Der terrorisierte Staat: Entgrenzungsphänomene politischer Gewalt 9783515101172

Terroristische Gruppen präsentieren sich zwar immer als Feinde eines bestimmten Staates, einer Gruppe von Staaten oder g

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Der terrorisierte Staat: Entgrenzungsphänomene politischer Gewalt
 9783515101172

Table of contents :
EDITORIAL
VORWORT
INHALT
1. Teil: Staat und Terrorismus: Begriffe, Positionen, Beziehungen
TERRORISMUS UND STAAT – EIN KOMMUNIKATIONSMODELL
DIE ANDERE SYMMETRIE. ANMERKUNGEN ZUM VERHÄLTNIS VON STAAT UND TERRORISMUS
2. Teil: Staatliche Terrorismusbekämpfung
NETZWERKE ZUR GEFAHRENABWEHR UND TERRORISMUSBEKÄMPFUNG. INNERE SICHERHEIT ZWISCHEN LEISTUNGSZWANG UND TRENNUNGSGEBOT
BEVÖLKERUNGSSCHUTZ IN ZEITEN DER ASYMMETRISCHEN BEDROHUNG – BEDINGT EIBSATZKLAR?
MASSNAHMEN ZUR TERRORISMUSBEKÄMPFUNG DURCH DIE EUROPÄISCHE UNION
RECHTSTAATLICHKEIT UND TERRORISMUSBEKÄMPFUNG. ERFAHRUNGEN AUS KOLUMBIEN
3. Teil: Staat und Terrorismus:Fallstudien
DOMESTIC TERRORISM. POLITISCHE GEWALT IN DEN USA
DSCHIHADISMUS UND TRERITORIALITÄT. URSACHEN, BEDINGUNGEN UNF FOLGEN FEHLENDEN TERRITORRIALITÄTSDENKENS IM MILITANTEN SUNITISCHEN FUNDAMENTALISMUS
DER TERRORIST ALS DIENSTLEISTER? DIE SIOZIALE ROLLE DER HAMAS IM GAZA-STREIFEN VOR DEM HINTERGRUND IHRER TERRORISTISCHEN IDEOLOGIE
AUTOREN UND HERAUSGEBER

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Jochen Kleinschmidt / Falko Schmid / Bernhard Schreyer / Ralf Walkenhaus (Hg.) Der terrorisierte Staat

Staatsdiskurse Herausgegeben von Rüdiger Voigt Band 19

Wissenschaftlicher Beirat: Andreas Anter, Leipzig Manuel Knoll, Istanbul Eun-Jeung Lee, Berlin Marcus Llanque, Augsburg Samuel Salzborn, Gießen Birgit Sauer, Wien Gary S. Schaal, Hamburg Peter Schröder, London Virgilio Afonso da Silva, São Paulo

Jochen Kleinschmidt / Falko Schmid / Bernhard Schreyer / Ralf Walkenhaus (Hg.)

Der terrorisierte Staat Entgrenzungsphänomene politischer Gewalt

Franz Steiner Verlag Stuttgart 2012

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-10117-2 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2012 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Printed in Germany

EDITORIAL Der Staat des 21. Jahrhunderts steht in einem Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Freiheit, zwischen Ordnung und Veränderung, zwischen Herrschaft und Demokratie. Er befindet sich zudem in einem Dilemma. Internationale Transaktionen reduzieren seine Souveränität nach außen, gesellschaftliche Partikularinteressen schränken seine Handlungsfähigkeit im Innern ein. Anliegen der Reihe Staatsdiskurse ist es, die Entwicklung des Staates zu beobachten und sein Verhältnis zu Recht, Macht und Politik zu analysieren. Hat der Staat angesichts der mit „Globalisierung“ bezeichneten Phänomene, im Hinblick auf die angestrebte europäische Integration und vor dem Hintergrund einer Parteipolitisierung des Staatsapparates ausgedient? Der Staat ist einerseits „arbeitender Staat“ (Lorenz von Stein), andererseits verkörpert er als „Idee“ (Hegel) die Gemeinschaft eines Staatsvolkes. Ohne ein Mindestmaß an kollektiver Identität lassen sich die Herausforderungen einer entgrenzten Welt nicht bewältigen. Hierzu bedarf es eines Staates, der als „organisierte Entscheidungs- und Wirkeinheit“ (Heller) Freiheit, Solidarität und Demokratie durch seine Rechtsordnung gewährleistet. Gefragt ist darüber hinaus die Republik, bestehend aus selbstbewussten Republikanern, die den Staat zu ihrer eigenen Angelegenheit machen. Der Staat seinerseits ist aufgefordert, seinen Bürgerinnen und Bürgern eine politische Partizipation zu ermöglichen, die den Namen verdient. Dies kann – idealtypisch – in der Form der „deliberativen Politik“ (Habermas), als Einbeziehung der Zivilgesellschaft in den Staat (Gramsci) oder als Gründung der Gemeinschaft auf die Gleichheit zwischen ihren Mitgliedern (Rancière) geschehen. Leitidee der Reihe Staatsdiskurse ist eine integrative Staatswissenschaft, die einem interdisziplinären Selbstverständnis folgt; sie verbindet politikwissenschaftliche, rechtswissenschaftliche, soziologische und philosophische Perspektiven. Dabei geht es um eine Analyse des Staates in allen seinen Facetten und Emanationen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des In- und Auslands sind zu einem offenen Diskurs aufgefordert und zur Veröffentlichung ihrer Ergebnisse in dieser Reihe eingeladen. Rüdiger Voigt

VORWORT Jedem terroristischen Gewaltakt ist die Referenz auf die staatliche Ordnung inhärent – und sei es nur die sichtbare Verletzung des Monopols legitimer Gewalt, die diese Referenz begründet. Die sozialwissenschaftliche Terrorismusforschung tendiert gegenwärtig dazu, Terrorismus als antirationales, unbedingten Wahrheitsansprüchen entspringendes und jeglicher Vorstellung von gewalthegender Staatlichkeit entgegengesetztes Phänomen zu verstehen. Diesem Sammelband liegt die Beobachtung zugrunde, dass die Dualität von Terrorismus und Staatlichkeit durch mehr als nur diesen Aspekt konstituiert wird. Terroristische Gruppen präsentieren sich zwar immer als Feinde eines bestimmten Staates, einer Gruppe von Staaten oder gar der Idee des Staates als solcher. Ihre Aktivitäten haben aber mehr als nur zerstörerische Konsequenzen. Terroristische Gewalt kann zu Veränderungen staatlicher Strukturen im Zuge der Terrorismusbekämpfung führen, kann Staatstätigkeit in manchen Fällen sogar neu legitimieren. Umgekehrt findet auch die Bildung terroristischer Gruppierungen in einem bereits bestehenden staatlichen Kontext statt, der sie ermöglicht und den sie bis zu einem gewissen Grad reflektieren. Und schließlich werden manche Terroristen am Ende selbst zu staatsbildenden Gruppen oder übernehmen parastaatliche Funktionen. Dieses komplexe Verhältnis von Terror und Staat steht im Fokus dieses Sammelbands, seine Vielschichtigkeit soll sich in den Beiträgen widerspiegeln. Die ursprüngliche Idee für dieses Projekt geht auf Diskussionen im Rahmen der Forschungsgruppe Terrorismus am Lehrstuhl für Politische Theorie der Universität der Bundeswehr in Neubiberg zurück. Wir bedanken uns daher bei Professor Ulrich Weiß für materielle und ideelle und bei Frau Michaela Prohaska für die organisatorische Unterstützung. Professor Rüdiger Voigt gilt unser Dank für die Aufnahme des Bandes in die Reihe „Staatsdiskurse“. Die Mitarbeiter des Lehrstuhls Politische Theorie und Wissenschaftslehre – Martin von Berg, Martin Böcker und Stefan Oska – haben sich durch die Übernahme zahlreicher Lektoratsaufgaben verdient gemacht. Schließlich geht unser Dank an die Autoren, ohne deren engagierte Mitwirkung dieses Buchprojekt nicht möglich gewesen wäre; sowie an die Teilnehmer und Teilnehmerinnen unserer Lehrveranstaltungen an der Universität der Bundeswehr für ihre ideenreichen Kommentare und hilfreichen Hinweise. München, Neubiberg, Berlin, im März 2012

Die Herausgeber

INHALT Vorwort ............................................................................................................

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1. TEIL: STAAT UND TERRORISMUS: BEGRIFFE, POSITIONEN, BEZIEHUNGEN Martin Böcker: Terrorismus und Staat – Ein Kommunikationsmodell ....................................

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Bernhard Schreyer: Asymmetrische Legitimation. Überlegungen zum Verhältnis von Staat und Terrorismus...............................................................................

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2. TEIL: STAATLICHE TERRORISMUSBEKÄMPFUNG Falko Schmid: Netzwerke zur Gefahrenabwehr und Terrorismusbekämpfung. Staatliche Sicherheit zwischen Leistungszwang und Trennungsgebot............

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Florentin von Kaufmann: Bevölkerungsschutz in Zeiten der asymmetrischen Bedrohung – bedingt einsatzklar? ......................................................................................................

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Stefan Oska / Martin von Berg: Massnahmen zur Terrorbekämpfung durch die Europäische Union ...............

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Cornelia Weiss: Rechtsstaatlichkeit und Terrorismusbekämpfung. Erfahrungen aus Kolumbien ............................................................................

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Inhalt

3. TEIL: STAAT UND TERRORISMUS – FALLSTUDIEN Michael Seitz: Domestic Terrorism. Politischer Widerstand in den USA...............................

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Sebastian Huhnholz: Dschihadismus und Territorialität. Ursachen, Bedingungen und Folgen fehlenden Territorialdenkens im militanten sunnitischen Fundamentalismus ...........................................................................................

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Björn Budde: Der Terrorist als Dienstleister? Die soziale und karitative Rolle der Hamas im Gaza-Streifen vor dem Hintergrund ihrer islamistischen Ideologie .......................................

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Autoren- und Herausgeber...............................................................................

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1. Teil Staat und Terrorismus: Begriffe, Positionen, Beziehungen

TERRORISMUS UND STAAT – EIN KOMMUNIKATIONSMODELL Martin Böcker

1. Die „schwere Krankheit“ Was ist Terror? Was ist Terrorismus? Die Antwort auf diese Fragen wird im Folgenden ein Versuch bleiben. Denn die möglichen Aktionsformen sind in fast allen denkbaren Kriterien so unterschiedlich, dass die befriedigende Subsumtion unter einer Definition nicht möglich zu sein scheint.1 Diese Schwierigkeit hängt vermutlich (und unter anderem) mit der moralischen Aufladung des Begriffes zusammen. „Terrorismus“ ist böse, darum möchte niemand „Terrorist“ sein; zur Diskreditierung des Gegners eignet sich der Begriff jedoch wunderbar. Also wird mit der bekannten Wendung, dass des einen Terrorist ja des anderen Freiheitskämpfer sei, von einigen Autoren sogar der Verzicht auf den Begriff vorgeschlagen. Dass mit dem Verzicht allerdings die Trennlinie zwischen einem Selbstmordattentäter, einem Randalierer und einem Guerillakämpfer verwischt würde, ist damit genau so offensichtlich wie die Notwendigkeit einer wertfreien Definition.2 Diese ließe das politische Ziel des „Terroristen“ außer Acht und bezöge sich nur auf die Methode – genauer gesagt: auf den Akt. Somit kann der Terrorist nicht per se vom Freiheitskämpfer abgegrenzt werden. Sowohl der „Gute“ als auch der „Böse“ kann Terrorist sein, bzw. Guerillero, Partisan, Soldat, Aktivist und so weiter. Die moralische Bewertung und die Art des politischen Ziels3 eines Terroristen sind für die Definition von „Terrorismus“ also irrelevant. Es empfiehlt sich, den Gegenstand des Terrorismus möglichst vorurteilsfrei und emotionslos zu betrachten.4 Allerdings ist nach reichlich vier Jahrzehnten „harter Arbeit […] noch immer keine allgemein anerkannte Definition des Terrorismus in Sicht“,5 und die Begriffe des Opfers, des Täters und allgemein des Terroristen unterliegen einem ständigen Wandel.6 Somit ist auch eine Typologie unzulänglich, die über die in den einschlägigen Werken verbreitete Unterscheidung von „sozialrevolutionär“, „ethno-

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Herzog 1991, S. 13. Vgl. Laqueur 2004, S. 351–352. Für das hier vorzustellende Analyseraster ist es irrelevant, ob das Ziel zum Beispiel die Absicht im Kopf des Terroristen oder in der autotelischen Logik terroristischer Gewalt zu suchen ist. Waldmann 2001, S. 9. Laqueur 2004, S. 346. Carr 2002, S. 10.

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nationalistisch“, „vigilantistisch“ und „religiös“ nicht hinausgeht.7 Sie behandelt zwar das politische Ziel, lässt aber unter anderem den Akt8, den ausführenden Gewalttäter9 oder die Adressaten10 außer Acht. Walter Laqueur vergleicht Terrorismusforscher mit Ärzten, „die mit einer schweren Krankheit, deren Ursachen noch nicht restlos geklärt sind, oder einem Arzneimittel, dessen genaue Wirkungsweise unbekannt ist, konfrontiert sind.“ Das halte die Ärzte aber nicht davon ab, „die Krankheit zu diagnostizieren und das Arzneimittel zu verschreiben.“11 Um in Laqueurs Bild zu bleiben: Die verschiedenen Ausformungen der „Krankheit“ benötigen eine jeweils angepasste Behandlung. Um die Diagnose und die Auswahl der Behandlung zu erleichtern, soll im Folgenden durch den Vergleich diverser Definitionen etablierter Terrorismusforscher und eigenen theoretischen Überlegungen eine allgemein gehaltene Definition hergeleitet werden. Dabei wird der durch Peter Waldmann etablierten Annahme gefolgt, dass Terrorismus eine Kommunikationsstrategie sei. Innerhalb dieses Kommunikationsmodells ergeben sich einzelne chronologisch-logische Abschnitte und Handelnde, die in dieser Einleitung als Grundlage für ein Analyseraster dienen sollen. Anhand des Rasters wird dann eine differenzierte Typologie ermöglicht, welche die „Symptome“ beschreiben. Zusammengefasst könnten sie dann eine der tatsächlichen „Krankheit“ nahekommende Diagnose ergeben und die Auswahl der richtigen Medikation erleichtern. Im Anschluss an diese Überlegungen werden die Artikel dieses Sammelbandes über den Terrorismus als „Entgrenzungsphänomen“, quasi als Pröbchen unseres Medikamentenschranks, vorgestellt.

2. Definitionsversuch Terrorismus – als Sicherheitsproblem moderner Nationalstaaten – existiert seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Der gegenwärtige internationale Terrorismus hat sich seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts herausgebildet. Um die Grundzüge des modernen Terrorismus zu verstehen, ist es deshalb zweckmäßiger, nicht bis in die Antike, sondern nur bis zur Französischen Revolution zurückzugehen.12 1744 findet sich in Zedlers „Grossem vollständigen Universal-Lexicon“ unter dem Begriff „Terror“ noch ein Verweis auf „Schrecken“: Dieser heiße „bey denen Rechtsgelehrten, und sonderlich den Criminalisten, diejenige Bedrohung, welche halsstarrigen und verstockten Inquisitien“ drohe, die trotz erwiesener Schuld „dennoch Gott und der Gerechtigkeit zu Ehren die klare und lautere Wahrheit nicht bekennen wollen“.13 „Terror“ also als strafprozesslich geregelte Folter. 7 8 9 10 11 12 13

Vgl. z.B. Richardson 2007, S. 36–39. Z.B. Bombe, Messer, Gewehr usf. Z.B. organisiertes Netzwerk, Einzeltäter usf. Z.B. die eigene Ethnie, Regierung eines Staates usf. Laqueur 2004, S. 354. Berger/Weber 2008: S. 10–11. Zedler 1743, S. 1113.

Terrorismus und Staat: Ein Kommunikationsmodell

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Mehr als hundert Jahre später, 1851, kennt „Das große Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände“ mittlerweile den Begriff „Terrorismus“: gemeint ist das „Régime de Terreur, das im März 1793 mit der Einsetzung eines außerordentlichen Kriminalgerichts begann“.14 Seine eigentliche Bedeutung bekam der aus dem lateinischen hergeleitete Begriff mit dem terreur der Jakobinerherrschaft nach der Französischen Revolution. Rein begriffsgeschichtlich ist „Terror“ zunächst also eine Angelegenheit des Staates, bzw. ein Mittel der „Herrschenden“,15 nämlich Gewalt (oder Androhung von Gewalt) zur Durchsetzung eines politischen Ziels. „Gewalt“ ist als Voraussetzung selbsterklärend. Die Notwendigkeit des politischen Ziels ermöglicht die Abgrenzung zu anderen Gewalttätigkeiten. Dies ist geboten, da andernfalls der Begriff sonst nur ein Synonym für Aufsehen erregende Gewalttaten darstellen würde:16 Terrorismus ist etwas anderes als Allgemeinkriminalität, Extremismus, Guerillakrieg oder Terror durch Verstöße regulärer Truppen.17 Jede Definition, die über diese beiden Punkte hinausginge, würde nach Ansicht Walter Laqueurs Kontroversen auslösen.18 So ist es in der Tat strittig, ob „Terrorismus“ auch von Staaten oder nur von substaatlichen Gruppen ausgehen kann. Der Historiker Caleb Carr unterscheidet nicht zwischen staatlichem Terror und substaatlichen Terrorismus. Für ihn ist „Terrorismus […] die moderne Ausformung des vorsätzlichen Krieges gegen Zivilisten mit dem Ziel, deren Bereitschaft zur Unterstützung ihrer politischen Führung beziehungsweise der durch diese praktizierten Politik, an welcher die Agenten solcher Gewalt Anstoß nehmen, nachhaltig zu erschüttern.“19 Aus seiner militärhistorischen Sicht steht der moderne internationale Terrorismus in einer langen Tradition staatlichen Terrors. Damit sei der Terrorismus dieser Tage nur eine Reaktion auf den staatlichen Terror in der Geschichte. Diese Definition baut also auch auf den systematischen Gebrauch von Gewalt oder deren Androhung zur Durchsetzung bestimmter politischer Ziele auf. Carr setzt staatlichen „Terror“ und substaatlichen „Terrorismus“ gleich, die Klammer ist für ihn die Gewalt gegen Zivilisten. Der Gleichsetzung von Regimeterror und substaatlichen Terrorismus widersprechen einige Terrorismusforscher: Das Verhalten von Terrorgruppen könne nur dann mit analytischer Klarheit begriffen werden, wenn sie als substaatliche Akteure und nicht als Staaten betrachtet würden.20 Während staatlicher Terror aus einer Machtposition heraus ausgeübt werde und der Stabilisierung der Ordnung dienen möchte, sei der substaatliche Terrorismus per definitionem eine Waffe der Schwachen, welche die Ordnung (wenigstens zunächst) destabilisieren möchten.21 14 15 16 17 18 19 20 21

Meyer 1851, S. 442. Herzog 1991, S. 19. Ebd., S. 93. Ebd., S. 93–106. Laqueur 2004, S. 354. Carr 2002, S. 9. Vgl. Richardson 2007, S. 29. Vgl. Berger/Weber 2008, S. 15.

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Die Gleichsetzung von staatlichem Terror und substaatlichen Terrorismus ist also insofern irreführend, als dass es die Vermengung aller Formen von Gewalt voraussetzt, die es in der Geschichte in mannigfaltiger Art und Weise gegeben hat.22 Somit bietet sich also die begriffliche Trennung zwischen staatlichem Terror auf der einen Seite und substaatlichem Terrorismus auf der anderen Seite an.23 Damit werden die bisherigen Punkte „Ausübung oder Androhung von Gewalt“ und „Durchsetzung eines politischen Ziels“ nun um den Punkt „Gruppe auf substaatlicher Ebene“ ergänzt – in dem Bewusstsein, dass der dritte Punkt umstritten ist.24 Neben Caleb Carr setzen einige Wissenschaftler für den „Terrorismus“ voraus, dass er sich gegen Zivilisten richtet.25 Diesem Punkt widerspricht abermals Walter Laqueur: „Die meisten terroristischen Gruppen der Gegenwart greifen sowohl die Zivilbevölkerung als auch Militär und Polizei an.“26 Der Einwand ist vor allem dann schlüssig, wenn Terrorismus als Kommunikationsstrategie verstanden wird: Der „Gewaltakteur“ sendet der „eigentlichen Zielgruppe“ eine Nachricht, indem er einem Opfer Gewalt antut.27 Hierbei ist es für den Terroristen von entscheidender Bedeutung, dass die „eigentliche Zielgruppe“ (s.u.) diese Nachricht versteht und damit die gewünschte Reaktion der Zielgruppe zur Folge haben kann.28 Es ist daher irrelevant, ob der Terrorist nun einzelne Regierungsmitglieder, militärische Einheiten, die Polizei oder die Zivilbevölkerung in Angst und Schrecken versetzt. Relevant ist nur, dass er Schrecken erzeugt und die Nachricht bei der „eigentlichen Zielgruppe“ ankommt. Dem liegt das strategische Kalkül zugrunde, dass ein Schockeffekt über die Medien verbreitet wird.29 Hierzu muss der Angriff überraschen: Durch Unberechenbarkeit, Unwägbarkeit und Willkür stiften terroristische Anschläge Verwirrung und Furcht.30 Damit kommt die Definition auf den etymologischen Ursprung zurück. Der Gewaltakt einer substaatlichen Gruppe ist dann „Terrorismus“, wenn sie ihr politisches Ziel nicht unmittelbar durchsetzen will (bzw. kann!), sondern mittelbar über die psychologische Wirkung eines überraschenden, schockierenden, u.U. willkürlichen Gewaltaktes.

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Laqueur 2004, S. 352–353. Vgl. Steinberg 2005, S. 15. Vgl. Herzog 1991, S. 29. Vgl. z.B. Richardson 2007, S. 28; Berger/Weber 2008, S. 18. Laqueur 2004, S. 347. Vgl. Waldmann 2001, S. 29. Vgl. Waldmann 2001, S. 35. Berger/Weber 2008, S. 20. Waldmann 2001, S. 33.

Terrorismus und Staat: Ein Kommunikationsmodell

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3. Das Kommunikationsmodell als Analyseraster Die Mittelbarkeit lässt den Gewaltakt zur Kommunikation werden, die Peter Waldmann in Anlehnung an Eugene Walter31 in drei Elemente aufteilt:32 1. einem Gewaltakt oder dessen Androhung 2. einer emotionalen Reaktion 3. bestimmte Verhaltensweisen als Konsequenz des emotionalen Zustandes. Peter Waldmann: „Neben dieser logischen und chronologischen Dreiersequenz beim Vollzug und der Wirkung terroristischer Aktionen schält Walter drei Personengruppen heraus, die in jedem Fall in das Geschehen einbezogen sind. Das sind zum ersten die Gewaltakteure selbst, von denen der terroristische Prozess seinen Ausgang nimmt, zweitens die Opfer der Gewalttaten, und drittens die eigentliche Zielgruppe, um deren emotionale Beeinflussung und entsprechende Verhaltensreaktionen es letztlich geht.“33 Führt man die herausgearbeitete Definition und die beiden Dreischritte Eugene Walters zusammen, so ergeben sich Parallelen, anhand derer sich chronologisch-logische Abschnitte und Handelnde identifizieren lassen: Dreiersequenz (Walter)

Personengruppen (Walter)

Hergeleitete Definition Politisches Ziel

Gewaltakteure Gewaltakt oder dessen Androhung

Substaatliche Gruppe Gewalt oder dessen Androhung

Emotionale Reaktion

Gewaltopfer

Bestimmte Verhaltensweise als Konsequenz des emotionalen Zustandes

Eigentliche Zielgruppe

Erzeugung von Schrecken

Bei der Gegenüberstellung fällt auf, dass Eugene Walter der „eigentlichen Zielgruppe“ kein Gegenüber gibt. Damit setzt er voraus, dass die Gewaltakteure in jedem Fall ihr eigenes politisches Ziel verfolgen und schließt so die „vorgeblich Begünstigten“34, „Interessierte Dritte“35 und eventuell tatsächlich Begünstigte aus 31 32 33 34

Walter 1972, S. 7. Waldmann 2001, S. 29. Ebd., S. 29. Ebd., S. 37.

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der Analyse aus. Um analytische Klarheit zu schaffen, muss dem „politischen Ziel“ in der Gegenüberstellung also eine Interessengruppe zugeordnet werden. Dieser zusätzliche Punkt im Analyseraster schließt nicht aus, dass der Gewaltakteur identisch mit der Interessengruppe ist – er bietet jedoch die Möglichkeit der gesonderten Untersuchung. Demgegenüber kann das Gewaltopfer ebenfalls identisch mit der „eigentlichen Zielgruppe“ sein. Der Gewaltakt ist so oder so essentieller Bestandteil der Definition. Werden die gegenübergestellten Gesichtspunkte nun zusammengeführt, ergeben in Anlehnung an Walters Dreiersequenz und Personengruppen eine fünfschrittige chronologische Abfolge und eine Aufteilung in vier Handelnde um den terroristischen Akt: Handelnde Interessengruppe (z.B. ein fremder Staat, eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe)

Chronologische Abfolge definiert ein politisches Ziel oder passt es an (z.B. Gründung eines eigenen Staates, Machtgewinn)

Gewalttäter (z.B. organisiertes Netzwerk, Einzeltäter)

bilden Gruppe auf substaatlicher Ebene, bzw. führen sie fort (z.B. al-Qaida-Netzwerke)

Gewaltakt (z.B. Bombe, Messer, Gewehr)

Gewalt oder deren Androhung

(potentielle) Gewaltopfer (z.B. wahllos, bestimmte Bevölkerungsgruppe)

zeigen psychologische Wirkung (z.B. Angst, Wut, etc.)

Eigentliche Zielgruppe (z.B. Regierung eines Staates, der eigene Volksstamm)

zieht Konsequenzen (z.B. die Regierung erhöht Repressionen, der Volksstamm erhebt sich, etc.)

Das Modell bezieht sich begrifflich auf Idealtypen im Weberschen Sinne. So können zum Beispiel „Interessengruppe“ und „Gewalttäter“ identisch sein. Die Interessengruppe könnte ein Staat sein, der die „Gewalttäter“ finanziert, sie könnte aber auch vermeintlich Interessierte sein, für die sich der Gewalttäter einzusetzen gedenkt (z.B. die Arbeiterklasse für die RAF). Es begreift den Terrorismus als „Entgrenzungsphänomen“: Ort, Zeit, Täter, Opfer, Waffe sind beliebig, grundsätzlich muss sich jede Form von Staatlichkeit damit auseinandersetzen, dass der 35 Schroers 1961, S. 249.

Terrorismus und Staat: Ein Kommunikationsmodell

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Gewaltakt theoretisch immer jeden überall treffen könnte. Mit diesem Versuch sollte deutlich gemacht werden, dass die „Krankheit“ des Terrorismus nicht befriedigend definiert, aber doch systematisierend untersucht werden kann. So konstatiert die aktuelle Forschung in der Politikwissenschaft sowohl massive Veränderungen kontemporärer Staatlichkeit, als auch eine dynamische Evolution terroristischer Phänomene: Staat und Terrorist sind in ein Verhältnis dynamischer Wechselwirkungen eingetreten. Daher ist es reizvoll, beide Entwicklungen in ihrer dialektischen Form zu analysieren. Der Vielfalt dieser Dialektik soll durch die breite thematische Auswahl der Artikel dieses Sammelbandes gerecht geworden sein. Keineswegs geht es dabei darum, etablierten Perspektiven der spezialisierten Terrorismusforschung Konkurrenz zu machen. Vielmehr sollen Verbindungslinien von dieser zur Staatstheorie und – als deren anwendungsorientierter ‚Zwilling’ – der Verwaltungslehre gezogen werden. Angesichts der hochgradigen Spezialisierung der betreffenden Teildisziplinen, einhergehend mit einer wohl unvermeidlichen theoretischen und empirischen Myopie, sollte eine solche Verbindung für beide Seiten neue und fruchtbare Ideen erschließen können.

4. Die Beiträge des Sammelbands Bei der Zusammenstellung der empirischen Beiträge wurde darüber hinaus auch darauf geachtet, nicht nur solche terroristischen Gruppen zu betrachten, die ohnehin im Fokus des Interesses der Terrorismusforschung stehen. Vielmehr soll durch den Einbezug zahlreicher Fallstudien aus Nicht-OECD-Ländern und über Gruppen, die nicht eindeutig terroristische, sondern eher ‚hybride’ Akteure darstellen, der empirische Blickwinkel erweitert und generelle theoretische Aussagen zum Thema ermöglicht werden. Der Sammelband ist in drei Teile gegliedert, die jeweils aus einer spezifischen Perspektive das besondere Verhältnis von Terrorismus und moderner Staatlichkeit in den Blick nehmen. Der Band ist in drei Teile gegliedert, die jeweils aus einer spezifischen Perspektive das besondere Verhältnis von Terrorismus und moderner Staatlichkeit in den Blick nehmen. Keineswegs geht es dabei darum, etablierten Perspektiven der spezialisierten Terrorismusforschung Konkurrenz zu machen. Vielmehr sollen Verbindungslinien von dieser zur Staatstheorie und – als deren anwendungsorientierter ‚Zwilling’ – der Verwaltungslehre gezogen werden. Angesichts der hochgradigen Spezialisierung der betreffenden Teildisziplinen, einhergehend mit einer wohl unvermeidlichen theoretischen und empirischen Myopie, sollte eine solche Verbindung für beide Seiten neue und fruchtbare Ideen erschließen können. Bei der Zusammenstellung der empirischen Beiträge wurde darüber hinaus auch darauf geachtet, nicht nur solche terroristischen Gruppen zu betrachten, die ohnehin im Fokus des Interesses der Terrorismusforschung stehen. Vielmehr soll durch den Einbezug zahlreicher Fallstudien aus Nicht-OECD-Ländern und über Gruppen, die nicht eindeutig terroristische, sondern eher ‚hybride’ Akteure darstellen,

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der empirische Blickwinkel erweitert und generelle theoretische Aussagen zum Thema ermöglicht werden. Der erste Teil widmet sich den wechselseitigen Bezügen von Staatstheorie und Terrorismusforschung, stecken also gewissermaßen das zu erschließende Feld begrifflich ab. Bernhard Schreyer macht in seinem Beitrag „Asymmetrische Legitimation. Überlegungen zum Verhältnis von Staat und Terrorismus“ den Begriff der Entgrenzung für die Theoretisierung terroristischer Handlungsformen nutzbar. Ihm zufolge kann Terrorismus im Kontext moderner Staatlichkeit in vier verschiedenen Formen entgrenzend wirken: Erstens als Verschärfung, mittels der normalerweise gegebene Kontroll- und Diskursmechanismen zugunsten unbedingter Handlungsnotwendigkeiten ausgehebelt werden; zweitens durch Herbeiführung eines Ausnahmezustands im Schmitt’schen Sinne, in dem der liberale Rechtsstaat seine durch ihn selbst gesetzten rechtlichen Schranken überschreitet. Drittens im Sinne einer „Wechselwirkung zum Äußersten“, in der Terrorismus und staatliche Gegenmaßnahmen wechselseitig zur Aufhebung bisheriger Gewalthegungsmechanismen beitragen – und schließlich über das Motiv der Rache, welches dem Rechtsstaat als Motivationsressource versagt bleibt, sich aber terroristischen Gruppen als wichtiges Mittel zur Beseitigung von Hemmungen bei der Gewaltausübung anbietet. Im zweiten Teil wird der Veränderung staatlicher Strukturen und Praktiken durch den Einfluss terroristischer Bedrohungswahrnehmungen nachgegangen. Diese sind von Fall zu Fall verschieden, so wurden in den USA mit dem Department of Homeland Security und anderen Entwicklungen wie etwa der umstrittenen extralegalen Gefangenschaft von Terrorismusverdächtigen gleich mehrere drastische Einschnitte in staatsrechtliche Traditionsbestände vorgenommen. In Deutschland wurden aufgrund des Agierens dschihadistischer Gruppierungen überkommene Strukturprinzipien wie das im Übrigen verfassungsrechtlich nicht positivierte Trennungsgebot von Polizei und Nachrichtendiensten in Frage gestellt. Der primär augenscheinlichen Legitimität derartiger Forderungen erteilt allerdings Falko Schmid in seinem Beitrag „Netzwerke zur Gefahrenabwehr und Terrorismusbekämpfung: Staatliche Sicherheit zwischen Leistungszwang und Trennungsgebot“ eine weitgehende Absage: die Vernetzung unterschiedlicher Behörden erhebt zwar keinesfalls den Anspruch auf eine reibungsfreie Zusammenarbeit – dies ist aber auch in Staaten ohne ein entsprechend normiertes Trennungsgebot nicht der Fall – gleichwohl ist aber eine bemerkenswerte Effektivitätssteigerung zu verzeichnen. Ressourcen- und Personalausstattung sowie die fortlaufende Homogenisierung von Verfahrensweisen seien letztlich entscheidender für die Terrorismusbekämpfung als das Einreißen etablierter rechtlicher Strukturen. In dem Aufsatz „Bevölkerungsschutz in Zeiten der asymmetrischen Bedrohung – bedingt einsatzklar?“ untersucht Florentin von Kaufmann einen selten beachteten Aspekt der gegenwärtigen Terrorismusbekämpfung, nämlich ihre Auswirkungen auf Organisationen der zivilen Gefahrenabwehr. Hierbei erweist sich die föderale Organisation des Bevölkerungsschutzes als Problem, da dieses weit-

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gehend auf lokale Katastrophenfälle abgestimmt sei und bei überregionalen Auswirkungen etwa von Angriffen auf kritische Infrastrukturen keine operative Koordinierung auf höherer Ebene möglich wäre. Somit zwinge die terroristische Bedrohung die zivile Gefahrenabwehr dazu, erstmals strategische Verhaltensweisen zu erproben und die Komplexität von als möglich angenommenen Ereignissen wie Groß- und Mehrfachanschlägen in Planungen und Übungen zu integrieren. Stefan Oska und Martin von Berg widmen sich in ihrem Beitrag „Terrorbekämpfung durch die Europäische Union“ durch die neugefundene Rolle der Europäischen Union, die in Folge der Anschläge vom 11. September 2001 zum ersten Mal auch auf diesem Gebiet sonst als Anzeichen souveräner Staatlichkeit betrachtete Aufgaben übernahm. Die Rolle der EU wird von den Autoren ambivalent gewertet: Einerseits habe das teils ungehemmte Zusammenwachsen von Datenbanken Datenschützern durchaus berechtigten Anlass zur Sorge gegeben. Andererseits seien multilaterale Polizei- und Justizinstitutionen wie Europol und Eurojust tendenziell transparenter und genügten somit trotz der vorhandenen Demokratiedefizite der EU auch eher ihren Rechenschaftspflichten als horizontale, nicht-institutionalisierte bilaterale Kooperationen zwischen nationalen Polizeibehörden. Hingegen sei die EU bei der militärischen Terrorismusbekämpfung noch nicht den Kinderschuhen entwachsen, was weitgehend auf unterschiedliche strategische Prioritäten der Mitgliedsländer insbesondere im Verhältnis zu den USA zurückzuführen sei. Bei dem Beitrag von Cornelia Weiss – „Rechtsstaatlichkeit und Terrorismusbekämpfung: Erfahrungen aus Kolumbien“ – handelt es sich um den Erfahrungsbericht einer US-amerikanischen Militäranwältin aus ihrem Einsatz in Kolumbien, die im Kontext des dortigen Kampfes der Regierungskräfte gegen die ‚narcoterroristische’ Gruppierung FARC mit der Begleitung des Reformprozesses der kolumbianischen Militärjustiz im Rahmen des „Plan Colombia“ beauftragt war. Hierbei sei vor allem die Menschenrechtsproblematik zu berücksichtigen, ohne deren Beachtung eine Legitimierung des Kampfes gegen die FARC bei der betroffenen Bevölkerung schwierig erscheint. Gleichzeitig ist die Beachtung der Menschenrechte auch Kondition für den Transfer von Geldmitteln aus besagtem Programm – wobei die umständliche und bürokratische Anwendung von Menschenrechtsnormen oft die Effektivität der Streitkräfte herabsetze. Es zeige sich also die Notwendigkeit nicht nur der Implementation struktureller Reformen, sondern auch des Wandels organisationskultureller Muster in der Militärjustiz, um eine menschenrechtskonforme Terrorismusbekämpfung zu ermöglichen. Andererseits habe der brutale Konflikt durchaus die scheinbar paradoxe Wirkung gehabt, durch das Engagement auswärtiger Akteure Menschenrechtsnormen zu verstärkter Wirkung zu verhelfen. Im dritten Teil soll schließlich das dyadische Verhältnis zwischen Staat und terroristischem Gewaltakteur in seiner empirischen Vielfalt theoretisch gewinnbringend seziert werden. Deutlich wird in den Beiträgen zunächst, dass ‚der Terrorismus’ als einheitliches soziales Phänomen kaum gibt. Als vergleichbar erweisen sich in den Fallstudien fast ausschließlich terroristische Praktiken auf der mik-

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rosozialen Ebene – im Bezug auf den unmittelbaren Symbolgehalt des terroristischen Gewaltaktes und die technischen und taktischen Voraussetzungen seiner Genese. Bereits auf den untersten Organisationsstufen und noch mehr auf der ideologischen und strategischen Führungsebene sind Terrororganisationen offensichtlich weit weniger geprägt durch Isomorphien anderer Terrororganisationen als von einer asymmetrischen Spiegelung der staatlichen Strukturen und Semantiken, auf die sich ihre Aktivitäten beziehen. Deutlich wird dies für den Fall der USA in dem Aufsatz von Michael Seitz, „Domestic Terrorism – Politischer Widerstand in den USA“. Unabhängig von der jeweiligen Ideologie und ethnischen Zusammensetzung inländischer Terrorgruppen sei ihr Schnittpunkt die Bezugnahme auf das Misstrauen gegenüber jeglicher Form staatlicher Autorität als zentrales Erbe der politischen Kultur. Dieses Misstrauen findet sich im Kontext terroristischer Gewalt drastisch übersteigert in meist paranoider, verschwörungstheoretischer Form und wird im historischen Vergleich oft im Kontext mit der Ausweitung zentralstaatlicher Kompetenzen beobachtet. Bei den meisten untersuchten Gruppierungen wird darüber hinaus eine Identifikation des Staates mit jeweils ethnisch ‚anderen’ Gruppen festgestellt, wobei weiße Rechtsextremisten und afroamerikanische Separatisten die bedeutendsten Akteure darstellen. Insofern seien zwei Charakteristika der amerikanischen politischen Kultur, nämlich Antietatismus und Multikulturalismus, auch für dort entstandene terroristische Gruppen prägend. Im zweiten Aufsatz dieses Teils, „Dschihadismus und Territorialität. Ursachen, Bedingungen und Folgen fehlenden Territorialdenkens im militanten sunnitischen Fundamentalismus“, geht Sebastian Huhnholz auf das Verhältnis der wohl momentan am meisten Aufmerksamkeit erzeugenden terroristischen Strömung, namentlich der dschihadistischen Bewegung, zum Territorialitätsprinzip als grundlegendem Merkmal moderner Staatlichkeit ein. Huhnholz zufolge fehlte es dem modernen Flächenstaat in der Kernregion der islamischen Religion von vornherein an abrufbaren Loyalitätsressourcen – ein Problem, welches durch die autoritäre Praxis der dort existierenden Regime und der ihnen hörigen Religionsbürokratien noch verschärft wurde. Insofern lag der Rückgriff oppositioneller Bewegungen auf die kulturell vorgeprägten Vorstellungen eines fiktiven früheren Idealzustandes religiös legitimierter Ordnung im Kalifat nahe, wobei dessen personenverbandsstaatlicher Charakter gerade auf Muslime in Diasporasituationen attraktiv wirken kann. Darüber hinaus kann eine radikal antiterritoriale Ideologie durch ihren in einer territorialstaatlich strukturierten Welt durch die Verunmöglichung jeglicher realistischer Zielsetzung konfliktverstärkend wirken. Durch den fehlenden Respekt gegenüber traditionalen – und mit dem Territorialprinzip arrangierten – religiösen Autoritäten wird der Dschihadismus aber selbst zu einer letztlich individualistischen Ideologie, einem modernen Antimodernismus. Im letzten Beitrag des Bandes, „Der Terrorist als Dienstleister? Die soziale und karitative Rolle der Hamas im Gaza-Streifen vor dem Hintergrund ihrer terroristischen Ideologie“, untersucht Björn Budde den scheinbar paradoxen Fall einer

Terrorismus und Staat: Ein Kommunikationsmodell

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terroristischen Gruppierung, die zunehmend selbst als protostaatlicher Akteur in Erscheinung tritt. Während zahlreiche Analysen den autotelischen Charakter terroristischer Gewalt – als letztlich um ihrer selbst willen verübt – hervorheben, wird hier die Abhängigkeit von der Beobachterperspektive hervorgehoben. Während Aktivitäten wie die karitative Unterstützung der Bewohner des GazaStreifens von westlichen Beobachtern tendenziell als Rekrutierungs- und Propagandamittel für eine terroristische Organisation betrachtet werden, stellen sie aus der Perspektive der Hamas selbst nur einen weiteren Aspekt des Strebens nach Dominanz über einen zukünftigen palästinensischen Staat dar. Durch die israelischen Reaktionen auf terroristische Angriffe der Hamas verstärke sich zudem die Abhängigkeit der palästinensischen Bevölkerung von deren Unterstützung, so dass sie auch die Zustimmung nicht-islamistischer Gruppen und damit eine hegemoniale Machtposition erlangen könnte. Im Kontext fehlender Staatlichkeit erscheint also Terrorismus durchaus als Komponente einer Strategie des nation building, die allerdings scheitern könne, wenn im Erfolgsfall die radikaleren Teile der Hamas die dann notwendigen politischen Kompromisse durch erneute Eskalation sabotierten.

Literatur Berger, Lars / Weber, Florian, 2008: Terrorismus, 2. erweiterte und überarbeitete Auflage, Landeszentrale für politische Bildung Thüringen. Erfurt. Carr, Caleb, 2002: Terrorismus – Die sinnlose Gewalt, Historische Wurzeln und Möglichkeiten der Bekämpfung. München. Herzog, Thomas, 1991: Terrorismus, Versuch einer Definition und Analyse internationaler Übereinkommen zu seiner Bekämpfung, Peter Lang. Frankfurt/New York. Laqueur, Walter, 2004: Krieg dem Westen, Terrorismus im 21. Jahrhundert. Berlin. Meyer, Josef, 1851: Das große Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände, Bd. 11, Bibliographisches Institut. Hildburghausen. Richardson, Louise, 2007: Was Terroristen wollen, Die Ursache der Gewalt und wie wir sie bekämpfen können, Campus. Frankfurt am Main. Schroers, Rolf, 1961: Der Partisan. Ein Beitrag zur politischen Anthropologie. Köln. Steinberg, Guido, 2008: Der nahe und der ferne Feind, Die Netzwerke des islamistischen Terrorismus. München Waldmann, Peter, 2008: Terrorismus, Provokation der Macht, 2. Auflage. Zürich. Walter, Eugene Victor, 1972: Terror and resistance, A study of political violence, with case studies of some primitive African communities. Oxford. Zedler, Johann Heinrich, 1743: Grosses vollständiges Universal-Lexicon, Bd. 35. Halle/Leipzig.

DIE ANDERE SYMMETRIE. ANMERKUNGEN ZUM VERHÄLTNIS VON STAAT UND TERRORISMUS Bernhard Schreyer

1. Einführung: Damaskus oder London Der Militärhistoriker Martin van Creveld verweist auf zwei grundsätzlich unterschiedliche Methoden der Terrorbekämpfung.1 1982 ließ der syrische Diktator Assad die Stadt Hama dem Erdboden gleich machen, um eine Aufstandsbewegung zu bekämpfen, die für den Fortbestand seines Regimes hätte gefährlich werden können. Man vermutet, dass bei dieser Aktion ca. 30.000 Menschen getötet wurden. Das Vorgehen erwies aus der Sicht Assads als erfolgreich, da der Aufstand dadurch wirksam beendet werden konnte. Als Gegenmodell stellt van Creveld die Bekämpfung des nordirischen Terrorismus durch die britische Armee vor. Die Strategie zielte darauf ab, den Terroristen keine Gelegenheit zu bieten, ihre negative Darstellung der britischen Armee und des Staates wirksam werden zu lassen, was schließlich das gesellschaftliche Umfeld für den Terror austrocknete. Es sollte kein Platz für Mythen geschaffen werden. Konkret heißt dies, den Kampf gegen den Terror auf der Grundlage rechtstaatlicher Maßnahmen zu führen und sich nicht selbst zu kriminellen Handlungen verführen zu lassen. Gleichzeitig gilt es aber auch Stärke zu zeigen, um den unbedingten Willen zur Terrorabwehr zu demonstrieren.2 Das ist natürlich in der Praxis ein schmaler und oftmals unwegsamer Grad; es ist aber zugleich der einzige Weg, den ein Rechtsstaat gehen kann, wobei es nie auszuschließen ist, dass es zu Fehltritten kommt. Wenn im Folgenden über den Staat gesprochen wird, wird also Bezug genommen auf London und nicht auf Damaskus, da die syrische Variante selbst als terroristisches Verhalten interpretiert werden kann und die Problematik des Staatsterrorismus hier nicht im Vordergrund steht.3 Der liberale Rechtsstaat ist ein sich selbst an die Kandare nehmender Leviathan. Aus der prinzipiellen Rücknahme seiner potentiellen Möglichkeiten entfaltet 1 2 3

Vgl. hierzu: Creveld 2005, S. 17ff. Ebd., S. 19. Der Begriff des Terrorismus ist vielschichtig und nur schwer einer allgemeingültigen Definition zuzuführen (vgl. hierzu: Hoffman 2002, S. 34ff), dennoch lässt sich das Vorgehen Assads auch als staatsterroristische Aktion beschreiben. Peter Waldmann dagegen verwahrt sich gegen den Begriff „Staatsterrorismus“, da seiner Meinung nach Terrorismus als Angriff gegen den Staat zu verstehen ist. Gleichwohl kann ein Staat Terror „als staatliche Schreckensherrschaft“ etablieren (Waldmann 2001, S. 15). Zum Begriff des Terrorismus vgl. auch u.a. Backes 2009, S. 299ff.

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er seinen Legitimationsanspruch. Die normative Grundierung seines Tuns ist für sein Selbstverständnis essentiell. Gleichwohl ist er seinem terroristischen Gegenüber von seinen Mitteln her überlegen. Er verfügt über materielle und personelle Ressourcen, die ihn absichern, so dass gewalttätige Angriffe diese Basis nicht zu erschüttern vermögen. Aus dieser Perspektive gewinnt die These vom „asymmetrischen Krieg“ ihre Plausibilität, wobei der Terrorismus als eine Variante davon angesehen werden kann.4 Es geht demnach nicht darum, den Staat militärisch zu besiegen, sondern ihn durch Provokation zu Reaktionsweisen zu zwingen, die seine Legitimation untergraben. Wie erfolgreich diese Strategie sein kann, zeigen allein die Schwierigkeiten, die man immer wieder bei der Terror- und Aufstandsbekämpfung beobachten kann.5 Der Staat soll vom Londoner Weg abkommen und die Straße nach Damaskus betreten. Jegliches terroristisches Handeln zielt daher darauf ab, die Legitimation des Staates in Gänze oder in einzelnen seiner Aktivitäten zu beschädigen. Dabei haben terroristische Gruppierungen den Vorteil, dass sie ihre Unterlegenheit an Waffen und Ausrüstung durch eine größere Bandbreite an Handlungsmöglichkeiten wettmachen können, da sie sich im Gegensatz zur staatlichen Gewalt nicht auf rechtliche Grundlagen beziehen müssen. Terroristen sind in ihren Möglichkeiten theoretisch uneingeschränkt handlungsfähig. Sie können alle ihnen zur Verfügung stehenden Waffen und Waffensysteme einsetzen, jede für sie günstige Taktik anwenden und sie können beliebig viele Menschen schädigen. Hier liegt augenscheinlich eine Asymmetrie zugunsten des Terrors vor. Dem Staat steht dagegen nur ein bestimmtes Set an Möglichkeiten zu, das er nicht erweitern darf, ohne sich selbst legitimatorisch zu beschädigen. Die Orientierung an London und die jederzeitige unbedingte Ablehnung von Damaskus ist ein Wesensmerkmal des modernen Rechtsstaates. Indem der Terrorismus versucht, den Staat selbst zu terroristischen Aktionen zu verleiten, möchte er ihn aber mitnichten auf seine Stufe herunterziehen. Denn aus der Perspektive der Terroristen ist jegliche staatliche Maßnahme schon a priori Unrecht. Es kommt also darauf an, dem Staat seine normativ-rechtliche Maskerade herunterzureißen, damit der kriminelle Charakter des Staates für Jedermann sichtbar wird. Das eigentliche Recht befindet sich auf der Seite der Feinde eines solchen Gebildes. Außerdem ist es dem vermeintlichen Recht des Staates kategorisch überlegen. Man wähnt sich z. B. im Auftrag der Geschichte oder einer göttlichen Macht.6 Nur durch die – einer falschen Legitimation folgenden – Gewaltsamkeit des Staates wird der Siegeszug des Richtigen aufgehalten. Auch hier ist eine Asymmetrie festzustellen, die dem Terrorismus zu Gute kommen kann, da dadurch eine propagandistische Wirkung entfaltet wird, die im politischen System des Feindstaates Verständnis für den Terrorismus erzeugt, das die Ziele der Terroristen wirksamer befördert als offene Parteinahme und logistische Unterstützung,

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Zum Begriff des asymmetrischen Krieges vgl. Münkler 2003, S. 48ff. Ebd., S. 49f. Vgl. hierzu: Kepel/Minelli 2006.

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die sich eher kontraproduktiv für die terroristischen Gruppierungen auswirken können. Das Verhältnis von Staat und Terrorismus ist geprägt von einem unüberbrückbaren Gegensatz.7 Mit dem Staat kann es von Seiten der Terroristen keinen Ausgleich geben. Bevor der Staat Terroristen als politischer Verhandlungspartner in Betracht zieht, müssen die Terrorgruppen ihren bisherigen Weg aufgeben und sich den politischen Gepflogenheiten des Staates unterwerfen, d.h. aber zugleich die selbstgewählte Ermächtigung durch das höherstehende Recht widerrufen. Anhand von vier Anläufen (Terrorismus als Ausnahmezustand, Terrorismus als Verschärfung, Terrorismus als propagierte Wechselwirkung bis zum Äußersten und Terrorismus als Rachegemeinschaft) wird in den folgenden Ausführungen der Versuch unternommen, diesen Gegensatz darzustellen.

2. Terrorismus als Ausnahmezustand Terroristen bewegen sich auf einem Gelände, das nicht mehr von staatlich gesetztem Recht umzäunt wird. Dennoch bleibt der Bezug, wenn auch negativ, zu diesem Recht bestehen, da es darum geht, dem Unrecht das wirkliche Recht entgegenzustellen. Ohne das staatliche Recht, dessen Exekution das wahre Recht behindert und zu zerstören trachtet, ist der Terrorismus nicht denkbar. Um ihre Aktionen zu rechtfertigen, begeben sich Terroristen deshalb zwangsläufig in einen Bereich, den man mit Carl Schmitt als Ausnahmezustand bezeichnen kann.8 Schmitt bezieht sich dabei auf den Staat und seine Souveränität im Extremfall, d.h. im Zustand seiner höchsten Gefährdung.9 Der Ausnahmezustand ist gekennzeichnet durch das Heraustreten aus dem Bereich des bisher geltenden Rechts. Nur so kann das Recht im Zweifelsfall geschützt werden. Es entsteht die paradoxe Situation, dass die staatliche Autorität, kein „Recht zu haben braucht, um Recht zu schaffen“.10 Wenn das geltende Recht suspendiert ist, verfügt der politisch Handelnde über alle möglichen Optionen, da er auf nichts mehr Rücksicht nehmen muss. Erst in diesem Stadium zeigt sich die Souveränität des Staates, die im Normalfall nicht in Erscheinung tritt. Zudem ist die Souveränität des Staates als absolut zu sehen. Sie ist nicht nur ungebunden, indem sie die rechtliche Bindung lösen kann, sondern sie unterwirft zudem alle denkbaren Lebensbereiche ihrer Verfügungsgewalt. Die Verknüpfung von Ausnahmezustand und Souveränität ist, wenn man diesen Prämissen folgt, schlichtweg konsequent: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“11 Dieser berühmte Satz erweitert den Zusammenhang von Ausnahmezustand und Souveränität um den Aspekt der Entscheidung. Schmitts Vorstellung vom Dezisionismus als eigentlichen politi7 Vgl. hierzu: Grzeszick 2004. Grzeszick spricht dabei von einer „Kontrastfolie“ (S. 59), die der moderne Staat im Gegensatz zum Terrorismus darstellt. 8 Vgl. hierzu: Schmitt 1979. 9 Vgl. hierzu: Ebd., S. 12. 10 Ebd., S. 20. 11 Ebd., S. 11.

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schen Akt verweigert in letzter Konsequenz dem alltäglichen politischen Betrieb die Deutung als politisch, da die politische Entscheidung „aus dem normativen Nichts geboren“12 wird. Die so verstandene Souveränität stellt einen „Grenzbegriff“13 dar. Sie markiert für Schmitt die Grenze von echtem politischen Handeln und dem unpolitischen Normalfall. Sie bezeichnet aber auch den Unterschied zwischen einer wie auch immer gefassten absoluten Herrschaft und einem demokratischen Rechtstaat. Ein zentraler Gedanke Schmitts ist es, darauf hinzuweisen, dass der Ausnahmezustand keine Kategorie des liberalen Staatsrechtsdenkens darstellt, da hier nur der Normalfall systematisch erfasst werden kann.14 Das liberale Denken vermag aus sich selbst heraus nicht, eine Möglichkeit zu denken, die jenseits ihrer normativen Begrifflichkeit liegt. Verlängern wir dieses Argument in die Praxis der Terrorbekämpfung, so scheinen dem Rechtsstaat die Mittel zu fehlen, um dem Terrorismus Einhalt gebieten zu können, weil er im Falle seiner Gefährdung nicht auf den Ausnahmezustand zurückgreifen kann. Er stünde der terroristischen Bedrohung hilflos gegenüber. Der Londoner Weg wäre dementsprechend nicht gangbar. Agiert der Staat allerdings im Ausnahmezustand, so besteht wiederum zwangsläufig die Gefahr, dass er selbst terroristisch wird. Assads Zerstörung einer ganzen Stadt lässt sich demnach konsequent als ein Akt im Ausnahmezustand interpretieren. Der Diktator als Souverän stellt sich einer Gefahr für sein Regime entgegen und handelt losgelöst von allen normativen Bedingungen. Der Ausnahmezustand stellt somit eine notwendige und zentrale Bedingung für den Staatsterrorismus dar. Eine rechtsstaatliche Handlung aus dem normativen Nichts heraus oder etwas profaner ausgedrückt, ohne rechtliche Grundlage, ist schlicht nicht denkbar. Damaskus steht aber auch für die Erkennbarkeit des Terrorismus als Verbrechen. Ohne Rücksicht auf Verluste zu töten, allein um die Sicherung der eigenen Machtposition zu bewerkstelligen, ist ein für alle Beobachter offensichtlich verbrecherisches Handeln. Anders gestaltet es sich beim nichtstaatlichen Terrorismus. Terroristen haben den Vorteil, dass sie vorgeben können, für eine gerechte Sache zu kämpfen.15 Sie sind für nicht wenige Betrachter Opfer einer ungerechten Situation. Ihre Taten sind deshalb nicht mit demselben Malus ausgestattet wie staatlicher Terror. Terroristen fordern für sich persönlich zumeist keine politische Macht, sondern sie sehen sich als Wegbereiter für ein Kommendes.16 Gleichwohl agieren sie selbst im Ausnahmezustand. Liest man Schmitts „Politische Theologie“ aus terroristischer

12 13 14 15 16

Schmitt 1979, S. 42. Ebd., S. 11. Vgl. ebd. S. , 20f. Vgl. Townshend 2005, S. 32. Dieser Verzicht auf einen persönlichen Vorteil verleiht den Terroristen Authentizität in dem Sinne, dass es ihnen nur um die gerechte Sache geht (vgl. hierzu: Bohrer 1980, S. 144). Zugleich kopiert dieses Verhalten eine Bescheidung, wie sie oftmals im Religiösen aufzufinden ist (bspw. bei Johannes dem Täufer): Nicht nur Begriffe, sondern auch Motive lassen sich säkularisieren (vgl. hierzu natürlich: Schmitt 1979, S. 49).

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Perspektive, ergibt sich daraus eine lückenlose Argumentationsfigur zur Rechtfertigung des Terrorismus. Ausbuchstabiert heißt dies zunächst, dass die Terroristen mit dem ersten Akt der Gewalt aus dem Bereich der vom Staat gezogenen Grenzen heraustreten. Sie unterwerfen sich nicht länger dem staatlichen Gewaltmonopol. Im Gegensatz zu unpolitischen kriminellen Vereinigungen, die für ihre Stabilität die Verlässlichkeit des Staates und seiner Organe benötigen, – ein Dieb möchte ja auch nicht selbst bestohlen und ein Mörder nicht ermordet werden – treten Terrorgruppen an, um den Staat in letzter Konsequenz zu beseitigen. Ihre Stoßrichtung ist schon deshalb politisch, weil sie selbst eine neue Form zur Herstellung allgemeiner Verbindlichkeit konstituieren wollen. Sie brechen geltendes Recht, um ihr Recht zu verwirklichen, d.h. überhaupt erst eine Grundlage für rechtliches Handeln zu schaffen. Das systematische Unrecht des feindlichen Staates dagegen kann für sie keine Legitimation für das vom ihm ausgehende Gewaltmonopol bilden. Der Logik eines Monopols für Gewaltanwendung entsprechend, kann das Monopol nur durch Gegengewalt gebrochen werden, um zu zeigen, dass Gewalt eben nicht nur in der Verfügungsmacht des zu bekämpfenden Staates zu finden ist. Daraus ergibt sich für den Terrorismus die Möglichkeit, alle ihm gebotenen Mittel anzuwenden. Es existiert dabei keine theoretisch fixierbare Grenze der Gewaltanwendung.17 Je höher die Ziele gesteckt sind, d. h. je moralisch aufgeladener sie sich präsentieren, desto härter gilt es zuzuschlagen, desto mehr Mittel darf man zur Anwendung bringen. Da Terroristen um ihrer Selbstlegitimation willen immer ein Sein-oder-Nichtsein-Szenario aufbauen, verfolgen sie schon per se ein höchstes Ziel, das nur noch mit Gewalt zu erreichen ist, weil der Staat alle anderen Handlungsalternativen durch die von ihm gestatteten politischen Mittel absorbieren kann. Die Argumentationsfigur des „Alles oder Nichts“ wendet z. B. Leo Trotzki an, um die Erschießung von Revolutionsfeinden zu rechtfertigen.18 Für Trotzki stellt die Frage nach dem Grad der „Repressalien“ nur ein Problem der „Zweckmäßigkeit“ dar.19 Es gilt demnach, nach dem politischen Nutzen einer Aktion zu fragen. So mag es Situationen geben, in denen es opportun erscheint, die Maßnahmen und Mittel abzuschwächen, damit man nicht die politische Unterstützung in einem bestimmten Teil der Bevölkerung verliert. Eine andere Begrenzung wird durch die tatsächlich zu Verfügung stehenden personellen wie materiellen Ressourcen gesetzt.20 Sie können nicht beliebig gesteigert werden. Daher kommt es darauf an, damit den größtmöglichen Schaden für den Staat anzurichten. Angriffe auf symbolträchtige Orte, auf wirtschaftlich relevante Bereiche wie Tourismuszentren oder auf Repräsentanten einer bestimmten Denk- und Lebensweise wie Schriftsteller und Intellektuelle benötigen keine kostspielige Logistik. Sie sind mit relativ geringfügigen Mitteln zu bewerkstelligen. So gesehen ist ein Terrorist fast unbegrenzt handlungsfähig, weil er immer 17 18 19 20

Vgl. hierzu: Sofsky 1996, S. 61. Vgl. hierzu:Trotzki 2001, S. 105. Ebd., S. 104. Vgl. hierzu: Waldmann 2001, S. 56ff.

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eine Handlung setzten kann – vorausgesetzt er ist bereit, sein Leben dafür einzusetzen, also auch den höchsten Preis zu entrichten. Der tote Terrorist ist zudem von großem Nutzen für seine Gruppierung. Zunächst kann er als vorbildlicher Held gefeiert werden, dessen Taten man nachzueifern in der Pflicht steht. Außerdem dient sein gewaltsamer Tod als Grundlage für entsprechende Racheaktionen.21 Propagandistisch gesehen, ist der tote Held ein fast nicht zu überbietendes Rechtfertigungsmittel, da sein Schicksal jenseits ideologischer Abstraktionen konkret fassbar und somit leichter zu kommunizieren ist. Selbstverständlich verfügt auch der Staat über die Möglichkeit, das Sterben seiner Helden zu instrumentalisieren. Dem sind aber Grenzen gesetzt. Zum einen kann der tote Held zu einer Belastung für den Staat werden, wenn sich die Stimmung ändert und der Held dann bei der Verfolgung der falschen Ziele gestorben ist. Zum anderen ist der Staat verpflichtet, auch das Leben derer so gut wie möglich zu schützen, die ihr Leben für ihn einsetzen. Zu viele tote Helden auf staatlicher Seite sind demnach kontraproduktiv. Im Falle einer terroristischen Vereinigung stellt sich dies jedoch anders dar. Hier kann es im Prinzip gar nicht genug tote Helden geben, da sich in jeder Tötung der tyrannische Charakter des staatlichen Regimes offenbart. Je mehr Opfer ein Konflikt auf Seiten der Terroristen zeitigt, umso leichter ist die eigene moralische Überlegenheit propagierbar. Der Terrorist handelt im Sinne Schmitts im Gegensatz zum liberalen Rechtsstaat souverän. Er begibt sich in den Ausnahmezustand und kann nur in diesem agieren. Da er dazu in der Regel nicht gezwungen wird, handelt er freiwillig und losgelöst von normativen Bindungen. Er entscheidet allein über die Herbeiführung des Ausnahmezustands, der für ihn einsetzt mit der ersten Tat bzw. schon mit der gesetzwidrigen Vorbereitung dieser Handlung. Davon unbenommen ist die terroristische Selbstbeschreibung. Der Terrorist sieht sich automatisch als ein zur gewaltsamen Tat Gezwungener und muss dies auch deutlich artikulieren. Nur so kann er seine (Selbst-)Legitimation argumentativ verteidigen. Es spielt dabei keine Rolle, ob der Terrorist wirklich an seine Handlungsgrundlage glaubt oder ein bewusstes Täuschungsmanöver inszeniert. Auch der staatliche bzw. nichtstaatliche Dezisionist bedarf einer Maskerade.22 Dabei lässt sich das ganze Spektrum politischer Manipulation bis hin zur „heiligen Lüge“ vorfinden, die dem „frommen Zweck“ unterstellt ist.23 Da der Terrorismus über keine grundsätzlichen Einschränkungen in seinen Handlungsoptionen limitiert ist, lässt sich feststellen, dass die terroristische Souveränität im Sinne von Schmitt als absolut anzusehen ist. Denn Terroristen bestimmen letztlich frei verantwortlich und gezielt über Leben und Tod ihrer potentiellen Opfer. Sie verfügen über die Macht, sie sich aufgrund ihrer Überlegungen auszusuchen. Im Zweifelsfall kann die Entscheidung eines Berufspendlers, ausnahmsweise mit dem Bus statt mit der U-Bahn in die Arbeit zu fahren, entscheidend sein. Es ist diese existentielle Dimension, die in der Entscheidung für den 21 Vgl. hierzu: Richardson 2007, S. 113. 22 Vgl. hierzu: Koenen 1987, S. 12. 23 Nietzsche 1997, S. 816f.

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Terrorismus liegt und die neben dem Kampf für Gerechtigkeit, eine für die Terroristen aber auch für die nicht betroffenen Zuschauer eigentümliche Faszination ausübt. Und noch eine Folge aus dem dezisionistischen Denken im Ausnahmezustand der Terroristen lässt sich zeigen. Die Ausrufung des Ausnahmezustandes ist nicht mehr rückgängig zu machen. Terroristen handeln daher sehr konsequent. Der Schritt in den Untergrund hat für Terroristen einschneidende und unwiderrufliche Folgen, selbst dann, wenn das eigene Leben letztlich verschont bleibt. Gleiches gilt für die Opfer.24 Dagegen liegt es gerade in der Systematik einer rechtsstaatlichen demokratischen Ordnung, dass eine Entscheidung aufhebbar ist. Wären politische Maßnahmen unumkehrbar, verlören demokratische Wahlen gänzlich ihren Sinn, da die Wähler mit ihrer Stimmabgabe inhaltlich an der Politik etwas ändern können müssen. Sie sind gerade nicht am Ausnahmezustand interessiert, weil er ihre Teilhaberechte negiert. Ein Staat, der sich in den Ausnahmezustand begibt, beraubt sich seiner eigenen Grundlage. Der Terrorist dagegen bewegt sich dabei auf seinem ureigenen Terrain.

3. Terrorismus als Verschärfung Terrorismus verschärft eine politische Problematik allein schon deshalb, da von der ersten Gewalttat an neben den politischen Prozessen einer rechtsförmigen Auseinandersetzung polizeiliche bzw. militärische Maßnahmen treten. Der Staat muss dergestalt reagieren, weil er gezwungen ist, den Schutz seiner Bürger zu garantieren.25 Sein Gewaltmonopol ist nur aus dieser Funktion heraus überhaupt zu rechtfertigen. Auf diese Weise wird er zwar in die Logik der Verschärfung miteinbezogen, er darf aber seine Handlungen nicht darin aufgehen lassen. Die Logik der Verschärfung liegt den Denkstrukturen des Terrorismus inhärent zugrunde.26 Es lassen sich dabei folgende Elemente identifizieren: -

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Die fundamentale Umgestaltung: Die Veränderungen, die erreicht werden sollen, sind umfassende Wandlungsprozesse des politischen Bereiches. Es geht nicht um graduelle Verbesserungen, sondern um die Etablierung einer grundlegenden Erneuerung. Alternativlosigkeit: Der Terrorakt stellt die einzige noch verbliebene Option dar, um die eigenen politischen Ziele zu erreichen. Alle anderen Möglichkeiten waren nicht erfolgreich bzw. konnten strukturell nicht zielführend sein.

24 Vgl. z.B. Siemens 2007, S. 9. 25 Trotz der massiven Ausweitung der Staatsaufgaben im 20 Jahrhundert (vgl. hierzu: Grimm 1996) bleibt die Herstellung und Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit die Kernfunktion des Staates (vgl. zum Begriff der Inneren Sicherheit: Woyke 2006). 26 Vgl. hierzu: Schreyer 2008, S. 209.

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Beschleunigung: Die Tat muss entweder in naher Zukunft oder jetzt erfolgen. Jeder größere Aufschub würde die zu bekämpfende Misere nur noch verschlechtern oder aber völlig zementieren. Konkretisierung: Der Feind, den es zu bekämpfen gilt, muss eindeutig zu identifizieren sein. Er muss benannt und seine Schuld ihm unmissverständlich zugewiesen werden.

Terrorismus legitimiert sich auch durch das zu erreichende Ziel. Es muss gewichtig genug sein, um Menschen zu rekrutieren, die bereit sind, dieses Wagnis auf sich zu nehmen und um gesellschaftliche Unterstützung zu mobilisieren. Es reicht daher nicht, ein Ziel anzustreben, das innerhalb der Grenzen des zu bekämpfenden politischen Systems angesiedelt werden kann. Die Realisierung der Vorstellungen von Terroristen ist zumeist verbunden mit einem grundlegenden Systemwechsel oder – im Falle von separatistischen Bestrebungen – mit einer Neugründung eines Staates bzw. dem Anschluss an einen anderen schon bestehenden Staat. Im Fall des islamistisch begründeten Terrorismus geht es auch nicht nur um den Abzug westlicher Truppen aus islamisch geprägten Ländern oder Abkapselung vom westlichen Lebensstil; damit verbunden ist zudem die Gründung von politischen Gemeinwesen und deren gesellschaftlichen Grundlagen, die den Anforderungen einer von Islamisten befürworteten Ethik entsprechen. Daraus resultiert, dass ein friedlicher auf Konsens beruhender Ausgleich mit den Feindstaaten nicht möglich sein kann. An dieser Stelle kommt wieder Carl Schmitt ins Spiel, denn terroristisches Denken ist eine geradezu idealtypische Variante des Freund-Feind-Gegensatzes.27 Schmitt sieht in dieser Konstellation die Möglichkeit von Konflikten, „die weder durch eine im voraus getroffene Normierung, noch durch den Spruch eines ‚unbeteiligten’ und daher ‚unparteiischen’ Dritten gelöst werden können.“28 Eine vorherige rechtliche Einhegung des politischen Konflikts und eine von den Konfliktparteien anerkannte Schiedsstelle ist aus terroristischer Perspektive nicht akzeptabel, da sie die Notwendigkeit des gewaltsamen Kampfes von vornherein in Frage stellen würde. Der Staat auf der anderen Seite ist zwar gezwungen, die Terroristen zu bekämpfen, hat aber auch die Option im Blickfeld zu behalten, den Kampf wieder oder überhaupt erst auf eine gesetzesförmige Basis zu stellen. Er kann nicht, wie gezeigt, in den Modus des Ausnahmezustandes fallen, um den Gegner zu attackieren. In der Praxis heißt das, dass er neben dem gewaltsamen Kampfeinsatz immer zusätzlich noch gesprächsbereit sein muss, um die Chancen für eine friedliche Lösung auszuloten und besteht diese nur darin, dem Feind einen rechtsstaatlichen Prozess mit der Aussicht zu garantieren, ihn nach verbüßter Strafe nicht mehr zu verfolgen. Außerdem ist es nicht zuzumuten, dass der Staat sich ganz oder in wesentlichen Teilen transformiert, um den Forderungen seiner Gegner zu entsprechen. Es würde einer Selbstaufgabe gleichkommen. Seine Stabilität gilt den Bürgern als Garant für eine verlässliche Lebensplanung. Gleichwohl erscheint seine 27 Vgl. hierzu: Schmitt 1963, S. 26f. 28 Ebd., S. 27.

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Ausformung weniger verführerisch zu sein als das Abenteuer der großen neuen Form. Eine nicht geringe Anziehung entfaltet auch die Annahme von der Alternativlosigkeit des terroristischen Aktes. Nur weil keine andere Strategie mehr möglich ist und allen anderen politischen Maßnahmen nicht mehr zielführend sind, verbleibt die Gewalt als letztes Mittel. Sie ist auch in der theoretischen Fundierung terroristischer Vereinigungen die ultima ratio. Wäre der Gegner den überlegenen Argumenten gegenüber aufgeschlossen und einsichtig, bedürfte es des Terrors nicht. In der inneren Verfasstheit terroristischer Denkweisen spielt diese Figur eine zentrale Rolle. Sie stellt die eigene Sichtweise auf eine grundsätzlich höhere Stufe als die des Gegners und übermittelt ihm das Angebot, auf die richtige Seite zu wechseln. Zwar findet man diese Logik auch in der normalen politischen Auseinandersetzung, jedoch ist sie dort mit einer Kompromissbereitschaft verbunden, die Verständigungslinien zumindest nie gänzlich ausschließt und die Legitimität der Forderungen anderer Parteien prinzipiell anerkennt. Die Alternativlosigkeit bei der terroristischen Bekämpfung des Staates liegt in seiner grundsätzlichen Verdorbenheit begründet. Diese kann unterschiedliche Ausprägungen annehmen. In linker Tradition ist der Staat das Unterdrückinstrument der Bourgeoise, der zwangsläufig das Proletariat und seine Verteidiger nieder hält. Seine Gewalttätigkeit ist in seinen Strukturen schon angelegt und gehört somit zu seiner unabänderlichen Substanz.29 In seiner nicht säkularisierten Form ist es die moralische Dekadenz des Westens, die immer eine Versuchung darstellt, vom rechten Weg abzukommen und schließlich ein richtiges Leben verunmöglicht.30 Politische Maßnahmen im demokratischen Rechtsstaat sind dagegen nie alternativlos, da sie sonst dem politischen Streit letztlich entzogen wären. Strittig ist ein Projekt nur deshalb, weil es dafür angebare Alternativen gibt, wie sinnvoll oder sinnlos sie sich in der Realität auch präsentieren werden. Die vermeintliche alternativlose terroristische Handlung ist daher per se nicht demokratisch zu legitimieren. So entsteht der Eindruck eines sofortigen Zwanges zum Handeln, will man die Bedrohten noch retten oder wenigstens die zukünftigen Generationen vor Schaden bewahren. Die Leiden der Unterdrückten werden Tag für Tag unerträglicher, selbst wenn sie davon wenig spüren. Sie mögen aus unterschiedlichen Gründen die Repression, derer sie vom Staat und der Gesellschaft permanent ausgesetzt sind, nicht wahrnehmen, sei es, weil sie es nicht können oder weil sie es nicht wollen, da sie diesen Zustand ganz behaglich finden. Dennoch ist es die Aufgabe der Terroristen, sie zu befreien. Dabei ist die Selbstinterpretation der Unterdrückten kein Kriterium, um sie in ihrer derzeitigen Situation zu belassen. So mag es Basken geben, die in keinem eigenen Staat leben wollen oder Mos29 Vgl. hierzu z. B. Galtungs Begriff von der strukturellen Gewalt (Galtung 1975), dazu auch: Nunner-Winkler 2004. 30 Vgl. hierzu mit Blick auf die Ideologie der Muslimbrüder: Heine 2007: S. 16. Lohlker spricht vom Westen als „Inbegriff des Bösen“ im dschihadistischen Verständnis (Lohlker 2009, S. 66).

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lems, die ein Leben nach westlichem Maßstab nicht als schädlich für ihr Seelenheil betrachten. In der terroristischen Binnenperspektive erscheint ein solches Verhalten noch als zusätzlicher Handlungsbeschleuniger, besteht doch die nicht geringe Gefahr, dass es Nachahmer erzeugt, was die derzeitigen Verhältnisse überdies verstärkt. Im Bereich des Staates sind auch immer spezielle Umstände denkbar, die ein schnelles Handeln erfordern. Ein zentrales Beispiel stellt die Terrorbekämpfung selbst dar. Es ist nicht mit dem Staatsverständnis vereinbar, dass bei akuten Gefährdungslagen vor einer Entscheidung eine langwierige Debatte geführt werden kann. Aber in diesem Bereich werden auch die Gefahren sichtbar, die damit verbunden sind. Zum einen können diese Vorgänge nur einer ex-post-Überprüfung unterworfen werden, womit die parlamentarischen Eingriffsmöglichkeiten und Kontrollrechte in der Praxis stark eingeschränkt werden, zum anderen wird durch die schnelle Reaktion automatisch der politische Diskurs unterbrochen, der in normalen Abläufen durch die Einbeziehung unterschiedlicher Meinungen legitimitätsstiftend wird. Demokratische Systeme müssen daher politische Schnellverfahren weitestgehend vermeiden. Sie sind – auch wenn es dadurch nicht zur baldigen Entscheidung kommt – darauf angewiesen, lange Verfahren zu ermöglichen und ihre Dauer rechtlich abzusichern. Das führt dazu, dass starre Fronten aufgeweicht und politische Gegner oftmals eingebunden werden. So ist es auch taktisch unklug, sich erbitterte Feinde zu schaffen, da man nie voraussagen kann, ob man seine derzeitigen Gegner später bei der Realisierung anderer Vorhaben noch braucht.31 Ganz anders stellt sich die Feindbehandlung seitens terroristischer Vereinigungen dar. Hier ist mit dem Feind kein Kompromiss möglich, weil jede Kompromissfindung wieder aus dem für die Terroristen zentralen Freund-Feind-Denken herausführt. Um dem Feind wirksam entgegentreten zu können, bedarf es der Konkretisierung. Aus den abstrakten Vorstellungen wie, um bei den obigen Beispielen zu bleiben, „Spanien“ oder der „Westen“ müssen konkrete Personen und Institutionen herausgearbeitet werden, die man real schädigen kann. An erster Stelle stehen hierbei die Machtapparate des Staates, also Militär und Polizei. Sie können immer angegriffen werden, weil sie die eindeutigsten Symbole der Unterdrückung darstellen. Gleiches gilt im Wesentlichen auch für die herausragenden Repräsentanten des Staates, auch in ihnen lässt sich das „verbrecherische Regime“ symbolhaft verdichten. Von besonderer Bedeutung sind auch die schon erwähnten Menschen, die zwar bedrängt sind, aber nicht gerettet werden wollen. Nicht nur, dass sie die Strategie des Terrors unterlaufen, da sie sich nicht für die richtige Sache mobilisieren lassen, sie höhlen deshalb auch dessen Legitimationsanspruch aus. Denn wenn der Terrorismus keinen gesellschaftlichen Resonanzboden findet, kann er seinen Anspruch als einzigem Ausweg nicht aufrechterhalten. Allerdings werden auch Anschläge verübt, in denen Unschuldige Schaden nehmen. Hier gilt es, auf zweierlei hinzuweisen:

31 Selbst Schmitt schließt nicht aus, dass es „vorteilhaft“ sein kann, mit dem Feind „Geschäfte zu machen“ (Schmitt 1963, S. 27).

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Zum einen brauchen die Opfer nicht unbedingt identisch mit dem Feind zu sein bzw. auf seiner Seite zu stehen, es genügt, wenn durch die Schäden, die man ihnen zufügt, der Feind in irgendeiner Weise beeinträchtigt wird, sei es, dass er dadurch zu gewünschten Aktionen genötigt wird oder sei es, dass seine Verwundbarkeit sichtbar wird. Zum anderen scheinen die Opfer so unschuldig nicht zu sein, wie man auf den ersten Blick glauben mag. Als Staatsbürger unterstützen sie das System durch ihre Bereitschaft, sich den staatlichen Regeln zu unterwerfen und zusätzlich den Terroristen selbst feindlich gesonnen zu sein oder sie bilden durch ihren mehr oder weniger reflektierten Vollzug des Alltags die Basis für die gewalttätigen Strukturen der Gesellschaft. Sie leisten keinen Widerstand gegen die herrschenden Verhältnisse. Letztlich bleibt dem Staat seinerseits nicht anderes übrig, als eine Strategie der Entschärfung einzuschlagen. Er muss jederzeit kommunizieren, dass im Rahmen seiner Verfasstheit ein weitreichender Diskurs über politische Vorstellungen und deren Verwirklichung stattfinden kann, und dass dieser Diskurs jedoch schlichtweg genügend Zeit benötigt, um seine Ergebnisse als legitim ausweisen zu können. Auch bietet der Staat eine Arena, in der die politischen Gegensätze nicht zu einer Feindkonstellation auswachsen müssen, die nur noch gewaltsam aufgelöst werden kann. Aber dabei verliert er zugleich an politischer Überzeugungskraft, da formal rechtliche Verfahren in der Regel auf den Zuschauer intransparent und kompliziert wirken. Terroristisches Denken ist dagegen klarer strukturiert und verfügt über die nicht zu unterschätzende Verbindung von Heldentum und moralischer Überlegenheit.

4. Terrorismus als propagierte Wechselwirkung bis zum Äußersten Terrorismus kann nicht nur mannigfaltig definiert, sondern auch genauso vielfältig interpretiert werden. Dennoch besteht kein Zweifel darüber, dass es sich beim Terrorismus um Gewalt handelt.32 Das Besondere an diesem Akt ist, dass es ein Phänomen der Entgrenzung ist. Das Agieren im Ausnahmezustand und die Verschärfung stellen solche Phänomene dar, weil es geradezu zu ihrem konstituierenden Merkmal wird, keine Grenze der Gewaltanwendung gelten zu lassen. Auch die Deutung des Terrorismus als propagierte Wechselwirkung bis zum Äußersten fällt in diese Kategorie. Clausewitz beschreibt den kriegerischen Konflikt als dreifache Wechselwirkung, wobei die jeweiligen Gegner miteinander interagieren:33 -

Die erste Wechselwirkung beschreibt die schon erwähnte Grenzenlosigkeit der Gewalt. Die feindlichen Truppen bekämpfen sich dergestalt, dass jede Partei versucht ist, die andere Seite durch einen immer noch stärkeren Einsatz von Gewalt zu attackieren, bevor der jeweilige Gegner in der gleichen Weise zuschlägt.

32 Vgl. hierzu: Metz 2010. 33 Vgl. hierzu: Clausewitz 1980, S. 192ff.

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Da das Ziel des Krieges nach Clausewitz darin besteht, „den Feind wehrlos zu machen“,34 muss eine Kriegspartei befürchten, selbst niedergeworfen zu werden, solange sie selbst den Gegner nicht niedergeworfen hat. Auf diese Weise entsteht die zweite Wechselwirkung. Mit der dritten Wechselwirkung beschreibt Clausewitz die wechselseitige Aufbietung der zur Verfügung stehenden Kräfte, die sich als „Produkt“ der „Faktoren“ „Größe der vorhandenen Mittel und Stärke der Willenskraft“ darstellen lassen.35 Jede Partei versucht den Feind dabei zu übertrumpfen und da jeder vom anderen annehmen muss, dass dieser ebenso handelt, führt dies gleichfalls zum Äußersten.

Clausewitz beschreibt mit den drei Wechselwirkungen zum Äußersten einen Idealtypus des bewaffneten Konflikts,36 der sich ohne reale Beschränkungen entwickeln kann. Er spricht von einem „Spiel der Vorstellungen“.37 Im terroristischen Kampf gegen den Staat erhält die ideale Vorstellung dennoch einen spezifischen Sinn. Natürlich finden auch hier die Wechselwirkungen ihre Grenzen in der Wirklichkeit. So kann der Staat nicht alle seine potentiellen Möglichkeiten für den Kampf gegen den Terrorismus mobilisieren, da er rechtliche Beschränkungen zu respektieren hat. Selbst wenn der Fall eintritt und er sich darüber hinwegsetzten möchte, muss er damit rechnen, dass dieser Einsatz beispielsweise von Medien in einer für ihn nachteiligen Form aufgegriffen wird. Gleiches gilt auch für terroristische Organisationen. Auch sie müssen mit den Beschränkungen materieller und personeller Bestände planen und haben politische Rücksichten zu nehmen. Aber die Realität scheint hier nicht ausschlaggebend zu sein. Es geht in der Auseinandersetzung von Terrorismus und Staatlichkeit auch um die mediale Darstellung des Feindes. Selbstverständlich versuchen die entsprechenden Institutionen des Staates ebenfalls, sich einen propagandistischen Vorsprung zu erarbeiten, in dem sie die Terroristen als Feinde darstellen. Man mag sie selbst „als Feinde der Zivilisation und Humanität“38 brandmarken, dennoch darf der Staat nicht den Eindruck vermitteln, dass er mit ihnen in einem Kampf auf Leben und Tod steht, den er selbst verlieren kann. Der Rechtsstaat muss – um seine rechtlichen Grenzen nicht zu überschreiten – den Eindruck verhindern, dass er nicht in der Lage sein könnte, das Leben der Menschen, die in seinen Herrschaftsbereich leben, wirksam zu schützen. Er vermag zwar in vielerlei Sinne aufzurüsten, aber er kann nicht alle seine Ressourcen für den Kampf gegen den Terrorismus einsetzen, weil er damit zum einen seine anderen Aufgaben vernachlässigen würde, zum anderen weil er damit zumindest indirekt sein Gewaltmonopol selbst in Frage stellen müsste. In dem Moment, in dem der Staat diesen Schritt vollführen würde, hätte er seinen Gegner, was die Machtpotentiale angeht, als gleichwertig anerkannt. Es ist dem34 35 36 37 38

Ebd., S. 194. Ebd., S. 195. Vgl. hierzu: Lütsch 2009, S. 82. Clausewitz 1980, S. 196. Gänswein/Kempe 2007, S. 36.

