Der Traum vom Jahre Null : Autoren, Bestseller, Leser : Die Neuordnung der Bücherwelt in Ost und West nach 1945 9783869711225

Wie groß war nach Kriegsende die Macht der Bücher, wie versuchten die Siegermächte, mithilfe der Buchproduktion das Bewu

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Der Traum vom Jahre Null : Autoren, Bestseller, Leser : Die Neuordnung der Bücherwelt in Ost und West nach 1945
 9783869711225

Table of contents :
INHALT
»WIR BEGANNEN NICHT IM JAHRE NULL«
DIE NEUORDNUNG DER BÜCHERWELT
»DIKTATUR DES GUTEN BUCHES«
ERZÄHLEN VON KRIEG UND LAGER: Schreiben
DIE »RÜCKKEHR« DER AUTOREN
ERZÄHLEN VON KRIEG UND LAGER: Schweigen
SCHICK AUCH EIN BUCH NACH DRÜBEN!
ARSENAL DES KALTEN KRIEGES
FAKTEN, DIE VERSCHLEIERN
KLEINE FLUCHTEN
»LITERARISCHER MORGENTHAU-PLAN«
ERINNERUNGEN AUS DER GRAUZONE ODER ZAGHAFTER BLICK NACH VORN
AUSGETRÄUMT
ANHANG
Ausgewählte Bestseller und ihre Auflagen
Anmerkungen
»Wir begannen nicht im Jahre Null«
Die Neuordnung der Bücherwelt
»Diktatur des guten Buches«
Erzählen von Krieg und Lager Schreiben
Die »Rückkehr« der Autoren
Erzählen von Krieg und Lager Schweigen
Schick auch ein Buch nach drüben!
Arsenal des Kalten Krieges
Fakten, die verschleiern
Kleine Fluchten
»Literarischer Morgenthau-Plan«
Erinnerungen aus der Grauzone oder Zaghafter Blick nach vorn
Literaturverzeichnis
Abbildungsnachweis
Register der Personen und Titel
Danksagung

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Der Traum vom Jahre Null

Galiani

Berlin

Christian Adam

DER TRAUM VOM JAHRE NULL Autoren, Bestseller, Leser: Die Neuordnung der Bücherwelt in Ost und West nach 1945

Galiani Berlin

£5 FSC

MIX Paplor eue verantwor­ tungsvollen Quellen

FSC* C083411

Verlag Kiepenheuer & Witsch, FSC* N001512

1. Auflage 2016

Verlag Galiani Berlin © 2016, Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG, Köln Alle Rechte Vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlaggestaltung Manja Hellpap und Lisa Neuhalfen, Berlin Umschlagmotiv © Kurt Schraudenbach/Süddeutsche Zeitung Photo Lektorat Jonathan Sprenger Gesetzt aus der ITC Mendoza von José Mendoza y Almeida Satz Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling Druck und Bindung CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-86971-122-5 Weitere Informationen zu unserem Programm finden Sie unter www.galiani.de

Für Birgit,

Maia und Benno

INHALT »Wir begannen nicht im Jahre Null«.....................

13

Die Neuordnung der Bücherwelt Literaturpolitik und Literaturmarkt nach i 945 ...........

21

Vom Regen in die Traufe: Mit Verboten zur Umerzie­ hung 21 - Lizenzierung und Entnazifizierung in den Zonen 28 - Eine Nation sucht getrennte Wege: »Bücherverbren­ nung und Bücherverbrennung ist auch nicht dasselbe« 30 »Eine Zensur findet nicht statt«. Gesetzliche Regelungen für den Buchmarkt in Ost und West 33 - Institutionalisierung der Literaturpolitik im Osten 39 - Die Differenzierung: Plan gegen Markt, Zensur gegen Freiheit, Gemeinschaft gegen Individuum? 42

»Diktatur des guten Buches« Erste Auflagenerfolge in den Zonen.................................................. Kampf um Lizenzen 49 - »Death is so permanent. Drive carefully!« 53 - Verleger mit Vergangenheit 59 - (Anti-) Heimatroman aus dem Exil: Das siebte Kreuz 6t - Gesamt­ deutsche Bestseller oder Die Geburt des Taschenbuchs aus dem Geist der Großauflage 65 - Ein Wendepunkt: Theodor Plieviers Stalingrad 7t - Im Auftrag der Alliierten: Eugen Kogon und Der SS-Staat 75

49

8 Inhalt

Erzählen von Krieg und Lager Schreiben.............................................................................................................

79

Das Tagebuch der Anne Frank: später Ruhm einer Ermorde­ ten 79 - Gedichte nach Auschwitz? Bestseller nach Ausch­ witz! 82 - Unterhaltungsliterarische Irritation: Am grünen Strand der Spree 85 - Der »Konsalik des Ostens«: Harry Thürk 90 - »Liquidation mit dem Rotstift«: Erich Maria Remarques Zeit zu leben und Zeit zu sterben 96 - Nackt unter Wölfen: Ein Bestseller made in GDR 103 - »Heilsame Wirkung auf das Publikum«: Die NS-Vergangenheit auf der Bühne 106

Die »Rückkehr« der Autoren Positionsbestimmungen zwischen Emigranten und den im Land Gebliebenen............................................................ 113 »1000 Nazis, die die DDR regieren« 113 - Mit Goethe vor die Spruchkammer: Ernst von Salomon und andere 116 - »Ein Geruch von Blut und Schande«: Die Innere Emigration vs. Thomas Mann 120 - Paul E. H. Lüth: Literaturgeschichte als Falschmünzerei 123 - De profundis: erfundene Viten 126 Zuflucht im eigenen Land: Zurück zur Heimatscholle 127 Heimatkunst im Osten? Benno Voelkner und seine NS-Vergangenheit 333

Erzählen von Krieg und Lager Schweigen.......................................................................................................... 137 Vergleich unter Waffenbrüdern - Franz Josef Strauß vs. Hans Hellmut Kirst 137 - Josef Martin Bauers So weit die Füße tragen oder Wessen Geschichte wird hier eigent­ lich erzählt? 145 - Wenn die Dämme brechen: Edwin Erich Dwinger 152 - Aus Kriegsberichtern werden Starautoren: Heinz G. Konsalik und Co. 158

Inhalt 9

Schick auch ein Buch nach drüben! Literaturaustausch mit Hindernissen........................................... 167 Frivole Geschäfte: Die Frühphase des Literaturaustauschs zwischen Ost und West 167 - Tausche Bücher gegen Bier­ deckel 170 - Zoll und Zensur in Ost und West 176 - Kampf gegen Schmutz und Schund, Kampf dem Schmöker: Razzia im Klassenzimmer 181 - Der Landser: Fortsetzung der Feld­ post mit anderen Mitteln 185 - Heftromane Ost: Gegenstoß ins Nichts, Freiheit oder Bananen 189 - Sozialistischer Aufla­ genkönig mit Vergangenheit: Kurt Herwarth Ball 191

Arsenal des Kalten Krieges Autoren im Kampf der Systeme........................................................ 195 Ein Gewissen in Aufruhr: Rudolf Petershagen 195 Der Gaukler: Harry Thürks dunkle Seite 203 - Agentenaus­ tausch im Niemandsland: Der rote Schnee-Mann Günter Hofe 210 - Wanderer zwischen den Welten: Hans von Oettingen 214 - »Der Eiserne Vorhang ist unter uns«: Agitation im Zeichen des Antikommunismus 218 - Aufstieg aus dem Nichts? Der Verleger Joseph Caspar Witsch 221 Fremde Heere Ost im Westen: Bundesdeutsche Schriftsteller und die Organisation Gehlen 228

Fakten, die verschleiern Bücher von Sachen und Menschen.................................................. 233 Das deutsche Drama in einer Person: Der Fall Sauer­ bruch 233 - Götter, Gräber und Gelehrte: Flucht in die Ver­ gangenheit 239 - Die Mutter aller (deutschen) Tatsachen­ romane: Schenzingers Anilin 244 - Die Über-Lebenslügen der Sachbuch->ErfinderStunde Null< unmittelbar danach zurückkehren, um diese zwei Wel­ ten besser zu verstehen? Die Scheiterhaufen mit brennenden Büchern im Mai 1933 gehör­ ten auch für mich zu den einprägsamsten Bildern aus den zwölf Jah­ ren nationalsozialistischer Herrschaft in Deutschland. Diese von der Studentenschaft durchgeführten Aktionen wider den undeutschen

Zwischen 1945 und 1957 vergebene Literaturpreise in

Westdeutschland 239 ausgewertete Preisverleihungen

systemnahe Autoren

Innere Emigration

Die Verleihung von Literaturpreisen zeigt den unterschiedlichen Stellenwert der Emigranten in Ost und West, aber einen vergleichbaren Anteil an NS-nahen Autoren

Emigration und verbotene Autoren

Spätgeborene

»Wir begannen nicht im Jahre Null« 15 Geist< bildeten den Auftakt für eine Zeit beispielloser Verfolgung. Die geistigen Produkte Andersdenkender, der von den Nazis zu Fein­ den erklärten politischen Gegner, jüdischer Autorinnen und Auto­ ren und anderer Minderheiten wurden vernichtet, ihre Urheber teils verfemt oder sogar ermordet. Ein großer Teil der geistigen Elite des Landes wurde zur Emigration gezwungen oder im Lande mundtot ge­

macht. Auch die Welt der Bücher sollte im Sinne der neuen Herrscher gleichgeschaltet werden. Das literarische Leben hatte den Gesetzen und Vorstellungen der Nationalsozialisten zu folgen. Schließlich kam der Mai 1945, die Kapitulation Hitler-Deutschlands nach einem ver­ nichtenden Weltkrieg. Wieder standen Bücher und Büchermacher im Fokus: Die Siegermächte suchten die alten, aus ihrer Sicht schädli­ chem Kräfte auszuschalten und wollten durch neue Bücher und Li­ teratur zur Umerziehung der Deutschen beitragen. Eine Kommission

Zwischen 1945 und 1957 vergebene Literaturpreise in

Ostdeutschland

systemnahe Autoren

Innere Emigration

187 ausgewertete Preisverleihungen

Emigration und verbotene Autoren

Spätgeborene

Datenerhebung auf Basis von Kürschners Deutscher Literaturkalender 1958. Als Indikator für »systemnah« diente eine NSDAPMitgliedschaft.

16 »Wir begannen nicht im Jahre Null«

amerikanischer Verleger, die Deutschland im Sommer des Jahres 1948 bereiste, kam zu dem Schluss, dass das deutsche Buchwesen noch bis Anfang der dreißiger Jahre zur Weltspitze gehört habe. Danach sei es innerhalb eines kurzen Zeitraums von zwei schweren Schlägen ge­ troffen worden: der »Nazifizierung« und der »Entnazifizierung«. Die Auswirkungen dieser beiden tiefen Eingriffe hätten die Buchbranche eines »großen Teils ihres Top-Managements, sowohl der kaufmänni­ schen als auch der verlegerischen Seite«2 beraubt. Für die einer revisio­ nistischen Sicht völlig unverdächtigen Amerikaner war die Re-Demokratisierung ein genauso einschneidendes Ereignis für das deutsche Verlagswesen wie die Machtübernahme. Häufig war seither - wie mit Blick auf andere Bereiche der Nachkriegsgesellschaft auch - von einer >Stunde Null< die Rede. Was aber geschah nach dieser vermeintlichen Tabula rasa? Wie gestaltete sich das literarische Leben nach 1945 in beiden deutschen Staaten und welche Langzeitfolgen hatten die zwölf Jahre NS-Herrschaft für den Buchmarkt und seine Akteure? Von über 200 zwischen 1945 und 1957 in Westdeutschland verlie­ henen Literaturpreisen ging lediglich ein gutes Drittel an Autoren aus dem Exil oder an jüngere Schriftsteller, die als unbelastet gelten konn­ ten. Fast zwei Drittel der ausgezeichneten Schriftstellerinnen und Schriftsteller waren der Inneren Emigration zuzurechnen oder gar als systemnah zu bezeichnen. Schon in einem vor gut 30 Jahren erschie­ nenen Aufsatz wurden die Literaturpreise treffend als »Wegweiser in die Restauration«3 bezeichnet. Traditionalistische oder rückwärtsge­ wandte Tendenzen dominierten das literarische Feld der jungen Bun­ desrepublik. Analysiert man mit der gleichen Herangehensweise Preis­ verleihungen im Osten, so ist augenfällig (aber vorhersehbar), dass die Stellung, die die Innere Emigration in Westdeutschland einnahm, in der DDR von Vertretern des Exils besetzt wurde. Erstaunlich ist al­ lerdings, dass der Anteil >systemnaherDritten Reich< weiter verkauft wer­ den, darunter je ein Buch von Rainer Maria Rilke und Rudolf Binding. Zwei dieser 16 Erfolgstitel sind in der NS-Zeit erstmals erschienen und blieben über 1945 hinaus auf dem Buchmarkt präsent: Die Hei­ den von Kummerow von Ehm Welk und Anilin von Karl Aloys Schenzinger. Sechs der Millionenseller schließlich hatten ihr Ersterscheinen nach 1945. Für die DDR, wo Ehm Welk in hohem Ansehen stand, Akademiemitglied wurde und mit seinen Heiden von Kummerow die Vorlage für eine der ersten großen deutsch-deutschen Filmprodukti­ onen der Nachkriegszeit lieferte, lassen sich vergleichbare Tendenzen vermuten. Beim Blick auf den Buchmarkt in Deutschland offenbaren sich harte Brüche, tiefe Einschnitte, aber auch viele Kontinuitäten über die vermeintlichen Zäsuren 1933 und 1945 hinweg. Schon bei einer nur flüchtigen Beschäftigung mit den Biografien von Autoren und Au­ torinnen und anderen Akteuren aus dem Verlagswesen wird deutlich, wie zahlreich sie nach 1945 weiter aktiv waren, ihre Karrieren oftmals unbehelligt fortsetzen konnten. Nun wird heute niemand mehr für irgendeinen gesellschaftlichen Bereich - so auch nicht für den Kultursektor - ernsthaft von einer >Stunde Null< sprechen. Wurde doch schon vor über 50 Jahren selbst­ verständlich postuliert: »Wir begannen nicht im Jahre Null.«5 Aller­ dings ist die Frage nach Brüchen und Kontinuitäten bisher kaum an­

18 »Wir begannen nicht im Jahre Null«

hand der massenhaft verbreiteten, viel gelesenen Bücher untersucht worden. Dabei wird in der vorliegenden Arbeit die Literatur in Ostund Westdeutschland in die Betrachtung einbezogen, dies in einem Zeitraum bis Anfang der sechziger Jahre. Es wird ein weiter Literatur­ begriff zugrunde gelegt, der Sachbücher, Dokumentarisches oder se­ riell hergestellte Heftromane einschließt. Als Grundlage des vorlie­ genden Buches diente zunächst die Ermittlung von Auflagenzahlen. Es wurde eine virtuelle >Bestsellerliste< erstellt, die rund 400 Buchtitel umfasst, welche mit 100000 oder mehr Exemplaren erschienen sind. Verlässliche Auflagenzahlen sind für die fünfziger und sechziger Jahre noch weniger leicht zu ermitteln als für die Zeit davor. Selbst wenn ein Verlag in seinen Büchern Auflagenzahlen nennt, so ist ihre Ver­ lässlichkeit zu hinterfragen, erschweren Lizenzvergaben und die zahl­ reichen hochauflagigen Buchklubausgaben den Überblick. Die hier verwendeten Zahlen sollen daher immer nur eine Tendenz andeuten. Auf Basis dieser Liste konnten Diagramme erstellt werden (zu finden im Kapitel Frühe Lektürewünsche in Ost und West, S. 310), die ein ein­ drucksvolles, aber im Detail erklärungsbedürftiges >Stimmungsbild< der Literatur der Nachkriegszeit in Ost wie West zeigen. In einzel­ nen Unterkapiteln soll dieses Stimmungsbild zu spezifischen Frage­ stellungen und mit Blick auf bestimmte Textgruppen weiter analy­ siert werden. Ausländische Literatur blieb in der vorliegenden Studie weitestgehend außen vor, sie würde eine eigenständige Untersuchung rechtfertigen. Zunächst war der Zugang zu ihr im >Dritten Reich< nicht völlig unterbunden,6 dann erfolgte eine Annäherung der ostund westdeutschen Teilmärkte je nach Systemzugehörigkeit: Im Osten übernahm die sowjetische Literatur eine führende Rolle, im Westen die US-amerikanische. Über eine rein quantitative erste Autopsie der >Bestsellerlisten< hi­

naus sollen weiterführende Fragen an die Literatur der Nachkriegs­ zeit und ihre Akteure gestellt werden: Welcher deutsche Teilstaat trat nach 1945 welches Erbe an, welchen Teil der Hinterlassenschaft Hit­ ler-Deutschlands schlug er aus? Eine erste Annahme war, dass per­ sonelle Kontinuitäten wohl eher für Westdeutschland zu beobachten sein würden, während in der DDR in den Biografien der Autorinnen

»Wir begannen nicht im Jahre Null« 19

stärkere Brüche zu erwarten wären. Wie in den Diagrammen ange­ deutet: ein größerer Einfluss von Emigranten und Widerständlern im Osten, der Inneren Emigration und der NS-Belasteten im Westen. Mit Perspektive auf die DDR ist zu vermuten, dass man dort wo­ möglich an Strukturen und Methoden des gelenkten Literaturmarkts der NS-Zeit anknüpfen konnte und dies auch tat. Vereinfacht hieße das: Produzenten und Leser waren mit den Gesetzen eines gelenkten Buchmarkts vertraut, kannten die Spielregeln und akzeptierten sie. So mögen auch vergleichbare Vorstellungen von der gesellschaftlichen Funktion des Buches zu erklären sein: »Das gute Buch eine Waffe in der Hand des Volkes«7 ist nicht etwa eine Aussage, die von Joseph Goebbels stammt, sondern von Friedrich Wolf, dem Arzt, Schriftsteller und DDR-Kulturpolitiker, während im Auftrag von Goebbels’ Minis­ terium zuvor gleichlautende Parolen wie »Das Buch, ein Schwert des Geistes« Verbreitung fanden. Wohlgemerkt: Die Ähnlichkeit ist frap­ pierend, die Verbindungslinien sollen im Folgenden herauspräpariert werden - eine simple Gleichsetzung wäre aber verkürzt und falsch. Schon beim Blick auf die Jahre unmittelbar nach 1933 ist festzu­ stellen, dass die Welt der Bücher eine gewisse Trägheit besaß, dass zum Beispiel verbotene und verfemte Werke noch lange greifbar waren, sich zudem viele Verbotsmaßnahmen der Nazis als durchlässig erwie­ sen. Deshalb gilt es auch für die spätere vermeintliche Zäsur zu unter­ suchen, wie groß das Beharrungsvermögen des Buchmarkts und des Literaturbetriebs nach 1945 war, wie sich etwa in den frühen vierzi­ ger Jahren abzeichnende Tendenzen in die Nachkriegszeit fortsetzten. Auf der Ebene der literarischen Texte selbst stellte sich sehr schnell eine Schlüsselfrage: Welche Rolle spielen die jüngste Vergangenheit, spielen Krieg und Holocaust in den Texten? Gibt es im Umgang mit der Täterschaft und der Schuld der Deutschen signifikante Unter­ schiede in Ost und West? Konkret: Wird über deutsche Schuld und Verantwortung geschrieben oder werden beide eher beschwiegen? Eine Chronik in Buchform, zusammengestellt von Benno Wunds­ hammer, ehemaligem Kriegsberichter und zu diesem Zeitpunkt Starre­ porter der Neuen Revue, wollte für das Jahr 1954 eine gesamtdeutsche Gemeinsamkeit ausgemacht haben: »Diese Schunkelwalzerschnulze

20 »Wir begannen nicht im Jahre Null« sang ganz Deutschland in Ost und West im Karneval:«8 »Wir kom­ men alle, alle in den Himmel [...]« Die Melodie stammte von Jupp Schmitz, einem der bekanntesten Komponisten des Kölner Karne­ vals, der Text von Kurt Feltz. Es ist ein Text, der sich - jenseits schun­ kelnder Bierseligkeit - mit Schuld und Sühne befasst. »Was ihr ge­ tan, steht im Buche der Zeit, ob ihr nun Schmitz oder Müller seid.« Neun Jahre nach Kriegsende eine - nüchtern betrachtet - belastende Aussage, die Schlimmes befürchten lässt: Vergehen, Verbrechen (was immer es gewesen sein mag) werden nicht vergessen. Dass der er­ lösende Refrain des Karnevalliedes in Ost und West gut angekom­ men sein soll, leuchtet sofort ein. Er lautete: »Wir kommen alle, alle in den Himmel,/weil wir so brav sind, weil wir so brav sind./Das sieht selbst der Petrus ein, / er sagt: >Ich lass gern euch rein, / ihr wart auf Erden schon die reinsten Engeleinltollen TageSchuldfrage< soll anhand ausgewählter Werke und Personen nachgegangen werden, die folgenden Kapitel las7 sen zugleich ein Panorama der viel gelesenen Literatur jener Jahre ent­ stehen. »Der Traum vom Jahre Null einer deutschen Literatur«10, den der Germanist und deutsch-deutsche Grenzgänger Hans Mayer mit Blick auf die Literaturkritik im Lande ausgemacht hatte, bot ein so stimmiges Bild für die Nachkriegsliteratur, dass ich mir diese Worte als Titel für das vorliegende Buch ausgeborgt habe.

DIE NEUORDNUNG DER BÜCHERWELT Literaturpolitik und Literaturmarkt nach 1945

Vom Regen in die Traufe: Mit Verboten zur Umerziehung Die alliierten Siegermächte mussten mit ihrem Zugriff auf die Bü­ cherwelt genau dort beginnen, wo die nationalsozialistischen Litera­ turlenker aufgehört hatten. In zwölf Jahren NS-Herrschaft war bis zur Kapitulation Hitler-Deutschlands ein kompliziertes, nicht von Wider­ sprüchen freies Zurichtungssystem entstanden. Die Kulturpolitiker der Nazis hatten eine einfache Formel entwickelt, die aus der Vorstel­ lungswelt des Gärtners stammte: Das Unerwünschte war >auszumerzengute Schrifttum< fördern sollten. Die Funktion und Bedeutung von Büchern für die Gesellschaft wurde von den US-Offizieren, die sich zur Umerziehung der besiegten Deutschen aufgemacht hatten, ähnlich bewertet wie von ihrem er­ klärtermaßen schlimmsten Widersacher, dem NS-Propagandaminis­ ter Joseph Goebbels. Man schrieb den Deutschen einen »kollektiven

22 Die Neuordnung der Bücherwelt

Charakter« zu, »den es mit Mitteln publizistischer Aufklärung zu än­ dern galt«1. Die von Goebbels mittels Propaganda geformte >Volksgemeinschaft< sollte nun mit publizistischem Gegengift bereit für die Demokratie gemacht werden. Durch diesen Heilungsprozess wollte man verhindern, dass die Deutschen jemals wieder Krieg gegen andere Völker führen würden. »Eine solche Betrachtungsweise warf die Frage auf, ob und inwieweit die Krankheit eines ganzen Volkes zu heilen bzw. sein Charakter zu ändern sei.«2 Auch der Stellenwert, den Ame­ rikaner und Briten dem Buch zuschrieben, erinnert an die Rolle des Kulturgutes Buch in so mancher NS-Programmatik: Bücher seien »in den Haushalten aller Schichten verbreitet« und hätten »mehr Einfluss als andere Printmedien auf die längerfristige Meinungsbildung deut­ scher Leser«3. In Deutschland habe das Buch als Erzieher eine große Tradition, Bücher seien als die »Speerspitze der deutschen Wissen­ schaft und Technik, Vorhut der deutschen Kultur und Leuchtturm des deutschen Handels«4 angesehen worden, so war sich eine amerikani­ sche Verlegerkommission sicher, die im Sommer 1948 auf Inspekti­ onsreise durch Deutschland fuhr. Das Buch gehörte trotz des Sieges­ zuges anderer Massenmedien wie Rundfunk und Film sowohl für die Deutschen als auch für die Siegermächte nicht zu einem medialen Randbereich, sondern zum Kern der kulturellen Identität. Wer hier Änderungen erzielen wollte, musste radikal eingreifen. Noch vor der

Kapitulation Nazideutschlands erließen die Alliierten im November 1944 das Gesetz Nr. 191, in dem »das Drucken, Erzeugen, Veröffent­ lichen, Vertreiben, Verkaufen und gewerbliche Verleihen von [...] Bü­ chern [...] und sonstigen gedruckten und mechanisch vervielfältig­ ten Veröffentlichungen«5 verboten wurde. Durch dieses Gesetz sollte zunächst, wie es in dem Text hieß, die Sicherheit der alliierten Streit­ kräfte gewährleistet werden. Auch »jegliche Tätigkeit« des Reichsmi­ nisteriums für Volksaufklärung und Propaganda wurde untersagt; in Goebbels’ Apparat vermutete man wohl das Zentrum aller propa­ gandistischen Aktivitäten der Nationalsozialisten. In gewisser Weise zeigte sich jetzt einer der nachhaltigsten Erfolge Goebbels’scher Pro­ paganda: Der >DoktorHeilung< der jahrelangen nationalsozialistischen Beeinflussung, wie sie auch Goebbels und Co. gezogen hätten. Noch zeigten sich die Siegermächte einig und die Vertreter sämt­ licher vier Nationen konnten im Mai 1946 in Fortschreibung frühe­ rer Verordnungen den Befehl Nr. 4 des Kontrollrats unterzeichnen, der die »Einziehung von Literatur und Werken nationalsozialistischen und militaristischen Charakters«9 betraf. Darin wurde explizit auf die Gefahr hingewiesen, welche von der nationalsozialistischen Lehre aus­ gehe und die gewissermaßen in den Büchern, die in diesem Geist ent­ standen waren, gespeichert schien. Die Stoßrichtung des Befehls war die gleiche wie bei Schukows Order, allein die privaten Buchbestände waren diesmal nicht mit genannt. Die Verordnung beschränkte sich

Vom Regen in die Traufe: Mit Verboten zur Umerziehung 25 auf den vertreibenden Buchhandel, auf die Verlage, auf Büchereien und Bibliotheken jeder Art. Das Problem bei der Umsetzung dieser Vorgaben war nun die Frage, welche Titel unter die indizierten Rub­ riken zu rechnen waren. Hier kam man letztlich um eine Einzelfall­ prüfung und mühsame bibliografische Arbeit nicht herum. Der um­ fassendste Index jener Jahre entstand in der Deutschen Bücherei in Leipzig, die Hüterin des bibliografischen Herrschaftswissens - auch über die NS-Zeit hinweg - geblieben war. Die von der deutschen Ver­ waltung für Volksbildung in der sowjetischen Besatzungszone heraus­ gegebene Liste der auszusondernden Literatur war die umfangreichste ihrer Art. Sie erfasste viele Tausend Titel und wurde mehrfach ergänzt. Angesichts der rund eine Million zu prüfenden Bände der seit 1933 erschienenen einschlägigen Literatur konnten die Urheber der Liste nicht umhin, auf die den schwierigen Umständen der Entstehung ge­ schuldete Unvollständigkeit hinzuweisen. Die Liste könne »die ver­ antwortlichen Leiter von Bibliotheken, Büchereien und Buchhand­ lungen nicht von der Pflicht befreien, ihrerseits alle Sorgfalt auf die Durchsicht auch der hier nicht verzeichneten Bücher anzuwenden«10. Die Liste sollte Orientierung bieten und wurde in sämtlichen Zonen zurate gezogen. Viele Besucher der Leipziger Messe sollen sich 1948 darüber beklagt haben, dass die Liste nicht mehr lieferbar sei - dieser Klage schlossen sich auch die aus den Westzonen an.11 Lediglich eine Richtschnur war die Illustrative List of National So­ cialist and Militarist Literature, die die Amerikaner zum Einsatz brach­ ten. Sie hatte erklärtermaßen exemplarischen Charakter, umfasste rund 1000 Werke, die selbstverständlich - so hieß es im Geleitwort um die allgemein bekannten Veröffentlichungen von Leuten wie Hit­ ler, Goebbels oder Mussolini und sämtliches offizielles Schriftgut der NSDAP und ihrer Regierung zu ergänzen seien.12 Verbote konnten einzelne Bücher eines Autors, einer Autorin betreffen oder aber gleich sämtliche Werke. Auch unter den Westalliierten waren diese Listen von deutschen Fachleuten mit dem Bestreben erarbeitet worden, sie zu veröffentlichen, allen professionell mit dem Buch Befassten an die Hand zu geben und so für eine gewisse Sicherheit im vertreibenden Buchhandel zu sorgen. Aber dies schien vonseiten der neuen Lenker

26 Die Neuordnung der Bücherwelt

nicht erwünscht zu sein. Die Listen seien, zusammengestellt von Ver­ tretern des bayerischen Buchhandels, schon zum Teil gesetzt gewesen, da gab die Militärregierung bekannt, »sie wünsche keine >Verbotslistenwas nach den allgemeinen Richtlinien und auf Grund der politischen Lage tragbare, wünschenswerte, verwerfliche Literatur wäre«Nähe< zu NS-Methoden fürchtete. Die frappierende Ähnlichkeit mit Vorgehensweisen der Nazis wurde von manchen alliierten Kulturfunktionären erkannt. So hieß es im Zusammenhang mit der in der unmittelbaren Nachkriegs­ zeit nötigen Papierkontingentierung von amerikanischer Seite: »Die Militärregierung wünscht ein freies Geistesleben in Deutschland. Aber eine durch die Papierknappheit bedingte Kontrolle und Lenkung des Papiers ähnelt den Methoden der Reichsschrifttumskammer, was vermieden werden soll.«14

Ein anderes aufschlussreiches Dokument aus der Reihe der damals erschienenen Indizes ist das Verzeichnis der auszusondernden Literatur, das ebenfalls bereits im Jahr 1946 vom Berliner Magistrat »nur für den Dienstgebrauch« herausgegeben wurde und explizit Bezug auf Schukows Befehl vom September 1945 nahm.15 Unter Mitwirkung des Kul­ turbundes und der Kammer der Kunstschaffenden, zweier Dachorga­ nisationen zur antinazistischen kulturellen Erneuerung, war eine Liste entstanden, die bereits in kürzester Zeit nach dem Krieg Autoren und ihre Werke einordnete. Es wurde nach vier Kategorien unterschieden in »Autoren, deren gesamte Produktion endgültig zu entfernen ist«, »einzelne Titel, welche endgültig zu entfernen sind«, »Verlage, deren gesamte Produktion zu entfernen ist«, und »Bücher und Buchgrup­ pen, die nur bedingt zu verwenden sind«. Zielgruppe der Liste waren vor allem Bibliothekare sämtlicher Bibliothekstypen. Die Herausge­ ber der Zusammenstellung erläuterten in einem kurzen Vorwort ihr Vorgehen. So hätten sie nicht nur »unzweifelhafte Nazi-Literatur« be­ seitigen wollen, sondern auch das, »was ideologisch verderblich für

Vom Regen in die Traufe: Mit Verboten zur Umerziehung 27

die Jugend und verwirrend für die Erwachsenen sein könnte«16. Auch wenn sich sicher viele Urteile im Einzelnen anzweifeln lassen, gingen sie vom Ansatz her differenzierter vor, als es später in so manchem Entnazifizierungsverfahren sein konnte. Zählten hier häufig rein for­ male Gesichtspunkte (z. B. Parteimitgliedschaft ja oder nein), waren dort Zwischentöne möglich. So gerieten Verbreiter nationalistischer Gedanken im weitesten Sinne in den Fokus, »teutonische Barden«, wie es hieß, zu denen sogar Felix Dahn, der längst verstorbene Autor von Ein Kampf um Rom - einem der Longseller des deutschen Buchmark­ tes - gerechnet wurde. Auch Autoren mit wechselnden politischen Ori­ entierungen wurden begutachtet: Eine »reumütige Rückkehr« wie die »von Konjunkturschreibern vom Schlage des Hanns Heinz Ewers« (der neben Klassikern der fantastischen Literatur auch einen Horst-WesselRoman geschrieben hat) hätte nicht vor der Aufnahme in die Liste ge­ schützt. »Anders lag der Fall bei Fallada. Die Tatsache ist unbestreitbar, dass Rudolf Ditzen [bürgerlicher Name Falladas] bei den Amtsstellen der NSDAP verhasst war, und dass das Propagandaministerium mehr als einmal den Gedanken erwogen hat, Fallada gänzlich zu verbieten. Gerettet hat ihn nur der Umstand, dass er infolge seiner Beliebtheit im Auslande erhebliche Devisen brachte. Bei ihm haben wir uns da­ mit begnügt, jene Werke auszusondern, die heute missverstanden wer­ den könnten, wie Bauern, Bonzen, Bomben und den Eisernen Gustav.«17 Anzumerken sei, dass Fallada im Propagandaministerium über ei­ nen mächtigen Fürsprecher verfügte: Goebbels selbst. Dieser hatte die schriftstellerischen Qualitäten des Autors erkannt und deshalb ver­ sucht, ihn zu protegieren. Das Verzeichnis der auszusondernden Literatur bietet ein breites Pa­ norama indizierter Autoren, die jeweils mit Kurzcharakteristiken ver­ sehen sind: Erwin Barth von Wehrenalp »Kolonialpolitiker«, Gottfried Benn »völkischer Aktivist«, Werner Beumelburg »völkisch orien­ tiert«, Arnolt Bronnen »Konjunkturschriftsteller«, Fritz Otto Busch »NS-Jugend- und Marineschriftsteller«, Edwin Erich Dwinger »völ­ kisch, antibolschewistisch«, Paul Coelestin Ettighoffer »NS-Schriftsteller«, Ernst Glaeser »Renegat«, Erich und Hellmuth Langenbucher »NS-Schriftsteller und Funktionär«, Kuni Tremel-Eggert »NS-Schrift-

28 Die Neuordnung der Bücherwelt stellerin«, Anton Zischka »NS-Wirtschaftspolitiker« - um nur eine Auswahl zu nennen. Manche von ihnen konnten, trotz solcher klaren Urteile, schon kurze Zeit später (meist in den Westzonen) ihre publi­ zistische Tätigkeit mehr oder weniger unbehelligt wieder aufnehmen.

Lizenzierung und Entnazifizierung in den Zonen Das absolute Publikationsverbot des Gesetzes Nr. 191 war lediglich die Grundlage, auf der über das Verbot und die Aussonderung von unerwünschter Literatur hinaus ein System der Zulassung publizis­ tischer Tätigkeit errichtet wurde. Diese konnte, so stand es bereits in der »Nachrichtenkontroll-Vorschrift Nr. I«18 vom 12. Mai 1945, durch schriftliche Genehmigungen der Militärregierungen erlaubt werden. Die Frage der Lizenzierung bestimmte in den nächsten Jah­ ren in allen Zonen die Aktivitäten rund um das gedruckte Wort. Im Rahmen dieser Erlasse wurde zugleich vorgeschrieben, dass alle Pub­ likationen den schriftlichen Hinweis enthalten mussten, unter wel­ cher Lizenznummer der Militärregierung sie entstanden waren. Wie die Lizenzierung praktisch ausgestaltet wurde, bestimmte jede Besat­ zungsmacht selbst. Eine Vorzensur für Publikationen, eine also auch inhaltliche Prüfung aller Druckwerke, wurde in der amerikanischen Zone bereits im Oktober 1945 aufgehoben, in der britischen dagegen erst zwei, in der französischen drei Jahre danach, in der sowjetischen Zone, der späteren DDR, blieb sie bis 1989 erhalten. Die förmlichen Lizenzierungsverfahren für Verlagsgründungen durch die Besatzungs­ mächte wurden für die Westzonen im Jahr der Konstituierung der Bundesrepublik Deutschland 1949 hinfällig,1’ im Osten galten solch strenge Zulassungsbestimmungen bis zum Ende der DDR. Fragt man nach dem Erbe, das die beiden deutschen Staaten in den Jahrzehnten nach 1945 angetreten haben, so wird bald deutlich, dass sich die Frage nicht ohne Blick auf die zunächst die Geschicke bestim­ menden »Nachlassverwalter« beantworten lässt. Handelten die Sie­ germächte zunächst noch einmütig, brachen bald immer deutlichere

Lizenzierung und Entnazifizierung in den Zonen 29

Gegensätze auf. Letztlich sind aber die deutschen Positionen und Ent­

wicklungsschritte immer nur unter dem Einfluss der jeweiligen Besat­ zungsmacht zu verstehen. Neben der Lizenzierung der Verlagstätigkeit an sich und der der einzelnen Publikationen galt es natürlich auch die Personen, die im Kulturbereich aktiv werden wollten, zu durchleuchten - ganz gleich, ob es um eine Verlagsgründung oder nur den Betrieb einer Leihbü­ cherei ging: Ein Entnazifizierungsbescheid hatte dem entsprechenden Antrag beizuliegen. Auch bei der Entnazifizierung der Akteure konnte von einem einheitlichen Vorgehen in den verschiedenen Besatzungs­ zonen keine Rede sein.20 Das, obwohl in der Direktive Nr. 38 des al­ liierten Kontrollrats genau dies als Ziel ausgegeben worden war: Die Definition der entsprechenden »Täter«-Gruppen und auch die Süh­ nemaßnahmen hätten nach einem möglichst einheitlichen Schema zu erfolgen.21 In dieser Direktive waren auch die »Gruppen der Ver­ antwortlichen« genau beschrieben. Das Spektrum reichte von Haupt­ schuldigen über Belastete (Aktivisten, Militaristen, Nutznießer), Minderbelastete und Mitläufer bis hin zu Entlasteten. Eine Besonder­ heit in der sowjetisch besetzten Zone war die schon sehr frühe Mit­ wirkung deutscher Instanzen an der Entnazifizierung. Auch sei dort so ist sich die Forschung inzwischen einig - die Entnazifizierung von durchgreifenden Maßnahmen in bestimmten Bereichen auf der einen Seite und einer großzügigen Beurteilung von nur >formalen< NSDAPMitgliedern auf der anderen gekennzeichnet gewesen. So kam es, dass die Säuberungen in manchen Bereichen der Gesellschaft in der SBZ/ DDR gründlicher gewesen sein mögen. In der Breite gab es - wie noch zu zeigen sein wird - in ganz Deutschland ein Problem mit dem Erbe der Vergangenheit und mit der Zukunft der Menschen, die in das NSHerrschaftssystem verstrickt gewesen waren. Eine herausragende Bedeutung schrieben die US-Amerikaner der Entnazifizierung in ihrer Zone zu. Der Fragebogen, schon 1945 einge­ führt, wurde mit seinen 131 Punkten zum Symbol der >Gewissensprüfungausrichten< lassen. Dennoch fragte er: »Soll­ ten unsere freien Verleger des Westens, denen Gott über die alliierte Obrigkeit eine Lizenz gab, aber nicht immer die dazugehörige Ver­ antwortung, sollten sie nicht von einem überparteilichen Gremium kulturbewußter Persönlichkeiten in ihrer Produktion beraten werden? Auf der anderen Seite: Soll nicht auch der gelenkte Verlag mehr Duld­ samkeit aufbringen?« Es war also keineswegs so, dass aus dem Erleben des >Dritten Reichs< ein >Nie wieder Zensur!< oder gar >Nie wieder Bücherverbrennung!
Nie wieder Krieg !< nicht zwangsläufig zu erwarten, wurde Gewalt nicht grundsätz­ lich abgelehnt. Es komme, so Wolfgang Harich, später Lektor im Auf­ bau Verlag, in einem Redebeitrag, immer auf die richtige Legitimation der Gewalt an. »Bücherverbrennung und Bücherverbrennung ist auch nicht dasselbe. Es ist nicht dasselbe, wenn im Jahre 1933 die Bücher von Thomas Mann und im Jahre 1945 die Bücher von Alfred Rosen­ berg verbrannt wurden«, der Kongress spendete Beifall. »Meiner Mei­ nung nach ist Gewalt nicht unter allen Umständen zu verwerfen.«28

»Eine Zensur findet nicht statt«. Gesetzliche Regelungen für den Buchmarkt in Ost und West Für Westdeutschland endete mit der Gründung der Bundesrepublik der unmittelbare alliierte Einfluss auf die Literaturproduktion und -distribution. »Verleger benötigten keine Lizenzen mehr, waren nicht länger von Papierzuteilungen abhängig und brauchten auf keine Zen­ sur mehr Rücksicht zu nehmen«2’, so Helmut Peitsch in seiner grund­ legenden Studie zur Nachkriegsliteratur in Deutschland. »Bisher we­ gen faschistischer Belastung verbotene Autoren durften publizieren, verbotene Bücher wieder erscheinen. [...] Mit der Liberalisierung des literarischen Marktes erhielten auf allen Ebenen - von Autoren über Verleger und Kritiker zu Lesern - diejenigen, die sich der alliier­ ten Umerziehung hatten entziehen wollen, die Möglichkeit, entspre­ chende Lektüre zu produzieren, zu verbreiten und zu rezipieren. Das schlagendste Beispiel ist die autobiographische Literatur über Faschis­ mus und Krieg: 1949 begann eine Welle von Memoiren der NS-Prominenz, insbesondere Diplomaten und Militärs; 1945 waren nur Er­ lebnisberichte über Konzentrationslager erschienen; 1946 traten mit einem Anteil von einem Fünftel Tagebücher aus der Inneren Emig­ ration hinzu; 1947 war der Anteil von Erlebnisberichten über politi­ sche und rassistische Verfolgung einerseits, von Tagebüchern Inne­ rer Emigranten andererseits etwa gleich groß, neu war das Zehntel

34 Die Neuordnung der Bücherwelt

Erlebnisberichte über Kriegsgefangenschaft sowie Flucht und Vertrei­ bung; 1948 erschienen die ersten Rechtfertigungsschriften prominen­ ter Nazis, aber 1949 lag deren Anteil bei 55%.«30 Was den einen Teil des Erbes der Hitler-Diktatur, das heißt die staatliche Kontrolle von Literatur, anging, so schien man in West­ deutschland zumindest auf den ersten Blick in der Lage, dieses Ver­ mächtnis auszuschlagen. So heißt es im Grundgesetz Artikel 5, Ab­ satz 1: »Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Frei­ heit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewähr­ leistet. Eine Zensur findet nicht statt.« In der Deutschen Demokrati­ schen Republik dagegen wurden die von den Alliierten eingeführten Kontrollmechanismen in modifizierter Form fortgeführt - und zwar bis zum Ende dieses deutschen Teilstaats. Und das, obwohl auch die erste Verfassung der DDR 1949 in Artikel 9 explizit vermerkte: »Alle Bürger haben das Recht, innerhalb der Schranken der für alle gel­ tenden Gesetze ihre Meinung frei und öffentlich zu äußern [...] nie­ mand darf benachteiligt werden, wenn er von diesem Recht Gebrauch macht. Eine Pressezensur findet nicht statt.«31 Die Sowjets hatten in diesem Bereich früh deutsche Kräfte ein­ gebunden. So konnte der bei der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung installierte Kulturelle Beirat 1946 die Vorzensur bel­ letristischer und wissenschaftlicher Titel übernehmen, Verlagspro­ gramme und zur Publikation vorgesehene Titel prüfen. Die Geneh­ migungen selbst erteilten zunächst noch die sowjetischen Behörden, bis auch dieses Hoheitsrecht gänzlich an deutsche Stellen übertragen wurde.32 Es schien den Befürwortern einer Meinungslenkung nur lo­ gisch, dass man bei einem Volk, das aus der Diktatur kam, mit liberalistischen Tendenzen nicht viel würde ausrichten können. Die Deut­ schen waren aus der Sicht dieser Leute nicht mündig genug, um freie Bürger zu sein: »Das Beispiel anderer Länder kann nicht vollgültig bei uns nachgeahmt werden, solange uns Deutschen die Voraussetzun­ gen dazu fehlen. Eine politisch reife und weltanschaulich gefestigte Nation, die sich überdies im vollen Besitz ihrer Produktionsmittel be-

»Eine Zensur findet nicht statt« 3 5 findet, kann es sich leisten, andere Maßstäbe anzulegen als ein Volk, dessen ideologische und politische Labilität sich erst in der jüngsten Vergangenheit wieder so erschreckend manifestierte [,..].«33 Bestre­ bungen, unabhängige Verlage als freie Wirtschaftsunternehmen zu fördern, mussten aus dieser Perspektive denunziert werden: »Sie sa­ gen Freiheit und denken ans Geschäft, sie sprechen von Individualität

und meinen eine gängige, zu nichts verpflichtende Literatur.«34 Die im Grundgesetz der Bundesrepublik verbrieften Rechte zur Mei­ nungsäußerung schränkte das Gesetz über die Verbreitung jugendge­ fährdender Schriften35 von 1953 partiell ein. Mit ihm wurden teil­ weise Regelungen abgelöst, die wie etwa 1949 in Rheinland-Pfalz auf Länderebene eingeführt worden waren, im Bundesgesetz heißt es: »Schriften, die geeignet sind, Jugendliche sittlich zu gefährden, sind in eine Liste aufzunehmen. Dazu zählen vor allem unsittliche sowie Verbrechen, Krieg und Rassenhass verherrlichende Schriften.« Der Gesetzestext setzte dabei enge Grenzen. Schriften durften nicht »al­ lein wegen ihres politischen, sozialen, religiösen oder weltanschau­ lichen Inhalts« auf den Index gesetzt werden. Die Eingriffsmöglich­ keiten sollten jede bewusste Meinungssteuerung ausschließen. Auch bedeutete eine Aufnahme in die Liste kein Totalverbot, sondern le­ diglich den Ausschluss aller Minderjährigen vom potenziellen Käu­ ferkreis. Die Durchführung der Literatursichtung oblag einer Bun­ desprüfstelle. Beisitzer aus dem Kulturbereich, dem Buchhandel und dem Verlagswesen, den Jugendverbänden, der Lehrerschaft und nicht zuletzt den Religionsgemeinschaften, das hieß in dieser Zeit vor al­ lem aus den christlichen Kirchen, waren in die Entscheidungsfin­ dung einbezogen. Die Prüfstelle war nicht an Weisungen gebunden. Die betroffenen Verleger und Autoren sollten, soweit das möglich und gewünscht war, Gelegenheit haben, sich zum Verfahren zu äu­ ßern. Zudem sah das Gesetz eine Einspruchsmöglichkeit der Betrof­ fenen vor. Man kann gegen das Gesetz und die Arbeit der Prüfstelle, die heute unter der Bezeichnung Bundesprüfstelle für jugendgefähr­ dende Medien tätig ist, manches Vorbringen: »Stets warf sie sich in die Bresche, wenn es galt, den Untergang der abendländisch-christli-

36 Die Neuordnung der Bücherwelt

chen Kultur [...] zu verhindern«36, so ist in einer Universalgeschichte des Verfolgten und Verfemten zu lesen. Und weiter: »[...] entgegen den Zielen ihrer klerikalen Klientel« sei es ihr nicht gelungen, »den Sie­ geszug der Comics aufzuhalten«. Schon bald gab es unter den Zeitge­ nossen Diskussionen darüber, ob das Gesetz nicht zu weit gehe. Der Vorwurf lautete: Nicht nur der Jugend werden inkriminierte Schrif­ ten vorenthalten, sondern über das Werbe- und Ausstellungsverbot für die Druckwerke werde de facto ein Verbot auch für Erwachsene ausgesprochen: »Unter dem Vorwand des Jugendschutzes wird hier ein gefährlicher Streich gegen die Meinungsfreiheit geführt«37, so war in einem Zeitungskommentar zu lesen. Gleichwohl nehmen sich die Eingriffe im Vergleich zu den massiven Verboten der NS-Zeit lächerlich aus, wie absurd sie auch im Einzelnen (vor allem aus heutiger Sicht) gewesen sein mögen. So sind die Indizie­ rungen der Geschichte der O oder der Josefine Mutzenbacher in den acht­ ziger Jahren des 20. Jahrhunderts heute nur noch schwer nachvollzieh­ bar.38 Eine Einschränkung der in Artikel 5 des Grundgesetzes verbrieften Meinungsfreiheit bedeuteten sie nicht, vielmehr spiegelten sie den über die Jahre veränderten Umgang der Gesellschaft mit Themen der Sexu­ alität. »Schriften, die durch Bild für Nacktkultur werben«, galten zur Zeit der Urfassung des Gesetzes noch als »schwer jugendgefährdend« und waren ohne gesonderte Aufnahme in die betreffende Liste verbo­ ten. 1973 wurde dieser Absatz ersatzlos gestrichen - die Flut der Nack­ ten auf Papier war ohnehin nicht mehr zu stoppen. Gleichwohl sind manche Spuren der Verbotspraxis verräterisch. So erschien ein vom ersten Leiter der Bundesprüfstelle herausgegebener Gesetzeskommentar unter dem Titel Schund- und Schmutzgesetz39. Er verwendete damit einen Terminus, der in der Veröffentlichung im Ge­

setzblatt an keiner Stelle genannt wurde! Damit knüpfte einer der wichtigsten Protagonisten selbst an die Tradition der Schund- und Schmutzgesetze von weit vor 1945 an. Dieser Kampf gegen solche Art der Literatur hatte im Grunde mit der Erfindung preiswerter Massen­ lektüre begonnen. Ein Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schundund Schmutzschriften und eine entsprechende Prüfstelle gingen auf die Weimarer Republik zurück. Erst die vielfältigen Eingriffs- und Steu­

»Eine Zensur findet nicht statt« 3 7

ermöglichkeiten mehr oder weniger willkürlicher Art unter den Na­ tionalsozialisten machten ein geordnetes Handeln auf gesetzlicher Grundlage und damit das entsprechende Gesetz aus der Zeit der Re­ publik 1935 überflüssig. Nun traten nach 1945 beide deutsche Staa­ ten wieder in die Weimarer Fußstapfen. Die in der DDR erlassene Verordnung zum Schutze der Jugend vom 15. September 1955 hatte Gesetzeskraft und enthielt ebenfalls einige Bestimmungen bezüglich der Schund- und Schmutzschriften. Aller­ dings zeigte sich die Regierung in Ostberlin hier weitaus radikaler als die Bonner Administration, schränkte doch die Verordnung nicht nur den Bezugskreis auf Erwachsene ein, sondern untersagte Herstellung oder Einfuhr solcher Produkte generell. Die Schutzbestimmung kam einem Totalverbot gleich. Damit hatte man sich einen Gummipara­ grafen geschaffen, der - wir werden später noch darauf zurückkom­ men - auf unterschiedlichste Schriften Anwendung finden konnte. »Schund- und Schmutzerzeugnisse sind«, so hieß es in §3, Absatz 2 des betreffenden Gesetzes, »antihumanistische Schriften, bildliche Darstellungen und andere Gegenstände, die zum Zwecke verfaßt, her­ gestellt oder geeignet sind, insbesondere bei Jugendlichen, Neigun­ gen zu Grausamkeit, Menschenverachtung, Rassen- und Völkerhaß, Mord, Gewalttätigkeit und anderen Verbrechen sowie geschlechtliche Verirrungen zu wecken, und die damit durch Inhalt und Tendenz die Interessen aller friedliebenden Menschen und das geistige und sittli­ che Wohl der Kinder gröblich verletzen. Hierunter fallen auch Dar­ stellungen und andere Gegenstände und Schriften, die faschistische oder militaristische Ideologien verherrlichen.«40 Schon in der Verord­ nung von 1955 war festgelegt worden, dass »in Schulen, Heimen [...] und anderen Einrichtungen [...] durch den Leiter regelmäßig Kontrol­ len nach Schund- und Schmutzerzeugnissen zu veranlassen« seien. Dies konnte regelmäßig im Schulunterricht geschehen, wobei die Klassenlehrer die Schulranzen der Kinder filzen mussten.41 Bis zum Ende der DDR verfügten Klassenbücher über separate Spalten, in de­ nen die Befunde aus solchen systematischen Schulranzen-Kontrollen festgehalten werden konnten. Aber auch dabei gab es im Osten keinen Alleingang. Ähnliche Maß­

38 Die Neuordnung der Bücherwelt

nahmen sind ebenso aus dem Westen des Landes überliefert. Hier wa­ ren es vor allem kirchennahe Sittenwächter, die sich in den fünfzi­ ger Jahren dem Eintreten für gutes, vor allem aber dem Kampf gegen aus ihren Augen schlechtes Jugendschrifttum (z. B. modische Comic­ hefte) verschrieben hatten. Dabei sei »das Durchsuchen von Schulta­ schen [...] noch vergleichsweise harmlos«42 gewesen.

V Taschenkontrolle in einer Ostberliner Schule 1957. Gesucht werden Schundromane, Autogrammkarten und andere >Schmuggelware< aus dem Westen.

Institutionalisierung der Literaturpolitik im Osten 39

Institutionalisierung der Literaturpolitik im Osten Hatte Ernst Rowohlt für die Westzonen mit Blick auf die alliierten Sondergesetze noch von einer »Diktatur des guten Buches«43 gespro­ chen, so setzten die Funktionäre in der Ostzone alles daran, eine Dik­ tatur des guten sozialistischen Buches< zu entwickeln und weiter zu perfektionieren. Die 1950 erlassene Verordnung zur Entwicklung ei­ ner fortschrittlichen demokratischen Kultur des deutschen Volkes und zur weiteren Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Intelligenz spricht eine deutliche Sprache. Ein zweites Mal im 20. Jahrhundert wurde in Deutschland der Versuch unternommen, das unregulier­ bare Feld des Geistes und der Literatur per Gesetz und Verordnung zu steuern. Sogar Best-Seller oder treffender Best-Auflagen - der Verkauf spielte in der Planwirtschaft bald nur noch eine untergeordnete Rolle glaubte man durch diese Verordnung initiieren zu können: »Das Mi­ nisterium hat dafür Sorge zu tragen, daß im Jahre 1950 mindestens 10 Bände der in der Verordnung der Deutschen Wirtschaftskommis­ sion [...] beschlossenen Bibliothek von Werken der deutschen fort­ schrittlichen Schriftsteller in einer Massenauflage erscheinen.«44 ln der Verordnung wurden ganz konkrete Fördermaßnahmen festgelegt, die auch den Angehörigen der Buchbranche zugutekamen: »Die Leiter von lizenzierten Verlagen und Verlagsredakteure, Bibliothekare der öf­ fentlichen Verwaltung« wurden, was die Lebensmittelversorgung an­ ging, den Arbeitern mit schwerer Arbeit gleichgestellt. Angesichts der Tatsache, dass die Vergabepraxis für Nahrungsmittel über Lebensmit­ telmarken in der DDR bis 1958 weiter bestand, war dies ein nicht unerheblicher Vorteil für die Geistesarbeiter. So kamen Schriftsteller neben anderen geistig Schaffenden (zumindest theoretisch) in den Genuss eines Kohlekontingents von insgesamt einer Million Zentner, das für bestimmte Berufsgruppen für die Heizperiode 1950/51 zusätz­ lich bereitgestellt werden sollte. Doch neben diesen handfesten Hilfs-

40 Die Neuordnung der Bücherwelt angeboten trägt der Gesetzestext über weite Strecken den Charakter einer Kampfschrift: Er ist ein Plädoyer für die Beibehaltung einer ei­ nigen deutschen Kultur, die aber bereits massive Abgrenzungen gegen den Westen und den schädlichen Einfluss des »amerikanischen Im­ perialismus« beinhaltete. Die Beschwörung einer »kulturellen Einheit Deutschlands« ist dabei schnell als bloße Rhetorik zu erkennen. Der »Bonner Bundesregierung« wurde vorgeworfen, die Ausgaben für kul­ turelle Zwecke ständig zu kürzen, da die »amerikanische Kriegs- und Ausbeutungspolitik« Vorrang habe. Man war nicht einmal fünf Jahre nach Kriegsende im nächsten Krieg, den man den >Kalten< nennen sollte, angekommen. Entlarvend allerdings die Sprache und die zu­ gehörigen Bilder, mit denen man den Kampf zu legitimieren dachte: »Das Ringen um diese Kultur erfordert entschiedene Abwehr aller je­ ner kosmopolitischen Tendenzen, mit denen der amerikanische Im­ perialismus unser nationales Kulturbewusstsein und damit die Wi­ derstandskraft des deutschen Volkes untergraben will, um seinen Kolonisierungsplan und seine Kriegsvorbereitungen durchführen zu können.« Nicht nur die Rhetorik, auch die konkrete Angst vor der >fremden Unterwanderung< musste jedem, der mit offenen Augen durch die Welt ging und vielleicht sogar das Hitler-Reich bewusst er­ lebt hatte, auf fatale Art bekannt und vertraut Vorkommen. Sie glich der Warnung vor dem >Artfremdenerfolgreich< erprobt worden war. Bedingt durch die Rohstoffknapp­ heit im Krieg mussten sich in der NS-Zeit die Verlage die Papierkon­ tingente für ihre Produktion von einer dem Propagandaministerium nachgeordneten Dienststelle genehmigen lassen. Erst mit diesem Schritt gab es in Nazideutschland so etwas wie einen flächendecken­ den Zugriff auf die Buchproduktion. Entgegen landläufigen Meinun­ gen fand nämlich bis zu diesem Zeitpunkt im >Dritten Reich< keine allgemeine Vorzensur statt. 1956 schließlich ging das Amt für Literatur und Verlagswesen in der Hauptverwaltung Verlagswesen auf. Damit sei erstmals eine »Ein­ heit von wirtschaftlicher und kulturpolitischer Anleitung«46 geschaf­ fen worden. Aus dieser entstand 1958 zunächst die Abteilung für Li­ teratur und Buchwesen, die dann 1963 zur Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur wurde.47 Mit der Ein­ richtung der Hauptverwaltung fanden die Bemühungen zur zentralen Lenkung des Buchmarktes, die sich in der sowjetischen Besatzungs­ zone direkt an die Steuerungsversuche der Besatzer angeschlossen hat­ ten, in gewisser Weise ihren Abschluss. Hier wurden die politisch-ide­ ologische und die ökonomische Leitung erstmals zusammengeführt.48 Wenngleich auch Dietrich Löffler in seiner Studie zu Buch und Lesen in der DDR besonderen Wert auf die Feststellung legt, dass die Haupt­ verwaltung selbst »nicht die höchste Instanz für die wesentlichen Ent­ scheidungen war«4’: Wie auf allen Ebenen und bei allen Grundsatz­ fragen, so hatte auch in Bezug auf das Buch die Partei stets das letzte Wort.

42 Die Neuordnung der Bücherwelt

Die Differenzierung: Plan gegen Markt, Zensur gegen Freiheit, Gemeinschaft gegen Individuum? So wie alle anderen Gesellschaftsbereiche auch geriet die Litera­ tur in der Deutschen Demokratischen Republik in das Blickfeld der Planer. Die Verordnung über die Entwicklung fortschrittlicher Literatur sollte eine »planmäßige[] weitere[] Entwicklung einer fortschrittli­ chen Literatur, die den Aufgaben gerecht wird, welche der Kampf um den Frieden und die Einheit Deutschlands, der Fünfjahrplan und die Demokratisierung auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens stellen«50, fördern. Hatte man sich darin die »Hebung der Qualität der Literatur« durch deren Begutachtung sowie die »planmäßige Un­ terstützung der Verlagstätigkeit bei der Herausgabe von Werken aus der Sowjetunion, den Volksdemokratien und fortschrittlicher Auto­ ren anderer Nationen« auf die Fahnen geschrieben, so bedeutete dies einen dirigistisch gelenkten Buchmarkt. Er sollte klaren politischen Vorgaben folgen, hin zu einer »sozialistischen Literatun. Diese Steuerungsversuche brachten zum Beispiel auch den ReclamVerlag Leipzig in Erklärungsnot. Von der Hauptverwaltung Verlagswe­ sen wurde 1957 die Frage gestellt, warum »fast ausschließlich klas­ sische Texte (einschließlich der großen bürgerlichen Deutschen wie Gerhart Hauptmann)« erschienen seien. Wenn das nicht ein zufäl­ liger Befund sei, müsse bald »entschieden ein[ge]griffen«51 werden. Der Verlag sah sich zu einer mehrseitigen Aufstellung veranlasst, die die Gesamtproduktion seit 1947 auflistete und jeweils mit >o< für »so­ zialistische Literatur« und >+< für »zeitgenössische progressive Litera­ tur« markierte. Vor allem die ersten zwei, drei Jahre werden dabei von »zeitgenössisch progressiven« Werken dominiert, zu denen Autoren wie Gerhart Hauptmann, Thomas Mann oder Hermann Hesse ge­ rechnet wurden. Wo sollte die >sozialistische< Schreibe schließlich so schnell herkommen?

