbuch (mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen), Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz, 12. Aufl. 1988 ff. (zit.: Soergel/Bearbeiter). StatistiscIles Bundesamt Wiesbaden: Fachserie 10: Rechtspflege, Reihe 2, Zivilgerichte und Strafgerichte, Stuttgart 1981 (zit.: StatistiscIles Bundesamt). Steck/er, Reinhard: Zum Verhältnis von allgemeinem Urkundenprozeß zum Wechsel- und Schecberfahren, WM 1984, 861 ff. Stein, Friedrich: Der Urkunden- und Wechselprozeß, Leipzig 1887 (zit.: Stein). Stein/lonas: Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 20. Aufl. (seit 19n im Erscheinen), bearbeitet von: Wolfgang GrzlllSky, Dieter Leipold, Wolfgang Münzberg, Peter Schlosser, Ekkehard Sc/umlann; 19. Aufl. 1964 ff., Tübingen; z.T. - besonders vermerkt - auch ältere Auflagen (zit.: Steinjlonas/Bearbeiter). Sternei, Friedemann: Mietrecht, 3. Aufl., Köln 1988 (zit.: Stenlel). Stolz, Thomas: Einstweiliger Rechtsschutz und Schadensersatzpflicht. Der Schadensersatzanspruch nach § 945 der Zivilprozeßordnung, Köln 1988, (zit.: Stolz). Stümer, Rolf: Die Bindungswirkung des Vorbehaltsurteils im Urkundenprozeß, ZZP 85, 424 ff. Statthaftigkeit und Beweisbedürftigkeit im Urkundenprozeß, NJW 1972,1257 ff. Anmerkung zu BGH, Urteil vom 24.4.1974 - VIII ZR 211/72, JZ 1974, 681 f. Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, Tübingen 1976 (zit.: Stümer). Die Einwirkungen der Verfassung auf das Zivilrecht und den Zivilprozeß, NJW 1979, 2334 ff. Besprechung von Wolfsteiner, Die vollstreckbare Urkunde, München 1978, ZZP 93, 233 ff. Die gewerbliche Geheimsphäre im Zivilprozeß, JZ 1985, 459 ff. Teplitzky, Dito: Wettbewerbsrechtliche Ansprüche, 5. Aufl., Köln 1986 (zit.: Teplitzky). Tes!«, Joachim: Der Urkundenbeweis im französischen und deutschen Zivil- und Zivilprozeßrecht, Göltingen 1990 (zit.: Teske). Tezner, Friedrich: Das freie Ermessen der Verwaltungsbehörden, Leipzig 1924 (zit.: Tezner). Thomas/Putzo: Zivilprozeßordnung mit Gerichtsverfassungsgesetz und den Einführungsgesetzen, 17. Aufl., München 1991 (zit.: Thomas/Putzo).

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