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nach substantiell, dass der Staat gegenüber den Terroristen eine Hierarchie bezogen auf die Machtverteilung behauptet. Wenn der Staat nicht bis zum Äußersten geht bzw. gehen darf, gilt es doch, ihm dies aus der Sicht des Gegners zu unterstellen. Das Motiv der Wechselwirkung wird daher so erzählt, dass der Staat alles an Mitteln nutzen wird, wessen er habhaft werden kann, um den Kampf zu seinen Gunsten zu entscheiden. Zunächst wird er bereit sein, mit immer rücksichtsloserer Gewalt auf Anschläge und Attentate zu reagieren. Dies gilt umso mehr, da er, auf lange Sicht gesehen, nicht widerstehen kann. So ist er versucht, seine letztlich aussichtlose Stellung immer brutaler zu verteidigen. Besonders glaubwürdig wird diese Argumentation, wenn der Staat wirklich zu unlauteren Mitteln greift. Dies ist niemals auszuschließen und es kann auch nicht bagatellisiert werden. Dabei ist es jedoch nicht von Belang, ob einzelne Personen und Gruppen Regeln nicht einhalten und Gesetze brechen oder ob die Regierung eines Staates diese Verstöße anordnet bzw. nachträglich billigt. Beides wird dem Staat angelastet und als Beweis für seine Unrechtmäßigkeit gewertet. Ist dies der Fall, lässt es sich im Sinne der ersten Wechselwirkung dafür nutzen, selbst die Hemmschwelle für Gewalt weiter zu senken, weil man durch das begangene Unrecht zur Reaktion gezwungen wird. Bezogen auf die zweite Wechselwirkung tritt eine nochmalige Radikalisierung ein. Aus terroristischer Perspektive strebt der Staat nicht nur die Niederwerfung seiner Feinde an, denn dies würde immer noch die Möglichkeit des Wiedererstarkens und Weiterkämpfens implizieren, sondern es geht ihm um die gänzliche Vernichtung des Gegners. Es genügt ihm demnach nicht, lediglich eine vorübergehende Wehrlosigkeit zu ereichen. Als Ergebnis seines Einsatzes möchte der Staat die irreparable Zerschlagung der terroristischen Strukturen und die Ausschaltung mindestens der Führungsebene für sich verbuchen können. Das ist zunächst nicht falsch gedacht. Aber es wird geflissentlich darüber hinweggesehen, dass der Staat nicht danach trachtet, das gesamte Personal terroristischer Gruppierungen physisch zu eliminieren. Dies wäre nicht nur von einem rechtlichen Standpunkt aus verwerflich, es wäre zudem taktisch unklug, da eine solche Zielvorstellung nicht nur neue Generationen von Terroristen hervorbringen würde, sondern zudem die Möglichkeit zerstört, Gesprächspartner zu finden, die für einen späteren Dialog gebraucht würden. Gleichwohl ist in der Binnensicht des Terrors die Vorstellung von dieser verschärften Wechselwirkung tief verankert. Die andauernde Gefahr mobilisiert die Gemeinschaft, schweißt sie zusammen und verpflichtet sie zugleich auf das gemeinsame Ziel, nämlich die rücksichtslose Bekämpfung der Feinde. Denn wenn mir mein Gegner nach dem Leben trachtet, bin ich auch nicht gehalten, ihn zu schonen. Mit Hilfe der dritten Wechselwirkung – wiederum als propagierte Unterstellung – mutiert der Staat endgültig zu einer moralisch verkommenen Institution, da er nicht nur alle Mittel gegen die gerechte Sache einsetzt, sondern außerdem noch die „Willenskraft“ besitzt, sein schändliches Treiben fortzusetzen, d. h. er weiß um seine Schlechtigkeit und handelt aus Boshaftigkeit.39 Die staatlichen Instituti39 Vgl. Reiner 1971.

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onen sind von ihrer Natur aus so bestimmt, dass sie das Böse wollen. Es muss nicht aus mangelnder Einsicht falsch gehandelt werden. Der Staat möchte schlichtweg nicht den richtigen Weg einschlagen. Im islamistisch motivierten Terrorismus findet sich daher folgerichtig die Gleichsetzung des Feindes mit satanischen Kräften.40 Ihm ist nicht zu trauen, wie man z. B. einem ordentlichen Unterhändler in einem normalen Konflikt noch vertrauen kann. Auch an dieser Stelle scheint auf, wie wenig sich die säkularisierte Welt in ihrer Handlungslogik von den religiösen Vorstellungshorizonten unterscheidet, die sie überwunden zu haben glaubt. Gegen einen solchen Feind kann man schließlich nur unter Aufbietung aller Kräfte kämpfen, weil er jede Schwäche sofort zu seinem Vorteil ausnutzen wird. Der gegnerische Staat wird zum Feind schlechthin. Eine entscheidende Konsequenz der propagierten Wechselwirkung zum Äußersten ist die Möglichkeit, dass sich der Feind vom wirklichen zum absoluten Feind verwandeln kann.41 Dem wirklichen Feind begegnet man auf Augenhöhe, er ist als gleichberechtigter Gegner anerkannt. Mit ihm lässt es sich verhandeln und er ist fähig, belastbare Absprachen und Abkommen in Form von Waffenstillständen und Friedensverträgen abzuschließen. Dem absoluten Feind hingegen ist mit solchen zivilisierten Mitteln nicht mehr beizukommen. Er strebt die Vernichtung an und muss daher selbst vernichtet werden. Diese Wechselwirkung zum Äußersten kann immer eintreten. Sie ist nicht gebunden an einem bestimmten Typus des Terrorismus. Selbst innerhalb von ethnisch-nationalistisch fundierten Gruppierungen lassen sich Überlegungen vorstellen, dass die eigene Freiheit nur dann dauerhaft gesichert werden kann, wenn der Staat, der die Völker unterdrückt, endgültig zerstört wird. Schaut man sich das Feindbild „Staat“ als absoluten Feind genauer an, so lässt sich feststellen, dass er zunächst die klassischen Funktionen eines Feindbildes erfüllt.42 Das Feindbild soll die eigenen Kräfte mobilisieren, die Gefolgschaft integrieren und das eigene Handeln legitimeren. Dafür muss der Staat aber gerade als so mächtig dargestellt werden, dass er zwar einerseits eine substantielle Bedrohung darstellt, jedoch zumindest langfristig besiegt werden kann. Doch das Kräfteverhältnis allein besagt für sich genommen noch wenig aus. Entscheidender ist die moralische Differenz zwischen Staat und Terrorismus. Bernard Willms beschreibt am Beispiel der Figur des Guerilleros, wie selbst neuzeitlichhumanistische Ideologien Gewalt rechtfertigen können. Er spricht von „zwei folgenschweren Kunstgriffen“.43 Zum einen lässt sich damit argumentieren, dass nun der letzte Kampf ausgefochten wird, dessen siegreicher Ausgang alle späteren Auseinandersetzungen obsolet werden lässt. Neben dieser eschatologischen Aussicht wird zum anderen die eigene Gefolgschaft mit der Menschheit selbst gleichgesetzt. Die Feinde werden aus dem Bereich des Menschlichen ausgeschlossen und können daher auch keine menschliche Behandlung erwarten.44 Man braucht 40 41 42 43 44

Vgl. hierzu: Lohlker 2009, S. 87. Vgl. hierzu: Schmitt 2002, S. 91ff. Vgl. hierzu: Weller 2009. Willms 1971, S. 191. Vgl. ebd.

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hierbei jedoch nicht sofort an die Todesmaschinerien totalitärer Ideologien zu denken. Die Argumentationsstrategie, dass der Feind unmenschlich ist und daher ebenso handelt, kann auch auf einer niederen Ebene gefunden werden. Sie setzt schon dann ein, wenn ein gesellschaftlicher Zustand als nicht menschengemäß beschrieben wird. Dahinter verbirgt sich eine mehr oder minder bewusste Vorstellung des Menschen selbst, der in dieser Situation seiner menschlichen Potentiale beraubt ist. Diejenigen Strukturen und Individuen, die dies zu verantworten haben, stellen sich dadurch selbst außerhalb des Kreises der Humanität. Sie werden also nur so behandelt, wie sie selbst mit den Menschen umgehen. Ihre Bekämpfung als unmenschlicher Feind erscheint daher nur gerecht. Der Staat bleibt somit immer der Unterlegene. Einerseits ist der Staat der mächtige Feind, andererseits ist er der moralisch defizitäre Gegner. Hieraus lässt sich aus terroristischer Perspektive weiterer Nutzen schlagen. Denn je stärker der Staat auftritt und je dominanter er sein Gewaltmonopol ausspielen kann, desto größer wird die moralische Differenz, da die Geländegewinne des Staates a priori nur seiner immer weiter gehenden Verfallenheit und Verdorbenheit zuzuschreiben sind. Jeder Erfolg bei der Bekämpfung des Terrorismus kann so in eine moralische Niederlage umgemünzt werden. Die Gefangennahme oder Tötung eines Terroristen ist entweder nur durch Verrat – d. h. dadurch ermöglicht worden, dass die toxische Ideologie des Staates schon in die eigenen Reihen durchgesickert ist – oder durch die Überdehnung der eigenen Befugnisse – z. B. durch die gesetzwidrige Dauerüberwachung der Terroristen – denkbar. Denn die Feinde des Staates wachen mit Argusaugen über die Rechtmäßigkeit des staatlichen Handelns, solange es ihnen nützlich ist. Selbstverständlich verfügt auch der Staat mit den Terroristen über ein veritables Feindbild. Auch aus der staatlichen Sicht lassen sich die politischen Funktionen des Feindes erkennen. Der Unterschied zwischen Staat und Terrorismus bei dieser Problematik ist die Intensität der Feindschaft. Auf lange Sicht gesehen, ist der Staat gehalten, den Terroristen und ihrer Anhängerschaft die Reintegration in die rechtlich-politischen Rahmen und den gesellschaftlichen Strukturen des politischen Systems zu ermöglichen. Eine dauerhafte Ausgrenzung fördert lediglich die Einkapselung und die Verfestigung der zu bekämpfenden Organisationen.

5. Terrorismus als Rachegemeinschaft Die Entgrenzung des politischen Konflikts durch den Terrorismus gewinnt durch einen weiteren Aspekt eine neuerliche Zuspitzung. Für Louise Richardson bildet das Rachebedürfnis eine zentrale Motivationsgrundlage für das Handeln von Terroristen. Richardson beschreibt es als „das alles überragende Thema.“45 Doch was hat es mit der Rache auf sich? Zunächst lässt sich feststellen, dass Rache eine Reaktion auf etwas darstellt. Sie stellt einen kausalen Zusammenhang zwischen zwei Ereignissen her und ermöglicht eine sinnhafte Deutung terroristischer Handlun45 Richardson 2007, S. 126.

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gen,46 in dem die Ausgangstat moralisch diskreditiert wird. Rache antwortet auf „tyrannische Taten, Verrat, persönliche Beleidigungen, Rechtsbrüche und Übertretungen der sittlichen Ordnung.“47 Damit wird der Rächer entlastet, da er selbst zumindest keine volle Verantwortung für seine Taten zu übernehmen braucht. Er schiebt sie wenigstens teilweise demjenigen zu, der die Rache provoziert hat. Es ist auch gleichgültig, ob der Geschädigte selbst zum Rächer wird oder von einem anderen gerächt wird. Beides kann für sich Legitimation beanspruchen. Im ersten Fall wird die persönliche Betroffenheit zum alles überragenden Grund des Terrorismus. So rächt der Bruder den Bruder, der Sohn den Vater, die Ehefrau ihren Mann oder man sich selbst. Damit erhält die Tat einen Sinn, der für den Zuschauer unmittelbar einleuchtend ist, selbst dann, wenn die persönliche Rache als eigene Option ausgeschlossen wird. Man scheint dem Rächer eine Art „natürliches Recht“ auf seine Rache zuzuschreiben, denn erst mit der geglückten Rache ist eine vorher instabil gewordene soziale Konstellation wieder beruhigt worden. Rache ist außerdem ein universelles Motiv und ist den wenigstens Menschen als Emotion völlig fremd. Eine entsprechende Billigung der Rache hängt allerdings nicht unwesentlich von der politischen Ausrichtung des Betrachters ab. Selbiges gilt für die nicht persönliche Rache. In dieser Konstellation spricht für den Rächer sein Gewissen und sein Idealismus, da er auch dann gegen Unrecht vorgeht, wenn es andere Menschen betrifft und sich dadurch in Gefahr begibt. Mit diesem „Robin-Hood-Effekt“ wird die Rache ebenfalls zum Akt der Gerechtigkeit. Und auch hier ist bei vielen Beobachtern ein Gefühl des Verständnisses zu konstatieren, selbst wenn man wiederum den gewaltsamen Akt ablehnt. Ein für den Terrorismus interessanter Gesichtspunkt liegt in einer Eigenschaft von Rache begründet, die sie mit der Gewalt teilt. Auch die Rache lässt sich nicht einhegen. Sie ist im gleichen Sinne maßlos wie die Gewaltanwendung. Hier wie dort existiert kein Maß, keine Grenze und kein anzugebendes Ende. In welchem Ausmaß man sich rächt, bleibt dem Rächer vorbehalten. Er allein entscheidet darüber, wann das Rachebedürfnis gestillt wird. So kann die Tötung eines Freundes erst dann als abgegolten betrachten werden, wenn zwei, fünf oder zehn Feinde dafür umgebracht worden sind. Wenn man nur weniger Feinde habhaft wird, so kann man sie dafür einer umso grausameren Behandlung unterziehen.48 Die Maßlosigkeit der Rache erscheint wie ein Einbruch des Unbeherrschbaren in die Politik. Rache beruht für den, der die Rache will, auf keinem streng rationalen und steuerbaren Kalkül, vielmehr ist sie eine zutiefst emotionale Handlung. Das heißt aber nicht, dass diese Emotion nicht auch instrumentalisiert werden kann. Ernst Cassirer spricht davon, dass politische Mythen als „Waffen“ von geschickten 46 Daemmrichs 1995, S. 284. 47 Ebd., S. 284. 48 Maschke 1997, S. 174. Maschke schildert die Gewaltexzesse des „Leuchtenden Pfades“: „Sie [die Opfer des Terrors, B. S.] starben und sterben durch Kreuzigungen, nach vorheriger Kastration, durch Steinigung, durch das zu-Tode-Prügeln mit den eigenen, zuvor abgeschnittenen Armen, durch das lebend-Begrabenwerden.“ Besonders symbolhaft erscheint, jemanden mit den eigenen abgetrennten Armen zu erschlagen, da hier die Rache mit dem Körperteil exekutiert wird, mit dem die zu bestrafende Tat begangen wurde.

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Demagogen konstruiert werden.49 Wendet man diese Überlegung auf den Terrorismus an, kann man feststellen, dass auch das Rachebedürfnis künstlich hervorgerufen werden kann. Das Wechselspiel von taktischer Überlegung und ungebändigtem Gefühlausbruch birgt zwar das Risiko in sich, dass es außer Kontrolle geraten kann, aber das Rachegefühl kann immer wieder erneuert werden. Da es sich der verstandesgemäßen Einhegung entzieht, ist es selbst in Situationen abrufbar, in der die Gefechtslage sich zuungunsten der Terroristen entwickelt. Gerade in diesen Phasen ist das Rachebedürfnis besonders stark entwickelt. Von außen gesehen kann der Eindruck entstehen, dass Terroristen irrational handelnde Personen sind, besonders wenn es sich dabei um Selbstmordattentäter handelt.50 Jenseits des Nutzens für die Terrororganisation51 ist dabei aber nicht Binnenlogik der Rache zu vernachlässigen. Es ist für den Rächer nur wichtig, dass sein Racheziel erreicht wird. Je stärker sein Rachempfinden ausgeprägt ist, desto unwichtiger ist für ihn sein eigenes Überleben. Je höher sein persönlicher Einsatz ist, desto authentischer und glaubhafter wirkt sein Racheakt. Terroristen handeln nicht irrational – im Sinne von Sinnlosigkeit oder von Nutzlosigkeit – sie folgen nur konsequent ihrer eigenen Logik. Rache macht nicht Halt vor dem Einsatz des eigenen Lebens. Doch diese Logik der Rache stiftet auch Gemeinschaft. Werde ich als Terrorist getötet, kann ich versichert sein, dass wenigstens versucht wird, meinen Tod zu rächen. So bleibe ich über den Tod hinaus integraler Bestandteil meiner Gruppe. Und da ich davon ausgehe, dass ich gerächt werde, bin ich bereit, für die Mitglieder meiner Organisation Rache zu üben. Max Abrahms bezeichnet Terroristen als „social solidarity seekers“.52 Verbindet man diesen Gedanken mit dem Rachemotiv, wird die enorme Bindekraft innerhalb von Terrorgruppen deutlich. Der Glaube daran, dass ich in eine Rachegemeinschaft eingetreten bin, stiftet ein hohes Maß an Binnensolidarität. Rache schweißt zusammen. Es ist das gemeinsame Überschreiten der Grenze hin zur Gewalt, das die Rächer miteinander verbindet. Für Abrahms tritt bei der Suche nach sozialer Verbundenheit das ideologische Moment in den Hintergrund.53 Auch dies ist durch die These von der Rachegemeinschaft abzustützen. Rache braucht keine zusätzliche Motivation außerhalb ihrer selbst. Sie formuliert eine Evidenz aus sich selbst heraus. Dennoch ist die Akzeptanz von Rache an spezifische Konstellationen gebunden. Dabei ist in der Tat unwichtig, dass die Rächer ideologisch gefestigt sind und sich jederzeit in diesem Sinne artikulieren können, dennoch brauchen sie Erzählmuster, in denen sie sich einfügen können. Die narrativen Strukturen, die diesen Mustern zu Grunde liegen, sind ebenso einfach wie einsichtig. Es sind Auseinandersetzungen der Guten mit den Bösen, der Schwachen mit den Mächtigen, der Großen mit den Kleinen und der Unter49 50 51 52 53

Vgl. hierzu: Cassirer 1988, S. 367f. Vgl. hierzu: Richardson 2007, S. 40. Ebd., S. 41. Selbstmordattentäter sind billig und effektiv. Abrahms 2008, S. 96. Ebd., S. 97.

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drückten mit ihren Unterdrückern. Niemand wird Sympathie mit einem Mächtigen empfinden, der sich an einem Schwachen rächt, schon allein deshalb, weil er das Vergehen des Unterlegenen als Konsequenz der Unterdrückung durch den Stärkeren interpretiert. Dieses Kindchen-Kopf-Schema politischer Kommunikation basiert auf einer spezifischen Weltsicht: Die Starken produzieren Opfer, die Schwachen suchen lediglich Vergeltung. Das was wir als Menschenwürde bezeichnen, verbinden wir geradezu instinktiv mit den Opfern der Mächtigen. Den Tätern billigen wir diese Würde nur äußerst unwillig zu.54 Fallen sie Racheaktionen zum Opfer, funktioniert unser Einfühlungsvermögen nur eingeschränkt. Letztlich geht es darum, den abstrakten ideologischen Anspruch in die konkrete Struktur eines Oben-Unten-Gegensatzes zu übersetzen. So entsteht ein Argument, das nur mehr schwerlich mit vernünftigen Einwänden widerlegt werden kann. Vielmehr zielt es auf die Leidenschaften und das Gefühl und unterläuft auf diese Weise die mögliche kritische Analyse einer Situation. Aischylos zeichnet in seiner „Orestie“ den Kreislauf von „Rache und Gegenrache“ auf, die erneut Rache provoziert.55 Für Legitimität der Rache stehen die Erinyen. Sie sind die Rachegöttinnen. Schon allein durch ihren Status wird der Rächer exkulpiert. Er mag sich zwar versündigen, aber ihm bleibt keine andere Handlungsalternative. Auch in dieser tragischen Verstrickung werden Helden geboren. Sie stehen für ihre Gruppe ein, mag es auch aussichtslos sein und sie sehenden Auges das Falsche tun. Rache führt aus dem Bereich staatlicher Konfliktlösung hinaus. Sie ist archaisch und anarchistisch zugleich. Terrororganisationen sind erinysche Gemeinschaften. Zugespitzt kann man formulieren, dass sie nur der Rache wegen existieren. Sie formieren sich, weil sie ein geschehenes Unrecht rächen wollen und sie schaffen sich den Grund ihrer Existenz immer neu, in dem sie auf jede staatliche Reaktion mit einem neuerlichen Ausbruch von Rache antworten. Da der Staat nicht untätig bleiben kann, bleibt der Kreislauf in Schwung. Terrorbekämpfung muss zum Ziel haben, diesen Kreislauf zu unterbrechen. Aus den Erinyen sollen wie im antiken Drama die Eumeniden werden – die Wohlgesinnten – die sich in die Statik des Staates einfügen.56 Für Aischylos spielt in diesem Prozess die Versöhnung eine zentrale Rolle. Nur auf diese Weise ist ein dauerhafter Konsens herstellbar. Die Wandlung der Erinyen in die Eumeniden ist zugleich der Übergang vom Naturzustand in den Staat, also der Weg von der ungezügelten Rachegewalt hin zur rechtlich begrenzten Gewaltanwendung des Staates, die eine friedliche Streitschlichtung ermöglich soll, aber dennoch Gewalt bleibt. Die Gewaltandrohung bleibt immer im Hintergrund vorhanden und zwingt die Menschen zur Einhaltung der Regeln.57 Die Ambivalenz der staatlichen Ge54 55 56 57

Strauß 2004, S. 61. Vgl. hierzu: Ottmann 2001, S. 187. Vgl. hierzu: Ottmann 2001, S. 188. Vgl. hierzu: Weber 1992, S. 241f: „Auch die alten Christen wußten sehr genau, daß die Welt von Dämonen regiert sei, und daß, wer mit der Politik, das heißt: mit Macht und Gewaltsamkeit als Mitteln, sich einläßt, mit diabolischen Mächten einen Pakt schließt, und daß für sein Handeln es nicht wahr ist: daß aus Gutem nur Gutes, aus Bösem nur Böses kommen könne, sondern oft das Gegenteil. Wer das nicht sieht, ist in der Tat politisch ein Kind.“

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walt – einerseits Gewalt zu verhindern, andererseits dies nur mit Mitteln der Gewalt erreichend – erleichtert den Terrorgruppen die notwendigen propagandistischen Feldzüge. In der Begründung der terroristischen Gewalt als Gegengewalt zum staatlichen Gewaltmonopol steckt durchaus ein ernst zu nehmender Kern, weil auch der Staat nicht davor gefeit ist, unverhältnismäßig zu handeln. Terrorismus als Ausübung von Rache stellt einen Rückfall in ein schon überwunden geglaubtes Phänomen dar. Das spezifisch Neue am modernen Staat in der Sichtweise der Terroristen ist aber, dass der Staat nicht mehr als Lösung fungiert, sondern selbst durch seine tatsächliche oder vermeintliche Gewaltanwendung das Problem darstellt. Es ist nicht mehr der Mitmensch, vor dem wir uns schützen müssen, sondern der Mitmensch als Repräsentant einer ungerechten Ordnung, wobei die Funktion des Repräsentanten so in den Vordergrund gerückt wird, dass der Mensch dahinter verschwindet. Auch dies ist eine erfolgreiche Strategie um den Feind zu entmenschlichen. Der Staat erinnert schon auf Grund seiner faktischen Existenz an die dunklen Seiten der menschlichen Natur und dies macht ihn z. B. für viele humanistische Ideen suspekt. Der Staat darf der Rache aber nicht mit Rache begegnen, er muss selbst die Rachebegierden von einzelnen Individuen in seiner Bevölkerung im Griff haben und niederhalten. Daher beschützt er im Zweifelsfall die Verbrecher und bestraft die Rächer, denn ein Monopol besteht nur solange, wie es auch faktisch durchgesetzt werden kann. Schon die kleinste Konkurrenz hat das Potential, das ganze System zu sprengen, wenn man nicht entschieden dagegen vorgeht. Sollte der Staat auf Rache sinnen, kann er den Kreislauf von Rache und Gegenrache nicht durchbrechen, sondern er facht im Gegenteil seine Dynamik noch zusätzlich an. Der Rechtsstaat kann daher aus zweierlei Gründen nicht Rächer sein. Zum einen, weil er sich damit ähnlich wie beim Ausnahmezustand außerhalb des Rechts begeben würde, zum anderen, weil er in dieser Situation die Opfer seiner Rache bzw. ihre Rächer nicht mehr in Eumeniden verwandeln kann. Auch die Rache ist wie der Ausnahmezustand, die Verschärfung und die Wechselwirkung zum Äußersten eine Domäne der Terroristen. Es ist nicht sonderlich schwer, die Grenzen des staatlichen Rechts hinter sich zulassen. Die Entgrenzung ist ein kein aufwendiger Akt. Ihr Reiz liegt darin, dass man nicht viel braucht, um unkalkulierbare Folgen entstehen zu lassen.

6. Staat und Terrorismus: Wer zahlt den Preis? Damit der Rechtsstaat auf der richtigen Seite verbleibt, muss er sich zurückhalten können. Der Staat hat das Recht auf seiner Seite. Damit ist er – zumindest den westlichen Standards entsprechend – ausreichend normativ legitimiert. Diese Legitimierung limitiert den Gewalteinsatz gegenüber seinen Gegnern. Selbst wenn durch staatliches Handeln eigene Gesetze übertreten werden, gilt dies im innerstaatlichen Diskurs als Überschreitung von Befugnissen und wird auch so kommuniziert. Auch der Diskurs über die Lockerung des Folterverbotes verweist auf

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diesen Zusammenhang.58 Folter bleibt der Einbruch des nicht rechtlich Abgesicherten in das Recht. Daher ist die Rede vom Dammbruch eine zutreffende Metapher, denn die Konsequenzen eines Dammbruches sind nicht vorhersehbar und abzuschätzen, was dem Charakter eines Rechtsstaates widerspricht, der durch sein gesetzesförmiges und damit voraussagbares Verhalten geprägt ist. Es wäre ein erster Schritt in Richtung Entgrenzung. Ein Staat, der sich terroristischer Gewalt gegenüber sieht, muss der Versuchung widerstehen, selbst übermäßig Gewalt anzuwenden oder zugunsten der Freiheit die Freiheitsrechte seiner Bürger zu stark einzuschränken. Die Grenze zwischen dem Sicherheitsbedürfnis und dem Verlangen nach Sicherheit ist allerdings fließend und nicht statisch festzuzurren.59 Sie ist stark situationsabhängig. Ist in einem Staat zeitnah ein Attentat mit entsprechend vielen Opfern erfolgreich ausgeführt worden, ist die Zustimmung zu einer Verschärfung von Überwachung und Strafe mit Sicherheit höher als in einem Land, das noch nicht die Erfahrung mit einem auch für die Zivilbevölkerung verheerenden Anschlag gemacht hat bzw. in dem ein solches Ereignis schon eine geraume Zeit zurück liegt. In den derzeitigen Diskussionen scheint es so, als sollten wir den Terrorismus als allgemeines Lebensrisiko gelassen hinnehmen.60 Rein statistisch gesehen ist diese Haltung berechtigt. Die Wahrscheinlichkeit, bei einem Terroranschlag verletzt oder gar getötet zu werden, ist sehr viel geringer, als bei einem Verkehrsunfall umzukommen; auch wenn es hier große regionale Unterschiede geben mag. Es ist in der Tat bemerkenswert, wie schnell die Menschen in den westlichen Demokratien nach einem Attentat wieder zur Normalität zurückkehren. Wer den Weg nach London nicht verlassen will, sollte es sich allerdings nicht allzu leicht machen. Denn es bleibt bei aller Wertschätzung der Freiheit auch bei der Notwendigkeit der Bekämpfung des Terrorismus. Hierfür bedarf es eines hohen Ressourceneinsatzes und der Bereitschaft, bis an die Grenzen des eigenen Selbstverständnisses zu gehen. Es ist ein kein geringes Problem, sich einem Feind entgegen zu stellen, der sich nicht an irgendwelche Regeln halten muss bzw. gerade aus dem Regelverstoß seine Identität bezieht. Darin liegt wohl auch seine Attraktivität vor allem für junge Menschen begründet. Terroristische Gruppen bieten neben der unbedingten Gewissheit, auf der richtigen Seite zu stehen, das Versprechen von Heldentum, Größe und Abenteuer, das in unserer postheroischen Gesellschaft nicht mehr abgegeben bzw. in Nischen abgedrängt wird, die keinerlei historische Spuren garantieren. Dass der Preis dafür meist darin besteht, sich einem sehr viel strengeren Reglement zu unterwerfen, spielt, so paradox es erscheint, keine Rolle. Pessimisten mögen deshalb auf Carl Schmitt verweisen und dem liberalen Rechtsstaat, weil er den Terrorismus nicht auf sein Gelände folgen kann, keinen Sieg prophezeien. Doch man sollte das westliche Modell nicht unterschätzen. Es hat sich bisher als sehr stabil erwiesen, auch weil es sich für die unterschiedlichs58 Vgl. hierzu: Bielefeldt 2006. 59 Vgl. hierzu: Gralher 1977, S. 267. 60 Ebd. Diese Diskussion ist nicht so neu, wie es aktuell erscheint.

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ten Forderungen öffnen konnte – es verfügt immer noch über eine hohe Anziehungskraft. Vielleicht ist es nicht der Kampf selbst, der das Duell entscheidet, sondern die Ermüdung des Gegners, die daraus resultiert, gegen ein System zu agieren, das trotz aller Krisen nicht bezwingbar ist. Auf Dauer gesehen ist es auf verlorenem Posten doch sehr einsam. Man sollte aber an dieser Stelle an die Opfer des Terrors erinnern. Denn den Preis für unsere Freiheit begleichen wir mit der Gesundheit und dem Leben der Menschen, die nicht soviel Glück hatten wie wir und mit den Sorgen und Ängsten ihrer Familien, die womöglich andere Fragen stellen als die Davongekommenen. Wären wir immer noch so freiheitsliebend, wenn wir selbst betroffen wären oder in einem Land leben müssten, in dem die terroristische Bedrohung weit stärker spürbar ist als in westlichen Ländern?

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Bernhard Schreyer

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2. Teil Staatliche Terrorismusbekämpfung

NETZWERKE ZUR GEFAHRENABWEHR UND TERRORISMUSBEKÄMPFUNG. INNERE SICHERHEIT ZWISCHEN LEISTUNGSZWANG UND TRENNUNGSGEBOT Falko Schmid

1. Ausgangssituation Seit den Terroranschlägen vom 11.09.2001 wurden seitens staatlicher Organe retardierende Forderungen nach einer trans- und interdisziplinären Vernetzung bei mitunter teilweiser Aufhebung von Grundrechten gestellt. In diesem Kontext wurden auch in Deutschland Netzwerkstrukturen zur Gefahrenabwehr geschaffen und das Trennungsgebot von Polizei und Nachrichtendiensten in Augen nicht weniger Kritiker unterminiert sowie die föderative Struktur der Polizei im Rahmen einer Diskussion zur Bündelung an Informationen erneut in Frage gestellt.1 Gerade aufgrund der aktuellen Entwicklungen sowie des Umstandes, dass seit 2001 deutschlandweit bislang sieben Terroranschläge fundamentalistischer Islamisten vereitelt werden konnten bzw. fehlschlugen, wird die innere Sicherheit mehr denn je gefordert, wobei die inhärente Gefährdungslage zuletzt durch die Festnahme dreier mutmaßlicher Terroristen der „Arabischen Jihad Union“ am 5. September 2007 bei Oberschledorn bestätigt wurde.2 Umso mehr ist in diesem Zusammenhang von Interesse, dass der Begriff der inneren Sicherheit bis dato eine rechtsverbindliche Positivierung erfährt.3 Aktuell werden unter dem Begriff der inneren Sicherheit Maßnahmen zur Verhütung und Abwehr von Kriminalität, Gewalt und anderen Angriffen auf die Allgemeinheit verstanden und ergänzend hierzu Maßnahmen, welche den Bestand und die Stabilität der Gemeinschaft zum Schutz vor Gegnern im Innern wie auch von Außen zum Ziel haben.4 Weit mehr als äußere Sicherheit versteht sich innere Sicherheit einerseits als Teil des öffentlichen Gewaltmonopols und andererseits als Form einer Restriktion öffentlicher Gewalt durch bürgerliche Freiheitsrechte und den Schutz verfassungsgemäßer Rechtstaatsprinzipien.5 Zunehmend ist die Politik hierbei gefordert, auf Bedrohungen beider Ziele (im Inneren wie im Äußeren) nicht nur zu reagieren, sondern auch diesen Risiken im Vorfeld eines möglichen Eintritts präventiv zu begegnen.6 Institutionell bedeutet dies, dass sowohl die Sicherheitsbehörden als auch deren Kon1 2 3 4 5 6

Woyke 2006, S. 273–277. Hansen 2008, S. 34–35. Schneider/Hofer 2008, S. 71ff. Jesse 2003, S. 252–254. Schulte 2002, S. 4–5. Schwind 2009, S. 661–666.

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trolle durch die Justiz zum Gegenstand einer Politik innerer Sicherheit werden. Die häufig festzustellenden übereilt pragmatischen Reaktionen auf eine aufgetretene terroristische Bedrohungslage lassen sich eher aus dem Profilierungsbedürfnis des jeweiligen politischen Akteurs, »etwas nun tun zu müssen«, denn aus deren Effektivität erklären.7 Dadurch entstandene ressortübergreifende Imponderabilien müssen dann meist im Nachgang durch Reformen und Nachbesserungen wieder behoben werden.8 Zunächst ist an dieser Stelle der Begriff des Netzwerkes zu definieren. Bei strategischen Netzwerken handelt es sich allgemein um eine, auf die Realisierung von Wettbewerbsvorteilen gerichtete, polyzentrisch-strategisch geführte Organisationsform mehrerer Unternehmungen, die sich durch komplex-reziproke und kooperative Beziehungen zwischen den einzelnen Partnerunternehmungen auszeichnet, wobei die Frage des jeweiligen Eigentums hinter jene der strategischen Steuerung zurücktritt.9 Die zu Grunde liegende Struktur eines Netzwerkes lässt sich mathematisch als Graph darstellen, der aus einer Vielzahl an Knoten besteht, die wiederum ihrerseits mittels Verbindungen, so genannten Kanten, verbunden sind. Auch in der Politikwissenschaft wird der Begriff des Netzwerkes verwendet: so wird in der Steuerungstheorie unter Politiknetzwerken das Zusammenwirken privater und öffentlicher Akteure in bestimmten Aktionsfeldern verstanden, woraus im Ergebnis nicht-hierarchische, dezentrale politische Netzwerke resultieren.10 Ergänzend hierzu versteht sich die Netzwerkanalyse im naturwissenschaftlich-technischen als analytischer Prozess, der sich der Transformation eines topographischen in einen topologischen Raum bedient, um bestehende Transportnetze mittels Knoten, die durch sich nicht überschneidende Kanten verbunden werden, darzustellen.11 Im politikwissenschaftlichen und soziologischen Sinn wird unter Netzwerkanalyse ein Forschungsprogramm verstanden, mittels welchem die Eigenschaften des betreffenden Netzwerkes einer kritischen Analyse unterzogen werden.12 Es handelt sich bei Netzwerken folglich um interaktive Kommunikationsplattformen unterschiedlichster Teilnehmer, die diametral und transversal zum Zweck eines effizienteren ganzheitlichen Handelns verbunden werden. Insoweit ist der Terminus „Netzwerk“ für die aufzuzeigenden Sicherheitsstrukturen, die das Ergebnis einer Neugestaltung der bundesdeutschen Sicherheitsarchitektur in Folge der Terroranschläge von 2001 darstellen, angebracht.13

7 Vgl. Blankenburg 1998, S. 169ff. 8 So beispielsweise die Ergänzung des BKA-Gesetzes vom 19.12.2008, welche zum 01.01.2009 in Kraft trat in welcher dem BKA eine Reihe von Befugnissen, welche die Länderpolizeien schon seit Jahren besitzen, übertragen wurden, wie § 20 h BKAG (akustische Wohnraumüberwachung). 9 Vgl. Hopfenbeck 1998, S. 191–192. 10 Vgl. Scheuch 1992, S. 43–52. 11 Vgl. Bartmann 1995, S. 2382–2384. 12 Vgl. Schubert 2002, S. 571–572. 13 Vgl. Knelangen 2008, S. 187–194.

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2. Existierende Netzwerke zur Gefahrenabwehr Derzeit existente Netzwerke der polizeilichen wie nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr werden im Nachfolgenden dargestellt: -

Das GASIM (Gemeinsames Analyse- und Strategiezentrum Illegale Migration) Das GTAZ (Gemeinsames Terrorabwehrzentrum) Das GIZ (Gemeinsames Internetzentrum) Das GLZ-See (Gemeinsames Lagezentrum See) Das GMLZ (Gemeinsames Lagezentrum).

2.1 Das GASIM (Gemeinsames Analyse- und Strategiezentrum Illegale Migration) Am 17. Juli 2006 wurde das Gemeinsame Analyse- und Strategiezentrum Illegale Migration (GASIM) in Berlin Treptow der Öffentlichkeit vorgestellt. Im GASIM sind derzeit 36 Mitarbeiter tätig. Beteiligt sind das Bundeskriminalamt (BKA), die Bundespolizei (BPol), das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), die Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS), der Bundesnachrichtendienst (BND), das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) sowie das Auswärtige Amt (AA). Durch diese Vernetzung soll die fachliche Kompetenz aller Beteiligten gebündelt und effektiv genutzt werden, ohne dass es hierbei zu einer Verletzung rechtlicher Rahmenbedingungen kommt, da Nachrichtendienste und Polizeien in dieser Behörde zusammen arbeiten. Zielintension ist es, dem Netzwerk der illegalen Migration unter der Berücksichtigung delikts- und behördenübergreifender Aspekte und Verantwortlichkeiten ein Netzwerk behördlicher Kommunikation und Information entgegenzusetzen. Das GASIM wird als Konsequenz der Bundesregierung aus den Erkenntnissen des Visa-Untersuchungsausschusses angesehen, wonach Deutschland „in beträchtlichem Umfang“ von illegaler Migration betroffen sei.14 Im GASIM werden als zentraler Anlaufstelle biometrisch mit Fingerabdrücken abgesicherte Visa, die von den EU-Staaten ausgegeben wurden, überprüft. Ferner sammelt es durch die Arbeit des BND laufend Erkenntnisse zu Migrationsströmungen als Frühwarnsystem für bundesdeutsche Behörden. Das GASIM teilt sich in sieben Foren auf:15 -

Forum 1: Tägliche Lagebesprechung (Geschäftsführung: BKA) Forum 2: Lagebild Migrationsströme (Geschäftsführung: BPol und BAMF) Forum 3: Werkvertragsverfahren (Geschäftsführung: BPol und FKS) Forum 4: Nachrichtendienstlich-taktische und -strategische Lage (Geschäftsführung: BND)

14 Vgl. Hanning 2000, S. 11–13. 15 Vgl. Deutscher Bundestag, BT-Drucksache 16/8482 vom 11.03.2008, S. 2.

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Forum 5: Strategische Konzepte im Phänomenbereich illegale Migration (Geschäftsführung: transdisziplinär) Forum 6: Migration – Aufenthalt – Kooperation – Infopool (Geschäftsführung: BAMF) Forum 7: Operative Maßnahmen im Zusammenhang mit illegaler Migration (Geschäftsführung: BPol).

2.2 Das GTAZ (Gemeinsames Terrorabwehrzentrum) Das Gemeinsame Terrorabwehrzentrum (GTAZ) nahm am 14. Dezember 2004 ebenfalls in Berlin-Treptow seine Arbeit auf. Dort tauschen derzeit 229 Beschäftigte (198 Beschäftigte von Bundes- und 31 Beschäftigte von Landesbehörden) aus den acht Bundesbehörden Bundeskriminalamt (BKA), Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), Bundesnachrichtendienst (BND), Militärischer Abschirmdienst (MAD), Zollkriminalamt (ZKA), Bundespolizei (BPol), dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und dem Generalbundesanwaltschaft (GBA) sowie aus weiteren 32 Länderbehörden (alle 16 Landeskriminalämter und Landesbehörden für Verfassungsschutz) ihre Kenntnisse aus.16 Die eingebrachten Informationen aus dem In- und Ausland fließen hier zu einem Lagebild zusammen. Im Bereich des internationalen Terrorismus bedient man sich hierbei der so genannten Antiterrordatei (ATD), 17 einer gemeinsamen Datenbank von insgesamt 38 diversen bundesdeutschen Ermittlungsbehörden (BKA, BPol, BfV, MAD, ZKA, BND, 16 Landeskriminalämter und 16 Landesbehörden für Verfassungsschutz sowie vereinzelter Staatsschutzdezernate bei Präsidien der Landespolizeien).18 Mit einer hierzu auf fünf Jahre befristeten gesetzlichen Grundlage werden alle an der Antiterrordatei beteiligten Behörden verpflichtet, ihre jeweiligen Daten über Anhaltspunkte und Erkenntnisse zu terroristischen Aktivitäten zu Personen oder Vereinigungen in diese gemeinsame Datei einzuspeisen. Diese Datei wurde am 30. März 2007 freigeschaltet und umfasst unter anderem Angaben zu

16 Vgl. Deutscher Bundestag, BT-Drucksache 16/10007 vom 18.07.2008, S. 1; 5. 17 Eine gesetzliche Regelung erfährt die Antiterrordatei im Artikelgesetz „Gesetz zur Einrichtung einer standardisierten zentralen Antiterrordatei von Polizeibehörden und Nachrichtendiensten von Bund und Ländern“ - Antiterrordateigesetz ATDG vom 22.12.2006, BGBl I Nr. 66, S.3409 ff. Die spezifischen Regelungen zur Antiterrordatei finden sich im „Gesetz zur Errichtung einer standardisierten zentralen Antiterrordatei von Polizeibehörden und Nachrichtendiensten des Bundes und der Länder – Antiterrordateigesetz ATDG, das als Artikel 1 des vorgenannten Artikelgesetzes erlassen wurde. 18 Mit Stichtag zum 28. Mai 2008 befanden sich in der Antiterrordatei 17.745 Dateien verteilt auf 334 Datenbanken und 511 Protokolldateien bei rund 13.000 erfassten Personen. Die Gesamtkosten belaufen sich auf jährlich 8,4 Mio. Euro, wovon der Bund 5,4 Mio. Euro trägt, der Rest von den Bundesländern getragen wird (http://www.bmi.bund.de/cln_145/SharedDocs/Standardartikel/DE/Themen/Sicherheit/Terrorismus/Antiterrordatei.html?nn=107146 [letzter Zugriff: 8.10.2010]).

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Kommunikationsgeräten, Bankverbindungen, Familienstand, zugelassenen oder genutzten Fahrzeugen, Religionszugehörigkeit, Kenntnissen oder Fertigkeiten mit Sprengstoffen oder Waffen, Fahr- und Flugerlaubnissen, besuchten Orten oder Gebieten oder Angaben zu bestimmten Vereinigungen oder Gruppierungen (vgl. § 3 ATDG).

Diese Indexdatei teilt sich in drei Datenpools: der erste Datenpool enthält Grunddaten von Personen und kann von sämtlichen Behörden direkt eingesehen werden, der zweite Datenpool enthält darüber hinaus Daten zu Kontaktpersonen sowie erweiterte Grunddaten. Hierbei erhält die abfragende Behörde lediglich einen Hinweis, bei welcher Behörde diese Daten konkret vorliegen. Nur in besonderen Eilfällen (z.B. drohende Gefahr für Leib und Leben) darf der Leiter der abfragenden Behörde das elektronische Siegel brechen; dies wird dann automatisch zu Kontrollzwecken dokumentiert. Der dritte Datenpool enthält ausnahmslos verdeckte Daten, die grundsätzlich nicht für andere Behörden zur Verfügung stehen.19 Bislang sind allein beim BKA für Errichtung und Betrieb der ATD Gesamtkosten in Höhe von 4.184.000 ¼ angefallen.20 Diese Datei bildet den vorläufigen Höhepunkt einer seit den Anschlägen von 2001 begonnenen Transformation des BKA: ausgehend von der Etablierung eines täglichen bundesweiten Lagebildes wurde ein eigenes Informationsboard zum Austausch von Informationen der einzelnen Sicherheitsbehörden eingerichtet, was zu einer Verstetigung der Kontakte zwischen Verfassungsschutz, Bundes- und Landespolizei, Bundesinnen- und Justizministerium sowie der europäischen Polizeibehörde Europol in Den Haag führte.21 Die Antiterrordatei dürfte künftig das hauptsächlich genutzte Datenbanksystem des GTAZ sein und das bisherige nachrichtendienstliche Informationssystem NADIS verdrängen. Das GTAZ verfügt aufgrund der interdisziplinären Zusammensetzung seines Personals über optimale Bedingungen für einen Informationsaustausch in Echtzeit und für schnelle, zielgerichtete Analysen aktueller Gefährdungshinweise sowie zur Abstimmung operativer Maßnahmen im Rahmen der Terrorismusbekämpfung. Dort erfolgen neben täglichen Lagebesprechungen auch Gefährdungsbewertungen, operative Informationsaustausche, Fallauswertungen und Strukturanalysen, Aufklärungen des islamistisch-terroristischen Personenpotenzials sowie statusrechtliche Begleitmaßnahmen.22 Ziel ist es frühzeitig zu erkennen, ob in konkreten Einzelfällen repressive ausländer- oder asylrechtliche Maßnahmen ange19 20 21 22

Vgl. Hansen 2008, S. 99. Vgl. hierzu: Deutscher Bundestag, Drucksache 16/10007 vom 18.07.2008, S. 9. Vgl. Hansen 2010, S. 300. Ziel ist es hierbei frühzeitig zu erkennen, ob in konkreten Einzelfällen repressive ausländeroder asylrechtliche Maßnahmen angezeigt sind.

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zeigt sind. Durch die enge Zusammenarbeit im GTAZ soll die operative Tätigkeit der Sicherheitsbehörden durch eine konsequente Frühaufklärung terroristischer Gefahrenpotenziale und einen dauerhaft hohen Fahndungs- und Ermittlungsdruck nachhaltig gestärkt werden; in diesem Zusammenhang ist auch auf die Rolle Deutschlands bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus zu verweisen, wonach eine internationale Zusammenarbeit von herausragender Evidenz ist. Daher ist auch eine etwaige Einbindung ausländischer Experten bei selektiven Projekten vorgesehen.23 Das GTAZ selbst teilt sich organisatorisch in die „Polizeiliche Informationsund Analysestelle“ (PIAS) und die „Nachrichtendienstliche Informations- und Analysestelle“ (NIAS) auf, wodurch eine organisatorische wie räumliche Trennung gewährleistet ist und dem verfassungsmäßigen Trennungsgebot entsprochen wird.24 Hierzu wurden insgesamt acht Arbeitsgruppen bzw. Kooperationsforen eingerichtet: -

Tägliche Lagebesprechung, AG Gefährdungsbewertung, AG Operativer Informationsaustausch, AG Fallauswertung, AG Strukturanalysen, AG Aufklärung des islamistisch-terroristischen Personenpotentials, AG Ressourcenbündelung, AG Deradikalisierung,25 AG Statusrechtliche Begleitmaßnahmen,26

Ähnliche Einrichtungen zum GTAZ, in denen Polizei und Verfassungsschutz Informationen austauschen bestehen auf Länderebene in Hessen („Gemeinsames Informations- und Analysezentrum Politische Motivierte Kriminalität“), in Niedersachsen („Gemeinsames Informations- und Analysezentrum der Polizei und des Verfassungsschutzes“), in Sachsen-Anhalt („Gemeinsames Informations- und Analysezentrum islamistischer Terrorismus“) sowie in Thüringen („Informationsund Auswertungszentrale von Polizei und Verfassungsschutz“).27

23 24

25 26 27

http://ww.bmi.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2007/01/bk_merkel_im_gtaz.html Zugriff: 10.09.2010). Vgl. Bundesministerium des Innern, Schriftenreihe Innenpolitik, Kampf gegen den Terrorismus, 12/2007, S. 6.; vgl. ferner: Deutscher Bundestag, Drucksache 16/10007 vom 18.07.2008, S. 1. Vgl. Schmid 2010. Vgl. hierzu: Deutscher Bundestag, Drucksache 16/10007 vom 18.07.2008, S. 1–2. Vgl. Klee 2010, S.137–142.

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2.3 Das GIZ (Gemeinsames Internetzentrum) Im Januar 2007 nahm beim GTAZ das Gemeinsame Internetzentrum (GIZ) unter der Federführung des Bundesamtes für Verfassungsschutz mit 15 Mitarbeitern seinen Betrieb auf. Organisationsrechtlich handelt es sich hierbei um eine an das GTAZ angegliederte Dienststelle.28 Hierzu trug der Umstand bei, dass sich das Internet als Kommunikationsplattform für Terroristen aufgrund der Option eines raschen und kostengünstigen Informationsaustausches zunehmend an Bedeutung erfreut. So nutzen Terroristen das Internet zur vernetzten Planung von Straftaten, zur Agitation und Radikalisierung von Zielgruppen sowie zur Rekrutierung von Nachwuchs; so gibt es derzeit international mehr als 5.000 Internetauftritte mit islamistisch-terroristischem Bezug. Dieses Medium stellt folglich für BfV, BKA, BND, MAD und die Generalbundesanwältin beim Bundesgerichtshof (GBA) im Rahmen der Terrorismusbekämpfung eine bedeutsame Erkenntnisquelle dar. Der Personalkörper setzt sich aus Sprachexperten, Islam- und Politikwissenschaftlern, Technikern, Polizeibeamten, Verfassungsschützern und Juristen der vorgenannten fünf Behörden zusammen.29 Das GIZ beschafft Informationen zur Bekämpfung des islamistischen Terrorismus und Extremismus mittels der Beobachtung einschlägiger Adressen im Internet. Einzelfallbezogene operative Maßnahmen werden wegen des Sachzusammenhanges weiterhin von den Ermittlungseinheiten des BKA und BfV durchgeführt. Diese Einrichtung wird der Notwendigkeit gerecht, Fahndungsmaßnahmen auf das Internet auszuweiten, da zur explosionsartigen Vermehrung islamistischer Propaganda im Internet das Phänomen so genannter „Weblogs“ beiträgt. Hierbei handelt es sich um Internetpräsenzen, die kostenfrei von jedermann anonym und ohne besonderes technisches Wissen eingerichtet werden können und die eine zunehmende sicherheitspolitische Brisanz erhalten.30 Beim GIZ handelt es sich ebenfalls um keine neue Behörde, sondern um eine gemeinsame Einrichtung, die nach dem bewährten Muster des GTAZ errichtet worden ist. Mit Stand November 2010 sind dort derzeit 41 Mitarbeiter tätig.

2.4 Das GLZ-See (Gemeinsames Lagezentrum See) Am 16. Januar 2007 wurde in Cuxhaven das Gemeinsame Lagezentrum See (GLZ-See) im Maritimen Sicherheitszentrum (MSZ) als operative Einheit dieses Zentrums eröffnet.31 Im GLZ-See, das den operativen Part des MSZ bildet, sollen die Sicherheits- und Schifffahrtsbehörden noch enger als bisher zusammen arbeiten; im MSZ selbst sollen Küstenwache, Havariekommando, das maritime Führungs- und Lagezentrum sowie die zentrale Meldestelle der Seeschifffahrt zur Terrorabwehr, der ISPS Point of Contact Maritime Security, unter einem Dach 28 29 30 31

Vgl. Hansen 2008, S. 97. Vgl. Fromm 2009, S. 9–11. Vgl. Bundesministerium des Innern, a.a.O., S. 4–5. Vgl. Informationsplattform zum MSZ unter www.bundespolizei.de (Zugriff: 16.04.2009).

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zusammen wirken.32 Das GLZ-See basiert auf einer Kooperationsvereinbarung, in welcher die operativen Einheiten des Bundes und der fünf Küstenländer (Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein) zur Gewährleistung der maritimen Sicherheit gemeinsam untergebracht sind. Im Einzelnen sind dies das Maritime Lagezentrum des Havariekommandos, die Einsatzleitstellen von Bundespolizei (Küstenwache), Zoll, Bundesmarine und der Fischereiaufsicht durch die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung, die Leitstelle der Wasserschutzpolizeien der Küstenländer und die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung. Aufgaben des GLZ-See sind alle operativen Aufgaben maritimer Sicherheit wie maritime Notfallvorsorge, bundespolizeiliche Aufgaben, zollrechtliche Aufgaben, Fischereischutz, nautische Beratungsdienstleistungen sowie allgemeinpolizeiliche und schifffahrtspolizeiliche Aufgaben. Ergänzend hierzu ist die Bundesmarine jeweils durch einen Verbindungsoffizier im GLZ-See vertreten.

2.5 Das GMLZ (Gemeinsames Lagezentrum) Nach dem 11.09. 2001 wurde für den Bereich des Zivil- und Katastrophenschutzes eine neue Strategie zum Schutz der Bevölkerung erforderlich. Hierzu galt es, eine stärkere Zusammenarbeit der Länder und Kommunen zusammen mit dem Bund und den Hilfsorganisationen im Katastrophenschutz zu erzielen. Vor diesem Hintergrund nahm am 1. Oktober 2002 das Gemeinsame Melde- und Lagezentrum (GMLZ) noch beim damaligen Bundesamt für Zivilschutz – jetzt: Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) in Bonn seine Arbeit auf.33 Das GMLZ stellt ein länder- und organisationsübergreifendes Informations- und Ressourcenmanagement bei großflächigen Schadenslagen und sonstigen Lagen nationaler Bedeutung sicher. Diese Leistungen können im Bedarfsfall für Bund, Länder, Kommunen und Hilfsorganisationen erbracht werden. Das GMLZ fungiert hierbei als zentrale Dienststelle des Bundes zur Erfüllung der Aufgaben des Bevölkerungsschutzes und betreibt hierzu einen ständig erreichbaren Meldekopf für großflächige Gefahrenlagen und Ereignisse von nationaler Bedeutung. Dort wird auch die Erarbeitung eines flächendeckenden Lagebildes der zivilen Gefahrenabwehr für die interministerielle Koordinierungsgruppe des Lagezentrums des Bundesinnenministeriums, die jeweiligen Lagezentren der einzelnen Bundesländer und weitere Bedarfsträger auf Bundesebene gewährleistet. Hierzu bedient sich das GMLZ des SatellitenWarnsystems SatWAS sowie des Datenbanksystems deNIS IIplus (deutsches Notfallvorsorge-Informationssystem), welches im Wesentlichen Angaben über bedarfsweise abrufbare Ressourcen und die jeweiligen Ansprechpartner sowie Daten eigener und externer Experten aus den verschiedensten Einrichtungen und 32 Vgl. Jenisch 2006, S. 19–22. 33 Vgl. Internetauftritt des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) unter www.bbk.bund.de , Stichwort GMLZ, (Zugriff: 12.04.2009).

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Behörden aus dem Bereich des Bevölkerungsschutzes enthält. Ab dem 1. Juni 2010 übernimmt das GMLZ die Aufgabe einer zentralen und offiziellen Kontaktund Koordinierungsstelle in Deutschland für nationale, europaweite und internationale Melde- und Informationsverfahren bei Schadenlagen im Bevölkerungsschutz.34

3. Rechtsstatus der aufgezeigten Netzwerke: kritische Überlegungen 3.1 GASIM Aufgrund seiner institutionellen Anbindung an das Bundesministerium des Innern steht das GASIM in der Kritik, mit dem so genannten Trennungsgebot nicht in Einklang zu stehen, indem es auf dem gleichen Gelände wie das GTAZ in unmittelbarer Nähe zu diesem ansässig sei und ressortübergreifend in Abstimmung mit dem Bundeskanzleramt, dem Auswärtigen Amt und dem Bundesminister der Finanzen als behördenübergreifende Einrichtung eingerichtet wurde.35 Ferner wird kritisiert, dass seitens des GASIM unbescholtene Bürger überwacht und mit operativen Maßnahmen belegt werden.36 Diese Vorwürfe seien auch durch das BKA nach vorangehenden Erhebungen in einem offiziellen Schreiben an das Bundesministerium des Innern vom 29.11.2007 dergestalt bestätigt worden, als dass unter anderem eine Störung bewährter Meldewege aufgrund der operativen Bearbeitung von Einzelfällen durch das GASIM erfolge, wodurch unter anderem die gesetzliche Zuständigkeit des BKA verletzt werde und es dadurch zu Doppel- und Mehrarbeit käme. Auch würden geheimzuhaltende Informationen des BND im GASIM einem großen Verteilerkreis vermittelt und hohe Mengen an personenbezogenen Daten zu deren „Anreicherung“ an andere Behörden weitergegeben.37 Die erhobenen Vorwürfe wurden seitens des Bundesministers des Innern im Rahmen einer Stellungnahme vom 30.September 2008 mit der Argumentation verworfen, dass es sich beim GASIM um keine Behörde sondern um eine Kooperations- und Zusammenarbeitsplattform handeln würde, die der Bekämpfung der illegalen Migration diene und im Rahmen derer die beteiligten Behörden den Informationsund Datenaustausch allein aufgrund der für sie jeweils geltenden spezialgesetzlichen Regelungen vornähmen. Auch führe das GASIM selbst keine operativen Maßnahmen durch. Die Federführung im GASIM obliege künftighin der Bundespolizei; ergänzend wurde erneut betont, dass das GASIM mit eigenen Auswertungserkenntnissen lediglich Maßnahmen der originär zuständigen Behörden un34 Pressemitteilung des BBK vom 31.05.2010 „Meilenstein in der Entwicklung des Bevölkerungsschutzes erreicht“, www.bbk.bund.de (22.06.2010). 35 Vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 16/2420 vom 18.08.2006, S.1–4. 36 Ebd. 37 Vgl. Presseinformation Report Mainz vom 29.09.2008: Gemeinsames Analyse- und Strategiezentrum der Bundesregierung verfassungswidrig. Das BKA formuliert schwere rechtliche Bedenken;Quelle:http://www.swr.de/report/presse//id=1197424/nid=1197424/did=4025564/13o6j2v/ (Zugriff: 20.10.2010).

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terstütze.38 Vor diesem Hintergrund ist jedoch die Tatsache interessant, dass das BKA seine aktive Mitwirkung im Forum 7 (Operative Maßnahmen) zum 15.11.2007 beendet hatte.39

3.2 GTAZ Im GTAZ arbeiten derzeit insgesamt 40 Behörden des Bundes und der Länder. Das GTAZ selbst ist strukturell beim Bundesminister des Innern angesiedelt. Im Gegensatz zu anderen Formen der Kooperation unter den Sicherheitsbehörden mangelt es für die Tätigkeit des GTAZ an einer expliziten Rechtsgrundlage. Auch stellen ministerielle Erlasse oder Anordnung zum GTAZ keinen Ersatz für eine einschlägige Rechtsnorm dar. Vielmehr lassen sehr wohl die einschlägigen Gesetze eine Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden einschließlich der Übermittlung personenbezogener Daten zu, wodurch eine rechtliche Basis definiert ist.40 Bei einem Kontrollbesuch des Zentrums durch den Bundesbeauftragten für den Datenschutz hatte dieser in seinem 21. Tätigkeitsbericht „schwerwiegende datenschutzrechtliche Mängel“ sowie einen schwerwiegenden Verstoß bei der Antiterrordatei festgestellt. So müssen „[…] bei der Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen Polizei und Nachrichtendiensten die Vorgaben des Grundgesetzes beachtet werden. Zu beachten sei insbesondere das verfassungsrechtliche Trennungsgebot, das die informationelle Zusammenarbeit von Polizei und Nachrichtendiensten begrenzt, um zu verhindern, dass die organisatorische Trennung von Polizei und Geheimdiensten durch wechselseitige Unterstützungs- und Hilfsmaßnahmen unterlaufen wird […].“41

Zur Kritik an der Antiterrordatei wird ausgeführt: „[…] eine informationelle Kooperation dieser Art war bisher nicht zulässig. Meine verfassungs- und datenschutzrechtlichen Bedenken, insbesondere zur Gestaltung einer gemeinsamen Antiterrordatei beim Bundeskriminalamt, wurden in dem Gesetzgebungsverfahren (Anm.: Gemeinsame-Dateien-Gesetz) im Wesentlichen nicht ausgeräumt […].“42

Ferner wird erheblich daran Kritik geübt, dass nachrichtendienstlich erhobene und in der Antiterrordatei gespeicherte Daten den beteiligten Polizeibehörden zugänglich gemacht werden, obwohl jene diese aufgrund fehlender Befugnisse selbst eigentlich gar nicht erheben dürften. Dies wird im Bericht dadurch begründet, dass aufgrund einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum hamburgischen Gesetz über die Datenverarbeitung der Polizei die Begrifflichkeiten Kontakt- und Begleitperson in polizeirechtlicher Hinsicht restriktiv auszulegen sind; folglich 38 Vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 16/11636 vom 21.01.2009, S. 2–5. 39 Vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 16/11636 vom 21.01.2009, S. 7. 40 Vgl. Klee 2010: S. 115 ff., der auf die einschlägigen Bestimmungen in den §§ 1,2 und 10 Abs. 1 und 2 BKAG, die §§ 1 Abs. 2, 2,5,6 und 18 ff BVerfSchG, §§ 3,10 und 11 MADG sowie §§ 8,9 und 10 BNDG verweist. 41 Vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 16/4950 vom 24.04.2007, Ziff. 5.1, S. 59. 42 Vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 16/4950 vom 24.04.2007, Ziff. 5.1.1, S. 60.

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dürfe die Polizei im Gegensatz zu den Nachrichtendiensten Daten von Kontaktpersonen aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte keinesfalls erheben. Die Nachrichtendienste seien im Gegensatz dazu zur generellen Speicherung von personenbezogenen Kontaktdaten rein aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte verpflichtet.43 Auch sei aufgrund Drängens der Innenminister der Bundesländer der ursprüngliche Kreis der an der Antiterrordatei beteiligten Behörden erheblich erweitert worden; so seien nunmehr auch weitere Polizeivollzugsbehörden bei Vorliegen der rechtlichen Voraussetzungen auf diesen Dateibestand zugriffsberechtigt.44 Eine umfangreichere Abfrageintensität induziert jedoch nicht zugleich auch eine höhere ermittlungstaktische Effizienz.

3.3 GIZ Im Zusammenhang mit der Tätigkeit des GIZ wird vor allem dahingehend Kritik geübt, dass die anlassunabhängige Beobachtung des Internet einen Verstoß gegen Art. 10 Abs. 1 GG darstelle. Dies wird mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Februar 2008 zum nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzgesetz zur heimlichen Beobachtung des Internet begründet.45 So greife die heimliche Beobachtung des Internet dann in den Schutzbereich des Grundrechts ein, wenn die Behörde Zugangsschlüssel verwende (z.B. Passwörter), die sie ohne oder gegen den Willen der Kommunikationsbeteiligten erhoben habe. Ein Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung läge dann vor, wenn nach einer Recherche allgemein zugänglicher Informationen diese gezielt gebündelt, gespeichert und unter Beiziehung weiterer Daten ausgewertet würden und sich hieraus resultierend eine Gefahrenlage für die Person des jeweils Betroffenen ergäbe. Daher sei es zwingend erforderlich, die Tätigkeit des GIZ auf eine gesetzliche Grundlage zu stellen.46 Dem hält die Bundesregierung entgegen, dass die Tätigkeit des GIZ aufgrund zunehmender Verbreitung islamistischer und terroristischer Propaganda einen Bedeutungszuwachs erfahre, zumal in letzter Zeit auch deutschsprachige Texte islamistischer Terroristen dort Verbreitung finden. Gerade in diesem Zusammenhang sei die Bedeutung von Weblogs für einen Zugang einschlägiger Kommunikationsforen nicht deutlich genug hervorzuheben. Auch habe das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzgesetz vom 27.02.2008 die Verfassungsmäßigkeit einer Beobachtung des öffentlich zugänglichen Internets durch die Bundesregierung insoweit bestätigt, weshalb keine weiteren Konsequenzen hieraus zu ziehen seien. Auf Europa43 § 3 Abs. 1 Nr. 1 b Antiterrordateigesetz -ATDG. 44 Vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 16/4950 vom 24.04.2007, Ziff. 5.1.1, S. 62; hierbei dürfte es sich um die Staatsschutzdezernate und -kommissariate bei Landeskriminalämtern und Polizeipräsidien handeln. Die Bundesländer Bayern, Baden-Württemberg und RheinlandPfalz haben Abfrageplätze auch bei weiteren Staatschutzdienststellen in der Fläche eingerichtet. 45 Vgl. BVerfG 1BvR 370/07, Rn. 292-308, vom 27.02.2008. 46 Vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 16/12472 vom 25.03.2009, S. 2–3.

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ebene unterstütze das GIZ die Tätigkeit des europäischen Projektes „Check the Web“ zur Unterbindung einer Nutzung des Internet durch Terroristen.47

3.4 GLZ-See Das GLZ-See ist dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BVBS) nachgeordnet. Hierbei bildet das GLZ-See die operative Einheit des Maritimen Sicherheitszentrums MSZ, welches im September 2005 aufgrund einer Verwaltungsvereinbarung zwischen dem Bundesminister des Innern, dem Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung sowie den Innenministern der fünf Küstenländer gegründet wurde. Dort sind Mitarbeiter aus der Ressortverantwortlichkeit des Bundesministers des Innern (Bundespolizei), des Bundesministers der Verteidigung (Bundesmarine), des Bundesministers der Finanzen (Zoll), der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (Fischereischutz) sowie den Bundesländern mit Aufgaben des polizeilichen Küstenschutzes (Wasserschutzpolizeien) vertreten. Bereits im Januar 2003 wurde zuvor als gemeinsame Einrichtung des Bundes und der Küstenländer ebenfalls auf Basis einer Verwaltungsvereinbarung das Havariekommando zum Zweck des Unfallmanagements auf Nordund Ostsee in Cuxhaven gegründet. Es handelt sich folglich um eine quasi eigenständige Einrichtung transdisziplinärer Art.

3.5 GMLZ Das Gemeinsame Lagezentrum ist räumlich in der Liegenschaft des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe untergebracht, einer Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Aufgrund einer hierzu erforderlichen Errichtungsanordnung stellt das GMLZ ein zentrales, Rundum-die-Uhr besetztes Lagezentrum zur Bewältigung von Katastrophenlagen dar. Eine direkte Einbindung in die Netzwerkstruktur zur Terrorismusbekämpfung ist nicht erkennbar, wenngleich das dort betriebene länder- und organisationsübergreifende Informations- und Ressourcenmanagement auch bei sonstigen Lagen nationaler Bedeutung, also auch im Falle eines Terroranschlags, sichergestellt wird. Das GMLZ steht damit aufgrund seiner organisatorischen Anbindung in alleiniger Ressortverantwortlichkeit des Bundesministers des Innern.

4. Verfassungsrechtliche Fragestellung Durch das Kontrollratsgesetz Nr. 31 vom 1. Juli 1946 war jede Überwachung und Kontrolle der politischen Betätigung durch Polizeistellen seitens der Besatzungsmächte verboten worden. Im so genannten „Polizeibrief an den Parlamentarischen 47 Vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 16/12089 vom 03.03.2009, S. 2–5.

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Rat“ vom 14. April 1949 gestatteten die Militärgouverneure der künftigen Bundesregierung jedoch, eine Stelle zur „Sammlung und Verbreitung von Auskünften über umstürzlerische, gegen die Bundesregierung gerichtete Tätigkeiten einzurichten“, verbanden dies aber gleichsam mit der Forderung, dass dieser neuen Behörde keinerlei Polizeibefugnisse eingeräumt werden dürften.48 Das Grundgesetz vom 23. Mai 1949 griff diese Ermächtigung der Militärgouverneure auf und sieht eine Zentralstelle zur Sammlung von Unterlagen für Zwecke des Verfassungsschutzes vor.49 Positiv definiert ist dieses Trennungsgebot in den einschlägigen Gesetzen für die Tätigkeit der bundesdeutschen Nachrichtendienste, dem Bundesamt für Verfassungsschutz BfV (vgl. § 2 Abs. 1 S. 3 BVerfSchG), Militärischen Abschirmdienst MAD (vgl. § 1 Abs. 4 MADG) sowie dem Bundesnachrichtendienst BND (vgl. § 1 Abs. 1 S. 2 BNDG) und weiteren Rechtsvorschriften betreffend die Landesämter für Verfassungsschutz. Dieses nach wie vor verfassungsrechtlich umstrittene Trennungsgebot50 bildet einen Schwerpunkt in der Debatte über die Selbstschutzfunktion des Staates vor terroristischen Anschlägen, insbesondere auf dem Gebiet eines Rechts zur vorverlagerten Ermittlungstätigkeit in Verdachtsfällen. Hier liegt eine, im Vergleich zum europäischen Ausland, einzigartige Rechtsgestaltung der deutschen Nachrichtendienste vor, die historisch als Konsequenz aus den Erfahrungen des Dritten Reiches mit der „Geheimen Staatspolizei“ (Gestapo) resultiert.51 Primär ist feststellbar, dass sich im Grundgesetz der Begriff des „Trennungsgebotes“ nicht findet, ebenso wenig analoge Begrifflichkeiten. Gleichsam taucht dieser Begriff auch im Bereich einfacher Gesetze nicht auf. Bleibt die Frage nach einer analogen Ableitung aus anderen Bestimmungen. Art. 73 Nr. 10 und 87 Abs. 1 Satz 2 GG enthalten als einzige Rechtsnormen spezielle Regelungen für einen Nachrichtendienst, genauer für den Verfassungsschutz.52 Auch lässt die systemische Position dieser Norm im VII. (Regelungskompetenzen) und VIII. (Verwaltungskompetenzen) Abschnitt des Grundgesetzes den Rückschluss zu, dass die Interpretation des Trennungsgebotes durch den Begriff Verfassungsschutz eben keinen Verfassungsrang entfaltet, nicht zuletzt aufgrund des Umstands, dass es an einer expliziten Verankerung eines Trennungsgebotes im Grundgesetz fehlt.53 Argumentationen mit Verweis auf Art. 83 ff 48 In diesem „Polizeibrief“ an den Präsidenten des Parlamentarischen Rates hieß es dazu: “The Federal Government will also be permitted to establish an agency to collect and disseminate information concerning subversive activities directed against the Federal Government. This agency shall have no police authority.” Abdruck in Borgs-Maciejewski/Ebert 1986, S. 103. 49 Vgl. Art. 87 Abs. 1 S. 2 Grundgesetz. 50 Vgl. hierzu: BVerfGE 100, 313 (369 f.) zur Überwachung des nichtleitungsgebundenen Fernmeldeverkehrs durch den Bundesnachrichtendienst. 51 Vgl. Werthebach 2003, S. 353–354. 52 Hiervon ist nur das Bundesamt für Verfassungsschutz betroffen. Weitere Aussagen zu einer verfassungsrechtlich-bindenden Trennung zwischen den Landesämtern für Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst oder Militärischem Abschirmdienst finden sich hier nicht. 53 Der VII. Abschnitt des GG vermittelt Regelungskompetenzen zu bestimmten materiellen Fragen. Eine folgende organisatorische Ausgestaltung im Rahmen der Aufgabenwahrnehmung ist allenfalls nachrangig. Im VIII. Abschnitt des GG finden sich Regelungen zu Verwaltungs-

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GG, die das Verhältnis zwischen Bundes- und Landesverwaltung beschreiben und von einem Trennsystem ausgehen, greifen hier zu kurz.54 Neben den beiden vorgenannten Stellen im Grundgesetz wird ein angeblicher Verfassungsrang des Trennungsgebotes regelmäßig aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet, wonach die Trennung zwischen Nachrichtendiensten und Polizei ein rechtstaatliches Gebot nach den Grundsätzen von Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit sei.55 So erfordern eine durchgängige gerichtliche Verwaltungskontrolle und die Gewährleistung individuellen Rechtsschutzes diese Trennung.56 Ein Gesetzesrang des Trennungsgebotes wird indes nicht bestritten und erstreckt sich auf folgende Ebenen:57 -

funktionelle Trennung,58 wonach Polizei und Verfassungsschutz unterschiedliche Aufgaben haben, organisatorische Trennung, wonach Polizei und Verfassungsschutz unterschiedliche Behörden sein müssen, befugnisrechtliche Trennung, Polizei und Verfassungsschutz haben jeweils unterschiedliche Befugnisse, informationelle Trennung von Polizei und Verfassungsschutz und personelle Trennung, wonach eine Person nicht zugleich Mitarbeiter von Polizei und Verfassungsschutz sein darf.

Das Trennungsgebot versteht sich somit keineswegs als Verbot jeglicher Zusammenarbeit zwischen Polizei und Nachrichtendiensten. Zunächst sind die Nachrichtendienste bei Anhaltspunkten einer Bedrohungslage nach dem Opportunitätsprinzip59 nach wie vor im präventiven Bereich tätig, entscheiden also selbst, wann und welche Informationen sie an die Polizei weitergeben.60 Dem steht das polizeiliche Legalitätsprinzip diametral entgegen, wonach die Polizei stets bereits beim Anfangsverdacht einer strafbaren Handlung in der Ermittlungsverpflichtung steht.61 Die Tätigkeit der Nachrichtendienste ereignet sich hingegen weit im Vorfeld einer sich eventuell abzuzeichnenden strafbaren Handlung und die Dienste werden ge-

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kompetenzen, wo sich im entsprechenden Artikel 87 Abs. 1 S. 2 der Begriff „Verfassungsschutz“ ein zweites Mal findet. Vgl. BVerfGE 32, 145, 156 ff.; 39, 96, 120; 41, 291, 311. So auch Urban 2006: S. 114ff, der einen verfassungsrechtlichen Rang des Trennungsgebotes nur teilweise sieht. Vgl. Singer 2010; Lisken 2007. Vgl. Gusy 1991, S. 467ff. Vgl. SächsVerfGH, NVwZ 2005, 1312. Das Opportunitätsprinzip ist in den Landespolizeigesetzen enthalten und besagt, dass der Polizei grundsätzlich ein Ermessen eingeräumt ist, soweit es um die Frage geht, ob überhaupt Maßnahmen zur Gefahrenabwehr ergriffen werden (vgl. bspw. Art. 5 Abs. 1 Bayerisches Polizeiaufgabengesetz PAG). Vgl. §§ 18 ff. BVerfSchG. Das Legalitätsprinzip verpflichtet schon von Anfang an zur Einleitung von Ermittlungen, wonach die Polizei grundsätzlich verpflichtet ist, Straftaten zu erforschen und alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um eine Verdunkelung der Sache zu verhindern (vgl. § 163 Abs. 1 S. 1 Strafprozessordnung StPO).

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gebenenfalls erst zu einem späteren Zeitpunkt ihre analysierten Lageberichte dann an die Polizei weitergeben. Auch muss jegliches polizeiliches Handeln stets für den betroffenen Bürger überwiegend transparenten Charakter besitzen, das der Nachrichtendienste unterliegt jedoch grundsätzlich der Geheimhaltung, insbesondere dann, wenn eine Gefährdung der Aufgabenerfüllung durch die Auskunftserteilung zu befürchten ist.62 Das Problemfeld ist dort eröffnet, wo es um unterschiedliche Kompetenzen und Aufgabenbereiche geht. Die Problematik der verfassungsgemäßen Trennung zwischen Polizei und Nachrichtendiensten liegt eher im Bereich einer Kompetenzausweitung der polizeilichen Tätigkeit begründet: Primär in den Bereichen zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität sowie des Rechtsextremismus wurden Rechtsinstrumente präventiver Ermittlungstätigkeiten in den Landespolizeigesetzen und der Strafprozessordnung (StPO) für die Polizei geschaffen, die als solche nicht wie jene der Verfassungsschutzbehörden erheblichen Kontrollmechanismen unterliegen (Parlamentarische Kontrollkommission, G-10-Kommission, gerichtliche Kontrolle, Auskunftsrecht seitens Betroffenen, datenschutzrechtliche Aspekte), sondern lediglich unter Richter- bzw. Behördenleitervorbehalt stehen.63 Dadurch entsteht ein Widerspruch zum bisherigen präventiv-polizeilichen Handeln.

5. Effizienz der Verwaltung Eine Effizienz der vorgestellten Netzwerke ist schwer zu evaluieren, da mit Ausnahme des GMLZ keinerlei Jahresberichte oder Fallzahlen hinsichtlich Aktionen, Erkenntnissen oder verhinderten Gefahrenlagen frei zugänglich sind. Dies mag in dem Umstand begründet sein, dass die analytisch-operative Tätigkeit überwiegend unter geheimhaltungsbedürftigen Aspekten vonstatten geht, mithin also der Öffentlichkeit verborgen bleibt. Da nun präventive Tätigkeiten selten zahlenmäßig zu erfassen sind, misst sich letztlich die Effizienz derartiger Tätigkeiten schlichtweg an der aktuellen Sicherheitslage, wo bis dato Anschlagsvorbereitungen im Vorfeld erfolgreich verhindert werden konnten. Sind bereits die genannten bundesdeutschen Behörden teils schon miteinander vernetzt, so fehlt es dennoch zur Gänze eines vergleichbaren Pendants etwa zum US-amerikanischen „Department of Homeland Security“, womit nicht nur ein spezifisch-strategisches Konzept verfolgt wird, sondern sogar ein federführendes Ministerium mit der Umsetzung zu treffender Maßnahmen betraut ist. Eine politische Mehrheit für die Schaffung ei62 Vgl. Einschränkungen des Auskunftsrechts an den Betroffenen, § 15 Abs. 2 BVerfSchG, § 9 MADG, § 7 BNDG. 63 So beispielsweise etwa beim Einsatz technischer Mittel („Lauschangriff“) oder eines „Personenschutzsenders“, der bei Gefahr im Verzug von einem vorher vom jeweiligen Behördenleiter bestellten Beauftragten, etwa dem Leiter einer OK-Dienststelle, angeordnet werden kann (vgl. Art. 33 und 34 PAG) oder etwa dem Einsatz eines verdeckten Ermittlers (vgl. Art. 35 PAG), dessen Schutz der Identität im Strafverfahren mittels einer Sperrerklärung des Behördenleiters nach § 96 StPO in Verbindung mit einer Versagung der Aussagegenehmigung nach § 54 Abs. 1 StPO gewährleistet wird.

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ner bundesdeutschen Zentralbehörde ist allerdings nicht erkennbar.64 Die Koordination der Zusammenarbeit zwischen den einzelnen deutschen Sicherheitsbehörden im Rahmen der Terrorismusbekämpfung hat zwischenzeitlich ein hohes Niveau erreicht, aber im Falle der Schaffung einer Zentralbehörde zur Terrorbekämpfung auf Bundesebene bestünde nach wie vor ein hoher Koordinationsbedarf zwischen Bund und Ländern. Darüber hinaus bedarf es eines Expertenwissens „vor Ort“, also Ermittlern, die sich in der regionalen Szene und den einschlägigen örtlichen Milieus auskennen und über szenetypische Kontakte verfügen; dies dürfte durch eine Zentralbehörde kaum zu gewährleisten sein. Gleichsam stellt die Verbindung zwischen allgemeiner Terrorismusbekämpfung und der Bekämpfung organisierter Kriminalität ein wichtiges Element für einen ganzheitlichen Ansatz der Terrorismusbekämpfung dar, der schon jetzt durch die Landeskriminal- und Verfassungsschutzämter geleistet wird; indes würde eine Zentralisierung auf Bundesebene dieses Zusammenwirken deutlich erschweren, da infolge einer zentralistisch geführten Struktur Basis- und Milieukenntnisse weitestgehend verloren gingen und erforderliches operativ-schnelles Handeln eher hierdurch verlangsamt würde.65 Beispielweise hat der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) hierzu klar Stellung bezogen und sich in einem Interview vom 27.10.2007 entschieden gegen die Pläne von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) ausgesprochen, das Bundeskriminalamt zu einem Pendant des US-amerikanischen FBI auszubauen. „[…] Der Bund tue sich hierbei keinen Gefallen, wenn er meine, alles selbst machen zu können[…].“66 Eher zeichnet sich die Tendenz ab, die bestehende klare Trennung zwischen innerer und äußerer Sicherheit in zwei separate Bereiche, in welchen das Militär die äußere und die Polizei die innere Sicherheit zu gewährleisten habe, als überholt aufzugeben und die beiden Bereiche künftig zu einem umfassenden Konzept einer „Vernetzten Sicherheit“ zu verschmelzen.67 Es stellt sich folglich die Frage, ob und inwieweit eine Verfassungsänderung zum Zweck der Bekämpfung des internationalen islamistischen Terrorismus in Anbetracht der vorgenannten gegenläufigen Positionen von Bund und Ländern von effizient sein könnte. Das vorhandene rechtliche Instrumentarium reicht nach Auffassung des Verfassers durchaus; vielmehr gilt es, dieses Instrumentarium effizient und mit Bedacht zu nutzen. Auch die prinzipielle Zuständigkeit der Länder für die staatliche Exekutive ist 64 So gab es kurz nach den Anschlägen vom 11.9.2001 eine Diskussion über ein, aus Reihen der CDU-Bundestagsfraktion vorgeschlagenes „Bundessicherheitsamt“, das aber aufgrund der unglücklich gewählten Bezeichnung – ähnlich dem Reichsicherheitshauptamt im Dritten Reich – alsbald wieder verworfen wurde. Hierzu auch: Jansen 2003, S. 157. 65 So der Hamburger Innensenator Udo Nagel im Rahmen einer Pressemitteilung der Behörde für Inneres der Freien und Hansestadt Hamburg, http://www.hamburg.de/terrorismus/nofl/101690/2006-08-23-bfi-pm-sonder-imk.html. 66 Merkel: Trennung von innere und äußere Sicherheit ist „von gestern“. Quelle: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/25/25626/1.html. (letzter Zugriff: 28.11.2010). Vgl. Schlegel, Andreas 2009, S. 307ff. 67 So argumentiert auch Gerhard Schempp, Vorsitzender der Geschäftsführung der Fa. ESG, in: Homeland Security, Ausgabe 3/2007 St. Augustin 2007, S. 23.

