Der Tarifvertrag: Handbuch für das gesamte Tarifrecht 9783504380304

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Der Tarifvertrag: Handbuch für das gesamte Tarifrecht
 9783504380304

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Henssler/Moll/Bepler

Der Tarifvertrag – Handbuch für das gesamte Tarifrecht

Der Tarifvertrag Handbuch für das gesamte Tarifrecht herausgegeben von

Prof. Dr. Martin Henssler Dr. Wilhelm Moll, LL.M. Prof. Klaus Bepler bearbeitet von

Prof. Klaus Bepler Vorsitzender Richter am BAG a.D., Berlin

Dr. Andreas Engels Akademischer Rat a.Z., Köln

Dr. Hans Jörg Gäntgen Direktor des Arbeitsgerichts Köln

Dr. Wilhelm Moll, LL.M. Fachanwalt für Arbeitsrecht, Köln

Dr. Ivo Natzel Rechtsanwalt, Wiesbaden

Dr. Stefan Seitz Fachanwalt für Arbeitsrecht, Köln

Dr. Ulrich Sittard

Dr. Timon Grau

Rechtsanwalt, Köln

Fachanwalt für Arbeitsrecht, Frankfurt a. M.

Dr. Katrin Stamer

Prof. Dr. Stefan Greiner

Fachanwältin für Arbeitsrecht, Hamburg

Universitätsprofessor, Bonn

Dr. Ralf Steffan

Prof. Dr. Martin Henssler

Rechtsanwalt, Köln

Universitätsprofessor, Köln

Christoph Hexel Fachanwalt für Arbeitsrecht, Düsseldorf

Prof. Dr. Wolfram Höfling, M.A. Universitätsprofessor, Köln

Prof. Dr. Kerstin Tillmanns Universitätsprofessorin, FernUniversität in Hagen

Dr. Daniel Ulber Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Köln

Dr. Clemens Höpfner

Dr. Marc Werner

Akademischer Rat a.Z., Köln

Rechtsanwalt, Köln

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln TeL 02 21/9 37 38-{}1, Fax 02 21/9 37 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-42060-4 ©2013 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist w:heberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen. Bearbeitungen, Obersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungsbeständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Jan P. Lichtenford, Mettmann Satz: Schäper, Bonn Druck und Verarbeitung: Kösel, Krugzell Printed in Germany

Vorwort Das deutsche Tarifvertragsrecht hat in den vergangenen Jahren eine außerordentlich dynamische Entwicklung genommen. Die gesetzliche Regelung im TVG, die ursprünglich aufgrund ihrer Knappheit als vorbildlich gelten konnte, trägt den rechtstatsächlichen Entwicklungen und den in der Folge neu aufgeworfenen Rechtsfragen heute nur noch ansatzweise Rechnung. Dementsprechend spiegeln sich viele das Tarifrecht prägende Entscheidungen des Tarifsenats des BAG nicht mehr im Wortlaut des Gesetzes wider. Eine Kommentierung der wenigen Vorschriften des TVG stößt folglich an ihre Grenzen, eine Zuordnung vieler aktueller Rechtsfragen zu den kodifizierten Normen erscheint häufig willkürlich. Den Bedürfnissen der Praxis kommt eine Darstellung der Rechtsmaterie besonders entgegen, die sich weniger an der äußeren Gesetzessystematik als an den Problemlagen, den Sachzusammenhängen und den Erscheinungsformen tariflicher Absprachen orientiert. Das vorgelegte Werk bietet vor diesem Hintergrund der Praxis eine systematische Aufbereitung des Tarifrechts. Es ermöglicht dem Leser einen unmittelbaren Zugriff auf die rechtliche Lösung des sich ihm stellenden tarifrechtlichen Problems. Eine wissenschaftlich vertiefte Darstellung der tariflichen Grundlagen bildet das Fundament, auf dem sodann die Sachprobleme aufbereitet werden. Ein besonderes Kennzeichen des Handbuches ist ein Klauselkatalog, in dem die wichtigsten und in der Praxis am weitesten verbreiteten Vertragsklauseln in alphabetischer Reihenfolge rechtlich aufbereitet werden. Das von Herausgebern und Verlag ausgewählte hochkarätige Autorenteam bringt den Erfahrungsschatz und das Problembewusstsein aller arbeitsrechtlichen Berufsgruppen, Beratungspraxis, Unternehmenspraxis, Rechtsprechung und Wissenschaft, in die Bearbeitung ein. Es sichert zugleich neben dem notwendigen Praxisbezug den wissenschaftlichen Anspruch des Werkes. Verlag, Herausgeber und Autoren streben an, den Henssler/Moll/Bepler zu einem Standardwerk des Tarifrechts zu entwickeln. Für Anregungen und Verbesserungsvorschläge aus dem Leserkreis sind sie dankbar. Das Handbuch befindet sich auf dem Bearbeitungsstand Juli 2012. Berlin, Köln, im Oktober 2012

Herausgeber und Verlag

V

Inhaltsübersicht* Seite

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

V

Allgemeines Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XXIII

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XXVII

Teil 1 Grundlagen des Tarifvertragsrechts (Höfling/Engels) Rz.

Seite

A. Garantie der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG) . . . . . . .

1

1

I. Art. 9 Abs. 3 GG als verfassungsrechtliche Gewährleistung der Tarifautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2

4

II. Zur dogmatischen Rekonstruktion der Tarifautonomie . . .

9

10

III. Träger der Koalitionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

15

IV. Spielräume und Grenzen gesetzgeberischer Ingerenzen – ausgewählte Problemkonstellationen . . . . . . . . . . . . . . .

23

21

B. Tarifvertrag und höherrangiges Recht . . . . . . . . . . . . .

32

30

I. Grundrechtsbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

31

II. Gemeinwohlbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

33

III. Bindung an europäisches Gemeinschaftsrecht . . . . . . . .

37

34

IV. Normsetzungsmonopol der Koalitionen? . . . . . . . . . . .

38

35

A. Grundlagen des Verbandsrechts . . . . . . . . . . . . . . . .

1

45

I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

46

Teil 2 Tarifvertragsparteien (Höpfner/Greiner/Sittard)

II. Gründung und Auflösung des Verbandes . . . . . . . . . . .

9

49

III. Die Mitgliedschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

56

IV. Geschäftsführung und Vertretung . . . . . . . . . . . . . . .

27

57

V. Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30

58

B. Tariffähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

60

I. Allgemeine Grundsätze der Tariffähigkeit . . . . . . . . . . .

33

60

* Ausführliche Inhaltsverzeichnisse finden sich jeweils am Anfang der einzelnen Teile.

VII

Inhaltsübersicht

II. Sonderkonstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Rz.

Seite

148

104

C. Tarifzuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

204

129

I. Begriff der Tarifzuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

204

129

II. Festlegung der Tarifzuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . .

212

132

III. Inhaltliche Freiheiten und Begrenzungen der Zuständigkeitsregelung in der Verbandssatzung . . . . . . . . . . . . . . . .

219

136

IV. Tarifzuständigkeit als Wirksamkeitsvoraussetzung des Tarifvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

233

141

V. Flucht aus dem Tarifvertrag über die Tarifzuständigkeit? . .

240

143

VI. Feststellung der Tarifzuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . .

242

145

Teil 3 Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages (Bepler) A. Der Weg zum Tarifabschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2

151

I. Gesetzlicher und/oder gewillkürter Verhandlungsanspruch?

2

151

II. Tarifschlichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

158

III. Die Tarifverhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

164

B. Schriftformzwang für Tarifverträge (§ 1 Abs. 2 TVG) . . . . .

41

167

I. Normzweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

167

II. Erfüllung der Schriftform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

167

III. Anwendungsbereich des Schriftformgebots . . . . . . . . . .

46

168

IV. Rechtsfolge eines Formverstoßes . . . . . . . . . . . . . . . .

53

170

C. Verhandlungsergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

171

I. Ergebnisniederschriften, Vorverträge, sonstige schuldrechtliche Koalitionsverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

171

II. Protokollnotizen, Fußnoten, Anlagen und Anhänge . . . . .

62

173

III. Regelungen über Inkrafttreten und hinausgeschobene Fälligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66

174

D. Die Publizität tariflicher Regelungswerke . . . . . . . . . . .

92

184

I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

92

184

II. Tarifregister und Tarifarchiv . . . . . . . . . . . . . . . . . .

94

185

III. Die Auslegungspflicht nach § 8 TVG . . . . . . . . . . . . . .

108

190

IV. Transparenz durch das Nachweisgesetz . . . . . . . . . . . .

121

195

VIII

Inhaltsübersicht Rz.

Seite

V. Keine Transparenz durch § 305 Abs. 2 BGB . . . . . . . . . .

127

198

E. Inhaltsermittlung von Tarifverträgen . . . . . . . . . . . . .

128

199

I. Die Auslegung des normativen Teils . . . . . . . . . . . . . .

129

199

II. Der Inhalt schuldrechtlicher Koalitionsvereinbarungen . . .

155

208

III. Zuordnung und Qualifikation durch Auslegung . . . . . . .

157

209

F. Anfechtbarkeit und Nichtigkeit von Tarifverträgen . . . . .

160

210

I. Anfechtbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

160

210

II. Unwirksamkeit und Teilunwirksamkeit . . . . . . . . . . .

165

211

G. Das Ende der zwingenden Tarifgeltung . . . . . . . . . . . .

200

225

200

225

I. „Automatische“ Beendigungen durch Veränderungen bei den Tarifvertragsparteien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die ordentlichen Beendigungsformen . . . . . . . . . . . . .

207

227

III. Beendigung durch außerordentliche Kündigung . . . . . . .

224

235

A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

242

I. Der Inhalt von Tarifverträgen – § 1 Abs. 1 TVG . . . . . . . .

1

242

II. Das Arbeitsverhältnis als zentraler Anknüpfungspunkt für die Normen von Tarifverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

243

B. Normativer Teil – Inhalte von Arbeitsverhältnissen und betriebliche Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

246

I. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

246

Teil 4 Inhalt des Tarifvertrages (Hexel)

II. Inhaltsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

247

III. Abschluss- und Beendigungsnormen . . . . . . . . . . . . . .

42

261

IV. Normen über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

84

279

V. Normen über Gemeinsame Einrichtungen (§ 4 Abs. 2 TVG)

104

288

C. Obligatorischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

113

291

I. Rechte und Pflichten der Tarifvertragsparteien (Obligatorischer Teil) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

113

291

II. Normen mit Bezug auf die Tarifinhalte (Friedenspflicht, Durchführungspflicht) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

117

293

III. Weitere schuldrechtliche Vereinbarungen . . . . . . . . . . .

128

297 IX

Inhaltsübersicht

Teil 5 Katalog typischer Tarifnormen (Hexel/Ulber/Steffan/Natzel) Rz.

Seite

(1) Altersgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

303

(2) Annahmeverzug/Betriebsrisiko . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

316

(3) Arbeitsentgelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

321

(4) Arbeitsverhinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

334

(5) Arbeitszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

341

(6) Befristungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

359

(7) Besetzungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

371

(8) Differenzierungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

376

(9) Direktionsrechtsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

389

(10) Effektivklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

398

(11) Eingruppierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

402

(12) Entgeltfortzahlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

415

(13) Kurzarbeitsregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

425

(14) Maßregelungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

437

(15) Mehrarbeitsregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

443

(16) Meistbegünstigungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

454

(17) Öffnungsklauseln/Genehmigungsvorbehalte . . . . . . . . .

1

460

(18) Schlechtwetterklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

472

(19) Standortsicherung/ Beschäftigungssicherung/Arbeitsplatzsicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

478

(20) Unkündbarkeiten/Kündigungsklauseln/Fristen . . . . . . . .

1

489

(21) Urlaubsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

500

(22) Verfallklauseln/Ausschlussklauseln . . . . . . . . . . . . . .

1

519

(23) Wiedereinstellungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

529

(24) Zulagen-/Zuschlagsregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

539

A. Grundsätze der Tarifgebundenheit von Arbeitgeber und Arbeitnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

553

I. Begriff und Grundlagen der normativen Tarifgebundenheit .

1

553

II. Legitimation der Tarifgebundenheit . . . . . . . . . . . . . .

5

555

Teil 6 Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft (Höpfner)

X

Inhaltsübersicht Rz.

Seite

B. Beginn und Ende der Mitgliedschaft . . . . . . . . . . . . . .

13

559

I. Erwerb der Mitgliedschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

14

559

II. Beendigung der Mitgliedschaft . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

565

C. Nachbindung an Tarifverträge gemäß § 3 Abs. 3 TVG . . . .

61

577

I. Zweck, Legitimation und Verfassungsmäßigkeit . . . . . . .

62

577

II. Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

579

III. Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

582

IV. Ende der Nachbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82

585

D. Betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Normen gemäß § 3 Abs. 2 TVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

589

1

597

Teil 7 Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung (Sittard) A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Tarifgeltung aufgrund einer Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2

597

I. Einführung und rechtstatsächliche Bedeutung . . . . . . . .

2

597

II. Zweck der Allgemeinverbindlicherklärung . . . . . . . . . .

5

598

III. Rechtsnatur der Allgemeinverbindlicherklärung . . . . . . .

15

602

IV. Voraussetzungen der Allgemeinverbindlicherklärung . . . .

19

604

V. Tarifgeltung aufgrund einer Tarifnormerstreckung durch Allgemeinverbindlicherklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Vermeidung allgemeinverbindlicher Tarifverträge . . . . . .

63

617

87

624

VII. Rechtsschutz in Zusammenhang mit Allgemeinverbindlicherklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

94

626

VIII. Verfassungsmäßigkeit von § 5 TVG . . . . . . . . . . . . . .

98

628

C. Tarifgeltung aufgrund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes .

100

628

I. Einführung und rechtstatsächliche Bedeutung . . . . . . . .

100

628

II. Zweck des AEntG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

104

630

III. Voraussetzungen der Tarifnormerstreckung durch das AEntG

106

630

IV. Tarifgeltung aufgrund des AEntG . . . . . . . . . . . . . . . .

141

641

V. Vermeidung der Tarifgeltung nach dem AEntG . . . . . . . .

161

649

VI. Rechtsschutz in Zusammenhang mit dem AEntG . . . . . .

162

650

VII. Verfassungsmäßigkeit des AEntG . . . . . . . . . . . . . . .

163

650 XI

Inhaltsübersicht Rz.

Seite

D. Mit der Tarifnormerstreckung vergleichbare Regelungsinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

168

652

I. Mindestlohn in der Pflegebranche . . . . . . . . . . . . . . .

168

652

II. Mindestlohn in der Zeitarbeitsbranche . . . . . . . . . . . .

172

653

III. Staatliche Mindestarbeitsbedingungen durch das MiArbG .

181

656

IV. Tariftreueerklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

194

659

A. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

664

I. Begriffe und Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2

665

Teil 8 Geltungsbereich (Stamer)

II. Anknüpfungspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

666

III. Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

668

IV. Tarifautonome Bestimmung des Geltungsbereichs . . . . . .

20

672

V. Gerichtliche Überprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28

675

B. Räumlicher Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

676

I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

676

II. Anknüpfungspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

677

III. Tarifverträge mit Auslandsberührung . . . . . . . . . . . . .

38

679

IV. Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG) . . . . . . . . . . . . .

40

680

V. Normen über gemeinsame Einrichtungen . . . . . . . . . . .

41

680

VI. Ausscheiden aus dem räumlichen Geltungsbereich . . . . .

42

680

C. Sektoraler Geltungsbereich (Branche) . . . . . . . . . . . . .

45

681

I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

681

II. Anknüpfungspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

682

III. Ausscheiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

686

IV. Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

687

D. Fachlicher Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

688

I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

688

II. Anknüpfungspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66

689

III. Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

690

IV. Vergütungsgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70

690

E. Persönlicher Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74

691

XII

Inhaltsübersicht Rz.

Seite

I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74

691

II. Anknüpfungspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

692

III. Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82

694

IV. Veränderung persönlicher Merkmale . . . . . . . . . . . . . .

88

696

F. Zeitlicher Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

696

I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

696

II. Inkrafttreten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

697

III. Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

698

G. Normen über gemeinsame Einrichtungen . . . . . . . . . . .

96

698

I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

96

698

II. Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

98

699

III. Normative Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

101

700

IV. Allgemeinverbindlicherklärung . . . . . . . . . . . . . . . . .

106

701

V. Ausscheiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

108

702

A. Normwirkung (§ 4 Abs. 1 TVG) . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

708

I. Unmittelbare Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2

709

II. Zwingende Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

10

712

B. Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG . . . . . . . . . . . . . . .

21

714

Teil 9 Wirkung der Tarifnormen (Greiner/Höpfner)

I. Zweck, Legitimation und Verfassungsmäßigkeit . . . . . . .

21

715

II. Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

718

III. Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

721

IV. Ablösung nachwirkender Tarifverträge . . . . . . . . . . . .

39

724

C. Rechtsverlust und Tarifvertragsrecht . . . . . . . . . . . . .

53

730

I. Verzichtsverbot, § 4 Abs. 4 TVG . . . . . . . . . . . . . . . .

53

730

II. Verwirkung, § 4 Abs. 4 Satz 2 TVG . . . . . . . . . . . . . . .

66

735

III. Verjährung tarifvertraglicher Rechte, Ausschluss-/Verfallfristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70

736

D. Verhältnis zu anderen Regelungen . . . . . . . . . . . . . . .

73

738

I. Mehrheit von Tarifverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

738 XIII

Inhaltsübersicht Rz.

Seite

II. Verhältnis des Tarifvertrages zu rangniederen Regelungen .

140

759

III. Verhältnis des Tarifvertrages zu betrieblichen Regelungen (Tarifvorrang, Tarifvorbehalt) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

218

789

A. Arbeitsvertragliche Geltung von Tarifverträgen . . . . . . .

1

804

I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

805

II. Wirkung der vertraglichen Inbezugnahme . . . . . . . . . . .

6

807

B. Die vertragliche Vereinbarung und ihre Wirksamkeit . . . .

9

808

I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

809

II. Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

12

810

III. AGB-rechtliche Kontrolle und Auslegung arbeitsvertraglicher Bezugnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

16

811

C. Erscheinungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

824

I. Deklaratorische und konstitutive Inbezugnahme . . . . . . .

48

825

II. Statische oder dynamische Inbezugnahme . . . . . . . . . . .

52

827

III. Teil- und Einzelverweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

846

D. Bezugnahme kraft betrieblicher Übung . . . . . . . . . . . .

103

847

I. Dogmatische Grundlagen der betrieblichen Übung . . . . . .

104

848

II. Entstehung der Tarifbindung durch betriebliche Übung . . .

107

849

III. Inhalt der Bezugnahme durch betriebliche Übung . . . . . .

114

853

IV. Die Beendigung der Tarifbindung durch betriebliche Übung

119

855

E. Sonstige Rechtsgrundlagen für eine nicht tarifrechtlich begründete Anwendbarkeit von Tarifverträgen . . . . . . . . .

121

856

I. Bezugnahme durch Betriebsvereinbarung . . . . . . . . . . .

121

856

II. Tarifvertragliche Außenseiterklauseln . . . . . . . . . . . . .

126

857

III. Arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz . . . . . . .

128

858

F. Formulierungsvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

131

859

I. Tarifgebundene Arbeitgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

132

860

II. Nicht tarifgebundene Arbeitgeber . . . . . . . . . . . . . . .

133

861

Teil 10 Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme (Henssler)

XIV

Inhaltsübersicht

Teil 11 Haustarif (Seitz) Rz.

Seite

A. Begriff, Arten und Bedeutung in der Praxis . . . . . . . . . .

1

865

I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

865

II. Wesentliche Chancen und Risiken von Haustarifverträgen im Verhältnis zu Verbandstarifverträgen aus Unternehmenssicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2

866

III. Arten von Haustarifverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6

867

B. Der Arbeitgeber als Tarifvertragspartei . . . . . . . . . . . . .

13

869

I. Haustariffähigkeit des Arbeitgebers . . . . . . . . . . . . . .

13

869

II. Begriff des Arbeitgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

14

870

III. Besonderheiten im Konzern . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

870

IV. Beginn und Ende der Tariffähigkeit . . . . . . . . . . . . . . .

16

870

C. Typische Ausgangssituationen für Haustarifverträge . . . . .

17

871

I. Post Merger Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18

871

II. Outsourcing/Joint Venture-Situation . . . . . . . . . . . . .

19

871

III. Austritt aus dem Arbeitgeberverband . . . . . . . . . . . . .

20

872

IV. Herauswachsen aus dem Geltungsbereich eines Flächentarifvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

872

V. Wettbewerber hat tarifliche Vorteile . . . . . . . . . . . . . .

22

873

VI. Standortfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

873

VII. Umstrukturierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

873

VIII. Unternehmen in der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

874

D. Wirkung/Geltung des Haustarifvertrages . . . . . . . . . . .

26

874

I. Normative Geltung des Haustarifvertrages kraft beiderseitiger Tarifbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26

874

II. Schuldrechtliche Geltung kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

874

III. Tarifzuständigkeit der Gewerkschaft . . . . . . . . . . . . . .

28

875

IV. Beginn und Ende der zwingenden Tarifgeltung, insb. Auswirkungen des Verbandsaustritts bzw. des Wechsels zur OT-Mitgliedschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

875

E. Verhältnis zum Verbandstarifvertrag . . . . . . . . . . . . . .

31

876

I. Arbeitgeber kein Verbandsmitglied . . . . . . . . . . . . . . .

32

876 XV

Inhaltsübersicht Rz.

Seite

II. Verbandsangehöriger Arbeitgeber . . . . . . . . . . . . . . . .

33

876

F. Verhältnis zu anderen Haustarifverträgen . . . . . . . . . . .

39

878

I. Abschluss eines anderen Haustarifvertrages mit derselben Gewerkschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

878

II. Abschluss eines anderen Haustarifvertrages mit einer anderen Gewerkschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

878

G. Verhältnis zu Betriebsvereinbarungen . . . . . . . . . . . . .

43

879

I. Grundsatz: Tarifvorrang und Tarifvorbehalt . . . . . . . . . .

43

879

II. Öffnungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

879

H. Verhältnis zum Arbeitsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

880

I. Arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln . . . . . . . . . . .

46

880

II. Sonstige einzelvertragliche Zusagen . . . . . . . . . . . . . .

51

881

J. Streikrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52

882

I. Erstreikbarkeit von Haustarifverträgen . . . . . . . . . . . .

52

882

II. Friedenspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

883

K. Praxisrelevante Fragestellungen bei Anerkennungstarifverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

58

884

I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

58

884

II. Umfang der Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60

884

III. Status der Tarifgeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

885

IV. Nachwirkung bei Anerkennungstarifverträgen . . . . . . . .

64

885

V. Friedenspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

72

887

VI. Tarifliche Differenzierungsklauseln . . . . . . . . . . . . . .

73

888

1. Qualifizierte Differenzierungsklauseln . . . . . . . . . . . .

74

888

2. Einfache Differenzierungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . .

75

889

L. Überleitungstarifverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

889

M. Rechtliche und taktische Vorbereitung und Durchführung von Haustarifvertrags-Verhandlungen . . . . . . . . . . . . .

80

890

I. Typische Fragen vor der Einführung von Haustarifverträgen

80

890

II. Vorbereitung von Haustarifvertrags-Verhandlungen . . . . .

100

895

III. Ablauf der Verhandlungsphase . . . . . . . . . . . . . . . . .

111

897

N. Haustarifverträge bei Betriebsübergang und Umwandlung .

117

898

XVI

Inhaltsübersicht

Teil 12 Der Sanierungstarifvertrag (Moll) Rz.

Seite

A. Einleitung; Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

902

B. Gestaltungsoptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

902

I. Haustarifvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4

903

II. Firmenbezogener Verbandstarifvertrag . . . . . . . . . . . . .

9

905

C. Gebot der Rechtsquellenklarheit . . . . . . . . . . . . . . . .

13

906

D. Inhaltliche Gestaltung und Formulierungshinweise . . . . .

19

909

I. Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20

910

II. Sanierungsbeiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28

912

III. Sonstige Klauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

918

E. Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52

922

I. Verhältnis zwischen Verbandstarifvertrag und Sanierungstarifvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52

922

II. Verhältnis zu günstigeren Vertragsabreden . . . . . . . . . .

82

934

III. Rückwirkende Änderung von Arbeitsbedingungen . . . . . .

83

935

F. Sanierungstarifvertrag und Betriebsübergang . . . . . . . . .

90

938

I. Auswirkungen eines Betriebsübergangs auf die Geltung des Sanierungstarifvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

939

II. Wegfall der Geschäftsgrundlage des Sanierungstarifvertrages durch den Betriebsübergang auf einen nicht tarifgebundenen Betriebserwerber? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

107

946

III. Kündigung des Sanierungstarifvertrages . . . . . . . . . . . .

108

946

G. Sanierungsbetriebsvereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . .

111

948

I. Bedeutung des Tarifvorrangs; Reichweite . . . . . . . . . . .

112

948

II. Tarifvertragliche Öffnungsklausel . . . . . . . . . . . . . . .

116

949

III. Betriebsvereinbarungsoffene Klausel im Arbeitsvertrag . . .

119

950

H. Tarifsozialplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

120

951

I. Einleitung; Begriff; Gestaltungsoptionen . . . . . . . . . . .

120

951

II. Gebot der Rechtsquellenklarheit . . . . . . . . . . . . . . . .

122

952

III. Tarifliche Regelbarkeit, § 1 Abs. 1 TVG . . . . . . . . . . . .

123

952

IV. Sperrwirkung der §§ 111 ff. BetrVG? . . . . . . . . . . . . . .

124

953

V. Arbeitskampf um einen Tarifsozialplan . . . . . . . . . . . .

125

954

VI. Kollision von betrieblichen und tariflichen Sozialplänen . .

148

961 XVII

Inhaltsübersicht Rz.

Seite

VII. Betriebliche Beteiligungsrechte beim Arbeitskampf . . . . .

149

962

VIII. Handlungsmöglichkeiten des Arbeitgebers . . . . . . . . . .

151

963

A. Begriff, Typen und rechtliche Grundlage betrieblicher Beschäftigungsbündnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

971

I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

971

II. Typen betrieblicher Beschäftigungsbündnisse . . . . . . . . .

2

971

III. Rechtliche Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

974

B. Häufige Ausgangssituationen für betriebliche Beschäftigungsbündnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

12

975

I. Das Unternehmen ist „gewerkschaftsfrei“ . . . . . . . . . .

12

975

Teil 13 Betriebliche Beschäftigungsbündnisse (Werner)

II. Die Unternehmensleitung lehnt eine Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft ab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

975

III. Gescheiterte Haustarifvertrags-Verhandlungen . . . . . . . .

14

976

IV. Die Betriebsparteien wollen eine betriebliche Lösung . . . .

15

976

C. Rechtliche Voraussetzungen eines betrieblichen Beschäftigungsbündnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

16

977

I. Tarifrechtliche Regelungsgrenzen . . . . . . . . . . . . . . .

16

977

II. Ermittlung des tarifrechtlich zulässigen Gestaltungsspielraums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

978

III. Wechsel zur OT-Mitgliedschaft als Alternative zum Verbandsaustritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40

985

IV. Zustimmungserfordernis der Mitarbeiter zum betrieblichen Bündnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

987

V. Kurz-Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

989

D. Die Regelungsabrede als Gestaltungsmittel für betriebliche Beschäftigungsbündnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

989

I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

989

II. Kein Tarifvorbehalt für Regelungsabreden . . . . . . . . . . .

48

989

III. Zustimmungserfordernis der Mitarbeiter . . . . . . . . . . .

49

990

IV. AGB-Kontrolle der Regelungsabrede? . . . . . . . . . . . . .

50

991

57

993

V. Zulässigkeit arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklauseln auf ein betriebliches Beschäftigungsbündnis . . . . . . . . . . . . . . XVIII

Inhaltsübersicht Rz.

Seite

E. Unterlassungsanspruch der Gewerkschaft gegen betriebliche Bündnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

997

I. Unterlassungsanspruch gegen tarifwidrige Betriebsvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

997

II. Unterlassungsanspruch gegen Regelungsabreden . . . . . . .

69

999

F. Inhaltliche Gestaltung eines betrieblichen Beschäftigungsbündnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78 1001

I. Typische Beiträge der Arbeitnehmer . . . . . . . . . . . . . .

78 1001

II. Typische Gegenleistungen des Unternehmens . . . . . . . .

82 1003

III. Vermeidung arbeitsrechtlicher Fallstricke . . . . . . . . . . .

98 1007

G. Verhandlung von betrieblichen Beschäftigungsbündnissen .

110 1012

I. Beteiligte Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

110 1012

II. Verhalten bei Gegenreaktionen der Gewerkschaft . . . . . .

112 1013

III. Kommunikation während der Verhandlungen . . . . . . . .

113 1013

IV. Die Rolle des anwaltlichen Beraters bei Vorbereitung und Umsetzung betrieblicher Beschäftigungsbündnisse . . . . .

114 1014

H. Beendigung betrieblicher Beschäftigungsbündnisse und Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

115 1014

I. Betriebsvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

115 1014

II. Regelungsabreden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

118 1015

I. Fallbeispiel aus der Praxis: Zukunftsvertrag bei Automobilzulieferer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

123 1017

Teil 14 Gewillkürter Tarifverlust (Sittard) A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 1021

B. Verbandsaustritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5 1022

I. Rechtsfolgen für bereits beschäftigte Arbeitnehmer . . . . .

6 1022

II. Rechtsfolgen für Neueintritte . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26 1031

III. Zwang zur Anwendung von betrieblichen Entgeltschemata trotz fehlender anderweitiger Tarifbindung . . . . . . . . . .

30 1033

IV. Auswirkungen des Abschlusses neuer Tarifverträge nach dem Verbandsaustritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33 1035

C. Verbandswechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35 1036

I. Rechtsfolgen für bereits beschäftigte Arbeitnehmer . . . . .

37 1037

II. Rechtsfolgen für Neueintritte . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56 1045 XIX

Inhaltsübersicht Rz.

Seite

III. Zwang zur Anwendung von tariflichen Entgeltschemata für bereits beschäftigte und neu eingestellte Arbeitnehmer . . .

62 1047

D. Herstellung einer mehrfachen Tarifbindung . . . . . . . . . .

63 1047

I. Doppelmitgliedschaft von Arbeitnehmer oder Arbeitgeber .

64 1048

II. Abschluss eines Haustarifvertrages neben einem bestehenden Verbandstarifvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

68 1050

III. Tarifkollision mit allgemeinverbindlich erklärtem Tarifvertrag/AEntG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71 1052

E. Herauswachsen aus dem Geltungsbereich eines Tarifvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74 1052

I. Rechtsfolgen für bereits beschäftigte Arbeitnehmer . . . . .

75 1053

II. Rechtsfolgen für Neueintritte . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78 1054

F. Auswirkungen einer Unternehmensumstrukturierung auf die Geltung eines Tarifvertrages . . . . . . . . . . . . . . . .

79 1055

G. Übersicht über die Tarifgeltung . . . . . . . . . . . . . . . . .

80 1055

H. „Tarifwechsel“ durch Einsatz von Zeitarbeit . . . . . . . . .

81 1059

I. Leiharbeit als Instrument zur Einführung eines neuen/ zusätzlichen Tarifregimes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82 1059

II. Einsatz von konzerninternen Personalservicegesellschaften

86 1061

Teil 15 Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel (Grau) A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 1067

B. Auswirkungen von betriebs- und unternehmensinternen Umstrukturierungen auf die Tarifgeltung . . . . . . . . . . .

6 1069

I. Herauswachsen aus dem Geltungsbereich als Folge einer internen Umstrukturierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7 1069

II. Wegfall der Tarifzuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . .

12 1070

III. Verbandsaustritt und Verbandswechsel . . . . . . . . . . . .

15 1071

C. Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang auf die Tarifgeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

16 1072

I. Überblick über Voraussetzungen und Anwendungsbereich des § 613a BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17 1072

XX

Inhaltsübersicht Rz.

Seite

II. Kollektivrechtliche Fortgeltung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29 1077

III. Fortwirkung von Tarifverträgen beim Erwerber kraft gesetzlicher Anordnung des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB . . . . . . . .

40 1083

IV. Ablösung von Tarifverträgen durch beim Betriebserwerber einschlägige Kollektivverträge (§ 613a Abs. 1 Satz 3 BGB) . .

86 1107

V. Auswirkungen des Betriebsübergangs auf die individualvertragliche Bezugnahme auf Tarifverträge . . . . . . . . . .

112 1122

VI. Unterrichtung der Arbeitnehmer über die tarifrechtlichen Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

159 1144

VII. Übersicht: Tarifgeltung nach Betriebsübergang . . . . . . . .

167 1149

D. Auswirkungen einer gesellschaftsrechtlichen Umstrukturierung (insbesondere Unternehmensumwandlung) auf die Tarifgeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

168 1153

I. Unternehmensverkauf/Gesellschafterwechsel . . . . . . . .

169 1154

II. Unternehmensumwandlungen nach dem UmwG und (partielle) Gesamtrechtsnachfolge . . . . . . . . . . . . . . .

176 1157

III. Gesamtrechtsnachfolge aufgrund gesellschaftsrechtlicher Anwachsung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

205 1171

E. Auswirkungen von Umstrukturierungen auf Tarifverträge über besondere Betriebsratsstrukturen nach § 3 BetrVG . . .

207 1172

I. Übertragungen mit Rechtsnachfolge auf Seiten des Arbeitgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

208 1172

II. Sonstige Umstrukturierungen . . . . . . . . . . . . . . . . .

213 1175

Teil 16 Gerichtliche Durchsetzung tariflicher Ansprüche (Gäntgen) A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 1178

B. Rechtsstreite unter Beteiligung der Tarifvertragsparteien . .

2 1178

I. Rechtsstreite zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2 1178

II. Rechtsstreite zwischen Gewerkschaften und einzelnen Arbeitgebern wegen tarifwidrigen Verhaltens . . . . . . . . .

48 1195

C. Tarifliche und gesetzliche Verfahrensbestimmungen . . . .

57 1198

I. Tariflicher Ausschluss der Arbeitsgerichtsbarkeit (§§ 101, 102 ArbGG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57 1198 XXI

Inhaltsübersicht Rz.

Seite

II. Tarifliche Zuständigkeitsbestimmungen (§ 48 Abs. 2 ArbGG)

71 1202

III. Ausschlussfristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75 1203

IV. Eingruppierungsfeststellungsklagen . . . . . . . . . . . . . .

84 1207

D. Rechtsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95 1210

I. Zulassung der Berufung nach § 64 Abs. 3 ArbGG . . . . . . .

95 1210

II. Zulassung der Revision nach § 72 ArbGG . . . . . . . . . . .

100 1211

III. Sprungrevision nach § 76 ArbGG . . . . . . . . . . . . . . . .

101 1212

E. Informationspflichten der Gerichte für Arbeitssachen bei Rechtsstreiten mit Tarifbezug . . . . . . . . . . . . . . . . .

106 1213

Teil 17 Internationales Tarifvertragsrecht (Tillmanns) A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 1216

B. Internationales Tarifvertragsrecht i.e.S. (Kollisionsrecht) . .

3 1216

I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3 1216

II. Das Tarifvertragsstatut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7 1218

III. Der internationale Geltungsbereich von deutschen Tarifverträgen und ausländischen Kollektivvereinbarungen . . .

45 1233

C. Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61 1238

D. Internationale Kollektivvereinbarungen . . . . . . . . . . . .

62 1239

I. Völker- und unionsrechtliche Regelungen . . . . . . . . . . .

63 1239

II. Bestehende Rechtsunsicherheiten . . . . . . . . . . . . . . .

67 1241

Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XXII

1243

Allgemeines Literaturverzeichnis* Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985 Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, 4. Aufl. 2012 Bamberger/Roth, Beck’scher Online-Kommentar zum BGB, Stand: 1.3.2011 (zit.: BeckOK-BGB/Bearbeiter) Bauer/Göpfert/Haußmann/Krieger, Umstrukturierung, 2. Aufl. 2009 Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, 2005 Berg/Platow/Schoof/Unterhinninghofen, Tarifvertragsgesetz und Arbeitskampfrecht, 3. Aufl. 2010 Bergerhoff, Tarifflucht durch Auflösung des Arbeitgeberverbandes?, 2002 Besgen, Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband ohne Tarifbindung, 1998 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, 1964 Britz/Volkmann, Tarifautonomie in Deutschland und Europa, 2003 Brox/Rüthers/Henssler, Arbeitsrecht, 18. Aufl. 2011 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, 2005 Calliess/Ruffert, EUV, AEUV, 4. Aufl. 2011 Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, 2005 Däubler, Das Grundrecht auf Mitbestimmung und seine Realisierung durch tarifvertragliche Begründung von Beteiligungsrechten, 1976 Däubler, Tarifvertragsrecht, 3. Aufl. 1993 Däubler, Tarifvertragsgesetz, 2. Aufl. 2006 Däubler/Bonin/Deinert, AGB-Kontrolle im Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2010 (zit. DBD/Bearbeiter) Däubler/Hege, Koalitionsfreiheit, 1976 Däubler/Kittner/Klebe/Wedde, Betriebsverfassungsgesetz, 13. Aufl. 2012 (zit.: DKKW/Bearbeiter) Dieterich, Tarifautonomie und Gesetzgebung, 2003 Doerlich, Die Tariffähigkeit der Gewerkschaft, 2002 Dörrwächter, Tendenzschutz im Tarifrecht, 1998 Eitel, Die Ungleichbehandlung der repräsentativen und nicht repräsentativen Gewerkschaften durch den Staat, 1991 Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, 2008 Epping/Hillgruber, GG-Kommentar, 2009 Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 12. Aufl. 2012 (zit.: ErfK/Bearbeiter) * Literaturhinweise zu Einzelfragen finden sich jeweils am Anfang der einzelnen Teile.

XXIII

Allgemeines Literaturverzeichnis Erman, Bürgerliches Gesetzbuch, Band I, 13. Aufl. 2011 Fitting, Betriebsverfassungsgesetz, 26. Aufl. 2012 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht Band 1, 1997 Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, 2000 Gemeinschaftskommentar zum Arbeitsgerichtsgesetz, Loseblatt, Stand: 7/2010 Gemeinschaftskommentar zum Betriebsverfassungsgesetz, 9. Aufl. 2010 (zit.: GK-BetrVG/Bearbeiter) Germelmann/Matthes/Prütting/Müller-Glöge, Arbeitsgerichtsgesetz, 7. Aufl. 2009 (zit.: GMPM/Bearbeiter) Giere, Soziale Mächtigkeit als Voraussetzung für die Tariffähigkeit, 2006 Greiner, Rechtsfragen der Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfpluralität, 2010 Henssler, Soziale Mächtigkeit und organisatorische Leistungsfähigkeit als Voraussetzungen der Tariffähigkeit von Gewerkschaften, 2006 Henssler/Moll, AGB-Kontrolle vorformulierter Arbeitsbedingungen, 2011 Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht Kommentar, 5. Aufl. 2012 (zit.: HWK/ Bearbeiter) Hess/Schlochauer/Worzalla/Glock/Nicolai/Rose, BetrVG, 8. Aufl. 2011 (zit.: HSWGNR/Bearbeiter) Hromadka/Maschmann/Wallner, Der Tarifwechsel, 1996 Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts Bd. 2/1, 7. Aufl. 1967 Hümmerich/Boecken/Düwell, AnwaltKommentar Arbeitsrecht, Band 2, 2. Aufl. 2010 (zit.: AnwK-ArbR/Bearbeiter) Isenhardt, Relative Tariffähigkeit, 2007 Isensee (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 3. Aufl. 2009 Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, 1999 Jacobs/Krause/Oetker, Tarifvertragsrecht, 2007 Jauernig, Bürgerliches Gesetzbuch mit Allgemeinem Gleichbehandlungsgesetz (Auszug), 13. Aufl. 2009 Jung, Die Unabhängigkeit als konstitutives Element im Koalitions- und Tarifvertragsrecht, 1999 Kallmeyer, Umwandlungsgesetz, 4. Aufl. 2010 Kempen/Zachert, Tarifvertragsgesetz, 4. Aufl. 2006 Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, 1990 Kissel, Arbeitskampfrecht, 2002 Kittner, Arbeitskampf. Geschichte, Recht Gegenwart, 2005 Kittner/Zwanziger/Deinert, Arbeitsrecht, Handbuch für die Praxis, 6. Aufl. 2011

XXIV

Allgemeines Literaturverzeichnis Koberski/Clasen/Menzel, Tarifvertragsgesetz, Loseblatt Küttner, Personalbuch 2012, 19. Auflage 2012 Löwisch/Kaiser, Kommentar zum Betriebsverfassungsgesetz, 6. Aufl. 2010 Löwisch/Rieble, Tarifvertragsgesetz, 2. Aufl. 2004 Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand: 60. Ergänzungslieferung, 2010 Moll, Der Tarifvorrang im Betriebsverfassungsgesetz, 1980 Moll, Münchener Anwaltshandbuch Arbeitsrecht, 2. Aufl. 2009 Müller, Die Tarifautonomie in der Bundesrepublik Deutschland, 1990 v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, 6. Aufl. 2012 Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2009 (zit.: MünchArbR/Bearbeiter) Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 1, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2006 Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 2, Schuldrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2007 Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 5, Schuldrecht, Besonderer Teil III, 5. Aufl. 2009 Nikisch, Arbeitsrecht Bd. 2, 2. Aufl. 1959 Ossenbühl/Cornils, Tarifautonomie und staatliche Gesetzgebung, 2000 Otto, Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, 2006 Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 71. Aufl. 2012 Picker, Tarifautonomie in der deutschen Arbeitsverfassung, 2000 Preis, Arbeitsrecht, Kollektivarbeitsrecht, 3. Aufl. 2012 Preis, Der Arbeitsvertrag, 3. Aufl. 2009 Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, 1993 Preis/Thüsing, Tarifpluralität als Aufgabe des Gesetzgebers, 2011 Reichel/Ansey, Tarifvertragsgesetz, 1989 Richardi, Betriebsverfassungsgesetz, 13. Aufl. 2012 Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche, 5. Aufl. 2009 Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille bei der Gestaltung des Arbeitsverhältnisses, 1968 Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, 1996 Sachs, Grundgesetz, 5. Aufl. 2009 Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, 1992 Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 14. Aufl. 2011 Schliemann, ArbZG, Kommentar, 2008

XXV

Allgemeines Literaturverzeichnis Schmidt-Bleibtreu, Kommentar zum Grundgesetz, 12. Aufl. 2011 Schwab/Weth, ArbGG, 3. Aufl. 2011 Sinzheimer, Ein Arbeitstarifgesetz, 1916 Sittard, Voraussetzungen und Wirkungen der Tarifnormerstreckung nach § 5 TVG und dem AEntG, 2010 Soergel, Bürgerliches Gesetzbuch, Band 1/1, §§ 1–103 BGB, 13. Aufl. 2000; Band 5/1, §§ 705–822 BGB, 12. Aufl. 2007 Staudinger, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Buch 1, Allgemeiner Teil, §§ 21–79 (Allgemeiner Teil 2), Neubearbeitung 2005; Buch 2, Recht der Schuldverhältnisse, §§ 611–613 (Dienstvertragsrecht 1), Neubearbeitung 2011 Stein, Tarifvertragsrecht, 1997 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band IV/1, 2006 Stoffels, AGB-Recht, 2. Aufl. 2009 Thüsing, AEntG, 2010 Thüsing, AGB-Kontrolle im Arbeitsrecht, 2007 Thüsing/Braun, Tarifrecht, 2011 D. Ulber, Tarifdispositives Gesetzesrecht im Spannungsfeld von Tarifautonomie und grundrechtlichen Schutzpflichten, 2010 J. Ulber, AÜG – Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, 4. Aufl. 2011 Waas, Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität, 1999 Graf v. Westphalen/Thüsing, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, Stand: 3/2012 Wiedemann, Tarifvertragsgesetz, 7. Aufl. 2007 Wieland, Recht der Firmentarifverträge, 1998 Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 4. Aufl. 2011 (zit.: WHSS/Bearbeiter) Witt, Der Firmentarifvertrag, 2004 Wlotzke, Das Günstigkeitsprinzip im Verhältnis des Tarifvertrages zum Einzelarbeitsvertrag und zur Betriebsvereinbarung, 1957 Wlotzke/Preis/Kreft, Betriebsverfassungsgesetz, 4. Aufl. 2009 (zit.: WPK/Bearbeiter) Ziepke/Weiss, Kommentar zum MTV Metall NRW, 4. Aufl. 1998 Zöllner/Loritz/Hergenröder, Arbeitsrecht, 6. Aufl. 2008 Zöllner/Seiter, Paritätische Mitbestimmung und Art. 9 GG, 1970

XXVI

Abkürzungsverzeichnis a.A. ABl. abl. Abs. a.E. AEntG AEUV a.F. AG AGB AGG AiB AktG a.M. AMP Anh. Anm. AP ArbG ArbGG AR-Blattei ArbNErfG ArbPlSchG ArbRB ArbRGegw. ArbSchG ArbStättVO ArbuR ArbZG ARST Art. ASiG ATZG AuA AÜG AVE AVR AZO

anderer Ansicht Amtsblatt ablehnend Absatz am Ende Arbeitnehmer-Entsendegesetz Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union alte Fassung Aktiengesellschaft; Amtsgericht Allgemeine Geschäftsbedingungen Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz Arbeitsrecht im Betrieb (Zeitschrift) Aktiengesetz anderer Meinung Arbeitgeberverband Mittelständischer Personaldienstleister Anhang Anmerkung Arbeitsrechtliche Praxis Arbeitsgericht Arbeitsgerichtsgesetz Arbeitsrechtsblattei Gesetz über Arbeitnehmererfindungen Arbeitsplatzschutzgesetz Der Arbeits-Rechts-Berater (Zeitschrift) Arbeitsrecht der Gegenwart Arbeitsschutzgesetz Verordnung über Arbeitsstätten Arbeit und Recht (Zeitschrift) Arbeitszeitgesetz Arbeitsrecht in Stichworten Artikel Arbeitssicherheitsgesetz Altersteilzeitgesetz Arbeit und Arbeitsrecht (Zeitschrift) Arbeitnehmerüberlassungsgesetz Allgemeinverbindlicherklärung Arbeitsvertragsrichtlinien Arbeitszeitordnung

BA BAG BAGE

Bundesagentur für Arbeit Bundesarbeitsgericht Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts Bundesanzeiger

BAnz.