Die Differenzierung 43

Fritz Apelt, der Leiter des Amts für Literatur und Verlagswesen, stellte klar, was aus seiner Sicht nicht gehe. Vor dem Hintergrund des Aufbaus des Sozialismus könne man nicht »nach der alten Leier ka­ pitalistischer Verleger die Absatzmöglichkeiten für ein Buch als Krite­ rium für seine Bedeutung [...] betrachten, eine Konjunktur ausnut­ zen [...] wollen. Daran sieht man auch, wie notwendig die inhaltliche Planung der Verlage ist, eine Planung, in der verschiedene Gruppen der Literatur und innerhalb dieser die einzelnen Werke entsprechend ihrer wirklichen Bedeutung, ihres Wertes für die Gesellschaft, ihrer aktuellen Notwendigkeit, berücksichtigt werden.«52 Es werde nicht nach den Bedürfnissen des Lesepublikums gefragt, sondern Richt­ schnur seien die »Entschließungen der Regierung, der SED und der Massenorganisationen«. Der Buchmarkt im Osten sollte sich dem entsprechend bald nicht mehr an der Nachfrage, sondern an den po­ litischen Vorgaben orientieren. Wer bereits in den Jahren davor Er­ fahrungen mit der Regelungswut der NS-Literaturpolitiker gemacht hatte, ganz gleich ob Verleger oder Autor, war in der Nachkriegszeit zunächst in Gesamtdeutschland auf »makabre Weise« im Vorteil.53 Im Osten Deutschlands hielt diese »Bevorteilung« dank der immer weiter verfeinerten Lenkungsinstrumente noch viele Jahre an. Posi­ tiv formuliert ließ sich im Osten eine Literatur entwickeln, die von Marktgesetzen unabhängig war: »[...] ästhetisch anspruchsvolle Lite­ ratur in künstlerisch angemessener Ausstattung ohne Rücksicht auf

den Markt [...].«54 Im Westen dagegen bildete sich ein freier Markt aus, mit einer ers­ ten Krise unmittelbar nach der Währungsreform, während der das Buch als Konsumgut plötzlich Konkurrenz von vielen anderen Pro­ dukten bekam, die jetzt wieder überall zu kaufen waren. Verlage muss­ ten um ihren Absatz bangen. Der Buchmarkt im Westen habe aber anschließend von der Währungsreform an bis in die sechziger Jahre hi­ nein »im Zeichen einer stetigen Produktionsausweitung«55 gestanden. »Der Strukturwandel des westdeutschen Buchmarktes«, so Reinhard Wittmann in seiner Studie zur Geschichte des deutschen Buchhandels, »war [...] gekennzeichnet durch neue bzw. neubelebte Vertriebs- und Buchformen wie Buchgemeinschaften und Taschenbuch, durch die

44 Die Neuordnung der Bücherwelt Tendenz zur Konzentration und Rationalisierung vor allem im Verlag und Zwischenbuchhandel, durch eine strikte Marktorientierung der Angebotspolitik (>MarketingErblast< anzunehmen, so war man im Westen dazu entschlossen, mit Blick auf den wirtschaftlichen Erfolg manche andere Frage der Vergangenheit unbeantwortet zu lassen. Helmut Peitsch konturiert in seiner Studie zur Literatur in Nach­ kriegsdeutschland diese beiden unterschiedlichen Positionen. Bei­ spielhaft für den Osten stehe dabei der von Johannes R. Becher ge­ prägte Begriff der Literaturgesellschaft. Der Akzent liegt bei Becher auf Gesellschaft, das heißt, Literatur kann dann »wirksam werden, wenn sich die Teilnehmer der Literaturgesellschaft mit dem als historisch notwendig Erkannten identifizieren«.56 Gemeint war zudem eine Ge­ sellschaft im sozialistischen Sinn, in der Produzenten und Rezipienten von Literatur harmonisch vereint sind. Becher sprach mit Blick auf die Bundesrepublik vergleichend und abwertend von Literaturbetrieb, in dem wirtschaftliche Interessen die Kunst zu Kunstgewerbe degene­ rieren ließen. Dagegen sahen die Vertreter Westdeutschlands - Peitsch zitiert als Gewährsmann den damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss - gerade im freien Markt einen Garanten für die Freiheit des Autors, des Lesers und nicht zuletzt des Wortes. Dort das Buch als ge­ sellschaftlicher, ja gemeinschaftlicher Faktor, hier das Buch als Objekt ganz privater Lektüre. Sicher sind beide Versionen weder hier noch dort in Reinform vorgekommen, allein beide Tendenzen werden sich am Beispiel einzelner Werke verfolgen lassen. Vor allem aber existierten beide Systeme der Literaturvermittlung nie völlig getrennt voneinander, sondern nahmen Bezug auf das je­ weils andere: »Mit dem Interzonenhandelsabkommen wurde zwar

Die Differenzierung 45 schon 1950 eine Grundlage für einen Literaturaustausch geschaffen, aber zugleich von Westen aus der Abbruch und die Verhinderung von Beziehungen programmiert und von Osten aus die Auswahl des in einen Austausch Einzubeziehenden eingeengt.«57 Verbindet man zu­ nächst mit dem Begriff der Zensur oder der Einfuhrkontrolle in erster Linie nur Aktivitäten der staatlichen Organe der DDR, so gab es eine Reihe von Reglementierungen, die die Verbreitung von Literatur aus dem Osten in der Bundesrepublik einschränkten oder unterbanden. Auf der anderen Seite war auch die Literaturgesellschaft im Osten nie völlig frei von wirtschaftlichen Interessen. Allerdings mit dem klei­ nen, aber um so wichtigeren Unterschied, dass es sich von Jahr zu Jahr weniger um Interessen von Privatunternehmen handelte (die so­ wohl im Verlags- als auch Buchhandelsbereich immer weiter zurück­ gedrängt wurden), sondern um massive Interessen der Staatspartei

SED, der Blockparteien und der Massenorganisationen wie FDJ oder FDGB, in deren direkten Zugriff sich bald große Teile des gesamten Buchmarktes befanden. Aufschlussreich mag gleichfalls sein, welche Formen des Zusam­ mentreffens von Schriftstellern für Ost und West prägend waren. Der Erste Deutsche Schriftstellerkongress, noch als gesamtdeutscher ge­ plant, fand keine Fortsetzung. Man ging getrennte Wege. Im Westen galten die Treffen der Gruppe 47 als die Schriftstellerzusammenkünfte schlechthin. Im Mittelpunkt stand dort die Literatur selbst, Program­ matisches sollte nicht vorgetragen werden. Der Autor Hans Werner Richter hatte nach einem gescheiterten Zeitschriftenprojekt zu einer Redaktionssitzung für ein neues Vorhaben geladen. Daraus entwi­ ckelte sich die für die nächsten Dekaden wichtigste literarische Ins­ tanz der jungen Bundesrepublik. »Richter aber duldete keine Grund­ satzdiskussionen, weder über ästhetische noch über politische Fragen, denn er befürchtete, solche Debatten würden die Gruppe auseinan­ derreißen. Nur die vorgelesenen Texte sollten kritisiert werden.«58 Auch organisatorisch verdankte die Gruppe sowohl ihre Entstehung 1947 als auch ihr Ende zwanzig Jahre später - glaubt man den kolpor­ tierten Erzählungen - mehr oder weniger dem Zufall: »Es gab sie ein­ fach deshalb nicht mehr, weil Richter keine Einladungskarten mehr

46 Die Neuordnung der Bücherwelt verschickte.«5’ Trotz ihrer äußeren Formlosigkeit war und ist die Be­ deutung der Gruppe und ihrer Zusammenkünfte von Autoren und Kritikern - vor allem aber auch ihr Mythos - für die deutsche Nach­ kriegsliteratur kaum zu überschätzen.

Den anderen Pol markierten die Bitterfelder Konferenzen in der DDR. Diese Autorentreffen wurden von der SED-Führung vorbereitet. Unter Parolen wie »Greif zur Feder, Kumpel, die sozialistische deut­ sche Nationalkultur braucht dich!«60 sollten die Schriftsteller direkt in den Aufbau der neuen Gesellschaft einbezogen werden; dies auch ganz konkret durch aktive Teilnahme am Arbeitsleben der Werktäti­ gen der DDR. Und umgekehrt sollten die Menschen direkteren Zu­ gang zur Kultur bekommen. Hier ging es zunächst weniger um äs­ thetische Probleme als vielmehr um die großen programmatischen Linien. Wenn auch die Konferenzen und der aus ihnen sich eröff­ nende Bitterfelder Weg fast schon am Ende des hier betrachteten Zeit­ raums stehen, so zeigen sie doch den grundsätzlich anderen Ansatz. Die neue Literatur im Osten entwickelte sich unter direktem Zugriff des neuen Staates. Aus Sicht Walter Ulbrichts, des Staatsratsvorsitzenden der DDR, hatten sich dann spätestens in den sechziger Jahren getrennte Welten gebildet: »Der Existenz von zwei Staaten in Deutschland entsprechen zwei verschiedene herrschende Kulturen, die einander unversöhnlich gegenüberstehen. Mit der entwickelten sozialistischen Gesellschaft schaffen wir systematisch und planmäßig die unserer Ordnung ge­ mäße sozialistische Kultur, die frei sein muss von allen Einflüssen imperialistischer Ideologie und Unkultur«, so Ulbricht in einer Rede auf dem VII. Parteitag der SED im April 1967: »Jene geistlosen und dekadenten Produkte der Unterhaltungskunst, wie sie zur Verdum­ mung und Manipulierung der Menschen von den die kulturellen Be­ reiche beherrschenden Monopolen in Westdeutschland produziert werden, sind mit der sozialistischen Kultur ebenso unvereinbar wie die philosophischen oder ästhetischen Auffassungen der spätbürger­ lichen Kultur.«61 Spätestens zu diesem Zeitpunkt behauptete man von offizieller Seite, das gemeinsame Erbe hinter sich gelassen zu haben, gewisser-

Die Differenzierung 47 maßen auf dem administrativ gesicherten Weg. In der Konsequenz Ähnliches galt auch für den Westen. Viele glaubten sich vermeint­

lich abgesetzt zu haben. Zumindest Teile der den literarischen Ton be­ stimmenden selbst ernannten Elite sahen sich einer internationalen Moderne stärker verbunden als einer wie auch immer gearteten deut­ schen >Nationalliteratur

56 »Diktatur des guten Buches«

tungsvoll erweisen, nicht zuletzt in der damals wesentlichen Frage der Papierzuteilung.«16 Insbesondere das »seit langem vorbereitete Verlagsprogramm« war dabei wörtlich zu nehmen. Hier griffen Verleger häufig - nicht al­ lein Kurt Desch - auf Bewährtes zurück. Und dabei hätte Desch - zu diesem Urteil kommt eine gründliche Studie über seinen Aufstieg wenn die Amerikaner ihre eigenen Vorschriften ernst genommen hät­ ten, gar keine Lizenz bekommen dürfen. Er war Mitglied der NSDAP gewesen, arbeitete zeitweise in einem ausgesprochenen Parteiverlag in führender Position, hielt Kontakt zu hohen Funktionären und war als Teilhaber im Zinnen Verlag sogar Profiteur eines Arisierungspro­ zesses gewesen.17 Aber all dies geriet ihm nicht zum Nachteil. Nicht zuletzt durch eine großzügige Ausstattung mit Papier in der Anfangs­ zeit, die ihm auch gegenüber Mitbewerbern einen enormen Vorteil verschaffte, konnte Desch den Grundstein für seinen Aufschwung le­ gen.18 Unglaublich aufwändige Projekte wie die großformatige, her­ vorragend gestaltete und gedruckte Kulturzeitschrift Prisma waren nur mit massiver Protektion durch die Besatzungsmacht zu realisie­ ren. Der Verleger sei noch in der frühen Besatzungszeit durch sein Unternehmen zum Millionär geworden, das legt Bernd R. Gruschka in seiner Studie plausibel dar.19 Für manche war eben weiter Gold­ gräberzeit.

Der Unterschied zwischen bald staatlich gelenkter Buchproduktion im Osten und einem sich frei entwickelnden Marktgeschehen im Westen lässt sich bereits deutlich an der Gesamtzahl der lizenzierten Verlage ablesen. Zu den 55 in der sowjetischen Besatzungszone ver­ gebenen Verlagslizenzen sollten nicht mehr nennenswert viele hinzu­ kommen: Am Ende der DDR zählte man 78 staatlich lizenzierte Ver­ lage.20 Ganz anders in den drei Westzonen. Hier wurden allein bis zur Währungsreform im Jahr 1948 850 Unternehmen zugelassen.21 Im Westen ging es um die »möglichst rasche Sättigung des Bücher­ hungers«22 auf einem Markt, der keine Absatzsorgen kannte - vor al­

lem gab es keine Konkurrenzprodukte, die die Leute hätten kaufen können. In dieser Weise glich die Lage auf dem Buchmarkt in vieler-

»Death is so permanent. Drive carefullyl« 57

lei Hinsicht der auf diesem Sektor vor 1945. Auch im Krieg florierte der Buchverkauf aus Sicht vieler Verlagshäuser. Sie konnten - man­ gels Konkurrenz - ihre Auflagen häufig fast zu hundert Prozent inner­ halb kürzester Frist verkaufen, vielfach wurden, nicht zuletzt direkt für die Wehrmacht, Großauflagen produziert, und das Buch hatte ein Alleinstellungsmerkmal: als eines der wenigen Produkte, das ohne Be­ zugsschein zu kaufen war und sich somit hervorragend als Geschenk eignete. Der erste lizenzierte Verleger der britischen Zone war seit dem 26. Oktober 1945 Peter Suhrkamp im britischen Sektor Berlins, in der französischen der Verleger des Rainer Wunderlich Verlags Hermann Leins. Als erster in allen vier Zonen zugelassener Verlag gilt Rowohlt. Ernst Rowohlts Sohn, Heinrich Maria Ledig-Rowohlt, hatte eine ame­ rikanische Lizenz für die Verlagsgründung in Stuttgart, im März 1946 folgte sein Vater mit einer Lizenzierung durch die Briten in Hamburg, eine französische Lizenz für Baden-Baden wurde im September erteilt. Schließlich rundete eine Berlin-Dependance unter sowjetischer Er­ laubnis ab November 1947 das Portfolio ab.23 Schon diese wenigen Namen zeigen eines: Es gab bei den Verle­ gern der Gründungsjahre der Bundesrepublik keine Stunde null. Alle wichtigen Personen waren Bekannte aus vergangenen Tagen. Prob­ lematisch mit Blick auf die Geschichte deutscher Autoren oder Ver­ leger vor und nach 1945 ist heute auch weniger das Verheimlichen ganz skandalöser Kontinuitäten oder Karrieren, die es ohnehin nur in geringer Zahl gab. Problematisch ist viel eher das Beschweigen im Kleinen (etwa die SS-Mitgliedschaft eines Nobelpreisträgers) oder das verschleierte Vorleben eines Verlegers: »Der Suhrkamp Verlag wurde 1950 von Peter Suhrkamp auf Anregung Hermann Hesses in Ber­ lin gegründet.«24 Punkt. So war in einem Infoblock zur Verlagsge­ schichte Suhrkamps in einer Tageszeitung zu lesen. Nachfragen nach der Vorgeschichte des Hauses drängen sich dem Unwissenden damit gar nicht erst auf. Dabei kam kaum einer >einfach nur so< und ohne Vorgeschichte zum eigenen Verlag. Obwohl Suhrkamps Vergangen­ heit durchaus ehrenhaft war: Hatte er doch als ehemaliger Cheflektor die schwierige Aufgabe übernommen, den >arisiertenNutznießerDritten Reich< auf rund 130000 abgesetzte Exemplare gekommen.

(Anti-)Heimatroman aus dem Exil: Das siebte Kreuz In der Literatur der sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR, spielten von Anfang an die Autorinnen und Autoren des Exils eine viel bedeutendere Rolle als im Westen. Dominierten hier noch die Ver­ treter der Inneren Emigration, kamen dort viele Erfolgstitel aus den Schubladen der Geflohenen. Allein die Bestseller des Aufbau-Verlags machen das deutlich. In den ersten vier Nachkriegsjahren erschien dort Johannes R. Bechers Abschied mit 350000 Stück, Der Irrweg der Nation von Alexander Abusch mit 110000 Exemplaren, Heinrich Manns Untertan 80000 Mal und Arnold Zweigs Der Streit um den Sergeanten Grischa 70000 Mal.31

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Obwohl die Marktgesetze in der Planwirtschaft außer Kraft gesetzt waren, sollten Bücher ansprechend präsentiert werden.

Fotos aus dem Handbuch für Schaufenstergestaltung im Buchhandel aus dem Verlag für Buch- und Bibliothekswesen, Leipzig 1962.

recht große< Taschen gepasst hätten. Was sie mit Taschenbüchern gemein hatten, war ihre hohe Auflage. Wurden hier doch analog zum Zei­ tungsdruck Startauflagen von 100000 und mehr Exemplaren gefah­ ren. Und so bekannte der Verlag: »Vom literarischen absehend und rein technisch formuliert heißt der Grundsatz für die RoRoRos: Mög­ lichst viele Buchstaben auf möglichst wenig Papier für möglichst wenig Geld! Würden wir uns für die Buchform entscheiden, so würden wir allein durch die Ränder, die jede Seite hat, für jedes Buch ein Drittel 1> Die ersten Rowohlt-Rotations-Romane waren auf Zeitungspapier gedruckt und erschienen im Format 30 x 40 cm wie eine Tageszeitung: Literatur als

Verbrauchsmaterial. Hier eine Ausgabe von Plieviers Stalingrad, die 1947 in einer Auflage von 100000 Stück auf den Markt kam.

Theodor

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ROWOHLT VERLAS HAMBURG STUTTGAC

68 »Diktatur des guten Buches« mehr Papier benötigen als jetzt.«47 Sie scheinen vor allem für den Ver­ lag eine Notlösung gewesen zu sein (»in augenblicklicher Not können wir das wirkliche Bibliotheksbuch nicht hersteilen«48). Es gab offenbar in der britischen Zone Zeitungsdruckpapier, entsprechende Maschinen scheinen sich auch gefunden zu haben. Ja, später wurden die kleinen (tatsächlich im Taschenformat produzierten) rororo-Bändchen mit Leinenrücken zum Inbegriff und zu einem Motor des Taschenbuch­ marktes im deutschsprachigen Raum. Die großen Rotations-Romane waren das nicht. Vom Format her konnten sie anders kaum sein. Die Nebelschwaden rund um die Geburt des Taschenbuchs aus dem Geist der Großauflage - die mal im Angelsächsischen stattgefunden haben soll, mal auf alle Fälle für Deutschland in der Nachkriegszeit anzusie­ deln sei - sind vielmehr der Sehnsucht nach einem echten Neuanfang geschuldet. Wer wollte schon darauf gestoßen werden, dass sowohl die Zeitungsromane als auch die Taschenbücher bereits im >Dritten Reich< auf dem deutschen Markt höchst erfolgreich gewesen waren?4’ Treffend bemerkt dazu David Oels in seiner Studie zu Rowohlt, dass es sich bei den Rotations-Romanen im Großformat vor allem um eine als »pragmatisches Produkt der >Stunde Null< [...] inszenierte Reihe«50 ge­ handelt habe. Und dennoch wird auch hier, trotz detaillierter Darstel­ lung der Produktions- und Verlagsgeschichte von Rowohlt jener Jahre, weiter kolportiert, »dass die Rotationsromane im Nachkriegsdeutsch­ land die Rezeptionsbedingungen für massenhaft verbreitete, industriell gefertigte Literatur geprägt und damit den Boden für [...] die Ära des modernen Taschenbuchs in Deutschland!«51 bereitet hätten. Pate und Geburtshelfer aller deutschen Nachkriegs-Massenauflagen waren aber vor allem die Feldpostausgaben, die in riesigen Stück­ zahlen produziert, aus ganz praktischen Gründen im Taschenformat für den Soldatenrock gefertigt und von nahezu allen im Krieg noch am Markt befindlichen Verlagen produziert worden waren. Hier ka­ men alle Verlagsleute mit dem Wesen und der Technik des Massen­ marktes in Kontakt und konnten Erfahrungen sammeln, die ihnen nach 1945 wieder hilfreich sein sollten. Taschenbücher bzw. klein­ formatige Bücher in Großauflage waren auf dem deutschen Markt auch davor schon lange bekannt wie etwa die gelben Heftchen von

Gesamtdeutsche Bestseller 69 Reclams Universalbibliothek oder die gelben oder roten Ullstein-Bü­ cher. Aber auch bei Bertelsmann erschienen im Krieg, häufig parallel zur Hardcoverausgabe, Bücher, die in Format (11x18 cm) und Aus­ stattung schon dem modernen Taschenbuch der Nachkriegszeit ent­ sprachen. Vor allem für den deutschen Buchmarkt erwies sich der Krieg mit seiner Materialknappheit einerseits und einem gesteigerten Lesebedürfnis andererseits als gewaltiger Beschleuniger und Modernisierer; wenn auch nach dem Krieg, wie wiederum David Oels zeigt, Verlage lieber auf die US-amerikanischen Feldpostvorläufer verwiesen oder die amerikanischen Pocketbooks als ihre Vorfahren nannten52 all dies bewusst und absichtsvoll. Mit den Feldpostausgaben für die Wehrmacht konnten nicht nur große Verlage ihre Umsätze gewaltig steigern, nein, auch andere Häu­ ser, vormals eher als Spartenverlage für ganz bestimmte Kreise von In­ teresse, wurden mit dem Bücherboom im Krieg zu Unternehmen, an denen man bald nicht mehr vorbeikam. C. Bertelsmann steigerte sei­ nen Umsatz von 1928 bis 1937 langsam, aber stetig von 1 Million auf circa 1,9 Millionen Reichsmark. Dieser Wert schoss dann mit dem Krieg steil nach oben. Für 1939 verzeichnete der Verlag 3,1 Millionen, für 1940 5,1 und für 1941 8 Millionen Reichsmark Umsatz! Bertels­ mann entwickelte sich bald zum wichtigsten Buchlieferanten für die Wehrmacht, dicht gefolgt vom Partei-Verlag der NSDAP als seinem schärfsten Konkurrenten sowie dem W. Kohlhammer Verlag in Stutt­ gart und dem Bibliographischen Institut in Leipzig. Weitere Verlage, die sich in diesem Marktsegment erfolgreich und im großen Stil be­ tätigten, waren neben anderen der Insel Verlag Leipzig, Reclam eben­ falls in Leipzig und Langen-Müller in München. Generell gilt, dass es wohl keinen Verlag gab, der freiwillig auf Geschäfte mit den Militärs verzichtet hätte. Was den Handel mit Büchern in diesen Jahren so attraktiv machte, lässt sich wiederum am Fall Bertelsmann illustrieren. Stieg der Um­ satz zwischen 1933 und 1941 um das Siebenfache, so verdreißigfachte sich im selben Zeitraum der Gewinn! Die Ursachen dafür sind leicht erklärt. Es ließen sich vor allem im Krieg mehr Großauflagen produ­ zieren und absetzen, die per se wirtschaftlicher und mit üppigeren Ge-

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winnmargen herzustellen waren als kleinere Stückzahlen. Die Tendenz zu größeren Auflagen lässt sich für die gesamte Verlagsbranche statis­ tisch belegen. So stieg die ermittelte Durchschnittsauflage sämtlicher in einem Jahr verlegter Bücher von 11000 Exemplaren 1940 auf durch­ schnittliche 18000 im Jahr darauf.53 Die realen Kosten für Vertrieb und Werbung gingen parallel dazu immer weiter zurück, da man es nur mit wenigen Großkunden zu tun hatte und man für das rare Gut Buch beim Endkunden kaum aktiv werben musste: Er kaufte es so oder so. Auch das Verhältnis von produzierter und abgesetzter Ware drang in Bereiche vor, die in Friedenszeiten völlig utopisch sind. So gelang es beispielsweise Bertelsmann, seine Produktion des Jahres 1940 im Ver­ lauf der darauffolgenden zwölf Monate bis auf einen Rest von 1,1 Pro­ zent vollständig abzusetzen. Unter solchen Gegebenheiten konnte ein Buchverlag so profitabel arbeiten wie nie zuvor.54 Was der Buchmarkt vor der Währungsreform mit dem unter Kriegsbedingungen im Nazi­ reich gemein hatte? Er kannte ebenfalls kaum Absatzsorgen. Was ge­ druckt wurde, konnte an den Käufer gebracht werden. Alle Auflagen wurden nahezu vollständig verkauft. So seien von Deschs Produktio­ nen bis zur Währungsreform die von 1945 bis auf 1%, die von 1946 bis auf 2%, die des Jahres 1947 bis auf 6% verkauft gewesen.55 »Ich selbst gestehe, daß ich als Verleger mich im Augenblick wie im Paradiese fühle [...], daß ich heute zum erstenmal in meinem Leben Bücher [...], die meinem verlegerischen Instinkt Zusagen, in ungeheu­ ren Massen verkaufen kann (wenn es mir glückt, das entsprechende Papier zu beschaffen, und mir ist das in vielen Fällen geglückt): das ist für einen Verleger von Leidenschaft paradiesisch.«56 Dies schrieb Ernst Rowohlt - 1947. Und vielleicht abgesehen von der Freiheit des Verlegers traf dieses Zitat in vielen Punkten gerade auch auf die Kriegsjahre vor 1945 zu. Auch da hatten (siehe oben) solch paradiesi­ sche Zustände geherrscht, und auch die Rede vom »guten Buch«, das dem Massenpublikum zugänglich gemacht werden müsse, hatte be­ reits Konjunktur. Würde man den zeithistorischen Hintergrund ausblenden, allein anhand der auf dem Buchmarkt angewandten Produktions- und Ver­ triebstechniken oder anhand der Rhetorik des maßgeblichen Ver-

Ein Wendepunkt: Theodor Plieviers Stalingrad 71 lagspersonals ließe sich eine Zäsur analog zu einer immer wieder be­ schworenen Stunde Null auch beim besten Willen nicht ausmachen. So wenig Zäsur war nie.

Ein Wendepunkt: Theodor Plieviers Stalingrad Doch zurück zu Plieviers Erfolgsroman. Es ist erstaunlich genug, dass dieses schonungslose Buch über den Untergang der 6. Armee bei Sta­ lingrad bereits so kurz nach dem Krieg in allen Zonen zum Bestseller werden konnte. Oder vielleicht liegt es gerade daran, dass das Buch in der unmittelbaren Nachkriegszeit auf den Markt kam, noch bevor sich eine Abwehrreaktion auf diese Stoffe oder eine so schonungslose Darbietung bilden konnte? Dabei fragte schon der Rowohlt-Lektor Kurt W. Marek in seinem 1947 gedruckten Nachwort: »Plieviers Sta­ lingrad, dieses fürchterlichste aller bisherigen Kriegsbücher, erschien ein Jahr nach unserer Kapitulation. Es trifft auf uns, auf Erschöpfte, Hungernde, Frierende, Unwillige, Verwirrte, kaum schon bereit zum >peccavi< und zum Rufe >mea culpac Haben wir, die Leser, den Ab­ stand, dies Buch zu ertragen, auszuhalten [.,.]?«57 Sicher spielten auch die von Rowohlt und anderen diagnostizierten paradiesischen Zustände eine Rolle, da es auf dem Buchmarkt für die Leser und Käu­ fer noch nicht allzu viele Alternativen gab. Gewissermaßen nach dem Motto: Es wird gelesen, was auf den Tisch kommt. Aber las man des­ wegen solch schwere Kost? Plievier ist mit einem der ersten Kriegsbücher zugleich eines der mo­ dernsten unter den erfolgreichen gelungen. Ihm und dem Stoff ge­ nügte die klassische Erzählform des Romans nicht mehr. Wuchtig und kollagenhaft entwirft er sein Bild der Schlacht. Der Roman beginnt mit dem markanten und unverwechselbaren Satz: »Und da war Gnotke.«58 Viel näher kommen wir den Personen, seinem Gnotke, seinem Gimpf oder Vilshofen kaum. »Die alte epische Form [...] ist hier zerschlagen in einzelne Bilder von erschreckender Grellheit und bestürzendem In­ halt, in zerhackte Wirklichkeit, in Aktennotizen, Lebenslauf und Ge-

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fechtsbericht, in Episode und Momentaufnahme und medizinische Diagnose«59, so der Rowohlt-Lektor Marek weiter. Es sind Elemente des Dokumentarischen, die das Gesamtpanorama entstehen lassen. Dabei findet das Kriegsgeschehen rund um den Kessel von Stalingrad nicht im geschichtsleeren Raum statt, wenn auch alles ganz aus der engen Perspektive der deutschen Soldaten erzählt wird, die »Russen« auch bei Plievier weitgehend gesichtslos bleiben. Der Autor lässt keinen Zweifel daran, dass das Leiden der Deutschen eine Folge ihrer eigenen Kriegsverbrechen ist. Plötzlich werden die Täter von ihren eigenen Ta­ ten eingeholt: »Der Obergefreite Rieß, früher SS-Mann und vor einem Jahr bei einer SS-Lagerwache im Generalgouvernement Polen, kannte das Radikalmittel gegen Typhus: eine Kugel hinter die Ohren und vier­ zehn Fuß tief unter die Erde und Kalk rüber I«60 Jetzt bekommen die Eroberer ihre eigenen Methoden zu spüren: »Er hätte niemals gedacht, dass er selbst Objekt solcher an kran­ ken Lagerinsassen und an kranker Zivilbevölkerung geübter Vernich­ tungsmethoden werden könnte [...].«« Und der Weg nach Stalingrad war von den deutschen Kriegsverbrechen gezeichnet: »Haufen russi­ scher Flüchtlinge, Greise und Frauen und Mütter [...], hinter Stachel­ draht verfaulende russische Zivil- und Kriegsgefangene [...], eine Zi­ vilbevölkerung [...] in Massen zusammengetrieben und waggonweise nach Deutschland in die Sklaverei verschleppt [...].«« Das im Roman vorgeführte Erklärungsmodell für all das, was ge­ schehen war, mochte in diesen frühen Jahren in Ost und West akzep­ tabel sein und funktionieren: Es fokussierte, was den Hintergrund der Verbrechen anging, auf den Verführer des Volkes, namentlich Hitler. »[...] Einem ganzen Volk aber den Willen und das Gewissen geraubt und dieses Volk in eine starre Maschine verwandelt zu haben, das sei grauenhafter als die Straße, die sie eben gefahren seien, denn es sei die Ursache nicht nur für eine, sondern für viele solcher Straßen.«63 Und an anderer Stelle wird ausgerufen: »Deutsches Volk, welche Tollheit und wessen Tollheit musst du hier ausschwitzen!«64 Das Volk sei der »Fahne des Wahnwitzes«65 gefolgt. »Verbrenner« wurden bei Plievier zu »Verbrannten«66, aber ohne die sonst übliche Larmoyanz; das Wa­ rum steht nie infrage. Die Deutschen haben den Krieg entfesselt und

Ein Wendepunkt: Theodor Plieviers Stalingrad 73 fallen ihm nicht unschuldig zum Opfer. Unschuldig waren andere,

die dann durch deutsche Hand sterben mussten. Plievier hatte die Fä­ higkeit, zwar Einzelschicksale zu schildern, diese aber immer für das Ganze stehen zu lassen (so konnte er selbst ja das Geschehen aus der Distanz beobachten). Die Frage der Verantwortung stellt Plievier aber vor allem den Of­ fizieren. Er entlarvt sie als die, die die Durchhaltebefehle des fernen >Führers< vor Ort gnadenlos durchexerzieren. Die bis zuletzt keine Ka­ pitulation dulden und damit unzählige zusätzliche Opfer in Kauf neh­ men. Am schlechtesten kommt bei Plievier Friedrich Paulus weg, der zuletzt noch zum Generalfeldmarschall beförderte Oberbefehlshaber der 6. Armee. Plieviers Anklage: Die militärischen Führer der Wehr­ macht fordern von ihren völlig entkräfteten Soldaten den Kampf bis zur letzten Patrone, aber als sie selbst an der Reihe sind - bis zuletzt noch leidlich bis gut versorgt und mit Cognac und Zigarren ausge­ stattet -, kneifen sie: versuchen zu fliehen, begehen Selbstmord oder ergeben sich wie Paulus schließlich doch - entgegen den eigenen Be­ fehlen - den Russen. ln alldem gelang Plievier das Kunststück, noch einen Rest Mensch­ lichkeit darzustellen, der den Figuren Hoffnung auf eine ferne Zu­ kunft macht. Und obwohl diese Menschlichkeit an Verhaltensweisen gezeigt wird, die in der Masse der Kriegsbücher als >Kameradschaft< stilisiert wurden, besteht bei Plievier nie die Gefahr, dass sich eine falsche Landserromantik breitmacht. Die zwei Hauptfiguren, Un­ teroffizier Gnotke und der noch zum General beförderte Vilshofen (»Und da war Vilshofen«67). stehen für einen möglichen Weg in die Zukunft. Vilshofen seziert die miese Rolle des Offizierkorps und stellt die Frage nach der Schuld: »Nicht nur militärisch, nicht nur falsche Zirkelbogen auf Generalstabskarten [...] Wieviel wiegt die tote Stalin­ gradarmee, wieviel wiegt dieser gespenstische Gefangenenzug [...] Ist die Schuld aufzuwiegen, wie ist sie aufzuwiegen?«68 Einen Hoffnungs­ schimmer lässt Plievier aufleuchten, da er Vilshofen und Gnotke fest­ stellen lässt: Es geht nicht allein weiter, nur in Gemeinschaft können Sie nach vorn schaun. Und im letzten Satz des Romans zeichnet Plie­ vier die Fußspuren der beiden durch den Schnee in eine ungewisse,

74 »Diktatur des guten Buches«

aber vielleicht bessere Zukunft führend, deren konkrete Form aber of­ fengelassen wird. Obwohl zunächst in Ost und West in hoher Auflage erschienen, mag Plievier kritische Momente gehabt haben, die ihn in beiden La­ gern auf Konfrontationskurs brachten. Den Osten dürfte gestört ha­ ben, dass er in Stalingrad jede Menge christliche Motive und Fragen von Schuld und Sühne aufwarf. Zudem fand 1953 der von Plievier in schlechtem Licht dargestellte Paulus nicht nur Aufnahme, sondern sogar eine gewisse Anerkennung in der DDR. Im Westen schmeckte vielen vor allem Plieviers Darstellung der militärischen Elite nicht. Als 1963 eine Fernsehspielfassung von Stalingrad ausgestrahlt werden sollte, verschickte der Generalinspekteur der Bundeswehr eine Ins­ truktion an die Truppe, in der Plievier als »damalige[r] kommunistische[r] Schriftsteller« bezeichnet wurde, der sein Werk im »sowjeti­ schen Auftrag«6’ geschrieben habe. Im Mai 1945 nach Deutschland zurückgekehrt, war Plievier für einige Zeit Präsident des Kulturbundes zur demokratischen Erneue­ rung Deutschlands in Thüringen.70 Die vorübergehende Arbeit als Ge­ schäftsführer für den Gustav Kiepenheuer Verlag blieb gleichfalls Epi­ sode.71 »Ich befinde mich hier in Bayern mit einem ordnungsgemäßen Interzonenpass, der von der sowjetischen Militärverwaltung in Wei­ mar ausgestellt ist«, so sah sich Plievier im Jahr 1947 gegenüber der ostdeutschen Presse genötigt zu erklären. »Nach erfolgreichen Vorle­ sungen aus meinem Roman Stalingrad in verschiedenen süddeutschen Städten halte ich mich in München auf, um hier die Korrekturen zu einer Neuausgabe meines Stalingradromanes, der bei Kurt Desch in München in einem Lizenzaustausch mit dem Aufbau-Verlag erscheint, zu erledigen. Nach Abschluss dieser Arbeiten werde ich nach Berlin fahren, um mich an den Vorbereitungen für den deutschen Schriftstel­ lerkongress zu beteiligen.«72 Daraus wurde allerdings nichts. Tatsäch­ lich hatte Plievier zu diesem Zeitpunkt die sowjetische Besatzungszone mit seiner Frau dauerhaft Richtung Westen verlassen, wo er zunächst fast mittellos war: »ln der Bundesrepublik bis in die sechziger Jahre als Kommunist verschrien und in der DDR immer als Antikommunist verrufen [,..].«73 Es blieb bei einer Grußadresse an den Ersten Deut-

Ein Wendepunkt: Theodor Plieviers Stalingrad 75 sehen Schriftstellerkongress. Als Aufgaben sah der darin für die Auto­ ren: »Die deutsche Wirklichkeit ist zu deuten. Die Trümmer und der jähe moralische Verfall sind zu erklären.«74 Es gelte, sich auf die Bibel und die aus ihr abgeleiteten humanistischen Grundsätze zu berufen. »Das ist es, was meines Erachtens das deutsche Volk von einer Ver­ sammlung deutscher Schriftsteller erwarten darf: ein Bekenntnis zu den unabdingbaren Elementen aller modernen Demokratien als Vo­ raussetzung für die Neuordnung der Völkerbeziehungen, als Grund­ lage für internationales Recht und internationale Sicherheit und auch als Grundlage für die geistige, gesellschaftliche und staatliche Wieder­ geburt eines selbständigen und einheitlichen Deutschlands.«75 Das war kein Bekenntnis, mit dem Plievier in der sowjetischen Be­ satzungszone hätte punkten können. Im Osten Deutschlands wurde sein wegweisender Roman über 30 Jahre lang nicht mehr verlegt und konnte erst 1984 wieder erscheinen. Hier hatte man ihm seine »anti­ kommunistischen Tiraden« nicht verziehen. So konstatierte Her­ mann Kant im Nachwort zur Neuausgabe im Aufbau-Verlag in den achtziger Jahren, Plievier habe »nach seinem Frontwechsel 1947 und seinem Fortgang von Weimar [...] nur noch schlimme Machwerke geliefert [...]. Selten hat sich politischer Absturz auch so deutlich als ein literarischer gezeigt.«76 An der literarischen »Gültigkeit« von Stalingrad jedoch hegte Kant keine Zweifel. »Denn es gibt kein ande­ res Stück deutscher Literatur [...], mit dessen Hilfe man die Wahrheit über die kriegsentscheidende Schlacht an der Wolga so vor den Legen­ den schützen kann wie mit Stalingrad.«77

Im Auftrag der Alliierten: Eugen Kogon und Der SS-Staat Es mag auch am unmittelbaren Einfluss der Siegermächte gelegen haben, dass in den Jahren bis zur Gründung beider deutscher Staa­ ten Bücher, die sich relativ ungeschminkt der jüngsten Vergangen­ heit widmeten, so hoch im Kurs standen. Am deutlichsten wird das an Eugen Kogons Buch Der SS-Staat, das unmittelbar unter alliier-

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tem Einfluss entstand. Es war einer der ersten Texte, der breitenwirk­ sam die deutschen Verbrechen in den Lagern thematisierte. Erstmals 1946 erschienen, kam der Titel bis ins Jahr 1960 immerhin auf über 260000 verkaufte Exemplare. In der unmittelbaren Nachkriegszeit zählte er zu den »begehrtesten« Büchern in Deutschland. So landete er bei einer Umfrage, die der Kurt Desch Verlag unter westdeutschen Buchhändlern durchführte, neben Hesses Glasperlenspiel, Thomas Manns Lotte in Weimar und Plieviers Stalingrad unter den meistge­ nannten,78 in Ost wie West gleichermaßen rezipiert. Kogon selbst hatte Buchenwald überlebt. Im Auftrag der Amerikaner, die Ein­ blick in die Funktionsweise der Konzentrationslager gewinnen woll­ ten, schrieb Kogon einen ersten Bericht, der seine eigenen Erlebnisse und Beobachtungen und weitere Zeitzeugenstimmen einbezog. Dem schloss sich auf Wunsch der Alliierten bald die Erweiterung dieses zu­ nächst nur für interne Zwecke gedachten Dossiers zu einem Buch für die breite Öffentlichkeit an. Ausgehend von Buchenwald versuchte

Kogon nun das System der Lager und der SS-Herrschaft darzustellen. »Entstanden war nicht eine Geschichte der deutschen Konzentrati­ onslager, auch nicht ein Kompendium aller verübten Grausamkei­ ten, sondern ein vorwiegend soziologisches Werk, dessen als wahr festgestellter menschlicher, politischer und moralischer Inhalt bei­ spielhafte Bedeutung hat.«7’ Insofern konnte und wollte Der SS-Staat gar nicht die nationalsozialistischen Verbrechen in ihrer Gesamtheit erfassen. Sicher kann man zu Recht anmerken, dass auch in diesem Werk der Holocaust, die Verbrechen an den Juden, einer Form der Marginalisierung unterlagen. Allerdings stehen auf den rund 400 Sei­ ten des Buches die Vernichtungslager der SS nicht im Zentrum der Darstellung. Zwar gibt Kogon die Gesamtzahl der Opfer unter Ein­ beziehung der in den Vernichtungslagern Getöteten an, allerdings eben mit Blick auf das ganze Buch eher beiläufig. So sind etwa den Gaskammern ganze zwei Seiten gewidmet oder es heißt nach einer mehrseitigen Auflistung der Opferzahlen von Buchenwald bzw. an­ deren Lagern in Deutschland: »Im Osten gab es von 1940 an KL, die nur als Vernichtungslager bezeichnet werden können, an erster Stelle Auschwitz mit wenigstens 3,5 Millionen, wahrscheinlich 4,5 Millio-

Im Auftrag der Alliierten: Eugen Kogon und Der SS-Staat 77 nen Todesopfern. Etwa ein halbes Dutzend kleinere dürften zusam­ men ebenfalls 1,5 bis 2 Millionen Tote gefordert haben, so vor allem Maidanek, Treblinka, Skarzisko Kamienno sowie die Ghettos in War­ schau, Lemberg und Riga.«80 Dies soll keineswegs das große Verdienst von Kogon schmälern, es zeigt allein, wie stark auch das beredte Schweigen eines Eugen Kogon durch die äußeren Umstände, etwa den Wissensstand der jeweiligen Zeit, mitbestimmt war. Zudem war es ein Buch, bei dem die Alliier­ ten aktive Geburtshilfe geleistet hatten: Der Titel startete parallel mit drei Sonderausgaben für die amerikanische Zone in München, die britische in Düsseldorf und für »Groß-Hessen«, auch unter ameri­ kanischer Verwaltung, in Frankfurt am Main. »Kogons Buch ist bis heute in neun Sprachen übersetzt und über eine halbe Million Mal verkauft worden (2006 erschien die mittlerweile 43. Auflage).«81 Sei­ nen Erfolg feierte das Buch allerdings in zwei Etappen. Die erste in den unmittelbaren Nachkriegsjahren, dann erlebte es 1974 eine Wie­ derentdeckung mit darauf folgenden unzähligen Taschenbuchausga­ ben. Gewisse Zugeständnisse an die deutschen Zeitgenossen seien mit ein Grund für seine positive Aufnahme gewesen: »Wiederholt weist er eine Kollektivschuldthese zurück, äußert Verständnis für den deut­ schen Widerwillen gegenüber der Reeducation und beschränkt den Kreis der Schuldigen auf die seiner Einschätzung nach asozial veran­ lagten Nazi-Täter.«82 »Der außerordentliche Erfolg von Kogons >Der SS-Staat< in der Bundesrepublik resultierte daraus, dass das Buch bei­ des war: akribische Darstellung von KZ-Wirklichkeit zur Entlarvung des Nationalsozialismus und erzieherisch motiviertes Verständnis für deutsche Abwehrhaltungen; an das Gewissen appellierende Nahsicht auf die mörderische Seite des >Dritten Reichs< und Erkenntnisschran­

ken der Zeit zuarbeitende Deutung.«83 Und vermutlich konnte es anders gar nicht sein; musste das Buch, wie alle anderen Bücher auch, die das Ungeheuerliche schildern woll­ ten, irgendwo Anknüpfungspunkte für den deutschen Leser bieten, durfte ihn nicht völlig vor den Kopf stoßen. »Es steht an der Grenze des Sittlich-Erlaubten, denn es bringt inhaltlich kaum etwas Gutes.« Das hatte der Autor der Erstausgabe seines Berichts 1945 mit auf den

78 »Diktatur des guten Buches«

Weg gegeben. »Da es aber ein Ecce-Homo-Spiegel ist, der nicht ir­ gendwelche Scheusale zeigt, sondern dich und mich, sobald wir nur dem gleichen Geiste verfallen, dem jene verfallen sind, die das System geschaffen haben, muss er uns vorgehalten werden. Vielleicht wird es dazu beitragen«, so der Autor weiter, »Deutschland vor der Wieder­ holung des Gleichen und die Welt vor Ähnlichem zu bewahren.«84 Mit Kogons aufrüttelndem Werk schloss sich produktionstech­ nisch ein Kreis: Eine große Teilauflage von 100000 Stück kam im Jahr 1947 aus den Rotationsdruckmaschinen im Druckhaus Tempelhof. Wahrscheinlich das »größte und modernste Druck- und Verlagshaus Deutschlands«85, wie es in einem vertraulichen Bericht des US-Hauptquartiers in Berlin hieß. Vor 1945 gehörte dieses Druckhaus zum so­ genannten Deutschen Verlag, der in der NS-Zeit unzählige Buchbest­ seller auf den Markt warf und zum Pressekonzern der NSDAP gehörte. Vor der Aneignung durch die Nazis hieß der Deutsche Verlag UllsteinVerlag. Seine Inhaber: die Verlegerdynastie der Ullsteins, eine der wichtigsten und einflussreichsten jüdischen Unternehmerfamilien in Deutschland. Sie mussten das Land gezwungenermaßen verlassen. Ihr wertvolles Unternehmen wurde >arisiert< und wechselte »für den Ge­ genwert eines Bleistiftes«86 den Besitzer. Erst 1952 erhielt die Familie wieder Zugriff auf ihr Vermögen. In der Nachkriegszeit sorgte alte Ull­ stein-Produktionstechnik für die Verbreitung dieses Meilensteins der Aufarbeitung von NS-Verbrechen.

ERZÄHLEN VON KRIEG UND LAGER Schreiben

Das Tagebuch der Anne Frank:

später Ruhm einer Ermordeten Dieses Buch und vor allem seine junge, in einem KZ umgekom­ mene Autorin sind zu einer echten Ikone geworden: Das Tagebuch der Anne Frank. Bis ins Jahr 1962 kam es in deutscher Sprache auf eine Gesamtauflage von über 800000 Exemplaren. 1947 war die hol­ ländische Originalausgabe erschienen, drei Jahre später die deutsche Erstausgabe im Verlag Lambert Schneider Heidelberg. Allein von der Taschenbuchversion beim Fischer-Verlag wurden in zwei Jahren über 400000 Stück produziert und sogar in der DDR konnte der Union Verlag von 1957 an mehrere Auflagen veranstalten. Schon nach Vor­ liegen der Druckgenehmigung für das erste Zehntausend holte der Verlag die Genehmigung für eine Erhöhung der Startauflage auf 30000 Stück ein: Der Erfolg eilte dem Titel auch im Osten Deutsch­ lands voraus.1 Das Tagebuch war eines der ersten Werke, das sich explizit mit dem Schicksal der Juden befasste und ein breites Publikum auch in Deutschland erreichte. Zwar hatte es schon früh Texte zum Holocaust gegeben; diese sind aber heute weitgehend vergessen und waren meist nur in kleinen Auflage erschienen.2 Generell gelten »die 1950er Jahre zu Recht in vielerlei Hinsicht als das Jahrzehnt des Schweigens über die Shoah«3, in denen das Tagebuch eine echte Ausnahmeerscheinung

80 Erzählen von Krieg und Lager war und in dieser Zeit zu einem »zentralen Text der Holocaust-Litera­ tur [...] nicht nur in Westdeutschland, sondern in der gesamten west­ lichen Welt«4 wurde. Anne Frank musste mit ihrer Familie vor der Judenverfolgung aus Deutschland nach Holland fliehen. Nachdem auch dieses Land von der Wehrmacht besetzt wurde, geriet die Familie erneut in Gefahr und versuchte, sich in einem Amsterdamer Hinterhaus zu verstecken. Im August 1944 wurde sie entdeckt. Anne und ihre Schwester starben im KZ Bergen-Belsen. Einzig der Vater überlebte und kümmerte sich später um Annes autobiografisches Vermächtnis. Im veröffentlichten Tagebuch wird dieser Teil der Geschichte nur als Rahmeninformation mitgegeben. Die Aufzeichnungen setzen kurz vor dem Rückzug der Familie Frank in das Hinterhausversteck ein und brechen mit einem Eintrag am 1. August 1944 ab. Drei Tage später wurde die Familie von der Polizei aufgespürt und ins KZ verschleppt. Mit »liebe Kitty« wandte sich Anne in ihrem Tagebuch an ein fikti­ ves Gegenüber, dem sie die alltäglichen Sorgen und Nöte anvertraute. Die tragischen Zeitumstände müssen bekannt sein, das große Ge­ schehen leuchtet über einzelne Einträge des Mädchens immer wie­ der nur von fern in die verborgenen Zimmer im Hinterhaus hinein. »Man erwartet in allernächster Zeit die Invasion. Wenn Du hier wä­ rest, würdest du wohl genau so wie ich tief unter diesem Eindruck ste­ hen oder uns sogar auslachen, weil wir uns vielleicht unnötig verrückt machen.«5 Dabei sind die Einträge nicht verzweifelt, sondern geist­ voll und sogar mit Blick auf dramatische Situationen voller Humor. So etwa entwickelte Anne den Gedanken, dass bei einer Überschwem­ mung Hollands, die - so dachten manche - von den Deutschen im Falle einer Invasion geplant herbeigeführt werden solle, sie sich eben ins Wasser retten müssten: »Wir werden probieren zu schwimmen. Wenn wir in Badeanzug und Taucherkappe sind und möglichst viel unter Wasser schwimmen, wird niemand merken, dass wir Juden sind.«6

Auch wenn es sich beim Tagebuch der Anne Frank um eines der we­ nigen Bücher handelt, das sich den Verbrechen der NS-Zeit nähert und das heute ein weltweit bekanntes Mahnmal ist, so lassen sich

Das Tagebuch der Anne Frank: später Ruhm einer Ermordeten 81 sogar hier Momente des Schweigens und der Abwehr ausmachen. Der Leser begegnet in Annes Aufzeichnungen einerseits einem Ein­ zelschicksal, das die menschliche Dimension der Massenvernichtung näherbringt, indem es zum Beispiel Jugendlichen über die Identifika­ tion mit den Opfern einen Zugang anbietet. Andererseits wird der or­ ganisierte Mord an den Juden nicht thematisiert, wie auch der Tod Anne Franks in ihrem Tagebuch - logischerweise - nicht vorkommt. Schon Theodor W. Adorno hatte früh auf diesen Umstand hingewie­ sen: »Der individuelle Fall, der aufklärend für das furchtbare Ganze einstehen soll, wurde gleichzeitig durch seine eigene Individuation zum Alibi des Ganzen [,..].«7 Der persönliche Zugang über ein Tagebuch verbürgte ein authenti­ sches Mit-Erleben mit den Opfern. Allerdings nur für die Menschen, denen die historischen Fakten zum Holocaust vertraut waren und die nicht an ihnen zweifelten. Gerade weil es sich um individuelle Erleb­ nisse handelte, die auf ein breites Publikum eine große Wirkung hat­ ten, wurde das Tagebuch immer wieder angegriffen, seine Authenti­ zität angezweifelt und somit der historische Rahmen - die Deutschen haben Juden massenhaft ermordet - in Zweifel gezogen. »Die ge­ fälschten Tagebücher der Eva Braun, der Königin von England und das nicht viel echtere der Anne Frank haben den Nutznießern der deut­ schen Niederlage zwar einige Millionen eingebracht, uns dafür aber auch recht empfindlich werden lassen«8, so hatte sich Ende der fünf­ ziger Jahre ein Lübecker Studienrat geäußert und damit Anne Franks Vater, Otto, direkt angegriffen und verunglimpft. Dieser ging gegen jene und andere Attacken juristisch vor. Nachdem die Staatsanwalt­ schaft durch grafologische Gutachten von der Echtheit des Tagebuchs überzeugt war und Anklage erhob, widerrief der Studienrat seine frü­ here Behauptung. Dieser Angriff war nicht der erste und blieb auch nicht der letzte. Das erfolgreiche Buch zum Holocaust musste sei­ nen Gegnern quasi schon durch seine Verbreitung suspekt sein. Mit »Best-Seller - ein Schwindel«’ waren beispielsweise Hetz-Flugblätter überschrieben, in denen mit einer ähnlichen These fast 20 Jahre später noch in Frankfurt am Main gegen das Tagebuch zu Felde gezo­ gen wurde.

82 Erzählen von Krieg und Lager

Gedichte nach Auschwitz? Bestseller nach Auschwitz! Eine Frage drängt sich bei der Beschäftigung mit der Literatur nach 1945 in Deutschland auf: Es ist die nach dem Reden bzw. Schrei­ ben über das Ungeheuerliche, die deutschen Kriegsverbrechen, den Mord an den europäischen Juden und anderen ethnischen und sozi­ alen Gruppen. Wenn die gesamte schriftstellerische Produktion der ersten Nachkriegsdekade in den Blick gerät, so fallen nicht nur die Texte auf, die sich explizit den schwierigen Themen nähern, sondern der Leser stößt vor allem auf vieles, was nicht gesagt, nicht geschrieben wurde. Auf das Schweigen. Dabei ist »Schweigen [...] keine seman­ tische Leere; es ist von Erzählstrategien erfüllt, die Ideologien trans­ portieren [...] Was Schweigen konstituiert, ist die Abwesenheit von Wörtern, doch gleichzeitig und deswegen ist es die Anwesenheit ih­ rer Abwesenheit.«10 Mit einfacheren Worten gesagt: Gerade das, was nicht ausgesprochen oder niedergeschrieben wird, aber vor dem zeit­ historischen Hintergrund zu erwarten wäre, ist von Bedeutung. Zu unterscheiden seien dabei zwei Formen des Schweigens, so Ernestine Schlant in ihrer Studie zur deutschen Literatur und dem Holocaust. Es hätten »die Täter [ge] schwiegen, weil sie >zu viel wusstenNicht-Wahrhaben-Wollen< der ihnen zugefügten Gräuel nah­ men. Besser ist deshalb vielleicht die Unterscheidung zwischen dem Beschweigen des Holocaust und dem Verschweigen.«11 Beschweigen ist hier als Nicht-darüber-Sprechen zu verstehen, während das Ver­ schweigen das bewusste Nichtsagen oder Verheimlichen meint. Es gibt auch Versuche, das Schweigen bzw. das Sprechen nur in Andeutungen anders zu interpretieren. So seien die Verbrechen sehr wohl »weiterhin, wenn auch in zweiter Reihe, präsent« gewesen. »Das kann man als Marginalisierung des im Rückblick Zentralen dieses Krieges interpretieren und sich darüber moralisch entrüsten; vieles

Gedichte nach Auschwitz? Bestseller nach Auschwitz! 83 spricht jedoch dafür, es so zu lesen, dass hier am Rande an etwas er­ innert wurde, das wie selbstverständlich bei den Lesern, aber auch den Leserinnen als bestens erinnerlich vorausgesetzt werden konn­ te.«12 Dieses Erinnern setzt allerdings die eigene Teilhabe voraus und schlösse schon die jungen Leser der fünfziger Jahre aus, die die Zeit davor nur als Kinder erlebt hatten. Es wird also von Fall zu Fall beim Betrachten der Literatur die Frage zu stellen sein, welche Funktion Re­ den oder Schweigen im Einzelfall hatte und wie die Texte auf unter­ schiedliche Zielgruppen gewirkt haben könnten. Vor diesem Hintergrund nimmt Das Tagebuch der Anne Frank eine Mitt­ lerfunktion ein. Es verleiht den Opfern zwar eine Stimme, das Opfer Anne Frank kann über das finale Verbrechen an den Juden aber nicht mehr berichten, da das Tagebuch seinem Entstehungszusammenhang entsprechend zuvor abbricht. Dem Volk der Täter bzw. deren Erben kam die Tagebuch-Perspektive aus demselben Grund entgegen. Der Massenmord blieb in der nur angedeuteten >Rahmenhandlung< ge­ bändigt. »Man kann ohne weiteres die These vertreten, dass die west­ deutsche Literatur sich ununterbrochen des Holocaust[s] bewusst war und dass das durch eine Vielzahl narrativer Strategien bewahrte Schweigen der beredste Ausdruck hierfür ist. Wenn aber Schweigen ein Eingeständnis des Wissens ist, lautet die wichtigste Frage: Welches Wissen über den Holocaust wird da verdrängt, geleugnet und vermie­ den, und wie findet diese Vermeidung ihren Ausdruck?«13 Vielen Untersuchungen zum Thema Literatur und Holocaust oder Literatur und Krieg (wie auch der von Ernestine Schlant) ist allerdings zu eigen, dass sie sich ganz auf die Hochliteratur konzentrieren. Trivi­ alere Texte werden nur selten in Augenschein genommen, auch Text­ gattungen jenseits des Fiktionalen kommen nicht in den Blick. Dabei wurde genreübergreifend geschwiegen, so auch im Fachbuch der His­ toriker, etwa in Friedrich Meineckes 1946 erschienener erster Deu­ tung der NS-Vergangenheit Die deutsche Katastrophe. Der Massen­ mord an den Juden und die NS-Verbrechen blieben ungenannt. »Die >Gaskammern und Konzentrationslager werden lediglich angeführt, um zu betonen, dass hier schließlich auch der letzte Hauch Christ-

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lich-abendländischer Gesittung und Menschlichkeit* erstarb.«14 Und natürlich war das Schweigen über den Mord an den Juden in Litera­ tur und Kunst lediglich das Abbild des Schweigens der ganzen Ge­ sellschaft. So sehen es Kritiker auch mit Blick auf die Kirche, deren »gravierendste Schwäche [...] die vollständige Ausblendung des Ju­ denmordes [gewesen sei], eine Leerstelle, die die Grenzen kirchlicher Schuldeingeständnisse im historischen Kontext der unmittelbaren Nachkriegszeit markiert«.15 Also auch hier wurde geschwiegen, um sich nicht schuldig bekennen zu müssen. Aber zurück zur deutschen Literatur. Die Engführung auf eine Lite­ ratur im Sinne der Höhenkammliteratur grenzt von vornherein viele Textformen aus, die für unsere Leitfrage von Interesse sind. Haben doch gerade Texte mit dokumentarischem Charakter (wie am Bei­ spiel von Anne Frank, Plieviers Staüngrad oder auch Eugen Kogon ge­ zeigt wurde) am Beginn eines Redens oder besser Schreibens über die Kriegsverbrechen gestanden. Die Betrachtung lediglich von Texten der Höhenkammliteratur verengt dagegen den Blick auf eine Weise, die dem ursprünglich vorhandenen Erkenntnisinteresse, nämlich der Frage, wie sich der Umgang der Deutschen mit dem Mord an den Ju­ den allgemein in Literatur ausdrückt, entgegenläuft.