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Ausdruck jener Machtbalance, die durch das Grundgesetz in bewusster Abkehr von einem Zentralstaat national-sozialistischer Prägung vorgegeben wird. Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wurden zahlreiche Gesetze geändert bzw. neu erlassen, wie anhand nachfolgender Tabelle ersichtlich wird:

Verkündung 07.12.2001

Gesetze und Maßnahmen der bundesdeutschen Terrorbekämpfung seit 2001 Gesetz/Maßnahmenkatalog Erstes Gesetz zur Änderung des Vereinsgesetzes (Sicherheitspaket 1)

Quelle BGBl I 2001, S. 3319 14.12.2001 Gesetz zur Finanzierung der Terrorbekämpfung BGBl I 2001, S. 3436 11.01.2002 Terrorismusbekämpfungsgesetz – TBG (Sicherheitspaket 2) BGBl I 2001, S. 361 14.08.2002 Geldwäschebekämpfungsgesetz BGBl I 2002, S. 3105 29.08.2002 34. Strafrechtsänderungsgesetz – § 129b StGB BGBl I 2002, S. 3390 07.12.2003 Zweites Gesetz zur Änderung des Zollverwaltungsgesetzes und anderer BGBl I 2003, Gesetze S. 2146 27.12.2003 Umsetzung des EU-Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 zur BGBl I 2003, Terrorismusbekämpfung und zur Änderung anderer Gesetze S. 2836 01.05.2004 Errichtung des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophen- BGBl I 2004, hilfe (BBK) im Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern S. 630 28.07.2004 Gesetz zur Sicherung von Verkehrsleistungen (Verkehrsleistungsgesetz – BGBl I 2004, VerkLG) S. 1865 14.12.2004 Errichtung des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums (GTAZ) Organisationserlass 14.01.2005 Gesetz zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben - LSiG (Anm: § 14 BGBl I 2005, Abs. 3 LSiG ist gem. Urteils des BVerfG vom 15.02.2006, BvR 357/05, S. 78 BVerfGE 109,279, mit dem Grundgesetz unvereinbar und damit nichtig) 30.12.2006 Gesetz zur Errichtung gemeinsamer Dateien von Polizeibehörden und BGBl I 2006, Nachrichtendiensten des Bundes und der Länder (Gemeinsame-Dateien- S. 3409 Gesetz – GDG) 10.01.2007 Gesetz zur Ergänzung des Terrorismusbekämpfungsgesetzes (TBEG) BGBl I 2007, S.2 31.12.2007 Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anBGBl I 2007, derer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der S. 3198 Richtlinie 2006/24/EG (Vorratsdatenspeicherung) 31.12.2008 Gesetz zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus durch BGBl I 2008, das Bundeskriminalamt S. 3083 30.07.2009 Gesetz zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährden- BGBl I 2009, den Gewalttaten S. 2437 Modifiziert nach: Menzenbach/Janzen 2009

Die hierzulande bisweilen auftretende regelrechte Euphorie, was das Etablieren vernetzter Strukturen der Gefahrenabwehr betrifft, erweckt geradezu den Eindruck, als läge allein hierin der Schlüssel zum Erfolg begründet; man erhofft sich eine analoge Effizienz, wie dies im Bereich der Wirtschaft (z.B. bei Unternehmensnetzwerken) der Fall ist, wobei die Wirtschaft diese Strategie jedoch dazu nutzt, um beispielsweise Engpässe und Ressourcenmängel durch externes Wissen zu kompensieren. Seit geraumer Zeit tendiert auch die Exekutive zusehends dazu, Reformtypologien aus dem Wirtschaftsleben an ihre Strukturen zu adaptieren –

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wenn auch mitunter mit etwas fragwürdigem Erfolg.68 Netzwerke sollen Kosteneffizienz und Leistungssteigerung erzielen. Ferner sollen Innovationszyklen verringert werden und eine Ausweitung bestehender Aktivitäten auf alle am Netzwerkverbund Beteiligten erfolgen. Jedoch ist es beispielsweise im Bereich der Wirtschaft bei weitem nicht so, als bestünde zwischen den einzelnen Firmen eine enge netzwerkartige Verbindung; oftmals wird fallbezogenen Kooperationen der Vorzug gegeben. Allgemein betrachtet kann folglich eine weitere Vernetzung im Bereich der Gefahrenabwehr nicht die alleinige Problemlösung induzieren – dies zeigt schon die Entwicklung in den USA, wo trotz „Superbehörden“ wie etwa im Bereich der Geheimdienste neben der United States Intelligence Community nach wie vor spartenspezifische Nachrichtendienste (CIA, NSA, NRO, die Dienste von Army, Air Force, Navy und Marines etc.) parallel weiterbestehen.69 Alle Netzwerke im Bereich der Gefahrenabwehr stehen und fallen mit dem Personalansatz. Im Bereich des Zivil- und Katastrophenschutzes beispielsweise stellt sich hierzulande die Situation aufgrund dramatischer Kürzungen seit der deutschen Wiedervereinigung schlichtweg besorgniserregend dar; daran ändern auch neue Konzeptionen und Schwerpunktfinanzierungen von Bund und Ländern nichts. Durch die Schaffung des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) im Jahr 2004, letztlich aus dem Bundesamt für Zivilschutz hervorgegangen, entsprach der Bund mit dieser Zentralbehörde der neuen geopolitischen Herausforderung. Dennoch wurde in den Jahren bis 2009 allein der Personalkörper des BBK aufgrund haushaltsrechtlicher Einsparungen von ursprünglich vorgesehenen 384 Stellen in 2004 auf insgesamt 261 in 2009 gekürzt, obgleich der gesamte Personalkostenansatz bei dieser Bundesoberbehörde mit nur 13,8% deutlich 68 Beispielsweise werden „Neue Steuerungsmodelle“ eingeführt, es wird „Outsourcing“ betrieben oder aber auch die jüngste Diskussion um „leistungsbezogene Bezahlung von Beamten“. Letzteres bereitet enorme Probleme hinsichtlich der Definition der individuellen Leistung anhand objektiv-messbarer Kriterien. Wer ist tüchtiger: der Polizeibeamte, der zahlreiche Trunkenheitsfahrten im Ansatz verhindert oder derjenige, der die meisten Trunkenheitsfahrer ertappt? Letzterer hat im Gegensatz zum ersteren einen objektiv messbaren Nachweis (Anzahl sichergestellter Fahrerlaubnisse). Allerdings blieb auch der Ansatz des „Neuen Steuerungsmodells“, das von der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung (KGSt) für die Kommunalverwaltung 1993 entwickelt wurde, um einer steten Zunahme an Aufgaben bei immer knapper werdenden finanziellen Ressourcen mittels eines Abbaus kommunaler Aufgaben bei gleichzeitiger Modernisierung der Kommunalverwaltung hin zum Dienstleister mit Servicecharakter, nicht ohne Kritik, da einerseits grundlegende Veränderungen ausgeblieben seien und weiterhin verkannt werde, dass die öffentliche Verwaltung kein machtfreier Raum sei, sie folglich von den Weisungen der Kommunalpolitiker stark mitbestimmt werde. All dies wurde durch empirische Arbeiten untermauert, die aufzeigten, dass sich in der Tat auch im Zeichen des „Neuen Steuerungsmodells“ wenig zum Positiven hin geändert hat. Vgl. hierzu insbesondere: Dose 2006. 69 Die United States Intelligence Community bildet einen Zusammenschluss der 16 einzelnen Nachrichtendienste der USA sowie des FBI. Sitz der Behörde ist Washington D.C. Die Intelligence Community wird vom Director of National Intelligence geleitet. Deren Aufgabe ist es, potentielle Bedrohungen für die nationale Sicherheit der USA im strategischen und sicherheitspolitisch-polizeilichen Bereich aufklären und die Regierung hierüber rechtzeitig warnen.

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geringer zu Buche schlägt, als dies bei sonst vergleichbaren Einrichtungen mit einem Anteil von 50 bis 60% der Fall ist. Auch der Gesamtetat veränderte sich binnen dieses Zeitraums von ursprünglich knapp 160 Millionen Euro über knapp 85,7 Millionen Euro in 2005 auf 101,4 Millionen Euro in 2009.70 Auch im Bereich der Länderpolizeien fielen allein in den Jahren 1999 bis 2004 bundesweit über 7000 Stellen weg.71

6. Schlussfolgerung Das staatliche Gewaltmonopol verpflichtet zu einem sorgsamen Umgang mit dem hierzu erforderlichen Exekutivinstrumentarium und den damit verbundenen Grundrechtseingriffen. Eine ständige Erweiterung der Eingriffsmöglichkeiten durch den jeweiligen Landes- oder Bundesgesetzgeber ist kein alleiniger Garant für eine effizientere Kriminalitäts- und Terrorbekämpfung. Vor dem Hintergrund, dass derzeit insgesamt 19 Geheimdienste (BfV, 16 Landesämter für Verfassungsschutz, BND und MAD), 16 Landeskriminalämter, BKA, Zollkriminalamt (ZKA) sowie Bundespolizei und Bundesanwaltschaft für die innere Sicherheit in Deutschland sorgen, sind Effizienz und Wirksamkeit der Terrorismusbekämpfung ohne eine Vernetzung dieser bestehenden Strukturen stark in Zweifel zu ziehen.72 Der bislang praktizierten Vernetzung hinsichtlich eines verbesserten Informationsaustausches kommt folglich weitere Bedeutung zu. In diesem Zusammenhang sind nachrichtendienstliche Erkenntnisse insbesondere auch für andere Behörden und Sicherheitsorgane von Bedeutung, zumal terroristische Strukturen wie auch jene im Bereich der Organisierten Kriminalität hier Parallelitäten zu Nachrichtendienststrukturen klar erkennen lassen.73 Dies darf nicht allein auf den nationalen Bereich begrenzt sein, sondern muss auch als klares Erfordernis einer internationalen Kooperation zur Bekämpfung des transnationalen Terrorismus verstanden werden.74 Die Festnahme von drei Terroristen am 4. September 2007 in Oberschlehdorn, die beinahe Sprengmittel mit einem Potenzial von etwa 410 kg TNT in Selbstlaboraten zum Zweck der Anschlagsbegehung an mehreren Zielen in Deutschland hergestellt hatten, zeigte eindringlich, wie wichtig eine interdisziplinäre Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Terrorbekämpfung ist, da dieses Fahndungsergebnis nur mittels der gut koordinierten Zusammenarbeit von bis zu fünf70 Vgl. Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (2005-2009). 71 Kubicki 2004. 72 So verweist auch Urban auf diese Problematik, wonach ein strikt ausgelegtes Trennungsgebot diese Problematik verschärft und gleichsam zu „lähmenden Sollbruchstellen im Informationsfluss“ führt, vgl. Urban 2006, S. 239. 73 Ausgehend von konspirativen Handlungen finden in der Terrorismusszene ebenso wie im Bereich der Organisierten Kriminalität Abschottung, Kryptologie, falsche Identitäten, Scheinfirmen etc. Anwendung. Die Aufklärung und Aufdeckung derart inkriminierter Strukturen durch die Strafverfolgungsorgane erfordert eben gerade jene fachspezifischen Kenntnisse, über welche letztlich nur die Nachrichtendienste verfügen. 74 Vgl. Loringhoven 2009, S. 3.

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hundert Beamten von Polizei und Nachrichtendiensten in der „Ermittlungsgruppe Zeit“ über die Dauer von etwas mehr als einem Jahr gelingen konnte.75 Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Bedrohungslage durch den internationalen islamistischen Terrorismus stellt Prävention die oberste Prämisse staatlichen Handelns dar; dies gilt es auf der Basis rechtstaatlichen Handelns weiterhin zu gewährleisten. Die bundesdeutsche Anti-Terror-Strategie umfasst insgesamt fünf präventive wie repressive Maßnahmen mit der Zielsetzung, -

infolge hohen Fahndungs- und Ermittlungsdrucks terroristische Strukturen zu zerstören, den Terrorismus präventiv zu bekämpfen, mögliche Ursachen für Terrorismus zu beseitigen, einen höchstmöglichen Schutz für die Bevölkerung bei Reduzierung der Verwundbarkeit des Landes zu gewährleisten sowie die internationale Zusammenarbeit bei der Terrorismusbekämpfung zu intensivieren.76

Die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik versteht sich als wehrhafte Demokratie. Dies bezieht sich auf die Abwehr von Angriffen, sowohl aus dem Inneren als auch von Außen. Bislang haben die den Sicherheitsbehörden zur Verfügung stehenden rechtsstaatlichen Instrumente, diese Abwehrverpflichtung (noch) erfüllen können. Dennoch gilt es aufmerksam die weitere Entwicklung des Terrorismus zu beobachten, um stets diese Abwehrverpflichtung den sich ändernden Gegebenheiten anpassen zu können; wo immer dies letztlich auf grundrechtliche Schranken stößt, gilt es jene Schrankenbereiche einer neuen Definition zu unterziehen. Insoweit muss das rechtliche Trennungsgebot vor der Folie der aktuellen Gefährdungssituation nicht übermäßig thematisiert und interpretiert werden: Angesichts nahezu archaischer Informations- und Regierungsstrukturen bei unterschiedlicher Kompetenzverteilung im Hinblick auf bundesweites Handeln mag es ohnehin zweifelhaft sein, ob dadurch der Bedrohungs- und Gefährdungslage bei sich allgemein dynamisch verändernden asymmetrischen Bedrohungen überhaupt effektiv begegnet werden kann.77 Vielmehr gilt es, jenen neuen asymmetrischen Bedrohungsszenarien durch den internationalen Terrorismus, die transnationale organisierte Kriminalität und einer Symbiose daraus mit neuen Konzeptionen zur Optimierung der Gefahrenabwehr entgegenzutreten und mittels unterschiedlich aufeinander abgestimmter Kompetenzen von Nachrichtendiensten, Polizei von Bund und Ländern sowie dem Militär zu begegnen. Eine allzu stringente und unreflektierte Interpretation des Trennungsgebotes zwischen Nachrichtendiensten und Polizei wäre hierbei eher hinderlich und könnte im weiteren Fortgang der Zeit selbst aufgrund des damit verbundenen eminenten Handlungs- und Informationsdefizits in eine Gefahr innerhalb einer internationalen Ge75 Vgl. Hansen 2010, S. 304. 76 Vgl. Bundesministerium des Innern 2009. 77 Vgl. Odenthal 2003.

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fahrenabwehr münden.78 Eine einfachgesetzlich normierte Trennung von Polizei und Nachrichtendiensten stellt richtigerweise ein elementares Korrektiv dar, um einer Verselbständigung des gesamten Sicherheitsapparates vorzubeugen.79 So wird dieser Transformationsprozess der inneren Sicherheit, der gelegentlich immer noch mit den Erfahrungen aus der Zeit des Dritten Reiches verglichen wird, lediglich tendenziell und aktuell an andere westliche Sicherheitsstrukturen angepasst, was letztlich auch zu einer zunehmenden Normalisierung beitragen könnte.80

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BEVÖLKERUNGSSCHUTZ IN ZEITEN DER ASYMMETRISCHEN BEDROHUNG – BEDINGT EIBSATZKLAR? Florentin von Kaufmann

1. Einleitung Der Terrorismus gilt als eine der größten Herausforderungen, denen sich die Europäische Union derzeit gegenübergestellt sieht. Die Terroranschläge von New York, Madrid und London haben unzweifelhaft verdeutlicht, dass der Terrorismus eine Bedrohung für alle Staaten und Völker darstellt.1 Die Gewalt des Terrorismus ist vorwiegend symbolisch ausgerichtet. Als Ziel gelten kulturelle, religiöse und wirtschaftliche Einrichtungen sowie Führungs- und Entscheidungszentren, die eine hohe Symbolkraft für eine religiöse oder gesellschaftliche Weltanschauung haben.2 Terroraktionen sollen aus Sicht der Terroristen stets öffentlichkeitswirksam sein, die Akteure selbst wollen jedoch so weit als möglich bis zur Ausführung ihrer Aktionen unentdeckt bleiben.3 Terroristische Ziele und Operationen sind in sich logisch.4 Daher sind Terrorakte selten unkontrolliert ausgeführt worden und im Gegensatz zu Darstellungen in den Medien ist Terrorismus weder verrückt noch launenhaft.5 Kennparameter sind die Grundpositionen der einzelnen Terroristen, also die axiologischen Letztbegründungen, welche durch Weltanschauung, Religion, Kultur und Lebenswandel geprägt sind. Die Begründung, warum eine aktive Auseinandersetzung mit dem Thema Terrorismus und gezielte Planungen für das Handeln im Falle eines Anschlagszenarios gerade auch im Bereich der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr entwickelt werden müssen, sollen im folgenden Beitrag aufgezeigt werden. Eine Analyse der Gefahrenschwerpunkte muss also vorangestellt werden. In einem einleitenden Kapitel (Terroranschlag – eine reelle Bedrohung für den Bevölkerungsschutz) wird dieses Thema behandelt. Der Bevölkerungsschutz ist eine unverzichtbare staatliche Aufgabe mit ausgeprägt humanitärem Charakter. In Deutschland umfasst der Bevölkerungsschutz sowohl planerisch-konzeptionelle als auch operativ-unterstützende Aufgaben und Maßnahmen, welche zur Vorbereitung auf große Gefahren und Terroranschläge sowie zu deren effektiver Bewältigung geeignet sind. Diese Aufgaben sind wesentlicher Bestandteil des für die 1 2 3 4 5

Siehe beispielsweise die Ergebnisse der einschlägigen Eurobarometer-Umfrage über die öffentliche Meinung in der Europäischen Union (Europäische Kommission 2005) Freudenberg 2005; Hoffmann 2008; Hepler 2008. Hoffmann 2008. Hoffmann 2008; Ungerer 2003. Hoffmann 2008.

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Bundesrepublik Deutschland typischen mehrgliedrig-integrierten Hilfeleistungssystems.6 Darauf wird im zweiten Kapitel (Akteure der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr) einzugehen sein. Das dritte Kapitel (Problemfelder der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr) befasst sich mit den Gefahrenschwerpunkten und Problemstellungen, welche Terroranschläge für die Hilfsorganisationen mit sich bringen. Im letzten Kapitel schließlich wird der Mensch als zentrale Figur im Einsatz beschrieben und dargelegt, welche Möglichkeiten ihm zur Verfügung stehen um in der dynamischen Lage eines Terroranschlages offensiv zu agieren.

2. Terroranschlag – eine reelle Bedrohung für den Bevölkerungsschutz „What happened in London on 7 July 2005 could happen in any country, in any city, at any time. Ordinary people, going about their everyday lives, were suddenly swept up in a maelstrom of extraordinary events over which they had no control.”7

Mit diesen Worten wird der Report of the 7th July Review Committee (öffentlicher Bericht zu den Anschlägen auf die U-Bahn in London) des Vorsitzenden Richard Barnes eingeleitet. Seine Worte zeigen deutlich, dass die Anschläge in London nicht ein rein englisches Phänomen sind, sondern überall auf der Welt in gleicher oder ähnlicher Art und Weise passieren können. Die Ziele der einzelnen terroristischen Gruppen unterscheiden sich stark. Sie reichen von groß angelegten Entwürfen zur totalen Erneuerung der Gesellschaft nach doktrinären ideologischen oder fundamentalistischen Prinzipien bis hin zu vergleichsweise konkreten Zielen wie beispielsweise der Wiedererlangung einer nationalen Heimat.8 Trotz der Differenzen bei den ideologischen Gründen und Hintergründen der Anschläge wurden terroristische Angriffe in den meisten Fällen sorgfältig geplant und durchgeführt. Der sichere Erfolg wird angestrebt. So hat Bin Laden beispielsweise fünf Jahre für die Vorbereitung der 1989 verübten Anschläge auf die amerikanischen Botschaften in Nairobi und Daressalam benötigt.9 Die Operation, die dann zu den Anschlägen am 11. September 2001 geführt hat, nahm bereits in 1995 Gestalt an.10 Die Ziele der Terroristen sind klar gesteckt: sie wollen Aufmerksamkeit erregen, um das mediale Interesse auf sich zu lenken. Grund hierfür ist die Bestätigung für das Handeln durch die Öffentlichkeit, also das Hervorholen von vergessenen und nicht beachteten Problemen der Weltöffentlichkeit, um damit Aufmerksamkeit, Anerkennung, Akzeptanz und Legitimation ihrer Anliegen zu erreichen. Habash formuliert es so: 6 7 8 9 10

Geier 2008. London Assembly 2006. Hoffmann 2008. Bergen 2001, S. 133. 9/11 Commission Report 2002, 152f.

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„Wenn wir ein Flugzeug entführen, dann hat dies mehr Wirkung, als wenn wir hundert Israelis im Kampf töten. Jahrzehnte lang war die Weltmeinung weder für noch gegen die Palästinenser. Man hat uns einfach ignoriert. Jetzt wenigstens redet die Welt über uns.“11

Es ist letztendlich der Zweck, Autorität zu erlangen, um Veränderungen in der Gesellschaft oder den Regierungen durchzusetzen, um schließlich die Regierungsgewalt an sich zu reißen. 12 Terroristen sind durchaus auch in der Lage, von den Erfahrungen ihrer Kollegen zu lernen. Sie werten Erfahrungsberichte, Pressemitteilungen, Gerichtsakten und Anleitungen aus, um sich von Mal zu Mal besser auf ihre Aktionen zu konditionieren. Beispielhaft kann hier die IRA13 mit ihrer Synchronisation von Taktik, Technik und Strategie genannt werden, welche es ihr ermöglicht hat, trotz der Gegenmaßnahmen des Militärs immer wieder erfolgreich zu operieren14. Die Option ferner über das Internet zu kommunizieren, erleichtert nicht nur den einfacheren Erfahrungsaustausch, sondern ermöglicht es, dass kleine sehr gut informierte Zellen mit sehr beweglichem Aktionismus unter einer lockeren Führung entstehen können. Al Qaida bezeichnet sich selbst als „virtuelle Organisation, die Impulse für die jeweils Agierenden setzt“.15 Als aktuelles Beispiel sei die Wirkung der Bekennervideos von Bekkay Harrach zum Oktoberfest 2009 in München genannt, die zu einer wesentlichen Zunahme an Sicherheitsmaßnahmen geführt haben.16 Der internationale Terrorismus zeigt in den letzten Jahren deutlich, dass nur mehr wenig Rücksicht auf ein Eingrenzen der Opferzahlen gelegt wird. Die Terroristen beabsichtigen mit ihren Aktionen, möglichst viele Personen zu treffen.17 Zwar wurden Anschläge auch gegen bestimmte Zielpersonen durchgeführt, die Masse der Opfer ist jedoch indifferent. Im Zentrum der Radikalität stehen hier die Selbstmordattentate, die meist als Ziel große Menschenmengen suchen und neben der großen Opferzahl, den wesentlichen Vorteil haben, dass der Terrorist nicht mehr sein Entkommen planen muss. In der Zeit zwischen 2000-2005 wurden 649 Selbstmordattentate (mit 11978 bzw. 23625 Toten, je nach Quelle) verübt. In über 70 Prozent der Fälle wurden hierfür Sprengwaffen eingesetzt.18 Die Attentate waren keine Aktionen von Einzelpersonen, sondern sie wurden von mehreren Personen organisiert, geplant und meist professionell ausgeführt. In über 80 Prozent der Fälle gab es Bekennerschreiben.19 Das Ansteigen der Opferzahlen hat auch eine unmittelbare Auswirkung auf Vorbereitung und Ausbildung der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr. So hat die 11 12 13 14 15 16 17 18 19

Habash 1970. Hoffmann 2008; Freudenberg 2005. Irish Republican Army. Independent London 1996; Official 1992. Bundesministerium des Inneren 2005: S. 199. Bundesnachrichtendienst 2009. Hole 2004. Dienstbühl 2009. Ebd.

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Arbeitsgruppe „Neukonzeption des Zivil- und Katastrophenschutzes“ des deutschen Städtetages bereits 2002 darauf hingewiesen, dass die Terroranschläge in New York deutlich vor Augen geführt haben, dass künftig mit Zahlen von mehr als 5000 Betroffenen und Verletzten gerechnet werden muss, die nichtpolizeiliche Gefahrenabwehr zum damaligen Zeitpunkt (2002) war indes nur auf Lagen von 50 bis 300 Verletzten (Zugunglück, Busunfall) eingestellt.20 21 22 Die Schlussfolgerung aus den oben genannten Aspekten für die nichtpolizeiliche Gefahrenabwehr kann nur heißen: Es geht hier nicht um die Frage, ob ein Anschlag stattfinden wird, sondern nur wann: „London had been warned repeatedly that an attack was inevitable: it was a question of when, not if. We were told that London had planned, prepared and practised its response.“23

3. Die Akteure der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr Die internationale Politik sieht sich heute mit anderen, zum Teil neuartigen Bedrohungen konfrontiert, deren Konturen unscharf sind und deren Ausrichtung oft grenzüberschreitend stattfindet.24 Die Tatsache eines Bedrohungsszenarios durch einen Terroranschlag ist nicht neu und war bereits bei den Terroranschlägen der letzten 35 Jahre erkennbar.25 Trotzdem ist man in der Zeit zwischen der Beendigung des Kalten Krieges und den Anschlägen des 11. September 2001 davon ausgegangen, dass nur räumlich begrenzte Schadenslagen eintreten und insbesondere keine großflächigen Zerstörungen der Infrastruktur stattfinden werden. Folge daraus war, dass die Abwehrkräfte nur nach einem entsprechenden zeitlichen Vorlauf ihre volle Leistungsfähigkeit herstellen müssen, so dass spezielle Vorhaltungen und Planungen möglich sind. Von dieser Denkweise ist man jedoch zwischenzeitlich wieder abgekommen.26 Deutschland wird, insbesondere wegen des militärischen Engagements in Afghanistan, inzwischen nicht nur als Ruhe- und Vorbereitungsraum für islamistische Terroristen angesehen, sondern auch als potenzieller Anschlagsort. Im März 2008 hat der Bundesnachrichtendienst (BND) die Zahl der gewalttätigen islamistischen Extremisten in Deutschland auf einige Hundert geschätzt. Insgesamt stehen derzeit bis zu 700 Personen unter Beobachtung.27 Eine erhöhte Einsatzfähigkeit und bessere Führung der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr wird somit immer dringender.

20 21 22 23 24 25

Knorr 2002. London Assembly 2006; Lopez 2006. Slaby 2009. London Assembly 2006. Pfeiffer 2009, S. 91. Beispielsweise München 1972, Berlin 1986, New York 1993, Tokio 1995 und Oklahoma 1995. 26 Rechenbach 2005. 27 Hepler 2008, S. 134.

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Die Gewährung von Sicherheit und Ordnung und damit auch die Abwehr von Gefahren für Leib und Leben seiner Bürger zählt seit Alters her zu den vornehmlichsten Aufgaben eines Staates. Sie sind somit eine der wesentlichen Säulen, welche die Notwendigkeit eines Staates rechtfertigen.28 In den schlichten Worten des Grundgesetzes gibt es folgenden Verweis auf die Pflicht am Menschen und die Verantwortung des Staates: Artikel 2, Absatz 1, Satz 1: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ Das Grundgesetz versteht hierunter die Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Für das Gewähren der Sicherheit und Ordnung im Inland sind die polizeiliche und die nichtpolizeiliche Gefahrenabwehr zuständig.29 Der Begriff der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr umfasst den gesamten Bevölkerungsschutz. Bevölkerungsschutz in der Definition des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) „... ist die Summe der zivilen Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung und ihrer Lebensgrundlagen vor den Auswirkungen von Kriegen, bewaffneten Konflikten, Katastrophen und anderen schweren Notlagen sowie solcher zur Vermeidung, Begrenzung und Bewältigung der Ereignisse“.30

Im Zeitalter der asymmetrischen Bedrohung durch den Terrorismus verschwimmen in der neuen Sicherheitsarchitektur die Konturen zwischen innerer und äußerer Sicherheit, zwischen militärischen und nichtmilitärischen, polizeilichen und nichtpolizeilichen Aufgaben immer mehr.31 Der Föderalismus in Deutschland und damit die diversen Zuständigkeiten von Bund und Ländern bei der Gefahrenabwehr erschweren diese Situation noch und sind einer der wesentlichen Kritikpunkte am Bevölkerungsschutz in Deutschland. Somit ist es umso wichtiger, die einzelnen Aufgaben der verschiedenen Akteure der Gefahrenabwehr, also Streitkräfte, Polizei, Nachrichtendienst und Bevölkerungsschutz, sichtbar aufzuzeigen und abzugrenzen und mittels eines rechtlichen Regelwerks wirksam zu vernetzen; es soll an dieser Stelle untersucht werden, ob dies tatsächlich der Fall ist.32 Von der Öffentlichkeit weitestgehend unbeachtet, ist am 09.04.2009 das Zivilschutz- und Katastrophenhilfegesetz (ZSKG) in Kraft getreten. Dieses Gesetz ist der vorläufige Abschluss eines Entwicklungsprozesses, der 2002 mit der „Neuen Strategie zum Schutz der Bevölkerung in Deutschland“ eingeleitet wurde. In Folge gelang es bei der Umsetzung dieser Strategie vor allem im Rahmen der Innenministerkonferenz, Anpassungsleistungen zu realisieren, die im Wesentlichen den Ausbau und die Entwicklung zu einem modernen Bevölkerungsschutz vorsehen.33 Die Zweiteilung des Bevölkerungsschutzes in den Zivilschutz und damit in die Zuständigkeit des Bundes und den Katastrophenschutzes in Zuständigkeit der Länder ist, trotz aller Kritik beibehalten worden. Dabei gilt, dass die 28 29 30 31 32 33

Lüder 2008, S. 24. Lüder 2008, S. 24. BBK, Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe unter www.bbk.bund.de. Lüder 2008, S. 5. Lüder 2008, S. 28, 5. Weinheimer 2009, S. 72.

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Kompetenz zur Gesetzgebung zunächst den Bundesländern liegt. Folglich sind die Bundesländer zuerst einmal für den Schutz der Bevölkerung im Sinne des Artikel 2 Grundgesetz bei einem Terrorangriff zuständig. Der Zivilschutz, der allerdings seinen Fokus auf drohende militärische Angriffe richtet, obliegt dem Bund. Einheiten und Einrichtungen des Katastrophenschutzes der Bundesländer werden von ihm ergänzend ausgestattet und ausgebildet. Allerdings konnte der Bund diese Ergänzungen aufgrund der angespannten Haushaltslage bisher nicht vollständig ausfüllen. Hieraus resultiert auch eine Kürzung des Etats von ursprünglich 28 Millionen auf ca. 9 Millionen Euro.34 In Durchführung und Auswirkung kann ein Terroranschlag durchaus einem kriegsähnlichen Angriff auf die Bundesrepublik Deutschland, stellt man als Ursache einen national bedeutenden Terroranschlag zugrunde, gleichen. Somit kann sich die Katastrophe dem Verteidigungsfall tatsächlich annähern. Die Tatsache, dass ein Terroranschlag zum Verteidigungsfall werden könnte, würde bedeuten, dass gemäß Artikel 115 b GG die Zuständigkeit dann von den Ländern auf den Bund übergeht.35 Das nicht nur ein Angriff mit Waffengewalt von außen auf das Bundesgebiet eine uneingeschränkte Zuständigkeit des Bundes begründet, sondern auch ein entsprechend groß ausgeführter Terrorangriff, ist durchaus zeitgemäß. Folge daraus kann nur sein, dass man künftig, will man ein zeitgemäßes Schutzsystem etablieren, die Legalisierung und organisatorische Realisierung der Möglichkeit einer uneingeschränkten Bundeszuständigkeit in einer nationalen bedeutsamen Lage außerhalb des Verteidigungsfalles schaffen sollte. Diese Änderung ist jedoch so auszugestalten, dass sie den föderalen Aufbau im Grundsatz nicht in Frage stellt. Sollte der Verteidigungsfall im Sinne des Artikel 105 GG festgestellt werden, dann stellt sich allerdings das Problem der Führung der beteiligten Organisationen oberhalb der örtlichen Einsatzleitungen. Derzeit sind die höchsten taktisch-operativen Stäbe maximal auf Ebene der Kreisverwaltungsbehörden angesiedelt (mit Ausnahme der Bundesländer Berlin, Hamburg und Bremen). Oberhalb dieser Ebene gibt es nur noch politischadministrative Stäbe, die wenig operativen und strategischen Fachverstand vorweisen können und in der Regel nicht in der Lage sind, Führungsverantwortung mit der entsprechenden fachlichen Kompetenz zu übernehmen. Zwar wird als Argument immer wieder angeführt, dass der Bund als koordinierende Stelle tätig werden und somit aktiv zur Unterstützung beitragen könne, im Falle eines Terrorangriffs mit nationaler Bedeutung kann es aber zu einer Diskrepanz zwischen politischen Interessenslagen und operativen Notwendigkeiten der Einsatzführung kommen. Unter dem Einfluss des Medienzeitalters bestimmt die Rücksichtnahme auf die öffentliche Meinung und den Zeitgeist in den modernen demokratischen Industrie- und Handelsstaaten das Handeln von Regierungen weit mehr als eine unvoreingenommene Analyse der Sicherheit und ein entsprechend langfristig und 34 Lopez 2006; vgl. Zivilneuordnungsgesetz (ZSNeuOG), BGBI. 1997, Teil I, Nr. 21, S 726ff. 35 Weinheimer 2009.

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sinnvolles Handeln daraus. Gleiches gilt für die Mehrzahl der einzelnen Bundesländer. Dies hat zur Folge, dass derzeit im Falle eines Terroranschlages oftmals aus der Hand Ad-hoc-Strukturen aufgebaut werden müssen, wodurch die effektive Zusammenarbeit und Reaktionsfähigkeit im konkreten Fall erschwert und herabsetzt wird. Hier besteht zweifelsohne ein konkreter Nachholbedarf, wenn ein Staat wie die Bundesrepublik Deutschland strategisch bei komplexen Sicherheitslagen reaktionsfähig bleiben will. Um hier eine Lösungsmöglichkeit aufzuzeigen, kann das Augenmerk auf bereits vorhandenen Vorbilder gereichtet werden: Das Militär ist aus seinem Wesen und aus seiner Erfahrung heraus an das Denken in größeren Zusammenhängen gewöhnt, hierin ausgebildet und ständig beübt. Es hält dafür die notwendigen Führungsstrukturen sowie Führungsmittel bereit. Ein System wie es die Bundeswehr geschaffen hat, kann hier als Vorbild dienen. Mit dem Generalinspekteur verfügt die Bundeswehr über einen militärischen Berater des Bundesverteidigungsministers und der Bundesregierung. Der Generalinspekteur ist dem Verteidigungsminister für die Entwicklung und Realisierung der Gesamtkonzeption der militärischen Verteidigung verantwortlich und hat an seiner Seite je einen Inspekteur für Heer, Luftwaffe, Marine, Zentralen Sanitätsdienst und Streitkräftebasis. Alle diese Funktionen kommen aus der Truppenverwendung, sind also fachlich geeignetes Personal. Der Generalinspekteur kann sich auf den Führungsstab der Streitkräfte stützen. Der Führungsstab der Streitkräfte ist der Arbeitsstab des Generalinspekteurs der Bundeswehr im Bundesministerium der Verteidigung. Er entwickelt die Gesamtplanung der militärischen Verteidigung, konzipiert die Grundlagen der Militärpolitik, steuert die Einsatzplanung und Einsatzführung der Bundeswehr und erarbeitet die Grundsätze für Führung, Erziehung und Ausbildung der Soldaten. Eine Aufgabe, die im Falle der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr durchaus beim Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) angesiedelt werden könnte. Durch das Sicherstellen einheitlicher Ausbildungsvorgaben und Planungen ließen sich in Folge operativ-taktische Führungsstäbe auf Ebenen der Bundesländer und Regierungsbezirke aufbauen. Ziel muss es folglich sein, dass im Bereich der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr ähnliche Strukturen aufgebaut werden. Somit wären parallele Strukturen auf allen Führungsebenen und in den wesentlichen Säulen des Gebäudes der Terrorabwehr geschaffen. Diese können in der jeweiligen Interessensebene miteinander kommunizieren und vernetzt arbeiten. Es gäbe auf allen Ebenen vordefinierte Stäbe mit den entsprechenden Verantwortlichkeiten und Befugnissen, in enger Anbindung zur Politik. Neben dem Bilden der Stäbe müsste allerdings auch eine entsprechende inhaltliche und fachlich übergreifende Ausbildung forciert werden. Auch hier kann die Bundeswehr mit ihren Ausbildungseinrichtungen, wie beispielsweise die Führungsakademie in Hamburg Vorbild sein. Als Ausbildungsstätte für die nichtpolizeiliche Gefahrenabwehr steht hierfür beispielsweise Akademie für Krisenmanagement, Notfallplanung und Zivilschutz (AKNZ) zur Verfügung, auf die im Fol-

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genden als zentrales Element des Bevölkerungsschutzes näher eingegangen werden soll. Für den Wiederaufbau und die zeitgemäße Strukturierung des Bevölkerungsschutzes ist das BBK (Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe) zuständig. Die Gründung des BBK im Jahr 2004 ist unter anderem auch eine erste Reaktionen auf die neuen Bedrohungsszenarien durch terroristische Attentate vom 11. September 2001. Bund und Länder haben sich auf die „Neue Strategie zum Schutz der Bevölkerung“ verständigt. Vor dem Hintergrund der veränderten Bedrohungslage beschreibt sie die Notwendigkeit, die Hilfeleistungspotenziale der Länder und des Bundes zur Bewältigung großflächiger Gefahrenlagen zu bündeln. Das BBK nimmt auf den Gebieten des Bevölkerungsschutzes und der Katastrophenhilfe Aufgaben wahr, die ihm durch das Zivilschutzgesetz (ZSG) oder andere Bundesgesetze oder aufgrund dieser Gesetze übertragen wurden.36 Die Problemstellung der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr oberhalb der Länderebene ist nun aufgezeigt worden. Im Folgenden muss nun der Fokus auf die Strukturen unterhalb der Landesebene gerichtet werden. Die Länder zeichnen verantwortlich für die Hilfe in Katastrophen, beim Brandschutz sowie bei technischen Hilfeleistungen. Diese Aufgaben kann das Bundesland auf die Kreisverwaltungsbehörden delegieren. Im Wesentlichen wird der Katastrophenschutz in den Bundesländern durch die Feuerwehren und den Rettungsdienst sichergestellt. Gemäß Artikel 30, 70 und 83 des Grundgesetzes fällt auch die Zuständigkeit für den Rettungsdienst auf die Länder zurück. Während die Feuerwehren in kommunaler und damit in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft stehen, handelt es sich bei den Hilfsorganisationen im Rettungsdienst um privatrechtliche Einrichtungen in der Rechtsform eingetragener Vereine. Die Mitwirkung der Hilfsorganisationen im Bevölkerungsschutz ist Ausfluss des Subsidiaritätsprinzips bei der Wahrung von Aufgaben der öffentlichen Daseinsfürsorge, die in Deutschland auch im Bevölkerungsschutz gewährt wird.37 Deutschlandweit sind die unteren Zuständigkeiten für Rettungsdienst und Katastrophenschutz bei den Landkreisen und kreisfreien Städten angesiedelt, während der Brandschutz und damit die Zuständigkeit für die Feuerwehr immer noch jeder einzelnen, noch so kleinen Gemeinde obliegt. Die rechtliche Trennung zwischen den Hauptakteuren der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr hinsichtlich der Zuständigkeiten auf kommunaler und Kreisebene macht ein reibungsloses Zusammenarbeiten, zumindest in den Bereichen, in welchen die Feuerwehr nicht nach dem dort üblichen Landesrecht Träger des Rettungsdienstes ist, oft schwierig.38 Dabei stehen nicht so sehr die Kompetenzen im Einsatzfall auf der Tagesordnung, sondern eine gezielte und integrierte Abwehrplanung im Falle von Großschadenslagen, wie es beispielsweise Terroranschläge sind. Zudem müsste auch die Kompetenz der einzelnen Innenministerien gestärkt 36 Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe unter www.bbk.bund.de. 37 Schneider 2007. 38 Schneider 2007.

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werden. Sie sind ein wesentliches Instrument für einheitliche Vorgaben innerhalb der Katastrophenschutzstrukturen ihres Landes. Es zeigt sich folglich, dass auch innerhalb der Länder Regeln aufgestellt werden sollten, welche darauf abzielen, dass die Zuständigkeiten auf einheitlichen und wirtschaftlich, bzw. strategisch richtigen Ebenen gebündelt sind. Eine der wichtigsten Säulen im Gebäude der nationalen Sicherheitsarchitektur im klassischen Sinne des Bevölkerungsschutzes ist noch zu beschreiben, nämlich der Bürger des Staates selbst. Er sollte in der Lage sein, über die tägliche Gefahrenabwehr hinaus sich in einem außergewöhnlichen Schadensfall bis zu einem gewissen Grad selbst helfen zu können, zumindest aber sich richtig zu verhalten. Dies setzt allerdings eine Wahrhaftigkeit in Bezug auf die Risiken und die Transparenz staatlichen Wirkens voraus. „Eine Bevölkerung, die nicht auf Risiken vorbereitet ist, wird auch keinen eigenen Beitrag zur Risikominimierung, bzw. Schadensbewältigung leisten können.“39

Daraus folgt, dass es eine der wesentlichsten Maßnahmen überhaupt darstellt, den Bürger über die Bedrohungspotentiale und über das, was der Staat zur Abwehr dieser zu leisten im Stande ist, aufzuklären.40 Dies erfordert zum einen, dass eine wirkliche und fortlaufende Risikoanalyse vonstatten geht, zum anderen aber auch, dass Kompetenzen, Ausbildung und Ausstattung der Akteure der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr untereinander und in Bezug auf die Risikoanalyse hin entsprechend ausgerichtet sind. Nur unter dieser Voraussetzung kann dem Bürger überhaupt plausibel gemacht werden, welcher Beitrag von ihm im Rahmen seiner Selbsthilfetätigkeit verlangt wird. Dies darf allerdings nicht erst nach einem Anschlag mit dem Druck eines realen Szenarios erfolgen, sondern muss als stete, professionell und intensiv geplante Vorbeugemaßnahme durchgeführt werden. Zusammenfassend kann über die Akteure gesagt werden, dass insbesondere festzustellen ist, dass die ausgeprägte Differenzierung zwischen Zuständigkeiten des Bundes im Zivilschutz in Teilbereichen verwischt und so die Struktur einer nachhaltigen Gefahrenabwehr einschränkt wird.41 Die bestehende Diskrepanz zwischen den aktuellen dynamischen Lageveränderungen im Bereich der vernetzten Sicherheitsvorsorge und einer weitgehend unscharfen Beurteilung der Lage, die sich oft an Hierarchien, Strukturen und Machbarkeitskriterien orientiert, bleibt sehr gefährlich.42 Deshalb muss weiterhin an einer Neukonzeption strategischen Denkens mit klaren politischen Zweckvorgaben, eindeutigen zivilen und militärischen Zielen sowie der Bereitstellung entsprechend ausreichender Ressourcen, begleitet von einem intensiven öffentlichen Diskurs, welcher Wissenschaft und Streitkräfte mit einschließt, gearbeitet werden. Besonders bei der Bekämpfung des Terrorismus ist die Zugrundelegung eines stufenlosen Schutzes der Bevölkerung durch die Schaffung einer Sicherheitspolitik aus einem Guss ein zentrales Ziel, welches es vor 39 40 41 42

Bundesministerium des Inneren 2009. Weinheimer 2009. Rechenbach 2005. Souchon 2009, S. 4.

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allem auf politischer Ebene zu verfolgen gilt. In diesem Sinne sind die spezifischen Aufgaben von Polizei, Nachrichtendiensten und Bevölkerungsschutz sichtbar aufzuzeigen, abzugrenzen und miteinander zu vernetzen.43 Es gilt klar zu definieren, welche Möglichkeiten und Ressourcen die jeweiligen Partner haben; daraus folgt die Entwicklung einer Zusammenarbeit und eine gemeinsame Festlegung von Möglichkeiten, Problemen und Prioritäten.

4. Problemfelder für die nichtpolizeiliche Gefahrenabwehr Wohlstand und Fortschritt der Bevölkerung sind zunehmend mehr vom Vorhandensein hochleistungsfähiger und funktionstüchtiger Infrastrukturen abhängig. Die Gewährleistung des Schutzes dieser Infrastrukturen ist daher eine der wichtigsten Aufgaben staatlicher Sicherheitsvorsorge. Kritische Infrastrukturen (Kritis) sind Institutionen und Einrichtungen mit entscheidender Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen, bei deren Ausfall oder Beeinträchtigung nachhaltig wirkende Versorgungsengpässe, erhebliche Störungen der öffentlichen Sicherheit oder andere dramatische Folgen eintreten würden.44 Kritische Infrastrukturen werden aufgrund ihrer technischen, strukturellen und funktionellen Spezifika in unverzichtbare technische Basisinfrastrukturen45 und unverzichtbare sozioökonomische Dienstleistungsinfrastrukturen46 unterschieden.47 Besonders hoch industrialisierte, sehr komplexe Technologien nutzende und auf arbeitsteiligen, ausdifferenzierten Organisationsstrukturen aufbauende Staaten wie die Bundesrepublik Deutschland, sind von einer sehr verletzlichen Infrastruktur besonders abhängig. Terroranschläge in Ballungsräumen mit nationaler oder internationaler Bedeutung sind dabei wesentlich wahrscheinlicher; die Gefährdung durch Anschläge wächst somit mit der zunehmenden Urbanisierung. Daher hat bereits in 2002 die Arbeitsgruppe zur Neukonzeption des Zivil- und Katastrophenschutzes des Deutschen Städtetages vorgeschlagen, dass die Ausstattung der besonders gefährdeten Ballungsräume vorrangig und umfassender ausgeführt wird.48 Kommt es zu einer Störung, steht im Fokus nicht nur das Beseitigen der unmittelbaren Auswirkungen (im klassischen Sinn der Einsatz von Feuerwehren und anderen Hilfsorganisationen), sondern die Milderung des Menschlichen Leids und das Wiederherstellen der Normalität und der Austritt aus der durch den Terroranschlag hervorgerufenen Krise.49 Die Stadt London, die über beträchtliche Erfahrungen in der Terrorbekämpfung und in der Beseitigung der Folgen verfügt, zeigt

43 44 45 46

Lüder 2008, S. 16. Bundesministerium des Inneren 2008. Beispielweise Energieversorgung, Informations- und Kommunikationstechnologie Beispielsweise Gesundheitswesen, Ernährung, Notfall- und Rettungswesen und Katastrophenschutz. 47 Bundesministerium des Inneren 2008. 48 Knorr 2002, S. 948. 49 Löckinger 2005, S. 70.

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dieses Thema an Hand eines Phasenmodells im London Emergency Services Liaison Panel auf. Dort heißt es wörtlich: -

-

„Most major incidents can be considered to have four stages: the initial response; [also die ersten Maßnahmen zur Stabilisierung und Bekämpfung der Schadenslage, Aktivierung der Führungsorganisation am Schadensort und im Umfeld, F.v.K.] the consolidation phase; [zielführende Aktivierung aller staatlichen Stellen und Ressourcen, Aktivieren privatwirtschaftlicher Ressourcen, heranführen von überörtlichen Kräften der Gefahrenabwehr, Sicherstellen einer Notbetriebes staatlicher Stellen, F.v.K.] the recovery phase; [Herstellen der Infrastruktur, Gewährleistung des vollen staatlichen Handelns,50 F.v.K.] and the restoration of normality. An investigation into the cause of the incident, together with the attendant hearings, may be superimposed onto the whole structure.“ 51

Es wird also deutlich aufgezeigt, dass die Folgen eines Terroranschlages weitaus mehr Koordinierungsarbeit zwischen den Behörden verlangen, als dies zuerst den Anschein hat. Deshalb ist in London mit dem London Emergency Services Liaison Panel ein klar strukturiertes Werk geschaffen worden, in welchem unter der Federführung der Metropolitan Police alle potentiell beteiligten Akteure an einen Tisch geholt werden, um ihre Stärken im Falle eines Anschlages in die Gefahrenabwehrplanung mit einbringen zu können. Hier wird nicht die Frage nach der Zuständigkeit gestellt, sondern danach, wer was am Besten leisten kann. Das Londoner Phasenmodell berücksichtigt aber auch das Aufwachsen einer Führungsstruktur von unten nach oben. Es beschreibt somit ein System, welches in der Lage ist, schnell und auch nur mit unzureichenden Informationen über die Ereignisse eine effektive Gefahrenabwehr aufwachsen zu lassen. Dies ist gerade für die moderne Form des Terrors mit deiner hohen Dynamik von entscheidender Bedeutung. Das soll im folgenden Abschnitt untersucht werden. Die Anschläge in Madrid im März 200452 und im Juli 2005 in London fanden nicht in einer Zeit statt, in der man mit akuten Angriffen aufgrund besonderer Rahmenbedingungen gerechnet hätte.53 Jedoch hat in beiden Fällen das Engagement im Irak zu einer allgemein erhöhten Terrorgefahr geführt. Gerade aber die Anschläge von Madrid und London zeigen erstaunliche Parallelen und eine Art Grundtendenz in der Ausführung der Terroranschläge: Die Täter sind aus dem Ausland infiltrierte Sympathisanten oder vor Ort aufgewachsene Personen gewesen (sogenannte „homegrown terrorists“). Sie operieren mittels Sprengsätzen, die sie unmittelbar am Körper tragen und mittels Fernauslöser (Madrid) oder im Zuge eines Selbstmordattentates (London) auslösen. In beiden Fällen wurden zudem mehrere Anschläge parallel und in kurzen Zeitintervallen gegen weiche Ziele ausgeführt. Als weiche Ziele werden jedermann zu50 51 52 53

Rechenbach 2005, S. 146. Stadt London 2004, S. 11. Zehn Sprengsätze explodierten in eng besetzten Vorortzügen der Cercanías Madrid. Altheim/Schmid/von Kaufmann 2006.

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gängliche und nur schwer zu sichernde Stellen bezeichnet. In beiden Fällen waren es Züge mit einer hohen Personendichte. Die Dynamik im Einsatzgeschehen entwickelt sich in der Folge durch die Parallelereignisse. Daraus resultiert, dass alle Einsatzstellen aus Alltagsvorhaltungen und mit für den Alltag hinterlegten Alarmstichworten eröffnet wurden. Die Möglichkeit eines Terroranschlages mit mehreren Zielen wurde zuerst nicht erkannt.54 Die erste Einsatzstelle wurde mittels der entsprechenden Vorhaltung an Rettungsmitteln und mit den Stichwort „Massenanfall von Verletzten“ beschickt. Damit standen ausreichend Kräfte und vor allem ausreichend Führungskräfte zur Verfügung. Die weiteren Einsatzstellen mussten allerdings mit weniger Ressourcen beschickt werden, die Verfügbarkeit von Einsatzmitteln, Personal und Führungskräften nahm folglich von Einsatzstelle zu Einsatzstelle ab.55 Bei allen Ereignissen waren zudem erhebliche Kommunikationsschwierigkeiten festzustellen. Die Kommunikation der Einsatzkräfte vor Ort mit den Leitstellen war nur sehr unverhältnismäßig möglich. Die Folge daraus ist es gewesen, dass es für die übergeordnete Führung zumindest in den ersten Stunden äußerst schwierig war, sich ein umfassendes Lagebild zu machen, die Gefahrenabwehrbehörden sind nicht von Einsatzbeginn an von einem Terroranschlag ausgegangen. Das frühe Erkennen eines Terroranschlages ist ein wesentlicher Faktor, um die Gefahr durch das zünden weiterer Sprengkörper nach dem Eintreffen der Rettungskräfte zu minimieren. Die Möglichkeit weiterer Sprengkörper war in beiden Fällen nicht auszuschließen. Ursache für diese Lageeinschätzung waren unter anderem Erfahrungen aus Israel. Gerade in Israel wurden Doppelanschläge mit dem Ziel, die eingetroffenen Rettungsdiensteinheiten zu treffen, öfter durchgeführt. Dabei wurde abgewartet, bis die Rettungskräfte vor Ort eingetroffen sind. Während der Rettungsmaßnahmen wurde sodann ein zweiter Sprengsatz gezündet. Ein Phänomen, das durch die polizeiliche Gefahrenabwehr nur schwer abzustellen ist, da sich noch vor den Absperrmaßnahmen der Polizei der zweite Täter innerhalb des Sperrbereiches befinden kann. Ein Ziel eines zweiten Anschlages könnten auch die Krankenhäuser sein.56 Von diesem Vorgehen versprechen sich die Attentäter eine maximale Verunsicherung der Bevölkerung und der Handelnden. Folglich hat sich die nichtpolizeiliche Gefahrenabwehr auf diese Gefahr eingestellt. In Israel werden aus diesem Grund beispielsweise die „on-scene“ Zeiten drastisch reduziert, also nur Basismaßnahmen am Patienten vorgenommen, um das Zeitfenster für einen zweiten Anschlag so klein wie möglich zu halten57 oder die Abrufplätze für die Rettungsmittel außerhalb der Sichtweite der Einsatzstelle eingerichtet. Ebenfalls findet eine entsprechende Sicherung der zentralen Ressourcen, beispielsweise der Krankenhäuser durch die Polizei in einer frühen Phase statt.

54 55 56 57

Lopez 2006. Brandt/Gressmann/Schmidt 2008; Lopez 2006. Paschen/Rechenbach 2008. Paschen/Rechenbach 2008.

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Bisher haben deutsche Rettungsdienste und Krankenhäuser dieses Phänomen nur wenig beachtet. Es ist daher notwendig sich über Vorgehensweisen andere Länder zu informieren und daraus Rückschlüsse für das eigene Handeln zu treffen. Das erfordert beispielsweise auch ein Umdenken in der eher statisch ausgeprägten Taktik des Behandlungsplatzes in Deutschland. Dennoch bleibt die Frage im Raum stehen, ob es ausschließlich Anschläge mit konventionellen Waffen, wie sie in London und Madrid verübt wurden auch zukünftig gibt oder ob der Terrorismus des 21. Jahrhunderts in der Lage ist auch nicht konventionelle Waffen, beispielsweise eine Atombombe einzusetzen. Von 8000 bei der RAND Terrorism Incident Database für die Zeit von 1968 bis 1998 verzeichneten Vorfällen, weisen nicht mehr als 60 davon Merkmale auf, dass Terroristen einen Angriff mit nicht konventionellen Waffen und Mitteln durchführen wollten oder durchgeführt haben.58 Allgemein ist man bis 2001 von Seiten der Terrorabwehr von konventionell geführten Angriffen ausgegangen, einerseits, weil das Ausmaß eines Angriffs mit nicht konventionellen Mitteln nicht vorstellbar war (hier standen vor allem die technischen Schwierigkeiten im Vordergrund, die man aus militärischen Erfahrungen gewonnen hatte) andererseits, weil man meinte, dass die Ziele der Terroristen mit wesentlich einfacheren Mittel zu erreichen sind.59 Ankündigungen terroristischer Gruppen und die Möglichkeit, seit dem Zerfall des Ostblocks leichter an nukleares oder chemisches Material oder sogar Waffen zu kommen, aber auch verübte Anschläge wie die der Aum-Sekte in der U-Bahn von Tokio 1995, führen zu einer neuen Beurteilung der Gefahr von Terroranschlägen mit nicht konventionellen Waffen und Mitteln. Grund hierfür war auch, dass es nicht mehr erklärtes Ziel war, eine bestimmte und begrenzte Personengruppe, sondern möglichst viele und willkürliche Opfer zu treffen. CBRN-Waffen können diesen Effekt durchaus verstärken.60 Für den islamistischen Terrorismus mit seiner Extremfigur des Selbstmordattentäters ist nicht die Angst um das eigene Überleben die Schranke des Handelns, der eigene Tod ist lediglich Instrument, möglichst viele Menschen mit in das Verderben zu reißen.61 Ist es ihm möglich, zudem entsprechende Waffen zu bekommen oder selbst herzustellen, dann werden Terroranschläge Ausmaße erreichen, die weit über die Landesgrenzen hinaus gehen könnten. Ein bereits ausgeführtes Beispiel für eine Bedrohung eines Staates durch Terroristen mittels einer unkonventionellen Waffe war während des ersten Krieges in Tschetschenien versucht worden: Dort sollen Rebellenführer damit gedroht haben, Moskau mit Hilfe radioaktiver Abfälle für immer in eine Wüste zu verwandeln. Um ihrer Aussage Nachdruck zu verleihen, wurden in einem Moskauer Park kleine Mengen Cäsium 137 deponiert.62 58 RAND Terrorism Incident Database. 59 Laqueur 1977, Jenkins 1975, S. 15. 60 Weinheimer 2009. 61 Hepler 2008, S. 37; Kaldas 2006. 62 Laqueur 1999, S. 73.

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Das Verwenden von radioaktivem Abfall stellt die leichteste und sicherste, und damit wahrscheinlichste Möglichkeit dar, CBRN-Stoffe zum Einsatz zu bringen. Im Mittelpunkt steht hierbei ein Szenario durch eine „Dirty Bomb“.63 Bei der sogenannten schmutzigen Bombe handelt es sich um einen konventionellen Sprengkörper, der bei seiner Detonation radioaktive Substanzen freisetzt. Es lässt sich zu dem zu erwartenden Szenario allerdings feststellen, dass infolge der Explosion im unmittelbaren Nahbereich des Tatorts mit Toten und Verletzten gerechnet werden muss, insgesamt aber nur eine geringe akute Lebensgefahr durch den radiologischen Wirkungsanteil der Bombe für die Bevölkerung besteht.64 Derzeit ist die Wahrscheinlichkeit eines Angriffes mit biologischen Waffen weitaus geringer als der Einsatz einer „Dirty Bomb“.65 Die Entwicklung der Biowissenschaften und Biotechniken wird auch zur Folge haben, dass das Wissen und Material in Hände von Terroristen fallen. Die Medienwirkung eines Bioangriffs ist aber wesentlich höher einzuschätzen, als das Ausmaß durch die Biowaffe selber. Der Versuch von Aum Shinrikyo vor den Sarin-Attacken auf die Tokioter U-Bahn, Anschläge mit Anthrax, Botulinum-Toxin durchzuführen blieb erfolglos und weitestgehend unbemerkt. Ein erster erfolgreich umgesetzte Anschlag mit einer Biowaffe waren die Anthrax-Attacken an der amerikanischen Ostküste im Jahr 2001. Der Einsatz chemischer Kampfstoffe ist mit dem Sarinanschlägen in der Tokioter U-Bahn bereits, zumindest im geringen Umfang, im Bereich des Möglichen. Solche CBRN-Szenarien besitzen in aller Regel sowohl die Dynamik als auch das entsprechende Eskalationspotenzial, unabhängig von der tatsächlichen Gefahr der Gefahrstoffe, Terrorangriffe von mindestens nationaler Bedeutung zu werden. Das schließt auch und vor allem die psychologische Wirkung auf das Einsatzpersonal und die Bevölkerung mit ein, insbesondere unter den Augen der kritischen Öffentlichkeit, die gerade bei solchen Lagen ein kompetentes und effektives Handeln des Staates voraussetzt und ein entsprechendes Krisenmanagement des Bundes einfordert. Dies vor allem, weil die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in einer solchen Situation auf das Äußerste belastet werden können. Die Feuerwehr ist zwar derzeit in der Lage, handelsübliche Chemikalien aufzunehmen, es fehlt jedoch an der Ausstattung der Rettungsdienste im Falle eines Anschlages mit CBRN-Stoffen oder Waffen. Behandlungskonzepte oberhalb der Individualversorgung und unterhalb der Katastrophenschwelle fehlen für die präklinische aber auch die klinische Versorgung von Patienten. Krankenhäuser sind auf derartige Szenarien weder baulich noch klimatechnisch oder personell ausreichend vorbereitet. Der flächendeckende bundesländerübergreifende Aufbau von entsprechenden Einheiten zur Dekontamination und klinischen Behandlungskapazitäten ist unbedingt notwendig und muss weiter ausgebaut werden.66 Dekontaminationskonzepte wurden in Deutschland für die Fußballweltmeisterschaft 2006 entwickelt und sind mit internationalen Standards weitestgehend vergleich63 64 65 66

BBK Bund 2010. Weinheimer 2007, S. 74. Weinheimer 2007. Paschen/Rechenbach 2008.

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bar, sie müssen in ihrer Leistungsfähigkeit erhalten und in entsprechend überörtlichen Konzepten weiter integriert werden. Die Zukunft des Terrorismus liegt in der Beschaffung von Massenvernichtungswaffen, die von der Wissenschaft moderner Staaten entwickelt wurden, allerdings werden die Terroristen diese weniger skrupellos einsetzen als die Entwicklungsländer.67 68 Der technische Fortschritt erleichtert den Transport kleiner und effektiver Waffensysteme. Verstärkt wird dieses Phänomen mit dem Zerfall der Sowjetunion und dem Elend ihrer Nachfolgestaaten, der einen Schwarzen Markt mit entsprechender Waffentechnik speist. Die Weitergabe von Atomkenntnissen durch islamistisch orientierte Länder wie Pakistan oder Libyen und Nordkorea zeigt einen weiteren Weg der Verbreitung. Mit einen Blick in die Zukunft beschreibt Hess69 fünf wesentliche Aspekte, die ein dynamischeres und schwer kontrollierbares Handeln erkennen lassen: Erstens eine moderne Kommunikationstechnologie. Zweitens eine soziale Basis, oft ethnischer oder religiöser Art, manchmal aber auch eine gemeinsame Vergangenheit als Kämpfer, die Vertrauen garantiert und die Kooperation erleichtert. Eng verknüpft mit diesem Element ist drittens die Erzählung über die Mission, welche die Gemeinschaft zusammenschweißt. Zudem entspricht viertens die Organisationskultur gar nicht dem vertrauten Bild einer stark hierarchisch geprägte Struktur, vielmehr findet man eine Vielzahl kleiner und beweglich operierender Grüppchen ohne zentrale Führung. Als fünftes Element machen die Analysten die strategische Doktrin der „netwarriors“ aus, das sogenannte „swarming“. Das heißt, dass Anschläge zwar zum selben Zeitpunkt durchgeführt werden und unter einer gemeinsamen Planung stehen, aber der Anmarsch und die Operation selbst in kleinen, auf sich gestellten Gruppen stattfindet. Diese Strategie wird vor allem durch eine desorganisierte Organisationskultur und die entsprechenden Kommunikationsmittel ermöglicht. Die gefährlichsten Terrorgruppen der Zukunft werden starke vormoderne soziale Bindungen und einen gemeinsamen Schatz an Traditionen, eine zersplitterte Organisation mit einer ausgeprägten Fähigkeit zum schwer konternden Dynamik haben. Die Grundlage der zukünftigen terroristischen Aktionen muss sich auch den Bevölkerungsschutz zu eigen machen. Zu schaffen ist ein Bottom-Up-System, das einen schnellen Zugriff in der akuten Situation ermöglicht und in der Lage aufwächst. Es wird also mit einem ähnlich flexiblen System geantwortet, wie es die Terroristen zur Verwirklichung ihrer Anschläge benutzen. Das Ergebnis muss ein hochdynamisches und flexibles System sein, das einen schnellen und lageangepassten Zugriff ermöglicht und einen Aufbau von Führungsstrukturen bis in die Ebene der Europäischen Gemeinschaft zulässt – auf der Basis der örtlichen Regelausrückung. Hierfür muss aber ein einheitliches und vernetztes System aufgebaut werden, Kompetenzen und Zuständigkeiten klar definiert und (Führungs)67 Bundeskanzlei (Schweiz) 2003, S. 133. 68 Nach einer Zählung von Andrews Chronology (RAND) waren 1995 25 Prozent der terroristischen Gruppen religiös motiviert und haben 58 Prozent der Toten verursacht. 69 Hess 2001, S. 134.

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personal entsprechend ausgebildet werden. Zugrunde liegt eine gemeinsame Führungskultur und -philosophie und das Erproben der Konzepte anhand von Planspielen und Übungen. Zusammenfassend für dieses Kapitel kann festgestellt werden, dass die technischen Vorraussetzungen weitestgehend geschaffen worden sind, zumindest im Bereich der CBRN-Gefahren und was die unmittelbare Abwehr und Milderung der Auswirkung vor Ort betrifft. Hier fehlt noch eine Abstimmung der Ausstattung und Erweiterung auf das weitere Umfeld, beispielsweise Krankenhäuser. Im Gegensatz zu England liegt der Schwerpunkt in Deutschland nur auf einen potentiellen Angriff mit CBRN-Waffen. Die bisher konventionell durchgeführten Angriffe haben in erster Linie Gebäudestrukturen zerstört. Das hat zur Folge, dass beispielsweise in London die Fähigkeiten im Urban Search and Rescue ausgebaut wurden.70 Auch wenn dies in Deutschland eine originäre Aufgabe des THW ist, benötigt die Feuerwehr entsprechende Fähigkeiten um zu ergänzen oder die Zeit bis zum effektiven Eingreifen des THW zu überbrücken.71 Zudem wurden in England die Fähigkeiten zum Fördern großer Wassermengen vor dem Hintergrund verbessert, das Ereignisse wie das Buncefield-Feuer durch Terrorattacken und nicht durch einen technischen Defekt ausgelöst werden könnten.72 Eine neue Herausforderung ist zudem, dass Terroristen durchaus in der Lage sind, auf Abwehrmaßnahmen zu kontern, um ihr Ziel, die Vernichtung von Menschen und Einsatzpersonal zu erreichen. Somit verwischt in dieser Lage auch die Möglichkeit einer Trennung zwischen einer rein polizeilichen und nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr.

5. Der Mensch im Mittelpunkt der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr Die oberen Kapitel zeigen deutlich die Dynamik und Komplexität von Terroranschlägen und die Vielzahl von Akteuren in einer vernetzen Gefahrenabwehr wie der in Deutschland. Die durchgeführten Terroranschläge in Madrid und London, aber auch die CBRN-Szenarien machen deutlich, dass solche Einsätze sich bis zur Wiederherstellung der Normalität lange hinziehen können, wesentliche Elemente aber, die über den Erfolg oder Misserfolg der ganzen Operation entscheiden, schon zu Beginn des Szenarios getroffen werden müssen. Gleichwohl zeichnen den Führer innerhalb der verschiedenen Führungsebenen und in jeder Phase sein Führungskönnen und die erlernten Kompetenzen aus. Gerade weil der Bevölkerungsschutz ein System unterschiedlicher Organisationen, die anlassbezogen zusammenwirken, ist, wird das Ausschöpfen und das Kennen der eigenen Kompetenzbereiche sowie der Wille zu führen, zu agieren und zu entscheiden ohne in die Kompetenzen der nachgeordneten Stellen einzugreifen, zu einem wesentlichen Erfolgsfaktor. So soll der Faktor Mensch in der 70 Scott (o.J). 71 Kaufmann 2004. 72 The Buncefield Investigation 2005.

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nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr mit seiner Fähigkeit, auch in kritischen Lagen das Richtige zu tun, im Mittelpunkt der weiteren Betrachtung stehen. Ausschlaggebend für die erfolgreiche Einsatzbewältigung der Schadenslage ist die zügige Identifizierung. Die Identifizierung stellt einen Schlüsselfaktor dar. Aufgrund ihrer können weitere Maßnahmen, wie die Vorhaltung von Rettungsmitteln und personellen Ressourcen besser geplant oder Schutzmaßnahmen für die eigenen Kräfte abgeleitet werden. Ein geeignetes Kriterium wird von Brandt, Gressmann und Schmidt aufgezeigt. Sie empfehlen, auf mikrospezifische und makrospezifische Beurteilungskriterien zu achten. Die Mikroperspektive ist der erste Kontakt mit Informationen, die auf ein außergewöhnliches Ereignis schließen lassen. Hierbei werden Faktoren wie attraktive Anschlagsziele, Einsatzzeit oder besonders symbolträchtige Tage und Schadensereignisse, also beispielsweise simultane Explosionen betrachtet. Unter makrospezifischen Kriterien wird die allgemeine innen- und außenpolitische Lage, beispielsweise das Mitwirken der Bundesrepublik Deutschland an militärischen Einsätzen im Ausland oder Spannungen wie der Karikaturenstreit gesehen, aber auch polizeiliche Erkenntnisse oder Bekennervideos oder simultane Ereignisse. Die Erkenntnisse aus einem solchen Ergebnis erfordern außergewöhnliche Maßnahmen auf einer hohen Führungsebene, die das Abrücken von Routineabläufen und Routinestrukturen wie beispielsweise Einsatzpläne und Taktikstandards erfordern. Die Führungsebene, die ein solches Ereignis identifizieren soll und es festlegen muss, muss vorher benannt sein. Die Autoren leiten aus ihrer Beurteilung der Mikroperspektive und der Makroperspektive die sich daraus ergebende Strukturierung der Maßnahmen ab. Im Zentrum steht dabei die Aussage, dass das Vorrücken sämtlicher Kräfte nach der individuellen Beurteilung des Einsatzleiters stattfinden muss. Nur so ist sichergestellt, dass die Gefährdung der Einsatzkräfte, beispielsweise durch die Explosion weiterer Sprengsätze verhindert wird oder eine Eigengefährdung der Einsatzkräfte durch CBRN-Stoffe stattfindet. Insbesondere erfordert ein Einsatz dieser Größenordnung eine an die Dynamik angepasste und vorausschauende Raumordnung. Nur die räumlich gut strukturierte Einsatzstelle ermöglicht ein dynamisches Handeln und die Sicherheit der eingesetzten Kräfte vor Ort. Diese Erkenntnis muss auch zur Folge haben, dass Führungskräfte freier Führen müssen. Charakteristika des Führens bei einem Terrorszenario sind komplexe Handlungsentscheidungen bei einer geringen Fehlertoleranz, ein durch die Entscheidungsträger wahrgenommenes Gefühl der Bedrohung, ein Anstieg an Unsicherheit, Dringlichkeit und Zeitdruck sowie das Gefühl, das Ergebnis sei von prägendem Einfluss auf die Zukunft. 73 Die Kunst einer modernen Führung besteht folglich darin, Operationen oder Einsatzsituationen mit vorausschauenden Mustern zu versehen, um neue Lageentwicklungen verzugslos zu bewältigen. Es werden also Ausbildungskonzepte verlangt, die nicht nur den aktuellen Einsatzanforderungen entsprechen, sondern bereits zukünftige Szenarien vorwegnehmen.74 Ausbildung und Führung ist auf 73 Bundeskanzlei (Schweiz) 2003. 74 Ungerer 2003, S. 15.

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zukünftige und nicht vergangene Lagen auszurichten. Der Lerneffekt aus vergangenen Ereignissen wird mit den Jahren immer geringer, da sich zunehmend die Rahmenbedingungen, technischen und taktischen Möglichkeiten ändern. Heidegger greift in diesem Zusammenhang zur Formel des Historikers Hermann Heipels, um die Grenze zu bezeichnen: „Die Gegenwart ist die erste Geschichtsquelle des Historikers“. Eine Feststellung, die er zuvor manifestiert hatte: „... in der Ereignisse noch praktisch lehrreich für uns sind, schrumpft infolge der raschen Entwicklung der Waffen- und Verkehrstechniken zusammen.“75

Somit kann auch auf dynamische und wenig erkundbare Verhaltensmuster der verschiedensten Terrorszenarien schnell und situativ richtig reagiert werden. Die Erfahrung, aus welcher insbesondere die Führungskraft schöpfen kann ist beschränkt. Terroranschläge oder vergleichbare Ereignisse, sind auch bei großen Berufsfeuerwehren die absolute Ausnahme, folglich gibt es keine erfahrenen Führungskräfte, die dieses Wissen weitergeben können. Das Wissen muss durch Training „am Modell“ angelernt werden.76 Krisenvorbeugung ist die Früherkennung von Krisen.77 Die Möglichkeiten des Terrorismus sind vielseitig und schwer zu beherrschen. Dennoch, nur wer auf ein solches Szenario vorbereitet ist, kann im Falle seines Eintretens auch damit umgehen. Bewährt haben sich Think-Tanks, die es auch ermöglichen, Zukunftsszenarien anhand von klaren Planspielen durchzuspielen. Horx verweist in seinem Beitrag „Zur Entwicklungsdynamik von Terrorismus und Extremismus, Pre-CrimeForschung im Terrorismus-Umfeld, eine Näherung“ auf eine Vorhersage von Richard A. Clarke, dem ehemaligen Sicherheitsbeauftragten der US-Regierung.78 Dieser beschreibt in einem fiktiven Szenario die Entwicklung des Terrorismus in den nächsten zehn Jahren. Dabei berichtet er in einem minutiös entwickelten Drehbuch den Ablauf eines Anschlages am 11. September im Jahre 2011. Er nimmt hierfür die Position der Kassandra ein. Clark denkt hier nicht im Sinne einer Abwehr oder Vermeidung, sondern gezielt aus der Perspektive des Terroristen (Kassandra). Er nimmt damit besonders ernst, was die „Marketing-Seite“ des Terrorismus genannt wird. Terrorismus will in der medial sehr geprägten Welt nicht anderes als Botschaften setzen. Die Methode sollte weiterentwickelt werden. Es muss ein ständig arbeitender Think-Tank gebildet werden, der einen virtuellen Vordenker des Bösen darstellt. Entscheidend hierfür wäre eine Zusammensetzung eines Kassandrakreises. Teilnehmer sollten nach Horx aus den Bereichen der Psychologie, Kulturwissenschaften, Religion, Semiotik, Marketing, Soziologie, Medientheorie, Risikomanagement, Kriminalistik und Politik kommen. Doch wo liegt der Vorteil für die nichtpolizeiliche Gefahrenabwehr? Aus den Szenarien lassen sich Planspiele entwickeln. Diese helfen nicht nur unterstützend bei einer strategischen Ausrichtung der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr und 75 Heidegger 1961. 76 Hilgers 2008; van Creveld 2005. 77 Bundeskanzlei (Schweiz) 2003. 78 Kemmesies 2006.

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beim Erstellen der Einsatzplanungen, sondern erleichtern auch das Beüben des Personals in möglichst realen und auf die Bedrohung speziell ausgerichteten Einsatzfeldern. Mit dem Durchspielen solcher Szenarien anhand von Planübungen lässt sich der Überraschungsmoment im Realeinsatz weitestgehend ausschließen.79 Übungen sind als praktischer Bestandteil eines komplexen Risiko- und Krisenkommunikationskonzeptes anzusehen und helfen dabei, die materiellen, personellen und technischen Leistungsumfänge der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr anhand von Ergebnissen festzustellen. Zudem kann so, aufgrund der geringen Zahl von Realeinsätzen, eine Senkung des Schwellwertes zu routinierten Kooperations- und Kommunikationsabläufen führen.80 Beispiele für das Entwickeln und Durchexerzieren von Szenarien gibt es bereits im Bereich der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr. Genannt sei hier beispielsweise die holländische Übung „Bonfire“.81 Ein Höhepunkt war die „Table-Top-Übung“ im Januar 2005 des Transatlantic Biosecurity Network.82 Angenommenes Szenario war, dass Terroristen an sechs Zielorten in fünf Ländern innerhalb einiger Tage Pockenvieren in Form von „dry powder bio-aerosol“ ausbringen. Der Krisenstab bestand aus einer hochkarätigen Besetzung, die Rolle des US-Präsidenten wurde von Madelaine Albright übernommen. Gerade die amerikanischen Behörden verwenden verstärkt großangelegte Übungen zur Überprüfung ihrer Konzepte und der Leistungsfähigkeit ihrer Systeme. Diese Übungen werden als Planspiele oder sogar in der Praxis durchgespielt. Zu nennen wären hier beispielsweise „Dark Winter“ des John Hopkins University Center for Cicilian Biodefense Studies. Diese waren als Testszenarien für Terroranschläge mit nicht konventionellen Waffen angelegt.83 Auch in Deutschland werden vergleichbare Übungen abgehalten. Das Erfassen komplexer und nationaler Bedrohungsszenarien, das Zusammenwirken aller Akteure auf den verschiedensten Ebenen, wird regelmäßig in LÜKEX-Übungen84 durchgespielt. Mit den Ergebnissen lassen sich Rückschlüsse auf Notwendigkeiten ziehen, wie zukünftig Technik, Strategien und Ausbildung ausgerichtet werden sollen und wie innerhalb Europas auf solche Szenarien reagiert werden muss.

6. Schlussfolgerung Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Antiterrormaßnahmen keine Garantie dafür bieten, dass unsere Sicherheitsapparate alle potenziellen Gefahren und Bedrohungen rechtzeitig aufdecken. Um auf die neuen Bedrohungen und Risiken angemessen reagieren und auch die klassischen Gefahren besser bewältigen zu kön79 Hilgers 2008, S. 83. 80 Lopez 2006. 81 Headliner war „The authorities in the Netherlands say the country is not yet ready to respond effectively to a terrorist attack“, vgl. Kaldas 2006, S. 139. 82 Transatlantic Biosecurity Network 2005.; Kaldas 2006. 83 Kaldas 2006; Visser 2006. 84 Länderübergreifende Krisenmanagementübung (Exercise).

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nen, müssen Bund, Länder und kommunale Ebenen enger und koordinierter zusammenarbeiten als bisher. Die bisherigen Teilsysteme der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr sind zu einem funktionsfähigen und integrierten Hilfeleistungssystem zu verzahnen. Darüber hinaus ist die Zusammenarbeit mit der Polizei ebenso systematisch und konsequent auszubauen wie die zivil-militärische Zusammenarbeit. Die Optimierung des Gefahrenmanagements erfordert unter Einbeziehung der kommunalen Ebene, der Feuerwehren, der im Katastrophenschutz und Rettungsdienst mitwirkenden Organisationen und der Polizei, eine deutlich stärkere Zusammenarbeit der Länder mit dem Bund. Grundlage der Zusammenarbeit sind gut funktionierende Kooperations- und Kommunikationsstrukturen. Für eine erfolgreiche Bekämpfung des Terrorismus und seiner unmittelbaren Auswirkungen auf die Bevölkerung ist ein effizientes Zusammenwirken aller betroffenen Stellen notwendig. Die horizontale und vertikale Zusammenarbeit ist unter Sicherheitsaspekten am Besten unter Federführung der Innenressorts von Bund und Ländern zu gewährleisten.85 Es ist nicht der föderale Staatsaufbau, der uns im Wege steht. Es ist vielmehr die Bereitschaft und die Fähigkeit zentralen Vorgaben folgend, ein einheitliches System standardisierter und transparenter Fähigkeiten und Verfahrensregelungen aufzubauen. Das bereits mehrfach angesprochene Strategiepapier folgert somit richtigerweise, dass der Föderalismus im Kopf vieles schwieriger macht, als es eigentlich sein müsste. Somit ist es erforderlich, den Akteuren überzeugend zu vermitteln, dass es nicht darum gehen kann, einer Einsatzleitung vor Ort durch eine Bundeskompetenz die Führung aus der Hand zu nehmen, sondern vielmehr den Bund als übergeordnete Ebene denken und handeln zu lassen und eine strategische Führung bei außergewöhnlichen Lagen zu installieren. Es bleibt derzeit bei der grundsätzlichen Trennung zwischen friedenszeitlichem Katastrophenschutz in der alleinigen Verantwortung der Länder und beim Zivilschutz im V-Fall in der Verantwortung des Bundes. Als reaktionär gilt derzeit schon der Ansatz der „...gemeinsamen Verantwortung von Bund und Ländern für die Bewältigung von Großschadenslagen ... über föderale Grenzen hinweg“. Somit haben alle Maßnahmen darauf abgezielt, das Zusammenwirken der Akteure im Bevölkerungsschutz, insbesondere bei national bedeutsamen Gefahren sicherzustellen, ohne jedoch die durch das Grundgesetz vorgegebene Rollenzuweisung zwischen Bund und Ländern aufzugeben. Es muss ein Bevölkerungsschutzsystem geschaffen werden, das sich proaktiv integrieren lässt Das bedeutet, dass der Bevölkerungsschutz zukünftig nicht mehr auf gewohnte Szenarien ausgelegt ist und nicht auf ein neuartiges Szenario ausgerichtet sein kann, sondern es müssen Grundlagen für ein flexibles und operativ optimiertes Einsatzsystem geschaffen werden. Der Terroranschlag trifft die nichtpolizeiliche Gefahrenabwehr dann, wenn sie nicht damit rechnet. Die Lage wächst somit aus dem auf, was die Gefahrenabwehrbehörden für den täglichen Dienstbetrieb vorhalten können. Im Mittelpunkt wird immer der Mensch als zentrale Figur eines Staatssystems stehen, von dessen Leistung und Ausbildung es abhängt, wie die Folgen eines Terroranschlages sich auf die Ge85 Geier 2008: S. 25.

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samtheit auswirken, in der Hoffnung, dass damit eben nicht die Prophezeiung des amerikanischen Philosophen Richard Rorty (zitiert aus DIE WELT vom 13. Juni 2007) eintritt: „Doch ich glaube nach wie vor, dass das Ende der Demokratie eine wahrscheinliche Konsequenz atomaren Terrors sein würde ... Früher oder später wird irgendeine Terrorgruppe 9/11 in einem viel größeren Maßstab wiederholen. Ich habe Zweifel, dass die demokratischen Institutionen dieser Belastung standhalten werden.“86

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MASSNAHMEN ZUR TERRORISMUSBEKÄMPFUNG DURCH DIE EUROPÄISCHE UNION Stefan Oska und Martin von Berg

1. Einleitung Der internationale oder globalisierte Terror ist zwar kein Phänomen, das erst mit dem Attentat des 11. Septembers 2001 auf die Twin Towers des World Trade Centers in New York entstand, doch rückte er mit den Ereignissen dieses Tages in eine völlige neue Wahrnehmungsdimension. Die Weltgemeinschaft zeigte in der raschen und einstimmigen Verurteilung dieser Tat eine bis dahin nur selten erlebte Solidarität. Vor allem in den westlichen Staaten nahm man die Anschläge als einen Angriff auf die gemeinsam geteilten Werte wahr. Es sollte nicht nur bei Worten bleiben; an den nachfolgenden Reaktionen der internationalen Handlungsträger konnten die verschiedenen Unterschiede im Verständnis von Terrorismus und Sicherheit abgelesen werden. Während die USA in den nachfolgenden Monaten zum Kampf gegen den Terror aufriefen, waren die Reaktionen etwa Chinas oder Russlands verhaltener, wollte man sich doch nicht die Blöße geben, die eigene Souveränität durch ein Aufspringen auf Entscheidungen konkurrierender Mächte zu gefährden. In einem besonderen Spannungsverhältnis stand dabei die Europäische Union (EU). Einerseits sind die meisten ihrer Mitglieder auch Teil der NATO und somit Bündnispartner der USA, andererseits bemüht sich die EU um eine eigenständige Außen- und Sicherheitspolitik, die sich im steten Konflikt zwischen Supranationalität und Souveränitätsanspruch der Mitglieder bewegt. Hier zeigt sich in aller Klarheit, wie sehr die klassische Trennung von souveränen Außenkompetenzen und den in der EU in großen Teilen auf die supranationale Ebene abgegebenen Innenkompetenzen der Staaten in den letzten Jahrzehnten zunehmend erodierte. Unter der übergeordneten Frage dieses Sammelbandes nach dem Verhältnis zwischen Staat und Terrorismus will der vorliegende Beitrag einen einführenden Überblick über die Maßnahmen der Europäischen Union zur Terrorismusbekämpfung geben. Dabei muss der besonderen Natur dieser supranationalen Organisation Rechnung getragen werden, die sich nicht so recht in ein klassisches Schema von Bundesstaat, Staatenbund oder vertragsbasierter Interessengemeinschaft einordnen lassen will und für den Großteil der Unionsbürger wohl ein unübersichtliches Konglomerat an bürokratischen Institutionen darstellt, das weit weg in Brüs-

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sel Entscheidungen über alles Mögliche trifft.1 Wir haben uns daher dafür entschieden, trotz dem erwähnten zunehmenden Verschwimmen der Grenzen zwischen Innen- und Außenpolitik in der Staatenwelt genau diese Trennung in der Darstellung der EU-Anti-Terrorpolitik zu machen. Dazu trägt vor allem der Umstand bei, dass ungeachtet der neuesten Entwicklungen über den allergrößten Zeitraum unserer Betrachtung die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU (GASP) vollkommen auf dem intergouvernementalen Einstimmigkeitsprinzip bei Entscheidungen basierte, während innenpolitische Themenfelder schon wesentlich stärker vergemeinschaftet waren und sind. Nach einer knappen Zusammenfassung der Entwicklungen, die zu einer für die Europäische Union gültigen Definition von Terrorismus geführt haben, wird sich der erste Schwerpunkt dieser Arbeit den EU-internen Maßnahmen zur Terrorbekämpfung zuwenden, um einen Einblick in das Geflecht von Verordnungen, Gesetzen und Institutionen zu erreichen, die bei EU-Kritikern regelmäßig zu Ängsten vor der Entstehung eines allüberwachenden Big Brothers führen. Gleichermaßen wie sich die externe Terrorbekämpfung der EU an einem Scheidepunkt der Doktrinen befindet, stehen sich auch im Inneren der Staatengemeinschaft zwei Prinzipien gegenüber, deren gleichzeitige Unvereinbarkeit in unserem Kontext offen zutage tritt: Freiheit und Sicherheit. Das Lockesche Staatsverständnis, das - einfach skizziert - die Freiheit des Einzelnen vor dem Staat zu schützen sucht, sieht sich durch den Anti-Terrorkampf einem staatlichen Sicherheitsbedürfnis à la Thomas Hobbes ausgeliefert, durch dessen Auswüchse sich der Staatsbürger einer ständigen Überwachung oder zumindest einem andauerndem Verdachtsmoment ausgeliefert sieht. Dies vorangestellt, werden die folgenden Kapitel einen weitgehend deskriptiven Charakter haben, eine Bewertung soll, außer in den Schlussbetrachtungen, dem Leser vorbehalten bleiben. Während die USA der Bedrohung durch den Terror mittels der neuen BushDoktrin zu begegnen versuchten, setzte die Europäische Union, auch bedingt durch eine gewisse Handlungsunfähigkeit im Rahmen der gemeinsamen Sicherheitspolitik, verstärkt auf Maßnahmen der Friedenssicherung und Konfliktprävention, um dem internationalen Terrorismus die Kampf-, Rückzugs- und Rekrutierungsorte zu nehmen.2 Dass sich dabei die Strategien der EU und der USA zum Teil widersprachen und die Schwerpunktsetzung auf eine der Handlungsmöglichkeiten bei gleichzeitiger Ignorierung der jeweils anderen unzweckmäßig und vor allem nicht zielführend war, mussten beide Handlungsträger erst schmerzlich lernen, meist unter dem Eindruck hoher Zahlen an gefallenen Soldaten und ziviler Opfer. Tatsächlich scheint nur eine Kombination aus Friedenssicherung bzw. Konfliktprävention und der Option, im begründeten Zweifel oder in Krisensituationen auch massiv militärisch vorgehen zu können, eine Lösung darzustellen. Da-

1

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Als Beispiel sei auf die Ergebnisse einer Umfrage zur gemeinsamen Agrarpolitik der EU hingewiesen, vgl. Pankratius 2010: Umfrage zur EU-Agrarpolitik zeigt Unwissenheit des EU-Bürgers. Vgl. Hübner 2010, S. 91f.