XXVII

Abkürzungsverzeichnis BArbBl. BAT BayObLG BB BBiG Bd. BDSG BEEG Beil. bej. BetrAVG BetrVG BETV BFH BGB BGBl. BGH BGHZ BlStSozArbR BMAS BPersVG BR-Drucks. BRTV Bau BSchGO BSG BStBl. BT-Drucks. BUrlG BuW BVerfG BVerfGE BVerwG BZA

Bundesarbeitsblatt Bundesangestelltentarifvertrag Bayerisches Oberstes Landesgericht Der Betriebs-Berater (Zeitschrift) Berufsbildungsgesetz Band Bundesdatenschutzgesetz Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz Beilage bejahend Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung Betriebsverfassungsgesetz Bundesentgelttarifvertrag Bundesfinanzhof Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Blätter für Steuerrecht, Sozialversicherung und Arbeitsrecht Bundesministerium für Arbeit und Soziales Bundespersonalvertretungsgesetz Bundesrats-Drucksache Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe Bühnenschiedsgerichtsordnung Bundessozialgericht Bundessteuerblatt Bundestags-Drucksache Bundesurlaubsgesetz Betrieb und Wirtschaft (Zeitschrift) Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht Bundesverband Zeitarbeit Personal-Dienstleistungen e.V.

CGM CGZP

Christliche Gewerkschaft Metall Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen

DB DEVO DGB DrittelbG Drucks. DStR DVO DWW

Der Betrieb (Zeitschrift) Datenerfassungsverordnung Deutscher Gewerkschaftsbund Drittelbeteiligungsgesetz Drucksache Deutsches Steuerrecht (Zeitschrift) Durchführungsverordnung Deutsche Wohnungswirtschaft (Zeitschrift)

XXVIII

Abkürzungsverzeichnis EBRG EFZG EG EGBGB Einl. Einls. EMTV ERA ERTV EStG EU EuGH EuGRZ EUV EuZW EzA

Gesetz über Europäische Betriebsräte Entgeltfortzahlungsgesetz Europäische Gemeinschaft Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch Einleitung Einleitungssatz Einheitlicher Manteltarifvertrag für die Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalen Entgeltrahmenabkommen Entgeltrahmentarifvertrag Einkommensteuergesetz Europäische Union Europäischer Gerichtshof Europäische Grundrechte-Zeitschrift Vertrag über die Europäische Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Entscheidungssammlung zum Arbeitsrecht

FA f., ff. FG FlRG Fn. FS

Fachanwalt Arbeitsrecht (Zeitschrift) folgende(r); fortfolgende Finanzgericht Flaggenrechtsgesetz Fußnote Festschrift

GBl. gem. GemSOGB GenG GewArch GewO GG GK GmbH GmbHG GNBZ GrCh GS GVBl. GVG

Gesetzblatt gemäß Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes Genossenschaftsgesetz Gewerbearchiv (Zeitschrift) Gewerbeordnung Grundgesetz Gemeinschaftskommentar Gesellschaft mit beschränkter Haftung GmbH-Gesetz Gewerkschaft der Neuen Brief- und Zustelldienste Grundrechte-Charta Großer Senat; Gedächtnisschrift Gesetz-und Verordnungsblatt Gerichtsverfassungsgesetz

HAG Halbs. HGB h.L. h.M. HwB-AR

Heimarbeitsgesetz Halbsatz Handelsgesetzbuch herrschende Lehre herrschende Meinung Handwörterbuch zum Arbeitsrecht

XXIX

Abkürzungsverzeichnis HzA

Handbuch zum Arbeitsrecht

i.e.S. iGZ InsO IPRax i.S. i.S.d. i.S.v. i.V.m.

im engeren Sinne Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen e.V. Insolvenzordnung Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts (Zeitschrift) im Sinne im Sinne des/der im Sinne von in Verbindung mit

JArbSchG JZ

Jugendarbeitsschutzgesetz Juristenzeitung

Kap. KAPOVAZ KG KGaA KSchG

Kapitel Kapazitätsorientierte variable Arbeitszeit Kammergericht; Kommanditgesellschaft Kommanditgesellschaft auf Aktien Kündigungsschutzgesetz

LAG LAGE LG Ls. LSG LStR lt.

Landesarbeitsgericht Entscheidungen der Landesarbeitsgerichte Landgericht Leitsatz Landessozialgericht Lohnsteuerrichtlinien laut

MDR MiArbG MitbestG MitbestErgG MontanMitbestG MTV MünchArbR MuSchG m.w.N.

Monatsschrift für Deutsches Recht (Zeitschrift) Mindestarbeitsbedingungengesetz Mitbestimmungsgesetz Mitbestimmungsergänzungsgesetz Montan-Mitbestimmungsgesetz

NachwG n.F. NJOZ NJW n. rkr. NRW n.v.

Nachweisgesetz neue Fassung Neue Juristische Online-Zeitschrift Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift) nicht rechtskräftig Nordrhein-Westfalen nicht veröffentlicht

XXX

Manteltarifvertrag Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht Mutterschutzgesetz mit weiteren Nachweisen

Abkürzungsverzeichnis NZA NZA-RR NZS

Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht NZA-Rechtsprechungsreport (Zeitschrift) Neue Zeitschrift für Sozialrecht

öAT OHG OLG OLGZ Os. OVG OWiG

Zeitschrift für das öffentliche Arbeits- und Tarifrecht Offene Handelsgesellschaft Oberlandesgericht Entscheidungen der Oberlandesgerichte in Zivilsachen einschließlich der freiwilligen Gerichtsbarkeit Orientierungssatz Oberverwaltungsgericht Gesetz über Ordnungswidrigkeiten

PflegeZG PSVaG

Pflegezeitgesetz Pensions-Sicherungs-Verein auf Gegenseitigkeit

RdA RIW rkr. RL Rspr. Rz. RzK

Recht der Arbeit (Zeitschrift) Recht der internationalen Wirtschaft (Zeitschrift) rechtskräftig Richtlinie Rechtsprechung Randziffer Rechtsprechung zum Kündigungsrecht

S. s. SAE SE SGB SGb SGG SozVers SprAuG SR StE StGB

Seite siehe Sammlung arbeitsrechtlicher Entscheidungen (Zeitschrift) Europäische Aktiengesellschaft Sozialgesetzbuch Die Sozialgerichtsbarkeit (Zeitschrift) Sozialgerichtsgesetz Die Sozialversicherung (Zeitschrift) Sprecherausschussgesetz (BAT) Sonderregelungen Bundesangestelltentarifvertrag Steuer-Eildienst Strafgesetzbuch

TdL TgDRV TV TVG TVGDV TV-L TVöD TVVO TzBfG

Tarifgemeinschaft der Länder Tarifgemeinschaft der gesetzlichen Rentenversicherung Tarifvertrag Tarifvertragsgesetz Durchführungsverordnung zum Tarifvertragsgesetz Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder Tarifvertrag öffentlicher Dienst Tarifvertragsverordnung Teilzeit- und Befristungsgesetz

XXXI

Abkürzungsverzeichnis u.a. UAbs. UmwG UrhG Urt. UVV

und andere; unter anderem Unterabsatz Umwandlungsgesetz Urheberrechtsgesetz Urteil Unfallverhütungsvorschriften

VermBG VersR VO VOBl. VVG

Gesetz zur Förderung der Vermögensbildung der Arbeitnehmer Versicherungsrecht (Zeitschrift) Verordnung Verordnungsblatt Versicherungsvertragsgesetz

WM

Wertpapier-Mitteilungen (Zeitschrift)

ZfA ZfS

Zeitschrift für Arbeitsrecht Zentralblatt für Sozialversicherung, Sozialhilfe und Versorgung (Zeitschrift) Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Zivilprozessordnung Zeitschrift für Tarifrecht zustimmend Zeitschrift für Zivilprozess

ZIP ZPO ZTR zust. ZZP

XXXII

Teil 1 Grundlagen des Tarifvertragsrechts

A. Garantie der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG) . . . . . . . . . . . . . . I. Art. 9 Abs. 3 GG als verfassungsrechtliche Gewährleistung der Tarifautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts – eine Skizze . 2. Von der Koalitionsbildungszur Koalitionsbetätigungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Tarifautonomie als Gegenstand der Koalitionsbetätigungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . .

Rz.

Rz.

1

3. Koalitionspluralität – ein Verfassungsproblem? . . . . . . . . . . . . 21

2 3

6

8

II. Zur dogmatischen Rekonstruktion der Tarifautonomie . . . . . . . . . 9 1. Die fundamentale Unterscheidung von Grundrechtsausgestaltung und -eingriff . . . . . . . 10 2. Zur Grundrechtsrelevanz gesetzgeberischer Aktivitäten im Tarifvertragsrecht . . . . . . . . 12 III. Träger der Koalitionsfreiheit . . . . . 15 1. Zur Lehre vom Doppelgrundrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2. Die Bedeutung des einfachgesetzlichen Koalitionsbegriffs 18

IV. Spielräume und Grenzen gesetzgeberischer Ingerenzen – ausgewählte Problemkonstellationen 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Deregulierung im Tarifvertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität . . . . . . . . . . . . . . . 4. Tariftreueklauseln . . . . . . . . . . .

23 25 28 30

B. Tarifvertrag und höherrangiges Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 I. Grundrechtsbindung . . . . . . . . . . . . 33 II. Gemeinwohlbindung . . . . . . . . . . . 35 III. Bindung an europäisches Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 IV. Normsetzungsmonopol der Koalitionen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 1. Grundrechtsdogmatische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2. Zum Diskurs über Mindestlöhne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

A. Garantie der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG) Literatur: Band, Tarifkonkurrenz, Tarifpluralität und der Grundsatz der Tarifeinheit, 2003; Bayreuther, Gewerkschaftspluralismus im Spiegel der aktuellen Rechtsprechung – Abschied vom „Einheitstarifvertrag“?, BB 2005, 2633; Becker, Kooperative und konsensuale Strukturen in der Normsetzung, 2005; Bieback, Neue Strukturen der Koalitionsfreiheit?, AuR 2000, 201; Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, 1964; Birk, Die Tarifautonomie in rechtsvergleichender Sicht, RdA 1995, 71; Bruhn, Tarifeinheit im Betrieb als Eingriff in die Koalitionsfreiheit, 1997; Buchner, Tarifverträge im Wettbewerb?, ZfA 2004, 229; Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, 2006; Butzer, Verfassungsrechtliche Grundlagen zum Verhältnis zwischen Gesetzgebungshoheit und Tarifautonomie, RdA 1994, 375; Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2004; Dieterich, Betriebliche Bündnisse für Arbeit und Tarifautonomie, DB 2001, 2398; Dieterich, Flexibilisiertes Tarifrecht und Grundgesetz, RdA 2002, 1; Dieterich, Koalitionswettbewerb – Nutzung der Freiheit oder Störung der Ordnung?, in: Dieterich (Hrsg.), Individuelle und kollektive Freiheit im Arbeitsrecht, Gedächtnisschrift für Ulrich Zachert, 2010, S. 532; Dieterich, Tarifautonomie und Bundesverfassungsgericht, AuR 2001, 390; Diete-

Höfling/Engels

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1

Teil 1

Grundlagen des Tarifvertragsrechts

rich/Hanau/Henssler/Oetker/Wank/Wiedemann, Empfehlungen zur Entwicklung des Tarifvertragsrechts, RdA 2004, 65; Dorndorf, Das Verhältnis von Tarifautonomie und individueller Freiheit als Problem dogmatischer Theorie, in: Heinze (Hrsg.), Arbeitsrecht in der Bewährung, Festschrift für Otto Rudolf Kissel zum 65. Geburtstag, 1994, S. 139; Döttger, Der Schutz tariflicher Normsetzung, 2003; Ehmann, Empfiehlt es sich, die Regelungsbefugnisse der Tarifparteien im Verhältnis zu den Betriebsparteien zu ordnen?, ZRP 1996, 314; Ehmann/Schmidt, Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge, NZA 1995, 193; Franzen, Tarifrechtssystem und Gewerkschaftswettbewerb – Überlegungen zur Flexibilisierung des Flächentarifvertrags, RdA 2001, 1; Freihube, Probleme der Tarifbindung in der Unternehmenskrise, 2001; Friauf, Die verfassungsrechtlichen Vorgaben einer gesetzlichen oder tarifvertraglichen Arbeitskampfordnung, RdA 1986, 188; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, 2000; Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, 2002; Hanau, Der Tarifvertrag in der Krise, RdA 1998, 65; Hanau, Die Deregulierung von Tarifverträgen durch Betriebsvereinbarungen als Problem der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG), RdA 1993, 1; Hanau, Ordnung und Vielfalt von Tarifverträgen und Arbeitskämpfen im Betrieb, RdA 2008, 98; Hanau, Verbands-, Tarif- und Gerichtspluralismus, NZA 2003, 128; Hanau, Wege zu einer beschäftigungsorientierten Arbeitsmarktordnung: Spannungsverhältnis Individualvertrag, Betriebsvereinbarung, Tarifvertrag, in: Wank (Hrsg.), Festschrift für Herbert Wiedemann zum 70. Geburtstag, 2002, S. 283; Hanau/Thüsing, Tarifverträge zur Beschäftigungssicherung, ZTR 2001, 1, 49; Heinze, Anforderungen an einen zukunftsfähigen Flächentarifvertrag – Brauchen wir ein neues Tarifrecht?, in: Goos (Hrsg.), Arbeitsrecht im Strukturwandel, Festschrift für Karl Weinspach, 2002, S. 103; Heinze, Gibt es eine Alternative zur Tarifautonomie?, DB 1996, 729; Heinze, Kollektive Arbeitsbedingungen im Spannungsfeld zwischen Tarifund Betriebsautonomie, NZA 1995, 5; Heinze, Zur Reform des Flächentarifvertrages, in: Hönn (Hrsg.), Festschrift für Alfons Kraft zum 70. Geburtstag, 1998, S. 205; Heise, Günstigkeitsprinzip und betriebliche Bündnisse für Arbeit, in: Oetker (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, 2004, S. 657; Henssler, Flexibilisierung der Arbeitsmarktordnung, ZfA 1994, 487; Henssler, Tarifautonomie und Gesetzgebung, ZfA 1998, 1; Höfling, Der verfassungsrechtliche Koalitionsbegriff, RdA 1999, 182; Höfling, Grundelemente einer Bereichsdogmatik der Koalitionsfreiheit – Kritik und Reformulierung der sog. Kernbereichslehre, in: Wendt (Hrsg.), Staat, Wirtschaft, Steuern, Festschrift für Karl Heinrich Friauf zum 65. Geburtstag, 1996, S. 377; Höfling, Streikbewehrte Forderung nach Abschluss von Tarifsozialplänen anlässlich konkreter Standortentscheidungen – Eine verfassungsrechtliche Kritik der arbeitsrechtlichen Judikatur, ZfA 2008, 1; Höfling, Vertragsfreiheit, 1991; Höfling/Burkiczak, Das Günstigkeitsprinzip – ein grundrechtsdogmatischer Zwischenruf, NJW 2005, 469; Höfling/Burkiczak, Die unmittelbare Drittwirkung gemäß Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG, RdA 2004, 263; Hromadka, Bündnisse für Arbeit – Angriff auf die Tarifautonomie?, DB 2003, 42; Hromadka, Mehr Flexibilität für die Betriebe – Ein Gesetzesvorschlag, NZA 1996, 1233; Isensee, Die verfassungsrechtliche Verankerung der Tarifautonomie, in: Freudenfeld (Hrsg.), Die Zukunft der sozialen Partnerschaft, 1986, S. 159; Jarass, Tarifverträge und Verfassungsrecht, NZA 1990, 505; Junker, Der Flächentarifvertrag im Spannungsverhältnis von Tarifautonomie und betrieblicher Regelung, ZfA 1996, 383; Kamanabrou, Die Auslegung tarifvertraglicher Entgeltfortzahlungsklauseln – zugleich ein Beitrag zum Verhältnis der Tarifautonomie zu zwingenden Gesetzen, RdA 1997, 22; Kamanabrou, Die „Tarifeinheit“ der Koalitionsfreiheit, in: Maschmann (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Hromadka zum 70. Geburtstag, 2008, S. 176; Kempen, Betriebsverfassung und Tarifvertrag, RdA 1994, 140; Kirchhof, Private Rechtsetzung, 1987; Kissel, Das Spannungsfeld zwischen Betriebsvereinbarung und Tarifvertrag, NZA 1986, 73; Konzen, Die Tarifautonomie zwischen Akzeptanz und Kritik, NZA 1995, 913; Konzen, Grundlagen und Grenzen des vorbeugenden Rechtsschutzes, in: Heinze (Hrsg.), Arbeitsrecht in der Bewährung, Festschrift für Otto Rudolf Kissel zum 65. Geburtstag, 1994, S. 571; Kühling/Bertelsmann, Tarifautonomie und Unternehmerfreiheit, NZA 2005, 1017; Ladeur, Methodische Überlegungen zur gesetzlichen „Ausgestaltung“ der Koalitionsfreiheit, AöR 131 (2006), 643; Lambrich, Tarif- und Betriebsautonomie, 1999; Lieb, Mehr Flexibilität im Tarifvertragsrecht? „Moderne“ Tendenzen

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Garantie der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG)

Teil 1

auf dem Prüfstand, NZA 1994, 289, 337; Lieb, Skandal oder Signal? Zur Problematik tarifwidriger Betriebsvereinbarungen, in: Hönn (Hrsg.), Festschrift für Alfons Kraft zum 70. Geburtstag, 1998, S. 343; Löwisch, Beschäftigungssicherung als Gegenstand betrieblicher und tariflicher Regelungen und von Arbeitskämpfen, DB 2005, 554; Löwisch, Die Voraussetzungen der Tariffähigkeit, ZfA 1970, 295; Löwisch, Neuabgrenzung von Tarifvertragssystem und Betriebsverfassung, JZ 1996, 812; Löwisch, Tariföffnung bei Unternehmensund Arbeitsplatzgefährdung, NJW 1997, 905; Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988; Mager, Einrichtungsgarantien, 2001; Möschel, Tarifautonomie – ein überholtes Ordnungsmodell?, in: Zohlnhöfer (Hrsg.), Die Tarifautonomie auf dem Prüfstand, 1996, S. 11; Papier, Der verfassungsrechtliche Rahmen für Privatautonomie im Arbeitsrecht, RdA 1989, 137; Picker, Tarifmacht und tarifvertragliche Arbeitsmarktpolitik, ZfA 1998, 573; Pieroth, Koalitionsfreiheit, Tarifautonomie und Mitbestimmung, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. II, 2001, S. 293; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003; Raab, Betriebliche Bündnisse für Arbeit – Königsweg aus der Beschäftigungskrise?, ZfA 2004, 371; Reuter, Betriebsverfassung und Tarifvertrag, RdA 1994, 152; Reuter, Das Verhältnis von Individualautonomie, Betriebsautonomie und Tarifautonomie, RdA 1991, 193; Reuter, Möglichkeiten und Grenzen einer Auflockerung des Tarifkartells, ZfA 1995, 1; Richardi, Empfiehlt es sich die Regelungsbefugnisse der Tarifparteien im Verhältnis zu den Betriebsparteien neu zu ordnen? Gutachten B zum 61. Deutschen Juristentag, in: Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 61. Deutschen Juristentages, Bd. I, 1996; Richardi, Koalitionsfreiheit und Tariffähigkeit, in: Kohte (Hrsg.), Arbeitsrecht im sozialen Dialog, Festschrift für Hellmut Wißmann zum 65. Geburtstag, 2005, S. 159; Richardi, Welche Folgen hätte die Aufhebung des Tarifvorbehalts (§ 77 III BetrVG)?, NZA 2000, 617; Richardi, Gestaltungsformen der Tarifautonomie, JZ 2011, 282; Rieble, Krise des Flächentarifvertrages? Herausforderungen für das Tarifrecht, in: Otto-Brenner-Stiftung (Hrsg.), Krise des Flächentarifvertrages, 1996, S. 11; Rieble, Relativität der Tariffähigkeit, in: Wank (Hrsg.), Festschrift für Herbert Wiedemann zum 70. Geburtstag, 2002, S. 519; Rieble, Tarifvertrag und Beschäftigung, ZfA 2004, 1; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001; Rupp, Methodenkritische Bemerkungen zum Verhältnis von tarifvertraglicher Rechtsetzung und parlamentarischer Gesetzgebungskompetenz, JZ 1998, 919; Schaub, Wege und Irrwege aus dem Flächentarifvertrag, NZA 1998, 617; Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971; Sels, Zwingende gesetzliche Eingriffe in bestehende Tarifverträge und das gesetzliche Verbot zukünftiger tarifvertraglicher Regelungen, 2001; Sodan, Verfassungsrechtliche Grenzen der Tarifautonomie, JZ 1998, 421; Söllner, Grenzen des Tarifvertrags, NZA 1996, 897; Thüsing, Tarifautonomie und Gemeinwohl, in: Oetker (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, 2004, S. 889; Thüsing, Vom verfassungsrechtlichen Schutz des Günstigkeitsprinzips, in: Söllner (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Meinhard Heinze, 2005, S. 901; Volkmann, Tarifautonomie in der Bundesrepublik Deutschland, in: Britz/Volkmann, Tarifautonomie in Deutschland und Europa, 2003, S. 1; Walker, Möglichkeiten und Grenzen einer flexibleren Gestaltung von Arbeitsbedingungen, ZfA 1996, 353; Waltermann, Zu den Grundlagen der Rechtsetzung durch Tarifvertrag, in: Köbler (Hrsg.), Europas universale rechtsordnungspolitische Aufgabe im Recht des dritten Jahrtausends, Festschrift für Alfred Söllner zum 70. Geburtstag, 2000, S. 1251; Waltermann, Zu den Grundlagen der Tarifautonomie, ZfA 2000, 53; Waltermann, Zuständigkeiten und Regelungsbefugnisse im Spannungsfeld von Tarifautonomie und Betriebsautonomie, RdA 1996, 129; Wank, Zur Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG, JZ 1996, 629; Wiedemann, Tarifautonomie und staatliches Gesetz, in: Fahrtmann (Hrsg.), Arbeitsgesetzgebung und Arbeitsrechtsprechung, Festschrift zum 70. Geburtstag von Eugen Stahlhacke, 1995, S. 675; Wiese, Individuum und Kollektiv im Recht der Koalitionen, ZfA 2008, 317; Wolter, Richtungswechsel im Tarifvertragsrecht – Betriebliche Bündnisse für Arbeit und Tarifvorrang, NZA 2003, 1317; Wolter, Standortsicherung, Beschäftigungssicherung, Unternehmensautonomie, Tarifautonomie, RdA 2002, 218; Zöllner, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht zu Artikel 9 Abs. 3 GG, AöR 98 (1973), 71.

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Teil 1 Rz. 1 1

Grundlagen des Tarifvertragsrechts

Der inter- und intradisziplinäre Diskurs1 über die Tarifautonomie wird in der jüngeren Vergangenheit verstärkt mit Forderungen nach Deregulierung und Flexibilisierung des tarifvertraglichen Systems konfrontiert2. Der These, die Tarifautonomie sei eine Erfolgsgeschichte3, werden Schwächen4 des und Alternativen5 zum überkommenen tarifvertraglichen System entgegnet; die Behauptung, die Tarifautonomie sei ein existentielles Gut, das nicht ausgehöhlt werden dürfe6, sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, die exegetischen Bemühungen im Kontext der Tarifautonomie perpetuierten einen konturenlosen Mythos der Unantastbarkeit7. Auch die arbeitsrechtliche Disziplin attestiert der Tarifautonomie, unter den Druck neoliberaler Kritik geraten zu sein8, die eine Krise des tarifvertraglichen Systems9 ausgelöst habe10.

I. Art. 9 Abs. 3 GG als verfassungsrechtliche Gewährleistung der Tarifautonomie 2

Angesichts der Diversifizierung auch der arbeitsrechtlichen Disziplin vermag kaum zu überraschen, dass oftmals verfassungsrechtliche Aspekte bemüht werden, um scheinbar unerschütterliche Argumentationslinien zu begründen11. Namentlich die Bezugnahme auf das Grundrecht der Koalitionsfreiheit verwechselt indes nicht selten politische Wünschbarkeiten mit verfassungsrechtlichen Gewissheiten12.

1. Die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts – eine Skizze 3

Die verfassungsrechtliche Mediatisierung des Diskurses wurde dabei nicht zuletzt durch die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts befördert. Das Bundes1 Vgl. dazu nur Fischer, ZfA 2002, 215 ff. 2 Eingehend Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 80 ff.; vgl. dazu auch Hanau, RdA 1993, 1 ff.; Reuter, ZfA 1995, 1 ff.; Dieterich, RdA 2002, 1 ff.; ferner Hromadka, NZA 1996, 1233 (1239); Hromadka, DB 2003, 42 (46 f.); Löwisch, NJW 1997, 905 (911). 3 Vgl. Dieterich, DB 2001, 2398 ff.; siehe auch Gamillscheg, Die Grundrechte im Arbeitsrecht, S. 99; kritisch zu Deregulierungs- und Flexibilisierungsbestrebungen ferner Dieterich/Hanau/Henssler/Oetker/Wank/Wiedemann, RdA 2004, 65 (69 ff.); Junker, ZfA 1996, 383 ff.; Lieb, NZA 1994, 289 ff., 337 ff.; Löwisch, JZ 1996, 812 (818 ff.); Walker, ZfA 1996, 353 ff.; Waltermann, RdA 1996, 129 ff. 4 Adomeit, NJW 2000, 1918 f. 5 Vgl. Heinze, DB 1996, 729 (733). 6 Dorndorf, FS Kissel, 1994, S. 139 ff.; ähnlich Kissel, NZA 1986, 73 (74). 7 Henssler, ZfA 1998, 1 (17). 8 Dieterich, AuR 2001, 390 ff.; vgl. auch Rieble in Otto-Brenner-Stiftung (Hrsg.), Krise des Flächentarifvertrages, S. 11 (11); Volkmann in Britz/Volkmann, S. 1 (2). 9 Vgl. etwa Buchner, NZA 1995, 761 ff.; Ehmann/Schmidt, NZA 1995, 193 ff.; Ehmann, ZRP 1996, 314 ff.; Franz/Rüthers, RdA 1999, 32 ff.; ferner auch Engel, VVDStRL 59 (2000), 56 (65 f., 83 ff.). 10 Siehe Heinze, NZA 1997, 1 (7); Heinze, FS Kraft, 1998, S. 205 ff. 11 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 19; ähnlich schon Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, 1967, S. 21. 12 Vgl. Buchner in Löw (Hrsg.), 25 Jahre Grundgesetz, 1974, S. 5 ff.; ähnlich auch Friauf, RdA 1986, 188 (189), der eine weitreichende Vernachlässigung des Art. 9 Abs. 3 GG durch die verfassungsrechtliche Disziplin konstatiert.

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Garantie der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG)

Rz. 4 Teil 1

verfassungsgericht formulierte schon früh die These, die Tarifautonomie sei Schutzgegenstand der Koalitionsfreiheit: Da Art. 9 Abs. 3 GG den Zusammenschluss zu einem bestimmten Zweck betreffe – nämlich die Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen –, impliziere die Koalitionsfreiheit die Befugnis, auf die Gestaltung der Löhne und Arbeitsbedingungen Einfluss zu nehmen und Gesamtvereinbarungen in Form von TVen mit Normativcharakter und Unabdingbarkeit abzuschließen. Der historisch gewachsene Sinn der Koalitionsfreiheit gebiete einen verfassungsrechtlich geschützten Kernbereich1, der zur staatlichen Bereitstellung eines von frei gebildeten Koalitionen getragenen TVSystems anhalte2. Nachfolgend präzisierte das Bundesverfassungsgericht die Befugnis, auf die Gestaltung der Löhne und Arbeitsbedingungen Einfluss zu nehmen, mit der allgemeinen Formel, dass die Koalitionsfreiheit das Recht gewährleiste, durch spezifisch koalitionsmäßige Betätigung3 die in Art. 9 Abs. 3 GG benannten Ziele zu erfüllen, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen unerlässlich4 seien5. Das Bundesverfassungsgericht hob zugleich hervor, dass TVe das überkommene Mittel seien, das die Koalitionen zur Bestimmung namentlich von Löhnen und Gehältern befähige; die der Koalitionsfreiheit immanente Tarifautonomie verfolge den im öffentlichen Interesse liegenden Zweck, in einem von staatlicher Rechtsetzung freigelassenen Raum das Arbeitsleben durch TVe sinnvoll zu ordnen6. Relativierend konstatierte das Bundesverfassungsgericht allerdings, dass ungeachtet der verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Tarifautonomie Art. 9 Abs. 3 GG lediglich einen Kernbereich des TV-Systems schütze, der einen weiten legislativen Spielraum zur Ausgestaltung der Tarifautonomie und zur sach1 Dazu auch BVerfG v. 30.11.1965 – 2 BvR 54/62, BVerfGE 19, 303 (321 f.); BVerfG v. 19.10.1966 – 1 BvL 24/65, BVerfGE 20, 312 (317); BVerfG v. 26.5.1970 – 2 BvR 664/65, BVerfGE 28, 295 (303, 305); BVerfG v. 26.5.1970 – 2 BvR 686/65, BVerfGE 28, 310 (313); BVerfG v. 18.12.1974 – 1 BvR 430/65, 1 BvR 259/66, BVerfGE 38, 281 (305); BVerfG v. 19.2.1975 – 1 BvR 418/71, BVerfGE 38, 386 (393); BVerfG v. 28.4.1976 – 1 BvR 71/73, BVerfGE 42, 133 (139); BVerfG v. 1.10.1987 – 2 BvR 1178/86, 2 BvR 1179/86, 2 BvR 1191/86, BVerfGE 77, 1 (63); BVerfG v. 26.6.1991 – 1 BvR 779/85, BVerfGE 84, 212 (228). 2 BVerfG v. 18.11.1954 – 1 BvR 629/52, BVerfGE 4, 96 (106 ff.). 3 Dazu auch BVerfG v. 6.5.1964 – 1 BvR 79/62, BVerfGE 18, 18 (26); BVerfG v. 30.11.1965 – 2 BvR 54/62, BVerfGE 19, 303 (312); BVerfG v. 19.10.1966 – 1 BvL 24/65, BVerfGE 20, 312 (320); BVerfG v. 26.5.1970 – 2 BvR 664/65, BVerfGE 28, 295 (304); BVerfG v. 28.4.1976 – 1 BvR 71/73, BVerfGE 42, 133 (138); BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (345); BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, BVerfGE 50, 290 (367); BVerfG v. 15.7.1980 – 1 BvR 24/74, 1 BvR 439/79, BVerfGE 55, 7 (21); BVerfG v. 7. 4.1981 – 2 BvR 446/80, BVerfGE 57, 29 (37); BVerfG v. 17.02.1981 – 2 BvR 384/78, BVerfGE 57, 220 (245); BVerfG v. 20.10.1981 – 1 BvR 404/78, BVerfGE 58, 233 (246); BVerfG v. 23.4.1986 – 2 BvR 487/80, BVerfGE 73, 261 (270); BVerfG v. 4.7.1995 – 1 BvF 2/86, 1 BvF 1/87, 1 BvF 2/87, 1 BvF 3/87, 1 BvF 4/87, 1 BvR 1421/86, BVerfGE 92, 365 (393). 4 Siehe dazu auch BVerfG v. 26.5.1970 – 2 BvR 664/65, BVerfGE 28, 295 (304); BVerfG v. 18.12.1974 – 1 BvR 430/65, 1 BvR 259/66, BVerfGE 38, 281 (305); BVerfG v. 17.2.1981 – 2 BvR 384/78, BVerfGE 57, 220 (246). 5 BVerfG v. 14.4.1964 – 2 BvR 69/62, BVerfGE 17, 319 (333, 335). 6 Vgl. BVerfG v. 6.5.1964 – 1 BvR 79/62, BVerfGE 18, 18 (26 ff.); ähnlich BVerfG v. 26.5.1970 – 2 BvR 664/65, BVerfGE 28, 295 (304 f.).

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Teil 1 Rz. 4

Grundlagen des Tarifvertragsrechts

gerechten Fortbildung des TV-Systems eröffne. Eine Grenze finde diese Gestaltungsbefugnis lediglich in der Funktionsfähigkeit einer selbstverantwortlichen und paritätischen1 Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen2. Die Koalitionsfreiheit garantiert danach nicht die spezifische Ausprägung, die das TV-System in dem zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Grundgesetzes geltenden Tarifvertragsgesetz erhalten hat3. Obschon das Bundesverfassungsgericht anerkannte, dass die Koalitionsfreiheit – Art. 9 Abs. 3 GG gewährleiste die Tätigkeit der Koalitionen nicht schrankenlos – im Wege der Ausgestaltung spezifischer Befugnisse präzisiert werden könne, wurden die Grenzen der Gestaltungsfreiheit zudem nicht länger mit dem Topos der Unerlässlichkeit beschrieben; vielmehr durften nach der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts dem Betätigungsrecht der Koalitionen nur solche Schranken gezogen werden, die zum Schutz widerstreitender Rechtspositionen geboten seien4. Ungeachtet der abweichenden Konturierung der Koalitionsfreiheit betonte das Bundesverfassungsgericht allerdings regelmäßig den Stellenwert der Tarifautonomie, die einer sachgerechten5 Versöhnung widerstreitender Interessen diene und angesichts der Zurücknahme staatlicher Regulierung eine Entscheidung zugunsten eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates widerspiegele6. Auf der Grundlage der im öffentlichen Interesse liegenden Aufgabe der Koalitionsfreiheit, Löhne und sonstige materielle Arbeitsbedingungen in eigener Verantwortung und ohne staatliche Einflussnahme zu ordnen, sei den Koalitionen mit den Bestimmungen des TVG das Mittel des TVes eingeräumt worden, um die von Art. 9 Abs. 3 GG intendierte Ordnung des Arbeitslebens verwirklichen zu können7. Gleichwohl betonte das Bundesverfassungsgericht, dass Art. 9 Abs. 3 GG nicht neben dem TV liegende Formen einer sinnvollen Ordnung und Befriedung des Arbeitslebens ausschließe8.

1 BVerfG v. 4.7.1995 – 1 BvF 2/86, 1 BvF 1/87, 1 BvF 2/87, 1 BvF 3/87, 1 BvF 4/87, 1 BvR 1421/86, BVerfGE 92, 365 (395 f.); vgl. auch BVerfG v. 26.6.1991 – 1 BvR 779/85, BVerfGE 84, 212 (229). 2 BVerfG v. 4.7.1995 – 1 BvF 2/86, 1 BvF 1/87, 1 BvF 2/87, 1 BvF 3/87, 1 BvF 4/87, 1 BvR 1421/86, BVerfGE 92, 365 (394); vgl. zuvor BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, BVerfGE 50, 290 (367). 3 BVerfG v. 19.10.1966 – 1 BvL 24/65, BVerfGE 20, 312 (317); ferner BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, BVerfGE 50, 290 (367, 369); ähnlich BVerfG v. 4.7.1995 – 1 BvF 2/86, 1 BvF 1/87, 1 BvF 2/87, 1 BvF 3/87, 1 BvF 4/87, 1 BvR 1421/86, BVerfGE 92, 365 (394 f.). 4 BVerfG v. 26.5.1970 – 2 BvR 664/65, BVerfGE 28, 295 (306); siehe auch BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, BVerfGE 50, 290 (369); BVerfG v. 20.10.1981 – 1 BvR 404/78, BVerfGE 58, 233 (247 f.). 5 Vgl. auch BVerfG v. 2.3.1993 – 1 BvR 1213/85, BVerfGE 88, 103 (114). 6 BVerfG v. 27.2.1973 – 2 BvL 27/69, BVerfGE 34, 307 (316 f.); vgl. ferner BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (340 f.), BVerfG v. 10.1.1995 – 1 BvF 1/90, 1 BvR 342/90, 1 BvR 348/90, BVerfG v. 10.1.1995 – 1 BvF 1/90, 1 BvR 342/90, 1 BvR 348/90, BVerfGE 92, 26 (45), BVerfG v. 4.7.1995 – 1 BvF 2/86, 1 BvF 1/87, 1 BvF 2/87, 1 BvF 3/87, 1 BvF 4/87, 1 BvR 1421/86, BVerfGE 92, 365 (395). 7 BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (340 f.). 8 BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, BVerfGE 50, 290 (371 f.).

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Garantie der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG)

Rz. 6 Teil 1

Auch die in der Judikatur gefundene Formulierung, Art. 9 Abs. 3 GG gewährleiste in erster Linie ein Freiheitsrecht1, bedeutete schließlich keine Abkehr von der Annahme, die Koalitionsfreiheit bedürfe der Ausgestaltung2. Das Bundesverfassungsgericht stellte vielmehr heraus, dass nicht nur die Bereitstellung von Rechtsinstituten und Normkomplexen unabdingbare Voraussetzung einer Ausübung der Koalitionsfreiheit sei; auch die Vielzahl der von der Ausübung der Koalitionsfreiheit berührten Belange mache vielfältige gesetzliche Regelungen notwendig, die der Koalitionsfreiheit auch Schranken ziehen könnten3. Dennoch wurde die Bedeutung der Kernbereichsdoktrin in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts „klargestellt“4: Die Koalitionsfreiheit wurde auf alle koalitionsspezifischen Formen der Wahrung und Förderung der Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen erstreckt und der Unerlässlichkeit lediglich Bedeutung im Rahmen der Einschränkung des Art. 9 Abs. 3 GG beigemessen5. Ausgangspunkt der neuen Kernbereichsdoktrin ist dabei, dass die Koalitionsfreiheit die Betätigung der Koalitionen nicht schrankenlos zulasse, sondern Art. 9 Abs. 3 GG der Ausgestaltung zugänglich sei. Der Kernbereich umschreibe daher die verfassungsrechtlichen Grenzen, die den Schutz widerstreitender Rechtspositionen bezweckten und im Rahmen der Ausgestaltung des Art. 9 Abs. 3 GG zu beachten seien6. Der verfassungsrechtliche Schutz sei allerdings nicht für alle koalitionsmäßigen Betätigungen von übereinstimmender Intensität7. Könne eine Materie sachgerecht von den TV-Parteien geregelt werden, müssten die Gründe, die einen Eingriff rechtfertigen, schwergewichtig sein, liege doch Art. 9 Abs. 3 GG das Leitbild eines die widerstreitenden Interessen angemessen zum Ausgleich bringenden Mechanismus zugrunde8.

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2. Von der Koalitionsbildungs- zur Koalitionsbetätigungsfreiheit Die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Tarifautonomie gründet auf der – in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts mit geringem Begründungsaufwand9 konstatierten – Annahme, dass Art. 9 Abs. 3 GG eine Koalitionsbe1 BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, BVerfGE 50, 290 (367); ähnlich BVerfG v. 4.7.1995 – 1 BvF 2/86, 1 BvF 1/87, 1 BvF 2/87, 1 BvF 3/87, 1 BvF 4/87, 1 BvR 1421/86, BVerfGE 92, 365 (393). 2 BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, BVerfGE 50, 290 (368). 3 BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, BVerfGE 50, 290 (368); BVerfG v. 20.10.1981 – 1 BvR 404/78, BVerfGE 58, 233 (247); ferner BVerfG v. 10.1.1995 – 1 BvF 1/90, 1 BvR 342/90, 1 BvR 348/90, BVerfGE 92, 26 (41) mit dem Hinweis, die Regelung von Voraussetzungen für die Wahrnehmung von Freiheitsrechten, namentlich die Regelung der Beziehungen zwischen Repräsentanten widerstreitender Interessen, bedürfe der Ausgestaltung. 4 BVerfG v. 14.11.1995 – 1 BvR 601/92, BVerfGE 93, 352 (360); vgl. auch BVerfG v. 24.2.1999 – 1 BvR 123/93, BVerfGE 100, 214 (222); ferner BVerfG v. 27.4.1999 – 1 BvR 2203/93, 1 BvR 897/95, BVerfGE 100, 271 (282). 5 BVerfG v. 14.11.1995 – 1 BvR 601/92, BVerfGE 93, 352 (358 f.). 6 BVerfG v. 14.11.1995 – 1 BvR 601/92, BVerfGE 93, 352 (358 f.). 7 BVerfG v. 24.4.1996 – 1 BvR 712/86, BVerfGE 94, 268 (284 f.). 8 Vgl. BVerfG v. 24.4.1996 – 1 BvR 712/86, BVerfGE 94, 268 (285). 9 Vgl. Zöllner, AöR 98 (1973), 71 (77); Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 119, 286.