An die Suche nach dem Ort oder den Formen des Schweigens in der Literatur schließt die noch viel weitgehendere Frage an: ob nach Auschwitz Literatur an sich noch möglich sei. In diesem Zusammen­ hang immer wieder zitiert wurde Theodor W. Adorno, der Philosoph und Soziologe, der nach seiner Rückkehr aus dem Exil in einem Text bekannt hatte: »[N]ach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist bar­ barisch.«16 Es handelte sich nicht nur um einen viel zitierten, sondern um einen dabei meist fehlinterpretierten Satz - was Adorno selbst immer wieder zu Präzisierungen veranlasste: »Während die Situation Kunst nicht mehr zulässt - darauf zielte der Satz über die Unmöglich­ keit von Gedichten nach Auschwitz - bedarf sie doch ihrer.«17 Peter Stein hat in seinem Aufsatz nachgewiesen, dass Adornos Satz, obwohl 1949 niedergeschrieben und zwei Jahre später erstmals veröffentlicht, in den fünfziger Jahren so gut wie nicht rezipiert wurde. Die vielfäl­ tigen Missverständnisse um ihn entstanden später nicht zuletzt da-

Unterhaltungsliterarische Irritation: Am grünen Strand der Spree 85 durch, dass er völlig aus dem Zusammenhang gerissen wurde. »Als

Adorno [...] den zitierten Satz niederschrieb«, so Peter Stein weiter, »[...] stieß er auf einen sich restaurierenden Kulturbetrieb, dem nichts ferner lag, als sich mit der Erinnerung an Auschwitz auseinanderzu­ setzen.«18 Was Adorno befürchtet hatte, traf ein: Es gab ein Weiter-so, als sei nichts gewesen. »Es trat ein auch in den subtilen, gewollt-un­ gewollten Formen der unterlassenen Erinnerungs- und Trauerarbeit, dem Gehör verweigernden Schweigen gegenüber den Opfern sowie der Hinwendung zu den Trost- und Heilkräften einer als unbeschädigt geltenden Kultur.«19 So wie Aufklärung und Barbarei zusammengehö­ ren, sind für Adorno auch Kultur und Barbarei und als deren Chiffre Auschwitz verbunden. Oder anders gesagt: Es sollte sich keiner auf die deutsche Kultur berufen und dabei den Holocaust einfach beisei­ telassen können. Beides gehörte für den Philosophen untrennbar zu­ sammen. »Die Kritik galt zum einen dem deutschen Publikum, das im Konsumieren stilistisch althergebrachter Kunstwerke verdrängen wollte, dass >Kultur im traditionellen Sinn tot ist< [...], und zum ande­ ren der damals weit verbreiteten Kunst, die sich explizit auf die abend­ ländische Kulturtradition berief und die jüngste Vergangenheit aus­ blendete. [...] Der Satz über das Schreiben nach Auschwitz zielt über die literaturästhetische Kritik an einer restaurativen Lyrik ins Mark des Verdrängungsdiskurses.«20 Der Satz von Adorno führt daher mit­ ten hinein in das Thema dieses Buches und ist bestens geeignet, den Traum vom Jahre Null jäh zu stören.

Unterhaltungsliterarische Irritation: Am grünen Strand der Spree ln der erfolgreichen westdeutschen Belletristik der ersten Nachkriegs­ jahre zeigte sich überwiegend die Tendenz, das Geschehene in ein ver­ trägliches Gewand, sowohl sprachlich als auch inhaltlich, zu kleiden. Deutsche Verbrechen blieben im Unbestimmten; sprachlich knüpften Autoren häufig an die Alltagssprache der Menschen an - bis hin zum Landser-Jargon. Der dann freilich nur die Landser-Sicht, die Subjek-

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tive des eigenen Erlebens, transportieren konnte. Da muss die Lektüre von Hans Scholz' Roman Am grünen Strand der Spree ein aufstörendes Erlebnis gewesen sein. Scholz’ Buch wurde ähnlich erfolgreich wie So weit die Füße tragen vom Regisseur Fritz Umgelter fürs noch junge Me­ dium Fernsehen adaptiert. Der Fünfteiler lief von März bis Mai 1960 zum ersten Mal, auch eine Hörspieladaption existiert. Das Buch war zu diesem Zeitpunkt schon ein Kassenschlager, in­ nerhalb weniger Jahre hatte es sich über 250000 Mal verkauft. Die Kritiker reagierten begeistert. Scholz sei, so ließ sich damals verneh­ men, der Glücksgriff gelungen, »ein gehobenes Berlinisch, der hand­ feste, aber auch verquatschte Jargon, der zum Kurfürstendamm und zu Dahlem gehört«21, ins Literarische eingeführt zu haben. Es ist auch heute noch ein Buch, dass sich durchaus in die Hand nehmen lässt. Die Rahmenhandlung führt im Berlin der Nachkriegszeit meh­ rere Freunde in der Jockey-Bar, deren reales, gleichnamiges Vorbild in Charlottenburg lag, zusammen. Durch die im Laufe des Abends dar­ gebotenen Erzählungen entwirft der Autor ein Panorama der neueren deutschen Geschichte. Sein besonderer Kunstgriff: Der Autor schlägt einen Spoerl’schen Plauderton an und zieht den Leser so unmittelbar ins Vertrauen. Aber schon kurz nachdem man sich mit den Freunden in der Bar bei zahlreichen alkoholischen Getränken und Tabakwaren eingerichtet hat, wird eine Geschichte zum Besten gegeben, die so gar nicht zur leichten Muse passen will. Die Aufzeichnungen eines gewis­ sen Jürgen Wilms werden zum Gesprächsgegenstand in der Runde. Wilms wird noch in sowjetischer Gefangenschaft vermutet, sein Ta­ gebuch ließ er von einem entlassenen Kameraden nach Deutschland bringen. Dieser Major a. D. Hans-Joachim Lepsius liest nun den Ver­ sammelten aus Wilms’ Berichten vor. Wie ungeheuerlich das zehn Jahre nach Kriegsende auf die Leser­ schaft wirken musste, lässt sich nur vor dem sonst in der Literatur üb­ lichen Umgang mit den deutschen Kriegsverbrechen erahnen. Wilms’ Bericht wird als dokumentarischer gekennzeichnet. Das Konvolut um­ fasst Briefe, Tagebucheinträge, aber auch Spuren dort einstmals ein­ geklebter Fotografien. Durch die Mittelbarkeit des vorgelesenen Tex­ tes wird zwar einerseits Distanz geschaffen, andererseits entsteht so

Unterhaltungsliterarische Irritation: Am grünen Strand der Spree 87 erst der Raum, der das Unsagbare darstellbar macht: »Kann also von nun ab von gewissen Ereignissen behaupten, ja, ich habe sie gesehen; und von eben diesen gewissen Ereignissen mit dem gleichen Recht be­ haupten, nein, ich habe sie nicht gesehen. Das ist ebenso wahnsinnig wie richtig! ... >Weil... nicht sein kann, was nicht sein darf!die Juden rausschmeißen< wollte, blieb der Autor unnachgie­ big. Exekutionen von Juden hat Scholz [...] als Gefreiter mit angese­ hen.«28 Scholz erhielt für seinen Erstling 1956 den Fontane-Preis der Stadt Berlin, 1960 den Heinrich-Stahl-Preis der Jüdischen Gemeinde in Berlin, die darin einen bedeutenden Beitrag zur Auseinanderset­ zung mit der Vergangenheit sah. Er könne nur über Dinge schrei­ ben, die er selbst gesehen habe, erklärte er der Presse.2’ Auch die Liebe zu einem jüdischen Mädchen, dem er kurzzeitig nach Paris gefolgt war, hatte er erlebt - und später seinem Jürgen Wilms mit angedich­ tet: »Ich musste mir meine erste richtige Liebe aus dem Herzen rei­ ßen. Das Mädchen entstammte einem staatenlosen Elternhause [...] Sie gingen nach Paris.«30 Den eigenen Unkenrufen im Roman zum Trotz fand sich doch ein Produzent, und Fritz Umgelter setzte den Scholz-Stoff fürs Fernsehen kongenial um. Die Fernsehadaption wird zu den »ersten Brüchen [des] kollektiven Schweigens«31 gezählt, galt als »Fernsehereignis«32 - und als außergewöhnlicher Film besticht sie noch heute. Es muss ein Paukenschlag gewesen sein, als die Ausstrah­ lung des Fünfteilers (im damals einzigen Fernsehprogramm!) eben genau mit dieser Tagebuchgeschichte des Jürgen Wilms begann. Die Rahmenhandlung in der Jockey-Bar gerät in der Filmversion noch viel mehr zum reinen Rahmen. Was bleibt, sind die beeindruckenden Bilder der Kriegs-Geschichte des Jürgen Wilms. Scholz’ Text thematisiert das »Bilderverbot der Täter von damals«, das sich »nach einer kurzfristigen Film- und Fotooffensive der Alliier­ ten unmittelbar nach Kriegsende fortgesetzt [habe] in eine[r] gesell­

schaftlich sanktionierte[n] Tabuisierung der Bilder vom Holocaust«33. Wilms wird als Fotografierender eingeführt, dem die Kamera aber spä-

Unterhaltungsliterarische Irritation: Am grünen Strand der Spree 89 ter abgenommen wird und dessen Bilder aus dem Tagebuch entfernt sind. Schon bevor Wilms die Massenerschießung besucht, ruft ihm sein Hauptmann noch nach: »Nee, nee, nee, mein Herr, die Kamera lassen Sie mal schön hier. Das fehlte ja gerade noch; [...] Ich denke, der Herr Reichsführer SS würde es sehr danebenschätzen, wenn hier seine ... Vergeltungsmaßnahmen von Krethi und Plethi kinematographisch festgehalten werden. Also ohne Gerät... Marsch!«34 Der Roman bleibt in Scholz’ Werk eine singuläre Erscheinung. An­ sonsten erschienen von ihm noch Reiseliteratur und Skizzenbücher, von 1963 an war Scholz 13 Jahre lang Feuilletonchef beim Westberli­ ner Tagesspiegel. In den einschlägigen Literaturgeschichten sucht man seinen Namen häufig vergeblich - vermutlich gerade weil er sich als Tabubrecher betätigt hatte. Bisweilen wurde sein Buch als »geschickt und mit Humor erzählter Roman einer Bar-Runde, die sich an Aben­ teuern der Kriegs- und Nachkriegszeit gütlich tut«35 abgetan und da-

V Vom freien Autor zum Feuilletonchef. Das künstlerische Multitalent Hans Scholz war 13 Jahre lang leitender Mitarbeiter des Berliner Tagesspiegels; Aufnahme von 1972.

90 Erzählen von Krieg und Lager mit gründlich missverstanden. Sein Text und auch die Fernsehadap­ tion allerdings hätten es dringend verdient, dem Vergessen entrissen zu werden. Die Literaturgeschichte aber geht mit denen, die unbe­ queme Wahrheiten aussprechen, nicht immer gnädig um. Wer das unausgesprochene Tabu brach, wer Auschwitz literarisierte, der wurde aus dem Kanon ausgestoßen oder gar nicht erst aufgenommen.

Der »Konsalik des Ostens«: Harry Thürk Er sei der »Konsalik des Ostens« - so schlagzeilte der Spiegel anläss­ lich einer Neuauflage eines seiner Bücher. Nein, eher ein Johannes Mario Simmel - korrigierte die Wochenzeitung Zeit bei der Würdi­ gung seines 70. Geburtstags.36 Beide Blätter schrieben über den im Westen Deutschlands weitgehend unbekannten, im Osten dagegen mit hohen Auszeichnungen versehenen und viel gelesenen Unterhal­ tungsschriftsteller Harry Thürk. Eine Gesamtauflage von über fünf Millionen Exemplaren sei anzunehmen. Vor allem das Nachrichten­ magazin aus Hamburg sparte dabei nicht mit Häme und Spott: Sie mochten ihn nicht, den bekennenden Linken. Mit Heinz G. Konsa­ lik habe Thürk »nicht nur die Wehrmachtserfahrung an der Ostfront und die Liebe zum Klischee von der >ostischen Seele< [gemeinsam], sondern auch das Frauenbild. Ermattet vom Daseinskampf, stre­ ben Thürks Helden regelmäßig im Bett dem Höhepunkt entgegen.«37

Sicher ist einiges dran: Manches ist holzschnittartig, kolportagehaft, einfach konsumierbare leichte Unterhaltung. Der Grund für den Spie­ gel, sich dennoch mit dem Schreiber aus Weimar zu befassen, war sein anhaltender Erfolg. Vor allem im Osten. Als eines seiner Frühwerke Die Stunde der toten Augen -, 1957 erstmals aufgelegt, in den neunzi­ ger Jahren des wiedervereinigten Deutschlands vor allem im Osten erneut die Bestsellerlisten erklomm (noch vor Ephraim Kishon und Gabriel Garcia Marquez), war dies Grund genug für den Spiegel, mit dem SED-Propagandisten abzurechnen - und zwar radikal. Über Die

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Stunde der Toten Augen war zu lesen: »Vom Landser-Heft aus westdeut­ scher Produktion unterscheidet das Werk nur der Schluss: Im letz­ ten Kapitel bekehrt ein russischer Soldat seinen deutschen Gegner zur deutsch-sowjetischen Freundschaft.«38 So weit, so vernichtend. Allein bei genauerer Lektüre muss man feststellen: Die Spiegel-Autoren kön­ nen nicht sehr viele Landser-Hefte in Augenschein genommen haben, und auch Thürk haben sie wohl nur oberflächlich gelesen. »>Man war Soldat, und man hatte zu tun, was einem befohlen wurdeErbe< verhält.

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Alle gehören einer Generation von Autoren an, die Krieg am eigenen Leibe erfahren hatten und diese autobiografischen Elemente in ihr Werk einbrachten. Der Autor, als Lothar Rudolf Thürk 1927 in Ober­ schlesien geboren, wurde noch 1944 in die Wehrmacht eingezogen. »Während meiner Militärzeit begann ich zum ersten Mal über po­ litische Zusammenhänge selbständig nachzudenken und ich entwi­ ckelte Bedenken gegen das System, für das ich Soldat war«, so schrieb er viele Jahre später in einem Lebenslauf. »Kurz vor Ende des 2. Welt­ krieges, als mir im allgemeinen Chaos das Schicksal des Verheiztwer­ dens für eine Sache drohte, für die ich innerlich nicht arrangiert war, verließ ich auf eigene Faust den Rest meines Truppenteils und schlug den Weg nach Hause ein.«41

Ja, es sind Elemente des >Landser-Heftches< vorhanden. Auch Thürk operiert mit gängigen Feindbildern wie den »Horden aus Asi­ en«42 - wenn er sie auch den wenig sympathischen Kriegsgewinnlern in den Mund legt. Oder wenn er an anderer Stelle unmotiviert stereo­ type Beschreibungen einfließen lässt: »Die Russen zündeten sich Zi­ garetten an. Sie hatten etwas Unheilvolles, Ängstliches in ihren Ge­ sichtern.«43 Schließlich werden bei Thürk rassistische Ressentiments der Nazis aufgenommen und gegen die politischen Gegner der sozia­ listischen Staaten ins Feld geführt, etwa wenn er Angehörige der gegen die Rote Armee kämpfenden russischen Wlassow-Truppen beschreibt: »Timm versuchte, während er sie musterte, zu ergründen, was hinter dem eigenartigen Ausdruck ihrer Gesichter steckte. Es waren keine ängstlichen, auch keine misstrauischen Gesichter, und doch waren sie beides zugleich. Dazu waren sie ein wenig verschlagen.«44 Oder in Variation: »>Leutnant, was sind das für Figuren? Sie machen mir den Eindruck, als ob sie entweder große Ganoven sind oder reingefallene

Drückebergern«45 Auch in der Unterhaltungsliteratur unter sozialis­ tischem Einfluss taugten alte Feindbilder, wenn es opportun war, als Kampfmittel und lebten weiter. Erzählt wird in dem Roman die Geschichte einer deutschen Fall­ schirmjägereinheit, die hinter den sowjetischen Linien Komman­ dounternehmen durchführt. Zeit: die letzte Phase des Krieges. Ort: irgendwo in Ostpreußen. Die Hauptfiguren sind Angehörige die-

Der »Konsalik des Ostens«: Harry Thürk 93 ser Einheit, die zwar an ihrem Tun mehr und mehr zweifeln, aber dennoch weitermachen. Hier finden wir also die autobiografischen Spuren. Im Zentrum steht Thomas Bindig, der sich am Ort seiner Stationierung in eine dort noch einsam lebende deutsche Frau ver­ liebt. Über sie lernt er einen sowjetischen Offizier kennen, der sich seit seiner Verwundung bei einem Vorstoß der Roten Armee bei dieser Frau versteckt hält. Bindig wird vor die Wahl gestellt, zu den Sowjets überzulaufen und sich >zu wandeln< oder auf dem alten Weg weiter­ zugehen. Er entscheidet sich gegen eine Umkehr und stirbt im Kampf. Auch wenn Thürk manche klischeehafte Vorstellung annimmt und neu instrumentalisiert, setzt er an vielen Stellen entscheidend andere Akzente als der unterhaltungsliterarische Mainstream im Westen zur selben Zeit. Bei ihm ist die Schuldfrage kein Tabu, sondern eindeu­ tig geklärt: »[...] diesen Krieg haben nicht die Russen gemacht, son­ dern die Deutschen. Hitler hat ihn gemacht.«46 Seine Helden sind nicht zu Opfern geworden (wie der geschundene Gefreite Asch in 08/15, der Kriegsgefangene Clemens Forell in So weit die Füße tragen oder Dr. Böhler, Der Arzt von Stalingrad). Seine Fallschirmjäger sind ohne jeden Zweifel Täter und Mörder im ganz ursprünglichen Sinn: Sie schleichen sich hinter die feindlichen Linien und töten ihre Geg­ ner Auge in Auge mit dem Messer, der Kugel oder der Sprengladung. An ihren Händen klebt buchstäblich Blut. Sie müssen sich mit ihrer eigenen, ganz konkreten Schuld befassen. Auch sind die deutschen Verbrechen in ihrer Gesamtheit sehr präsent. Die Konzentrations­ lager, Auschwitz, Pogrome, Massenvernichtungen, Mord, aber auch der ganz alltägliche Antisemitismus werden im Text beim Namen ge­ nannt und anrührend geschildert: »Aber ich heiße David, und sie ha­ ben in ihrem Programm vorgesehen, uns auszurotten. Es wird besser

sein, das nicht abzuwarten.«47 All dies waren keineswegs Selbstverständlichkeiten für einen deut­ schen Autor der fünfziger Jahre. Hier wurde nicht geschwiegen, son­ dern die Schuld angesprochen und die Schuldfrage immer wieder dem Einzelnen gestellt. »Er kam zur Kompanie und war so schüchtern, dass er kaum ein Wort herausbrachte. Heute aber ist er ein Mann. Das Blut hat es ihm angetan. Er gibt keine Ruhe, bis er töten kann.«48

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Der Drang zu töten ist beim Protagonisten so stark, dass Bindig am Ende nicht überläuft, sondern weiterkämpft und im Kampf stirbt, sich damit auf eine Art vielleicht sogar selbst richten muss. So akzentuiert anders Thürk in dieser Hinsicht ist, so trifft er sich mit seinen westdeutschen Autorenkollegen jedoch wieder darin, dass er den Stoff insgesamt für politische Ziele instrumentalisiert. Im Dienste der Auseinandersetzung mit dem kapitalistischen Westen wird die Geschichte gefügig gemacht und umgedeutet. Wie sich am Beispiel der Wlassow-Leute zeigte, werden alte Klischees und Ressen­ timents wiederbelebt und weiterverwendet. Andere Erfahrungen wer­ den ins Reich der Propagandalügen verwiesen, etwa die Gräueltaten der sowjetischen Armee: »>Die Russen ...«, sagte die Frau langsam, waren einen Tag und eine halbe Nacht in unserem Dorf. Dann muss­ ten sie zurück. Sie hatten keine Zeit, sich mit den Kühen zu befassen.< >Auch nicht mit den Frauen?« fragte Bindig leise. [...] >Auch nicht mit den Frauen«, sagte sie und schwieg wieder.«49 Zudem wird das Schick­ sal der Kriegsgefangenen verharmlost: »Die Rote Armee wird Sie wie jeden anderen Gefangenen behandeln und Ihnen die Möglichkeit ge­ ben, das Leben von vorn anzufangen. Das brauche ich Ihnen nicht be­ sonders zu versichern. Das ist unser Prinzip gegenüber den Soldaten Ihrer Armee, die gekämpft und nicht gemordet haben.«50 Man kann den Text vom Ende her so lesen, dass Bindig eben doch nicht nur ein Kämpfer, sondern ein Mörder war (und sich selbst auch so sah) und deshalb sterben musste. Und so steckt in der Botschaft des sowjeti­ schen Offiziers auch der Hinweis, dass es Vergebung und Wandlung nicht für alle geben kann.

Zugespitzt stellt sich bei Thürk die Frage Kommunismus oder Tod: »Du wirst entweder ein Kommunist werden wie die, die neunzehn­ hundertachtzehn aus dem Krieg heimkamen und die Soldatenräte gründeten, oder du wirst an deinen eigenen Gedanken verfaulen.«51 Und so wird der Text vor dem Hintergrund des Kalten Krieges ge­ lesen radikalisiert, indem er Stoff für die innerdeutsche Auseinan­ dersetzung um den Umgang mit der Geschichte liefert. Knappe Bot­ schaft: Die Kriegsgewinnler sitzen im Westen. »Dann werden wir hier verfaulen mit all unseren Hoffnungen und Träumen, und zu Hause

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werden zur gleichen Zeit die Bonzen ihren Weibern helfen, die Per­ lenketten am Hals festzumachen, und die Herren Direktoren werden im Maybach zum Wintersport nach Garmisch-Partenkirchen fahren [,..]«52 Auf der anderen Seite wird an Thürk deutlich, dass, wenn die Hand zur Versöhnung gereicht werden soll, es nötig ist, dass der Emp­ fänger der Versöhnungsgeste auf deutscher Seite immer in gewisser Weise selbst ein Opfer sein muss, ja zumindest kein überzeugter Täter mehr sein darf: »>Aber wie kommen Sie zu der Überzeugung, dass un­ sere Menschen nicht hinter Hitler stehen? Unsere Menschen führen schließlich diesen Krieg.< >Leider. Aber ich bin trotzdem der Meinung, dass die Mehrzahl der Deutschen nicht hinter Hitler steht.< >Das ist eine gewagte Behauptung.«< So verläuft der Dialog zwischen dem sow­ jetischen Offizier und Bindig, der sich, wie oben dargestellt, am Ende eben doch zu tief in seiner Täterrolle verstrickt findet. Es ist festzu­ stellen, dass auch Thürk, bei aller Klarheit im Urteil über die deutsche Schuld, nicht ganz umhinkommt, Deutsche auch ein ganz klein we­ nig in einer Opferrolle zu zeigen. Anders, mit einem ausschließlichen Insistieren auf der deutschen Schuld, wäre Unterhaltungsliteratur der fünfziger Jahre vermutlich weder in Ost noch West verkäuflich gewe­ sen. Sie muss qua Definition Identifikationsmöglichkeiten für den Le­ ser bieten, und dies wäre kaum denkbar, wenn er ausschließlich als der Schuldige schlechthin angesprochen würde. Und so dient denn Thürk die Figur der einsam lebenden Frau als das deutsche Opfer par excellence: Sie wird von den Nazis verfolgt und gequält und gar mit KZ-Haft bedroht, weil sie einen ganz selbstverständlichen Umgang mit Juden pflegte und in einem jüdischen Haushalt arbeitete. Sie wird doppelt zum Opfer, da sie am Ende den Preis für die Weigerung Bindigs bezahlt, sich den Sowjets zu ergeben: Sie wird, zusammen mit dem sowjetischen Offizier, von Bindigs Vorgesetztem mit einer Pan­ zerfaust ermordet.

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»Liquidation mit dem Rotstift«: Erich Maria Remarques Zeit zu leben und Zeit zu sterben Dass sich Verkaufserfolge nicht nach Belieben wiederholen lassen, musste auch der deutsche Erfolgsautor schlechthin erfahren: Erich Maria Remarque. Mit seinem Buch zum Ersten Weltkrieg Im Westen nichts Neues hatte er einen der modernen Bestseller der deutschen Li­ teratur geschrieben. Der Vorabdruck des Romans war 1928/29 in der Vossischen Zeitung erfolgt, das Buch im Ullstein-Verlag wurde inner­ halb eines Jahres über eine Million Mal verkauft, bereits ein Jahr spä­ ter kam der zugehörige Tonfilm in die Kinos.53 Der Titel hatte sich mit einer bis zu diesem Zeitpunkt nicht gekannten Absatzgeschwindigkeit verbreitet. Der Machtantritt der Nationalsozialisten unterbrach die Karriere des Autors jäh. Für die Kulturpolitiker des >Dritten Reichs< gehörte Remarque mit seinem Anti-Kriegsroman zu den erklärten Gegnern, der Autor musste ins Exil gehen. 1952 wollte Joseph Caspar Witsch an die früheren Erfolge Remarques anknüpfen und startete mit Ein Funke Leben, einem KZ-Roman des renommierten Schriftstel­ lers, hoffnungsfroh mit einer Zehntausenderauflage: »[...] zu opti­ mistisch, wie sich erweisen sollte, denn selbst zehn Jahre später waren die investierten Kosten [...] noch nicht wieder erwirtschaftet. Dass die Bereitschaft der Leser, sich auf das Buch einzulassen, gering war, hatte weniger mit dessen literarischer Qualität zu tun als mit seinem Thema.«54

Erfolgreicher, aus verlegerischer Sicht, gestaltete sich dann der Ver­ kauf des Nachfolgewerkes von Remarque Zeit zu leben und Zeit zu ster­ ben. Die Münchner Illustrierte brachte einen Vorabdruck, Kiepenheuer & Witsch konnte über 50000 Stück verkaufen, Taschenbuch- und Buchklubausgaben kamen noch dazu. Allerdings war der Preis dafür hoch, war doch in der Presse bald von »privater Zensur« die Rede, und das Nachrichtenmagazin Spiegel sprach gar von »Liquidation mit dem

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Rotstift«: »Man habe im deutschen Original alle Bemerkungen ge­ strichen, von denen man befürchten musste, dass sie die ehemaligen deutschen Soldaten kränken würden.«55 Und auch das Grundmiss­ trauen, das allen Emigranten entgegenschlug, spielte im Fall Remar­ que wohl eine Rolle. So habe der Autor selbst darum gebeten - so der Verlag -, die faktische Seite seines Romans zu prüfen. »Diese Bitte er­ scheint plausibel, wenn man bedenkt, dass Remarque die Zeit des gro­ ßen Sterbens von Amerika aus erlebte, während sein Buch mitten im Inferno Mitteleuropas spielt.«56 Und so gingen denn auch ein Teil der Hinweise, die einer der vom Verlag bestellten Gutachter gab, genau in jene Richtung: der Korrektur des Faktischen. »Aus dem SA-Sturmführer muss ein Kreisleiter werden, da SA-Sturmführer in jenen Jah­ ren [...] keinerlei irgendwie entscheidende Funktion mehr hatten [...]. Kleine Unrichtigkeiten - z. B. Panzer statt Tank, Dienstverpflichtung statt Arbeitsdienst, Feldwebel statt Sergeant - sind berichtigt worden. Eine Begründung hierfür erübrigt sich wohl.«57 Vieles erinnerte an die Rezeption von Remarques erstem großen Bestseller Im Westen nichts Neues. Damals, zwischen den Kriegen, schlug diesem pazifistischen Buch der geballte Hass der Rechten entgegen. Auch damals wurden Argumente ins Feld geführt, der Autor sei ja gar nicht dabei gewesen. Die Frage der Authentizität wurde mit Blick auf fiktionale Literatur zur Kardinalfrage gemacht. Im Buch erinnert ebenfalls so manches an Im Westen nichts Neues. Der >Held< des Zweiten Weltkriegs, Ernst Graeber, ist in gewisser Weise ein Wiedergänger Paul Bäumers aus dem ersten großen Krieg. Beide Protagonisten sterben am Ende der Romane fast beiläufig, aber für den Leser umso bedrückender. »Er fühlte den Schuss nicht. Er sah nur plötzlich Gras vor sich [...], bis [...] seine Augen sich schlossen.«58 Der Roman spannt den Bogen zwischen der Front in Russland und der Heimat, die unter alliierten Bombenangriffen leidet. Ernst Grae­ ber kehrt nach einem Heimaturlaub, der vergeblichen Suche nach sei­ nen Eltern und einer Kriegsheirat mit Elisabeth an die Front zurück. Er sieht jetzt vieles mit anderen Augen. Als er am Ende den Auftrag bekommt, auf vier gefangene Russen aufzupassen (zwei Männer, zwei Frauen), verhindert er, dass einer seiner Kameraden, der ideologisch

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verblendete Steinbrenner, die Gefangenen erschießt, indem er ihn sei­ nerseits tötet. Während die deutschen Einheiten ihren Rückzug fort­ setzen müssen, will Graeber den Gefangenen die Freiheit schenken und lässt sie laufen. Einer der Fliehenden ergreift dabei ein Gewehr und - erschießt Graeber. In der für den deutschen Markt der fünfziger Jahre von Kiepenheuer & Witsch bearbeiteten Textfassung wurde an dieser Stelle ein Satz ergänzt: »Es waren also doch Partisanen, dachte Graeber.«5’ Diese Einfügung gehört mit zu den drastischsten Eingrif­ fen, die in den Text vorgenommen wurden. Erst 1989 konnten die deutschen Leser eine von diesen Lektoratsveränderungen bereinigte Version zur Hand nehmen, ln dieser neuen Fassung fällt auch die Reflexion über das eben geschilderte Geschehen differenzierter aus: »>MörderMörderPartisanen.< Stein­ brenner leckte sich die Lippen und sah die Russen an.«61 Die Tö­ tungsabsicht wurde in der deutschen Bearbeitung dadurch legitimiert, dass sich die Gefangenen nun tatsächlich als Partisanen erwiesen. Steinbrenners Denken und Handeln wurde so in gewisser Weise ge­ rechtfertigt. Auch Passagen, in denen Remarque deutlich machte, dass es sich

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um einen Vernichtungskrieg handelte, nicht um ein Ringen mit sol­ datischen Mitteln, fielen der Bearbeitung zum Opfer. So wird in der Urfassung gleich im ersten Kapitel davon berichtet, dass die Deut­ schen nur ihre eigenen Kameraden begraben. »Die Russen wurden in eine offene Koppel geworfen. Wenn es milde wurde, begannen sie zu stinken. [...] Es war nicht nötig, sie zu begraben; [...] Die vorge­ henden Russen konnten ihre Toten selbst begraben.«62 Solche Schil­ derungen hätten das Bild vom ehrenhaften deutschen Soldaten, der mit den Vernichtungsplänen der Nazis nichts zu tun hatte, wohl zum Wanken gebracht. Offenbar hatte der Verleger, Joseph Caspar Witsch, dem Autor ursprünglich sogar vorgeschlagen, den Roman mit dem Kapitel enden zu lassen, in dem Graeber wieder an die Front fährt.63 Das wäre in gewisser Weise eine Hollywood-Variante des Schlusses ge­ wesen. Ein versöhnlicher, weil das Ende offenlassender Ausklang. Zu dieser Maximalkürzung kam es letztendlich doch nicht. Insgesamt fie­ len manchmal nur einige Wörter oder Sätze, manchmal längere Pas­ sagen der >Liquidation< zum Opfer. So wurden etwa Szenen, die einen tief sitzenden Antisemitismus entlarven sollten, getilgt. Ein Protago­ nist von Hirschland kurzerhand in Hirschmann umbenannt und sei­ ner teilweise jüdischen Herkunft beraubt, die wiederum Anlass für antijüdische Ausfälle war. All das kommt nun im Text nicht mehr vor. Auch werden ehemalige Kommunisten nun zu Sozialdemokraten, die Vergangenheit zahlreicher SS-Männer und KZ-Aufseherinnen wird in der entschärftem Fassung weniger drastisch dargestellt. Oder Passa­ gen wie die folgende wurden getilgt: »Die einzigen Institutionen, die wirklich in jeder Hinsicht modern sind, sind die Konzentrationslager. Die können mit Hunderten Leichen an einem Tag fertig werden. Al­ les neueste Methoden. Aber natürlich arbeiten sie mit einem Krema­ torium, und das kommt für uns nicht in Frage ~.«64 Auch von den Zeitgenossen in der DDR wurden die Diskussionen um die Zensurvorwürfe verfolgt. In der im Aufbau-Verlag erscheinen­ den Zeitschrift Neue Deutsche Literatur steuerte F. C. Weiskopf einen scharfen Debattenbeitrag bei, in dem er Remarque aufforderte, sich endlich zu den im Raum stehenden Vorwürfen zu äußern.65 ln einem Spitzelbericht für die DDR-Staatssicherheit wurde der Vorgang als

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Beweis für die »antikommunistische Haltung« Witschs angeboten: Schließlich habe der Verleger »ein Buch des berühmten deutschen Schriftstellers Erich Maria Remarque in übelster Weise antikommu­ nistisch kastriert«66. Und tatsächlich wurde eine der Nebenfiguren, der Landser Immermann, mit dem Graeber politische Diskussionen führt, vom Kommunisten (in der Urfassung) zum Sozialdemokraten (in der Kiepenheuer-Variante) umgeformt. Dies begründend schrieb der Verleger an seinen Autor: »Nach dem, was in Deutschland so er­ lebt worden ist mit Kommunisten, deren Politik eine gradlinige Fort­ setzung des nationalsozialistischen Terrorismus ist, wird kaum je­ mand von einem Kommunisten, wer es auch immer sei, irgend eine Art von Belehrung annehmen und ihn gleichsam als Verfechter der Menschlichkeit akzeptieren.«67

Trotz allem blieb die Kiepenheuer-&-Witsch-Ausgabe die Textbasis sogar für die Lizenzausgaben in der DDR und den übrigen Ostblock­ staaten. Die »>antikommunistische< Fassung [sei] so in den sozia­ listischen Staaten zu einem Propagandamittel des Westens ganz be­ sonderer Art«68 geworden. Für den Produktionsplan von 1957 lag ein Druckgenehmigungsantrag für den Aufbau-Verlag über 20000 Stück vor.69 Und knapp 30 Jahre später wurde immer noch auf gleicher Text­ basis eine Taschenbuchausgabe bei Aufbau in Höhe von 30000 Exem­ plaren produziert.70

Ein früherer Versuch des Aufbau-Verlagsleiters Walter Janka, über den Remarque-Übersetzer an das Manuskript der englischen Ausga­ ben heranzukommen, war von Remarque mit scharfen Worten ge­ genüber Josef Caspar Witsch abgewiesen worden. »Hier sehen Sie, was Herr Janka beabsichtigt. Sagen sie ihm, Ihre Ausgabe sei die letzte vom Autor bestimmte Ausgabe, eine andere werde nicht gedruckt, und auch die ausländischen Verleger seien davon benachrichtigt für spä­ tere Ausgaben. Größte Vorsicht mit diesen Leuten!«71 Dieser Brief gilt als eine Form der indirekten Anerkennung der >zensierten< Version durch den Autor. Allerdings bleibt die Produktionsgeschichte der ver­ schiedenen Textvarianten reichlich verworren,72 zudem war Remarque im betreffenden Zeitraum durch die Folgen eines Autounfalls in sei­ ner Handlungsfreiheit eingeschränkt. Nicht zuletzt handelte er unter

Nackt unter Wölfen: Ein Bestseller made in GDR 101 Zeitdruck, da die amerikanische Ausgabe und die deutsche aus Copy­ rightgründen gleichzeitig auf den Markt kommen sollten, was je­ doch nicht gelang. Schließlich spielten auch finanzielle Überlegungen aufseiten des Autors eine nicht zu unterschätzende Rolle. Was dem Aufbau-Verlag einzig noch blieb, war eine umfangreiche Dokumen­ tation der Textabweichungen in seiner im selben Haus erscheinenden Zeitschrift Neue deutsche Literatur. 73 So konnte sich zumindest der fachkundige Leser seinen Remarque aus den aus der englischen Aus­ gabe rückübersetzten Textteilen bei Bedarf rekonstruieren, ln der Zeit­ schrift wurden auf fast 20 Druckseiten fehlende und entstellte Passa­ gen wiedergegeben. Trotz alldem: Als Skandalon will nun ausgerechnet dieser Roman bei diesem Verleger nicht taugen - obwohl erhebliche Eingriffe, ja Entstellungen durch das Lektorat erfolgten. Das eigentliche Skanda­ lon besteht darin, dass Remarques Text sogar in der beschnittenen Fassung noch ein Ausnahmetext darin ist, was er alles thematisiert. Dinge, von denen in der Masse der populären Belletristik jener Jahre kaum bis gar nicht die Rede war. Es gibt nur wenige Romane aus die­ ser Zeit, die sich so intensiv mit den deutschen Verbrechen an und hinter der Front, aber auch in der Heimat auseinandersetzen. Kaum einer, der seinen Protagonisten eine so intensive und schmerzhafte Suche nach Verantwortung und Schuld unternehmen lässt. Das gilt auch und ausdrücklich für die vom Lektorat in Teilen >liquidierte< Fas­ sung von vor 1989.

Nackt unter Wölfen:

Ein Bestseller made in GDR »Darstellung des kommunistischen Widerstandskampfes und der in­ neren Wandlung zum Antifaschisten, Marginalisierung des Holo­ caust.«74 Damit sei, von wenigen Ausnahmen abgesehen, der Umgang mit dem NS-Erbe in der Literatur der DDR beschrieben. Bruno Apitz’ 1958 erstmals erschienener Buchenwald-Roman Nackt unter Wölfen erreichte sehr schnell eine große Verbreitung. In den ersten zehn Jah-

102 Erzählen von Krieg und Lager ren ist von einer Auflage von über 800000 Exemplaren allein im Mit­ teldeutschen Verlag auszugehen,75 bis 1989 sollen es in der DDR rund zwei Millionen gewesen sein76 - allerdings blieb das Buch im deutsch­ sprachigen Raum zunächst ein reines Ost-Phänomen. Hier diente der Band als Schullektüre, während er in Westdeutschland kaum Beach­ tung fand. Die erste Ausgabe in der Bundesrepublik erschien 1961 im Rowohlt-Verlag.77 In den siebziger Jahren folgten noch Ausgaben V Bestseller auch im Sozialismus. Bruno Apitz signiert im

Rahmenprogramm der Internationalen Buchkunstausstellung 1959 in Leipzig sein Buch Nackt unter Wölfen.

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im Frankfurter Röderberg-Verlag. Dieser gehörte zum Kreis der soge­

nannten Tarn- oder Scheinverlage, deren Programme zum Teil aus der DDR mitfinanziert wurden.78 Die DEFA-Verfilmung dürfte im Westen weit bekannter gewesen sein als das Buch selbst. In der DDR wurde der Roman unter größter Priorität produziert und erhielt höchsten Segen. »Da dieses Buch zum V. Parteitag he­ rauskommen soll, wurde bereits heute dem Verlag eine Satzgenehmi­ gung erteilt, obgleich das Gutachten noch nicht vorliegt«7’, so hieß es im Antrag auf Druckgenehmigung für die ersten 10000 Stück. Auch eine englischsprachige Ausgabe für den Fremdsprachen-Imprint »Seven Seas Publishers« im Verlag Volk und Welt folgte schon zwei Jahre später: Auflage wieder 10000 Stück, Exportanteil 90%.80 Diese Über­ setzungen wurden überwiegend ins nichtsozialistische Ausland gelie­ fert, sie sollen etwa in Indien einen hohen Marktanteil gehabt ha­ ben.81 Immerhin lassen sich drei Ausgaben bei Seven Seas bis 1978 nachweisen - eine US-amerikanische Lizenz, obwohl von Bruno Apitz angestrebt,82 kam nicht zustande. Der Autor kam aus ärmlichen Verhältnissen quasi über Nacht zum Erfolg.83 Bruno Apitz, selbst ehemaliger Buchenwaldhäftling, ließ die eigenen Erfahrungen in den Prosatext einfließen. Ein Drehbuchent­ wurf zu einem ähnlichen Stoffkreis von ihm war zuvor von der DEFA abgelehnt worden. Ein Film, »der >nur im K.Z. spielt«, [sei] in der Wirkung auf >Zuschauer von heuteBuchenwaldkind< ent­ deckt und vor allem in der DDR gefeiert, wo er in den sechziger Jahren zeitweise lebte.87 Sogar im Bezug auf die Rettung dieses Buchenwald­ kindes wurde Schuld gewogen: So sei es nur gerettet worden, weil es von einer Transportliste nach Auschwitz gestrichen wurde. An seiner statt sei ein Sintojunge auf diese Reise in den Tod gegangen. Apitz’ Roman hatte eine bewegte Entstehungsgeschichte, von der verschiedene Textversionen und Bearbeitungsschritte zeugen. Erst 2012 wurde eine rekonstruierte »Urfassung« veröffentlicht. Ein Teil der Eingriffe muss darauf zurückgegangen sein, dass die Führung in der DDR die problematische Rolle ehemaliger Funktionshäftlinge sah

Nackt unter Wölfen: Ein Bestseller made in GDR 105

und sie in ihren Augen nicht als Helden taugen mochten. Zudem wa­ ren einige von ihnen zwischenzeitlich in Ungnade gefallen und wie­ der in Haft (diesmal sowjetische) geraten. »Über Krieg und Nachkrieg zu schreiben, war in den fünfziger und sechziger Jahren, wenn man gedruckt werden wollte, nur mit Verschweigen und Lügen möglich; denn alles, was uns in diesen Jahren Angst gemacht hatte, war tabui­

siert. Kein Sowjetsoldat durfte in Deutschland geplündert und verge­ waltigt haben, kein nach dem Krieg Internierter in Buchenwald, Ket­ schendorf oder in Sibirien verendet sein.«88 Das Erstaunlichste ist, dass trotz aller Bearbeitungsansätze die Am­ bivalenz zwar abgeschwächt wurde, dem aufmerksamen Leser aber durchaus noch sehr deutlich wird. Aber auch, wenn Apitz’ Roman in einem KZ spielt, ist es kein Roman über die Vernichtung der euro­ päischen Juden durch das Lagersystem. Der eiiminatorische Antise­ mitismus spielt nur eine untergeordnete Rolle, was sicher einerseits der Tatsache geschuldet war, dass der Roman in Buchenwald spielte, wo andere Häftlingsgruppen dominierten. Andererseits weist der Be­ fund auf einen typischen blinden Fleck in der Literatur der fünfziger Jahre hin. Fast beiläufig lässt sich bei Apitz nachlesen (aufgrund der Herkunftsgeschichte des Kindes), dass es sich um einen polnisch-jü­ dischen Jungen handele. An anderer Stelle spricht einer der SS-Leute von einem »Judenbalg«, das im Lager versteckt würde. Die jüdische Herkunft war damit marginalisiert. Sie spielte für die Frage um Le­ ben und Tod in diesem Text nur eine untergeordnete Rolle. Für den »Mythos von Buchenwald«89, der als eine Art Gründungsmythos der antifaschistischen DDR aufgebaut wurde, waren die Juden und ihr Schicksal fast zu vernachlässigen. »Ausschlaggebend für den Erfolg von Nackt unter Wölfen war, dass sich der Roman hervorragend in das Geschichtsbild der DDR über die faschistische Vergangenheit ein­ fügte. Der im Roman geschilderte Kampf der kommunistischen Häft­ linge für eine bessere, gerechtere Welt liefert den Gründungsmythos der DDR, aus dem antifaschistischen Widerstand hervorgegangen zu sein und diese gerechtere Welt geschaffen zu haben. Aus dem Wider­ standskampf, der allein den Kommunisten zugeschrieben wird, leitet sich ihr Führungsanspruch nach dem Krieg ab.«90

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»Heilsame Wirkung auf das Publikum«: Die NS-Vergangenheit auf der Bühne Das Theater steht nicht im Zentrum dieses Buches. Dennoch kommt man bei der Frage, wo es Orte der Auseinandersetzung mit der dunk­ len Vergangenheit in Deutschland gab, nicht an den Bühnen der Nachkriegszeit vorbei. Das Drama Professor Mamlock von Friedrich Wolf weist in vielerlei Hinsicht eine typische Rezeptions- und Ver­ breitungsgeschichte auf. Bereits 1934 im Exil geschrieben, konnte es in Deutschland erst nach dem Krieg wahrgenommen werden. Dass der Jude Mamlock in Deutschland bleiben will und seine Liebe zu diesem Land ausdrückt, wurde von den Zuschauern der ersten Verfil­ mung des Stücks bei der Deutschlandpremiere 1947 als »das Wich­ tigste an dem Film«’1 eingeschätzt. Die Zuschauer kamen in Halle, Dresden, Leipzig und Berlin in den Genuss des bereits etwas betagte­ ren Sowjetstreifens. »Der Film, immerhin elf Jahre alt, ist in der Tech­ nik überholt und war, trotz guter schauspielerischer Leistung, niemals erste Klasse. Das Stück wirkt geschlossener und stärker als der Film. Dennoch waren die meisten Diskussionsredner der Meinung, daß der Film auch heute noch eine heilsame Wirkung auf das deutsche Publi­ kum ausüben werde.«’2 Das Stück spielt zwischen Mai 1932 und dem April des Folgejahres, im Zeitraum der sogenannten Machtergreifung durch die Nazis. Der angesehene Chirurg Professor Mamlock muss erleben, wie sich Mit­ arbeiter und Bekannte im Sog der antisemitischen Propaganda von ihm abwenden und dass selbst seine Verdienste als Frontkämpfer ihn nicht beschützen. Mamlocks Sohn Rolf dagegen entscheidet sich für den Kampf auf der Seite der Kommunistischen Partei. Die Vernich­ tungskraft des Antisemitismus deutet sich bereits an: »>Juden raus! Juden raus!guten< Deutsch­ lands nachhaltig zu Gehör zu bringen. Ganz bewusst beschränkte er sich auf Autoren, »die während der letzten zwölf Jahre in Deutsch­ land lebten«53. Groll beschwört den Geist der guten Deutschen aus der Tiefe, der jene zwölf finsteren Jahre in ihren Texten überlebt hat. Die Schuld der Deutschen kommt dabei - wie in solchen frühen Tex­ ten häufig - nur am Rande vor. Eher werden die Deutschen selbst zu Opfern stilisiert, die ihrerseits im Konzentrationslager, Zuchthaus oder im Krieg waren und Schreckliches erlebten. Die Schuld der Deut­ schen wird, wenn man so will, universalisiert, es findet ein kathartischer Prozess statt. Erst die Katastrophe macht die Utopie möglich, damit soll der Schuld (die freilich kaum als solche bezeichnet wird) im Nachhinein noch Sinn verliehen werden: »Die negativen Uto­ pien, die Alpträume der Vernichtung sind von der Menschheit reali­ siert worden. Die positiven Utopien, die Träume von einer weiser or­ ganisierten, einer freieren und gerechteren Welt haben hier, an der Schwelle des kommenden Zeitalters, gleichzeitig Möglichkeiten um­ fassender Realisierung erreicht, die jahrhundertelang die Sehnsucht der Weisen und der Narren war.«54 Zwar werden die Emigranten ge­ nannt und eine Versöhnung zwischen ihnen und den Daheimgeblie­ benen gefordert. Es geht aber ausschließlich um die inneren Emigran­ ten, deren moralische Integrität in ihren Texten vorgeführt werden soll. Groll schlägt eine Brücke des Geistes über die zwölf Jahre hinweg, er will eine Traditionslinie ziehen, an die angeknüpft werden kann. Und nicht nur das: Die inneren Emigranten sind, glaubt man seinen

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Ausführungen, die eigentlichen Künder einer neuen Zeit. Sein Buch soll eine ganz bewusste (und auch so im Vorwort angesprochene) Stellungnahme gegen die Kollektivschuldthese sein. Das besonders Pi­ kante daran: Zunächst wird die Schuld der Deutschen marginalisiert, die »Katastrophe« (so heißt sie vielfach) wird dann sogar am Ende zur Voraussetzung für das Entstehen einer besseren Welt. Kurz gesagt, wä­ ren die Deutschen nicht schuldig geworden, dann würde es den Weg in eine bessere europäische Zukunft gar nicht gegeben haben! Auf eine der kuriosesten Formen der Traditionsbildung ist Bernd R. Gruschka im Zuge seiner Untersuchung zum Verlag Kurt Desch gesto­ ßen. Nicht nur, dass Gunter Groll unter dem Pseudonym »Sebastian Grill« eigene Zeilen in den Band schmuggelte, zwei der >Dichterstimmen< erfand er in Gänze selbst nebst zeitgemäßen Viten: »Friedrich Umbran« und »Gregor Waiden«.55 Was an Traditionslinie nicht da war, musste erdacht werden. Die Anthologie wurde für einen Lyrik­ band vergleichsweise gut abgesetzt: Von 10000 Exemplaren der Erst­ auflage von 1947 waren zur Währungsreform im Juni des Folgejahres lediglich noch 849 vorhanden, der Rest war verkauft.56

Zuflucht im eigenen Land: Zurück zur Heimatscholle Er sei ein Nationalist gewesen, kein Nationalsozialist. Mit diesem Satz begleitet der Senator E.h. Prof. Dr. Franz Burda, seines Zeichens er­ folgreicher Medienunternehmer und Verleger von Blättern wie Bunte und Burda Moden, ein Buch, das er dem Autor Hermann Burte zum 100. Geburtstag zueignete.57 Burda war mit dem Dichter aus dem Markgräflerland, der vieles in alemannischer Mundart verfasste, bis zu dessen Tod im Jahr 1960 fast 20 Jahre lang befreundet. Vor allem in den Jahren nach 1945 half die Verbindung mit dem einflussreichen Verleger, den Autor vor dem Vergessen zu bewahren; der Senator aus Offenburg ermöglichte zahlreiche Buchausgaben und half Hermann Burte damit, wieder verstärkt als Heimatdichter aufgenommen und akzeptiert zu werden. »Einzelnes von ihm Geschriebene wurde miss-

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verstanden, überbewertet«, heißt es dazu kryptisch. »Und hier [d. h. in der Heimat] wird er verstanden«.58

In seiner badischen Heimat wird Burte bis heute verstanden und gewürdigt. Zwar gibt es über die Jahrzehnte eine immer wieder auf­ flackernde Diskussion um die Benennung von Straßen oder Schulen nach dem Autor, dessen bürgerlicher Nachname »Strübe« lautet. Aber so ganz können die Verteidiger seiner Person die Aufregung nicht ver­ stehen; geht ihnen dabei doch der Blick auf das geschätzte Werk zu sehr verloren. Im Hermann-Burte-Archiv in Maulburg im Wiesental wird sein Nachlass gehütet; untergebracht ist es im Keller des Rathau­ ses, in der Burte-Straße gelegen. Doch selbst Burte wohlgesinnte Lite­ raturkritiker räumen ein, dass der Dichter auf »Irrwege« geraten sei, sich habe »blenden« lassen.5’ Was aber war geschehen? Burtes Karriere ist in gewisser Weise ty­ pisch für die vieler Autorinnen und Autoren, die im >Dritten Reich< zu hohen Ehren kamen. Der 1912 vor allem mit seinem Roman Wiltfeber breiten Kreisen bekannt gewordene Dichter gehörte schon lange vor 1933 zum literarischen Establishment. 1913 war er mit dem KleistPreis ausgezeichnet worden, 1927 mit dem Schiller-Preis. Dennoch zählte er eher zur zweiten Garde der Autoren, die nach der Macht­ übernahme durch die Nationalsozialisten plötzlich hohes Ansehen genossen und sich entsprechend hofieren ließen. Nach dem Krieg folgte dann Ernüchterung und der Fall zurück in die Heimatkunst. Burte war zweifelsohne ein Verfechter der >DichtkunstLiteratur< sah. Ein Verkünder des Guten und Schönen. In seinem Werk wird eine Verbundenheit zur Heimat und zu den Urkräften beschworen, die den Gefahren der Zivilisation ent­ gegengehalten wird. So etwa resümiert der Literaturprofessor Alfred Holler unter der Überschrift »Der Geist muss Meister werden in der Welt« zu des Autors 80. Es sieht so aus, als habe die traditionalistische Literaturauffassung über alle Färnisse hinweg einen Sieg über die Mo­ derne davongetragen - ein für die fünfziger Jahre plausibles Resümee. Der Geist habe, so Holler, seinen Weg zurück in die Heimat gefunden und bald »wird auch die Jugend in die geistige Volksgemeinschaft zu­ rückkehren«60.

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Beim Begriff der Volksgemeinschaft schrillen heute die Alarm­ glocken, 1959 konnte man ihn offenbar völlig unkritisch zu Papier bringen. Und am Fall Burte wird deutlich, dass nicht nur die Au­ toren, sondern auch die Literaturkritiker und -Wissenschaftler von partieller Amnesie betroffen waren. Die Vokabel »Volksgemein­ schaft« war noch präsent, ja sogar den Titel »Der Geist muss Meis­ ter werden in der Welt« hatte Holler exakt 15 Jahre zuvor schon einmal aus dem Köcher gezogen, als er dem Dichter zu dessen 65. Geburtstag huldigte. Hier finden wir schon die gleichen Gedan­ ken: Es hätten die »Tatsachenanbeter zwischen Volk und Dichtung die >LiteraturSonnenrad< beim Waldspaziergang in den Sandboden.63 Burte war nach 1945 kein Erfolgsautor mehr, der die Massen er­ reichte. Aber er begab sich in einen literarischen Raum, den der >Heimatliteratun, in den sich viele andere Autoren auch zurückzogen, die zuvor eine große Zeit gehabt hatten. Sie träumten da, zusammen mit ihren zahlreichen Lesern, vom Jahre Null oder vielmehr von der Zeit davor. Natürlich litten nicht alle an Gedächtnisverlust. Am Anfang stand vielfach die Bemühung, sich mit der Vergangenheit auseinan­ derzusetzen. Gleich im August 1945 forderte ein Gutachter, der im

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Auftrag der deutschen Polizei und der französischen Militärbehörde tätig wurde, für Burte drakonische Strafen: »Burte ist voll verant­ wortlich. [...] Burte hat, über die zu erwartende Strafe hinaus, le­ benslänglich interniert zu bleiben.«64 Für den Gutachter spielte das Foto, das den Dichter an seinem Hakenkreuzschreibtisch zeigte, eine zentrale Rolle: »Dieses Bild erschien nicht nur in Zeitungen, son­ dern wurde auch als Postkarte gedruckt.«65 Ansonsten stützte er sich in seiner Expertise ausschließlich auf Burtes Werk, persönlich kenne er ihn nicht. Zwar wurde Burte nicht lebenslang festgesetzt, aber er musste seine Villa, den Flachsländer Hof in Lörrach, aufgeben und wurde ei­ nige Monate interniert. Wirklich geläutert wirkte er danach nicht. Er hielt auch in der Bundesrepublik Kontakt zu nationalen Kreisen. Sprach etwa in seiner Korrespondenz mit Paul Fechter mit Blick auf den Nachkriegsjournalismus von »Umerziehungspresse«. Burte muss sich selbst als >Opfer< begriffen haben. Er las »einige Kritiken über [Fechters] Literaturgeschichte, die genau so waren, wie ich es von je­ ner Seite erwartet hatte. In Wahrheit haben Sie allen guten Deut­ schen ein richtiges, wahrhaftiges Buch über ihr Schrifttum gegeben, das in einzelnen Stücken ausbaufähig ist, aber im ganzen durch seine grundsätzliche Haltung und seine volklich und sittlich bestimmten Urteile für die Lebendigen und Kommenden ein Schatz ist, gehor­ tet in einer schwierigen und gegnerischen Zeit.«66 Das Prophetische, Seherische, das er sich voll der Eitelkeit selbst zugeschrieben hatte, wurde jetzt lyrisch umgedeutet. In einem Gedicht, veröffentlicht nach dem Krieg, beschwert sich Burte darüber, dass er für das, was er kom­ men sah, nun zur Rechenschaft gezogen werden soll. In seiner Per­ spektive ist er nun vom aktiven Macher zum stillen Teilhaber gewor­ den: »Völker knien vor dem Idol, / wer da fürchtet, glaubt. / Doch ich seh es, heilig hohl, / innerlich ertaubt. / Und ich rufe jeden an: / >Bruder, werde wach!Laß mich gehen, du hast den WahnlDas hast du gewollt!Freundeskreisedie Eggert war nur ein schwaches WeibKaltem Krieg««70 Aber das Buch sollte nicht mehr erscheinen, die Autorin starb kurze Zeit später in ihrer Wahlheimat München. Sie wurde in Burgkunstadt beigesetzt, wo eine eindrucksvolle Grabstätte mit Bronzebüste bis heute an sie erinnert. Auch eine Straße ist nach ihr benannt, an ihrem Elternhaus prangt eine Gedenktafel. Hier wird das Nachleben der Autorin immer wieder von kontroversen Diskussionen begleitet; teilweise auch über den rein regionalen Rahmen hinaus. Mit ähnlichen >Schicksalen< zu nennen sind Josefa Berens-Totenohl oder Felicitas Rose. Die eine heute noch im Westfälischen dem einen oder anderen geläufig, die andere bisweilen noch als Dichte­ rin der Heide< bekannt. Beide gehörten zu den erfolgreichsten Au­ torinnen des Dritten Reichs«71 Auch Gustav Schröers Heimat wider Heimat befand sich mit rund 600000 Exemplaren unter den zehn bestverkauften Romanen zwischen 1933 und 1945. Er war einer der Spitzenautoren des Bertelsmann-Verlags, der diesem den Aufstieg zum Verlagskonzern mit ermöglichte. Schröer starb 1949 in Weimar. Bei Bertelsmann erschienen von 1946 an bereits wieder erste Ausgaben, schon in den Folgejahren wurde der Autor für den wiederaufstreben­ den Verlag zum Umsatzträger. Auf der Liste der auszusondernden Li­ teratur war nur eines seiner Werke gelandet, obwohl sich auch in anderen Büchern aus seiner Feder völkisches Gedankengut und Ver­ satzstücke der NS-ldeologie nachweisen lassen.