Massnahmen zur Terrorismusbekämpfung durch die Europäische Union

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her wird der zweite Schwerpunkt dieses Aufsatzes darin liegen, die Fähigkeiten und Möglichkeiten der EU zur externen Terrorbekämpfung näher zu beleuchten.

2. Die Terrorismusdefinition der EU Der Versuch, das Phänomen des Terrorismus mit einer neutralen und universell akzeptablen juristischen Definition zu versehen, sieht sich in der politischen Realität mit großen Hindernissen konfrontiert. Dies liegt ursächlich zum einen im Bedeutungswandel von Terrorismus als Ausdruck krimineller staatlicher Gewalt (Staatsterrorismus) hin zu illegitimen Gewaltakten nicht- oder substaatlicher Gruppen gegen die Zivilbevölkerung,3 zum anderen in der Frage nach Einordnung in die Kategorien der Kriminalität oder der Kriegshandlungen begründet.4 Der Eindruck, dass es sich bei „Terrorismus“ um einen „wertgeladenen Begriff“5 handelt, wird vor allem durch das Festhalten großer Mächte, namentlich der USA, am Deutungs- und Bestimmungsmonopol hinsichtlich der Einordnung des Handelns internationaler Akteure und die damit einhergehenden Instrumentalisierung des Terrorismusbegriffes im Dienste einer Feindbestimmung weiter bestätigt.6 Schien es bei den Verhandlungen zu einer möglichen UN-Terrorismuskonvention im Jahre 2001 zwischenzeitlich so, als könnte das Definitionsproblem durch die tatbestandliche Bestimmung von terroristischen Handlungen umgangen werden, so scheiterte die Konvention schließlich dennoch an den politischen Rivalitäten in der Frage nach der Legitimität von Kämpfen gegen Fremdherrschaft.7 Bis heute bleibt die Aufgabe einer völkerrechtlich verbindlichen Definition des Terrorismus ungelöst; die Anti-Terrorismus-Strategie vom 8. September 20068 und die Weltweite Strategie der Vereinten Nationen zur Bekämpfung des Terrorismus vom 15. September 20089 haben in ihrer definitorischen Relevanz, ungeachtet der Praxiswirkung von einschlägigen UN-Resolutionen zur Stilllegung der Finanzierungsquellen des internationalen Terrorismus und Einfrierung der Vermögen von an terroristischen Handlungen beteiligten Personen,10 eher den Charakter einvernehmlicher rhetorischer Verurteilungen. Die Formulierung eines Tatbestandes terroristischer Handlungen ist aber nichtsdestoweniger als entscheidende Vorarbeit für die entsprechende rechtliche Umsetzung in der Europäischen Union anzusehen, in der wesentliche Elemente der Tatbestandsdefinition des Konventionsentwurfs aufgegriffen und erweitert wurden. Die nach dem Rahmenbeschluss des Rates zur Terrorismusbekämpfung

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Vgl. Hoffmann 2007, S. 23-50. Vgl. Daase/ Spencer 2009, S. 385. Krumwiede 2005, S. 32. Vgl. Friedrichs 2006, S. 70–71, 87–91. Vgl. Wiesbrock 2002, S. 72f. UN-Resolution 60/288 vom 8. September 2006. UN-Resolution 60/272 vom 15. September 2008. Vgl. Resolution 1373 des UN-Sicherheitsrates vom 28. September 2001.

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vom 13. Juni 200211 (Art. 1 Abs.1 und Art. 2 Abs. 1) von den Mitgliedsstaaten als „terroristische Straftaten“ zu verfolgenden Handlungen wurden schon fast wortgleich im Gemeinsamen Standpunkt des Rates über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus vom 27. Dezember 200112 zusammengefasst: „Im Sinne dieses Gemeinsamen Standpunktes bezeichnet der Ausdruck terroristische Handlung eine der nachstehend aufgeführten vorsätzlichen Handlungen, die durch die Art oder durch ihren Kontext ein Land oder eine internationale Organisation ernsthaft schädigen kann und im innerstaatlichen Recht als Straftat definiert ist, wenn sie mit dem Ziel begangen wird, die Bevölkerung auf schwerwiegende Weise einzuschüchtern oder eine Regierung oder eine internationale Organisation unberechtigterweise zu einem Tun oder Unterlassen zu zwingen oder die politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen eines Landes oder einer internationalen Organisation ernsthaft zu destabilisieren oder zu zerstören.“

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e) f)

g) h) i) j) k)

Anschläge auf das Leben einer Person, die zum Tode führen können; Anschläge auf die körperliche Unversehrtheit einer Person; Entführung oder Geiselnahme; weit reichende Zerstörungen an einer Regierungseinrichtung, einem Verkehrssystem, einer Infrastruktur, einschließlich eines Informatiksystems, einer festen Plattform, die sich auf dem Festlandsockel befindet, einem allgemein zugänglichen Ort oder einem Privateigentum, die Menschenleben gefährden oder zu erheblichen wirtschaftliche Verlusten führen können; Kapern von Luft- und Wasserfahrzeugen oder von anderen öffentlichen Verkehrsmitteln oder Güterverkehrsmitteln; Herstellung, Besitz, Erwerb, Beförderung oder Bereitstellung oder Verwendung von Schusswaffen, Sprengstoffen, Kernwaffen, biologischen und chemischen Waffen sowie die Forschung und Entwicklung in Bezug auf biologische und chemische Waffen; Freisetzung gefährlicher Stoffe oder Herbeiführen eines Brandes, einer Explosion oder einer Überschwemmung, wenn dadurch das Leben von Menschen in Gefahr gebracht wird; Manipulation oder Störung der Versorgung mit Wasser, Strom oder anderen lebenswichtigen natürlichen Ressourcen, wenn dadurch das Leben von Menschen in Gefahr gebracht wird; Drohung mit der Begehung einer unter den Buchstaben a) bis h) genannten Straftaten; Anführen einer terroristischen Vereinigung; Beteiligung an den Aktivitäten einer terroristischen Vereinigung einschließlich durch Bereitstellung von Informationen oder materiellen Mitteln oder durch jegliche Art der Finanzierung ihrer Aktivitäten in dem

11 Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 zur Terrorismusbekämpfung, ABl. EG Nr. L 164, S. 3–7. 12 Gemeinsamer Standpunkt des Rates vom 27. Dezember 2001 über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus, ABl. EG Nr. L 344, S. 93–97.

Massnahmen zur Terrorismusbekämpfung durch die Europäische Union

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Wissen, dass diese Beteiligung zu den kriminellen Aktivitäten der Gruppe beiträgt.“ Eine „terroristische Vereinigung“ im Sinne dieser Definition ist der „auf Dauer angelegte Zusammenschluss von mehr als zwei Personen, die in Verabredung handeln, um terroristische Handlungen zu begehen“.13 Damit können die Mitgliedsstaaten und Organe sowie alle anderen relevanten Akteure innerhalb der Europäischen Union zumindest bei der EU-internen Kooperation in der Terrorismusbekämpfung auf eine einheitliche Begriffsbestimmung mit Rechtsqualität bauen, was eine notwendige Bedingung für die durch nationale und unionsrechtliche Behörden wahrgenommenen Aufgaben darstellt. In den Außenbeziehungen hingegen müssen weiterhin aus verschiedenen politischen Interessen resultierende unterschiedliche Vorstellungen der internationalen Partner darüber berücksichtigt werden, was unter Terrorismus einerseits und unter legitimen Maßnahmen zu seiner Bekämpfung andererseits zu verstehen ist.

3. Terrorismusbekämpfung als Aufgabe der gemeinsamen Innen- und Justizpolitik Wie schon aus dem straftatbestandlichen Zugang zum Phänomen Terrorismus ersichtlich wird, versteht sich die Terrorismusbekämpfung der Europäischen Union als Verbrechensprävention, -bekämpfung und -verfolgung und steht in engem Zusammenhang mit der Bekämpfung des organisierten Verbrechens, unter welchen sich der Terrorismus, seine politischen Implikationen außen vor, auch kriminalistisch subsumieren lässt. Interdependenzen zwischen politisch motivierten terroristischen Akten oder Planungen und der vorrangig wirtschaftlich orientierten organisierten Kriminalität bestehen schon alleine aufgrund der Finanzierungsnotwendigkeit terroristischer Vereinigungen.14 Damit liegen die unionsrechtlichen Ursprünge der Terrorbekämpfung vorwiegend in der seit dem Vertrag von Maastricht 1992 als ehemalige intergouvernementale „Dritte Säule“ der EU zusammengefassten polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit. Mit dem Vertrag von Amsterdam wurden im Jahre 1997 die zusammengefassten Themenfelder der Dritten Säule im Konzept des „Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ als eines der übergeordneten Ziele der EU deklariert. Darüber hinaus gingen die justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen und die flankierenden Maßnahmen zum freien Personenverkehr, d.h. Maßnahmen zur Vereinheitlichung von Asyl-, Flüchtlings-, Visa- und Zuwanderungspolitik, vom intergouvernementalen zum supranationalen Bereich des Gemeinschaftsrechts über, in dem keine einstimmigen Entscheidungen der Mitgliedsstaaten zur Schaffung von bindenden Regelungen erforderlich sind. Seit dem Inkrafttreten des 13 Gemeinsamer Standpunkt des Rates vom 27. Dezember 2001 über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus, ABl. EG Nr. L 344, S. 93–97. 14 Vgl. Hübner 2010, S. 28–30.

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Vertrags von Lissabon am 01. Dezember 2009 und der damit einhergehenden Auflösung der Säulenstruktur werden nun auch Beschlüsse über die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen nun im sogenannten ordentlichen Gesetzgebungsverfahren gefasst, d.h. mit qualifizierter Mehrheit des Europäischen Rates und der Notwendigkeit von Zustimmung seitens des Europäischen Parlaments. Ausgenommen von den bindenden Beschlüssen bezüglich justizieller und innerer Angelegenheiten bleiben aufgrund von entsprechenden Zusatzprotokollen die Mitgliedsstaaten Dänemark, Großbritannien und Irland, die sich zur Wahrung ihrer Souveränität in den genannten Bereichen generell nur begrenzt engagieren. Um einen Überblick über die Vielfalt an Vorgängen und Termini in der Geschichte und Gegenwart der internen EU-Terrorismusbekämpfung zu schaffen, wird im Folgenden eine Darstellung über die vorangegangenen und aktuellen Entwicklungen gegeben. In weiten Teilen entsprechen diese dabei dem allgemeinen Fortschritt im gemeinsamen Politikbereich Justiz und Inneres. Danach folgt eine kurze Aufführung der relevanten Akteure auf EU-Ebene.

4. Anfänge der EU-internen Terrorismusbekämpfung Schon vor Gründung der Europäischen Union, also noch zu Zeiten der drei Europäischen Gemeinschaften (EURATOM, EGKS und EWG), sahen die Mitglieder der EG unter dem Eindruck der damaligen terroristischen Bewegungen im In- und Ausland, insbesondere der RAF in Deutschland, und des erlebten staatlichen Fähigkeitenmangels im Umgang mit diesen die Notwendigkeit eines gemeinsamen Gremiums für die Zusammenarbeit in Fragen der inneren Sicherheit. Auf Beschluss des Europäischen Rates traten die Innen- und Justizminister der neun damaligen Mitgliedsstaaten am 29. Juni 1976 zum ersten Mal in der TREVI (Terrorisme, Radicalisme, Extremisme, Violence International) zusammen. Die TREVI-Gruppe war keine Institution der EG, sondern vor allem auf der Arbeitsebene und insbesondere in der Arbeitsgruppe für Terrorismusbekämpfung eine „Koordinierungs- und Planungsinstanz für die polizeiliche und geheimdienstliche Zusammenarbeit“15 unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit. Das Schengener Übereinkommen von 1985 zwischen Belgien, Deutschland, Frankreich, Luxemburg und den Niederlanden brachte in Verbindung mit dem Schengener Durchführungsübereinkommen von 1990 (heute zusammen mit Beitrittsübereinkommen und Durchführungsbestimmungen zum Schengen-Aquis oder auch Schengen-Besitzstand zusammengefasst)16 den Wegfall der Grenzkontrollen, zunächst zwischen den fünf Unterzeichnerstaaten, wodurch eine weiterführende Zusammenarbeit in Sachen Kriminalitätsbekämpfung zur zwingenden Notwendigkeit wurde. Als Mittel dazu wurde das Schengener Informationssystem 15 Vgl. gegenüber den hier aufgezeigten Entwicklungen kritisch-ablehnenden Diederichs 2010. 16 Schengen-Besitzstand gemäß Artikel 1 Absatz 2 des Beschlusses 1999/435/EG des Rates vom 20. Mai 1999, ABl. EG vom 22. September 2000.

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ins Leben gerufen, das als geschlossene Datenbank mit Zugang nur für die mitgliedsstaatlichen Sicherheitsbehörden zur Erfassung von Personen- und Objektdaten für die polizeiliche Fahndung dient. Außerdem befasste sich eine Arbeitsgruppe der TREVI, die auf Beschluss der Ministerkonferenz ins Leben gerufen wurde, mit den durch die Abschaffung der Grenzkontrollen entstehenden Sicherheitsrisiken und Möglichkeiten zu deren Bewältigung. Dennoch blieb die Anti-TerrorKooperation ebenso wie andere Bereiche der innenpolitischen Zusammenarbeit zunächst hauptsächlich auf informellem Niveau bestehen.17 Dabei sollte es aber nicht lange bleiben, denn auch die Kooperation der Mitgliedsstaaten in anderen als den wirtschaftlich relevanten Politikfeldern wurde 1992 mit und nach Gründung der Europäischen Union im Vertrag von Maastricht fortschreitend institutionalisiert. Der Vertrag sah die Schaffung von Europol vor, dem Europäischen Polizeiamt, dessen Gründung 1995 durch das EuropolÜbereinkommen vertraglich konkretisiert wurde. Nach Divergenzen im Ratifikationsprozess, die schließlich durch eine Ausstiegsklausel für Großbritannien gelöst werden konnten, trat das Übereinkommen 1998 in Kraft und Europol konnte im Juli 1999 seine Arbeit vollends aufnehmen. Im Mittelpunkt der Sondersitzung des Europäischen Rates am 15. und 16. Oktober 1999 in Tampere stand die Ausgestaltung des im Vertrag von Amsterdam begründeten Konzepts des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Die Schlussfolgerungen des Rates betonten die Intensivierung der kooperativen Ermittlungsarbeit gegen die grenzüberschreitende Kriminalität als ausdrückliches Ziel der Europäischen Union.18 Explizit wurde neben der Bekämpfung des Drogen- und Menschenhandels auch die Bedeutung der Terrorbekämpfung herausgestellt und dazu die Bildung gemeinsamer Ermittlungsteams, wie der EU-Vertrag sie sowieso schon vorsah, sowie einer operativen Task Force der europäischen Polizeichefs, der Europäischen Polizeiakademie und Eurojusts beschlossen, eines quasi-staatsanwaltschaftlichen Pendants zu Europol mit der Aufgabe, die Arbeit der nationalen Staatsanwaltschaften zu koordinieren und im Europäischen Justiziellen Netz, das seit 1998 zur Unterstützung von Rechtshilfeersuchen besteht und keine Zentralinstitution besitzt, als mögliche Anlaufstelle zu fungieren. Nach Maßgabe des Rates sollte Europol in der weiteren Entwicklung weiterhin die Schlüsselrolle als zentrale Institution zur internationalen Verbrechensbekämpfung auf europäischer Ebene zukommen. Durch einen Beschluss des Rates wurde Europol am 01. Januar 2010 eine unmittelbar in das EU-System eingebundene Agentur.19

17 Vgl. Diederichs 2010. 18 Tampere Europäischer Rat 15. Und 16. Oktober 1999. Schlussfolgerungen des Vorsitzes. 19 Beschluss des Rates vom 6. April 2009 zur Errichtung des Europäischen Polizeiamtes (Europol), ABl. EU Nr. L 121, S. 37–66.

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5. Fortschritte nach dem 11. September 2001 Die Terroranschläge vom 11. September 2001 stellen insofern eine Zäsur in der europäischen Terrorismusbekämpfung dar, dass dieser von da an, aufbauend auf den bisherigen Entwicklungen und Beschlüssen, eine erheblich höhere Priorität im Gesamtkonzept der Verbrechensbekämpfung zugestanden wurde. Außerdem nahmen die Bemühungen um tiefergehende Zusammenarbeit, insbesondere mit den USA, aber auch mit anderen Drittländern und vor allem EU-intern, deutlich Fahrt auf. Als bemerkenswert schnelle Reaktion auf die nun deutlich zutage getretene Verwundbarkeit auch der europäischen Staaten gegenüber Terrorakten verabschiedete der Europäischen Rat bereits am 21. September 2001 den ersten Aktionsplan zur Terrorismusbekämpfung,20 der die Leitlinien der zukünftigen EU-Politik in der Bekämpfung des Terrorismus festhielt und in den Folgejahren regelmäßig überarbeitet und um weitere Maßnahmen ergänzt wurde. Als dringendstes Vorhaben lag die Trennung der terroristischen Vereinigungen und verdächtigen Personen von ihren Vermögen und Einkünften an, um so die Finanzierungsmöglichkeiten der Terroristen so weit wie möglich einzuschränken. Im Oktober 2001 erweiterte der Rat der Finanzminister das Tatbestandsspektrum, in dem die Europäische Geldwäscherichtlinie zur Anwendung gelangte, vom Drogenhandel zum gesamten Bereich organisierter Kriminalität, sodass die Vermögenswerte von verdächtigen Organisationen und Personen unmittelbar eingefroren werden konnten.21 Am 27. Dezember 2001 folgte, neben dem schon weiter oben erwähnten Gemeinsamen Standpunkt über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus der ähnlich lautende Gemeinsame Standpunkt zur Bekämpfung des Terrorismus,22 der zusammen mit den einschlägigen Normen des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) und der UN-Resolution 1373 als Grundlage für eine EG-Verordnung diente, durch welche die Mitgliedsstaaten verpflichtet wurden, auf nationaler Ebene sämtliche Maßnahmen zur Austrocknung der dem Terrorismus dienenden Finanzquellen umzusetzen und darüber hinaus möglichst schnell sämtliche internationalen Übereinkünfte zur Bekämpfung des Terrorismus umzusetzen.23 Ferner kam es am 11. Dezember 2001,24 nachdem entsprechende Verhandlungen zunächst aufgrund der Ablehnung einiger Punkte durch die italienische Regierung zu scheitern drohten, schließlich zu einer Einigung über den Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl und für die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedsstaaten. Durch den am 13. Juni 2002 final beschlossenen Europäi20 Außerordentliche Tagung des Europäischen Rates am 21. September 2001, Schlussfolgerungen und Aktionsplan, SN 140/01. 21 Vgl. Reckmann 2004, S. 49. 22 Gemeinsamer Standpunkt des Rates vom 27. Dezember 2001 über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus, ABl. EG Nr. L 344, S. 93–96. 23 Vgl. Reckmann 2004, S. 47f.; Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 des Rates vom 27. Dezember 2001 über spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus, ABl. EG Nr. L 344 S. 70–75. 24 Vgl. Reckmann 2004, S. 47 FN 15.

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schen Haftbefehl25 können Strafverdächtige nunmehr ohne diplomatische Verfahren und unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit den Verfahren der Justizbehörden eines EU-Mitglieds überantwortet werden, wobei der Haftbefehl, bei bestimmten Vorbehalten, in jedem Mitgliedsstaat zu vollstrecken ist.26 Eine weitere Maßnahme des Aktionsplans war die rasche Errichtung des in Tampere grundsätzlich vereinbarten Eurojust, das seine Arbeit bald nach dem Gründungsbeschluss vom 28. Februar 200227 aufnehmen konnte und seitdem in ständigem Wachstum begriffen ist. Am 13. Juni 2002 erfolgte der schon im Kapitel zur EU-Definition des Terrorismus angesprochene Rahmenbeschluss zur Terrorismusbekämpfung, dessen Umsetzung in den Mitgliedsstaaten in den Jahren 2004 und 2007 von der Kommission evaluiert wurde, wobei immer noch Defizite in der Umsetzung in nationales Recht festgestellt wurden.28

6. Aktuelle Entwicklungen – Vom Haager zum Stockholmer Programm Die Madrider Zuganschläge vom 11. März 2004 verdeutlichten erneut das Ausmaß der Bedrohung und der Verwundbarkeit durch terroristische Akte auf europäischem Boden. Die direkte Reaktion des Europäischen Rates bestand in der Gründung des Amtes des Koordinators für die Terrorismusbekämpfung,29 der sowohl für die generelle Überwachung und Koordination aller entsprechenden EUMaßnahmen als auch für die Kommunikation der EU-Strategie zur Terrorbekämpfung nach innen und gegenüber anderen Staaten verantwortlich ist. In der Praxis sieht sich der Koordinator aber einer Vielzahl an beteiligten Akteuren gegenüberstellt, die zum Teil kein struktureller Bestandteil der EU sind, was die Koordination zur Vermeidung von doppelten Strukturen und Effizienzverlusten zu einer immensen Herausforderung macht.30 Im Haager Programm, das als Nachfolgeprogramm zu den in Tampere ergangenen Beschlüssen angenommen wurde, einigte sich der Europäische Rat am 04. und. 05. November 2004 auf einen fünfjährigen Plan zur Intensivierung der Zu-

25 Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, ABl. EG Nr. L 190. 26 Zu Entwicklung, Bedeutung und Problemen des Europäischen Haftbefehls siehe Naert/ Wouters 2004: S. 911–925; Zum Stand der Implementierung in den EU-Mitgliedstaaten siehe Fichera 2009, S. 70–97. 27 Beschluss des Rates vom 28. Februar 2002 über die Errichtung von Eurojust zur Verstärkung der Bekämpfung der schweren Kriminalität, ABl. EG Nr. L 63. Der Beschluss wurde 2003 leicht und 2009 in erheblichem Maße modifiziert, siehe ABl. EU Nr.254 S. 44f. und ABl. EU Nr. L 138, S. 14–32. 28 Vgl. Bericht der Kommission auf der Grundlage von Artikel 11 des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 zur Terrorismusbekämpfung, KOM(2004)409 endgültig; Bericht der Kommission auf der Grundlage von Artikel 11 des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 zur Terrorismusbekämpfung, KOM(2007) 681 endgültig. 29 Declaration on Combating Terrorism vom 25. März 2004. 30 Vgl. den Boer/Hillebrand/Nölke 2008, S.101–124.

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sammenarbeit im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.31 Dabei nahm innerhalb der zehn ermittelten Prioritätsfelder die Terrorismusbekämpfung den zweiten Platz nach der Stärkung der Grundrechte und der Unionsbürgerschaft ein, was deren herausragende Stellung in der Verbrechensbekämpfung der Europäischen Union unterstreicht. Unter Leitung der Kommission sind zur praktischen Umsetzung des Programms mehrere Teilprogramme entwickelt worden, die den Schutz kritischer Infrastrukturen auf nationaler und EU-Ebene durch Informationsaustausch, Gefahrenanalyse und Warnsysteme,32 ein Projekt zur Hilfeleistung für die Opfer von Terroranschlägen und in besonderem Maße die weitere Bekämpfung der Terrorismusfinanzierung vor allem durch die Bildung nationaler Koordinierungsstrukturen zum Inhalt hatten.33 Der Aktionsplan zur Terrorismusbekämpfung vom 30. November 200534 enthält als Umsetzung des Haager Programms erstmals ein strategisches Gesamtkonzept, das auf vier Strängen beruht:35 -

Prävention: Hier soll der Terrorismus gewissermaßen an der Wurzel gepackt und sowohl die Radikalisierung der relevanten Bevölkerungsgruppen als auch die Rekrutierung von Terroristen in typischen sozialen Umfeldern wie Gefängnissen oder religiösen Treffpunkten bekämpft werden. Auf dem Gebiet der EU-Mitgliedsstaaten sollen Möglichkeiten zur Früherkennung von Verhaltensauffälligkeiten erarbeitet werden, in der Selbstdarstellung nach außen steht die Förderung des interkulturellen Dialogs, die sachliche Darstellung der Beweggründe der EU-Politik und die Förderung von „Good Governance“-Programmen sowie die Hilfsprogramme zu Fortschritten im Bildungswesen und im wirtschaftlichen Sektor im Mittelpunkt.

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Schutz: Mithilfe der 2004 errichteten Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen (Frontex),36 dem gerade im Aufbau befindlichen Visainformationssystem (VIS)37 und dem voraus-

31 Vgl. Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament vom 10. Mai 2005 – Das Haager Programm: Zehn Prioritäten für die nächsten fünf Jahre. Die Partnerschaft zur Erneuerung Europas im Bereich der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, ABl. EU Nr. C 236. 32 Vgl. Mitteilung der Kommission vom 12. Dezember 2006 über ein Europäisches Programm für den Schutz kritischer Infrastrukturen, ABl. EU Nr. C 126. 33 Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss vom 28. November 2005 - Prävention und Bekämpfung der Terrorismusfinanzierung durch bessere Koordinierung auf nationaler Ebene und größere Transparenz des gemeinnützigen Sektors, ABl. EU Nr. C 122. 34 The European Union Counter-Terrorism Strategy vom 30. November 2005. 35 Council of the European Union, 30 November 2005: The European Union Counter-Terrorism Strategy. 36 Verordnung des Rates vom 26. Oktober 2004 zur Errichtung von Frontex, ABl. L 349 vom 25.11.2004, S. 1–11. 37 Council Decision of 8 June 2004 establishing the Visa Information System, ABl. EU Nr. L 213 S. 5-7; Entscheidung der Kommission vom 17. Juni 2008 über den physischen Aufbau und die Anforderungen für die nationalen Schnittstellen und die Infrastruktur für die Kom-

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sichtlich 2013 in Betrieb gehenden und das bisherige System ablösenden Schengener Informationssystem II (SIS II) wird die Erfassung von Terrorverdächtigen im binnengrenzkontrollfreien EU-Raum ermöglicht. Die Sicherheit von Verkehrsmitteln und kritischen Infrastrukturkomponenten und -knotenpunkten wie Straßen, Zügen, Häfen und Flughäfen soll erhöht und auf Schwachstellen und Verwundbarkeit untersucht werden. Als wesentliches Mittel zur Verhinderung von Anschlägen verheerenden Ausmaßes sind die Mitgliedsstaaten dazu aufgerufen, ihre Bemühungen zur Verhinderung der Proliferation von chemischem, biologischem und radioaktivem Material zu intensivieren. -

Verfolgung: Um den Zugang zu waffenfähigem Material zu erschweren, bestehende Terroristennetzwerke zu zerschlagen und deren Neuentstehung zu verhindern besteht die Notwendigkeit zur Überwachung und gegebenenfalls zur Einfrierung der Finanzierungsquellen und die rechtzeitige Erkennung und Unterbindung der terroristischen Kommunikationswege. Als Mittel dazu bedient sich die EU der grenzüberschreitenden Verfolgung mutmaßlicher Terroristen, die durch den Europäischen Haftbefehl, die Europäische Beweisanordnung,38 Europol und die Gemeinsamen Ermittlungsteams ermöglicht wird. Eine Verbindungsrolle zwischen EU-interner Terroristenverfolgung und der Kooperation mit Drittländern soll dabei den Analysen des Gemeinsamen Situationszentrums (SitCen) zukommen.

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Reaktion: Da trotz aller Bemühung zur Vorbeugung ein Terroranschlag niemals vollständig auszuschließen ist, sind Katastrophenpläne ganz ähnlich denen unabdingbar, die auch im Falle von Naturkatastrophen oder Großunfällen zum Einsatz kommen. Im Fall der Fälle müssen sämtliche zur Verfügung stehenden Zivilschutzmaßnahmen in Anspruch genommen werden. Dazu wird eine Datenbank über die mobilisierbaren Ressourcen, Fähigkeiten und Strukturen erstellt. Bei einem grenzüberschreitenden Zwischenfall sollen sämtliche für Polizei, Rettungs- und technische Hilfsdienste relevanten Daten unverzüglich ausgetauscht und eine sachdienliche Koordination der Medien erreicht werden. Neben Hilfsmaßnahmen für die Opfer und ihre Familien sollen im Anschlagsfall auch EU-Bürger in Drittländern und zivilem und militärischem Personal in EUKrisenmanagementoperationen, soweit sie von den Ereignissen betroffen sind, Unterstützung zuteil werden.

munikation zwischen dem zentralen VIS und den nationalen Schnittstellen in der Entwicklungsphase , ABl. EU Nr. L 194, S. 3-8; Verordnung (EG) des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Juli 2008 über das Visa-Informationssystem (VIS) und den Datenaustausch zwischen den Mitgliedstaaten über Visa für einen kurzfristigen Aufenthalt, ABl. EU Nr. 218, S 60–81. 38 Rahmenbeschluss des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Europäische Beweisanordnung zur Erlangung von Sachen, Schriftstücken und Daten zur Verwendung in Strafsachen, ABl. EU Nr. 350, S. 72–92.

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Diese vier übergeordneten Bereiche der Terrorbekämpfung werden jeweils ergänzt durch die Stärkung der Fähigkeiten aller Mitgliedsstaaten auf nationaler Ebene, die stetig fortzuentwickelnde Kooperation zwischen den nationalen Behörden der Länder bei gleichzeitiger Weiterentwicklung und Einbindung der EUSicherheitsinstitutionen und schließlich der Partnerschaft mit den Vereinten Nationen, anderen wichtigen internationalen Organisationen und denjenigen Drittländern, denen eine Schlüsselrolle im Kampf gegen den internationalen Terrorismus zugeschrieben wird. Zur Realisierung der Anti-Terror-Strategie der Europäischen Union findet unter dauernder Leitung der Kommission eine ständige Weiterentwicklung des Aktionsplanes im Detail statt, die durch den Rat im halbjährlichen Rhythmus geprüft wird. Zunächst außerhalb des EU-Systems wurde am 27. Mai 2005 zwischen Belgien, Deutschland, Spanien, Frankreich, Luxemburg, den Niederlanden und Österreich der stark auf die Ausweitung des Schengener Besitzstandes bezogene Vertrag von Prüm39 geschlossen, dem mittlerweile zehn EU-Mitgliedsstaaten und Norwegen angehören. Neben der Ermöglichung des kontrollierten Direktzugriffs von Polizei- und Strafverfolgungsbehörden auf diverse Datenbanken wie DNADateien und Kraftfahrzeug(-halter)register sind in diesem auch Vereinbarungen zur Terrorbekämpfung enthalten. Die Behörden der Vertragsparteien können Personendaten ohne ein Ersuchen des anderen Staates übermitteln, sofern die begründete Annahme einer zu erwartenden terroristischen Handlung durch den Betreffenden besteht. Daneben sollen staatliche Flugsicherheitsbegleiter (sogenannte „Sky Marshals“) kooperativ ausgebildet und eingesetzt werden. Die für die polizeiliche Zusammenarbeit bedeutsame erleichterte Informationsübermittlung konnte am 23. Juni 2008 durch den Rat in EU-Recht überführt werden,40 während die nach Gemeinschaftsrecht zu implementierenden Maßnahmen bis heute Anlass zur Diskussion geben, da Kritiker in der unabhängigen Vertragsschließung mit anschließender Umsetzung in EU-Recht eine Umgehung des rechtmäßigen Weges zu bindenden Vereinbarungen sehen. Bisher verzichtete die Kommission auch auf eine entsprechende Initiative, die für das Vorhaben unumgänglich wäre. Am 11. Dezember 2009 beschloss der Europäische Rat schließlich mit dem Stockholmer Programm41 das Fünfjahres-Nachfolgeprogramm zu Tampere und Den Haag. Zwar fällt dem Terrorismus in den vorrangigen politischen Prioritäten explizit kein eigener Abschnitt mehr zu, er wird dort aber unter dem übergeordneten Schlagwort „Ein Europa, das schützt“ in einem Atemzug mit der organisierten Kriminalität als weiterhin bestehende Herausforderung benannt, der mit einer stärkeren Zusammenarbeit in Strafverfolgung, Grenzmanagement, Katastrophen39 Vertrag über die Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus, der grenzüberschreitenden Kriminalität und der illegalen Migration. 40 Beschluss des Rates vom 23. Juni 2008 über die Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus und der grenzüberschreitenden Kriminalität, ABl. EU Nr. 210, S. 1–11. 41 Das Stockholmer Programm – Ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger.

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schutz und -bewältigung und der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen im Rahmen einer Gesamtstrategie der inneren Sicherheit begegnet werden soll. In Sachen Opferschutz sind Kommission und Mitgliedsstaaten angehalten, Terrorismusopfern größere Unterstützung durch Verbesserung der Rechtslage und Ausnutzung bereits bestehender Hilfsnetzwerke zukommen zu lassen und längerfristig die Möglichkeit eines diesbezüglichen einheitlichen Programms zu prüfen. Insgesamt wird die bisherige Strategie der vier sich ergänzenden Bereiche weiterverfolgt, während insbesondere der Präventionsansatz weiter ausgebaut und das Potential der bereits geschaffenen Institutionen besser ausgenutzt werden soll. Ein weiterer Aspekt des umfassenden Anti-Terror-Ansatzes ist die angestrebte intensivierte Kooperation mit Drittstaaten, deren Entwicklung im Laufe des letzen Jahrzehnts im Folgenden umrissen wird.

7. Externe Maßnahmen - Die GASP als Mittel der Terrorismusbekämpfung 7.1. Diplomatisch-außenpolitische Ansätze Wie bereits mehrfach angesprochen stellte der Sondergipfel des Europäischen Rates am 21. September, nur 10 Tage nach den verheerenden Anschlägen, den Ausgangspunkt einer koordinierten Gegenstrategie der EU dar. Die Problematik der Terrorbekämpfung wurde zum vorrangigen Ziel der Europäischen Union im Rahmen der „Zweiten Säule“ erhoben, der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik.42 Dadurch erhielt die zweite Säule der Union eine erhebliche Bedeutungssteigerung. Der Schwerpunkt wurde jedoch, wie auch im Aktionsplan nachzulesen, auf die diplomatischen Maßnahmen gelegt.43 Ursache dafür war, dass die Umstrukturierungsmaßnahmen der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP bzw. GSVP)44 zum Zeitpunkt der Anschläge noch keinesfalls weit genug vorangeschritten waren, um effektiv eingesetzt werden zu können. Daher wurde es im Zuge des Kampfeinsatzes um Afghanistan auch den einzelnen Mitgliedsstaaten überlassen, ob und in welcher Form sie den USA Unterstützung zukommen ließen. Diese Thematik wird weiter unten vertieft, weshalb hier vorerst kein weiterer Bezug darauf genommen werden soll. Das vordringlichste Ziel der Europäischen Union bestand in den ersten Wochen darin, den Aufbau einer festen internationalen Koalition gegen den Terror zu forcieren. Die ersten Ankündigungen der US-Administration, man wolle sich nicht an feste Allianzen binden und im Zweifelsfall eher auf Ad hoc-Koalitionen setzen,45 führten bei den europäischen Regierungen und den Vertretern der EU zur 42 Vgl. Reckmann 2004, S. 53. 43 Vgl. Reckmann 2004, S. 42–44; de Vasconcelos 2009. 44 Um Verwirrungen vorzubeugen: Die GASP ist die zweite Säule der EU und besteht auch nach der Auflösung der Säulenstruktur durch den Reformvertrag von Lissabon weiter. Die ESVP bzw. GESVP ist Teil dieser Säule und wurde nach Lissabon in GSVP umbenannt, wobei jedoch bei Abkürzung ESVP immer noch gebräuchlich ist. 45 Vgl. Unterseher 2003, S. 39; Manfrass-Sirjacques 2004, S. 71.

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Angst eines drohenden Bedeutungsverlustes von EU und europäischer Staaten in der NATO und damit eines Handlungsverlustes.46 Daher intensivierte sowohl die EU als Gesamtes als auch ihre Mitgliedsstaaten im Einzelnen das transatlantische Verhältnis,47 worauf in der Folge verschiedene Abkommen, vor allem im Bereich der justiziellen und polizeilichen Zusammenarbeit und des Datenaustausches, verabschiedet wurden. Frühere Bedenken, speziell bezüglich der Todesstrafe als in vielen Bundesstaaten der USA rechtmäßiges Urteil oder des Problems abweichender Datenschutzmaßnahmen, die eine Intensivierung in diesem Bereich erschwert hatten, wurden durch Kompromissklauseln ausgeräumt. In diesem Zusammenhang wurden nationale Bestrebungen häufig in den EU-Rahmen einbettet, um die Möglichkeit auf Umsetzung zu erhöhen und einen einheitlichen Standard zu wahren.48 Wie bereits angesprochen, erhielten die GASP-Instrumente, die mehrheitlich diplomatischer Natur sind,49 eine Bedeutungssteigerung. Sie wurden als Grundlage herangezogen, um langfristige Maßnahmen auf internationaler Ebene zu entwickeln.50 Dazu zählten die bereits angesprochene Anti-Terror-Koalition auf globaler Ebene unter Einbeziehung der Vereinten Nationen, aber auch ein erneuter Dialog mit der islamischen Welt, eine stärkeres Engagement bei der Lösung des Nahost-Konflikts, in dem ein wesentlicher Grund für den islamistischen Terror gesehen wurde, Ausbau und Verstärkung der Euro-Mediterranen Partnerschaft, die als Brückenglied zwischen islamischer und westlicher Welt verstanden wird, das Bestreiten neuer Wege in der EU-Nachbarschaftspolitik sowie eine Intensivierung von Zusammenarbeit und Handelsverbindungen mit den Golf-Staaten in Form von Freihandelsabkommen und spezialisierten Handelsoptionen mit politischen Anforderungen für den Iran, Saudi-Arabien, Indien und Pakistan.51 In Folge dieser Handlungsagenda intensivierten sich die Reiseaktivitäten europäischer Diplomaten in Form der Troika.52 Erstes Ziel stellten dabei die Länder des Nahen Ostens dar, speziell Ägypten, Syrien und Saudi-Arabien sowie Iran und Pakistan, welchen durch ihre Nähe zum Taliban-Regime eine besondere Rolle zukommt. Die EU-Vertreter warben nicht nur für die Unterstützung der globalen Anti-Terror-Koalition, sondern unterstrichen sowohl in Gesprächen als auch mit den Besuchen selbst die Bedeutung, die den muslimischen Ländern bei der Lösung des Terrorproblems zukommen müsse, wodurch die Stellung der EU als in46 Für die NATO kann man sogar von einem Bedeutungsverlust sprechen, da die militärische Unterstützung auf bilateraler Ebene vollzogen wurde und nicht auf multilateraler, wie es bei der NATO der Fall gewesen wäre. Vgl. Hein 2004, S. 161–162, Unterseher 2003, S. 37. 47 Vgl. Knelangen 2004, S. 178. 48 Vgl. Hein 2004, S. 162ff. 49 Vgl. Merkel 2003, S. 41–67; Jaeger/Kempf 2003, S. 82–87. Die Idee, der Ansatz einer zivilgesellschaftlichen Friedensmacht ist die Grundlage für die europäische Friedenssicherungsund Konfliktpräventionspolitik, die sich schließlich in diplomatischen Maßnahmen äußert. Vgl. Hein 2004, S. 157. 50 Vgl. Reckmann 2004, S. 53. 51 Vgl. Reckmann 2004, S. 53–54; Unterseher 2003, S. 35–36; Knelangen 2004, S. 179–180; Hübner 2010, S. 89–90; de Vasconcelos 2009, S. 6. 52 Vgl. Hein 2004, S. 157.

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ternationaler Akteur deutlich gestärkt wurde.53 Gleichzeitig wurden neue Kontaktgespräche hinsichtlich des Nahost-Friedensprozess aufgenommen, um Möglichkeiten und Chancen zu erkunden. Dass der Iran wesentlich verhaltener als die anderen Staaten auf die Offerten des Westens reagierte, überrascht dabei nicht. Die zweite diplomatische Mission führte die europäischen Vertreter in die zentralasiatischen Staaten. Abgesehen davon, dass es sich bei dem Besuch der Nachbarn des ins Visier geratenen Afghanistan auch um einen symbolischen Akt handelte, wurde den Staaten Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan im Rahmen verstärkter Kooperationspolitik technische Hilfe für die Terrorbekämpfung zugesagt.54 Ende November 2001 reisten dann Vertreter der Ratspräsidentschaft, vertreten durch Guy Verhofstadt, sowie Kommissionspräsident Prodi nach Indien und Pakistan. Der konkrete Anlass der Reise kann zwar in dem zum Reisezeitpunkt gestiegenen Risiko der Eskalation des Kaschmir-Konfliktes gesehen werden, welche dementsprechend verhindert werden sollte; die Gelegenheit wurde jedoch auch genutzt, um die Kooperation der beiden Staaten mit der EU und untereinander zu verstärken. In diesem Rahmen wurden an konkrete politische Forderungen gekoppelten Hilfs- und Handelsprogramme angeboten. Hierbei stellt die politische Intervention der EU-Vertreter in die angespannte Lage um die Region Kaschmir ein exemplarisches Beispiel für die Präventions- und Friedenssicherungspolitik der Union dar, sowohl im Sinne einer langfristig angelegten Lösung als auch auf taktischer Ebene mit Blick auf den bevorstehenden Kampf in Afghanistan.55 Das pakistanische Kooperationsabkommen hat jedoch noch eine weitere Bedeutung, die nur begrenzt mit dem Ziel der Konfliktlösung in Beziehung steht. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die angebotenen Unterstützungs- und Handelsoptionen eine Belohnung für die Regierung in Islamabad waren. Immerhin stellte der vollzogene Politikwandel der pakistanischen Führung mit Hinblick auf die im Inneren wirkenden Interessengruppen sowie die ethnischen Verbindungen zu Afghanistan eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die Stabilität des Staates dar, wie die letzten Jahre deutlich bewiesen haben.56 Unterstützung erhielt die diplomatische Offensive der Union durch Repräsentanten der einzelnen Mitgliedsstaaten. In der Vergangenheit wurde eine solche doppelte Diplomatie eher als negativ für das Ansehen und den Vertretungsanspruch der EU im Rahmen der GASP erachtet. Im Zusammenhang mit den Maßnahmen des europäischen Anti-Terror-Aktionsplanes bewirkten die nationalstaatlichen Bemühungen jedoch, dass die Europäische Union und ihre Mitglieder als geschlossen handelnder Akteur aufgefasst wurden und gleichberechtigt neben den USA und Russland standen. Dies gilt in besonderem Maße für die Staaten der arabischen und asiatischen Welt, da der Aktionsplan zu einer einheitlichen Strate53 54 55 56

Vgl. Reckmann 2004, S. 54–55. Vgl. ebd., S. 55. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 60. Es sei hier nur auf die Unruhen und Kontrollverlust der Zentralregierung in den letzten Jahren verwiesen.

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gie in Sachen des Nahostfriedensprozess und der zentralasiatischen Krisenregionen führte.57 Der EU kann somit die erfolgreiche politische Sicherung Zentralasiens zugesprochen werden, was sich in der erfolgreichen Isolierung Afghanistans sowie dem Aufbau einer globalen wenn auch relativ instabilen Koalition58 gegen den Terror ausdrückte. Deutlich wird dies in den Verhandlungen mit dem Iran, zu dem die USA von 1979 bis 2007 keine Beziehung pflegten. Sämtliche Gespräche mit dem als Regionalmacht zu sehenden Staat wurden im Vorfeld des Afghanistankrieges über Brüsseler Vertreter geführt, so dass man von einem relativ ausgeprägten diplomatischen Verhältnis zwischen EU und der islamischen Republik sprechen kann. Ein weiteres Kennzeichen hierfür ist in den 2002 aufgenommenen Verhandlungen zu einem der bereits thematisierten Handels- und Kooperationspakete zu erkennen. Auch hier sind Zusagen Europas an konkrete Verbesserungen im politischen und gesellschaftlichen System gekoppelt. Natürlich wurde auch die heikle Frage nach der Nuklearisierung des Irans thematisiert, was bis jetzt zu keinem verbindlichen Vertragsabschluss führte. Dennoch stellt die Aufnahme direkter Verhandlungen, im Vergleich zum früheren Ansatz des „kritischen Dialoges“,59 einen Schwerpunktwechsel dar und opponierte sogar vollkommen der Haltung des atlantischen Partners, der zum damaligen Zeitpunkt den Iran rhetorisch wie strategisch in der „Achse des Bösen“ sah.60 Die Beispiele Pakistan und Iran sind im Rahmen der diplomatischen Aktivitäten als Sonderfälle zu sehen, da ihnen, bedingt durch ihre Lage und ihren regionalen Einfluss, ein höherer strategischer Wert zugemessen wurde. Es lassen sich aber auch allgemeinere Veränderungen im diplomatischen Verhalten der EU mit Drittstaaten ausmachen. So wurde nicht nur die Beziehung zu den USA ausgebaut, sondern auch der Dialog mit Russland, China und anderen regionalen Ordnungsmächten erweitert.61 Hinzu kam im Verlauf verschiedener Konferenzen und Zusammenkünfte eine verstärkte Zu- bzw. Werbungsarbeit für Gegenmaßnahmen im Rahmen der Vereinten Nationen unter Betonung der gemeinsamen Verantwortung von westlicher und islamischer Welt.62 Als weitere Maßnahme wurde eine Analysegruppe aufgestellt, deren Aufgabe es ist, systematisch das mögliche terroristische Bedrohungspotenzial von Vertragspartnern zu ermitteln. Um potenziell gefährliche oder instabile Drittstaaten zu konditionieren bzw. zu stabilisieren, wurden ab 2001 Verträge mit einer speziellen 57 Vgl. Reckmann 2004, S. 55–56. 58 Die Instabilität drückt sich dadurch aus, dass zwar auch ehemalige Unterstützer des TalibanRegimes wie Saudi-Arabien in der Koalition sind, aber ihr Engagement recht begrenzt ist, so dass nicht nur einmal Zweifel darüber aufkam, wem sie denn ihre Unterstützung eigentlich zukommen ließen. Selbiges gilt für andere terroristische Bewegungen wie Hamas oder Hisbollah, die ganz klar Unterstützung von Staaten erhalten, die sich der Terrorbekämpfung angeschlossen haben. Vgl. Knelangen 2004, S. 179–180. 59 Vgl. Reckmann 2004, S. 60. 60 Vgl. ebd., S. 56–57. 61 Vgl. de Vasconcelos 2009, S. 9, 22. 62 Vgl. Hübner 2010, S. 92.

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„Terrorismusklausel“ erweitert.63 Die Abkommen mit Pakistan, Iran oder Indien sind dafür exemplarisch. Dieser auf das jeweilige Land abgestimmte Vertragszusatz beinhaltet eine verstärkte politische Zusammenarbeit im Sinne einer Demokratisierung von Staatsstrukturen sowie im konkreten Fall auch technische Unterstützung für Terrorbekämpfung. Als wesentliches Druck- und Kontrollmittel dient dabei die Handelskomponente, was letztlich zu einer erheblichen Politisierung der Verträge beiträgt und die bereits angesprochene Erosion der klassischen Trennung von Außen und Innen eines Staates begünstigt.64 Die Ausarbeitung von unterstützenden bzw. konditionierenden Verträgen mit Drittstaaten ist ein klarer Ausdruck des europäischen Primats der Friedenssicherung und Konfliktprävention. Auch in der Anwendung ökonomischer Sanktionsmittel ist die schwerpunktmäßige Gewichtung der außenpolitischen vor den sicherheitspolitischen Maßnahmen der GASP zu erkennen, die jedoch aus der funktionalen Schwäche der GSVP resultiert.65 Bedingt durch eben diesen politischen Schwerpunkt ist die EU zu einer wichtigen Stütze der Vereinten Nationen und deren Anliegen geworden, da sie trotz ihres Status als einer der wenigen internationalen Großakteure nicht mit umfassenden Militärsanktionen drohen kann, zumindest nicht im Verhältnis zu den drei großen Mitgliedern des Sicherheitsrates. Interessant ist dabei, dass konditionierende Verträge, wie sie beschrieben wurden, eine einheitliche außenpolitische Linie benötigen, weshalb sie auch bis 2001 häufig an nationalstaatlichen Interessen scheiterten.66 Es lässt sich feststellen, dass die Intensivierung der außenpolitischen Maßnahmen zu einer Stärkung der EU im internationalen Gefüge geführt hat.67 Zwar hat die Zersplitterung im Vorfeld des Irak-Krieges die nach außen getragene Einheitlichkeit in Frage gestellt und die in Krisenzeiten hochkochende Frage der institutionellen Reform wieder ins Rampenlicht gerückt;68 unabhängig davon änderte dies jedoch nichts an den langfristigen Maßnahmen, wie sie im ständig aktualisierten Aktionsplan vorgesehen waren bzw. sind.

7.2 Militärisch-sicherheitspolitische Ansätze Dass im Rahmen der weltweiten Terrorbekämpfung die zivilen diplomatischen Maßnahmen eine wichtige Rolle spielen und nur durch dauerhafte Friedenssicherung und Konfliktprävention eine langfristige Lösung erreicht werden kann, sollte 63 Die Einführung der Klausel ist allgemein und wird für jeden Drittstaatvertrag ausgearbeitet, also auch für relative ruhige Partner wie Argentinien oder Kanada; die Intention dahinter ist in der Stabilisierung von instabilen Partner zusehen. Vgl. Reckmann 2004, S. 59. 64 Vgl. ebd. 65 Vgl. Hein 2004, S. 158; Knelangen 2004, S. 183, 185. 66 Vgl. Hein 2004, S. 158. 67 Vgl. Knelangen 2004, S. 182. An dieser Stelle sei auf Unterseher 2003: S. 38–40 verwiesen, wo eine entgegengesetzte Interpretation geliefert wird. 68 Vgl. Knelangen 2004, S. 191–200.

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in den Jahren nach 2001 als historisch-politische Lehre klargeworden sein. Dieser Form des Friedenserhalts, der als positiver Frieden bezeichnet wird, steht die klassische negative Friedensdefinition gegenüber, die sich schlicht durch die Abwesenheit von Gewalt bzw. Krieg definiert.69 Wie bereits gezeigt, liegt der Schwerpunkt der EU auf der Errichtung von positivem Frieden. Dabei wird jedoch allzu oft übersehen, dass es in manchen Situationen erforderlich ist, zunächst den negativen Frieden zu etablieren. Dies ist zwar grundsätzlich auch mit diplomatischen Mitteln möglich, erfolgt historisch gesehen aber in den meisten Fällen zwangsweise durch den Einsatz militärischer Zwangsmaßnahmen. In der mehr oder weniger konkreten Bedrohungslage des international agierenden Terrorismus bedeutet dies, die Rückzugs- und Rekrutierungsorte der Terroristen, bei denen es sich mehrheitlich um durch Krisen und Kriege erschütterte Staaten handelt, zu befrieden. Es stellt sich daher die Frage, wie weit bzw. ob die EU in der Lage ist, eine solche Art der Terrorbekämpfung zu übernehmen. Dazu soll zunächst ein kurzer Überblick über die Entwicklung der europäischen Sicherheitsarchitektur gegeben werden. Von „Sicherheitsarchitektur“ zu sprechen kommt dabei allerdings einem Euphemismus zumindest sehr nahe,70 denn der Begriff Architektur impliziert eine geplante und funktionale Entwicklung, was in der EU nicht der Realität entspricht. Vielmehr handelt es sich um eine nach Bedarf gewachsene bzw. angepasste Vertragsmenge, die ihre Anfänge im Pakt von Dünkirchen (1947) und dem Brüsseler Pakt (1948) hat. Sie wurde dann im Zuge des Kalten Krieges zur Westeuropäischen Union (1954) ausgebaut, die jedoch im Laufe der Entwicklung in den Schatten der NATO abgedrängt wurde. Der Vertrag von Maastricht (1993) stellte das bis dahin umfangreichste Vertragswerk dar, das mit seiner „Drei-Säulen-Struktur“ wesentlich zur grundsätzlichen Gestalt und der Ausdifferenzierung der Europäischen Union beitrug. Mit der „Zweiten Säule“, der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), wurde neben der koordinierten Außenpolitik schließlich auch die konkrete Vorstellung einer europäischen Verteidigungspolitik erneut aufgegriffen.71 Der Vertrag von Maastricht geht jedoch noch weiter, da er im Wesentlichen festlegt, wer im militärischen Ernstfall für die EU tätig wird. Hierbei wurde der Vorzug der WEU und nicht etwa der NATO oder anderen sicherheitspolitischen Institutionen gegeben. Der Grund ist wohl vor allem im europäischen Streben nach einer eigenständigen sicherheitspolitischen Position und einer damit verbundenen Identität zu sehen. Die WEU war jedoch von ihrer Konstruktion her ein reines Verteidigungsbündnis und angesichts der veränderten weltpolitischen Situ-

69 Das Konzept des positiven Friedens geht auf Johan Galtung zurück, der es 1971 entwickelte. Vgl. Galtung 2000. 70 Vgl. Hummer 2005, S. 129; Unterseher 2003, S. 37. 71 Die detailgenaue Entwicklung der Vertragssysteme soll hier nicht thematisiert werden, da es den Rahmen des Aufsatzes sprengen würde und die zu diesem Thema vorhandene Literatur bei weitem umfangreich genug ist. An diesem Punkt sei noch auf die KSZE 1975 und die OSZE 1992 hingewiesen, die ebenfalls Einfluss auf die europäische Politik hatten. Vgl. Hummer 2005, S. 129ff.; Beheme/Baddenhausen 2007, S. 1–3.

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ation,72 die nun auch über die Grenzen der nationalen bzw. kollektiven Verteidigung hinausreichende Operationen erforderte, war eine Neudefinition ihres Aufgabenbereiches notwendig. Die Anpassung des Aufgabenspektrums erfolgte bereits vier Monate nach der Unterzeichnung des Maastrichter Abkommens auf dem Petersberg bei Bonn, weshalb der neue Einsatzkatalog auch als Petersberg-Aufgaben bezeichnet wurde. Diese umfassen neben der gemeinsamen Verteidigung, humanitären Aufgaben, Rettungseinsätzen und friedenserhaltenden Maßnahmen auch die Möglichkeit, Kampfeinsätze zur Friedensschaffung durchzuführen.73 Hieraus resultieren drei Fragen, die kurz angeschnitten werden sollen. Erstens: Kann ein Verteidigungsbündnis sich selbst überhaupt solche Befugnisse erteilen und somit das eigene Einsatzgebiet beliebig vergrößern? Zweitens: Welche rechtlichen Grundlagen werden zum Einsatz dieser Instrumente benötigt? Schließlich: Wird es zu einer unterschiedlichen Gewichtung zwischen WEU/EU-Mitgliedern und NichtWEU/EU-Mitgliedern kommen? Zur ersten Frage war bereits in der ursprünglichen Fassung der WEU von 1954 die Möglichkeit gegeben, zur Sicherung von Frieden und wirtschaftlicher Stabilität gegen Bedrohungen außerhalb der geographischen Grenzen Europas vorgehen zu können; die Petersberg-Aufgaben wurden als Konkretisierung dieser Möglichkeit aufgefasst. Durch den starken Integrations- und Bindungswillen der europäischen Staaten zu den Vereinten Nationen war bereits in der 1954er Fassung eine Autorisierung durch den Sicherheitsrat nötig, dies gilt in unveränderter Weise auch für das erweiterte Aufgabenspektrum.74 Besonders diese zweite Problemstellung ist für die noch zu behandelnde Thematik der Terrorbekämpfung wichtig, denn auch hier kommt der zivilisatorische Charakter der EU-Anti-TerrorMaßnahmen zur Geltung, indem man sich an die Beschlüsse der Vereinten Nationen bindet. Die dritte Fragestellung und die damit verbundenen Problemszenarien führten zu einem weiteren Entwicklungsschritt, in dessen Folge die WEU in die EU integriert wurde.75 Der Anstoß dazu wurde 1998 vom damaligen britischen Premierminister Tony Blair gemacht, der die Aufstellung eines europäischen Truppenverbandes vorschlug, um im Rahmen der Petersberg-Aufgaben Handlungsfähigkeit zu erhalten. Über verschiedene Vorverhandlungen führte dies zur Ausformulierung der „Gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ (GESVP) auf dem Treffen des Europäischen Rates 1999 in Köln als nächstem Schritt der GASP. Besonderes Augenmerk wurde darauf gelegt, dass auch die neutralen und bündnisfreien Mitglieder der Union sich in diesem Bereich engagieren konnten. Die Integration erfolgte dabei nicht nur auf dem Papier, sondern in Form der Übertragung von Kompetenzen und Kapazitäten der WEU auf die EU, 72 Hier ist nicht nur das Ende des Kalten Krieges gemeint, sondern auch die ersten humanitären Einsätze bzw. Friedenssicherungsoperationen in Somalia und auf dem Balkan. 73 Vgl. Hummer 2005, S. 1–2. 74 Vgl. Hummer 2005, S. 143ff. 75 Vgl. ebd., S. 146ff.

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an deren Ende 2010 die Auflösung der WEU stand. Dadurch war es der Union theoretisch zum ersten Mal möglich, eigenständige militärische Operationen durchzuführen, sie bleibt dabei allerdings nach wie vor auf die freiwillige Beteiligung und die Zustimmung der jeweiligen Einzelstaaten angewiesen.76 Um auch hier eine Konkretisierung zu erreichen, wurden 1999 auf dem Ratstreffen von Helsinki sogenannte „Headline Goals“ beschlossen. Zu den fünf wesentlichen Punkten zählten: -

die Aufstellung einer 60000 Personen starken Eingreiftruppe bis 2003, die alle Petersberg-Aufgaben erfüllen und innerhalb von 60 Tagen weltweit mit einer Durchhaltefähigkeit von einem Jahr und als Ergänzung zur NATO Response Force eingesetzt werden kann,

-

die Etablierung neuer politischer und militärischer Institutionen, die eine gemeinsame, abgestimmte Leitung der Operationen ermöglichen,

-

Kooperations- und Zusammenarbeitsregelungen zwischen der NATO und der EU mit Hinblick auf die jeweiligen mitgliedsstaatlichen Bedürfnisse sowie die Ausnutzung der jeweiligen Kapazitäten und Fähigkeiten,

-

Integrationsmöglichkeiten von Nicht-EU-Mitgliedern in die Krisenstabilisierungsoperationen unter Wahrung der Unionsautonomie,

-

die Schaffung von Koordinationsmechanismen, welche parallel die nicht militärischen Mittel und Ressourcen der Union und Mitglieder in die Krisenbewältigung mit einbeziehen sollen.77

Auf den im Jahre 2000 abgehaltenen Ratstreffen wurden die Zusagen der einzelnen Mitglieder für die Eingreiftruppe dann spezialisiert und die vorläufig geschaffenen Gremien in die Struktur des Europäischen Rates integriert. Die schicksalhaften Ereignisse von 2001 und die politischen Wellen, die ihnen nachfolgten, trafen auch die GESVP und leiteten hier wie andernorts die Terrorismusdebatte ein. So wurde von der spanischen Ratspräsidentschaft Anfang 2002 der Diskurs angeregt, ob nicht die Bekämpfung des internationalen Terrorismus innerhalb der GESVP ein eigenes Ziel neben dem Petersberg-Katalog darstellen solle. Dieser Ansatz hätte im Vergleich zu den bis dato getroffenen Maßnahmen einem Paradigmenwechsel dargestellt und das Auftreten der Union von einem „defensivreaktiven“ in ein „offensiv-präventives“ verwandelt.78 Zur Klärung dieser Problematik sollte der EU-Verfassungsvertrag beitragen, bedingt durch den langwierigen und hochpolitischen Ratifizierungsprozess sowie die nicht unmissverständlich eindeutige Formulierung des Werkes war hier aber nur bedingt Klarheit zu bekommen.79 76 77 78 79

Vgl. Hummer 2005, S. 148, 151; Beheme/Baddenhausen 2007, S. 1–3. Vgl. Hummer 2005, S. 151–152. Vgl. ebd., S. 136–137. Dennoch wird der Vertrag von Lissabon als eine erhebliche Stärkung der Handlungsfähigkeit der Union verstanden (vgl. Bericht des Generalinspekteurs der Bundeswehr zum Prüfauftrag aus der Kabinettsklausur vom 7. Juni 2010, S. 8), ob dies tatsächlich zutrifft wird die Zukunft

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Durch die Erweiterung des Sicherheitsbegriffes, der sich nun weit über die Prävention von zwischen- und innerstaatlichen Kriegen hinaus erstreckt, können auch die Petersberg-Aufgaben zur Terrorismusbekämpfung herangezogen werden.80 Aber auch hier gelten das Primat der Vereinten Nationen und die notwendige Mandatierung von Einsätzen.81 Des Weiteren wird in den fünfjährigen Sicherheitskonzepten der EU, dem Haager (2005-2010) und dem Stockholmer Programm (2010-2015), die Terrorbekämpfung als Maßnahme der Inneren Sicherheit thematisiert, nicht jedoch über die ESVP. Zwar wird auf die Schutzwirkung von ESVP-Missionen für die Innere Sicherheit der Union verwiesen, es erfolgt aber keine Konkretisierung, ob militärische Präventiv-Operationen in Betracht gezogen werden.82 Ein weiteres in diesem Zusammenhang zu erwähnendes Mittel sind die „Solidaritätsklauseln“, die jedoch vom Charakter her unterstützender Natur sind und bei der Bewältigung der Folgen terroristischer Anschläge zur Geltung kommen. In diesem Rahmen können auch Streitkräfte eingesetzt werden, dies aber mit der deutlichen Schwerpunktsetzung auf humanitärer Unterstützung und auch nur auf Bitten der jeweiligen nationalen Regierung.83 Dies führt wieder zur Thematik der europäischen Streitkräfte zurück. Im Umfeld des 11. Septembers erhielten die Aufbaumaßnahmen noch einmal einen erheblichen Schwung und der Europäische Rat betonte die Entschlossenheit, dieses Instrument so schnell wie möglich einsatzfähig zu machen. Doch 2003, in dem Jahr also, in dem die EU-Eingreiftruppe aktiv werden sollte, zeigte sich, dass dieses Vorhaben zu ambitioniert veranschlagt war.84 Die gesicherte Abstellung nationaler Kontingente und Assets, vor allem im Bereich der nötigen Einsatzunterstützung und Verlegekapazitäten, wird sich noch über die nächsten Jahre hin erstrecken und einen wesentlich höheren Etat erfordern, als ihn die Mitgliedsstaaten aufbringen können bzw. wollen. In vielen Belangen wird die EU den Prognosen nach in ihrer Krisenreaktionsfähigkeit daher weiter auf die NATO und im Speziellen die USA angewiesen sein.85

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erweisen. Dennoch besteht die Gefahr, dass die Mitgliedsregierungen der EU sich auch hier einer Täuschung ergeben. Vgl. Hummer 2005, S. 137; Beheme/Baddenhausen 2007, S. 3. Vgl. Beheme/Baddenhausen 2007, S. 3–4. Im Gegensatz dazu stellt der Bericht des Generalinspekteurs der Bundeswehr hinsichtlich der Bundeswehrreform klar, dass auch militärische Mittel eingesetzt werden können, wenn es darum geht Risiken für die deutsche Sicherheit auszuschalten. Zwar wird auch hier das Wort Terrorismus im Zusammenhang mit dem Einsatz von Streitkräften peinlich vermieden, da aber die Bekämpfung des internationalen Terrorismus zu einem der wesentlichen Sicherheitsinteressen Deutschlands erklärt wurde, bedeutet dies nichts anderes, als auch den Einsatz von Streitkräften. Vgl. Bericht des Generalinspekteurs der Bundeswehr zum Prüfauftrag aus der Kabinettsklausur vom 7. Juni 2010, S. 5–7. Vgl. Hummer 2005, S. 137; Beheme/Baddenhausen 2007, S. 3. Vgl. Hummer 2005, S. 155; Desch 2005, S. 259, 264. Speziell für Deutschland: Bericht des Generalinspekteurs der Bundeswehr zum Prüfauftrag aus der Kabinettsklausur vom 7. Juni 2010, S. 14. Vgl. Hummer 2005, S.155–156.

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Als Reaktion auf diese Umstände wurde zum einen das Berlin-PlusAbkommen abgeschlossen, das den militärischen Handlungsspielraum der EU beim Nichteingreifen der NATO und die Kooperation zwischen den beiden Organisationen definiert.86 Zum anderen wurde, um die fehlenden militärischen Fähigkeiten auszugleichen, das EU-Battlegroup-Konzept geschaffen, das von der Planung her wesentlich kleiner ausfällt und auch auf eine weltweite Einsatzfähigkeit verzichtet.87 Außerdem erhielt die bereits 1999 angemahnte Rüstungskooperation im Rahmen der die einschränkenden Faktoren berücksichtigenden Neukonzeption der Verteidigungspolitik einen erhöhten Stellenwert, da sie das adäquateste Mittel darstellt, um langfristig die militärischen Kapazitäten der Union zu erhöhen und dabei die Gefahr einer Ressourcenverschwendung durch bloße Rüstungsentwicklung auf beschränkter nationaler Ebene zu verhindern. Als Konsequenz aus den Schlussfolgerungen wurde 2004 dann die Europäische Verteidigungsagentur errichtet.88 Durch die Implementierung dieser drei Maßnahmen hat die EU zwar nicht die in den Helsinki Headline Goals angepeilten militärischen Fähigkeiten erreicht, sieht sich aber nunmehr in der Lage, selbstständige Maßnahmen im Rahmen der GSVP durchzuführen. Ein Großteil der durch die EU geführten Missionen bleibt dabei jedoch polizeilicher Natur, und das nicht nur vom Auftrag her.89 Ausnahmen bilden dabei die EUFOR-Missionen, die eine klare militärische Natur aufweisen. Ebenfalls 2004 wurde das Headline Goal 2010 aufgestellt, das als eine Weiterentwicklung der Helsinkier Ideen anzusehen ist.90 Hierin werden Maßnahmen und Projekte angesprochen, die zur Etablierung einer einheitlichen europäischen Kommandostruktur beitragen sollen. Es wird in diesem Papier nochmals der Anspruch der Union unterstrichen, international militärisch als gleichberechtigter Partner neben den großen Weltmächten agieren zu können. Ebenso findet sich hier die zivil-administrative Seite europäischer Planungen wieder, die stets mit der Aufstellung gemeinsamer Streitkräfte einhergeht. Wie gezeigt spielt die militärische Terrorbekämpfung für die Europäische Union insgesamt aber eine eher untergeordnete Rolle. Der Schwerpunkt liegt auf der Friedenssicherung und Konfliktprävention mit zivilen diplomatischen und wirtschaftlichen Mitteln. Zwar bemüht sich die EU um den Aufbau einer eigenen militärischen Komponente, bleibt hierbei aber deutlich hinter der NATO als einer Organisation, auf welche die EU immer wieder zurückgreift, zurück. Die Etablierung der Union als globaler Akteur in diesem Bereich, sofern sie jemals Wirklichkeit wird, ist noch weit entfernt. Nicht zu den militärischen Maßnahmen gehörend, aber ebenfalls nach außen gerichtet sind die Kooperationen mit internationalen Organisationen, die sich in 86 87 88 89 90

Vgl. ebd. S. 160–161. Vgl. Beheme/Baddenhausen 2007, S. 5–6; Mölling 2007. Vgl. Desch 2005. Vgl. Beheme/Baddenhausen 2007, S. 6–7; Knelangen 2008, S. 38. Headline Goal 2010.

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Feldern der GASP bzw. der Terrorbekämpfung engagieren. So wurde im Rahmen der Anti-Terror-Maßnahmen unter anderem ein Abkommen zwischen Europol und Interpol geschlossen, das der verstärkten Kooperation bei der Bekämpfung krimineller Strukturen hinter dem Terrorismus dient.91 Ebenfalls in diesen Bereich fällt die Kooperation mit den Vereinten Nationen und deren Institutionen, die sich diesem Aspekt der Terrorbekämpfung widmen.

8. Schlussbemerkungen Aller von den EU-Institutionen und den Mitgliedsstaaten proklamierte Fortschritt sollte den kritischen Beobachter nicht davon abhalten, verschwiegene oder bloß aus dem Subtext öffentlicher Stellungnahmen durchscheinende Nachteile und Gefahren der sicherheitspolitischen Reaktion auf terroristische Bedrohungen zu beachten. Allein unter funktionalen Gesichtspunkten stellt sich etwa die Frage, ob das zu beobachtende Maß des Wildwuchses von Institutionen, die mit der Koordinierung von Informationsflüssen und der Vermittlung zwischen nationalen Behörden befasst sind, tatsächlich als praktischer Fortschritt zu verstehen ist oder ganz im Gegenteil vielmehr zu Verwirrung durch doppelte und dreifache Zuständigkeiten und unüberblickbare Verfahrensabläufe führt – ob in diesem Bereich also weniger vielleicht mehr gewesen wäre. Das entscheidende Dilemma spielt sich aber auf einem anderen Feld als dem der funktionalen Effizienz ab, liegt es doch im ewigen Konflikt zwischen Sicherheit und Freiheit, plakativ gesprochen zwischen Hobbes und Locke, begründet. Große Bedenken herrschen zuerst in allen Angelegenheiten des Datenschutzes. Allein die von konkreten kriminalistischen Verdachtsmomenten unabhängige Erstellung umfassender personenbezogener Datenbanken kann in Anbetracht eines möglichen staatlichen Missbrauchs durch eine auf zunehmende Kontrolle ihrer Bürger abzielende Staatenwelt als kritischer Moment angesehen werden, die bereitwillige Öffnung zum Datenaustausch zwischen verschiedenen nationalen und europäischen und darüber hinaus auch amerikanischen Behörden umso mehr. Insbesondere der trotz anhaltender gegenseitiger Absichtserklärungen in der Praxis verschleppte, teils völlig unterlassene Ausbau der Datenschutzmaßnahmen steht bisher in keinem Verhältnis zum fortschreitenden An- und Zusammenwachsen von Personendatenbanken. So werden etwa auch von dem am 1. August 2010 in Kraft getretenen neuen SWIFT-Abkommen zur Übermittlung von Zahlungsverkehrsdaten an die Vereinigten Staaten92 Betroffene immer noch nicht von der fünfjährigen Speicherung ihrer persönlichen Daten in Kenntnis gesetzt; eine anschließende Löschung kann ebenso wenig nachvollzogen werden. 91 Vgl. Deflem 2006, S. 240–251. 92 Beschluss des Rates vom 13. Juli 2010 über den Abschluss des Abkommens zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika über die Verarbeitung von Zahlungsverkehrsdaten.

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Eng mit diesen Sorgen verbundene Probleme beziehen sich auf das immer wieder gerügte Demokratiedefizit in der Europäischen Union. Jegliche Institution, die auf eine wie auch immer geartete Weise in die Rechte der Bürger eingreift, sei dieser Eingriff noch so subtil, hat sich in einem seinem eigenen Selbstverständnis nach demokratischen Staatenbund, ebenso wie in jedem einzelnen seiner ihn konstituierenden Mitgliedsstaaten, der Frage nach demokratischer Legitimation sowohl ihres Bestehens als auch besagter Eingriffe zu stellen. Im Falle der europäischen Polizei- und Justizbehörden, Europol und Eurojust, ist diese Frage aufgrund der vergleichsweise hohen Transparenz wesentlich einfacher mit gutem Gewissen positiv zu beantworten als es bei den eher „horizontal“ agierenden Koordinierungsstellen zwischen den verschiedenen mitgliedsstaatlichen Behörden der Fall, deren Arbeit unter weitestgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet und so nicht nur unter Verschwörungstheoretikern den Verdacht geheimpolizeilicher Aktivitäten nährt.93 Die zukünftige europäische Innenpolitik wird sich vorrangig auch darauf besinnen müssen, dass Sicherheit kein Selbstzweck sein darf, sondern ebenjener Freiheit zu dienen hat, mit der sie sich in einem so schwierigen Spannungsfeld befindet.94 Die gesamte Sicherheitspolitik der EU wird immer stärker und eindringlicher von einer übernational beschlossenen Agenda bestimmt, sowohl was die innere Ordnung der Mitgliedsstaaten, als auch, bisher in geringerem Maße, was die von der EU ausgeübten außenpolitischen Aktivitäten betrifft. In gleichem Maße wie die Trennung von innen- und außengerichteten Maßnahmen der Sicherheitspolitik wurden auch die völkerrechtlichen Beschränkungslinien für das sicherheitspolitische Handeln unter den Staaten undeutlich. Insbesondere der Irak-Krieg warf erneut die Frage auf, wie weit sich ein Staat zum Schutz seiner selbst in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates einmischen darf. Die Ereignisse des 11. September stellen jedenfalls, trotz oder gar wegen ihrer Unvorhersehbarkeit, vor allem im Bereich der Gemeinsamen Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik einen wichtigen Wendepunkt da. In vielen Bereichen der Politik, sowohl auf nationaler als auch internationaler Ebene, wurden sie zum Katalysator von Entscheidungen. Neben den USA als Hauptgeschädigtem der Anschläge wurde die Europäische Union maßgeblich durch die katalytische Wirkung geprägt. Wie dargestellt wurden im Rahmen der Terrorbekämpfung Maßnahmen und Ideen umgesetzt, die bereits jahrelang diskutiert wurden und bis dahin wenig Aussicht auf Erfolg zu haben schienen. Sowohl innenpolitisch wie außenpolitisch führte der gemeinsame Feind des internationalen Terrorismus zu einem Schulterschluss der europäischen Nationen. Die daraus resultierende Politik, vor allem auf dem internationalen Parkett, brachte die Union ihrem Ziel, sich als globaler Akteur zu etablieren, einen Schritt näher. Doch bleibt Europa noch weit davon entfernt, ganzheitlich im außenpolitischen Bereich dieselbe Wirkungsmächtigkeit zu entfalten, wie es die USA oder China können. Die Stärke der Union liegt eindeutig auf wirtschaftlichen Mitteln 93 Vgl. den Boer/Hillebrand/Nölke 2008. 94 Vgl. Frevel 2007, S. 3–4.

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und Maßnahmen, wie die erfolgreichen diplomatischen Bemühungen in den Monaten nach den Anschlägen verdeutlicht haben. Der Grund hierfür liegt in einem ideologischen Dilemma, bei dem Konflikt- und Krisenprävention primär als zivile Maßnahme gesehen wird bzw. durch zivile Mittel erreicht werden soll. Dass dies nicht immer möglich ist, wurde bereits angesprochen und obwohl realpolitische Sachverhalte, unter anderem der Afghanistaneinsatz, dies immer wieder in aller Härte verdeutlichen, ergeben sich viele Politiker, speziell in Deutschland, dem zum Gesellschaftsdogma gewordenen Pazifismus.95 Die Etablierung einer konkurrenzfähigen europäischen Sicherheitspolitik ist im Gegensatz zu den zivilen Maßnahmen ein fernes und schwierig zu erreichendes Ziel, das zudem von manchen Mitgliedsstaaten – insbesondere Großbritannien, Polen, Tschechien und der Slowakei – erst gar nicht angestrebt wird, da es im Konflikt mit deren jeweils eigenen Sicherheitsinteressen steht. Zwar wurden bereits entsprechende Kommandostrukturen geschaffen, die jedoch wirkungslos bleiben, solange keine Truppenverbände zur Verfügung stehen, die in den Einsatz geschickt werden können. Umgekehrt gilt es aber auch eine Multinationalität zu verhindern, die gänzlich ohne Koordinierung und Planung zu laufen scheint.96 Verstärkte Kooperation im Feld der Rüstung ist zwar an sich ein wichtiger Schritt, kam jedoch spät und letztlich erst nach dem offenkundigem Scheitern der Helsinki Headline Goals zustande. Zurückhaltende politische Formulierungen wie: „Dabei gewinnt die multinationale Harmonisierung militärischer Bedarfsforderungen an Bedeutung“97 oder ähnliches verweisen jedoch darauf, dass sich ein europaweites Verständnis für Rüstungskooperation bei weitem noch nicht durchgesetzt hat. Eine intensive Koordinierung der Rüstung, wie sie mittels der Europäischen Verteidigungsagentur vorangetrieben wird, hat sich als zwingend notwendig erwiesen, steckt derzeit allerdings noch in den Kinderschuhen. Auch wenn die Möglichkeit direkter militärischer Terrorbekämpfung in den derzeitigen Sicherheitsstrategien nicht vorgesehen ist, so stellt sie dennoch bereits im Konzept des Friedenserhalt und der Konfliktprävention, also für die Durchführung der Petersberg-Aufgaben, eine notwendige Voraussetzung dar. Inwiefern die Folgen der Finanzkrise 2009, sprich Budgetstreichungen, nun den Aufbau einer europäischen Streitmacht behindern werden, ist noch gar nicht abzusehen. Zumindest auf NATO-Ebene sind Einsparungen zu erwarten, gegen die vor allem die jüngeren NATO-Mitglieder protestieren werden, will man doch das Erreichte nicht wieder so schnell verlieren. Auf nationalstaatlicher Ebene innerhalb der EUStaaten werden die Einsparungen sehr wahrscheinlich auf Kosten der Verteidigungshaushalte gehen. Vor allem die Personallage wird hierdurch betroffen sein, da Verträge mit der Industrie schwer zu kündigen sein werden. Obwohl hier die meisten Einsparungen erzielt werden könnten und ein Großteil der laufenden Rüs95 Vgl. Bericht des Generalinspekteurs der Bundeswehr zum Prüfauftrag aus der Kabinettsklausur vom 7. Juni 2010, S. 7.; Lindemann 2010, S. 189ff. 96 Vgl. Bericht des Generalinspekteurs der Bundeswehr zum Prüfauftrag aus der Kabinettsklausur vom 7. Juni 2010, S. 12.; Lindemann 2010, S. 202ff. 97 Bericht des Generalinspekteurs der Bundeswehr zum Prüfauftrag aus der Kabinettsklausur vom 7. Juni 2010, S. 16.

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tungsprojekte, wie Eurofighter oder Eurocopter Tiger, noch den Anforderungen des Kalten Kriegs entsprechen, ist es eher unwahrscheinlich, dass hier Abstriche gemacht werden. Letztlich bedeutet dies eine weitere Schwächung der sicherheitspolitisch orientierten europäischen Außenhandlungsfähigkeit und betont somit wieder den zivilen diplomatischen Charakter. Literatur Andreas, Peter/Nadelmann, Ethan A., 2006: Policing the globe: criminalization and crime control in international relations, Oxford, New York. Beheme, Christia/Baddenhausen, Heike, 2007: GASP, ESVP und ihre Instrumente, Deutscher Bundestag, Wissenschaftlicher Dienst, Url: http://webarchiv.bundestag.de/archive/2007/1105/bic/analysen/2007/GASP__ESVP_und_ihre_Instrumente-Ein_Ueberblick_2007. pdf,1etzter Zugriff: 01.02.2011. Bericht des Generalinspekteurs der Bundeswehr zum Prüfauftrag aus der Kabinettsklausur vom 7. Juni 2010, Url: http://www.bmvg.de/fileserving/PortalFiles/C1256EF40036B05B/W288WCHU749INFODE/Bericht%20des%20GenInsp%20%20Endfassung%20%20310810.pdf, letzter Zugriff: 01.02.2011. Den Boer, Monica/Hillebrand, Claudia/Nölke, Andreas, 2008: Legitimacy under Pressure: The European Web of Counter-Terrorism Networks, in: Journal of Common Market Studies Nr. 46/1, S. 101–124. Daase, Christopher/Spencer, Alexander, 2009: Terrorismus, in: Masala, Carlo/ Sauer, Frank/ Wilhelm, Andreas (Hg.): Handbuch der Internationalen Politik, Wiesbaden, S. 383–405. Deflem, Mathieu, 2006: Global Rule of Law or Global Rule of Law Enforcement? International Police Cooperation and Counterterrorism; in: The Annals of the American Academy of Political and Social Science 603/1, S. 240–251. Deflem, Mathieu, 2008: Surveillance and governance: crime control and beyond, Amsterdam. Desch, Thomas, 2005: Militärische und nicht-militärische Krisenbewältigung im Rahmen der GSVP unter besonderer Berücksichtigung der „Petersberg-Aufgaben“, in: Waldemar Hummer (Hg.): Sicherheit und Terrorismus. Rechtsfragen aus universeller und regionaler europäischer Sicht, Frankfurt am Main 2005, S. 247–294. Diederichs, Otto (2010): TREVI –Europas Geheimkabinett für Sicherheit und Ordnung, Url: http://www.nadir.org/nadir/initiativ/sanis/archiv/europol/kap_05.htm, letzter Zugriff: 01.02.2011. Fichera, Massimo, 2009: The European Arrest Warrant and the Sovereign State: A Marriage of Convenience?, in: European Law Journal, Nr. 15/1, S. 70–97. Frevel, Bernhard, 2007: Sicherheit gewähren – Freiheit sichern, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 12/2007. Friedrichs, Jörg, 2006: Defining the International Public Enemy: The Political Struggle behind the Legal Debate on International Terrorism, in: Leiden Journal of International Law, 19, S. 6991. Friedrichs, Jörg, 2008: Fighting Terrorism and Drugs, Europe and International Police Cooperation, London (u.a.). Galtung, Johan, 2000: die Zukunft der Menschenrechte. Vision: Verständigung zwischen den Kulturen, Frankfurt am Main. Glaeßner, Gert-Joachim (Hg.), 2009: Europäisierung der Inneren Sicherheit, Eine vergleichende Untersuchung am Beispiel von organisierter Kriminalität und Terrorismus, Wiesbaden. Guild, Elspeth/Geyer, Florian, 2008: Security versus Justice? police and judicial cooperation in the European Union, Aldershot.