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tätigungsfreiheit gewährleistet1. Obwohl der rechtsquellenhierarchische Vorrang des Verfassungsrechts und dessen Maßstabsfunktion2 namentlich auch das Tarifvertragsrecht nicht ausspart, überschreitet die Deduktion einer Koalitionsbetätigungsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG zunächst nicht die Grenzen zulässiger Grundrechtsexegese3. Allerdings bedarf eine entsprechende Konzeption einer vorrangig teleologischen Argumentation, bleibt doch zumindest der Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG jedenfalls auf den ersten Blick für die Begründung einer Koalitionsbetätigungsfreiheit unergiebig4. Eine Koalitionsbetätigungsfreiheit findet nämlich neben der Koalitionsgründungsfreiheit in Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG keine ausdrückliche Erwähnung5. Des Weiteren kann auch die exzeptionelle Anordnung der unmittelbaren Drittwirkung nach Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG nicht als Grundlage einer Koalitionsbetätigungsfreiheit herangezogen werden: Dass „Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen,“ verfassungsunmittelbar für nichtig erklärt werden und „hierauf gerichtete Maßnahmen“ verfassungswidrig sind, kann aufgrund des konfliktorischen Charakters der Koalitionsfreiheit nur als spezifischer Aspekt der Koalitionsbildungsfreiheit qualifiziert werden. Ist aber der Anwendungsbereich des Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG auf die Koalitionsbildungsfreiheit beschränkt, kann die exzeptionelle Anordnung der unmittelbaren Drittwirkung nicht für die Begründung einer Koalitionsbetätigungsfreiheit fruchtbar gemacht werden6. 7

Allerdings kann nicht zuletzt der Benennung eines spezifischen Koalitionszwecks die verfassungsrechtliche Gewährleistung einer Koalitionsbetätigungs1 Siehe dazu nur BVerfG v. 14.4.1964 – 2 BvR 69/62, BVerfGE 17, 319 (333); BVerfG v. 6.5.1964 – 1 BvR 79/62, BVerfGE 18, 18 (26); BVerfG v. 19.10.1966 – 1 BvL 24/65, BVerfGE 20, 312 (319 f.); BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, BVerfGE 50, 290 (367); BVerfG v. 15.7.1980 – 1 BvR 24/74, 1 BvR 439/79, BVerfGE 55, 7 (21); BVerfG v. 17.02.1981 – 2 BvR 384/78, BVerfGE 57, 220 (245); BVerfG v. 14.11.1995 – 1 BvR 601/92, BVerfGE 93, 352 (357); BVerfG v. 27.4.1999 – 1 BvR 2203/93, 1 BvR 897/95, BVerfGE 100, 271 (282); BVerfG v. 3.4.2001 – 1 BvL 32/97, BVerfGE 103, 293 (304); Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 64; Rixen in Stern/Becker, Art. 9 GG Rz. 40 ff.; Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 138 ff.; Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck ‚ Art. 9 GG Rz. 107; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 161 ff.; Friauf, RdA 1986, 188 (190); Henssler, ZfA 1998, 517 (519); Jarass, NZA 1990, 505 (506); Konzen, FS Kissel, 1994, S. 571 (581); Dieterich, DB 2001, 2398 (2400); Dieterich, RdA 2002, 1 (8); Wolter, RdA 2002, 218 (219). 2 Höfling, RdA 1999, 182 (182); ähnlich Butzer, RdA 1994, 375 (385). 3 Anders Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 284 ff.; vgl. auch Sels, Zwingende gesetzliche Eingriffe in bestehende Tarifverträge und das gesetzliche Verbot zukünftiger tarifvertraglicher Regelungen, S. 105 ff.; Rupp, JZ 1998, 919 (921); ähnlich wohl Engel, VVDStRL 59 (2000), 158 (160 f.). 4 Vgl. auch Henssler, ZfA 1998, S. 1 (3); Konzen, FS Kissel, 1994, 571 (579). 5 Gamillscheg, Die Grundrechte im Arbeitsrecht, S. 98; dazu ferner Kamanabrou, RdA 1997, 22 (32); Birk, RdA 1995, 71 (72); Reuter, RdA 1991, 193 (201); Reuter, RdA 1994, 152 (162); Thüsing, FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 889 (892); Dieterich, AuR 2001, 390 (390). 6 Vgl. Höfling/Burkiczak, RdA 2004, 263 (268 f.); ferner Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 301 ff.; ähnlich Krichel, NZA 1986, 731 (734); ausführlich zum Ganzen Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 184 ff.; anders ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 41 f.

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freiheit abgewonnen werden1. Zwar nahm auch Art. 159 WRV auf die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Bezug, gleichwohl bildete lediglich Art. 165 Abs. 1 Satz 1 WRV die Grundlage einer Koalitionsbetätigungsfreiheit2. Dennoch kann der Benennung eines Koalitionszwecks nicht lediglich die Aufgabe zugedacht werden, als Kriterium der Abgrenzung der Koalitionsfreiheit von der allgemeinen Vereinigungsfreiheit zu fungieren und die Erweiterung des grundrechtlichen Schutzes in personeller Hinsicht sowie die exzeptionelle Anordnung der unmittelbaren Drittwirkung in Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG zu kompensieren3. Vielmehr streitet die Entstehungsgeschichte des Art. 9 Abs. 3 GG4 – die zwar Art. 165 Abs. 1 Satz 1 WRV nicht erwähnt5 und folglich dem Einwand begegnet, eine verfassungsrechtliche Gewährleistung der Tarifautonomie sei entstehungsgeschichtlich nicht nachweisbar6 – zugunsten der Annahme, dass angesichts der spezifischen Intention des Art. 165 Abs. 1 Satz 1 WRV eine Koalitionsbetätigungsfreiheit schon durch die Bezugnahme auf Art. 159 WRV anerkannt wurde7. Dass namentlich der Tarifautonomie aus entstehungsgeschichtlicher Perspektive keine Aufmerksamkeit gewidmet wurde, steht folglich der Annahme einer Koalitionsbetätigungsfreiheit nicht entgegen.

3. Tarifautonomie als Gegenstand der Koalitionsbetätigungsfreiheit Ist damit Art. 9 Abs. 3 GG als verfassungsrechtlicher Sitz einer Koalitionsbetätigungsfreiheit benannt, kann die Erstreckung der verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Koalitionsfreiheit auf die Tarifautonomie nicht als Provokation für die Verfassungsauslegung qualifiziert werden8. Die Tarifautono-

1 Vgl. auch BVerfG v. 26.6.1991 – 1 BvR 779/85, BVerfGE 84, 212 (224); Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Art. 9 GG Rz. 107; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 198 f.; Henssler, ZfA 1998, 1 (7); Dorndorf, FS Kissel, 1994, S. 139 (140, 158); Konzen, NZA 1995, 913 (915); Söllner, NZA 1996, 897 (898); anders Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 144 f., 298 f. 2 Vgl. Pieroth, FS 50 Jahre BVerfG, Bd. II, 2001, S. 293 (298), umfassend dazu auch Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 298 f.; kritisch dazu Klein, Einrichtungsgarantien, 1934, S. 324; zum Ganzen auch Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, 1988, S. 848; Mager, Einrichtungsgarantien, 2001, S. 234 f. 3 Anders Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 299. 4 Ausführlich dazu Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 41 ff., 307 ff. 5 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 43. 6 Scholz/Konzen, Die Aussperrung im System von Arbeitsverfassung und kollektivem Arbeitsrecht, 1980, S. 110; Reuter, FS Hattenhauer, 2003, S. 409 (419); Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 45. 7 Vgl. auch Kittner/Schiek in AK-GG, Art. 9 Abs. 3 GG (2001) Rz. 22; Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen des Arbeitskampfes, 1968, S. 27; Badura, FS Berber, 1973, S. 11 (28); anders Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 310 ff.; dazu ferner HWK/Hergenröder, Art. 9 GG Rz. 24. 8 Vgl. Volkmann in Britz/Volkmann, S. 1 (20); anders Isensee in Freudenfeld (Hrsg.), Die Zukunft der sozialen Partnerschaft, 1986, S. 159 (162).

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mie beschreibt einen zentralen Aspekt der Koalitionsfreiheit1, der ein Leerlaufen des Art. 9 Abs. 3 GG verhindert2. Die Tarifautonomie gewährleistet aufgrund der historischen Erfahrung, dass TVe eher als die staatliche Schlichtung geeignet sind, interessengerechte und gemeinwohlkompatible Kompromisse hervorzubringen, einen Freiraum, in dem Arbeitnehmer und Arbeitgeber ihre Interessengegensätze in eigener Verantwortung austragen können3. Der TV ist das historisch gewachsene funktionstypische Mittel, das der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Geltungsmacht verschafft4. Die Tarifautonomie als Grundlage einer autonomen Ordnung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ist folglich Gegenstand der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Art. 9 Abs. 3 GG5.

II. Zur dogmatischen Rekonstruktion der Tarifautonomie 9

Indes wird kritisch angemerkt, dass es jedenfalls um die Durchdringung der dogmatischen Strukturen von Art. 9 Abs. 3 GG nicht eben zum Besten bestellt ist6. In der Tat: Die Kernbereichsdoktrin sowie die Betonung der Notwendigkeit der Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit haben die grundrechtsdogmatischen Elementarkategorien des grundrechtlich geschützten Verhaltens und des freiheitsverkürzenden Grundrechtseingriffs weitestgehend aufgelöst7. Namentlich der oftmals unbekümmerte Umgang8 mit den grundrechtsdogmatischen Figuren der Grundrechtsausgestaltung und des Grundrechtseingriffs lässt eine stringente dogmatische Konzeption vermissen9.

1. Die fundamentale Unterscheidung von Grundrechtsausgestaltung und -eingriff 10

Die Unterscheidung von Grundrechtsausgestaltung und Grundrechtseingriff und eine damit einhergehende Zuordnung verschiedener Gewährleistungs1 Zuletzt nur BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 202 (219); ferner etwa Rixen in Stern/Becker, Art. 9 GG Rz. 43 ff.; Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 125. 2 Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 125; vgl. auch ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 20, 52; kritisch dazu Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 204 ff. 3 Vgl. BVerfG v. 2.3.1993 – 1 BvR 1213/85, BVerfGE 88, 103 (114 f.); vgl. auch Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 83. 4 Vgl. BVerfG v. 24.4.1996 – 1 BvR 712/86, BVerfGE 94, 268 (283); ferner Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 84; ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 51. 5 BVerfG v. 26.6.1991 – 1 BvR 779/85, BVerfGE 84, 212 (229). 6 Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 150 f.; zuvor schon Friauf, RdA 1986, 188 (189). 7 Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 71; vgl. auch Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 109. 8 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 152 f.; ähnlich auch Thüsing, FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 889 (892). 9 Höfling, FS Friauf, 1996, S. 377 (385); vgl. ferner Ossenbühl/Cornils, Tarifautonomie und staatliche Gesetzgebung, S. 46 ff.; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, 2000, S. 197 f.

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gehalte der Koalitionsfreiheit zu den überkommenen Grundrechtsdimensionen ist für die Interpretation des Art. 9 Abs. 3 GG jedoch essentiell1. Während Grundrechtseingriffe die abwehrrechtliche Grundrechtsdimension negativ betreffen und durch das tradierte (Schranken-)Schrankenregime der Grundrechte eine Begrenzung erfahren, bezeichnet die Figur der Grundrechtsausgestaltung eine im Kontrast zum Grundrechtseingriff stehende Kategorie, die jene grundrechtsrelevanten Interventionen betrifft, die den abwehrrechtlichen Grundrechtsschutz nicht auszulösen vermögen2. Die Grundrechtsausgestaltung umschreibt dabei zentral die (legislative) Ausübungshilfe, der normativ konstituierte (normgeprägte) Grundrechtsgewährleistungen bedürfen3. Dass Art. 9 Abs. 3 GG als schrankenlos gewährleistetes Grundrecht garantiert wird, erlangt angesichts der fundamentalen Unterscheidung von Grundrechtsausgestaltung und Grundrechtseingriff lediglich Bedeutung im Zusammenhang mit der abwehrrechtlichen Grundrechtsdimension der Koalitionsfreiheit4. Die Unterscheidung von Grundrechtsausgestaltung und Grundrechtseingriff hat gleichwohl nicht zur Folge, dass die Grundrechtsausgestaltung keinen verfassungsrechtlichen Direktiven unterworfen wäre5. Vielmehr werden nach tradierter Interpretation den grundrechtlichen Institutsgarantien – oder in anderer Terminologie: kompetentiellen Freiheiten6 – vorrangig inhaltlich Maßstäbe der Grundrechtsausgestaltung abgewonnen: Ungeachtet bereichsspezifischer Struktur-, Konstitutions- und Ordnungsprinzipien sind grundrechtlichen Institutsgarantien nach überkommener Dogmatik zunächst Kernelemente immanent, die im Zuge der Grundrechtsausgestaltung einer Disposition entzogen sind7. Neben der Sicherstellung unverzichtbarer Essentialia verlangen grundrechtliche Institutsgarantien des Weiteren eine normative Durchsetzung, die dem Stellenwert grundrechtlicher Gewährleistung gebührend Rechnung trägt8. Den Maßstab des verfassungsrechtlichen Anforde-

1 Ossenbühl/Cornils, Tarifautonomie und staatliche Gesetzgebung, S. 55; Pieroth, FS 50 Jahre BVerfG, Bd. II, 2001, S. 293 (307); eingehend zum Ganzen Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 153 ff. 2 Siehe nur Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 153 f.; allgemein ferner Sachs in Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, 1988, S. 594 ff., Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 300; eingehend auch Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 49 ff. 3 Siehe dazu Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 51 ff.; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 301 ff. 4 Höfling, FS Friauf, 1996, S. 377 (387); Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 155; vgl. ferner Ossenbühl/Cornils, Tarifautonomie und staatliche Gesetzgebung, S. 47, 55; Isensee in Freudenfeld (Hrsg.), Die Zukunft der sozialen Partnerschaft, 1986, S. 159 (175). 5 Am Beispiel der Koalitionsfreiheit dazu Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 156 f.; vgl. auch Butzer, RdA 1994, 375 (380); Wiedemann, FS Stahlhacke, 1995, S. 675 (682); eingehend ferner Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 288 ff. 6 Höfling, Vertragsfreiheit, 1991, S. 20 ff. 7 Eingehend dazu nur Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 314 ff. 8 Ausführlich Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 328 ff.

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rungsprofils bildet allerdings insoweit nicht das Übermaßverbot1, sondern das Untermaßverbot2.

2. Zur Grundrechtsrelevanz gesetzgeberischer Aktivitäten im Tarifvertragsrecht 12

Angesichts der Tatsache, dass Grundrechtsausgestaltung und Grundrechtseingriff in einem Verhältnis strenger Exklusivität stehen3, ist auch im Anwendungsbereich der Koalitionsfreiheit eine präzise Abgrenzung erforderlich4. Während die Intention grundrechtsrelevanten Handelns für die Unterscheidung von Grundrechtsausgestaltung und Grundrechtseingriff unergiebig bleibt5, können der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts, die die Grundrechtsausgestaltung als Voraussetzung der Wahrnehmung der Koalitionsfreiheit qualifiziert6, durchaus Anhaltspunkte einer tragfähigen Abgrenzung von Grundrechtausgestaltung und Grundrechtseingriff abgewonnen werden7. Im Gegensatz zu natürlichen Freiheiten8, die von der Rechtsordnung in ihrer Substanz vorgefunden wurden und deren Wahrnehmung folglich keiner Bereitstellung normativer Durchsetzungsinstrumente bedarf9, sind normgeprägte Freiheiten10 der zentrale Bezugspunkt der Grundrechtsausgestaltung. Normgeprägte Freiheiten, deren Schutzgut durch einfachgesetzliche Vorschriften begründet wird11, zeichnet die spezifische Problemlage aus, dass ein Gebrauch im Wege der Grundrechtsausgestaltung ermöglicht wird, die grundrechtliche Substanz allerdings auch vor Grundrechtseingriffen zu 1 Vgl. dazu und zum Ganzen Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 331 ff.; vgl. auch Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 420 f. 2 Siehe nur Höfling, FS Friauf, 1996, S. 377 (385); kritisch dazu Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 342 ff., der eine Angemessenheitsprüfung favorisiert; anders auch Cornils in Epping/Hillgruber, Art. 9 GG Rz. 62.1; Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 425 ff. 3 Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 54 ff.; Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 157 ff.; vgl. auch Thüsing, GS Heinze, 2005, S. 901 (910); kritisch etwa Ladeur, AöR 131 (2006), 643 ff.; Cornils in Epping/Hillgruber, Art. 9 GG Rz. 72 ff.; Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 401 ff.; Rixen in Stern/Becker, Art. 9 GG Rz. 71; wohl auch ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 82 ff. 4 Kritisch dazu Henssler, ZfA 1998, 1 (11); Thüsing, FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 889 (892); vgl. auch Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, 2007, S. 17. 5 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 160; anders Dieterich, DB 2001, 2398 (2401); mit Blick auf den Grundsatz der Tarifeinheit Papier/ Krönke, ZfA 2011, 807 (820 ff.). 6 BVerfG v. 10.1.1995 – 1 BvF 1/90, 1 BvR 342/90, 1 BvR 348/90, BVerfGE 92, 26 (41). 7 Vgl. auch Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 161. 8 Allgemein dazu etwa Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2004, S. 76; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 94; zuvor schon Höfling, Vertragsfreiheit, 1991, S. 21; eingehend ferner Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 163 ff. 9 Dazu schon Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 163. 10 Siehe dazu Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2004, S. 85, 89 f.; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 90 ff., 269 f.; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 104; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 133; Mager, Einrichtungsgarantien, 2001, S. 432; zuvor Höfling, Vertragsfreiheit, 1991, S. 21. 11 Vgl. schon Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 1892, S. 45 ff.

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Garantie der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG)

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schützen ist1. Die abwehrrechtliche Grundrechtsdimension wird danach allenfalls durch grundrechtsrelevantes Handeln aktiviert, das die schon geprägte Substanz des Grundrechts betrifft2. Die Bereitstellung normativer Durchsetzungsinstrumente liegt der abwehrrechtlichen Grundrechtsdimension dagegen voraus3. Die Abgrenzung von Grundrechtsausgestaltung und Grundrechtseingriff ist im Anwendungsbereich normgeprägter Freiheiten folglich am Maßstab der Unterscheidung zwischen der Beseitigung konkreter subjektiver Rechtspositionen und der Schaffung einfachgesetzlicher Regelungen, auf deren Grundlage subjektive Rechtspositionen erworben werden können, zu konkretisieren4. Vor dem skizzierten grundrechtsdogmatischen Hintergrund muss die Tarifautonomie als normgeprägte Freiheit qualifiziert werden5. Jedenfalls der Abschluss von TVen mit normativer Wirkung6 ist zwingend auf die Bereitstellung spezifischer Durchsetzungsinstrumente angewiesen, die die Voraussetzungen für die Wahrnehmung der Tarifautonomie bilden7. Schon das Prinzip des demokratischen Rechtsstaates steht einer gegenläufigen Integrationslehre, die eine vorstaatliche und unmittelbar in Art. 9 Abs. 3 GG angesiedelte Normsetzungskompetenz propagiert8, entgegen9. Die Rechtsnormqualität von TVen basiert 1 Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 105; zum Ganzen auch Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 168 ff.; Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 84, 141; allgemein ferner Kloepfer in Papier/Merten (Hrsg.), HGR II/1, 2006, § 43, Rz. 20 ff. 2 Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 90. 3 Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 75 f.; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 91; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 133. 4 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 133 ff.; vgl. auch Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 171, 253 ff.; ähnlich auch BVerfG v. 24.4.1996 – 1 BvR 712/86, BVerfGE 94, 268 (284). 5 Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 84, 141 ff.; Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 164 ff.; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 156 f.; 162, 166; Becker, Kooperative und konsensuale Strukturen in der Normsetzung, 2005, S. 428; Thüsing, GS Heinze, 2005, S. 901 (908); ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 61; anders wohl Kempen in Kempen/Zachert, Grundlagen, Rz. 67 ff., 89; Däubler, Das Grundrecht auf Mitbestimmung, S. 113 ff. 6 Eingehend zur dogmatischen Qualität der Vertragsfreiheit Höfling, Vertragsfreiheit, passim. 7 BVerfG v. 10.1.1995 – 1 BvF 1/90, 1 BvR 342/90, 1 BvR 348/90, BVerfGE 92, 26 (41); Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 76; Höfling, FS Friauf, 1996, S. 377 (385); Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 164; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 156 f.; Becker, Kooperative und konsensuale Strukturen in der Normsetzung, 2005, S. 428; Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 81; Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 142; vgl. ferner Mager, Einrichtungsgarantien, 2001, S. 462; Pieroth, FS 50 Jahre BVerfG, Bd. II, 2001, S. 293 (303); Butzer, RdA 1994, 375 (379); Rupp, JZ 1998, 919 (922); Waltermann, ZfA 2000, 53 (60); zuletzt Richardi, JZ 2011, 282 (286 f.). 8 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, 1964, S. 104 f.; ähnlich Herschel, FS Bogs, 1959, S. 130 f.; Galperin, FS Molitor, 1962, S. 143 (153 ff.). 9 Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 73 ff.; Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 165; Becker, Kooperative und konsensuale Strukturen in der Normsetzung, 2005, S. 410 f., 417; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 162; vgl. ferner Kirchhof, Pri-

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Grundlagen des Tarifvertragsrechts

unbestreitbar auf einem staatlichen Geltungsbefehl1. Kann der Abschluss von TVen mit normativer Wirkung nicht als natürliche Freiheit qualifiziert und der abwehrrechtlichen Grundrechtsdimension zugeordnet werden2, sind im Zuge der dogmatischen Rekonstruktion der Tarifautonomie folglich andere Grundrechtsdimensionen fruchtbar zu machen. Namentlich das Bundesverfassungsgericht qualifiziert die Tarifautonomie daher als grundrechtliche Institutsgarantie3, die die Institution eines normativ konstituierten TV-Systems verfassungsrechtlich gewährleistet4. Da die Tarifautonomie ohne normative Durchsetzungsinstrumente ineffektiv bleiben müsse, folge aus Art. 9 Abs. 3 GG eine Verpflichtung zur Bereitstellung des für die Ausübung der Koalitionsfreiheit erforderlichen einfachgesetzlichen Normenkomplexes5, der die typischen Merkmale des TV-Systems der legislativen Disposition entziehe6. Allerdings steht die Annahme einer subjektiven Dimension der Verpflichtung zur Bereitstellung einfachgesetzlicher Normenkomplexe7 in Widerspruch zu der tradierten Dogmatik grundrechtlicher Institutsgarantien, die entsprechende Rechtspositionen nicht zu begründen vermag8. Die Tarifautonomie ist deshalb als kompetentielle Gewährleistungsdimension mit auxiliärem leistungsrechtlichem Gehalt zu qualifizieren, die die Verpflichtung zur Bereitstellung eines unerlässlichen einfachgesetzlichen Normenkomplexes als subjektive Rechtsposition beinhaltet9. 14

Kann der Normierung und Fortentwicklung des TVG angesichts der skizzierten grundrechtsdogmatischen Maßstäbe kein abwehrrechtlicher Bedeutungsgehalt beigemessen werden, vermögen schließlich abgeschlossene TVe allen-

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vate Rechtsetzung, 1987, S. 133 f., 158 f.; Belling, ZfA 1999, 547 (584); Waltermann, FS Söllner, 2000, S. 1251 (1253). Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 166. Ohne Bedeutung bleibt insoweit, ob es sich um einen Fall delegierter Rechtsetzung oder um privatrechtliche Regelungen handelt, die aufgrund staatlicher Anerkennung als Rechtssätze zu qualifizieren sind, vgl. dazu Kirchhof, Private Rechtsetzung, 1987, S. 181 ff.; Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, 2002, S. 127 ff.; Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, passim. Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 167; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 156 f., 162, 166. Kritisch dazu Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 198 ff. Vgl. nur BVerfG v. 18.11.1954 – 1 BvR 629/52, BVerfGE 4, 96 (108); dazu nur Mager, Einrichtungsgarantien, 2001, S. 246; Wiedemann, FS Stahlhacke, 1995, S. 675 (682). Eingehend dazu Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit S. 65 ff.; Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 142; vgl. ferner Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 322; Mager, Einrichtungsgarantien, 2001, S. 245 f.; 465; Rupp, JZ 1998, 919 (923 ff.); Wiedemann, FS Stahlhacke, 1995, S. 675 (680 ff.); Isensee in Freudenfeld (Hrsg.), Die Zukunft der sozialen Partnerschaft, 1986, S. 159 (166 f.). Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 144; allgemein dazu Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 140 (146). Vgl. dazu Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 142, 145. Vgl. Mager, Einrichtungsgarantien, 2001, S. 443 ff.; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 86. Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 77, 92, 117; Höfling, FS Friauf, 1996, S. 377 (385 f.).

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Garantie der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG)

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falls die abwehrrechtliche Grundrechtsdimension zu aktivieren1. Die abwehrrechtliche Grundrechtsdimension erfährt nämlich keine Erweiterung durch einen grundrechtlichen Normbestandsschutz in dem Sinne2, dass die Umgestaltung grundrechtsnaher einfachgesetzlicher Normenkomplexe als Grundrechtseingriff zu qualifizieren wäre3. Die These, die einfachgesetzliche Erfüllung einer verfassungsrechtlichen Normierungspflicht bewirke eine derartige Erweiterung des grundrechtlichen Schutzbereiches4, ebnet kategoriale Unterschiede zwischen Verfassungsrecht und einfachgesetzlicher Grundrechtsausgestaltung ein5. Die Umgestaltung einfachgesetzlicher Normenkomplexe ist dementsprechend weder als eigenständige grundrechtsdogmatische Kategorie noch als Grundrechtseingriff, sondern lediglich als Anwendungsfall der Grundrechtsausgestaltung zu qualifizieren6.

III. Träger der Koalitionsfreiheit Mit Blick auf die Träger der Koalitionsfreiheit kann dem Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG zunächst die Maßgabe abgewonnen werden, dass das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, für jedermann und alle Berufe gewährleistet ist.

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1. Zur Lehre vom Doppelgrundrecht Der grundrechtliche Status der Koalitionen hat danach keinen unmittelbaren Niederschlag im Normtext des Art. 9 Abs. 3 GG gefunden7. Die Koalitionsfreiheit wurde nur als Individualgrundrecht konzipiert8. Das Bundesverfassungsgericht konstruiert die Koalitionsfreiheit indes als Doppelgrundrecht, das auch den Koalitionen verfassungsrechtlichen Schutz gewährt9. Zur Begründung stellt 1 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 171. 2 Vgl. dazu aber Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 75 ff.; ähnlich Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 135; siehe auch Sachs in Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, 1988, S. 668 f.; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 176 ff. 3 Umfassend dazu Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2004, S. 86 ff.; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 408 ff.; Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 172 ff. 4 Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 150. 5 Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 410 ff.; eingehend auch Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 175 ff. 6 Umfassend dazu Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 398 ff., 449. 7 Pieroth, FS 50 Jahre BVerfG, Bd. II, 2001, S. 293 (294). 8 Siehe zum Ganzen nur Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 66 f.; Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 141 ff.; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 180 ff. 9 BVerfG v. 18.11.1954 – 1 BvR 629/52, BVerfGE 4, 96 (101 f.); BVerfG v. 30.11.1965 – 2 BvR 54/62, BVerfGE 19, 303 (312); BVerfG v. 26.5.1970 – 2 BvR 664/65, BVerfGE 28, 295 (304); BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, BVerfGE 50, 290 (367); BVerfG v. 15.7.1980 – 1 BvR 24/74, 1 BvR 439/79, BVerfGE 55, 7 (21); BVerfG v. 17.02.1981 – 2 BvR 384/78, BVerfGE 57, 220 (245); BVerfG v. 14.11.1995 – 1 BvR 601/92, BVerfGE 93, 352 (357); BVerfG v. 24.4.1996 – 1 BvR 712/86, BVerfGE

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Grundlagen des Tarifvertragsrechts

das Bundesverfassungsgericht fest, dass ein Grundrecht, dessen Ausdehnung auf soziale Gemeinschaften schon in der Weimarer Epoche erkennbar gewesen sei, nicht ohne zwingende Gründe auf Individuen beschränkt werden könne1. Den skizzierten Gedanken hat das Bundesverfassungsgericht später um den Hinweis ergänzt, die Interpretation der Koalitionsfreiheit als Doppelgrundrecht werde von der Nennung des Vereinigungszwecks getragen2. 17

Obwohl dogmengeschichtlich geprägte Anleihen aufgrund einer restriktiven Auslegung des Art. 159 WRV3 fehlgehen4, scheint unbestreitbar, dass auch Koalitionen der grundrechtliche Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG gebührt. Jedoch ist für die Begründung einer verfassungsrechtlichen Schutzposition Art. 19 Abs. 3 GG notwendig5. Die skizzierte Kontroverse ist zunächst nicht lediglich akademischer Natur, hat doch allein die Begründung eines Doppelgrundrechtes die Öffnung der Koalitionsfreiheit für ausländische Koalitionen zur Folge6. Eine Interpretation des Art. 9 Abs. 3 GG als Doppelgrundrecht begegnet des Weiteren dem Vorwurf, Intention und Schutzzweck der Gewährleistung des Art. 19 Abs. 3 GG zu missachten. Während die verfassungsrechtliche Systematik den Grundrechtsschutz natürlicher Personen in den Vordergrund stellt7, hat die Erstreckung des grundrechtlichen Schutzes auf juristische Personen lediglich eine arrondierende Funktion8. Auch die Nennung eines Ver-

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94, 268 (282); BVerfG v. 27.4.1999 – 1 BvR 2203/93, 1 BvR 897/95, BVerfGE 100, 271 (282); BVerfG v. 3.4.2001 – 1 BvL 32/97, BVerfGE 103, 293 (304); siehe ferner nur Rixen in Stern/Becker, Art. 9 GG Rz. 30; Cornils in Epping/Hillgruber, Art. 9 GG Rz. 44. BVerfG v. 18.11.1954 – 1 BvR 629/52, BVerfGE 4, 96 (102); ähnlich BVerfG v. 30.11.1965 – 2 BvR 54/62, BVerfGE 19, 303 (312, 319). BVerfG v. 26.6.1991 – 1 BvR 779/85, BVerfGE 84, 212 (224); BVerfG v. 10.1.1995 – 1 BvF 1/90, 1 BvR 342/90, 1 BvR 348/90, BVerfGE 92, 26 (38). Vgl. dazu schon Huber, AöR 23 (1933), 1 (75), ferner nur Pieroth, FS 50 Jahre BVerfG, Bd. II, 2001, S. 293 (298), aus methodischer Perspektive auch Kemper in v. Mangoldt/ Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 138 ff. Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 147 ff. Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 70; Höfling, RdA 1999, S. 182 (183); Höfling, FS Friauf, 1996, S. 377 (380); Höfling/Burkiczak, NJW 2005, 469 (472); Kemper in v. Mangoldt/ Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 139; Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, S. 51 ff., 121 ff.; Scholz in Maunz/Dürig, Art. 9 GG (1999) Rz. 25, 240; vgl. dazu auch Wiese, ZfA 2008, 317 ff. Vgl. dazu schon Dietz in Bettermann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. III/1, 1958, S. 417 (445); ferner Cornils in Epping/Hillgruber, Art. 9 GG Rz. 52; MünchArb/Löwisch/Rieble, § 157 Rz. 44; siehe dazu aber auch Löwer in v. Münch/ Kunig, Art. 9 GG Rz. 86. Siehe nur BVerfG v. 2.5.1967 – 1 BvR 578/63, BVerfGE 21, 362 (369); BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, BVerfGE 50, 290 (337); 61, 82 (100 f.); 68, 193 (205); Rüfner, FS 50 Jahre BVerfG, Bd. II, 2001, S. 55 (55). Allgemein dazu Remmert in Maunz/Dürig, Art. 19 Abs. 3 GG (2009) Rz. 26 ff. Folglich besteht zwischen dem grundrechtlichen Schutz von Koalition und Individuum Deckungsgleichheit, vgl. Höfling/Burkiczak, NJW 2005, 469 (472); Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 294 ff.; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 186; Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 140; anders wohl ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 40. Kollisionen von individueller und kollektiver Koalitionsfreiheit scheinen gleichwohl möglich, vgl. Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 130; anders Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 140; siehe dazu ferner Rieble, ZfA 2004, 1 (41); Belling, ZfA 1999, 547 (607 f.); Hromadka,

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Rz. 18 Teil 1

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einigungszwecks1 entkräftet folglich nicht den Vorwurf, die „Hochzonung“ der Koalitionen als originäre Träger des Grundrechtes der Koalitionsfreiheit unterlaufe die verfassungsrechtliche Systementscheidung des Art. 19 Abs. 3 GG2.

2. Die Bedeutung des einfachgesetzlichen Koalitionsbegriffs Art. 9 Abs. 3 GG benennt als Träger der Koalitionsfreiheit jedermann und alle Berufe. Die Umschreibung der Grundrechtsberechtigten nimmt folglich alle Menschen in ihrer Eigenschaft als Berufsangehörige in Bezug3; welcher Beruf ausgeübt wird, ist grundsätzlich irrelevant4. Vereinigungen, die von den Grundrechtsträgern zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen gebildet werden, müssen zunächst die Merkmale des Vereinigungsbegriffs des Art. 9 Abs. 1 GG erfüllen5. Auch Art. 9 Abs. 3 GG fordert aus Gründen des systematischen Zusammenhangs6 folglich eine freie Gründung7 sowie jedenfalls ein gewisses Maß an organisatorischer Stabilität der Koalitionen8. Darüber hinaus müssen Vereinigungen im Sinne des Art. 9 Abs. 3 GG intentional auf die kumulative9 Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ausgerichtet sein10. Während Arbeitsbedingungen das Arbeitsverhältnis selbst betreffen, werden vom Begriff der Wirtschaftsbedingungen wirtschafts- und sozialpolitische Fragen erfasst, die über die Bedeutung des Arbeitsverhältnisses hinausreichen11. Der Koalitionszweck muss daher jedenfalls auch in der Ord-

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DB 2003, 42 (43 f.); Thüsing, GS Heinze, 2005, S. 901 (915); Thüsing, FS Wiedemann, 2002, S. 559 (583); Raab, ZfA 2004, 371 (395). Kritisch zu dessen Bedeutung in vorliegendem Zusammenhang Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 144 f. Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 67; Scholz in Maunz/Dürig, Art. 9 GG (1999) Rz. 25. Höfling in Sachs, Art. 9 Rz. 111. BVerfG v. 30.11.1965 – 2 BvR 54/62, BVerfGE 19, 303 (322); Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 112; vgl. auch ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 27 f. Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 53; Scholz in Maunz/Dürig, Art. 9 GG (1999) Rz. 213 f.; Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 85; Dietlein in Stern, Staatsrecht, Bd. IV/1, S. 2025 f.; ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 22. Vgl. auch Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 81. BVerfG v. 18.11.1954 – 1 BvR 629/52, BVerfGE 4, 96 (106); BVerfG v. 18.12.1974 – 1 BvR 430/65, 1 BvR 259/66, BVerfGE 38, 281 (302); Dietz in Bettermann/Nipperdey/ Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. III/1, 1958, S. 417 (436). Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 53, der zudem ein gewisses Maß an zeitlicher Stabilität fordert; kritisch dazu Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 86; vgl. zum Ganzen auch Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 110 f.; ferner Rixen in Stern/Becker, Art. 9 GG Rz. 30. Siehe nur Cornils in Epping/Hillgruber, Art. 9 GG Rz. 47; Rixen in Stern/Becker, Art. 9 GG Rz. 33; ferner ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 23; HWK/Hergenröder, Art. 9 GG Rz. 39. Zu Firmentarifverträgen mit dem Ziel der Standortsicherung etwa Höfling, ZfA 2008, 1 ff.; Löwisch, DB 2005, 554 ff.; Hanau/Thüsing, ZTR 2001, 1 ff., 49 ff.; Kühling/Bertelsmann, NZA 2005, 1017 ff. Vgl. BVerfG v. 24.4.1996 – 1 BvR 712/86, BVerfGE 94, 268 (283); Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 30 ff.; ferner Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 54; Rixen in Stern/Becker, Art. 9 GG Rz. 31 f.; Kemper in v. Mangoldt/Klein/ Starck, Art. 9 GG Rz. 89; Cornils in Epping/Hillgruber, Art. 9 GG Rz. 45 f.

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Teil 1 Rz. 19

Grundlagen des Tarifvertragsrechts

nung des Arbeitslebens bestehen1. Weil die Tarifautonomie einen Freiraum gewährleisten soll, in dem Arbeitnehmer und Arbeitgeber ihre Interessengegensätze in eigener Verantwortung austragen können, müssen Koalitionen schließlich gegnerfrei und gegnerunabhängig2 sowie überbetrieblich organisiert sein3. 19

Eine Deduktion weiterer, den Koalitionsbegriff im Sinne des Art. 9 Abs. 3 GG eingrenzender Merkmale vermag nicht zu überzeugen. Das Bundesverfassungsgericht hat dementsprechend klargestellt, dass etwa die Kampfbereitschaft nicht Voraussetzung des Koalitionsbegriffs ist. Vereinigungen im Sinne des Art. 9 Abs. 3 GG können auf die Durchführung von Arbeitskämpfen verzichten4. Auch das Kriterium der sozialen Mächtigkeit findet in Art. 9 Abs. 3 GG keine Grundlage, blieben Koalitionen doch anderenfalls in der Gründungsphase ohne verfassungsrechtlichen Schutz5. Namentlich die Anerkennung von Gewerkschaften als TV-Parteien im Sinne des § 2 Abs. 1 TVG fordert nach der Judikatur des Bundesarbeitsgerichtes allerdings, dass die Koalitionen in der Lage sind, auf die Gegenseite fühlbaren Druck auszuüben: Koalitionen müssten mächtig und leistungsfähig sein, damit der Tarifvertragspartner eine Veranlassung erkennt, auf Verhandlungen über den Abschluss einer tariflichen Regelung der Arbeitsbedingungen einzugehen und zum Abschluss eines TVes zu kommen6. Weder das Merkmal der Tarifwilligkeit noch das Kriterium der Tariffähigkeit zählt jedoch zu den Begriffsmerkmalen der Koalition im Sinne des Art. 9 Abs. 3 GG7. Das Bundesverfassungsgericht betonte ferner, dass Anforderungen an die Tariffähigkeit8, die erheblich auf die Bildung und Betätigung einer Koalition zurückwirken, Koalitionen unverhältnismäßig beeinträchtigen oder zu einer Aushöhlung der Gewährleistung des Art. 9 Abs. 3 GG führen, unzulässig sind. Durchsetzungsfähigkeit gegenüber dem sozialen Gegenspieler zur Teilnahme an einer sinnvol1 BVerfG v. 20.10.1981 – 1 BvR 404/78, BVerfGE 58, 233 (249 f.). 2 Vgl. dazu am Beispiel der GNBZ auch Maier, NVwZ 2008, 746 (749); vgl. ferner Park/ v. Paar/Schüren, NJW 2008, 3670 ff. 3 BVerfG v. 18.11.1954 – 1 BvR 629/52, BVerfGE 4, 96 (106); BVerfG v. 6.5.1964 – 1 BvR 79/62, BVerfGE 18, 18 (28); BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, BVerfGE 50, 290 (373 ff.); BVerfG v. 20.10.1981 – 1 BvR 404/78, BVerfGE 58, 233 (247); Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 56 f.; Bauer in Dreier, Art. 9 GG Rz. 72 f.; Rixen in Stern/Becker, Art. 9 GG Rz. 34; Cornils in Epping/Hillgruber, Art. 9 GG Rz. 49; differenzierend Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 91 f.; wohl auch ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 25. 4 BVerfG v. 6.5.1964 – 1 BvR 79/62, BVerfGE 18, 18 (32 f.); Bauer in Dreier, Art. 9 GG Rz. 79 f.; Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 58; Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 96; vgl. auch ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 26. 5 Vgl. BVerfG (K) v. 26.1.1995 – 1 BvR 2071/94, NJW 1995, 3377 (3377); Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 59; Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 97. 6 Vgl. nur BAG v. 23.4.1971 – 1 ABR 26/70, BAGE 23, 320 (325); BAG v. 15.3.1977 – 1 ABR 16/75, JZ 1977, 470 (470 f.); zuletzt am Beispiel der CGZP BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, BAGE 136, 302 ff.; dazu auch schon Schüren, AuR 2008, 239 ff.; Schüren, NZA 2008, 453 ff.; ferner BVerfG v. 24.2.1999 – 1 BvR 123/93, BVerfGE 100, 214 (223); Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 98. 7 Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 61; Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 95; Cornils in Epping/Hillgruber, Art. 9 GG Rz. 50; Dietlein in Stern, Staatsrecht, Bd. IV/1, S. 2036; vgl. dazu ferner HWK/Hergenröder, Art. 9 GG Rz. 48 ff. 8 Zur OT-Mitgliedschaft zuletzt BVerfG v. 1.12.2010 – 1 BvR 2593/09; ausführlich Thüsing/Stelljes, ZfA 2005, 527 ff.; ferner Schaub, FS Hromadka, 2008, S. 339 (347 ff.).

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Garantie der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG)

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len Ordnung des Arbeitslebens könne nicht bedeuten, dass Koalitionen die Chance des vollständigen Sieges haben müssen; vielmehr müsse nur erwartet werden, dass Koalitionen vom Gegner überhaupt ernst genommen werden, so dass die schließlich gefundene Regelung der Arbeitsbedingungen nicht einem Diktat der einen Seite entspringt, sondern ausgehandelt wird1. Aus grundrechtsdogmatischer Perspektive ist dennoch der Hinweis geboten, dass jede Verkürzung namentlich der Koalitionsbildungsfreiheit sowie der der abwehrrechtlichen Grundrechtsdimension zuzuordnenden Gewährleistungsgehalte der Koalitionsbetätigungsfreiheit im Wege zusätzlicher, über die von Art. 9 Abs. 3 GG stillschweigend vorausgesetzten funktionsadäquaten Kriterien hinausreichender Merkmale des Koalitionsbegriffs als Grundrechtseingriff zu qualifizieren ist2. Eine restriktive Auslegung des § 2 Abs. 1 TVG, nach der nur tariffähige Koalitionen als Tarifvertragspartner zugelassen werden, kann angesichts der Zuordnung der Tarifautonomie zu den normgeprägten Schutzgehalten des Art. 9 Abs. 3 GG demgegenüber allerdings als Grundrechtsausgestaltung qualifiziert werden3. Damit wird nämlich nicht tariffähigen Koalitionen lediglich die Möglichkeit zum Abschluss von TVen vorenthalten, die nicht schon als natürliche Freiheit existiert4. Verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet daher nur die Formulierung spezifischer Anforderungen an die Tariffähigkeit, die typische Merkmale des TV-Systems unberücksichtigt lassen und die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie beseitigen5.

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3. Koalitionspluralität – ein Verfassungsproblem? Obwohl die Tarifautonomie von dem zentralen Gedanken geprägt wurde, dass in einem Betrieb nur ein TV gelten solle6, gerät das Industrieverbandsprinzip7 zunehmend unter Druck8. Namentlich die Bildung durchsetzungsstarker Berufs-, Sparten- und Spezialistengewerkschaften, die vorrangig eigene Tarifforderungen für spezifische Berufsgruppen formulieren9, führt zu Koalitionspluralität. Aus verfassungsrechtlicher Perspektive vermag insoweit aber der Hinweis auf die Gefahr eines kollektiven Unterbietungswettbewerbes, der dysfunktionale Wirkun1 BVerfG v. 20.10.1981 – 1 BvR 404/78, BVerfGE 58, 233 (249). 2 Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 62; Rixen in Stern/Becker, Art. 9 GG Rz. 35 f.; vgl. ferner Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 130 f.; Cornils in Epping/Hillgruber, Art. 9 GG Rz. 50. 3 Greiner, Rechtsfragen der Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfpluralität, S. 160 f.; ähnlich auch ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 66 ff., der allerdings nicht eindeutig zwischen Grundrechtsausgestaltung und Grundrechtseingriff differenziert. 4 Vgl. auch Richardi, FS Wißmann, 2005, S. 159 (170); Greiner, Rechtsfragen der Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfpluralität, S. 161; wohl auch HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 4; anders Bayreuther, BB 2005, 2633 (2636). 5 Ähnlich mit Blick auf die soziale Mächtigkeit wohl schon Löwisch, ZfA 1970, 295 (303); anders Henssler, Soziale Mächtigkeit, S. 28 ff.; kritisch wohl auch Greiner, Rechtsfragen der Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfpluralität, S. 161. 6 Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, Bd. 2/1, S. 516. 7 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, S. 213 f. 8 Siehe nur Dieterich, GS Zachert, 2010, S. 532 (533 ff.). 9 Eingehend dazu etwa Greiner, Rechtsfragen der Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfpluralität, passim; ferner nur Hanau, NZA 2003, 128 ff.