Heimatkunst im Osten? Benno Voelkner und seine NS-Vergangenheit 133

Heimatkunst im Osten? Benno Voelkner und seine NS-Vergangenheit Er gehörte zu den über 200 ehemaligen Nationalsozialisten in Pankows Diensten, die 1960 in der dritten Auflage des gleichnamigen Werks, herausgegeben vom Untersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen, aufgelistet wurden: »Benno Voelkner (SED). Prominenter kommunis­ tischer Schriftsteller in Mecklenburg. Verfasser der Bücher Die Leute von Karvenbruch und Die Liebe der Gerda Hellstedt, Nationalpreisträ­ ger und Träger der Verdienstmedaille der >DDRSoldatenehre< in den Schmutz zu ziehen. Nun handelte es sich um eine hitzige Debatte in der jungen Bundesrepublik. Keine zehn Jahre nach Kriegsende war hier der Land­ ser-Roman Null-acht fünfzehn von Hans Hellmut Kirst erschienen. Das Werk war ähnlich erfolgreich wie Im Westen nichts Neues und beide Texte zählten Anfang der sechziger Jahre zu den meistverkauften deutschsprachigen Büchern überhaupt. Schon sieben Wochen nach

138 Erzählen von Krieg und Lager Erscheinen der Erstausgabe von Kirsts Landser-Roman Null-acht fünf­ zehn konnte sich sein Verleger Kurt Desch über die ersten 120000 ab­ gesetzten Exemplare freuen. »Diese steile Kurve werden wir natürlich nur so lange halten können, wie die Kontroverse im Gange ist.«2 Ge­ meint war eine schon durch den Vorabdruck ausgelöste lebhafte De­ batte von Männern, die entweder den >Barras< genau so erlebt hat­ ten oder sich aber derartige Auswüchse an Menschenschinderei beim deutschen Militär verbeten wissen wollten. 08/15 war die Typenbezeichnung eines deutschen Maschinenge­ wehrs. 1908 für die kaiserliche Armee entwickelt, 1915 an die Bedürf­ nisse der Materialschlachten des Ersten Weltkriegs angepasst. Das MG war bald so weit verbreitet, so alltäglich, dass die Typenbezeich­ nung über die Soldatensprache in die Umgangssprache einwanderte und sprichwörtlich für durchschnittliche Allerweltsdinge stand. Hans Hellmut Kirst wusste, worüber er schrieb. 1914 geboren, diente er von April 1933 an in der Wehrmacht, schlug die Offiziers­ laufbahn ein und brachte es bis zum Oberleutnant. Erste schriftstelle­ rische Ambitionen entwickelte er schon als Soldat, wurde aber von der Mitgliedschaft in der Reichsschrifttumskammer wegen Geringfügig­ keit befreit. »Ich arbeite sehr selten und lege wenig Wert auf die geld­ liche Seite«3, wie er im Fragebogen zum Aufnahmeantrag an die Kam­ mer geschrieben hatte. Schon vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten habe er als Schüler für die Partei gearbeitet und die »Propaganda von 3 zusammengefassten Ortsgruppen« in seiner ostpreußischen Heimat geleitet. Kirst ließ sich bescheinigen, unter der Nummer 1346209 seit Ende Januar 1933 in der NSDAP als Mitglied geführt worden zu sein, auch wenn seine Mitgliedschaft aufgrund von Zahlungsschwierigkeiten erlosch und bald darauf nach Eintritt in die Wehrmacht ohnehin ruhte.4 Nach dem Krieg erwies sich diese for­ male Nichtmitgliedschaft für Kirst als Vorteil. »Ich bin niemals ein Nazi gewesen!«5 konnte er mit Blick auf die offiziellen Prüfverfahren behaupten. Und dennoch glaubhaft machen, dass ihn trotz dieser for­ malen Entlastung zeitlebens das Thema beschäftigt hatte: Wie konnte das geschehen? Wo liegt meine Verantwortung? Mit Null-acht fünfzehn, dem Buch über Die abenteuerliche Revolte des

Der gro^e Romanerfol tiefer hä A Werbeblatt und Bestellzettel des Kurt Desch Verlags München für den »größten deutschen Romanerfolg seit 1945«: die Null-acht-fünfzehn-Trilogie von Hans Hellmut Kirst.

140 Erzählen von Krieg und Lager

Gefreiten Asch6, schrieb Kirst den Landser-Roman, in dem sich ganze Generationen wiederfinden konnten. In einem Werbeblatt zitierte der Verlag aus »Briefen ehemaliger deutscher Soldaten und Leser« einen Herrn Braun, Jahrgang 1932: »Vater sagt: >Stimmt!< (1914-1918.) Kollegen sagen: >Stimmt!< (1939-1945.)«7 Das Buch zum Maschinengewehr war so erfolgreich, weil es auf harmlose Weise die Front- und Soldatenerzählungen wiederholte, an die sich alle Kriegsteilnehmer noch am ehesten erinnern moch­ ten. Schleifereien und Landser-Humor standen im Vordergrund. Es konnte ein im Gegensatz zum tatsächlich stattgefundenen Vernich­ tungskrieg harmloses Bild entstehen. Der Text erschien in einer Phase, als die Wiederbewaffnung Westdeutschlands unmittelbar be­ vorstand. Ein Zusammenhang, den der Autor ganz bewusst herstellte: »Es handelt sich hier, und das soll noch einmal ausdrücklich betont werden, um einen Roman gegen den Kasernenhof, keinesfalls aber um ein Buch gegen das Soldatentum.«8 In Null-acht fünfzehn entwirft der Autor eine Projektionsfläche für die ganz gewöhnlichen Deut­ schen, für die der Gefreite Asch stellvertretend steht, die sich nach dem Krieg mit ihrer ganz gewöhnlichen (aus ihrer Sicht harmlosen) Vergangenheit befassen wollen. Aschs Vater, der Cafehausbesitzer, hat zwar eine braune Vergangenheit, aber die bürgerlichen Tugenden über den Krieg hinaus bewahrt. Er und Aschs Schwiegervater, der alte Frei­ tag, ein Sozialdemokrat, werden »unzertrennliche Freunde«9. Sie bil­ den eine Grundkonstellation der westdeutschen Nachkriegsgesell­ schaft, indem sich der Dissident und der Mitläufer die Hand reichen und sie gemeinsam in die Zukunft blicken. Das Soldatentum aber wollen beide retten: »>Das Soldatentumwird erst durch die schlechte Sache, für die es immer wieder schlägt, wirklich schlecht. Nehmen wir an, dieser Hitler bricht einen Krieg vom Zaun, ganz willkürlich, mit voller Überlegung. Da werden die besten Solda­

ten automatisch zu Mitgliedern einer Mordbande. Aber das Soldati­ sche an sich ist, meiner Meinung nach, eine ganz andere Sache.Dritten Reich< über 700000 Mal. Und auch der seichte leichte Soldatenhumor, an den Kirst anknüpfen konnte, wurde schon vor 1945 massenhaft als Lektüre verschlungen. Mit Darüber lacht der Soldat und ähnlichen Feldpostheften wurden Millionen von Feldgrauen bedacht. Das vermeintlich harmlose Soldatenleben in er­ zählter Form fand bis unmittelbar zum Untergang seine Fans - und auch schon bald danach wieder. Den Erfolg des Kirst-Stoffes verstärkte eine baldige Verfilmung - Drehbuchbearbeitung Ernst von Salomon mit dem jungen Joachim Fuchsberger in der Hauptrolle - und schon im selben Jahr wurde Band zwei der Trilogie nachgeschoben: Null-acht fünfzehn. Die seltsamen Kriegserlebnisse des Soldaten Asch. Kirst schrieb Kriegsbücher, in denen der Krieg nicht vorkam. Erin­ nerungsliteratur, die die Vergangenheit auf Distanz hielt. »Tod und Grauen liegen abseits von diesem Roman«, so verspricht der Klappen­ text von Band zwei, »Alkohol, Langeweile, leichtlebige Wehrmacht­ betreuungsmädchen, Dschungelkämpfe der Wehrmachtsbürokratie und die Schliche der >Organisierer< ergeben ein Mosaik voll Witz, Iro­ nie und befreiendem Humor«.12 Die Fiktionen Kirsts sind sogar in der Lage, die vermeintliche Erinnerung seiner Leser zu prägen, wenn diese konstatieren: »Ja, so und nicht anders ist es gewesen.« Aber auch die Erinnerung des Autors wurde bald auf die Probe ge­ stellt, als er in eine öffentlichkeitswirksame Auseinandersetzung mit Franz Josef Strauß geriet. Der Bundesminister für Sonderaufgaben und spätere Verteidigungsminister soll vor Vertretern eines Soldatenver­ bandes von Kirsts Buch als »Pamphlet« gesprochen, später den Autor selbst als »fanatischen Nazi« bezeichnet haben, wohl um Werk und Autor zu diskreditieren. Strauß und Kirst waren sich in den letzten

142 Erzählen von Krieg und Lager Kriegstagen in Bayern begegnet. Strauß habe, so das Spruchkammer­ urteil am Ende von Strauß’ eigenem Entnazifizierungsverfahren, »als Offizier der Flakartillerieschule Altenstadt durch sein entschlossenes Handeln maßgebend daran mitgewirkt, dass der Landkreis Schongau bei der Besetzung durch die amerikanischen Truppen ohne Blutver­ gießen und ohne größere Zerstörungen übergeben werden konnte«.13 Er wurde als >entlastet< eingestuft. Die Amerikaner stellten ihm her­ vorragende Zeugnisse aus. Seine Verwaltungs- und Englischkennt­ nisse empfahlen ihn schnell für eine Mitarbeit beim Wiederaufbau von Amtsstrukturen: Die Militärregierung in Schongau ernannte ihn schon am 2. Juni 1945 zum »Assistant Landrat«14. Dies war der Be­ ginn einer bemerkenswerten Politikerkarriere. Schon gleich am Anfang der Auseinandersetzung um Strauß’ Äu­ ßerungen machte sich Kirst auf, um seine Entnazifizierungsakten in Bayern nochmals einzusehen. Die Fälle der Kontrahenten waren beide vor der Spruchkammer Schongau verhandelt worden. Hauptvorwurf im Verfahren gegen Hans Hellmut Kirst war eine mehrmonatige Tä­ tigkeit als Nationalsozialistischer Führungsoffizier gewesen. Der Ein­ satz solcher Führungsoffiziere ging auf einen Hitler-Befehl aus dem Jahr 1943 zurück. Sie sollten alle Soldaten der Wehrmacht zu >Weltanschauungskämpfern< erziehen. Nach Kriegsende befand sich Kirst für sieben Monate in einem Internierungslager bei Garmisch. Im da­ rauffolgenden Verfahren vor der Spruchkammer war er bemüht, seine Rolle möglichst kleinzuhalten. Er sei nicht in der Partei gewesen seine Rolle als »Propagandist« verschwieg er. Von der Mitgliedschaft in der Reichsschrifttumskammer war er ja in der Tat - wie er jetzt im Fragebogen der Alliierten angab - wegen Geringfügigkeit seiner schriftstellerischen Aktivitäten damals befreit gewesen. Aber Kirsts Weg zur Schriftstellerei hatte nicht erst nach dem Krieg begonnen. Schon von 1935 an hatte er regelmäßig kleinere Ar­ beiten für Zeitungen, Theater und Hörfunk abgeliefert oder für den Gräfe & Unzer Verlag in Königsberg Lektoratstätigkeiten übernom­ men. Im Krieg schrieb er Beiträge für Frontzeitungen oder im Auf­ trag der Wehrmacht einen Text für das Buch Flakkorps I im Westen. Dies führte Kirst in der Antwort auf die »Frage 118« des Fragebogens

Vergleich unter Waffenbrüdern 143

der Militärregierung weiter aus: »Geben Sie auf einem Extrabogen die Titel und Verleger aller von Ihnen von 1923 bis zur Gegenwart ganz oder teilweise geschriebenen, zusammengestellten oder herausgege­ benen Veröffentlichungen«15 an. Der Autor zeigte sich darin für die nahe Zukunft sehr motiviert. »Nach meiner Entlastung sollen veröf­ fentlicht werden: Zwei Komödien, ein Roman, Artikel über Drama­ turgie und Anti-Militarismus, ein Hörspiel, Gedichte.« Mit dem »gro­ ßen Roman gegen Militarismus (nahezu fertig)« musste Wir nannten ihn Galgenstrick gemeint sein, der schließlich 1950 als Kirsts Erstling beim Verlag Kurt Desch erschien. Ergebnis des Entnazifizierungsver­ fahrens war eine Einstufung als »minder belastet«, allerdings durfte er seine »Tätigkeit als Schriftsteller erst nach 2 Jahren Bewährungs­ frist wieder aufnehmen«16. Unterzeichnet war das Urteil vom Vorsit­ zenden der Spruchkammer - Franz Strauß. Mit dem zeitweisen Berufsverbot wollte sich der Null-acht-fünfzehn-Autor nicht abfinden. Anlässlich der »Weihnachts-Amnes­ tie« und bei anderen Gelegenheiten schrieb Kirst wiederholt an die Spruchkammer Schongau mit der Bitte, seinen Fall nochmals zu überprüfen. Er sei lediglich »nebenamtlich« NS-Führungsoffizier gewesen (was auf den größten Teil dieser Weltanschauungssolda­ ten zutraf) und außerdem begierig darauf, »wieder ungehindert als Schriftsteller arbeiten« zu können. Ein Privileg, das ihm bislang ver­ sagt blieb. Dabei zeigte er sich in einem Beschwerdebrief überzeugt: »Jetzt beginnt die Schaffensperiode meines Lebens. Ich glaube, ein bedeutender Schriftsteller werden zu können.«17 Doch erst gut drei Jahre nach Kriegsende war es so weit, Kirst hielt den lang ersehn­ ten Einstellungsbeschluss der Spruchkammer Schongau in Händen. Demnach seien die vorgelegten Zeugenaussagen günstig, die Aussa­ gen des Beklagten glaubhaft. »Die Ermittlungen ergaben keinen Ver­ dacht, dass er Hauptschuldiger, Belasteter oder Minderbelasteter ist.« Das Verfahren wurde eingestellt. Noch heute wird auf der von der Hanns-Seidel-Stiftung der CSU betriebenen Homepage zu Franz Josef Strauß ein ganz besonderes Do­ kument zur Gesamtwürdigung von Strauß’ Soldatenzeit präsentiert: ein Leserbrief Hans Hellmut Kirsts, den dieser 1978 für die Süddeutsche

144 Erzählen von Krieg und Lager

Zeitung verfasst hat. »Ich selbst habe mit Herrn Franz Josef Strauß«, so heißt es da, »geradezu jahrzehntelange intensive politische Auseinan­ dersetzungen geführt [...], eins jedoch habe ich niemals zu tun ver­ sucht - ihm eine Art NS-Vergangenheit anzulasten. Denn das wäre mit meinem Gewissen, aber auch meinem Wissen, nicht zu verein­ baren gewesen.«18 Beide waren sich in den letzten Kriegswochen und auch in der Zeit danach mehrfach begegnet, was sich mit den Er­ kenntnissen aus den Akten deckt. Die beiden »Waffenbrüder«, wie der Spiegel schon Ende der fünfziger Jahre geunkt hatte, »verglichen sich« nach ihrer öffentlichen Auseinandersetzung. Keiner der beiden soll forthin mehr Negatives gegen den anderen vorgebracht haben.1’ Sogar in der Presse Ostdeutschlands wurden Kirsts Null-acht-fünfzehn-Romane positiv aufgenommen.20 Eine Herausgabe in verschiede­ nen Ost-Verlagen, darunter Volk und Welt und Neues Leben, stand zur Debatte. Ein vom Amt für Literatur und Verlagswesen in Auf­ trag gegebenes Gutachten kam zu dem Schluss, dass es sich zweifel­ los lediglich um »Unterhaltungsromane« handele. Allerdings: »Wir sollten klug und großzügig genug sein, über die ideologischen Feh­ ler der Bücher hinwegzusehen. Schaden vermögen sie meiner Mei­ nung nach nicht zu stiften. Aber es ist nützlich, einen Autor bei uns zu verlegen, der in Westdeutschland eine Leserschaft hat, die in die Millionen geht, und der mit seinen Büchern gegen die Remilitarisie­ rung protestiert hat ...«21 Eine Buchhandelsausgabe ließ sich trotz al­ ler Anfangseuphorie in der DDR nicht nachweisen. Schließlich waren Kirsts Romane keine pazifistischen Manifeste - im Gegenteil: Texte, die, bei aller Kritik an Missständen beim Militär, als Begleitmarsch für die Wiederbewaffnung der jungen Bundesrepublik taugten, weil sie die wirkliche Dimension des Krieges auf das Niveau von LandserGeschichten reduzierten. Kirsts Riesenerfolg ist ohne seinen Verleger nicht denkbar. Kurt Desch hatte am 17. November 1945 die erste Verlagslizenz in der USZone erhalten. Seine Karriere verlief rasant, eine echte Wirtschafts­ wundergeschichte: Bis 1973 sollte sein nach dem Krieg neu gegrün­ deter Verlag Kurt Desch 4300 Titel mit einer Gesamtauflage von rund 41 Millionen Exemplaren22 herausbringen. Bei Desch erschien 1949

Josef Martin Bauers So weit die Füße tragen 145 auch Hans Werner Richters Debütroman Die Geschlagenen. Richter bewunderte Deschs »Optimismus« und schrieb zu dessen 50. Ge­ burtstag: »Sie sind schuld daran, daß ich Bücher schreibe, und Sie sind schuld daran, wenn ich nun nie wieder aufhöre zu schreiben, zum Ärger einiger Kritiker [.,.]«23

Josef Martin Bauers So weit die Füße tragen oder Wessen Geschichte wird hier eigentlich erzählt? Auch beim Erfolgsroman So weit die Füße tragen spielte der Verleger eine zentrale Rolle. Dieser hieß Franz Ehrenwirth. Er stieß auf einen Mann, der eine abenteuerliche Geschichte zu erzählen hatte: Er sei aus russischer Kriegsgefangenschaft am sibirischen Ostkap nahe der Beringstraße geflohen und habe sich in über drei Jahren hauptsäch­ lich zu Fuß bis in den Iran und von dort weiter nach Deutschland durchgeschlagen. Ehrenwirth brachte ihn mit einem Schreibprofi zu­ sammen. Josef Martin Bauer gestaltete aus dem Material rund um den Oberleutnant Clemens Forell, so der Name der literarischen Fi­ gur, die Fluchtgeschichte schlechthin, eine »moderne Odyssee«24 wie es im Klappentext heißt. 1955 erstmals erschienen, kam der Roman in den ersten zehn Jahren auf rund eine Million verkaufte Exemplare allein in Deutschland. Hörspiel- und Fernsehadaptionen folgten. Be­ sonderer Wert wurde damals von Autor und Verlag darauf gelegt, dass es sich um eine wahre Begebenheit handele. Die Identität des Man­ nes, der hinter der Geschichte stand, blieb zunächst geheim. So weit die Füße tragen ist handwerklich - wenn auch auf höchst konventionelle Weise - gut erzählt. Perspektivisch verkürzt auf die Wahrnehmung des Flüchtenden bietet der Roman maximale Identi­ fikationsmöglichkeiten für die Leserschaft. Historische Hintergründe liegen im Dunkeln. Der Erzähler bleibt immer ganz dicht bei seinem deutschen Protagonisten, die anderen, vor allem Russen und Angehö­ rige von asiatisch-sibirischen Volksgruppen, denen er begegnet, wer­ den gespickt mit rassistischen Klischees dargestellt. Sie sind, »in der Mehrzahl wenigstens, Kinder mit kindlichem Hang zu Grausamkeit

146 Erzählen von Krieg und Lager

und begeisterungsfähiger Hilfsbereitschaft«25 oder an anderer Stelle »ausgemergelte, hohläugige, von Entbehrungen gezeichnete Gestal­ ten, so übel und verdächtig aussehend, wie wenn sie ihr Weiterle­ ben einem gerissenen Galgenstrick zu danken hätten«26. Eine russi­ sche Krankenschwester im Gefangenenlager, die einzige Frau weit und breit, ist gar »eines Mitempfindens für einen dieser deutschen Ver­ brecher so wenig fähig wie einer Regung überhaupt, die in den Raum des Menschlichen gehören würde«27. Kontrastiert wird das Ganze mit einzelnen Deutschen, die auch unter widrigsten Umständen ihre »Kultura«28 und Menschlichkeit bewahren - vor allem ehemalige Of­ fiziere zeichnen sich bei Bauer darin besonders aus.

Erst vor wenigen Jahren hat ein bayrischer Radiojournalist die Iden­ tität des Mannes enthüllt, der das Vorbild für Oberleutnant Forell lieferte. Dabei trug er erdrückend viele Indizien zusammen, die da­ rauf hindeuten, dass sich die Geschichte, so wie sie im Roman erzählt wird, nie zugetragen haben kann. Ein Lager am Ostkap ist zu der an­ gegebenen Zeit nicht nachweisbar und der angeblich >echte< Clemens Forell war bereits 1947 aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft nach München zurückgekehrt, konnte also nicht drei Jahre auf Wander­ schaft gewesen sein.29

Und so stellt sich die Frage, wessen Geschichte hier eigentlich er­ zählt wird; und dies nicht nur, weil hier die - in solchen und ähn­ lichen Büchern über Krieg und Gefangenschaft beständig beschwo­ rene - Authentizität infrage steht. Bei der Entfaltung seiner Erzählung war Bauer nicht allein auf die Schilderungen des Zeitzeugen Cornelius Rost, alias Forell angewiesen, er konnte aus einem eigenen reichen Erfahrungsschatz schöpfen. Seit 1940 bei der Wehrmacht, diente er unter anderem im Krieg gegen die Sowjetunion. Schon frühzeitig hatte sein damaliger Verleger, Reinhard Piper, Interesse an einem Buch über das Erlebte bekundet. Dies traf sich mit Bauers eigenen Ambitionen, der mit offenen Augen durch den Krieg ging und fleißig Material zu sammeln begann. »Vom ers­ ten Tag an, da wir über die Grenze gegangen sind, bis heute ist alles eine riesenhafte Reihe von grossen, erbauenden, entsetzlichen und

Josef Martin Bauers So weit die Füße tragen 147 grauenerregenden Erlebnissen«, so schrieb er an seinen Verleger. »Das grosse Erleben bleibt der Krieg, der Kampf, den solche Männer wie die unseren liefern. [...] Schön, wandelbar, eindrucksvoll in all ihren Formen ist die russische Landschaft. Und für das Grauen sorgen die Russen, gar nicht so sehr im Kampf, wie in den Spuren, die ihre zweiundzwanzigjährige Herrschaft hinterlassen hat. Warum dieses Ziel er­ strebenswert ist, habe ich noch nicht herausbekommen können, aber dass man die Entseelung, Schematisierung, Gleichmacherei und He­ rabsetzung aller Lebenswerte bereits bis zu einer kaum noch zu über­ bietenden Vollendung getrieben hat, lässt sich auf Schritt und Tritt erkennen. Mich freilich packt der Ekel und der Hass, wenn ich das sehen muss [...] In nichts aber, was mir der Krieg zum Schicksal hat werden lassen, sehe ich einen Grund auch nur zur geringsten Klage, ich mag und will gern alles erleben, ich trage die paar Strapazen gern um dessen willen, was ich für mich am Ende doch daraus erwachsen sehe. Die Gefahr ist nicht so gross, dass sie unverantwortlich wäre, doch ich glaube, dass ich aus allem gewinnen werde.«30 Mehrere Bücher erschienen unter Bauers Autorschaft, herausge­ geben von offiziellen Wehrmachtsstellen. So, etwa literarisch aufge­ macht, im Piper Verlag Die Kraniche der Nogaia. Tagebuchblätter aus dem Feldzug im Osten31 oder propagandistischer Unterm Edelweiß in der Ukraine. Eine Gebirgs-Division im Kampf gegen Sowjet-Russland32 im Zentralverlag der NSDAP. Um eine möglichst große Papiermenge für das Buch bei Piper zu bekommen, hatte sich der Verlag direkt im Propagandaministerium für das Werk starkgemacht.33 Hier wie dort zeichnete der Gefreite Josef Martin Bauer für den Text verantwort­ lich. »Den überlebenden Mitkämpfern zur Erinnerung, unseren gefal­ lenen Kameraden als bleibendes Ehrenmal ihres Opfertodes auf dem Schlachtfeld«34, so hatte der Divisionskommandeur in seinem Geleit­ wort Sinn und Zweck des Werkes Umrissen. Der Text selbst bot einen Einblick in die Lehren von der rassischen Überlegenheit, zeigte die den Vernichtungskrieg begleitende Propaganda in Reinkultur: »Stun­ denlang kämpft der brave, kriegserprobte, ehrliche deutsche Soldat gegen hingeduckt schleichende Tiere, in deren dünnen Augenspalten es nur aufleuchtet, wenn ein kühl überlegter Schuß getroffen hat.«35

148 Erzählen von Krieg und Lager

Für die Gegner auf sowjetischer Seite stehen Begriffe wie »Horden­ geist« und »seelenlose Masse«36, die »braune Flut«37 mit ihren »asia­ tischen Gesichtern«38. Sie führen den Krieg nach ihrer Art, »die keine Selbstverständlichkeit ehrlicher Kriegführung gelten läßt«.39 Bauer probt in seinem Text die Umwertung der Werte. In der Erzählung wer­ den die deutschen Angreifer den Ukrainern, deren Dörfer sie über­ rennen, zu Befreiern. Die Verteidiger sterben aus seiner Sicht nicht, weil die Deutschen sie überfallen haben, sondern »für den Wahnsinn der Idee, deren schlitzäugige Vertreter geflohen sind in das sowjeti­ sche Paradies«.40 Die Kriegstexte lassen erahnen, dass sich der Autor zuvor im bäuer­ lichen Schrifttum eingeübt hatte. So kontrastiert er den Blick auf die sowjetische Kolchosen-Wirtschaft mit dem >echten< deutschen Bau­ erntum, dem er klar den Vorzug gibt. Die Zeitgenossen hatten den Autor dem Blut-und-Boden-Schrifttum zugeordnet bzw. als Vorläu­ fer gesehen, der den Versuch unternommen habe, »einer brennenden Lebensfrage unseres Volkes in seiner Notzeit eine sinnbildliche Deu­ tung zu geben«41. Und über sein Buch Die Salzstraße wurde gesagt, sie sei »eine Dichtung von den Mächten des Blutes, das nicht nach Recht oder Unrecht fragt, nach Nützlichkeit oder Schaden, sondern wirken muss nach seinem Gesetz«.42 Auch den einschlägigen völkischen Lite­ raturgeschichten war Bauer kein Unbekannter. Liest man Bauers Kriegstexte weiter, so stellt man fest, dass der Au­ tor über »die Dinge«, das heißt konkreter die Verbrechen an den Ju­ den, sehr wohl im Bild gewesen sein muss. In seinem Nachkriegs-Erfolgsbuch spricht er jedoch lediglich in Andeutungen darüber. Es ist das Schweigen des Wissenden. Noch 1942 hieß es bei ihm: »Wo so gut deutsch gesprochen wird und wo die Dinge mit so vollendeter Akro­ batik kopfgestellt werden, hat man Juden vor sich. Das ist und bleibt eine Kriegserfahrung [...] Auch der Eiergroßhändler vorgestern mit den anderthalb Millionen verdorbener Eier war Jude. [...] Die Plünde­ rer aber sind auch Juden.«43 Es sind Juden aus Cernowitz, denen der Erzähler hier begegnet, unterwegs in Zügen. Wohin, fragt sich der Le­ ser heute, mögen die Züge und mit ihnen die Menschen, die Bauer be­ schreibt, wohl gefahren sein?

A »Hinterhältige, kaltblütige Asiaten. Das sind unsere Gegner!« Illustration von Unteroffizier Anton Kolnberger für den Band Unterm Edelweiß in der Ukraine, zu dem Josef Martin Bauer den Text geschrieben hatte. Erschienen im Parteiverlag der NSDAP, 1943. Einer der wenigen, der den flüchtenden Clemens Forell in Bauers Kriegsgefangenen-Epos auf Deutsch anspricht, ist ebenfalls - ein Jude. »Der Jude ist hartnäckig, und ein Jude ist gefährlich, wenn er einen Deutschen so in die Hände bekommt nach den Dingen, die an den Juden in Rußland geschehen sind. Forell weiß nach langer Zeit wieder einmal, was Angst ist.«44 Letztlich wird dieser armenische Jude zu Forells Retter, indem er ihm mithilfe einer Geheimorganisation, der er angehört, die weitere Flucht ermöglicht. Dennoch ist er vor und nach 1945 zunächst vor allem eine Bedrohung genauso wie die braune asi­ atische Flut: für den Gebirgsjäger gleichermaßen wie für den Kriegs­ gefangenen. Das Grundsetting bleibt, nur die Machtverhältnisse ha­ ben sich verkehrt. All dies dient der Exkulpierung des Erzählers, des Protagonisten, des deutschen Volkes in seiner Gesamtheit: Die Rus­ sen oder Juden haben sich ihre Vernichtung gewissermaßen selbst zuzuschreiben. Und der Tod, den die Deutschen in die Sowjetunion

150 Erzählen von Krieg und Lager

hineingetragen haben, geht - folgt man Bauers Helden Forell - eigent­ lich auf die Opfer selbst zurück, »denn dieses Land braucht nun ein­ mal immerwährend Tote, um weiter gedeihen zu können«45. Und der Deutsche bei Bauer wird vom Opfer, das sich mit einem >Präventivkrieg< nach vorn verteidigt, zu einem Opfer, das mit ehrlichen Mitteln und deutschen Tugenden den Krieg (für den die Schuldfrage eindeutig geklärt ist) überlebt. Ein Buch mit solch einer Botschaft musste zum Credo einer nach Absolution heischenden westdeutschen Nachkriegsgesellschaft wer­ den. So wie die Geschichte hier ausgelegt wurde, wollte sie eine große Zahl der Deutschen gedeutet wissen.

Auch heute noch wird das Andenken Bauers in seiner Wahlhei­ mat Dorfen in Ehren gehalten. Wie viele andere belastete und mitt­ lerweile vergessene Schriftsteller führt er ein Weiterleben im Bereich der Heimatliteratur. So habe man »wieder einen Beitrag gefunden, der deutlich zeigt, dass sich Bauer bis zuletzt gegen den Nationalso­ zialismus wehrte und sein später Eintritt in die Partei gegen seine in­ nere Überzeugung geschah«46, heißt es auf der Homepage des Histo­

rischen Kreises Dorfen e. V. Es stimmt, dass die im Krieg von Bauer verfassten Briefe an seinen Verleger oder an Autorenkollegen frei von allem Fanatismus sind. Gut möglich, dass sein Parteieintritt 1937 ein Versuch war, seine journalistische Tätigkeit abzusichern, auf festere Füße zu stellen. Dass er, wie er im Entnazifizierungsverfahren glauben machen woll­ te,47 ohne eigenen Antrag in die Partei aufgenommen worden sei, muss nach heutigem Wissensstand zur Parteimitgliedschaft als reine Schutzbehauptung bezeichnet werden. Ein weiterer Vorwurf, der im Raum stand, war der der Nutznießerschaft. »Nutznießer ist:«, so hieß es in der zugehörigen Kontrollratsdirektive, »wer unter Ausnut­ zung seiner politischen Stellung oder seiner Beziehungen aus der na­ tionalsozialistischen Gewaltherrschaft, der Aufrüstung oder aus dem Kriege für sich selbst oder andere persönliche oder wirtschaftliche Vorteile erlangt oder herausgeschlagen hat.«48 Mit diesem Befund hätte Bauer zu den »Belasteten« gehört. Und Belege für wirtschaftli­ che Vorteile gab es reichlich. Konnte der Autor doch sein Jahresein-

Josef Martin Bauers So weit die Füße tragen 151 kommen von rund 6000 RM im Jahr 1934 auf rund 40000 RM ver­ vielfachen. Sein Verleger, Klaus Piper, erklärte daraufhin befragt an Eides statt: »Die Kriegsjahre brachten für den gesamten deutschen Buchhandel eine wesentliche Steigerung des Buchverkaufs.« So habe auch Bauer auf steigende Einnahmen blicken können. Daraus ließe sich jedoch keine besonders regimetreue Haltung ablesen. »Da das Publikum die künstlerisch minderwertige Naziliteratur weitgehend ablehnte, mußten sich die damaligen amtlichen Stellen damit abfinden, dass der große Bücherhunger überwiegend durch Werke von Autoren gestillt wurde, die sich der nazistischen Ideologie nicht ver­ schrieben hatten. So hatte auch J.M. Bauer aus seiner schriftstel­ lerischen Arbeit steigende Einnahmen.«49 Bauer wurde letztlich als >Mitläufer< eingestuft, als Belastung galt vor allem seine Parteimit­ gliedschaft. Eine tiefere Verstrickung war von der Spruchkammer verneint worden.

V Keine Stunde Null. Verleihung des Kulturpreises des NS-Reichsbauernfiihrers an Josef Martin Bauer (Zweiter von links) 1944 in Goslar, ganz rechts der Schriftsteller Friedrich Griese.

152 Erzählen von Krieg und Lager Doch jenseits dieser formalen Kriterien hat Bauer seinen Beitrag zu einem unterhaltungsliterarischen Mainstream geliefert, der vor, wäh­ rend und nach dem >Dritten Reich< erfolgreich war. Dieser trug dazu bei, dass Denkmuster und Einstellungen, die auch im Dienst der Na­ tionalsozialisten gestanden hatten, weiter wirken konnten. Das Pub­ likum der Nachkriegszeit bekam die Geschichten, die es wollte, ver­ diente und verstand - nicht zuletzt, weil es die Sprache, in der sie erzählt wurden, bereits gut kannte.

Wenn die Dämme brechen:

Edwin Erich Dwinger Ein Gutshaus im Allgäu. Hier wurden nicht nur Pensionszimmer angeboten, sondern man bewarb in Zeitungsannoncen eine »Reitschule Hedwigshof« mit bester »Verpflegung, Reitbahn, Almgelände, Musik­ reiten und Grillbar«50. Hausherr war der immer noch bekannte Au­ tor Edwin Erich Dwinger. Seine ganz große Zeit als Schriftsteller war allerdings vorbei. Die nur noch mäßigen Nachkriegsauflagen seiner Werke zwangen ihn zu allerlei Nebentätigkeiten, von der großen »po­ litischen und literarischen Bühne«51 war er in der noch jungen Bun­ desrepublik abgetreten. Dennoch muss der Blick auf Leute wie ihn gelenkt werden. Wurden doch seine Vorkriegsbücher weiter aufgelegt, gehörte er mit einer Ge­ samtauflage seiner Werke von weit über zwei Millionen Exemplaren52 immer noch zu den erfolgreichsten deutschen Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er war, verglichen mit den >Neulingen< Kirst und Bauer, ein arrivierter Schriftsteller, den die Öffentlichkeit auch nach 1945 noch klar als NS-Autor identifizierte. Der Radiokommentator, der als Beobachter an Dwingers Entnazifizierungsverfahren teilgenommen hatte, konnte auf die Erinnerung seiner Hörerschaft zählen: »Und der Titel Kultursenator und die Würde eines SS-Obersturmführers und die schwarze Uniform mit dem Parteiabzeichen als Schutzname, wie steht es damit, so werden Sie, meine verehrten Hörerinnen und Hörer, fra­ gen? Das waren nichts weiter als belanglose Dekorationen, die man

Wenn die Dämme brechen: Edwin Erich Dwinger 153 über sich ergehen lassen musste, weil man eben schon vor 1933 einen großen Namen hatte und das >Dritte Reich« Leute brauchte, die als Vi­ sitenkarte auch im Ausland beachtet wurden.«53 So habe Edwin Erich Dwinger auf die vielfältigen Anschuldigungen geantwortet. Als >Reichskultursenator« sowie >SS-Obersturmführer< gehörte Dwinger nach den alliierten Gesetzen sogar zum Kreis der Hauptschuldigen. Auch bei ihm stand der Vorwurf der Nutznießerschaft im Raum. Der öffentliche An­ kläger formulierte: »Durch seine Verbindung mit der Partei habe er sich wirtschaftliche Vorteile von Belang verschafft. Die Auflagen seiner Bü­ cher hätten sich seit 1933, insbesondere in der Kriegszeit, trotz der da­ maligen außerordentlichen Papierknappheit vervielfacht f...].«54 Die Spruchkammer folgte im Verfahren weitgehend der Argumen­ tation von Dwingers Verteidigung, dass es sich beim Obersturmfüh­ rer und dem Kultursenator um Ehrenränge »ohne substantielle Be­ deutung«55 gehandelt habe. Auch den Vorwurf der Nutznießerschaft relativierte Dwinger erfolgreich, indem er auf noch größere Auflagen­ steigerungen eines regimekritischen Autors wie Ernst Wiechert ver­ wies - mit Erfolg. Was wohl aus Dwingers Sicht beweisen sollte, man musste kein Nazi sein, um in der NS-Zeit als Autor zu reüssieren. Und umgekehrt: Erfolge in der NS-Zeit ließen nicht unbedingt den Schluss zu, dass der Autor Nazi war. Was aber sagt das Werk? Lassen sich in Dwingers schriftstelleri­ schen Arbeiten Anhaltspunkte für eine schuldhafte Verstrickung des Autors gewinnen? Dieser Frage ging auch die Spruchkammer ausführ­ lich und mithilfe zahlreicher Gutachter nach. In den einschlägigen Li­ teraturgeschichten der NS-Zeit war Dwinger einer der ihren, einer der wichtigsten Chronisten der jüngsten Weltkriegsgeschichte. Das Be­ sondere daran: Dwingers Texte blieben stets anschlussfähig. Das 1929 erstmals erschienene sibirische Tagebuch Die Armee hinter Stachel­ draht, das als Teil einer Trilogie von russischer Kriegsgefangenschaft im und nach dem Ersten Weltkrieg berichtet, war im >Dritten Reich« weiter erfolgreich und wurde auch bereits fünf Jahre nach Kriegsende

in Westdeutschland wieder aufgelegt. Simple Kriegsverherrlichung kann man Dwinger in diesem Buch nicht Vorhalten. Auf drastische Weise schildert er das Dahinvegetieren der ehemaligen soldatischen

A Edwin Erich Dwinger (Zweiter von links) bei der Urteilsverkündung zum Abschluss seines Entnazifizierungsverfahrens vor der Spruchkammer in Füssen am 28. Juli 1948.

Helden in Gefangenschaft. Sein Realismus und seine Sprachfertigkeit heben ihn von anderen Vertretern des soldatischen Nationalismus ab. Dwinger berichtet aus eigenem Erleben; als Sohn einer Russin und ei­ nes Deutschen wurde er als Grenzgänger geboren. Dennoch ist seine Darstellung nicht frei von den gängigen Stereotypen, wenn er über das Volk der Russen spricht: »Ja, es ist gut, im Seelengrund, im Kern! Und es ist nur böse, wenn es verhetzt ist oder wenn ihm von seinen Vor­ gesetzten Bosheit anbefohlen wurde.«56 Dann werden diese Soldaten zu »Asiaten und Bestien«. Bei allem tief sitzenden Rassismus waren Dwingers Hauptgegner nicht die Menschen im Sowjetreich, sondern der Bolschewismus. Dwinger und die Nationalsozialisten trafen sich gewissermaßen zeitweise im gemeinsamen Antibolschewismus. Zu diesem Schluss kam auch die Spruchkammer in ihrem Urteil. Seiner »Mentalität« nach sei der Autor »pazifistisch und humanistisch«57 gewesen. Bei der Textanalyse konnte weiter festgestellt werden, dass »sich in allen, 5000 bis 6000 Druckseiten umfassenden Dwingerschen Werken [...] der Name Hitlers überhaupt nur«58 an ganz we-

Wenn die Dämme brechen: Edwin Erich Dwinger 155

nigen Stellen findet. »Auch die Partei tritt dem Leser in ihrer offiziel­ len Bezeichnung als NSDAP nur ein einziges Mal entgegen, mit einer begrifflich sie kennzeichnenden Umschreibung noch ein zweites Mal; an keiner Stelle wird der nazistischen Rassenlehre zugestimmt, an kei­ ner die brachiale Gewalt oder andere Zwangsmittel gegenüber Geg­ nern jeder Art gepriesen.«5’ Die Verteidigung machte sich damit indirekt eine Regelung der NSLiteraturpolitik zunutze: Alle Schriften, die ausdrücklich Bezug auf die Partei oder ihre Gliederungen nahmen, hatten im >Dritten Reich< viel strengeren Kontroll- und Zensurmaßnahmen unterlegen als Texte ohne konkreten Zeitbezug. Dies führte zum einen dazu, dass viele er­ folgreiche Texte jener Jahre vordergründig nicht die Zeichen der Zeit trugen. Zum anderen konnte eine Abstinenz bei der direkten Anbiede­ rung an die Machthaber im NS-Staat - aus welchen Gründen sie auch immer erfolgt sein mag - im Kampf um eine Rehabilitierung nach 1945 von unschätzbarem Wert sein. Dwingers Verteidigungsstrategie ging auf. Schlussendlich stufte man ihn nur als Mitläufer ein. Das Ur­ teil behielt auch in der Revision Bestand.60

Und schon wenige Tage nach der aus seiner Sicht gelungen abge­ wehrten Revision schrieb Dwinger voller Schaffensdrang an seinen al­ ten Verlag: »Denn ich habe so Feuer gefangen [...], dass ich die Expo­ sition schon machte, diesen Winter auch schon an die Arbeit gehen will. Ausgangspunkt wird Ostpreußen sein, der dort beginnende Zu­ sammenbruch, überleitend in den großen Treck, bis zur Heimkehr in gesicherte Räume. Der Zusammenbruch in Deutschland selbst lässt sich dann jederzeit noch in einem zweiten Bande anschließen, auch ein dritter ist möglich - also wieder eine Trilogie. [...] Dennoch macht es gerade dieser Stoff unmöglich, den Russen dabei aus dem Weg zu gehen. Ich würde das auch für feige halten, [...] wir haben eine Stel­ lung zu beziehen, denn es geht um das Abendland. Ganz gewiss werde ich das in diesem Werk nicht mit politischen Programmen tun, aber eine große Anklage, vom Menschlichen her, gegen all das, was im Os­ ten durch den Bolschewismus geschah, wogegen ich den Russen wie­ der klar absetzen werde, muss es schon aus dem Stoff werden.«61 Allerdings wurden Dwinger und der Eugen Diederichs Verlag Jena

156 Erzählen von Krieg und Lager nicht handelseinig, denn das Verlagshaus sah sich ob der herrschen­ den »totalen Absatzkrise«62 nicht in der Lage, den finanziellen Vor­ stellungen seines einstigen Großautors zu entsprechen. Schließlich erschien Dwingers erfolgreichstes Nachkriegsbuch Wenn die Dämme brechen über den Untergang Ostpreußens neben Nachauflagen vie­ ler seiner alten Verkaufsschlager im bis dahin unbekannten Dikreiter Verlag in Überlingen am Bodensee. In mehreren Erzählsträngen erlebt der Leser darin die Eroberung Ostpreußens durch die Rote Armee aus der Perspektive deutscher Sol­ daten und flüchtender Zivilisten. Zentral ist für Dwinger die Relativie­ rung der deutschen Verbrechen angesichts des Flüchtlingsdramas, die er verschiedenen seiner Romanfiguren in den Mund legt: »Was jetzt in Ostpreußen geschieht, im Warthegau, in Pommern, in Brandenburg, in Schlesien - das ist tausendmal, nein, zehntausendmal, nein, sogar hunderttausendmal so fürchterlich!«63 im Vergleich zu den »Kazetts«, der »Judenvernichtung«, den »Gefangenenmorden«, die ein amerika­ nischer Vernehmungsoffizier gegen Ende des Buches in einem Verhör zur Sprache bringt. Der historische Fehler ist aus Sicht der Protago­ nisten nicht der Krieg an sich, sondern dass dieser nicht konsequent gegen den Bolschewismus geführt wurde. Das Figurenrepertoire des Romans war bestens geeignet, den mit Schuld Beladenen zahlreiche Identifikationsmöglichkeiten zu bieten: geläuterte NSDAP-Amtsleiter, die im Zusammenbruch nur noch an das Wohl der Flüchtlinge denken, junge, ehemals gläubige Parteifunktionäre, die sich für an­ dere aufopfern, und ehrenhafte Soldaten und preußische Offiziere und Adlige, wie die von Dwinger erfundenen von Pleskows, sowieso. Sie wurden allesamt verführt von Hitler, dem »Irrsinnige[n]«64; und man wundert sich, wie es - wäre das Offizierskorps wirklich so verfasst ge­ wesen, wie es Dwinger glauben machen will - überhaupt so weit hatte kommen können. Noch viel schlimmer aber als die Verdrehung von Ursache und Wirkung, die Umwertung der Werte, wirken die Versuche Dwingers, Fermente des ideologischen Unterbaus des Nationalsozialis­ mus (von dem er sich distanziert) für die Zukunft zu retten. Da ist zum Beispiel die »Volksgemeinschaft« - »nur in Ansätzen realisiert, wird uns hoffentlich bleiben«65. An anderer Stelle muss die NS-Rassenlehre

Wenn die Dämme brechen: Edwin Erich Dwinger 157 auf verdrehte Weise zur Exkulpierung des »normalen Deutschen« her­ halten. Der sich durch die Handlung philosophierende alte Königsber­ ger Professor Höltermann entdeckt, dass die KZ-Bewacher und mit ih­ nen die eigentlichen Täter von Geburt »Minderwertige« sind - »in den Bewachungstrupps der Kazetts gleichsam als eine negative Elite zusam­ mengefasst«.66 Bei anderen Völkern würden sie, so wörtlich, »aus dem Volkskörper ausgemerzt«671 Und so gelingt es dem Autor, die Opfer von Euthanasie und Völkermord durch diese abseitige Gedankenakrobatik ein zweites Mal zu verhöhnen. Dwingers Lieblingsfigur aber ist der bib­ lische Paulus, der Bekehrte: »Gerade er würde die Jungen auf den rich­ tigen Weg führen können, denn er hatte den Irrweg ja selber hinter sich gebracht! Aber um ein Paulus werden zu können, muß man zuvor ein Saulus gewesen sein [...]«68 In dieser Saulus-Paulus-Rolle sah sich der im NS-System exponierte Schriftsteller wohl selbst und wünschte seiner Stimme Gehör im neuen Deutschland. Dem widersprachen manche Zeitgenossen vehement: »Männer, die im schwarzen Rock der SS gehorsame Diener der Diktatur waren, die nur soweit Chronisten waren, als es in das herrschende System passte, die aus lauter Antibolschewismus den Terror des Nationalsozi­ alismus übersahen, die Millionen Leser verdummten und zu militan­ tem Handwerk zu begeistern versuchten, solche Männer haben es ver­ wirkt, als deutsche Schriftsteller aufzutreten und wo auch immer in deutscher Sprache zu publizieren. Wer im Dritten Reich nationalso­ zialistisch schrieb, muss heute und für immer schweigen, auch wenn sie antibolschewistisch sind, denn vorerst hätten sie anti-nationalso­ zialistisch sein müssen. Das aber war Edwin Erich Dwinger nicht.«69 So weit ein Kommentator drei Jahre nach Kriegsende. Trotz solcher klaren Worte war die Rezeption Dwingers in der Presse in den folgenden Jahren keineswegs eindeutig ablehnend. Sogar in ei­ nem Blatt wie dem Berliner Tagesspiegel wurde 1967 »Gerechtigkeit für den Autor Dwinger« gefordert, »was vielleicht einer heute kaum noch nachvollziehbaren Frontstadthysterie geschuldet war«70, wie eine neu­ ere Untersuchung vermutet. Antibolschewismus stand wieder hoch im Kurs. Dwinger setzte einen Schlussakkord für sein Werk mit dem 1957 vorgelegten utopischen Roman Es geschah im Jahre 1965, in dem die

158 Erzählen von Krieg und Lager

Deutschen an der Seite der US-Amerikaner den Russen in einer atoma­ ren Entscheidungsschlacht gegenübertreten. Der Antibolschewismus hatte damit in Dwingers Werk endgültig den Weg zum Dritten Welt­ krieg gefunden.71 Die in seinem Ostpreußenbuch und auch in der Be­

völkerung jener Jahre fantasierte Fortsetzung des Kampfes der Deut­ schen gegen den Osten an der Seite der Westalliierten, zu der es realiter nicht kam, konnte nun in der Fiktion stattfinden.

Aus Kriegsberichtern werden Starautoren: Heinz G. Konsalik und Co. Josef Martin Bauers Entwicklung als Schriftsteller trägt exemplarische Züge. Zahlreiche nach 1945 viel gelesene Autoren waren nicht nur Soldaten in Hitlers Wehrmacht, sondern als Kriegsberichter an den Fronten eingesetzt. Einer der heute noch bekanntesten von ihnen ist Lothar-Günther Buchheim, der Kunstsammler und Bestsellerautor. Er fuhr als Kriegsberichter auf verschiedenen U-Booten mit und ver­ wendete später Autobiografisches für seinen Erfolgsroman Das Boot (1973). Auch einer der produktivsten deutschen Autoren überhaupt, Heinz Günther Konsalik, hatte ein schriftstellerisches Vorleben. Im Som­ mer 1948 befand sich der Mann, der mit bürgerlichem Namen kurz Heinz Günther hieß und den Mädchennamen seiner Mutter »Konsa­ lik« später zum Markenzeichen entwickeln sollte, noch auf Jobsuche. Unter anderem bahnte er Geschäftskontakte zu dem in Ulm ansässi­ gen Aegis-Verlag an. Grundvoraussetzung einer publizistischen Tätig­ keit war zu dieser Zeit noch die Beantwortung eines »vereinfachten Fragebogens« der Militärregierung, mit dem das politische Vorleben der Autoren beleuchtet werden sollte. Das Entnazifizierungsverfahren hatte bei ihm - nach eigenen Angaben - eine Einstufung als Entlaste­ ter ergeben. Von 1940 bis 1941 habe er dem NS-Studentenbund ange­ hört, von 1943 bis 1945 der Reichsschrifttumskammer.72 Zumindest finden sich die Angaben in dem von Konsalik unterzeichneten Frage­ bogen - wenn auch später (vermutlich vom Empfänger) überklebt.

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15 Nlay 1946

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Stuttgart Oaisburgstr.27

Waren Sie Mitglied der Partei'6 der einer ihrer Organisationen und Wie sind Sie nach dem Entnazifizierungsgesetz eingestuft worden? .*.«! A .n. Einstufung .V..

'2.) Haben Sie sich in Red? oder Schrift für den Nationalsozialis­ mus eingesetzt oder haben Sie die politische Ideologie des Na­ zismus in irgendeiner,Weiße öffentlich vertreten (.Raseenfragen, B^völkerungspolitik, militaristische Äusserungen etc.)? .. .M A .H.... 3.) Haben Sie je Briefe, Artikel, Bücher geschrieben oder Aus­ sagen gemacht, welche, falls sie Jetzt oder später entdeckt werden, beweisen, dass Siet a) dem Druck der Nazis nachgaben, Finanzielle Vorteile durch Nazi-ünteratützung • hatten. o) sich um besondere Begünstigungen bei NSDAP AmtsStellen und Mitgliedern öder Wäzlnnhängern be. worben haben. d) den Nazis erlaubten, Ihren Namen und Einfluss zu deren Vorteil zu benutzen? n e in

4.) Sind Sie jemals vom Sicherheitsdienst, von der Sestapo, oder der Abnehr aüfgefordert worden, Berichte irgendeiner Art zu erstatten?

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Palls, die Antwort zu einer von den obenetehenden ist, erklären Siedi s in allen Einzelheiten auf eihem sepa­ raten.ßogen und unterschreiben Sie Ihre Angaben.

zKeinzQiintherfKonsaltk Schrlttsteller und Dramatiker

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A »Vereinfachter Fragebogen« der amerikanischen Militärregierung, mit dem die politische Zuverlässigkeit von potenziellen Autoren geprüft werden sollte. Der spätere Bestsellerautor Heinz G, Konsalik hatte sich beim Aegis-Verlag in Ulm als Mitarbeiter ins Spiel gebracht.

160 Erzählen von Krieg und Lager Bei seinem Tod, 1999, >verabschiedete< ihn der Spiegel mit einem geradezu gehässigen Nachruf: »Heinz G. Konsalik, 78. Der Bestsel­ ler-Autor aus Köln, bis kurz vor seinem Tode mit einer 44 Jahre jün­ geren Chinesin liiert, fürchtete weder Kitsch noch Klischee. Er hackte Romane im Akkord (155 in 43 Jahren), nannte sich >Volksschriftstel­ len und hatte volkswagenmäßig Erfolg (83 Millionen Weltauflage). Er war Student der Medizin und Landser in Russland, folglich hieß sein Erst-Erfolg Der Arzt von Stalingrad, und die Freuden des Landsers, Gewalt, Sex und andere Trivialitäten, behielt er auch an anderen Ro­ man-Fronten bei. 1939 trat er eine Tätigkeit bei der Gestapo an und wie sein Dienstherr [gemeint war Hitler] pilgerte er nach Bayreuth. Heinz G. Konsalik starb am 2. Oktober nach einem Schlaganfall in Salzburg.«73 Allen Schmähungen zum Trotz: Er und Johannes Mario Simmel ge­ hörten zu den bestverkauften deutschsprachigen Autoren überhaupt. Ihre Gesamtauflagen gingen beide weit in den zweistelligen Millio­ nenbereich. Von der Literaturwissenschaft wurden Simmel wie auch Konsalik lange Zeit völlig ignoriert, als Trivialautoren einer näheren Betrachtung nicht würdig erachtet. Dabei hätte gerade bei der Suche nach den Verbindungslinien über die vermeintlichen Zäsuren 1933 und 1945 hinweg ein genaueres Augenmerk auf diese Autoren einer in jeder Hinsicht echten Massenliteratur notgetan. Konsalik hatte nicht nur erste schriftstellerische Versuche vor 1945 unternommen, er war sogar »Ostfront-Berichterstatter«74. Seine Erlebnisse aus die­ ser Zeit verarbeitete er in späteren Jahren in zahlreichen Kriegsroma­ nen. Die Vorwürfe, darin herrsche »ein unangenehm-prahlerischer und die Schrecken des Rußlandüberfalls verdrängender Landserton«, konterte er: »Ja, bei manchem, was ich heute von mir lese, frage ich mich, Junge, was schriebst du da? Aber das war der Landserton, den wir damals hatten. Ich habe Jahre an der Geschichte der sowjetischen Frauenbataillone recherchiert, trotzdem würde man heute vielleicht sanfter über Frauen schreiben.«75 Und so wurden seine Bücher von den Zeitgenossen wahrgenommen: als die Fortsetzung der LandserSprache mit den Mitteln der Unterhaltungsliteratur. »Es sind Helden, die sich offenbar alle damals beim Iwan einen männlich-derben Jar-

Aus Kriegsberichtern werden Starautoren: Heinz G. Konsalik und Co. 161

gon angewöhnt haben, von dem sie noch drei Jahrzehnte nach dem Krieg nicht lassen können, Männer von >saumäßigem Charmes die auf gut deutsch >den Arsch zusammenkneifen< und sich schnüffelnd erinnern, wenn es >gegen den Wind stinkt wie eine Kompanie voller SchweißfüßeOpfer< sind, denen das Mitgefühl des Lesers gilt, dass die Feindbilder aber, mit denen sie einst zum Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion angestachelt wurden, in Konsaliks Buch weiter gepflegt werden. Da sind zum Beispiel die russischen Frauen, die in ei­ ner Mischung aus schwülstiger Erotik und Grausamkeit die deutschen

162 Erzählen von Krieg und Lager

Männer einerseits anziehen, andererseits aber auch drohen, sie zu ver­ nichten: »>Ich heiße Dr. KasalinsskajaAsiatenmännlich-derbe Jargon< wäre, der Landser-Ton, der das Besondere an Konsaliks Text ausmachte; aber das

Aus Kriegsberichtern werden Starautoren: Heinz G. Konsalik und Co. 163 Phänomen geht viel tiefer. Der Roman ist die völlig ungebrochene Fortsetzung der nationalsozialistischen Kriegsprosa, und das nicht nur wegen des einschlägig vorbelasteten Autors. Er ist die Verlänge­ rung des Vernichtungskriegs hinein in den Kalten Krieg mit unter­ haltungsliterarischen Mitteln. Die Deutschen wurden so in fast ei­ nem Waschgang von Tätern zu Opfern. Die alten Feindbilder, wie das beinahe schon traditionell zu nennende von der >gelben Flut< - hier in den ewig grinsenden Mongolen personifiziert -, wurden weiter ge­ pflegt und antikommunistisch aufgeladen. Man stand schon wieder an einer neuen, alten Front, der gegen den Kommunismus, und hatte keine Zeit, über den eigenen schuldhaften Beitrag zum Weltenlauf nachzudenken. »So paradox es zunächst klingen mag: Die in Heimkehrerpublizis­ tik und Kriegsroman dominierende Perspektive auf den Zweiten Welt­ krieg sieht in den deutschen Landsern die erste Gruppe von Leidtra­ genden des deutschen Vernichtungskriegs. Somit ist hier nicht nur die strikte Separierung von nationalsozialistischen Verbrechen und vermeintlich >sauberer< Wehrmacht angelegt; darüber hinaus rückt das Narrativ Frontoffiziere und Frontsoldaten von vornherein in die Nähe der eigentlichen Opfergruppen deutscher Aggression.«84 In ge­ wisser Weise wurde dies von der Politik noch gestützt und befördert. »Bundeskanzler Konrad Adenauer wiederum nutzte Organisationen wie den Verband der Heimkehrer (VdH) erfolgreich, um die Soldaten als vermeintliche deutsche Opfer des Zweiten Weltkriegs in die west­ deutsche Nachkriegsdemokratie einzugliedern. Bereits in seiner ersten Regierungserklärung am 20. September 1949 hatte er Nachsicht ge­ zeigt: >Der Krieg und auch die Wirren der Nachkriegszeit haben eine so harte Prüfung für viele gebracht und solche Versuchungen, daß man für manche Verfehlungen und Vergehen Verständnis aufbrin­ gen muß.< Darüber hinaus verlangte der Bundeskanzler in seiner An­ sprache, dass die Unterscheidung zwischen politisch Einwandfreiem und >Nichteinwandfreien< >baldigst verschwinden« sollte. Damit er­ teilte er der alliierten Entnazifizierungspolitik eine klare Absage. Vor diesem Hintergrund setzte der Bundeskanzler in den frühen fünfziger Jahren in den Verhandlungen mit den Westmächten über einen west-

A Der >Engel von StalingradTurmwächter der Traditiom schrieben die Soldatenorganisationen den Antibolschewismus fort, und sie stilisierten die Kriegsgefangenen zu Märtyrern.«86 Andere Untersuchungen mit einem breiteren Fokus gehen so­ gar noch weiter. Danach klingt es plausibel, dass das Bild der Deut­ schen als Opfer nicht erst nach dem Krieg konstruiert wurde, sondern schon dem eigenen Erleben entsprang. Jenseits aller Schuldfragen musste und konnte sich das Individuum als Opfer des Kriegs füh­ len. Jörg Echternkamp hat das auf den Punkt gebracht: »Als Opfer sahen sich die meisten Täter und Mitläufer bereits vor 1945.«87 Auch das spricht dafür, dass hier nicht Deutsche >über Nacht< in eine an-

Aus Kriegsberichtern werden Starautoren: Heinz G. Konsalik und Co. 165 dere Rolle schlüpften oder in der Literatur in einer anderen Rolle dar­ gestellt wurden, sondern dass in den Texten der fünfziger Jahre Dinge zum Ausdruck kamen, die vorher schon vorhanden waren, aber nicht artikuliert werden durften. Ein Teil des Erfolgs von Konsalik erklärt sich sicher daraus, dass er die Mittel der leichten Unterhaltung beherrschte und so ein Massen­ publikum ansprach. Ein ganz besonderer Teil aber beruht gerade da­ rauf, dass der Autor durch die fortgesetzte Wiederholung eingefah­ rener Denkmuster breiteste Resonanz in einer Gesellschaft fand, die immer noch so dachte und denken wollte wie vor 1945 - und das unbelastet von irgendwelchen Schuldgefühlen. Kontinuität des Den­ kens, eine bedingungslose Katharsis und eine Wiedermobilmachung für den Kalten Krieg bildeten die drei Säulen des Konsalik’schen Best­ sellerimperiums. Das geschah schon symbolhaft dadurch, dass das ti­ telgebende Stalingrad, der Ort der größten deutschen Niederlage und zugleich Kriegswende, zum Ort des Wiedererstehens deutscher Tugen­ den wird und als Stalins Stadt gleichfalls ein Symbol für den zu be­ kämpfenden Kommunismus ist. In Dr. Böhler entsteht ein positiver Anti-Held, also ein gegen das NS-Heldenideal abgesetzter Typus, der als sein Credo festhält: »Es gibt Höheres als das eigene Ich: die Pflicht, Mensch zu sein.«88 Mit diesem Kunstgriff legt Konsalik die doppelte Distanz zwischen die Deutschen und ihre Schuld. Er macht die Masse zu Opfern, denen das Mitgefühl des Lesers gilt und deren Leid die Frage nach Schuld verbietet, und lässt vor diesem Hintergrund den Humanisten Böhler, einen zugleich genialen Arzt und Chirurgen, als positive Identifikationsfigur agieren.