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RECHTSTAATLICHKEIT UND TERRORISMUSBEKÄMPFUNG. ERFAHRUNGEN AUS KOLUMBIEN Cornelia Weiss1

1. Einleitung Als ich die elektronische Nachricht las, verkrampfte sich mein Magen. Die Nachricht besagte, dass Major William Ortegon, ein Offizier des kolumbianischen Heeres, im Gefängnis sei aufgrund des Vorwurfs der Kollaboration mit dem Feind. Major Ortegon wurde im Jahr 2005 zum Assistenten des Direktors des kolumbianischen Militärstrafjustizkorps ernannt. Er war auch mein Verbindungsoffizier und meine Eskorte, während ich in Kolumbien eingesetzt war, um dort als Streitkräfteanwalt der Vereinigten Staaten von Amerika mit den kolumbianischen Streitkräften2 zusammen zu arbeiten. Mein Auftrag bestand darin zu helfen, die kolumbianische Militärstrafjustiz von einem inquisitorischen auf ein akkusatorisches System3 umzustellen und die Einhaltung der Menschenrechte4 durchzusetzen.5 Meine Euphorie und der Stolz auf alle Änderungen, für die ich so hart in Kolumbien gearbeitet hatte, um Vertrauen zu den kolumbianischen Streitkräften aufzubauen, waren verflogen. Entweder waren die Vorwürfe wahr, und mein Leben war während meiner Zeit in Kolumbien ständig in Gefahr gewesen, oder die Beschuldigungen waren haltlos und Major Ortegon war selbst Opfer seines Einsatzes 1

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Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten und Meinungen sind ausschließlich die der Verfasserin; sie geben nicht die offizielle Position der Vereinigten Staaten von Amerika oder die ihrer Streitkräfte wieder. Für Anregungen und Kritik bedanke ich mich bei Dr. Anna Daun, Prof. Douglas Porch, Prof. Michael Schmitt, Dr. Andrew Fallon und Wolfgang Kalf. Für die Hilfe bei der Übersetzung möchte ich Karl Häringer, Wolfgang Kalf und Ruldoph Schütz danken. Die „Kolumbianischen Streitkräfte“ sind definiert als die militärischen Kräfte und die Kräfte der Nationalen Polizeibehörden (Kolumbianische Verfassung von 1991, Artikel 216). Das bedeutet, dass die Strafverfolgung nach einer gerichtlichen Voruntersuchung in die Hände einer besonderen Strafverfolgungs- und Anklagebehörde übergehen sollte. Wenn ich in dieser Arbeit den Begriff „Menschenrechte“ verwenden werde – meine studierten Rechtskollegen mögen mir die Vergröberung verzeihen – dann ist das der Sammelbegriff für Menschenrechte und Internationales Humanitäres Völkerrecht. Der Begriff „derechos humanos“ wird in Kolumbien regelmäßig verwendet für eines von beiden oder eine Kombination aus beiden. Der Grund, ein akkusatorisches System einzuführen, ist das Vertrauen darauf, dass dieses effizienter und transparenter als ein inquisitorisches ist. Wenn ein Rechtssystem nicht effizient und transparent ist, verliert es die Glaubwürdigkeit in den Augen der Bevölkerung. Andere sind vom Wechsel zu einem akkusatorischen System nicht überzeugt. vgl. Nagle 2001: S. 18f.

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für die kolumbianischen Streitkräfte und die kolumbianische Regierung geworden, und alle meine Anstrengungen, die Rechtsstaatlichkeit in Kolumbien zu stärken, waren sinnlos gewesen.

2. Zur Reform der kolumbianischen Militärstrafjustiz Ich wurde als Anwältin der Streitkräfte der Vereinigten Staaten von Amerika nach Kolumbien entsandt mit dem Auftrag, den kolumbianischen Streitkräften dabei zu helfen, durch Verbesserungen der Militärstrafjustiz auch die Effektivität der Streitkräfte zu erhöhen. Der Militärstrafjustiz in Kolumbien fehlen die Glaubwürdigkeit, die Legitimität und die Transparenz. Diese Wahrnehmungen beruhen auf der Ineffizienz der Justiz sowie dem Eindruck in der Bevölkerung, dass Verbrechen straflos verübt werden können. In der Militärstrafjustiz arbeitete ich mit den kolumbianischen Streitkräften zusammen, um einen visionären Fahrplan für die Transformation der kolumbianischen Militärstrafjustiz von einem inquisitorischen zu einem akkusatorischen Rechtssystem auszuarbeiten und umzusetzen. Mir wurde gesagt, dass dieses Vorhaben zu ambitioniert wäre. Ende August 2006, nachdem ich mit mehreren Teams von Anwälten der Streitkräfte der Vereinigten Staaten über ein halbes Jahr kreuz und quer durch Kolumbien gereist war, hatten 100 Prozent des Militärstrafjustizkorps der kolumbianischen Streitkräfte, des zweitgrößten Militärstrafjustizkorps der Welt,6 eine Ausbildung im akkusatorischen Rechtssystem erhalten. Um dieses Ziel zu erreichen, arbeitete ich täglich mit dem kolumbianischen Militärstrafjustizkorps zusammen. Für die Planung der im Einzelnen erforderlichen Maßnahmen stand mir Major William Ortegon kontinuierlich zur Seite. Im Bereich der Menschenrechte arbeitete ich mit den kolumbianischen Streitkräften zusammen, um die Menschenrechtsinitiative in den kolumbianischen Streitkräften umzusetzen. Über die Verwirklichung dieser Initiative sollte eine zukunftsorientierte Stärkung der kolumbianischen Streitkräfte erfolgen, Fortschritte auf dem Weg der Umsetzung der Menschenrechte mess- und nachweisbar werden. Ich arbeitete deshalb mit der für Menschenrechte zuständigen Abteilung des kolumbianischen Verteidigungsministeriums und dem Southern Command der USA zusammen, um die erste Inter-Amerikanische Menschenrechts- und Terrorismus-Konferenz zu organisieren. Die Konferenz im September 2006 war beispiellos. Sie brachte Mitglieder aus achtzehn Ländern Latein- und Nordamerikas sowie Europas dazu, ein neues Verständnis in der internationalen Zusammenarbeit und Verständigung zu erreichen.7

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US Air Force Major General Charles Dunlap, Gespräch in Medellin, Kolumbien, 2005. Für mich war eine der wichtigsten Erkenntnisse, dass „Post-Konflikt“ oft eine vielleicht noch beklemmendere Realität bedeutet; eine Realität von Terror durch kriminelle Banden wie die Drogenbanden von El Salvador. Diese Drogenbanden bringen Drogen und Gewalt in die Ver-

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3. Amerikanische Sicherheitsinteressen in Kolumbien Kolumbien, ein lateinamerikanisches Land, ist eine der artenreichsten Nationen der Welt.8 Es ist etwa dreimal so groß wie Deutschland mit etwa der Hälfte der Bevölkerung. Es liefert rund 80 Prozent aller Smaragde der Welt. Und trotzdem ist es nicht für seine Schönheit bekannt. Eher das Gegenteil ist der Fall. „Kolumbien hat die zweifelhafte Ehre, den am längsten andauernden Guerilla-Aufstand im 20. Jahrhundert zu beheimaten, dabei die weltweit schlimmsten Menschenrechtsverletzungen aufzuweisen, und eines der führenden Herkunftsländer im globalen Drogenhandel zu sein.“9 Kolumbien liefert über 80 Prozent allen Kokains der Welt, ist Welthauptstadt bei Morden und Entführungen, hat die höchste gemeldete Todesrate aufgrund von Landminen und eine der größten Populationen von Vertriebenen weltweit. Kolumbien ist seit über 40 Jahren im Krieg. Kolumbiens interner Krieg ist ein Krieg gegen Guerillas, paramilitärische Kräfte10 und Kriminelle bzw. Terroristen.11 Für das Land ist es besonders wichtig, dass die öffentliche Meinung diesen Krieg der kolumbianischen Streitkräfte als einen rechtmäßigen anerkennt. Kolumbien ist ein Land der Dschungel, Flüsse, Strände und hohen Berge. Die geographischen Bedingungen machen den Transport im Lande schwierig. Im Dschungel sind Landfahrzeuge nur bedingt einsetzbar. Ein Soldat, der im Dschungel verletzt wird, betet, dass ein Hubschrauber zur Verfügung steht, um ihn herauszuholen, sonst stirbt er womöglich dort. Dennoch sind die Hersteller von Drogen in der Lage, jährlich Kokain im Wert von Milliarden von Dollar aus Kolumbien herauszutransportieren. Vor der Amtsübernahme des kolumbianischen Präsidenten Uribe im Jahr 2002 wagten es die Bewohner der Großstädte nicht mehr, die Städte zu verlassen, es sei denn mit einem Flugzeug. Diejenigen, die sich die Flüge nicht leisten konnten, blieben in den Städten gefangen. Bei einer Bevölkerung, die zu rund 60 Prozent unter der Armutsgrenze lebt, bedeutete es, dass die meisten Kolumbianer gefangen waren. Allmählich fühlen sich die Kolumbianer wieder sicher genug, um sich auch in Autos und Bussen außerhalb der Städte zu bewegen.

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einigten Staaten von Amerika; werden sie erwischt, erhalten sie oft einen „kostenlosen Rücktransport“ über Deportation zurück nach El Salvador, und das auf Kosten der Steuerzahler in den Vereinigten Staaten von Amerika. Und der Kreislauf beginnt von Neuem. Vicepresidencia de la República de Colombia 2008, Virtual Lessons. Nagle 2001: S. 2. „Paramilitärische Kräfte wurden in den 1970er und 1980er Jahren aufgestellt, um das Militär im Kampf gegen die Guerilla-Gruppen zu unterstützen. Paramilitärische Kräfte hatten rechtlich den Status von Selbstverteidigungsgruppen, die als Hilfskräfte bei der Bekämpfung der Aufständischen eingesetzt wurden. Im Jahre 1989 wurde die Rechtsgrundlage für die paramilitärischen Kräfte entfernt. Im Jahr 1997 wurde die paramilitärische Dachorganisation AUC (Autodefensa Unidades de Colombia) eingerichtet.“ Amnesty International 2004, S. 7. Für einen Kolumbianer ist die Unterscheidung, ob Internationales Humanitäres Völkerrecht anzuwenden ist oder nicht, absurd. Ob die Kriminellen zu den Terroristen gezählt werden oder normale Kriminelle sind, macht für das kolumbianische Volk keinen Unterschied, wenn diese das Land mit Mord, Vertreibung und Entführung überziehen.

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Doch auch in den Städten ist Sicherheit ein Thema. Als Beispiel sei Montserrat, der bekannteste Berg in Bogotá, der Hauptstadt von Kolumbien, genannt. An den Wochenenden sorgt die kolumbianische Polizei für die Sicherheit derer, die die Wanderung den steilen Weg hinauf zum Aussichtspunkt auf sich nehmen wollen. Unter der Woche sind keine Sicherheitskräfte abgestellt, um den Weg zu sichern, und damit ist der Aufstieg dann zu gefährlich. Die Wanderung zum Montserrat ist die einzige Route, auf der man einen Gipfel in der Nähe von Bogotá in sicherem Umfeld erwandern kann. Bei Wanderungen zu den anderen Bergen rund um Bogotá setzt man sich zwangsläufig der Gefahr aus, ausgeraubt, entführt oder umgebracht zu werden. Die zweitgrößte US-Botschaft der Welt befindet sich in Bogotá, Kolumbien. Seit 2000 haben die Vereinigten Staaten von Amerika Kolumbien mit fast sieben Milliarden Dollar unterstützt, so dass Kolumbien faktisch der größte Empfänger von Hilfe der USA in Nord- und Südamerika ist.12 Kolumbien ist, nach den Ländern des Nahen Ostens, der fünftgrößte Empfänger von Militärhilfe der Vereinigten Staaten von Amerika in der Welt.13 Doch der damit bewirkte Fortschritt war eher ernüchternd, auch für die Verantwortlichen in den USA, die sich gern als Drahtzieher der Machtverhältnisse sehen möchten. „,Lateinamerika spielt keine Rolle […] Die Leute schenken heute Lateinamerika keine Beachtung’ sagte Richard Nixon zum jungen Donald Rumsfeld im Jahr 1971, als er ihn in seine Aufgaben als zukünftigen Verteidigungsminister einwies und ihn auch darauf hinwies, welchen Teil der Welt er besser meiden sollte, wenn er eine große Karriere machten wolle.“14 Kolumbien wird oft als bester Freund der Vereinigten Staaten von Amerika in Lateinamerika gesehen. Pessimisten würden behaupten, Kolumbien ist der einzige Freund, den die Vereinigten Staaten von Amerika in Lateinamerika haben. Die Meinung der politischen Elite der Vereinigten Staaten von Amerika über andere lateinamerikanische Länder wie Venezuela, Ecuador, Nicaragua, Kuba, Bolivien, Argentinien und Brasilien fällt nicht immer günstig, sondern sehr oft negativ aus.15

4. Militärstrafjustiz und Menschenrechte in der Terrorismusbekämpfung Als Teil ihrer institutionellen Investitionen setzte das kolumbianische Verteidigungsministerium die Reform der Militärstrafjustiz auf die Liste ihrer Prioritäten im Jahre 2006. Denn das Verteidigungsministerium kam zu der Erkenntnis, dass ohne eine glaubwürdige und legitime Strafjustiz in den Streitkräften die Kriegsführung sich nicht zum Besseren wenden würde. Aufgrund der langen Reihe von Menschenrechtsverletzungen durch kolumbianische Streitkräfte und den Bemühungen, diese künftig vermeiden zu wollen, 12 13 14 15

DeShazo/Forman/McLean 2009, S. V. School of the Americas Watch 2007. Reid 2007: S. 1. Lubold 2007.

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werden Bewaffnung und Ausrüstung der Streitkräfte nicht adäquat genutzt. Die Einsatzregeln der kolumbianischen Luftwaffe spiegeln dieses überragende nationale Anliegen,16 keine Menschenrechtsverletzungen zu begehen, wider. Die kolumbianische Luftwaffe bricht acht von zehn Missionen ab. Der Pilot darf nur dann zu einer Mission starten, wenn diese eindeutig und klar ist, das Ziel der Mission genehmigt ist, und die Genehmigung für den Einsatz von Waffen durch die jeweilig festgelegte Entscheidungsebene erteilt wurde. Andernfalls müssen die Piloten auf dem Boden bleiben. Wenn irgendwelche Zweifel hinsichtlich des militärischen Charakters der Mission bestehen, muss die Mission abgebrochen werden. In der kolumbianischen Luftwaffe wird das Feuer nur dann eröffnet, wenn das Ziel eindeutig identifiziert ist. Piloten dürfen nur dann auf ein Flugzeug am Boden oder in der Luft feuern, wenn die erforderliche Genehmigung dafür vorliegt. In der Zeit, die das Einholen einer solchen Genehmigung in Anspruch nimmt, ist oftmals das Ziel verschwunden. Der Gebrauch von Waffen zur Selbstverteidigung und Nothilfe ist im Hinblick auf die tatsächliche oder drohende Gefahr erlaubt. Jedoch wird eine derartige Handlung als potenzielle Straftat untersucht. Kolumbiens Anstrengungen zur Verbesserung seines Rufes in der Menschenrechtspolitik beeinflusst somit seine Kriegsführung, aber auch das Denken und Handeln der Soldaten. Die Bemühungen der kolumbianischen Regierung, das internationale Image eines Menschenrechtsverletzers zu bekämpfen, haben dazu geführt, dass die kolumbianischen Streitkräfte mit sich selbst ebensoviel beschäftigt sind, wie mit den Guerillas. Gräueltaten und Menschenrechtsverletzungen haben zu einem Justizsystem geführt, in dem jeder Tod eines Guerillas durch einen Angehörigen der kolumbianischen Streitkräfte als ein mögliches Tötungsdelikt untersucht wird. Deshalb sind verdeckte Ermittlungen durch Eindringen in die Reihen der Guerillas im Sinne von „Human Intelligence (HUMINT)“17 aufgrund der Gefahr einer Strafverfolgung gegen die Ermittler wegen Kollaboration mit dem Feind nicht möglich. Kolumbien erhält von den USA rund 700 Millionen Dollar pro Jahr für Drogen- und Terrorismusbekämpfung. Es liegt nicht im Interesse der amerikanischen Regierung, eng mit einer Regierung verbunden zu sein, die international wegen Misshandlungen ihrer eigenen Bürger bekannt ist. Demzufolge sind 25 Prozent des „Plan Colombia Fonds“ der USA daran gebunden, dass die Einhaltung bestimmter Bedingungen der Menschenrechte zertifiziert wird. Die Regierung von Kolumbien weiß, dass sie sich an die internationalen Menschenrechtsregime halten muss, damit alle Gelder bereitgestellt werden. Folglich haben die kolumbianischen Streitkräfte als Reaktion auf die internationale Meinung und die Forderungen der USA eine umfassende Ausbildung in Menschenrechtsfragen erhalten. Diese Ausbildung kommt von Einrichtungen wie 16 Die Inter-Amerikanische Kommission für Menschenrechte sowie der Inter-Amerikanische Gerichtshof für Menschenrechte hat Kolumbien der Verletzung von Menschenrechten durch die Handlungen ihrer Streitkräfte für schuldig befunden. 17 HUMINT bezeichnet die Informationsgewinnung mittels menschlicher Quellen.

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u.a. dem Roten Kreuz, dem Raoul-Wallenberg-Institut für Menschen- und Internationales Humanitäres Völkerrecht (gesponsert von der schwedischen Botschaft) und der Abteilung für Menschenrechte des kolumbianischen Verteidigungsministeriums. In Anbetracht der Tatsache, dass Kolumbien einen internen Krieg führt, bezieht sich die Ausbildung auf Fragen des Internationalen Humanitären Völkerrechts. Die Streitkräfte sind angewiesen, nur gegen Kombattanten zu kämpfen, nur militärische Ziele anzugreifen, die Verhältnismäßigkeit der Mittel zu beachten, das Leben der feindlichen Kämpfer zu respektieren, gefangen genommene Feinde zu entwaffnen und zu einem Vorgesetzten zu bringen, verwundete Guerillakämpfer zur nächstgelegenen medizinischen Einrichtung zu bringen, den schwerer Verwundeten zuerst zu helfen sowie die Würde und Rechte der Zivilbevölkerung zu achten und deren privates Eigentum zu respektieren. Die Angehörigen des Heeres werden im Bereich der Menschenrechte mindestens zweimal pro Jahr geschult. Sie sind für vier Monate im Einsatz und werden dann für einen Monat zu einem Nachschulungszentrum des kolumbianischen Heeres gesandt, wo sie unter anderem erneut Ausbildung und Nachschulung im Bereich der Menschenrechte erhalten. Dann werden sie für die nächsten vier Monate wieder zurück in den Einsatz geschickt.18 Wie bereits erwähnt, muss nach den gültigen Regeln der Militärstrafjustiz jeder Todesfall, einschließlich des Todes eines Guerillas, wenn er von einem Angehörigen der kolumbianischen Streitkräfte verursacht wurde, als möglicher Mordfall untersucht werden. Diese Untersuchungen sollen den Ruf der kolumbianischen Streitkräfte schützen. Wenn eine Untersuchung darüber, ob eine unrechtmäßige Tötung eingetreten ist, nicht durchgeführt wird, fehlen dem Angehörigen der Streitkräfte und den kolumbianischen Streitkräften als Ganzem die Beweise, sich gegen Vorwürfe von Anderen, einschließlich von Menschenrechtsgruppen und von Führern der Guerillagruppen, zu verteidigen. Noch haben die kolumbianischen Streitkräfte international das Image eines Menschenrechtsverletzers. In der Mitte der 1990er Jahre wurden über die Hälfte der Menschenrechtsverbrechen in Kolumbien von den kolumbianischen Streitkräften begangen.19 Streitkräfte, die Verbrechen gegen das eigene Volk begehen, verlieren den Rückhalt in der Bevölkerung sowie ihre Glaubwürdigkeit und Legitimität national wie international. Demzufolge gewinnen die Guerillas Glaubwürdigkeit und Legitimität sowohl im Inneren als auch international, wenn sie sich als Verteidiger des einfachen Kolumbianers darstellen können. Es ergeben sich Anhaltspunkte dafür, dass Angehörige der kolumbianischen Streitkräfte als Folge dieser Ängste vor strafrechtlichen Untersuchungen nicht gegen Mitglieder der bewaffneten Einheiten der Guerillas kämpfen. Dann wären die Millionen von Dollar, die der Steuerzahler in den Vereinigten Staaten von Amerika aufbringt und in die Bereitstellung von Waffen, Ausbildung und die Beschaffung von Informationen steckt, vergeudet. Was nützen die Ausgaben in Millionenhöhe, wenn diese Gelder nicht zielführend verwendet werden? Doch zu 18 Diskussion mit Major William Ortegon am 25. September 2005. 19 House International Relations Committee 2005.

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erwarten, dass ein kolumbianischer Soldat im Einsatz bereit ist, unter diesen Bedingungen mit voller Überzeugung zu kämpfen, ist optimistisch. Der Soldat soll sich, um feindliche Kämpfer in einer bewaffneten Auseinandersetzung zu töten, der Gefahr aussetzen, möglicherweise selbst getötet zu werden; er soll in Notwehr sein Land verteidigen, um sich dann einem Strafverfahren ausgesetzt zu sehen und möglicherweise dort verurteilt zu werden. Das entzieht sich den rationalen Erwartungen an menschliches Verhalten.

5. Auswirkungen militärstrafrechtlicher Strukturen auf die Terrorismusbekämpfung Zur vergleichenden Betrachtung der Konsequenzen derartiger militärjustizieller Strukturen kann man den Fall des Oberst Klein zu erwähnen. Oberst Klein hat im September 2009 als Kommandeur in Afghanistan den Einsatz von Gewalt angefordert. Die Umstände der Anforderung und der Situation sind zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Artikels nicht vollständig aufgeklärt. Nach veröffentlichten Berichten hat er zwei von den Taliban entführte Tanklastwagen bombardieren lassen, wodurch zwischen 50 und 142 Menschen getötet oder verletzt wurden. Wie viele davon Zivilisten waren, wird wohl nie geklärt werden können. Der Aufschrei in Deutschland war groß; ebenso die politischen und personellen Konsequenzen. Der damalige deutsche Verteidigungsminister verlor seinen Posten.20 Anstatt als Held empfangen zu werden, wurde Oberst Klein aus Afghanistan zurückgerufen, um im Hinblick auf seine Handlungen befragt zu werden. Der Vorfall ereignete sich im Herbst 2009. Die deutsche Generalbundesanwaltschaft eröffnete ein Verfahren im März 2010, mehr als sechs Monate nach dem Vorfall. Die deutschen Streitkräfte haben keine Verteidiger für die Angehörigen der Streitkräfte. Schließlich stellte die deutsche Regierung Oberst Klein Mittel zur Verfügung, um einen Verteidiger zu beauftragen. Hätte sich die Schuld des Oberst Klein herausgestellt und wäre er dafür verurteilt worden, wäre er nach geltendem Recht verpflichtet gewesen, der deutschen Regierung das zinslose Darlehen für seinen Verteidiger zurück zu zahlen.21 Auch wenn gegen Oberst Klein kein gerichtliches Verfahren durchgeführt wird, gibt es Anzeichen dafür, dass deutsche Streitkräfte, wenn diese sich vor die Wahl der Anwendung von Gewalt gestellt und mit einer möglichen strafrechtlichen Untersuchung ihrer dienstlichen Aktivi-

20 Als offizieller Grund wird angegeben, dass er das deutsche Parlament inkorrekt über die Opfer informierte. 21 In den Vereinigten Staaten von Amerika ist es unverstellbar, dass ein Soldat der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika die Kosten für die Verteidigung zurückbezahlen muss, wenn die/der Soldatin/Soldat den Militärstrafprozess verloren hat. Sollte Oberst Klein den Prozess verlieren, dann hat er noch dazu viel Geld an den deutschen Staat zurückzuzahlen. Die Bundeswehrangehörigen müssen sich also nicht nur um ihre körperliche Unversehrtheit Sorgen machen, sondern auch noch darüber, ob sie nach einer Verurteilung noch für ihre Familien sorgen können oder bankrott sind.

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täten in Afghanistan konfrontiert sehen, jetzt nicht bereit sind, Gewalt in Afghanistan anzuwenden. Wie bei den deutschen Streitkräften, so haben auch die kolumbianischen Streitkräfte keine eigenen militärischen Verteidiger für ihre Angehörigen, die wegen eines im Dienst begangenen Verbrechens angeklagt sind.22 Den kolumbianischen Streitkräften ist es per Gesetz verboten, militärische Verteidiger für Gerichtsverfahren bereitzustellen.23 Die Unsicherheit, die durch den Mangel an Verteidigern erzeugt wird, führt zu einer Demoralisierung der Truppen. Auf einem Seminar der kolumbianischen Streitkräfte zu operationellen Fragen und Kollateralschäden im Jahr 2005 stellte ein Teilnehmer die Frage: „Warum verteidigt uns der Staat nicht, warum müssen wir uns verteidigen, wenn wir für den Staat gehandelt haben?“ Von den 349.914 Angehörigen der kolumbianischen Streitkräfte sind 72 Prozent ohne Verteidiger.24 Das heißt, dass fast drei Viertel der Streitkräfte in ihrer Kampfleistung eingeschränkt sind, weil sie wissen, dass kein Verteidiger bereitgestellt wird, wenn die Todesfälle des Gegners untersucht werden. Die Strafverteidiger für Angehörige der kolumbianischen Streitkräfte kommen aus verschiedenen Bereichen. Einige Soldaten zahlen freiwillig in eine Versicherung ein. Die Versicherung bietet ihren Angehörigen Verteidigung in dienstlichen Angelegenheiten für den Fall eines gegen sie eingeleiteten Rechtsverfahrens. Mitte der ersten Dekade der 2000er Jahre haben die Mitglieder in diese Versicherung, die „Defensoria Tecnica Militar“, fast eine Million Euro pro Jahr eingezahlt.25 Prekär wird es bei den Wehrpflichtigen: Diese erhalten weniger als den Mindestlohn, auch wenn Essen und Unterkunft kostenlos bereitgestellt werden. Der Mindestlohn in Kolumbien lag etwa bei 126 Euro pro Monat.26 Der Wehrpflichtige erhielt im Jahr 2006 etwa 22 Euro pro Monat. Von diesen 22 Euro musste der Wehrpflichtige auch noch solch wesentliche Dinge wie Seife u.ä. bezahlen. Diese Wehrpflichtigen haben kein Geld übrig, um einen Verteidiger zu bezahlen oder in die Rechtsschutzversicherung einzuzahlen. Einige Angehörige der kolumbianischen Streitkräfte werden vor Gericht kostenlos von Reservisten vertreten, die als Anwälte außerhalb der Streitkräfte praktizieren. Reservisten in Kolumbien sind in der Regel Personen, die aus einem höheren sozioökonomischen Milieu kommen.27 Reservisten tragen im Dienst die Uniform und erhalten ihre dienstgradabhängige militärische Ausbildung; es wird 22 Im Vergleich dazu steht einem Angehörigen der Streitkräfte der Vereinigten Staaten von Amerika eine Verteidigung für im Dienst ausgeführte Handlungen von Rechts wegen zu. 23 Die verfassungsrechtliche Entscheidung C-592/93 verbietet dem Militär die Bereitstellung militärischer Verteidigung für Angehörige der Streitkräfte vor Gericht, Agenda de la Justicia Penal Militar 2005. 24 Elektronisches Archiv der Verfasserin. 25 Präsentation von Magistrada Teniente Coronel Tovar im Herbst 2005 an der Kolumbianischen Marine-Akademie. 26 Wechselkurs zum damaligen Zeitpunkt. 27 So ist etwa der ehemalige kolumbianische Vizeverteidigungsminister Sanin ein Major der Reserve, die Senatorin Clopotofsky eine Reservistin. Der Leiter der Reservisten der Marine in Bogotá ist ein renommierter plastischer Chirurg.

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ihnen für die geleistete Arbeit keine finanzielle Entschädigung gewährt. Reservedienst ist ein Akt der Wohlfahrt für das Gemeinwesen. Eine dritte Möglichkeit für seine Verteidigung vorzusorgen, ist die „Defensora Publica“. Die „Defensora Publica“ berechnet keine Gebühren für ihre Dienste. Es ist eine staatliche Agentur, die einige pensionierte Anwälte aus der Militärstrafjustiz in ihren Reihen hat. Diese Anwälte verdienen etwa 1.800.000 Pesos, also weniger als 700 Euro pro Monat. Sie verteidigen Angehörige der Streitkräfte gegen streitkräftespezifische Anklagen wie Fahnenflucht, Gehorsamsverweigerung und Feigheit. In der Mitte der ersten Dekade der 2000er Jahre hatte die „Defensora Publica“ nur sieben Verteidiger für alle Angehörigen der Streitkräfte in der Region der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá. Nach den Gesetzen der kolumbianischen Militärstrafjustiz kann ein Angehöriger der Streitkräfte, der eines Verbrechens angeklagt ist, für bis zu vier Monate inhaftiert werden, bevor er den Inhalt der Anklage des ihm zur Last gelegten Verbrechens zugestellt bekommt. Ein Angehöriger der Streitkräfte kann für sechzehn Monate lang festgehalten werden, bevor ein Urteilsspruch gefällt sein muss. Ist ein Angehöriger der Streitkräfte im Gefängnis bzw. Strafvollzug, so gilt er als in „Ruhestand“ für die Zeit, die er im Gefängnis verbüßen muss. Weil er aber im Ruhestand ist, erhält er keinen Sold von den Streitkräften. Die Streitkräfte, die keine Verantwortung mehr für diesen Angehörigen haben (da er ja nicht mehr Angehöriger der Streitkräfte ist), bekommen keine finanziellen Mittel, um den im Strafvollzug befindlichen Angehörigen zu ernähren und zu kleiden. Stattdessen wird es zum Problem des Kommandeurs der jeweiligen militärischen Anlage gemacht, für diese eingesperrten Angehörigen zu sorgen. Die im Strafvollzug Einsitzenden beteiligen sich deshalb an geeigneten Aktivitäten wie dem Erstellen von Grußkarten, um Geld zu verdienen und sich so selber zu ernähren. Sollten sie als nicht schuldig von den Vorwürfen freigesprochen werden, wird der Inhaftierte reaktiviert und wieder den Streitkräften zugeführt.

6. Das Problem der Rechtsberater Kolumbien braucht sachkundige Rechtsberater, die in der Lage sind, die kolumbianischen Streitkräfte zu beraten. Es gibt Rechtsberater, aber nur wenige haben Erfahrung in Fragen des militärischen Einsatzes und auch kein Ansehen innerhalb der Streitkräfte. Die kolumbianischen Einsatz-Rechtsberater sind Rechtsanwälte, die ihr Jurastudium gerade erst abgeschlossen haben. Sie besuchen danach einen sechsmonatigen Lehrgang, auf dem sie nur in den letzten zwei Wochen mit Fragestellungen konfrontiert werden, wie sie sich im Einsatz darstellen. Sie arbeiten direkt dem Brigade- oder Divisionskommandeur zu und sind nicht Teil des kolumbianischen Militärstrafjustizkorps. Sie werden nur etwa halb so gut bezahlt wie die Anwälte oder Richter des Militärstrafjustizkorps. Nach fünf Jahren Erfahrung sind sie berechtigt, zum kolumbianischen Militärstrafjustizkorps überzutreten. Der Direktor des Militärstrafjustizkorps wählt diejenigen aus, die in das bes-

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ser bezahlte Militärstrafjustizkorps einsteigen dürfen. Der Reiz der Verdoppelung ihres Gehalts, wenn sie ausgewählt werden, lässt nur wenige zögern, diese Veränderung auch anzustreben. Deshalb ist die Erfahrung und das Können, in Fragen des Einsatzrechts zu beraten, gering und somit der Einfluss auf die Kommandeure fraglich. Diese unerfahrenen Einsatz-Rechtsberater tragen eine schwere Bürde. Ein anschauliches Beispiel betrifft die Binnenvertriebenen. Im Jahr 2004 entschied das kolumbianische Verfassungsgericht, dass die derzeitige Situation der Binnenvertriebenen in Kolumbien verfassungswidrig sei.28 Nach dem Sudan hat Kolumbien eine der höchsten Raten von Binnenvertriebenen weltweit. Diese ist ein Ergebnis des internen Krieges in Kolumbien.29 Vor Kurzem hat der Vertreter des Generalsekretärs der Vereinten Nationen für Menschenrechte von Binnenvertriebenen, Dr. Walter Kälin, über die „geschätzt 3 Millionen Menschen, die in Kolumbien vertriebenen sind“30, berichtet. Dr. Kälin führte aus: „Die Gründe für die Vertreibungen in Kolumbien sind vielfältig und komplex. Dazu gehören der Mangel an Respekt für die Zivilbevölkerung durch die verschiedenen bewaffneten Gruppen, die Vermehrung der bewaffneten Akteure und kriminellen Aktivitäten im Zuge der jüngsten Demobilisierungsprozesse; die Zwangsrekrutierung von Kindern durch bewaffnete Gruppen [...].“31

Dr. Kälin legte dann die Last den kolumbianischen Streitkräften in der Weise auf, dass diese die Binnenvertreibung zu verhindern hätten. „Er [Dr. Kälin] hat Berichte von Menschen gehört, die das Gefühl hatten, durch die Nähe der Streitkräfte geschützt zu sein, erfuhr aber auch über mehrere bestätigte Berichte von Menschen, die direkt von den Streitkräften unter Druck gesetzt wurden, um sie mit Informationen, mit Nahrung und Obdach zu versorgen. In anderen Fällen sind die Gefahren, Opfer des bewaffneten Konflikts zu werden, durch die physische Präsenz der Streitkräfte verstärkt worden. Zum Beispiel in Toribio und in Cauca erlebte er, dass die Streitkräfte ihr Quartier mitten im Dorf neben einer Grundschule und unmittelbar neben einem Spielplatz und einem Kirchenzentrum installiert hatten. Er erkennt die Schwierigkeiten der Bekämpfung der Aufständischen, aber weist darauf hin, dass die Gefährdung der Zivilbevölkerung kontraproduktiv ist, denn letztlich flieht die Bevölkerung lieber, als sich weiterer Unterdrückung oder den Vergeltungsmaßnahmen der Aufständischen auszusetzen. Insbesondere bei dem berechtigten Wunsch der kolumbianischen Streitkräfte, Zivilisten durch ihre Anwesenheit nicht zu gefährden, sondern zu schützen, sollten sie nicht Situationen schaffen, in denen ihre bloße Anwesenheit in der Mitte der Dorfbewohner feindliches Feuer anzieht.“32

Wie sollen diese kolumbianischen Rechtsberater ihre Kommandeure im Hinblick auf das Einsatzrecht beraten? Als ich einen Soldat meines eigenen Heeres fragte, antwortete er:

28 Ministerio de Relaciones Exteriores Republica de Colombia 2010: S.1. 29 „In den Jahren 2000 bis 2002 fanden die meisten Vertreibungen statt, zeitgleich mit hohen gewalttätigen Aktionen von Guerillas [...] und Selbstverteidigungsgruppen“, Ministerio de Relaciones Exteriores Republica de Colombia 2010: S. 4. 30 United Nations Human Rights Council 2007: S. 1. 31 Ebd.: S. 1. 32 Ebd.: S. 7.

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„Oft neigen wir dazu, lateinamerikanische Realitäten mit unserer US-Mentalität zu beantworten, und dies funktioniert nicht. Basierend auf meinen Erfahrungen in Kolumbien, sollte das kolumbianische Heer weiterhin Einheiten für die Sicherheit der Bevölkerung zur Verfügung stellen und dadurch zeigen, dass es bereit ist, die Bevölkerung vor narco-terroristischen Organisationen zu schützen. Diese Präsenz sollte zeitlich begrenzt sein, solange es keine anderen Strafverfolgungsbehörden gibt, um diese Verantwortung zu übernehmen. Die Positionen sollten von zivilen Einrichtungen getrennt sein, aber dennoch nahe genug, um in der Lage zu sein, sofort zu reagieren, wenn ihre Hilfe gebraucht wird.“33

Ein deutscher Rechtsberater gibt auch zu, dass sich die kolumbianischen Streitkräfte in einer schwierigen Lage befänden: „Soldaten dürfen grundsätzlich zum Schutz ziviler Objekte eingesetzt werden. Da sie jedoch aufgrund ihres Status selbst angegriffen werden können, stellt allein ihre Anwesenheit auch einen Faktor der Gefährdung für das zu schützende Objekt dar. Bei einem Einsatz von Soldaten zum Schutz ziviler Objekte hat daher immer eine Abwägung der Vor- und Nachteile zu erfolgen.“34

Es scheint, als ob auch die angebotenen Lösungen eines Heeressoldaten der USA und die eines deutschen Rechtsberaters zu Binnenvertriebenen führen würden. Die kolumbianischen Streitkräfte brauchen jedoch Lösungen, die Binnenvertriebene vermeiden. Zur Erreichung dieses Zieles benötigen die kolumbianischen Streitkräfte kompetente Unterstützung in Rechtsfragen. Und von allen Anwälten werden die Rechtsberater der Nationalen Polizei vor die schwierigsten Herausforderungen der Zukunft gestellt werden. Die Sichtweise der amerikanischen Politik auf Kolumbiens Zukunft, dass „das Entstehen neuer krimineller Banden, von denen einige sich aus ehemaligen Paramilitärs rekrutieren und auch von solchen geführt werden, ein Problem der Strafverfolgung ist, nicht eine Herausforderung für die Sicherheit des Nationalstaates“,35 wird nicht geteilt. Kolumbiens Realität sieht anders aus. Wenn Kolumbien vom Konflikt zum Post-Konflikt übergeht, wird sich die Nomenklatur ändern, die Gewalt nicht. Man muss nicht weiter als nach El Salvador und Guatemala schauen. In El Salvador und Guatemala blieb die interne Gewalt – die bewaffneten Gruppen sind nicht mehr Guerillas, sondern bewaffnete Banden von Kriminellen. Die Sicherheit dieser Länder ist bedroht. Aus den USA braucht man nicht weiter als über die Grenze nach Ciudad Juárez, Mexiko zu schauen, um zu verstehen, dass die Ermordung von Mexikanern und US-Bürgern nicht nur ein Problem der Strafverfolgung ist. Es ist ein Problem der nationalen Sicherheit. 7. Zur Sozialstruktur der kolumbianischen Streitkräfte Bei der Analyse von bewaffneten Konflikten richtet sich oft die ganze Aufmerksamkeit auf die aufständischen Akteure anstatt auf die staatlichen Akteure. In jedem Konflikt ist es von vitalem Interesse, den Gegner und das Gelände zu ken33 Korrespondenz mit einem Angehörigen der US-Streitkräfte mit Erfahrung in Kolumbien. 34 Bundesministerium der Verteidigung 1992, Abs. 511. 35 DeShazo/Forman/McLean 2009: S. VIII.

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nen. Die staatlichen Akteure spielen eine untergeordnete Rolle in der Diskussion der Frage, wie die Auseinandersetzungen zu gewinnen sind. Oft scheint es, dass Beratung der staatlichen Stellen vorgenommen wird, ohne deren Situation zu kennen oder zu verstehen. Im Gegensatz zum System der USA oder dem deutschen System, wo eine strikte Trennung zwischen Militär- und Polizeikräften existiert – Militär für die äußere und Polizeikräfte für die innere Sicherheit – sind Kolumbiens Streitkräfte auch für die Sicherheit innerhalb ihrer eigenen Grenzen zuständig. Die Polizei und das Militär sind eine Streitkraft. Das Militär, zusammengesetzt aus Heer, Marine und Luftwaffe, ist verantwortlich für die Verteidigung von Kolumbien und seiner Verfassung. Für die Nationale Polizei steht der Leitsatz „primäres Ziel ist es, die notwendigen Voraussetzungen für die Ausübung der Rechte und Grundfreiheiten zu schaffen und zu gewährleisten, dass die Menschen in Kolumbien in Frieden miteinander leben.“36 Die kolumbianischen Streitkräfte setzen sich zusammen aus Wehrpflichtigen und Freiwilligen. Junge kolumbianische Männer sind verpflichtet in den kolumbianischen Streitkräften zu dienen. Im Allgemeinen ist der Dienst in den Streitkräfte das erste Mal, dass diese jungen Männer ihr Zuhause verlassen. Dies und der Schock eines militärischen Lebens tragen dazu bei, dass Fahnenflucht die häufigste militärspezifische Straftat darstellt. Sollte ein Wehrpflichtiger wegen Fahnenflucht verurteilt werden, muss er für sechs Monate in Haft. Danach ist er verpflichtet, zum uniformierten Dienst zurückzukehren und den Rest seiner Wehrpflichtzeit zu erfüllen. Offiziere treten als Freiwillige über die Akademien der Teilstreitkräfte in die kolumbianischen Streitkräfte ein. Die Akademien der Teilstreitkräfte fordern, dass die Familien dem Kadetten Mittel bereitstellen. Die Teilnahme an der Marineakademie in Cartagena ist teurer als der Besuch der Heeresakademie in Bogotá. Die Marineakademie öffnete ihre Türen für die ersten weiblichen Kadetten im Jahr 1997. Die Heeresakademie hatte weibliche Kadetten bis zu diesem Jahr ebenfalls ausgeschlossen – insgesamt nicht wesentlich anders als in den meisten NATOStaaten. Die Vereinigten Staaten von Amerika haben erst ab 1976 Frauen zu den Streitkräfteakademien zugelassen, zweihundert Jahren nach der Unterzeichnung der Unabhängigkeitserklärung. Die deutschen Streitkräfte haben Frauen aus allen militärischen Berufen, außer dem medizinischen Dienst und dem militärmusikalischen Fachdienst, bis zum Jahr 2002 ausgeschlossen. Offiziere des juristischen Fachdienstes sind auch Freiwillige. Sie treten in die kolumbianischen Streitkräfte ein und erhalten eine komprimierte militärische Einführung. Uniformierte Anwälte des Heeres gehen durch eine sechsmonatige militärische Ausbildung, bei der die letzten zwei Wochen dem Studium des militärischen Rechts gewidmet sind. Der höchste Rang eines Offiziers des juristischen Fachdienstes der kolumbianischen Streitkräfte ist, unabhängig von Qualifikation oder Erfolg der eines Oberst. In den USA ist der höchste Rang, den ein unifor36 Korrespondenz mit Ivan Gonzalez, ehemaliger stellvertretender Generalstaatsanwalt von Kolumbien.

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mierter Rechtsanwalt erreichen kann, Generalleutnant. Das ist eine Veränderung gegenüber der Situation vor ein paar Jahren, als der höchste Rang, den ein uniformierter Anwalt erreichen konnte, Generalmajor war. In den deutschen Streitkräften sind die Rechtsberater, während sie im Inland Dienst leisten, Zivilisten. Für den Einsatz werden sie in den aktiven Dienst beordert und ihr Status ist der eines uniformierten Anwaltes mit einem entsprechenden Rang. Nach Ende des Einsatzes ziehen die deutschen Anwälte ihre Uniform wieder aus, und durchlaufen eine Statusänderung zurück zum zivilen Anwalt im Dienst des Bundes. Der höchste Dienstgrad, den ein deutscher Rechtsberater erreichen kann, ist der eines Oberst. Der Lohn für Angehörige der kolumbianischen Streitkräfte hat vier Komponenten.37 Alle Offiziere erhalten ein Grundgehalt. Diejenigen, die verheiratet sind, erhalten einen Familienzuschuss. Diejenigen, die Dienst in Bereichen erhöhter Gefahr leisten, bekommen einen Bonus. Angehörige der Streitkräfte, die eine Ausbildung als Ingenieur, Mediziner, Architekt oder Anwalt haben, bekommen eine gesonderte „Qualifikationszulage“. Diese Qualifikationszulage erhöht das Gehalt um etwa 40 Prozent. Ein unverheirateter Major, der in Bogotá arbeitet, erhielt im Jahr 2006 ein Grundgehalt von 1.300.000 Pesos im Monat, ungefähr 500 Euro pro Monat. Eine unverheiratete Majorin, die in Bogotá arbeitet und Anwältin ist, erhält das Grundgehalt plus ihre Zulage und verdient so 2.200.000 Pesos im Monat, ungefähr 850 Euro pro Monat. Richter der Militärstrafjustiz verdienen mehr. Kolumbiens Richter in den Streitkräften fallen in eine von zwei Kategorien – „Juez de Instrucción“ oder „Juez de Instancia“, wobei erstere eher ermittelnde und zweitere eher verhandlungsleitende Funktionen wahrnehmen. Ein „Juez de Instrucción“ verdient 3.500.000 Pesos, etwa 1350 Euro, ein „Juez de Instancia“ hingegen 4.000.000 Pesos, etwa 1535 Euro, im Monat. Darüber hinaus bekommen die Richter alle sechs Monate einen Bonus von 5.000.000 Pesos, etwa 1.900 Euro. Die höchsten Richter der Streitkräfte verdienen 15.000.000 Pesos pro Monat, etwa 5.800 Euro im Monat. Traditionell ist das Amt des Richters oder des Staatsanwalts gefährlich. Die Lohnungleichheit kann schnell zur „Gefahrenzulage“ werden. Das 2006 ranghöchste Mitglied des Streitkräftetribunals, ein weiblicher Oberst des Heeres namens Zuluaga, war das Ziel zahlreicher Morddrohungen und war zu verschiedenen Zeiten oftmals auf den Schutz der Polizei angewiesen. Ziviler Richter zu sein, war auch eine gefährliche Aufgabe. Die heutige Rechtsprofessorin Luz Estella Nagle, Mitte der 1980er Jahre eine Richterin in Medellin, war wegen zahlreicher Attentate von Drogenhändlern gezwungen, Kolumbien zu verlassen.38 Das berüchtigtste Beispiel ereignete sich Mitte der 1980er Jahre, als eine der bewaffneten Gruppen den Justizpalast in Bogotá angriff. Diese Attacke führte zum Tod von 115 Menschen. Elf von den Toten waren Richter des Bundesverfassungsgerichts.39 Kolumbiens „Heilmittel“, ein Programm zum Schutz der „Gesichtslosen 37 Diese Zahlen sind aus dem Jahr 2006. 38 Nagle 2001: S. VII. 39 U.S. Department of State 2010.

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Tribunale“, „wobei die Identität der Richter, Staatsanwälte und Zeugen, die sich in empfindlichen Rechtsstreitigkeiten befinden, verborgen bleiben“, konnte das Problem nicht lösen und wurde als verfassungswidrig eingestuft.40 Guerillas, Terroristen und Kriminelle haben kolumbianische Staatsanwälte und Richter ins Visier genommen. Nicht selten führte ein solches Vorgehen zum Tod des Anwalts. Der Tod kann durch die Annahme von Bestechungsgeldern oder durch die Flucht aus Kolumbien abgewendet werden. Die verbesserten Einkommen für Richter und Staatsanwälte werden auch als Möglichkeit verstanden, das Risiko einer Bestechung und damit eines beeinflussten Rechts- oder Strafverfahrens und damit letztlich das Untergraben der Gerechtigkeit zu reduzieren. Richter („Magistradas“ und „Magistrados“) des „Tribunal“, des höchsten Streitkräftegerichts, fallen nicht unter die Führung des Militärstrafjustizkorps. Sie sind unabhängig. Das Konzept des „Vergleichbaren Wertes“ bestimmt die Vergütung eines „Magistrado“. Die „Magistrados“ der kolumbianischen Streitkräfte sind auf der gleichen Ebene wie Richter der zivilen Obersten Gerichtshöfe werden auch so bezahlt. Das Streitkräftetribunal hat militärische und zivile „Magistrados“. Die uniformierten Magistrados des Streitkräftetribunals sind nach Eignung und Leistung ausgewählt und nicht nach Dienstgrad. Mitte der ersten Dekade dieses Jahrhunderts hatte das kolumbianische Streitkräftetribunal zwölf Mitglieder. Die uniformierten „Magistradas“ waren alle weiblich. Sie waren, wie eben beschrieben, nach ihrer Eignung und Leistung, und nicht auf Grund des Ranges oder des Geschlechts ausgewählt worden. Die zivilen Mitglieder waren alle männlich. Die ranghöchste uniformierte „Magistrada“ war Oberst Zuluaga, die einzige weibliche Anwältin im Dienstgrad Oberst in den Streitkräften, und auch der einzige weibliche Offizier, der in den kolumbianischen Streitkräften im Jahr 2005 zum Oberst befördert wurde. Die rangniedrigste uniformierte „Magistrada“ des Gerichts war ein weiblicher Major. Diese „Magistradas“ des Streitkräftetribunals verdienen mehr als ein General der kolumbianischen Streitkräfte. Der Dienstgrad, nicht das Konzept des „Vergleichbare Werts“, bestimmt allerdings das Ruhegehalt; so werden die uniformierten „Magistradas“ dann geringer bezahlt als ein General. Nach fünfzehn Jahren im Dienst der kolumbianischen Streitkräfte bekommt der Angehörige der Streitkräfte etwa 33.000 Euro, um eine Wohnung zu erwerben. Damit kann man ein normal dimensioniertes VierZimmer-Apartment kaufen. Wenn zwei Angehörige der Streitkräfte miteinander verheiratet sind, ist nur einer berechtigt, solche Gelder zu erhalten. Beförderungen im Offizierskorps der kolumbianischen Streitkräfte folgen einer Fünf-JahresRegel. Das heißt, man kann nach fünf Jahren Dienst im vorangegangenen Rang befördert werden.

40 U.S. Agency for International Development 2002, Endnote 1.

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8. Bildung und Weiterbildung in den kolumbianischen Streitkräften Der Wert der Bildung wird in den kolumbianischen Streitkräften als immer wichtiger eingeschätzt. Im Jahr 2006 beorderte das kolumbianische Verteidigungsministerium einen ehemaligen Vizeadmiral der kolumbianischen Marine zurück in den aktiven Dienst. Das ist bisher nur ein einziges Mal in der Geschichte der kolumbianischen Streitkräfte passiert. Der Zurückgerufene ist Vizeadmiral Fernando Elias Román Campos. Vizeadmiral Román ist einer der wenigen mehrsprachigen Vertreter der kolumbianischen Streitkräfte. Es ist ungewöhnlich, dass Mitglieder der kolumbianischen Streitkräfte englisch sprechen können. Weil sie die englische Sprache nicht beherrschen, können viele Angehörige der kolumbianischen Streitkräfte nicht an Kursen in den USA teilnehmen, die für Angehörige befreundeter Streitkräfte angeboten werden. Die meisten Angehörigen der kolumbianischen Streitkräfte sprechen nur spanisch. In dieser Hinsicht sind sie nicht viel anders als die Angehörigen der Streitkräfte der USA, von denen über neunzig Prozent nur englisch sprechen. Neben dem Spanischen spricht Admiral Román englisch, französisch, italienisch und deutsch. Er ist ein Verfechter der lebenslangen Ausbildung und in den aktiven Dienst zurückgerufen worden, weil die kolumbianischen Streitkräfte erkannten, dass ihre Angehörigen in der Bildung von Prinzipien und Werten bestärkt werden müssen, um die Legitimität zu konsolidieren und durch bessere Bildung die Fähigkeit zu komplexem Denken zu schaffen. Das Ziel des „Proyecto Educativo de las Fuerzas Armadas de Colombia (PEFA)“ ist es, durch Schulung und Ausbildung von Wertvorstellungen, Prinzipien und Ethik getragene Streitkräfte zu schaffen.41 Dies beinhaltet das Anheben der „Standards of Excellence“ und die Modernisierung der Laufbahnen in den Streitkräften, um so für die Herausforderungen der Zukunft gewappnet zu sein, strenge Qualitätskontrolle bei der Einstellung und Aufnahme zu schaffen sowie ein System der Motivation und Bindung von Begabten zu etablieren. Eines der Ziele ist es, alle Angehörigen der Streitkräfte, von den höchsten Stellen bis zum einfachen Soldaten, in einem Programm für Ethik und Werte zertifizieren. Ein weiteres Ziel ist, in der Nationalen Polizei alle Berufssoldaten und Unteroffiziere in technischen Programmen zu zertifizieren, um sie so für die gegenwärtigen und künftigen Herausforderungen der Streitkräfte und auch auf die Rückkehr ins zivile Leben vorzubereiten. Ein weiteres Ziel ist auch, die Angehörigen der Streitkräfte eine oder mehrere Fremdsprachen erlernen zu lassen, um so bei der globalen Integration zu helfen und gleichzeitig eine Unterstützung bei der Entwicklung der Fähigkeiten zum selbstständigen Denken zu leisten. Die akademische Elite Kolumbiens ist an diesen Programmen ebenfalls beteiligt. Im Jahr 2009 wurden rund 60 Mitglieder der kolumbianischen Streitkräfte ins Ausland für Fortbildungsmaßnahmen geschickt.42

41 Die Diskussion über Bildung ist das Ergebnis von Gesprächen mit Vizeadmiral Román, die im Jahr 2005 begannen. 42 Korrespondenz mit dem Projektdirektor Luis Ricardo Paredes Mansfield, 26. Februar 2010.

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Die Ausbildung an der kolumbianischen Generalstabsschule ist auf die Offiziere beschränkt, die vorher durch die Akademie der jeweiligen Teilstreitkraft gegangen sind. Das heißt im Gegensatz zu den Streitkräften der USA, dass uniformierte Juristen von der Teilnahme an den Generalstabslehrgängen ausgeschlossen sind. Die Generalstabsschule verzichtet damit auf Soldaten wie Major Salazar, die die Schule der Kolumbianischen Militärstrafjustiz und Menschenrechte geleitet hat, und verliert damit die Möglichkeit, den Einfluss von Major Salazar zu nutzen, um die Schüler darauf vorzubereiten, wie der Krieg in der Zukunft geführt werden muss, um Menschenrechtsverletzungen zu verhindern. Es besteht keine zwingende Notwendigkeit zu einer professionellen militärischen Ausbildung, um zum Dienstgrad eines Obersten befördert zu werden. Bevor ein Offizier in den Rang eines Generals aufsteigen kann, muss er einen einjährigen Kurs an der kolumbianischen Generalstabsschule besuchen. Diese dient dann als Prüfstein für diejenigen, die in den Rang eines Generals aufsteigen werden. Lohnt sich Aus- und Weiterbildung? Trotz zahlreicher Zweifler in den Streitkräften gibt es starke Anzeichen dafür. Als Beispiel seien die Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien erwähnt. Mitte der 1990er Jahre wurde den kolumbianischen Streitkräften die Mehrzahl der Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien vorgeworfen. „[Heute] wird die überwiegende Mehrheit der Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen, über 98 Prozent, den illegalen bewaffneten Gruppen in Kolumbien, in erster Linie den drei narco-terroristischen Gruppen und nicht den kolumbianischen Streitkräften angelastet. Dieser Bericht zeigt deutlich die Institutionalisierung der Achtung der Menschenrechte durch die kolumbianische Regierung, deren Streitkräfte Mitte der 1990er Jahre noch beschuldigt waren, 50-60 Prozent der Menschenrechtsverletzungen begangen zu haben. Als Ausdruck dieses Engagements für die Menschenrechte seit 1996 erhielten mehr als 290.000 Angehörige der kolumbianischen Streitkräfte eine spezialisierte Ausbildung, die durch das Internationale Rote Kreuz, das nationale kolumbianische Rote Kreuz, die römisch-katholische Kirche, ausländische Regierungen und andere Ämter und Behörden oder Institutionen durchgeführt wurden.“43

Die Institutionalisierung von Werten in den Streitkräften ist unabdingbar, um auf diesem Wege voranzukommen. Da 25 Prozent des „Plan Colombia“-Fonds davon abhängig sind, dass Fortschritte im Bereich der Menschenrechte erzielt werden, lässt sich dieser Fortschritt auch in Millionen von Dollar umrechnen, die Kolumbien sonst nicht erhalten würde.

43 House International Relations Committee 2005.

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9. Die Streitkräfte in der Gesellschaft Um zu verstehen, was in einem System wirkt und was nicht wirkt, muss man auch verstehen, welche Bedeutung der Rang hat, welche Umgangsformen gepflegt werden, wie man sich anspricht, welche Aufstiegschancen und individuelle Rechte der Einzelne hat. In den kolumbianischen Streitkräften tragen Offiziere bis einschließlich der Obersten als Dienstgradabzeichen Sterne, Generäle und Admiräle Sonnen. Die Sonnen sollen symbolisch daran erinnern, dass das Planetensystem von dienstgradniedrigeren Offizieren sich ‚um die Sonne dreht’. Eine höfliche Anrede für einen General der kolumbianischen Streitkräfte ist „mi general“.44 Diese Anrede schafft eine Atmosphäre des Stolzes bei den anderen Offizieren, denn durch die Formulierung „mein“ entsteht eine engere Beziehung, ein Gefühl der Identifikation, ein Teil der Gemeinschaft dieses Offiziers zu sein. Die weiblichen Mitglieder der Nationalen Polizei tragen zur Glaubwürdigkeit bei, da in der kulturellen Wahrnehmung verankert ist, dass weibliche Polizeibeamte das Volk so schützen, wie stereotypisch eine Mutter ihr Kind schützt. Die Nationale Polizei wird „vermenschlicht“, indem die weiblichen Polizisten mit deren Vornamen angesprochen werden. Die Namenschilder weiblicher Polizisten tragen deren Vornamen, die Namensschilder männlicher Polizisten tragen ihre Nachnamen. Männliche Mitglieder der Nationalen Polizei werden nicht mit ihrem Vornamen angesprochen. Die Direktorin der Schule der kolumbianischen Streitkräfte für Straf- und Menschenrechte im Jahr 2006 wurde als „Major Patricia“ angesprochen und nicht als „Major Salazar“. Obwohl die weiblichen Angehörigen des Heeres, der Marine und der Luftwaffe nicht ihren Vornamen auf ihren Namensschildern tragen sondern, wie die Männer, ihren Nachnamen, werden sie trotzdem oft mit dem Vornamen angesprochen. Daher wurde eine meiner Kolleginnen des Heeres als „Major Monica“ bezeichnet, nicht als „Major Marquez“, obwohl ihr Vorname nirgends auf ihr Namenschild zu finden war. Dieser Brauch ist nicht auf die weiblichen kolumbianischen Offiziere beschränkt. Ich wurde selbst oft, auch von kolumbianischen Unteroffizieren, als „Major Cornelia“ bezeichnet, nicht als „Major Weiss“. Angesichts der strengen Unterscheidung zwischen Offizieren und Unteroffizieren in den Streitkräften der USA war es für mich immer ein Schock, wenn ein Unteroffizier mich mit meinem Vornamen ansprach. Es war etwas, an das ich mich nie gewöhnen konnte. Als Begründung für die Verwendung der Vornamen für weibliches Personal erklärte der Kolumbianer, dass die Nutzung der Vornamen der Bevölkerung eine Vertrautheit suggeriere und sie deshalb der Nationalen Polizei eher vertrauten. Aufgrund vergangener Gräueltaten wird die Nationale Polizei dennoch nicht allgemein als eine freundliche Institution wahrgenommen, sondern vielfach als korrupt und in der Täterrolle von Vergewaltigung und Ermordung von Zivilisten gesehen.

44 „Mein General“.

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10. Das Militärstrafjustizkorps Das Militärstrafjustizkorps wurde im Jahr 2000 geschaffen, um die Durchsetzung des Rechts auf allen Ebenen der Streitkräfte zu gewährleisten. Es wird geleitet von einem Brigadegeneral. Traditionell müssen die Leiter drei Qualifikationen erfüllen. Sie haben den Rang eines Brigadegenerals, sie sind ein Mitglied des Heeres und sie haben einen Abschluss in Rechtswissenschaften. Um die Unabhängigkeit des Denkens und Handelns des Militärstrafjustizkorps zu gewährleisten, fällt es unter die Verantwortung des Ministers für Verteidigung, nicht unter die des Befehlshabers der Streitkräfte.45 Das schien aber nicht ausreichend. Um das Militärstrafjustizsystem zu legitimieren und die Glaubwürdigkeit zu erhöhen, hat das kolumbianische Ministerium der Verteidigung in 2006 erstmals eine Zivilistin zur Direktorin des kolumbianischen Militärstrafjustizkorps ernannt. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Direktoren des Militärstrafjustizkorps immer Heeresgeneräle gewesen, die zwar einen rechtswissenschaftlichen Universitätsabschluss hatten, aber nie als Anwalt praktiziert hatten und auch nicht innerhalb des Militärstrafjustizkorps aufgestiegen waren. Die Direktoren bis 2006 kamen aus anderen militärischen Vorverwendungen wie z.B. dem militärischen Nachrichtendienst. Die uniformierten Anwälte des Militärstrafjustizkorps sind in den Beförderungsmöglichkeiten begrenzt. Sie können nur bis zum Dienstgrad eines Oberst befördert werden. Demzufolge kamen die Leiter des kolumbianischen Militärstrafjustizkorps, auch wenn es erfahrene und hart arbeitende Offiziere waren, trotzdem ohne die dringend nötige fachliche Erfahrung in das Amt. Das Ergebnis war ein andauernder Mangel an Legitimität und Glaubwürdigkeit. Im Herbst 2006 ernannte das kolumbianische Verteidigungsministerium Dr. Luz Marina Gil zur Direktorin des kolumbianischen Militärstrafjustizkorps. Gil ist eine international anerkannte Anwältin für Menschenrechte und Internationales Humanitäres Völkerrecht. Sie hat Kolumbien vor der Inter-Amerikanischen Menschenrechtskommission und dem dazugehörigen Gerichtshof repräsentiert. Ihre Ernennung war ein entscheidendes Novum auf dem Weg zur Legitimität. Doch das kolumbianische Verteidigungsministerium bezahlt Dr. Gil nur etwa die Hälfte von dem, was es ihrem Vorgänger bezahlt hat. Die gegebene Begründung war, dass sie kein General ist.46 Im kolumbianischen Heer können nur diejenigen bis in den Rang eines Generals aufsteigen, die die Militärakademie des Heeres in Bogotá besucht haben. Bis zum Jahr 2009, war Frauen der Zugang zur Militärakademie des Heeres versperrt. „Derzeit sind 128 weibliche Kadetten [...] eingetragen. Diese Kadetten werden innerhalb von drei Jahrzehnten die ersten sein, die den Rang eines Generals im Heer erreichen können.“47 Frauen in den kolumbianischen wie in den deutschen Streitkräften, mit Ausnahme deutscher Generäle im

45 Gespräch der Verfasserin mit Oberstleutnant Edgar Emilio Avila Doria, Chef des richterlichen Amtes des Heereskommandos. 46 Aussage eines kolumbianischen Vizeverteidigungsministers im Gespräch mit der Verfasserin. 47 León 2010.

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Sanitätsdienst, werden etwa zur gleichen Zeit für eine Beförderung in den Rang eines Generals bereitstehen.48

11. Das System der Straftaten und Strafen Aber es gibt noch weitere Probleme in der kolumbianischen Militärstrafjustiz. Eine nach dem Militärstrafjustizsystem strafbewehrte Tat ist das Verbrechen der „Concusión“. Concusión kann als Erpressung und/oder das Verlangen von Bestechungsgeldern definiert werden. Die Strafe beträgt mindestens sechs Jahre. Der des Verbrechens der Concusión schuldige nationale Polizeibeamte kann die Straftat (vor einer Anzeige) bekennen. Dann hat er die Option, das Geständnis entweder im zivilen Rechtswesen oder bei der Militärstrafjustiz abzugeben. Sollte der Polizist sich entscheiden, im zivilen Strafsystem zu gestehen, wird er dafür „belohnt“, indem die vorgeschriebene Mindeststrafe um die Hälfte gekürzt wird, das heißt, er müsste nur drei Jahre in Haft verbringen. Sollte der Polizist sich entscheiden, bei der Militärstrafjustiz zu gestehen, wird die vorgeschriebene Strafe nur um ein Sechstel reduziert, das heißt, er müsste fünf Jahre ins Gefängnis.49 Wie aber oben erläutert, ist die Polizei organisatorisch ein Teil der Streitkräfte. Der Grund für den Unterschied im Straferlass ist, dass ein Beamtenstatus einen höheren Standard verlangt. Angesichts des Unterschieds in der Höhe der Straferlasse zwischen dem zivilen Strafsystem und dem der Militärstrafjustiz ist es schwer vorstellbar, dass jemand der militärischen Seite den Vorzug geben würde, gäbe es nicht den Aspekt der damit verbundenen Wahl des Gefängnisses. Denn das System, in dem verurteilt wird, ist auch das System, in dem die Strafe vollzogen wird. Ein Polizist könnte es vorziehen, mit Angehörigen der Streitkräfte anstatt mit zivilen Kriminellen im Gefängnis zusammen zu sein. Deshalb wird er trotz der höheren Strafe eher ein militärisches Gefängnis wählen. Angehörige der Streitkräfte sind in speziellen Gefängnissen verwahrt („centros de reclusión“) – mit einer Ausnahme, einem Militärgefängnis in Tolemaida. Die „centros de reclusión“ sind Einrichtungen auf militärischen Anlagen, in denen die Gefangenen ein relativ freies Leben führen, vergleichbar dem eines Rekruten. Anders ist das Leben der zivilen Gefangenen. Sie sind im zivilen Gefängnis in einer Zelle eingesperrt.

12. Das Gerichtsverfahren Kolumbianische Gerichte verfügen über besondere Schutzmechanismen, die gewährleisten sollen, dass die Verfahren in Übereinstimmung mit dem Gesetz durchgeführt werden. In jedem Militärgericht wie in jedem bürgerlichen Strafverfahren ist – neben der Anwesenheit des Richters, des Staatsanwalts und der Ver48 In der Bundeswehr gab es bereits einen weiblichen General im Bereich des Sanitätsdienstes. 49 Codigo Penal Militar, Articulo 446.

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teidiger – ein weiterer Anwalt anwesend. Dieser Rechtsanwalt ist Mitglied der „Procuraduría“. Diese hat sicherzustellen, dass der Prozess und die Entscheidungen des Richters im Einklang mit dem Gesetz sind.50 Der Richter hat sich mit den rechtlichen Argumenten nicht nur des Staatsanwalts und der Verteidigung auseinander zu setzen, sondern auch mit denen der Procuraduría. Die Richter der Militärstrafjustiz beraten dann über den Fall und fällen eine Entscheidung in öffentlicher Sitzung acht Tage nach den Plädoyers. Die kolumbianische Militärstrafjustiz hat aber nicht die Gerichtsbarkeit über alle Verbrechen von Angehörigen der kolumbianischen Streitkräfte. Sie richtet nicht über Vorwürfe gegen kolumbianische Admirale und Generale. Vielmehr untersucht ein ziviler Angehöriger des Obersten Gerichtshofs die Fälle gegen Admirale und Generale, um Einflussnahme und jeden Anschein von unangemessenem Verhalten zu vermeiden. Die Zuständigkeit der Militärstrafjustiz ist weiterhin eingeschränkt auf Verbrechen, die von Angehörigen der Streitkräfte im aktiven Dienst begangen werden. Es müssen also Taten sein, die mit dienstlichen Angelegenheiten in Zusammenhang stehen.51 Militärische Strafrechtsjustiz versteht sich als ein „Verwalter“ der Gerechtigkeit bezüglich der Dienstausübung der Soldaten.52 Verbrechen, die nicht in die Kategorie „in Ausübung des Dienstes“ fallen und daher nicht unter das Militärstrafrecht fallen, sind solche Verbrechen, die Folter, Völkermord, und Entführung beinhalten. Verbrechen wie ein Massaker, das definiert ist als die Tötung von drei oder mehr Personen, werden nicht als Dienstvergehen angesehen. Schwerere Menschenrechtsverletzungen fallen daher unter die Zivilgerichtsbarkeit. Denn diese „Lesa Humanidad“ sind Verbrechen, die nicht in direktem Zusammenhang mit der verfassungsrechtlichen Funktion der Streitkräfte stehen.53 In den USA ist dies anders geregelt, nämlich ist dort die Zuständigkeit der Gerichtsbarkeit über einen Militärangehörigen statusbasiert, nicht tatbasiert. Deshalb üben die Streitkräfte der Vereinigten Staaten von Amerika und ihre Militärgerichte die Gerichtsbarkeit über die Angehörigen der Streitkräfte immer und weltweit aus.54 In Deutschland ist es umgekehrt, hier sind die zivilen Gerichte auch zuständig für Straftaten, die von Angehörigen der Streitkräfte begangen wurden – eine eigenständige Militärstrafgerichtsbarkeit existiert nicht. Die Frage der Zuständigkeit von Militärgerichten in Kolumbien ist ein komplexes Thema. Um es zu verstehen, muss man auf ihre Geschichte zurückschauen. Ein guter Ausgangspunkt ist Karl III., König von Spanien, ein Reformator der militärischen Einrichtungen. Er verkündete den Königlichen Erlass vom 9. Februar 1793 zur Gründung militärischer Zuständigkeit in der spanischen Armee. Dieser Erlass besagte, dass Straftaten, die von Militärs begangen wurden, von Mili50 51 52 53 54

Damit entsprechen sie in etwa den Generalanwälten z.B. im französischen Rechtssystem. Kolumbianische Verfassung von 1991, Artikel 250 und 221. Ebd., Artikel 116 und 250. Agenda de Justicia Penal Militar 2005, C-358/97. Solorio v. United States, 483 U.S. 435, 1987.

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tärgerichten entschieden werden.55 Nach dem Beispiel von Spanien definierte 1813 in Kolumbien ein Militärstrafgesetzbuch das Verbrechen der Fahnenflucht und die Strafe hierfür. Im Jahre 1842 wurde die „Consejos de Guerra“ als zuständige Militärgerichte eingerichtet und mit militärischen Mitgliedern besetzt. Über Rechtsmittel gegen die Entscheidungen durch die Consejos de Guerra entschieden der Oberste Gerichtshof von Bogotá und die Gerichte von Cauca und Magdalena. Im Jahre 1859 schuf Kolumbien den Militärstrafjustiz-Code, der das Strafgesetz und die Prozessordnung enthält. Die Nationale Polizei fiel ursprünglich nicht unter die Militärgerichtsbarkeit. Erst im Jahr 1954 wurden gemäß dem Decreto 1426 Straftaten der Angehörigen der Polizei, die diese im aktiven Dienst begangen haben, unter die Gerichtsbarkeit der Streitkräfte gestellt.56 Im Jahr 1950, als Ergebnis der politischen Gewalt im Land, erhielt die Militärjustiz auch die Zuständigkeit für Zivilisten, die die Verbrechen der Entführung und Rebellion begangen hatten,57 denn zivile Gerichte hatten oft keine effektive Strafverfolgung betrieben, sondern ließen die Verdächtigen einfach laufen. Deshalb wurde es notwendig, Militärgerichtsbarkeit über Zivilisten auszuüben.58 Die neue kolumbianische Verfassung von 1991 hat diese Regelung abgeschafft. Sie untersagt die Untersuchung gegen und Verurteilung von Zivilisten durch das Militär, unabhängig davon, ob das Land sich in Zeiten des Krieges oder Friedens befindet. Militärgerichte haben somit heute keine Gerichtsbarkeit mehr über zivile Bürger. Das Problem des Zuständigkeitsstreits zwischen ziviler und Militärgerichtsbarkeit in Kolumbien, bekannt als „Colisión de Competencias“, ist real. Im Jahr 2005 hatte der „Consejo Superior de la Juridica“ 28 derartige Fälle zu bearbeiten.59 Von diesen 28 Fällen betrafen zwölf das kolumbianische Heer, zwei die kolumbianische Luftwaffe, einer die kolumbianischen Marine und 13 die kolumbianische Nationalpolizei.60 Bei den 28 Fällen stellte der Consejo Superior de la Juridica fest, dass die Zivilgerichte in 16 der Fälle zuständig waren und dass die kolumbianischen Militärgerichte in einem der Fälle zuständig waren.61 Von den übrigen Fällen wurden sieben nicht entschieden, zwei wurden verglichen, und zwei waren noch anhängig.62 Im Jahr 2009 besuchte Professor Philip Alston als Sondergesandter der Vereinten Nationen Kolumbien für zehn Tage und befragte rund 100 Zeugen. Die prominentesten Themen, die von ihm untersucht wurden, waren die Fälle der „Falsos Positivos“, „in denen die Opfer unter Vorspiegelung falscher Tatsachen [...] an einen entfernten Ort gelockt, durch das Militär getötet und als kriegsbedingte Tötungen gemeldet wurden, um anschließend dafür eine Belohnung zu 55 56 57 58 59 60 61 62

Agenda de Justicia Penal Militar 2005. Ebd. Ebd. Korrespondenz mit Prof. Douglas Porch, Naval Postgraduate School, 20. August 2009. Elektronisches Archiv der Verfasserin. Ebd. Ebd. Ebd.

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bekommen.“63 Die Belohnung ist jedoch nicht auf die Tötung, sondern auf Informationen ausgesetzt, die zum Ergreifen von Narco-Terroristen führen.64 Alston führt dazu aus: „Die größte Herausforderung besteht darin, die Einstellung der Verantwortlichen zu ändern, die dazu führen dass diese Morde ungesühnt bleiben. Während wichtige Maßnahmen ergriffen wurden, gibt es weiterhin starke Anzeichen dafür, dass viele Militärrichter Präsidentschaftsrichtlinien und Verfassungsgerichtsurteile ignorieren und alles in ihrer Macht Stehende tun, um die Übertragung klarer Fälle von Menschenrechtsverletzungen auf die ordentliche Justiz zu vereiteln. Diese Taktik diskreditiert die militärische und die ordentliche Justiz und erhöht die sehr reale Gefahr des Weiterbestehens der Straflosigkeit.“65

Als ich Alston fragte, was die Grundlage für die „starken Anzeichen“ sei, antwortete er: „Ich sprach mit einer Reihe von militärischen Richtern sowie Mitgliedern der Fiscalía und der Procuraduría, die eng mit der militärischen Justiz verbunden sind.“66 Auch nach einer Umfrage vom April 2005 glaubten nur 23,4 Prozent der befragten Bevölkerung, dass das kolumbianische Militärstrafjustizsystem ein zuverlässiges System für die Beurteilung der Straftaten von Angehörigen der Streitkräfte sei.67 Das spiegelt den Mangel an Glaubwürdigkeit des kolumbianischen Militärstrafjustizsystems wider. In der internationalen Wahrnehmung haben die zivilen Gerichtshöfe in Kolumbien einen besseren Ruf als die Gerichtshöfe der militärischen Strafjustiz. Robert Novak, ein einflussreicher Journalist, stimmt dem zu. Er berichtet, dass während seiner Zeit in Kolumbien nur vier Prozent der angeklagten Soldaten von den Gerichtshöfen der militärischen Strafjustiz verurteilt wurden.68 Die Verurteilungsrate betrug dagegen während meiner Zeit in Kolumbien in den Jahren 2005/2006 etwa 63 Prozent.69 Die positive Wahrnehmung der kolumbianischen zivilen Gerichtshöfe gegenüber den Militärgerichten muss im Lichte der Tatsachen gesehen werden. Einem Mitglied der kolumbianischen Streitkräfte zufolge – Oberstleutnant Bahamon, der das Buch „Mi Guerra de Medellin“ schrieb – wurden von 970 Verdächtigen, die an die zivile Gerichtsbarkeit in Medellin im Jahr 1990 übergeben wurden, 86 verurteilt, 65 während der Haft ermordet, und die Übrigen freigelassen.70 Im Jahr 1999 wurde berichtet, dass, auch nachdem so viele Millionen Dollar in Kolumbiens Justiz geflossen seien, „bis zu 98 Prozent der Verdächtigen noch immer ungestraft davonkommen [...] und Menschenrechtsverletzungen zu 100 Prozent ungestraft blieben.”71 Die Forderung nach mehr Richtern scheint allerdings wenig zielführend zu sein: Pro 100.000 Einwohner sind in den USA zwei

63 64 65 66 67 68 69 70 71

United Nations 2009. Korrespondenz mit einem hochrangigen kolumbianischen Offizier. United Nations 2009. Korrespondenz von Prof. Philip Alston vom 24. Juni 2009. Elektronisches Archiv der Autorin. Novak 2006: S.15. Dokumente der kolumbianischen Streitkräfte im Archiv der Autorin. Korrespondenz von Prof. Douglas Porch, Herbst 2009. Giraldo 1999: S. 1.

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und in Spanien drei Richter tätig, während Kolumbien über 17 Richter pro 100.000 Einwohner verfügt.72

13. Der Fall Jamundi Im Frühjahr 2006 wurden Mitglieder einer Eliteeinheit der kolumbianischen Nationalen Polizei durch die Mitglieder einer kolumbianischen Heereseinheit getötet. Zuerst behauptete das kolumbianische Heer, dass es ein „friendly fire“-Vorfall gewesen sei. Später wurden Vorwürfe laut, dass ein lokaler Drogenkartellchef den Soldaten eine Belohnung angeboten hatte, damit sie die Angehörigen der Nationalen Polizei töteten. Daraufhin tobten Debatten, ob die zivile oder Militärjustiz den Fall übernimmt. Vielfach wurde eingewandt, dass die zivile Justiz die Untersuchung übernehmen sollte, weil die Militärstrafjustiz ihre „eigenen Leute“ schützen würde. In Kolumbien ist die Nationale Polizei ein Teil der Streitkräfte, und als solche fallen Straftaten von Angehörigen der Nationalen Polizei in Ausübung des Dienstes unter die Militärstrafjustiz. Nach vielem Hin und Her überwogen die Meinungen, einschließlich des kolumbianischen Präsidenten Uribe, ebenso wie des bereits genannten Journalisten Robert Novak,73 dass der Fall nicht dienstbezogen war. Zunächst verwies die Staatsanwaltschaft den Fall an einen zivilen Strafrichter. Der zivile Strafrichter erklärte, dass er nicht befugt wäre, den Fall zu entscheiden, und verwies die Sache an die Militärgerichte. Die Staatsanwaltschaft legte gegen die Verweisung Berufung beim Obersten Gerichtshof ein. Der Oberste Gerichtshof stellte fest, dass der Fall zum zivilen Strafgerichtshof gehörte und nicht zum Militärgericht. Das Problem des Falles lag darin, dass der („unabhängige“) zivile Richter bereits wegen Bestechung durch einen Drogenbaron verurteilt worden war. Während ich in Kolumbien war, geschah ein anderer bekannter Fall: Einige kolumbianische Soldaten entdeckten im Dschungel Bargeld in Millionenhöhe. Die Soldaten nahmen das Geld für ihre eigenen privaten Zwecke an sich. Die Verteidigung dieser ehemals armen Soldaten bestand darin, dass die kolumbianische Regierung nicht beweisen konnte, dass das Geld vom Feind stammte. Dann hätten sie es beschlagnahmen dürfen. Die kolumbianische Militärstrafjustiz übernahm den Fall. Diejenigen Soldaten, die geflohen waren, wurden in Abwesenheit verurteilt. Verurteilungen in Abwesenheit sind keine Seltenheit, da die häufigste Straftat in den kolumbianischen Streitkräften die Fahnenflucht ist. Die Soldaten, die das Geld für sich behalten hatten, wurden für schuldig befunden. Man darf die Untersuchungen der Militärstrafjustiz der USA oder des deutschen Justizsystems nicht mit den Untersuchungen der kolumbianischen Militärstrafjustiz vergleichen. Die kolumbianische Militärstrafjustiz ist erheblich unterfinanziert, sie erhält weniger als zwei Euro pro Monat pro Einheit bzw. pro Büro für Bürokosten vom Verteidigungsministerium. Dies ist nicht einmal genug, um 72 Daun 2003: S. 90. 73 Novak 2006: S.15.

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das benötigte Papier zu bezahlen, ganz zu schweigen von Telefongebühren und anderen Kosten.

14. Und Major Ortegon? Die Anschuldigungen gegen Major William Ortegon bestehen darin, dass er mit einem der kolumbianischen Drogenkartelle74 und mit den verbotenen Paramilitärs75 zusammengearbeitet haben soll. Dies ist der gleiche Major William Ortegon, der im Jahr 2000 in einem Schusswechsel mit FARC76-Guerillas schwer verwundet wurde, sodass er sich fast ein Jahr in einem kolumbianischen Lazarett von seinen Wunden erholen musste. Dies ist der Major Ortegon, der mir oft die Einzelheiten dieses Gefechtes erzählte und mir den Artikel der kolumbianischen Streitkräfte über seine Tapferkeit und seinen Mut zeigte.77 Dies ist der Major Ortegon, der täglich Stolz über die Streitkräfte Kolumbiens zeigte. Dies ist der Major Ortegon, der als mein Leibwächter für meine Sicherheit sorgte. Dies ist der Major Ortegon, der eine geladene Waffe bei sich führte, wohin wir gingen und dem ich vollkommen vertraute, dass er sie nicht gegen mich verwenden würde. Während unserer zahlreichen rechtlichen, militärischen und philosophischen Diskussionen, erschien mir Major Ortegon als der Typ Mensch, der die kolumbianische Streitkräfte mit jeder Zelle seines Wesens lebte und daran glaubte. Als er beim Kampf gegen die FARC verwundet wurde, sagte er zu sich selbst wiederholt, „ich kann nicht sterben, ich kann meine Leute nicht verlassen, ich kann das Heer nicht betrügen...“.78 Er schlug sich durch in einem Kampf, der um vier Uhr in der Früh anfing und bis in die Nacht dauerte. Zum erwähnten Jamundi-Vorfall sagte Major Ortegon, er glaube, dass der Zwischenfall durch einen Ausfall der Kommunikation zwischen dem kolumbianischen Heer und der kolumbianischen Polizei verursacht worden wäre. Er wollte nicht glauben, was die Zeitungen berichteten, dass die Drogenkartelle befürchteten, die kolumbianische Polizei würde jetzt wirksam gegen sie vorgehen und deshalb die Soldaten dafür bezahlten, die Polizisten zu töten. Major Ortegon war zuvor Nachrichtenoffizier – und kolumbianische Nachrichtenoffiziere haben mir häufig ihre Besorgnis darüber mitgeteilt, dass das kolumbianische Recht sie nicht genügend schützen würde, wenn sie verdeckte Aktivitäten zur Informationsgewinnung unternähmen. Sie waren besorgt, dass die kolumbianische Justiz sie verfolgen würde, wenn sie verdeckt ermittelten, da ihre Arbeit den Eindruck der Zusammenarbeit mit dem Feind erwecken könnte.

74 Semana.com 2007. 75 Korrespondenz mit Ivan Gonzalez, ehemaliger stellvertretender Generalstaatsanwalt von Kolumbien, 2010. 76 Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia („Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens”), die bedeutendste noch aktive Gruppe linksgerichteter Narco-Guerrilleros. 77 Montana 2005. 78 Montana 2005.

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War dies vielleicht, was mit Major Ortegon passierte? Um wertvolle Informationen zu bekommen, hatte er gewagt, ohne rechtlichen Schutz allein weiter zu arbeiten, mit dem Ergebnis, dass er jetzt als Kollaborateur beschuldigt wurde. Oder hat er wirklich sein Land verraten, seine Streitkräfte, sein Heer, für das er fast gestorben wäre, um auf die Seite des Drogenkartells zu wechseln? Für was? Für Geld? Der Major Ortegon, den ich kannte, war ein einfacher Mensch. Sein Lieblingsgericht war eine Flasche Cola und ein Laib Brot. Er fuhr ein altes Auto. Er lebte auf einer militärischen Einrichtung. Die letzte Nachricht, die ich über Major Ortegon finden konnte, war die, dass er aus der Haft entwichen und jetzt auf der Flucht war. Warum floh Major Ortegon? War es, weil er dem kolumbianischen Justizsystem nicht vertraute? Obwohl Kolumbien keine Todesstrafen verhängt, könnte er möglicherweise zu vierzig Jahren Gefangenschaft verurteilt werden, der höchsten Strafe, die ein Gericht in Kolumbien verhängen kann. Das Letzte, was in der Öffentlichkeit von ihm zu hören war, war ein Anruf bei einem Mitarbeiter eines Radiosenders, in dem er seine Unschuld beteuerte.79 Wenn der Grund für seine Flucht darin liegt, dass er unschuldig ist, dann hat das derzeitige Maß der Rechtsstaatlichkeit keine ausreichende Glaubwürdigkeit und keine Legitimität. Stattdessen ist es in unserem Zeitalter der Kriege gegen nichtstaatliche Gewaltakteure wirkungslos und schädlich. Anstatt einfach das Rechtssystem zu reformieren, müssen wir entschlossen eine intellektuelle Transformation der Rechtsstaatlichkeit verfolgen. Der Rechtsstaat muss aus Sicht der Kombattanten und der Zivilisten als solcher akzeptiert werden.