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gen der individuellen Arbeitsbeziehung auf kollektiver Ebene aufleben lasse1, nicht in Frage zu stellen, dass die Koalitionsbildungsfreiheit keine Rücksicht auf kartellartige Strukturen der Koalitionen nimmt2. Zutreffend betonte das Bundesverfassungsgericht demgemäß die Bildung, Betätigung und Entwicklung der Koalitionen in ihrer Mannigfaltigkeit3. Auch das Bundesarbeitsgericht judizierte, dass der verfassungsrechtlich gewährleistete Koalitionspluralismus eine Konkurrenzsituation schaffe, die eine wechselseitige Mitgliederwerbung legitimiere4. 22

Ist eine plurale Auffächerung der Koalitionsfreiheit schon in der Koalitionsbildungsfreiheit angelegt5, sind Regulierungsstrategien, die an die Koalitionsgründung anknüpfen, als Grundrechtseingriffe zu qualifizieren6. Die Beeinträchtigung der Koalitionsbildungsfreiheit kann dabei nicht mit dem Hinweis auf ein volatiles Koalitionssystem7 oder die Gefahr einer Entsolidarisierung8 gerechtfertigt werden: Damit würde zum einen die Selbstbestimmung9 der Grundrechtsträger erheblich relativiert. Zum anderen würde die grundrechtliche Freiheit im Interesse der Tarifautonomie in unzulässiger Weise funktionalisiert10. Namentlich eine Bezugnahme auf die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie – die als objektiv-rechtlich garantierter Regelungszweck des Art. 9 Abs. 3 GG zu konstruieren versucht wird11 – kann jedenfalls im Kontext der abwehrrechtlichen Grundrechtsdimension der Koalitionsfreiheit daher keine Bedeutung erlangen. Des Weiteren sind tarif- und arbeitskampfrechtliche Gestaltungsoptionen unverkennbar, die namentlich der vermeintlich aus der Koalitionspluralität folgenden Gefahr von Dauerarbeitskämpfen12 begegnen. Entsprechende Maßnahmen – etwa eine Verpflichtung auf inhaltlich koordinierte und zeitlich

1 Vgl. Kempen, FS Hromadka, 2008, 177 (184 ff.); ähnlich Hromadka, GS Heinze, 2005, S. 383 (388 f.); zuvor schon Zachert, ArbuR 1986, 321 (324 f.). 2 Vgl. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, S. 210, 434; ferner auch Henssler, Soziale Mächtigkeit, S. 53. 3 BVerfG v. 6.5.1964 – 1 BvR 79/62, BVerfGE 18, 18 (32). 4 BAG v. 31.5.2005 – 1 AZR 141/04, AP Nr. 124 zu Art. 9 GG. 5 Greiner, Rechtsfragen der Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfpluralität, S. 244 ff.; vgl. auch Säcker/Oetker, ZfA 1993, 1 (12). 6 Vgl. auch Greiner, Rechtsfragen der Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfpluralität, S. 249 f. 7 Rieble, FS Wiedemann, 2002, S. 519 (527); Buchner, ZfA 2004, 229 ff.; siehe auch Bayreuther, BB 2005, 2633 (2637); Hanau, NZA 2003, 128 ff.; Hanau, RdA 2008, 98 ff. 8 Vgl. Kamanabrou, ZfA 2008, 241 (261); Buchner, BB 2003, 2121 (2123). 9 Franzen, RdA 2001, 1 (5, 8). 10 Vgl. Cornils in Epping/Hillgruber, Art. 9 GG Rz. 99; Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 406 ff., der zutreffend darauf hinweist, dass Art. 9 Abs. 3 GG keine Funktionsgarantie impliziert, sondern vielmehr ein Freiheitsrecht kodifiziert; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 239 ff.; Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 183. 11 Rixen in Stern/Becker, Art. 9 GG Rz. 88; vgl. auch Cornils in Epping/Hillgruber, Art. 9 GG Rz. 89.1. 12 Kamanabrou, ZfA 2008, 241 (262 ff.); vgl. zu den arbeitskampfrechtlichen Folgefragen ferner Scholz, FS Buchner, 2009, S. 827 ff.; Bayreuther, NZA 2006, 642 ff.; Bayreuther, NZA 2008, 12 ff.; Greiner, NZA 2007, 1023 ff.; Höfling/Engels, NJW 2007, 3102 ff.; Hanau, RdA 2008, 98 ff.; Jacobs, NZA 2008, 325 (329 ff.); v. Steinau-Steinrück/Glanz, NZA 2009, 113 ff.; zuvor schon Buchner, BB 2003, 2121 ff.; Buchner, BB 2007, 2520 ff.

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synchronisierte Tarifverhandlungen1, eine Inhaltskontrolle der TVe2 oder eine Beschränkung der Tarifautonomie auf TVe, die im gesamten Tarifgebiet Löhne festsetzen, die die Summe der Kosten der Arbeit hinreichend unterhalb der Produktivität der Arbeit halten3 – folgen allerdings ebenfalls der Dichotomie von Grundrechtsausgestaltung und Grundrechtseingriff, so dass auch insoweit grundrechtsdogmatische Elementarkategorien zu berücksichtigen sind.

IV. Spielräume und Grenzen gesetzgeberischer Ingerenzen – ausgewählte Problemkonstellationen 1. Allgemeines Mit Blick auf die dem auxiliären leistungsrechtlichen Gehalt des Art. 9 Abs. 3 GG immanente Pflicht, den zur Ausübung der Tarifautonomie erforderlichen einfachgesetzlichen Normenkomplex bereitzustellen, ist zunächst die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts von Bedeutung, dass ein einfachgesetzlicher Normenbestand weder in seinem gegenwärtigen Umfang noch in seinem aktuellen Inhalt verfassungsrechtlich festgeschrieben ist4. Werden die verfassungsrechtlichen Determinanten der Grundrechtsausgestaltung aus dem Untermaßverbot deduziert5, so ist klar, dass Art. 9 Abs. 3 GG lediglich gewisse typische Merkmale schützt, die angesichts der geschichtlichen Entwicklung als charakteristisch und „unerlässlich“ zu qualifizieren sind6. Verfassungsrechtlich notwendig ist folglich die Bereitstellung eines Koalitionsinstrumentariums, das unter den gegebenen wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen eine wirksame und autonome Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ermöglicht7. Die Koalitionsfreiheit verlangt einfachgesetzliche Regelungen, die die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie gewährleisten8. 1 Vor dem Hintergrund der Diskussion über den Grundsatz der Tarifeinheit dazu Hirdina, NZA 2009, 997 ff.; Jacobs, FS Buchner, 2009, S. 342 (345, 352 f.); Franzen, ZfA 2009, 297 (312, 316 f.); Franzen, RdA 2008, 193 (203 f.); Hromadka, NZA 2008, 384 ff.; Kamanabrou, ZfA 2008, 241 (271 ff.); ähnlich auch Bayreuther, FS Buchner, 2009, S. 628 (628 ff.); Schliemann, FS Hromadka, 2008, S. 359 (378); kritisch dazu ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 85; Dieterich, GS Zachert, 2010, S. 532 ff.; Deinert, NZA 2009, 997 ff.; zum Ganzen auch Giesen, ZfA 2011, 1 (31 ff.). 2 Vgl. Bayreuther, BB 2005, 2633 (2637); Schüren, FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 877 (881); kritisch Henssler, Soziale Mächtigkeit, S. 55, 56 ff. 3 Vgl. dazu Sodan, JZ 1998, 421 (424); Freihube, DB 2000, 1022 (1026), die allerdings eine entsprechende Restriktion verfassungsunmittelbar aus Art. 9 Abs. 3 GG deduzieren. 4 Vgl. Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 77; Höfling, FS Friauf, 1996, S. 377 (385 f.); dazu auch Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 141, 144 f., 146 ff. 5 Höfling, FS Friauf, 1996, S. 377 (385). 6 Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 141, 144 f., 146 ff. 7 Isensee in Freudenfeld (Hrsg.), Die Zukunft der sozialen Partnerschaft, 1986, S. 159 (170). 8 Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 82; Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 82; Richardi in Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 61. Deutschen Juristentages, Bd. I, 1996, B 44; vgl. auch BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1

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Da abgeschlossene TVe allerdings die abwehrrechtliche Grundrechtsdimension aktivieren1, ist andererseits zu betonen, dass Art. 9 Abs. 3 GG als vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht kodifiziert wurde2. Grundrechtseingriffe bedürfen folglich einer Rechtfertigung durch kollidierendes Verfassungsrecht3. Modelle, die ausgehend von einer verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Koalitionsbetätigungsfreiheit den Grundrechtsschutz nicht in sämtlichen Emanationen als vorbehaltlos gewährleistet qualifizieren, vermögen nicht zu überzeugen. Die Etablierung eines gestuften Schrankenregimes, das einen unantastbaren Betätigungsbereich, einen zentralen Betätigungsbereich sowie einen mit der unmittelbaren Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingung assoziierten Betätigungsbereich unterscheidet und Formen der mittelbaren Verwirklichung des Koalitionszwecks nicht berücksichtigt4, widerspricht dem Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG sowie dem System grundrechtlicher Gesetzesvorbehalte5.

2. Deregulierung im Tarifvertragsrecht 25

Nicht nur die wirtschaftswissenschaftliche Disziplin fordert zunehmend eine Beschneidung der Tarifautonomie und eine korrespondierende Stärkung der individuellen Vertragsfreiheit sowie eine Flexibilisierung im Spannungsfeld von TV und Betriebsvereinbarung6. Auch der arbeitsrechtliche Diskurs setzt inzwi-

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BvL 21/78, BVerfGE 50, 290 (370, 373, 376, 377); BVerfG v. 26.6.1991 – 1 BvR 779/85, BVerfGE 84, 212 (229); BVerfG v. 4.7.1995 – 1 BvF 2/86, 1 BvF 1/87, 1 BvF 2/87, 1 BvF 3/87, 1 BvF 4/87, 1 BvR 1421/86, BVerfGE 92, 365 (394 f.); kritisch zur Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie auch im Kontext der Grundrechtsausgestaltung Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 205 f. Siehe nochmals Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 171, 253 ff.; ähnlich auch BVerfG v. 24.4.1996 – 1 BvR 712/86, BVerfGE 94, 268 (284). Siehe nur BVerfG v. 26.6.1991 – 1 BvR 779/85, BVerfGE 84, 212 (228); BVerfG v. 10.1.1995 – 1 BvF 1/90, 1 BvR 342/90, 1 BvR 348/90, BVerfGE 92, 26 (41); 92, 268 (284); BVerfG v. 24.2.1999 – 1 BvR 123/93, BVerfGE 100, 214 (223). Art. 9 Abs. 2 GG findet keine Anwendung, vgl. Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 127; Rixen in Stern/Becker, Art. 9 GG Rz. 88; anders etwa Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen des Arbeitskampfes, 1968, S. 33; Friauf, RdA 1986, 188 (190 f.); Henssler, ZfA 1998, 1 (7); HWK/Hergenröder, Art. 9 GG Rz. 80 ff.; Bauer in Dreier, Art. 9 GG Rz. 93. Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 128; Höfling, FS Friauf, 1996, S. 377 (387 ff.); Pieroth, FS 50 Jahre BVerfG, Bd. II, 2001, S. 293 (307); Butzer, RdA 1994, 375 (381); Jarass, NZA 1990, 505 (507); zur Tarifautonomie auch BVerfG v. 24.4.1996 – 1 BvR 712/86, BVerfGE 94, 268 (284); vgl. ferner BVerfG v. 27.4.1999 – 1 BvR 2203/93, 1 BvR 897/95, BVerfGE 100, 271 (283); BVerfG v. 3.4.2001 – 1 BvL 32/97, BVerfGE 103, 293 (306); dazu auch Höfling, JZ 2000, 44 (45); Thüsing, FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 889 (891 f.); Bieback, AuR 2000, 201 (203); Wolter, NZA 2003, 1317 (1319). Vgl. dazu Henssler, ZfA 1998, 1 (4 f., 39); ähnlich schon Friauf, RdA 1986, 188 (190 f.); Butzer, RdA 1994, 375 (381); Kamanabrou, RdA 1997, 22 (32 f.); Söllner, NZA 1996, 897 (898); Lieb, FS Kraft, 1998, S. 343 (356 f.); Lieb, NZA 1985, 265 (268); Wank, JZ 1996, 629 (631). Vgl. Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 290 f.; vgl. aber auch Thüsing, FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 889 (892), der im Hinblick auf das Schrankenregime des Art. 9 Abs. 3 GG Bezugnahmen auf den Wortlaut für verfehlt hält. Eingehend zur Diskussion nur Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 80 ff.

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Garantie der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG)

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schen auf Deregulierung1. Die normative Wirkung von TVen und das tarifvertragliche Günstigkeitsprinzip2 wurden allerdings auch als verfassungsrechtlich unabdingbar qualifiziert3, sodass oftmals lediglich § 77 Abs. 3 BetrVG die Grundlage für eine Modernisierung der Tarifautonomie bildet4. Wie bereits dargelegt, kann die Fähigkeit, TVe abzuschließen, nicht der abwehrrechtlichen Grundrechtsdimension zugeordnet werden. Somit betreffen Modifikationen sowie eine ersatzlose Streichung des § 4 Abs. 1 TVG grundsätzlich nur die Grundrechtsausgestaltung5. Auch wenn das Untermaßverbot verfassungsrechtliche Restriktionen der Grundrechtsausgestaltung formuliert, stößt eine ersatzlose Streichung des § 4 Abs. 1 TVG nicht auf durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken6. Eine Deregulierung der Rechtsetzungsmacht lässt nämlich die Befugnis zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen im Wege dispositiver TVe7 oder sonstiger Kollektivvereinbarungen8 unberührt. Die zwingende Wirkung von TVen ist dementsprechend für die Wahrnehmung der Koalitionsfreiheit nicht unerlässlich9. Gleiches gilt 1 Ausführlich zum Ganzen Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 94 ff.; ferner etwa Hanau, RdA 1993, 1 ff.; Hanau, RdA 1998, 65 ff.; Heinze, NZA 1995, 5 (6); Junker, ZfA 1996, 383 (393 ff.); Söllner, NZA 1998, 897 ff.; Lieb, NZA 1994, 289 ff., 337 ff.; Schaub, NZA 1998, 617 ff.; Löwisch, NJW 1997, 905 ff.; Walker, ZfA 1996, 353 ff.; Waltermann, RdA 1996, 129 ff.; Picker, ZfA 1998, 573 ff.; eingehend auch Dieterich/Hanau/Henssler/Oetker/Wank/Wiedemann, RdA 2004, 65 (69 ff.). 2 Vgl. aber auch Hromadka, NZA 1996, 1233 (1239); Hromadka, DB 2003, 42 (46 f.) 3 Hanau, RdA 1993, 1 (4 f., 6). 4 Siehe etwa Reuter, ZfA 1995, 1 (62 ff.); Reuter, RdA 1991, 193 (199); ferner Hromadka, NZA 1996, 1233 (1239); Hromadka, DB 2003, 42 (46 f.); vgl. auch Löwisch, NJW 1997, 905 (911); kritisch Richardi in Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 61. Deutschen Juristentages, Bd. I, 1996, B 83; Dieterich, RdA 2002, 1 (16). 5 Vgl. Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 93a, eingehend Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 162 ff.; anders Dieterich, DB 2001, 2398 (2401); Hanau, FS Wiedemann, 2002, S. 283 (293 f.). 6 Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 93a; Rixen in Stern/Becker, Art. 9 GG Rz. 45; vgl. auch Rieble, ZfA 2004, 1 (39); Raab, ZfA 2004, 371 (392 ff.); Buchner, ZfA 2004, 229 (240); ferner Thüsing, GS Heinze, 2005, S. 901 (912). Kritisch dazu Henssler, ZfA 1994, 487 (511); vgl. aber auch Henssler, ZfA 1998, 1 (16); Junker, ZfA 1996, 383 (395); Wiedemann, FS Stahlhacke, 1995, S. 675 (681); Waltermann, FS Söllner, 2000, S. 1251 (1271 f.); Dieterich, RdA 2002, 1 ff.; Dieterich, DB 2001, 2398 (2402); ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 61 f., 85; vgl. ferner Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 146 f., 149. 7 Vgl. dazu auch BVerfG v. 4.7.1995 – 1 BvF 2/86, 1 BvF 1/87, 1 BvF 2/87, 1 BvF 3/87, 1 BvF 4/87, 1 BvR 1421/86, BVerfGE 92, 365 (394 f.) mit dem Hinweis auf die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie und die existenzielle Befugnis zum Abschluss von TVen. 8 Siehe dazu auch Rixen in Stern/Becker, Art. 9 GG Rz. 44; Cornils in Epping/Hillgruber, Art. 9 GG Rz. 61 f.; vgl. auch Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 90. 9 Ausführlich Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 207 ff.; vgl. auch Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, S. 55 ff.; Scholz in Maunz/Dürig, Art. 9 GG (1999) Rz. 300; Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 93a; Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, 2002, S. 154 f.; zur Unterscheidung zwischen Tarifautonomie und Normsetzung auch Waltermann, ZfA 2000,

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Teil 1 Rz. 27

Grundlagen des Tarifvertragsrechts

für Modifikationen des § 4 Abs. 3 TVG1: Kann schon die zwingende Wirkung von TVen nicht dem unerlässlichen Kernbereich der Koalitionsbetätigungsfreiheit zugeordnet werden, begegnet auch eine Zulassung von Ausnahmen2 von der zwingenden Wirkung keinen verfassungsrechtlichen Bedenken3. Schließlich zählt auch der Vorrang von TVen gegenüber Betriebsvereinbarungen nach § 77 Abs. 3 BetrVG nicht zu den unerlässlichen Voraussetzungen der Koalitionsbetätigungsfreiheit4. Dass aufgrund der freiheitlichen Durchsetzungsmöglichkeiten im Arbeitskampf die tarifliche Rechtsetzung von Verfassungs wegen Vorrang vor einer Gestaltung der Arbeitsverhältnisse durch Betriebsvereinbarungen genieße5, konfligiert mit der grundrechtsdogmatischen Erkenntnis, dass angesichts der Befugnis zum Abschluss von dispositiven TVen eine durch das Untermaßverbot konkretisierte Grenze zulässiger Grundrechtsausgestaltung durch eine ersatzlose Streichung des § 77 Abs. 3 BetrVG nicht überschritten wird6. 27

Auch die Einsicht, dass die Koalitionsfreiheit eine Kompensation der Schwäche des einzelnen Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber durch einen Zusammenschluss in organisierten Interessenvertretungen bezweckt7 und dem Prinzip der freien sozialen Gruppenbildung im Interesse einer autonomen gesellschaftlichen Selbstorganisation8 folgt9, zwingt nicht zu einer normativen Wirkung von TVen sowie zu einem Tarifvorrang. Zunächst übersteigert die

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53 (56 ff.); Waltermann, FS Söllner, 2000, S. 1251 (1258 ff.); vgl. ferner Heinze, FS Kraft, 1998, S. 205 (207, 211 f.); Heinze, FS Weinspach, 2002, S. 103 (105); Buchner, ZfA 2004, 229 (240); Rieble, ZfA 2004, 1 (39); anders Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 95 ff.; Volkmann in Britz/Volkmann, S. 1 (27); Lambrich, Tarif- und Betriebsautonomie, 160; ähnlich wohl Badura, FS Zeidler, Bd. II, 1987, S. 1591 (1596); Richardi, NZA 2000, 617 (617 f.); vgl. auch BVerfG v. 18.11.1954 – 1 BvR 629/52, BVerfGE 4, 96 (108); 34, 307 (316 f.); BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (346); BVerfG v. 15.7.1980 – 1 BvR 24/74, 1 BvR 439/79, BVerfGE 55, 7 (23); eingehend zur ambivalenten Judikatur des Bundesverfassungsgerichts Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 185 ff. Scholz in Maunz/Dürig, Art. 9 GG (1999) Rz. 273; zuvor schon Säcker/Oetker, ZfA 1996, 85 (95 ff.); Papier, RdA 1989, 137 (141). Zu tarifvertraglichen Öffnungsklauseln nur BVerfG (K) v. 29.6.1993 – 1 BvR 1916/91, NZA 1994, 34. Eingehend dazu Höfling/Burkiczak, NJW 2005, 469 (472); Höfling in Sachs, Art. 9 Rz. 93b; ähnlich auch Dietlein, in Stern, Staatsrecht, Bd. IV/1, S. 2058; Heise, FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 657 ff.; kritisch Dieterich, RdA 2002, 1 (15, 17); ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 65; Wolter, NZA 2003, 1317 (1319 f.). Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 93b; Rixen in Stern/Becker, Art. 9 GG Rz. 45. Siehe dazu Kittner/Schiek in AK-GG, Art. 9 Abs. 3 GG (2001) Rz. 134; vgl. auch Döttger, Der Schutz tariflicher Normsetzung, 2003, S. 156, 189; Däubler/Däubler, TVG, Einleitung, Rz. 142 ff.; Dieterich, RdA 2002, 1 (13); Kempen, RdA 1994, 140 (151); Kissel, NZA 1986, 73 (79); ferner Rieble, ZfA 2004, 1 (39); Junker, ZfA 1996, 383 (395). Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 93b; Rixen in Stern/Becker, Art. 9 GG Rz. 45; vgl. auch Scholz in Maunz/Dürig, Art. 9 GG (1999) Rz. 273. BVerfG v. 18.11.1954 – 1 BvR 629/52, BVerfGE 4, 96 (107 f.); BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, BVerfGE 50, 290 (367); vgl. auch Cornils in Epping/Hillgruber, Art. 9 GG Rz. 38. Scholz in Maunz/Dürig, Art. 9 GG (1999) Rz. 11; vgl. auch ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 1. Rixen in Stern/Becker, Art. 9 GG Rz. 1, 11.

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Garantie der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG)

Rz. 27 Teil 1

Deduktion einer die normative Wirkung von TVen zu einen den Tarifvorrang implizierenden Bestandsgarantie der Koalitionen aus Art. 9 Abs. 3 GG1 die verfassungsrechtlichen Grenzen der Grundrechtsausgestaltung. Die Befürchtung, dass TVe im Zuge der Deregulierung des Tarifvertragsrechts zu unverbindlichen Richtlinien degradiert werden, die lediglich empfehlenden Charakter besitzen2 und die Betriebsräte zu beitragsfreien Ersatzgewerkschaften erstarken ließen3, hat nicht zwingend zur Folge, dass der Bestand der Koalitionen4 angetastet würde. Die Bestandsgarantie der Koalitionen untersagt nämlich lediglich eine Beeinträchtigung der Koalitionsbildungsfreiheit5. Eine Verpflichtung zur Optimierung der rechtlichen oder gesellschaftlichen Voraussetzungen der Koalitionsbetätigungsfreiheit kann Art. 9 Abs. 3 GG des Weiteren nicht abgewonnen werden6. Entsprechendes gilt für die Behauptung, die zwingende Wirkung von TVen sei zur Kompensation der Schwäche des einzelnen Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber notwendig7. Dass auch das Prinzip der freien sozialen Gruppenbildung die zwingende Wirkung von TVen jedenfalls angesichts der maßstabbildenden Funktion des Untermaßverbotes aus verfassungsrechtlicher Perspektive nicht zu legitimieren vermag, verdeutlicht schon die Tatsache, dass die Prämisse von der strukturellen Unterlegenheit des Arbeitnehmers in ihrer Pauschalität immer weniger zutrifft8 und die Möglichkeit der einzelvertraglichen Einbeziehung von TVen in Individualarbeitsverträge in er-

1 Vgl. dazu Dieterich, DB 2001, 2398 (2402); ähnlich Junker, ZfA 1996, 383 (395), der im Hinblick auf Art. 77 Abs. 3 BetrVG eine Bestandsgarantie der Koalitionen bemüht; vgl. auch Hromadka, DB 2003, 42 (43 f.). 2 Dieterich, DB 2001, 2398 (2401); vgl. auch Löwisch, JZ 1996, 812 (818); Waltermann, FS Söllner, 2000, S. 1251 (1572). 3 Dieterich, DB 2001, 2398 (2402). 4 Vgl. dazu auch BVerfG v. 26.5.1970 – 2 BvR 664/65, BVerfGE 28, 295 (304); BVerfG v. 18.12.1974 – 1 BvR 430/65, 1 BvR 259/66, BVerfGE 38, 281 (302 f.); BVerfG v. 26.6.1991 – 1 BvR 779/85, BVerfGE 84, 212 (224). 5 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 222 ff.; in diese Richtung auch Cornils in Epping/Hillgruber, Art. 9 GG Rz. 55; ferner wohl BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 202 (220), mit dem Hinweis, im Anwendungsbereich von Tariftreueklauseln werde der Bestandsschutz allenfalls virulent, wenn Anreize für eine Koalitionsmitgliedschaft gemindert werden; siehe auch Rieble, ZfA 2005, 245 (267 f.); anders Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 135, mit dem Hinweis, staatliche Normsetzungskonkurrenz dürfe nicht den Bestand der Koalitionen beeinträchtigen; ähnlich wohl BVerfG v. 18.12.1974 – 1 BvR 430/65, 1 BvR 259/66, BVerfGE 38, 281 (302 ff.). 6 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 222; vgl. auch Wiedemann, FS Stahlhacke, 1995, S. 675 (681); zum Wettbewerb zwischen Koalition auch BVerfG v. 6.5.1964 – 1 BvR 79/62, BVerfGE 18, 18 (33); BVerfG v. 15.7.1980 – 1 BvR 24/74, 1 BvR 439/79, BVerfGE 55, 7 (24). 7 Anders Söllner, NZA-Beilage 24/2000, 33 (34); ähnlich Dieterich, RdA 2002, 1 (12); Volkmann in Britz/Volkmann, S. 1 (25). 8 Eingehend dazu Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 234 ff.; vgl. ferner Lambrich, Tarif- und Betriebsautonomie, 1999, S. 140 ff.; Reuter, FS Hattenhauer, 2003, S. 409 (417); anders noch BVerfG v. 26.6.1991 – 1 BvR 779/85, BVerfGE 84, 212 (229); ferner etwa Veith, Die funktionelle Zuständigkeit des Betriebsrats, 1998, S. 46 f.; Dorndorf, FS Kissel, 1994, S. 139 (142).

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Teil 1 Rz. 28

Grundlagen des Tarifvertragsrechts

heblichem Maße praktiziert wird1. Eine einseitige Festlegung der Arbeitsbedingungen durch den Arbeitgeber, ist deshalb keineswegs zwingende Folge einer ersatzlosen Streichung des § 4 Abs. 1 TVG.

3. Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität 28

Nachdem das Bundesarbeitsgericht der nicht zuletzt verfassungsrechtlich fundierten Kritik2 an der Begründung einer Vorrangstellung speziellerer TVe im Falle der Tarifkonkurrenz sowie der Tarifpluralität3 Rechnung getragen und den Grundsatz der Tarifeinheit aufgegeben hat4, dominiert in der Auseinandersetzung um Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität die an den Gesetzgeber adressierte Forderung, den Grundsatz der Tarifeinheit normativ festzuschreiben5. Da jedenfalls der in der Judikatur des Bundesarbeitsgerichtes entwickelte Grundsatz der Tarifeinheit abgeschlossene TVe verdrängt, hat das Bundesarbeitsgericht zutreffend eine Verletzung der abwehrrechtlichen Schutzdimension6 1 Vgl. dazu etwa Oetker, FS Wiedemann, 2002, S. 383 ff.; Preis, FS Wiedemann, 2002, S. 425 ff. 2 Bruhn, Tarifeinheit im Betrieb als Eingriff in die Koalitionsfreiheit, 1997, S. 145 ff.; Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, S. 411 ff.; Waas, Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität, S. 123 ff.; Band, Tarifkonkurrenz, Tarifpluralität und der Grundsatz der Tarifeinheit, 2003, S. 119 ff.; ferner Konzen, RdA 1978, 146 ff.; Kraft, RdA 1992, 161 ff.; Salje, SAE 1993, 79 (81 f.); Merten, BB 1993, 572 ff.; Wiedemann/Arnold, ZTR 1994, 399 ff.; Fenn, FS Kissel, 1994, S. 213 ff.; Franzen, RdA 2001, 1 (7 f.); Rieble, BB 2003, 1227 (1228); Schaub, RdA 2003, 378 ff.; Hanau, NZA 2003, 128 ff.; Hanau, RdA 2008, 98 ff.; Schaub, RdA 2003, 378 ff.; Jacobs, NZA 2008, 325 ff.; Thüsing/v. Medem, ZIP 2007, 510 ff.; Reichold, NZA 2007, 321 (324); Lindemann/Simon, BB 2006, 1852 (1956); Bayreuther, NZA 2006, 642 (643); Bayreuther, BB 2005, 2633 (2640); Jacobs in Jacobs/ Krause/Oetker, § 7, Rz. 231 ff.; Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 943 ff.; anders Buchner, BB 2008, 106 (108); Buchner, FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 631 ff.; Buchner, BB 2003, 2121 ff.; Buchner, ZfA 2004, 229 (246 ff.); Hunold, NZA 2007, 1037 ff.; Giesen, NZA 2009, 11 ff.; Hromadka, GS Heinze, 2005, S. 383 ff.; Hromadka, NZA 2008, 284 (386 ff.); Meyer, DB 2006, 1271 ff.; Meyer, NZA 2006, 1387 ff.; Kempen, FS Hromadka, 2008, S. 177 ff.; Heinze/Ricken, ZfA 2001, 159 ff.; Säcker/Oetker, ZfA 1993, 1 ff. 3 Eingehend zur Judikatur des Bundesarbeitsgerichts nur Bepler, NZA, Beilage 2010, 99 ff. 4 BAG v. 27.1.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 645 ff.; BAG v. 23.6.2010 – 10 AS 2/10, NZA 2010, 778; BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068 ff.; dazu nur Freckmann/Müller, BB 2010, 1981 ff.; rechtsvergleichend Junker, ZfA 2011, 299 ff.; zu den arbeitskampfrechtlichen Auswirkungen v. Steinau-Steinrück/Brugger, NZA-Beilage 2010, 127 ff.; Fritz/Meyer, NZA, Beilage 2010, 111 (113 f.); Melms/Reinhardt, NZA 2010, 1033 ff.; Rüthers, NZA 2010, 6 ff.; Greiner, NJW 2010, 2977 ff.; Scholz, ZfA 2010, 681 ff.; Spielberger, NJW 2011, 264 ff.; Franzen, ZfA 2011, 647 ff. 5 Siehe schon Hromadka, NZA 2008, 384 ff.; eingehend ferner Konzen, JZ 2010, 1036 ff.; Bayreuther, DB 2010, 2223 ff.; Hanau, DB 2010, 2107 ff.; Löwisch, RdA 2010, 263 ff.; Greiner, NZA 2010, 743 ff.; Lehmann, BB 2010, 2237 ff.; Franzen, ZfA 2011, 647 (663 ff.); Giesen, ZfA 2011, 1 ff.; Papier/Krönke, ZfA 2011, 807 ff. 6 Anders Kempen, FS Hromadka, 2008, S. 177 ff.; Hromadka/Schmitt-Rolfes, NZA 2010, 687 (689); Hromadka, NZA 2008, 384 (387); Buchner, BB 2003, 2121 (2128), die die Figur der Grundrechtsausgestaltung bemühen; ausführlich dazu zuletzt Papier/Krönke, ZfA 2011, 807 (820 ff.); vgl. auch Konzen, JZ 2010, 1036 (1041 f.); ferner Schliemann, FS Hromadka, 2008, S. 359 (368 ff.), mit dem Hinweis, Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG sei nicht zu entnehmen, dass jeder Koalition ein Anspruch auf Abschluss und Wirksamkeit von

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Garantie der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG)

Rz. 29 Teil 1

des Art. 9 Abs. 3 GG konstatiert1, die aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit2 und namentlich aufgrund der neben § 3 Abs. 2 TVG3 angesiedelten praktischen Folgeprobleme4 nicht gerechtfertigt werden kann5. Auch die Gefahr eines Unterbietungswettbewerbes, der dysfunktionale Wirkungen der individuellen Arbeitsbeziehung auf kollektiver Ebene aufleben lässt6, vermag eine Beeinträchtigung des Art. 9 Abs. 3 GG nicht zu rechtfertigen; in diese Richtung streitet schon, dass die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie jedenfalls als eingriffslegitimierender Topos keine Bedeutung erlangt7. Im Übrigen determinierte nach der Judikatur des Bundesarbeitsgerichts nicht ein inhaltlicher Maßstab, sondern allein der Gedanke der Spezialität8 die Verdrängung konkurrierender TVe, sodass ein Unterbietungswettbewerb im Wege der Tarifeinheit schon nicht unterbunden werden kann. Allerdings konfligieren die Auswirkungen eines durch Tarifpluralität erzeugten Überbietungswettbewerbes9 mit dem Grundrecht der Berufsfreiheit, das Grundrechtseingriffe im Anwendungsbereich des Art. 9 Abs. 3 GG unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsmaßstabes10 grundsätzlich zu legitimieren vermag11.

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TVen zukomme; zur Unterscheidung von Grundrechtsausgestaltung und Grundrechtseingriff in vorliegendem Zusammenhang auch Giesen, ZfA 2011, 1 (15 ff.). BAG v. 27.1.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 645 (654 ff.); BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068 (1075 ff.); vgl. ferner Jacobs, NZA 2008, 325 (328); Franzen, ZfA 2009, 297 (302 ff.); Engels, RdA 2008, S. 331 (334 f.). Vgl. noch BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, AP Nr. 20 zu § 4 Tarifkonkurrenz; kritisch dazu Dieterich, GS Zachert, 2010, S. 532 (539 f.); Franzen, ZfA 2009, 297 (306 f., 310). Dazu in vorliegendem Zusammenhang nur Franzen, ZfA 2009, 297 (305 f.). Dazu noch BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, AP Nr. 20 zu § 4 Tarifkonkurrenz; kritisch nur Franzen, ZfA 2009, 297 (310 f.); Franzen, RdA 2008, 192 (195 ff.); Hanau, RdA 2008, 98 (99); Jacobs, NZA 2008, 325 (328 f.); Jacobs, FS Buchner, 2009, S. 342 (342); Bayreuther, NZA 2007, 187 ff.; Reichold, RdA 2007, 321 ff.; Thüsing/v. Medem, ZIP 2007, 510 ff.; eingehend zum Ganzen zuletzt Schmidt, Tarifpluralität im System der Arbeitsrechtsordnung, 2011, passim. Dazu auch ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 68a; Dieterich, GS Zachert, 2010, S. 532 (537 f.); anders Giesen, NZA 2009, 11 ff.; Hromadka, NZA 2008, 384 ff.; Kempen, FS Hromadka, 2008, S. 169 ff. Vgl. dazu nochmals Kempen, FS Hromadka, S. 177 (184 ff.); ähnlich auch Giesen, NZA 2009, 11 (15, 16). Differenzierend in vorliegendem Zusammenhang auch Dietrich, GS Zachert, 2010, S. 532 (538 f.); in diese Richtung ferner Richardi, FS Buchner, 2009, S. 731 (739 f.); anders etwa Franzen, ZfA 2009, 297 (308 ff.); Bayreuther, FS Hromadka, 2008, S. 1 (2); Bayreuther, DB 2010, 2223 (2225 ff.); Giesen, ZfA 2011, 1 (26 ff.). Eingehend dazu nur Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 928 ff.; ferner Schliemann, FS Hromadka, 2008, S. 359 (366 f.); siehe aber auch Konzen, JZ 2010, 1036 (1037); Jacobs, FS Birk, 2008, S. 243 (261); Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 275 ; Preis/Greiner, NZA 2007, 1073 (1076 f., 1078). Vgl. dazu Buchner, BB 2008, 106 ff.; Buchner, ZfA 2004, 229 (246 ff.); Hanau, RdA 2008, 95 ff.; Hromadka, NZA 2008, 384 ff.; Hromadka, GS Heinze, 2005, S. 383 (388); Bayreuther, BB 2005, 2633 (2641); Kamanabrou, ZfA 2008, 241 (262); Meyer, NZA 2006, 1387 (1390); Franzen, ZfA 2009, 297 (307, 311 ff.). Differenzierend auch Franzen, ZfA 2009, 297 (311 f); vgl. ferner Konzen, JZ 2010, 1036 (1043); siehe auch Jacobs, NZA 2008, 325 (328 f.). Vgl. auch Schliemann, FS Hromadka, 2008, S. 359 (372 ff.).

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Teil 1 Rz. 30

Grundlagen des Tarifvertragsrechts

Gleichwohl ist zu beachten, dass eine Verdrängung konkurrierender TVe mit gleichheitsrechtlichen1 Aspekten in Konflikt gerät2. Da die Tarifautonomie lediglich als normgeprägte Freiheit qualifiziert werden kann, ist demgegenüber eine im Interesse der Tarifeinheit normierte Beschränkung der Tariffähigkeit3 sowie eine stärkere Regulierung der Tarifvertragsverhandlungen4 schließlich lediglich als Grundrechtsausgestaltung zu qualifizieren5.

4. Tariftreueklauseln 30

Ein weiteres Problem betrifft Tariftreueklauseln: Während der Europäische Gerichtshof Tariftreueklauseln wegen Verstoßes gegen die Dienstleistungsfreiheit als europarechtswidrig qualifiziert6, nimmt die verfassungsrechtliche Bewertung von Tariftreueklauseln, die eine Ausweitung tarifvertraglicher Regelungen im Interesse der Bekämpfung von Sozialdumping7 auf nicht tarifgebundene Arbeitgeber aus dem In- und Ausland erstreckt, auf die negative Dimension der Koalitionsfreiheit Bezug. Art. 9 Abs. 3 GG umfasst zweifelsohne auch die Freiheit, aus einer Koalition auszutreten oder Koalitionen fernzubleiben8, die namentlich im Hinblick auf die Rechtsstellung von Außenseitern9 1 Scholz, FS Buchner, 2009, S. 827 (829 f.). 2 Zur Bedeutung des Kriteriums der Sachnähe sowie zum Mehrheitsprinzip Franzen, ZfA 2009, 297 (314 ff.); zum Modell der Tarifeinheit in der Sparte Hanau, RdA 2008, 98 (103); dazu auch Konzen, JZ 2010, 1036 (1044); eingehend ferner Greiner, Rechtsfragen der Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfpluralität, S. 348 ff. 3 In diese Richtung auch BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, AP TVG Tariffähigkeit Nr. 4; Richardi, FS Buchner, 2009, S. 731 (734 f.) mit dem Hinweis, das Kriterium der sozialen Mächtigkeit könne die Auswirkungen der Tarifpluralität und der Tarifkonkurrenz nicht bewältigen. 4 Vgl. zur Etablierung eines Kooperationsgebotes nochmals Hirdina, NZA 2009, 997 ff.; Jacobs, FS Buchner, 2009, S. 342 (345, 352 f.); Franzen, ZfA 2009, 297 (312, 316 f.); Franzen, RdA 2008, 193 (203 f.); Hromadka, NZA 2008, 384 ff.; Kamanabrou, ZfA 2008, 241 (271 ff.); zum Vorschlag einer obligatorischen Schlichtung Bayreuther, NZA 2008, 12 (16); Buchner, BB 2007, 2520 (2521); Jacobs, FS Buchner, 2009, S. 342 (356). 5 Ähnlich wohl Franzen, ZfA 2009, 297 (312 f.). 6 EuGH v. 3.4.2008 – C-346/06, DÖV 2008, 552 ff.; dazu etwa Seifert, EuZA 2008, 526 ff.; Bayreuther, NZA 2008, 626 ff.; Bayreuther, EuZW 2009, 102 ff.; Thüsing/Granetzny, NZBau 2009, 183 ff.; Thüsing/Granetzny, NZA 2009, 183 ff.; Bitterich, ZIP 2008, 1455 ff.; Klumpp, NJW 2008, 3473 ff.; Hänlein, ZESAR 2008, 275 ff.; Kocher, DB 2008, 1042 ff.; Bungenberg, EuR 2008, 397 ff. 7 Vgl. nur BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 202 (223 f.). 8 BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, BVerfGE 50, 290 (367); 64, 208 (213); BVerfG v. 23.4.1986 – 2 BvR 487/80, BVerfGE 73, 261 (270); BVerfG v. 3.4.2001 – 1 BvL 32/97, BVerfGE 103, 293 (304); BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 202 (218); Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 65; ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 32 ff.; kritisch wohl Rieble/Klebeck, ZIP 2006, 829 (831); eingehend in vorliegendem Zusammenhang Preis/Ulber, NJW 2007, 465 (466 f.). 9 Im Anwendungsbereich von Tariftreueklauseln judizierte das Bundesverfassungsgericht, dass eine staatliche Geltungsanordnung fehle und zudem das Betätigungsrecht der Koalitionen nicht betroffen sei, konkurrierende Rechtssetzungskompetenzen mithin nicht aufeinander träfen und folglich den Koalitionen aus Art. 9 Abs. 3 GG auch kein verfassungsrechtlich geschütztes Interesse an einer Beteiligung am Verfahren der Tariftreueerklärung erwachse, vgl. BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 202

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Garantie der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG)

Rz. 31 Teil 1

von Bedeutung ist1. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts gewährleistet die negative Koalitionsfreiheit gegenüber fremdbestimmter Normsetzung nach § 5 TVG2 und § 1 Abs. 3a AEntG a.F3. jedoch keinen verfassungsrechtlichen Schutz. Dass Art. 9 Abs. 3 GG nur vor erheblichem, nicht dagegen vor jedem Beitrittsdruck schütze, und folglich auch eine negative Tarifvertragsfreiheit nicht existiere4, präjudiziert auch die verfassungsrechtliche Bewertung von Tariftreueklauseln5. Eine an der Erheblichkeit des Beitrittsdrucks orientierte Differenzierung6 lässt indes nicht nur Maßstäbe der Konkretisierung des Kriteriums der Erheblichkeit – die namentlich eine negative Tarifvertragsfreiheit aus dem Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG ausklammern – vermissen7, vielmehr tendiert eine entsprechende Differenzierung auch zu einer Verschränkung der grundrechtsdogmatischen Kategorien des Schutzbereichs und des Grundrechtseingriffs8. In Fortsetzung der Klarstellung der Kernbereichsdoktrin ist folglich eine Aufgabe der restriktiven Auslegung der negativen Koalitionsfreiheit angezeigt9. Allerdings kann – ungeachtet der dogmatischen Zweifel, denen das Schutzgut der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie auch im Anwendungsbereich von

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(219 f.); des Weiteren stellte das Bundesverfassungsgericht fest, Anreize zum Koalitionsbeitritt würden nicht gemindert, sodass auch der Bestand der Koalitionen durch Tariftreueklauseln nicht tangiert würde, vgl. BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 202 (220); schließlich judizierte das Bundesverfassungsgericht, auch die Möglichkeit einer Verdrängung konkurrierender TVe führe nicht zur Verfassungswidrigkeit von Tariftreueklauseln, da kein rechtliches Hindernis zum Abschluss von TVen errichtet werde und der Abschluss konkurrierender TVe nicht unmöglich gemacht werde, vgl. BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 202 (220); zum Ganzen auch Höfling/Rixen, RdA 2007, 360 (362 f.), die entgegen der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts auf den Aspekt der Auswahl einer tarifvertraglichen Bezugsbasis der Tariftreueklauseln und auf die Gefahr einer systematischen Benachteiligung kleinerer Koalitionen hinweisen; ähnlich Tietje, NZBau 2007, 23 (25). Vgl. auch ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 33 ff. BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (352). Vgl. BVerfG v. 18.7.2000 – 1 BvR 948/00, NZA 2000, 948 f.; eingehend dazu zuvor Ossenbühl/Cornils, Tarifautonomie und staatliche Gesetzgebung, 2000, passim. Siehe dazu auch ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 36; Schubert, RdA 2001, 199 ff.; Sansone/Ulber, AuR 2009, 125 (129); Preis/Ulber, NJW 2007, 465 (466 f.); Preis/Greiner, ZfA 2009, 825 (829); Wolter, AuR 2006, 137 (139); Kreiling, NZA 2001, 1118 (1124); kritisch dazu Höfling/Rixen, RdA 2007, 360 (362); zuvor wohl auch Reuter, FS Wiedemann, 2002, S. 449 (478); Schleusener, ZTR 1998, 100 (101). BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 202 (218); vgl. ferner BayVGH v. 20.6.2008 – Vf. 14-VII-00, BayVBl. 2008, 626 ff. Die Behauptung, die positive Koalitionsfreiheit der Koalitionsmitglieder umfasse im Gegensatz zum grundrechtlichen Status der Koalitionen nicht das Recht, Tarifnormen zu setzen, so dass auch eine negative Tarifvertragsfreiheit ausscheiden müsse, vgl. dazu Schubert, RdA 2001, 199 (202), lässt schon die Bedeutung des Art. 19 Abs. 3 GG unbeachtet, vgl. Höfling/Rixen, RdA 2007, 360 (362); zum Problem auch Preis/Ulber, NJW 2007, 465 (466 f.). Höfling/Rixen, RdA 2007, 360 (361 f.). Höfling/Rixen, RdA 2007, 360 (361); Rixen, BayVBl. 2010, 325 (326). Rixen, BayVBl. 2010, 325 (326).

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Teil 1 Rz. 31

Grundlagen des Tarifvertragsrechts

Tariftreueklauseln1 begegnet2 – die sozialverträgliche Gestaltung der Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen3 unter Beachtung grundrechtsdogmatischer Elementarkategorien4 die Beeinträchtigung der negativen Koalitionsfreiheit dennoch rechtfertigen5.