Für Konsaliks Dr. Böhler gab es ähnlich wie für Bauers Clemens Forell ein Vorbild im wirklichen Leben: Dr. Ottmar Köhler, genannt der >Engel von Stalingradc Köhler wurde ein selbstloser Einsatz für die deutschen Kriegsgefangenen in verschiedenen Lagern in der Sowjetu­ nion attestiert. Als er zur Jahreswende 1953/54 mit einem der letzten Transporte von dort zurückkam, empfing ihn Kanzler Konrad Ade­ nauer persönlich. Den Rest seines Lebens widmete er sich der Medi­ zin und dem Andenken an die Zeit als »Stalingradkämpfer« und Ge­ fangener. In einer Ansprache in der Nachkriegszeit sagte er: »In allen

166 Erzählen von Krieg und Lager

Kriegsgefangenenlagern dieser Welt hat es nach dem letzten Kriege ein großes Sterben gegeben. Wir ehemaligen Kriegsgefangenen wissen am besten darum. Die ehemaligen Kriegsgefangenen aller Nationen sollten sich dafür einsetzen, daß sich das nicht wiederholt. Wir wollen alle dafür eintreten, daß es nie wieder einen Krieg gibt.«89 Vom Roman Der Arzt von Stalingrad gab es eine höchst populäre Filmadaption mit O. E. Hasse als Dr. Böhler und Mario Adorf in der Rolle des Sanitäters Pelz. Die Verfilmung erfolgte nur zwei Jahre nach dem Erscheinen des Romans und trug nachhaltig zu seinem gro­ ßen Erfolg bei. Der Arzt von Stalingrad fügte sich da hervorragend ins Gesamtbild, denn in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre rollte in Westdeutschland eine regelrechte Kriegsfilmwelle durch die Kinos. 1955 ging der Filmpreis Bambi an den »ökonomisch erfolgreichsten Film von 1954«’°: die Verfilmung von Null-acht fünfzehn. Die Folgen der NS-Literaturpolitik reichen also weit hinein in die Dekaden nach 1945; dies zum einen über Verbot und Diffamierung von Autoren und Texten - zum anderen aber auch über das, was im >Dritten Reich< an Literatur gefördert wurde und nachhaltig Autoren und nicht zuletzt die Leser prägte.

SCHICK AUCH EIN BUCH NACH DRÜBEN! Literaturaustausch mit Hindernissen

Frivole Geschäfte: Die Frühphase des Literaturaustauschs zwischen Ost und West Eigentlich waren sich die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs zu­ nächst darin einig, »zwecks Schaffung eines freien Austauschs von Nachrichten und demokratischen Ideen in ganz Deutschland« [...] »den freien Austausch von Zeitungen, Zeitschriften, Filmen und Büchern«1 zwischen den verschiedenen Besatzungszonen und Berlin zuzulassen. Zumindest in der Theorie lassen manche frühen Direk­ tiven vermuten, dass man überzeugt war, man könne das deutsche Volk nur mit einer großen Offenheit aus der Diktatur in eine neue Gesellschaft führen. Verbote und Einschränkungen passten eigent­ lich nicht zum Ziel der Umerziehung. In der Praxis verlief der freie Austausch dagegen alles andere als reibungslos, behielten sich die einzelnen Zonenverantwortlichen eigene Regelungen vor, erfolgten in allen Besatzungszonen Beschlagnahmungen. Mit dem sich im­ mer stärker herausbildenden Ost-West-Gegensatz kam es beispiels­ weise im britischen Einflussbereich zu Verboten, was die Einfuhr von »politischer Literatur« aus der Sowjetzone betraf.2 Der Austausch war vor allem eines - unsicher und ungeregelt. Und für die Zeit vor der Währungsreform kann man zu dem Schluss kommen, dass »die

168 Schick auch ein Buch nach drüben I

Vielzahl der Verordnungen, Befehle und Direktiven, die im Laufe der Jahre von den verschiedenen Instanzen der westlichen Militär­ regierungen über den Druckschriften-Austausch mit der Sowjetzone erlassen wurden, [es unmöglich machen], ein für einen längeren Zeitraum gültiges Bild [...] zu entwerfen.«3 Denn zur selben Zeit ver­ nahm man die Stimmen einzelner Buchhändler, die verhalten be­ geistert vom Literaturbezug aus dem Osten berichteten: »Es ist nicht in erster Linie politische Literatur, die vom Osten nach dem Wes­ ten flutet, sondern täglich treffen hier große Mengen wissenschaftli­ cher, schöngeistiger, technischer und sonstiger Bücher aus dem Os­ ten ein. Jeder Ballen aus Leipzig wird mit Freude begrüßt!«4 Dabei scheinen sich die Besatzungsmächte vor allem gegenseitig mit Ein­ fuhrverboten belegt zu haben, wobei stets darüber gestritten wurde, wer jeweils den Anfang gemacht habe.5 Durch die Währungsreform in den Westzonen und die Entwicklung zweier Währungsgebiete und letztlich zweier Teilstaaten wurde die Lage keineswegs einfacher. Schließlich entstand mit dem Abkommen über den Interzonenhan­ del 1949/50, dem sogenannten Frankfurter Abkommen, ein Vertrag, der mehr oder weniger die Grundlage für den Handel zwischen den Währungsgebieten blieb. Allerdings waren in den dieses Abkommen begleitenden Warenlisten Bücher nicht mit aufgeführt. Auch wenn es in all den Jahren immer wieder Geschäfte mit Büchern in beide Richtungen gegeben haben soll - die Bemühungen um eine konkrete Übereinkunft, die einen Literaturaustausch regelte, verliefen zäh. So befürchteten vor allem die Westberliner Vertreter des Buchhandels, ihr Geschäft könne durch Re-Importe von Westbüchern aus dem Osten geschädigt werden. Während offiziell eine Verrechnung von 1 DM West zu 1 DM Ost festgelegt worden war, konnten Westbü­ cher durch schwarz getauschtes Geld im Osten um ein Vielfaches billiger eingekauft werden.6 So erinnerte sich ein ehemaliger Buch­ händler, dass solche Re- oder Direktimporte nicht nur im privaten Bereich und insbesondere im »kleinen Grenzverkehr« in Berlin eine Rolle spielten. Er wusste zu berichten, »dass während meiner Tätig­ keit bei Hugendubel in München von 1949 bis 1951 regelmäßig ein Buchhändler zu uns kam und Bücher aus der DDR mit einem Rabatt

,,Alles, was der Mensch zu leisten unternimmt, es werde nun durch Tat oder Wort oder sonst hervor­

gebracht, muß aus sämtlichen vereinigten Kräften entspringen; aues alles rVereinzelte ereinseue in ist verwei/nui. verwerflich.”

Das Werk Ist für den Gebrauch In der DDR, „„„ ilamaiin lamann hettimmt. Sein Export, seine Verwendung oder sein Besitz außerhalb der DDR ist bei einer Konventionalstrafe in Höhe des 20 fachen Ladenpreises zu Gunsten des Verlages ver­ boten. Jeder Erwerber dieses Werkes unter­ wirft steh dieser Verkaulsimstimmung. Wer dieser Bestimmung zuwider handelt, hattet für die vereinbarte Konventionalstrafe. Reaistrier-Nr. Zweite,

durchgearbeitete

und

erweiterte

VERLAG ALFRED TOPELMANN / BERLIN W 35 A »Das Werk ist für den Gebrauch in der DDR bestimmt. Sein Export, seine Verwendung oder sein Besitz außerhalb der DDR ist bei einer Konventionalstrafe in Höhe des 20fachen Ladenpreises zu Gunsten des Verlages verboten.« Stempel in einem Buch des Alfred Töpelmann Verlags, 1949.

von mehr als 50 Prozent lieferte«7. Auf der anderen Seite schützten Verlage ihre Bücher, die gegen Ostmark in die DDR verkauft wur­ den, durch Stempeleindrucke gegen Missbrauch: »Das Werk ist für den Gebrauch in der DDR bestimmt. Sein Export, seine Verwendung oder sein Besitz außerhalb der DDR ist bei einer Konventionalstrafe in Höhe des 20fachen Ladenpreises zu Gunsten des Verlages verbo­ ten.«8 So stempelte de Gruyter seine Bücher, die in den Export gen Osten gingen. In dieser Phase der Verunsicherung wurde ein Ost-West-Großdeal abgewickelt, der den in der Klärung befindlichen Tauschhandel bei Weitem übertraf: das »Karl-May-Geschäft«9. Hier ging es nicht um Größenordnungen von einigen Zehntausend Verrechnungseinheiten, sondern um Bücher im Wert von 380000 D-Mark. Nicht weniger als 118 000 Bände Karl May, die im Osten unverkäuflich waren, sollten

170 Schick auch ein Buch nach drüben!

den Besitzer wechseln. Dabei war der sächsische Abenteurer »nicht verboten« - aber eben auch »nicht erlaubt«10. Besonders pikant da­ ran: Es handelte sich um Bücher, die vor 1945 produziert worden wa­ ren. Die DDR wollte das im Westen losschlagen, was man der eige­ nen Bevölkerung nicht mehr >zumuten< konnte. Im Austausch sollte die östliche Seite den Gegenwert in Fach- und Wissenschaftslitera­ tur importieren dürfen. Der Handel mit dem in ganz Deutschland zu dieser Zeit nicht unumstrittenen Autor warf überall Fragen auf: bei­ spielsweise, »ob es vertretbar sei, dass die Ostzone ihren gewiss sehr großen und durchaus begründbaren Bedarf an wissenschaftlicher Li­ teratur wenigstens zu einem nicht unerheblichen Teil dadurch zu de­ cken versuchte, dass der westdeutsche Büchermarkt mit Unmengen von Büchern eines nicht überall in gleich hohem Ansehen stehenden Trivialschriftstellers überschwemmt wurde; unter kulturpolitischen Aspekten jedenfalls«, so Ernst Umlauff noch voll Überzeugung Ende der siebziger Jahre, »mutet eine solche Kompensation grotesk und fast frivol an.«11 Wenn auch das Geschäft im ursprünglich geplan­ ten Umfang nicht stattfand. Allein der Anlauf der Ostseite zu diesem Deal sowie die ebenfalls scheinheiligen >Gegenargumente< aus dem Westen zeigen, dass man erstens Geld auch mit - aus ideologischer Sicht - problematischen Inhalten zu verdienen bereit war und dass man zweitens den sächsischen Bestsellerautor immer noch als halb­ seiden ansah. Da man hier wie dort dem Buchhandel noch eine er­ zieherische Rolle zuschrieb, dürften solche Wertungen wie die von Umlauff auch in der Bundesrepublik nichts Ungewöhnliches gewe­ sen sein.

Tausche Bücher gegen Bierdeckel »Schick auch ein Buch nach drüben I« Mit dieser Aufforderung wurde in Westdeutschland dafür geworben, die privaten Pakete, die zu Hunderttausenden gen Osten versandt wurden, auch mit Litera­ tur zu bestücken. Dies war verbunden mit der Hoffnung, dass da­ mit »wenigstens die kulturellen Beziehungen zwischen beiden Teilen

Tausche Bücher gegen Bierdeckel 171

Deutschlands«12 gepflegt werden könnten. Gewissermaßen eine geis­ tige Brücke über die politische Kluft hinweg. Der Austausch erfolgte im Wesentlichen auf drei Wegen: über den offiziellen Buchhandel zwischen beiden deutschen Staaten, über die Vergabe von Verlagsli­ zenzen sowie - möglicherweise am bedeutendsten - im Zuge privater Reisen und Besuche und im privaten Geschenkpaket- und Päckchen­ verkehr. Bei der offiziellen Buchhandelsschiene ging es tatsächlich im engsten Sinne des Wortes um ein Austauschgeschäft. Im Rahmen des >Interzonenhandels< waren die Lieferung und der Bezug von »wissen­ schaftlichen Büchern, Fachbüchern, wissenschaftlichen Zeitschrif­ ten und Fachzeitschriften, belletristischem Schrifttum, Musiknoten sowie die Erteilung und Entgegennahme von Druckaufträgen«13 ge­ regelt. Schon die Reihenfolge der einzelnen Produktgruppen deutet eine auch quantitative Abstufung an. In erster Linie ging es um wis­ senschaftliche Werke und Fachbücher. Grundlage für diesen Inter­ zonenhandel bildete das sogenannte Berliner Abkommen vom Sep­ tember 1951, das im Folgejahr in Kraft trat. Dabei waren die jährlich erlaubten Werte in Verrechnungseinheiten festgelegt. So hatten die Verantwortlichen für »Lieferungen der Währungsgebiete DM-Ost« bzw. »Lieferungen der Währungsgebiete DM-West« zunächst jeweils 4,5 Millionen Verrechnungseinheiten für »Druckerzeugnisse (Spezi­ fikation Vorbehalten)« eingeplant.14 Die festgelegten Summen wur­ den immer wieder verändert und angepasst. In Richtung Osten etwa waren wissenschaftliche Bücher, Zeitschriften und Fachzeitschriften in einem Umfang von 400000 Verrechnungseinheiten vorgesehen. Schöngeistige Bücher und Zeitschriften durften nur von Ost nach West geliefert werden, und zwar in einem Umfang von 200000 Ver­ rechnungseinheiten. Zur Verrechnung mit der wissenschaftlichen Li­ teratur stand dem Westen der Bezug von Bierglasuntersetzern in Höhe von 400000 Einheiten zur Verfügung.15 »1954 hatten die Lieferun­ gen und Bezüge jeweils die 10-Millionen-Grenze überschritten. 1955 wurde schließlich die wertmäßige Begrenzung für die meisten Positi­ onen aufgehoben, doch es waren weiterhin Einfuhrgenehmigungen erforderlich.«16 »Die Aufhebung der Wertbegrenzung (mit Ausnahme

172 Schick auch ein Buch nach drüben! der Belletristik) hatte schon 1956 die merkwürdige Folge, dass der Westen für 14 Millionen VE Bücher und Zeitschriften in die DDR lie­ ferte, jedoch nur für 3,4 Millionen VE bezog.«17 Dabei war belletristi­ sche Literatur immer eher eine Randerscheinung, schließlich habe es auf beiden Seiten ideologische Bedenken gegeben.18 Beim Handel mit Büchern zwischen Ost und West, insbesondere dem mit schöngeistiger Literatur, lässt sich zwischen Sortiments- und Auflagenexport unterscheiden.19 Der Auflagenexport bezog sich im Wesentlichen auf den Export von Gemeinschaftsausgaben oder Teil­ auflagen, beim Sortimentsexport eröffnete sich dem Leser zumindest theoretisch die Möglichkeit, über eine eigene Bestellung an Ware aus dem anderen Teil Deutschlands zu kommen. Aber, so Julia Frohn in ihrer Überblicksarbeit zum Literaturaustausch, »in der DDR war ent­ sprechend den zensorischen Einschränkungen nicht jeder westdeut­ sche Titel bestellbar. Auch die Verlagsvertreter, die im Namen eines DDR-Verlages in der BRD agierten, wurden eingehend auf ihre ideo­ logische Linientreue geprüft und erhielten vom [Ministerium für Kul­ tur] konkrete Anweisungen für Verhandlungen mit dem westdeut­ schen Sortimentsbuchhandel.«20 Der Erwerb westdeutscher Bücher sei durch »unzählige Hürden«21 beschränkt gewesen. Lediglich »mar­ xistisch oder sozialistisch gefärbte Literatur aus den Verlagen PahlRugenstein, Röderberg« oder Ähnliches sei zugänglich gewesen. Das sah für die andere Seite - zumindest theoretisch - anders aus. »Je­ der westdeutsche Leser konnte also auf die Gesamtheit aller in Ost­ deutschland erschienenen Bücher und Zeitschriften zugreifen, so­ lange die entsprechende Veröffentlichung nicht mit den Strafgesetzen der Bundesrepublik kollidierte.«22 Die Vergabe von Verlagslizenzen als Möglichkeit eines Literaturaustauschs unterlag starken Schwankungen. Für die ersten Jahre sind ei­ nige Titel und Autoren zu nennen, die in verschiedenen Zonen in Ost und West auf den Markt kamen. Das bekannteste Werk dieser Art: > »Bücher in die Sowjetzone zu schicken, ist nicht verboten«. Infoblatt, mit dem in Westdeutschland für Pakete in die DDR auch mit geistigem Inhalt geworben wurde.

föüdjer ln die Sowjetzone zu schicken, ist nicht verboten, wie vielfach irr­ tümlich angenommen wird. Wer die Vorschriften des sowjetzonalen „Ministeriums für Außenhan­ del und innerdeutschen Handel" beachtet, wird damit rechnen können, daß sein Geschenk auch in die Hände des Empfängers kommt. Jeder Bücherfreund weiß, was dem anderen ein rech­ tes Buch zur rechten Zeit bedeuten kann.

Ein wenig Aufmerksamkeit, ein wenig Nach­ denken, ein wenig Fingerspitzengefühl — Ist das zuviel, wenn es darum geht, einem anderen Menschen eine Freude zu machen?

174 Schick auch ein Buch nach drüben! Theodor Plieviers Stalingrad, das deutschlandweit zum Bestseller wer­ den konnte. Dieser Austausch blieb aber eher die Ausnahme, ging im Laufe der Jahre zunächst zurück, um nach dem Mauerbau peu ä peu neu belebt zu werden. »Mit der Schließung der DDR-Grenzen 1961 war die Möglichkeit zum Erwerb von Büchern im Westen weitgehend, zur Ausleihe sogar vollständig unterbunden. Umso wichtiger wurde das [...] Lizenzgeschäft sowie die Versorgung durch heimische Bib­ liotheken.«23 Etwa Anfang der achtziger Jahre umfasste das Linzenzgeschäft gut 300 Titel, die in die je andere Richtung vergeben wur­ den.24 Julia Frohn kommt in ihrer Studie zu der Einschätzung, dass »der überwiegende Teil des deutsch-deutschen Literaturaustauschs über den innerdeutschen Lizenzhandel«25 stattgefunden habe. Das betraf zum einen Lizenzverträge zwischen Verlagen, zum anderen aber auch Autoren, die ihre Rechte direkt an Verlage im jeweils anderen Teil vergeben durften. Die einzigen DDR-Autoren, die dieses Privi­ leg genossen, sollen Anna Seghers und Bertolt Brecht gewesen sein.26 Dem westdeutschen Suhrkamp Verlag, bei dem Brecht herausgegeben wurde, habe der Ost-Autor mit seinen Werken als »finanzielles und

verlagsprogrammatisches Fundament«27 gedient. Unter den Westau­ toren sind beispielsweise Dinah Nelken, Günther Weisenborn, Oskar Maria Graf oder Hans von Oettingen zu nennen, die direkt mit DDRVerlagen vertragseinig wurden; hier also - im Gegensatz zu Seghers und Brecht - nicht unbedingt Autorinnen der ersten Reihe. Manche Westlizenz im Osten kam teils aus kultur- und zensurpo­ litischen Gründen, teils aus Mangel an Devisen nicht zustande: »Es war vor allem der Devisenmangel, der die Einfuhr westlicher Literatur im größeren Stil beschränkte und Ende der fünfziger Jahre einen lite­ raturpolitischen Autarkiekurs im Zeichen des Bitterfelder Weges, die weitgehende Selbstabschottung gegenüber der westlichen >Dekadenz< der literarischen Moderne begünstigte: Die knappen Devisen blieben im Wesentlichen für wissenschaftliche Literatur reserviert.«28 Über diese Beschränkungen führten sogar manche Verlage laut­ stark Klage, wie im Falle des Reclam-Verlags Leipzig direkt bei der dem Ministerium für Kultur nachgeordneten Hauptverwaltung Verlage. Man machte sich Sorgen, auch mit Blick auf den Westableger sei-

Tausche Bücher gegen Bierdeckel 175 ben Namens, der Marke »Universal-Bibliothek« nicht mehr gerecht werden zu können. Von den bisher erschienenen über 8000 Bänden seien in der DDR nur noch 326 lieferbar. So heißt es dort mit Blick auf die moderne amerikanische und westeuropäische Literatur: »Be­ sondere Sorge bereitet es dem Verlag, daß er sich bisher durch das schmale Papierkontingent und die geringen ihm zur Verfügung ste­ henden Valutabeträge außerstande sah, diese Literatur, die teilweise schon Weltgeltung genießt, in der Universal-Bibliothek den Lesern in der Deutschen Demokratischen Republik vorzustellen.«2’ Folgt man dem Schreiben des Verlags, so standen Reclam für 1955 nur rund 10000 DM an Devisen zur Verfügung, für das Jahr darauf lediglich ge­ ringfügig mehr. Die Argumentation des Cheflektors Hans Marquardt ging dann in die Richtung, dass Reclam-Ausgaben volkswirtschaft­ lich gesehen günstiger kämen als teure Ausgaben der Konkurrenzver­

lage: »Die ökonomischen Vorteile für die Devisenwirtschaft liegen dabei auf der Hand. Wir möchten sie am Beispiel von Hemingways Erzählung Der alte Mann und das Meer erläutern. Diese Ausgabe kostet beim Aufbau-Verlag DM 6.-. Legen wir 10% Lizenzgebühr zugrunde, so müßten an den Lizenzgeber bei einer Auflage von 10000 Exempla­ ren DM 6000.- an Devisen abgeführt werden. In der Universal-Bibli­ othek würde diese Ausgabe DM -.80 kosten. Die Lizenzgebühr betrüge demnach bei einer Auflage von 10000 Exemplaren DM 800.-.«30 Ein Mitarbeiter des Amts für Literatur und Verlagswesen vermerkte dazu: »Im Prinzip stimme ich der Auffassung des Reclam Verlages zu.«31 An der Devisenknappheit änderte das jedoch nichts. Die Ostlizenzen im Westen scheiterten dagegen eher am Argwohn, den viele in der Kulturlandschaft durch eine Zusammenarbeit mit dem Osten auf sich zogen; oder es sollten eigene Absatzinteressen ge­ schützt bleiben (d.h., man wünschte keine Konkurrenz von der an­ deren Seite der Mauer).32 Paradox dabei: Die Präsenz ostdeutscher Autoren im Westen nahm nach dem Mauerbau zu,33 wohingegen Westlizenzen im Osten weniger wurden. Dies nicht zuletzt deshalb, weil man keine kostbaren Devisen in den Import von >Büchern des Klassenfeindes< investieren wollte.34

176 Schick auch ein Buch nach drüben I Zentral aber blieb der private Bücheraustausch. Schon im Rahmen des innerdeutschen Paketverkehrs warb das Ministerium für Gesamt­ deutsche Aufgaben (West) mit Handzetteln wie »Schickt auch ein Buch nach drüben«. Darin wurde darauf hingewiesen, dass Bücher keineswegs - wie oft fälschlich angenommen - grundsätzlich verbo­ ten seien. Es wurde aber eingeräumt, dass hier besondere Willkür und engstirnige Auslegung von Gesetzen und Vorschriften herrschten. Dennoch: »Bis 1961 war der Umfang des Literaturschmuggels kaum abzuschätzen: 1956 taxierte der Zoll die Zahl der Berliner Grenzgän­ ger in beiden Richtungen, per S-Bahn, U-Bahn und auf sonstigem Weg, auf monatlich 12 Millionen, von denen selbst bei aufwendigen Sonderaktionen nicht einmal ein Prozent kontrolliert werden kön­ ne.«35 Entsprechend kritisch war daher der Blick des Ministeriums für Staatssicherheit auf die private Paketeinfuhr. Die aus dem Westen stammende Schund- und Schmutzliteratur habe einen schädigenden Einfluss - besonders auf die Jugendlichen. So stellte das Amt für Zoll und Kontrolle des Warenverkehrs in Magdeburg für das Jahr 1960 etwa fest, dass die auffällig gewordene Schundliteratur um 80% zuge­ nommen habe: Sie komme überwiegend in Paketsendungen und nur zum Teil durch Westbesucher ins Land.36 Dieser von offizieller Seite unerwünschte Literaturtransfer sollte ein Argument von vielen lie­ fern, die Grenze dichter abzuschotten. Der Mauerbau musste legiti­ miert werden.

Zoll und Zensur in Ost und West »Alle Vorschläge der Regierung der Deutschen Demokratischen Re­ publik zur Normalisierung der Beziehungen zwischen beiden deut­ schen Staaten wurden von der westdeutschen Regierung abgelehnt. Statt Schritte zur Verständigung und zur Entspannung zu gehen, verschärfen die Bonner Revanchepolitiker die Hetze, Lüge und Ver­ leumdung über die DDR. Finanziert von Bonner Reptilienfonds wird im großen Umfang Literatur zur Verherrlichung des westdeutschen Militarismus produziert und versucht, diese in die DDR einzuschleu-

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sen.« So liest sich das Vorwort zu einer Dienstanweisung der Zollver­ waltung Ost aus dem Jahr 1963, die die Einfuhr von »Literatur und sonstigen Druckerzeugnissen« steuern sollte. Zugleich sei es notwen­ dig, »den ordnungsgemäßen Austausch und den Empfang von Lite­ ratur im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen zu gewährleisten, damit unsere Wissenschaftler, Ingenieure und andere Geistesschaf­ fenden in den Besitz der an sie gerichteten Literatur gelangen, die sie für ihre Arbeit benötigen«.37 Fachliteratur und wissenschaftliche Bü­ cher waren in einer der Dienstanweisung beigegebenen Aufstellung pauschal zugelassen, gleiche Sonderrechte galten für Tauschsendun­ gen von Bibliotheken oder für Inhaber von Ausnahmegenehmigun­ gen. Ebenso unproblematisch erschienen der Zollverwaltung »bel­ letristische Werke von Klassikern und anderen Schriftstellern, die vor 1900 gelebt haben«38. Komplizierter wurde es da schon bei allen Autoren des 20. Jahrhunderts. Sie waren nur dann zugelassen, wenn sie auf einer speziellen Liste geführt wurden. Bei den Zeitgenossen griff also die Einzelentscheidung. Die Liste der deutschen Autoren war überschaubar, sie passte auf zwei DIN-A-4-Seiten. Enthalten waren selbstverständlich Autoren, die der DDR wohlgesinnt waren oder selbst dort lebten, wie Arnold Bronnen, Hans Fallada, Bernhard Kellermann, Heinrich Mann, Dinah Nelken, Hans Erich Nossak, Alexander Graf Stenbock-Fermör oder Günther Weisenborn. Auch aufgelistet und somit zur Einfuhr zugelassen waren Ingeborg Bach­ mann, Heinrich Böll, Max Frisch, Hermann Hesse, Rolf Hochhuth, Erich Kästner, Wolfgang Koeppen, die ganze Mann-Familie, Erich Maria Remarque, Hans Werner Richter oder Carl Zuckmayer und Stefan Zweig. Vergeblich sucht man dagegen Günter Grass, der sich kritisch zum Mauerbau geäußert hatte, oder Theodor Plievier, der sich vom Kommunismus abgewendet hatte, in den Westen überge­ siedelt war und nun als Renegat galt. Aber auch sämtliche Autoren der westdeutschen Massenliteratur waren nicht auf der Liste ent­ halten und somit vom legalen »Austausch« ausgeschlossen. Expli­ zit verboten war »Hetzliteratur« (wieder ein weiter Begriff, der viel Spielraum zuließ) und »Schund- und Schmutzliteratur«, ln beiden Fällen konnten die Sendungen ganz oder teilweise beschlagnahmt

178 Schick auch ein Buch nach drübenl werden, die Postzollfahndung (eine Legende, unter der die Stasi auf­ trat) war angehalten, Ermittlungen zu Absendern und Empfängern auszuführen. Mit solchen und ähnlichen Bestimmungen konnte der Literatur­ austausch nicht nur zur Einbahnstraße werden, sondern er ließ sich komplett unterbinden. Aber auch der Westen schuf hier entspre­ chende Möglichkeiten. Die Behinderung eines Austauschs war also ein deutsch-deutsches Phänomen. So fehlte in den westdeutschen Vorschriften nicht der Hinweis, dass die Herstellung, der Bezug und der Vertrieb von staats- und jugendgefährdenden Schriften laut Bun­ desgesetzblatt nicht erlaubt sei und die Erteilung einer Bezugsgeneh­ migung diese Gesetze nicht berühre. Das hieß mit anderen Worten, hier war für die westdeutsche Seite das Instrument geschaffen, unlieb­ same Publikationen aus der DDR als staats- oder jugendgefährdend zu qualifizieren und damit zu verbieten. »In den fünfziger Jahren wurde vor dem Hintergrund des KPD-Verbots - das politische Strafrecht er­ heblich verschärft. Wer sogenannte >staatsgefährdende Literatur« her­ stellte oder vertrieb, musste mit empfindlichen Strafen rechnen.«39 »Westdeutsche Buchhändler konnten scheinbar willkürlich wegen der Einfuhr von DDR-Literatur juristisch belangt werden. Bücher, die an­ standslos über den Ladentisch gingen, konnten anderswo zum sel­ ben Zeitpunkt beschlagnahmt werden. Romane waren vor dem Zu­ griff der Behörden ebenso wenig sicher wie Fachbücher, und selbst Vorworte galten als verdächtig. Damit war bei Bedarf ein großer Teil der in der DDR verlegten Literatur konfiszierbar.«40 Einen Münchner Verleger, Willi Weismann, führte diese Gesetzeslage bis vor Gericht, wo er sich wegen des Besitzes von staatsgefährdender Literatur verant­ worten musste. Er hatte versucht, im Vorfeld eine Liste der beanstan­ deten Literatur zu bekommen - zunächst vergeblich. Nach einiger Zeit erhielt er dann doch Beispiele genannt, darunter Scholochows Neu­ land unterm Pflug, ein Roman, der kurz darauf im Münchner List-Ver­ lag in hohen Auflagen erschien - deutliches Beispiel auch für westli­ che Willkür.41 Aber die Eingriffe auf westlicher Seite gingen, insbesondere in den fünfziger Jahren, noch weit über vermeintliche »Schmutz- und

Zoll und Zensur in Ost und West 179 Schundliteratur« hinaus. Eine neuere Untersuchung legt nahe, dass auch in der Bundesrepublik das Postgeheimnis systematisch verletzt wurde, dies betraf Inlandssendungen, in ganz besonderem Maße aber die Post aus der DDR. »Seit Gründung der Bundesrepublik Deutsch­ land wurden jährlich Millionen von Postsendungen kontrolliert, ge­ öffnet, beschlagnahmt, vernichtet oder zurück in den Postverkehr ge­ geben. Ebenso wurden Millionen von Telefongesprächen abgehört, Fernschreiben und Telegramme abgeschrieben und von den Besat­ zungsmächten und späteren Alliierten, aber auch von Westdeutschen selbst zu nachrichtendienstlichen bzw. strafrechtlichen Zwecken aus­ gewertet und genutzt.«42 Sicher führt es zu weit - wie es der Klappen­ text des Buches Überwachtes Deutschland von Josef Foschepoth nahe­

legen will -, von der Bundesrepublik als einem »straff organisierte[n] und effizient arbeitende[n] Überwachungsstaat«43 zu sprechen, aller­

dings waren die Eingriffe systematisch und erfolgten im großen Stil. Vor allem Massensendungen aus der DDR, die im Verdacht stan­ den, Propagandamaterial zu enthalten, wurden aussortiert und in er­ heblichen Mengen vernichtet, wobei davon auch ganz gewöhnliche Presseerzeugnisse betroffen sein konnten bis hin zu privaten Briefen. Genaue Zahlenangaben lassen sich kaum machen, das Bundespost­ ministerium sprach für 1952 von rund einer Million Druckschrif­ ten.44 Fest steht: Es waren große Mengen. Staatliches Handeln ver­ letzte so über Jahre eigentlich verbriefte Grundrechte. Die eigenen Staatsdiener - Post- und Zollbeamte oder Staatsanwälte - wurden zur dauerhaften Rechtsbeugung gezwungen, dazu, wider besseres Wis­ sen und Gewissen gegen bestehendes Recht zu verstoßen. Dies alles geschah unter dem Banner des Kampfes gegen den Kommunismus. Vor allem in der Frühphase sei das beschlagnahmte Propagandamate­ rial »an Ort und Stelle durch Verbrennung«45 vernichtet worden. Jo­ sef Foschepoth macht in seiner Untersuchung eindrucksvoll deutlich, dass mit den Vokabeln »vernichten« und »aussondern«46 auch in der Begrifflichkeit eindeutige Anleihen bei der Sprache des >Dritten Reiches< gemacht wurden - was aber nur wenige Jahre nach dessen Ende keinen der Verantwortlichen gestört zu haben scheint. Schon wieder konnten in Deutschland die Scheiterhaufen brennen.

180 Schick auch ein Buch nach drüben! Als die Praxis der »innerdeutschen Beschlagnahmung« beendet wurde, schien das Thema zumindest in Kabinettskreisen niemanden sonderlich zu beschäftigen. »Das Kabinettsprotokoll der Bundesre­ gierung vermerkt am 9. Februar 1966 lakonisch: >Die Erklärung von Bundespostminister Stücklem, dem Ressortchef für das Post- und Fernmeldewesen, >dass die Postverwaltung ab sofort das bisherige Verfahren, im Gebiet der Bundesrepublik aufgegebene Postsendun­ gen, die kommunistisches Propagandamaterial enthalten, den Straf­ verfolgungsbehörden zu übergeben, einstellen werde, nimmt das Ka­ binett zur Kenntnis.magischen< Macht des Buches bis heute fort: Die bayerische Staatsregierung< hat als Rechtsnachfolgerin des Eher-Verlags der NSDAP dem deutschen Leser Hitlers Mein Kampf mit Ver­ weis auf das Urheberrecht bis Ende 2015 vorenthalten. Als ob das Buch durch seine bloße Existenz aus guten Demokraten hohlköpfige Neonazis machen könnte. Dabei ist das Gegenteil richtig: Die Hohl­ köpfe sind längst findig genug, sich den Text zu besorgen, zumal in aller Welt und im Internet Ausgaben kursieren. Die mündigen De­ mokraten aber werden für dumm verkauft. Auch das ist die Folge einer tief sitzenden, aber etwas überspannten Buch-Gläubigkeit in

Deutschland.

Kampf gegen Schmutz und Schund, Kampf dem Schmöker: Razzia im Klassenzimmer Eine gewisse Einmütigkeit zwischen Ost und West zeigte sich eben­ falls im Kampf gegen sogenannte Schund- und Schmutzliteratur, der lediglich unter anderen Vorzeichen und Akzentuierungen geführt wurde. Im Zuge dieser Maßnahmen sollten auch in der DDR bald

182 Schick auch ein Buch nach drüben I

wieder Scheiterhaufen mit Büchern brennen: eigentlich eine Unge­ heuerlichkeit. Die in der DDR erlassene Verordnung zum Schutze der Jugend vom 15. September 1955 hatte Gesetzeskraft und wurde von vielen propagandistischen Maßnahmen begleitet. In einer Arbeits­ richtlinie der Zollverwaltung hieß es einige Jahre später dazu lapi­ dar: »Die Schund- und Schmutzliteratur ist der Vernichtung zuzu­ führen.«53 Allerdings war man sich in der Sichtweise unter den Verantwortli­ chen weitgehend einig, dass Schund und Schmutz vor allem aus dem Westen in den Osten gespült würden. So gab etwa das Neue Deutsch­ land im Oktober 1955 vor, aus dem Tagebuch eines Jugendpflegers aus Schleswig-Holstein zu zitieren. Die Wirkung von Kinofilmen und Groschenromanen auf die unbedarfte Jugend im Westen wird darin in drastischen Bildern geschildert. Der Konsum der falschen Filme oder Bücher führte fast unweigerlich in die Kriminalität. Einzig die DDR habe mit ihren Gesetzen und Verordnungen den Kampf aufge­ nommen. »Man steht als Erzieher und Fürsorger oft sehr machtlos da. [...] Aber wie schwer macht es uns der Bonner Staat. Er sieht lie­ ber eine Jugend in Not als Gesetze gegen das Laster. Denn die Schmö­ ker und die Schundfilme garantieren ja bedeutende Steuereinnahmen und außerdem bereiten sie die Jugend auf das Killerhandwerk in der NATO-Söldnerarmee vor.«54 Diese Argumentationsmuster, dass An­ griffe dieser Art in der Regel aus dem Westen erfolgen würden, blie­ ben im Kern bis zum Ende der DDR konstant. So verbanden sich in der Propaganda schlechte Lektüre mit feindlichen Kräften aus dem Westen zu einer Allianz, die es zu bekämpfen galt. Solche Feindbil­ der passten auch zur Strategie des Ministeriums für Staatssicherheit, das die Urheber aller möglichen Störungen ebenfalls gern im Westen suchte. Und es hieß in einem Bericht, den die Staatssicherheit für die Staatsführung anfertigte: »Um den Aufbau des Sozialismus zu stören und die Jugend von der aktiven Teilnahme am Aufbau des Sozialis­ mus abzuhalten, versucht der Feind mit allen Mitteln, insbesondere mittels der ideologischen Diversion, sich eine Basis unter der Jugend zu schaffen und diese Kräfte in seine verbrecherischen Pläne einzube­ ziehen. [...] Die Tätigkeit der jugendlichen Banden- und Rowdygrup-

A Propagandamaßnahme im Kampf gegen Schmutz und Schund. Schüler und Junge Pioniere der 18. Grundschule in Berlin-Pankow werfen am Abend des Internationalen Kindertages 1955 unerwünschte Druckerzeugnisse auf den Scheiterhaufen. pen geht vom Lesen von Schund- und Schmutzliteratur, vom Abhören der westlichen Sender, der Belästigung von Bürgern über Provozierung von Schlägereien bis zu gefährlichen Gewaltakten und zu Staatsver­ brechen. Der Gegner schaltet in seine Feindtätigkeit alle Agentenzentralen, Rundfunk und Fernsehen sowie auch die anderen Zentren der ideolo­ gischen Diversion verstärkt in diese Tätigkeit ein. Besonders wird das sichtbar im Anwachsen der Einschleusung von Hetzmaterial, Schund­ literatur, Schallplatten, Starfotos u. a.

Die planmäßige negative Beeinflussung der Jugend der Deutschen Demokratischen Republik durch den Feind ist eine Erscheinungsform der psychologischen Kriegsführung und wird durch die NATO und das Lemmer-Ministerium [gemeint war das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen] gelenkt.«55

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Im Zuge dieses Kampfes scheint es nichts Ungewöhnliches gewesen zu sein, dass Lehrer die Ranzen und Taschen ihrer Schüler auf solch verbotene Konterbande hin untersuchen durften. Wobei in den sieb­ ziger Jahren Stimmen dokumentiert sind, die diese Aktivitäten zuneh­ mend kritisch sehen. Allerdings bestätigen diese Dokumente zunächst auch die offenbar bis zu diesem Zeitpunkt gängige Praxis: »Wir kann­ ten die Diskussionen zahlreicher Pädagogen, Schüler und Eltern, die ihre Sorge darüber zum Ausdruck brachten, daß der Klassengegner u. a. auch die Besuchsmöglichkeiten dafür nutzen wird, um verstärkt Schund- und Schmutzerzeugnisse in unsere Republik einzuschleusen. Weiterhin war uns bekannt, daß in allen Berliner Schulen regelmä­ ßig, so wie es die VO [Verordnung] zum Schutze der Kinder und Ju­ gendlichen vom 26.3.69 in den §§4 und 5 fordert, Kontrollen ge­ gen Schund- und Schmutzerzeugnisse durchgeführt werden. Darüber hinaus verpflichten in einer Reihe von Stadtbezirken Beschlüsse der Volksvertretungen, die im Zusammenhang mit der weiteren Bekämp­ fung der Jugendkriminalität gefaßt wurden, alle Pädagogen zu diesen Kontrollen.«56 Allerdings war in diesem Zusammenhang erstmals von einer gewissen >Überspitzung< der Methoden die Rede. Schließlich wurden Eindrücke des Unbehagens zusammengetragen: »Mein Sohn besucht die Klasse 6b der 4. Oberschule Berlin-Treptow. Am Mitt­ woch [...] erfolgte in der Geographiestunde eine Kontrolle aller Schul­ mappen auf Schund- und Schmutzliteratur und alle nicht zum Unter­ richt gehörenden Gegenstände. In der anschließenden Musikstunde mußten alle Jungen die Hosentaschen entleeren (und die Mädchen, soweit sie Hosen trugen).«57 Die Maßnahmen waren auf Anweisung der Schulleitung durchzuführen, allerdings sei »den Kollegen [.] nicht sehr wohl dabei.« Aber diese Art von Kampf der Saubermänner war keine rein ost­ deutsche Angelegenheit, hier war der Westen kein Deut besser: Da­ für sorgte immer wieder die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften. Die Methoden glichen sich, allein der ideologische Über­ bau variierte.

Der Landser: Fortsetzung der Feldpost mit anderen Mitteln 185

Der Landser: Fortsetzung der Feldpost

mit anderen Mitteln Die Prototypen der Schund- und Schmutzliteratur - die Heftro­ mane - erlebten in den fünfziger Jahren eine ganz große Zeit. Seit 1957 erschien etwa die Romanreihe der Landser-Hefte mit einer wö­ chentlichen Auflage von geschätzten 60000 Stück im Pabel-Verlag, in seinen >besten Zeiten< sei die Serie auf eine halbe Million Exemplare pro Monat gekommen.58 Sie seien, so einschlägige Un­ tersuchungen, einhergegangen mit »der aufkommenden Populari­ sierung von den Krieg thematisierenden Stoffen durch Illustrierte und Kinofilme in den 1950er Jahren [...] Damit waren die LandserHefte Teil einer nationalistischen Publizistik, die sich im Kontext der jüngst erfolgten Wiederbewaffnung der Bundesrepublik um eine grundlegende Revision des Bildes vom deutschen Soldaten und sei­ ner Rolle während des vergangenen Krieges bemühte.«5’ Zweifel an dieser Sichtweise sind angebracht. Die Frage, ob es sich tatsächlich um eine »aufkommende Popularisierung« handelte oder nicht viel­ mehr um eine. Nicht-mehr-Kaschierung von latent immer vorhan­ denen Stoffen und Inhalten, drängt sich auf. »Der Landser enthält authentische Erlebnisberichte zur Geschichte des 2. Weltkrieges, die schonungslos die Härte und Grausamkeit des Kampfes und die Ent­ behrungen des Frontalltages aufzeigen. Ob in den stählernen Röh­ ren unter Wasser, als Jagdflieger gegen alliierte Bomberpulks oder als einfacher Soldat im mörderischen Ringen in den Weiten Russ­ lands - der Leser ist hautnah dabei.«60 So schrieb nicht eine Wehr­ machtspropagandaabteilung, sondern so konnte man bis 2013 noch auf der Homepage des zur Bauer Media Group gehörenden PabelMoewig-Verlags lesen. Schon das in der DDR erschienene Braunbuch, das die Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik bloßstellen sollte, listete den Pabel-Verlag als Produzenten von »militaristischem und faschisti-

186 Schick auch ein Buch nach drüben! schem Gedankengut besonders für die Jugend«61 auf. Außerdem seien im Verlag Bücher erschienen, »in denen der Krieg und der faschis­ tische Militärapparat gepriesen« worden seien. Autoren waren, dem Braunbuch zufolge, »Nazi-Offiziere« und »Faschistenführer«. In unseren Tagen dürften solche Hefte von der Auflage her kaum noch eine relevante Größe gewesen sein. Sonst hätte der Pabel-Moewig-Verlag die Reihe wohl kaum 2013 nach fast 60 Jahren stillschwei­ gend eingestellt. Vorangegangen war dem Ende dieser Heftreihe ein Bericht des Simon-Wiesenthal-Centers, in dem den Heftchen vorge­ halten wurde, sie würde die Erinnerung an die Opfer des Holocaust beschädigen und den Nationalsozialismus verherrlichen, dies alles verbunden mit Aufrufen an die deutschen Innen- und Justizministe­ rien, gegen die Reihe aktiv zu werden.62 Deutsche Behörden mussten nichts unternehmen. Offenbar war die Gefahr einer Rufschädigung viel größer als der wirtschaftliche Ertrag, den die Serie noch abwarf.

V Präsentation einer Sammlung von Schund- und Schmutzliteratur, die unter anderem Landser-Hefte umfasst, neben »Materialien über Beatles- und Gammlerunwesen«. So sollte die Schlagkräftigkeit der bewaffneten Organe< der DDR demonstriert werden. Schi nid und Sdimiiizlilemliir

Der Landser: Fortsetzung der Feldpost mit anderen Mitteln 187 Gleichwohl war das Medienecho auf den Vorgang zwischen Juli und September sehr breit. »Der Landser ist jetzt an sich selbst zugrunde ge­ gangen, den Staatsanwalt hat es nicht dafür gebraucht. Wenige woll­ ten die Hefte noch lesen, die Auflage war drastisch eingebrochen, ihre Zeit war vorbei. Ein Verbot wäre zu viel der Ehre gewesen«63, so schrieb die Süddeutsche Zeitung. Schon rein formal dürfte das Medium Heftroman ausgedient ge­ habt haben. Inhaltlich wurde der Krieg verharmlost, kam der Tod nur am Rande und einzig in Form von Aufzählungen vor. Auch Kriegs­ ursachen oder Kriegsverbrechen werden hier nicht erörtert. »Die Luftüberlegenheit ging immer mehr auf die Feinde über«64, so heißt es in Heft Nr. 8 der Serie lapidar, als aus deutschen Siegen im Osten plötzlich Niederlagen wurden: »Das Material erstickte Tapferkeit.« »Der Landser. Zu Lande, zu Wasser, in der Luft. Romane vom Ein­ satz aller Waffengattungen«, so lautete die volle Reihenbezeichnung am Anfang. Alles wird idealisiert dargestellt. Die ukrainischen Kin­ der werden von den deutschen Soldaten zum Nikolaus beschenkt: »[...] sie sollten mal etwas erleben, was seit der Revolution 1917 in der Sowjetunion den Kindern vorenthalten blieb [...]«6S. Aber auch die französische Kriegsgefangenschaft erweist sich für »Stuka-Franz« als angenehme Zeit, bei einem freundlichen Bauern, verbunden mit reichlich Rotweingenuss. Von dort wird er bald freundlich in die Hei­ mat entlassen mit dem Empfehlungsschreiben eines französischen Arztes, »dass sich die Angehörigen des Sturzkampfgeschwaders durch eine einwandfreie menschliche Haltung ausgezeichnet hätten. Es hatte sich bis nach Frankreich rumgesprochen, dass die Deutschen eine Art Hexenwahn hatten und alle verfolgen würden, die was mit den Nazis zu tun hatten. Und Stukamänner waren doch auch Nazis, dachte sich der Arzt.«66 Auch der Übergang der ehemaligen Solda­ ten ins Nachkriegs-Zivilleben dürfte mustergültig gewesen sein: Der Stuka-Franz eröffnet, unterstützt von seinem ehemaligen Kommo­ dore und einem Maschinenwart, eine Tankstelle an der für die bri­ tische Rheinarmee gebauten strategisch wichtigen Straße, und einer der Sprösslinge der Exflieger schwebt am Ende des Romans im Segel­ flugzeug verheißungsvoll über den Köpfen der Zuschauer. Hinein in

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eine bessere Zukunft. »Mein Sohn macht heute seinen ersten Über­ landflug.«67 In diesen Heften konnte sich jeder wohlfühlen. Die, die dabei ge­ wesen waren, aber alle anderen auch. Hier wurde keinem wehgetan, die Plots und Figuren waren allseits anschlussfähig. Und manche Heftromane waren nicht nur produktionstechnisch die Fortsetzung der Feldposthefte in einer anderen Zeit. Mit Feldpostheften hatten die Verlage den Massenlesestoff für das Millionenheer der Soldaten und sonstigen Dienstverpflichteten geliefert, in ähnlicher Ausstattung und Machart wie diese Nachkriegs-Heftromane. Beim Erich Pabel Verlag wurde der Fortsetzungsgedanke noch wei­ ter getrieben. So lachte der Landser. Humor in Uniform heißt ein Nach­ kriegsprodukt aus dem Verlagshaus. Darüber lache ich noch heute und Darüber lacht der Soldat waren Witz- und Anekdotensammlungen des Verlags des Völkischen Beobachters, die in 2,6 bzw. einer Million Stück produziert worden waren. Bis hin zur Umschlaggestaltung war hier die Ähnlichkeit mit dem Vorläufer nicht nur zufällig, sondern regel­ recht beabsichtigt. An Altbekanntes sollte angeknüpft werden. »Krieg ist eine ernste Sache. Wir alle kennen seine Schrecken. Sie sollen und dürfen nicht verniedlicht werden«68 heißt es dort einleitend. Und weiter: »Dieser Band mag hinaus gehen, alten und jungen Soldaten Freude bringen, den alten Landsern ein Schmunzeln ablocken, sie in die Zeit beim >Barras< zurückversetzen und all denen, die nicht >dabei< waren, zeigen, wie die menschliche Haltung derer beschaffen war, die den Ruf vom deutschen Soldatentum in die Welt getragen haben.«6’ Wenn man so will, hatte das Simon-Wiesenthal-Center einen Tot­ geweihten beerdigt. Im Grunde waren die Verharmlosungen und Ver­ einfachungen in den Heftromanen der Landser-Reihe nichts als die Fortsetzung des Beschweigens so vieler anderer Bücher, Filme, die ein schräges Bild vom Zweiten Weltkrieg entwarfen. Aber es war mögli­ cherweise das Beschweigen in seiner langlebigsten Form.

Heftromane Ost: Gegenstoß ins Nichts, Freiheit oder Bananen 189

Heftromane Ost: Gegenstoß ins Nichts, Freiheit oder Bananen Sie wurde als »Teil imperialistischer psychologischer Kriegsfüh­ rung«70 des Westens gesehen: die »Schund- und Schmutzliteratur« made in BRD and USA - das jedenfalls legt ein mehrseitiges Dos­ sier des Ministers für Volksbildung (Ost), Fritz Lange, nahe. Es wa­ ren die alten Argumentationsmuster, die die Schund-und-SchmutzDebatte von Beginn an (schon in der Weimarer Republik) begleitet hatten: Beeinflusst durch die Lektüre würden insbesondere bei Ju­ gendlichen »systematisch Neigungen zur Grausamkeit und Men­ schenverachtung«71 geschürt. »In der Deutschen Demokratischen Republik«, so der Minister für Volksbildung weiter, »bemühen sich die Verlage um die Herausgabe interessanter Kinder- und Jugend­ zeitschriften. Diese Bemühungen gilt es zu vervielfachen. [...] ln der Sowjetunion sehen es die besten Schriftsteller als ihre patriotische Pflicht an, für die Kinder und die Jugend gute Bücher zu schreiben. Das muss auch bei uns so werden.«72 Konnte, ja durfte es so etwas wie ein Äquivalent zu den Heftromanen des Westens in der DDR überhaupt geben? Ja, auch im Osten fand sich ein Publikum und wurden Heftro­ mane in beachtlichen Auflagen vorgelegt. So etwa der Gegenstoß ins Nichts von Kurt David. David hatte den Krieg als Soldat miterlebt, geriet in sowjetische Gefangenschaft und widmete seine ersten Ar­ beiten als freier Schriftsteller dieser jüngsten Vergangenheit.73 Zwar wurde der Text als >Novelle< vermarktet, erschien aber schon rein äu­ ßerlich im Gewand eines typischen Heftromans - mit einer reiße­ rischen Umschlagzeichnung versehen. Herausgegeben im Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung war die Zielgruppe klar die Leserschaft eingängiger Unterhaltungsliteratur. David, nach seiner

Zeit in der Wehrmacht und in Gefangenschaft zunächst im Dienst der Volkspolizei, wusste, worüber er schrieb.

190 Schick auch ein Buch nach drüben I

Im Gegenstoß ins Nichts wird die Sinnlosigkeit des Krieges aus der Perspektive einfacher Soldaten geschildert. Symbolisiert wird das durch eine Kiste voller Orden, Eiserner Kreuze und Ritterkreuze, ein »Doppelzentner Blech«74, die in einem Schulgebäude gegen die an­ stürmenden »Russen« verteidigt werden soll. Am Ende entschließt sich der Titelheld, der Gefreite Wolfgang Fiedler, dem sinnlosen Kampf ein Ende zu bereiten. Er und einige überlebende Kameraden laufen zu den »Russen« über und ergeben sich: »Ich werde dich also Wiedersehen, Christel, dachte Wolfgang. Menschen, die man erschie­

ßen will, verbindet man vorher nicht.«75 Dass Kurt David von 1972 an für gut zehn Jahre vom Ministe­ rium für Staatssicherheit als inoffizieller Mitarbeiter (IM) erfasst war, soll hier nicht verschwiegen werden. »Der IM berichtet über die ihm bekanntwerdenden Erscheinungen, vor allem der politisch-ideologi­ schen Diversion unter den Kreisen der künstlerischen Intelligenz«76, vermerkte sein Führungsoffizier in einer Beurteilung. Später wurde er aus gesundheitlichen und Altersgründen als IM deaktiviert, das heißt >abgelegtkleinen Form< durchaus bewusst. Davon zeugen noch weitere Bände, etwa mit dem schönen und beziehungsreichen Titel Freiheit oder Bananen. Autor war Rudolf Heinrich Daumann. In der Weimarer Zeit Mitglied der SPD, hauptberuflich Lehrer und Rek­ tor sowie Autor zu gewerkschaftsnahen Themen (Der Streik, erschie­ nen in der Büchergilde Gutenberg 1932). Er hatte das >Dritte Reich< als Lehrer an einer katholischen Schule und Schriftsteller von uto­ pischen Romanen finanziell gesehen recht gut überstanden, »dem nationalsozialistischen Staat und seinen Einrichtungen« galt er als »positiv eingestellter Bürger«77. Er ist neben Hans Dominik einer der an den Auflagenzahlen gemessen bekanntesten Autoren utopi­ scher Stoffe zwischen 1933 und 1945. Nach dem Krieg war er ei­ nige Zeit Sendeleiter beim Landessender Potsdam und dann bis zu seinem Tode auch wieder als Autor tätig, unter anderem mit den viel beachteten Indianerromanen Tatanka-Yotanka und Der Unter­ gang der Dakota. »Die Science-Fiction-Forschung in der DDR, die in

Sozialistischer Auflagenkönig mit Vergangenheit: Kurt Herwarth Ball 191

seinen Büchern sozialdemokratische Geisteshaltungen ausmachte, versuchte ihn in Abgrenzung zu einer amerikanisiertem Gattung als Ahnherren der eigenen sozialistischem Zukunftsliteratur zu ge­ winnen.«78 In Freiheit oder Bananen wird der Kampf der Bewohner von Britisch-Honduras gegen die United Fruit Company (der US-amerikani­ sche Konzern hinter den Chiquita-Bananen) geschildert. »Ich weiß, was Ihr zwischen Belize und Benque Viejo aus fleißigen Negern und fröhlichen Indios gemacht habt. Ihr sagt Fortschritt und meint Ba­ nanen. Wir wollen Freiheit und nicht Bananen für die UFC. Können wir uns da verstehen?«79 Der Freiheitskampf dieser >Bananenrepublik< passte ins Gefüge des sich in Europa immer weiter verschärfen­ den Ost-West-Konflikts, wurde hier doch die USA, vertreten durch ihre Wirtschaftsmacht, als Aggressor dargestellt. In Daumanns Heft­ chen triumphieren am Ende die >Gutem: »Hoch lebet, ihr Arbeits­ leute, /in den Bergen und an der See! / Wir sind nicht mehr wehrlose Beute/für die Schurken der UFC! /Freiheit oder Bananen! /Und der Stern auf unseren Fahnen/sagt >Freiheit< und nicht >BananenWandlung< und nun das Engagement für den neuen Staat. Balls Vergangenheit sei in der DDR in den einschlägigen Kreisen von Autoren und Verlagen be­ kannt gewesen. Daran erinnerte sich zumindest Erich Loest später: »Die Schriftsteller, mit denen Kurt Herwarth Ball im Rahmen seiner Arbeit zu tun hat, wissen von seinen NS-Belastungen und betrachten seine bescheidene Zurückhaltung als Geste der stillen Reue.«85 Von Brand im Mondobservatorium, geschrieben zusammen mit dem Koautor Lothar Weise,86 wurde eine Erstauflage von 163000 Stück produziert. Es handelt sich dabei um einen typischen Science-Fiction-Plott: Ein gieriger englischer Unternehmer will aus rein ökono­ mischen Interessen die friedliche Kooperation englischer und sowje­ tischer Wissenschaftler stören und heckt einen Mordplan aus. Dieser kann allerdings verhindert werden. Es handelt sich um einfach ge­

stricktes Unterhaltungsschrifttum. So heißt es in einer Bemerkung zur Druckgenehmigung zu einem anderen Heftchen mit dem Titel ... fährt doch nach Port Said: »Dieser Erzählung um die Nationalisie­ rung des Suez-Kanals und die englischen Gegenmachenschaften haf­ ten noch viele Spuren der flüchtigen und schnellen Arbeit des Autors an. Vieles bleibt leider nur angedeutet, im Halbdunkel, offenbar aber wird Sympathie für Ägyptens Sache und Menschen und Ablehnung

Sozialistischer Auflagenkönig mit Vergangenheit: Kurt Herwarth Ball 193

der englischen ungerechten Ansprüche.«87 Auch den verantwortli­ chen Zensoren war klar: Es ging hier nicht um die hohe Literatur, sondern um breite Massenlektüre, die im besten Fall auch noch po­ litisch opportune Botschaften transportierte. So bemerkt ein Verlags­ gutachten zu einem anderen Werk Balls treffend: »Das ganze ist recht sauber, wenn auch manchmal noch ein wenig umständlich und mit viel technischen Details entwickelt. Die Art Balls, nicht allzusehr in die Tiefe zu loten und dafür mehr Handlung zu bieten, kommt dem noch etwas spröden Stoff zugute. So ist das entstanden, was der Verlag vom Verfasser am ehesten erwarten und fordern konnte: ein Unter­ haltungsroman mit aktueller politischer Thematik.«88 Unterhaltungs­ schrifttum konnte eine Nische bieten - eine Nische >in verschiedene Richtungen^

ARSENAL DES KALTEN KRIEGES Autoren im Kampf der Systeme

Ein Gewissen in Aufruhr: Rudolf Petershagen Mithilfe ihrer Wehrmacht hatten die Nationalsozialisten ganz Europa in Schutt und Asche gelegt, Millionen Tote auf allen Seiten waren die Folge. Auch die Vernichtung der europäischen Juden konnte nur un­ ter dem Schutz der Soldaten und im Schatten des Krieges in diesen Ausmaßen durchgeführt werden. Es war daher nur recht und billig, von deutschen Soldaten - insbesondere von Offizieren - zu erwarten, dass sie nach dem Krieg Fragen nach der eigenen Verantwortung oder Schuld stellen würden. Allein dies wurde nicht zur Selbstverständ­ lichkeit. Das Abwehrargument, wir haben nur unsere Befehle befolgt, wurde zur festen Redewendung. »Vor Gericht wälzten die Verantwort­ lichen des Hitlerreiches fast ausnahmslos [...] jede Verantwortung für den Krieg und die Mordbefehle von sich ab.«1 Es gab nicht viele, die sich ihrer Vergangenheit stellten. Einer von ihnen: Rudolf Petersha­ gen, Jahrgang 1901 und von 1919 bis zum Kriegsende 1945 Berufs­ offizier, zunächst im Freikorps, dann in Reichswehr und Wehrmacht. »Die Frage des Gehorsams quälte mich seit langem. Mir war klar: Ge­ horsam ist in jeder Armee nötig. Aber irgendwann und irgendwo gibt es Grenzen: Der Soldat ist nach dem Militärstrafgesetzbuch nicht ver­ pflichtet, einen Befehl auszuführen, der ein Verbrechen von ihm ver­ langt. Was ist aber ein Verbrechen? Wenn nur gar das Ganze, der Krieg Hitlers, ein Verbrechen ist?«2

196 Arsenal des Kalten Krieges

Mit solchen Gedanken eröffnet Rudolf Petershagen seine auto­ biografische Rückschau, erschienen in einem Verlag, der eine für die DDR auf den ersten Blick ungewöhnliche Programmatik verfolgte: »Er wird mit allen seinen Publikationen dazu beitragen, die Schich­ ten des Mittelstandes und der ehemaligen Angehörigen der NSDAP sowie die früheren Offiziere und Berufssoldaten der einstigen Hit­ lerarmee für die Festigung und Sicherung des Bündnisses aller werk­ tätigen Schichten, für die Anerkennung, Unterstützung und Förde­ rung der führenden Rolle der Arbeiterschaft und ihrer einheitlichen Kampfpartei, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, zu ge­ winnen.«3 Es war der Verlag der Nation, Parteiverlag der NationalDemokratischen Partei Deutschlands (NDPD), geleitet von Verleger Günter Hofe. Als Aufgabe sah man dort die Auseinandersetzung mit dem Imperialismus< in belletristischer und wissenschaftlicher Form. Dazu gehörte die »Darstellung typischer Lebenswege und Entwick­ lungsprozesse von Angehörigen einzelner Schichten des Mittelstandes sowie der politischen Wandlung ehemaliger Mitglieder der NSDAP, Offiziere und Berufssoldaten der Hitlerarmee, auch in biografischer und autobiografischer Form.«4 Gewissen in Aufruhr passte genau ins Konzept, zudem war Petershagen selbst Mitglied der NDPD, also ein Parteifreunde Schwerpunktaufgabe des Lektorats im Verlag der Na­ tion sei »die Entwicklung von Wandlungsliteratur [...]. Wesentliches Kriterium für den Bewusstseinswandel von Menschen aus den uns nahestehenden Schichten ist die Auseinandersetzung mit der faschis­ tischen Vergangenheit, insbesondere mit dem II. Weltkrieg und sei­ nen Folgen.«5 Im Laufe der Jahre war eine ganze Serie von Schriften verschiedener Autoren entstanden, die unter der Marke »Wandlungs­ literatur« lief. Petershagen sprach und schrieb über die Verbrechen der Nazis und der Wehrmacht. Er macht keinen Hehl daraus, dass »zu jeder Armee sogenannte Einsatzgruppen des SD [Sicherheitsdienstes] gehörten«, deren Aufgabe die Ermordung von »Kommissaren, Juden und sons­ tigen verdächtigen Elementen«6 war. Auch steht außer Zweifel, dass »es sich bei dem Ostfeldzug nicht um einen ritterlichen Krieg han­ delt, sondern um Vernichtung«7. Es fallen klare Worte, die man in

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dieser Form in der Literatur der fünfziger Jahre in Westdeutschland lange suchen muss. Und Petershagens eigentliche Bewährungsprobe war am Kriegs­ ende gekommen. Von der Ostfront wegen einer Verwundung in die Heimat verlegt, fand er sich im Jahr 1945 als Kampfkommandant von Greifswald wieder - während die Rote Armee unaufhaltsam auf die Stadt zurollte. Petershagen widersetzte sich dem Befehl, die Stadt bis zur letzten Patrone zu verteidigen, und übergab sie kampflos an die Sieger. »Retter von Greifswald« war zukünftig der inoffizielle Titel, den Rudolf Petershagen trug - eine Allee und eine Kindertagesstätte sind dort heute nach dem Ehrenbürger benannt. Petershagen und seine Frau pflegten nach dem Krieg weiterhin ihre Kontakte über die Zonengrenzen hinweg. Auch familiäre Bande gen Westen gehörten dazu. Bei einer Westreise wurde Rudolf Petershagen 1951 in München vom amerikanischen Geheimdienst CIC verhaftet. Man warf ihm Spionagetätigkeit für die östliche Seite vor und ver­ urteilte ihn tatsächlich zu zwei Mal sechs Jahren Zuchthaus. Ironie der Geschichte: Er landete im Kriegsverbrechergefängnis Landsberg, ln seinem Arbeitstrupp »waren fünf oder sechs Mann, die meisten ausgesuchte Leute aus der Kategorie der KZler, durchweg >BVkleine MannDeutsche als OpferRussen> - bei Petershagen sind es natürlich die >AmisAmi< alles ums Geld, damit macht er sich auch die deut­ schen Frauen und Mädchen gefügig: »>Deine Kleine werden die Amis auch noch auf ihre Art fertigmachem, lachte die Meute. Doch er schwor auf sein Mädchen.«11 Auch bei Petershagen finden wir TäterOpfer-Verhältnisse gedreht, aber unter anderen politischen Vorzei­ chen: »Der wahre Lenker dieses politischen Schauprozesses war der amerikanische Geheimdienst. Er beherrschte Richter und Staatsan­ wälte. Vieles erinnerte an den deutschen Faschismus, an die Gesta­ poherrschaft.«12 Rassistische Stereotype werden hier auf die Ameri­ kaner projiziert (der reiche, alles erotisierende, nach Weltherrschaft strebende Amerikaner als eine Art Wiedergänger des >bösen Judengroße Sache< ge­ macht. Die Gefangenen der anderen Seite aber würden im Westen gern totgeschwiegen.