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79 Semana.com 2007.

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3. Teil Staat und Terrorismus: Fallstudien

DOMESTIC TERRORISM. POLITISCHE GEWALT IN DEN USA Michael Seitz

1. Zur Phänomenologie des US-amerikanischen Terrorismus Im Wesentlichen zielt der Inhalt der zu betrachtenden Thematik darauf ab, den Wesensgehalt und die heterogenen Erscheinungsformen terroristischer Phänomene innerhalb der USA zu veranschaulichen, welche durch ausländischen Terrorismus in der medialen, öffentlichen und diskursiven Wahrnehmung oftmals in den Hintergrund gedrängt wurden und nach wie vor werden. Das Hauptaugenmerk liegt darauf, zwischen den herausstechendsten und prägnantesten Phänomenen zu differenzieren, diese dezidiert zu analysieren und sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede zu verdeutlichen, um ein adäquates Bild des inländischen Terrorismus in den USA skizzieren und resultierend hieraus mögliche Zukunftsperspektiven herausarbeiten zu können. Dabei spielen (gegenwärtig) insbesondere die Bereiche Rechtsterrorismus, Paramilitarismus und afro-amerikanischer Separatismus eine entscheidende Rolle, weswegen diese als konkrete Fallbeispiele herangezogen werden. Zugrunde liegt den vielfältigen Erscheinungsformen des substaatlichen domestic terrorism nahezu durchweg eine Ablehnung des politischen Systems, eine spezifische, zumeist (pseudo-) religiöse und/oder ideologisch-strategische Motivation und Programmatik, die allerdings mitunter nur vorgeschoben wird um deutlich weitreichendere Forderungen zu überdecken. Infolge der Einbeziehung der herrschenden kulturellen Software liefern die verschiedenen Wesensmerkmale zugleich erste Erklärungsansätze für ein derart gewaltsames Vorgehen und lassen ebenso gewisse utopische Züge offensichtlich werden. Bedenkt man die virulente staatskritische Haltung seitens der amerikanischen Bevölkerung gegenüber jeglichen obrigkeitsstaatlichen Formen, welche sich nahezu durch die gesamte Sozialstruktur zieht, spiegelt sich diese insofern ebenso wieder bei den verschiedenen substaatlichen Bewegungen und wird entsprechend agitatorisch verwandt, allerdings in drastisch verschärfter Form. „All diese anti-etatistischen Reflexe, die sich wie rote Fäden durch die amerikanische Geschichte ziehen, konvergieren in Big Government, dem Reizwort und Synonym für die zentrale Bundesautorität, die angeblich Steuern verschwendet und die Freiheit der Einzelstaaten, der Unternehmer und der kleinen Leute beeinträchtigt. Der Kampf gegen die ‚Feds‘ in Washington ist so alt wie Amerika.“1 Aus dieser Auffassung resultierende, in gewisser Weise angrenzende und zugleich weit darüber hinausgehende Forderungen terroristischer Manier sind insofern zumindest 1

Leggewie 1997, S. 30.

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partiell ebenso ein Bestandteil der herrschenden kulturellen Software. Dabei stehen sowohl die zentralstaatlichen als auch die einzelstaatlichen und lokalen Ebenen, Institutionen, Regierungen und Personen im Blickpunkt, die als Bestandteile des politischen Systems u.a. als despotisch, tyrannisch, repressiv, rassistisch, verfassungswidrig, bürgerfeindlich oder schlichtweg entartet diffamiert werden. Anhänger dieser oftmals sogenannten anti-governmental groups sind in nahezu allen Bevölkerungsschichten nachweislich, die personelle und ethnische Zusammensetzung ist in aller Regel abhängig von der jeweiligen Ideologie, wobei manifeste Gewaltanwendung in diesem Kontext eine überaus klare Trennlinie darstellt, wie auch die Ablehnung politischer Partizipation innerhalb des herrschenden Systems, welche von Extremisten und Terroristen per se gänzlich ausgeschlossen wird. Dabei reichen inhaltliche Schnittmengen von radikaldemokratischen, libertären, (Theo-, Neo-, Paläo-) konservativen bis hin zu primär extremistischen Ideologien, da gerade das ausgeprägte Freiheitsverständnis und eine geringe staatliche Einflussnahme auf das Individuum weitestgehend ein Bestandteil der diversen Anschauungen ist. Die Grenzen sind indes größtenteils fließend, eine klare Abgrenzung ist nur schwer zu ziehen und auch insofern stellt dieses Phänomen ein idiosynkratisches Geflecht dar, welches in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen allerdings keinesfalls zu vernachlässigen ist. Bezeichnenderweise definiert das F.B.I. Terrorismus u.a. im Zusammenhang mit einer konkreten Feindschaft gegenüber dem Staat, auch da der Begriff government sich nicht ausschließlich auf eine Regierung beschränkt, sondern das anglo-amerikanische Begriffsverständnis vielmehr das gesamte politische System und explizit den Staat umfasst: “The FBI defines terrorism as the unlawful use of force or violence against persons or property to intimidate or coerce a government, its civilian population, or any segment thereof, in furtherance of political or social objectives.”2

Insbesondere der ausländische, islamistische Terrorismus und der inländische Rechtsextremismus stehen des öfteren im Blickpunkt, wobei in diesem Kontext der Rechtsextremismus die größte Bedeutung innerhalb der USA ausübt. So beschränkt sich Terrorismus keineswegs nur auf internationale, durch ausländische und substaatliche Gruppierungen verübte Gewalttaten, sondern diese werden ebenso durch eigene, US-amerikanische Staatsbürger begangen. Motivationen, Ursachen und Akzeleratoren sind hierbei äußerst mannigfaltig und different, weswegen eher von Terrorismen als einer reinen Form des Terrorismus zu sprechen ist. Diese unterscheiden sich u.a. durch Zielsetzungen, Verortung, gesellschaftliche Akzeptanz, kulturellen Hintergrund, ethnischer Zusammensetzung, Gruppendynamik, Biografien, Bildungsgrad, Inhalte oder ideologisch-strategische Elemente, wobei all letztere auch teilweise lediglich vorgeschoben werden, um terroristische Gruppierungen überhaupt am Leben zu erhalten.3 Entsprechende Attentate und Anschläge wurden und werden durch weiße und schwarze Rassisten, schwarze Nationalisten, islamistische (ebenso christliche) Fundamentalisten, 2 3

Federal Bureau of Investigation (Offizielle Seite des F.B.I.) 2009. Vgl. Reinares 2002, S. 395.

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schwarze Muslime, kommunistisch geprägte Revolutionäre, Neo-Nazis, militante Juden, fanatische Abtreibungsgegner und Ökoterroristen begangen. Hewitt subsumiert zwischen 1954 und 2000 mehr als 3000 terroristische Aktivitäten und 700 weitere hierzu angrenzende Vorfälle innerhalb der USA und Puerto Rico.4 Dabei sind nicht ausschließlich substaatliche Gruppierungen ausschlaggebend, wie es durch diverse Einzeltäter deutlich wird, wobei an dieser Stelle etwa Theodore Kaczynski zu erwähnen ist, der sogenannte UNA-Bomber (Universities and Airlines). Dieser hat in seiner Weltanschauung verschiedenste, mitunter anarchische Elemente integriert und resultierend hieraus die Forderung nach einer Loslösung von jeglichen technologischen Errungenschaften gefordert, welche infolge der Industrialisierung, sowie systemischer Einflussnahmen jeglicher Art, den Menschen sukzessive von seinem natürlichen Wesen entfremdet hätten. Sein Freiheitsverständnis deckt sich dabei partiell mit Forderungen anderer Gruppierungen oder Individuen, wie es etwa anhand seines Briefwechsels mit Timothy James McVeigh deutlich wird, die beide die Einflusssphären des Staates ablehnten und auf eine fundamentale, vielmehr individualistisch-freiheitliche Neuordnung abzielten, wobei Gewalt zum revolutionären Mittel instrumentalisiert wurde. Eine derartige organisatorische, personelle, ethnische, strukturelle und ideologische Fragmentierung erschwert indes eine umfassende Spezifikation des gesamten Phänomens und erfordert zugleich eine differenzierende Analyse besonders frappanter Ausprägungen. Gemeinsam ist all diesen die Berufung auf ein zugrunde gelegtes höheres Recht, welches sich reziprok auf die jeweilige Ideologie, Programmatik und Struktur auswirkt, als Legitimationsstrategie für die manifeste Anwendung von Gewalt. Doch beruht ein derartiger Aktionismus stets auf spezifischen kulturellen Elementen und Motiven, welche sich eklektisch in Ideologie und Zielsetzung wiederspiegeln und mitunter Erklärungsmuster liefern weshalb Gewalt nicht als ultima ratio sondern gezielt als prima ratio angewandt wird. Die Legitimation von terroristischer Gewalt bleibt indes grundsätzlich fraglich, wobei eine generelle moralische Verwerflichkeit von derlei Aktionismus auch in historischen Auseinandersetzungen nicht zwingend nachweislich ist, wie beispielsweise die Diskussionen um die Rechtfertigung oder Notwendigkeit des Tyrannenmords5 oder ebenso die gesellschaftliche Akzeptanz von derartigen Handlungen belegen. Nach Waldmann beruhen Terror (staatlich) als auch Terrorismus (substaatlich) auf drei wesentlichen Elementen: „1. einem Gewaltakt oder dessen Androhung; 2. einer emotionalen Reaktion (im Zweifel starke Furcht; […]); 3. als Konsequenz des emotionalen Zustandes auf bestimmte Verhaltensweisen (Lähmung und Passivität, bisweilen auch hektische Aktivität um sich zu schützen.).“6 Zu dem dritten Kriterium ergänzt er die eigentlichen Zielvorstellungen, die nicht nur auf die psychologischen und emotionalen Wirkungen ausgerichtet sind, sondern zudem Unterstüt-

4 5 6

Vgl. Hewitt 2003. Vgl. Mariana 1978, S. 25–29. Waldmann 1998, S. 29.

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zung und aktive Mithilfe bei dem angestrebten Kampf hervorrufen sollen.7 Dabei ist auf eine strikte begriffliche und inhaltliche Trennung, wie etwa die vom Guerillakampf, hinzuweisen um die jeweiligen Spezifika auseinanderhalten zu können. Hoffman beschreibt deutlich den terroristischen Wesensgehalt, wonach dieser „unausweichlich politisch ist hinsichtlich seiner Ziele und Motive; gewalttätig ist- oder […] mit Gewalt droht; darauf ausgerichtet ist, weitreichende psychologische Auswirkungen zu haben, die über das jeweilige unmittelbare Opfer oder Ziel hinausreichen; von einer Organisation mit einer erkennbaren Kommandokette oder konspirativen Zellenstrukturen durchgeführt wird […]; und schließlich von substaatlichen Gruppen oder nichtstaatlichen Gebilden begangen wird.“8

Dennoch spielen insbesondere in den USA Einzeltäter ebenfalls eine entscheidende Rolle, was die generelle Schwierigkeit verdeutlicht, nicht verschiedene Terrorismen sondern eine Form dieses komplexen Spektrums zu definieren. „[…] aber mit Gewissheit lässt er sich nur als Anwendung von Gewalt durch eine Gruppe bezeichnen, die zu politischen oder religiösen Zwecken gewöhnlich gegen eine Regierung, zuweilen auch gegen andere ethnische Gruppen, Klassen, Religionen oder politische Bewegungen vorgeht.“9 Phänomenologisch wird Terrorismus gemeinhin unterschieden in nationalistisch-separatistische, sozialrevolutionäre, ethnisch-nationalistische beziehungsweise separatistische, internationale, religiöse, rechts- oder linksextremistische und vigilantistische Formen.10 In diesem Zusammenhang sind vor allem der nationalistisch-separatistische, ethnisch-nationalistische, religiöse, rechtsextremistische und vigilantistische Terrorismus entscheidend, welche seit Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts an personellem, strukturellem Ausmaß und Bedrohungspotential zugenommen und sich in diversen Gruppierungen manifestiert haben. Da sich viele dieser Bewegungen im Kampf gegen ein despotisches politisches und soziales System sehen, wird dieses gemäß ihrer Wahrnehmung repressive Machtmonopol prinzipiell in Frage gestellt und überdies als konkrete Bedrohung für die bürgerlich-freiheitlichen Grundrechte gedeutet, woraus sich das postulierte Widerstandsrecht herleiten lässt. Anzumerken bleibt, dass derlei Zielsetzungen nicht zwingend politischer Natur sind, denkt man beispielsweise an den Ökoterrorismus oder den gewaltsamen Kampf gegen legale Abtreibung und/oder Homosexualität der fundamentalistischen Rechten, welcher ebenso bei rechtsextremen Organisationen und dem paramilitärischen Spektrum auf positive Resonanz stößt und hierdurch eine erste gemeinsame inhaltliche Schnittmenge verdeutlicht. Die Bedeutung von Ideologie und Religion sind gerade in den USA absolut eminent. „Terrorists attack targets for ideological reasons. Indeed, it is their social and political objectives that serve to define them as terrorist attacks.“11 7 8 9 10 11

Vgl. Waldmann 2002, S. 38. Hoffman 2002, S. 55f. Laqueur 2001, S. 44. Vgl. Waldmann 2002, S. 44; Hoffmann 2002, S. 57-171; Laqueur 2001, S. 23–43. Hewitt 2003, S. 62.

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Die Ursachen für die Zunahme terroristischer Aktivitäten seit den sechziger Jahren können vielfältig sein, die wahrscheinlichsten liegen wohl erstens in den Möglichkeiten und Folgen, die sich aus der zunehmenden Globalisierung und Internationalisierung ergeben haben, insbesondere durch Kommunikations- und Transportmittel. Zweitens scheinen soziale Bewegungen und (extremistische) Protestzyklen mit der Gründung terroristischer Organisationen in einer engen Beziehung zu stehen.12 Betrachtet man den zweiten Ansatz, ist die Berücksichtigung der Bürgerrechts- und Studentenbewegung der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts aufschlussreich, die auch Ausdruck fand infolge der Zunahme linksextremer und separatistischer Organisationen, sowie einer gesellschaftlich-diametralen, reaktionären Haltung als Gegenentwurf, die als Akzelerator rechtsextremistischer Tendenzen diente. So sind sowohl Terrorismus als auch Extremismus in all ihren Erscheinungsformen keinesfalls unabhängig voneinander zu betrachten sondern deren Reziprozität zumeist entstanden aus bestimmten gesellschaftlichen Konstellationen, welche eine derartige Wechselbeziehung überhaupt erst ermöglicht haben. Infolgedessen können spezifische Überschneidungen zwischen beiden Phänomenen konstatiert werden, wobei Hewitt herausstellt, dass nahezu 56% der von ihm betrachteten Terroristen vormals in extremistischen Organisationen aktiv waren und ein Großteil der weiteren zumindest Kontakte pflegten, was die enge Verzahnung zwischen beiden Phänomenen widerspiegelt.13 „The timing of each outbreak of terrorism coincides, at least approximately, with the rise of extremist sentiments and with various indicators of extremist mobilization.“14 Amerikanische Terrorismen beschreibt er anhand zweier Faktoren: „First, there is a remarkable ideological diversity among American terrorists. […] Second, these ideological groupings are themselves divided into a numerous organizations and fractions. Furthermore a large number of attacks have been carried out by lone individuals apparently unaffiliated to any organization.“15 Gemäß Hewitts Untersuchung sind im speziellen folgende Phänomene besonders prägnant: Domestic terrorism White racist/Rightist Revolutionary left Black militants Anti-abortionist Jewish Other domestic/unknown

Inciden ts % 31,2 21,2 14,7 6,2 3,6 2,8

Fataliti es % 51,6 2,0 25,0 0,9 0,8 8,1

Abb. 1: Terrorist incidents and fatalities by those responsible, 1954–2000; Quelle: Hewitt 2003: S. 15. 12 13 14 15

Vgl. Backes/Jesse 1984, S. 287ff. Vgl. Hewitt 2003, S. 78. Hewitt 2003, S. 45. Hewitt 2003, S. 13.

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Bedeutsam ist in diesem Kontext, dass die Form, der Ausprägungsgrad sowie die Einflusssphären des Zentralstaates seit der amerikanischen Revolution stets ein wesentlicher Casus Belli waren, welcher seit den 1960er Jahren u.a. konträre paramilitärische, separatistische, rechts- und linksextremistische sowie vigilantistischen Erscheinungen begünstigt hat, die sich zumeist als Dissidenten verstehen, avantgardistische Freiheitskämpfer aufgrund eines postulierten Unrechts. Die bislang dramatischsten Konsequenzen dieser Sichtweise erfolgte am 19. April 1995 durch das Attentat von Timothy James McVeigh und Terry Nichols, infolgedessen das Alfred P. Murrah Gebäude in Oklahoma City gesprengt und dabei 168 Menschen getötet wurden, darunter 19 Kinder. Generell bewegen sich die zu betrachtenden Strömungen konträr zu den demokratischen Fundamenten, wobei besonders rechtsextremistische Organisationen hervorzuheben sind, neben paramilitärischen Neomilizen und schwarzen separatistischen Gruppierungen, welche das politische System sowie jegliche Partizipation hierin ablehnen. Linksterroristische Phänomene wie etwa die Weatherman Group als revolutionärer Arm der Studentenbewegungen (SDS - Students for a Democratic Society) der 1969er Jahre haben aufgrund ihrer ideologischen Fundierung politisch und gesellschaftlich kaum Einfluss in den USA ausüben können und lösten sich entsprechend schnell um 1971 wieder auf. Auch gegenwärtig sind linke bis hin zu linksrevolutionären Bewegungen, anders als in Europa, kaum von gesellschaftlicher oder politischer Bedeutung und insofern bei der folgenden Betrachtung vernachlässigbar. Die hate crimes Statistiken des FBI zeigen deutlich die jeweilige Motivation gewalttätiger Übergriffe, die am deutlichsten dem rechtsextremen Spektrum zuzuordnen sind.16 Insbesondere eine breite nationalistische, rassistische, antisemitische und anti-homosexuelle Motivation tritt hierbei deutlich hervor. In aller Regel liegt die Ausführung terroristischer Gewalt in den Händen nicht- oder substaatlicher Gruppen und Individuen, wobei erstere erfahrungsgemäß in kleineren Zellen agieren, teilweise autarke Netzwerke ausbilden, oder ebenso über eine hierarchische Führungsstruktur verfügen können. Unzweifelhaft ist, dass ein gewaltsamer, politischer Wiederstand gegen den konkreten Staat erfolgt, neben weiteren, insbesondere ethnischen Feindbildern, welcher durch Formen eines manifesten terroristischen Aktionismus seine kommunikative Strategie entblößt. Dass derartige Zielsetzungen, als Ausdruck des revolutionären Wesens, ebenfalls utopische und in aller Regel zukunftsorientierte Züge tragen, stellt u.a. Camus heraus: „Die Terroristen wollen im Grunde eine Kirche gründen, aus welcher eines Tages der neue Gott hervorgehen wird.“17 Neben der Anwendung von physischer Gewalt ist auch die psychische Gewalt von entscheidender Bedeutung, wie etwa durch Drohungen, Denunzierung von Personen/Gruppen oder der Verwendung bestimmter Symbolik. Auch die Sprache, die nicht nur konstitutiv ist sondern nach Austin performative Motive enthält und somit ein gewisses Tun anstrebt, beinhaltet infolge des illokutionären Aktes soziale Wirkungen aufgrund des gesprochenen Wortes. Butler argumentiert in 16 Federal Bureau of Investigation (Offizielle Seite des F.B.I.) 2009. 17 Camus 1997, S. 191.

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diesem Zusammenhang, dass die von einem Subjekt geäußerte Sprachhandlung selten durch dieses bewusst kontrolliert wird, sondern auf vorangegangenen, gewissermaßen historischen Sprach- oder eben Begriffsverständnissen beruht, „weil in ihr frühere Sprachhandlungen nachhallen und sie sich mit autoritativer Kraft anreichert, indem sie vorgängige autoritative Praktiken wiederholt bzw. zitiert.“18 Das impliziert allerdings eine Befreiung des Subjekts aus seiner Verantwortbarkeit, indem derartige Sprachhandlungen im Sinne Habermas umgangssprachlich-naiv, und somit nicht reflexiv ausgeübt werden, woraus sich schließen lässt, dass die Verantwortung des Menschen für sein Tun gerade in der Fähigkeit seiner reflexiven Auffassung begründet liegt. Bedeutsam ist dieser Sachverhalt etwa bei der juristischen Wertung der sogenannten hate speech, wobei die implizierte Bedeutung solcher Sprachakte durchaus als historisch gewachsen bezeichnet werden kann, im Zusammenhang mit einem spezifischen Begriffsverständnis, etwa was die Verwendung denunzierender Ausdrücke anbelangt. „Schließlich möchte ich darauf hinweisen, dass sich das Sprechen der Gerichte durch eine eigene Gewalt auszeichnet und dass gerade die Institution, die befugt ist über die Problematik der hate speech zu urteilen, diesen Hass in ihrer und als ihre eigene höchst folgenreiche Sprache wieder in Umlauf bringt und mit einer neuen Richtung versieht, wobei sie sich die Sprache, über die sie zu urteilen sucht, vielfach aneignet.“19

So hat bereits die hate speech stets eine politische Dimension um eigene Ziele durchzusetzen, Feindbilder zu diffamieren und gleichzeitig die Politik zu konterkarieren. Als Teilaspekt psychischer Gewalt ist es eine generelle Zielsetzung, durch ebendiese Anwendung den Opfern gegenüber einen Zwang auszuüben um „diesen Schaden zuzufügen oder ihnen gegenüber den eigenen Willen durchzusetzen, insbesondere um andere der eigenen Herrschaft zu unterwerfen, bzw. sich selbst einem solchen Fremdanspruch zu entziehen.“20 Es geht folglich auch um die Ausübung von Macht, die integraler Bestandteil der verschiedenen Ideologien ist. Daneben ist auch das Gefühl einer politischen Ohnmacht oder Frustration nicht zu vernachlässigen, dem mittels Gewalt entgegengewirkt wird um den eigenen Standpunkt zu publizieren, zumeist als gruppendynamisches Phänomen. „Der Einsatz von Gewalt als politisches Mittel dient dazu, in den Augen der Akteure revolutionäre Situationen herbeizuführen, die Staatsmacht zu provozieren, er kann aber auch nur aus Lust an der Gewalt bestehen […].“21 Subsumiert sind prinzipiell allen drei Subjekten der Gewalt (personell, strukturell und institutionell) Formen der physischen und psychischen Gewaltanwendung immanent, die auf verschiedenen Ebenen und in einem unterschiedlichen Ausmaß angewandt werden und deren Motivation zumeist aus Machsucht und/oder dem Gefühl einer politischen Ohnmacht herrührt, als revolutionärer Akt. Terroristische Bewegungen in den USA bewegen sich in ebendiesem Kontext, sie sprechen dem Staat das Monopol legitimer institutioneller Gewaltanwen18 19 20 21

Butler 2006, S. 84. Butler 2006, S. 88. Holtmann 1991, S. 214. Jaschke 2007, S. 39.

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dung ab, unterstellen simultan despotische Entwicklungen oder ein gänzlich entartetes politisches System, das es in letzter Konsequenz zu ersetzen gilt. Gewalt ist dabei ein wesentliches, jedoch nicht zwingend alleiniges Element zur Durchsetzung des eigenen (Macht-)Anspruchs. Propagandistische Mittel, Gebrauch von Massenmedien, öffentliche Auftritte und Demonstrationen zählen ebenso zu der kommunikativen Strategie, gerade im Bereich des Extremismus. Die Gewalt entwickelt dabei eine Form der Eigendynamik, gewissermaßen einer Gewaltspirale, die einzelne Personen oder auch Gruppen entweder mehr und mehr vereinnahmt, oder zu einem Ausstieg von dem eingeschlagenen Kurs führt, da gewisse (ethische) Grenzen durch manche Personen nicht überschritten werden. Die einzelnen möglichen Stufen solcher Gewaltentwicklung sind im Folgenden gemäß Grumkes Gewaltpyramide dargestellt:

Abbildung 2: Gewaltpyramide Quelle: Grumke: USA. S. 207

Auf der anderen Seite versuchen sich politische Entscheidungsträger und staatliche Organe gegen derartige Formen von Feindschaft zur Wehr zu setzen, wobei ein Rechtsstaat grundsätzlich dafür Sorge zu tragen hat, sich „nicht selbst zu Tode zu schützen“22, sondern die eigenen Grundsätze zu wahren. Sollten rechtsstaatliche Grenzen übertreten oder außer Kraft gesetzt werden, liefert eben dieses Vorgehen terroristischer Agitation eine konkrete Grundlage, insbesondere in der öffentlichen Wahrnehmung. Beispiele hierfür sind u.a. die jahrhundertelange Diskriminierung und Versklavung der Schwarzen, das gewaltsame Vorgehen des 22 Scheerer 2006, S. 517.

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F.B.I. in Ruby Ridge und Waco, neue Waffengesetze, die nach Ansicht diverser Gruppen den Verfassungsgrundsätzen zuwider laufen, sowie eine sukzessive Ausweitung zentralstaatlicher Kompetenzen etwa durch Anti-Terror Gesetze, was derlei Agitationen immer wieder neu befeuert. Schlussendlich bleibt die Gewalt in all ihren Formen dennoch nur ein Instrumentarium um eigene Zielvorstellungen zu forcieren und diesen entsprechend Nachdruck zu verleihen. Aufgrund des gewählten Mittels verliert dieser Anspruch allerdings seine Mobilisierungsfunktion und entbehrt eines vernunftorientierten Fundamentes, da ein manifester Zwang außerhalb eines diskursiven und meinungsbildenden Prozesses ausgeübt wird. Anders hingegen das Recht auf Selbstverteidigung, dessen Anwendung gemeinhin als fundamentales Recht jedes Menschen zur Verteidigung seines höchsten Besitzes, des eigenen Lebens, als legitim und zumeist legal gilt. Formen der Selbstlegitimation spielen insofern eine entscheidende Rolle, da solche Gewalteskalationen zumeist vereinzelt, spontan und seltener organisiert auftreten. Gefestigt in einem spezifischen, ideologisch aufgeheizten Weltbild ist das Individuum bereit, das jeweilige Feindbild gezielt zu konfrontieren, als eine persönliche Gewissensentscheidung des Subjekts, wobei dieses in letzter Konsequenz das eigene Leben als größtmögliches Pfand einsetzt. „Es leitet seinen Anspruch ab von Gott und damit von einem irdischer Autorität übergeordnetem Gehorsam; es leitet seinen Anspruch von der Art und der Heimat ab, von der Zuständigkeit des Geborenen, von der Wirklichkeit der Person.“23 Terroristische Gewalt wird hiernach zu einem Selbstzweck, deren manifester Anwendung dennoch Grenzen gesetzt sind aufgrund des persönlichen Gewissens jedes Individuums, welches bestimmt, wie weit der Mensch bereit ist für seine Überzeugungen zu gehen.

1.1 Rechtsterrorismus Populismus, Polemik und Gewalt gegenüber einzelnen Ethnien oder Religionsangehörigen sind ein inhärenter Teil der amerikanischen Geschichte, wobei die gewählten Feindschemata zu unterscheiden sind.24 So dienten etwa zu Beginn der Kolonialisierung und mit der zunehmenden Landnahme Richtung Westen noch die amerikanischen Ureinwohner als zentrales Feindbild.25 Dies änderte sich sukzessive infolge der Niederlage der Südstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg 1861–1865 sowie dem hieraus resultierenden gesellschaftlichen und industriellen Wandel und der nationalen Konsolidierung welche gegen Ende des 19. Jhr. abgeschlossen war. Das hierauf folgende Erstarken eines Nationalbewusstseins förderte zusätzlich Einstellungen mit einem exklusiven Charakter neben einem in Teilen

23 Schroers 1989, S. 21. 24 Brown 1994, S. 75ff. 25 Vgl.: Eismann/Janson 1963, S. 11ff.

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rigiden Verfassungspatriotismus, welcher verstärkt im 20. Jahrhundert zu Tage trat.26 Durch den Nativismus determinierte Vorstellungen führten nicht nur zu der Bekämpfung der irisch-katholischen aliens durch die natives, den Protestanten, sondern auch anderer Minoritäten, wobei sich dieses Feindschema etwa seit 1880 anfing zu verschieben.27 Aufgrund der Akzentuierung eines biologischen Rassismus folgte überdies eine zunehmende Diffamierung und Unterdrückung farbiger Bürger und Immigranten asiatischer Herkunft, die bis zu der gezielten Ermordung reichte.28 So fielen in den Jahren 1882 bis 1951 nach offiziellen Quellen rund 3.400 Schwarze den Übergriffen weißer Amerikaner zum Opfer, wohingegen die Dunkelziffer wahrscheinlich weitaus höher liegt.29 Padderatz spricht in dem Zeitraum zwischen 1865 und 1968 von insgesamt 4.742 bestätigten Lynchmorden.30 Rassistische Unterscheidungen wurden zudem auch auf weiße Emigranten angewandt: „Viele Amerikaner waren auch davon überzeugt, dass die nach 1880 einsetzende so genannte ‚Neue Einwanderung‘ aus Süd- und Osteuropa […] rassisch minderwertig war.“31 Zu Beginn des 20. Jahrhundert wurde der Antisemitismus ein zentrales Thema und diente als Ausgangspunkt diverser Verschwörungstheorien. Beispiele hierfür sind u.a. Henry Fords Zeitung The Dearborn Independent mit Auszügen aus den Protokollen der Weisen von Zion, oder auch der katholische Priester Charles E. Coughlin, der vor dem Verbot seiner zunehmend faschistoiden Radiosendung 1942 bis zu 30 Mio. Zuhörer erreichte und das Hauptproblem der Zeit in einer jüdisch beherrschten Weltordnung sah.32 Verschwörungstheorien bilden insofern bis heute einen integralen Bestandteil rechtsextremer Ideologie.33 „For example, in the United States there is apparently widespread belief in a ‚New World Order‘ conspiracy, one designed to turn the country over to the United Nations or international bankers or both. “34 Die in den USA gesellschaftlich weit verbreitete Ablehnung des Kommunismus ging mit dieser gesamten Entwicklung einher und erreichte ihre größte Bedeutung nach dem II. WK,35 wobei sie desgleichen innenpolitisch auf erhebliche Resonanz stieß, setzt man sich exemplarisch mit dem McCarthyismus auseinander. Ein erster signifikanter Anstieg der Anzahl rechtsextremer und daraus resultierender rechtsterroristischer Organisationen und Einzeltäter ist vor allem gegen Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts festzustellen.36 Dabei werden in 26 Bei 1981 durchgeführten Umfragen haben bereits 96% der befragten Amerikaner angegeben, stolz auf die eigene Nation zu sein, was als deutlicher Indikator für deren patriotische Einstellung gewertet werden kann. Vgl. Minkenberg 1998, S. 177. 27 Vgl. Grumke 2001, S. 36ff. 28 Vgl. Minkenberg 1998, S. 121ff. 29 Vgl. Gurr 1989, S. 11. 30 Vgl. Padderatz 2007, S. 24. 31 Avery/Steinisch 1998, S. 82. 32 Vgl. Grumke 2001, S. 38ff. 33 Vgl. Laqueur 2001, S. 125. 34 Kaplan/Weinberg 1998, S. 11. 35 Vgl. Eismann/Janson 1963, S. 6ff; Leggewie 1997, S. 178. 36 Vgl. Toy 1989, S. 139.

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den USA lediglich als terroristisch eingestufte Organisationen als nicht verfassungskonform eingestuft, im Gegensatz zu dem europäischen Verständnis von Extremismus.37 Begriffe wie radical right, extreme right, racist right, far right, right wing, facism, white seperatism, white supremacy, hate groups oder auch neo-nazi unterstreichen zugleich eine festzustellende Heterogenität des gesamten rechtsextremen Spektrums, was eine inhaltliche und begriffliche Präzisierung notwendig macht.38 „Die extreme Rechte ist keine hochorganisierte und disziplinierte Vereinigung mit einer klaren Parteilinie, sonder eher ein allgemeines Milieu, in dem sich terroristische Individuen und Grüppchen entwickeln können.“39 Allerdings ermöglicht eine entsprechende Differenzierung eine adäquate Gegenüberstellung, wobei Gewaltakzeptanz ebenso eine Unterscheidungsmöglichkeit bietet, welche von Terroristen nunmehr gezielt gegen das zugrundeliegende Feindbild angewandt wird. Hierbei ist auf die enge Verzahnung von Rechtsextremismus sowie Rechtsterrorismus hinzuweisen. Auffallend ist zugleich der Zeitpunkt der Zunahme dieses Phänomens. Während sich auf der einen Seite Kriegsgegner, Linke, Liberale und Pazifisten gegen den Vietnam-Krieg formierten, entstand eine reaktionäre Gegenbewegung, die völlig konträre „weiße“ Werte und Vorstellungen entgegenhielt. Folgende Übersicht skizziert die unterschiedlichen Grundlagen: 1. 2. 3. 4.

Pseudo-Religiosität, Weißer protestantischer-Fundamentalismus, Neonationalsozialismus, Paramilitarismus.

Immer wieder kommt es zu Übergriffen und Gewaltakten gegenüber anderen ethnischen Gruppen, Minoritäten oder Staatsbediensteten durch Angehörige der extremen Rechten.40 „The contemporary wave of right-wing terrorism can be characterized ideologically in several ways – neo-Nazi, Christian Identity, survivalist, anti-government, etc. – and most groups embody various combinations of these ideological strains. “41 In Zahlen gefasst umfasst das gesamte Phänomen etwa 100.000 bis 200.000 Personen. Gemeinhin wird ein endzeitlicher Rassekampf propagiert, welcher gegen alle anderen Rassen und das als Zionist occupied Government denunzierte politische System zu erfolgen hat, „denn es geht um das Überleben der ‚weißen Rasse‘ selbst, welche von ‚nicht-weißen‘ Feinden ebenso bedrängt wird wie von ‚Verrätern‘ aus der eigenen Rasse.“42 Dees schreibt hierzu: „They are men who believe that we are in the middle of a ‚titanic struggle‘ between white Aryans, God’s chosen people, and Jews, the children of Satan. Their blueprint for winning the struggle is found in the Turner Diaries, the story of a 37 38 39 40 41 42

Vgl. Grumke 2001, S. 20. Vgl. Grumke 2001, S. 18. Laqueur 2001, S. 141. Vgl. Hoffman 2002, S. 137ff. Hewitt 2003, S. 64. Grumke 2001, S. 248.

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race war that leads to the downfall of our government.”43 In diesem Zusammenhang wird Gewalt als „probates“ Mittel zur Durchsetzung der eigenen (Macht-) Interessen instrumentalisiert. „Gewalt ist in das amerikanische nationale Erbe eingebettet. Wenn in den USA von einer ‚Kultur der Gewalt’ gesprochen werden kann, dann ist die Subkultur rechtsextremer Gewalt darin kein Fremdkörper. Darüber hinaus ist Gewalt ein notwendiges Merkmal des Rechtsextremismus im Allgemeinen und ein zentrales ideologisches Element des amerikanischen Rechtsextremismus im Besonderen.“44

Heitmeyer skizziert seit den 1960er Jahren ein sehr komplexes Bild bezüglich rechtsterroristischer Gewalt. Auf der einen Seite haben sich die Racial Attitudes seit 1960 zum Positiven gewandelt, was beispielsweise an der sozialen Ausgrenzung von schwarzen Bürgern festgemacht werden kann. Auf der anderen Seite lässt sich durch die seit 1991 erhobenen Hate-Crime-Daten ein signifikanter Anstieg von rechtsextrem motivierten, gewaltsamen Übergriffen ausmachen.45 „An analysis by the Intelligence Report, based on extensive reporting and a key academic study, finds that the real level of hate crimes – currently running at about 8,000 a year in the FBI statistics – is probably closer to 50.000.“46 Besonders erwähnenswert ist die neonationalsozialistische National Alliance, da diese Organisation nach Informationen der ADL zu der am gefährlichsten einzuschätzenden Vereinigung innerhalb der Vereinigten Staaten zählt. Zudem hat Dr. William Pierce, der ehemalige Führer dieser Organisation, die Turner Diaries47 verfasst, welche einen entscheidenden Einfluss auf Timothy McVeigh ausübten und im gesamten rechtsextremen Milieu geradezu einen „biblischen Charakter“ angenommen haben. Terroristische Aktionismen entstehen zumeist basierend auf einer solchen extremistischen Fundierung, entweder infolge einer aktiven Mitgliedschaft in entsprechenden Organisationen oder bisweilen ideologischen Annäherung durch lose Kontakte mit dieser Weltanschauung. Die von Louis Beam geprägte leaderless resistance führte hierbei immer wieder zu gewaltsamen Übergriffen, wonach eruptiv terroristische Anschläge unabhängig und autark von organisatorischer Lenkung zu erfolgen hätten. Grumke stellt drei entscheidende rechtsextremistische Strömungen heraus:

43 44 45 46 47

Dees 1996, S. 7. Grumke 2001, S. 249. Vgl. Heitmeyer 2002, S. 535. Center for Democratic renewal (Offizielle Seite des C.f.D.r.) 2009. Der von Pierce unter dem Pseudonym Andrew MacDonald verfasste Roman behandelt das Thema einer apokalyptischen, weißen Revolution, in der die amerikanische Regierung, andere Rassen und Juden Ziel eines zunächst terroristisch geführten Rassenkampfes werden. Schlussendlich wird die Welt von allen „minderwertigen“ Rassen befreit, durch den Einsatz von Atomwaffen und die Auslöschung feindlicher Staaten und Territorien, wie z.B. Israel und Afrika.

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1. Die Christian Identity Bewegung, 2. Neonationalsozialistische Organisationen, 3. Creativity/III.Weg.48 Diese unterscheidet er anhand ihrer Charakteristika sowie ihrer ideologischen Fundierung. Hiernach ist die Christian Identity Bewegung eine seit dem 18. Jahrhundert bestehende anglo-israelitische Strömung, welche die weißen Nordeuropäer als „wahre“ Nachfahren der genuinen 10 Stämme Israels ansieht und aufgrund ihrer pseudo-christlichen Prägung eine wichtige Strömung als Schnittmenge mit der religiösen Rechten ausmacht. Darüber hinaus verstehen sie die USA als „gelobtes Land“, gewissermaßen das neue biblische Jerusalem, was dem propagierten Nationalismus überdies eine religiöse Fundierung ermöglicht.49 Verbreitet wird diese Lehre u.a. von der La Porte Church of Christ, neben der Church of Jesus Christ Christians sowie den Aryan Nations. Neonationalsozialistische Organisationen wiederum lehnen das Christentum in Teilen ab und beziehen sich primär auf nationalsozialistische und politischreligiöse Inhalte, Symbolik, Swastika, neben einer Glorifizierung des Nationalsozialismus des III. Reichs sowie der Person Hitlers. Auszugsweise zählt Grumke hierzu die NSDAP/AuslandsOrganisation und die National Alliance, wobei bereits nach dem II. Weltkrieg erstmals eine Nazi-Organisation entstand, in Form der American Nazi Party von George Lincoln Rockwell.50 Es muss allerdings festgehalten werden, dass nationalsozialistische Inhalte an die amerikanische Kultur angepasst wurden und nur in Teilen der „tradierten“ Ideologie entsprechen, wobei der Antisemitismus eine zentrale Kumulation darstellt. „Als Neonazis gelten jene zumeist männlichen Aktivisten des rechtsextremen Spektrums, die sich offen in die Tradition des Nationalsozialismus stellen - ideologisch-programmatisch und/oder über Symbolik und Gruppenverhalten“,51 wobei der Begriff „Neo-“ nicht nur im Sinne eines zeitlich Neuen zu verstehen ist. So umfasst bspw. das Verständnis des Ariertums die gesamte weiße Rasse, es werden keine völkischen sondern vielmehr universal-rassistische Unterscheidungen getroffen, die nunmehr auf alle andersfarbigen Rassen angewandt werden. Creativity wurde in den 1970er Jahren als Church of the Creator gegründet und propagiert eine elitäre, sozialdarwinistische „Dominanz“ und rassische „Höherwertigkeit“ der weißen Rasse als Glaubenslehre. Desgleichen distanziert sich Creativity strikt von dem Christentum. Diese propagierte Ideologie weist, analog zu den anderen rechtsextremen Strömungen, einen direkten Gegensatz zu dem Judentum und infolgedessen einen offensichtlichen Antisemitismus auf, begreift die Juden als Rasse, nach Grumke vulgär-darwinistisch bzw. biologistisch.52 Es handelt sich hierbei um eine pseudo-religiöse Vereinigung, die ihre ethnozentrischen und rassistischen Überzeugungen als Politische Religion propagiert. 48 49 50 51 52

Vgl. Grumke 2001, S. 5. Hoffman 2002, S. 147. Grumke 2001, S. 54ff., S. 109ff. Jaschke 2007, S. 37. Grumke 2001, S. 66.

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Übergreifend gilt das gesamte politische System als Agitator gegen Interessen und Grundrechte der weißen Bevölkerung. Es wird von nahezu sämtlichen Organisationen als gewählte Volksvertretung kategorisch abgelehnt.53 Gewalttätige Ausbrüche gegen andere „Rassenangehörige“, Juden oder Staatsbedienstete erfolgen immer wieder, sind mitunter organisiert oder entstehen zumeist eruptiv gegen die skizzierten Feindbilder. „Sheriff's deputies gunned down by ‘Aryan’ gangsters in Bastrop, La. Tax protesters with bombs arrested in New Hampshire. Gun-toting white supremacists marching in Jena, La. A police officer murdered in Salt Lake City. Nativist leaders demanding sniper teams and mines along the Mexican border. Calls for assassinating politicians, immigrants and Jews. Rapidly spreading racist conspiracy theories. The end of 2007 brought to a close another year marked by staggering levels of racist hate in America. Even as several major hate groups struggled to survive, other new groups appeared, and the radical right as a whole appeared to grow.“54

Gruppen wie The Order, benannt nach dem inneren Zirkel aus den Turner Diaries, waren in den 1980er Jahren bis zu ihrer endgültigen Zerschlagung an einigen Anschlägen beteiligt und unterstreichen deutlich die extremistische Fundierung. Trotz all dieser unterschiedlichen Erscheinungsformen weisen deren Anhänger spezifische ideologische Überschneidungen und Analogien auf, dabei primär rassistische, antisemitische und ethnozentrische Kernelemente, nehmen mitunter offen Bezug zu einem arischen Selbstverständnis oder offenbaren bisweilen paranoide Züge angesichts einer Art Selbstimmunisierung mittels diverser Verschwörungstheorien, wie der bereits erwähnten New World Order. Der 1866 gegründete Ku Klux Klan gilt als die älteste, nach wie vor bestehende rechtsextreme, bisweilen als rechtsterroristisch beschriebene Vereinigung, wenn auch gegenwärtig in unterschiedlichen Ausprägungen, was in den einzelnen historischen Entwicklungsschritten begründet liegt. Seine Blütezeit lag in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit geschätzten Mitgliederzahlen von bis zu fünf Millionen.55 Noch 1965 hatte er 1.660.000 Sympathisanten, vor allem in den Südstaaten.56 Zudem gilt er als Vorbild der heutigen rechtsextremen Milizen. Die ADL spricht derzeit von geschätzten 5.000 Mitgliedern, das S.P.L.C. 2008 von 186 unterschiedlichen Suborganisationen des Klans.57 „Some Klan groups adapted to this challenge by becoming more like neo-Nazi and skinhead groups, adopting their symbols, regalia, tattoos, slogans, and even music. A number of Klan groups have abandoned the use of the traditional hoods and robes, eschewing them altogether (typically wearing some form of military uniform instead) or only using them during ceremonies. As a result, today a Klansman might just as easily resemble a racist skinhead in dress and appearance as he might the traditional hooded and robed figure that most people associate with the Klan.“58

53 Vgl. Laqueur 2001, S. 139ff. 54 Southern Poverty Law Center (Offizielle Seite des S.P.L.C.) 2009. 55 Vgl. Grumke 2001, S. 155. Leggewie (1997: S. 177) spricht von einer Zahl zwischen drei bis 4 Millionen. 56 Vgl. Hewitt 2003, S. 25. 57 Vgl. Anti Defamation League (Offizielle Seite der ADL) 2008. 58 Anti Defamation League (Offizielle Seite der ADL) 2008.

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Der Imperial Klan of America (IKA) hat sich bspw. 2006 von seinen anachronistischen und vermeintlich „christlichen“ Wurzeln gelöst, und akzeptiert seither ebenfalls die Mitgliedschaft von Nicht-Christen, was sowohl eine Nähe zu Creativitiy als auch neonationalsozialistischen Gruppen impliziert, und darüber hinaus die generell übergreifende Annäherung an neonationalsozialistische Bewegungen deutlich unterstreicht. Infolgedessen hat die Bedeutung des traditionellen Klans im Vergleich zu anderen Gruppierungen mittlerweile deutlich abgenommen.59 Festzuhalten bleibt, dass der Rechtsextremismus und hieraus resultierende rechtsterroristische Phänomene neben Verschwörungstheorien, der strikten Ablehnung des Pluralismus und Multikulturalismus, menschlicher Fundamentalgleichheit und der Billigung von Gewalt durch verschiedene ideologische Parameter geprägt ist, wozu primär Ultranationalismus, Rassismus, Antisemitismus und ethnozentrische Merkmale zu zählen sind. Entscheidend ist ausschließlich die eigene, weiße Bezugsgruppe, welche in einem Rassekampf sozialdarwinistischer Prägung das eigene Überleben gegen Andersfarbige sowie das politische System zu sichern hat. Idealerweise ein Garant von Meinungsfreiheit, Gleichheit, Pluralismus und Multikulturalismus, wird der demokratische Staat hierdurch zum Feindbild stilisiert und rückt in den Blickpunkt rechtsextremer Agitation. Zielsetzung ist dabei eine Minimierung staatlicher Gewalt in einem föderativen, vielmehr regionalen System oder konträr hierzu ein arischer Führerstaat nationalsozialistischer Prägung, abhängig von der jeweiligen ideologischen Fundierung. Der Staat hätte hiernach ausschließlich den, wie auch immer definierten, weißen „Interessen“ zu dienen.

1.2 Neomilizen und terroristischer Aktionismus Die verschiedenen Neomilizen verstehen sich gewissermaßen als Selbst- oder Bürgerschutzorganisationen vor staatlicher Despotie in der Tradition der amerikanischen Revolution.60 „Theirs was a lawful movement, grounded in centuries of divinely inspired jurisprudence; a defensive movement to protect American values and ideals; and a deliberative movement composed of men arranged in hierarchies governed by order and legitimacy. In reality, the militias were nothing of the sort.“61 Eine grundlegende Problematik, die sich aus dieser Selbstwahrnehmung ergibt, ist bereits die Frage nach den tatsächlichen historischen Wurzeln der Milizen neben den zugrundeliegenden Werten amerikanischen Selbstverständnisses. Dees spricht in dem Zeitraum 1994 bis 1996 bereits von mindestens 441 Organisationen, deren gemeinsames Merkmal staatsfeindliche Charakteristika sind.62

59 60 61 62

Vgl. Hewitt 2003, S. 18. Vgl. Hoffman 2002, S. 144. Levitas 2002, S. 301. Dees 1996, S. 199.

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In den genannten Zeitraum fiel ebenfalls das Attentat von McVeigh, der sich innerhalb des ideologischen Gemenges der verschiedenen Neomilizen bewegt hatte. „Although no apparent direct connection exists between members of any militia group and the bombing, those arrested held and expressed views espoused by some militia groups. Following the bombing, television, newspaper, and magazine features presented in-depth – if somewhat alarmist - exposes of the militia movement and the beliefs and values of militia members.“63

Als ehemaliger Infanteriesoldat während des ersten Golfkrieges kristallisierte sich seine zunehmend staatsfeindliche Haltung heraus, die wesentlich geprägt war durch diverse Kontakte zu Milizengruppen. „Zuallererst war der Bombenanschlag ein Akt der Vergeltung: ein Gegenangriff für die gehäuften Angriffe […] an denen in den vergangenen Jahren Bundesbeamte beteiligt gewesen waren […]. Deshalb sollte dieser Bombenanschlag auch ein Präventiv- (oder Proaktiv-) Schlag gegen eben diese Streitkräfte und ihre Kommando- und Kontrollzentralen in dem besagten Gebäude sein.“64

Die Zentralregierung agiert seinem Verständnis nach im Sinne einer repressiven und gewalttätigen Despotie gegen die amerikanische Bevölkerung wie auch gegen ausländische Nationen, der mit Formen von Gegengewalt Einhalt geboten werden muss. Diese Vorstellung wird untermauert durch verschiedene Verschwörungstheorien wie sie desgleichen im paramilitärischen Milieu verbreitet werden. So vertrat er unter anderem die Meinung, dass die CIA für die Drogenproblematik in den USA verantwortlich sei, oder die Zentralregierung die Bürger auf verschiedenste Arten insgeheim überwacht.65 Allerdings ist das gesamte Erscheinungsbild der Neomilizen durchweg divergent; betrachtet man ihre Grundzüge, sind diese am ehesten als reaktionär, waffenvernarrt, staatsfeindlich und durch Verschwörungstheorien gekennzeichnet zu charakterisieren. „Wie die europäischen Wehrsportgruppen sammeln die Militias höchst unterschiedliche Leute auf: Waffennarren, Wichtigtuer, Werwölfe - und eine kleine, entschlossene Gruppe politischer Unternehmer, die eine ernste Bedrohung darstellen können.“66 Besonderen Auftrieb erhielt die gesamte Bewegung durch den Ruby Ridge Vorfall 1992 sowie das Desaster mit der Branch Davidian Sekte im texanischen Waco 1993, welches auch für Timothy McVeighs Anschauungen entscheidend waren,67 der exakt zwei Jahre nach Waco den Anschlag auf das Alfred P. Murrah verübte, da das FBI und die DEA in dem Gebäude Büros unterhielten. Ein weiteres gesellschaftliches Mobilisierungspotential erfuhren die Milizen durch die Brady Bill von 1994, aufgrund derer die Entwaffnung der Bürger in absehbarer Zeit befürchtet wurde, woraus sich überdies die radikale Stützung auf den zweiten Verfassungszusatz ableiten lässt, dem verfassungsrechtlich garantier-

63 64 65 66 67

Federal Bureau of Investigation 1997. Vidal 2002, S. 91f. Vgl. Serrano 1998, S. 47ff. Leggewie 1997, S. 190. Vgl. Vidal 2002, S. 92.

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ten Recht Waffen zu tragen.68 „Da eine gut ausgebildete Miliz für die Sicherheit eines freien Staates erforderlich ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden.“69 2003 spricht das S.P.L.C. noch von 158 Gruppen, die staatsfeindliche Einstellungen aufzeigen und landesweit verteilt sind, mit Schwerpunkten im mittleren Westen.70 „The Intelligence Project identified 131 ‘Patriot’ groups that were active in 2007. Of these groups, 43 were militias and the remainder includes ‘common-law’ courts, publishers, ministries and citizens’ groups. Generally, Patriot groups define themselves as opposed to the ‘New World Order’ or advocate or adhere to extreme antigovernment doctrines.“71

Dees beschreibt die der Patriot movement zugeschriebenen Gruppierungen folgendermaßen: „With about five million followers, it is a movement that exists at the fringe of American life and politics. On its moderate side are the John Birch Society and the conspiratorial segment of televangelist Pat Robertson’s audience; both believe that a handful of wealthy elites are intent on establishing a one-world government or New World Order that will undermine Christianity. On the movement’s more militant side are groups promoting themes of white supremacy and anti-Jewish bigotry-groups like the American Christian Patriots, Posse Comitatus, and Christian Identity. Somewhere in the middle is the Washington-based Liberty Lobby, which blends virulently anti-Zionist and racialist views with conspiracy theories and more orthodox conservative beliefs.“72

Die Anzahl der rechtsextremen und schwerbewaffneten Milizionäre umfasst nach Leggewie schätzungsweise 15.000-25.000 Personen, organisiert in etwa 45 verschiedenen paramilitärischen Vereinigungen.73 „The militia movement is heir to the right-wing paramilitary tradition, but it is heir, too, to another tradition, the anti-government ideology of groups like the Posse Comitatus. The Posse developed an elaborate conspiratorial view of American history and government, one that claimed the legitimate government had been subverted by conspirators and replaced with an illegitimate, tyrannical government. Posse members believed that the people had the power and responsibility to ‘take back’ the government, through force of arms if necessary.“74

Historisch betrachtet wurde ein stehendes Heer vor und während der Zeit der amerikanischen Revolution kritisch und als Bedrohung der bürgerlichen Freiheit gesehen, ein Lösungsvorschlag wurde durch die Etablierung regulärer bürgerlicher Milizen umgesetzt, wie etwa den damaligen Minute- oder Freeman, die in Form einer jederzeit abrufbaren Bürgermiliz Teil der Verfassung wurden. Die Umsetzung des Dick Acts 1903, und der damit verbundenen Außerkraftsetzung des Militia Acts aus dem Jahr 1792, führte letztlich zur Festschreibung der National Guard als einziger legaler und regulärer Miliz unter der direkten Kontrolle des Staates mit dem Präsidenten als Oberbefehlshaber. Dieser Sachverhalt wird von 68 69 70 71 72 73 74

Vgl. Hoffman 2002, S. 138ff. II. Amendment der „Bill of Rights“ aus dem Jahr 1791. Sautter 2000, S. 195. Vgl.: Southern Poverty Law Center 2009. Ebd. Dees 1996, S. 30. Vgl. Leggewie 1997, S. 193. Anti Defamation League (Offizielle Seite der ADL) 2009.

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den Neomilizen zumeist schlichtweg ignoriert, weshalb auch der Begriff Neomilizen gebraucht wird, um ebenso eine Abgrenzung von den genuinen Milizen und neuen rechtlichen Rahmenbedingungen zu ermöglichen. Diese verstehen sich nichtsdestotrotz als „wahre“ Patrioten, sind jedoch nicht ausnahmslos als extremistisch zu kategorisieren. George und Wilcox haben fünf Kategorien unterschieden und diese nach Umfang und Motivation der Mitglieder gesondert betrachtet. Nach dieser Einordnung existieren Wertkonservative, Freizeitabenteurer, konservativ-liberale, anarcho-libertäre und rechtsextreme Neomilizen.75 „Die Mitglieder all dieser Gruppen […] betrachten sich selber als „Freiwillige“: als gewöhnliche Bürger und Patrioten, die bereit sind schnellstens zu den Waffen zu greifen, wenn sich die Notwendigkeit dazu ergibt, um ihre unveräußerlichen Rechte zu verteidigen; selbsternannte Erben der Tradition der amerikanischen Revolution.“76

Hierzu zählen auszugsweise Gruppen wie die Militia of Montana, Big Star one, Republic of Texas, Indiana Militia, Viper Militia, West Virginia Mountaineer Militia, Arizona Patriots u.a.77 Die originäre Verfassung von 1787 wird gemeinhin als Begründung für derartigen Aktionismus herangezogen, auch um einer gesellschaftlichen Mobilisierungsfunktion gerecht werden zu können, da die Unterstützung seitens der Bevölkerung als essentiell für einen erhofften Erfolg angesehen wird. „The Militia is not an ‘Anti-Government’ group, but an ‘Anti-Corruption in Government’ group. The Militia is We The People enforcing the God given rights that every human being should have. Militia members do not walk around carrying guns and wearing army fatigues, looking for someone to shoot. A Militia member is a person who has sworn to uphold the Constitution and all laws which do not conflict with the Constitution, a Citizen who is willing to give his/her life in the defense against foreign or domestic invasion of Family, Home, Neighbors and Country. A Militia member is not your enemy, but on the contrary, a protector of the Constitutional Rights of everyone in the United States of America.“78

So sind die Gruppierungen aggressiv bis defensiv eingestellt, sind mitunter neonationalsozialistisch gesinnt und befassen sich mit Hitlers Mein Kampf, oder unterstreichen demgegenüber die Notwendigkeit die Bibel neben der originären Verfassung zu studieren.79 „It is the virulent hatred of the federal government that is driving the militia movement, while at the same time masking its insidious racist underpinnings.”80 Rassistische Fundierungen sind innerhalb dieses Phänomens ebenso nachweislich, auch durch einige Splittergruppen des originären Ku Klux Klans, wie etwa die Imperial Klans of America, die deutlich rassistische Züge und Motive offenbaren. Auch McVeigh wurde oftmals als Rechtsextremist bezeichnet, da die Turner Diaries als Blaupause für den Anschlag gelten. Allerdings sind allenfalls rudimentäre Zusammenhänge nachweisbar, als Rassisten und Anhänger einer weißen Vorherrschaft kann man ihn kaum bezeichnen, zutreffender ist es, 75 76 77 78 79 80

Vgl. George/Wilcox 1996, S. 249. Hoffman 2002, S. 144. Vgl. Hoffman 2002, S. 141ff. Militia of Montana (Offizielle Seite der M.O.M.) 2008. Vgl. Laqueur 2001, S. 146ff. Dees 1996, S. 4.

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ihn als Anhänger der Patriot movement zu charakterisieren. Persönlichen Kontakt mit Pierce oder sonstigen führenden Personen der rechtsextremen Bewegung hatte er nicht. Kaczynski, der ebenfalls im Kontakt mit McVeigh stand, schreibt in einem offenen Brief an Herbeck und Michel: „McVeigh is considered to belong to the far right, and for that reason some people apparently assume that he has racist tendences. But I saw no indication for that. [...] McVeigh told me of his idea that certain rebellious elements of the American right and left respectively had more in common with one another than is commonly realized, and that the two groups ought to join forces.“81

Gemeinsamkeiten von links- und rechtsextremen Gruppen festzustellen gestaltet sich generell als schwierig, hier ist insbesondere die totalitäre Dimension von Bedeutung, wobei in diesem Kontext besonders das revolutionäre Element einer fundamentalen Umwälzung entscheidend ist. Auch Kaczynski empfahl für seine angestrebte Revolution sämtliche Widerstandsbewegungen zu vereinigen, allerdings linksextreme Gruppen ausgenommen, um die revolutionäre Kraft zu bündeln und gegen das herrschende System zu wenden. Die Verschmelzung eklektisch-reaktionärer, mitunter anarcho-libertärer, religiöser und auch extremistischer Inhalte wird bereits hier ersichtlich. Hinzu kommen anti-homosexuelle und anti-pluralistische Haltungen, die wiederum Gemeinsamkeiten mit fundamentalistischen Vereinigungen verdeutlichen. Immanent ist allen Gruppen eine militante Grundhaltung, die im Rahmen von Waffenausbildungen, militärischem Drill, Ausbildung in Guerillataktiken oder schlichtweg deren Uniformierungen Ausdruck findet. „They are people who see their government as their enemy and who believe its laws and legal system are used not to help and protect them, but to take away their rights, infringe on their beliefs, and destroy their way of life. They are people who respond to what they believe is a higher call. Rather than obey the laws, they resist them as a matter of principle. Even to the death.“82

Diesem Phänomen liegen diverse verschwörungstheoretische Muster zugrunde, wie bspw. die seit Jahrzehnten bestehende Vorstellung einer kommunistisch geplanten Machtübernahme der USA, eine vermeintlich geplante Okkupation durch die Vereinten Nationen in Form einer New World Order, mitunter durch Unterstützung von Straßenbanden bestehend aus Latinos und Schwarzen.83 Diese Vorstellungen werden in Teilen untermauert mittels einer apokalyptisch-milleniaristischen Überzeugung, wie sie u.a. die Christian Identity Bewegung lehrt, neben anderen fundamentalistischen Organisationen.84 Hieraus resultieren ein propagandistischer Populismus, Einschüchterungen, Bedrohungen und manifeste Gewalt gegen die zugrundeliegenden Feindbilder, auch in Form terroristischer Anschläge. „Bedroht werden vor allem Bundesbeamte, Richter, Staatsanwälte und Sheriffs, die für Milizangehörige eine illegitime Macht in ihren jeweiligen Kommunen 81 82 83 84

Herbeck 2001, S. 398. Dees 1996, S. 15. Vgl. Laqueur 2001, S. 145; Hoffman 2002, S. 139f. Vgl. ebd.: S. 154.

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ausüben.“85 Die Ablehnung staatlicher Autoritäten umfasst insofern die lokale, einzel- und bundesstaatliche Ebene sowie deren Organe. „Members of some militia groups have evolved their own common law and common law courts derive from their understanding of history and their interpretation of the U.S. Constitution. Central to their belief is the distinction they make between Common Law Sovereign Citizenship and Fourteenth Amendment Citizenship. Sovereign Citizenship, they believe, belongs to whites as a birthright and guarantees them freedom from tyranny, which they tend to identify with all current government entities above the local level.“86

Jurisdiktion wird nur durch eine eigene Gerichtsbarkeit, eine Form von common law anerkannt, darüber hinaus werden von einigen Gruppierungen (sovereign citizens) eigens Führerscheine, Ausweise und Zahlungsmittel erstellt um die Loslösung von dem politischen System zu symbolisieren, was ebenfalls in der Weigerung Steuern zu zahlen Ausdruck findet. Zugleich usurpieren sie polizeiliche und militärische Befugnisse um eigene innerstaatliche Ziele letztendlich mittels Gewalt durchzusetzen, unabhängig von geltendem Recht, als Variante eines vigilantistischen Terrorismus. Die Verbindung McVeighs zu verschiedenen Neomilizen brachte diese punktuell in selbstdefinitorische Bedrängnis, gerade da sich viele nicht-extremistische Milizionäre von dem Anschlag distanzierten und einige Gruppen sogar auflösten. Amerikanische Bürger zu ermorden um eine propagierte „tyrannische“ Regierung zu stürzen passte nicht mit dem Selbstverständnis einiger Milizionäre überein, die vermeintlich die Bevölkerung vor politischem, sozialem und moralischem Despotismus schützen wollten. Gerade ein propagierter Verfassungspatriotismus und die Ehrerbietung der originären Verfassung sind besonders hervorstechend, neben einer putativen Inspiration durch die Gründerväter. „Patrick Henry, John Locke, of course many of the Founding Fathers: George Washington, Thomas Jefferson, Benjamin Franklin, John Adams, Samuel Adams. I thought those men were, at the time they were extremely well-educated. They could talk us in circles these days, we wouldn’t know what they were talking about. I really respected their observations and analyses of history past.“87

Demgegenüber gab es antagonistische Argumentationsstränge, welche die Regierung als verantwortlich für den Anschlag McVeighs skizzierten. „Indeed, several militia leaders alleged that the government itself had carried out the bombing in order to discredit the anti-government movement and create a crisis atmosphere in which new anti-terrorist legislation could be passed.“88 Der Gegensatz zum demokratischen Staatswesen ist virulent, wobei nach außen ein Verfassungspatriotismus postuliert wird. Leggewie verweist auf diesen Sachverhalt und stellt insbesondere deren Beanspruchung des zweiten Verfassungszusatzes heraus: „Die Militias überdehnen das tiefe, im Waffenbesitz symbolisierte Freiheitsstreben der Amerikaner in eine exzessive Auslegung des zweiten Verfassungszusatzes. ‘The Right to Keep 85 86 87 88

Grumke 2001, S. 148. Swain 2002, S. 62. McVeigh 2009. Hewitt 2003, S. 128.

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und Bear Arms‘ ist tief in der amerikanischen Mythologie verwurzelt. Dem gottesfürchtigen Familienvater steht es selbstverständlich zu, seine Familie mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. […] Die Militias interpretieren das Second Amendment ‚insurrektionistisch‘, eine auch am Rande etablierter Juristenkreise verbreitete Auslegung.“89

Der Anwendungsbereich dieses Verfassungszusatzes ist keineswegs unumstritten, insbesondere in juristischen Kreisen. Gebräuchlich ist in aller Regel eine restriktivere Auslegung, die ein solches Verhalten lediglich in Notfällen erlauben würde. Subsumiert wird ein eklektisches Geflecht offenbar. So werden z.B. spezifische Verfassungselemente beansprucht, einseitig interpretiert und gegen das politische System verwendet, andere Verfassungszusätze hingegen (Bill of Rights), etwa die Gleichberechtigung der Schwarzen und somit egalitäre Bürgerrechte, zumindest in Teilen abgelehnt. Eine postulierte despotische oder tyrannische politische Entwicklung wird diesem vorangestellt, woraus sich ein vermeintliches Widerstandsrecht herleitet. Um dieser postulierten Entwicklung entgegen zu wirken, findet man in einigen paramilitärischen Ausbildungslagern für Jahre ausreichende Nahrungsvorräte und Bunkeranlagen, die dazu dienen sollen, ein Refugium gegen vermeintlich einfallende Kräfte zu bilden.90 Die auf Verschwörungstheorien basierende Überzeugung, dass derartige Kräfte bereits aktiv sind und gezielt auf einen Endkampf hinarbeiten, wird von nahezu allen Neomilizen geteilt und hat sich in den verschiedensten Feindbildern manifestiert, in Teilen ebenso basierend auf rassistischen, antisemitischen, ethnozentrischen, antikommunistischen oder antiegalitären Elementen. Dabei wird eine Partizipation innerhalb des politischen Systems abgelehnt, wodurch sich die Neomilizen von demokratisch-prozessualen Gestaltungs- und Einflussmöglichkeiten deutlich distanzieren. Auffällig sind hingegen spezifische Gemeinsamkeiten wie etwa der propagierte Verfassungspatriotismus, Ultranationalismus, insbesondere personelle und inhaltliche Überschneidungen mit der Patriot und/oder sovereign citizen Bewegung, der fundamentalistischen Rechten, Zusammenhänge mit der „grassroots-Bewegung der konservativen Revolution“91, und schließlich das stringente Beharren auf dem Grundrecht Waffen zu besitzen. „Neo-Milizen sind ein hervorragendes Bindeglied zwischen dem konservativen Lager, der radikalen und der extremen Rechten.“92 Diese Überschneidungen und enge Verzahnung erschweren indes eine klare Abgrenzung, lassen jedoch den Schluss einer möglichen sukzessiven Annäherung zu, indem spezifische Aspekte dieses Gedankenguts akzentuiert und gewaltsam gegen den Staat angewendet werden, als Ausdruck eines krassen anti-governementalen und mitunter rassistischen Charakters.

89 90 91 92

Leggewie 1997, S. 194. Vgl. Hoffman 2002, S. 137. Leggewie 1997, S. 193. Grumke 2001, S. 154.

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1.3 Afro-amerikanischer Separatismus Afro-amerikanischer Separatismus stellt in dem zu betrachtenden Spektrum zweifelsohne einen Sonder- oder Ausnahmenfall dar, auch da er infolge rassistischer Diskriminierungen und rechtlicher Ungleichbehandlungen durch weiße Bevölkerungsteile sowie aufgrund der Forderung eines eigenen, separierten Nationalstaats entstanden ist. Zwar wurde die Sklaverei bis 1869 formell abgeschafft, gleiche Rechte wie die weiße Mehrheit erhielten die Schwarzen allerdings erst in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Jedoch distanzierten sich separatistische Gruppen, als extremistischer Ausfluss der schwarzen Bürgerrechtsbewegung 1950-1965, deutlich von gemäßigten Bewegungen wie unter Martin Luther King, der gewaltlosen Protest predigte um Gleichheits- und Freiheitsrechte ebenso uneingeschränkt für die schwarze Bevölkerung zu erlangen. Als Folge rechtlicher, politischer und sozialer Diskriminierung entstanden im Rahmen der Forderungen nach Gleichbehandlung partiell auch gewaltbereite Tendenzen, die gegen real existierende Ungleichbehandlung aufbegehrten, ein aktives Widerstandsrecht für sich in Anspruch nehmend. Erfolge erzielten allerdings nicht die radikalen/extremistischen/terroristischen Gruppen oder Persönlichkeiten, wie etwa die Nation of Islam unter Elijah Muhammad oder Malcolm X, ebenso wenig separatistische Gruppierungen wie die 1966 gegründete Black Panther Party. BPP und NOI sind jedoch voneinander zu trennen, da es sich bei der Nation of Islam vorrangig um eine religiöse Vereinigung handelt, wohingegen die BPP schwarzen Nationalismus einforderte. Hierdurch rückte zunehmend die staatliche Exekutive als Organ des politischen Systems in den agitatorischen Blickpunkt, und es wurde gezielt in Guerillamanier gegen die Polizei operiert. Allerdings kam es auch zu internen Auseinandersetzungen, infolgedessen sich die Black Liberation Army von der BPP spaltete, da erstere progressive Gewalt gegen die Polizei verübte, die BPP sich aber vielmehr auf das Recht der Selbstverteidigung bezog. Die Mau Mau oder die Death Angels töteten mitunter wahllos Weiße, wodurch etwa 400 Menschen ihr Leben verloren.93 Lyndon B. Johnson erreichte schließlich 1964 durch den Civil Rights Act eine Aufhebung der Segregation, welcher als direkte Folge des permanenten und friedlichen politischen Drucks seitens der gewaltlosen Bürgerrechtsbewegung zu sehen ist.94 Nichtsdestotrotz kam es zeitgleich zu einem Zuwachs extremistischer Gruppierungen, die vorrangig zwischen 1960 und 1970 aktiv waren. Ein zentraler Berührungspunkt all dieser Organisationen war die Ablehnung des Staates, der als rassistisch und repressiv wahrgenommen wurde. Hiernach unterdrücke dieser die Interessen und bürgerlichen Rechte der schwarzen Bevölkerung um diese gewissermaßen niederhalten zu können, weswegen eine nationale Loslösung von den Vereinigten Staaten angemahnt wurde. Als Wiedergutmachung für die jahrhundertelange menschenverachtende Sklaverei hätten diese allenfalls die Verantwortung, den Schwarzen zur Widergutmachung einen eigenen Staat zuzusprechen, 93 Hewitt 2003, S. 17. 94 Berg 1998, S. 157f.

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und keinesfalls das Recht, verfassungswidrig weitere Repressalien zuzulassen. „Blacks in the United States were, until recently, disfranchised in many states, and continue to be underrepresented in terms of voting strength, political power and influence.”95 Deutet man Terrorismen als Folge politischer Entfremdung und Frustration, da eigene, unpopuläre Meinungen offenkundig kaum akzeptiert und einer angestrebten Mobilisierungsfunktion gerecht werden, sind schwarze Separatisten ebenso von dieser Ausgrenzung betroffen und verschaffen sich nunmehr auf eine andere Weise Gehör. Hewitt stellt in diesem Kontext generell ein Dilemma fest: „Consequently, in so far as political issues have a racial character, black interests and concerns will often be disregarded.“96 Gegenwärtig ist die New Black Panther Party for self-defense ein zu erwähnendes Fallbeispiel, die zwar von ihrer gesellschaftlichen Bedeutung her als gering zu bewerten ist, allerdings ebenso einen schwarzen nationalen Separatismus einfordert, ähnlich wie es die Nation of Islam nach wie vor tut. „The count of racist black separatist groups went up almost 66% last year, largely driven by the addition of more than 30 additional chapters of the New Black Panther Party.”97 Dabei kann die NBPP auch als Gegenpol zu der Zunahme rechtsextremer weißer Organisationen gedeutet werden, ebenso als Widerstandsbewegung gegenüber gesellschaftlichen/sozialen Verhältnissen, in denen Schwarze nach wie vor überwiegend zu der Unterschicht zu zählen sind. Doch es gibt auch andere Beispiele, in denen anhand des durchschnittlichen Bildungsgrads einer terroristischen Organisation diese der höheren sozialen Schichtung zugeordnet werden kann, wie etwa die Mitglieder der 1984 verhafteten New African Freedom Fighters.98 Dass Gewalt zur Interessendurchsetzung als elementares Mittel in die operative Vorgehensweise mit einbezogen wird, hat u.a. die ADL nachgewiesen: „Muhammad had clear ideas for dealing with whites who did not leave immediately: ‘We kill the women. We kill the babies. We kill the blind. We kill the cripples. We kill them all. We kill the faggot. We kill the lesbian. .[…] When you get through killing them all, go to the goddamn graveyard and dig up the grave and kill them a-goddamn-gain, because they didn’t die hard enough’ the first time.“99

Auf der Internetseite der NBPP ist ähnliches moderater zu lesen: „We struggle to reform areas in our community or nation from the negative behavior that the slave master and the decadent American way of life imposed upon us. We believe in our divine and legal rights to self-defense after over 400 years of abuse.“100 Es geht unzweifelhaft um eine Form von Gegengewalt, die hier als Notwehr ausgelegt wird. Als Aggressoren werden die weiße Bevölkerung und insbesondere das politische und gesellschaftliche System gedeutet. Die negative Interpretation des „American way of life“ unterstreicht diese ablehnende Grundhaltung. Dabei be95 96 97 98 99 100

Hewitt 2003, S. 23f. Hewitt 2003, S. 24. Southern Poverty Law Center 2009. Vgl. Hewitt 2003, S. 72. Southern Poverty Law Center 2009. New Black Panther Party for self defense (Offizielle Seite der N.B.P.P.) 2009.

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zieht sich die NBPP bereits namentlich auf die 1966 von Huey Newton und Bobby Seale in Oakland, Kalifornien, gegründete militante Bewegung der BPP, die afro-amerikanischen Nationalismus, Marxismus und Gegengewalt rechtlicher Ungleichbehandlung und staatlichen Repressionen entgegengehalten hat. Die Bedeutung der Gruppe mit geschätzten 5.000 Mitgliedern verlor allerdings seit den 1970er Jahren deutlich an Einfluss und Bedeutung, nicht zuletzt durch die nachweislichen Erfolge der Bürgerrechtsbewegung.101 In den 1990er Jahren erlebte die Bewegung einen neuen Aufschwung, insbesondere durch inhaltliche Überschneidungen mit der Black Panther Militia, die von dem ehemaligen Mitglied der BPP, Michael McGee, ins Leben gerufen wurde.102 Allerdings war er selbst nicht bei der NBPP aktiv, sondern propagierte schwarze Gegengewalt mittels Guerillataktiken und untermauerte diesen Widerstand mit national-separatistischen Elementen.103 Entscheidend für die NBPP sind vor allem Khallid Abdul Muhammad, Aaron Michaels und Malik Zulu Shabazz, welche die stete Entwicklung vorangetrieben haben. Letzterer ist mittlerweile das Oberhaupt der Gruppe, deren ideologischen Parameter von der ADL als „a mix of black nationalism, Pan-Africanism and racist and anti-Semitic bigotry“104 beschrieben werden. „After the death of its former leader Khallid Muhammad in February 2001, Malik Zulu Shabazz, a Washington D.C. based attorney, took over leadership of the group. Under Shabazz, the group continues to organize demonstrations across the country that blend inflammatory bigotry with calls for black empowerment and civil rights.“105

Der Hauptsitz der NBPP befindet sich in Washington D.C., deren autoritative Struktur von dort aus geführt wird. Aufgrund der rassistischen und antisemitischen Akzentuierung haben sich allerdings ehemalige Angehörige der BPP von dieser neuen Form der Gruppierung distanziert. „Several members of the original Panthers have condemned the NBPP’s racism and antiSemitism. Bobby Seale, co-founder of the original Panthers, believes that the New Panthers have ‘hijacked our name and are hijacking our history’. David Hilliard, a former original Panther and executive director of the Dr. Huey P. Newton Foundation, said that the New Panthers ‘totally abandoned our survival programs’. He also said that the racism that the group ‘espouse(s) flies directly in the face of the Black Panthers' multicultural ideology and purpose’.“106

Propagandistische Mittel werden auch von dieser Gruppierung hinreichend genutzt, bspw. durch öffentliche Demonstrationen wie den Million Youth March, Veranstaltungen an diversen Universitäten, einer eigenen Internetseite auf der diverse Videos, Musik und Artikel heruntergeladen werden können neben weiteren öffentlichen TV-Auftritten. Ähnlich wie bei der ursprünglichen BPP werden nach wie vor staatliche Repressionen und rechtliche Benachteiligungen der 101 102 103 104 105 106

Vgl. Anti Defamation League 2009. Vgl. Southern Poverty Law Center 2009. Vgl. Anti Defamation League 2009. Ebd. Ebd. Anti Defamation League 2009.

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Schwarzen durch die weiße Bevölkerung postuliert, weswegen sich diese mit allen Mitteln entgegenstellen und zustehende bürgerliche Rechte einzufordern. So kam es bereits vereinzelt zu Auseinandersetzungen mit der Polizei oder auch Angehörigen rassistischer weißer Gruppen, wie bspw. Gruppen des KKK. Bedeutende inhaltliche und personelle Verbindungen bestehen insbesondere zu der Nation of Islam. Khallid Abdul Muhammad war ein hochrangiges Mitglied dieser Organisation und ein Mentor von Shabazz, der während seiner Studienzeit 1988 die Unity Nation zur Unterstützung der NOI gegründet hatte.107 Bedeutsam ist, dass neben dem Islam auch christlich-religiöse Überzeugungen toleriert werden, wohingegen das Judentum vollkommen ausgegrenzt wird, was bereits inhärente antisemitische Wesenszüge offenbart. Die NOI ist in diesem Zusammenhang als islamische Organisation deutlich restriktiver, da sie lediglich den Islam als „wahre“ Religion anerkennt. Demokratische Grundprinzipien, wie etwa die Gleichberechtigung von Mann und Frau, werden von dieser negiert, dem Mann kommt eine Vormachtsrolle in einer patriarchalisch gegliederten (Familien-) Struktur zu, ebenso gibt es deutliche Distanzen gegenüber dem politischen System. „We want our people in America whose parents or grandparents were descendants from slaves, to be allowed to establish a separate state or territory of their own - either on this continent or elsewhere. […] we believe our contributions to this land and the suffering forced upon us by white America, justifies our demand for complete separation in a state or territory of our own.“108

Eine weitere Forderung zielt auf die Beendigung der staatlichen Besteuerung, wonach alle Schwarzen hiervon ausgenommen werden sollten. „Although black nationalist groups saw the police (including black police officers) as the enemy, black religious cults saw whites in general as the enemy. The theology of the Nation of Islam portrayed whites as devils created by the evil scientist Yakub, and this theme was constantly repeated in speeches and sermons.“109

Infolgedessen gibt es keine Unterscheidung zwischen tatsächlichen weißen Rassisten und der restlichen Bevölkerungsteilen. Bestandteil dieser (Glaubens-) Lehre ist eine strikte rassische Trennung von allen Weißen, wodurch das rassistisches Dogma unterstrichen wird. Wichtigste Forderungen hierbei sind zunächst die nationale Unabhängigkeit infolge völliger rassischer Separation, nicht nur territorial, sondern als radikale Entzweiung von jeglicher Einflussnahme der weißen und jüdischen „Peiniger“. „And, as our political objective, we want NATIONAL LIBERATION in a separate state or territory of our own, here or elsewhere, ‘a liberated zone’ (‘New Africa’ or Africa), and a plebiscite to be held throughout the BLACK NATION in which only we will be allowed to participate for the purposes of determining our will and DIVINE destiny as a people.“110

Um diese Zielsetzung zu erreichen, müssen zunächst spezifische, als problematisch verstandene Konstellationen verändert werden, wie bspw. vielfältige Inter107 108 109 110

Ebd. Nation of Islam (Offizielle Seite der Nation of Islam), 2009. Hewitt 2003, S. 63. New Black Panther Party for self defense, 2009.

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dependenzen vieler Schwarzen innerhalb des weißen Systems. Hierzu wird u.a. ein Ende der Besteuerung gefordert, wirtschaftliche Kooperation nur unter Schwarzen und ein Ende des Militärdienstes für eine als „rassistisch“ diffamierte amerikanische Regierung: „We want all Black Men and Black Women to be exempt from military service. We believe that Black People should not be forced to fight in the military service to defend a racist government that holds us captive and does not protect us. We will not fight and kill other people of color in the world who, like Black People, are being victimized by the white racist government of America. We will protect ourselves from the force and violence of the racist police and the racist military, ‘by any means necessary’.“111

Offen formulierte Zielsetzung ist die Errichtung einer schwarzen nationalen Gemeinschaft, da hiernach nur durch diesen Schritt eine adäquate Zukunft für die Schwarzen entstehen würde, wie es ebenso von der NBPP gefordert wird. „We as a local and national party strive for Black Unity (Umoja) and Black Solidarity with other Black organizations worldwide. We shall build alliances with organizations, leaders, Churches, Mosques and like. When necessary we must deal firmly and appropriately with ‘Black’ leadership who betray the interests of the Black community or Black Nation.“112

Hiernach ist es eine wesentliche Zielsetzung die verschiedenen schwarzen Gruppen zu vereinigen, aber zugleich auch zu radikalisieren. „We want tax exemption and an end to robbery of THE BLACK NATION by the CAPITALIST. We want an end to the capitalistic domination of Africa in all of its forms: imperialism, criminal settler colonialism, neo-colonialism, racism, sexism, zionism, Apartheid and artificial borders.”113 Aufgrund ihrer Inhalte, Argumentation und Gewaltakzeptanz kann die NBPP zweifellos dem extremistischen Spektrum zugeordnet werden, da ebendiese Elemente verwandt, propagiert und beansprucht werden. „We believe that this wicked racist government has robbed us, and now we are demanding the overdue debt of reparations. A form of reparations was promised 100 years ago (forty acres and a mule) as restitution for the continued genocide of our people and to in meaningful measure and repair the damage for the AFRICAN HOLOCAUST.“114

Dass die Sklaverei und Verschleppung der Afrikaner aus ihren Heimatländern offen als Holocaust dargestellt wird, kann ebenfalls als Verweis auf antisemitische Ausgangspunkte gelesen werden, neben der bereits dargestellten Ablehnung des Zionismus und weiteren Aussagen. „Shabazz also championed the discredited notion that Jews were ‘significantly and substantially involved’ in the African slave trade. He claimed that Jews owned ships, financed ‘slave endeavors’ and held plantations in South America. As his source he cited the NOI’s The Secret Relationship Between Blacks and Jews, which argues that the history of slavery in the New World was dominated by Jewish ship owners and merchants. He also called the Talmud

111 112 113 114

Ebd. Ebd. Ebd. New Black Panther Party for self defense, 2009.

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racist, citing alleged passages demeaning to Blacks, and saying, ‚your own holy book is a racist book‘.“115

Erfolge derartiger separatistischer Phänomene sind bislang allenfalls nur sehr bedingt festzumachen, nicht zuletzt da eine rassistische und mitunter antisemitische Propaganda zumeist eine öffentliche Distanzierung nach sich zieht. Es ist allerdings schwer abzuwägen, welche Bedeutung tatsächlich (inter-) national von der NBPP oder der NOI ausgeübt wird. Als diametraler Gegensatz zu weißen rassistischen Bewegungen stellen sie zweifellos einen Sonderfall dar, wobei ebenso Formen der Gewalt einbezogen und angewandt werden. Die prägende Einflussnahme auf extremistische und in Teilen terroristische Gruppierungen ist allerdings keinesfalls von der Hand zu weisen, weswegen auch hier eine religiöse Organisation in gewisser Weise ein Bindeglied zwischen derlei separatistischen Gruppen darstellt und diesen Ansichten überdies eine pseudo-religiöse Fundierung liefert.