B. Tarifvertrag und höherrangiges Recht Literatur: Belling, Die Verantwortung des Staats für die Normsetzung durch die Tarifpartner, ZfA 1999, 547; Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, 2005; Burkiczak, Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien oder Relevanz grundrechtlicher Schutzpflichten – Erfurter Einerlei?, RdA 2007, 17; Butzer, Verfassungsrechtliche Grundlagen zum Verhältnis zwischen Gesetzgebungshoheit und Tarifautonomie, RdA 1994, 375; Canaris, Grundrechte und Privatrecht, AcP 184 (1984), 201; Coester, Vorrangprinzip des Tarifvertrags, 1974; Dieterich, Tarifautonomie und Gesetzgebung, 2003; Henssler, Tarifautonomie und Gesetzgebung, ZfA 1998, 1; Höfling, Die Grundrechtsbindung der Staatsgewalt, JA 1995, 431; Höfling/Burkiczak, Die unmittelbare Drittwirkung gemäß Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG, RdA 2004, 263; Hopfner, Gesetzgebung und Tarifautonomie, 2009; Kirchhof, Private Rechtsetzung, 1987; Otto, Tarifautonomie unter Gesetzes- oder Verfassungsvorbehalt, in: Bettermann (Hrsg.), Festschrift für Albrecht Zeuner zum 70. Geburtstag, 1994, S. 121; Rüfner, Zur Gemeinwohlbindung der Tarifvertragsparteien, RdA 1985, 193; Rupp, Methodenkritische Bemerkungen zum Verhältnis von tarifvertraglicher Rechtsetzung und parlamentarischer Gesetzgebungskompetenz, JZ 1998, 919; Schnapp/Kaltenborn, Grundrechtsbindung nichtstaatlicher Institutionen, JuS 2000, 937; Schwarze, Die Grundrechtsbindung der Tarifnormen aus der Sicht grundrechtlicher Schutzpflichten, ZTR 1996, 11; Singer, Tarifvertragliche Normenkontrolle am Maßstab der Grundrechte?, ZfA 1995, 611; Steiner, Zum verfassungsrechtlichen Stellenwert der Tarifautonomie, in: Bauer (Hrsg.), Festschrift für Peter Schwerdtner zum 65. Geburtstag, 2003, S. 355; Thüsing, Tarifautonomie und Gemeinwohl, in: Oetker (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, 2004, S. 889; Ulber, Tarifdispositives Gesetzesrecht im Spannungsfeld von Tarifautonomie und grundrechtlichen Schutzpflichten, 2010; Vossen, Tarifdispositives Richterrecht, 1974; Waltermann, Kollektivvertrag und Grundrechte, RdA 1990, 138; Waltermann, Zu den Grundlagen der Rechtsetzung durch Tarifvertrag, in: Köbler (Hrsg.), Europas universale rechtsordnungspolitische Aufgabe im Recht des dritten Jahrtausends, Festschrift für Alfred Söllner zum 70. Geburtstag, 2000, S. 1251; Waltermann, Zur Grundrechtsbindung der tarifvertraglichen Rechtsetzung, in: Oetker (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, 2004, S. 913; Wiedemann, Tarifautonomie und staatliches Gesetz, in: Fahrtmann (Hrsg.), Ar1 Vgl. BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 202 (224). 2 Zur Unzulässigkeit der Funktionalisierung der Tarifautonomie nochmals Cornils in Epping/Hillgruber, Art. 9 GG Rz. 99; Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 406 ff.; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 239 ff.; Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 183; kritisch in vorliegendem Zusammenhang auch Rieble, NZA 2007, 1 (2); anders nur Preis/Ulber, NJW 2007, 465 (470 f.). 3 BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 202 (223 f.); siehe dazu auch BayVGH v. 20.6.2008 – Vf. 14-VII-00, BayVBl. 2008, 626 (626); ferner Wendeling-Schröder, GS Zachert, 2010, S. 147 (155 ff.); Preis/Greiner, ZfA 2009, 825 (829); Preis/Ulber, NJW 2007, 465 (469 f.); kritisch Rieble, NZA 2007, 1 (3). 4 Dazu Höfling/Rixen, RdA 2007, 360 (364 ff.); Rixen, BayVBl. 2010, 325 (326 f.). 5 Die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts verdeutlicht, dass namentlich die Möglichkeit zur Stellungnahme keine zwingende Voraussetzung verfassungsrechtlich legitimer Tariftreueklauseln ist, vgl. dazu auch Preis/Ulber, NJW 2007, 465 (468); anders Löwisch, DB 2001, 1090 (1091); Scholz, RdA 2001, 193 (198).

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Tarifvertrag und höherrangiges Recht

Rz. 34 Teil 1

beitsgesetzgebung und Arbeitsrechtsprechung, Festschrift zum 70. Geburtstag von Eugen Stahlhacke, 1995, S. 675; Zachert, Elemente einer Dogmatik der Grundrechtsbindung der Tarifparteien, AuR 2002, 330.

Um die von Art. 9 Abs. 3 GG intendierte autonome Ordnung des Arbeitslebens verwirklichen zu können, wurde den Koalitionen angesichts der historisch gewachsenen Bedeutung der Tarifautonomie das Mittel des TVes an die Hand gegeben. Der TV enthält in seinem normativen Teil Rechtsregeln – generell-abstrakte, nach Maßgabe des § 4 Abs. 3 TVG zwingende Bestimmungen für den Inhalt der Arbeitsverhältnisse. Normsetzung durch die TV-Parteien ist folglich Gesetzgebung im materiellen Sinne, die Normen im rechtstechnischen Sinne erzeugt1.

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I. Grundrechtsbindung Die normative Wirkung von TVen führt allerdings zu Unsicherheiten im Spannungsfeld von TVen und höherrangigem Recht. Namentlich Art. 1 Abs. 3 GG, der die Grundrechtsbindung von Gesetzgebung, vollziehender Gewalt und Rechtsprechung anordnet, wirft im Kontext der Tarifautonomie die Frage nach der Grundrechtsbindung von Privatrechtssubjekten auf, die zur Rechtsetzung befugt sind2. Während die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts eindeutige Stellungnahmen zur Grundrechtsbindung der TV-Parteien bislang vermieden hat3, prägen den Diskurs über die Grundrechtsbindung der TV-Parteien gegenläufiger Argumentationen, die nahezu parallel zu der Grenze zwischen verfassungsrechtlicher und arbeitsrechtlicher Disziplin verlaufen. Namentlich das Bundesarbeitsgericht judizierte in der Vergangenheit unter Bezugnahme auf die abwehrrechtliche Grundrechtsdimension4, dass auch TV-Parteien unmittelbar an die Grundrechte gebunden seien5. Zur Begründung stellte das Bundesarbeitsgericht fest, dass TVe Gesetze im materiellen Sinne seien; der Anwendungsbereich des Art. 1 Abs. 3 GG sei nicht auf staatliche Gesetze beschränkt, sodass die angeordnete Grundrechtsbindung auch auf TVe zu erstrecken sei6.

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Eine unmittelbare Grundrechtsbindung der TV-Parteien kann auch unter Hinweis auf die zwingende Wirkung von TVen allerdings nicht begründet werden7.

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1 BVerfG v. 18.11.1954 – 1 BvR 629/52, BVerfGE 4, 96 (106); BVerfG v. 6.5.1964 – 1 BvR 79/62, BVerfGE 18, 18 (26); BVerfG v. 26.5.1970 – 2 BvR 664/65, BVerfGE 28, 295 (304 f.); BVerfG v. 27.2.1973 – 2 BvL 27/69, BVerfGE 34, 307 (317); BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (341); BVerfG v. 14.6.1983 – 2 BvR 488/80, BVerfGE 64, 208 (214). 2 Allgemein dazu Höfling in Sachs, Art. 1 GG Rz. 93 ff. 3 Vgl. BVerfG (K) v. 21.5.1999 – 1 BvR 726/98, NZA 1999, 878 f.; ferner BVerfG v. 27.2.1973 – 2 BvL 27/69, BVerfGE 34, 307 (317). 4 Siehe dazu auch Burkiczak, RdA 2007, 17 (17). 5 BAG v. 15.01.1955 – 1 AZR 305/54, BAGE 1, 258 (262); BAG v. 23.3.1957 – 1 AZR 326/56, BAGE 4, 240 (250 ff.); BAG v. 2.6.1961 – 1 AZR 573/59, BAGE 11, 135 (138); BAG v. 29.11.1967 – GS 1/67, BAGE 20, 175 (224); BAG v. 23.1.1992 – 2 AZR 470/91, BAGE 69, 257 (263 f.); BAG v. 7.3.1995 – 3 AZR 282/94, BAGE 79, 236 (242); vgl. auch Sodan, JZ 1998, 421 (425); ferner Belling, ZfA 1999, 547 ff. 6 BAG v. 15.1.1955 – 1 AZR 305/54, BAGE 1, 258 (262 f.). 7 Höfling in Sachs, Art. 1 GG Rz. 96; vgl. auch Singer, ZfA 1995, 611 (626 ff.); Waltermann, FS Söllner, 2000, S. 1251 (1274); Waltermann, RdA 1990, 138 (141, 144); Walter-

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Teil 1 Rz. 34

Grundlagen des Tarifvertragsrechts

Denn die Anordnung der unmittelbaren Grundrechtsbindung nach Art. 1 Abs. 3 GG und namentlich der Begriff der Gesetzgebung betreffen nur staatliche Rechtssätze1, zeigt doch schon der systematische Zusammenhang sowie der Hinweis auf vollziehende Gewalt und Rechtsprechung2, dass die Ausübung grundrechtlicher Freiheit nicht der Anordnung der Grundrechtsbindung nach Art. 1 Abs. 3 GG unterliegt. Gleiches3 gilt für die Behauptung, dass die soziale Macht der Koalitionen eine analoge Anwendung des Art. 1 Abs. 3 GG bedinge4. Dass Art. 1 Abs. 3 GG lediglich im Anwendungsbereich des § 5 TVG Bedeutung erlangt5, wird schließlich auch durch die jüngere Judikatur des Bundesarbeitsgerichts bestätigt: Das Bundesarbeitsgericht ordnete die Frage nach der Grundrechtsbindung der TV-Parteien zwar der grundrechtlichen Schutzpflichtendimension zu6, judiziert zugleich aber auch, dass die Grundrechtsbindung der TV-Parteien nicht allgemeingültig festzustellen sei7. Des Weiteren stellte das Bundesarbeitsgericht fest, dass dahinstehen könne, ob die Grundrechtsbindung der Koalitionen die abwehrrechtliche Grundrechtsdimension oder die Schutzpflichtendimension betreffe, da die Prüfungsmaßstäbe nicht divergierten8. Während ein differenzierter Problemlösungsansatz schon angesichts der einheitlichen Anordnung der Grundrechtsbindung in Art. 1 Abs. 3 GG nicht zu überzeugen vermag9, kann die Grundrechtsbindung der Koalitionen zwar grundsätzlich als Problem der Schutzpflichtendimension der Grundrechte konstruiert werden10. Allerdings scheint namentlich im Anwendungsbereich des Art. 3 GG die Existenz einer Schutzpflichtendimension fraglich11. Die Behauptung, die Prüfungsmaßstäbe der abwehrrechtlichen Grundrechtsdimension und der Schutzpflichtendimension der Grundrechte divergierten nicht,

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mann, FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 913 ff.; ferner Ulber, Tarifdispositives Gesetzesrecht, S. 427 f. Höfling in Sachs, Art. 1 GG Rz. 96, Art. 9 GG Rz. 93; Höfling, JA 1995, 431 (434 f.); Höfling/Burkiczak, RdA 2004, 263 (264 f.); Herdegen in Maunz/Dürig Art. 1 Abs. 3 GG (2005) Rz. 100; Cornils in Epping/Hillgruber, Art. 9 GG Rz. 62; vgl. ferner Canaris, AcP 184 (1984), 201 (243 f.); Schnapp/Kaltenborn, JuS 2000, 937 (941 f.). Vgl. dazu Schnapp/Kaltenborn, JuS 2000, 937 (941 f.). Vgl. Schnapp/Kaltenborn, JuS 2000, 937 (942). So aber Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, S. 668 f. BVerfG v. 15.7.1980 – 1 BvR 24/74, 1 BvR 439/79, BVerfGE 55, 7 (24 ff.); Höfling in Sachs, Art. 1 GG Rz. 96; Dreier in Dreier, Art. 1 GG Rz. 41; Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, 1988, S. 1278 f.; Steiner, FS Schwerdtner, 2003, S. 355 (358). BAG v. 25.2.1998 – 7 AZR 641/96, BAGE 88, 118 (123 f.); BAG v. 31.7.2002 – 7 AZR 140/01, BAGE 102, 65 (69); ferner BAG v. 27.5.2004 – 6 AZR 129/03, NZA 2004, 1399 (1402). BAGE 95, 277 (282); differenzierend auch Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 414 ff.; ferner wohl ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 79. BAG v. 12.10.2004 – 3 AZR 571/03, NZA 2005, 1127 (1129); BAG v. 28.7.2005 – 3 AZR 14/05, NZA 2006, 335 (339). Höfling in Sachs, Art. 1 GG Rz. 95. Eingehend Burkiczak, RdA 2007, 17 ff.; vgl. auch Höfling in Sachs, Art. 1 GG Rz. 96, Steiner, FS Schwerdtner 2003, S. 355 (359 f.); Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, 1988, S. 1277 f.; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 581 ff.; wohl auch HWK/Henssler, Einl. TVG Rz. 16; HWK/Hergenröder, Art. 9 GG Rz. 135 ff.; Zachert, AuR 2002, 330 (331); zuvor schon Schwarze, ZTR 1996, 1 ff. Siehe nur Burkiczak, RdA 2007, 17 (20 ff.).

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Tarifvertrag und höherrangiges Recht

Rz. 36 Teil 1

muss schließlich angesichts der strengen Exklusivität von Grundrechtsausgestaltung und Grundrechtseingriff fehlgehen1.

II. Gemeinwohlbindung Des Weiteren judizierte namentlich das Bundesverfassungsgericht, dass die Koalitionen an das Gemeinwohl gebunden seien. Angesichts der deutlich interessengerichteten Tätigkeit und der Bedeutung dieser Tätigkeit für die gesamte Wirtschaft und des Einflusses auf weite Bereiche des öffentlichen Lebens müssten die Koalitionen bei allen Aktivitäten das gemeine Wohl berücksichtigen.2 Während das Bundesverfassungsgericht zunächst nicht ausführte, ob die Gemeinwohlbindung eine faktische Obliegenheit3 oder eine ungeschriebene verfassungsrechtliche Grenze des Art. 9 Abs. 3 GG markiere4, judizierte das Bundesverfassungsgericht zuletzt, dass die Koalitionsfreiheit jedenfalls zum Schutz von Gemeinwohlbelangen eingeschränkt werden könne, denen gleichermaßen verfassungsrechtlicher Rang gebührt5. Schon aufgrund der Tatsache, dass eine Funktionalisierung der Koalitionsfreiheit Art. 9 Abs. 3 GG widerspricht6, kann jedenfalls eine der Ausübung der grundrechtlichen Freiheit immanente Gemeinwohlbindung nicht überzeugen7.

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Vielmehr beschreibt die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts, die auf die Möglichkeit der Einschränkung der Koalitionsfreiheit durch kollidierendes Verfassungsrecht hinweist, die dogmatischen Kategorien zutreffend. Art. 9 Abs. 3 GG unterliegt allenfalls verfassungsimmanenten Vorbehalten, die eine Beschränkung der grundrechtlichen Freiheit legitimieren8. Dennoch enthält das Gemeinwohl lediglich eine populäre Formulierung, der im Zusammenhang mit der Beschränkung der Koalitionsfreiheit keine eigenständige Bedeutung zuwächst9. Das Gemeinwohl bezeichnet nämlich einen vagen Begriff, der die Ge-

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1 Dazu nur Burkiczak, RdA 2007, 17 (18 ff.). 2 BVerfG v. 18.12.1974 – 1 BvR 430/65, 1 BvR 259/66, BVerfGE 38, 281 (307); vgl. dazu auch Isensee in Freudenfeld (Hrsg.), Die Zukunft der sozialen Partnerschaft, 1986, S. 159 (177 ff.); Rüfner, RdA 1985, 193 ff.; Sodan, JZ 1998, 421 (425 f.); Konzen, NZA 1995, 913 (914); Thüsing, FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 889 ff. 3 Vgl. Isensee in Freudenfeld (Hrsg.), Die Zukunft der sozialen Partnerschaft, 1986, S. 159 (179). 4 Kritisch dazu Steiner, FS Schwerdtner, 2003, S. 355 (359); zum Ganzen auch Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 127 f., 264 ff. 5 BVerfG v. 27.4.1999 – 1 BvR 2203/93, 1 BvR 897/95, BVerfGE 100, 271 (283); BVerfG v. 3.4.2001 – 1 BvL 32/97, BVerfGE 103, 293 (306); siehe dazu auch Otto, FS Zeuner, 1994, S. 121 (137 f.). 6 Dazu Cornils in Epping/Hillgruber, Art. 9 GG Rz. 99; Cornils, Ausgestaltung der Grundrechte, S. 406 ff.; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 239 ff.; Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 183. 7 Dietlein in Stern, Staatsrecht, Bd IV/1, S. 2003 f.; Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 83; vgl. auch Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 127; Richardi, JZ 2011, 282 (287). 8 Vgl. auch Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 266; ferner auch Scholz in Maunz/Dürig, Art. 9 GG (1999) Rz. 274. 9 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 266; vgl. auch HWK/Hergenröder, Art. 9 GG Rz. 142 f.; ferner Dieterich, Tarifautonomie und Gesetzgebung, S. 67 f.

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Grundlagen des Tarifvertragsrechts

fahr subjektiver Interpretation impliziert1. Angesichts der Tatsache, dass Koalitions- und Gemeinwohlinteressen divergieren können2 und auch eine Interpretationshoheit der Koalitionen fehlgehen muss3, scheint der Begriff des Gemeinwohls kaum justiziabel4. Bedarf der Begriff des Gemeinwohls aber einer am Maßstab der Verfassung zu messenden Konkretisierung5, ist ein eigenständiger Bedeutungsgehalt nicht zu ermitteln6.

III. Bindung an europäisches Gemeinschaftsrecht 37

Für das europäische Gemeinschaftsrecht hat der Europäische Gerichtshof eine divergierende Systematik konstruiert: Unstreitig scheint jedenfalls, dass Richtlinien7 unmittelbare8 Rechtswirkungen nicht gegenüber den TV-Parteien entfalten9, Allgemeinverbindlichkeitserklärungen demgegenüber aber am europäischen Gemeinschaftsrecht zu messen sind10. Des Weiteren hat der Europäische Gerichtshof eine unmittelbare Geltung der Grundfreiheiten für „Regelwerke […], die unselbständige und selbständige Tätigkeiten bzw. Dienstleistungen kollektiv regeln“11, grundsätzlich anerkannt12. Für die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 45 AEUV formulierte der Europäische Gerichtshof zunächst, dass Grundfreiheiten eine unmittelbare Beschränkung von TVen bewirken 1 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 265; Thüsing, FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 889 (890); Scholz in Maunz/Dürig, Art. 9 GG (1999) Rz. 274. 2 Henssler, ZfA 1998, 1 (21). 3 Butzer, RdA 1994, 375 (382); Thüsing, FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 889 (894); Scholz in Maunz/Dürig, Art. 9 GG (1999) Rz. 274; Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, S. 217 ff.; zum Ganzen auch Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 265. 4 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 265; vgl. auch Junker, ZfA 1996, 383 (392). 5 Scholz in Maunz/Dürig, Art. 9 GG (1999) Rz. 274; Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 98 ff.; vgl. auch Picker, ZfA 1986, 199 (217 ff.). 6 Ausführlich Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 265 f.; ähnlich wohl ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 81. 7 Zur Bindung der TV-Parteien an Verordnungen nur Krause in Jacobs/Krause/Oetker, § 1 Rz. 116; Wiedemann/Thüsing, Einleitung, Rz. 119. 8 Zum Gebot europarechtskonformer Auslegung Wiedemann/Thüsing, Einleitung, Rz. 119; Däubler/Schiek, TVG, Einleitung, Rz. 385. 9 Siehe nur Krause in Jacobs/Krause/Oetker, § 1 Rz. 116; Wiedemann/Thüsing, TVG, Einleitung, Rz. 128; ferner Schliemann, FS Hanau, 1999, S. 577 (581 f.); umfassend dazu Däubler/Schiek, TVG, Einleitung, Rz. 384 ff.; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 527 ff. 10 Vgl. Krause in Jacobs/Krause/Oetker, § 1 Rz. 116; Däubler/Schiek, TVG, Einleitung, Rz. 369; Schaub, FS Wißmann, 2005, S. 578 (581 f.). 11 Siehe dazu auch Thüsing/Braun/Thüsing, Einleitung, Rz. 41 ff.; zuvor Wiedemann/ Thüsing, Einleitung, Rz. 119 ff.; ferner Däubler/Schiek, TVG, Einleitung, Rz. 367 ff. 12 Vgl. EuGH v. 12.12.1974 – Rs. 36/74, Slg. 1974, 1405 ff.; EuGH v. 14.7.1976 – Rs. 13/76, Slg. 1976, 1333 ff.; EuGH v. 11.4.2000 – Rs. C-51/96 und 191/97, Slg. 2000, I-2549 ff.; EuGH v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98, Slg. 2000, I-4139 ff.; EuGH v. 19.2.2002 – Rs. C-309/99, Slg. 2002, I-1577 ff.

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können1. In den Entscheidungen Laval2 und Viking-Line3 statuierte der Europäische Gerichtshof ferner, dass die TV-Parteien an die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) sowie die Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV) gebunden sind: Arbeitskampfmaßnahmen implizieren nach der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes einen Eingriff in die Grundfreiheiten; dem steht nach der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes auch nicht die fehlende Zuständigkeit der Europäischen Union für das kollektive Arbeitsrecht entgegen, da Art. 153 Abs. 5 AEUV, der das kollektive Arbeitsrecht von der Rechtsetzungskompetenz des Art. 153 AEUV ausnimmt, nicht den Anwendungsbereich des sonstigen europäischen Gemeinschaftsrechts beeinträchtige4. Schließlich5 hat der Europäische Gerichtshof eine Verpflichtung der TVParteien auf das Diskriminierungsverbot des Art. 157 AEUV konstatiert6. Während im Anschluss auch eine Bindung der TV-Parteien an das Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV anerkannt wurde7, soll allerdings eine Verpflichtung der TV-Parteien auf einen allgemeinen europarechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz mit der fehlenden unmittelbaren Wirkung allgemeiner Rechtsgrundsätze des europäischen Gemeinschaftsrechts konfligieren8.

IV. Normsetzungsmonopol der Koalitionen? Da § 4 Abs. 1 TVG eine Befugnis zum Abschluss von TVen mit zwingender Wirkung normiert, sind Kollisionen zwischen tarifvertraglicher und staatlicher Normsetzung unvermeidbar9. Unbestreitbar ist schon aus Gründen der Normenhierarchie allerdings zunächst, dass TVe einer Rechtskontrolle am Maßstab des zwingenden Gesetzesrechts unterworfen sind10. Die aus Art. 9 Abs. 3 1 EuGH v. 8.7.1999 – Rs. C-234/97, Slg. 1999, I-4773 ff.; dazu nur Thüsing/Braun/Thüsing, Einleitung, Rz. 43; zuvor Thüsing in Wiedemann, Einleitung, Rz. 125 f.; siehe aber auch Roloff, Das Beschränkungsverbot des Art. 39 EG (Freizügigkeit) und seine Auswirkungen auf das nationale Arbeitsrecht, 2003, S. 233; differenzierend auch Parpart, Die unmittelbare Bindung Privater an die Personenverkehrsfreiheiten im europäischen Gemeinschaftsrecht, 2003, S. 110 ff. 2 EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05, Slg. 2007, I-11767 ff. 3 EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-438/05, Slg. 2007, I-10779 ff. 4 Siehe zum Ganzen nur Thüsing/Braun/Thüsing, Einleitung, Rz. 41 ff.; ferner Joussen, ZESAR 2008, 333 ff.; Junker, SAE 2008, 209 ff.; Schubert, RdA 2008, 289 ff.; Franzen, FS Buchner, 2009, S. 231 ff.; siehe aber auch Engels, ZESAR 2008, 475 ff. 5 Zum Verhältnis von TVen und Kartellrecht ferner nur Thüsing/Braun/Thüsing, Einleitung, Rz. 47 ff.; Krause in Jacobs/Krause/Oetker, § 1 Rz. 125; Däubler/Schiek, TVG, Einleitung, Rz. 371; zuletzt Mohr/Wolf, JZ 2011, 1091 ff. 6 Zur Judikatur des Europäischen Gerichtshofes nur Wiedemann/Thüsing, Einleitung, Rz. 123, 130 ff.; Däubler/Schiek, TVG, Einleitung, Rz. 372, 395 ff.; eingehend auch Krause in Jacobs/Krause/Oetker, § 1 Rz. 117 ff. 7 Thüsing/Braun/Thüsing, Einleitung, Rz. 45; Däubler/Schiek, TVG, Einleitung, Rz. 373 ff., 422 ff. 8 Thüsing/Braun/Thüsing, Einleitung, Rz. 45; Wiedemann/Thüsing, TVG, Einleitung, Rz. 129; Däubler/Schiek, TVG, 2006, Einleitung, Rz. 394. 9 Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 135; zum Phänomen der kooperativen Rechtsetzung aber Schwarze, ZfA 2011, 867 ff. 10 Wiedemann in Wiedemann, TVG, Einl. Rz. 354; HWK/Henssler, Einl. TVG Rz. 24 ff.; Däubler/Schiek, TVG, Einleitung, Rz. 309; vgl. auch Giesen, ZfA 2008, 355 (365).

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Grundlagen des Tarifvertragsrechts

GG zu deduzierenden Grenzen staatlicher Normsetzung beschreibt dieser Befund allerdings nicht. Im Spannungsfeld von tarifvertraglicher und staatlicher Normsetzung judizierte daher das Bundesverfassungsgericht, dass staatliche Regelungsbefugnisse im Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen weit zurückgenommen seien und Art. 9 Abs. 3 GG die Befugnis der Koalitionen, Rechtsregeln zu setzen und wieder aufzuheben, anerkannt habe1. Den Koalitionen stehe eine Normsetzungsprärogative zu, die allerdings nicht schrankenlos gelte. Der subsidiär für die Ordnung des Arbeitslebens zuständige Gesetzgeber sei aufgerufen, eine Betätigungsgarantie der Koalitionen unter Berücksichtigung des Kernbereichs der Koalitionsfreiheit zu normieren2. Die subsidiäre Regelungszuständigkeit des Gesetzgebers lebe folglich auf, wenn die Koalitionen die Aufgabe einer sinnvollen Ordnung des Arbeitslebens im Einzelfall nicht erfüllen und die soziale Schutzbedürftigkeit einzelner Arbeitnehmer oder Arbeitnehmergruppen oder ein anderes öffentliches Interesse ein gesetzliches Einschreiten erforderlich machten3. 39

Während die Ausführungen noch unverkennbare Bezüge zur Kernbereichsdoktrin aufweisen, stellte das Bundesverfassungsgericht infolge deren Relativierung mit Blick auf das Spannungsfeld von tarifvertraglicher und staatlicher Normsetzung des Weiteren fest, dass jede gesetzliche Regelung auf dem Gebiet der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, die einen Gegenstand betrifft, der herkömmlicherweise tariflich geregelt wird, einen Eingriff in Art. 9 Abs. 3 GG darstelle4. Da Art. 9 Abs. 3 GG schon angesichts des Regelungsgehaltes von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG kein Normsetzungsmonopol verleihe, komme eine gesetzliche Regelung dennoch in Betracht, wenn der Gesetzgeber auf Grundrechte Dritter oder andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtsgüter verweisen könne und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahre5. Das Spannungsfeld von tarifvertraglicher und staatlicher Normsetzung hat das Bundesverfassungsgericht schließlich im Hinblick auf Tariftreueklauseln präzisiert. Zwar formulierte das Bundesverfassungsgericht, dass Tariftreueklauseln nicht die Normsetzungsbefugnis der Koalitionen berühre, doch liegt diesem Befund die Annahme zugrunde, dass die Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen den Koalitionen vorbehalten sei. Folglich sei das Betätigungsfeld der Koalition staatlichen Einflussnahmen grundsätzlich verschlossen6.

1. Grundrechtsdogmatische Grundlagen 40

Zunächst kann die Behauptung einer Kompetenzverschiebung zugunsten der Koalitionen, die sowohl zwingendes als auch tarifdispositives7 Gesetzesrecht umfänglich als Grundrechtseingriff qualifiziert8, vor dem Hintergrund des Art. 74 1 2 3 4 5 6 7 8

BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (349). BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (341 f.). BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (342). BVerfG v. 24.4.1996 – 1 BvR 712/86, BVerfGE 94, 268 (283). BVerfG v. 24.4.1996 – 1 BvR 712/86, BVerfGE 94, 268 (284). BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 202 (219). Eingehend dazu Ulber, Tarifdispositives Gesetzesrecht, passim. Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, 1964, S. 152 ff.

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Abs. 1 Nr. 12 GG als fehlgehend identifiziert werden1. Des Weiteren lässt auch die Annahme, die Tarifautonomie impliziere einen Vorrang tarifvertraglicher Normsetzung2, der jedenfalls die Formulierung zwingender Regelungen auf dem Gebiet der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen als Grundrechtseingriff identifiziert3, die Unterscheidung von Grundrechtsausgestaltung und Grundrechtseingriff unberücksichtigt. Gleiches gilt für die Begründung einer Vorrangrelation zwischen zwingendem und tarifdispositivem Gesetzesrecht4. Da die Tarifautonomie lediglich als normgeprägte Freiheit qualifiziert werden kann, prägt das Spannungsfeld von tarifvertraglicher und staatlicher Normsetzung zunächst nicht eine inhaltliche Parallelität5, bedarf die tarifvertragliche Normsetzung doch einer Begründung durch einfachgesetzliche Vorschriften. Folglich geht auch die Annahme fehl, dass staatliche Normsetzung ein Versagen6 der tarifvertraglichen Normsetzung7 voraussetzt8. Vielmehr sind staatliche Vorgaben auf dem Gebiet der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, die den Gestaltungsspielraum der Koalitionen determinieren, als Grundrechtsausgestaltung zu qualifizieren, die nicht die Tarifautonomie beschränkt, sondern den Anwendungsbereich tarifvertraglicher Normsetzung definiert9. Angesichts der Geltung des Untermaßverbotes unterliegt die Bestimmung der inhaltlichen Reichweite tarifver-

1 Vgl. nur Wiedemann, FS Stahlhacke, 1995, S. 675 (687); Buschmann, FS Richardi, 2007, S. 93 (103); Dietlein in Stern, Staatsrecht, Bd IV/1, S. 2006; Rupp, JZ 1998, 919 (922). 2 Coester, Vorrangprinzip des Tarifvertrags, passim; Kempen in Kempen/Zachert, TVG, Grundl., Rz. 274 ff.; Otto, FS Zeuner, 1994, S. 121 (137 ff.); Neumann, RdA 2007, 71 (72); Waltermann, ZfA 2000, 53 (62); Dietlein in Stern, Staatsrecht, Bd IV/1, S. 2006; ähnlich auch Rüfner, RdA 1985, 193 (195); Vossen, Tarifdispositives Richterrecht, 1974, S. 55, die eine Vorrangrelation lediglich auf die Lohnfindung erstrecken; zum Ganzen auch Ulber, Tarifdispositives Gesetzesrecht, S. 92 ff. 3 Vgl. Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, 1969, S. 55 ff.; Säcker, ArbuR 1994, 1 (7); Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, 2005, S. 348 ff.; ferner Willemsen/Sagan, NZA 2008, 1216 (1218). 4 Vgl. dazu aber Löwisch/Rieble, Grundl., Rz. 171; Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, 1969, S. 50 f.; Säcker, ArbuR 1994, 1 (7); ähnlich wohl Kamanabrou, RdA 1997, 22 (29); im Kontext des Diskurses über Mindestlöhne auch Thüsing, ZfA 2008, 590 (594). 5 Dazu Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, 2000, S. 255 f.; ähnlich auch Scholz in Maunz/Dürig, Art. 9 GG (1999) Rz. 259. 6 Auch eine Verpflichtung zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen kann Art. 9 Abs. 3 GG kaum abgewonnen werden, hat doch namentlich das Bundesverfassungsgericht die Zulässigkeit von Öffnungsklauseln anerkannt, vgl. BVerfG (K) v. 29.6.1993 – 1 BvR 1916/91, NZA 1994, 34; dazu nur Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 89. 7 Im Kontext des Diskurses über Mindestlöhne dazu aber Thüsing, ZfA 2008, 590 (608); vgl. auch Rieble/Klebeck, ZIP 2006, 829 (831); Jacobs, GS Walz, 2008, S. 289 (294). 8 Vgl. im Kontext des Diskurses über Mindestlöhne auch Preis/Greiner, ZfA 2009, 825 (837). 9 Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, 2000, S. 161 ff.; ähnlich auch Oetker, ZG 1998, 155 (166); Wiedemann, FS Stahlhacke, 1995, S. 675 (691); wohl auch Buschmann, FS Richardi, 2007, S. 93 (102); kritisch dazu und eingehend zum Ganzen zuletzt Hopfner, Gesetzgebung und Tarifautonomie, S. 139 ff.

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Grundlagen des Tarifvertragsrechts

traglicher Normsetzung folglich einem weiten Gestaltungsspielraum1 und stößt allenfalls auf durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken, wenn ein aus Gründen der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie erforderlicher Mindeststandard der Gestaltungskompetenzen der Koalitionen unterschritten wird2.

2. Zum Diskurs über Mindestlöhne 41

Während das Spannungsfeld von Koalitionsfreiheit und Mindestlöhnen zunächst von der Frage determiniert wurde, ob neben der Regelung des § 8 Abs. 2 MiArbG a.F. auch § 1 Abs. 3a AentG a.F. die Festschreibung eines Tarifvorrangs abgewonnen werden konnte3, führt jedenfalls die Beseitigung des Tarifvorrangs durch § 8 Abs. 2 MiArbG n.F. sowie § 8 Abs. 2 AEntG n.F.4 zu einer Kollisionslage zwischen Tarifautonomie – namentlich das Bundesverfassungsgericht judizierte im Übrigen, dass neben § 5 TVG5 auch § 1 Abs. 3a AEntG a.F.6 mit der negativen Koalitionsfreiheit7 vereinbar sei – und der staatlichen Festschreibung von Mindestlöhnen. Auch die grundrechtsdogmatische Konstruktion der staat1 Obwohl weiterhin eine Beeinträchtigung der Tarifautonomie als dogmatische Basis des Spannungsfeldes von tarifvertraglicher und staatlicher Normsetzung dient, respektiert auch die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts einen weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, vgl. BVerfG v. 3.4.2001 – 1 BvL 32/97, BVerfGE 103, 293 (307); mit Blick auf Art. 12 GG auch BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 202 (224); siehe dazu auch Cornils in Epping/Hillgruber, Art. 9 GG Rz. 91; kritisch dazu Ulber, Tarifdispositives Gesetzesrecht, S. 77 ff. 2 Vgl. Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 122 f.; ähnlich auch Oetker, ZfA 2001, 288 (309); Wiedemann, FS Stahlhacke, 1995, S. 675 (691); Butzer, RdA 1994, 375 (377); anders Rieble, ZfA 2005, 245 (255). 3 Siehe dazu Sodan/Zimmermann, NJW 2009, 2001 (2001); Maier, AuR 2008, 387 f.; Maier, NZA 2009, 351 (352); Däubler/Lakies § 5 TVG Anh. 2 Rz. 104; VG Berlin v. 7.3.2008 – 4 A 439/07, NZA 2008, 482 (486 ff.); anders im Anwendungsbereich des § 1 Abs. 3 AEntG BAG v. 25.6.2002 – 9 AZR 405/00, NZA 2003, 275 (281); BAG v. 20.7.2004 – 9 AZR 343/03, NZA 2005, 114 (117); BAG v. 18.10.2006 – 10 AZR 576/05, NZA 2007, 1111 (1116); im Anwendungsbereich des § 1 Abs. 3a AEntG Preis/Greiner, ZfA 2009, 825 (847 ff.). 4 Vgl. dazu Sodan/Zimmermann, ZfA 2008, 526 ff.; Sodan/Zimmermann, NJW 2009, 2001 ff.; ferner Joussen, ZESAR 2009, 355 ff.; Bayreuther, DB 2008, 678 ff.; Willemsen/ Sagan, NZA 2008, 1216 ff.; Löwisch, RdA 2009, 215 ff.; Hänlein, FG Bieback, 2010, S. 185 ff.; Bieback, GS Zachert, 2010, S. 359 ff.; Sittard, NZA 2009, 346 ff. 5 BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (352). 6 Vgl. BVerfG v. 18.7.2000 – 1 BvR 948/00, NZA 2000, 948 f.; eingehend dazu zuvor Ossenbühl/Cornils, Tarifautonomie und staatliche Gesetzgebung, 2000, passim; ferner VG Berlin v. 7.3.2008 – 4 A 439/07, NZA 2008, 482 (486 ff.); ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 36; Preis/Greiner, ZfA 2009, 825 (828 ff.); Sansone/Ulber, AuR 2009, 125 (129); zu § 1 Abs. 3a AEntG a. F. auch noch Wank, FS Buchner, 2009, S. 898 (906 f.); Sittard, NZA 2007, 1090 ff.; Sittard, ZIP 2007, 1444 ff.; Hohenstatt/Schramm, NZA 2008, 433 ff.; Greiner, BB 2008, 840 ff.; Zipperling, BB 2008, 1790 ff.; zuvor etwa Peter in Peter/Kempen/Zachert, Die Sicherung tariflicher Mindeststandards, 2004, S. 33 ff.; Selmayr, ZfA 1996, 615 (838 f.); Strohmaier, RdA 1998, 339 ff.; Scholz, RdA 2001, 193 (197). 7 Allgemein dazu nur BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, BVerfGE 50, 290 (367); 64, 208 (213); BVerfG v. 23.4.1986 – 2 BvR 487/80, BVerfGE 73, 261 (270); BVerfG v. 3.4.2001 – 1 BvL 32/97, BVerfGE 103, 293 (304); BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 202 (218); Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 65; ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 32 ff.

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Tarifvertrag und höherrangiges Recht

Rz. 41 Teil 1

lichen Festschreibung von Mindestlöhnen folgt allerdings der Unterscheidung von Grundrechtsausgestaltung und Grundrechtseingriff1. Da jedenfalls die Tarifautonomie lediglich als normgeprägte Freiheit qualifiziert werden kann, divergieren danach die verfassungsrechtlichen Grenzen staatlicher Normensetzung nach § 4 Abs. 3 MiArbG sowie der Nutzbarmachung bestehender TVe nach § 7 Abs. 1 AEntG2. Verursacht die staatliche Festschreibung von Mindestlöhnen aufgrund der Vorschrift des § 8 Abs. 2 Satz 1 MiArbG lediglich eine Verkürzung des künftigen Gestaltungsspielraums der Koalitionen, ist grundsätzlich die grundrechtsdogmatische Figur der Grundrechtsausgestaltung angesprochen. Die verfassungsrechtliche Legitimität der Grundrechtsausgestaltung beruht folglich darauf, dass die Lohnfindung zwar zu den tradierten Gegenständen der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zählt3; die Auswirkungen der Globalisierung sowie eine abnehmende Tarifbindung4 begründen allerdings ein Funktionsdefizit der Tarifautonomie5, das eine aufgrund der Benennung eines Mindestniveaus6 nicht als Verletzung des Untermaßverbotes zu qualifizierende Zurücknahme der koalitionären Gestaltungsspielräume7 im Wege der staatlichen Festschreibung von Mindestlöhnen ermöglicht8. 1 Vgl. dazu Engels, JZ 2008, 490 ff. 2 Anders Sodan/Zimmermann, ZfA 2008, 526 (539 ff.); Sodan/Zimmermann, NJW 2009, 2001 (2003); eingehend Thüsing, ZfA 2008, 590 (603 ff.); siehe auch Sittard, NZA 2010, 1160 (1160); zuvor schon Rieble/Klebek, ZIP 2006, 829 (831, 835); Jacobs, GS Walz, 2008, S. 289 (294 f.); Fischer, ZRP 2007, 20 (21 ff.); wohl auch Willemsen/Sagan, NZA 2008, 1216 (1221 f.), die aufgrund der Behauptung einer Normsetzungsprärogative im Zusammenhang mit § 4 Abs. 3 MiArbG einen abwehrrechtlichen Schutz vor staatlicher Konkurrenz bemühen; ferner Kocher, NZA 2007, 600 (602); Giesen, ZfA 2008, 355 (373); ähnlich wohl Sittard, NZA 2009, 346 (348), die neben der Verdrängung konkurrierender TVe auch eine nunmehr in § 7 Abs. 2, 3 AEntG normierte Auswahlentscheidung zwischen mehreren TVen zur Grundlage eines Grundrechtseingriffs stilisieren. 3 Dazu nur Thüsing, ZfA 2008, 590 (609 f.); Sodan/Zimmermann, ZfA 2008, 526 (557). 4 Zu den Besonderheiten beschäftigungssichernder TVe etwa Löwisch, RdA 2009, 215 (220 f.); Bayreuther, NJW 2009, 2006 (2007); Willemsen/Sagan, NZA 2008, 1216 (1219 f.). 5 Vgl. auch Waltermann, NJW 2010, 802 (802); zum Niedriglohnsektor auch Bieback, GS Zachert, 2010, S. 359 (359 ff.); ferner Loritz, ZfA 2010, 367 (374 ff.). 6 Vgl. dazu auch Bieback, GS Zachert, 2010, S. 359 (369); Preis/Greiner, ZfA 2009, 825 (835 f.); Bayreuther, NJW 2006, 2009 (2009); Hanau in Bieback, Tarifgestützte Mindestlöhne, 2007, S. 127 (152 f.); demgegenüber wollen Thüsing, ZfA 2008, 590 (609); Sodan/ Zimmermann, ZfA 2008, 526 (540 f.); Klebeck, NZA 2008, 446 (449) einen schwerwiegenden Eingriff erkennen, da ein verbleibender Gestaltungsspielraum unmaßgeblich sei. 7 Diesem Befund kann auch nicht eine – im Falle der Nutzbarmachung bestehender TVe nach § 7 Abs. 1 AEntG ohnehin nicht tragfähige – Bezugnahme auf eine Richtigkeitsgewähr tarifvertraglicher Normsetzung entgegengehalten werden, vgl. aber Thüsing, ZfA 2008, 590 (598 f.); Giesen, ZfA 2008, 355 (368 ff.); vgl. dazu auch Preis/ Greiner, ZfA 2009, 825 (840 ff.); obwohl auch das Bundesverfassungsgericht betonte, dass die Tarifautonomie eher als die staatliche Schlichtung geeignet sei, interessengerechte und gemeinwohlverträgliche Kompromisse hervorzubringen, vgl. BVerfG v. 2.3.1993 – 1 BvR 1213/85, BVerfGE 88, 103 (114 f.), vermag die Behauptung einer Richtigkeitsgewähr aus verfassungsrechtlicher Perspektive nicht zu überzeugen, eingehend dazu Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 183 ff. 8 In diese Richtung wohl auch Sansone/Ulber, AuR 2008, 125 (130), die zwischen formeller und materieller Tarifvertragsfreiheit differenzieren; differenzierend ferner Preis/ Greiner, ZfA 2009, 825 (834 ff.); kritisch Thüsing, ZfA 2008, 590 (603 ff.).