Es gehörte sicher Mut dazu, sich der deutschen Schuld, insbesondere der Schuld des Offizierskorps, in dieser Weise zu stellen. In diesen Kreisen wurde noch ein eigenes Standesbewusstsein kultiviert, wenn auch im Nationalsozialismus vieles davon ins Wanken geraten war. In Landsberg wurde Petershagen mit den alten Vorstellungen kon­ frontiert und als der »rote Oberst« abgestempelt. In der DDR dage­ gen fand Petershagen für seinen Kurs mächtige Unterstützer. Doch

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nicht, wie man annehmen könnte, aus den Reihen der Partei, der er angehörte, der NDPD. Auch wenn sein Buch Gewissen in Aufruhr im Verlag der Nation, dem NDPD-Parteiverlag, erscheinen sollte - die eigenen Leute wirkten hinter den Kulissen eher als Bremser. Massiv gefördert wurden Petershagen und sein Projekt dagegen vom MfS. Die Akten enthalten Hinweise darauf, dass Petershagen tatsächlich nicht als Privatmann, sondern »im Auftrag« in München war. Die Unter­ lagen der Staatssicherheit geben mittelbar darüber Auskunft: »Wahr­ scheinlich wird Petershagen in seinem Buch auch die Erlebnisse in Westdeutschland beschrieben haben, wo er ja im Auftrag anderer und nicht der NDPD war. Deshalb wird die NDPD das auch nicht gut hei­ ßen und sich auch politisch nicht vorwerfen lassen, dass ihre Mitglie­ der im Auftrage entweder der Staatssicherheit oder der Freunde [d. h. des sowjetischen Geheimdienstes], des Apparates Linke usw. Spiona­ geaufträge, wie sie es nennen, durchführen, und damit ihrer Partei einen schlechten Dienst erweisen, da die Partei ja Politik betreiben will.«13 An anderer Stelle ist später davon die Rede, dass er »im Einsatz in der gesamtdeutschen Arbeit« war und 1955 »im Austausch« in die DDR zurückgeholt wurde.14 Nach seiner Rückkehr hatte Petershagen auch in Sachen seines Bu­ ches Kontakt zur >FirmaObjekt Johannisthalc »Gen. Harry Thürk ist sehr einverstan­ den, vor einem kleinen Kreis unserer Mitarbeiter über seine persönli­ chen Erlebnisse in Vietnam zu berichten. Er wird seinen Vortrag mit interessanten Fotos beleben.«35 Dabei war die Agitationsarbeit Thürks keineswegs geheim. Wer wollte, konnte eins und eins zusammenzäh-

206 Arsenal des Kalten Krieges len. Auch wurden Auszeichnungen öffentlich vergeben mit anschlie­ ßender Presseberichterstattung. Wenn etwa 1963 der DDR-Spionagechef Markus Wolf und der stellvertretende Minister Bruno Beater Thürk im Auftrag Mielkes mit einem Orden bedachten, so fanden sich dazu anderntags Notizen im Neuen Deutschland wie auch in der Berliner Zeitung.36 Jahrzehnte später wollte sich Thürk an solche Begebenheiten nicht mehr so gern erinnern. In dem von einem Fan betriebenen HarryThürk-Forum heißt es: »Auch die Dokumentation Das Leben eines Kämpfers. Martin Weikert erinnert sich wird Harry Thürk zugeschrie­ ben. Tatsächlich erschien 1988 in Leipzig ein 214 Seiten starkes Büch­ lein, das diesen Titel und die nachgestellte Bemerkung >Aufgeschrieben von Harry Thürk< trug. Das Buch hatte aber bemerkenswerterweise weder ISBN noch Lizenznummer und anstelle eines Verlags war nur die Druckerei Offizin Andersen Nexö als Herausgeber genannt. Harry Thürk selbst dementierte, das Buch geschrieben zu haben.«37 Es war nicht besonders bemerkenswerte, sondern einfach nur fol­ gerichtig, dass dieses Buch keine ISBN erhielt: war diese in Leder ge­ bundene kleine Festschrift doch nur für Insiderkreise des MfS ge­ dacht.38 Das Büchlein setzte dem Leben.von Martin Weikert, dem 1982 aus dem aktiven Dienst ausgeschiedenen Leiter der MfS-Bezirksverwaltung Erfurt, ein Denkmal. Sicher kannten sich beide gut und es war selbstverständlich, dass der >Genosse Harry< diesen schriftstel­ lerischen Freundschaftsdienst für einen alten Kampfgefährten leis­ tete - letzter Dienst eines Lohnschreibers, der bald selbst auf dem Al­ tenteil war. Seine Vergangenheit holte Thürk nach der Wiedervereinigung ein: 1995 trat er aus dem PEN-Zentrum Ost aus. Ihm wurde ein Werk an­ gelastet, das er 1979 in der DDR veröffentlicht hatte: »Sein größter Erfolg aber Der Gaukler in diesem Jahr, eine Viertelmillion in 6 Mo­ naten«, so Fritz Pleitgens Anmoderation zu einem Thürk-Interview in der ARD, das nicht nur unter den Augen, sondern unter tätiger Mit­ hilfe des Ministeriums für Staatssicherheit stattgefunden hatte. »Der Roman, ein Politthriller mit sex and crime, oft tief unter der Gür­ tellinie. Inhalt: wie die CIA einen sowjetischen Dissidenten namens

A Spione unter sich. Harry Thürk (rechts) besucht eine Ausstel­

lung des Ministeriums für Staatssicherheit in dessen Informati­ onszentrum in Berlin, die über die Arbeit der Geheimpolizei und ihrer >Kundschafter< informieren soll. Wetrow(ph) zum Nobelpreisträger aufbaut. Von der DDR-Presse als das richtungsweisende Werk im ideologischen Kampf gepriesen und gleich als Waffe gegen kritische Schriftsteller im eigenen Staat einge­ setzt; denn da sind auch deutschsprachige Wetrows.«39 Thürk leug­ nete nicht, mit der Figur des Wetrow einen ganz bestimmten Dis­ sidenten gemeint zu haben: »Einige Elemente, die die Originalfigur Solschenizyn bot, sind selbstverständlich eingeflossen in die Schilde-

208 Arsenal des Kalten Krieges rung, aber sehr wesentlich ist die Figur fiktiv [...]«, so der Autor gegen­ über dem ARD-Korrespondenten. Auch andere Zeitgenossen tauchen kaum verschlüsselt oder mit ihrem echten Namen auf: etwa Heinrich Böll, den Solschenizyn nach seiner Ausbürgerung kurz besuchte, als »Bortinger«: »Etwas religiös. Versponnen manchmal. [...] Seine Bü­ cher hatten eine ziemlich hohe Auflage bei den Sowjets.«40 Pleitgen äußerte den naheliegenden Verdacht, dass es sich beim Gaukler um eine »Auftragsproduktion« handele: 1970 hatte Solsche­ nizyn den Nobelpreis für Literatur erhalten, 1974 war er verhaftet und dann in den Westen ausgewiesen worden. In der DDR kam es im Zuge der Biermann-Ausbürgerung zwei Jahre später zu einer Welle der So­ lidarität unter Intellektuellen mit dem Liedermacher und in der Fol­ gezeit zu zahlreichen Ausreisen. Die >Wetrows< waren also eine ganz aktuelle Erscheinung, die es - so die DDR-Führung - zu bekämpfen galt. Aber Thürk widersprach in einem Punkt: »Ich glaube nicht, dass man Bücher per Auftrag schreiben kann. Für ein Sujet, das ein Autor unter die Feder nimmt, muss er brennen [...]«41 Und ganz gleich, ob konkreter Auftrag oder nicht - Harry Thürk brannte für dieses Sujet. Sein Roman Der Gaukler beschreibt, dass die literarischen Dissiden­ ten allesamt vom Westen gekauft werden, um dann ihr eigenes Land zu diffamieren. Sie sind keine Wahrheitssucher, sondern geben Erklä­ rungen ab, die ihnen von westlichen Geheimdienstzuträgern vorfor­ muliert wurden, sodass allenfalls von einer »sogenannten geistigen Opposition«42 gesprochen werden könne. Ja sicher, in den Straflagern, über die Wetrow/Solschenizyn schreibt, hätten Unschuldige gesessen und sei es zu sehr viel Unrecht gekommen, aber es träfe eben häufig auch die Richtigen. Insgesamt sei das Sowjetsystem jedoch auf einem guten Weg geblieben und dürfe, so der Tenor bei Thürk, wegen eini­ ger solcher >Ausrutscher< nicht grundsätzlich kritisiert werden. Die sowjetischen Autoren, die gegen das System anschreiben, tun das in Thürks Roman alle des Geldes wegen: »Es ist heutzutage ein gutes Ge­ schäft, wenn man irgend etwas aufschreibt und es gegen Valuta nach dem Westen verkauft.«43 Das zielte natürlich auch und viel mehr noch auf die systemkritischen Autoren der DDR, die im anderen Deutschland gegen >Valuta< und in ihrer Muttersprache erscheinen

Der Gaukler: Harry Thürks dunkle Seite 209

konnten. Geradezu zynisch ist die Umdeutung des Lebensthemas Solschenizyns, des GULAG, durch Thürk. Was den diffamierten späteren Nobelpreisträger als traumatisches Erlebnis nicht loslässt, wird ver­ harmlost. Unendliches Leid und Menschenrechtsverletzungen werden zu »kleinem Ärger«, den Wetrow zum Anlass nehme, »das gesamte System des Sowjetstaates in Frage zu stellen«.44

Thürk zeichnet das Bild eines sowjetischen Schriftstellers, der von der CIA in Dienst genommen und zu propagandistischen Zwecken be­ nutzt werden soll. Dabei wusste Thürk sehr genau, worüber er schrieb: Solcherart politische Agitationsarbeit war sein Beruf! Im Gaukler wurde das Weltbild der Sicherheitsorgane der DDR zu Unterhaltungs­ literatur: Opposition kann nur vom Westen gesteuert sein - das war Überzeugung und Credo innerhalb des Ministeriums für Staatssicher­ heit. »Thürks Gruselstory liegt genau auf der Linie der vor kurzem er­ lassenen neuen Strafrechtsbestimmungen der DDR«, so der westdeut­ sche Fernsehbeitrag weiter. »Was mit ihnen erreicht werden soll, ist die Kriminalisierung oppositioneller Kräfte, also auch der unbeque­ men Schriftsteller und ihrer Kontakte zum Westen, die als sog. un­ gesetzliche Verbindungsaufnahme zukünftig unter Strafe gestellt wer­ den soll. Harry Thürks Roman lieferte dafür das Szenario. Im 30. Jahr ihres Bestehens errichtet die DDR damit eine zweite, eine unsichtbare Mauer des Schweigens um alle, die sich als Bürger dieser Republik bis­ her kritisch auseinandergesetzt haben. Vom Maulkorberlass für west­ liche Korrespondenten, bis zur Ausweisung des ZDF-Journalisten aus Ostberlin [gemeint war Peter van Loyen], von den Devisenverfahren gegen Havemann und Heym, bis zum Ausschluss einer Reihe von Au­ toren aus dem DDR-Schriftstellerverband, wer hätte noch zu Beginn dieses Jahres diese Fülle von Beweisen für die innere Unsicherheit der DDR für möglich gehalten?«45 Politische Widersetzlichkeit konnte - aus der Perspektive der Staats­ sicherheit - nur fremdgesteuert sein. Insofern war und ist Der Gauk­ ler vor allem für seinen Autor entlarvend. In Westdeutschland ging Thürk, organisiert von der Deutschen Kommunistischen Partei, mit dem Gaukler sogar auf Lesereise.46 Thürk-Apologeten schrieben noch weit nach der staatlichen Wiedervereinigung, dass der Autor, was die

210 Arsenal des Kalten Krieges CIA-Aktivitäten anbeträfe, ja schon immer recht gehabt hätte47 und dass ihm sein berufsbedingtes (und MfS-unterstütztes) Reisen »gele­ gentlich den Neid der vielen verhinderten Mallorca-Urlauber«48 ein­ gebracht habe - welch zynischer nachträglicher Kommentar zu Mauer und Grenze.

Agentenaustausch im Niemandsland: der rote Schnee-Mann Günter Hofe Doch zurück ins geteilte Deutschland der fünfziger und sechziger Jahre und zurück in die Hochzeit des Kalten Krieges. »Hofe freigelas­ sen« - unter dieser Überschrift berichtete die Westberliner Zeitung Der Abend in nüchterner und zutreffender Form die wesentlichen Fakten eines Falls, der einen Höhepunkt innerhalb der deutsch-deut­ schen Systemauseinandersetzungen auf dem Gebiet der Literatur dar­ stellte: »Der Direktor des Ost-Berliner >Verlag der Natiom, Günter Hofe, der am 6. Oktober vergangenen Jahres bei der Einreise ins Bun­ desgebiet unter dem Verdacht der Spionage verhaftet worden war, ist auf freiem Fuß. Er traf gestern in Ost-Berlin ein. Die Bundesanwalt­ schaft hat Hofe vorgeworfen, seit etwa 15 Jahren als Agent für den sowjetzonalen und den sowjetischen Geheimdienst gearbeitet zu ha­ ben. Hofe, der auch stellvertretender Vorsitzender des Zonen->Börsenvereins der deutschen Buchhändler ist, saß in Karlsruhe in Einzel­ haft. Er war verhaftet worden, als er zur Frankfurter Buchmesse in die Bundesrepublik kam.«49 Hofe hatte eine Biografie, die ihn als Leiter für den Verlag für >Wandlungsliteratur< geradezu prädestinierte. Von 1936 bis 1938 leis­ tete er Wehrdienst in einem Artillerieregiment und wurde als Reserve­ offizier entlassen. Mit Kriegsbeginn 1939 wieder eingezogen, brachte er es bis zum Hauptmann. Als ehemaliges NSDAP-Mitglied trat er nach dem Krieg der in der sowjetischen Besatzungszone neu gegrün­ deten Nationaldemokratischen Partei Deutschlands NDPD bei. Von Oktober 1949 an arbeitete er in deren Verlag der Nation als Cheflek­ tor, sei Januar 1950 schon als dessen Direktor.50 1962 erschien sein

Agentenaustausch im Niemandsland 211

Roman Roter Schnee, dem Hofes eigene Erlebnisse als Soldat im Krieg gegen die Sowjetunion zugrunde lagen. Bis 1970 verkaufte sich das Werk über 200000 Mal. Roter Schnee war ein Buch, das tatsächlich aus der Schublade des Autors von vor 1945 stammte. Eine erste Nie­ derschrift, die verloren ging, habe er 1943 begonnen. »Es sei ein so­ gen. Durchhaltebuch gewesen. Eine zweite Konzeption sei bei Kriegs­ handlungen auf dem Rückzug aus Frankreich verbrannt. 1945 habe er dann ein drittes Mal zu schreiben begonnen und 600 Seiten ge­ schafft, wovon er 1957 bis auf 30 Seiten wieder alles vernichtet habe. Erst die vierte Konzeption wurde dann druckreif.«51 Die Entstehungs­ geschichte des Buches veranschaulicht das buchstäbliche Ringen des Autors mit seiner eigenen Vergangenheit und ihren veränderten Inter­ pretationszusammenhängen. Nach seiner Verhaftung im Westen organisierten Hofes Verlags­ kollegen eine Kampagne, um auf das Schicksal ihres Chefs aufmerk­ sam zu machen.52 Sogar bundesdeutsche Branchenkollegen setzten sich für ihn ein. »Um den Ruf der Messe besorgt, bat der Frankfurter Börsenverein bei Bundesanwaltschaft und Innenministerium telegra­ fisch um Auskunft.«53 Auch der Generalsekretär des deutschen PENZentrums, Rudolf Krämer-Badoni, forschte beim Bundesanwalt nach. Von dort wurde verlautbart: Die Ermittlungen seien nicht im Zusam­ menhang mit Hofes schriftstellerischer oder verlegerischer Tätigkeit erfolgt, ein Spionageverdacht stünde im Fokus.54 Die Akten legen nahe, dass Hofe - was immer die konkret ihm vorgeworfene Spionagetätigkeit gewesen sein mag - seit den fünfziger Jahren tatsächlich geheimpolizeilich angebunden war. Als Verlagslei­ ter des VdN traf er sich ganz offiziell mit Vertretern des Ministeriums für Staatssicherheit, genauer aus dessen Hauptabteilung V/6, zustän­ dig für den kulturellen Sektor. Inhalt der Gespräche: »Fragen der Ab­ sicherung des Verlages und der Situation auf kulturpolitischem Ge­ biet.«55 Hinzu kam ab 1958 eine inoffizielle Verbindung zur HV A, der Auslandsaufklärung des MfS. Für sie scheint der Verlagsleiter vor al­ lem aufgrund seiner hervorragenden Westkontakte und seiner zahl­ reichen Reisen von Interesse gewesen zu sein. »Er entwickelte von An­ fang an eine intensive Arbeit nach Westberlin und Westdeutschland,

212 Arsenal des Kalten Krieges indem er zu einer großen Zahl namhafter Persönlichkeiten Verbin­ dung herstellte (Hans Schomburgk, von Brauchitsch, Dinah Nelken, Johannes Tralow u.a.) [...].«56 Hofes Reisetätigkeit erfolgte dabei ganz offiziell. So hatte er unter anderem die Übersiedlung des bekannten Rennfahrers Manfred von Brauchitsch in die DDR mit eingefädelt, Brauchitschs Buch Kampf um Meter und Sekunden war 1953 im Ver­ lag der Nation erschienen. Dass Hofe dabei unter Protektion, wahr­ scheinlich sogar der der >Freundeschon mit den Kameraden von der Aufklärung klarmachteiner größeren Anzahh von Häftlingen in der Zone und >der Freilassung des Verlagsdirektors Günter Hofe ein Zu­ sammenhang bestehtSchmökerstoff< der eigentlich verpönten Art geboten werden, wollte man sie nicht an westliche Lektüre verlieren. Solche Schnittstellen zwischen Ost und West zogen das Interesse der Staatssicherheit auf sich. Dabei vertraute das Ministerium nicht allein den offiziellen Kontakten zu Hofe, zusätzlich beschäftigte man einen geheimen Informator (Gl) - Vorläufer der späteren inoffiziellen Mitarbeiter (IM) - im Verlag, der auch von Oettingen im Auge behal­ ten sollte. Der Gl »Ekkehard« rapportierte über die Lebensumstände des Autors an seinen Auftraggeber. So stamme der Umschlagentwurf für Spielbankaffaire von einem Grafiker aus Westberlin, dort habe Oet­ tingen auch schon Bücher, unter anderem über Werbung, veröffent­ licht. Der Autor wohne in der Schweiz, besitze aber in Lichterfelde im Westsektor der Stadt ebenfalls eine Wohnung.72 Der Gl, im Hauptbe­ ruf im Verlag zeitweise für Werbemaßnahmen zuständig, berichtete einige Jahre später: »Ich hatte neulich einen etwas heftigen Auftritt mit Oe[ttingen], währenddem ich ihm sagen musste, dass ich nicht zu früh für seine Bücher werben könne und dass schließlich nicht der ganze Werbeetat nur für ihn da sei, dass wir vielmehr auch kulturpo­ litische Gesichtspunkte zu berücksichtigen hätten. Darauf erklärte er, dass ihm das alles egal sei, ihm ginge es nur um seinen Zaster und um weiter gar nichts.«73 Dabei kontrastierte »Ekkehard« konfliktbewusst die aus seiner Sicht >gute< und die schlechte, kommerziell Literatur im Verlag der Nation: hier Anne Frank, »höchst aktuell und politisch außerordentlich wichtig«, dort ein von von Oettingen mitproduzier­ ter Ostsee-Band, »erfüllt zwar politischen Auftrag, ist aber nicht von so durchschlagender Bedeutung«.74 In gewisser Weise hatten die Be­ mühungen, bestimmte Bedürfnisse auf der Leserseite selbst zu befrie­ digen, auch die zugehörigen Konflikte in die DDR-Verlagslandschaft

hineingetragen. Dennoch scheint der besonders kritische Blick »Ekkehards« und

Wanderer zwischen den Welten: Hans von Oettingen 217 anderer staatlicher Stellen auf den Westautor nichts an dessen pro­ duktiver Zusammenarbeit mit DDR-Verlagen geändert zu haben. Sie währte bis zum Tode von Oettingens 1983; noch zwei Jahre zuvor waren von Oettingens Memoiren im Verlag der Nation unter dem Titel Abenteuer meines Lebens. Irrwege und Einsichten eines Unbedach­ ten herausgekommen, ln einer Sache waren sich Verleger und Autor besonders nah: Für beide liegen Karteikarten vor, die auf eine Ver­ bindung zur Hauptverwaltung A, der Auslandsspionageabteilung des MfS, schließen lassen - weitere Unterlagen sind auch für von Oet­ tingen nicht überliefert. Der Vorgang wurde im August 1956 ange­ legt und im Mai 1970 beendet.75 Und es gibt noch Indizien über diese »Aktenzeichen« hinaus. Oettingen berichtet in seinen Memoiren von einer Verhaftung durch die Westberliner politische Polizei, die ihn auf Umwegen zur endgültigen Übersiedlung in die DDR gezwungen habe. Der Vorfall fällt mit dem Jahr seiner Registrierung für die HV A zu­ sammen. Worüber sich der Autor aber sogar in seinen Memoiren ausschweigt: Im November 1964 wurde er in der Schweiz, in der er zeitweise gelebt hatte und die er wiederholt zu besuchen schien, zusammen mit ei­ nem Schweizer Staatsbürger wegen Spionageverdachts verhaftet und zu über zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Auf Vermittlung des Ostber­ liner Anwalts Vogel kam es schließlich ähnlich wie im Falle Hofes zu einem Deal zwischen den Regierungen: Oettingen kam schon im Mai desselben Jahres wieder frei, im Gegenzug sollten Rückwanderungs­ gesuche von schweizerisch-deutschen Doppelbürgern und Ferienauf­ enthalte von Kindern aus der DDR mit einem Schweizer Elternteil positiv beschieden werden.76 Das Departement für Auswärtige Ange­ legenheiten geriet unter Druck, da man herausgefunden hatte, dass Oettingen ernsthaft erkrankt war und nach schweizerischem Recht wohl bald in den Genuss von Haftverschonung hätte kommen kön­ nen. Der Deal musste also möglichst rasch abgewickelt werden - von Oettingen kam frei. Tatsächlich fesselte eine ernste Krankheit, deren erste Anzeichen damals wohl zutage traten, von Oettingen nur wenige

Jahre nach seiner Rückkehr aus der Schweiz bis zu seinem Lebensende ans Bett. Im Lexikon der Schriftsteller der DDR wird er gewürdigt, wenn

218 Arsenal des Kalten Krieges auch mit leisen kritischen Untertönen: Er sei »wegen seiner kolpor­ tagehaften Diktion kritisiert«77 worden. Von Oettingen starb geehrt und geachtet und wurde auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin inmitten anderer Prominenz begraben.

»Der Eiserne Vorhang ist unter uns«: Agitation im Zeichen des Antikommunismus Schriftsteller und ihre Werke im politischen Kampf der Systeme zu instrumentalisieren war in der Ost-West-Auseinandersetzung kein einseitig gebrauchtes Mittel. Melvin J. Lasky, der amerikanische Jour­ nalist, der auf dem Ersten Deutschen Schriftstellerkongress 1947 in Berlin mit seiner Rede für einen Eklat gesorgt hatte, war einer der be­ kanntesten Männer der Geheimdienste - allerdings der westlichen. Sein Auftritt hatte ihm den Beinamen »Vater des Kalten Krieges in Berlin«78 eingetragen. Nach seinem Erscheinen auf der kulturellen Bühne unterbreitete er der amerikanischen Militärverwaltung seine Vorschläge, einen Kampf der Kulturen betreffend: »Die gleichen alten antidemokratischen, antiamerikanischen Formeln, mit denen viele europäische Generationen gefüttert worden sind und die der Propa­ gandaapparat der Nazis unter Goebbels auf die Spitze getrieben hat, werden nun von neuem aktiviert«, so schrieb er an das Büro des Gou­ verneurs Lucius D. Clay. »Man denke nur an den angeblichen öko­ nomischen Egoismus Amerikas [...], seine angebliche kulturelle Ver­ wahrlosung, [...] sein angebliches moralisches Heuchlertum.«79 Seine Idee dagegen sei es, mithilfe einer noch zu gründenden Zeitschrift »größere Teile der deutschen Bildungsschicht dem kommunistischen Einfluss zu entlocken«80. Ein Ergebnis dieser Mobilisierung war die Gründung der Zeitschrift Der Monat, die wechselweise aus Mitteln des Marshallplans, der Ford Foundation und immer wieder der CIA fi­ nanziert wurde. »Der Monat ist eine internationale Zeitschrift für Po­ litik und geistiges Leben. [...] Der Monat soll als Forum einer offenen Aussprache und Auseinandersetzung auf der Grundlage freier Mei­ nungsäußerung dienen und beabsichtigt, einer möglichst großen Zahl

»Der Eiserne Vorhang ist unter uns« 219 verschiedener Stimmen aus Europa und allen Teilen der Welt Gehör zu verschaffen«, so hieß es im Impressum des Blattes. »Herausgeber und Chefredakteur: Melvin J. Lasky«81. Ganz offen wurden im Im­ pressum die eigentlichen »Hintermänner« genannt: die Presseabtei­ lung der Alliierten Hohen Kommission. Eine antikommunistische Stoßrichtung war beim Monat Pro­ gramm. Er bezog beispielsweise eine äußerst kritische Position ge­ genüber Hans Hellmut Kirst und schlug sich bei dessen Auseinan­ dersetzung mit Franz Joseph Strauß eindeutig auf die Seite des Bundesministers. Kirst habe »einen Nerv für Aktualität - oder soll man sagen Opportunität?«82, hieß es dort. Und damit war der Autor in der gerade hochkochenden Diskussion um die deutsche Wiederbe­ waffnung als »Konjunkturschreiber« und außerdem ehemaliger NSFührungsoffizier stigmatisiert, dem man einen Debattenbeitrag zum Kasernenhof wohl kaum abnehmen könne. Im selben Heft erfolgte eine heftige Attacke auf Arnolt Bronnen anlässlich der Besprechung seines Buches arnolt bronnen gibt zu Protokoll. Bronnen sei »im Laufe dieser annähernd 500 Seiten gegen alles«83, gegen Juden, gegen die NSDAP, gegen Krieg, gegen Frieden, nur gegen eines nicht: den Kom­ munismus. Der härteste Vorwurf aber galt Bronnens Verleger: Ernst Rowohlt. Er sei, so wird suggeriert, für die prosowjetische Ausrichtung von Bronnens Protokoll möglicherweise viel stärker verantwortlich als der Autor selbst. »Können ihn Bestialitäten nur erschüttern, wenn sie an, nicht wenn sie von Russen begangen werden? [...] denn mit do­ kumentarischer Überzeugungskraft ergibt sich aus dieser Publikation, dass Ernst Rowohlt spätestens im Frühjahr 1954 sich identifizierte mit den Liquidatoren des Juniaufstands 1953, dass er Propaganda macht für die Feinde der Freiheit. Der Eiserne Vorhang ist mitten unter uns:

und Rowohlt steht jenseits l«84 Doch nicht nur Zeitschriften mit klarer Ausrichtung, auch der Kongress für kulturelle Freiheit (oder CCF = Congress for Cultural Freedom), eine in der Folge zweier Konferenzen in New York und Ber­ lin gegründete Kulturorganisation, die Intellektuelle im Kampf ge­ gen den Kommunismus zusammenführen sollte, galt als »die bedeu­ tendste antikommunistische Tarnorganisation der CIA in Europa«85.

220 Arsenal des Kalten Krieges Die Verbindung zum amerikanischen Geheimdienst war schon den Zeitgenossen bewusst. So erinnerte sich der britische Historiker Hugh Trevor-Roper: »Als ich ankam, sah ich, wie grandios die ganze Sache aufgezogen war [...] und mir war klar, dass eine mächtige Regierungs­

stelle sie finanziert haben musste.«86 Der CIA als Drahtzieher kultureller Aktivitäten war also kein rei­ nes Hirngespinst eines Autors wie Harry Thürk, sondern politische Realität. Allerdings stellte Thürk vieles völlig überzeichnet dar, über­ schätzte die Macht des Geheimdienstes - der allein sicher keinen No­ belpreisträger machen konnte - über weite Strecken maßlos. Auf der anderen Seite war sein Bericht höchst realistisch - wusste er doch aus der eigenen Praxis, wie geheimdienstliche Agitation technisch organi­

siert wurde. Auch der kulturelle Sektor war Teil des Schlachtfelds im Kalten Krieg. Das hatte schon Lasky erkannt und später, auch im Umkreis des CCF, zu nutzen gewusst. In einem Dossier der CIA wurden die Sektoren Kultur und Massenkommunikation neben wirtschaftlichen und militärischen Mitteln ganz selbstverständlich gleichberechtigt zu einem »Arsenal der Waffen des Kalten Krieges« gezählt. Einflussmög­ lichkeiten auf »das Verhalten der Massen, die öffentliche Meinung und die Denkweise des Einzelnen seien grundlegende Voraussetzun­ gen für Einsätze der psychologischen Kriegführung«87. Dabei sollten in der Systemauseinandersetzung mit allen publizistischen Mitteln vor allem die Vorteile einer repräsentativen Demokratie, von Grund­ rechten und Privateigentum hervorgehoben werden. Auf diese Art glaubte man den Widerstandsgeist der Menschen gegen totalitäre Re­ gime stärken zu können. In der damals »top secret« eingestuften Aus­ arbeitung findet sich auch der Hinweis, dass - wo immer möglich für die Verbreitung von Medien, Materialien und Dienstleistungen auf zivile Kanäle zurückgegriffen werden soll. Beinah noch entschei­ dender, als einzelne Autoren für sich gewinnen zu können, muss da­ her für die propagandistische Arbeit der Zugriff auf die Kanäle zur Verbreitung der gewünschten Inhalte gewesen sein.

Aufstieg aus dem Nichts? Der Verleger Joseph Caspar Witsch 221

Aufstieg aus dem Nichts?

Der Verleger Joseph Caspar Witsch Eine in diesem Zusammenhang zentrale Figur in Westdeutschland war der in Köln ansässige Joseph Caspar Witsch, dem heute von Ge­ heimdienstexperten »unter den deutschen Verlegern [...] die wich­ tigste Rolle«88 innerhalb des Kongresses für kulturelle Freiheit zu­ geschrieben wird. Mit Blick auf Witschs Verlagstätigkeit waren die Verbindungen zu offiziellen Stellen eng und offenkundig. In einer Kurzrecherche des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR waren die - aus Sicht der Geheimpolizei - wichtigsten Fakten zusammenge­ führt: »Witsch war von 1933-1945 Mitglied der NSDAP und setzte sich sehr zielstrebig und konsequent für die Verbreitung des nazisti­ schen Ideengutes in der Literatur und speziell im Bibliothekswesen ein. 1948 setzte er sich aus Jena illegal nach Westdeutschland ab und gründete in Köln den Verlag Kiepenheuer & Witsch. [...]« Er sei »eine wesentliche Stütze der Bonner Ultras bei der Verwirklichung ihrer Po­ litik gegen die DDR«. Auf ihn gehe auch der Boykottaufruf zurück, der vom westdeutschen Börsenverein nach dem Mauerbau mit Blick auf die DDR und die Leipziger Messe erfolgt sei. »Witsch unterhält sehr enge Verbindungen zum westd. Ministerium für gesamtdeutsche Fra­ gen und zum Vertriebenen-Ministerium und druckt in deren Auftrag Hetzliteratur. In seinem Verlag erschienen auch solche Hetzwerke ge­ gen die DDR wie Der Kommunismus in Deutschland und Im Vorzimmer des Direktors/ZwölfJahre Pankow, [siel Ein >schönes< Missverständnis der Stasileute, eigentlich lautet der Titel Im Vorzimmer der Diktatur!] Witsch ist der Herausgeber der Halbmonatsschrift SBZ-Archiv, die unter Ausnutzung von Informationen verschiedener Agentengruppen ausschließlich Hetze gegen die DDR verbreitet.«89 Die publizistischen Aktivitäten und die Äußerungen Witschs wurden von der Staatssicherheit aufmerksam beobachtet und aus­ gewertet. Insbesondere seine kritischen bis kämpferischen Äuße-

222 Arsenal des Kalten Krieges rungen in Richtung DDR-Literatur stießen dabei auf Missfallen. So habe er auf einer Pressekonferenz im Rahmen der Frankfurter Buch­ messe geäußert, dass »wir auf unseren Regalen keine Werke von öst­ lichen Schriftstellern, gleich welcher literarischer Qualität, zu sehen wünschen, die letztlich die Unmenschlichkeit stützen«90 - er zielte damit zum Beispiel auf Anna Seghers ab, von deren Roman Das siebte Kreuz eine Ausgabe im westdeutschen Luchterhand Verlag geplant war. Was Witsch so besonders interessant machte: Er hatte ein Vor­ leben vor 1945 und sogar eines (wenn auch kurzes) in der sow­ jetischen Besatzungszone. Witsch verkörperte damit ein typisches deutsches Schicksal. Obwohl seine Karriere als Direktor der ErnstAbbe-Bücherei und -Lesehalle in Jena und Leiter der Thüringischen Landesstelle für volkstümliches Büchereiwesen nicht als reine Pro­ pagandistentätigkeit für den Nationalsozialismus zu werten sein wird, so ist sein Verhalten doch zumindest als ambivalent einzu­ schätzen. Er habe sich, so eine Studie zu seiner Rolle im Volksbü­ chereiwesen jener Jahre, in jedem Falle angepasst. Für die Kriegs­ zeit sind dabei auch Äußerungen und Positionen belegt, die zeigen, »dass er den Krieg und die propagierten Kriegsziele befürworte­ te«9’. In seinen publizierten Äußerungen zur Schrifttumspolitik lag Witsch dabei ganz auf der Linie des Propagandaministers, was die Rolle der Literatur im Krieg betraf. »Mit wachsender Lebhaftigkeit werden in der letzten Zeit die Probleme diskutiert, die mit der Un­ terhaltungsliteratur und ihrer Funktion Zusammenhängen.« Damit nahm Witsch direkt Bezug auf eine im Kern zwischen Goebbels und Alfred Rosenberg ausgetragene Kontroverse, bei der Rosenberg für eine Konzentration auf das Wesentliche, das heißt ein Weniger an leichter Unterhaltung eintrat, um dann in der Pro-Goebbels-Argumentation fortzufahren: »Im Kriege, d. h. also unter der schärfsten, zumindest zeitlich schärfsten Arbeitsbeanspruchung jedes arbeiten­ den Menschen - und wer wäre das heute nicht - erscheint das Pro­ blem nicht nur besonders dringend, sondern auch vielverzweigter. Entspannung und Ablenkung werden, weil sie die notwendige Re­ generation der Arbeitsfähigkeit bewirken, zu kriegswichtigen Fakto-

Aufstieg aus dem Nichts? Der Verleger Joseph Caspar Witsch 223

ren.«92 Eine so herausgehobene Position im NS-Kulturapparat war

ohne NSDAP-Mitgliedschaft kaum zu denken. Doch trotz aller Vorbelastung hatte sich Witsch bereits 1947 in Thüringen wieder einen Namen gemacht, wurde vom Spiegel als >graue Kultureminenz< in jenem östlichen Land tituliert und spitz at­ tackiert: »Nach 1933 betätigte sich der jetzige Kontrolleur des Verlags­ und Buchwesens als SA-Mann, NS-Studentenbündler und, bis zum letzten Kriegstag, als hurtiger Führer-Hymniker. Dr. Witsch führt jetzt eine sehr demokratische und antifaschistische Sprache.«93 Zur selben Zeit tat sich Witsch zunächst in Weimar mit dem renommierten Ver­ leger Gustav Kiepenheuer zusammen. Ziel: Gründung eines gemein­ samen Verlagsunternehmens. Kiepenheuer sollte seine Erfahrung so­ wie ein Startkapital in Form von Verlagsrechten beisteuern. Schon im Laufe des Jahres 1948 machte sich Witsch in Richtung der Westzonen auf, nachdem die Entnazifizierungskommission in Thüringen seine Entlassung angeordnet hatte.94 Mit im Gepäck: der renommierte Ver­ lagsname Kiepenheuer. Diesen konnte Witsch nach dem Tod Gustav Kiepenheuers im Jahr darauf und einem juristischen Vergleich mit der Kiepenheuer-Witwe Noa in der Form Kiepenheuer & Witsch seit 1951 losgelöst von dem im Osten verbliebenen »Stammhaus« führen. Neuere Untersuchungen sehen Witsch in dieser Gründungsphase »in einem zweifelhaften Licht«95. »Selbst wenn man Witsch während der Etablierungszeit aus der Sach- und Rechtslage resultierende Hand­ lungszwänge und unternehmerische Schwierigkeiten in der problema­ tischen Zeit der Währungsreform zugute hält«, so Birgit Boge, zeige sich ein »befremdliches Bild des Jungverlegers, der eine gewandelte Si­ tuation durch rasches Handeln zu seinem Vorteil zu nutzen verstand und mit seinem schnellen Agieren erfolgreich war«.96 Kolportiert wird dabei bis heute das Bild Gustav Kiepenheuers, der, die Fahrkarte in den Westen schon in der Tasche, auf dem Weg zum Bahnhof gestor­ ben sei.97 Eine Darstellung, die Witsch in der Auseinandersetzung um seine Ansprüche auf Kiepenheuers Vermächtnis und den so wichtigen Verlagsnamen sehr wertvoll gewesen sein wird. Der Streit um das Erbe Kiepenheuers wurde schnell ein politischer Ost-West-Konflikt. Noch mehr als zehn Jahre später war es Noa Kiepenheuer wichtig, in einem

224 Arsenal des Kalten Krieges Brief mitzuteilen, dass ihr Mann »keineswegs >unterwegsBekenntnis< zur SED anbelangt, zählt nicht so sehr die formale Überprüfung seiner Mitgliedschaft, sondern die Tat­ sache, dass Witsch in einem von ihm selbst verfassten und unter­ schriebenen Lebenslauf ebendiese Mitgliedschaft festhielt. Dies war aus der Situation und mit Blick auf seine beruflichen Perspektiven ein bewusster Akt.

Aufstieg aus dem Nichts? Der Verleger Joseph Caspar Witsch 225 Mit ihrer bereits oben zitierten Einschätzung von Witschs antikom­ munistischen Aktivitäten lag die Staatssicherheit in ihrem Dossier aus dem Jahr 1966 grundsätzlich richtig. Dies war aber auch kein Kunststück, da bestimmte Zusammenhänge allgemein bekannt wa­ ren. Witsch engagierte sich im Kongress für kulturelle Freiheit, galt als eine der zentralen Figuren der Aktivitäten des CCF in Deutschland und sorgte von Köln aus unter anderem für dessen stramm antikom­ munistische Ausrichtung. Insbesondere im Bereich der politischen Bücher spielten verschiedene Formen der Fremdfinanzierung eine große Rolle. Beispielhaft sei die zunächst als PZ-Archiv (abgeleitet vom Publizistischen Zentrum für die Einheit Deutschlands), später in SBZArchiv umgetaufte Zeitschrift genannt. Anfangs noch vom CCF (und somit von der CIA) mitfinanziert, ging der Staffelstab der finanziel­ len Unterstützung 1952 an das Bundesministerium für gesamtdeut­ sche Fragen über.104 Eine jüngere Studie zu diesem Sonderministerium sieht Witsch mit seinem Verlag als eine der »wichtigsten Säulen für die [...] während der Hochphase des Kalten Krieges verfolgte antikom­ munistische und deutschlandpolitische Aufklärung«105. Mit einem am Fuß der Seiten gedruckten Slogan »Besinnt Euch auf Eure Kraft - Der Westen ist stärker!« war im Archiv die Richtung klar vorgegeben. In den Artikeln ging es auch gegen innenpolitische Kontrahenten heftig zur Sache, so etwa, wenn es hieß: »Nun ist es genug, Herr Rowohlt!«. Darin wurde Ernst Rowohlt, ausgehend von seiner Unterstützung für den Stockholmer Appell (einer u.a. von der Sowjetunion geförderten Anti-Atombomben-Initiative), zum »Büttel des Kommunismus«106 ernannt. Das Ganze gipfelt in einem Aufruf an den Börsenverein des deutschen Buchhandels, Ernst Rowohlt und seinen Verlag aus dem Verband auszuschließen: »Unsere Sache ist, eindeutig darauf hinzuweisen, dass für Herrn Rowohlt im deutschen Kulturleben, das auf der absoluten und uneingeschränkten Freiheit des Geistes beruht, kein Platz mehr ist!«107 Nicht mehr und nicht weniger als ein Berufsverbot also für den politischen Widersacher. Ein Schelm, wer dahinter, neben vielen anderen Motivationen, nicht auch die Eigeninteressen des >Verlagskonkurrenten< Witsch vermu­ ten sollte. Und zum Schluss der Appell: »Nehmt ihm [Rowohlt] die

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aus dem

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JEUTSCHLAND VON 1945 BIS 1953 A Der Neuanfang ins Bild gesetzt: Cover von Aufstieg aus dem Nichts, 1954 erschienen bei

Kiepenheuer & Witsch, Köln.

Aufstieg aus dem Nichts? Der Verleger Joseph Caspar Witsch 227

Narrenkappe ab, und setzt ihm das auf, was ihm gebührt: Einen Stahlhelm mit Sowjetstern!« Und damit sehen wir nicht nur die Bil­ der der antikommunistischen Kampagnen der fünfziger Jahre vor un­ serem Auge, sondern es werden Erinnerungen an die Ressentiments und Feindbilder der Jahre davor wach. Dies alles im Zeichen der Frei­ heit des Geistes. Ganz gleich, wie man die einzelnen Etappen von Witschs politi­ scher Biografie rekonstruieren und deuten mag. Offensichtlich war auch diese für Nachkriegsdeutschland so typische Verleger- und Ver­ lagskarriere vor allem eines nicht: ein Aufstieg aus dem Nichts. Als die­ sen Aufstieg wollte ein Verlagserzeugnis des Kölner Hauses die ersten Jahre in den Westzonen und der Bundesrepublik verstanden wissen. Kurt Zentner hatte dieses zweibändige Werk, das sich der (west-)deut­ schen Geschichte von 1945 bis 1953 widmete, zu verantworten. Dabei war Zentner alles andere als ein unbeschriebenes Blatt. Sein Handwerk hatte er - wo sonst? - im >Dritten Reich< gelernt: als Bildredakteur und Chef vom Dienst der Berliner Illustrierten im Deutschen Verlag.108 Schon 1935 hatte Zentner ein ähnlich gelagertes Projekt gestemmt: Das Jahr im Bild, ein Jahrbuch der Berliner Illustrierten, entstanden mit tatkräftiger ideeller und personeller Unterstützung aus den Reihen des Propagandaministeriums von Joseph Goebbels. »Außer den politi­ schen Dingen würden wir eine Reihe unpolitischer Fragen in Bild und Text behandeln, um die bei einer größeren Auflage unerlässliche Auf­ lockerung zu erreichen«10’, so hatte der damals für das Projekt zustän­ dige Verleger des Ullstein-Verlags das Konzept erläutert. Ob sich die Branche nach 1945 noch an Kurt Zentner erinnern konnte? Jedenfalls warfen westdeutsche Buchhändler Witsch vor, mit dem Zentner-Band Adenauer zu unterstützen.110 Die so kritisierte Soziografie in zwei Bänden bot ein reichhaltig bebildertes Panorama Nachkriegsdeutschlands, angereichert mit Presseausschnitten zu den jeweiligen Themenfeldern, eine Art Illustrierte in Buchform, die in diesen Jahren ein eigenes Genre der Wissensvermittlung bildete. Zwar wird die Vorgeschichte des Wirtschaftswunderlandes nicht völlig aus­ geblendet, aber die Akzente sind klar gesetzt. So bietet Band zwei im Kapitel »Schuld und Sühne«111 einen Blick auf die Gräuel der KZs, die

228 Arsenal des Kalten Krieges Opfer der Menschenversuche auf der einen und die Verfolgung und Bestrafung der Täter auf der anderen Seite. Allerdings bleiben die größ­ ten deutschen Verbrechen, die Ermordung der europäischen Juden und der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, völlig unerwähnt. Hinweise auf das Schicksal bestimmter Völker und die rassische Ver­ folgung fallen eher beiläufig, wenn es etwa in einer Bildunterschrift heißt: »Unter strenger Bewachung durch die MP (Military Police) ver­ lassen DPs (Displaced Persons = verschleppte Personen) das Gebiet der Bundesrepublik. [...] 120000 nahmen den Weg nach Israel, dem gelobten Land ihrer Väter.«112 Mit dem »gelobten Land« wird zudem eine Formulierung gebraucht, die in diesem Zusammenhang einer er­ neuten Verhöhnung nahekommt. Grundtendenz des Gesamtwerks ist es, die Deutschen zunächst als Opfer - hungernde, frierende, Ar­ beitsuchende - darzustellen, die sich, »aus dem Nichts kommend«, mit Erfolg in eine bessere Zukunft aufmachen - und alles konnte, so die visuelle Grundthese, logischerweise ja nur besser werden. Auch die antikommunistische Kernbotschaft der Bände steht angesichts der Thematisierung der Zonengrenze und beim Vergleich der Besat­ zungsregime, der immer zugunsten der Amerikaner ausfallen musste, außer Frage. Insofern war die kritische Bemerkung der Buchhänd­ ler durchaus berechtigt. Es war eine verlegerische Werbemaßnahme für die amtierende Bundesregierung und Konrad Adenauer, der für dieses Deutschland stand, aus dem man berichten konnte: »Sensa­ tion in San Remo< und >Maske in BlauHeldenHalbgottes in Weiße Zudem hatte Biografisch-Autobiografisches schon seit vielen Jahren einen festen Platz auf den Bestsellerlisten. Das Mit-Leiden und Mit-Lesen mit einer berühmten Persönlichkeit erleichterte dem Leser den Zugang zum Buch. Um aus alldem dann einen echten Bestseller zu formen, war ein Verleger vonnöten, der das Potenzial des Stoffes er­ kannte. Er durfte nicht nur einfach ein Manuskript in Verlag neh­ men, sondern musste dessen Entstehung aktiv begleiten. Im Falle Sauerbruchs trat Helmut Kindler auf den Plan. Die Erinnerungen des Arztes sollten später zu den erfolgreichsten Titeln der Verlagsge­ schichte zählen (neben Sebastian Haffners Anmerkungen zu Hitler). Über die Entstehung des Buches berichtete schon kurze Zeit darauf der Spiegel: »Verleger Kindler gibt zu: >Einen Teil seiner Erinnerun­ gen hatte der Herr Geheimrat seiner Frau, Dr. Margot Sauerbruch, diktiert. Seine weiteren Erzählungen nahm unser Chefreporter Hans Rudolf Berndorff auf.Erinnerungen< eines Mannes veröffentlichen darf, bei dessen Krankheit der Erinnerungsverlust das aufdringlichste Symptom ist«7. Doch Nissens Intervention war ver­ gebens. Als er das fertige Werk in Händen hielt, blieb ihm nur fest­ zustellen: »Die Lektüre war tief deprimierend. Der Inhalt, auf sensa­ tionshungrige Leser abgestellt, war voll von Irrtümern.«8 Und nicht nur Irrtümer in der Darstellung, auch hinsichtlich der Quellenbasis taten sich Abgründe auf. So habe der Verlag aus Sauerbruchs Besitz Papiere und Aufzeichnungen erhalten, die zum Teil aus der Feder von Fachkollegen stammten. Vom Verlag wurde das Material falsch be­ wertet, sodass dieser später daraus entstandene »Plagiate« nur noch unendlich zu »bedauern«’ vermochte. Teilen der Auflage von Das war mein Leben musste bald die schriftliche Gegendarstellung einer ande­ ren Klägerin beigelegt werden: Mathilde Ludendorff. Sie wandte sich entschieden gegen zwei Episoden, die in Sauerbruchs Erinnerung mit ihrem verstorbenen Mann verknüpft waren: So habe Ludendorff - in

236 Fakten, die verschleiern voller Uniform - seine Krankenakte bei Sauerbruch beschlagnahmte angeblich um seine Leidensgeschichte zu Lebzeiten geheim zu halten. Auch habe Hitler Ludendorff anlässlich dessen 70. Geburtstags auf­ gesucht, um ihn zum Generalfeldmarschall zu ernennen. Die Witwe nun stritt beides ab und räumte zugunsten des Professors entschuldi­ gend ein: »Die wenigen Seiten seines Buches, die von meinem Mann handeln, hat Herr Geheimrat Sauerbruch wohl nur gesprächsweise erzählt, wodurch solche Erinnerungsirrtümer bei ihm sehr erleich­ tert wurden.«10 Insgesamt zeigt das gut 600 Seiten starke Werk deutliche Spuren fremder Zuarbeit, wirkt an vielen Stellen zusammengeschustert, lässt den großen erzählerischen Bogen vermissen. All dies hatten schon die zeitgenössischen Kritiker deutlich gemacht: »Der Titel [...] muss den Eindruck erwecken, dass Sauerbruch das Buch selbst geschrieben hat. Auch ohne Kenntnis der Vorgeschichte dieser Lebensdarstellung wird jeder, der Sauerbruchs klaren und schönen Stil kennt, eines Besseren belehrt. Es handelt sich um eine Reportage von Geschichten, die Sau­ erbruch zu einer Zeit erzählt hat, als er schon von dem Leiden gezeich­ net war, das am 2. Juli 1951 zu seinem Tode führte.«11 Dem Verkaufserfolg tat all dies keinen Abbruch. Bald schon folgte eine Verfilmung, für die als Drehbuchschreiber »Dr. Felix Lützkendorf [...] auf die an Stories überschwappende Materialfülle der Arzt-Me­ moiren losgelassen«12 wurde. 1954 kam der Streifen, in dem zahlrei­ che namhafte deutsche Schauspieler zu sehen waren, in die Kinos. Erst 2008 erschien die jüngste, gekürzte Ausgabe von Das war mein Leben im Reader’s Digest Deutschland. Auch Lützkendorf kann - ähnlich wie Berndorff - nicht mehr als unbeschriebenes Blatt gelten. Vor allem seine Drehbücher hatten vor 1945 große Wirkung entfaltet, so war er am Drehbuch zum Film Wunschkonzert beteiligt und schrieb Vorlagen für Propagandastreifen wie Stukas, GPU, Über alles in der Welt und ähnliche. Dass mit Berndorff und Lützkendorf gleich zwei Praktiker [> Mit seinen Memoiren schrieb der Chirurg Ferdinand Sauerbruch die erfolgreichste Autobiografie der Nachkriegszeit; Auflage in den ersten zehn Jahren: 1,2 Millionen.