2. Zukunftsperspektiven Differenziert man die verschiedenen innerstaatlichen Terrorismen gemäß ihrer ideologischen Grundlagen, wurden die meisten Anschläge und Attentate durch weiße Rechtsextremisten, schwarze militante Separatisten sowie linksterroristische Gruppen verübt.116 Allerdings hat die Bedeutung von Linksterrorismus in den letzten Jahrzehnten deutlich abgenommen. Infolge der Analyse der betrachteten terroristischen Phänomene lassen sich zunächst zwei wesentliche Charakteristika herausstellen: Zum einen wird das politische System in aller Regel als entartet und insbesondere despotisch wahrgenommen, woraus ein Widerstandsrecht hergeleitet wird um sich gezielt zur Wehr zu setzen. Zum anderen basiert die Fundierung zumeist auf dem extremistischen Spektrum. Zielsetzung ist entweder eine Loslösung oder in letzter Konsequenz eine Abschaffung des herrschenden politischen Systems, um dieses schließlich durch einen neuen politischen Mythos zu ersetzen. Hierbei spielt vor allem der exklusive Nationalismus eine entscheidende Rolle, der lediglich der auserwählten ethnischen/rassischen/sozialen Bezugsgruppe eine Zugehörigkeit zu der eigenen Nation erlaubt, oder fernab hiervon einen eigenen Nationalstaat einfordert. Die Möglichkeiten der Einbringung in den politischen Diskurs sowie eine direkte Partizipation werden kategorisch ausgeschlossen, da eine Teilhabe die originären Zielsetzungen abschwächen könnte, oder schlichtweg die Argumentation gebraucht wird, wonach man in einem despotischen System selbst korrumpiert und dekadent werden könnte. Vielmehr geht es darum, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, diese von der eigenen „Sache“ zu überzeugen und durch Formen der Gewalt Aufmerksamkeit zu erlangen. Schlussendlich soll die Erosion des Staates durch Unterstützung seitens der Bevölkerung erreicht werden. Derlei Sichtweisen werden durch die Nutzung verschiedener Medien publiziert, so vorrangig das In115 Anti Defamation League 2009. 116 Vgl. Hewitt 2003, S. 15.

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ternet, Buch- und DVD Verkäufe, öffentliche Demonstrationen und Auftritte, etc. Verschwörungstheorien sind ebenfalls ein gebräuchliches Mittel, vermeintlich vorherrschende Konstellationen zu proklamieren, welche schlichtweg kaum verifizierbar noch falsifizierbar sind. Hierdurch werden rechtsstaatliche Maxime gegen den demokratischen Staat durch Perforation ausgenutzt, was die „parasitäre“ Natur des Extremismus widerspiegelt. Zielsetzung Rechtsterrorismus

x x

x

Weiße Gesellschaft Abschaffung und Ersetzung des politischen Systems durch einen neuen Mythos Gewalt als politisches Mittel

Ideologische Fundierung x x x x x x

Neonationalsozialismus Anglo-Israelismus Rassismus Antisemitismus Ethnozentrismus Nationalismus

Staats- und Gesellschaftsverständnis x

x

x x

Neomilizen

x

x

Abschaffung und Ersetzung des politischen Systems durch einen neuen Mythos Gewalt als politisches Mittel

x x x x

vermeintliche Abwehr von staatlicher Despotie und Tyrannei (Ultra-) Nationalismus einseitiger Verfassungspatriotismus eklektische Weltanschauung, insbesondere durch Verschmelzung von Elementen der Gründungs- und Revolutionszeit (z.B. Minimierung der Staatsmacht, Bezug auf die Gründungsväter, Milizen zur Verteidigung. Bürgerlicher Freiheit, Recht auf Waffenbesitz, etc.)

x

x x

x

demokratischer Staat ist despotisch und durch die Juden „zersetzt“ Forderung einer rein weißen Gesellschaft sozialdarwinistischer Prägung Rassentrennung und Rassenhierarchie Ablehnung von Pluralismus und Multikulturalismus demokratischer Staat hat sich von den Verfassungsrichtlinien entfremdet und verhält sich despotisch gegenüber seinen Bürgern Individualismus als Garant wahrer Freiheit begrenzte systemischpolitische Einflussnahme auf das Individuum dekadente Entwicklung der Gesellschaft aufgrund eines fehlenden (moralischen) Wertesystems

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Domestic Terrorism Afroamerikanischer Separatismus

x x

x

Schwarze Gesellschaft Loslösung und Isolierung von dem politischen System, in Teilen Forderungen nach einer Ersetzung durch einen neuen Mythos Gewalt als politisches Mittel

x x x x x

Rassismus Separatismus Nationalismus Patriarchalische Strukturierung Pan-Amerikanismus

x

x

x

das politische System ist rassistisch und fördert die politische, rechtliche und soziale Ungleichbehandlung von Schwarzen durch die Weißen Schwarze werden durch die Weißen diskriminiert und können nicht ihrer „wahren“ Bestimmung gerecht werden dekadente Entwicklung der Gesellschaft aufgrund eines fehlenden (moralischen) Wertesystems

Abb. 3: Schematische Darstellung der Phänomene des Domestic Terrorism. Eigene Darstellung.

So stellen sich zwar alle beschriebenen Phänomene gegen das jetzige politische System, die Zielsetzungen sind allerdings nicht ausschließlich antidemokratisch. Vereinzelt könnte man etwa bei den Neomilizen von einer anarchischen Radikaldemokratie sprechen, in welcher der Individualismus entscheidend, die politische Teilhabe aller gesichert und die nahezu uneingeschränkte Freiheit garantiert werden soll, was allerdings bei näherer Betrachtung zweifelhaft bleibt, zumal jede Person nunmehr zum Richter und Henker avancieren würde. Die Forderungen der Rechtsextremisten zielen auf ein ethnisch-einheitliches, ausschließlich weißes politisches System ab, in welchem Pluralismus und Multikulturalismus keine Rolle mehr spielen, andere Ideologien und Anschauungen kategorisch abgelehnt werden, was deutlich anti-demokratische Züge trägt. Schwarze Separatisten sind aufgrund ihrer Zielsetzungen nur schwer einzuordnen, da diese die Vorstellungen eines eigenen schwarzen Nationalstaates kaum näher spezifiziert haben. So bleibt der Ausprägungsgrad fraglich, wobei rassistische Motive durch eine Segregation aller weißen „Sklavenhalter“ von den Schwarzen und eine Ungleichbehandlung von Mann und Frau dazu führen, einen etwaigen demokratischen Wesensgehalt ebenso in Frage zu stellen. Analog zu den weißen Gruppierungen schließt eine intolerante Ausgrenzung andersfarbiger bzw. anderer ethnischer Gruppen stets Diskriminierung und dogmatische Gedankenkomplexe mit ein, wodurch ein inhaltlicher Ausgleich kaum zu erreichen ist. Die oftmalige religiöse Fundierung, eine in Teilen fundamentalistisch geprägte Weltanschauung, sei diese islamisch oder christlich geprägt, in der kein Platz für Homosexualität, Abtreibungen oder die Evolutionstheorie besteht, ist ein wichtiger Indikator für die in den USA besonders prägnante Stellung der Religiosität. Wirtschaftlicher Erfolg als Ausdruck calvinistischer Segenslehre sowie innerweltliche religiöse Motive zeigen den prägenden Einfluss von Kirchen und Glaubenslehren. Säkularismus ist insofern allenfalls bedingt nachweisbar, vielmehr sind die USA eine der religiösesten modernen Staaten weltweit. Ausdruck

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findet dieser Sachverhalt bei den verschiedenen Gruppierungen, in denen religiöse Motive ebenso gebräuchlich sind und i.d.R. agitatorisch verwandt werden. Stellt man die Frage nach den genuinen Wesensmerkmalen des Amerikanismus, steht dieser, gemäß der Einschätzung verschiedener Autoren, zumeist für Demokratie, Toleranz, Freiheit, insbesondere Meinungsfreiheit, Pluralismus, Individualität und Säkularismus.117 Bedenkt man allerdings die herausragende Rolle und Bedeutung der Religiosität, insbesondere der reformatorischen, ist die Frage nach einem tatsächlich existenten Säkularismus sicherlich berechtigt, neben der Aktualität gewachsener Problemstellungen infolge des Multikulturalismus. Die Multikultura– lismusdebatte ist für ein Verständnis der verschiedenen Phänomene desgleichen entscheidend: „Each group of terrorists has a distinct ethnic and occupational profile. The ethnic differences are the most obvious. Most of the groups can be defined, and define themselves, in ethnic or racial terms.“118 So gewinnt die Feststellung, wonach der Mythos eines alles verschmelzenden melting pots und das zutreffendere Theorem einer vielschichtigen salad bowl unter zivilreligiösem Deckmantel herausgestellt wird, erhebliche Bedeutung, da die entscheidende Rolle der Kategorien Ethnizität, Rasse und Religion für ein Verständnis der amerikanischen Kultur zusätzliche Brisanz gewinnt. Politisch ist diese Problematik allenfalls bedingt zu lösen, da Terrorismus zwar größtenteils politisch motiviert ist, dennoch die Reichweite von möglichen Gegenreaktionen begrenzt ist. „Terrorism is a product of frustration, of causes that cannot be resolved through normal politics.“119 Die Erfolgsaussichten durch terroristische Diktion gesetzte Ziele tatsächlich zu realisieren sind allerdings bei empirischer Betrachtung des Phänomens als minimal zu bewerten. „Finally it should be noted that, in terms of the goals and strategies of the terrorists themselves, terrorism has almost always been a failure. […] Not only did terrorism fail to achieve the goals of the terrorists, but most waves of terrorism were short-lived.“120 Die spezifische ethnische Zusammensetzung innerhalb der Organisationen erhellt indes eine partiell nach wie vor bestehende Trennung der verschiedenen Ethnien, welche sich nach rechtsextremistischer Auffassung in einem endzeitlichen Rassenkampf, dem Racial Holy War (RaHoWa) manifestieren wird. Grumke deutet anhand einer gewachsenen sozialen, kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Diskrepanz Erklärungsmuster für die Verbreitung derartiger Sichtweisen. „Aus der Spannung zwischen dem Mythos der USA als land of the free und der Realität einer weißen, angelsächsischen und protestantischen Mehrheitskultur (WASPs) ergab sich eine stets vorhandene, aber inhaltlich wandelbare Trennungslinie zwischen us und them.“121 Er führt weiter aus: „Tatsächlich fußt also die Gründung der der USA auf zwei völlig verschiedenen, ja gegenläufigen Mythen: dem American creed (einer homogenen Abstammungs- und Glaubensgemein117 118 119 120 121

Vgl. Hewitt 2003, S. 20. Ebd., S. 69. Ebd., S. 132. Ebd., S. 116f. Minkenberg 1998, S. 120.

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schaft) und dem melting pot (einen alle Unterschiede verschmelzenden Tiegel).“122 Die enge Verzahnung von (politischer) Religion, Extremismus und Terrorismus, wobei extremistische Gruppierungen zumeist als Triebfedern terroristischer Gewalt fungieren, ist ebenso hervorzuheben, auch als Ausdruck kultureller Akzeleratoren. Hinzu kommt eine latente gesellschaftliche Distanz gegenüber obrigkeitsstaatlichen Formen, welche sich in diesem Kontext allerdings in deutlich verschärfter Form widerspiegelt und letztlich das gesamte politische, soziale und kulturelle System in den Blickpunkt derartiger Polemik und Agitation rückt. Der utopische Wesenszug als Axiom eines politischen Mythos sowie ein auf die Zukunft gerichtetes Hauptaugenmerk zeigen demgegenüber, dass es wohl kaum zu einer Abflachung des gesamten Phänomens kommen wird. Hingegen kann man keinesfalls von einer homogenen terroristischen Bewegung in den USA sprechen, sondern von einer offensichtlichen Heterogenität, Komplexität und Vielgestaltigkeit. Besonders die distanzierte und staatsfeindliche Haltung ist bedenklich, da diese, wie etwa im Falle McVeighs, drastische Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Überdies bleibt dahingestellt, ob der kaum nachweisbare gesellschaftliche Mobilisierungserfolg, aber auch das stringente Fortbestehen des gesamten Phänomens, eine weitere Radikalisierung nach sich ziehen könnte, um den jeweiligen Ansprüchen und Forderungen eben auch durch terroristische Formen Nachdruck zu verleihen. Da es bislang zu keinen weiteren größeren Anschlägen gekommen ist, bzw. diese bislang erfolgreich verhindert werden konnten, bleibt die weitere Entwicklung allenfalls spekulativ. Einschränkend hierzu spielen die dargestellten Strömungen für die zu betrachtende Thematik zwar eine entscheidende, gesellschaftlich allerdings eher rudimentäre Rolle, da aufgrund der Tragweite und ideologischen Unterfütterung der politischen und sozialen Forderungen die Öffentlichkeit kaum dafür zu mobilisieren ist und es sich hierbei offenkundig um Randerscheinungen handelt, gewissermaßen eine Art extremistischer „Avantgarde“. Die fehlende gesellschaftliche Akzeptanz könnte zwar idealiter zu einem Verschwinden solcher Strömungen führen, was allerdings aufgrund von sozialen, ökonomischen und ethnischen Unterschieden, Armut, Arbeitslosigkeit, Wirtschaftskrise und weiteren Konstellationen kaum zu erwarten sein wird. „Given the failure of conventional political efforts, it’s easy to see why – to some Americans – the government becomes the enemy, the militant option becomes more tempting, and more of these ‘extremists’ resort to violence.”123 Eine Entschärfung von derlei Problemstellungen in den USA durch das Zusammenwirken struktureller Maßnahmen politischer, ökonomischer und sozialer Natur könnte allerdings den Nährboden für Radikalismus, Fundamentalismus, Extremismus und Terrorismus verstärkt entziehen, wobei der Staat grundsätzlich die Verantwortung dafür trägt, rechtsstaatliche Prinzipien nicht für die Terrorismusbekämpfung preiszugeben und sich, neben den ausführenden Akteuren, hierdurch selbst zu diskreditieren. „For democracies threatened by terrorism, security

122 Grumke 2001, S. 33. 123 Hewitt 2003, S. 124.

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concerns and civil liberties are often in conflict. Again a cost/benefit perspective is appropriate.“124

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124 Hewitt 2003, S. 124.

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DSCHIHADISMUS UND TRERITORIALITÄT. URSACHEN, BEDINGUNGEN UNF FOLGEN FEHLENDEN TERRITORRIALITÄTSDENKENS IM MILITANTEN SUNITISCHEN FUNDAMENTALISMUS Sebastian Huhnholz

1. Aufstieg und Niedergang staatlicher Territorialität Der „Begriff des souveränen Staates war, unter den Gesichtspunkten einer Raumordnung gesehen, eine land- und erdgebundene Vorstellung.“1 Souverän institutionalisierte Flächenterritorialität war ein frühneuzeitliches politisches Evolutionsergebnis, bedeutet die Hoheitsgewalt innerhalb eines geographisch klar begrenzten Bereichs und wird allenfalls noch ergänzt durch diverse, die Souveränität anderer formal nicht in Frage stellende Gebietshoheiten, etwa über Botschaftsanwesen, extraterritoriale Erwerbungen und insbesondere die hohe See. Diese staatssouverän organisierte „Dauertätigkeit von Gebietskörperschaften“2 hat sich historisch gegen eine Vielzahl konkurrierender Modelle politischer Selbstorganisation durchgesetzt.3 Sie beschränkte die faktische Vielfalt möglicher Staatlichkeitsformen4 auf eine mehr oder minder politisch kollektivierend verfasste, insbesondere Militärgewalt monopolisierende und bürokratisch organisierte Herrschaftsagentur, gipfelnd im Nationalstaat kontinentaleuropäisch-westfälischer Prägung zwischen 1648 und dem recht frühen 20. Jahrhundert. Es war Carl Schmitt,5 der daher Staat als einen „konkrete[n], an eine geschichtliche Epoche gebundene[n] Begriff“ verstanden wissen wollte, wofür er folglich auch, im Sinne einer definitorischen Pfadabhängigkeit, die Entwicklung zwischen Jean Bodins Souveränitätsbegründung und Georg Jellineks Drei-Elemente-Lehre im Blick hatte, um feststellen zu können, die Bündelung von Staatsvolk und Staatsgewalt auf einem Staatsgebiet sei eine von mehreren „Raumrevolutionen“ gewesen.6 Andere Raumrevolutionen, verstanden mindestens als Infragestellung, Überholung oder sogar Ablösung eines verbreiteten räumlichen Ordnungsprinzips und Ordnungsdenkens, lassen sich historisch ebenso identifizieren in der Entdeckung der Neuen Welt, der Einführung von Eisenbahnen, U-Booten und Flugzeugen wie

1 2 3 4 5 6

Schmitt 1958, S. 381. Osterhammel 2009, S. 173. Spruyt 1994; Roth 2003. Dazu Gallus/Jesse 2007. Schmitt 1958, S. 375. Vgl. dazu auch den trefflichen Doppeleintrag „Staat und Souveränität“ in den Geschichtlichen Grundbegriffen (Conze et al. 2004).

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in den Zusammenbrüchen einiger Imperien oder dem terroristischen Großereignis 9/11.7 Raumrevolutionen müssen insofern kaum mehr meinen als die schon zeitgleich empfundene oder erst historisch erschlossene verblüffende Evidenz, mit der eine neue Raumqualität oder Raumdimension zu Tage tritt, sei diese nun raumüberwindend, -integrierend oder -spaltend.8 Daher lassen sich auch Atomwaffen, erste Weltraummissionen, Sattelitentechnologie und freilich Geld, Finanzkapital und Internet als raumrevolutionär betrachten. Das raumrevolutionäre Movens des Territorialstaates indes ist genauer besehen ein soziale Räume zur Kongruenz bringendes: es ist eine diverse, zum Beispiel ethnische, sprachliche, steuerliche, wirtschaftliche und zuweilen sogar konfessionelle Räume im Staatsraum konzentrierende politische Leistung. Diese Ordnungsleistung eines institutionalisierten Flächenstaates nämlich umfasst weit mehr, als die vorneuzeitliche Feudal-, Stände-, Stammes- oder Sippenbeziehung des vom Historiker Theodor Mayer trefflich so genannten Personenverbandsstaates9 oder die dahingehend vergleichsweise multikulturelle Ordnungsvielfalt von Imperien.10 Hatte der Personenverbandsstaat ein tendenziell aristokratisch- bzw. monarchisch-feudalistisch begründetes Ordnungsmonopol und besitzt ein Imperium ein erstlich und letztlich durch Militärmacht beglaubigtes Erzwingungsmonopol, ist der institutionelle Flächenstaat durch ein Legalisierungsmonopol gekennzeichnet, das für sich zunächst nicht minder (in)stabil sein muss, als die machtpolitischen Bestandsvoraussetzungen von Reichs- oder Feudalwesen. Denn „[d]ie Frage nach den Grenzen des Rechts ist selbst keine rechtliche Frage.“11 Erst die Zivilisierung des Kampfes um Eigentumsverhältnisse, mithin die Errichtung der bürgerlichen Gesellschaft als ein gleichwohl auf den Staat angewiesenes Gegengewicht zum Staat, machte – ganz unmarxistisch gesprochen – nicht Völker, nicht imperiale Gemeinschaften, nicht Aristokraten, Stände oder Klassen zu Trägern des Politischen, sondern die zivile Form des mentalen Juristen, namentlich: den Bürger in seiner Gestalt als Staatsbürger – also nicht als den Typus eines sozialen und habituellen Privilegienträgers, sondern als einen Träger politischer Gleichheits- und Freiheitsrechte.12 Um seiner Rechtssicherheit willen erst konnten zwei Raumordnungstopoi in einem Typus zusammentreten, die bei ande-

7 Vgl. z.B. Schivelbusch 1979; Schlögel 2003. 8 Dies sei auch betont, um Distanz zu wahren zu Schmitts zeitweiser Verengung und Ideologisierung des Raumrevolutionären auf das Moment der Luftwaffe im totalen Krieg (dazu Adam 1991). 9 Zu Staatsbegriffen vgl. Münkler 1999. 10 Dazu Münkler 2005; Osterhammel 2009. 11 Demandt 2000, S. 236. 12 Wenn daher Jean-Jacques Rousseau den zweiten Teil seines Diskurses über die Ursprünge der Ungleichheit unter Menschen bekanntermaßen kritisch beginnt mit: „Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Begründer der bürgerlichen Gesellschaft“ (Rousseau 1984, S. 173), wird heute just die Ausweitung der Bodenkapitalisierung als grundlegende staatspolitische Zivilisierungsmaßnahme empfohlen (z.B. Heinsohn 2003).

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ren politischen Trägern und deren Institutionen nur getrennt auftreten: die räumliche Selbstbegrenzung eines kollektiv exklusiv gedachten Mitgliedschaftsprinzips. Das quasi-liberale, bürgerliche Prinzip der Gleichberechtigung wurde, völkerrechtlich normiert, sodann auf politische Gemeinwesen übertragen, weshalb Staaten, anders als im Fall eines Imperiums, erst im Plural ihr eigentliches Stabilisierungsprinzip kenntlich machen.13 Denn der Grundsatz bürgerlicher Gleichberechtigung nach innen erfordert nach außen, übertragen auf die Ebene der Zwischenstaatlichkeit, eine äquivalente „Differenzierung von Inklusion und Exklusion“ und daher „ein räumliches Substrat […], also auch räumliche Grenzen, an denen man die Bewegung von Körpern kontrollieren kann.“14 Erst die Reziprozität einer territorialen Staatsinnengrenze, deren räumliche Außen- bzw. Rückseite zumindest binnenkontinental zugleich die Staatsinnenseite eines Nachbarstaates ist, balanciert und verschränkt die Interessen politisch institutionell verfasster Gemeinschaften in einer derart symmetrischen Weise, die für andere räumliche Organisations- und Ordnungsweisen des Politischen undenkbar oder konstitutiv inakzeptabel wäre (deshalb etwa für sich selbst jeweils nur im Singular, als das Imperium, betrachtende Großreiche, so Münkler15. Die Plausibilität dieser Notwendigkeit von Grenzziehungen für die Entwicklung eines territorialen Staatsverständnisses16 erweist sich historisch indirekt auch daran, dass antike republikanische Verfassungen insular-stadtstädtischen, griechischen Ursprungs sind. Deren naturräumlich begünstigte politische Grenzziehungen wirkten im Wortsinne „natürlicher“, eine erfolgreiche stabile Selbstverwaltung erschien in ihnen evidenter. Entsprechend auch vollzogen sich in der Frühen Neuzeit die Wiederentdeckung republikanischer Ordnungsmodelle und die Entwicklung kontraktualistischer Legitimierungskonzepte in geographischen Naturräumen wie der Schweiz und den britischen Heimatinseln oder aber in hochverdichteten Agglomerationsräumen wie oberitalischen Stadtstaaten,17 besonders berühmt etwa im Genf Jean-Jacques Rousseaus. Mit jener Evolution des Staates vom inneren Gemeinschaftskonzept zum äußeren, zwischenstaatlichen Raumordnungsprinzip – mithin: vom Personenverband zum Territorienverbund – konnte der räumliche Substratbegriff zum Typus „Bürger“ aber nicht mehr die nunmehr verwaltungstechnische Beschreibung „Staat“ sein. Ersetzt wurde sie durch einen neuen Begriff von „Grenze“. Deren Semantik verschob sich im Zuge westfälischer Staatenbildung vom kulturell schwammigen „frontier“ zum raumpolitisch fixierten „border“,18 mithin von einem Zwischen-, Transit- und Trennraum auf eine klare, kartographisch eineindeutige Linie im Raum. Erst diese Konzeption ermöglichte es fortan, die staatlicherseits koordinierte Herstellungskapazität für kollektiv verbindliche Entscheidungen – nach 13 14 15 16 17 18

Vgl. Münkler 2005, S. 16ff. Luhmann 1995, 260. Münkler 2005. Vgl. Rokkan 2000; Flora 2000. Vgl. z.B. Elias 1997, S. 315. Vgl. Schmitt 1958, S. 379.

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Niklas Luhmann also: Politik – territorial differenziert zu segmentieren und somit ein innerstaatliches Gewalt- und zwischenstaatliches Kriegführungsmonopol als regelhaftes Regime zu implementieren. Zwischen der Territorialisierung des Politischen und der Verstaatlichung des Krieges (die zugleich Verrechtlichung bedeutete) scheint es entsprechend eine historisch zwar nicht geradlinige und keineswegs global gültige, aber gerade im Rückblick dann umso erstaunlichere Korrelation gegeben zu haben, deren Zenit im kontinentaleuropäischen 19. Jahrhundert erreicht worden sein dürfte: Die Monopolisierung legitimer Gewaltanwendung nach innen und außen vollzog sich auf dem Wege der vor- und frühindustriellen Revolutionierung von Waffentechnik und der Verkomplizierung von Kampf- und Waffenbedienungskompetenz. Erhöhter Rohstoffbedarf und Produktionsaufwand für Kriegsgerät bedeuteten eine Verteuerung der Kriegführungsfähigkeit, die nur noch ein zum merkantilen Steuerstaat transformierter Obrigkeitsstaat leisten und sich leisten konnte. Pfadabhängig davon wurde einerseits Delegitimierung, Schwächung und letztlich Entmachtung privater Kriegsakteure erreicht, mithin das, was Carl Schmitt als „Hegung des Krieges“ verstand, also als Verringerung von Bürgerkriegsrisiken, als Mäßigung zwischenstaatlicher Kriegspraktiken (wenigstens innerhalb Europas) sowie, zivilisatorisch über allem thronend, als rechtsverbindliche Scheidung des Kriegszustandes vom Frieden. Andererseits wurde ein Bildungsstand für Soldaten- und Bürgermassen erzeugt, der dem absolutistischen Staat sowohl nicht-intendierte intellektuelle Revolutionskompetenz seines Heeres wie auch liberale Mitspracheforderungen seiner steuer- und wehrpflichtigen Bürgerindividuen bescherte,19 die über den Umweg der Nationalisierung vielerorts letztlich Demokratisierung bedeuteten, nicht zuletzt auch sozialstrukturelle Entschärfung von dramatischen Klassenantagonismen sowie zunächst bescheidenen materiellen und gesundheitlichen Massenwohlstand.20 Für diese Entwicklung galt also die Staatsverfasstheitsregel, dass „die Waffentechnik die Wehrverfassung bestimmt, und die Wehrverfassung die Herrschaftsstruktur beeinflusst“21 – eine Regel, die heute nur allzu offenkundig einen faden Beigeschmack haben muss. Denn sie verdeutlicht, dass die beschriebene Entwicklung der Verstaatlichung von Kriegführungsfähigkeit im Nuklearzeitalter regressiv geworden ist, insofern die bloße Existenz der Atombombe den zwischenstaatlichen Krieg in mehrfacher Hinsicht „enthegte“:22 Sie asymmetriert selbst und gerade den unterhalb der ato19 Vgl. Münkler 2002, S. 59-75; ders. 2002a, S. 224ff. 20 Vgl. u.a. Kunisch/Münkler 1999; Janssen 1974, S. 587ff.; Leonhard 2008; Luh 2004; Habermas 1996. 21 Lepsius 1997, S. 364; ferner Hintze 1970. 22 Carl Schmitt, um zunächst bei ihm zu bleiben, hat (wie eine Vielzahl anderer geopolitisch interessierter Denker seiner Zeit) die Antipoden der Kriegshegung prinzipiell mit Seemächten identifiziert und hierfür eine metaphorisch-melancholische Philosophie von Land und Meer bemüht, die er auf den Luft- und letztlich Weltraum übertrug. Dem liegt ideenhistorisch eine geo- bzw. ethnopolitische, antiliberale und antikapitalistische Kulturalisierung zugrunde, die z.B. Werner Sombart mit der Differenzierung (englisch-maritimer) Händler und (deutschtellurischer) Helden lieferte und die von Arbeiten Karl Haushofers schwer zu trennen ist (da-

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maren Schwelle geführten Krieg, sie reaktiviert, entdemokratisiert, entbürgerlicht und reprofessionalisiert ihn und führt dabei kontraintuitiverweise in eine Konstellation, in der die Massenpazifizierung „postheroischer Gesellschaften“ kontrastiert wird durch die neuerdings wieder steigende Attraktivität einer strategischen Transnationalisierung, Terrorisierung, Entstaatlichung, Privatisierung, Kommerzialisierung und Politisierung von asymmetrischer Kriegführungsfähigkeit für schwache, staatspolitisch vordergründig unbedeutende Akteure.23 Unter vielen anderen verkennt etwa Thomas P.M. Barnett, früherer Professor am U.S. Naval War College Newport, die Synthese dieser Dialektik der Asymmetrie letztlich, wenn er proimperial argumentierend meint, der „fortgesetzte Erfolg Amerikas bei der Überwindung zwischenstaatlicher Kriege erlaubt es uns, uns mit den vielen subnationalen Konflikten und den gefährlichen transnationalen Akteuren zu befassen, die wie Pilze aus dem Boden schießen.“24 Dahingestellt seien trotz der botanisch bestechend korrekten Pilz-Metapher (freischwebende Sporen auf der Suche nach Nährboden!) die Fragen, ob derlei Akteure tatsächlich so zahlreich sind und aus welchem Boden sie eigentlich „schießen“ sollten, wenn man sie doch nirgends verortet weiß. Relevanter ist das Dilemma, dass gerade die erfolgreiche Reduzierung zwischenstaatlicher Kriege durch asymmetrische Überlegenheit das Erscheinen vordem unbedeutender, asymmetrisch schwacher Akteure begünstigt und deren Ausweichen in transnationale Figurationen befördert. Es war einmal mehr Carl Schmitt, der früh vor dieser Entwicklung warnte, als er 1963 in seiner Theorie des Partisanen25 das Aufkommen individualpolitisierter und enttellurisierter, das heißt dem Heimatboden emanzipierter Kämpfer ahnt, die wir heute transnationale Terroristen nennen, und im selben Jahr, im Vorwort zur Neuauflage vom Begriff des Politischen meint, die „Epoche der Staatlichkeit geht jetzt zu Ende.“26 Denn als der autochthone Partisan durch seine räumliche Beheimatung, durch tellurische Fixierung „auf sein eigenes Land“ noch zu unterscheiden war „vom exportierbaren Terroristen“,27 war die Feindschaft noch „raumhaft evident“,28 kannte mithin Maße und Proportionen. Die räumliche Weite der um-

23 24 25 26 27 28

zu grundlegend Ebeling 1994; Sprengel 1996; aktuell Heller-Roazen 2010). Ich folge dieser Linie nicht, zumal sie empirisch m.E. unbedeutend ist, sondern setze erst bei der Atombombe aus zweierlei Gründen ein. Zum einen dient das Wissen über die effektive Kontrolle anderer als festländisch-kontinentaler oder küstennah-insularer Räume bzw. der Kampf im Untersee-, Luft- und Weltraum nicht etwa der Beherrschung dieser Räume an sich. Vielmehr dient die Funktionalisierung dieser Räume als Herrschaftsinstrument mit dem Zweck effektiverer und umfassenderer Kontrolle von Land bzw. der Sicherung von dessen Versorgung. Zum anderen, und das scheint ganz im Sinne der Schmittschen Problematisierung bedeutsamer zu sein, ist es erst der Atomkrieg, der sich nicht mehr militärisch führen lässt, sondern nur noch politisch bzw. diplomatisch, wie Herman Kahn, Großstratege des Atomzeitalters, nachgewiesen hat (z.B. Kahn 1987). Münkler 2002 und 2006. Barnett 2008, S. 33. Schmitt 1963. Schmitt 1963a, S. 10. Llanque 1990, S. 62. Schmitt 1963, S. 26.

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kämpften Zone hielt funktional das „rechte Verhältnis zur Schwere der Feindschaft“ aufrecht.29 Mit einer Entortung, sollte heißen: einer Entterritorialisierung und internationalistischen Enttellurisierung der Kämpfenden hingegen drohten der Niedergang des klassischen Völkerrechts, quasi-imperiale Verpolizeilichung des Krieges, Entmenschlichung des Gegners und Entstaatlichung des politisch kontrollierbaren Krieges; Ordnung ohne Ortung führe in Entrechtung, Rechtsbeliebigkeit und letztlich Unordnung, signalisierte Schmitt 1950 im Nomos der Erde.30 Und entsprechend mündete für ihn auch 1963 die Frage des tendenziell schon entorteten, revolutionären Partisanen „in den Begriff des Politischen ein, in die Frage nach dem wirklichen Feind und einem neuen Nomos der Erde.“31 Zwei meines Erachtens themenrelevante Schlussfolgerungen sind vordringlich aus diesem freilich holzschnittartigen Abriss zu ziehen. Wenn erstens die Geschichte des institutionalisierten Flächenstaates das Ergebnis einer Raumrevolution im oben genannten Sinne gewesen sein sollte, kann es nicht verwundern, dass am Ende des 20. Jahrhundert, dessen raumrevolutionären Beginn Peter Sloterdijk32 nicht zu Unrecht auf den ersten militärischen Giftgaseinsatz im April 1915 datiert, der Flächenstaat unter Druck gerät, haben wir es doch im Rückblick mit einem Jahrhundert zu tun, das mehr raumrevolutionäre Produktiv- und Destruktivkräfte entfaltete als jedes vor ihm. So spottet selbiger Sloterdijk auch zu Recht über die ihrerzeit räumlich noch zu unbedarfte Politische Theologie Schmitts: „Souverän ist, wer über die Verflachung entscheidet. Erobern lässt sich nur, was sich erfolgreich um eine Dimension verkürzen lässt.“33 Beschleunigung, Globalisierung, Pluralisierung, Massenmigration, -integration und -kommunikation lassen daher Souveränität kaum mehr zu. Der Begriff als Paradigma ist in der Forschungslandschaft mittlerweile von dem der Governance verdrängt worden.34 Er ist zu einer wenngleich noch staatstransformatorisch relevanten Schimäre geworden, deren einstiger Inhalte sich Stärkere imperial und geopolitisch selbstbestimmt entledigen, solange es noch geht und so schnell wie nur irgend möglich; Schwächere werden der Inhalte kurzerhand beraubt oder konnten die Souveränitätsnorm ohnehin nicht durch Geltung beglaubigen. Paradoxerweise in einer Zeit, in der keine ernsthaft so zu nennende Geopolitik mehr möglich zu sein scheint, beobachten wir daher eine vervielfacht apostrophierte Rückkehr und Anverwandlung von Imperiums- und Geopolitik, deren politisch äußerst vielschichtiges Spektrum etwa durch Arbeiten Samuel Huntingtons,35 Herfried Münklers,36 Jürgen Osterhammels,37 Michael Hardts und

29 30 31 32 33 34 35 36 37

Llanque 1990, S. 69. Schmitt 1997, S. 14. Schmitt 1963, S. 96. Sloterdijk 2004, S. 89ff. Sloterdijk 2005, S. 161. Vgl. Rezension durch Hägel 2005. Huntington 1993 und 1996. Münkler 2005f. Osterhammel 1998f.

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Antony Negris38 oder Parag Khannas39 aufgespannt wird. So führt die Entdeckung, Pluralisierung, Überlappung und Durchdringung von Räumen zu mal eilig, mal schleichend diversifizierten Grenzregimen,40 deren neue Raumkonturen einerseits gleichwohl noch „nach dem traditionellen Modell des Containers gebaut sind. Unter diese Kategorie [(…) fallen beispielsweise – SH] Vorstellungen über die Festung Europa, einen aggressiven Lokalismus und private Sicherheitsräume. Auf der anderen Seite entstehen Räume, die diesem Modell nicht mehr entsprechen: […] Global Cities, transnationale und virtuelle Räume […] Die prekäre Lage de[s] Nationalstaat[es] ergibt sich daraus, dass er zwischen die Fronten dieser beiden Raumordnungen gerät.“41 Die zweite hier relevante Schlussfolgerung aus dem skizzierten Ende der abendländischen Territorialisierung und Verhoheitlichung des Politischen ist weniger eine Analyse oder These, sondern zunächst sehr schlicht die Feststellung, dass der arabisch-muslimische Raum keine einzige der bis hierhin vorgestellten historischen Entwicklungen mitvollzogen oder selbstständig erfolgreich bestritten hat. Auch insoweit erhält daher eine vieldiskutierte Befürchtung weitere Anfangsplausibilität, die darauf hinausläuft, einen strukturellen Zusammenhang zu vermuten zwischen der Entterritorialisierung des westfälischen Staates und der Penetranz, mit der sich eine Minderheitenideologie wie der Dschihadismus hervorzutun versteht. Dieser Vermutung wird im Folgenden nachgegangen. Denn zwar kommt die dschihadistische Vorzeigebastion al-Qaida nicht anders als die Mehrheit nennenswert neuer Figurationen der letzten Jahrzehnte, welche die Staatskapazitäten westfälischer Prägung herausfordern, als eine alternativelitäre transnationale Bewegung mit hohem Beschleunigungs- und Vernetzungsgrad daher. Ihre Ideologie indes, und das ist bisher einzigartig, basiert auf einer zugleich vor-territorialen und nunmehr fundamentalistisch ins Anti-Territoriale gewendeten Vorstellung.

2. Islamisches und staatliches Recht Insofern Islam als ein religiöses Normen- und Wertesystem für gemeinschaftliche Orthopraxie betrachtet werden sollte, dessen Orientierungszentrum gleichsam „ungeschöpfte“ und „ewige“ heilige Schriften sind, wäre ein islamisches Staatsrecht ein Widerspruch in sich selbst. Entsprechend musste das letzte Quasikalifat, das bereits in internationale Beziehungen integrierte und zudem nicht-arabische Osmanische Reich, immerhin schon ein „umma-zentrische[s (…)] Organisationsrecht“42 entwickeln, um seine Weile bestehen zu können. Denn wird Islam verstanden als eine verbindlich von Gott gesetzte geistlich-weltliche Gesamtordnung, sind deren politische Konturen genau genommen nicht gestaltungs-, sondern al38 39 40 41 42

Hardt/Negri 2002. Khanna 2009. Mau et al. 2008. Schroer 2006, S. 208. Diner 1993, S. 188.

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lenfalls verwaltungsbedürftig. Die Legitimität politischer Führung von Muslimen ist insofern nicht an ein allein Gott zustehendes Souveränitätsrecht gekoppelt, sondern an eine daraus sich erst ableitende herrschaftliche Ordnungskompetenz, deren räumliche Institutionalisierungsfähigkeit sich ursprünglich am Status der politischen Prophetennachfolge (arab.: khalifa) und lokalen Treuhänderschaften bemaß. Dies wird auch sprachlich deutlich: Während das Ordnungsmodell der legitimen Prophetennachfolge nach einem solchen für die unmittelbare Rechtleitung zuständigen Kalifen Kalifat genannt wird und sich im Modus der feudalistischen Fürstenherrschaft regionalisierend abstufen oder weltlich parallelisieren lässt (Sultan – Sultanat; Emir – Emirat; Imam – Imamat usw.), existiert kein institutionelles Pendant für die Gemeinschaft der Gläubigen (arab.: umma), sondern – ausgerechnet hierbei – nur ein räumliches: das dar al-Islam. Dichotom gegenübergestellt sieht sich jenes konzeptionell im Kreuzzugsmittelalter entworfene „Gebiet des Friedens“ einem nichtmuslimischen „Gebiet des Krieges“ (arab.: dar al-harb). Diese in der westlichen Welt mittlerweile viel zu geläufige und gerade daher umso weniger zu übertreibende traditionalistische Unterscheidung ist allerdings nicht allein ihrer raumpolitisierenden Implikation wegen brisant, die im Sinne einer „Pax Islamica“ imperial genannt werden könnte.43 Relevanter scheint zu sein, dass sich die moderne westlich-bürgerliche Unterscheidung von Staat und Gesellschaft (Volk, Nation etc.) hierbei unter räumlichen Vorzeichen nahezu verkehrt sieht: Hat der westfälische Staat räumlich klare Grenzen, seine aus Individuen und Gemeinschaften zusammengesetzten Gesellschaften indes nicht, ist das traditionelle islamische Nations- bzw. Zugehörigkeitsverständnis eines, das Raum konturiert, mit welchem wiederum die politischen Institutionen gerade nicht deckungsgleich sein müssen. Das Kalifat und seine Abstufungen sind insofern allenfalls „eine (historisch erprobte) Möglichkeit, jedoch nicht die für alle Zeiten verbindliche Staatsform.“44 Dadurch wird gerade eine staats-dysfunktionale Kehrseite dieser im Vergleich zum westfälischen Prinzip räumlichen Umkehrung auffällig: Erst „[d]ie Zentralität des [religiösen – SH] Gesetzes bedingt die Notwendigkeit des Staates.“45 Im abendländischen Verständnis war es hingegen die Gesetzesbedürftigkeit der Menschen, die im historischen Verlauf zunehmend eine staatliche Existenz mit Blick auf Rechtsetzung, Rechtsverwirklichung und Rechtsgarantierung legitimierte. Auch der Rechtsklarheit wegen benötigte man Territorialgrenzen. Deutlicher noch wird dies, vergleicht man die nach Christian Meier als Entstehung des Politischen bei den Griechen46 interpretierbare Orestie des Aischylos mit der Stiftung der muslimischen Urgemeinde durch den als Schlichter nach Yathrib (das spätere Madina) gerufenen Propheten Muhammad. Beiden Konstellationen liegen Blutfehden zugrunde, die aus sich selbst heraus nicht politisch zu

43 44 45 46

Vgl. Meier 1998, S. 98. Krämer 1999, S. 71; siehe auch Nagel 1975 und 1981. Krämer 1999, S. 71. Meier 1973.

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lösen waren, insofern in beiden Fällen jede Bluttat zu einer gewaltsamen Antwort verpflichtete. Emanzipierten sich nach Meier die griechischen Bürger politisch von ihren nunmehr lebensbedrohlich gewordenen religiösen Fesseln durch die Abstimmungsentscheidung, den Vergeltungskreislauf zu unterbrechen, geschieht mit gleichem Ergebnis Umgekehrtes im Falle des Schlichters Muhammad: die stammesgebräuchliche Blutfehde wird durch die verordnete Fesselung der Gemeinde an religiöses Gesetz beendet.47 Die Dissonanz beider Modelle ließe sich mithin in der Formel Rechtaneignung versus Rechtleitung verdichten. Ein rein innerweltlich schließbarer Rechtstextkorpus wurde fortan im arabisch-muslimischen Raum nicht entwickelt. Rechtspositivismus besteht nicht. Kein von Menschen politisch souverän setzbares Recht vermag es, die Souveränität göttlichen Rechts legitimerweise zu ersetzen. Die politische und rechtliche Handhabbarmachung dieser Problematik erfolgte historisch durch eine Verpriesterlichung von islamischen Auslegungseliten (arab.: ulama), womit einer Beliebigkeit der Exegese durch Professionalisierung begegnet wurde sowie Verlässlichkeit und Kontinuität gewährleistet wurden durch Systematisierung und Kanonisierung zulässiger Auslegungs- und Analogieschlussmethoden, ferner durch die Begrenzung der Anzahl von Präzedenzfällen. Mit der Institutionalisierung verschiedener sunnitischer Rechtsschulen wenige Jahrhunderte nach Muhammad konnten die „Tore der Exegese“ zumindest im sunnitischen Mehrheitsislam geschlossen werden, wodurch allerdings eine Erweiterung der Quellen und deren von der Tradition gelöste Neuinterpretation weitgehend verunmöglicht wurden, geschweige denn, dass eine Methodendiskussion zugelassen worden wäre. Erst mit dem zunächst kolonialistischen Einfall in die arabische Welt, später mit der Globalisierung des Islam einschließlich der Installierung vieler muslimischer Diasporagemeinden in der außerislamischen Welt wich diese Einkapselung einer umfassenden, häufig latenten bzw. indirekten und diffus vielstimmigen Einsicht, dass eine umfassende Rechtsreform unumgänglich sei.48 49 Doch sind diese Prozesse bislang weder eindeutig staatsgetragen, noch wäre mit ihnen verbindlich ‚Staat zu machen‘. Im Gegenteil: Kann die Vorstellung, Islam habe heute (wieder) Staat und Religion zugleich zu sein und sei somit zuvorderst an der Schari’a auszurichten, bei sunnitischen Reformatoren bzw. Anhängern des politischen Islam (Islamismus) als anti-säkularer Konsens gelten,50 ist es umso problematischer, dass die im arabischen Raum riesigen islamistischen Bewegungen zumeist seit Jahrzehnten unterdrückt und verfolgt werden und desto mehr Zuspruch gewinnen, je glaubwürdiger sie sich als alternative, sozialkaritative, anti-elitäre, korruptionsresistente, Traditionalismus und spirituelle Ori-

47 Vgl. Nagel 1975, S. 18. 48 Vgl. dazu u.a. Amirpur/Ammann 2006. 49 Zwar lässt sich diese freilich im Detail wesentlich differenziertere Geschichte nicht als eine „einseitige[…] Islamisierung der gesamten Rechtsmaterie“ apostrophieren, wohl aber verweist sie auf eine zunehmende Vielzahl „innerstaatliche[r] Konflikte zwischen den Akteuren in Rechtssetzung und Rechtsverwirklichung“ (Ebert 2005, S. 199). 50 Krämer 1999, S. 67, 47; vgl. ferner Krämer 2003.

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entierung bietende Verbände und Parteien organisieren.51 Es ist insofern nicht allein importierte westliche Moderne, sondern weitgehend die Offensichtlichkeit, mit der selbst gemäßigte islamistische Parteien staatlich gegängelt oder offen verfolgt werden, die eine religionspolitische Reformbedürftigkeit arabischer Staaten beglaubigt und diese Reformbedürftigkeit mit einer zugleich religiösen und politischen Befreiungshoffnung verzahnt. Die vor tausend Jahren geschlossenen „Tore der Exegese“ (arab.: idschtihad) öffnen sich daher faktisch wieder sperrangelweit und nunmehr theoretisch für jeden einzelnen Muslim, weil es keine zugleich religiös anerkannte politische Autorität oder Instanz gibt, die die arabische Modernitätskrise und eine religiöse Modernisierung progressiv zu verbinden wüsste.52 Von daher kann es auch nicht verwundern, ja es ist vielmehr ausgesprochen überzeugend, wenn angesichts dieser „Modernisierung ohne Moderneprojekt“53 Vergleiche mit Reformationsepochen bemüht werden, und zwar sowohl hinsichtlich innerislamischer Bewegungen54 wie auch fundamentalistischer Intellektueller.55 Dass der Staat diesbezüglich als Reformakteur und Reformationsinstanz ungeeignet erscheint, hat freilich nicht allein historische Gründe oder religionsrechtliche Motive, sondern ist zugleich das Ergebnis einer wechselseitig regimepolitischen und fundamentalistischen Eskalationsspirale. Zunächst zu einigen politischen Gründen. Der in der arabischen Welt weitgehend als Fremdimport oder fortwährend demütigender Kolonialrest betrachtete Flächenstaat sowie das Scheitern des quasi-alternativen arabischen Nationalismus von Gamal Nassir über Yassir Arafat bis Saddam Hussein bedingten, dass die politische arabische Welt heute zwischen staatlichem Autokratismus und gesellschaftlichem Islamismus hin- und herpendelt – teils begünstigt durch anhaltende Interventions-, Okkupations- und Diktaturförderungsneigung nicht-arabischer Staaten.56 Wenngleich in der Forschungslandschaft Uneinigkeit über die großen Entwicklungslinien der arabisch-islamischen Region und einzelner Staaten besteht, sodass sowohl Analysen über eine Regression und Stagnation57 wie über eine „Mär von der Stagnation“58 und gar eine „neue arabische Welt“59 vorliegen, herrscht die Ansicht vor, dass generell ein eher gesellschaftlich keimender als ein staatlich steuerungsfähiger „Umbruch“ zu beobachten ist.60 Ob für diesen diffusen Umbruch der Staat indes „Lösung oder Problem“ sei, könne auch laut aktuellstem Arab Human Development Report noch immer nicht bestimmt werden. Denn entgegen den staatsoffiziellen Selbsttäuschungen blieben Mindeststandards staatlicher Aufgabenerfüllung

51 52 53 54 55 56 57 58 59 60

Dazu Asseburg 2008; Hamzawy 2010; Werenfels 2005. Dazu Krämer 1999. Haenni 2006, 2004. Z.B. Aslan 2006. Z.B. Grutzpalk 2008. AHDR 2009, S. 15. Ebd. Hegasy 2007. Perthes 2005. U.a. Perthes 2007; ferner Khanna 2009.

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weitgehend uneingelöst.61 Und neben den USA werde die Dynamik im Nahen und Mittleren Osten derzeit von drei nicht-arabischen Mächten bestimmt: „von Israel, von Iran und zunehmend von der Türkei.“62 Just für diese mehrdeutige Lage nun scheint Religionsrecht eine sinnstiftende, historisch vertraut klingende und zugleich kompensatorische Alternative zu bieten. Schon seit Jahrzehnten ist eine bemerkenswerte Verschiebung in den Diskursen islamischer Aktivisten zu beobachten, die auf eine schleichende „Verlagerung von der Person des Führers zur (vergleichsweise abstrakten) Ordnung des angestrebten islamischen Gemeinwesens“ hinauslaufe,63 wofür symbolisch die empirische Verschiebung des revolutionären Mottos „Der Qur‘an ist unser Imam“ zum „Schlachtruf“ „Der Qur‘an ist unsere Verfassung“ steht.64, 65 Was zunächst zivilgesellschaftlich emanzipierend klingen mag (und es zuweilen durchaus ist), entbehrt unter dem Fokus politischer Stabilisierung allerdings mitnichten einer tragisch zu nennenden Groteske, die Gudrun Krämer noch vor 9/11 trefflich auf die Formel Gottes Staat als Republik brachte.66 Es führt nämlich die massenhaft enttäuschte Abkehr von allzu staatskonformen religiösen Autoritäten und politischen Führern zur kompensatorischen Aufwertung einer freilich eher virtuellen bis fiktiven Gemeinschaftsmacht, die sich im Sinne einer angeblich „schweigenden Mehrheit“ von selbsternannten Vertretern leicht instrumentalisieren lässt. In gewissen Hinsichten vollziehen damit religionspolitisch interessierte Aktivisten eine Entwicklung nach, die auch nach dem Tod des Propheten vor sich ging: Sie suchen angesichts ausbleibender „unmittelbarer“ oder anderweitig legitimer „Rechtleitung“ der Religionsgemeinschaft „Ersatzinstitutionen“, mehrheitlich in den Überlieferungen, zuweilen in Charismaträgern.67 Die Suche nach einem würdigen Kalifen ruht entsprechend oder wurde aufgegeben – sie fristet ein zuweilen absurdes Nischendasein, wie das beinahe närrische Sektiererbeispiel des „Kalifen von Köln“ in Deutschland zeigte, oder der Versuch eines Jordaniers, 1991 ausgerechnet Saddam Hussein zum Kalifen akklamieren zu lassen.68 Nunmehr also wird angesichts gravierender Legitimitätskrisen und Enttäuschungserfahrungen die Frage nach dem rechtgeleiteten politischen, sozialen und religiösen Leben schleichend einem konstruierten historischen Nullpunkt des Islam rücküberantwortet, den dessen religiöse Basistexte vermeintlich authentisch bewahrt hätten. Ein gehöriger Teil des antimodernistischen innerislamischen Spektrums ließe sich mithin über die Streitfrage darstellen, welche Teile sowie welche historische Refe-

61 62 63 64 65

AHDR 2009, S. 193ff. Perthes 2010. Krämer 1999, S. 69ff.; vgl. auch ebd., S. 101f. Ebd. Einige der zitierten Transkriptionen des Arabischen werden, mit Ausnahme der Titel in den Literaturangaben im Anhang, hier und im Folgenden stillschweigend vereinheitlicht. 66 Krämer 1999. 67 Vgl. Nagel 1975, S. 39ff. 68 Zu Letzterem vgl. Tibi 1992, S. 29.

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renzzeitspanne und Referenzregion der jeweils gemeinte, die Gemeinschaft anleitende Rechtskorpus umfassen solle. Und erst hier nun trennen sich zwei zeitlich gleichursprüngliche, grundlegende Alternativen, die im Folgenden, angelehnt an eine ebenso empirisch stichhaltige wie theoretisch, historisch und (sicherheits-)politisch plausible Unterscheidung Olivier Roys69 differenziert gehören in eine traditionalistisch-konservative, autochthon-institutionalistische Option einerseits, die Islamismus bzw. politischer Islam genannt wird, und eine fundamentalistisch-revolutionäre, transnationalindividualistische andererseits, die Dschihadismus genannt wird.70

3. Fundamentalismus und Islamismus Was dermaßen kompliziert klingt, ist es auch, und auch hier lässt sich die leider „häufig als lästig empfundene Diversität der unterschiedlichen Strömungen des Islam“71 nicht angemessen darstellen, zumal gerade die akademische Analysierung der derzeit extremistischsten, dschihad-fundamentalistischen Strömung gewöhnlich daran krankt, „säkularisierte[n] westlichen[n] Sozialwissenschaftler[n] ersichtlich unheimlich“ zu sein.72 Dies dürfte maßgeblich darauf zurückzuführen sein, dass einem säkularisierten Denken, welches Recht, Religion, Wirtschaft, Politik und selbst Liebe funktional differenziert weiß, fundamentalistische Denkfiguren insoweit fremd sind, als diese angesichts einer säkularisierenden Moderne funktionale Differenzierung absichtsvoll hintertreiben, mithin Recht, Religion, Politik, Liebe usf. als verbindlich geoffenbarte Einheit verstanden wissen wollen. Dieser Modernekonflikt ist folglich nicht einfach modernisierungskritisch, sondern antimodern und insofern dennoch logisch konstitutiv angewiesen auf die Moderne. Fundamentalismus ist geradezu ihr „Zerrbild“,73 eine „andere Dialektik der Aufklärung.“74 Gleichwohl nun ist eine explikative Vereinfachung möglich, die sich sowohl ideologisch wie auch, wenngleich mit Einschränkungen, räumlich darstellen lässt. Im laufenden dritten Unterkapitel sollen zunächst die Ideologien differenziert, im vierten dann deren räumliche Konzentrationen betrachtet werden. Der Theologe Rolf Schieder hat geglückt formuliert, Fundamentalisten seien von fehlendem Respekt vor religiösen Traditionen gekennzeichnet und insofern weniger reformistisch denn laientheologisch revolutionär gesonnen.75 Fundamentalisten neigen nicht, wie es Islamisten gewöhnlich tun, im Sinne eines gemeinwohlinteressierten und auf Prozesse setzenden Kompromisses dazu, sich politisch

69 Roy 2006 und Roy 2008. 70 Vgl. ferner Armborst 2009; Baehr 2009; Feichtinger/Wentker 2008; Huhnholz 2010; Richert 2001; Wiktorowicz 2006. 71 Wentker 2008, S. 13. 72 Waldmann 2005, S. 30. 73 Vgl. Fischer 2009, S. 84. 74 Meyer 1989. 75 Vgl. Schieder 2008, insbes. S. 65f.; ferner al-Jabri 2009, S. 65ff.

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zu engagieren, um ihren radikalen religiösen Überzeugungen Geltung zu verschaffen. Sie wählen entweder den isolationistischen Rückzug bzw. sehen sich zu ihm genötigt (im Arabischen hidschra genannt, angelehnt an den Auszug Muhammads aus Mekka und somit an den nominellen Beginn des islamischen Kalenders 622 n.Chr.). Oder aber sie entscheiden sich für eine in der Forschungslandschaft „aktivistisch“ genannte Option, die auf eine gewaltsame, nicht selten terroristische Kampagne hinausläuft und sich vermutlich mit isolationistischen Latenzphasen lediglich abwechselt, sodass letztlich beide nur ein und dasselbe Phänomen in unterschiedlichen Aggregatzuständen beschreiben.76 Die militante sunnitische Variante eines aktivistischen Fundamentalismus kann Dschihadismus genannt werden. Islamismus und Dschihadismus gemeinsam ist ihre antimodernistisch zur Rückbesinnung mahnende Orientierung an den originalen Textquellen und Vergemeinschaftungswurzeln ihrer Religion, welche als allumfassende Basis zu interpretieren seien. Schon Edward Gibbon beobachtete zwecks Abfassung seines Decline and Fall of the Roman Empire erstaunt und, wenngleich ergänzungsbedürftig sowie eher die lose kodifizierte Rechtssammlung Schari’a77 als den Qur’an meinend, in der Sache noch immer richtig, der Qur’an sei „als Grundgesetzbuch nicht nur der Theologie, sondern auch des Zivil- und Kriminalrechtes anerkannt, und die Gesetze, welche die Handlungen und das Eigentum der Menschen regulieren, werden durch die unverwandelbare Heiligkeit des Willens Gottes geschützt.“ War dies für Gibbon auch „religiöse Knechtschaft“, übersah sein Globalisierungsblick doch nicht die Zukunftsprobleme einer originär auf Wüstentauglichkeit und georeligiöse Selbstabschottung angelegten Vollreligion. Sie sei mit „einigen praktischen Nachteilen verbunden“, da beispielsweise „die Einrichtungen, die die arabischen Wüstenbewohner benötigen […] schlecht zum Reichtum des Volkes in Ispahan und Konstantinopel passen“, insbesondere aber weil, was „Mekka angemessen war, an den Ufern der Donau oder Wolga nutzlos oder lästig sein könnte.78 Diese alte Kritik ist ebenfalls für die Unterscheidung von Islamismus und Dschihadismus gewinnbringend. Gibbons Einschätzung verweist auf die islamische Notwendigkeit, soziale Lagen und politische Neuerungen mitlaufend einer Religionsverträglichkeitsprüfung zu unterziehen. Während es Anliegen von (darum freilich nicht unbedingt minder radikalen) Islamisten ist, die religiöse Verträglichkeitsprüfung überhaupt einzufordern und dem Staat unbedingt abzuringen,79 umgehen Dschihadisten diese politikfähige Hürde zumindest ideologisch

76 77 78 79

Vgl. Fischer 2009, S. 81; Huhnholz 2010, S. 39. Zu dieser vgl. Rohe 2004. Alle Zitate Gibbon 1937, S. 367 u. 304. Insofern wird in der diesbezüglichen Fachliteratur zu Recht betont und erkannt, dass (moderate) Islamisten staatskompatible, aber selten regimekompatible Reformakteure sind, die gewöhnlich kulturell und national verankert sind und deren Radikalität auch mit der Intensität korreliert, mit der sie unterdrückt werden. „Der islamische Fundamentalist setzt politische Mittel für religiöse Zwecke, der politische Islamist religiöse Mittel für politische Zwecke ein“

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kurzerhand, indem sie sie subversiv den Einzelindividuen auferlegen, idealistisch die nötigenfalls gewaltsame Wiederherstellung eines vermeintlich historisch realen, originalislamischen Zustandes fordern und proklamieren, im Sinne einer zeitlich regressiven Utopie die Ära Muhammads und seiner unmittelbaren Nachfolger zu reanimieren. Dies bedeutet in der Konsequenz, gerade orientierungsbedürftige Muslime angesichts einer vom Ideal naturgemäß abweichenden Realität in Gewissensnöte zu pressen und ihnen als Ausweg einzig zuzumuten, sich individuell auf eine entsprechend pervertierte und beliebige Dschihadvariante zu verpflichten. Wiewohl Dschihadismus daher in die Weltgesellschaft eingebunden ist, ja sogar einen Beweis für deren Existenz liefert,80 blendet seine Ideologie die Zeitspanne zwischen frühem (christlichen) Mittelalter und Industrialisierungszeitalter aus. Und insofern dabei ganz auf buchstabengetreue Nachahmung statt auf zeitgemäß flexible und kritische Adaption der historischen (bzw. im dschihadistischen Sinne vielmehr: zeitlosen) islamischen Textgrundlagen gesetzt wird, teilt der Dschihadismus zwar einen der generellen und wesentlichen Faktoren intellektueller arabischer Stagnation bzw. Selbstblockade,81 begrüßt letztere aber prinzipiell als richtig. Denn während es die Modernisierungskrise und der Niedergang der islamischen Kultur, der Verlust ihrer angeblich historisch faktischen soziopolitischen Einheit sowie der Pracht- und Machtverlust der muslimischen Zivilisation(en) waren, die seit nunmehr beinahe einhundert Jahren den eigentlichen Anlass für radikale sozioreligiöse Selbstkritik schufen, übernimmt die dschihadistische Weltanschauung sozusagen nur den Aspekt der Kritikwürdigkeit der Verhältnisse als solcher, verzichtet aber auf eine redliche intellektuelle Auseinandersetzung zugunsten der Ansicht, soziale, politische, ökonomische und kulturelle Reformen (Adaption) seien fortgesetzte Irrwege. Die erforderlichen Antworten auf die Herausforderung sozialen Wandels seien vielmehr seit der Zeit des Propheten unverändert geblieben. Zwischenzeitliche religiöse, soziale, politische und regionale Differenzierungen werden ignoriert oder nur selektiv verwertet. Dies entspricht einer später noch durch Vereinfachung radikalisierten Ansicht Ibn Taymiyas (1263-1328 (n.Chr.)), der „außer dem Qur‘an, der Sunna und frühislamischer Praxis keinerlei Autorität“ anerkannte und mit seinen „Ansichten über den Dschihad und über die freie Rechtsausübung (idschtihad) […] bei den späteren Fundamentalisten tiefe Spuren hinterlassen“ hat.82 Insofern haben sich für Islamisten gesellschaftliche Realitäten und religiöse Traditionsnormen prinzipiell wechselseitig

(Richert 2001, 21f.; vgl. Huhnholz 2010 und 2010a). Olivier Roy (1994) hat schon früh ein Scheitern des politischen Islam konstatiert und auch darin die Stärkung des nunmehr von traditionalistischer Konkurrenz entfesselten Fundamentalismus (bei Roy „Neofundamentalismus“) wurzeln sehen. Gleich, ob Roy Recht behält, seine These für sich zeigt bereits, warum „vielleicht“ gerade „[m]ehr Islam, nicht weniger […] das geeignete Mittel gegen […] Extremismus“ ist (Khanna 2009, S. 362). 80 Stichweh 2005. 81 Vgl. al-Jabri 2009. 82 Wentker 2008a, S. 51.

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auszutarieren, für dschihadistische Fundamentalisten hingegen haben sich Realitäten einer wortwörtlich radikalen Originalislamität zu beugen. Wenn nun das Gemeinschaftsmodell, auf das sich der militante sunnitische Fundamentalismus bzw. Dschihadismus derzeit bezieht, mal mehr, mal minder deutlich regressiv ausgerichtet ist auf die Generation des islamischen Propheten Muhammad, orientiert es sich an einer recht kleinen und revolutionär gesinnten Glaubens- und Gütergemeinschaft auf der arabischen Halbinsel im siebenten christlichen Jahrhundert. Nicht mehr besagt übrigens die alternative und korrektere Bezeichnung der Ideologie des Dschihadismus als Salafismus (von arab.: assalaf as-salih für „die frommen Vorfahren“). Doch ist der Dschihadismus bereits eine radikale Minderheitenströmung innerhalb der puristisch-fundamentalistischen Salafiyya-Bewegung, und der Salafismus seinerseits bezeichnet ebenfalls eine Minderheitenrichtung des sunnitischen Islam und des Islam überhaupt. Die größte salafistisch-autochthone und immerhin staatsähnlich institutionalisierte Ausbreitung findet sich auf der arabischen Halbinsel, namentlich in Gestalt des wahabitischen Staatsfundamentalismus, einer heute schlechthin einzigartigen Herrschaftsform,83 die bloß Theokratie zu nennen unpassend erscheint, weil sie – typisch fundamentalistisch, aber theokratisch untypisch – zutiefst widersprüchlich ist, und weil sie auch – untypisch für Fundamentalismen, aber typisch für Theokratien – relativ stabil, selbstgenügsam und zumindest nach außen wenig expansiv bzw. missionarisch ambitioniert zu sein scheint. Damit nun allerdings ist zugleich angedeutet, dass ein ideologischer Zusammenhang sowohl zwischen dem wahabitischen Islam und dem dschihadistischen Lager besteht, und dass beide sich gleichwohl vertraute Feinde sind. Ist SaudiArabien der Inbegriff des sog. „nahen Feindes“ der dschihadistischen Qaida,84 erfolgt die saudische Terroristenverfolgung ihrerseits auf herbem Niveau.85 Die Heftigkeit dieser Feindschaft ist als Bruderzwist zu begreifen, der einst am Vorwurf al-Qaidas entbrannte, das saudische Könighaus sei nicht bereit, seine fundamentalistische Gesinnung offensiv zu vertreten und zu exportieren.86 Dergestalt erst wird auch verständlich, dass einerseits hinter dem statistisch auffallend hohen saudi-arabischen Dschihadistenanteil eine Art wahabitische Ventilfunktion steckt, also eine, die innenpolitisch zu gefährliche oder konkurrierende Radikale exportiert bzw. abdrängt und deren Aktivitäten gleichsam still durch Privatiers finanzieren lässt, um eine voreilige Rückkehr auszuschließen und anti-saudische Dschihadaktivitäten zu reduzieren.87 Andererseits wird begreiflich, warum SaudiArabien dafür prädestiniert ist, saudi-arabische Dschihadisten in Umerziehungslagern88 vom dschihadistisch-salafistischen Pfad auf den nahverwandten wahabisalafistischen zurückzuleiten und letzteren gleichwohl in den engeren Grenzen der 83 84 85 86 87 88

Vgl. Steinberg 2004. Vgl. Kepel/Milelli 2006. Glosemeyer 2003; Glosemeyer/Perthes 2003. Vgl. Huhnholz 2010, S. 98ff. Vgl. Alexiev 2004. Hermann 2008.

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arabischen Halbinsel zu belassen. Trotz eines vielerorts amerikanisierten Produktmarktes nämlich lässt sich dort landschaftsräumlich und lebensweltlich zumindest kein extremer Kontrast zum salafistischen Referenzislam der muhammadanischen Ära erkennen. Doch ist diese Ausnahmepraxis für die zumal nicht-saudi-arabische und diasporisch verteilte Mehrheit der Dschihadisten nicht nur unmöglich, sie dürfte von ihr auch als Korruptionsversuch eines Apostasieregimes interpretiert werden. Dschihadismus stellt dem Wortsinne nach nicht auf Selbstgenügsamkeit, sondern auf eine universelle Umsetzungspraxis ab, also auf den sog. kleinen, d.h. gewaltsamen Dschihad. Dass dieser Dschihad angesichts der Unmöglichkeit, einen vormodernen status quo ante herzustellen, exzessiv und transzendenzlastig begriffen werden muss, versteht sich leicht und ist ein Grund, warum Karsten Fischer in seine Fundamentalismus-Definition das Kriterium eigendynamischer Radikalisierung integriert hat.89 Insofern nämlich der territoriale Flächenstaat konstitutiv unvereinbar mit den frühislamischen, „natürlichen“ Gebietslogiken von sunnitischen Fundamentalisten und deren antiterritorial-vormoderner Vorstellung einer Sunnitenverbandsstaatlichkeit ist,90 sind aufgrund ihrer streng antagonistischen Prinzipien staatlich-antifundamentalistische und antistaatlich-fundamentalistische Bestrebungen wechselseitig auf Eskalation angelegt.91 Doch gerade deswegen genügt die Analyse der Ideologie als solcher allein nicht mehr, will man auch erklären, warum sich Dschihadismus staatlicher Einhegung so auffallend kontinuierlich zu entziehen versteht, einer Einhegung also, die im islamistischen Fall durch dessen staatlichkeitskompatible Agenda und überwiegend territorial konzentrierte „Einstaatung“ (Christian Meier) gelingt und im wahabitischen Fall durch räumliche Selbstbegrenzung im geographischen Zentrum des Urislam. 89 „Fundamentalismus ist eine sich auch in Latenzzeiten eigendynamisch radikalisierende, nur unwesentlich in der Erscheinungsform divergierende religionspolitische Reaktion auf krisenhaft empfundene, säkularisierende Modernisierungsprozesse, mittels derer eine Konstruktion kollektiver Identität vorgenommen wird und alle entscheidungsbedürftigen politischen und sozialen Belange der Autorität einer religiösen Offenbarung unterstellt werden, hinsichtlich derer apokalyptische Aktivität entfaltet wird.“ (Fischer 2009, S. 82). 90 Ich habe das an anderer Stelle in polemischer Anspielung auf Carl Schmitt als „fundamentalistisches Großraumdenken mit Interventionsverzicht Schari‘a-ignoranter Mächte“ beschrieben, um begreiflich zu machen, wie defensiv die „dschihadistische Raumpraxis“ notwendigerweise in der Theorie angelegt sein muss, um in der eigendynamisch radikalisierten Praxis offensiv jede beliebige Tat beliebiger Gegner als Angriff auf den Islam werten zu können (Huhnholz 2010: S. 92-110). Daher ist es auch konsequent, wenn in der Terminologie alQaidas häufig historische Regionen- statt moderne Staatsnamen verwendet werden („alAndalus“, „al-Maghrib“, „Zweistromland“, „Land der beiden Heiligen Stätten“, „Straße des Propheten“ usw. (vgl. ebd., S. 102). 91 Dies dürfte auch ein Grund sein, warum sich dschihadistische Konzentrationen zeitweise in Gebieten schwach ausgeprägter Staatlichkeit und in sog. failed und failing states beobachten lassen: Sie sind je nach Ausprägung Rückzugsorte (z.B. Sudan bis 1996, Afghanistan vor 2001, Westpakistan, Somalia, Jemen) oder propagandistisch besonders attraktive Kampfschauplätze und symbolträchtige Widerstandsbastionen (z.B. Afghanistan seit 2001, Irak seit 2003, Tschetschenien). Eine Analogie zu den historischen Kreuzrittern und ihren extraterritorialen Festungen geht hierbei sicher nicht ins Leere (vgl. Münkler 2008, S. 33f.).

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Denn angesichts des bisher Benannten wäre doch immerhin anzunehmen, dass sich ein exzessiver und individualistischer dschihadistischer Fundamentalismus, verstärkt durch seine personelle Schwäche, von selbst erledigt, wenn er sich als militante Totalverweigerung sowohl gegen moderne Gesellschaften wie auch gegen die traditionalistisch-konservativen und kulturell autochthon verankerten, religiös-sozialen Reformbewegungen kollektivistischer Islamlisten aufstellt. Olivier Roys Synthese92 für diesen Widerspruch lautet, dass sich Dschihadismus und Islamismus auf unterschiedliche Räume konzentrieren.

4. Dschihadistische Räume Die Frage nach dem Raum des Dschihadismus verweist insofern zurück auf die oben zitierte Beobachtung Edward Gibbons, derzufolge, was „Mekka angemessen war, an den Ufern der Donau oder Wolga nutzlos oder lästig sein könnte.“93 Denn wenn Islam, „überspitzt ausgedrückt, weitgehend das [ist], was Muslime an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit als islamisch definieren und praktizieren“,94 implizierte Gibbons Beobachtung schon im Frühstadium beginnender Globalisierungen zugleich die Frage, wie eine religiöse Selbstprüfung und Selbstbehauptung gewissenhaft zu vollziehen sei, wenn lebensweltliche Realität und religionstextliche Norm beginnen, angesichts eines sich über sein geotheologisches Herzland hinaus erstreckenden Islam auseinander zu driften. Was also ist Islam außerhalb seiner traditionellen geographischen Zentren, wenn unter den globalisierten Bedingungen einer rasanten, multioptional enthemmten, individualistischen und selbstverflochtenen (Post-)Moderne ein vermeintlich entbehrliches oder tatsächlich unmögliches, kollektiv sinnstiftungsfähiges Zentrum vermisst wird? Diese Frage zielt offensichtlich auf das Dilemma notorischer Heilsungewissheit von jenen Muslimen, die jenseits autochthon muslimischer Großgemeinschaften und deren religiöser Alltagspraxis einen spirituellen wie soziokulturellen Orientierungsbedarf verspüren, der in einer mehrheitlich von Nicht-Muslimen geprägten Diaspora selten bedient werden kann. Diese Konstellation bedingt eigendynamisch, dass einzelne, kulturreligiös entfremdete Gläubige sich ausgerechnet desto stärker einer radikalen religiösen Auslegungsfreiheit meinen bemächtigen zu müssen, je ungläubiger und verwerflicher ihnen die eigene Umwelt und Gesamtsituation erscheint. Der Dschihadismus, so scheint es, bietet eine radikale Sammelantwort auf diese weltgeschichtlich generell neue und somit auch der islamischen Tradition fremde und komplizierte Konstellation, ist mithin zugleich Ausdruck wie radikale Begleiterscheinung der soziologisch von Ulrich Beck beschriebenen, postsäkularen religiösen Individualisierung.95

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Roy 2006. Gibbon 1937. Krämer 1999, S. 25. Beck 2008.

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Entsprechend ist die dschihadistische Ideologie auffallend und vorrangig ein Selbstvergewisserungsmechanismus soziokulturell entfremdeter, nicht selten privilegierter, hochmobiler und spirituell äußerst flexibler Minderheiten, die sich zudem auffallend aus jungen Muslimen zusammensetzen, also einer Gruppe, die von Geschlecht und Alter her ohnehin zu einer Risikopopulation zählt, da sie obendrein hinsichtlich ihrer traditionalistisch geprägten Männlichkeitsrolle von einem rollengeschlechtlich relativ emanzipierten Westen verunsichert wird.96 Es handelt sich mithin um eine „negative Form der Verwestlichung“,97 ausgetragen bezeichnenderweise in mehrheitlich „westlichen Kategorien“.98 Zwar kann diese Beobachtung trotz der Zunahme sog. homegrown terrorists nicht dahingehend vereinfacht werden, dass Dschihadisten bzw. Rekrutierungsanfällige mehrheitlich westliche Staatsbürger, sozusagen vordergründig „gut Integrierte“ oder durchweg Konvertiten seien. Wohl aber sind sie via Herkunft, Wohnorten, Wohnortwechseln, Ausbildungen usw. auffallend kosmopolitisch (in einer unpathetischen Wortbedeutung) geprägt respektive – im Sinne Roys – einer Dekulturalisierung und religiös intoleranten Multikulturalisierung entsprungen, haben „ihre größte Anhängerschaft unter den jungen, gebildeten, zur Mittelschicht gehörenden Städtern.“99 Kurzum, sie sind transnationale Eliten. Und so ist auch ihr Organisationsgrad transnational, sind ihre Aktionsziele sogar weltgesellschaftlich angelegt.100 So kann deutlicher noch behauptet werden, dass die Konfrontation in „westlichen Kategorien“ stattfindet, weil sie maßgeblich von Dschihadisten initiiert wurde, die der sog. westlichen Welt biographisch näher stehen als traditionell muslimischen Regionen. Im Gegensatz zum autochthon-kollektivistischen Islamismus und zum wahabitischen Staatsfundamentalismus ist die dschihadistische AvantgardeWeltanschauung geprägt von einer hochgradig individualistischen, exklusivelitären Identität, die sich anscheinend besonders in den heilsungewissen Sinnkrisen einer multikulturellen Diaspora zu entfalten vermag und sich offenbar gerade in einer empfundenen Fremde eigendynamisch zu entfesseln und zu beglaubigen versteht. Allerdings ist die Heilsungewissheit entfremdeter und transnational erfahrener Exilanten allein erst eine hinreichende, nicht jedoch eine notwendige Bedingung für den Rückgriff auf spezifisch salafistische Ideologeme. Die orientierungslose Vereinzelung und Radikalisierung junger Muslime nämlich mag zwar erklären, warum sich die insgesamt wieder zunehmende Auslegungsfreiheit bzw. die Wiederöffnung der „Tore der Exegese“ in der Diaspora mit einem individualtheologischen Moment oder auch bloßer Beliebigkeitsreligiosität vermengt. Weiterhin offen indes bliebe gerade angesichts der Feststellung, dass Dschihadismus kein Unter-, sondern ein Mittel- und Oberschichtenphänomen ist, die Beantwortung 96 Vgl. Roy 2006 und 2008; Fischer 2009: insb. S. 115-132; Heinsohn 2003; empirische Zusammenstellung bei Huhnholz 2010, S. 41-58. 97 Roy 2006, S. 36. 98 Ebd. 99 Richert 2001, S. 33. 100 Vgl. Schneckener 2006; Roy 2006; Huhnholz 2010.

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der Frage, warum ausgerechnet der Salafismus mit seiner puristischen Konzentration auf den entbehrungsreichen Frühislam eine so dominante Orientierungsfunktion einnimmt. Eine plausible Antwort mag man in der Metapher des „MadinaModells“ finden.101 Sie verweist darauf, dass die einschlägigste qur’anische Analogie für eine Diaspora Madina selbst ist, also jener, schon weiter oben erwähnte, ursprünglich Yathrib und später in „Stadt des Propheten“ umbenannte urislamische Ort (arab.: madinat an-nabi), an dem Muhammad eine politische und materielle Exilgemeinschaft gründete, und vor allem: an dem er gerade nicht siedelte, sondern von wo aus er zur Eroberung Mekkas und letztlich zur Errichtung des islamischen Imperiums ansetzte. Der sozioreligiöse Vorbildcharakter dieser Urgemeinschaft dürfte sich für einen religiösen Autodidakten zudem durch deren große Präsenz in islamischen Quellen beglaubigen lassen. Vertraut man der Plausibilität dieses Arguments, muss eine Einschätzung des journalistischen Biographen bin Ladins, Peter Bergen, zweifach ergänzt werden, der schreibt, das Madina-Modell sei „das Vorbild, dem bin Ladin in seinem Dschihad gegen den Westen nacheifern wollte. Und Afghanistan ist in seiner Vorstellung das Madina des 21. Jahrhunderts.“102 Zum einen wäre, wenn überhaupt, jedes Exil und jeder Hort für Dschihadisten potentiell ein solches MadinaÄquivalent, sei es nun Afghanistan oder Europa selbst, „where mass immigration meets global terrorism.“103 Nicht weniger besagt nämlich das wesentlich neue Kriterium am „neuen“, dschihadistischen Terrorismus: dessen Transnationalität.104 Ein transnational aufgestellter und sich ideologisch transnational begreifender Dschihadismus besitzt kein geographisch konstantes Aktionszentrum, keine heimatlich feste Basis und entsprechend auch keine unverzichtbar legitimierungsnotwendige Klientel, auf die besondere Rücksicht zu nehmen oder die zu schonen wäre. Zum anderen allerdings erfüllen Staaten der westlichen Welt nur sehr bedingt die Funktion eines Ruhepols, sind sie doch sehr viel mehr ein Beglaubiger und Verstärker für dschihadistische Weltanschauungen. Der sog. Westen und die Moderne insgesamt sind und bleiben stets nur das stellvertretend angefeindete Zerrund Spiegelbild; eines, an dem man sich reibt und das man ablehnt, weil sein Beschleunigungs-, Demokratisierungs-, Liberalisierungs-, Kapitalisierungs- und Modernisierungsdruck, nicht zuletzt auch sein Rohstoffdurst, jene muslimische Selbstbesinnung behindere, die zur Wiedergeburt früherer islamischer Größe nötig sei. So mag es zwar eigentümlich klingen, doch der sunnitische Fundamentalismus suchte gemäß eigener Wahrnehmung die Auseinandersetzung und das Kräftemessen mit der abendländischen Moderne nicht. Sie sei der arabischen Welt entweder imperialistisch aufgezwungen oder dort im Sinne einer orientalischdespotischen Selbstkorrumpierung importiert und letztlich adaptiert worden, wes-

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Musharbash 2006, S. 33ff. Bergen 2003: S. 126. Leiken 2005. Dazu Schneckener 2006; Huhnholz 2010.

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halb dann auch die riesige Penetrationsmacht materialistischer Lebens- und Konsumstile, dekadent verflachter Massenkultur, omnipotenter Militär- und omnipräsenter Marktkraft den melancholischen Phantomschmerz von Fundamentalisten umso mehr bestärkt, je selbstbestimmter auch muslimische Gesellschaften sich für derlei Modernisierungen und coca-colonization begeistern und ihre Regierungen als in folkloristischem Popanz erstarrte Marionettenregime erscheinen. Entsprechend bleibt gemäß dschihadistischer Wahrnehmung nur die Option, sich den Trägern beider Richtungen gleichermaßen zu stellen, „nahen“ und „fernen Feind“ als zu spaltende Allianz zu begreifen.105 Dies müsse heißen, so Ayman azZawahiri im Jahr 2001, zunächst den Kampf in die Zentren des westlichen Feindes „zu tragen“, dessen furchtsame Zurückhaltung zu befördern und somit westliche Interventionsneigungen in jenes „Herz der islamischen Welt“ zu demotivieren, „welches das eigentliche Schlachtfeld zur Verteidigung des Islam“ bleibe.106 Gerade daher ist die dschihadistische Ideologie eine wenngleich religiös totalitäre, so doch strategisch defensive und politisch unproduktive. Im Gegensatz zu anderen (anti-)modernen Großideologien, mit denen Dschihadismus zuweilen verglichen wird,107 fehlt ein kollektivierungsfähiges, teleologisches Fortschrittsoder Erlösungsmoment, das Zweifel am gleichwie herbeigesehnten Sieg durch Verweis auf die Evidenz einer geschichtsgesetzlich ausstaffierten Prophezeiung reduziert. Das könnte beruhigen, würde diese Offenheit nicht eine Andockstelle für die ideologische Integration vieler weiterer Gesellschafts- und Systemkritiken bereitstellen. „Kein Mensch würde sich um die dunklen Qur‘anstellen kümmern, wären da nicht die Millionen zählenden gewalthungrigen Gottsucherbanden, die sich die Worte zu ihren kommenden Taten zurechtlegen […] Als Matrix radikaler Aktivierung ist der Islamismus [gemeint ist unmissverständlich Dschihadismus – SH] dem historischen Kommunismus […] möglicherweise überlegen, da er sich gegenüber seiner Herkunftskultur nicht als Bewegung des radikalen Bruchs, sondern der revolutionären Wiederherstellung präsentieren kann.“108 Treffend hat Malise Ruthven daher das indirekt von Lenin her stammende revolutionäre Avantgarde-Konzept des dschihadistischen Vordenkers Sayyid Qutb109, das alQaida heute zu vertreten meint, mit „Wirklichkeit im Wartezustand“ übersetzt.110 Es basiert auf einer von theologischen Traditionen befreiten Laien- bzw. Individualtheologie, die radikale Dekadenz-, Ideologie- und Systemkritik mit aktivierender, durch Gewalt zu beglaubigender Jenseitsvorsorge verschmilzt, um Fanale – Qutb sagt: „Wegzeichen“ (arab.: ma’alim fi-t-tariq) – für das individuelle Be-

105 106 107 108 109 110

Dazu Steinberg 2005. Abgedruckt in Kepel/Milelli 2006, S. 364f. Schieder 2008, S. 62; al-Jabri 2009, S. 65ff. Sloterdijk 2006, S. 344–346. Qutb 2005. Ruthven 2000, S. 189.