Engels

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Teil 1 Rz. 42 42

Grundlagen des Tarifvertragsrechts

Verdrängt die staatliche Festschreibung von Mindestlöhnen nach § 7 Abs. 1 AentG demgegenüber bestehende TVe, findet die grundrechtsdogmatische Kategorie des Grundrechtseingriffs Anwendung1. Eine Konkretisierung der Rechtfertigungsmaßstäbe kann auf die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts Bezug nehmen2, nach der eine Beschränkung der tarifvertraglichen Normsetzung zugunsten von Grundrechten Dritter oder anderer mit Verfassungsrang ausgestatteter Rechtsgüter und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zulässig ist3. Dabei ist der Sicherung des Existenzminimums zwar verfassungsrechtliche Dignität beizumessen, doch kann die staatliche Festschreibung angemessener Mindestlöhne kaum auf die Mindestvoraussetzungen4 für ein menschenwürdiges Dasein verweisen5; des Weiteren begegnet eine intentionale Bekämpfung der Arbeitslosigkeit überwiegend volkswirtschaftlichen Bedenken6. Treten volkswirtschaftliche Bedenken vor dem Hintergrund der Regulierungsstrategien ausländischer7 Staaten8 allerdings mit einer Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers9 in Konflikt, vermag die Schaffung angemessener Arbeitsbedingungen gemäß § 4 Abs. 4 Satz 3 Nr. 1 MiArbG, § 1 AEntG Eingriffe in die Koalitionsfreiheit zu rechtfertigen10. In diese Richtung streitet nicht nur die Tatsache, dass den Koalitionen die Lohnfindung oberhalb staatlich festgeschriebener Mindestlöhne verbleibt11 und namentlich § 7 Abs. 1 AEntG lediglich einen begrenzten Günstigkeitsvergleich12 ermöglicht; vielmehr kann dem Dogma, dass die Tarifautonomie eher als die staatliche Schlichtung geeignet ist, interessengerechte und gemeinwohlverträgliche

1 2 3 4 5 6

7 8 9 10 11

12

40

Vgl. auch Willemsen/Sagan, NZA 2008, 1216 (1218). So auch Löwisch, RdA 2009, 215 (220). BVerfG v. 24.4.1996 – 1 BvR 712/86, BVerfGE 94, 268 (284). Zur Sittenwidrigkeit der Lohngestaltung im Einzelfall etwa Wank, FS Buchner, 2009, S. 898 (909 ff.). Siehe dazu Sodan/Zimmermann, NJW 2009, 2001 (2003); Sodan/Zimmermann, ZfA 2008, 526 (548 ff.). Thüsing, ZfA 2008, 590 (605 ff.); Sodan/Zimmermann, NJW 2009, 2001 (2004); vgl. auch Willemsen/Sagan, NZA 2008, 1216 (1219); Bieback, GS Zachert, 2010, S. 359 (361 f.); Wank, FS Buchner, 2009, S. 898 (904); zusammenfassend zuletzt Löwer in v. Münch/Kunig, Art. 9 GG Rz. 80. Zur europarechtlichen Dimension des Diskurses über Mindestlöhne nur Sodan/Zimmermann, NJW 2009, 2001 (2005 f.). Vgl. dazu nur Wank, FS Buchner, 2009, S. 898 (904); Waltermann, NJW 2010, 801 (802). Dazu auch Sittard, NZA 2010, 1160 (1161); Willemsen/Sagan, NZA 2008, 1216 (1218). Siehe dazu auch Löwisch, RdA 2009, 215 (220); anders Sodan/Zimmermann, NJW 2009, 2001 (2004 f.); zu Rechtsschutzfragen Latzel/Serr, ZfA 2011, 391 ff. Siehe nochmals Preis/Greiner, ZfA 2009, 825 (835 f.); Bayreuther, NJW 2006, 2009 (2009); kritisch dennoch Thüsing, ZfA 2008, 590 (609); Sodan/Zimmermann, ZfA 2008, 526 (540 f.); Sodan/Zimmermann, NJW 2009, 2001 (2004); Klebeck, NZA 2008, 446 (449); ähnlich auch Willemsen/Sagan, NZA 2008, 1216 (1219). Dazu auch Willemsen/Sagan, NZA 2008, 1216 (1219 f.), die allerdings die Gefahr sachwidriger Kombinationen betonen.

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Engels

Tarifvertrag und höherrangiges Recht

Rz. 42 Teil 1

Kompromisse hervorzubringen1, entgegnet werden, dass namentlich § 7 Abs. 1 AEntG eine branchenspezifische Steuerung der staatlichen Festschreibung von Mindestlöhnen ermöglicht2 und folglich verhältnismäßige Reaktionsmöglichkeiten gegenüber einer Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen eröffnet, die staatlichen Interessen zuwiderlaufen.

1 BVerfG v. 2.3.1993 – 1 BvR 1213/85, BVerfGE 88, 103 (114 f.); in diese Richtung auch Sodan/Zimmermann, NJW 2009, 2001 (2004 f.); Willemsen/Sagan, NZA 2008, 1216 (1219); vgl. ferner Kocher, NZA 2007, 600 (601), die auf die Richtigkeitsgewähr tarifvertraglicher Normsetzung Bezug nimmt. 2 Vgl. Preis/Greiner, ZfA 2009, 825 (835 f.); kritisch dazu Sodan/Zimmermann, NJW 2009, 2001 (2005), die namentlich entgegen der Regelung des § 7 Abs. 3 AEntG den Vorschriften des MiArbG sowie des AEntG weder auf Tatbestands- noch auf Rechtsfolgenseite Mechanismen zur Eindämmung der Gefahr einer Tarifzensur abgewinnen wollen; ähnlich Willemsen/Sagan, NZA 2008, 1216 (1220); ferner Sittard, NZA 2010, 1160 (1161 f.), der branchenübergreifende Mindestlöhne angesichts funktionierender Tarifstrukturen für nicht erforderlich hält.

Engels

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Teil 2 Tarifvertragsparteien Rz. A. Grundlagen des Verbandsrechts I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

II. Gründung und Auflösung des Verbandes 1. Verbandsgründung . . . . . . . . . . . 9 2. Verbandsauflösung . . . . . . . . . . . 18 III. Die Mitgliedschaft . . . . . . . . . . . . . . 23 IV. Geschäftsführung und Vertretung 27 V. Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 B. Tariffähigkeit I. Allgemeine Grundsätze der Tariffähigkeit 1. Einführung und systematische Grundlagen a) Regelungszweck . . . . . . . . . b) Marktfreiheit oder staatliche Regulierung? . . . . . . . c) Verfassungsrechtliche Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Voraussetzungen der Tariffähigkeit von Arbeitnehmerkoalitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Koalitionsbegriff . . . . . . . . . b) Weitere Anforderungen auf einfachrechtlicher Ebene . . aa) Tarifwilligkeit . . . . . . . bb) Durchsetzungskraft gegenüber dem sozialen Gegenspieler (1) Zugangskontrolle als legitime ordnungspolitische Ausgestaltung . (2) Ausgangspunkt: Arbeitskampfbereitschaft und -fähigkeit . (3) Koalitionsmittelfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Rechtsprechungsentwicklung . . . . . . . . . . . . (5) Prüfung der Durchsetzungsfähigkeit seit dem CGM-Beschluss . (6) GKH-Beschluss . . . . . . (7) Besondere Arbeitskampffähigkeit,

33 37 41

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63 74

Rz. Spezialistengewerkschaften . . . . . . . . . . . . . cc) Organisatorische Leistungsfähigkeit . . . . . . . dd) Anerkennung des geltenden Tarifrechts . . . ee) Demokratische Binnenorganisation . . . . . c) „Relative“ und „absolute“ Tariffähigkeit . . . . . . . . . . . d) Verfassungsrechtliche Bewertung nach CGM- und GKH-Beschluss des BAG . 3. Voraussetzungen der Tariffähigkeit auf Arbeitgeberseite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Tariffähigkeit einzelner Arbeitgeber aa) Arbeitgeberbegriff . . . . bb) Soziale Mächtigkeit? . cc) Verlust der Tariffähigkeit durch Verbandsbeitritt? . . . . . . . . . . . . . b) Tariffähigkeit der Arbeitgeberverbände aa) Koalitionsbegriff (1) Allgemeines . . . . . . . . . (2) Insbesondere: demokratische Binnenstruktur . . . . . . . . . bb) Überbetrieblichkeit . . cc) Unabhängigkeit . . . . . . dd) Tarifwilligkeit . . . . . . . ee) Kein Mächtigkeitserfordernis . . . . . . . . . . c) Weitere tariffähige Akteure auf Arbeitgeberseite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Folgen des Entfalls der Tariffähigkeit a) Tatbestandliche Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . 5. Verfahren zur Feststellung der Tariffähigkeit . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Sonderkonstellationen 1. OT-Mitgliedschaft . . . . . . . . . . . 148

Höpfner/Greiner

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Teil 2

Tarifvertragsparteien Rz. a)

OT-Mitgliedschaft im Aufteilungs- und Stufenmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 b) OT-Mitgliedschaft und Gastmitgliedschaft . . . . . . . 153 c) OT-Mitgliedschaft als Problem der Tarifgebundenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 d) Anforderungen an die Zulässigkeit der OT-Mitgliedschaft . . . . . . . . . . . . . . 157 e) Rechtsfolgen einer unzulässigen Satzungsgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 f) Voraussetzungen und Rechtsfolgen des Wechsels in die OT-Mitgliedschaft . 170 g) Transparenzanforderungen und „Blitzwechsel“ . . . . . . 173 2. Tarifgemeinschaft a) Grundlagen und Begriff der Tarifgemeinschaft . . . . . . . 178 b) Tarifgemeinschaft und mehrgliedriger TV . . . . . . . 182 c) Tariffähigkeit der Tarifgemeinschaft . . . . . . . . . . . . 188 d) Tarifzuständigkeit der Tarifgemeinschaft . . . . . . . 190 e) Tarifgemeinschaft als Tarifpartei . . . . . . . . . . . . . . 191 3. Tariffähigkeit von Spitzenorganisationen a) Begriff und tarifliche Wirkungsmöglichkeiten der Spitzenorganisation . . . 192 b) Voraussetzung: Tariffähigkeit der Mitgliedskoalitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 c) Prinzip der Zuständigkeitskongruenz . . . . . . . . . . 197 aa) Keine Überschreitung der Tarifzuständigkeiten . . . . . . . . . . . . . . 198 bb) Kein Zurückbleiben hinter den Tarifzuständigkeiten . . . . . . 201 cc) Praktische Konsequenzen . . . . . . . . . . . 203

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Höpfner/Greiner/Sittard

Rz. C. Tarifzuständigkeit I. Begriff der Tarifzuständigkeit 1. Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ermittlung der Tarifzuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Abgrenzung der Tarifzuständigkeit von der Tariffähigkeit .

204 206 209 211

II. Festlegung der Tarifzuständigkeit 1. Regelung durch Satzung bei Verbänden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 2. Regelung bei Spitzenorganisationen und Tarifgemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 3. Regelung bei einzelnen Arbeitgebern und Gewerkschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 III. Inhaltliche Freiheiten und Begrenzungen der Zuständigkeitsregelung in der Verbandssatzung 1. Räumliche Zuständigkeit . . . . 2. Fachliche Zuständigkeit . . . . . . a) Industrieverbandsprinzip . b) Berufsverbandsprinzip . . . . 3. Sachliche Zuständigkeit . . . . . . 4. Personelle Zuständigkeit . . . . . IV. Tarifzuständigkeit als Wirksamkeitsvoraussetzung des Tarifvertrages 1. Korrespondierende Tarifzuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Fehlen der korrespondierenden Tarifzuständigkeit a) Anfängliches Fehlen der Tarifzuständigkeit . . . . . . . b) Nachträglicher Wegfall der Tarifzuständigkeit . . . . 3. Konsequenzen für das Arbeitskampfrecht . . . . . . . . . . . . . . . . .

219 221 222 227 228 229

233

235 237 239

V. Flucht aus dem Tarifvertrag über die Tarifzuständigkeit? . . . . . . . . . . 240 VI. Feststellung der Tarifzuständigkeit 1. Gerichtliche Klärung . . . . . . . . . 242 2. Verbandsinterne Klärung . . . . . 247

Teil 2

Grundlagen des Verbandsrechts

A. Grundlagen des Verbandsrechts Literatur: Bauer, Informationsobliegenheiten bei „Blitzaustritt“ und „Blitzwechsel“, in: Festschrift Picker, 2010, S. 889; Bauer/Haußmann, Blitzaustritt und Blitzwechsel: Wirksam, aber ohne Wirkung?, RdA 2009, 99; Bergmann, Die fremdorganschaftlich verfaßte offene Handelsgesellschaft, Kommanditgesellschaft und BGB-Gesellschaft als Problem des allgemeinen Verbandsrechts, 2002; Beuthien, Die Vorgesellschaft im Privatrechtssystem, ZIP 1996, 360; Blomeyer, Die Wirkung der Verbandsauflösung auf den geltenden Tarifvertrag, SAE 1972, 109; Buchner, Die tarifrechtliche Situation bei Verbandsaustritt und bei Auflösung eines Arbeitgeberverbandes, RdA 1997, 259; Fischer, Nachwirkung von Tarifnormen (§ 4 Abs. 5 TVG), 2009; Grunewald, Die Auslegung von Gesellschaftsverträgen und Satzungen, ZGR 1995, 68; Hager, Gesetzes- und sittenkonforme Auslegung und Aufrechterhaltung von Rechtsgeschäften, 1983; Hensche, Verfassungsrechtlich bedenkliche Neujustierung des Verhältnisses zwischen Individualwille und kollektiver Ordnung, NZA 2009, 815; Henssler, Ende der Tarifeinheit – Eckdaten eines neuen Arbeitskampfrechts, RdA 2011, 65; Henssler, Nachbindung und Nachwirkung, in: Festschrift Picker, 2010, S. 987; Höpfner, Anm. AP TVG § 3 Nr. 36; Höpfner, Blitzaustritt und Blitzwechsel in die OT-Mitgliedschaft, ZfA 2009, 541; Höpfner, Die unbegrenzte Nachbindung an Tarifverträge, NJW 2010, 2173; Höpfner, Normativer und schuldrechtlicher Konzerntarifvertrag – Gestaltungsformen einer konzerneinheitlichen Tarifbindung, in: Rieble/Junker/Giesen (Hrsg.), Arbeitsrecht im Konzern, 2010, S. 113; Jacobs/Krois, Anm. AP TVG § 3 Nr. 38; Jacobs/Krois, Das Zusammenspiel von Tarif- und Satzungsautonomie bei Blitzaustritt und Blitzwechsel, in: Festschrift Reuter, 2010, S. 555; Kempen/Lörcher/Platow/Tiefenbacher/ Trümner, JbArbR, Bd. 39 (2002), S. 65; Kertess, Die Haftung des für einen nichtrechtsfähigen Verein Handelnden gem. § 54 S. 2 BGB, 1982; Konzen, Blitzaustritt und Blitzwechsel. Vereins- und koalitionsrechtliche Aspekte der Flucht des Arbeitgebers aus dem Verbandstarif, in: Festschrift Bauer, 2010, S. 559; Krause, „Blitzaustritt“ und „Blitzwechsel“ von Arbeitgebern als Herausforderung des Tarifrechts, in: Gedächtnisschrift Zachert, 2010, S. 605; Kübler/Assmann, Gesellschaftsrecht, 6. Aufl. 2006; Larenz/Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts, Band II/2, Besonderer Teil, 1994; Lutter, Theorie der Mitgliedschaft, AcP 180 (1980), 84; Martinek, Repräsentantenhaftung, 1979; Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, Band I, 1899; Niklisch, Gesetzliche Anerkennung und Kontrolle von Verbandsmacht – Zur rechtspolitischen Diskussion um ein Verbandsgesetz, in: Festschrift Schiedermair, 1976, S. 459; Potthoff, Freie Gewerkschaften 1918–1933. Der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund in der Weimarer Republik, 1987; Reichert, Handbuch Vereins- und Verbandsrecht, 12. Aufl. 2010; Ricken, Neues zur Tarifzuständigkeit?, RdA 2007, 35; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb: der Schutz von Vertrags- und Wettbewerbsfreiheit im Arbeitsrecht, 2006; Rieble, Konzerntarifvertrag (Teil I), Der Konzern 2005, 475; Rieble, Richterliche Gesetzesbindung und BVerfG, NJW 2011, 819; Rüthers, Klartext zu den Grenzen des Richterrechts, NJW 2011, 1856; Saliger, Parteiengesetz und Strafrecht, 2005; Sattler, Tarifvereinheitlichung im Konzern, 2009; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002; K. Schmidt, Liquidationszweck und Vertretungsmacht der Liquidatoren, AcP 174 (1974), 55; Schöpflin, Der nichtrechtsfähige Verein, 2003; Semler/Stengel, Umwandlungsgesetz, 2. Aufl. 2007; Sohn, Berufsverband und Industriegewerkschaft. Organisationsprinzipien der deutschen Gewerkschaften, 1964; Wiedemann, Anm. AP Nr. 28 zu § 2 TVG; Wiedemann, Gesellschaftsrecht, Band I, Grundlagen, 1980; Wiedemann/Thüsing, Gewerkschaftsfusionen nach dem Umwandlungsgesetz, WM 1999, 2237 und 2277; Willemsen/Mehrens, Die Rechtsprechung des BAG zum „Blitzaustritt“ und ihre Auswirkungen auf die Praxis, NJW 2009, 1916; Windbichler, Arbeitsrecht im Konzern, 1989.

Höpfner

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Teil 2 Rz. 1

Tarifvertragsparteien

I. Allgemeines 1

Das Koalitions- und Tarifvertragsrecht stellt eine Schnittstelle zwischen Arbeitsrecht und Verbandsrecht dar. Da es in Deutschland kein besonderes Verbändegesetz gibt1, richten sich die Gründung von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, aber auch von Tarifgemeinschaften und Spitzenorganisationen, sowie ihre Auflösung nach den allgemeinen, für die jeweilige Rechtsform geltenden verbands- und gesellschaftsrechtlichen Regelungen. Gleiches gilt für den Erwerb und die Beendigung der Mitgliedschaft durch einzelne Arbeitnehmer oder Arbeitgeber. Darüber hinaus gibt das Verbandsrecht vor, welche Organe die Geschäfte des Verbandes führen und diesen im Rechtsverkehr nach außen vertreten. Schließlich bestimmt sich auch die Haftung des Verbandes nach dem Verbandsrecht.

2

Ein Verband ist eine durch privatrechtlichen Gesellschaftsvertrag oder Satzung verfasste, auf Mitgliedschaft beruhende und gegenüber den Mitgliedern verselbständigte Organisation, die einen gemeinsamen Zweck verfolgt2. Aus Sicht der Politikwissenschaft dienen Verbände dem Schutz und der Durchsetzung gemeinsamer Interessen im politischen und gesellschaftlichen Bereich3. Die in der Praxis bedeutsamsten Organisationsformen sind die rechtsfähigen und nichtrechtsfähigen (besser: eingetragenen und nicht eingetragenen)4 Vereine.

3

Arbeitgeberverbände (und ein Teil ihrer Spitzenfachverbände) treten in der Regel in der Rechtsform des eingetragenen Vereins auf. Von den ca. 130 Gewerkschaften in Deutschland5 hat der ganz überwiegende Teil dagegen traditionell die Rechtsstellung eines nicht eingetragenen Vereins. Eine Ausnahme war etwa die „Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft“ (ver.di), die kurzzeitig von 2001 bis 2004 als eingetragener Verein firmierte, um die Verschmelzung der früheren Einzelgewerkschaften DAG, DPG, HBV, IG Medien und ÖTV nach §§ 3 Abs. 1 Nr. 4, 99 UmwG zu ermöglichen6. Da auch nicht eingetragene Vereine körperschaftlich verfasste Verbände darstellen, sind Gewerkschaften im verbandsrechtlichen Sinne ebenfalls zu den Verbänden zu zählen. Im Folgenden wird der Begriff Verband daher einheitlich für Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften verwendet.

4

Der Verzicht der Gewerkschaften auf die Eintragung im Vereinsregister ist historisch zu erklären7. Der Gesetzgeber sah die auf dem politischen, religiösen und sozialen Gebiet tätigen Vereine zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Bedro1 2 3 4

Vgl. dazu Niklisch, FS Schiedermair, S. 459. K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 7 I 1 b. Kübler/Assmann, Gesellschaftsrecht, § 5 III 1. Nach heute ganz h.M. ist der „nichtrechtsfähige Verein“ rechtsfähig, vgl. K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 25 II 1; MünchKomm/Reuter, § 54 BGB Rz. 16; Staudinger/ Weick, § 54 BGB Rz. 25; a.A. Schöpflin, S. 116: lediglich „Rechtsverkehrsfähigkeit“. 5 Übersicht bei Thüsing/Braun/Emmert, 2. Kap. Rz. 116. 6 Vgl. dazu Kempen/Lörcher/Platow/Tiefenbacher/Trümner, JbArbR, Bd. 39 (2002), S. 65 (69); Semler/Stengel/Katschinksi, § 99 UmwG Rz. 41; zuvor bereits Wiedemann/Thüsing, WM 1999, 2237 ff., 2277 ff. 7 Dazu Kittner, S. 274 ff.; MünchKomm/Reuter, Vor § 21 BGB Rz. 52 ff.; Brox/Rüthers/ Henssler, Rz. 652.

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Höpfner

Grundlagen des Verbandsrechts

Rz. 6 Teil 2

hung für das politisch-gesellschaftliche System an. Aus diesem Grunde wurde der nicht eingetragene Verein gezielt dem völlig ungeeigneten Recht der damals nach ganz überwiegender Auffassung nicht rechtsfähigen GbR unterstellt (§ 54 Satz 2 BGB). Damit wollte man insb. die Gewerkschaften zu einer Eintragung veranlassen, was bis 1908 bedeutete, dem Amtsgericht auf Verlangen ein für jedermann einsehbares Verzeichnis der Vereinsmitglieder einreichen zu müssen (§§ 72, 79 Satz 1 BGB a.F.). Zugleich hatte die zuständige Verwaltungsbehörde nach § 61 Abs. 2 BGB a.F. ein Einspruchsrecht gegen die Eintragung, wenn der Verein einen politischen, sozialpolitischen oder religiösen Zweck verfolgt. Insgesamt kam dies einer „verkappten Konzessionspflicht“ gleich1, die eine freie Bildung von politischen Vereinen und Gewerkschaften verhindern sollte. Die Regelungsziele des historischen Gesetzgebers sind heute nicht nur aufgrund der gewandelten Wertvorstellungen des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates überholt, sondern auch mit der verfassungsrechtlich gewährleisteten Vereins- und Koalitionsfreiheit unvereinbar2. Der Verweis des § 54 Satz 1 BGB auf das Recht der GbR ist daher nach dem Grundsatz „cessante ratione legis cessat lex ipsa“ außer Kraft getreten3. An dessen Stelle finden die §§ 21 ff. BGB auch auf den nicht eingetragenen Verein Anwendung mit Ausnahme derjenigen Vorschriften, welche zwingend die Eintragung voraussetzen4. Für Gewerkschaften entwickelten Rechtsprechung und Schrifttum darüber hinaus unter der Geltung des Grundgesetzes ein verbandsrechtliches Sonderrecht. So erkannte der BGH Gewerkschaften im Hinblick auf Art. 9 Abs. 3 GG entgegen § 50 Abs. 2 ZPO a.F. die aktive Parteifähigkeit zu5. Auch die Anwendung der Handelndenhaftung gemäß § 54 Satz 2 BGB wird teilweise in Frage gestellt (dazu Rz. 31 f.).

5

Die verbandsrechtlichen Grundlagen gewinnen im Tarifrecht seit einiger Zeit an Bedeutung, etwa für die Fragen der Tarifbindung im Fall der Verbandsauflösung6 oder der Wirksamkeit des sog. Blitzaustritts7 bzw. Blitzwechsels in die OT-8 oder Gast-Mitgliedschaft9 unmittelbar vor Inkrafttreten eines TVes. Betroffen ist jeweils das Verhältnis von Tarifvertrags- und Verbandsrecht. Im ersten Fall geht es um die Auswirkungen der Vorschriften über die Liquidation und die Vollbeendigung des Vereins (§§ 41, 47 ff., 74 ff. BGB) auf den Fort-

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1 Vgl. MünchKomm/Reuter, Vor § 21 BGB Rz. 53. 2 Vgl. Staudinger/Weick, § 54 BGB Rz. 2. 3 MünchKomm/Reuter, § 54 BGB Rz. 4; a.A. Staudinger/Weick, § 54 BGB Rz. 2: „berichtigende Auslegung“. 4 Vgl. näher K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 25 II 2 c, d. 5 BGH v. 6.10.1964 – VI ZR 176/63, NJW 1965, 29; BGH v. 11.7.1968 – VII ZR 63/66, NJW 1968, 1830; sonstige „nichtrechtsfähige“ Vereine sind dagegen erst seit der Neufassung des § 50 Abs. 2 ZPO am 24.9.2009 aktiv prozessfähig. 6 BAG v. 23.1.2008 – 4 AZR 312/01, AP TVG § 3 Nr. 36 m. Anm. Höpfner = NZA 2008, 771. 7 BAG v. 20.2.2008 – 4 AZR 64/07, NZA 2008, 946. 8 BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366; BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 285/08, NZA 2010, 230. 9 BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 285/08, NZA 2010, 230.

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Teil 2 Rz. 7

Tarifvertragsparteien

bestand der von diesem abgeschlossenen TVe. Im zweiten Fall wird diskutiert, ob ein verbandsrechtlich wirksamer Austritt oder Statuswechsel „tarifrechtlich unwirksam“1 sein kann, wenn er die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie gefährdet. Beide Fälle werfen die Grundfrage auf, ob Maßnahmen eines Tarifverbandes verbandsrechtlich und tarifrechtlich unterschiedlich behandelt werden können oder gar müssen. 7

Das BAG hat in den genannten Entscheidungen die vereins- und tarifrechtliche Wirksamkeit der Maßnahmen getrennt geprüft und im Ergebnis unterschiedlich beurteilt. Von Teilen des Schrifttums ist das scharf kritisiert worden2. Die Kritik geht jedoch fehl3. Es ist zwar in der Tat nicht überzeugend, dass gerade die fehlende Transparenz zur Unwirksamkeit des Blitzaustritts und -wechsels führen soll (vgl. Rz. 175 sowie Teil 6 Rz. 50). Die Grundentscheidung, zwischen der vereinsrechtlichen und der tarifrechtlichen Wirksamkeit der Maßnahme zu differenzieren, ist dagegen vollkommen zutreffend. Eine derartige Trennung von vereins- und tarifrechtlicher Wirksamkeit ist weder neu noch spektakulär4. So ist schon seit langem anerkannt, dass ein rückwirkender Beitritt in eine Gewerkschaft oder einen Arbeitgeberverband tarifrechtlich stets nur ex nunc wirkt5. Gleiches gilt für den rückwirkenden Austritt und den Statuswechsel6. Die getrennte rechtliche Bewertung der verbands- und der tarifrechtlichen Zulässigkeit einer Maßnahme ist nicht nur rechtlich zulässig, sondern auch sinnvoll. Sie führt zu einer klaren Trennung der allgemeinen verbandsrechtlichen und der besonderen tarifrechtlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen7. Das Tarifrecht kann strengere Maßstäbe an die Rechtmäßigkeit einer Handlung anlegen, insb. wenn durch eine verbandsrechtlich an sich zulässige Maßnahme die zwingenden Regelungen über die Tarifbindung (§§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG) und die Nachbindung (§ 3 Abs. 3 TVG) umgangen werden8.

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Umgekehrt kann das Tarifrecht jedoch keine nach den allgemeinen verbandsrechtlichen Grundsätzen unzulässige Maßnahme rechtfertigen. Denn das Ver1 So BAG v. 20.2.2008 – 4 AZR 64/07, NZA 2008, 946; BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366; BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 285/08, NZA 2010, 230; BAG v. 23.9.2009 – 4 AZR 346/08, AP TVG § 3 Verbandszugehörigkeit Nr. 29; BAG v. 17.2.2010 – 5 AZR 191/09, AP TVG § 1 Tarifverträge: Metallindustrie Nr. 209; BAG v. 18.5.2011 – 4 AZR 457/09, NZA 2011, 1378. 2 Bauer, FS Picker, S. 889 (896); Bauer/Haußmann, RdA 2009, 99 (103); Hensche, NZA 2009, 815 (820); Willemsen/Mehrens, NJW 2009, 1916 (1917); Thüsing/Braun/Heise, 11. Kap. Rz. 115. 3 Höpfner, ZfA 2009, 541 (561 f.); Jacobs/Krois, AP TVG § 3 Nr. 38; Jacobs/Krois, FS Reuter, S. 555 (566); insoweit übereinstimmend Krause, GS Zachert, S. 605 (622). 4 Jacobs/Krois, AP TVG § 3 Nr. 38; anders aber noch BAG v. 14.10.1960 – 1 AZR 233/58, NJW 1961, 573 (575). 5 BAG v. 20.12.1988 – 1 ABR 57/87, NZA 1989, 564; BAG v. 22.11.2000 – 4 AZR 688/99, NZA 2001, 980; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 94. 6 Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 55; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 52; zum Aufhebungsvertrag ebenso Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 150. 7 Näher Höpfner, ZfA 2009, 541 (561 f.); zustimmend Jacobs/Krois, AP TVG § 3 Nr. 38; Krause, GS Zachert, S. 605 (614 ff.); wohl auch Konzen, FS Bauer, S. 559 (576), der zwar die tarifrechtliche Unwirksamkeit von Blitzaustritt und Blitzwechsel ablehnt, nicht aber die Möglichkeit einer tarifrechtlichen Unwirksamkeit als solcher. 8 Vgl. auch Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 181 f. zur Tarifzuständigkeit des Verbandes.

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Grundlagen des Verbandsrechts

Rz. 10 Teil 2

bandsrecht gibt den rechtlichen Rahmen für die Binnenstruktur des Verbandes vor. Allerdings besteht bei der inneren Ordnung des Verbandes aufgrund der verfassungsrechtlich gewährleisteten Vereins- und Satzungsautonomie eine weitreichende Gestaltungsfreiheit der Mitglieder, die normativ durch §§ 26 Abs. 1 Satz 3, 30, 37 Abs. 1, 39 Abs. 2, 40, 41 BGB abgesichert ist. Innerhalb dieses Rahmens können die tarifrechtlichen Besonderheiten angemessen berücksichtigt werden.

II. Gründung und Auflösung des Verbandes 1. Verbandsgründung Bei der Gründung eines Verbandes sind die zwingenden Voraussetzungen des Vereinsrechts zu beachten. Die Vereinsgründung geschieht durch einen Vertrag von mindestens zwei Gründungsmitgliedern. Für die Eintragung sind gemäß § 56 BGB sogar sieben Mitglieder erforderlich. Dabei handelt es sich um eine reine Ordnungsvorschrift. Im Fall der Nichtbeachtung muss die Eintragung gemäß § 60 BGB zurückgewiesen werden. Eine bereits erfolgte Eintragung bleibt jedoch selbst im Falle einer Täuschung des Registergerichts wirksam und wird nicht gelöscht1.

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Gründungsmitglieder können natürliche und juristische Personen sowie rechtsfähige Personengesellschaften sein2. Unerheblich ist, ob es sich dabei um tarifgebundene Mitglieder oder um Mitglieder ohne Tarifbindung handelt. Zulässig ist auch ein sog. „Konzern-Arbeitgeberverband“, der ausschließlich von Konzerngesellschaften gegründet wird, um eine einheitliche Tarifbindung im Konzern herbeizuführen (vgl. etwa den für den Lufthansa-Konzern zuständigen „Arbeitgeberverband Luftverkehr e.V.“ (AGVL))3. Für die nach § 56 BGB zur Eintragung erforderliche Mindestzahl an Gründungsmitgliedern sieht die h.M. im Vereinsrecht jedoch eine Einschränkung vor. Setzen sich die Gründungsmitglieder aus natürlichen Personen und aus von diesen beherrschten juristischen Personen zusammen, so sollen für die Mindestzahl nur die natürlichen Personen zählen, da nur so die erforderliche Personenmehrheit und die körperschaftliche Organisation des Vereins sichergestellt würden4. Auf Konzerngesellschaften ist diese Auffassung nicht zu übertragen, da mangels Beteiligung natürlicher Personen Zweifel am korporativen Charakter des Vereins nicht bestehen5.

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1 OLG Stuttgart v. 4.5.1983 – 8 W 442/82, OLGZ 1983, 307; MünchKomm/Reuter, § 56 BGB Rz. 1; Staudinger/Habermann, § 56 BGB Rz. 1. 2 Vgl. Reichert, Rz. 69 ff. 3 Dazu Windbichler, S. 479 ff.; Sattler, S. 47 ff.; Rieble, Der Konzern 2005, 475 (479 f.); Höpfner in Arbeitsrecht im Konzern, S. 113 (137 ff.). 4 OLG Stuttgart v. 4.5.1983 – 8 W 442/82, OLGZ 1983, 307; OLG Köln v. 16.3.1988 – 2 Wx 14/88, NJW 1989, 173; MünchKomm/Reuter, § 56 BGB Rz. 3; Staudinger/Habermann, § 56 BGB Rz. 3; krit. Rieble, Der Konzern 2005, 475 (479) unter Berufung auf Art. 9 Abs. 1 GG. 5 Vgl. Höpfner in Arbeitsrecht im Konzern, S. 113 (137 f.); i.E. auch Rieble, Der Konzern 2005, 475 (479).

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Tarifvertragsparteien

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Jeder Verein bedarf einer Vereinsverfassung, welche „die das Vereinsleben bestimmenden Grundlagenentscheidungen“ vorgibt1. Darunter fallen vor allem Zweck und Mittel des Vereins, Voraussetzungen und Folgen der Mitgliedschaft, die Organe, insb. deren Bildung, Bestellung und Wirkungskreis, sowie Sitz und Name des Vereins2. Die Vereinsverfassung wird bestimmt durch die zwingenden gesetzlichen Bestimmungen und vor allem durch die Satzung. Das gilt sowohl für den eingetragenen (bzw. einzutragenden) als auch für den nicht eingetragenen Verein3.

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Im Vereinsrecht gilt der durch Art. 9 Abs. 1 GG gewährleistete Grundsatz der Satzungsautonomie, wonach die Mitglieder die innere Ordnung des Vereins selbst bestimmen4. Die Satzungsautonomie der Koalitionen gemäß Art. 9 Abs. 3 GG umfasst darüber hinaus das Recht, die Tarifzuständigkeit frei zu bestimmen5. Dazu gehört insb. die Wahl des Organisationsprinzips. Die Gewerkschaften in der Bundesrepublik sind traditionell ganz überwiegend nach dem Industrieverbandsprinzip organisiert6. Danach können einer Gewerkschaft alle Arbeitnehmer eines bestimmten Wirtschaftssektors angehören7. Das Prinzip „Ein Betrieb – eine Gewerkschaft“ ist in der Satzung des DGB als ein Kriterium zur Abgrenzung des Organisationsbereichs der Mitgliedsgewerkschaften vorgesehen8. Auf der einen Seite hat dies aus Gewerkschaftssicht den Vorteil, dass regelmäßig für einen Betrieb nur eine Gewerkschaft tarifzuständig ist und diese dadurch einen stärkeren Verhandlungsdruck aufbauen kann9. Auf der anderen Seite hat sich gezeigt, dass nicht alle Berufsgruppen im Modell der Einheitsgewerkschaft hinreichend vertreten werden. Die gilt vor allem für die höher qualifizierten Berufe, deren Angehörige im Verhältnis zum Gesamtergebnis aller Mitglieder deutlich geringere Entgeltzuwächse zu verzeichnen haben10.

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Aus diesem Grunde gewinnen seit einigen Jahren sog. Spartengewerkschaften zunehmend an Bedeutung. Diese sind nach dem historisch älteren11 Berufsverbandsprinzip organisiert. Darunter versteht man den Zusammenschluss von Arbeitnehmern einer bestimmten Berufsgruppe unabhängig von der Branchenzugehörigkeit des jeweiligen Arbeitgebers12. Spartengewerkschaften haben zwar im Verhältnis zu den DGB-Gewerkschaften eine nach absoluten Zahlen geringe Anzahl von Mitgliedern. Nach eigenen Angaben haben der Marburger 1 BGH v. 6.3.1967 – II ZR 231/64, NJW 1967, 1268 (1270); BGH v. 24.10.1988 – II ZR 311/87, NJW 1989, 1724 (1727). 2 Staudinger/Weick, § 25 BGB Rz. 3. 3 Vgl. Schöpflin, S. 220 f. 4 Dazu K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 5 I 3 a; Schöpflin, S. 228 f.; MünchKomm/ Reuter, § 40 BGB Rz. 3. 5 Vgl. BAG v. 19.11.1985 – 1 ABR 37/83, NZA 1986, 480; BAG v. 27.9.2005 – 1 ABR 41/04, NZA 2006, 273. 6 Zur geschichtlichen Entwicklung vgl. Greiner, S. 8 ff.; Sohn, S. 56 ff. 7 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 353. 8 Vgl. Ziff. 2 lit. a der Anlage 1 zu § 15 der Satzung des DGB v. Juni 2010. 9 Brox/Rüthers/Henssler, Rz. 649. 10 Vgl. Greiner, S. 15. 11 Im Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) waren überwiegend Berufsverbände organisiert, vgl. Potthoff, S. 38; Greiner, S. 9. 12 Brox/Rüthers/Henssler, Rz. 651.

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Grundlagen des Verbandsrechts

Rz. 15 Teil 2

Bund ca. 107 000, die Vereinigung Cockpit (VC) ca. 8 200, die Unabhängige Flugbegleiter Organisation e.V. (UFO) über 10 000 und die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) ca. 34 000 Mitglieder1. Innerhalb der jeweiligen Berufsgruppe ist der Organisationsgrad der Spartengewerkschaften dagegen oftmals verhältnismäßig hoch, was gerade bei sog. Funktionseliten, die aufgrund ihrer Schlüsselposition und ihrer besonderen Qualifikation während eines Arbeitskampfes kaum austauschbar sind, eine große Durchschlagskraft bedeutet2. Aufgrund ihrer Satzungsautonomie darf jede Koalition frei über ihre optimale Struktur und Organisation entscheiden3. Der Staat darf wegen der verfassungsrechtlichen Neutralitätspflicht nicht durch eine Bevorzugung oder Benachteiligung eines bestimmten Organisationskonzeptes in den „Konkurrenzkampf der Verbände“ eingreifen4. Unter einer Satzung versteht man diejenigen Regeln, welche ursprünglich von den Gründern, später von der Mitgliederversammlung als Satzung festgestellt werden. Nach der herrschenden modifizierten Normentheorie ist zu differenzieren: Die Errichtung der Satzung erfolgt durch einen privatautonomen Vertragsschluss der Gründer, während die durch die Satzung geschaffene Verbandsverfassung objektive Rechtsnormen enthält5. Die Satzung muss die Grundentscheidungen über die Verfassung des Vereins regeln, kann aber darüber hinaus weitere Regelungen umfassen (sog. formeller Satzungsbegriff)6. Der Mindestinhalt der Satzung ergibt sich für den eingetragenen (bzw. einzutragenden) Verein aus §§ 57 f. BGB7. Jedoch muss auch die Satzung des nicht eingetragenen Vereins zumindest Namen und Zweck des Vereins sowie ein Mindestmaß körperschaftlicher Organisation festlegen8. Dazu gehört insb. ein von der Gesamtheit der Mitglieder zu unterscheidender Vorstand als notwendiges (Außen-)Organ des Vereins9. Für ihn gelten die §§ 26 ff. BGB entsprechend10.

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Die für die Auslegung der Satzung geltenden Grundsätze sind umstritten. Während nach der Vertragstheorie die §§ 133, 157 BGB anzuwenden sind11, gelten nach der herrschenden modifizierten Normentheorie jedenfalls für die körperschaftlichen Regelungen über die Verfassung des Vereins die Grundsätze der

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Stand: Juli 2011. Vgl. Thüsing/Braun/Emmert, 2. Kap. Rz. 101. Henssler, RdA 2011, 65 (72). Vgl. ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 6; Konzen, JZ 2010, 1036 (1041); Henssler, RdA 2011, 65 (72). Vgl. RGZ 165, 143 (144); BGH v. 4.10.1956 – II ZR 121/55, NJW 1956, 1793; BGH v. 6.3.1967 – II ZR 231/64, NJW 1967, 1268 (1271); K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 5 I 1 b; zum Meinungsstand Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, § 3 II 1 b; MünchKomm/ Reuter, § 25 BGB Rz. 17. Vgl. MünchKomm/Reuter, § 40 BGB Rz. 16; Staudinger/Weick, § 25 BGB Rz. 7. Näher dazu Reichert, Rz. 440 ff. Schöpflin, S. 224. Schöpflin, S. 224; Staudinger/Weick, § 54 BGB Rz. 31. MünchKomm/Reuter, § 54 BGB Rz. 42; Jauernig/Jauernig, § 54 BGB Rz. 13. Vgl. Grunewald, ZGR 1995, 68; Wiedemann, Gesellschaftsrecht, S. 165 ff.; vgl. auch BGH v. 11.11.1985 – II ZB 5/85, NJW 1986, 1033 (1034).

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Teil 2 Rz. 16

Tarifvertragsparteien

Gesetzesauslegung1. BGH und BAG legen solche Vorschriften objektiv, d.h. ohne Bindung an die Regelungsabsichten der Verfasser, aus und berücksichtigen Umstände, die außerhalb der Vertragsurkunde liegen und die nicht allgemein zugänglich und erkennbar sind, nicht2. Dem ist nicht zu folgen. Die vermeintlich „objektive“ Auslegungsmethode entspricht nicht der neuesten Rechtsprechung des BVerfG, das zu Recht eine strikte Gesetzesbindung des Richters betont3. Der sog. „objektivierte Wille“ des Normgebers ist ein Scheinargument, mit dem der Interpret ein beliebiges, aus seiner Sicht vernünftiges Ergebnis zum Inhalt einer Norm erklären kann. Die Privatautonomie der Satzungsgeber verlangt aber im Grundsatz eine Auslegung der Satzung mit Rücksicht auf den Willen der Satzungsverfasser4. Damit unvereinbar ist insb. eine strenge Andeutungstheorie, die Umstände außerhalb der Satzungsurkunde generell nicht beachtet. Zwar hat der Wortlaut der Satzung mit Rücksicht auf den Verkehrsschutz und die Rechtssicherheit für einen wechselnden Mitgliederbestand eine besonders große Bedeutung für die Auslegung5. Gleichwohl können etwa eine innerverbandliche Übung oder eine ständige Beschlusspraxis auch dann von Bedeutung sein, wenn sie dem Wortlaut der Satzung widersprechen6. Eine große praktische Relevanz haben schließlich die ergänzende Vertragsauslegung7 und die gesetzeskonforme Auslegung8 in den Fällen, in denen die Satzung lückenhaft ist oder aufgrund tatsächlicher oder rechtlicher Entwicklungen korrigiert werden muss9. 16

Das Vereinsrecht kennt keinen besonderen Bestimmtheitsgrundsatz für die Satzung. Allein die in § 58 BGB genannten Regelungen müssen gewissen Mindestanforderungen an die Bestimmtheit genügen, weil sie den Kern der Mitgliedschaft betreffen10. Demgegenüber stellt das BAG besonders hohe Anforderungen an die Bestimmtheit von Satzungsregelungen eines Verbandes über sei1 Vgl. BGH v. 9.6.1997 – II ZR 303/95, NJW 1997, 3368 (3369); K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 5 I 4 a; Staudinger/Weick, § 25 BGB Rz. 16. 2 BGH v. 9.6.1997 – II ZR 303/95, NJW 1997, 3368 (3369); BAG v. 27.11.1964 – 1 ABR 13/63, SAE 1965, 201 (204); BAG v. 27.9.2005 – 1 ABR 41/04, NZA 2006, 273 (277); BAG v. 10.2.2009 – 1 ABR 36/08, NZA 2009, 908 (911); BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289 (299). 3 BVerfG v. 26.9.2011 – 2 BvR 2216/06, NJW 2012, 669 (670 ff.); BVerfG v. 25.1.2011 – 1 BvR 918/10, NJW 2011, 836 (837 f.); dazu Rieble, NJW 2011, 819; Rüthers, NJW 2011, 1856. 4 Ebenso Wiedemann, Gesellschaftsrecht, S. 167. 5 Reichert, Rz. 450. 6 Vgl. BAG v. 10.2.2009 – 1 ABR 36/08, NZA 2009, 908 (911); BGH v. 2.12.1974 – II ZR 78/72, NJW 1975, 771 (774); Wiedemann, Gesellschaftsrecht, S. 168; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 5 I 4 c; offen BGH v. 28.11.1988 – II ZR 96/88, NJW 1989, 1212 (1213). 7 Reichert, Rz. 451. Die Vertreter der Normentheorie sprechen folgerichtig von Analogie. 8 BAG v. 10.2.2009 – 1 ABR 36/08, NZA 2009, 908 (912); grundlegend Hager, S. 132 ff. 9 Vgl. dazu K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 5 I 4 d. 10 Vgl. etwa OLG Hamm v. 23.11.2010 – 15 W 419/10, NZG 2011, 557 zur Einberufung der Mitgliederversammlung „durch Presseveröffentlichung“; OLG München v. 18.2.1998 – 3 U 4897/97, NJW-RR 1998, 966 zur Umlagenerhebung; vgl. auch Staudinger/Habermann, § 56 BGB Rz. 2 f., 7.