FERDINAND

Die Ulemoiren des großen Chirurgen

238 Fakten, die verschleiern

des NS-Propagandasystems zu Geburtshelfern des Sauerbruch-Buches wurden, war keineswegs Zufall oder Ausnahme, es war eher die Regel

in jenen Jahren: Die Fachleute der Vorkriegszeit verhalfen den Helden der Nachkriegszeit zu ihrer Stimme. Berndorff und Lützkendorf hat­ ten dabei Glück gehabt, in der NS-Zeit nicht exponiert genug gewe­ sen zu sein. Lützkendorf hing weder seine NSDAP- noch seine SS-Mitgliedschaft im Range eines Obersturmführers13 nach. Seine Karriere

wurde nicht nennenswert behindert. Sauerbruchs Abschied vom Berufsleben war mit gut 74 Jahren nicht ganz freiwillig erfolgt, auch wenn die Notiz der Berliner Zeitung ver­ meldete, der Minister für Volksbildung habe den Professor »auf sei­ nen Wunsch«14 von allen Aufgaben entbunden. Im Osten war man bemüht, den Rücktritt des Professors als ganz normalen Vorgang ein­ zuordnen. Man fürchtete, »eine Absetzung des kranken Sauerbruch werde im Westen als die Absetzung eines nicht genehmen Wissen­ schaftlers aus politischen Gründen interpretiert«15. Der Ost-WestKonflikt war mittlerweile im vollen Gange. In Wirklichkeit war Sauer­ bruch als Arzt nicht mehr zu halten. Er litt unter Zerebralsklerose, die ihn zur Gefahr für seine Patienten werden ließ. Viele starben durch Behandlungsfehler. Der Medizinskandal wurde jedoch erst ein Jahr­ zehnt später aufgedeckt, in Jürgen Thorwalds Buch Die Entlassung. Das Ende des Chirurgen Ferdinand Sauerbruch.16 Als Ironie der Geschichte mag man werten, dass sowohl für den bleibenden literarischen (und filmischen) Nachruhm als auch für dessen Demontage Schreibprofis verantwortlich waren, die allesamt ihr Handwerk im >Dritten Reich< gelernt hatten. Auch Thorwald, alias Heinz Bongartz, gehörte dazu. So war er vor dem Krieg bereits für ein NSDAP-Blatt tätig, später im Pro­ pagandaeinsatz bei der Kriegsmarine.17 Bevor Thorwald so erfolgreich den Abgesang auf Sauerbruch anstimmte, hatte er sich bereits mit Bü­ chern über Das Jahrhundert der Chirurgen einen Namen gemacht - bis hinein in die medizinische Fachwelt. Mit seinen Büchern sei er »nicht unerheblich daran beteiligt [gewesen], dass in der Öffentlichkeit ein Bild chirurgisch tätiger Ärzte entstanden war, das sie nur wenig von mythischen Helden unterschied. Der >Halbgott in Weiß< war entstan-

Götter, Gräber und Gelehrte: Flucht in die Vergangenheit 239 den [,..].«18 Und nicht nur die Riege der Autoren, die sich am Sauber­ bruch-Mythos abarbeiteten und mit ihm Geld verdienten, stand für Kontinuität, auch die Figur Sauerbruch selbst tat es. Mit ihm wurde ein Mensch gefeiert, der, im Kaiserreich geboren, seinen Karrieregip­ fel schon in der Weimarer Zeit erklomm, sich von den Nazis nicht eindeutig distanzierte und dessen Ruhm bis in beide deutsche Staaten strahlte. »Schon im nationalsozialistischen Deutschland [waren] his­ torische Arztfilme geschaffen worden, die ganz auf die Überhöhung, ja Glorifizierung >nationaler< Medizin zielten und den deutschen Arzt als Überarzt, als Führerarzt und als herausragenden Wissenschaftler zeigten. An diesen Arztmythos soll nach dem Krieg ohne jeden Zwei­ fel wieder angeknüpft werden. Der am 13. August 1954 uraufgeführte >Sauerbruchgentilhomme ordinaireausradieren< und >coventrierenBaumeister< seiner neuen Hauptstadt Germania.33 Nicht wegzudiskutieren bleibt dagegen der Erfolg des Buches un­ geachtet aller handwerklicher Fehler, Stilblüten und Unzulänglichkei­ ten, die umso bemerkenswerter erscheinen, weil der Autor Ceram, eigentlich Kurt W. Marek, von Beruf selbst Lektor war. Seine ersten Gehversuche als Autor hatte er bereits vor 1945 als Journalist, später im Krieg, dann als Kriegsberichter in verschiedenen Propagandaein­ heiten unternommen. Mit Wir hielten Narvik steuerte er ein Buch zur Flut der Literatur über den Krieg bei, die damals in Deutschland er­ schien.34 Alle den Erfolg von Götter, Gräber und Gelehrte betreffenden Er­ klärungsversuche gehen bisher überwiegend vom Werk selbst aus. David Oels hat in seiner Studie zum Verlagshaus Rowohlt gezeigt, dass das Buch das Unternehmen Ende der vierziger Jahre aus einer schwierigen Finanzkrise gerettet hat. Aus dieser Rettungsaktion er-

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Götter, Gräber und Gelehrte: Flucht in die Vergangenheit 243 wuchs einer der ersten auch internationalen Erfolge des westdeut­ schen Buchhandels. Verleger und Autor (Letzterer seit geraumer Zeit schon Cheflektor im Hause Rowohlt) arbeiteten eng zusammen und unterstützten das Buch durch ihre »Einwirkungsmöglichkeiten auf die mediale Öffentlichkeit«35. »[...] Marek knüpfte bei seinem Neu­ anfang also mehr oder weniger direkt an die Karriere im >Dritten Reich< an.«36 Die wahre Identität des Autors dürfte den meisten, so legt Oels weiter nahe, ohnehin bekannt gewesen sein. Auch an die Erfahrungswelt vieler Leser, die als >Landser< ganz Europa und nicht zuletzt auch die antiken Stätten gesehen hatten, konnte das Buch rein inhaltlich Anschluss herstellen. Und gerade hier vollzieht Göt­ ter, Gräber und Gelehrte eine Relativierung der unmittelbaren Ver­ gangenheit über Bande: Dem Archäologen zählen nur die herausra­ genden Zeugnisse der Vergangenheit. Ihre Entstehungsbedingungen interessieren ihn weniger. »Für eine solche archäologische Bewer­ tung einstiger Größe ist es nicht entscheidend«, so Oels, »ob beim Bau der Pyramiden Zwangsarbeiter zu Tode kamen, ob die Maya ihren Göttern Menschenopfer darbrachten oder die Assyrer ganze Völker ausrotteten - entscheidend für das >Überleben< sind die er­ haltenen Ruinen.«37 Und auch in vermeintlich nebensächlichen Be­ merkungen wird dem Leser eine ungeheure Entlastungsfunktion angeboten, immer unter dem Motto, wo Weltgeschichte geschrieben wird, müssen bisweilen Opfer gebracht werden. So wird über einen ägyptischen Herrscher festgehalten: »Zweimal hatte er englische Truppen vernichtend geschlagen und hatte eins der großen weltge­ schichtlichen Gemetzel veranstaltet, indem er seine politische Aus­ einandersetzung mit den Mamelucken dadurch löste, dass er sämt­ liche vierhundertachtzig Beys unter Vorspiegelung zu einem Mahl nach Kairo lud und sie dabei umbringen ließ. Wie dem auch sei, [,..]«38 - so lapidar und vielsagend zugleich endet die kurze Passage Ceramik< bereitet hat­ ten, gehörten die Bestseller von Karl Aloys Schenzinger. Sein Anilin war einer der erfolgreichsten erzählenden Texte im >Dritten Reich< überhaupt: Bis Kriegsende lag das Buch knapp unter einer Million verkaufter Exemplare, im Mai 1951 (die Biografie dieses Buches hatte 1945 kaum einen Bruch erlitten) waren die 1,6 Millionen überschrit­ ten. Der große Zuspruch in der NS-Zeit kam nicht von ungefähr. Schenzingers Buch gehörte bei Literaturkritikern (wenn man sie noch so nennen will) und Lesern gleichermaßen zu den Favoriten. »Es ist ein Weg voller Opfer und Verzicht«, so war in der Nordischen Rund­ schau aus Kiel zu lesen, »der von den Indigofeldern der Tropen durch die Laboratorien eines Liebig, Koch, Duisberg zu den IG-Farben hin-

Die Mutter aller (deutschen) Tatsachenromane: Schenzingers Anilin 245

führt. Schenzinger hat in seinem Buch Anilin fast ein Jahrhundert

Forscherarbeit zusammengefasst, hat mit packender Wucht der deut­ schen Chemie eine Ehrung zuteil werden lassen, wie man sie sich in dieser Form kaum besser vorstellen kann.«40 Und wenn auch Schen­ zingers Verleger, Wilhelm Andermann, dem Werk das Signet »Ro­ man« mit auf den Weg gegeben hatte, dieses Buch war etwas anderes. Es gehörte in die große Reihe der Rohstoffromane, die Sachbuchthe­ men im fiktionalisierten Gewand unter die Leute brachten. Ähnlich wie in vielen modernen Dokumentarfilmen wechseln sich bei Schen­ zinger dokumentarische Textteile und Sachbuchpassagen mit drama­ tisierten Erzählformen ab. Der Typus des Sachromans, der sich »heut­ zutage fast vollständig ins populäre Sachbuch aufgelöst hat«41, hatte seine Vorläufer und Vorbilder in der Weimarer Zeit, feierte im drit­ ten Reich< große Erfolge und setzte seinen Siegeszug in den vierziger und fünfziger Jahren weiter fort. Die Tatsachenromane zu Rohstoff­ themen waren die vielleicht >modernsten< Buchtypen in der NS-Zeit. Doch nicht nur aus heutiger Sicht, schon die Zeitgenossen hatten die Bücher trotz aller ihnen anhaftenden Etiketten eher als Sachbücher wahrgenommen und gelesen. So wusste der »Sonderführer Werner Kark« unter dem Titel Was liest der Landser? zu berichten, dass »Flug­ zeugführer und Funker schon aus Einsatzgründen weitaus aufnahme­ bereiter sein [müssen]. Von ihnen stammen daher die schönen und bezeichnenden Hinweise auf weitverbreitetes naturwissenschaftliches und technisches Material, das - oft gemeinsam bearbeitet - an erster Stelle der Interessen steht. Das reicht von Schenzingers Anilin über verschiedene Bücher Bürgels und Romane Dominiks hin bis zu den schwierigsten wissenschaftlichen Werken, die allabendlich, abseits vom Lärm der Runde, studiert werden.«42 Erwiesen ist, und daran er­ innert sich auch der Buchmarktkenner Franz Hinze, der im Krieg zeit­ weise als Frontbuchhändler in Paris eingesetzt war, dass viele Solda­ ten ihre Militärzeit, soweit das möglich war, zur eigenen Fortbildung zu nutzen suchten. Deshalb waren echte Fachbücher immer höchst gefragt bei der Kundschaft in Wehrmachtsuniform. Auch nach der Schenzinger-Lektüre fühlt man sich in erster Linie informiert über Personen und Ereignisse eines Stücks Wissenschaftsgeschichte. Die

246 Fakten, die verschleiern einzelnen Figuren und ihre psychologische oder gesellschaftliche Di­ mension interessieren nur am Rande. Der neue Buchtypus und seine Autoren war schon zu Schenzingers Zeit Gegenstand öffentlicher Erörterungen. Der Tatsachenbe­ zug war ein Erbe der zwanziger Jahre, der >Neuen Sachlichkeit^ Erwin Barth von Wehrenalp, der nach dem Krieg als Geschäftsführer des Econ Verlags einer der bekanntesten Sachbuchverleger der Bundes­ republik werden sollte, schrieb 1937 in einer Literaturzeitschrift über »Volkstümliche Wissenschaft«. Da er seit zwei Jahren für die Wirt­ schaftsgruppe Chemische Industrie als Journalist tätig war, darf da­ von ausgegangen werden, dass er die Werbetrommel für die populäre Wissensvermittlung >im Auftrag< der wachsenden Konzerne rührte. Es sei nötig, die »Welt des Laien« und die des »Wissenschaftlers« in Verbindung zu bringen und das nicht nur, aber auch, um die »Fach­ arbeitersorge zu bannen«43. Das Grundproblem sei aus seiner Sicht, dass die Welt der Laien und die der Wissenschaftler immer weiter auseinanderdrifteten. Daraus entstünde die absurde Situation einer Gesellschaft, die zwar immer stärker verwissenschaftlicht werde, de­ ren Mehrheit von der Wissenschaft aber fast nichts mehr verstünde. Diese so nötige Brücke könne die Literatur bilden, vor allem auch sol­ che im Stile Schenzingers: Eine neue »Reportageform [dringe] immer mehr vor, die vom Tod des alten Bildungsideals weiß, die Menschen direkter anspricht und größere Erfolge aufweisen kann. Sie versucht wissenschaftliche Dinge aus einer Zeit heraus oder von der Tat des Forschers her zu schildern.« Sie gelinge nur dort, »wo ihr Unterbau von der Fachwissenschaft gestellt wurde«. Wie sich Wehrenalp später, nach 1945, auf die von Autoren wie Schenzinger entwickelten Buchtypen stützen konnte (Wehren­ alp selbst hatte 1937 bei Kosmos ein Bändchen mit dem Titel Farbe aus Kohle geschrieben), so hatten die Sachbuchautoren des >Dritten Reichs< diesen Typus des Tatsachenromans ebenfalls nicht erfunden. Hier existierten Vorbilder in der Literatur der zwanziger Jahre und vor allem auch bei den Sachbüchern im Ausland. Hans Dominik, der ne­ ben Zukunftsromanen auch >Tatsachenbücher< schrieb, dienten die 1926 erschienenen Mikrobenjäger des Amerikaners Paul de Kruif als

Die Mutter aller (deutschen) Tatsachenromane: Schenzingers Anilin 247

Beispiel, wenn es darum ging, »Großtaten auf dem Gebiet techni­ scher Erfindungen in dramatischer Form«44 zu schildern. De Kruif hatte es als einer der Ersten geschafft, der drögen Wissenschaft den human touch zu verleihen. Darin nun lag auch Schenzingers Ge­ heimnis - und auch Kurt W. Marek sollte sich als Ceram später im Vorwort zu Götter, Gräber und Gelehrte ausdrücklich auf de Kruif be­ rufen. Karl Aloys Schenzinger, 1886 geboren, hatte Medizin studiert, war während des Weltkriegs als Militärpsychiater tätig und promovierte später. 1923 ging er für zwei Jahre nach New York, wo er sich als Arzt

und Filmemacher durchschlug. Erste größere Aufmerksamkeit in Deutschland erregte er mit sei­ nem Roman vom Hitlerjungen Quex, erschienen 1932, der nach der Machtübernahme verfilmt wurde. Der Uraufführung des Streifens im September 1933 wohnten Baldur von Schirach als Reichsjugendfüh­ rer und Hitler selbst bei. Schenzinger war, so sind sich die Biografen einig, nie in der NSDAP, aber immerhin verlieh ihm die Hitlerjugend das goldene HJ-Abzeichen.45 Sein Anilin fügt sich in die Reihe der Rohstoffromane wie Radium, Vistra. Das weiße Gold Deutschlands, Metall usw. ein. Das NS-typische an Anilin lag gerade in der eher sub­ tilen Kumpanei mit dem Regime. Hier prangten nicht vordergründig die Symbole des neuen Staates, hier wurde auf einer anderen und er­ folgreicheren Ebene >Propaganda< betrieben. Der Text zeigt sich ganz in der Tradition einer Technikgläubigkeit, die dem Fortschritt sogar die Lösung gesellschaftlicher Probleme zutraut: auch dies ein Erbe der zwanziger Jahre. Am Anfang der Erzählung stehen der deutsche Chemiker Friedlieb Ferdinand Runge und seine Entdeckung des Ani­ linfarbstoffes. Die Tragik seines Lebens (und auch die der Figur in Schenzingers Buch) besteht darin, zu Lebzeiten nur noch den Be­ ginn der Anerkennung seiner Leistungen erfahren zu haben. Kont­ rastiert wird die Geschichte seiner Entdeckungen mit Erzählungen über den aus einer Pflanze gewonnenen Farbstoff Indigo. In Indien werden diese Pflanzen unter schwierigen, unmenschlichen Bedin­ gungen angebaut und nach Europa verschifft. Dort verdienen nur die Importeure, vor allem durch Spekulationen an der Rohstoffbörse in

248 Fakten, die verschleiern London. Der nationalistische Subtext kontrastiert englisches Spekulantentum mit deutschem Erfindergeist: hier der Drang zur Gewinn­ maximierung an den Börsen, dort der Wunsch, den technischen Fortschritt zum Wohl der Menschheit zu nutzen. Im Buch skizziert Schenzinger mit kühnem Strich die Geschichte der Entdeckung der Teerfarbstoffe und in ihrer Folge die Geburt der modernen chemi­ schen Industrie, in der deutsche Werke und deutsche Forscher eine Schlüsselstellung einnehmen. Das Buch gipfelt in der Gründung der I. G. Farben und folgt seinen Helden schließlich auf dem Weg in ein neues Deutschland, in dem zwar nicht die Hakenkreuzfahnen flat­ tern und auch kein >Führer< grüßt, aber das klar und sparsam als das Land der Nationalsozialisten charakterisiert wird. Dies reicht bis zur antisemitischen Anspielung, wenn ein Händlerring beschrieben wird, der die Verbreitung eines Malariamedikaments verhindern will und dem »vorwiegend Händler angehörten, die aus ihrem Blut und ihrer Gesinnung heraus dem neuen Deutschland nicht gewogen wa­ ren«46. Alle Erfindungen, die sich am Ende als segensreich für die Gesundheit der Weltbevölkerung erweisen, wurden von deutschen Forschern gemacht. Künstliche Farbstoffe werden entgegen den In­ teressen der englischen Kolonialmacht entwickelt und machen Far­ ben für jedermann erschwinglich. Obwohl die Siegermächte des Ers­ ten Weltkrieges massenhaft deutsche Patente verletzen, forschen die kühnen Wissenschaftler weiter. Besonders erfolgreich war Anilin, weil es ein fortschrittlicher Text war, der an die junge Tradition der Neuen Sachlichkeit anknüpfen konnte. Bis hin zur Sprache oder zu einzelnen Bildern berief er sich auf Vorbilder des Technikromans, etwa auf Bernhard Kellermanns Tunnel, vermutlich einen der ersten modernen Bestseller der deut­ schen Literatur: Hier wie da wurde Arbeit (und Forschung) mit der Sprache der Schlachtbeschreibung verbildlicht und sogar »die Refe­ renten sprachen wie die Heerführer vor der Entscheidungsschlacht«47. Beliebt war Anilin vermutlich auch deshalb, weil sich die beschriebene Lebenswirklichkeit dicht an der Lebenswirklichkeit der Mehrzahl der

Volksgenossen befand, die in den immer wichtiger werdenden Pro­ duktionsprozess eingespannt waren. Ebenso von Vorteil war mit Si-

Die Mutter aller (deutschen) Tatsachenromane: Schenzingers Anilin 249

cherheit, dass Schenzinger allzu offensichtliche Anbiederungen an die Machthaber unterließ. Und last, but not least war Anilin ein Lobbyisten-Roman, der die Interessen des mächtigen I.-G.-Farben-Konzerns in Literatur überführt und so schnell keine Angriffe der Literaturlen­ ker zu erwarten hatte. Genau diese Eigenschaften machten das Buch später so anschluss­ fähig. Schenzingers alter Verleger, Wilhelm Andermann, nahm nach 1945 den Faden wieder auf und führte Anilin in der jungen Bundes­ republik erneut zum Erfolg. Dass für die Nachkriegsausgaben das vo­ rangestellte Zitat des »Reichsministers Dr. Frick« gestrichen wurde, in dem vom »rassisch gesunden und unverbrauchten Volk«48 die Rede war, lag auf der Hand. 1949 kam als »durchgesehene und ergänzte« Auflage ein Buch auf den Markt, das in der Tat sehr gründlich durch­ gesehen und dabei aber weniger »ergänzt«, sondern an den entschei­ denden Stellen gekürzt worden war: Alle Hinweise auf die I.G. Farben, die durch ihre Verstrickung in den Völkermord in Misskredit gera­ ten war, waren nun getilgt, auch allzu militaristische Formulierungen wurden gelöscht. Ebenfalls sucht man abfällige Bemerkungen über die Siegermächte des Ersten Weltkrieges, insbesondere die Engländer (die jetzt auch wieder auf der Siegerseite saßen), vergeblich. Ein Satz wie »Wir sind eingeengt, geographisch, wirtschaftlich, politisch. Wir wollen leben!«49 hatte 1949 ausgedient. Andere Akzente waren leicht, aber entscheidend verschoben. So hieß es vor 1945: »Der künstliche Werkstoff ist zur deutschen Lebensfrage geworden.«50 Nunmehr un­ ter alliierter Kontrolle ganz im Sinne des Wiederaufbaus aber weniger militant: »Der künstliche Werkstoff bedingt heute die Zukunft der deutschen Wirtschaft.«51 In den durch Bücher wie Anilin in ihren Le­ segewohnheiten geprägten Buchkäufern fand auch Götter, Gräber und Gelehrte seinen Rezipientenkreis. Die Verbindungslinie führte von den zwanziger Jahren über die NS-Zeit bis in die Fünfziger. Ceram wurde nicht völlig voraussetzungslos zum Bestsellerautor. Aber wie ging Schenzingers eigene Geschichte nach 1945 weiter? Seine Vergangenheit als Schriftsteller war den Zeitgenossen in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren durchaus noch präsent. So wird der Autor zitiert (oder ihm in den Mund gelegt, so genau lässt

250 Fakten, die verschleiern sich das nicht sagen): »Ich bin kein Dichter. Ich will nur berichten, was los ist. Anilin habe ich geschrieben, ohne ein Chemiker, Metall ohne Techniker, Atom ohne Physiker - Quex ohne Nazi zu sein.«52 Tatsächlich hatte ihn die Spruchkammer in Landau an der Isar mit der Entscheidung vom 25. Mai 1948 in die Gruppe der Mitläufer ein­ gestuft. Er kam mit einer Geldsühne und den Verfahrenskosten da­ von, insgesamt rund 230 Mark. Gerade die Ideologieferne und die breite Anschlussfähigkeit, die seine Texte für die Propaganda im drit­ ten Reich< so interessant und bei den Lesern erfolgreich gemacht hat­ ten, dienten nun dem Autor als Entlastungsargument. Schenzinger habe, so führte sein Anwalt als Antwort auf die Anklageschrift aus, unter anderem für die liberale Frankfurter Zeitung gearbeitet, ansons­ ten habe er es abgelehnt, »parteigefällige Romane zu schreiben, dafür aber die bekannten Bücher Anilin und Metall [...], die alles eher als parteigefällig waren. Es wurde ihm deswegen von Verlegern und Buch­ händlern ein völliger Misserfolg dieser Bücher vorausgesagt. Dass sie trotzdem Millionen Auflagen erlebten, lag auf anderem Gebiet.«53 Schenzinger stilisiert seine schriftstellerische Tätigkeit geradezu zur Widerstandstat: Sein Roman Anilin sei als eine »Absage aufgefasst« worden. »Man hielt mich für einen Renegaten und ließ es mich mer­ ken.«54 Gerade in der Darstellung eines »freien wissenschaftlichen Schaffens« wollte der Autor nun Zeichen seines eigenen »tätlichen Widerstand[s] in der damaligen Zeit«55 erkennen. Schenzinger sah sich mindestens »seit 1935 zu diesen Ideologien mit Wort und Tat in Opposition« stehen. Die eigentliche Funktion dieser Art von Litera­ tur, die gerade in ihrer vermeintlichen Systemferne besonders stabili­ sierend wirkte und von Teilen der NS-Führungsriege um Goebbels be­ sonders gefördert wurde, kam vor der Kammer nicht zur Diskussion. Auch in der mündlichen Verhandlung konzentrierte man sich fast ausschließlich auf Buch und Film zum Hitlerjungen Quex, hier schien die Nähe Schenzingers zur NS-Ideologie am leichtesten nachweisbar. Für eine echte Verurteilung reichten diese Indizien allerdings eben­ falls nicht aus.

Die Über-Lebenslügen der Sachbuch->Erfinder< 251

Die Über-Lebenslügen der Sachbuch->ErfinderDritten Reicht begegnet. In seiner Biografie findet sich der Hinweis, er sei von 1932 bis 1933 Dramaturg am Deutschen Volkstheater in Berlin gewesen, wo er dann mit einem »Berufsverbot belegt«56 worden sei. Dies habe ihn zur Profession des Journalisten gebracht. Darin muss er so gut gewesen sein, dass er schon bald in dieser Funktion hauptberuflich für die Wirtschaftsgruppe der chemi­ schen Industrie tätig werden konnte.57 Dabei ist die Liste der von ihm veröffentlichten Bücher in den dreißiger und vierziger Jahren lang, schließlich konnte er sich auch weiterhin freiberuflich betätigen. Un­ ter seinen Publikationen finden sich kolonialgeschichtliche Titel wie Europa blickt nach Afrika oder Auf den Spuren des Secret Service, die alle in ansehnlichen Auflagen erschienen. Auf den Spuren des Secret Service war Teil einer Propagandamaßnahme. Das am Abend des 8. Novem­ ber 1939 auf Adolf Hitler verübte Bombenattentat sollte dem briti­ schen Geheimdienst in die Schuhe geschoben werden. Die National­ sozialisten wollten alles dafür tun, den Deutschen Georg Elser nicht als Alleintäter und Widerstandskämpfer dastehen zu lassen. »Der At­ tentäter wurde gefasst - seine Auftraggeber ermittelt. Und das ganze deutsche Volk stellte sich die Frage: Wo sitzen die geistigen Urheber dieses Mordanschlags?«58 Fest steht, dass der Nibelungen-Verlag, in dem Wehrenalps Pamphlet gleich im ersten Jahr auf eine 80000erAuflage kam, als zunächst antikommunistischer Verlag vom Propa­ gandaministerium gegründet worden war. Der Verlagsleiter, Eberhard

252 Fakten, die verschleiern Taubert, war in Personalunion Mitarbeiter bei Goebbels, zuletzt im Rang eines Ministerialrats.59 Breiteren Kreisen bekannt sein dürfte er als Autor des Skripts für den Film Der ewige Jude. Nach dem Hit­ ler-Stalin-Pakt musste die Verlagsproduktion bei Nibelungen kurzzei­ tig umgestellt werden. Die Broschüre wider das britische Empire aus Wehrenalps Feder war Teil dieser Neuorientierung. Auch der Begleit­ band zum beliebtesten Multimedia-Projekt der NS-Zeit Wunschkon­ zert für die Wehrmacht sollte bald bei Nibelungen erscheinen. Klar blieb die gegen die >Feinde Deutschlands< gerichtete verlagspolitische Linie des Hauses. Hier gab es wohl kaum ein Buch, das nicht durch direkte Einflussnahme aus dem Partei- oder Staatsapparat ins Pro­ gramm gehievt wurde. Während sich für das von Wehrenalp später vermutlich selbst ins Spiel gebrachte >Berufsverbot< keine Belege finden lassen, seine Hinter­ gründe im Unklaren bleiben, gewinnt die publizistisch-propagandisti­ sche Tätigkeit des Autors nur allzu deutliche Konturen. Auch weitere Titel, die ihm zugeschrieben werden, aber als verschollen gelten (wie eine Broschüre Juden mit der weißen Weste), lassen auf reinste Propa­ ganda schließen. Solche Veröffentlichungen hatten ihm damals »ein positives Gutachten des SS-Ahnenerbe eingetragen«60. Eine Verbindung zur SS ist auch beim Secret-Service-Buch Wehrenalps nicht ganz aus­ zuschließen. Immerhin wird Heinrich Himmler als Chef der deutschen Polizei sehr exponiert gleich im Vorwort genannt. Auf alle Fälle diente die Broschüre der Verbreitung der von den Nationalsozialisten in die Welt gesetzten Behauptung, dass Elser Teil einer groß angelegten Ver­ schwörung gewesen sein müsse. Und so wird Otto Strasser, der im Exil lebende ehemalige NS-Gefolgsmann, bei Wehrenalp schon auf Seite 11 als »der Organisator des Münchener Anschlags«61 benannt. Schon bald nach dem Krieg schien diese Tätigkeit keinen Schatten mehr auf den Autor und Verleger zu werfen. 1950 gründete er den Economia-Verlag, der unter dem Kurznamen Econ zeitweise zu einem der wichtigsten Sachbuchverlage der frühen Bundesrepublik aufstieg. Heute gehört Econ als Imprint zur Ullstein-Verlagsgruppe, auf deren Homepage Erwin Barth von Wehrenalp noch immer als »Erfinder des modernen Sachbuchs in Deutschland«62 gepriesen wird. Nicht zu-

Die Über-Lebenslügen der Sachbuch->Erfinder< 253 letzt so programmatische Titel wie Wohlstand für alle des damaligen Wirtschaftsministers Ludwig Erhard machten das Verlagshaus Econ zu einem Aushängeschild des Wirtschaftswunderlands. Wenn auch sicher nicht der Erfinder des modernen Sachbuchs, so »war [Weh­ renalp] vermutlich der erste, der - nach anfänglichem Zögern - den von Bibliothekaren und Volksbildnern stets pejorativ eingesetzten Begriff >Sachbuch< offensiv für seine Produkte positiv besetzt hat«63 und in der Werbung einsetzte. Auch sei »die Durchsetzung des Sach­ buchs als Titel der rechten Spalte der Bestsellerlisten durchaus auf die Freundschaft Wehrenalps mit Bodo von Harenberg zurückzuführen, der die Listen zu Beginn der sechziger Jahre für seinen Buchreport zu­ sammenzustellen begann«64. Den Durchbruch brachte für den Ver­ lag das Buch von Werner Keller Und die Bibel hat doch recht, das schon wenige Jahre nach dem Ersterscheinen 1955 die halbe Millionen­ marke überschritt, 1960 in 17 Sprachen übersetzt war, bei einer dann geschätzten Gesamtauflage von 1,5 Millionen.65 Wie bereits der Un­ tertitel Forscher beweisen die historische Wahrheit verrät, versucht Kel­ ler die aus Altem und Neuem Testament bekannten Bibelgeschich­ ten mit Erkenntnissen aus der Archäologie in Verbindung zu bringen. Der Autor beschreibt fachwissenschaftliche Erkenntnisse allgemein­ verständlich und stellt sie plakativ einzelnen Bibelzitaten gegenüber. Die Aktualisierung und Verifizierung des Bibelstoffes durch Erkennt­ nisse der Wissenschaft fand damals ein breites, aufnahmewilliges Publikum. - Wenige Jahre danach gefolgt von Rudolf Pörtners Mit dem Fahrstuhl in die Römerzeit. Schon diese beiden Econ-Titel zeigen eine wichtige Zutat für einen modernen Bestseller: einen schlagkräftigen Titel, der Markencharakter erreicht. Es wird kolportiert, Konrad Adenauer sei von den Econ-Wortschöpfungen so angetan gewesen, dass er seinen Wirtschaftsminister den Econ-Autor Erhard - gefragt haben soll, ob der Econ-Texter nicht auch für die CDU Werbeslogans entwickeln könne.66 Es gibt viele Hinweise darauf, dass sich Keller für sein Buch auch von Ceram inspirieren ließ. Und schon die Zeit fragte in ihrer Rezen­ sion: »Wird Werner Kellers Buch ein Welterfolg ä la Ceram?«67 1 9 5 0 habe er begonnen, sich mit dem Thema zu beschäftigen, schreibt Kel-

254 Fakten, die verschleiern ler im Vorwort. Wehrenalp soll auf Keller durch einen Zeitungsartikel aufmerksam geworden sein - er unterbreitete Keller das Konzept und finanzierte dessen Arbeit über zwei Jahre hinweg.68 Von seiner Ausbil­ dung her war der 1909 geborene Keller Jurist. Ende Juli 1932 war er »aus Überzeugung«6’, wie der damalige Referendar am Berliner Kam­ mergericht schrieb, in die NSDAP eingetreten. 1933 zum Dr.jur. pro­ moviert, arbeitete er von 1937 an als Journalist. »Im Berliner Tagblatt berichtete er u. a. über germanische Königsgräber in Ostfriesland oder das Wrack eines Wikingerschiffs am Nordkap. Versunkene Kulturen wurden zu seinem Hauptthema. Seine Sprachkenntnisse (Englisch, Französisch, Norwegisch und Italienisch) erleichterten ihm seine Re­ cherchen.«70 In den fünfziger Jahren sahen Journalisten Kellers Buch auch als eine Maschine der Wunscherfüllung beim Lesepublikum: »[...] es be­ friedigt das weitverbreitete Interesse an der Archäologie, also an zuver­ lässigen Zeugnissen über die Vergangenheit und Herkunft des Men­ schen; es kommt der Sehnsucht nach dem Glauben entgegen, indem es eine sozusagen wissenschaftlich fundierte Brücke zum Inhalt der Bibel zumindest anbietet.«71 Im Zentrum von Kellers Erfolgsbuch steht das jüdische Volk, des­ sen Geschichte in der Bibel erzählt wird. Allerdings finden wir bei ihm keinen einzigen Hinweis darauf, dass das schlimmste Leiden die­ ses Volkes erst vor zehn Jahren beendet wurde und im Wesentlichen von den Deutschen verursacht worden war. Und die Bibel hat doch recht ist ein Buch der Versöhnung - indem sich die ehemaligen Pei­ niger mit ihren Opfern versöhnen, freilich ohne auf ihre eigenen Ta­ ten in irgendeiner Weise einzugehen. So ließe sich Kellers Verkaufs­ schlager interpretieren. Freilich müsste in einem archäologischen Werk die jüngste Vergangenheit nicht zwangsläufig thematisiert wer­ den. Aber vielleicht doch in einem Buch, das in Deutschland von ei­ nem Deutschen nur wenige Jahre nach dem Holocaust geschrieben wurde? Stattdessen entwirft der Autor unter der Überschrift »Wie­ deraufbau nach der Bibel« ein letztes Kapitel, in dem er auf die Ge­ genwart (aus damaliger Sicht) des Staates Israel eingeht. Hier ist vom »neuen Staatsgebiet« die Rede und davon, dass »die unerfahrenen

Die Über-Lebenslügen der Sachbuch->Erfinder< 255 Neusiedler, denen das Land zudem völlig unbekannt war, [...] im Al­ ten Testament einen unschätzbaren Helfer«72 fanden. Woher diese Neusiedler kamen, was ihr Schicksal war - es wird mit keinem Wort erwähnt. »Die Menschenverluste der Juden sind unvorstellbar hoch«, so wird nicht etwa den Toten des deutschen Vernichtungswillens gedacht, sondern den Opfern längst vergangener Epochen: »Während der Be­ lagerung befanden sich nach den Angaben des Tacitus 600000 Men­ schen in der Stadt. Flavius Josephus gibt die Zahl der Gefangenen, die Gekreuzigten und die Aufgeschlitzten nicht gerechnet, mit 97 000 an und fügt hinzu, daß aus einem Stadttor allein innerhalb von drei Monaten 115 800 Leichname von den Juden hinausgeschafft wur­ den.«73 Und weiter: »Der größte Teil der Bevölkerung des Gelobten Landes, der nicht im blutigen Jüdischen Krieg der Jahre 66 bis 70 und beim Aufstand des Bar-Kochba 132 bis 135 ums Leben gekommen war, wurde in die Sklaverei verkauft.«74 Weitere Analogien zur jüngs­ ten deutschen Geschichte mit der Pogromnacht, in der in Deutsch­ land an vielen Orten die Synagogen brannten, können sich auftun: »Die Synagogen wurden zerschlagen, auch von dem Gotteshaus im stillen Kapernaum blieben nur Trümmer. Eine unerbittliche Schick­ salshand hatte Israels Rolle in der Partitur der Völker gestrichen.«75 Und wie überall im ganzen Werk wird als Beleg (nicht zuletzt für den Haupttitel Und die Bibel hat doch recht) eine Textstelle aus der Heiligen Schrift zitiert, die das Verschwinden des jüdischen Volkes gewisserma­ ßen auch aus dem Wort Gottes rechtfertigt: »Und sie werden fallen durch des Schwertes Schärfe und gefangen geführt werden unter alle Völker.«76 Aber wohlgemerkt: Die Rede ist stets von dem Leiden der Juden in der Antike. Und auch bestimmte antisemitische Grundmus­ ter schwingen beständig mit, etwa wenn behauptet wird, die >Theorie< von Houston Stewart Chamberlain, Jesus sei der uneheliche Sohn ei­ nes römischen Legionärs (also halber >Arierbiblischer< Hilfe, wieder aufgebaut. Und am Ende des Buchs steht wiederum ein Bibelzitat: »Das verwüstete Land soll wieder gepflügt werden/da­ für, dass es verheert war/dass es sehen sollen alle/die da durchge­ hen/und sagen/dies Land war verheert/und jetzt ist’s wieder der Garten Eden.«79 Die tiefe Wunde, zum Volk der Täter zu gehören, war zumindest bei dieser Lektüre geheilt und verschwunden.

Sachbuch im Sozialismus: Die Dame Perlon und andere Geschichten Wie aber zeigten sich Kontinuitäten im Bereich des Sachbuchs im Os­ ten Deutschlands? Gab es dort überhaupt vergleichbare Literatur? Um es kurz zu machen: Auch in diesen Segmenten der Textproduktion dürften die vor 1945 besonders exponierten Leute ihre Zukunft eher im Westen gesucht haben. Ganz frei von Spuren der Vergangenheit war aber auch die DDR nicht. Es handelte sich eben um ein gesamt­ deutsches Erbe. Allerdings hatte der große Boom des Sachbuchs in der Bundesrepublik im Osten kein Pendant. Zudem war der Begriff Sach­ buch in der DDR eher negativ besetzt. »Die unter dieser Bezeichnung im michtsozialistischen Ausland< entstandenen Bücher wurden allein unter den Aspekten der Manipulation und der Gewinnmaximierung betrachtet. Statt dessen favorisierte man die Bezeichnung populär­ wissenschaftliche Literatun.«80 Hannes Hornig, Leiter der Abteilung Wissenschaften des ZK der SED, skizzierte Anfang der sechziger Jahre einige grundsätzliche Eigenschaften dieser populärwissenschaftli­ chen Literatun. »Populärwissenschaftliche Texte seien in der Lage,

Sachbuch im Sozialismus: Die Dame Perlon und andere Geschichten 257

die vermeintlichen Geheimnisse der Entwicklung von Natur und Ge­ sellschaft transparent zu machen. Sie seien klar vom Fachschrifttum zu unterscheiden und dienten einer breiten Allgemeinbildung. In den Augen Hörnigs war es das pädagogische Geschick, über das die Auto­ ren von Sachtexten, neben der fachlichen Qualifikation, in besonde­ rem Maße verfügen sollten.«81 Zu den hoch aufgelegten Sachbüchern in der DDR zählten bald jene Bände, die als offizielle Gabe zur Jugendweihe eingesetzt wurden. Das war von 1954 an Weltall, Erde, Mensch, ein Sammelband, der den Jugendlichen ein materialistisch-atheistisches Weltbild vermit­ teln sollte. Die Erstauflage, mit einem Vorwort von Walter Ulbricht versehen, erschien im Verlag Neues Leben mit 120000 Exemplaren. 1960 wurde der Band dann abgelöst von Unsere Welt von morgen, das schon nach gut eineinhalb Jahren eine Auflage von 320000 Stück er­ reichte.82 Beide Bände zeigten, wohin die Reise gehen sollte: Es ging um nicht mehr und nicht weniger als die Erziehung des sozialisti­

schen Menschen. Blickt man allerdings auf einzelne Titel aus den fünfziger Jahren, so zeigen sich auch wieder viele Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West. Die Dame Perlon, eine Sammlung von Reportagen aus der Welt der Industrie, ist so ein Beispiel. Der Band von Dieter Noll, 1953 bei Aufbau erschienen, entwickelte zwar keine Bestsellerqualitäten, zeigte aber deutliche Parallelen zum Rohstoffroman im Westen. Auch hier sollten aus Alltagswelten Abenteuergeschichten werden: »Rauchende Schlote zwischen den Bergen, Laboratorien mit zischenden Bunsen­ brennern, kreisende Seilscheiben eines Förderturms und das Dröh­ nen der Pickhämmer am Flöz - das ist die Welt, die Dieter Noll als Entdecker und Berichterstatter durchstreift«83 heißt es im Klappen­ text. Ja, es wird auch das Hohelied auf den Arbeiter-und-Bauern-Staat und seine Produktionsstätten gesungen, mit allen Mitteln: »So be­ ginne denn das Evangelium von der Perlonfaser mit den Worten: Am Anfang war die Steinkohle, und die Steinkohle war bei Volkspolen, doch Polen gab die Steinkohle. Das hat mit seinen Paragraphen ein Handelsvertrag getan.«84 Aber trotz der offensichtlichen Tendenz ist der Band erhellend, weil an vielen Stellen durchblitzt, dass es eben

258 Fakten, die verschleiern keine Stunde Null gab, sondern auch in der Industrie (logischer­ weise) an Vorangegangenes angeknüpft werden musste. So begegnen wir der künstlichen Zellwolle wieder: VISTRA. »Nun ja, für VISTRA >das weiße Gold Deutschlands^ wurde in der Vergangenheit wahrlich genug Reklame gemacht, und manches Buch wurde darüber geschrie­ ben. Wir können uns weitere Worte sparen.«85 Damit spielte Noll auf die Rohstoffromane an (VISTRA, das weiße Gold Deutschlands war von Hans Dominik geschrieben worden). Allein jetzt gingen die Produk­ tionsmittel »in die Hände des Volkes über«86 und ward - folgt man dem Autor - alles >gutNichts< in Wirklichkeit anders aus. Knöll gehörte seit 1932 der NSDAP an, von 32 bis 35 auch der SA.89 Er soll bereits 1942 die erste »großtechni­ sche Penicillinproduktion auf dem europäischen Festland«90 angesto­ ßen haben. Von alldem findet sich bei Dieter Noll kein Wort, aber auch die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, de­ ren Mitglied Knöll war, schweigt sich dazu in ihrem (zugegebener­ maßen) sehr knappen Eintrag zu Hans Knöll auf der eigenen Home­ page aus.91 Fest steht, es gab entsprechende Labore und Forschungen bereits vor 1945.

> Dieter Noll 1961 zu Besuch bei der Jugendbrigade »Heinz Kapelle« in einem Berliner Metallwerk. Die Jugend­ lichen und der Autor hatten sich zuvor über den Roman Die Abenteuer des Werner Holt unterhalten.

260 Fakten, die verschleiern

Mikrobenjager im SED-Staat: Werner Quednaus Robert Koch Die Bereiche der Wissenschaft, die schon bei de Kruifs Mikrobenjä­ gern im Mittelpunkt standen, wurden auch in der DDR publizistisch beleuchtet. Hier fügt sich Werner Quednau mit seinem Buch über Robert Koch ein. Auch Quednau zeigt sich an Schenzinger und ande­ ren Vorbildern geschult. »>Mutter! Mutter!< ruft es erregt durch das Haus. [...] >Denk mal, Mutter, Robert hat eine Ratte auf dem Tisch lie­ gen und schneidet ihr mit dem Küchenmesser den Bauch auf!alten Heldern waren auf neuen Kurs zu bringen. Und im Lektoratsgutachten hatte Johannes Bobrowski für den Altberliner Verlag seine Bewertung festgehalten: »Abschließend: Eine vorzügliche Arbeit, eine längst nötige dazu, deren Aktualität durch die bekann­ ten Hinweise Walter Ulbrichts klarsteht. Über die wissenschaftliche Belehrung hinaus, bringt es den Leser zu recht verstandenem Stolz auf die großen humanistischen Leistungen unseres Volkes, verpflich­ tet zur Nacheiferung, zu Fleiß und Ausdauer und stellt eindringlich Größe und Wert unseres Vaterlandes ohne Überheblichkeit vor Au­ gen.«96 Bobrowski bezog sich wohl auf Ausführungen Ulbrichts zum Fünfjahresplan gut ein Jahr zuvor, bei denen der Generalsekretär des

262 Fakten, die verschleiern

Zentralkomitees der SED die »Pflege unseres großen nationalen wis­ senschaftlichen Erbes«97 anmahnte und als einen Träger dieses Erbes

auch Robert Koch nannte. Allerdings bedurfte es trotz dieser Rückendeckung einer erneu­ ten Vorlage der >Vergleichsliteratur< beim Amt, bis schließlich »nach nochmaliger gründlicher Prüfung des Manuskripts und der vorgeleg­ ten Literatur über Robert Koch«98 im Januar 1954 die Druckgeneh­ migung erteilt werden konnte. Quednau, der ursprünglich Bäcker gelernt hatte, bevor er als freier Autor arbeitete,99 konnte noch weitere ähnliche Projekte in der DDR verlegen. Allerdings wurde er Ende der fünfziger Jahre von seiner Ver­ gangenheit eingeholt. Unter anderem war im Spiegel zu lesen, der SED-Genosse Quednau sei »wegen Fragebogenfälschung« aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen worden. Dort habe er, so das Nachrichtenmagazin weiter, verschwiegen, dass er in der NSDAP war, für die SS gearbeitet habe und sogar in der »Leibstandarte Adolf Hit­ ler« gewesen sei.100 Auch das Ministerium für Staatsicherheit ließ, freilich viel später, eine Karteikarte anlegen, auf der ähnliche Vermu­ tungen festgehalten wurden.101 Fest steht jedenfalls, dass Quednau fortan seine Karriere in Westdeutschland fortsetzte und nach Braun­ schweig übersiedelte. Seine nächsten Bücher erschienen im Sigbert Mohn Verlag, einem Teil der Bertelsmann-Verlagsgruppe.

Grenzgänger als Erfolgsautoren: Barckhausen, Stuck, von Brauchitsch Und es gab im Segment der Sachbücher noch weitere Grenzgänger in diesen frühen Jahren. Zu ihnen gehörte Joachim Barckhausen, Autor und Drehbuchschreiber, von 1937 an mit Elfriede Brüning verheira­ tet. Aus der Ehe ging eine gemeinsame Tochter hervor. Barckhausen sah sich in der NS-Zeit mit »kriegswichtigen schriftstellerischen Auf­ gaben«102 betraut. Er war Autor von Ohm Krüger, einem Buch über den südafrikanischen Burenführer Paul Krüger. Zum selben Stoff war bereits 1941 ein NS-Propagandafilm mit stark antibritischer Tendenz

Grenzgänger als Erfolgsautoren: Barckhausen, Stuck, von Brauchitsch 263 entstanden. Aber die Tatsache, dass Barckhausens Ohm Krüger in die Liste der auszusondernden Literatur der Deutschen Verwaltung für Volksbildung aufgenommen worden war,103 schien eine weitere Betä­ tigung als Autor in der DDR nicht zu behindern. Obwohl er in einer anderen, von der Abteilung Volksbildung des Magistrats von Berlin herausgegebenen Liste sogar unter die Autoren geriet, deren »sämtli­ che Werke aus dem Bestände zu entfernen sind«.104 Barckhausen war darin mit dem Adjektiv »völkisch« gekennzeichnet. Trotzdem konnte er 1950 das Begleitbuch zum DEFA-Film Semmelweis. Retter der Müt­ ter herausgeben, gemeinsam mit Alexander Graf Stenbock-Fermor. Dieses Filmbegleitbuch, das auch Standfotos und Drehbuchauszüge enthielt, erschien allerdings nur in einer Auflage. Unterm Strich war Barckhausen für die DEFA vor allem als Drehbuchschreiber aktiv. Im Nachwort zur Autobiografie Stenbock-Fermors viele Jahre später blieb Barckhausens Blick auf die Vergangenheit allerdings unscharf. Der Rote Graf, 1973 erstmals im Verlag der Nation erschienen, kam auf mehrere Auflagen. Für den Verlag war es ein exemplarisches Stück Wandlungsliteratur, das den Weg von Angehörigen anderer Schich­ tern auf die Seite der >Arbeiterbewegung< zeige - so ließe sich in etwa die Intention beschreiben. Da Stenbock-Fermor während der Arbeit an der Autobiografie verstorben war, habe man Barckhausen, »in Westberlin lebender langjähriger Freund und Ko-Autor Stenbock-Fer­ mors bei zahlreichen DEFA-Filmen«, um Hilfe gebeten. Die Vertre­ ter des Verlags zeigten sich mit seiner Arbeit hochzufrieden: »Barck­ hausen brachte für diese Aufgabe schriftstellerische Erfahrung, intime Detailkenntnis und den Wunsch mit, dem Verstorbenen einen Freun­ desdienst zu leisten. Der Epilog fiel sowohl von der politisch-sachli­ chen Information als auch von der Anschaulichkeit her wesentlich besser aus, als die vorliegende Autorfassung.«105 Die Botschaft, die von diesen Gewandelten ausging, schien ihre problematische Vergangenheit vergessen zu machen. Schon die erste Auflage der Autobiografie des Roten Grafen umfasste 20000 Stück. Weitere Ausgaben sollten folgen. Barckhausen schrieb mit Blick auf sein eigenes Verhältnis zu den NS-Machthabern, er habe zwar einen Autorenvertrag mit der UFA ab-

264 Fakten, die verschleiern geschlossen, »wurde aber kurz nach der sogenannten Machtergreifung wieder an die Luft gesetzt«106. Von Ohm Krüger keine Rede, keine Spur. Im Gegenteil: »Einige Versuche, wenigstens als freier Mitarbeiter ins Geschäft zu kommen, schlugen fehl. Immer hatten die damaligen Her­ ren des großdeutschen Films ein Haar in meiner Suppe gefunden.«107

Andere Projekte werden ähnlich motiviert gewesen sein. Bestimmte Lesebedürfnisse sollten gedeckt werden - auch wenn die Biografie der Protagonisten manche Besonderheit aufwies. So ist erstaunlich, dass mit Der Bergkönig eine Autobiografie des deutsch-österreichischen Rennfahrers Hans Stuck exklusiv beim Sportverlag in der DDR er­ scheinen konnte, immerhin in einer Auflage von 40000. Und das, ob­ wohl der Rennfahrer eine große Zeit im >Dritten Reich< hatte und da­ nach im Westen lebte. Noch erfolgreicher waren dann die Werke von Manfred von Brauchitsch. Ebenfalls eines der Rennidole der NS-Zeit, das aber später in die DDR übersiedelte und dort als Sportfunktionär tätig war. »Der Autor betrachtet vor allem, wie der Rennsport vom NS-Regime propagandistisch ausgenutzt wurde [...]. Nach dem Kriege wendet sich der Autor in Westdeutschland gegen das Wiederaufleben der alten verderblichen Politik des Krieges [...], bis er schließlich in der DDR eine neue Heimat findet.«108 Hier schien die Nachfrage so groß, dass in kurzer Zeit eine 60 000er-Auflage produziert werden sollte und das größte Problem des Verlags und der Hauptverwaltung Verlage da­ rin bestand, dieses mit den vorhandenen Druckkapazitäten und mög­ lichst rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft zu realisieren.

Neues von Fischen und Pferden? Hans Hass und Clemens Laar Manche Personen sind für uns so fest mit einer bestimmten Dekade verbunden, dass wir uns ein Leben davor oder danach für diese Vertre­ ter ihrer Zeit kaum vorstellen können. Wie Hans Hass und seine Frau Lotte, beide scheinbar stets in blauen Lagunen schwimmend und auf der Jagd nach exotischen Tieren unter Wasser. Lotte, das >Mädchen

Neues von Fischen und Pferden? Hans Hass und Clemens Laar 265 auf dem Meeresgrund^ war eine Unterwasser-Ikone der fünfziger und sechziger Jahre, die nicht zuletzt durch Film und Fernsehen in un­ sere Wohnzimmer kam. »Zwischen 1939 und 2005 wurden von Hans Hass 32 deutschsprachige Erstausgaben publiziert, von diesen Titeln erschienen insgesamt 84 Übersetzungen in 22 Sprachen. Die Titel mit den meisten Übersetzungen sind Wir kommen aus dem Meer von 1957 (12 verschiedensprachige Ausgaben) und Drei Jäger auf dem Meeres­ grund von 1947 (11 verschiedensprachige Ausgaben)«109, so kann man auf der Homepage des erst 2013 verstorbenen Meeresforschers (Jahr­ gang 1919) lesen. Den Grundstock für seine Bekanntheit und seinen späteren Erfolg hat Hass jedoch schon zuvor gelegt. 1939, im Jahr des Kriegsbeginns, erschien von ihm Jagd unter Wasser mit Harpune und Kamera bei Kosmos in Stuttgart. Zwei Jahre später dann Unter Ko­ rallen und Haien. Abenteuer in der Karibischen See im Deutschen Ver­ lag Berlin. Letzteres kam damals in einer ansehnlichen Auflage von 57000 Exemplaren auf den Markt. Schon für die unmittelbaren Fol­ gejahre sind dänische, schwedische, lettische und tschechische Ausga­ ben nachweisbar. Bis 1961 kam der Titel auf eine Gesamtauflage von 275000 Exemplaren, allerdings nun wieder unter dem alten Verlags­ namen des Deutschen Verlags: Ullstein. Was in zahlreichen Nachru­ fen auf die Person so oder ähnlich geäußert wurde, er habe nach dem Krieg die Unterwasserwelt einem breiten Publikum nähergebracht, ist also nur die halbe Wahrheit. Das Publikum war in Teilen bereits gut vorbereitet und kannte den Autor. Der Grundstock für die Marke >Hans Hass< war im deutschsprachigen Raum (oder besser: im von Deutschen besetzten Raum) bereits gelegt. In Hass’ Frühwerk leuch­ teten die Zeichen der Zeit nur wie von fern hinein, etwa wenn auf ei­ nem Foto ein deutsches Handelsschiff zu sehen ist, das auf der Kari­ bikinsel Cura?ao »durch den Krieg festgehalten«110 wurde. Und beim Vorgriff auf weitere Abenteuer heißt es: »Mein Blick forscht weiter in die Zukunft. Noch tobt der Krieg, noch muss das Vaterland für sein großes Ziel kämpfen auf Leben und Tod; doch dann, wenn der Sieg er­ rungen ist, wird ein herrlicher großer Friede die Völker umschließen. Dann wird auch der Tag der Verwirklichung meiner großen Pläne ge­

kommen sein.«111

266 Fakten, die verschleiern Eine andere sportliche Erfolgsgeschichte über das Jahr 1945 hinweg ist die von Clemens Laar, mit bürgerlichem Namen Eberhard Koebsell. Clemens Laar, ein Unterhaltungsschriftsteller, dessen Karriere in den dreißiger Jahren begann, wurde vor allem für seine Pferdebücher bekannt. Das populärste,... reitet für Deutschland, erschien von 1936 bis 1980 in unterschiedlichsten Ausgaben und bis zu einer Auflage von zuletzt 197000 Stück. Sein Autor erlebte diesen langen Atem sei­ nes Buches nicht mehr, er nahm sich - von der Öffentlichkeit auf­

merksam registriert - 1960 auf dem Balkon seiner Villa im Berliner

Grunewald das Leben.112 Laar war ein Profi- und Vielschreiber, vor 1945 mit zahlreichen mi­ litärischen Themen in populärer Aufmachung, etwa aus dem Bereich der Marine. In den fünfziger Jahren geriet er in eine juristische Ausei­ nandersetzung mit dem Berliner Verleger Ernst Staneck, der mit Laar einen Vertrag über einige Buchprojekte abgeschlossen hatte, daraus aber Exklusivrechte ableiten wollte - schlussendlich jedoch vor Ge­ richt unterlag. Laar sei, so heißt es im Urteil des Bundesgerichtshofs, »vor dem Kriege als Schriftsteller tätig und durch die Abfassung von Tatsachenberichten auf militärischem Gebiet bekannt geworden«.113 »Man wird fragen, was Verlag und Autor bewogen hat, im Jahre 1950 ein Buch herauszugeben, das zum ersten Male im Jahre 1936 in Erscheinung trat und somit in einer gewissen Zwangsläufigkeit in eine Ära zu gehören scheint, die überwunden bleiben soll«, so beginnt die Nachkriegsausgabe von Clemens Laars... reitet für Deutschland. CarlFriedrich Freiherr von Langen. Ein ReiterschicksaF™. Vergleicht man den Text mit einer der Vorkriegsausgaben, so ist die Antwort ganz einfach: Das Publikum war noch da, Nachholbedarf in >nationalen< Dingen gab es wieder - und ansonsten war der Text so gründlich überarbeitet, dass er in der neuen Zeit nur wenig Anstoß erregen konnte. In dem Buch wurde die Geschichte des populären deutschen Tur-

> »Die spannende Form der Darstellung und das einzigartige, menschlich große Schicksal des Freiherrn von Langen erklären den großen Erfolg des Buches mit einer deutschen Gesamtauflage von 157000 Stück.« Aus dem Klappentext der Ausgabe von 1950.

Carl Friedrich von

LANGEN ein Reiterschicksal von

CLEMENS LAAK

268 Fakten, die verschleiern nierreiters Freiherr von Langen geschildert, der schwer verwundet aus dem Ersten Weltkrieg zurückkam, dann ganz im Reitsport aufging und große, internationale Erfolge feierte. Unter anderem bei den Olympi­ schen Spielen 1928 in Amsterdam. Reiter und Pferd bilden hier ge­ wissermaßen ein Sinnbild für die Wiederauferstehung Deutschlands. Freiherr von Langen kam 1934 bei einem Reitturnier ums Leben. Im Vorwort des Reichssportführers zur Ausgabe von vor 1945 heißt es: »Er starb für uns und die Ehre der SA! Ein vorbildliches Sterben be­ endete sein Leben, das ebenso vorbildlich war.«115 Basierend auf dem Buch entstand ein Film, der für Goebbels »von nationaler Bedeutung« gewesen sei und ein großes Publikum anzog.116 Die Unterschiede zwi­ schen der Vorkriegs- und der Nachkriegsausgabe des Buches sind frappierend. Das fängt schon beim Untertitel an, wo aus dem »Kämp­ ferschicksal« (1936) ein »Reiterschicksal« (1950) wird; während in den älteren Ausgaben noch seine Regimetreue und Gläubigkeit her­ vorgehoben werden: Von »Sturm 3 stillgestandenI Alles herhören! Von heute ab tut der SA.-Anwärter Langen bei uns Dienst«117 ist in der Ausgabe von 1950 von SA nicht mehr die Rede: »Alles herhören! Von heute ab tut der Anwärter Langen bei uns Dienst«118 lesen wir dort etwas vage. Die Haltung von Langens war vom Autor gleich zweifach gedeutet worden. Zunächst wurde aus ihm ein gläubiger Anhänger des neuen Regimes gemacht: »[...] und er wirbt für die Idee, an der er mit fana­ tischer Gläubigkeit hängt«, so lautet ein Satz, der in der Nachkriegs­ ausgabe gestrichen ist. »Weil es sein muss, weil er es so fühlt«119 - ein zweiter, der ebenfalls entfällt. Stattdessen wird er nun zu einem Zweif­ ler stilisiert, der zwar an das neue Regime glaubte, aber letztlich ent­ täuscht und in seinem Glauben verraten wurde. Er habe es »verbissen und trotzig [abgelehnt], ein Parteigenosse zu werden«120 kann man der Nachkriegsausgabe entnehmen. Außerdem habe er sich gegen den Antisemitismus der Nationalsozialisten zumindest in seinem direk­ ten Umfeld zur Wehr gesetzt. In der Ausgabe von 1950 wird aus dem Heldentod für den Nationalsozialismus fast so etwas wie ein Aufop­ fern im Kampf gegen das Regime: »So wurde Karl Friedrich von Lan­ gen Chef-Reiterführer mit dem Recht oder besser gesagt der Pflicht,

Neues von Fischen und Pferden? Hans Hass und Clemens Laar 269 bei feierlichen und offiziellen Anlässen in irgendeinem Gefolge mit­ zureiten. Karl Friedrich von Langen aber blieb gläubig. Und deshalb

musste er sterben.«121 Der >Reiter für Deutschland< war jenseits der politischen Deutun­ gen vor und nach 1945 anschlussfähig. Die Figur spiegelte das Emp­ finden ihrer Leser. Aus Mitläufern und Anhängern des Regimes waren

nun Skeptiker und Kritiker geworden.

KLEINE FLUCHTEN Gefällige Weltunterhaltungsliteratur

Aus Deutschland in die Welt: Annemarie Selinkos Désirée Die Geschichte der französischen Bürgerin Bernadine Eugénie Dési­ rée Clary wurde zum erfolgreichsten Nachkriegsbuch überhaupt. Von Annemarie Selinkos Roman Désirée wurden zwischen 1951 und 1960 im deutschen Sprachraum, Buchklubausgaben eingeschlossen, wohl um die 1,8 Millionen Exemplare gedruckt, allein der Bertelsmann Le­ sering war daran mit über 800000 Stück beteiligt.1 Überflügelt wurde die Selinko in diesem Zeitraum nur von dem Dauerseller Und ewig singen die Wälder des Norwegers Trygve Gulbranssen, der mit seinen Björndal-Romanen schon seit den dreißiger Jahren international und auf dem deutschen Markt gigantische Auflagenzahlen erreichte. Se­ linko war nicht nur in dieser Zeit die mit Abstand kommerziell wich­ tigste Autorin für den Kölner Verleger Joseph Caspar Witsch, sondern auch einer der seltenen Fälle, in denen eine internationale Bestsel­ lerkarriere mit einer deutschen Originalausgabe begann. Im Som­ mer 1953 hielt sich das Buch über viele Wochen sogar an der Spitze der US-amerikanischen Bestsellerliste.2 Zehn Jahre nach dem Erster­ scheinen betrug die Weltauflage 4,5 Millionen Exemplare.3 Allein für die Übernahme von Désirée als Hauptvorschlagsband zu Bertelsmann (d. h. ein Buch, das allen Lesering-Mitgliedern angeboten wurde) mit einer Auflage von einer halben Million Stück wurde ein Autorenhono-

272 Kleine Fluchten

rar über 165 000 DM4 fällig - bei einem Jahresdurchschnittseinkom­ men von etwa 5000 DM für gewöhnliche Arbeitnehmer für dasselbe Jahr 1957 eine astronomische Summe. Wie lässt sich dieser giganti­ sche Erfolg erklären? Die Kritiken waren zunächst verhalten - den einen galt das Buch als bloße Unterhaltung, bei den anderen wurde der Text an seiner Nähe zu den historischen Fakten gemessen. »Was so spannend ist, kann nicht gut sein. Dann kommen die Einschrän­ kungen >BestsellerNicht wahr, die Menschen­ rechte können nie wieder ungültig werden, Papa?< fragte ich. >Nein, ungültig können sie nicht werden. Aber abgeschafft, offen oder heim­ lich, und mit Füßen getreten. Jene jedoch, die sie mit Füßen treten, la­ den die größte Blutschuld der Geschichte auf sich. Wann immer und wo immer in späterer Zeit Menschen ihren Brüdern das Recht auf Freiheit und Gleichheit nehmen - niemand wird von ihnen sagen: Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Meine kleine Tochter, seit der Verkündung der Menschenrechte wissen sie es näm­ lich genau.un-

»Manchmal meine ich, es war gar nichts« 2.77 schuldigen< Liebe gewidmet hätte? Und so, wie sich der Titelheld auf zwei Punkte fixiert: das Heute, in dem er denkt, »vielleicht war es gut so«21, also deutschen Pragmatismus herrschen lässt, und das Gestern, das mit »>Piroschka!< >----- !Festung Breslau< als einfacher Soldat. 1947 fand er sich schließlich als Mitglied der Liberal-Demokratischen Par­ tei (LDP) in Thüringen wieder. Der Parteieintritt war wohl Vorausset­ zung für seine formale Entnazifizierung und somit für die Fortsetzung seiner Tätigkeit als Autor gewesen.28 Der Verlag Hermann Hübener, ansässig in Berlin und Buxtehude, bemühte sich 1947 um eine Pub-

< Durch die Verfilmung wurde der Erfolg von Hugo Hartungs Roman Ich denke oft an Piroschka noch potenziert. Der Autor (links) mit >seiner< Hauptdarstellerin Liselotte Pulver 1955.