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glaubigen und das kollektive Wiedererkennen der seit Muhammad nie verschwundenen „Wirklichkeit“ zu setzen.111

5. Synthese und Ausblick Das bis hierhin Ausgeführte hat in vielerlei Hinsicht problematische Implikationen für die generelle sicherheitspolitische Bewältigungskapazität moderner westlicher Staaten angesichts insgesamt kleiner, wenn auch nicht harmloser dschihadistischer Provokationen. Freilich könnte mit Einigem des bisher Genannten dafür argumentiert werden, die dschihadistische Herausforderung zumindest außenpolitisch als vorrangig innerislamische bzw. innerarabische Angelegenheit zu interpretieren. Doch realistisch erscheint diese Option nicht. Denn einerseits setzte dies eine umfassende und konsequente Bereitschaft aller muslimisch geprägten Staaten voraus, Dschihadismus wirksam zu bekämpfen und dessen finanzielle Unterstützung durch Privatiers zu unterbinden. Westliche Länder hingegen, welche mittels terroristischer Anschläge zum Rückzug aus muslimischen Gebieten zu bewegen das dschihadistische Nahziel ist, müssten terroristische Angriffe sodann bloß noch innenpolitisch zu vermeiden trachten und sie im Fall des Misserfolgs mit stoischer, „heroischer Gelassenheit“112 erdulden; sie müssten der bisherigen Versuchung widerstehen, ausgerechnet transnational hochmobile Dschihadisten militärisch territorial lokalisieren statt diplomatisch koordiniert und polizeilich bis geheimdienstlich vernetzt global filtern zu wollen. Dies bedeutete entweder, die durch Interventionen geschaffenen Dschihadistenmagnete Afghanistan und Irak um den hohen Preis verloren zu geben, einen (dschihadistisch sodann sicher zum weiteren Etappensieg stilisierten) geordneten Rückzug vollständig vornehmen zu müssen und ein damit sich wieder erhöhendes Anschlagsrisiko im Westen zu riskieren. Die Alternative bestünde in einer wesentlich kooperativen Allianz mit traditionellen islamischen Autoritäten, deren häufig antidschihadistische Gesinnung und Kompetenz zu häufig vernachlässigt wird. Letzteres freilich käme einer unwahrscheinlichen Schubumkehr der bisherigen westlichen Antiterrorpolitik und Sicherheitskultur gleich. Entsprechend stärker berücksichtigt werden müsste fortan das angespannte Verhältnis zwischen der sog. westlichen und der sog. islamischen Welt. Denn wenn ein kooperativ bemühter und erfolgreicher antifundamentalistischer Kampf weder allein mit politischen, polizeilichen und militärischen Mitteln, noch allein mit religiösen Beschwichtigungsanstrengungen geführt und zudem vorerst weder territorial noch regional gehegt werden kann, bewegt sich dieser Kampf sehr offenkundig innerhalb eines interkulturellen Konfliktmusters, das es gleichzeitig maßvoll einzugestehen wie aktiver als bisher zu widerlegen gilt. Samuel Huntington hat dieses Muster auf die Formel vom clash of civilizations gebracht. Um da-

111 Dazu Damir-Geilsdorf 2003. 112 Münkler 2006, S. 338ff.

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hingehend eine Balance zu meistern bedürfte es verlässlicher Regelungen auf nationaler, internationaler und transnationaler Ebene, die begünstigen, dass eine interkulturelle, kooperative und bedächtige antifundamentalistische Kraftanstrengung von der großen Mehrheit der Muslime und allen kulturislamischen Staaten mitgetragen und nicht als islamfeindlich rezipiert wird. Blickt man auf die politische Realität des Nahen und Mittleren Ostens, blickt man auf die offenkundig sehr geringe Erregbarkeitsschwelle des gegenwärtigen Islam, blickt man auf Afghanistan, Gaza, Irak, Pakistan und nicht wenige andere Staaten mehr, blickt man auf die ungezählten diplomatischen Versäumnisse der vergangenen Jahre – dann erscheint eine solche Bedingung unrealistisch, ja utopisch. Dennoch, oder: umso mehr scheiden sich hier zwei prinzipielle Pfade, das anti-territoriale Moment des Dschihadismus auch längerfristig in Angriff zu nehmen, um nicht-intendierte Folgewirkungen zu reduzieren. Ein erster ist, wie eingangs beschrieben, ein quasi imperialer Pfad, der freilich weder auf die heutigen USA als „post-territoriales“ American Empire113 begrenzt ist, noch primär einer antidschihadistischen Agenda wegen entstand.114 Gleichwohl verhält sich, unter dem Gesichtspunkt von Raumordnungen gesehen, Imperialität strukturanalog zu Transnationalität – anders als Staatlichkeit, die von beiden konterkariert wird.115 Was dahingehend nach 9/11 zunächst pragmatisch gewirkt haben mag, hat jedoch offenkundig die kontraproduktive und realitätsfremde Assoziation von Islamismus und Dschihadismus in einer Weise begünstigt, die sowohl indirekt einen arabischen Autokratismus wie auch direkt die dschihadistische Ideologie bestärkte, und dies weitgehend zu Ungunsten gemäßigter, reformorientierter (und nichtsdestotrotz problematisch anti-liberaler) islamistischer Kräfte. Nun sei zwar mitnichten suggeriert, die europäische Geschichte westfälischer Staatlichkeit ließe sich wiederholen. Diagnosen über die Aushöhlung von Souveränität und gar ein „Westfailure“ scheinen näher an der Realität zu liegen.116 Mit Blick auf eine antidschihadistische „Einstaatung“ der islamischen Modernitätskrise im arabischen Raum jedoch dürfte es sich mittlerweile als Fehler herausgestellt haben, imperiale und imperiumsähnliche Antiterrorpolitik ausgerechnet auch gegen jene gesellschaftlichen Großbewegungen installiert zu haben, die gemeinwohlorientierte Träger innerarabischer Staatlichkeit zwecks Hegung religiös kampfbereiter Antistaatlichkeit werden könnten – so man sie ließe.117 Zwar gebe man sich keinen Illusionen hin: Die umfassende Aneignung einer innerweltlich schließbaren islamischen Legislativkompetenz ist nicht zu erwarten. Vielmehr dürfte sich das oben als Rechtaneignung versus Rechtleitung beschriebene Problem in den kommenden Jahrzehnten weiter verstärken. Doch angesichts eines religiös irrlichtenden Dschihadismus sollte die Installierung eines überhaupt

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Maier 2006, S. 277. Vgl. Münkler 2005. Vgl. Huhnholz 2010, S. 9–32. Werkner 2011; Strange 1999. Asseburg 2008; Lynch 2010; Roy 2008.

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kollektiv tragfähigen Zustands der Recht-Leitung Priorität haben. Und so zeigt sich, dass der neben Imperialität zweite Pfad der Reaktion auf anti-territorialen Dschihadismus kein vorrangig raumpolitischer, sondern ein religionspolitischer sein müsste, wie abschließend, zusammengefasst in fünf Punkten, aufzuzeigen ist. Wenn erstens die sachlich-funktionale Differenzierung der Moderne seitens dschihadistischer Akteure nicht nur bestritten und bekämpft, sondern unterlaufen wird, weil fundamentalistische Gesinnung allumfassend ist, insbesondere zwischen religiöser und politischer Logik nicht zu trennen versteht, dann sind maßvoll korrumpierende Abwehrbemühungen, Infiltrationsversuche und sogar Konsens- oder Kompromissangebote aussichtslos: Ökonomische Bestechungsversuche, integrationspolitische Bemühungen, religionsinterne Verhandlungen und derlei mehr bestätigen und bestärken die radikale Eigendynamik einer fundamentalistischen Weltdeutung nur, versteht diese sich doch als Antidekadenzbastion.118 Zweitens und erschwerend tritt hierzu, dass sich diese Korruptionsresistenz aufgrund ihres fundamentalistischen Charakters auch und gerade gegen Vermittlungsanstrengungen religiöser Autoritäten imprägniert hat und sich gegen religiös kulturalisierte Traditionen sperrt. Wendet man dieses Argument einmal, zeigen sich noch weitere Problemfelder, denn es wird – drittens – deutlich, dass der exzessive Alleinvertretungs- und Verbindlichkeitsanspruch des Dschihadismus in Sachen Religionsgeltung und authentischer Islamität in einem ungleich radikalen Konkurrenzverhältnis zu etablierten religiösen Autoritäten steht. Haben letztere nur die gegen jeden Fundamentalismus allzu stumpfe Deeskalationswaffe des theologischen Arguments, weiß der Dschihadismus eskalierend mit symbolträchtigen Taten, einem für jedermann nach Belieben zusammengestückelten Patchwork- und Popkultur-Islam und entsprechend populistisch aufgemotzter Propaganda um die tendenziell selbe Anhängerschaft zu buhlen. Man muss lange suchen, um klug und wahrhaftig religiös interessiert argumentierende, nicht bloß holistische oder effekterheischende dschihadistische Texte jüngeren Datums zu finden; entsprechend schwer dürfte besonnenen (und nicht selten: alten) islamischen Autoritäten der Zugang zu diesem jugendaffinen und wutkompatiblen Gedankengut fallen. Damit aber ist viertens dennoch besagt, dass eine effektive antidschihadistische Politik vor allem Religionspolitik ist, die der Staat auch in Kooperation mit zuweilen kaum minder staatsskeptischen und modernekritischen, religiös traditionalistisch-konservativen Autoritäten organisieren müsste, wobei strukturell unentschieden bliebe, welche Seite die andere eigentlich stärker instrumentalisiert. Ortet man die Positionierung des Staates auf diesem Feld noch genauer, zeigt sich fünftens und letztens, dass hierbei säkular organisierte Staatswesen auf der einen Seite eine ihrer wesentlichsten souveränen Kernkompetenzen partiell relativieren müssten, weil die den Religionskrieg einhegende „Westfälische Lösung“, also die zivilisatorisch begnadete Scheidung von Religion und Politik, Krieg und Frieden ausgerechnet aus friedenspolitischen Interessen neu be-

118 Fischer 2009, S. 115ff.

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fragt gehörte – und bereits vielfach befragt wird.119 Auf der anderen Seite hieße dies, nicht-säkularisierte, das heißt: religiöse Gesellschaften integrierende Staatlichkeit als solche überhaupt anzuerkennen und womöglich: deren moderate Variante im arabischen Raum geradewegs zu fördern, um das bislang weitgehend gescheiterte, und dieses Scheitern auch in Gestalt von Dschihadisten allzu oft exportierende Projekt „arabische Staatlichkeit“ überhaupt zuzulassen. Ein erster Schritt dahingehend wäre es, die dschihadistische Unterscheidung von „nahem“ und „fernem Feind“ als eben eine dschihadistisch interessierte Polarisierung zu reflektieren, anstatt sie als eine angeblich sicherheitspolitisch nützliche Unterscheidung zu übernehmen und ihr analytisch aufzusitzen. Literatur Adam, Armin, 1991: Raumrevolution. Ein Beitrag zur Theorie des totalen Krieges, in: Stingelin, Martin; Scherer, Wolfgang (Hg.): HardWar/SoftWar. Krieg und Medien 1914-1945, München, S. 145–158. United Nations Development Program, Regional Bureau for Arab States (Hg.) (AHDR 2009): Arab Human Development Report 2009. Challenges to Human Security in the Arab Countries, New York, NY: UNDP, Url: http://www.arab-hdr.org/publications/other/ahdr/ahdr2009e.pdf, letzter Zugriff: 13.06.2010. Alexiev, Alex, 2004: Ölmilliarden für den Dschihad. Saudi-Arabien finanziert den globalen Islamismus, in: Internationale Politik, Heft 2/2004, S. 21–28. Amirpur, Katajun / Ammann, Ludwig (Hrsg.), 2006: Der Islam am Wendepunkt. Liberale und konservative Reformer einer Weltreligion, Bonn Armborst, Andreas, 2009: A Profile of Religious Fundamentalism and Terrorist Activism, in: Defence Against Terrorism Review, Heft 1/2009, S. 51–71. Aslan, Reza, 2006: Kein Gott außer Gott. Der Glaube der Muslime von Muhammad bis zur Gegenwart, Bonn. Asseburg, Muriel (Hg.) (2008): Moderate Islamisten als Reformakteure, Bonn. Barnett, Thomas P.M. (2008): Die neue Weltkarte des Pentagon, in: Blätter für deutsche und internationale Politik (Hg.): Quo vadis, Amerika? Die Welt nach Bush, Berlin / Bonn, S. 27– 36. Baehr, Dirk, 2009: Kontinuität und Wandel in der Ideologie des Jihadi-Salafismus. Eine ideenhistorische Analyse der Schriften von Abu Mus’ab al-Suri, Abu Mohammad al-Maqdisi und Abu Bakr Naji, Bonn. Beck, Ulrich, 2008: Der eigene Gott. Friedensfähigkeit und Gewaltpotential der Religionen, Frankfurt a.M. Bergen, Peter L., 2003: Heiliger Krieg Inc. Osama bin Ladens Terrornetz, Berlin. Brunner, Otto Conze, Werner / Koselleck, Reinhart (Hrsg.), 2004: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 6 Bde., Stuttgart: KlettCotta. Conze, Werner/Koselleck, Reinhart/Klippel, Diethelm / Boldt, Hans, 2004: Staat und Souveränität, in: Brunner, Otto et al. (Hrsg.): a.a.O., Bd. 6, S. 1–154. Damir-Geilsdorf, Sabine, 2003: Herrschaft und Gesellschaft. Der islamistische Wegbereiter Sayyid Qutb und seine Rezeption, Würzburg. Demandt, Alexande, 2000: Der Idealstaat. Die politischen Theorien der Antike, Köln.

119 Vgl. z.B. Fischer 2009, insbes. 185ff; Graf 2004; Habermas/Ratzinger 2005.

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DER TERRORIST ALS DIENSTLEISTER? DIE SIOZIALE ROLLE DER HAMAS IM GAZA-STREIFEN VOR DEM HINTERGRUND IHRER TERRORISTISCHEN IDEOLOGIE Björn Budde

1. Einleitung Der Sieg der Hamas bei den Wahlen zum Palästinensischen Legislativrat 20061 stürzte nicht nur Israel und seine westlichen Unterstützer, sondern auch die Terrorismusforschung in ein Dilemma. Zum Einen war es – entgegen der Wahlprognosen, die einen Sieg der säkularen Fatah prophezeit hatten – dazu gekommen, dass eine als radikalislamisch bezeichnete Organisation im Rahmen weitestgehend freier und fairer demokratischer Wahlen eine Mehrheit der palästinensischen Wähler hinter sich hatte vereinen können.2 Die Pläne des Westens, der Fatah (die im Gegensatz zur Hamas offiziell das Existenzrecht Israels anerkennt) mittels der Wahlen neue Legitimation zu verschaffen, waren gescheitert.3 Zum Anderen herrscht seit dem Wahlsieg unter Nahost-Experten Unklarheit darüber, als welche Art von Organisation sie nun bezeichnet werden kann: als terroristische Gruppe oder als politischer Akteur? Für ersteres spricht, dass Hamas in ihrer Charta noch immer zur Vernichtung Israels aufruft und seit ihrer Gründung während der ersten Intifada 1987 zahllose Terroranschläge gegenüber der israelischen Bevölkerung verübt hat. Für ihre Rolle als politischer Akteur spricht hingegen, dass sie unter dem Namen „Change and Reform“ an nationalen demokratischen Wahlen teilgenommen hat und ihren Wahlsieg in erster Linie dem Versprechen nach einer Verbesserung der Lebensumstände in den Palästinensergebieten, innenpolitischen Reformen und einem strikten Vorgehen gegen Korruption verdankt.4 Hamas setzte bei den Wahlen somit primär auf innenpolitische Themen, wobei man sich geschickt das negative Image des als korrupt geltenden Konkurrenten Fatah zu Nutzen machte. Zudem profitierte Hamas von ihrem Netzwerk an sozialen und karitativen Einrichtungen, auf das viele Palästinenser angewiesen

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Hamas, angetreten unter dem Namen „Change and Reform“ gewann 76 von 132 Sitzen im Palästinensischen Legislativrat, was ca. 56% der abgegebenen Stimmen entspricht (Levitt 2006: S. 240). Schanzer 2008, S. 1. Usher 2006, S. 21. Mishal/Sela 2006, S. xiv.

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sind.5 Der bewaffnete Kampf gegen Israel spielte im Wahlprogramm hingegen nur eine untergeordnete Rolle6 und war, so die übereinstimmende Meinung von Experten, nicht der Grund für den Triumph über den Gegner Fatah.7 Dieser janusköpfige Charakter der Hamas, die einerseits ein Großpalästina „from the Sea to the River“, vom Fluss Jordan bis Mittelmeer fordert, andererseits aber geschätzte 80-85 Prozent ihrer finanziellen Mittel für ihre karitative Arbeit im Gaza-Streifen aufwendet, wird aus wissenschaftlicher Sicht unterschiedlich bewertet.8 Auf der einen Seite findet sich die konventionelle Sichtweise, wonach das Verhalten terroristischer Organisationen zumeist durch den beständigen Kampf gegen einen externen, übermächtigen Gegner gekennzeichnet ist, der als Bedrohung bzw. Unterdrücker einer anderen, schwächeren Gruppe wahrgenommen wird.9 Der Terrorist selbst sieht sich als Teil einer Avantgarde, die aus altruistischen Motiven heraus im Namen dieser schwächeren Gruppe handelt.10 Nach diesem „statischen Ansatz“11 ist es das Ziel von Terroristen, durch das Verüben bzw. Androhen terroristischer Gewalt eine bestimmte ideologische oder politische Forderung durchzusetzen.12 Terrorismus wird demnach als eine Kombination aus „Fordern und Drohen“13 verstanden. Jegliches Handeln der Organisation – auch wenn es nicht in direktem Zusammenhang mit dem Verüben gewaltsamer Anschläge steht – ist diesem Ansatz folgend als Bestandteil terroristischen Handelns zu verstehen14 und ist Teil der demand-plus-threat-Strategie, welche dem Erreichen eines statischen, unveränderlichen Zieles dient. Auf der anderen Seite hat sich in der Terrorismusforschung ein „organisatorischer Ansatz“ etabliert,15 der davon ausgeht, dass Terroristen Anschläge aus einer Vielzahl an Motiven heraus verüben und ihr Handeln nicht ausschließlich als Teil der demand-plus-threat-Strategie gegen einen externen Akteur gerichtet ist. Waldron zufolge kann sich hinter terroristischen Anschlägen sowohl der Wunsch nach Bestrafung oder Rache für vermeintlich erlittene Ungerechtigkeiten verbergen; ebenso kann Terrorismus aber auch das Ziel haben, Aufmerksamkeit für das Schicksal einer bestimmten Gemeinschaft zu erregen, ohne dass sich dahinter eine konkrete Forderung verbirgt.16 5 Gunning 2008a, S. 178. Jensen zufolge sind seit der Blockade des Gaza-Streifens durch Israel seit der Machtergreifung der Hamas zwischen 80 und 90% der Bevölkerung abhängig von externer Unterstützung (Jensen 2009, S. 151). 6 Hroub 2006, S. 10. 7 Herzog 2006, S. 87; Youngs/Smith 2007: S. 7; Roy 2007: S. 73. 8 Levitt 2006, S. 236. 9 Hoffman 2006. 10 Schneckener 2004, S. 342. 11 Klein 2007. 12 Schelling 1960. 13 Demand-plus-threat, Waldron 2004, S. 34. 14 Levitt 2006. 15 Stern/Modi 2008. 16 Waldron 2004, S. 41ff.

Der Terrorist als Dienstleister?

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Terrorismus richtet sich diesem Ansatz nach nicht ausschließlich an externe Akteure, sondern kann auch oder ausschließlich mit dem Ziel verübt werden, den Rückhalt unter den eigenen Sympathisanten zu verstärken;17 Crenshaw zufolge ist es möglich, Terrorismus seitens der Führer einer Organisation auch als Instrument zur Kontrolle und Disziplinierung der Mitglieder einzusetzen.18 Zusammenfassend muss Terrorismus diesem Ansatz folgend nicht ausschließlich als Mittel des asymmetrischen Kampfes gegen einen externen Gegner verstanden werden, sondern als variabel einsetzbare Maßnahme, um eine Bandbreite von unterschiedlichen Zielen zu erreichen. Beide Ansätze messen dem Terrorismus somit eine fundamental unterschiedliche Bedeutung bei: der statische Ansatz begreift ihn als eigentliches Ziel in sich selbst, im Extremfall gar als einen cosmic war, bei dem die anfängliche Forderung längst in einen der Realität entrückten Mythos vom Kampf des Guten gegen das Böse eingebettet wurde.19 Beim organisatorischen Ansatz hingegen ist Terrorismus nicht das eigentliche Ziel, sondern vielmehr Mittel zum Zweck und daher im Prinzip durch andere Mittel ersetzbar.20 So argumentieren Stern und Modi, dass Gruppen von ihren anfänglichen Zielen Abstand nehmen können, um im Gegenzug die eigene Überlebensfähigkeit zu verbessern.21 Aus beiden Ansätzen lassen sich grundsätzlich unterschiedliche Aussagen hinsichtlich der Bedeutung nicht genuin terroristischer Aktivitäten, wie etwa der Bereitstellung sozialer und karitativer Dienstleistungen, ableiten; so schreibt der statische Ansatz ihnen eine den Terrorismus unterstützende Rolle zu (etwa als Rekrutierungsmöglichkeit oder zur Geldwäsche), während sie nach dem organisatorischen Ansatz als Ersatz zu Terrorismus wirken oder gar in Konkurrenz zu ihm treten können, falls dieser den Fortbestand der Organisation gefährdet. Angesichts der in der Wissenschaft als auch in der Politik stattfindenden Debatte über den geeigneten Umgang mit dem „Hybrid“ Hamas, der sowohl als politischer als auch terroristischer Akteur in Erscheinung tritt,22 kommt der Frage nach der Rolle sozialer und karitativer Institutionen innerhalb des Systems der Hamas somit eine entscheidende Rolle zu. Die folgende Analyse zeigt, dass die beiden Rollen der Hamas – einerseits als Terrorist, andererseits als sozialer Dienstleister – sich aus der Perspektive der Organisation nicht nur aus ideologischer, sondern auch praktischer Sicht ergänzen, da die Reaktionen Israels auf Anschläge der Hamas die Lebenssituation in den besetzten Gebieten verschlechtert und die Bevölkerung somit verstärkt auf soziale und karitative Unterstützung angewiesen ist.23 Aus Sicht der palästinensischen Bevölkerung ist das Resultat ambivalent: so zeigt sich, dass der Erfolg der Hamas das Produkt sowohl ihrer terro17 18 19 20 21 22 23

Pearlman 2008/2009, S. 85; Stern/Modi 2008, S. 20. Crenshaw 1981, S. 387. Juergensmeyer 2003. Wintrobe 2006, S. 107. Stern/Modi 2008,: S. 21. Mishal 2006, S. 4. Aktion-Reaktion-Spirale, vgl. Schneckener 2004, S. 342.

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ristischen als auch karitativ/sozialen Arbeit ist. Die Rolle der Hamas als Terrorist erfährt dabei jedoch eine Umdeutung dahingehend, dass Gewalt in diesem Zusammenhang nicht als illegitim, sondern – verstanden als Anspruch der Hamas auf ein quasi-staatliches Gewaltmonopol – als Grundlage politischer Macht aufgefasst wird und sich mit ihrer Rolle als Anbieter sozialer und karitativer Dienstleistungen zum Bild eines politischen Akteurs verbindet. Ausgehend von dieser Perspektive wird deutlich, dass hinter der Unterstützung der Hamas die Hoffnung auf politischen Fortschritt innerhalb der palästinensischen Autonomiegebiete steckt, nicht der Wunsch nach einer weiteren Eskalation der Gewalt. Terrorismus dient in diesem Fall dem Erwerb politischen Kapitals, definiert als das Vertrauen in die politischen Fähigkeiten eines Akteurs; entscheidend dabei ist die Tatsache, dass der Wert dieses Kapitals vom politischen, nicht terroristischen Erfolg abhängt. Die Analyse kommt daher zu dem Schluss, dass der Erfolg der Hamas als politischer Akteur davon abhängt, ob es ihr gelingt, ihre eigenen politischen Ziele mit den Vorstellungen der palästinensischen Bevölkerung in Einklang zu bringen. Sollte sich dies als nicht durchführbar herausstellen, droht der Rückfall in die Rolle als militante Terrororganisation, die in der Gewalt die einzige Möglichkeit sieht, ihre Ziele zu erreichen.

2. Ursprünge der Hamas Obwohl die Hamas24 erst während der ersten Intifada 1987 gegründet wurde und somit auf eine relativ kurze Geschichte zurückblickt, ist sie in Wirklichkeit ein direkter Ableger einer wesentlich älteren islamistischen Bewegung, der Muslimbruderschaft.25 Die Muslimbrüder, 1928 in Ägypten von Hassan al-Banna gegründet, erkannten im Zerfall des Osmanischen Reiches und dem Einfluss der britischen (bzw. westlichen) Kolonialherrschaft auf die muslimische Gesellschaft eine Bedrohung des islamischen Glaubens; dieser Gefahr sollte mit einer Doppelstrategie der Re-Islamisierung der Bevölkerung und des Kampfes gegen die Kolonialherren (und ihren Sympathisanten) begegnet werden.26 Die Muslimbrüder gewannen rasch an Unterstützern und bildeten von Ägypten ausgehend Zweige in anderen arabischen Staaten, so 1945 auch in Palästina.27 Der Erfolg unter der Bevölkerung und die zunehmenden anti-britischen und anti-zionistischen politischen Aktivitäten der Muslimbrüder führten bald zu Konflikten mit der ägyptischen Regierung unter König Farouk. Eine Reihe politisch motivierter Attentate von Anhängern der Muslimbruderschaft (etwa die Ermordung des ägyptischen Premierministers Nurashi Pasha 1949) lösten in den Jahren 24 Der Name Hamas bedeutet auf arabisch einerseits „Eifer“, ist aber gleichzeitig das Akronym für +DUDNDWDOPXTƗZDPDDOLVOƗPL\\D(Islamische Widerstandsbewegung). 25 Schanzer 2008, S. 13ff. 26 Gunning 2008a, S. 26. 27 Esposito 1998, S. 228.

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1948/49 Wellen massiver Verfolgungen seitens der Regierung aus, im Rahmen derer es auch zur Ermordung Bannas 1949 kam. Ideologisch erkannte die ägyptische Regierung in den Bemühungen der Muslimbrüder um eine Islamisierung des Staates und der Gesellschaft eine Bedrohung ihrer eigenen politischen Autorität. Dieser Konflikt verstärkte sich während der Regierungszeit Gamal Abd alNassers, der (nach einer kurzen Phase der Kooperation) den islamistischen Zielen der Bruderschaft seine Konzeption eines nationalistisch geprägten Pan-Arabismus („Nasserismus“) entgegenstellte.28 Die Muslimbrüder, unter der geistigen Führung Sayyid Qtubs, propagierten hingegen die Rückkehr zum Islam Mohammeds und der ersten vier Kalifen. „Emphasizing the universality of the Islamic community and its mission, the Muslim Brotherhood rejected nationalism, whether liberal nationalism or Arab nationalism, and called for an Islamic state governed by the Sharia”.29 Nassers Konzept des Pan-Arabismus musste im Sechstagekrieg 1967 gegen Israel einen schweren Rückschlag hinnehmen und verlor in der arabischen Welt in der Folgezeit immer stärker an Bedeutung, während zwei andere Weltanschauungen immer populärer wurden:30 auf der einen Seite ein vom Pan-Arabismus abgeleiteter säkularer arabischer Nationalismus und auf der anderen Seite Islamismus. Der grundsätzliche Konflikt zwischen religiöser und säkularer Ideologie trat nach dem Scheitern des Nasserismus umso stärker hervor.31 Dies galt in besonderem Maße für Palästina, da es auf Bestreben Nassers 1964 zur Gründung einer palästinensischen Befreiungsorganisation, der Palestinian Liberization Organization (PLO) gekommen war. Die PLO, ein Dachverband verschiedener nationalistischer säkularer palästinensischer Widerstandsbewegungen sah sich insbesondere unter der Führung Yasser Arafats und seiner Fatah (seit 1969) als einziger legitimer Vertreter der Palästinenser im Kampf um die „Befreiung des Vaterlandes“ und wurde als solcher auch 1974 von der Arabischen Liga anerkannt.32 Im Gegensatz zur PLO, die mit gewaltsamen Mitteln für einen eigenen Palästinenserstaat kämpfte, hielten sich die palästinensischen Muslimbrüder nach dem Sechstagekrieg zunächst bewusst von antiisraelischen Maßnahmen fern und konzentrierten sich – unter den skeptischen Augen der israelischen Regierung – auf soziale und religiöse Gesellschaftsbereiche.33 Schanzer zufolge ließen die Israelis den Muslimbrüdern in dieser Phase relativ freie Hand, weil sie glaubten, so die militante PLO unter Arafat schwächen zu können.34 Gegen Ende der 70er Jahre begannen die Muslimbrüder jedoch, sich mit rasch wachsendem Erfolg auch poli28 Choueiri 2005, S. 179ff. 29 Esposito 1998, S. 143; Esposito betont, dass die Muslimbruderschaft zu einer Rückkehr zu fundamentalistischen Prinzipien aufruft, nicht jedoch notwendigerweise zu einer Rückkehr zu einem fundamentalistischen Staat (Esposito 1998: S. 145). 30 Gunning 2008a, S. 29. 31 Choueiri 2005, S. 209. 32 Schanzer 2008, S. 19. 33 Esposito 1998, S. 228. 34 Schanzer 2008, S. 19.

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tisch zu engagieren. Verantwortlich für diese Entscheidung waren laut Gunning eine Reihe außen- wie innenpolitischer Veränderungen. Außenpolitisch hatte die Ölkrise 1973 den finanziellen Reichtum der Golfstaaten anwachsen lassen, die mit ihrem Geld islamistische Organisationen im Nahen Osten unterstützten, um so den Einfluss der stärker säkularen Regime Ägyptens, Syriens und des Iraks zu schwächen. Zusätzlich lösten die iranische Revolution und der sowjetische Einmarsch in Afghanistan 1979 insbesondere unter jüngeren Muslimen eine Welle pro-islamistischer Begeisterung aus und verschafften den Muslimbrüdern einen großen Zustrom an neuen Sympathisanten. Diese außenpolitischen Veränderungen fielen in eine Phase innenpolitischer Schwäche der Fatah, die durch sozialistische Gruppen innerhalb der PLO und nicht zuletzt durch das Camp-David-Friedensabkommen von 1978 zwischen den einst verfeindeten Staaten Ägypten und Israel unter Druck geraten war. „Secular Palestinian nationalism had failed to deliver, despite a decade of dominance, and Fatah’s decision to opt for a two-state solution and explore diplomatic channels was beginning to be resented. The Brotherhood, with its insistence on a one-state solution, a return to Islam and on meeting people’s local social and communal needs could capitalise on this discontent.“35 Ein weiteres Ereignis, das die Evolution der Muslimbrüder von einer apolitischen, sozial orientierten Bewegung hin zu einer terroristischen Organisation unter dem Namen Hamas entscheidend beeinflusste, war die Gründung einer radikalen Palästinensergruppe mit dem Namen Islamic Jihad 1980. Diese Gruppe bestand aus ehemaligen Muslimbrüdern, die sich aus Protest zur nichtmilitanten Haltung der Bruderschaft gegenüber Israel und motiviert durch die islamische Revolution in Iran zu einer Abspaltung entschlossen hatten und nun selbst Anschläge gegen militärische Einrichtungen der Israelis verübten. Jensen zufolge speiste sich der Erfolg dieser Gruppe in besonderem Maße daraus, dass sie in ihrer Weltanschauung als erste Islamismus mit palästinensischem Nationalismus verband und daraus die Legitimation zum bewaffneten Kampf gegen Israel zog. Die Zustimmung, die diese Gruppe mit ihren Anschlägen innerhalb der palästinensischen Bevölkerung erreichte, demonstrierte den übrigen Muslimbrüdern, wie wichtig das Bild des Widerstandskämpfers für den Rückhalt in der Bevölkerung war.36 Der Ausbruch der ersten Intifada 1987 führte schließlich zur Gründung der Hamas, eines militanten Ablegers der Muslimbrüder, die analog zum Islamic Jihad Islamismus mit palästinensischem Nationalismus kombinierte.37 Die Intifada stellte somit den vorläufigen Höhepunkt eines Prozesses der Radikalisierung in der palästinensischen Gesellschaft dar, dem sich die Muslimbrüder nicht länger entziehen konnten, wollten sie nicht ihren Einfluss innerhalb der palästinensischen Bevölkerung einbüßen. Inwieweit die Intifada als Auslöser für die Gründung der Hamas zu betrachten ist oder umgekehrt die Ha35 Gunning 2008a, S. 33. 36 Jensen 2009, S. 17f. 37 Esposito 1998, S. 229.

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mas der Auslöser der Intifada war (wie sie selbst behauptet), wird sich letzten Endes nicht eindeutig feststellen lassen;38 entscheidend ist vielmehr die zentrale politische Erkenntnis, die sich hinter ihrer Gründung verbarg und die (unter anderen Vorzeichen) bis heute ihre Gültigkeit nicht verloren hat: die Unterstützung der palästinensischen Öffentlichkeit war unter den Bedingungen der ersten Intifada, d.h. der Anwesenheit eines unbesiegbar erscheinenden externen Gegners Israel und der Abwesenheit einer eigenen politischen Institution samt Gewaltmonopol39 nur um den Preis des bewaffneten Kampfes gegen Israel zu haben.40

3. Qassams und Kindergärten: Die ambivalente Rolle der Hamas im Gaza-Streifen Die beiden Rollen der Hamas – sozialer Dienstleister41 auf der einen Seite, terroristische Organisation auf der anderen – müssen vor dem Hintergrund zweier Aspekte beurteilt werden: Zum einen der Ideologie der Organisation selbst, ihrer Ziele und Methoden, zum anderen der Bedürfnisse und Forderungen der Palästinenser im Gaza-Streifen. Dieses Kapitel gibt einen Einblick in das Wirken der Organisation innerhalb des Gaza-Streifens und analysiert davon ausgehend das Zusammenspiel zwischen den Interessen der Hamas und denen der palästinensischen Bevölkerung. Die Hamas unterhält im Gaza-Streifen ein Netzwerk unterschiedlicher sozialer und karitativer Einrichtungen, das auch als dawa bezeichnet wird; darunter befinden sich unter anderem Kindergärten, Schulen und Krankenhäuser, die Islamische Universität in Gaza (IUG) und Sportvereine, sowie die finanzielle und materielle Unterstützung bedürftiger Palästinenser. Die Betreuung der Bevölkerung durch die Hamas reicht, so Jensen, „von der Wiege bis zum Grab“ (cradle to grave).42 Levitt zufolge machen die finanziellen Aufwendungen für die sozialen und karitativen Einrichtungen 80-85% des jährlichen Budgets der Hamas aus, was nach unterschiedlichen Schätzungen einer Summe zwischen 42,5 und 76,5 Mio. US-Dollar entspricht.43 Dabei profitiert die Hamas von der seit ihrem Wahlsieg 2006 bestehenden und nach der gewaltsamen Vertreibung der Fatah 2007 ver38 Juergensmeyer 2008, S. 66. 39 Zur Gründung einer international anerkannten regierungsähnlichen Institution der Palästinenser, der Palestinian Authority (PA), kam es erst im Zuge der Oslo-Verhandlungen 1993 („Oslo I“). 40 Mishal/Sela 2006. S. 57. Analog dazu kam es nach Ausbruch der zweiten Intifada 2000 zur Gründung der al-Aqsa Martyrs' Brigades, eines Fatah-nahen Milizenverbandes, da Fatah fürchtete, ohne ein Gegenmodell zu den Qassam-Brigaden (militärischer Flügel der Hamas) an Rückhalt unter den Palästinensern zu verlieren (Hoffman 2006. S. 164). 41 Offiziell besteht keine Verbindung zwischen der Hamas und den sozialen und karitativen Einrichtungen im Gaza-Streifen; in der Praxis sind beide jedoch personell eng miteinander verbunden (Jensen 2009. S. 57). 42 Jensen 2009. S. 142. 43 Levitt 2008. S. 237.

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schärften Isolation des Gaza-Streifens durch Israel und Ägypten, wodurch viele Waren auf normalem Wege nicht mehr zu erhalten sind.44 Auf diese Weise erhöhte sich die Zahl derjenigen Palästinenser, die auf Unterstützung seitens der Hamas angewiesen sind.45 Diese wiederum verfügt dank des illegalen Schmuggels etwa durch Tunnel unter der Grenze zu Ägypten über exklusiven Zugang zu bestimmten Gütern.46 Die israelische Regierung sieht die Isolation als notwendige Konsequenz zu den terroristischen Aktivitäten der Hamas und als deutliches Signal an die Bewohner des Gaza-Streifens, nicht mit der Hamas zu kooperieren: „The message to the Palestinians was clear: Life under Hamas rule would be hard; life under Fatah would be significantly less so.”47 Der Erfolg dieser Maßnahmen ist jedoch umstritten. Ein Mitarbeiter der Fatah-Regierung im Westjordanland kritisierte in einem Gespräch mit der International Crisis Group im Oktober 2007 die israelischen Blockademaßnahmen mit den Worten „Hamas gets what it wants through the tunnels and is not hurt politically or materially”.48 Die Rolle der Hamas als Anbieter sozialer und karitativer Dienstleistungen ist trotz – oder wegen – ihrer terroristischen Aktivitäten gegenüber Israel auch in der Wissenschaft ambivalent beurteilt worden;49 so wird auf der einen Seite argumentiert, die dawa sei lediglich Teil von Hamas’ militanter Strategie, um ihr kompromissloses Ziel, die Gründung eines Großpalästinas ohne den Staat Israel durchzusetzen. Der Konflikt werde aus Sicht der Hamas dabei nicht mehr als ein Kampf um Territorium betrachtet, sondern „as a religious war between the parties of God and Satan.“50 Diese Aufwertung eines anfänglich territorialen Konfliktes zu einem Kampf Gut gegen Böse habe, so der amerikanische Soziologe Mark Juergensmeyer, zu einer Situation geführt, in der ein Kompromiss mit dem Gegner kaum noch möglich sei. Juergensmeyer hat für Konflikte dieser Art den Begriff des cosmic war geprägt: befindet sich eine Gruppe in einem Konflikt, bei dem ein siegreiches Ende in der realen Welt nicht in Sicht scheint, so kann es zu einer Sakralisierung des Konfliktes kommen, in deren Zuge der Konflikt auf eine der Realität entrückten Ebene ausgedehnt wird. Ungeachtet der faktischen Aussichtslosigkeit lässt sich aus diesem Konzept somit eine Motivation ableiten, einen Konflikt in der realen Welt weiterzuführen.51 Diesem statischen Ansatz nach wird die Hamas als Organisation eingestuft, die mit ihrem Handeln ein klares Ziel verfolgt, welches im Kern unverändert bleibt, auch wenn sich die äußeren Rahmenbedingungen ändern. Die sozialen und karitativen Einrichtungen der Hamas stellen demnach primär Institutionen zur 44 International Crisis Group 2009. S. 8. 45 Jensen 2009, S. 151. 46 Die Tunnel, die eine Länge von bis zu 100 Metern erreichen, werden von Privatpersonen betrieben, unterliegen aber der Kontrolle der Hamas (Schanzer 2008, S. 167f). 47 Schanzer 2008, S. 165. 48 International Crisis Group 2008, S. 28. 49 Mishal/Sela 2006: S. xxvii; Pearlman 2008/20009, S. 100. 50 Litvak 2005, S. 171. 51 Juergensmeyer 2003, S. 188; eigene Hervorhebung.

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Rekrutierung neuer Terroristen und zum Erwerb und Transfer von finanziellen Mitteln aus dem Ausland dar. So argumentiert Levitt, „Hamas relies on its political and social activists and organizations to build grassroots support for the movement, to spot and recruit future operatives, to provide day jobs and cover to current operatives, and to serve as the logistical and financial support network for the group’s terror cells. […] Muddying the waters between its political activism, good works, and terrorist attacks, Hamas is able to use its overt political and charitable organizations as a financial and logistical support network for its terrorist operations.”52 Entsprechend dieser Sichtweise ist eine effektive Bekämpfung des Terrorismus nur in Verbindung mit der Zerschlagung der dawa möglich, um so den Fluss an finanziellen und personellen Ressourcen zu stoppen, auf den Hamas zur Durchführung ihrer terroristischen Anschläge angewiesen sei.53 Entgegen diesem statischen Ansatz hat sich auf der anderen Seite eine differenziertere Sichtweise etabliert, derzufolge die dawa über eine eigenständige Funktion parallel zum Terrorismus verfügt und nicht bloß als Bestandteil der terroristischen Aktivitäten der Hamas einzustufen ist. Diesem organisatorischen Ansatz nach sind das terroristische und das soziale/ karitative Handeln der Hamas als getrennte Mittel zum Zweck anzusehen und nicht – etwa im Sinne eines cosmic war – als das eigentliche Ziel an sich.54 Das Handeln ist nicht auf ein singuläres, religiös überhöhtes letztes Ziel ausgerichtet, sondern dient primär dem Erreichen rationaler Ziele, die diesem Verständnis nach niemals als definitiv oder absolut angesehen werden können. Ungeachtet der radikalen Forderungen nach der Zerstörung Israels, wie sie in der Hamas-Charta von 1988 zu finden sind, sei die Organisation in der Realität längst von ihren utopischen Zielen abgerückt und strebe in erster Linie danach, ihre Machtposition innerhalb der palästinensischen Bevölkerung auszubauen.55 Jensen zitiert den Hamas-Führer Khaled Meshaal aus dem Frühjahr 2007 mit den Worten “there will remain a state called Israel, this is a matter of fact. […] The problem is not that there is an entity called Israel. The problem is that the Palestinian state does not exist.”56 Der eigentliche Grund dafür, dass man sich seitens der Hamas bisher (noch) nicht von den radikalen Positionen distanziert habe, sei die Furcht davor, dass ein solcher Schritt unweigerlich als ein Akt des Nachgebens gegenüber Israel und dem Westen interpretiert werden würde.57 Die Rolle der Charta sei daher eher symbolisch als Zeichen des Widerstandes zu verstehen, habe aber im eigentlichen Sinne keine politische Bedeutung mehr. Die Maximalforderung nach einem

52 53 54 55 56 57

Levitt 2006, S. 2. Levitt 2006, S. 232. Stern/Modi 2008, S. 21. Hroub 2006, S. 25. Zitiert nach Jensen 2009, S. 145. Klein 2007, S. 453.

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Großpalästina58 sei in diesem Zusammenhang, so Gunning, vielmehr als Credo, nicht als politisches Programm zu verstehen.59 Der statische und der organisatorische Ansatz ordnen der dawa somit eine grundsätzlich unterschiedliche Funktion zu: fungiert sie aus der Sicht des Ersteren lediglich als eine dem Terrorismus untergeordnete Funktionseinheit, muss sie aus Sicht des Letzteren als ein zum Terrorismus alternativ existierendes Konzept aufgefasst werden, das – ebenso wie der Terrorismus – als Mittel zum Erreichen unterschiedlicher rationaler Ziele eingesetzt werden kann. Anders ausgedrückt dreht sich die Debatte zwischen den beiden Ansätzen um die Frage, ob die sozialen und karitativen Aktivitäten der Hamas als Teil des Terror-Problems oder als mögliche Alternativ-Lösung dazu einzuschätzen sind. Antworten darauf finden sich, wenn man die Bedeutung der dawa und des Terrorismus sowohl im Kontext der Hamas und ihrer Ideologie als auch der Beziehung zwischen Hamas und der palästinensischen Bevölkerung analysiert.

4. Struktur und Ideologie der Hamas Die Hamas verfügt zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht (mehr) über eine zentrale Führung bzw. Führungspersonen, sondern weist eine dezentrale Struktur auf. Gegründet als militanter Ableger der Muslimbruderschaft 1987 kam es in den 90er Jahren zu einer Zweiteilung der Organisation in eine externe und eine interne Leitung, wobei sich erstere von ihrem Exil in Jordanien, später Syrien aus in erster Linie dem militanten Widerstand gegen Israel verschrieb. Parallel dazu kam es nach 1996 zur Gründung einer internen Leitung mit Sitz im Gazastreifen, die von dort aus die sozialen und karitativen Aktivitäten der Hamas koordiniert.60 Diese Aufteilung erwies sich in der Folgezeit als effektiv, insbesondere um gegenüber den Antiterrormaßnahmen der israelischen Regierung besser gewappnet zu sein. Deren Politik der gezielten Tötungen (targeted assassinations) von HamasFührern, der 2004 innerhalb kurzer Zeit sowohl der Hamas-Gründer Scheich Yassin als auch dessen Stellvertreter Abdel Aziz al-Rantissi zum Opfer fielen, ließ eine dezentrale Führung aus Perspektive des Hamas als sinnvoll erscheinen, da der Verlust eines Einzelnen besser zu verkraften ist, wenn die Führung einer Organisation in den Händen mehrerer Personen liegt.61 Aus diesem Grund, und weil 58 Klein zufolge herrscht Unklarheit darüber, welches Territorium die Hamas gegenwärtig überhaupt beansprucht und was unter der von der Hamas verwendeten Formulierung nach dem „Ende der Besatzung“ Palästinas zu verstehen sei: „ the question is whether occupation is a fundamental characteristic of Israel, meaning that ending the occupation requires the political destruction of Israel, or whether Hamas recognizes Israel as a state like any other state within its 1948 borders, which then proceeded to occupy territories in 1967.” (Klein 2007, S. 457f; Gunning 2008a: S. 264. 59 Ebd., S. 237. 60 Pearlman 2008/2009, S. 103. 61 Byman 2006, S. 100.

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es nach dem Tod Yassins keine Persönlichkeit gab, die über das nötige Ansehen verfügte ihn zu ersetzen,62 weist die Hamas gegenwärtig mehrere Führungspersonen auf, Khaled Mishal und Musa Abu Marzuk als externe Leitung und „Politbüro“ mit Sitz in Damaskus und Ismael Hanijeh und Mahmoud al-Zahar als interne Leitung in Gaza-Stadt.63 Aufgrund dieser institutionellen Trennung in eine primär militante und eine vornehmlich sozial/karitative Führung wurde lange angenommen, dass die interne Führung im Vergleich gegenüber Israel und Fatah als pragmatischer einzustufen sei und stärker an einer politischen Rolle interessiert sei als ihr externer Gegenpart.64 Diese Dichotomie lässt sich jedoch, so Shaul Mishal, spätestens seit den Wahlen 2006 nicht mehr plausibel begründen, da sich mittlerweile in beiden Führungen sowohl Hardliner als auch moderate Stimmen befänden.65 Neben der internen und externen Führung der Hamas existieren noch die Izz al-Din al-Qassam-Brigaden als militanter Arm der Organisation. Sie verfügen ebenfalls aus Sicherheitsgründen über eine zellulare Struktur und bewahren sich – etwa durch ein eigenes Finanzierungssystem – eine gewisse Autonomie gegenüber der Hauptorganisation. Dies zeigt sich auch in der Tatsache, dass nur ein kleiner Teil des Hamas-Führungspersonals den Qassam-Brigaden entstammt.66 Der Schlüssel zum Verständnis darüber, welche Rolle die dawa innerhalb des Weltbildes der Hamas spielt, ist das Wissen um ihren ideologischen Ursprung, der Muslimbruderschaft.67 Beide eint die Auffassung, dass die Errichtung eines Staates nach islamistischen Prinzipien und die Zurückdrängung der Gegner, wobei der Zionismus in den Augen der Hamas die Rolle des Kolonialismus des 19. und 20. Jahrhunderts übernommen hat,68 nur mit einer Doppelstrategie erreicht werden kann, die sich sowohl an dem Gegner als auch an dem eigenen Volk orientiert. Im Unterschied zum Islamismus der Muslimbrüder ist die Ideologie der Hamas dabei territorial auf Palästina beschränkt.69 Die Aufgabe der dawa besteht dieser konzeptionellen Teilung folgend darin, die Palästinenser ideologisch zu „guten Muslimen“ (sound Muslims) zu erziehen, um auf diesem Wege dem Ziel der „Befreiung Palästinas“ näher zu kommen.70 Aus Sicht der Hamas ist die dawa somit als Teil eines gesamtgesellschaftlichen Konzepts zur Bildung eines islamistischen, palästinensischen Staates zu verstehen, zu dessen Entstehung es sowohl externer als auch interner Anstrengungen bedarf. „According to Hamas there is a rift be62 63 64 65 66 67 68 69 70

Schanzer 2008, S. 82. Mishal 2006, S. 2. Jensen 2009, S. 26; Herzog 2006: S. 85. Mishal 2006, S. 3 Gunning 2008a, S. 115. Die Europäische Union unterschied bis 2003 zwischen der Hamas und den Qassam-Brigaden, indem sie erstere bis dahin nicht als terroristische Organisation einstufte, die Brigaden hingegen schon (Jensen 2009, S. 38f). Schanzer 2008, S. 133. Jensen 2009, S. 52. Roy 2007, S. 64. Jensen 2009, S. 55.

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tween Muslims and their religion, since, according to Hamas leaders, many Muslims misunderstand their own religion. For Hamas the reason for the crisis lies not within Islam itself, but in the way in which it has been practised hitherto.”71 Gunning zufolge basiert die politische Ideologie der Hamas demzufolge auf einem hegelianischen Ansatz, wonach das Individuum nur in einem idealen (hier: islamistischen) Staat wirklich frei sein kann. “For Hegel, as for Hamas, structures shape people, and both insist that the ideal state cannot be realised without a lengthy preparatory process during which structures and institutions are altered so as to socialise people into the type of citizens the ideal state needs to function.”72 Prinzipiell dient die dawa daher den gleichen Zielen wie der Terrorismus, ohne diesem – im Sinne des statischen Ansatzes – untergeordnet zu sein. Sie ist daher – entgegen der These des statischen Ansatzes – nicht bloß als Rekrutierungsund Finanzierungsplattform für den terroristischen Kampf gegen Israel, sondern als eigenständiges Konzept zu sehen. Es steht dabei außer Frage, dass es zwischen den karitativ-sozialen Bemühungen der Hamas und ihrem terroristischen Handeln zu Synergieeffekten kommt. Der Erfolg der dawa beruht dabei jedoch nicht alleine auf den terroristischen Handlungen der Hamas, sondern profitiert auch vom Verhalten externer Akteure. Zu nennen ist an dieser Stelle erstens die Fatah, deren korruptes Verhalten sowohl den Internationalen Währungsfonds (IMF) als auch das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) der Europäischen Kommission auf den Plan riefen,73 und es der Hamas ermöglichte, sich gegenüber den Palästinensern als vertrauenswürdige, kompetente Alternative zu präsentieren.74 Zweitens hat auch das Verhalten Israels – wenn auch ungewollt – der Hamas in die Hände gespielt, da die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage als Folge der Blockade des Gaza-Streifens und der militärischen Antiterrormaßnahmen des israelischen Militärs viele Palästinenser radikalisierten und von den Hilfsleistungen der Hamas abhängig machten.75

5. Die Hamas und die palästinensische Bevölkerung Der Wahlsieg der Hamas bei den Wahlen zum Palästinensischen Legislativrat 2006 sorgte im Westen für Entsetzen, stand er doch scheinbar im krassen Gegensatz zu den Versprechen des „Demokratischen Friedens“, wonach demokratische Wahlen den Grundstein für kriegsaverse, dem Frieden und der Diplomatie zugeneigte Regierungen darstellten.76 So unterstützten die USA die Wahlen in dem

71 72 73 74 75 76

Jensen 2009, S. 142. Gunning 2008a, S. 85f. Levitt 2006, S. 244. Gunning 2008b, S. 96. Gunning 2008a, S. 219; Juergensmeyer 2003, S. 71; Hasenclever/Rittberger 2003, S. 129. Maoz/Russett 1993.

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Glauben, „dass ein demokratisches Palästina sich einem demokratischen Israel schon annähern würde, weil beide dann die gleichen Werte teilten.“77 Umfragen nach der Wahl zeigten jedoch, dass es weniger radikale als vielmehr politische Motive waren, die den Ausschlag für den Sieg der Hamas gaben. So sagten 43% der Hamas-Wähler, sie hätten die Organisation primär wegen ihres Versprechens gewählt, der Korruption ein Ende zu bereiten; weitere 30% nannten die Hoffnung auf bessere soziale und ökonomische Zustände als Grund und nur etwa jeder fünfte Hamas-Wähler (19%) gab an, in erster Linie aus religiösen Gründen gewählt zu haben.78 Die Mehrheit der Palästinenser lehnt zudem die Errichtung eines islamistischen Staates ab.79 Zudem stellte sich die Hamas im Wahlkampf nicht als radikales Gegenmodell zur Fatah dar, sondern als die bessere politische Alternative. Laut Herzog führte die Organisation einen Wahlkampf, der politische Reformen und good governance in den Vordergrund stellte, weniger den ideologischen Kampf mit Israel.80 „[W]hen Palestinians swept Hamas to power in 2006“, so der Economist, “they believed the Islamists would clean up the corruption-riddled PA and bring social and economic progress, not turn Gaza into a war zone.”81 Es wäre daher einfach, den Wahlsieg der Hamas mit dem Erfolg ihres sozialen und karitativen Netzwerkes zu erklären und anzunehmen, dass die Palästinenser die radikale Seite der Hamas schlichtweg ausblendeten. Dafür spräche die Tatsache, dass Hamas nicht unter ihrem eigenen Namen zur Wahl antrat, sondern als „Change and Reform“ auf den Wahlzetteln erschien und sich zudem seit März 2005 mit Israel in einem Waffenstillstand befand. Bei genauerer Betrachtung zerfällt diese These jedoch in ihre Einzelteile: Schanzer nach war den Palästinensern vollkommen bewusst, dass sich hinter „Change and Reform“ die Hamas verbarg.82 Weit wichtiger erscheint jedoch, dass die Unterstützung für die Hamas nicht ausschließlich mit der dawa und der Enttäuschung gegenüber der Fatah zu erklären ist, sondern auch mit ihrem bewaffneten Kampf gegen Israel: Entscheidend zum Erfolg der Hamas beigetragen hat Analysten zufolge auch der einseitige Rückzug der israelischen Armee aus dem Gaza-Streifen, den die Hamas als ihren militärischen Erfolg darstellte.83 Umgekehrt wäre es jedoch falsch, die Unterstützung der Hamas durch die Palästinenser als Votum für einen islamistischen Staat zu werten, den die Mehrheit der Palästinenser ablehnt.84 Zwar setzte die Hamas im Wahlkampf in erster Linie auf Korruptionsbekämpfung und eine Verbesserung der Lebensumstände,85 unter77 78 79 80 81 82 83 84 85

Roy 2007, S. 54. Gunning 2008a, S. 165. Roy 2007, S. 73. Herzog 2006, S. 87. The Economist 2008. Schanzer 2008, S. 95. Usher 2006, S. 21; Schanzer 2008, S. 88. Jensen 2009, S. 147; Roy 2007, S. 73. Gunning 2008a, S. 153.

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strich diese Forderungen jedoch auch mit deutlichen Verweisen auf ihre Herkunft als militante Widerstandsbewegung.86 Eine plausible Erklärung des Erfolges der Hamas unter moderaten Palästinensern, die den idealistischen Zielen der Hamas distanziert gegenüberstehen, ist daher nur möglich, wenn es gelingt, den Erfolg nicht nur aus ihrer sozial/ karitativen, sondern auch aus ihrer terroristischen Rolle heraus abzuleiten. Dazu ist es nötig, sich vom klassischen Bild des Terrorismus zu trennen und zu erkennen, dass terroristische Gewalt als ein Phänomen verstanden werden muss, dass auf unterschiedlichen Ebenen – Sphären – Wirkung zeigt. Terrorismus wird dem klassischen Verständnis nach definiert als die Anwendung oder Androhung von Gewalt, um auf diesem Wege ein politisches Ziel zu erreichen.87 Das Konzept des Terrorismus beruht diesem Ansatz nach auf einer Kombination aus Furcht und größtmöglicher Aufmerksamkeit, um eine bestimmte Forderung publik zu machen.88 Der Terrorist unterscheidet sich dabei von anderen Akteuren, etwa Interessengruppen oder politischen Parteien in der Wahl seiner Methode: nicht Diplomatie oder politische Partizipation, sondern Gewalt ist das Mittel, das zum Erreichen der eigenen Ziele angewendet wird. Terroristen verfolgen mit dieser Botschaft das Ziel, sowohl den Gegner zum Nachgeben zu zwingen als auch neue Anhänger für die eigene Sache zu rekrutieren.89 Gewalt ist dabei das zentrale Element des Terrorismus, sie ist Träger seiner unmissverständlichen Botschaft. Terroristische Gewalt wird – und soll – daher als eine radikale Botschaft interpretiert werden, die umso effektiver ist, je bedrohlicher und verheerender sie erscheint. Auf diese Weise befinden sich die terroristische Handlung – das Androhen oder Verüben von Gewalt – und die dadurch vermittelte Botschaft innerhalb der gleichen Sphäre, der Sphäre des Terrors. Dieser Ansatz stößt im Falle der Hamas jedoch an seine Grenzen. Man begegnet in diesem Fall einem Phänomen, das für das Verständnis der Beziehung zwischen Hamas und palästinensischer Bevölkerung von zentraler Bedeutung ist: aus der Unterstützung eines radikalen Akteurs kann nicht automatisch geschlossen werden, dass die Unterstützer die ideologischen Normen, Werte und Ziele des radikalen Akteurs vorbehaltlos teilen. Die Unterstützung der Hamas seitens moderater Palästinenser lässt sich nur durch die Annahme erklären, dass radikale Handlungen nicht ausschließlich eine radikale Botschaft vermitteln, sondern Träger unterschiedlicher Botschaften sind, die von verschiedenen Zielgruppen auf verschiedene Art und Weise interpretiert werden. So zeigt sich, dass das Bild der Hamas als terroristischer Akteur nicht bloß radikale, sondern auch eher moderat eingestellte Palästinenser ansprach, die den radikalen Zielen der Hamas grundsätzlich ablehnend gegenüberstehen. Die Erklärung dafür liegt in der Tatsache, dass Terrorismus auf verschiedene Art und Weise interpretiert werden kann: so86 87 88 89

Ephron 2005. Hoffman 2006, S. 2f. Waldron 2006; Juergensmeyer 2003, S. 141. Schneckener 2004, S. 342.

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wohl als terroristische Handlung (Sphäre des Terrorismus) als auch als Zeichen quasi-staatlicher Souveränitätsausübung (Sphäre des Politischen).

6. Terrorismus als sphärenübergreifendes Konzept Politische Macht ist dem demokratischen Verständnis nach verbunden mit einem Mandat der Wählerschaft; dieses Mandat autorisiert den Träger politischer Macht – je nach Amt und Verfassung – dazu, den Gebrauch von Gewalt anzuordnen. Umgekehrt kann Gewalt alleine, so steht es bei Hannah Arendt, niemals Macht, also die Unterstützung der Wählerschaft, erzeugen.90 Entgegen dieser Aussage zeigt sich im Falle der Hamas, dass Gewalt in Form von terroristischen Anschlägen durchaus politische Macht im Arendt’schen Sinne kreieren kann, wie ihr Wahlsieg 2006 zum Entsetzen des Westens bewies. Im Folgenden wird daher das Argument vertreten, dass die Hamas die Unterstützung der moderaten Palästinenser nicht ausschließlich der Schwäche Fatahs, der dawa und einem konzilianten Wahlprogramm verdankt, sondern die Unterstützung auch vor dem Hintergrund eines Konzeptes zu verstehen ist, wonach Terrorismus als Quelle politischer Macht fungiert. Der in der Einleitung vorgestellte organisatorische Ansatz geht davon aus, dass Terrorismus nicht ausschließlich dazu dient, einer Drohung an einen als Gegner identifizierten Akteur Nachdruck zu verleihen.91 Vielmehr kann terroristische Gewalt aus unterschiedlichen Motiven heraus angewendet werden und sich als Kommunikationsstrategie92 an unterschiedliche Zielgruppen richten.93 Unterschieden wird dabei im Rahmen dieser Untersuchung zwischen einer als feindlich eingestuften externen Zielgruppe, die unmittelbar vom Terrorismus betroffen ist (die israelische Bevölkerung), und einer internen Zielgruppe, in deren Namen die Terroristen handeln und in deren Interesse sie zu handeln glauben,94 in diesem Fall die Palästinenser. Untersucht man ausgehend von dieser Unterscheidung in eine interne und eine externe Zielgruppe die Botschaft, die mittels des Terrorismus übermittelt wird, verstanden als die Art und Weise, in der die Zielgruppe die jeweilige terroristische Handlung interpretiert, findet man sowohl direkte als auch indirekte Interpretationen. Von einer direkten Interpretation ist die Rede, wenn terroristische Handlung und Interpretation auf der gleichen Ebene stattfinden, sich mithin in der gleichen Sphäre befinden. In diesem Fall werden terroristische Anschläge von der Ziel90 91 92 93

Arendt 1990, S. 57. Waldron 2006. Schneckener 2004, S. 342. Crenshaw 1981, S. 387; Pearlman 2008/2009. Das erste Selbstmordattentat der Hamas etwa ereignete sich 1994 und war eine Vergeltungsmaßnahme für den Anschlag eines ultraorthodoxen Israelis auf eine Gruppe Palästinenser in der Grotte des Patriarchen in Hebron am 25. Februar 1994 gewesen (Youngs/Smith 2007, S. 8). 94 Münkler 1992, S. 167ff.

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gruppe als radikale Gewalthandlung als Zeichen des Widerstandes gegen einen externen Gegner verstanden. Das Handeln und die damit vermittelte Botschaft befinden sich demnach beide in einer gemeinsamen Sphäre, der des Terrorismus. Neben dieser direkten Interpretation wird das terroristische Wirken der Hamas jedoch auch auf indirekte Weise interpretiert, in diesem Fall als Quelle politischer Macht. In einem Umfeld, das wie im Falle der Palästinensischen Autonomiegebiete durch einen Mangel an staatlicher Struktur und Sicherheit gekennzeichnet ist, kann die Fähigkeit einer Organisation, Gewalt auszuüben, als Ursprung von Macht und Legitimation gegenüber der internen Zielgruppe dienen.95 Terrorismus wird in diesem Zusammenhang nicht als Akt militanter Gewalt verstanden, sondern als Demonstration eines quasi-staatlichen Gewaltenmonopols. Der Terrorismus der Hamas wird hier nicht in Verbindung mit den radikalen Zielen der Organisation gebracht, sondern in abstrahierter Form als legitimes Recht zur bewaffneten Verteidigung gegen einen übermächtig erscheinenden Gegner wahrgenommen. “Violence plays a significant role both in Hamas` discourse and symbolism, and in its overall identity as a `security provider´. At issue is not whether Hamas actually delivers increased `security´. Rather, it is the perception among both its leaders and its supporters that Hamas` violent record is an important part of what makes it a legitimate political faction in the Palestinian arena – in other words, that given the perception of a threat to existence, violence-as-protection is a valued commodity.”96 Die Fähigkeit und Bereitschaft zum Ausüben terroristischer Gewalt erfährt auf diese Weise eine Umdeutung, an deren Ende sie nicht als Antithese zu, sondern als Grundvoraussetzung für den Anspruch auf politische Macht begriffen wird.97 Daher profitierte die Hamas vom einseitigen Rückzug des israelischen Militärs aus dem Gaza-Streifen 2005, der als Triumph über Israel und Fatah gefeiert wurde. In Hamas’ Interpretation war es ihr bewaffneter Kampf gewesen, der zu dem Schritt hin zu einem eigenen Palästinenserstaat geführt habe, und nicht die jahrelangen diplomatischen und politischen Bemühungen des Rivalen Fatah.98 Auf diese Weise versuchte man den Terrorismus als effektives Mittel zum Erreichen politischer Ziele darzustellen. Dass der Terrorismus de facto nicht unmittelbar zum Rückzug der israelischen Truppen beigetragen hatte, sondern das Resultat unterschiedlicher Faktoren war, spielte dabei keine Rolle.99 Indem der Terrorismus als entscheidendes Mittel zum Erreichen eines politischen Erfolges (des israelischen Truppenabzugs) dargestellt wurde, gelang es der Hamas, ihn aus der Sphäre des Terrors hinaus in die Sphäre des Politischen zu transportieren.100

95 Milton-Edwards/Crooke 2004, S. 41. 96 Gunning 2008a, S. 175. 97 Aus diesem Grund stellte der Wahlsieg der Hamas 2006 die internationale Gemeinschaft vor ein Dilemma, da die politische Anerkennung der Hamas (auch) an einen Gewaltverzicht gebunden worden war (Youngs 2006, S. 16). 98 Klein 2007, S. 446f. 99 Waxman 2008, S. 49; Schanzer 2008, S. 88. 100 Herzog 2006, S. 92f.

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Die hier vorgenommene Trennung in eine Sphäre des Politischen und eine Sphäre des Terrorismus dient in diesem Zusammenhang in erster Linie als Darstellungsmittel. Dabei kann es nicht das Ziel sein, die Grenzen dieser Sphären zu bestimmen; vielmehr geht es darum zu demonstrieren, dass terroristische Handlungen insoweit als grenzenlos zu betrachten sind, als sie aus der Perspektive verschiedener Zielgruppen unterschiedlich interpretiert werden können. So sollen in dem Sphären-Modell primär die komplexen Beziehungen zwischen Terrorismus und Macht dargestellt werden und die Tatsache aufgezeigt werden, dass gerade in Gebieten mit schwacher staatlicher Autorität militärische Stärke und Struktur als Quelle und Voraussetzung dafür dienen können, als politischer Akteur anerkannt zu werden.

7. Schlussfolgerungen und Prognosen Terroristische Gewalt und das Bereitstellen sozialer und karitativer Dienstleistungen können im hier analysierten Fall der Hamas nicht als gemeinsame Bestandteile einer übergreifenden terroristischen Ideologie verstanden werden. Es wird deutlich, dass weder die Hamas selbst noch die palästinensische Bevölkerung die These des statischen Ansatzes bestätigen, der die karitativen und sozialen Dienste in erster Linie als Subsystem des Terrorismus sieht, welcher dem unveränderlichen radikalen Maximalziel der Organisation untergeordnet ist. Als zentrale Erkenntnis dieser Analyse entpuppt sich, dass Terrorismus als ein Phänomen verstanden werden muss, das sich nicht ausschließlich aus einer einzigen Perspektive erschließen lässt. Wurde Terrorismus lange Zeit primär als eine Art Einschüchterungsstrategie verstanden, dessen Ziel im Androhen beziehungsweise Ausüben von Gewalt bestand und sich in dieser Hinsicht radikal von den Methoden anderer (politischer) Akteursgruppen abhob, findet man in der Hamas ein Beispiel dafür, dass eine Reputation als Terrorist unter den äußeren Umständen einer schwachen staatlichen Struktur, insbesondere eines nicht vorhandenen Gewaltmonopols, als Voraussetzung für politische Macht gelten kann. Das Verüben terroristischer Anschläge wird in diesem Zusammenhang aus der Perspektive der „als interessiert unterstellten Dritten“,101 hier den Palästinensern, nicht länger als illegitime Handlung aufgefasst, sondern als Wahrnehmung eines quasistaatlichen Gewaltenmonopols. Anders ausgedrückt bedeutet dies, dass sich die Hamas durch ihr terroristisches Handeln bei der palästinensischen Bevölkerung ein Kapital an Vertrauen und Loyalität aufgebaut hat, welches es ihr ermöglichte, politische Macht zu erringen. Dabei zeigte sich, dass jenes Kapital nicht an die Rolle der Hamas als terroristische Organisation gebunden ist, sondern auch außerhalb der Sphäre des Terrors seine Wirkung entfaltet. Die Hamas wurde nämlich bei den Wahlen zum Palästinensischen Legislativrat 2006 in erster Linie nicht als terroristische, sondern als politische Alternative zur Fatah gewählt, deren poli101 Münkler 1992, S. 167ff.

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tisches Ansehen durch Vorwürfe der Korruption und politischem Missmanagement in Mitleidenschaft gezogen worden war.102 Folgende Erkenntnis lässt sich aus dieser Analyse ableiten: Terrorismus und soziales/karitatives Handeln erfüllen sowohl innerhalb der Ideologie der Hamas als auch aus der Perspektive der palästinensischen Bevölkerung unterschiedliche Funktionen und stehen weder in einer direkten kausalen Beziehung zueinander noch können sie als ein gemeinsames Ganzes verstanden werden. Forderungen wie die Levitts, zur Bekämpfung des Hamas-Terrorismus das Netzwerk sozialer und karitativer Institutionen zu zerschlagen, erscheinen daher wenig hilfreich.103 Grund dafür ist die Tatsache, dass die Hamas es bisher stets verstanden hat, israelische Gegenmaßnahmen geschickt zu ihrem eigenen Nutzen zu verwenden und sich als Opfer israelischer Aggression darzustellen.104 Kritik von Seiten der Palästinenser an der Hamas kann auf diese Weise abgewehrt und zu einer Anklage gegen Israel umgewandelt werden.105 Das grundsätzliche Dilemma ist darin zu sehen, dass terroristische Gewalt im hier analysierten Szenario nicht länger in der Sphäre des Terrors verhaftet ist, sondern zumindest in Teilen als legitime Wahrnehmung eines quasi-staatlichen Gewaltenmonopols verstanden wird. Ein gewaltsames Vorgehen gegen die Hamas ist unter diesen Bedingungen gegenüber der palästinensischen Bevölkerung nur schwer als legitim zu vermitteln und bietet den Mitgliedern der Hamas die Möglichkeit, sich schon zu Lebzeiten als Märtyrer zu stilisieren, die ihr Leben zum Wohle des palästinensischen Volkes opfern.106 Ausgehend von dieser Darstellung des Terrorismus als Grundlage politischen Kapitals erklärt sich auch das Absinken der Popularitätswerte der Hamas in den Meinungsumfragen. Nach Angaben der Konrad-Adenauer-Stiftung, die sich wiederum auf Daten des Palestinian Center for Policy and Survey Research (PSR) bezieht, erzielte die Hamas bei einer Umfrage im März 2010 im Gaza-Streifen und dem Westjordanland lediglich noch 28% Zustimmung (2006: 56%), rund 73% der Befragten bezeichneten die Lebensumstände im Gaza-Streifen als schlecht bis sehr schlecht, das Westjordanland hingegen schnitt mit 36% weniger schlecht ab (KAS 2010. Gerade weil die Mehrheit der Palästinenser primär auf eine Verbesserung der Lebenssituation in den Palästinensischen Autonomiegebieten hofft (und nicht etwa auf eine erneute Eskalation der Gewalt) gerät die Hamas unter öffentlichen Druck, wenn sich die Hoffnungen der Bevölkerung nicht erfül102 Herzog 2006, S. 87. 103 Man muss Levitt bei aller Kritik zugute halten, dass er parallel zur Zerschlagung der dawa die Errichtung neuer, von der Hamas unabhängiger sozialer und karitativer Einrichtungen fordert und auch zugibt, dass dies angesichts der Situation vor Ort keinesfalls ein einfaches Unterfangen wäre: „finding alternative mechanisms untainted by terror or corruption that are capable of absorbing the vast amount of international funding available is easier said than done” (Levitt 2006, S. 245). 104 Gunning 2008a, S. 134. 105 Schanzer 2008, S. 166; Jensen 2009, S. 136. 106 Byman 2006, S. 100; Gunning 2008a, S. 134.

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len und sich das politische Kapital der Hamas im übertragenen Sinne als wertlos entpuppt. An dieser Stelle droht ihr ein ähnliches Schicksal wie der Fatah, deren schlechtes Abschneiden bei den Wahlen 2006 nicht zuletzt den gescheiterten Friedensverhandlungen mit Israel geschuldet war.107 Die Zukunft der Hamas wird dadurch bestimmt sein, inwieweit es ihr gelingt, zur Stabilisierung der labilen Lage in den besetzten Gebieten beizutragen Somit ergeben sich, ausgehend von palästinensischer Perspektive, zwei unterschiedliche Richtungen, in die sich die Hamas bewegen kann. Entweder begibt sie sich – wie vor ihr die Fatah – offiziell aus der Sphäre des Terrors und wird zu einem international anerkannten politischen Akteur. Als Folge davon wäre eine substantielle Verbesserung der Beziehungen zu Israel und im nächsten Schritt auch zur Fatah möglich, die sich dann nicht mehr auf ihr Monopol als einziger von Westen anerkannter politischer Akteur der Palästinenser verlassen könnte. Ohne die exklusive Unterstützung des Nahost-Quartetts und Israels wäre Fatah gezwungen, mit der Hamas eine politische Minimalübereinkunft insbesondere in Hinblick auf einen zu gründenden Palästinenserstaat zu treffen. Langfristig wäre so eine Stabilisierung der Sicherheitslage in den Palästinensischen Autonomiegebieten erreichbar, die jedoch angesichts der gewaltsamen Vorgeschichte und der in allen Konfliktparteien vorhandenen Gegner friedlicher Lösungen auf einem sehr labilen Fundament ruhen würde. Alternativ dazu besteht jedoch auch die Möglichkeit, dass die Hamas geschlossen oder in einzelne mehr oder weniger radikale Fraktionen zersplittert wieder in ihre alte Rolle als terroristischer Akteur zurückkehrt, was das Risiko einer erneuten Eskalation der Gewalt mit sich brächte. Befürworter des ersten Szenarios verweisen darauf, dass die Hamas sowohl in ihren Äußerungen als auch in ihren Handlungen, etwa dem Waffenstillstandsabkommen mit Israel, deutliche Anzeichen einer programmatischen Veränderung aufweist. Milton-Edwards und Crooke kommen dabei zu dem Schluss, dass das Angebot eines langfristigen Waffenstillstandes (hudna) der Hamas an Israel Parallelen zum Annäherungsprozess zwischen Fatah und Israel Anfang der 90er Jahre aufweist.108 Allgemeiner ist die These von Ottaway formuliert, wonach die Partizipation an demokratischen Wahlen die teilnehmenden Akteure ungeachtet ihrer ursprünglichen Einstellung dazu zwinge, das eigene Verhalten den Wünschen der Bevölkerung anzupassen, um erfolgreich zu sein.109 Die Hamas werde sich dieser These folgend immer stärker den Forderungen ihrer stärksten Wählergruppe, der palästinensischen unteren (Mittel)schicht annähern, die in erster Linie an einer realen Verbesserung ihrer Lebensumstände als an einer Fortsetzung des bewaffneten Kampfes gegen Israel interessiert ist.110 Diese These wird unterstützt durch die Feststellung Kleins, wonach sich Hamas bei zentralen Fragen durchaus dem Wil107 108 109 110

Jensen 2009, 151. Milton-Edwards/Crooke 2004, S. 49. Ottaway 2005. Gunning 2008a, S. 254.

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len des palästinensischen Volkes gebeugt habe. Beispielhaft dafür sei die grundsätzliche Anerkennung der Palästinensischen Autonomiebehörde als regierungsähnliche Institution, obwohl sie das Resultat des von der Hamas abgelehnten Oslo-Friedensprozesses war.111 Mishal und Sela bemerken in ihrer Analyse allerdings zutreffend, dass die „friedensstiftende“ Wirkung von demokratischen Wahlen keinesfalls immer als gegeben vorausgesetzt werden kann; die Möglichkeit, frei zwischen mehreren Kandidaten zu entscheiden, führt nicht automatisch dazu, dass radikale Kandidaten von den Wählern nicht bevorzugt werden. Es sei daher keinesfalls von Vornherein auszuschließen, dass im Falle Palästinas eine Mehrheit der Wähler prinzipiell eine radikale anstatt einer moderaten Partei unterstützt.112 Vertreter des zweiten Szenarios verweisen hingegen auf die islamistische Ideologie der Hamas und ihrer nach wie vor gültigen Charta von 1988, welche das Ziel eines Großpalästinas (und damit verbunden die Vernichtung des heutigen Staates Israel) beinhaltet. Aufgrund der gesunkenen Unterstützung durch die Palästinenser seit dem Wahlsieg 2006 sei der Einfluss der Hardliner innerhalb der Hamas gestiegen, was einen Rückfall in die alte Rolle als militante Terrororganisation wahrscheinlich mache.113 Dafür spricht, dass die Organisation seit den moderaten Aussagen im Wahlkampf 2006 mittlerweile wieder zu einer deutlich militanteren Rhetorik zurückgekehrt sei.114 Sollte sich die Hamas dennoch offiziell dazu entscheiden, ihre Rolle als Terrororganisation aufzugeben und sich zum Existenzrecht Israels bekennen, besteht die Gefahr einer Zersplitterung der Organisation in moderate und radikale Gruppen.115 Eine derartige Entwicklung würde die instabile Lage vor Ort sehr wahrscheinlich weiter verschärfen, da radikale Splittergruppen (Spoiler) unter Umständen bewusst eine neue Welle des Terrors und der Gewalt auslösen würden.116 Ungeachtet der zukünftigen Entwicklung der Hamas zeigt diese Analyse, dass Gewalt und Politik in dem hier analysierten Rahmen nicht als zwei strikt voneinander separierbare Bereiche zu verstehen sind. Forderungen nach einem strikten Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit mögen dabei dem westlichen Verständnis eines politischen Akteurs entsprechen; unter den hier vorgefundenen politischen Umständen verkennen sie jedoch die Bedeutung von Gewalt als Grundlage von politischem Kapital. Erst dieser Zwischenschritt ermöglicht es jedoch, die Unterstützung terroristischer Akteure seitens moderater Bevölkerungsgruppen mit dem Streben nach politischer Stabilität zu erklären. Ein effektives Vorgehen gegen Terroristen, so das Fazit dieser Analyse, muss daher in entscheidendem Maße an diesem Bedürfnis nach Stabilität ausgerichtet sein. Versuche, den Terror ausschließlich durch ein militärisches Vorgehen gegen Terroristen zu besiegen, ignorieren die unterschiedlichen Motive, denen der Terrorismus seine finanzielle und 111 112 113 114 115 116

Klein 2007, S. 444. Mishal/Sela 2006, S. xxxviii. Jensen 2009, S. 151. International Crisis Group 2009, S. 6. Schanzer 2008, S. 189; Gunning 2008a, S. 193f. Stedman 1997; Pearlman 2008/2909, S. 85.

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personelle Unterstützung verdankt, und haben im schlimmsten Fall eine kontraproduktive Wirkung, wenn sie zu einer weiteren Destabilisierung der Lage beitragen. Angesichts dieser Tatsachen erscheint eine kategorische Ablehnung militanter Akteure wenig zielführend und lässt einen differenzierteren Umgang ratsam erscheinen. Man mag die Teilnahme gewaltbereiter Akteure an demokratischen Prozessen mit den Worten Michael Herzogs, Brigadegeneral der israelischen Streitkräfte, als „großes Experiment“ bezeichnen;117 es könnte sich jedoch als die einzig praktikable Lösung erweisen.

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AUTOREN UND HERAUSGEBER Martin Böcker ist studierender Offizier im Studiengang Staats- und Sozialwissenschaften (BA) an der Fakultät für Staats- und Sozialwissenschaften, Universität der Bundeswehr München und studentischer Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Theorie und Wissenschaftslehre. Björn Budde, MA, studierte Politikwissenschaft, Neuere und Neueste Geschichte und Ethnologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie Security Studies an der Kansas State University/US Command and General Staff College. Sebastian Huhnholz, MA, ist wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl am Lehrstuhl für Politische Theorie am Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Florentin von Kaufmann, Dipl. Ing. (Univ.), ist Leiter der Integrierten Leitstelle München, stellvertretender Leiter der Abteilung I Einsatz an der Branddirektion München. Jochen Kleinschmidt, Dipl. sc. pol. Univ., ist Doktorand am Geschwister-SchollInstitut für Politische Wissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaft, Fakultät für Staatsund Sozialwissenschaften, Universität der Bundeswehr München. Stefan Oska, MA für Staats- und Sozialwissenschaften, war studentischer Mitarbeiter am Lehrstuhl Politische Theorie und Wissenschaftslehre, Fakultät für Staats- und Sozialwissenschaften, Universität der Bundeswehr München. Falko Schmid, Dipl. sc. pol. Univ., Dipl.-Verwaltungswirt (FH), ist Angehöriger der Führungsgruppe des Bayerischen Landeskriminalamtes in München. Bernhard Schreyer, Dr. rer. pol., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Theorie und Wissenschaftslehre, Fakultät für Staats- und Sozialwissenschaften, Universität der Bundeswehr München. Michael Seitz, Dipl.-Staatswissenschaftler, studierte an der Universität der Bundeswehr München und ist derzeit Hauptmann der Luftwaffe und Kampfführungsoffizier der Flugabwehr-Raketen-Gruppe 22 in Penzing, Doktorand am Lehrstuhl Politische Theorie und Wissenschaftslehre, Fakultät für Staats- und Sozialwissenschaften, Universität der Bundeswehr München.

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Autoren-und Herausgeber

Martin von Berg, MA für Staats- und Sozialwissenschaften, war studentischer Mitarbeiter am Lehrstuhl Politische Theorie und Wissenschaftslehre, Fakultät für Staats- und Sozialwissenschaften, Universität der Bundeswehr München. Cornelia Weiss, Rechtsanwältin (JAG), ist Oberstleutnant der US Air Force Reserve. Gegenwärtig studiert sie am InterAmerican Defense College in Fort McNair, Washington D.C. Ihr Beitrag entstand im Rahmen eines eineinhalbjährigen Aufenthaltes in Kolumbien, wo sie mit den kolumbianischen Streitkräften auf dem Gebiet der Militärjustizreform und des Menschenrechtsschutzes zusammenarbeitete. Ralf Walkenhaus, Dr. rer. soc., war bis 2009 Lecturer für Verwaltungswissenschaft an der Fakultät für Staats- und Sozialwissenschaften, Universität der Bundeswehr München, lebt und arbeitet in Berlin.

S TA AT S D I S K U R S E Herausgegeben von Rüdiger Voigt. Wissenschaftlicher Beirat: Andreas Anter, Manuel Knoll, Eun-Jeung Lee, Marcus Llanque, Samuel Salzborn, Birgit Sauer, Gary S. Schaal, Peter Schröder, Virgilio Alfonso da Silva. Franz Steiner Verlag

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ISBN 978-3-515-09704-8 Reinhard Dorn Verfassungssoziologie Zum Staats- und Verfassungsverständnis von Ernst Fraenkel 2010. 193 S., kt. ISBN 978-3-515-09793-2 10. Samuel Salzborn / Rüdiger Voigt (Hg.) Souveränität Theoretische und ideengeschichtliche Reflexionen 2010. 200 S., kt. ISBN 978-3-515-09735-2 11. Manuel Knoll / Stefano Saracino (Hg.) Niccolò Machiavelli Die Geburt des Staates 2010. 235 S., kt. ISBN 978-3-515-09797-0 12. Rüdiger Voigt Staatskrise Muss sich die Regierung ein anderes Volk wählen? 2010. 206 S., kt. ISBN 978-3-515-09800-7 13. Salzborn Samuel (Hg.) Staat und Nation Die Theorien der Nationalismusforschung in der Diskussion 2011. 241 S., kt. ISBN 978-3-515-09806-9 14. Oliver Eberl (Hg.) Transnationalisierung der Volkssouveränität Radikale Demokratie diesseits und jenseits des Staates 2011. 354 S., kt. ISBN 978-3-515-09830-4 15. Rüdiger Voigt (Hg.) Freund-Feind-Denken Carl Schmitts Kategorie des Politischen 2011. 231 S., kt. ISBN 978-3-515-09877-9 16. Tobias ten Brink, Hrsg. Globale Rivalitäten Staat und Staatensystem im globalen Kapitalismus 9.

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19. Jochen Kleinschmidt / Falko Schmid / Bernhard Schreyer / Ralf Walkenhaus (Hg.) Der terrorisierte Staat Entgrenzungsphänomene politischer Gewalt 2012. 242 S., kt. ISBN 978-3-515-10117-2 20. Matthias Lemke (Hg.) Die gerechte Stadt Politische Gestaltbarkeit verdichteter Räume 2012. 208 S., kt. ISBN 978-3-515-10148-6

Terroristische Gruppen präsentieren sich zwar immer als Feinde eines bestimmten Staates, einer Gruppe von Staaten oder gar der Idee des Staates als solcher. Ihre Aktivitäten haben aber mehr als nur zerstörerische Konsequenzen. Terroristische Gewalt kann zu Veränderungen staatlicher Strukturen im Zuge der Terrorismusbekämpfung führen, kann Staatstätigkeit in manchen Fällen sogar neu legitimieren.

Umgekehrt findet auch die Bildung terroristischer Gruppierungen in einem bereits bestehenden staatlichen Kontext statt, der sie ermöglicht und den sie bis zu einem gewissen Grad reflektieren. Und schließlich werden manche Terroristen am Ende selbst zu staatsbildenden Gruppen oder übernehmen parastaatliche Funktionen. Dieses komplexe Verhältnis von Terror und Staat steht im Fokus des Sammelbands.

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ISBN 978-3-515-10117-2