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Grundlagen des Verbandsrechts

Rz. 19 Teil 2

nen Tarifzuständigkeitsbereich1. Danach muss die Tarifzuständigkeit für die handelnden Organe des Verbandes selbst, für den sozialen Gegenspieler und für Dritte (Tarifunterworfene) zuverlässig zu ermitteln sein. Eine wortsinnübersteigende Satzungsauslegung ist demnach grundsätzlich ausgeschlossen. Das Vereinsrecht bietet keine Grundlage für diese Rechtsprechung. Sie lässt sich allein tarifrechtlich mit der von der Koalitionsfreiheit geschützten Koalitionszweckautonomie2 und mit dem Schutz des Vertrauens der Tarifnormunterworfenen begründen. Erfüllt die Satzung nicht die gemäß §§ 57 f. BGB gesetzlich vorgeschriebenen Anforderungen, hat das Registergericht den Eintragungsantrag zurückzuweisen. Ist der Verein bereits eingetragen, so ist zu differenzieren: Fehlen bereits die Mindesterfordernisse des § 57 Abs. 1 BGB, so kann die Eintragung von Amts wegen gelöscht werden (§§ 374 Nr. 4, 395 Abs. 1 Satz 1 FamFG)3. Ein Verstoß gegen die Ordnungsvorschrift des § 58 BGB berührt die Wirksamkeit der Eintragung dagegen nicht4.

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2. Verbandsauflösung Ein Verein kann durch Beschluss der Mitgliederversammlung aufgelöst werden, wofür vorbehaltlich anderweitiger Regelungen in der Satzung eine Mehrheit von drei Vierteln der erschienenen Mitglieder erforderlich ist (§ 41 BGB). Die Auflösung des eingetragenen Vereins erfolgt regelmäßig in zwei Stufen: Zunächst findet ein Liquidationsverfahren statt (§§ 47 ff. BGB). Erst mit dessen Abschluss erlischt der Verein (Vollbeendigung). Gleiches gilt nach h.M. in entsprechender Anwendung der §§ 47 ff. BGB für den nicht eingetragenen Verein5.

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Gemäß § 49 Abs. 2 BGB ist der Verein in Liquidation lediglich teilrechtsfähig. Das entspricht dem ausdrücklichen Willen des historischen Gesetzgebers6. Dem folgend hat der BGH entschieden, dass der Verein nur insoweit als fortbestehend gelte, als es für die Vermögensliquidation erforderlich sei7. Das vereinsrechtliche Schrifttum geht dagegen heute ganz überwiegend von einer unbeschränkten Rechtsfähigkeit des Vereins bis zu dessen Vollbeendigung aus8.

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1 BAG v. 10.2.2009 – 1 ABR 36/08, NZA 2009, 908 (911 f.); BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289 (299); vgl. dazu Ricken, RdA 2007, 35; HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 44. 2 Dazu Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 176 f. 3 BeckOK-BGB/Schöpflin, § 57 Rz. 1; Staudinger/Habermann, § 57 BGB Rz. 1. 4 MünchKomm/Reuter, § 58 BGB Rz. 1. 5 BGH v. 11.7.1968 – VII ZR 63/66, NJW 1968, 1830; MünchKomm/Reuter, § 56 BGB Rz. 80 f.; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 25 II 2 c; für direkte Anwendung Schöpflin, S. 510. 6 Mugdan, S. 415 f. (= Mot. I, S. 115); dazu Höpfner, AP TVG § 3 Nr. 36; dem folgend Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 31. 7 BGH v. 11.11.1985 – II ZR 37/85, NJW 1986, 1604; ebenso schon RAG v. 26.10.1929 – RAG 47/29, ARS 8, 129 (138 f.); RAG v. 2.3.1932 – RAG 426/31, ARS 14, 475 (476); RAG v. 13.2.1932 – RAG 241/31, ARS 14, 595 (597). 8 K. Schmidt, AcP 174 (1974), 55 (67 f.); MünchKomm/Reuter, § 49 BGB Rz. 11; Staudinger/Weick, § 49 BGB Rz. 17.

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Teil 2 Rz. 20

Tarifvertragsparteien

Der Meinungsstreit spielt in der Praxis nur eine geringe Rolle, da der BGH inzwischen Beschränkungen der Rechtsfähigkeit „allenfalls beim Erwerb neuer Rechte“ für denkbar hält1. Die Liquidation führt danach lediglich zu einer Änderung des Vereinszwecks. An die Stelle des ursprünglichen Vereinszwecks tritt die Abwicklung. Erst mit Abschluss des Liquidationsverfahrens, der Vollbeendigung, hört der Verein auf, zu existieren2. 20

Umstritten ist, wie weit die Vertretungsmacht der Liquidatoren reicht. Im Tarifrecht betrifft dies vor allem die Frage, ob die Liquidatoren bestehende VerbandsTVe kündigen dürfen. Das BAG hat erst kürzlich seine langjährige Rechtsprechung zur Tarifbindung bei Verbandsauflösung geändert3. Nunmehr soll die Verbandsauflösung nicht zum Wegfall der Tarifbindung führen. Zur Begründung führt der 4. Senat an, dass die Liquidatoren des Verbandes die bestehenden TVe kündigen könnten. Ungeklärt ist die Frage der Tarifbindung, wenn der Verband aufgelöst wird, ohne dass die Liquidatoren zuvor die TVe gekündigt haben. Der Senat lässt für diesen Fall ausdrücklich offen, „ob (!) und ggf. wann ausnahmsweise die Beendigung der unmittelbaren und zwingenden Wirkung eines auf unbestimmte Zeit abgeschlossenen Tarifvertrages in Betracht kommen kann“.

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Die Rechtsprechung ist schon im Ausgangspunkt verfehlt. Richtigerweise beschränkt sich das Liquidationsverfahren auf die Abwicklung vermögensrechtlicher Verpflichtungen des Vereins4. Es soll die Rechte der Gläubiger des aufgelösten Vereins wahren und zugleich eine angemessene Überleitung des Vermögens auf die bezugsberechtigten Mitglieder gewährleisten5. Es ist zwar richtig, dass der beschränkte Liquidationszweck nicht per se auch die Vertretungsmacht der Liquidatoren begrenzt. Der BGH und die überwiegende Auffassung im vereinsrechtlichen Schrifttum gehen in Anlehnung an § 269 AktG von einer unbeschränkten Vertretungsmacht der Liquidatoren aus und lösen Konflikte zwischen der Pflichtenbindung der Liquidatoren und dem Verkehrsschutz nach den Grundsätzen des Missbrauchs der Vertretungsmacht6. Eine solche Abweichung vom gesetzgeberischen Grundmodell, das in § 48 Abs. 2 BGB deutlich zum Ausdruck gekommen ist, ist jedoch nur gerechtfertigt, soweit Gründe des Verkehrsschutzes dies auch tatsächlich verlangen. Für die Frage der Beendigung von TVen, die zweifellos nicht als Liquidation von Vermögensmasse anzusehen ist7, gilt dies nicht. Hier geht es nicht um Ver1 BGH v. 22.3.2001 – IX ZR 373/98, ZIP 2001, 889 (891); dazu MünchKomm/Reuter, § 49 BGB Rz. 13. 2 Staudinger/Weick, § 49 BGB Rz. 20. 3 BAG v. 23.1.2008 – 4 AZR 312/01, NZA 2008, 771 = AP TVG § 3 Nr. 36 m. Anm. Höpfner. 4 Staudinger/Weick, § 48 BGB Rz. 4; BeckOK-BGB/Schöpflin, § 49 Rz. 1; nun auch Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 35; a.A. Wiedemann, AP Nr. 28 zu § 2 TVG. 5 Mugdan, S. 414 f. (= Mot. I, S. 113). 6 Grundlegend K. Schmidt, AcP 174 (1974), 55 (67 ff.) und heute h.M., vgl. BGH v. 1.12.1983 – III ZR 149/82, NJW 1984, 982; Staudinger/Weick, § 49 BGB Rz. 14; BeckOK-BGB/Schöpflin, § 49 Rz. 12. 7 RAG v. 26.10.1929 – RAG 47/29, ARS 8, 129 (138); Wiedemann, AP Nr. 28 zu § 2 TVG; Bergerhoff, S. 121 ff. m.w.N.

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Rz. 22 Teil 2

kehrsschutz, nicht um ein Vermögen, das zwischen Gläubigern und Mitgliedern aufzuteilen ist. Es muss daher bei der gesetzlichen Regelung des § 48 Abs. 2 BGB bleiben, wonach die Liquidatoren Vertretungsmacht nur insoweit besitzen, als es für die Liquidation erforderlich ist. Aus vereinsrechtlicher Sicht gilt daher: Sofern der aufgelöste Arbeitgeberverband ein Vermögen besitzt, besteht er gemäß § 49 Abs. 2 BGB bis zum Abschluss des Liquidationsverfahrens fort. Die Vertretungsmacht der Liquidatoren beschränkt sich jedoch auf die Geschäfte, die zur Abwicklung des Vereinsvermögens erforderlich sind. Eine Kündigung bestehender TVe durch die Liquidatoren ist nicht möglich (a.A. Rz. 137 sowie Teil 3 Rz. 205)1. Die Tarifbindung der Mitglieder endet aber in jedem Fall mit Vollbeendigung des Verbandes. Wenn der Verband als Rechtsträger erlischt, fällt der Vertragspartner des TVes weg, so dass diesem der Geltungsgrund entzogen ist2. In diesem Fall tritt auch keine Nachbindung ein, da § 3 Abs. 3 TVG die „Flucht aus dem TV“ verhindern will, die bei einer Verbandsauflösung grundsätzlich nicht zu befürchten ist3. Zudem setzt § 3 Abs. 3 TVG voraus, dass die TV-Parteien noch eine Herrschaft über den TV ausüben können4. Stattdessen schließt sich direkt die Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG an5. Der Gefahr einer Ewigkeitsbindung an TVe, die nach der Rechtsprechung des BAG nach Vollbeendigung des Verbandes besteht, nach hier vertretener Auffassung dagegen nur in dem Fall, dass das Liquidationsverfahren über Jahre hinweg nicht abschlossen wird, ist durch eine Höchstfrist für die Tarifbindung zu begegnen. In Anlehnung an die Nachhaftungsregelungen der §§ 736 Abs. 2 BGB, 159 HGB bietet sich dafür ein Zeitraum von fünf Jahren an, mit dessen Ablauf die Tarifbindung der Verbandsmitglieder spätestens endet6. Man mag mit guten Gründen einwenden, dass dieser Zeitraum zu lang bemessen ist7. Aus rechtspolitischer Sicht spricht in der Tat viel dafür, die einjährige Frist des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB auf den vorliegenden Fall zu übertragen. Das geltende Recht bietet dafür jedoch keinen normativen Anknüpfungspunkt, so dass de lege lata allein eine Begrenzung nach den Grundsätzen der Nachhaftung auf fünf Jahre zulässig ist.

1 Höpfner, AP TVG § 3 Nr. 36; ebenso RAG v. 26.10.1919, RAG 47/29, ARS 9, 128 (138 f.); BAG v. 11.11.1970 – 4 AZR 522/69, AP TVG § 2 Nr. 28; Nikisch, Arbeitsrecht II, § 76 II 3; a.A. BAG v. 23.1.2008 – 4 AZR 312/01, NZA 2008, 771; Henssler, FS Picker, S. 987 (992); Buchner, RdA 1997, 259 (263). 2 Henssler, FS Picker, S. 987 (992); Höpfner, AP TVG § 3 Nr. 36; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1267; Bergerhoff, S. 92 ff., 210 ff.; ebenso schon RAG v. 13.2.1932 – RAG 241/31, ARS 14, 595 (597); a.A. Blomeyer, SAE 1972, 109 (112); Wiedemann, AP Nr. 28 zu § 2 TVG. 3 Henssler, FS Picker, S. 987 (991); Höpfner, AP TVG § 3 Nr. 36; i.E. auch Bergerhoff, S. 174 ff. Die Missbrauchsbefürchtung von MünchKomm/Reuter, § 49 BGB Rz. 12 betrifft nur die Liquidationsphase und nicht den hier in Rede stehenden Fall der Vollbeendigung. 4 Wiedemann, AP Nr. 28 zu § 2 TVG. 5 Bergerhoff, S. 183; Höpfner, AP TVG § 3 Nr. 36; Fischer, Nachwirkung, S. 161 ff.; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 172. 6 Dazu Höpfner, NJW 2010, 2173; a.A. aber BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53. 7 So Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 171.

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III. Die Mitgliedschaft 23

Die Mitgliedschaft ist die zentrale Rechtsposition der Verbandsmitglieder und zugleich die Legitimationsgrundlage allen verbandlichen Handelns. Sie begründet ein subjektives Recht des Einzelnen auf Teilhabe an dem Verband1. Als solches ist sie grundsätzlich übertragbar2 und wird deliktsrechtlich als sonstiges Recht i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB geschützt3. Zugleich entsteht durch die Mitgliedschaft in einem Verband ein Rechtsverhältnis mit entsprechenden Treuepflichten sowohl zwischen Verband und Mitglied als auch zwischen den Mitgliedern untereinander4. Der Erwerb der Mitgliedschaft durch Beitritt zum Verein ist von der individuellen positiven Vereinigungsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 1 GG geschützt, jedoch nur hinsichtlich deutscher Staatsbürger5. Der Austritt sowie das Recht des Fernbleibens unterliegen dem Schutz der negativen Vereinigungsfreiheit6.

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Die Mitgliedschaft in einer Koalition unterliegt dem Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG, der im Gegensatz zur Vereinigungsfreiheit für jedermann gilt. Seine positive Koalitionsfreiheit übt auch aus, wer als OT-Mitglied einem Verband beitritt7. Denn verbandsrechtlich handelt es sich bei der OT-Mitgliedschaft um eine echte Mitgliedschaft mit entsprechenden Teilhaberechten, bei der lediglich die Tarifbindung ausgeschlossen ist. Gleiches gilt für den Wechsel von der Vollmitgliedschaft in die OT-Mitgliedschaft. Auch in diesem Fall nimmt das Mitglied nicht etwa seine negative Koalitionsfreiheit wahr8, sondern es übt weiterhin sein von der positiven Koalitionsfreiheit geschütztes Recht aus, Mitglied in einem Verband zu sein und sich darin zu betätigen9. Zu Erwerb und Beendigung der Mitgliedschaft siehe Teil 6 Rz. 13 ff.

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Alles Handeln des Verbandes bedarf einer mitgliedschaftlichen Legitimation10. Diese Legitimation erfolgt durch den Beitritt des Mitgliedes zum Verband bzw. die Teilnahme an der Gründung des Verbandes und die damit verbundene Akzeptierung der Verbandsverfassung. Beschlüsse des Verbandes müssen darüber hinaus vom „Verbandswillen“ getragen werden, wobei die Anforderungen an die Legitimation (einfache Mehrheit, qualifizierte Mehrheit, Einstimmigkeit) unterschiedlich hoch sein können. Im Vereinsrecht ist grundsätzlich die Mehr1 Lutter, AcP 180 (1980), 84 (102). 2 MünchKomm/Reuter, § 38 BGB Rz. 11; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 19 I 3 a. 3 Vgl. BGH v. 12.3.1990 – II ZR 179/89, NJW 1990, 2877; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 19 I 3 a; Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 II 4 e. 4 Grundlegend Lutter, AcP 180 (1980), 84 (97 ff.); ferner BGH v. 1.2.1988 – II ZR 75/87, NJW 1988, 1579; BGH v. 20.3.1995 – II ZR 205/94, NJW 1995, 1739; Wiedemann, Gesellschaftsrecht, S. 95; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 19 I 3 b, III 1. 5 Ausländer werden über Art. 2 Abs. 1 GG vergleichbar geschützt. Für Angehörige der EU-Mitgliedstaaten gilt zudem Art. 12 Abs. 1 GR-Charta. 6 Vgl. ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 6. 7 Insoweit zutreffend BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (1371). 8 So aber BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (1371). Das ist indes nur zutreffend, wenn man zugleich die negative Koalitionsfreiheit als „negative Tarifvertragsfreiheit“ verstehen wollte. 9 Höpfner, ZfA 2009, 541 (570 ff.). 10 Vgl. K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 16 I 1.

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Rz. 28 Teil 2

heit der abgegebenen Stimmen entscheidend (§ 32 Abs. 1 Satz 3 BGB). Satzungsänderungen verlangen – vorbehaltlich anderweitiger Regelungen in der Satzung selbst (§ 40 BGB) – eine qualifizierte Mehrheit von drei Vierteln der abgegebenen Stimmen (§ 33 Abs. 1 Satz 1 BGB). Änderungen des Vereinszwecks sind nur einstimmig möglich (§ 33 Abs. 1 Satz 2 BGB). Im Vereins- und Kapitalgesellschaftsrecht ist der Grundsatz der mitgliedschaftlichen Legitimation des Verbandshandelns vor allem im Zusammenhang mit den Mehrheitsanforderungen für Beschlüsse und dem damit verbundenen Minderheitenschutz von Bedeutung. Für das Handeln des Verbandes nach außen spielt er dagegen keine Rolle, da hierdurch grundsätzlich keine Verpflichtungen der Mitglieder begründet werden. Anders ist die Situation bei den Tarifverbänden. Die von ihnen abgeschlossenen TVe gelten für ihre Mitglieder unmittelbar und zwingend. Die von Art. 9 Abs. 3 GG verliehene Befugnis, tarifliche Rechtsnormen zu setzen, setzt eine Legitimation im Verhältnis von Normgeber und Normunterworfenem voraus1. Als Bestandteil der individuellen Koalitionsfreiheit hängt die Tarifgebundenheit der Arbeitsvertragsparteien von deren individueller Entscheidung über die Mitgliedschaft in der jeweiligen Vereinigung ab2.

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IV. Geschäftsführung und Vertretung Die Geschäftsführung des Vereins obliegt grundsätzlich dem Vorstand (§ 27 Abs. 3 BGB), sofern die Satzung gemäß § 40 BGB keine anderweitige Regelung vorsieht. Der Vorstand ist dabei an Zweck und Satzung des Vereins und an Weisungen der Mitgliederversammlung gebunden3. Die Weisungsgebundenheit kann so weit gehen, dass der Vorstand faktisch zu einem „Verrichtungsgehilfen“ degradiert wird4. Umgekehrt ist es aber auch möglich, dass die Mitgliederversammlung ihre Kompetenz für Satzungsänderungen und für Grundlagengeschäfte auf den Vorstand überträgt. Ihr muss lediglich die Befugnis verbleiben, dem Vorstand durch Satzungsänderung die Kompetenzen wieder entziehen zu können5.

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Gemäß § 26 Abs. 1 Satz 2 BGB vertritt der Vorstand den Verein gerichtlich und außergerichtlich. Das Gesetz geht von einer unbeschränkten Vertretungsmacht des Vorstandes aus6. Insb. ist die Vertretungsmacht nicht durch den Vereinszweck beschränkt7. Die Ultra-vires-Lehre, nach der ein Verband außerhalb seines durch Gesetz oder Satzung bestimmten Wirkungskreises mangels Rechtsfähigkeit keine wirksamen Geschäfte vornehmen kann8, gilt im deut-

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1 MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 168 Rz. 1. 2 Vgl. ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 57; ErfK/Franzen, § 1 TVG Rz. 6; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 56; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 15 III 1. 3 MünchKomm/Reuter, § 27 BGB Rz. 41; Staudinger/Weick, § 27 BGB Rz. 25. 4 MünchKomm/Reuter, § 27 BGB Rz. 41. Zu den Grenzen Staudinger/Weick, § 32 BGB Rz. 5. 5 MünchKomm/Reuter, § 27 BGB Rz. 41, § 33 BGB Rz. 15 ff. 6 Vgl. BGH v. 28.4.1980 – II ZR 193/79, NJW 1980, 2799 (2780). 7 Anders noch BGH v. 30.3.1953 – IV ZR 176/52, JZ 1953, 474 (475); offen gelassen bei BGH v. 28.4.1980 – II ZR 193/79, NJW 1980, 2799 (2780). 8 Vgl. dazu K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 8 V 2.

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Teil 2 Rz. 29

Tarifvertragsparteien

schen Privatrecht nach heute h.M. grundsätzlich nicht1. Zulässig ist aber eine Beschränkung der Vertretungsmacht durch die Satzung des Vereins. So kann etwa anstelle des Vorstandes eine Tarifkommission für die Entscheidung über die Annahme und Ablehnung der Ergebnisse von Tarifverhandlungen und für den Abschluss und die Kündigung von TVen zuständig sein2. Möglich ist auch eine Satzungsbestimmung, wonach die Wirksamkeit von Handlungen des Vorstandes von der Zustimmung eines besonderen Organs (der Mitgliederversammlung, eines Tarifausschusses etc.) abhängig ist3. 29

Eine solche Beschränkung der Vertretungsmacht des Vorstandes entfaltet nur dann Wirkung gegenüber Dritten, wenn sie in der Satzung eindeutig zum Ausdruck kommt4. Es genügt nicht, dass in der Satzung eine den Handlungsspielraum des Vorstandes einschränkende Regelung getroffen wird, wenn nicht zugleich zum Ausdruck gebracht wird, dass damit auch die Vertretungsmacht beschränkt werden soll5. Schließlich muss auch der Umfang der Beschränkung eindeutig der Satzung zu entnehmen sein. Die Satzung sollte daher die Sachverhalte so konkret wie möglich benennen und auf unbestimmte Begriffe, etwa „Investitionsmaßnahmen“ ab einer bestimmten Höhe, verzichten6. Erfüllt die satzungsmäßige Einschränkung der Vertretungsmacht diese Anforderungen nicht, so schränkt sie nur die Geschäftsführungsbefugnis im Innenverhältnis ein7. Die rechtsgeschäftliche Erklärung des Vorstandes ist dann nach außen grundsätzlich wirksam; der Verein kann lediglich in Ausnahmefällen nach den Grundsätzen des Missbrauchs der Vertretungsmacht die Erfüllung verweigern.

V. Haftung 30

Schuldner der Verbindlichkeiten des eingetragenen Vereins ist allein der Verein selbst. Eine Durchgriffshaftung der Mitglieder kommt nur ausnahmsweise „bei Vorliegen ganz besonderer Umstände in Betracht“8. Der Verein muss sich gemäß § 31 BGB alle Schäden zurechnen lassen, die der Vorstand oder ein anderer eigenverantwortlich handelnder Repräsentant9 des Vereins einem Dritten zufügt. Neben dem Verein selbst haftet auch der handelnde Vorstand als Gesamtschuldner (§ 840 Abs. 1 BGB) nach den allgemeinen Grundsätzen für un1 Vgl. Staudinger/Weick, § 26 BGB Rz. 9; MünchKomm/Reuter, Vor § 21 BGB Rz. 14; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, §§ 8 V 2, 24 III 2 c; zu Einschränkungen im Liquidationsverfahren siehe oben Rz. 21. 2 Vgl. etwa § 68 der Satzung von ver.di v. 29./30.9.2009. 3 Vgl. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1315; MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 165 Rz. 17. 4 BGH v. 22.4.1996 – II ZR 65/95, NJW-RR 1996, 866; BayObLG v. 19.8.1999 – 2Z BR 63/99, NJW-RR 2000, 41; MünchKomm/Reuter, § 26 BGB Rz. 15; Staudinger/Weick, § 26 BGB Rz. 11. 5 BGH v. 28.4.1980 – II ZR 193/79, NJW 1980, 2799 (2780). 6 BayObLG v. 19.8.1999 – 2Z BR 63/99, NJW-RR 2000, 41. 7 BGH v. 22.4.1996 – II ZR 65/95, NJW-RR 1996, 866; MünchKomm/Reuter, § 26 BGB Rz. 15. 8 BGH v. 8.7.1970 – VIII ZR 28/69, NJW 1970, 2015; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 24 VI 2 b. 9 Vgl. dazu BGH v. 30.10.1967 – VII ZR 82/65, NJW 1968, 391; Martinek, Repräsentantenhaftung, passim; Staudinger/Weick, § 31 BGB Rz. 24 ff.

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Grundlagen des Verbandsrechts

Rz. 32 Teil 2

erlaubte Handlungen (§§ 823 ff. BGB)1, nicht aber für rechtsgeschäftliche Verbindlichkeiten2. Die Haftungsverfassung des nicht eingetragenen Vereins ist weitgehend identisch. Für Verbindlichkeiten des Vereins haftet grundsätzlich allein dieser selbst3. Eine persönliche Haftung der Mitglieder für Vereinsverbindlichkeiten gibt es ebenso wenig wie beim eingetragenen Verein4. Der Verweis des § 54 Satz 1 BGB auf das Recht der GbR hat sich wegen Fortfalls des ursprünglichen Normzwecks (s. Rz. 4 f.) erledigt. Vorstand und Mitglieder haften daher grundsätzlich nur für eigene deliktische Handlungen. Im Gegensatz zum eingetragenen Verein sieht § 54 Satz 2 BGB daneben eine persönliche Haftung des Handelnden für rechtsgeschäftliche Verbindlichkeiten vor5. Der Gesetzgeber wollte damit ursprünglich den fehlenden vermögensrechtlichen Gläubigerschutz für den nicht eingetragenen Verein ausgleichen6. Dieser Zweck hat sich erledigt, da die Regelungen der §§ 42 Abs. 2, 47 ff. BGB über die Liquidation heute auch für den nicht eingetragenen Verein gelten7. Stattdessen dient die Handelndenhaftung heute als Ausgleich für die Intransparenz der Vertretungsverhältnisse infolge der fehlenden Registerpublizität beim nicht eingetragenen Verein8.

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§ 54 Satz 2 BGB begründet eine akzessorische, inhaltsgleiche und unbeschränkte Haftung des Handelnden mit seinem Privatvermögen9. Der Handelnde schuldet nicht nur Erfüllung des Rechtsgeschäfts, das er im Namen des Vereins abschließt. Er hat darüber hinaus auch für sämtliche Sekundäransprüche bei Pflichtverletzungen einzustehen10. Im Tarifrecht kann dies weitreichende Folgen haben: So ist nicht nur die Gewerkschaft selbst zum Ersatz der Schäden verpflichtet, die infolge einer Verletzung der Friedenspflicht beim Arbeitgeberverband und dessen Mitgliedern eintreten. Auch die Personen, die als Vertreter der Gewerkschaft den TV unterzeichnen, haften unbegrenzt mit ihrem Privatvermögen für Vertragsverletzungen. Bereits auf dem Deutschen Juristentag 1926 wurde die Abschaffung der Handelndenhaftung für Gewerkschaften gefordert11. Der Gesetzgeber hat 1967 mit § 37 ParteiG die persönliche Haftung der für politische Parteien Handelnden ausgeschlossen. Er wollte damit die „Vielzahl von ehrenamtlich tätigen Parteimitgliedern [schützen], die

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1 Vgl. MünchKomm/Reuter, § 31 BGB Rz. 44. 2 MünchArbR/Löwisch/Rieble, § 160 Rz. 34. 3 MünchKomm/Reuter, § 54 BGB Rz. 48; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 25 III 1, 2; a.A. MünchArbR/Löwisch/Rieble, § 160 Rz. 35. 4 BGH v. 30.6.2003 – II ZR 153/02, NZG 2003, 878; MünchKomm/Reuter, § 54 BGB Rz. 48; a.A. Schöpflin, S. 393 ff., 519. 5 BGH v. 21.5.1957 – VIII ZR 202/56, NJW 1957, 1186; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 25 III 3; Staudinger/Weick, § 54 BGB Rz. 57. 6 Mugdan, S. 641 (= Prot. II, S. 2495). 7 MünchKomm/Reuter, § 54 BGB Rz. 60a. 8 MünchKomm/Reuter, § 54 BGB Rz. 60a; Bergmann, S. 442 f.; zum Meinungsstand Schöpflin, S. 468 ff. 9 BeckOK-BGB/Schöpflin, § 54 Rz. 44. 10 Vgl. MünchKomm/Reuter, § 54 BGB Rz. 67; Schöpflin, S. 489. 11 Vgl. Nipperdey in Verhandlungen des 34. DJT 1926, Bd. I, S. 395 (421); Sinzheimer, a.a.O., Bd. II, S. 805, 813.

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auf den verschiedenen Ebenen für ihre Partei rechtsgeschäftlich auftreten“1. Es spricht einiges dafür, diese Vorschrift analog auf Gewerkschaften anzuwenden2. In der Praxis wird das Problem dadurch entschärft3, dass der geschädigte Arbeitgeber(verband) jedenfalls zunächst die Gewerkschaft zur Leistung auffordern muss, bevor er den Handelnden in Anspruch nimmt4, und letzterer überdies einen Freistellungsanspruch gegen die Gewerkschaft hat.

B. Tariffähigkeit I. Allgemeine Grundsätze der Tariffähigkeit Literatur: Bayreuther, Gewerkschaftspluralismus im Spiegel der aktuellen Rechtsprechung – Abschied vom „Einheitstarifvertrag“?, BB 2005, 2633; Bepler, Aktuelle tarifrechtliche Fragen aus Anlass eines BAG-Urteils vom 23. März 2005, in: Festschrift ARGE Arbeitsrecht im DAV, 2006, S. 791; Brors, Zur Entscheidung über die Tarif(un)fähigkeit der CGZP, ArbuR 2010, 406; Buchner, Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum Gewerkschaftsbegriff, in: Festschrift 25 Jahre BAG, 1979, S. 55; Buchner, Die tarifrechtliche Situation bei Verbandsaustritt und bei Auflösung eines Arbeitgeberverbandes, RdA 1997, 259; Buchner, Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung, NZA 1994, 2; Buschmann, Abbau des gesetzlichen Arbeitnehmerschutzes durch kollektives Arbeitsrecht?, in: Festschrift für Reinhard Richardi zum 70. Geburtstag, 2007, S. 93; Däubler, Voraussetzungen der Gewerkschaftseigenschaft, ArbuR 1977, 286; Dieterich, Die Grundrechtsbindung von Tarifverträgen, in: Festschrift für Günter Schaub, 1998, S. 117; Dieterich, Flexibilisiertes Tarifrecht und Grundgesetz, RdA 2002, 1; Dieterich, Gleichheitsgrundsätze im Tarifvertragsrecht, RdA 2005, 177; Dütz, Die „Tarif“-Wirkung von kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen, in: Festschrift für Günter Schaub, 1998, S. 157; Dütz, Gewerkschaft in der Gewerkschaft?, AuR 1995, 337; Dütz, Soziale Mächtigkeit als Voraussetzung eines einheitlichen Koalitionsbegriffs?, ArbuR 1976, 65; Dütz, Zur Entwicklung des Gewerkschaftsbegriffs, DB 1996, 2385; Franzen, Tarifrechtssystem und Gewerkschaftswettbewerb – Überlegungen zur Flexibilisierung des Flächentarifvertrags, RdA 2001, 1; Gamillscheg, Sozialpolitische Bedeutung und Repräsentativität der Gewerkschaft im deutschen und ausländischen Recht, in: Festschrift für Wilhelm Herschel zum 85. Geburtstag, 1982, S. 99; Gitter, Durchsetzungsfähigkeit als Kriterium der Tariffähigkeit für einzelne Arbeitgeber und Arbeitgeberverbände, in: Festschrift für Otto Rudolf Kissel zum 65. Geburtstag, 1994, S. 265; Greiner, Der GKH-Beschluss – Evolution oder (erneute) Revolution der Rechtsprechung zur Tariffähigkeit?, NZA 2011, 825; Grunsky, Gewerkschaftseigenschaft von Arbeitnehmervereinigungen, JZ 1977, 473; Hagemeier, Das BAG zur Tariffähigkeit von Arbeitnehmervereinigungen, ArbuR 1988, 193; Hanau, Verbands-, Tarif- und Gerichtspluralismus, NZA 2003, 128; Hanau/Kania, Zur personellen Beschränkung der Tarifzuständigkeit, in: Festschrift für Wolfgang Däubler, 1999, S. 437; Heinze, Tarifzuständigkeit von Gewerkschaften und Arbeitgebern/Arbeitgeberverbänden, DB 1997, 2122; Heinze/Ricken, Verbandsaustritt und Verbandsauflösung im Spannungsfeld von Tarifeinheit und Tarifpluralität, ZfA 2001, 1 Vgl. BT-Drucks. 14/6710, S. 72; Saliger, S. 176. 2 So MünchKomm/Reuter, § 54 BGB Rz. 50; i.E. auch Kertess, S. 41; a.A. Schöpflin, S. 504 f.; MünchArbR/Löwisch/Rieble, § 160 Rz. 35. 3 In der Bundesrepublik ist kein Fall bekannt, in dem Gewerkschaftsvertreter nach § 54 Satz 2 BGB persönlich in Anspruch genommen wurden. Zu Fällen vor 1945 vgl. die Nachweise bei Kertess, S. 30 ff. 4 Vgl. Beuthien, ZIP 1996, 360 (367); Schöpflin, S. 491.

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Teil 2

Tariffähigkeit

159; Henssler, Firmentarifverträge und unternehmensbezogene Verbandstarifverträge als Instrumente einer „flexiblen“, betriebsnahen Tarifpolitik, ZfA 1998, 517; Jacobs, Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit einer Spitzenorganisation im Sinne des § 2 Abs. 3 TVG, ZfA 2010, 27; Kamanabrou, Der Streik durch Spartengewerkschaften – Zulässigkeit und Grenzen, ZfA 2008, 241; Kempen, Die „Tarifeinheit“ der Koalitionsfreiheit – ein Zwischenruf, in: Festschrift für Wolfgang Hromadka zum 70. Geburtstag, 2008, S. 177; Kissel, Arbeitsrecht und Staatsvertrag, NZA 1990, 545; Kleinke/Kley/Walter, Personalüberleitungstarifverträge von Mitgliedern kommunaler Arbeitgeberverbände, ZTR 2000, 499; Klimpe-Auerbach, Arbeitsvertragliche Verweisung auf Tarifverträge als Indiz für soziale Mächtigkeit?, ArbuR 2010, 362; Kocher, Gewerkschaftseigenschaft der Christlichen Gewerkschaft Metall, ArbuR 2005, 336; Konzen, Verfassungsmäßigkeit des § 116 Abs. 3 S. 1 AFG – Arbeitslosengeld und Kurzarbeitergeld im Arbeitskampf, SAE 1996, 216; Kraft, Zur Gewerkschaftseigenschaft und Tariffähigkeit eines Verbandes, SAE 1978, 43; Lobinger, Streiks um unternehmensbezogene Tarifverträge bei Verbandstarifgebundenheit des Arbeitgebers, RdA 2006, 12; Löwisch, Die Voraussetzungen der Tariffähigkeit, ZfA 1970, 295; Matthes, Der Arbeitgeber als Tarifvertragspartei, in: Festschrift für Günter Schaub, 1998, S. 477; Mayer-Maly, Voraussetzungen der Gewerkschaftseigenschaft und der Tariffähigkeit, SAE 1991, 100; Müller, Die Tragweite der tariflichen Bezugnahmeklauseln, RdA 1990, 322; Peter, Abschied vom Konsens – Mangelnde Tariftreue und Erosion der Arbeitgeberverbände, in: Festschrift für Wolfgang Däubler, 1999, S. 479; Picker, Ursprungsidee und Wandlungstendenzen des Tarifvertragswesens – Ein Lehrstück zur Privatautonomie am Beispiel Otto v. Gierkes, in: Gedächtnisschrift für Brigitte Knobbe-Keuk, 1997, S. 879; Preis, Legitimation und Grenzen des Betriebsbegriffes im Arbeitsrecht, RdA 2000, 257; Prütting/Weth, Die Vertretung einer Gewerkschaft im Betrieb – Geheimverfahren zum Nachweis der Voraussetzungen, DB 1989, 2273; Richardi, Gegnerunabhängigkeit, Verhandlungsgleichgewicht und Verhandlungsfreiheit als Funktionsvoraussetzungen des Tarifvertragssystems im öffentlichen Dienst, DB 1985, 1021; Richardi, Koalitionsfreiheit und Tariffähigkeit, in: Festschrift für Hellmut Wißmann zum 65. Geburtstag, 2005, S. 159; Richardi, Tariffähigkeit und Erfordernis der sozialen Mächtigkeit, RdA 2007, 118; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, 1996; Rieble, Betriebsverfassungsrechtlicher Gewerkschaftsbegriff, RdA 2008, 35; Rieble, Der Tarifvertrag als kollektiv-privatautonomer Vertrag, ZfA 2000, 5; Rieble, Gewerkschaftswettbewerb und Tariffähigkeit, SAE 2006, 89; Rieble, Relativität der Tariffähigkeit, in: Festschrift für Herbert Wiedemann zum 70. Geburtstag, 2002, S. 519; Rolfs/Witschen, Zeitarbeit vor dem Aus?, DB 2010, 1180; Schrader, Arbeitgeberverbände und Mächtigkeit, NZA 2001, 1337; Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, 1975; Söllner, Der verfassungsrechtliche Rahmen für Privatautonomie im Arbeitsrecht, RdA 1989, 144; Söllner, Mächtigkeit und Leistungsfähigkeit als typologische Merkmale der arbeitsrechtlichen Gewerkschaften, ArbuR 1976, 321; Thüsing, 20 Jahre „Dritter Weg“ – Rechtsnatur und Besonderheiten der Regelung kirchlicher Arbeitsverhältnisse, RdA 1997, 163; Thüsing/Stelljes, Verbandsmitgliedschaft und Tarifgebundenheit, ZfA 2005, 527; Wank, Die Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems, in: Soziale Sicherheit durch Sozialpartnerschaft, Festschrift zum 50jährigen Bestehen der Zusatzversorgungskasse des Baugewerbes, 2007, S. 141; Wank/Schmidt, Neues zur sozialen Mächtigkeit und organisatorischen Leistungsfähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung, RdA 2008, 257; Wiedemann, Tariffähigkeit und Unabhängigkeit, RdA 1976, 72; Zeuner, Gedanken zum Verhältnis von Richterrecht und Betätigungsfreiheit der Beteiligten – dargelegt an Beispielen aus der Rechtsprechung des BAG, in: Festschrift 25 Jahre BAG, 1979; Zöllner, Zu den Voraussetzungen für die Tariffähigkeit von Vereinigungen von Arbeitnehmern oder Arbeitgebern, SAE 1969, 140.

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Teil 2 Rz. 33

Tarifvertragsparteien

1. Einführung und systematische Grundlagen a) Regelungszweck 33

Da TVe normativ – wie staatliche Gesetze – auf die beiderseits kongruent tarifgebundenen Arbeitsverhältnisse einwirken (Teil 9 Rz. 1 ff.)1, besteht ein besonderes Bedürfnis, die Zuverlässigkeit und Verantwortung der Akteure, die an der Tarifnormsetzung mitwirken, sicherzustellen. Diesem Anliegen einer Zugangskontrolle zur tariflichen Normsetzungskompetenz dienen weitere Anforderungen an die Tariffähigkeit von TV-Parteien, die über die Merkmale des Koalitionsbegriffs (s. Teil 1 Rz. 18) hinausgehen. Ebenso wie dort die Merkmale der Gegnerfreiheit und Gegnerunabhängigkeit dem Missbrauch der Koalitionsfreiheit entgegenwirken sollen, ist Anliegen der Tariffähigkeitskontrolle die Unterbindung des Missbrauchs der Tarifmacht2.

34

Entsprechend diesem Anliegen ist die Tariffähigkeit unstreitig Wirksamkeitsvoraussetzung für die normative Wirkung der getroffenen Vereinbarungen3. Fehlt die Tariffähigkeit beim Abschluss des TVes, kommt eine (rückwirkende) Heilung nicht in Betracht4. Der TV ist als solcher unheilbar unwirksam; in Betracht kommt allenfalls eine Umdeutung (§ 140 BGB) in eine schuldrechtlich wirkende Koalitionsvereinbarung5, der es an normativer Wirkung fehlt und die daher auch von nicht tariffähigen Akteuren wirksam vereinbart werden kann6. Auch der gute Glaube an die Tariffähigkeit wird nicht geschützt7.

35

Dass die Anforderungen insofern über die Voraussetzungen des Koalitionsbegriffs hinausgehen können, hängt damit zusammen, dass es sich bei der Tarifnormsetzung um einen besonders qualifizierten Bereich der Koalitionsbetätigung handelt: Der TV soll die Disparität des individuellen Arbeitsverhältnisses ausgleichen8. Ihm kommt nach hergebrachter Sichtweise eine inhaltliche Richtigkeitsgewähr zu. Den TV-Parteien sind zunehmend durch die verstärkte Etablierung tarifdispositiven Gesetzesrechts Deregulierungsaufgaben zugewiesen, deren Wahrnehmung eine erhebliche soziale Verantwortung voraussetzt9. 1 Zu diesem Ansatz vgl. BVerfG v. 19.10.1966 – 1 BvL 24/65, NJW 1966, 2305, Rz. 21; BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112, Rz. 35; BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 64. 2 Vgl. nur Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 12 („Ordnungsfunktion“); Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 6. 3 Exemplarisch Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 15; HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 3; ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 5; Gamillscheg, S. 526; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 160; Koberski/Clasen/Menzel, § 2 TVG Rz. 12. 4 HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 2; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 15; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 165. 5 Dazu z.B. Gamillscheg, S. 526 m.w.N. 6 Explizit BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112, Rz. 35. 7 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 15; ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 5; HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 3. 8 Vgl. nur BVerfG v. 26.6.1991 – 1 BvR 779/85, NZA 1991, 809; Gamillscheg, S. 3 ff. m. zahlr. Nachw.; Bepler, FS ARGE Arbeitsrecht im DAV, S. 807 f.; Picker, GS KnobbeKeuk, S. 883 f. (949); Löwisch, ZfA 1970, 295 (308). 9 Ausf. Ulber, Tarifdispositives Gesetzesrecht im Spannungsfeld von Tarifautonomie und grundrechtlichen Schutzpflichten, 2010; weiterhin schon Richardi, FS Wißmann, S. 164 f. (172); vgl. ferner Buschmann, FS Richardi, S. 93 ff.

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Tariffähigkeit

Rz. 38 Teil 2

Verlangt man für die Tarifnormsetzung die Erfüllung zusätzlicher Kriterien, die über die Merkmale des verfassungsrechtlichen Koalitionsbegriffs hinausgehen, dient dies folglich der Sicherstellung einer zuverlässigen Tarifnormsetzung. Der Gründung von „Phantomorganisationen“ wird vorgebeugt1. Wie sich spezifische Anforderungen an die Tariffähigkeit, insbesondere auf Gewerkschaftsseite, begründen und rechtfertigen lassen, hängt entscheidend von dogmatischen Grundfragen des Tarifrechts ab. Interpretiert man die Tarifautonomie ausschließlich als kollektiv ausgeübte Privatautonomie2, kann insbesondere das Mächtigkeitskriterium (s. Rz. 55 ff.) vertragstheoretisch gerechtfertigt werden. Stärke und Zuverlässigkeit der TV-Parteien sind eine vertragsfunktionale Voraussetzung3 und damit unerlässlich für die Anerkennung einer Richtigkeitsgewähr der Tarifnormen, die insbesondere im Verzicht auf eine Inhaltskontrolle (§ 310 Abs. 4 Satz 1 BGB) deutlichen Ausdruck findet. Ein Vertragsschluss mit besonderem Richtigkeitsvertrauen setzt eine näherungsweise Parität der Verhandlungspartner voraus4. Bei diesem Ansatz dient die soziale Mächtigkeit dazu, den TV als kollektiv-privatautonomes Gestaltungsinstrument abzusichern.