280 Kleine Fluchten

likationserlaubnis für seinen Autor. Als Kronzeuge der Verteidigung warf sich neben anderen der Komponist Carl Orff für Hartung in die Bresche: »Aus allen Unterredungen, die ich mit ihm hatte, und der Art seiner Tätigkeit, gewann ich den bestimmten Eindruck, dass Herr Hartung stets der Naziideologie fernstand und diese entgegengesetzte Haltung nach Möglichkeit und Kräften aufrechterhielt.«29 Noch wei­ ter geht ein Medizinprofessor, der mit Hartung und dessen Chef, dem Generalintendanten Hans Schlenck, in der Breslauer Zeit verkehrte: »Beide Herren waren mir als charakterlich hochstehende, innerlich saubere, in ihrer ganzen Lebensauffassung der Nazi-Bewegung ableh­ nend gegenüberstehende, aufrechte Männer bekannt. Sie waren [...] durch den brutalen Zwang veranlasst worden, der Partei äußerlich beizutreten, um ihre für das deutsche Geistesleben so wichtige Stel­ lung behalten und für die Pflege eines von der Partei unabhängigen geistigen Lebens arbeiten zu können.«30 Er halte es dabei »für ein Un­ recht gegen die Betroffenen und eine schwere Schädigung aller Auf­ baubestrebungen«, wenn Leuten wie Hartung eine kulturelle Tätigkeit verwehrt werden würde. Schließlich hätten sie nur »ein Opfer ihrer Gesinnung« gebracht, »um Höheres für ihr Volk zu erstreben und zu erhalten«. Die Bemühungen des Verlags hatten Erfolg. Eine Bro­ schüre des Autors mit dem Titel Die große belmontische Musik konnte schon 1948 erscheinen. Der kulturelle Wiederaufbau begann. Seinen Wohnsitz würde der Autor bald von Orla in Thüringen nach Westber­ lin verlegen, später nach München. Unter den Unterhaltungsschrift­ stellern der Nachkriegszeit wurde er eine feste Größe.

Ehe die Spuren verwehen: Wie die Autorin

der Poenichen-Trilogie debütierte Es war zutreffend, was Erich Loest mit Blick auf Günter Grass kons­ tatierte: Nicht der späte Grass mit Im Krebsgang war der Tabubrecher, sondern viele andere Schriftsteller hatten sich - jenseits rechter und revanchistischer Kreise - schon lange zuvor des Themas angenom­ men. Mindestens 50 Romane und über 100 Erzählungen befassten

Ehe die Spuren verwehen 281 sich, zu diesem Schluss kam eine Untersuchung Ende der achtziger Jahre, mit Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem Osten.31 Christine Brückner gehörte zu den bekanntesten Autorinnen im Wes­ ten, die sich in ihren Büchern genau diesem vermeintlichen Tabu aus­ giebig widmeten. Mit ihrer Poenichen-Trilogie (Jauche und Levkojen, Nirgendwo ist Poenichen und Die Quints), die zwischen 1975 und 1985 erschien, zählt sie zu den meistgelesenen deutschen Schriftstellerin­ nen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das wirklich breite Pub­ likum erreichte Brückner durch die Adaption ihrer Trilogie fürs Fern­ sehen. Aber schon ihr Romandebüt 1954 war ein echter Bestseller. In einer vom Spiegel 1962 ermittelten Liste der erfolgreichsten nach 1945 erschienenen Belletristik deutscher Autoren landete sie mit Ehe die Spuren verwehen auf Rang neun: mit über einer halben Million Exemplaren.32 Sie hatte mit ihrem Erstling den ersten Preis eines Ro­ manwettbewerbs des Bertelsmann-Verlags gewonnen. Dieser Auftakt ermöglichte es der Diplom-Bibliothekarin und studierten Kunsthisto­ rikerin und Literaturwissenschaftlerin, fortan als freie Schriftstellerin zu leben.33 Dabei war es ein allein vom Buchklub gemachter Erfolg. Bis Anfang der sechziger Jahre sind ausschließlich Buchklubausgaben des Werkes nachweisbar. Nachdem eine Startauflage von 8000 Stück getestet worden war, lautete die nächste Marge 9000 bis 368.000 Tau­ send! Für den Bertelsmann Lesering nicht ungewöhnlich. Schließlich zählte man dort 1954 schon über eine Million Mitglieder, Tendenz steigend.34 Diese erwarben sich durch einen monatlichen Mitglieds­ beitrag sogenannte Buchbezugspunkte, die sie bei Bertelsmann um­ zusetzen hatten. Allein durch diese Abnahmeverpflichtung konnten Riesenauflagen generiert werden, die die üblichen Auflagenzahlen auf dem übrigen Buchmarkt locker in den Schatten stellten. Christine Brückner entwirft in Ehe die Spuren verwehen eine Welt, in der »Herbsttage« noch »strahlen« und das traditionelle Familien­ bild intakt scheint: »Alle [...] behandeln mich schonend und erken­ nen meine Stellung als Familienoberhaupt durchaus an. Sie wissen, dass ich in den wenigen Stunden, die ich zu Hause verbringe, Ruhe haben muss [,..].«35 Wir befinden uns mitten im Wirtschaftswun­ derland: Es wird Asbach Uralt getrunken, die Hausfrau kocht gefüllte

282 Kleine Fluchten Paprika, zum Nachtisch gibt es Weinbrandkirschen. Der Icherzäh­ ler, ein Sparkassendirektor in einer westdeutschen Kleinstadt, wohl­

habend, mit Haus, Auto (einem »Borgward«) und Familie, wird in einen Unfall verwickelt. Er erfasst mit seinem Wagen eine Frau, die noch am Unfallort stirbt. Ihn trifft - da sind sich alle Zeugen und die Polizei einig - keine Schuld. Er fuhr langsam, und die Unbekannte betrat ohne Vorwarnung plötzlich die Fahrbahn. Da zunächst keine nahen Angehörigen zu ermitteln sind, wird der Sparkassendirektor zum Nachlassverwalter und versucht zu ergründen, wer die geheim­ nisvolle Tote war. Er begibt sich auf Spurensuche im Leben dieser Frau. Die Suche wird zugleich zu einer Reise in die jüngste deutsche Vergangenheit: Der Vater von Gabriele war Pfarrer, Mitglied der Be­ kennenden Kirche und ein Gegner der Nazis - er starb während des Kriegs. Ihre erste große Liebe fiel in Russland, wo auch ihr Bruder bei Stalingrad ums Leben kam. Der zeitgeschichtliche Hintergrund wird dabei nur angedeutet, etwa ist von der »Sache mit der Tschechoslo­ wakei«36 die Rede, wenn die Besetzung dieses Landes gemeint war einem der entscheidenden Schritte in Richtung des Zweiten Welt­ kriegs. Dennoch bilden jene zwölf Jahre den zentralen Bezugsraum, den der Nachlassverwalter in Gabrieles Gefolge ausloten muss. Gabrieles Mutter ist psychisch krank, leidet unter anderem an einem aus Sicht der im Roman entworfenen Gesellschaft - krankhaft ge­ steigerten Sexualtrieb. Sie lebt in einer Anstalt und wird von Gabriele und ihrem Vater in einer Nacht-und-Nebel-Aktion vor der Euthana­ sie gerettet. Gabriele ist fest davon überzeugt, von ihrer Mutter diese Krankheit geerbt zu haben, weshalb sie bindungsunfähig bleibt und die Männer, die sich in sie verlieben, immer nach einiger Zeit wie­ der verlassen muss. Vieles deutet gegen Ende darauf hin, dass ihr Un­ falltod kein Zufall war, sondern dass sie ganz bewusst diesen Ausweg suchte. Bei aller Schlichtheit der literarischen Mittel ist Brückners Buch ein Kabinettstückchen für den Umgang mit der jüngsten deutschen Geschichte. Zwar werden Fragen nach Schuld und Verantwortung am Beispiel von Gabrieles Unfalltod aufgeworfen, aber schließlich ist jetzt auch Frieden. Zum Krieg gehörte mit großer Selbstverständlichkeit

Ehe die Spuren verwehen 283

das Töten: »Im Krieg hat man das getan, aber jetzt, wo alles seinen ordentlichen Gang wieder geht, komme ich gar nicht dazu, über so etwas nachzudenken«37, sinniert der Protagonist. So waren die Figu­ ren, mit denen sich der Leser identifiziert, durchweg Gegner des Kriegs und auch des Regimes - und dabei sehen sie sich in erster Linie als Opfer. »Wir waren so jung. Das wird einmal unsere einzige Entschul­ digung sein.«38 Auch der Protagonist wird zum Opfer, obwohl er den Krieg überlebt hat und jetzt als Sparkassendirektor am Wirtschafts­ wunder teilhat. Sein Schicksal spiegelt sich in der ersten großen Liebe Gabrieles, dem Soldaten, dessen Briefe aus dem Feld im Roman aus­ gebreitet werden. Die abschließende Botschaft: Sein Soldatentod hätte auch jeden anderen treffen können, alle sind potenzielle Opfer. So­ gar in der Nachkriegszeit noch. So seien die amerikanischen Besatzer »[...] wie die Zoowärter. Wenn es euch gefällt, gebt ihr uns was, und gefällt es euch nicht, lasst ihr uns hungern. Hunger war schon immer die wirksamste Peitsche.«3’ Auch wenn sich die Autorin in ihrem Buch deutlich gegen die Nazibarbarei positioniert, wabert weiter Gedankengut aus der Zeit vor 1945 durch den Text. So werden Wörter wie »ausmerzen« fahrläs­ sig gebraucht. Eine Ärztin referiert erschreckend nüchtern über die Verbrechen an dem vermeintlich >unwerten Leben« »Das Problem der Euthanasie war in den zwanziger Jahren schon Gegenstand hefti­ ger Auseinandersetzungen, es ist heute [und damit sind die fünfziger Jahre gemeint! C.A.] so umstritten wie damals. Man kann dabei einen ärztlichen, einen weltanschaulich-völkischen und einen christlichen Standpunkt vertreten. Nur der völkische kennt keine Skrupel. Ich war damals mit dieser Methode durchaus einverstanden.«40 Zwar spricht hier die literarische Figur, nicht die Autorin, aber ihre Rede wird nicht kritisch hinterfragt, auch hier werden Begrifflichkeiten unreflektiert gebraucht. Und im Grunde wird diesen Gedanken in der Gesamt­ handlung recht gegeben. Gabriele kann nicht glücklich werden, weil sie unter dieser >Erbkrankheit< leidet. Unserem Protagonisten wird auf diese Weise für seine >Schuld< an ihrem Unfalltod Absolution erteilt, schließlich wollte sie wohl auch sterben. Dieses schuldhafte Handeln eines Einzelnen, das sich als Teil eines größeren Plans erweist, eignet

284 Kleine Fluchten

sich hervorragend als Projektionsfläche für die Leser und ihre je indi­ viduelle Bürde: »Im Krieg hat man das getan [...]« Am Ende finden wir den Held gereinigt und bereit, weiter am Wirtschaftswunderland mit­ zubauen: »Als ich in unsere Straße einbog, fühlte ich mich ganz frei. Ich musste mich ein paar Minuten an den Zaun lehnen und diesem Gefühl, das nach mir griff, Zeit lassen. Es war mein Haus, vor dem ich stand. Mein Garten, dessen Dunkelheit mich umschloss. Meine Frau, meine Kinder - wie vieler Liebe bedurfte das.«41 Mit ihrem Ansatz, zwar über den Krieg und die NS-Zeit zu schrei­ ben, dies aber konsequent aus der Perspektive der Mitläufer zu tun, bietet Christine Brückner in Ehe die Spuren verwehen ein idealtypisches Handlungsmodell für das Vergessen einer ganzen Generation. Dabei ist der Text vom Selbstmitleid des Protagonisten wie getränkt. Beides müssen Eigenschaften gewesen sein, die das Werk zu einem der Buch­ klubromane seiner Zeit machte: unheimlich erfolgreich. Das Buch ist dabei in einem Zwischenreich angesiedelt. Es befasst sich mit dem Krieg und seinen Folgen, bietet zugleich aber den Ausweg aus der Er­ innerung an. Einen kurzen Eindruck von dem Moment, in dem die

Spuren verwehen.

»Echte Heimatbücher«: Heitere Geschichten von Else Hueck-Dehio »Schon seit Jahren« stecke sie »mit Respekt gebietender Regelmäßig­ keit die Bölls’ und Grass’ mit ihrem herzigen Heimwehton in die Ta­ sche«42 war im Feuilleton der Stuttgarter Zeitung über Else HueckDehio zu lesen. Sie gehörte tatsächlich zu den Auflagenriesen der fünfziger und sechziger Jahre, hinter denen so mancher Autor, so manche Autorin, die wir heute zum Kanon zählen, weit abgeschla­ gen zurückblieb. Die 1897 in Dorpat (russisch: Jurjew) / Estland ge­ borene Else Dehio kam durch die Heirat mit dem Fabrikanten Richard Hueck 1920 nach Lüdenscheid. Erste Veröffentlichungen erfolgten von 1934 an. Mit ihren Romanen Die Hochzeit auf Sandnes und Der

»Echte Heimatbücher«: Heitere Geschichten von Else Hueck-Dehio 285 Kampf um Torge erreichte sie bereits bis 1944 beachtliche Verkaufs­ zahlen, von beiden Titeln wurden an die lOOOOO Stück produziert. Wohl durch den Konkurs des Verlags der Erstausgabe der Hochzeit ka­ men die Bücher zum Zentralverlag der NSDAP, Franz-Eher-Nachfahren. Fast entschuldigend wirkt die Einordnung dieses Karriereverlaufs in einer Vita, die wohl posthum von ihrer Schwester Dora von Grote, geb. Dehio, verfasst wurde: »Die >nordischen< Bücher von E.H.-D. schienen in das Programm des Verlages zu passen, wurden 1938 neu verlegt und erreichten so hohe Verkaufszahlen, dass die Verfasserin in den folgenden Jahren zu einer >Dichtertagung< in Weimar eingeladen wurde.«43 Gemeint waren womöglich die in Weimar stattfindenden Wochen des deutschen Buches oder eines der Dichtertreffen, teils als Zusammenkunft europäischer Autoren gedacht, die alle vom Propa­ gandaministerium und Joseph Goebbels mit organisiert worden wa­ ren. Wer sich dort zeigte, wurde zum literarischen Establishment der Zeit gerechnet. Ihre Schwester wollte sich erinnern, dass anlässlich dieser Dichtertage ein Buchladen sein Schaufenster wie folgt deko­ riert hatte: »In der Mitte eine Pyramide aus Hitlers Mein Kampf und die Umgebung gepflastert mit Hochzeiten auf Sandnes und Kämpfen um Torge.« Um unmittelbar nachzuschieben: »E.H.-D. und ihr Mann standen im Übrigen dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüber und sind nie in die Partei eingetreten.«44 Nachdem alle Versuche, unmittelbar nach dem Krieg einen wei­ teren Roman unterzubringen, scheiterten (»1948/49 war an einen Verleger nicht zu denken«45), gelang ihr schließlich der Durchbruch mit kurzen Erzählungen, die unter dem Titel Ja, damals im Eugen Salzer Verlag Heilbronn herauskamen. 1953 erschienen die weih­ nachtlichen Geschichten Taft zum Kragen sowie Tante Tütchen zum ersten Mal. Ja, damals ist ein Geschenkbuch im besten Sinne, das 1961 bereits im 455. Tausend stand. Beschworen wird das Leben im alten Dorpat (heute Tartu). Die Geschichte Taft zum Kragen handelt von einer jungen Pastorengattin, die sich sehnlichst einen schönen Stoff zu ihrem Weihnachtskleid wünscht, mit diesem Wunsch aber an den Regeln der Entsagung und Sparsamkeit ihres Gatten zu schei­ tern droht. Jedoch am Ende erhält sie ihren Taftkragen: Ihr Mann

286 Kleine Fluchten wird demütig, weil er aus Versehen von der Kanzel seiner Gemeinde statt »Kraft zu tragen« lautstark »Taft zum Kragen« predigt und der Stoffhändler, der das ganze Drama als Zuhörer in der Kirche verfol­ gen konnte, darauf heimlich das ersehnte Stöffchen den Pastoren vor die Tür legt. Die schmale Erzählung ist nichts Besonderes, eine unterhaltsame Miniatur, ohne Ecken und Kanten. Was das friedliche Bild in gewis­ ser Weise bricht, ist das kleine Vorwort, das dem Bändchen beige­ geben ist. Es stammt von dem Klaviervirtuosen und Komponisten Wilhelm Kempff. Er beschreibt darin sein Zusammentreffen mit der Autorin auf Schloss Elmau in Bayern Anfang der fünfziger Jahre. Else Hueck-Dehio und ihr Mann waren mit dem Gründer und Erbauer von Elmau, dem Theologen und Philosophen Johannes Müller, seit den zwanziger Jahren befreundet. Die Freundschaft und die Liebe zur Landschaft gaben den entscheidenden Anstoß für die Übersiedlung der Hueck-Dehios nach Murnau.46 Es wird Anfang der fünfziger Jahre gewesen sein, »es war an einem Sommernachmittag in Schloß Elmau. Wir hatten diskutiert, über Gott und die Welt, Krieg und Frieden, Ost und West, Jazz und Beethovens Neunte«, so erinnert sich Kempff. Dann sei man der schweren Gedanken müde gewesen und die Gesell­ schaft suchte nach »einem erlösenden Schlussakkord«. »Da richtete einer der Anwesenden an eine kleine Frau die Frage: Ich höre, Sie ha­ ben Bücher geschrieben, Romane, wollen Sie uns nicht etwas lesen? Etwas ganz Kleines nur, aber wissen Sie, so etwas, das wie ein Mozartsches Andante uns den Frieden wiedergibt, aber um Himmels willen nichts von Ost und West, nichts von Vergewaltigung, Krieg und Pes­ tilenz, etwas Kleines, Liebes, Schönes ...«47 Dabei schwang der Krieg, das, was in Europa im 20. Jahrhundert bis dahin geschah, in Hueck-Dehios Prosa, auch in den genannten Erzählungen, immer mit. Es waren »echte Heimatbücher«48, die das verlorene Land im Osten zumindest in der Erinnerung wiederaufer­ stehen ließen. Hueck-Dehio hatte ihre Heimat schon über 20 Jahre vor der ganz großen Flucht aus dem Osten verlassen: Mit der Ok­ toberrevolution war Estland, das bis dahin zum Zarenreich gehört hatte, unabhängig geworden. Die deutschsprachige Oberschicht ver-

»Echte Heimatbücher«: Heitere Geschichten von Else Hueck-Dehio 287

lor ihre privilegierte Stellung. In einem Brief an ihre Schwester be­ richtete Hueck-Dehio von ihren Eindrücken, die sie 1942 bei einem Besuch in Dorpat, in ihrer alten Heimat, sammelte. Zwischenzeit­ lich war das Land von sowjetischen Truppen und kurz darauf von der deutschen Wehrmacht besetzt worden. In Dorpat trifft Hueck-Dehio die Köchin wieder, die vor vielen Jahren in ihrem Elternhaus gearbei­ tet hatte: »Rosis Laden ist mit ihrer ganzen Habe von den Bolschewicken [! ] angezündet und verbrannt.«49 Sie nimmt Dinge vorweg, die nur wenige Jahre später den ganzen Osten Deutschlands beschäfti­ gen sollten. Lässt die Angst vor »den Bolschewiken« greifbar werden und nimmt ein letztes Mal endgültig Abschied von einer vergange­ nen Welt: »Durch unser Haus und unseren Garten bin ich gegan­ gen. Jetzt wohnt eine deutsche Dienstpost drin und eine riesige Hit­ lerbüste steht mitten vor dem dreiteiligen Fenster im Vorzimmer. Eine nette estnische Sekretärin führte mich durch alle Räume und besah mich staunend von der Seite, da ich, aus Deutschland und aus ei­ nem erfüllten Leben kommend, an den Fenstern stehen blieb und weinte und meine Hände, als wären es geliebte Menschen, auf die Kacheln der altbekannten Öfen legte.«50 Und sie deutet die Versöh­ nungsmöglichkeiten (mit der eigenen Vergangenheit und den Verlus­ ten) im Lichte einer christlichen Grundüberzeugung bereits an: »Und außerdem bin ich in keinster Weise traurig, sondern einzig und al­ lein glücklich darüber, dass ich dieses Alte, Heißgeliebte noch einmal wiedergesehen habe. Es redet zu meiner Seele, wie sonst nichts in der Welt.«51 Sie verstand also die Menschen, die später zu einem Teil ihre Leserschaft stellen sollten, die Flüchtlinge aus dem Osten, aus eigener tiefer Erfahrung heraus. Aus dieser Grundstimmung speisen sich ihre Texte, die einen traurig-melancholischen Grundton haben, aber ein versöhnliches Ende verheißen. Dies war der Stoff, mit dem sie Böll, Grass und andere in dieser Zeit locker ausstach.

288 Kleine Fluchten

Mitchells zweite Karriere und andere Geschichten Vom Winde verweht:

Insbesondere der Blick auf die massenhaft verbreiteten Bücher offen­ bart, dass es weniger die vermeintlichen Brüche von 1933 und 1945 zu betrachten gilt als vielmehr einen breiten Strom an Literatur, der

nahezu ungehindert weiterfließt - einige Besonderheiten berücksich­ tigt! So gibt es selbstverständlich Autorinnen und Autoren, die in NSDeutschland verfemt, verfolgt, verboten waren und deren Rezeption erst nach 1945 wieder aufgenommen wurde. Stellvertretend genannt seien Erich Kästner, Vicky Baum, Erich Maria Remarque, Thomas und Heinrich Mann, Arnold Zweig oder Anna Seghers. Aber ihre Texte sind, bezieht man die Massenliteratur mit ein, ein Randphänomen. Beherrscht wird das Feld vielmehr von den Autorinnen und Autoren, deren Rezeption in Deutschland durchgängig möglich war oder allen­ falls, wie zum Beispiel bei der folgenden US-amerikanischen Autorin, nur kurzzeitig unterbrochen wurde. Margaret Mitchells Bürgerkriegsepos wird in der Wahrnehmung vieler ein Nachkriegsbuch sein. Dazu passt, dass auch die Bestseller­ verfilmung, die dem Buch neue Schubkraft und weitere Verbreitung brachte, in Deutschland erst nach 1945 Premiere hatte. Der mit vie­ len Oscars ausgezeichnete Streifen, in den Hauptrollen Clark Gable und Vivien Leigh, war in den Vereinigten Staaten bereits 1939 in die Kinos gekommen. In Deutschland allerdings erst 1953. Er gilt auch vom Einspielergebnis her bis heute als einer der einträglichsten Filme aller Zeiten. Der Bucherfolg allerdings war viel älter. Mitchells Werk war schon 1937 erstmals auf Deutsch erschienen und hatte bereits in Nazideutsch­ land beachtliche Verkaufszahlen aufzuweisen: Über 300000 Bücher sollten den Weg zum Kunden finden. Der deutsche Verleger, Henry Goverts, hatte vom Mitchell-Buch aus amerikanischen Kritiken erfah­ ren. Vermittelt über eine Literaturagentin kam er zu einem Lizenzver-

Vom Winde verweht: Mitchells zweite Karriere und andere Geschichten 289

trag mit dem amerikanischen Originalverlag. Sogar die Parteipresse lobte den Stoff: »Eine großartige und leidenschaftliche Schilderung amerikanischer Geschichte«, so der Völkische Beobachter, »mit einer verblüffenden Wiedergabe des historischen Milieus und einer Zeich­ nung menschlicher Charaktere von einer bewundernswerten geistigen Warte aus.«52 Vom Winde verweht musste damals bereits eine große Breiten- und Tiefenwirkung erzielt haben. Der Roman gehörte in den vierziger Jah­ ren fast schon zum unterhaltungsliterarischen Kanon in Deutsch­ land. Nach dem Krieg wurden Buch und Film so begeistert aufge­ nommen, weil der Boden dafür zwischen Herbst 1937 und Sommer 1941 gründlich vorbereitet worden war. Von diesem Zeitpunkt an war das Buch dann nicht mehr lieferbar, mit dem Eintritt der USA in den Krieg gegen Deutschland waren alle weiteren Auflagen unmöglich ge­ worden. Es ist allerdings davon auszugehen, dass das Werk weiter von Hand zu Hand ging und seine Leser fand. Der Text traf also nach dem Krieg auf ein ihm bereits gewogenes Lesepublikum. In einer Umfrage unter westdeutschen Buchhändlern nach den »meistgelesenen Auto­ ren«53 gehört Margaret Mitchell 1949 zu den wenigen dort genannten ausländischen Schriftstellern. Allein zwischen 1950 und 1960 wur­ den dann, nicht zuletzt von der Filmadaption befeuert, rund 1,2 Mil­ lionen Exemplare auf dem deutschen Buchmarkt abgesetzt.54 Eine überraschende weitere Erklärung für den fortwährenden Ab­ satz der Mitchell hatte der Claasen Verlag schon 1951 parat: Es han­ dele sich bei diesem Roman in gewisser Weise um so etwas wie Haus­ rat, der auf der Wiederbeschaffungsliste in Nachkriegsdeutschland ganz oben stand. Es sei »eines der Bücher, dessen Wiederbesitz den Ausgebombten und Flüchtlingen - wie aus zahllosen Briefen her­ vorgeht - wünschenswert«55 erscheine. Der Krieg also als Motor des Wiederaufbaus auch auf dem Büchermarkt. Sogar einen inhaltlichen Aspekt konnte der Verlag ausmachen, der mit Blick auf das gesamte Feld der marktgängigen Nachkriegsliteratur plausibel wirkt. Das Buch bot Nähe und Distanz zugleich. Nähe im Stoff, einer durch Krieg grundlegend veränderten Welt, und Distanz in der zeitlichen Ferne, indem Mitchells Saga im Amerika des 19. Jahrhunderts angesiedelt ist.

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fernen< Welt in unerhört lebensnahen Schilderungen wieder. Es ist nicht unwichtig dabei, dass gerade die Frauen des Ro­ mans ähnliche Schicksale wie unsere Frauen zu meistern haben.«56 Es gibt eine ganze Reihe von Autoren und Autorinnen, die ihren Nachkriegserfolg einer soliden Vorarbeit vor 1945 verdankten. Beson­ ders überraschen mag das bei fremdsprachigen Werken. So blieb der schottische Autor A.J. Cronin mit Büchern wie Die Zitadelle oder Die Sterne blicken herab auf dem Markt präsent. Beides Titel, die bereits in NS-Deutschland erschienen waren und große Verbreitung fanden. 1952 nach den Ursachen für die Bestsellerqualitäten von Cronins Der spanische Gärtner gefragt, verwies der Zsolnay-Verlag auf den »bekannte[n] Name[n] Cronins« und dass es ein »Unterhaltungsroman von literarischer Qualität sei«57. Der Name war also schon aus der Zeit vor 1945 vertraut. Auch Antoine de Saint-Exupéry, der heute vor allem als Autor des märchenhaften Der kleine Prinz bekannt ist, ge­ hörte im >Dritten Reich< mit zu den erfolgreichsten nichtdeutschspra­ chigen Autoren. Insbesondere Wind, Sand und Sterne wurde viel ver­ kauft, und das, obwohl der Franzose selbst bald aktiv im Kampf gegen Nazideutschland stand und in diesem Kampf starb. Die sonst so auf­ merksamen Literaturpolitiker und Zensoren schienen das nicht mit­ bekommen zu haben. Saint-Exupéry ist vermutlich der einzige Best­ sellerautor des >Dritten Reichest der im aktiven Kampf - zuletzt als Flieger auf amerikanischer Seite - gegen die Deutschen stand, aber dessen Bücher bis zum Kriegsende weiter verkauft werden durften. Er findet sich sogar auf Listen mit Literatur, für die sich zum Beispiel Leihbuchhändler in besonderem Maße einsetzen sollten. Dort stehen seine Bücher noch 1940 - aus welchem Grund auch immer - zusam­ men mit anderen englischen und französischen Werken, »die uns in

< Vom Winde verweht als Kassenschlager. Die deutsche Uraufführung des gleichnamigen Hollywoodstreifens erfolgte erst 1953. Das Buch war schon in den dreißiger Jahren auch in NS-Deutschland ein großer Erfolg gewesen.

292 Kleine Fluchten Folge der kritischen Einstellung [ihrer] Verfasser[...] zu der Politik [ih­ res] Vaterlandes wichtige Aufschlüsse zu vermitteln imstande sind«.58 Mit ähnlichen Argumenten hatte man auch Cronin, den Schotten, immer wieder gefördert. Schließlich transportierte er in seinen sozi­ alkritischen Romanen automatisch ein kritisches Bild des englischen Kriegsgegners, was den Goebbels-Propagandisten entgegenkam. Auch Saint-Exupéry kam in der Bestsellerumfrage des Jahres 1952 vor, seine Vorzüge sah der Karl Rauch Verlag darin, dass das »ganz unmittelbar Menschliche« angesprochen werde, und es werde »frei von Angst und Zweifel das menschliche Dasein bejaht«59. Der kleine Prinz verkaufte sich im ersten Jahrzehnt nach seinem Erscheinen 1950 weit über 600000 Mal, schon in den ersten fünf Monaten wa­ ren 30000 Stück über den Tresen gegangen. »Ein Zeichen dafür, dass auch eine stattliche Schicht innerlicher, wirklich tiefen seelischen Ge­ halt suchender Bücherkäufer da ist«60, so war sich der Verlag sicher.

Die zwei Leben des John Knittel: Via Mala und andere Erfolge »Der Verlag wurde 1934 von Wolfgang Krüger, einem Liebhaber der Romantik- und Abenteuerliteratur, in Berlin gegründet. Noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges versammelte er deutsche und in­ ternationale Autoren mit ihren Spitzenwerken (u. a. B. Traven und C. S. Forester). 1943 aus Berlin vertrieben, kamen Verlag und Ver­ leger im Jahre 1945 nach Hamburg, wo das Unternehmen aus dem Nichts neu begonnen und in den 50er und 60er Jahren zu einem >Mittler wertvoller Unterhaltungsliteratur< (Börsenblatt 1961) aufge­ baut wurde.«61 So liest sich die Unternehmensgeschichte des Krüger Verlags in schönster Werbeprosa heute auf der Homepage von S. Fi­ scher, zu dessen Verlagsgruppe das Label Krüger seit den siebziger Jah­ ren gehört. Das »aus dem Nichts« des Krüger Verlags ist nur ein zu­ fälliges Beispiel dafür, dass insbesondere Verlage bis in unsere Tage die Mär vom scheinbar voraussetzungslosen Neustart nach 1945 immer

weitertragen.

Die zwei Leben des John Knittel: Via Mala und andere Erfolge 293

1951 war das »meistgekaufte[....] Verlagswerk des Wolfgang Krü­ ger Verlags«62 ein Buch von John Knittel, Terra Magna. Ein Schweizer Autor; nur mit dem kleinen Schönheitsfehler, dass auch er zwischen 1933 und 1945 zu den populärsten Autoren auf dem deutschspra­ chigen Buchmarkt zählte und - berücksichtigt man die Tatsache, dass er seine Manuskripte in Englisch verfasste - zu den viel gelese­ nen fremdsprachigen Autoren. Sowohl mit El Hakim als auch mit Via Mala konnte Knittel die 200000er-Marke der verkauften Exemplare überschreiten, dabei sind die Ausgaben für die verschiedenen Buchge­ meinschaften noch nicht einmal mit eingerechnet. Zählt man die von Orell Füssli für den Schweizer Markt produzierten Exemplare hinzu, die vermutlich zum Teil auch ihren Weg nach Deutschland fanden, so ist von eher 300000 bis 400000 Exemplaren allein von Via Mala auf dem deutschen Markt auszugehen. Ende der dreißiger Jahre, in der für den Autor vermutlich wich­ tigsten Dekade, zählte auch der Propagandaminister Joseph Goebb­ els zu seinen größten Fans. Ein ums andere Mal notierte er sich nach abendlicher Knittel-Lektüre Bemerkungen wie »großartig geschrie­ ben«63, »hinreißendes Buch«64, »schauerlich schöner, ergreifender Roman, der tief ans Herz rührt«65 in sein Tagebuch. Später - Europa befand sich bereits im Krieg - lernten sich der Schweizer Kosmopo­ lit und der nationalsozialistische Agitator persönlich kennen. Seine große Leserschaft in Nazideutschland und die der Öffentlichkeit nicht unbekannt gebliebenen Treffen mit Goebbels brachten Knittel in der Schweiz bereits während des Krieges in den Verdacht, Spionage fürs Deutsche Reich zu betreiben bzw. nationalsozialistische Propa­ ganda unter den eidgenössischen Intellektuellen verbreiten zu wollen. Schweizer Polizei und Armee stellten Nachforschungen an, Beweise für die erhobenen Beschuldigungen ließen sich jedoch nicht finden.66 Vielmehr existieren in der Schweiz Dokumente, die nahelegen, dass Knittels Treffen stets mit Billigung und in Kenntnis der eidgenössi­ schen Regierungsstellen erfolgt waren, denen er nach seiner Rückkehr jeweils Bericht zu erstatten hatte. Sogar Goebbels hielt in seinen Auf­

zeichnungen fest, dass Knittel den Inhalt dieser Unterredungen »bei nächster Gelegenheit [...] dem Bundesrat mitteilen werde«67. Knittel

294 Kleine Fluchten hatte sich wohl in beide Richtungen als eine Art Diplomat präsentiert. Es fiel etwaigen Neidern also nach 1945 nicht schwer, die Verdächti­ gungen, Knittel sei ein Nazifreund gewesen, zu verstärken und weiter in Umlauf zu bringen. Knittel trat daraufhin selbst aus dem Schwei­ zerischen Schriftsteller Verband (SSV) aus, der Verkauf seiner Werke brach, zumindest in der Eidgenossenschaft, zeitweise ein.68 Hierzulande jedoch trug ihm diese Haltung nach 1945 niemand nach. Auch hinsichtlich der Nachkriegsrezeption sind Autor und Werk typisch für die Bestseller im >Dritten ReichDritten Reich< vom Buchwarte-Verlag produziert wurden. Davon noch neun Bücher mit den Erscheinungsjahren 1943 und 1944 - und beinahe alle in ho­ her Auflage als Feldpostausgabe für die Soldaten an den Fronten! Da­ runter die höchst erfolgreiche Reihe von Jonny Liesegang, die als »Bü­ cher wahrhaften Humors«71, wie es in der Verlagswerbung hieß, das Schicksal einer Familie vor dem Hintergrund des Kriegsgeschehens in Berliner Mundart in Szene setzte: Detfiel mir uff, Detfiel mir ooch noch uff, Da liegt Musike drin und Familie Pieselmanns Feldpostbriefe erschie­ nen allesamt in Auflagen jenseits der lOOOOOer-Marke. Mit dieser humorigen Massenware traf Blanvalet offenbar genau den Geschmack der Soldaten und kam ihrem Wunsch nach Fluchtlektüre entgegen. Sollte ein wie auch immer geartetes >Verbot< die Verlagsproduktion eingeschränkt haben, so kann es nicht vor 1944 der Fall gewesen sein. Vermutlich traf den Verlag erst die große Schließungswelle innerhalb der Buchbranche, die im Zeichen des totalen Kriegseinsatzes für an die 2000 Verlage im September 1944 das Ende bedeutete.72 Es han­ delte sich nicht um ein Einzelschicksal Blanvalets, dass sein Verlag gegen Ende des Krieges geschlossen wurde. Es war also mit Sicherheit kein Verleger aus dem >WiderstandBlanvalet schießt schnelk - er sagt es selbst.«73 Mit von der Partie Hanne Sobek, ein alter Bekannter des Verlegers, als Bildredakteur. Sobek hatte viele Jahre unter anderem für Hertha BSC erfolgreich Fußball gespielt und war mit der Mannschaft 1930 und 1931 Deutscher Meister geworden. Und Sobek hatte bereits einen au­ tobiografisch unterfütterten Sportroman im Hause Blanvalet verlegt: Hinein...! erschien 1935 im Buchwarte-Verlag. Der Titel war zwar kein Riesenerfolg, aber er konnte dem Verleger als Fingerübung für seine späteren Aktivitäten mit Sportbüchern dienen. Der endgültige Durchbruch auf dem Massenmarkt begann für Blanvalet zwei Jahre nach der Weltmeisterschaft 1954 mit dem His­ torienroman Angelique von Anne Golon, einer französischen Auto­ rin, der er in Deutschland zur Weltpremiere verhalf (die Erstausgabe in Frankreich kam dort 1957 auf den Markt) und zum Start einer höchst erfolgreichen Romanserie. »Vor vier Jahren erschien sie in der Gesellschaft von Lampedusas Leopard und Nabokovs Lolita. Vor zwei Jahren nahm sie es mit Heinrich Böll, Uwe Johnson und dem Grafen Lehndorff auf, im vergangenen Jahr mit der Gräfin Dönhoff und mit Harper Lee. In diesem Herbst hat sich Angelique, das Mäd­ chen mit den blaugrünen Augen und dem schweren, goldkäferfar­ benen Haargutes Buch< im gehobenen Marktsegment unterzubringen. Die Angelique-Bücher gehörten bis in die achtziger Jahre hinein zur festen Ausstattung unzähliger Wohnzimmerschrank­ wände in Deutschland. Heute soll die Welt-Gesamtauflage bei über 150 Millionen Romanen liegen. Es werden vor allem die erotisch-schlüpfrigen Episoden gewesen sein, die den besonderen Reiz ausmachten. Dies alles vor der Kulisse Frankreichs in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Angelique, Tochter eines verarmten Adeligen, wird mit einem reichen Aristokra­ ten verheiratet, der sie - für den Fortgang der Handlung besonders wichtig - in die >Kunst der Liebe< einführt: »Mit geschlossenen Augen ließ sie sich vom Strom der Wollust mitreißen. Sie bäumte sich nicht mehr gegen den Schmerz auf, denn schon verlangte jede Faser ihres Körpers wild nach der Beherrschung durch den Herrn. Als er in sie drang, schrie sie nicht auf, doch ihre Augenlider öffneten sich weit, und die Sterne des Frühlingshimmels spiegelten sich in ihren grünen Augen.«75 Das Frankreich Ludwigs des XIV., des Sonnenkönigs, gerät bei so viel Leidenschaft unwillkürlich zur reinen Nebensache.

Dinah Nelken: »... aus der Zeit vor 1945 gut bekannt« Dinah Nelken verdanken wir eines der ungewöhnlichsten Bestsel­ lerbücher der dreißiger und vierziger Jahre: Ich an Dich. Ein Roman in Briefen mit einer Geschichte und ihrer Moral für Liebende und sol­ che, die es werden wollen.76 Es ist eine Liebesgeschichte, in erster Li­ nie aber ein gelungenes Geschenkbuch. Die Story wird nicht klassisch erzählt, sondern sie setzt sich dem Leser aus Text- und Bildcollagen zusammen. »Die Geschichte einer Liebe, so trivial und so tragisch, so einfach und so erhaben wie jede Liebe, in Briefen, Zetteln, Fahr­ karten, Telegrammen, Kinobilletts und kleinen, zufälligen Bekennt­ nissen der Sehnsucht. Ein Bilderbuch? Nein, ein Lesebuch, in dem wir - lächelnd, um nicht zu weinen - den Roman zweier Lieben-

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den erzählten.«77 Bei ich an Dich sorgte der traurige Umstand, dass seit Kriegsbeginn zahllose Paare zu langfristigen unfreiwilligen Tren­ nungen gezwungen wurden, für steigende Nachfrage. Bis zum Ende des >Dritten Reichs< kam der Band auf weit über 200000 verkaufte Exemplare. Die schon bald nach Erscheinen realisierte Verfilmung des Stoffes unter dem Titel Eine Frau wie du mit Brigitte Horney in der Hauptrolle hatte die Auflage schon nach kürzester Zeit auf das über

Fünffache steigen lassen. Und bereits 1950 wieder bezeichnete der Verlag Hoffmann und Campe ich an Dich als seinen »größten Absatzerfolg«. »Die Gründe sind naheliegend: Es spricht ein breites Publikum an, eignet sich be­ sonders als Geschenkartikel für junge Liebespaare und ist schließ­ lich aus der Zeit vor 1945 gut bekannt.«78 Sogar die Auflagenzählung wurde einfach fortgeführt. Für das genannte Jahr wird das 251. bis 270. Tausend ausgewiesen. Bis 1965 kletterte die Auflage bei Hoff­ mann und Campe auf 476000, Buchklubausgaben nicht mitgezählt. In Nazideutschland gehörte Nelken eher zu den kritischen Köp­ fen. Sie suchte jedoch keinen Konfrontationskurs, sondern pflegte, da sie von ihren Einkünften als Autorin leben musste, einen koope­ rativen Umgang mit der Schrifttumsbürokratie. Wenn das Hauptab­ satzgebiet ihrer Texte auch weiterhin Deutschland blieb, so ging sie zumindest räumlich auf Distanz. Zunächst finden wir sie in Wien wieder, wo sie 1938 vom sogenannten Anschluss eingeholt wurde. Später lebte sie zeitweise in Jugoslawien. Ein Antrag auf die Zuteilung von Reisezahlungsmitteln für die Arbeiten an einem Buch über Dal­ matien wurde 1940 von den zuständigen Stellen in Deutschland ab­ gelehnt.79 Schließlich reiste sie nach Italien weiter, wo sie das Kriegs­ ende erlebte; erst in den fünfziger Jahren erfolgte ihre Rückkehr nach

Westberlin. Ihre Biografie mag erklären, warum sie zwar im Westen Verkaufser­ folge mit Ich an Dich hatte, mit ihren neueren Werken und auch po­ litisch aber eher in der DDR eine Heimat fand. Ihr Hausverlag dort: der Verlag der Nation, der überdurchschnittlich vielen Westautoren eine verlegerische Heimat bot. Nelken gehörte zu den sechs westdeut­ schen Autorinnen und Autoren, die nach dem Mauerbau beim Verlag

Der Gerechte von Biesenbrow: Ehm Welk 299

verblieben. Das Ganze wurde intern als »Straffung des Profils«80 ver­ kauft, der Nelken unter anderem deshalb nicht zum Opfer fiel, weil ihr Roman Spring über deinen Schatten, springl mit einem Preis des Ministeriums für Kultur ausgezeichnet worden war. Außerdem schien ihre politische Position klar: »Dinah Nelken ist während des Faschis­ mus aus Deutschland emigriert. Ihre politische Haltung ist eindeutig für unsere Republik und gegen das Adenauer-Regime. Sie ist bei vielen Gelegenheiten mutig gegen den Bonner Kriegskurs eingetreten. [...] Sie ist Mitglied des Deutschen PEN-Zentrums Ost und West.«81 Ob­ wohl sie in Westberlin lebte, erfuhr sie Anerkennung für ihre neue­ ren Arbeiten - etwa durch die Verfilmung ihres Romans Das angstvolle Heldenleben einer gewissen Fleur Lafontaine mit Angelika Domröse in der Hauptrolle - eher im Osten. Nelkens Sohn Peter hatte das Nazi­ regime in der Emigration und Illegalität überlebt und sich 1945 be­ wusst für den sowjetisch besetzten Teil Deutschlands entschieden. In der DDR war er von 1958 bis zu seinem Tod acht Jahre lang Chefre­

dakteur der Satirezeitschrift Eulenspiegel.82 Dinah Nelken engagierte sich in den achtziger Jahren in der Initi­ ative »Künstler für den Frieden«, die sich im Zuge der Friedensbewe­ gung gegen die militärische Hochrüstung in Europa wandte. Sie starb im Januar 1989, im Jahr des Mauerfalls, in Westberlin. Nelken war und blieb eine Grenzgängerin.

Der Gerechte von Biesenbrow: Ehm Welk Ehm Welk war in der DDR nicht irgendein Autor, sondern Träger des Nationalpreises (1954) und Mitglied der Akademie der Künste. Er gehört zu den wenigen Autoren, die trotz der sich immer weiter vertiefenden deutschen Teilung in Ost und West gleichermaßen ver­ legt und gelesen wurden. In den Zeitungen der DDR wurde dieser gesamtdeutsche Aspekt immer besonders hervorgehoben. Und auch im Westen galt er als einer, der sich bemüht habe, ein »gesamtdeut­ scher Schriftsteller«83 zu bleiben. Sein bekanntestes Buch, Die Heiden

300 Kleine Fluchten

von Kummerow, war erstmals 1937 erschienen und zählte mit rund 730000 verkauften Exemplaren zu den erfolgreichsten Romanen in NS-Deutschland. Das Werk wurde schon bald nach 1945 wieder ver­ legt - auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs. Eine erste Auflage von 10000 Stück erfolgte 1948 bei Hinstorff in Rostock, im selben Jahr erschien auch eine Ausgabe in Hamburg. Bei Hinstorff kamen bald Neuauflagen im Jahresrhythmus heraus, im Westen ist für 1954 eine Auflage bei Droste in Düsseldorf nachweisbar, und 1959 stieg schließ­ lich sogar der Bertelsmann Lesering ein - es wird sich erfahrungsge­ mäß um keine unbedeutende Auflage gehandelt haben. Zwischen 1949 und 1952 war Welk dann sogar zeitweise auf Le­ sereise in der Bundesrepublik, wenn er auch als Autor »aus dem Osten«84 manchmal unter besonderer Beobachtung stand oder in den Westmedien sogar angefeindet wurde, schließlich war die System­ auseinandersetzung in vollem Gange. Zurück in der DDR, trug er sei­ nen Teil zu dieser Propagandaschlacht bei: An seinen Eindrücken aus dem Westen ließ er seine Mitbürger teilhaben. So verbreitete er über das Zentralorgan der SED Neues Deutschland, dass in Schleswig-Hol­ stein noch über 100000 Umsiedler in ärmlichsten Verhältnissen leb­ ten. »In dieser Atmosphäre des Elends falle die minderwertige ameri­ kanische Literatur mit ihrer krankhaften Erotik, die in letzter Zeit in Westdeutschland auf etwa drei Millionen Bände angewachsen sei, auf fruchtbaren Boden.«85 Schließlich erfolgte 1967 eine Verfilmung der Heiden von Kumme­ row in Gemeinschaftsproduktion zwischen DDR und Bundesrepub­ lik, Mitwirkende waren unter anderem Paul Dahlke, Theo Lingen und Ralf Wolter. »Ulbrichts Staatsfilm überließ [...] gratis Ateliers, Sta­ tisten, technisches Personal und Drehgerät samt Rohfilm. Die DEFA bekam dafür die Auswertungsrechte für das sozialistische Lagere«86 Dabei schien der Träger des Nationalpreises auf den ersten Blick auch im >Dritten Reich< auf Linie gelegen zu haben. Der Nachfolge­ band zu den Heiden, Die Gerechten von Kummerow, wurde sogar vom Propagandaministerium ausgezeichnet. Das Buch hatte, obwohl erst 1943 erschienen, schnell die 100000er-Marke überschritten: »Unser Autor Ehm Welk erhielt für seinen bei uns herausgebrachten Roman

Der Gerechte von Biesenbrow: Ehm Welk 301

Die Gerechten von Kummerow den 1. Preis in Höhe von RM 15000 des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda für Unter­ haltungsschrifttum«87, vermerkte stolz der Direktor seines damaligen Verlages. Es musste sich also um Texte handeln, die sich ins Konzept nationalsozialistischer Literaturpolitik einfügten. Das DDR-Schriftstellerlexikon vermerkte zu Welk, er habe in jenen Jahren »unpoli­ tische Bücher« geschrieben, sie seien »in Distanz zur üblichen >Blutund Bodenfast schon intellektuell^ denn er erhält als einziger der Bauern des Ortes eine Zeitung. Gottlieb Grambauer begehrt gegen die Kirche und den Pfarrer auf. Ein gewisser antikleri­ kaler Geist durchweht den Text, dies mag manchem nationalsozia­ listischem Kritiker - und sicher auch den späteren Förderern in der DDR - besonders gefallen haben. Allerdings sind alle Figuren Welks (auch die Kirchenleute) mit sehr viel Liebe und Sympathie gezeichnet. Bei allen Anklängen an konventionelle Heimatliteratur - Welk denkt und schreibt anders und bleibt tatsächlich weit entfernt von Blut-und-Boden-Ideologie. Er baut kleine Brüche und überraschende Momente in die Handlung ein, die die ärgsten Erzählkonventionen immer wieder infrage stellen. Will man Widerständiges zwischen den Zeilen lesen - bei Ehm Welk ist es möglich. So doziert in einer Passage der Kantor Kannegießer vor versammelter Schulklasse: »Ich sage euch, der Geist wird doch siegen, ganz gewiß immer dann, wenn sich ihm ein ehrliches Herz zugesellt. Und ganz bestimmt dann, wenn dazu auch noch Mut kommt. Nicht bloß der Mut, der dreinschlägt, son­ dern auch der Mut zum Bekennen. Das merkt euch, ihr Kummerower Faulpelze. [...] Der Mensch, der nach dem Großen strebt, kennt über­ haupt nicht Feind und Freund. [...] Er kennt bloß schlechte und gute Menschen, aber die soll er nicht danach richten, wie sie zu ihm sind, sondern ob sie anderen Gutes oder Böses tun.«94 Was für große und entlarvende Worte in so finsteren Zeiten. Und dennoch: Zwar war Ehm Welk unfreiwillig zum Bestsellerautor geworden, was er schrieb,

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erwies sich aber bald als so erfolgreich und funktionierte so gut, dass der stets pragmatische Propagandaminister den Nutzen dieses Autors erkannte. Solche Unterhaltungsliteratur brauchte er. Die Menschen, die im NS-System zu funktionieren hatten, sollten hier entspannen können und neue Kraft tanken. Darin aber zeigt sich, dass das ver­ meintlich unpolitische Buch in seiner Funktion nicht immer auch unpolitisch war. Es konnte im hohen Maße systemstabilisierend wir­ ken, indem es wie in dem vorliegenden Fall eine Ventilfunktion er­ füllte, also dem kritischen Blick auf die Herrschenden einen Raum gab, ohne aber zum Umsturz der bestehenden Verhältnisse aufzuru­ fen. Eine Rolle, die Texte von der Art der Heiden unter verschiedenen Regimebedingungen anschlussfähig macht. Anlässlich von Welks 70. Geburtstag gratulierte ihm im Neuen Deutschland das Zentralkomitee der SED: »1945 wurdest Du Mitglied der KPD. Heute setzt Du Deine Kraft dafür ein, um unsere großen Ziele zu verwirklichen. Deine in allen Teilen Deutschlands gelesenen Werke sind dazu ein wertvoller Beitrag.«95 Auf derselben Seite des Blattes ließ man eine Würdigung vornehmen, in der es mit Blick auf die NS-Zeit hieß: »Nicht alles, was Ehm Welk damals drucken ließ, hat die Zeit der Dunkelheit überlebt. Ja, manches gehört in dieses Dun­ kel.«96 Die Heiden von Kummerow haben das Dunkel überdauert und sind bis zum heutigen Tage immer wieder in Neuauflagen für das Le­ sepublikum greifbar.

Sozialistische Unterhaltung? Emanzipation in den Romanen von Elfriede Brüning Nicht zuletzt durch die Kampagnen gegen Schmutz- und Schundli­ teratur (welche häufig mit billigem Schrifttum westlicher Herkunft gleichgesetzt wurde) galt in der DDR »leichte Unterhaltungsliteratur offiziell [als] verpönt«97. Ein Umstand, der sich - so Dietrich Löffler in seiner Studie zum Leseverhalten - erst nach der Bitterfelder Konferenz im April 1959 langsam gewandelt habe. Für den hier betrachteten Zeitraum ist davon auszugehen, dass leichte Unterhaltungsliteratur

304 Kleine Fluchten im Osten grundsätzlich einen schwereren Stand hatte. Frühes Zeugnis davon legt ein Artikel in der Neuen Zeit, der Zeitung der Ost-CDU, ab. Beim Versuch, »die größten Bucherfolge in der DDR«98 zu ermitteln, zeichneten die Reporter des Blattes ein anschauliches Bild des Lite­ raturmarkts jener Jahre. Es wird an mancher Stelle aufschlussreicher gewesen sein, als den Verantwortlichen lieb sein konnte. Zunächst wurde bekundet, das »fortschrittliche Buch« sei an allen Orten auf dem Vormarsch, es sei »aus dem Leben für das Leben, aus unserer Zeit für unsere Zeit« geschrieben. Ferner wurde berichtet, dass auch die Nachfrage nach Werken der sowjetischen Literatur anwachse, wie auch Lenin und Stalin »stark« gefragt seien. Dies waren die nötigen Lippenbekenntnisse, ohne die der Artikel vermutlich nicht hätte er­

scheinen können. Schließlich wird aber der Berichterstatter des CDU-Blattes aus Chemnitz zitiert: »Die Jugend verlangt nach wie vor Karl May und will nicht einsehen, warum diese Bücher nicht mehr erhältlich sind.« Was von Nord bis Süd in der Republik fehlte, war außerdem »das ausgesprochene Frauenbuch«. Auch unterhaltende Abenteuerlitera­ tur wurde allgemein vermisst. »Schundliteratur wurde vom Publikum nicht mehr angerührt noch gefragt. Aber immer wieder tauchte die Frage nach Karl May auf [...]« Und so muss der Artikel in der Neuen Zeit vor allem als ein Hinweis auf die großen Lücken gelesen wer­ den - die positiven Beispiele der erwünschten Literatur waren da nicht mehr als Ornamente. Aber es sind typische Geschichten, typisch für einen Buchmarkt, der eben keine Marktgesetze mehr kennt, auf dem die Nachfrage nicht das Angebot bestimmt, sondern das Politische an erster Stelle steht. Elfriede Brüning gehörte zu den Autorinnen, die versuchten, diese Versorgungslücken im Bereich der Frauenromane zu schließen. »In ihren späteren Romanen wandte sie sich hauptsächlich Frauenprob­ lemen unserer Gegenwart zu, wobei sie es verstand, diese Leserschich­ ten an die sozialistische Gegenwart heranzuführen, indem sie die Mittel des >Unterhaltungsromans< nutzte und an die Gefühle klein­ bürgerlicher Menschen anknüpfte«”, das hielt das Lexikon sozialis­ tischer deutscher Literatur über sie fest. Wenn auch nicht zu den ab-

Sozialistische Unterhaltung!’ 305

soluten Topsellern zu rechnen, so handelte es sich bei ihren Werken doch um den offenbar viel gesuchten Lesestoff, der in soliden Men­ gen unters Publikum kam. Allen voran zu nennen sind ihr Roman Regine Haberkorn, der 1955 erschien und sechs Jahr später immerhin im 95. Tausend vorlag, oder Rom, hauptpostlagernd, der auch die Vor­ lage zu einem Fernsehspiel lieferte. Die Gesamtauflage ihrer Werke zu DDR-Zeiten schätzt die Autorin auf rund 1,5 Millionen Exemplare.100 Regine Haberkorn schildert die Geschichte einer Emanzipation im noch jungen Sozialismus. Regine sucht den Weg ins Berufsleben und nimmt dabei auch Konflikte in Ehe und Familie in Kauf. »>Wer war denn diese Frau, die vor wenigen Monaten in unseren Betrieb kam und als Glimmerlegerin in Halle VII zu arbeiten anfing? Sie war ihrem Mann bis dahin eine vorbildliche Ehefrau und ihrem Jungen eine gute Mutter gewesen. Aber in unseren Betrieb kam sie nur, weil sie sich ein paar hundert Mark für ein neues Schlafzimmer zusammensparen wollte, das sie sich so brennend wünschte, seit ihr erstes Schlafzim­ mer im Krieg ein Raub der Flammen geworden war ...Es stimmt, du bist durch deine Arbeit anders geworden. Aber für mich bist du jetzt noch viel begeh­ renswerter^«102 Es ist nicht mehr und nicht weniger als ein Familien­ modell im sozialistischen Sinne, das hier literarisch entwickelt wurde. »Um den Betriebshintergrund meiner Protagonistin genau zu erfas­ sen, arbeitete ich ein halbes Jahr im Lokomotivwerk Henningsdorf. Wegen der großen Popularität bei den Arbeiterinnen wurde der Ro­ man immer wieder aufgelegt«103, so erinnerte sich Elfriede Brüning viele Jahre später. Ihre Regine Haberkorn löste eine lebhafte Auseinandersetzung in den Kulturbeilagen in der DDR aus, die mit einem Text unter dem Titel Vor dunkelroten Rosen wird gewarnt204 in der Berliner Zeitung be­ gann. Hier wurden die Arbeiten der Autorin zu den »meistgelesenen Gegenwartsromanen« gezählt, aber scharf kritisiert, dass sie in ih-

306 Kleine Fluchten

rer Regine Haberkorn in den Kitsch abrutsche. Zwar sei das Thema ernst und wichtig, aber die Figuren blieben zu schablonenhaft, der Text enthalte »Abgegriffenheiten, die in jedem Groschenroman dut­ zendweise Vorkommen«. Auch wofür, zu welchem Zweck man arbeite, sei nicht gut (vermutlich ist gemeint: im sozialistischen Sinne) aus­ gestaltet. »Sollte der Leiter eines volkseigenen Betriebes wirklich keine anderen Ideale haben als solche, die haargenau aus einem CourthsMahler-Roman entnommen sein könnten?« Elfriede Brüning fühlte sich missverstanden, indem ihrem Roman das Adjektiv kleinbürger­ lich angeheftet wurde. Es fanden sich auch schnell andere Kritiker, die dem entgegenhielten, dass nicht die Autorin kleinbürgerliche Ideen transportiere, sondern eben eine Welt beschreibe, in der auch die fort­ schrittlichen Partnerschaften noch mit kleinbürgerlichen Vorstellun­ gen zu kämpfen hätten - gerade das sei das Feld für die Unterhal­ tungsliteratur! Und es finden sich Stimmen, die festhalten, dass es geradezu wichtig sei, um bestimmte Leserkreise zu erreichen, eben be­ stimmte Darstellungsformen zu wählen. »Womit wird denn drüben die öffentliche Meinung gemacht? Es wäre wirklich ein großer Irrtum, anzunehmen, dass sie mit der großen Literatur gemacht wird«105 - so wurde mit Blick auf das andere Deutschland argumentiert. Vor einem solchen Hintergrund schrieb Brüning auch dem Autor ihres biografischen Artikels im Lexikon sozialistischer deutscher Lite­ ratur als Antwort: »[...] lieber Franz Hammer: Was heißt eigentlich >kleinbürgerlich