36

b) Marktfreiheit oder staatliche Regulierung? Führt man den ausschließlich kollektiv-privatautonomen Ansatz konsequent zu Ende, wäre es freilich folgerichtig, auf die individuelle Legitimation der Tarifnormsetzung durch das einzelne Koalitionsmitglied und die Möglichkeit funktionierender marktförmiger Auswahlentscheidungen zu vertrauen. Dann läge es nahe, jenseits der Anforderungen des Koalitionsbegriffs weitere einfachrechtliche Anforderungen an die Tariffähigkeit für verzichtbar zu halten: Im Falle einer Scheingewerkschaft könnte etwa das einzelne Gewerkschaftsmitglied einer „unzuverlässigen“ Tarifnormsetzung zum Schaden der eigenen Mitglieder durch den Austritt aus der „Gewerkschaft“ und gegebenenfalls den Eintritt in eine konkurrierende Gewerkschaft entgehen5.

37

Dieser Ansatz, der zusätzliche einfachrechtliche Anforderungen an die Tariffähigkeit als einen nicht erforderlichen Eingriff in die Koalitionsfreiheit (Art. 9

38

1 Zutr. Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 51 f. 2 BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068; BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225, Rz. 55; BAG v. 27.11.2002 – 7 AZR 414/01, NZA 2003, 812, Rz. 19; BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 563/99, NZA 2001, 613, Rz. 45; weiterhin BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 294/08, NZA-RR 2010, 305, Rz. 30; Bayreuther, S. 57 ff.; HWK/Henssler, Einl. TVG Rz. 15 f.; Rieble, ZfA 2000, 5; Dieterich, RdA 2002, 1; Dieterich, FS Schaub, S. 121; Dieterich, RdA 2005, 177 (178); Söllner, RdA 1989, 144 (149). 3 Rieble, FS Wiedemann, S. 526; ähnlich Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1867 ff.; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 120 ff. 4 Zur Überlegung, dass dies allein als Legitimationsgrund des Mächtigkeitskriteriums nicht genügt, vgl. Greiner, Rechtsfragen, S. 213. 5 Vgl. Grunsky, JZ 1977, 470 (473 f.); ähnlich Eitel, S. 58; Richardi, RdA 2007, 118 (119); Henssler, S. 50 ff., 62; Kamanabrou, ZfA 2008, 241 (249 ff.); Gamillscheg, S. 433 („natürliche Auslese innerhalb der Verbände“); Bayreuther, BB 2005, 2633 (2637); Kraft, SAE 1978, 43 (44).

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Teil 2 Rz. 39

Tarifvertragsparteien

Abs. 3 GG) interpretiert1, vermag jedenfalls unter den gegenwärtigen Bedingungen des TV-Systems nicht zu überzeugen. Zum einen kann man bereits an der ausschließlich kollektiv-privatautonomen Herleitung der Normsetzungskompetenz zweifeln2. Ferner ist das Vertrauen auf eine eigenverantwortliche Auswahlentscheidung des einzelnen Tarifgebundenen nur dann gerechtfertigt, wenn es funktionsfähige Alternativen gibt, insbesondere die Existenz pluralistisch miteinander konkurrierender Gewerkschaften sichergestellt ist3. Der Arbeitnehmer hat nämlich nur unter den Vorzeichen eines funktionierenden Gewerkschaftswettbewerbs die Möglichkeit, sich marktförmig für einen anderen kollektiven Regelungsanbieter zu entscheiden – der Arbeitgeber hat immerhin als tariffähige Partei (s. Rz. 96 ff.) stets die Alternative einer eigenständigen Tarifpolitik ohne Einbindung in einen Arbeitgeberverband. 39

Selbst wenn derartige Alternativen vorhanden sind, ist jedoch die Markttransparenz Voraussetzung für eine funktionierende eigenverantwortliche Auswahlentscheidung4. Das einzelne Koalitionsmitglied kann durch Koalitionsaustritt und Koalitionswechsel eine einmal eingegangene Tarifbindung nicht sofort abstreifen (vgl. § 3 Abs. 3 TVG; s. Teil 6 Rz. 61 ff.). Der marktförmigen Auswahlentscheidung sind also selbst unter den Vorzeichen eines funktionierenden Koalitionswettbewerbs Grenzen gesetzt. Somit müsste auch in einem voll entfalteten pluralistischen Koalitionssystem die Zuverlässigkeit der Akteure einer Vorabkontrolle unterworfen bleiben.

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Übersteigerte Anforderungen an die Tariffähigkeit drohen auf der anderen Seite eine Gefahr für den Gewerkschaftspluralismus mit sich zu bringen und ihrerseits einen Beitrag zum Versagen der skizzierten marktförmigen Selbstregulierung zu leisten5. Insofern sieht sich die Rechtsprechung vor der schwierigen Aufgabe, die sozialstaatlich wünschenswerten Kontrollkompetenzen wirkungsvoll auszuüben, andererseits die Anforderungen aber auch nicht über das erforderliche Maß hinaus zu verschärfen. Der Rechtsprechung zur Tariffähigkeit kommt eine Schlüsselfunktion für das gesamte TV-System zu, indem eine besonders strikte Zugangskontrolle letztlich zum Entstehen von Monopolverbänden führt. Eine liberalisierte Zugangskontrolle ermöglicht erst das Entstehen eines pluralistisch aufgefächerten Koalitionsspektrums und damit eines funktionierenden Wettbewerbs unterschiedlicher Regelungsanbieter. Eine vollständige Freigabe des Zugangs zum TV-System würde hingegen die Gefahr einer sozial unverantwortlichen Ausübung von Tarifmacht mit sich bringen und im Extremfall die Gründung von „Scheingewerkschaften“ begünstigen6. 1 Vgl. Gamillscheg, S. 433; Gamillscheg, FS Herschel, S. 115; Henssler, S. 26 ff.; MayerMaly, Anm. AP Nr. 25 zu § 2 TVG; ähnlich Kraft, SAE 1978, 43 f. 2 Greiner, Rechtsfragen, S. 99 ff. 3 Greiner, Rechtsfragen, S. 215. 4 In anderem Kontext Stoffels, AGB-Recht, Rz. 564 (Transparenz als „Funktionsbedingung des Marktes“). 5 Zutr. HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 18; Henssler, S. 30; Zöllner, SAE 1969, 140; ähnlich Buchner, FS 25 Jahre BAG, S. 55 ff.; Mayer-Maly, SAE 1991, 100 (102); Grunsky, JZ 1977, 470 (473 f.). 6 Zu einem praktischen Fall (GNBZ) LAG Köln v. 20.5.2009 – 9 TaBV 105/08, ArbuR 2009, 316.

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Tariffähigkeit

Rz. 44 Teil 2

c) Verfassungsrechtliche Einordnung Angesichts der beschriebenen Wirkungen stellt sich die Frage nach der verfassungsrechtlichen Beurteilung derjenigen Anforderungen an die Tariffähigkeit, die über die Begriffsmerkmale einer Koalition i.S.v. Art. 9 Abs. 3 GG hinausgehen. Insbesondere ist fraglich, ob es sich bei der Statuierung zusätzlicher Voraussetzungen um einen Eingriff in die Koalitionsfreiheit oder aber um eine Ausgestaltung dieses Grundrechts handelt (s. Teil 1 Rz. 9)1.

41

Nach wohl überwiegender Ansicht sind die einfachrechtlichen Kriterien der Tariffähigkeit als Eingriff in die Koalitionsfreiheit zu erfassen2 und bedürfen mithin einer verfassungsimmanenten Rechtfertigung3. Im Einklang mit der Rechtsprechung des BVerfG lässt sich diese in weit und extensiv ausgelegten Verfassungsgütern finden, insbesondere dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG)4 sowie dem aus Art. 9 Abs. 3 GG selbst resultierenden Postulat der Funktionsfähigkeit des TV-Systems5.

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Zutreffender scheint, die Statuierung weiterer einfachrechtlicher Kriterien hinsichtlich der Tariffähigkeit als eine Ausgestaltung des Grundrechts zu begreifen6. Dies wird dem Verhältnis von staatlicher und tarifautonomer Normsetzung weit eher gerecht7: Den Koalitionen ist kein Maximum an (tariflicher) Regelungskompetenz anvertraut, in welches der staatliche Gesetzgeber mit jeder Normsetzung auf dem Gebiet der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen in rechtfertigungsbedürftiger Weise eingriffe. Vielmehr stellt sich das Verhältnis von staatlicher und tarifautonomer Normsetzung so dar, dass das staatliche Recht ohne Eingriff in die Tarifautonomie Gemeinwohlbelange „ausgestaltend“ entfalten kann. Dies geschieht insbesondere, wenn dem Anliegen einer zuverlässigen, verlässlichen Tarifnormsetzung durch die Festsetzung weiterer Zulassungskriterien Rechnung getragen wird.

43

Voraussetzung für diese Sichtweise ist freilich, dass die Tarifnormsetzung nicht ausschließlich kollektiv-privatautonom gedeutet wird, sondern ein delegatorischer Einschlag anerkannt wird. Legt man diesen Ausgangspunkt zugrunde, hat das grundlegende dictum des BVerfG zur Rechtfertigung des Mächtig-

44

1 Vgl. monographisch Cornils, Ausgestaltung, insb. S. 396 ff.; Kemper, Koalitionsfreiheit, S. 83 ff.; Konzen, SAE 1996, 216 (218 ff.); Kempen, FS Hromadka, S. 179 ff.; Dieterich, Tarifautonomie, S. 69 ff. 2 BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112; Bayreuther, BB 2005, 2633 (2636), der einen verfassungsrechtlichen „Anspruch auf Teilhabe am Tarifsystem“ annimmt; Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 62 („Grundrechtsbegrenzungen“); Sachs, RdA 1999, 182 (185). 3 Vgl. BVerfG v. 24.2.1999 – 1 BvR 123/93, NZA 1999, 713; Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 128; AK-GG/Kittner/Schiek, Art. 9 III Rz. 95 ff. 4 Vgl. BVerfG v. 27.4.1999 – 1 BvR 2203/93, 1 BvR 897/95, NZA 1999, 992. 5 Zu diesem Topos umfassend Wank, FS SOKA Bau, S. 141 ff. 6 Zutr. Wank/Schmidt, RdA 2008, 257 (266); Richardi, FS Wißmann, S. 170; Kannengießer in Schmidt-Bleibtreu, Art. 9 GG Rz. 25; mit dieser Tendenz auch BVerfG v. 19.10.1966 – 1 BvL 24/65, NJW 1966, 2305; so nun auch BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09NZA 2011, 300, Rz. 35; BAG v. 28.1.2008 – 3 AZB 30/07, NZA 2008, 489 (Verfahren nach § 97 ArbGG als Ausgestaltung der Tarifautonomie). 7 Ausf. Greiner, Rechtsfragen, S. 73 ff.

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Teil 2 Rz. 45

Tarifvertragsparteien

keitskriteriums, dem staatlichen Gesetzgeber könne nicht gleichgültig sein, zu wessen Gunsten er sich durch die Verleihung der Tariffähigkeit seiner Normsetzungskompetenz auf dem Gebiet der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen partiell begibt1, weiterhin Bestand. Freilich ist auch bei Anerkennung einer Ausgestaltungsdogmatik die Rückwirkung auf die Gründungs- und Bestandsgarantie aus Art. 9 Abs. 3 GG (s. Teil 1 Rz. 6, 19 f.) so groß, dass die verfassungsrechtliche Beurteilung im Regelfall ähnlichen Maximen folgen wird wie bei Zugrundelegung einer reinen Eingriffsdogmatik.

2. Voraussetzungen der Tariffähigkeit von Arbeitnehmerkoalitionen 45

Fähig zum Abschluss von TVen sind auf Arbeitnehmerseite solche Organisationen, die – kumulativ – den Koalitionsbegriff des Art. 9 Abs. 3 GG (s. Teil 1 Rz. 18) erfüllen, den Abschluss von TVen zu ihrem satzungsautonomen Aufgabenbereich zählen (Tarifwilligkeit, s. Rz. 53 f.), über eine hinreichende Durchsetzungskraft (soziale Mächtigkeit, s. Rz. 55 ff.) und organisatorische Leistungsfähigkeit verfügen und das geltende Tarifrecht als Grundlage ihres Wirkens anerkennen (s. Rz. 83 f.).

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Keine tariffähigen Akteure sind im deutschen Tarifrecht die Betriebsräte. Diese können lediglich Betriebsvereinbarungen abschließen, denen zwar gleichfalls eine normative Wirkung zukommt (vgl. § 77 Abs. 4 Satz 1 BetrVG), die jedoch nicht erstreikt werden können und im Verhältnis zu Tarifnormen mit gleichem Regelungsgegenstand zurücktreten (vgl. insb. §§ 77 Abs. 3, 87 Abs. 1 Einls. BetrVG; s. Teil 9 Rz. 218 ff.).

a) Koalitionsbegriff 47

Notwendige Bedingung der Tariffähigkeit eines Zusammenschlusses von Arbeitnehmern ist, dass er den Koalitionsbegriff des Art. 9 Abs. 3 GG erfüllt, der kollektiv-persönliche Schutzbereich dieses Grundrechts somit eröffnet ist (s. Teil 1 Rz. 16, 18). Art. 9 Abs. 3 GG sieht dem Wortlaut nach zwei Begriffsmerkmale für die Eröffnung des persönlichen Schutzbereiches vor: Zum einen muss es sich um eine „Vereinigung“ handeln, zum anderen muss diese Vereinigung dem Zweck der „Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ dienen.

48

Rechtsprechung und Literatur haben aus beiden offenen und sperrigen Merkmalen mehrere stärker konkretisierte und damit subsumtionsfähige Kriterien abgeleitet, die den Koalitionsbegriff ausfüllen: Demnach muss es sich um einen freiwilligen privatrechtlichen Zusammenschluss handeln, der über eine gewisse organisatorische Verfestigung und Dauerhaftigkeit verfügt2 und ferner

1 BVerfG v. 18.11.1954 – 1 BvR 629/52, NJW 1954, 1881. 2 Zur umstrittenen Rechtsstellung sog. Ad-hoc-Koalitionen Scholz in Maunz/Dürig, Art. 9 GG Rz. 213; Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 53; Löwer in v. Münch/Kunig, Art. 9 GG Rz. 71; Seiter, S. 76 ff. versus AK-GG/Kittner/Schiek, Art. 9 III Rz. 117; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 1635.

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Tariffähigkeit

Rz. 50 Teil 2

eine demokratische Binnenstruktur im Sinne einer Etablierung von Mehrheitsprinzip und Minderheitenrechten1 aufweist. Neben diese Konkretisierungen des Vereinigungsbegriffs treten Ableitungen aus dem Vereinigungszweck: Außer dem Willen, zur „Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ tätig zu werden2, was reine Wirtschaftsverbände ausschließt3, soll nach vorherrschender Sichtweise erforderlich sein, dass die Vereinigung über hinreichende Unabhängigkeit vom Staat, von politischen Parteien oder auch Religionsgemeinschaften verfügt – ohne dass indes weltanschauliche oder politische Neutralität vorauszusetzen wäre. Erforderlich ist nur eine von Kirchen und Parteien unbeeinflusste, autonome Willensbildung4. Ferner wird vorausgesetzt, dass sie gegnerunabhängig ist, z.B. nicht auf finanzielle Zuwendungen des sozialen Gegenspielers angewiesen ist, und schließlich, dass sie nicht sowohl Arbeitgeber- als auch Arbeitnehmerinteressen vertritt und somit gegnerfrei ist. Die Ausrichtung auf die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass Personen Mitglieder sind, die keine Arbeitnehmer sind. So können z.B. einer Koalition auch arbeitnehmerähnliche Personen, Beamte oder leitende Angestellte angehören, ohne dass die Koalition dadurch ihre Tariffähigkeit für die in ihr organisierten Arbeitnehmer verliert, es sei denn, dadurch würde die Unabhängigkeit substantiell in Frage gestellt5. Als weitere Konkretisierung der Unabhängigkeit wird verbreitet ferner das Merkmal der Überbetrieblichkeit gefordert: Der Betätigungsbereich einer Arbeitnehmerkoalition soll demnach nicht auf einen Betrieb oder ein Unternehmen beschränkt sein dürfen6. Anderenfalls drohe die Abhängigkeit der Koalition von dem jeweiligen Arbeitgeber. Hinsichtlich der Details und des Meinungsstandes zu den einzelnen Begriffsmerkmalen sei auf die verfassungsrechtliche Darstellung verwiesen (Teil 1 Rz. 18 f.).

49

Der zentrale Begriff der Gegnerunabhängigkeit ist nach Rechtsprechung des BAG nicht im formalen, sondern im materiellen Sinn zu verstehen7. Dies bedeutet, dass es an Gegnerunabhängigkeit fehlt, wenn die eigenständige Interessenwahrnehmung der TV-Partei durch personelle Verflechtungen, in organisatorischer Hinsicht oder durch wesentliche finanzielle Zuwendungen ernsthaft

50

1 Im Einzelnen Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 342 ff. 2 BVerfG v. 6.5.1964 – 1 BvR 79/62, NJW 1964, 1267; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 357 m.w.N. 3 Koberski/Clasen/Menzel, § 2 TVG Rz. 54; Fitting, § 2 BetrVG Rz. 41. 4 Großzügiger Maßstab in BAG v. 21.11.1975 – 1 ABR 12/75, NJW 1976, 1165; dazu Jung, Die Unabhängigkeit als konstitutives Element im Koalitions- und Tarifvertragsrecht, S. 225; näher auch Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 330 ff. 5 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 234; Koberski/Clasen/Menzel, § 2 TVG Rz. 22; vgl. § 12a TVG. 6 Dafür insb. BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 67; HStR/Scholz, Bd. VI, § 151 Rz. 63; kritisch u.a. ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 25 („allenfalls als Teilaspekt und Indiztatsache von begrenztem Interesse“); ähnlich MünchArbR/Löwisch/ Rieble, § 155 Rz. 65; Däubler/Hege, Koalitionsfreiheit, Rz. 118; ausf. zum Meinungsstand Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 345 ff. 7 BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 31.

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Teil 2 Rz. 51

Tarifvertragsparteien

gefährdet ist1. Daran ist insbesondere zu denken, wenn sie sich im Wesentlichen nicht aus den Beiträgen ihrer Mitglieder finanziert und deshalb zu befürchten ist, dass die Arbeitgeberseite durch Androhung der Zahlungseinstellung die Willensbildung auf Arbeitnehmerseite beeinflussen kann. Für die Frage der Gegnerunabhängigkeit ist damit die originäre finanzielle Leistungsfähigkeit der Koalition von besonderer Aussagekraft und Bedeutung2. Die Koalition muss zur Darlegung ihrer Gegnerunabhängigkeit somit offenlegen, welches Beitragsaufkommen und welches Spendenaufkommen aus welchen Quellen sie hat. Ist allgemein bekannt, dass eine Koalition angesichts ihrer laufenden Ausgaben und des geringen Beitragsaufkommens zur Abwendung einer strukturellen Unterfinanzierung auf weitere Finanzmittel angewiesen ist, muss die Koalition darlegen und beweisen können, dass die dazu erforderlichen Mittel nicht vom sozialen Gegenspieler stammen. Die vollständige personelle Gegnerunabhängigkeit im Sinne einer „Reinheit des Verbandes“ – kein Arbeitgeber darf zugleich der Gewerkschaft angehören – wird man mit Blick auf die mangelnde Erforderlichkeit dieser Anforderung und die bestehenden erheblichen Rechtsunsicherheiten und Abgrenzungsschwierigkeiten hingegen nicht fordern können3, solange die Überschneidung die inhaltlich-materielle Unabhängigkeit nicht in Frage stellt. Eine solche „Inkompatibilität“4 der Mitgliedschaften wird man nur für die unmittelbar persönlich am TV-Abschluss Beteiligten, also die Mitglieder der Tarifkommission, verlangen können5. Im Übrigen stehen finanzielle und organisatorische Aspekte der Unabhängigkeit im Vordergrund. 51

Hervorzuheben ist, dass vertragsfunktionale Schutzzwecke, insbesondere die Absicherung des Vertrages als Instrument zur Regelung gegenläufiger Interessen, die dem Unabhängigkeitspostulat zugrunde liegt (s. Rz. 36, 50), entgegen h.M. vorzugsweise nicht durch dogmatisch schwer begründbare ungeschriebene Verengungen des Schutzbereichs von Art. 9 Abs. 3 GG verwirklicht, sondern als legitime einfachrechtliche Ausgestaltung der Tarifnormsetzungskompetenz betrachtet werden sollten6. Insbesondere das Postulat der Gegnerunabhängigkeit ist bei diesem Verständnis nicht bereits dem Koalitionsbegriff zuzuordnen; gleiches gilt für das Erfordernis der Gegnerfreiheit. Gleichwohl sind beide Kriterien in jedem Fall Voraussetzung für den wirksamen Abschluss eines TVes7. Ihr Regelungsanliegen ist bei dieser Betrachtungsweise, dass im Interesse der tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien gewährleistet sein muss, dass der TV ausschließlich als „echtes“ Regelungsinstrument zur Bewältigung von Interessengegensätzen verwendet wird, „ScheinTVe“, denen kein echter 1 BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 31; vgl. auch schon BAG v. 14.12.2004 – 1 ABR 51/03, NZA 2005, 697, Rz. 37 m.w.N. 2 BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 52. 3 Wie hier Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 308 f.; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 65 f.; Kempen/Zachert/Kempen, § 2 TVG Rz. 64 für Gewerkschaften; a.A. Fitting, § 2 BetrVG Rz. 35, 41; Richardi, § 2 BetrVG Rz. 44. 4 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 311. 5 Zutr. HWK/Hergenröder, Art. 9 GG Rz. 43; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 80 ff.; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 311. 6 Greiner, Rechtsfragen, S. 82 ff.; s. auch Teil 1 Rz. 19. 7 Vgl. schon Sinzheimer, Arbeitstarifgesetz, S. 58.

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Tariffähigkeit

Rz. 53 Teil 2

Interessengegensatz zugrunde liegt, hingegen ausgeschlossen werden (s. auch Rz. 55 ff.)1.

b) Weitere Anforderungen auf einfachrechtlicher Ebene Ein über den Koalitionsbegriff hinausgehender Begriff der Tariffähigkeit ist gesetzlich nicht definiert2. Die im gemeinsamen Protokoll über die Leitsätze des Staatsvertrages vom 18.5.19903 enthaltenen Aussagen zur Tariffähigkeit sollen lediglich eine Beschreibung des geltenden Rechts, nicht aber eine rechtsverbindliche (Neu-)Definition sein; auch ist der Anwendungsbereich höchst eingeschränkt (s. näher Rz. 127). § 2 Abs. 1–3 TVG definieren zwar, wer Partei eines TVes sein kann, beinhalten aber selbst keine nähere Definition der Tariffähigkeit4. Angesichts der in §§ 2a Abs. 1 Nr. 4, 97 Abs. 1, Abs. 5 Satz 1 ArbGG erkennbaren Grundentscheidung des Gesetzgebers für einen über die Koalitionsmerkmale hinausgehenden Begriff der Tariffähigkeit kann und muss die Arbeitsgerichtsbarkeit eingrenzende Konkretisierungen der Tariffähigkeit entwickeln. Das BAG hat folgende Formel entwickelt: „Eine Arbeitnehmervereinigung ist (…) tariffähig, wenn sie sich als satzungsgemäße Aufgabe die Wahrnehmung der Interessen ihrer Mitglieder in deren Eigenschaft als Arbeitnehmer gesetzt hat und willens ist, Tarifverträge abzuschließen. Sie muss frei gebildet, gegnerfrei, unabhängig und auf überbetrieblicher Grundlage organisiert sein und das geltende Tarifrecht als verbindlich anerkennen. Weiterhin ist Voraussetzung, dass die Arbeitnehmervereinigung ihre Aufgabe als Tarifpartnerin sinnvoll erfüllen kann. Dazu gehören die durch ihre Mitglieder vermittelte Durchsetzungskraft gegenüber dem sozialen Gegenspieler und eine leistungsfähige Organisation.“5 Keine Voraussetzung der Tariffähigkeit ist die Rechtsfähigkeit6; Gewerkschaften sind traditionell und aus historischen Gründen als nicht rechtsfähige Vereine organisiert. Die Tariffähigkeit erstreckt sich auch auf selbständig entscheidungsfähige und eigenverantwortlich handelnde Unterverbände, also etwa Orts- und Bezirksverbände, sofern die Gewerkschaftssatzung ihnen Tarifzuständigkeit einräumt7.

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aa) Tarifwilligkeit Die Festlegung des Wirkungskreises einer Koalition erfolgt durch die Satzung. Bei der Ausgestaltung ihrer Satzung genießt die Koalition den vorbehaltlosen Grundrechtsschutz durch Art. 9 Abs. 3 GG; eine Schutzfacette des Grund1 Grundlegend Zöllner/Seiter, Paritätische Mitbestimmung, S. 34 ff.; weiterhin Richardi, DB 1985, 1021 (1022); Wiedemann, RdA 1976, 72 (73); Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 302 ff.; Koberski/Clasen/Menzel, § 2 TVG Rz. 47. 2 BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 27. 3 BGBl. II, 518, 537, 545. 4 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 64. 5 So BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 67; ebenso bereits BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 30; BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112, Rz. 34. 6 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 253; HWK/Hergenröder, Art. 9 GG Rz. 32. 7 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 259 ff.

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Teil 2 Rz. 54

Tarifvertragsparteien

rechts ist die Satzungsautonomie (s. Rz. 12)1. Eine Arbeitnehmerkoalition, die den Abschluss von TVen nicht zu ihrem satzungsautonom festgelegten Aufgabenkreis zählt, macht insofern von der durch Art. 9 Abs. 3 GG vorbehaltlos zugebilligten Koalitionsmittelwahlfreiheit Gebrauch2. Anlass, ihr eine Kompetenz aufzuzwingen, die sie gar nicht nutzen möchte, besteht nicht. Entscheidet sich eine Koalition dafür, ihren Wirkungskreis auf die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen außerhalb des tarifpolitischen Wirkungskreises zu beschränken, unterliegt diese legitime satzungsautonome Entscheidung keiner inhaltlichen Bewertung. Die in der Satzung dokumentierte Bereitschaft zum Abschluss von TVen (Tarifwilligkeit) ist somit Voraussetzung für die Zuerkennung der Tariffähigkeit3. Auch eine tarifunwillige Koalition genießt den Schutz durch Art. 9 Abs. 3 GG4. 54

Dementsprechend kann eine Koalition, die in der Vergangenheit den Abschluss von TVen zu ihrem Zuständigkeitsbereich gezählt hat, durch Satzungsänderung ihre Tarifwilligkeit für die Zukunft ausschließen. Sie bleibt gleichwohl eine Koalition i.S.v. Art. 9 Abs. 3 GG, die ihren Koalitionszweck auf anderen Gebieten (etwa politische Einflussnahme, Beratung ihrer Mitglieder u. ä.) weiterhin verwirklichen kann. Zu den Wirkungen des satzungsautonomen Wechsels von einer tarifwilligen zu einer tarifunwilligen Koalition s. zusammenfassend unten Rz. 123 f.

bb) Durchsetzungskraft gegenüber dem sozialen Gegenspieler (1) Zugangskontrolle als legitime ordnungspolitische Ausgestaltung 55

Vorstellbar wäre ein TV-System, das auch auf Gewerkschaftsseite auf eine Prüfung der Durchsetzungsfähigkeit gegenüber dem sozialen Gegenspieler als Voraussetzung der Tariffähigkeit verzichtet. Dann würde auf die Eigenverantwortung der Gewerkschaftsmitglieder und darauf gesetzt, dass sich nur diejenigen Akteure am „Markt der gewerkschaftlichen Interessenvertretung“ halten können, die eine angemessen wirkungsvolle Verhandlungsmacht und dementsprechende Verhandlungsergebnisse gegenüber dem sozialen Gegenspieler vorweisen können. Ein solches liberales Regelungsmodell würde auf einen freien Markt der Gewerkschaften und starke Gewerkschaftskonkurrenz unter weitgehendem Verzicht auf staatliche Regulierung setzen5.

1 Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1792 f. m.w.N.; vgl. auch BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 90; ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 40. 2 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 25. 3 BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112; BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289; BAG v. 16.11.1982 – 1 ABR 22/78, DB 1983, 1151; vgl. auch Löwisch, ZfA 1970, 295 (304); Richardi, Kollektivgewalt, S. 155. 4 Zutr. Bayreuther, S. 399 f.; Buchner, NZA 1994, 2 (10); Thüsing/Stelljes, ZfA 2005, 527 (534 f.); für Arbeitnehmerkoalitionen auch Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 16. 5 Vgl. Grunsky, JZ 1977, 470 (473 f.); ähnlich Eitel, S. 58; Richardi, RdA 2007, 118 (119); Henssler, S. 50 ff., 62; Kamanabrou, ZfA 2008, 241 (249 ff.); Gamillscheg, S. 433 („natürliche Auslese innerhalb der Verbände“); Bayreuther, BB 2005, 2633 (2637); Kraft, SAE 1978, 43 (44).

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Tariffähigkeit

Rz. 58 Teil 2

Das geltende TV-Recht verfolgt einen anderen Ansatz. Es erachtet die Tarifnormsetzung als so wesentlich für die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen, dass es diese verantwortungsvolle Aufgabe nur solchen Arbeitnehmerkoalitionen anvertrauen will, die das in dem TV enthaltene Versprechen der „Richtigkeitsgewähr“ auch inhaltlich einlösen können. Es soll kein Prinzip des trial and error geben, sondern von vornherein sollen nur prognostisch verantwortungsvoll handelnde Akteure zur Tarifnormsetzung zugelassen werden1.

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Dieses Regelungsmodell scheint insbesondere angesichts der intensiven Wirkungen von Tarifnormen angemessen. Könnte auch eine durchsetzungsschwache Arbeitnehmerkoalition wirksame Tarifnormen abschließen, müsste dem koalitionsangehörigen Arbeitnehmer die Möglichkeit eingeräumt werden, eine daran bestehende Tarifbindung sofort und folgenlos zu beenden, wenn ihm die mangelnde Durchsetzungsstärke der Koalition bewusst wird. Das zur Stabilisierung des TV-Systems etablierte Rechtsinstitut der Nachbindung (§ 3 Abs. 3 TVG, s. Teil 6 Rz. 61 ff.) würde zu einem solchen Modell nicht passen. Die weit reichenden normativen Wirkungen, die somit von Tarifnormen ausgehen, sprechen dafür, keinen gänzlich „freien Markt der Gewerkschaften“2 zuzulassen, sondern staatliche Kontroll- und Einflussmöglichkeiten zu eröffnen, die in einer sozialen Marktwirtschaft das am ehesten systemkonforme Ausgestaltungsmodell darstellen, sofern innerhalb des staatlich gesetzten Ordnungsrahmens hinreichender Spielraum für eine auch wettbewerbliche Betätigung konkurrierender Arbeitnehmerkoalitionen verbleibt. Gleichfalls spricht die faktische Wirkungsbreite der Tarifnormen – insbesondere infolge Verwendung von Bezugnahmeklauseln – dafür.

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(2) Ausgangspunkt: Arbeitskampfbereitschaft und -fähigkeit Ursprünglich herrschte im Tarifrecht der Bundesrepublik Deutschland3 die Vorstellung, dass eine Arbeitnehmerkoalition nur dann tariffähig ist, wenn sie einen wirkungsvollen Arbeitskampf führen kann und dazu auch bereit ist4. Nachdem das BVerfG 1964 diesem strengen Regelungsmodell jedenfalls für den Sonderfall einer Gewerkschaft katholischer Hausangestellter eine Absage erteilt hatte5, ging das BAG zur offeneren Prüfung der hinreichenden Durchsetzungskraft über6. Diese muss sich nicht zwangsläufig in der Arbeitskampffähigkeit äußern, schlägt sich jedoch typischerweise darin nieder. So gesehen ist das alte Erfordernis der Arbeitskampfbereitschaft und -fähigkeit eine besonders charakteristische Ausdrucksform des heute verwendeten, umfassenderen 1 Dagegen und für das Modell einer verstärkten Inhaltskontrolle der Tarifnormen Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 406. 2 Henssler, S. 50 ff. 3 Anders im Recht der Weimarer Republik, das keine derartige Zugangskontrolle zum TV-System kannte; vgl. Eitel, S. 74 f.; Greiner, Rechtsfragen, S. 180 ff. 4 BAG v. 19.1.1962 – 1 ABR 14/60, DB 1962, 242; BAG v. 6.7.1956 – 1 AZB 18/55, ArbuR 1957, 124. 5 BVerfG v. 6.5.1964 – 1 BvR 79/62, BB 1964, 594. 6 Seit BAG v. 16.11.1982 – 1 ABR 22/78, DB 1983, 1151; vgl. auch schon BAG v. 15.3.1977 – 1 ABR 16/75, DB 1977, 772.

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Teil 2 Rz. 59

Tarifvertragsparteien

Topos der sozialen Mächtigkeit. Eine Arbeitnehmerkoalition, die bereits hinreichende Arbeitskampfbereitschaft und -fähigkeit gezeigt hat, wird damit regelmäßig als sozial mächtig und durchsetzungsfähig anzuerkennen sein, es sei denn, dass im Rahmen der stets anzustellenden Prognose (s. Rz. 63 ff.) hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie ihre Arbeitskampfbereitschaft und -fähigkeit mittlerweile eingebüßt hat.

(3) Koalitionsmittelfreiheit 59

Da jedoch die Wahl der Mittel, die eine Koalition einsetzen möchte, ihrer durch Art. 9 Abs. 3 GG vorbehaltlos geschützten Betätigungsfreiheit, insbesondere ihrer Satzungsautonomie, unterliegt, verzichtet das BAG nunmehr in ständiger Rechtsprechung1 auf ein starres Erfordernis der Arbeitskampfbereitschaft und -fähigkeit. Auch eine Arbeitnehmerkoalition, die das Mittel des Arbeitskampfes für sich ausgeschlossen oder jedenfalls noch keinen Arbeitskampf geführt hat, kann demnach eine tariffähige Arbeitnehmerkoalition sein2. Der Begriff der sozialen Mächtigkeit umfasst damit das Kriterium der Arbeitskampffähigkeit, setzt es jedoch nicht mehr absolut, sondern betrachtet den Arbeitskampf als einen – freilich den typischsten – Weg zu einem zuverlässigen TV-Abschluss. Das Kriterium der Arbeitskampffähigkeit schimmert immer wieder auch in der jüngeren Judikatur zur Tariffähigkeit noch durch, etwa zuletzt bei der Begründung des Umstandes, dass eine Gewerkschaft, die Spezialisten in Schlüsselstellungen organisiert, trotz einer geringen Mitgliederzahl dann hinreichend durchsetzungsstark sein kann, wenn die Gewerkschaftsmitglieder kraft ihrer Stellung im Arbeitsleben eine besondere Arbeitskampfmacht entfalten können (s. Rz. 79)3.

(4) Rechtsprechungsentwicklung 60

Die Rechtsprechung zur Durchsetzungsfähigkeit war starken Wandlungen unterworfen. Insgesamt sind vier Phasen der Entwicklung auszumachen. Nach Aufgabe des Kriteriums der Arbeitskampfbereitschaft und -fähigkeit setzte sich zunächst eine relativ liberale Sichtweise auf die Durchsetzungsfähigkeit durch4. Mitte der 1980er Jahre folgte eine Phase deutlich strengerer Judikatur, die selbst Koalitionen die Tariffähigkeit absprach, die bereits über eine längere Tariftradition und eine nicht unerhebliche Mitgliederanzahl verfügten5. 1 Z.B. BAG v. 15.3.1977 – 1 ABR 16/75, DB 1977, 772; BAG v. 16.11.1982 – 1 ABR 22/78, DB 1983, 1151; BAG v. 10.9.1985 – 1 ABR 32/83, NZA 1986, 332; BAG v. 25.11.1986 – 1 ABR 22/85, NZA 1987, 492; BAG v. 16.1.1990 – 1 ABR 10/89, NZA 1990, 623; BAG v. 14.12.2004 – 1 ABR 51/03, NZA 2005, 697; BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112; BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300; BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289. 2 Zust. Gamillscheg, S. 427 f.; HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 17; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 379; a.A. Stein, Tarifvertragsrecht, Rz. 48; Fitting, § 2 BetrVG Rz. 37; Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 26 ff. 3 BAG v. 14.12.2004 – 1 ABR 51/03, NZA 2005, 697. 4 Exemplarisch BAG v. 10.9.1985 – 1 ABR 32/83, NZA 1986, 332. 5 Exemplarisch BAG v. 25.11.1986 – 1 ABR 22/85, NZA 1987, 492; BAG v. 16.1.1990 – 1 ABR 10/89, NZA 1990, 623; BAG v. 6.6.2000 – 1 ABR 10/99, NZA 2001, 160.

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Tariffähigkeit

Rz. 64 Teil 2

Seit dem richtungsweisenden UFO-Beschluss vom 14.12.20031 setzt sich heute eine erneut liberalere Sichtweise auf die Tariffähigkeit durch, die zwar an dem dargestellten ordnungspolitischen Postulat einer Zugangskontrolle zum TVSystem festhält, im Lichte eines geänderten Grundrechtsverständnisses zu Art. 9 Abs. 3 GG2 (s. Teil 1 Rz. 3 ff.) jedoch die Schwelle für die Bejahung hinreichender Durchsetzungsfähigkeit abgesenkt hat. Diese Entwicklung erreichte einen konsequenten Höhepunkt mit dem CGM-Beschluss zur Tariffähigkeit der Christlichen Gewerkschaft Metall3.

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In jüngerer Zeit deutet sich wieder eine gewisse Gegentendenz zu einer graduell strengeren Kontrolle an. Mit Recht gibt das BAG dabei seine liberalere Sicht auf die Tariffähigkeit, die im UFO- und CGM-Beschluss Ausdruck gefunden hat, nicht gänzlich auf, sondern nimmt insbesondere mit Blick auf Sonderkonstellationen (etwa die Tariffähigkeit der CGZP; zur Tariffähigkeit von Spitzenorganisationen s. Rz. 192 ff.) Abschichtungen und Ausdifferenzierungen vor4. Die schon auf eine Änderung der Grundstruktur abzielende, deutlichste Ausdifferenzierung gegenüber der im CGM-Beschluss entwickelten Prüfungsstruktur findet sich dagegen – ohne dass dies in der Sache erforderlich gewesen wäre – im jüngsten Beschluss zur Tariffähigkeit der GKH (dazu unten Rz. 74 ff.)

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(5) Prüfung der Durchsetzungsfähigkeit seit dem CGM-Beschluss Nach dem CGM-Beschluss ist vorrangig zu betrachten, inwieweit die Koalition bereits in der Vergangenheit am Tarifgeschehen teilgenommen hat. Eine Vielzahl bereits abgeschlossener TVe belegt, dass der soziale Gegenspieler die Koalition ernst nimmt und bereit ist, mit ihr TVe abzuschließen. Dies begründet regelmäßig eine Tatsachenvermutung5 hinreichender Durchsetzungskraft.

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Entgegen einer früher vorherrschenden Auffassung6 werden dabei originäre TVe und reine AnschlussTVe gleichermaßen einbezogen7. Hatte das BAG früher bei AnschlussTVen noch darauf abgestellt, inwieweit die Koalition auf die Tarifverhandlungen um den in Bezug genommenen HauptTV Einfluss nehmen konnte8, entfällt dieses wenig sachgerechte Kriterium. Das BAG würdigt nun, dass gerade in wirtschaftlichen Krisenzeiten bereits in der Erstreckung der Ta-

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1 BAG v. 14.12.2004 – 1 ABR 51/03, NZA 2005, 697. 2 Vgl. die Aufgabe der Kernbereichstheorie durch BVerfG v. 14.11.1995 – 1 BvR 601/92, NZA 1996, 381. 3 BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112. 4 S. BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300; BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289. 5 Greiner, Anm. EzA § 2 TVG Nr. 28 unter IV 1a aa; HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 18; Henssler/Heiden, Anm. AP Nr. 4 zu § 2 TVG Tariffähigkeit unter IV. 6 BAG v. 25.11.1986 – 1 ABR 22/85, NZA 1987, 492; BAG v. 16.1.1990 – 1 ABR 10/89, NZA 1990, 623. 7 So BAG v. 14.12.2004 – 1 ABR 51/03, NZA 2005, 697; BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112; LAG Hamm v. 13.3.2009 – 10 TaBV 89/08 hinsichtlich der Gewerkschaft für Kunststoffgewerbe und Holzverarbeitung (GKH) im CGB. 8 BAG v. 25.11.1986 – 1 ABR 22/85, NZA 1987, 492; BAG v. 16.1.1990 – 1 ABR 10/89, NZA 1990, 623; ebenso noch heute Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 25.

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Teil 2 Rz. 65

Tarifvertragsparteien

rifwirkungen auf weitere Arbeitsverhältnisse durch Abschluss eines AnschlussTVes eine sozialpolitisch wünschenswerte Leistung der Koalition liegt1. Diese positive Bewertung des AnschlussTVes könnte in wirtschaftlich florierenden Zeiten anders ausfallen. Wohl auch vor diesem Hintergrund lässt sich der GKH-Beschluss vom 5.10.2010 distanzierter zur Bedeutung von AnschlussTVen ein2. Der Abschluss eines AnschlussTVes verliert dann an Aussagekraft, wenn die von ihm erfassten Arbeitsverhältnisse ohnehin schon nach dem in Bezug genommenen HauptTV behandelt werden, etwa in Folge arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklauseln, denn eine echte Verbesserung ergibt sich für die betroffenen Arbeitnehmer durch den AnschlussTV dann nicht. 65

Auf sog. Schein- oder GefälligkeitsTVe lässt sich die Tatsachenvermutung der hinreichenden Durchsetzungskraft hingegen nicht gründen3. Um einen ScheinTV handelt es sich, wenn dieser durch eine stark vom sozialen Gegenspieler beeinflusste Koalition abgeschlossen wird. Ein Unterfall ist das sog. Tarifdiktat, das gewissermaßen einen von Arbeitgeberseite „einseitig gestellten“, nicht ausgehandelten TV erfasst. Ein ScheinTV ist insbesondere anzunehmen, wenn eine Arbeitnehmerkoalition gezielt von Arbeitgeberseite gegründet wird, um diese zum Abschluss arbeitgebergünstiger TVe zu instrumentalisieren. Der Begriff des ScheinTVes setzt insofern ein kollusives Zusammenwirken zum Schaden der tarifgebundenen Arbeitnehmer voraus4.

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Niedriger liegt die Schwelle bei einem GefälligkeitsTV. Dieser ist in zwei Varianten vorstellbar. Zum einen kann die Arbeitgeberseite der Arbeitnehmerkoalition durch den Abschluss des GefälligkeitsTVes gefällig sein, um dieser den Status einer tariffähigen Koalition zu verschaffen. In der anderen Variante ist die Arbeitnehmerkoalition der Arbeitgeberseite gefällig, indem ein TV primär im Arbeitgeberinteresse abgeschlossen wird. Bei letzterer Variante ist freilich Zurückhaltung geboten: Sozialpartnerschaft und Tarifautonomie leben vom Kompromiss. Somit ist es ein zweifellos legitimes Anliegen, bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten durch Zugeständnisse der Arbeitnehmerseite Arbeitsplätze zu retten. Eine Inhaltskontrolle im Sinne einer „Tarifzensur“5 darf auch mit dem Begriff des GefälligkeitsTVes nicht verknüpft werden. Auch hier geht es somit um eine Art Evidenzkontrolle6, so dass das klar kollusive Zusammenwirken zum Schaden der tarifgebundenen Arbeitnehmer im Fokus steht. Deutliches Indiz für das Vorliegen eines solchen Missbrauchs der Tarifmacht ist die Unterschreitung (tarifdispositiver) gesetzlicher Mindeststandards ohne Kompensation

1 BAG v. 14.12.2004 – 1 ABR 51/03, NZA 2005, 697, Rz. 52; krit. Wank/Schmidt, RdA 2008, 257 (269); zurückhaltend auch schon LAG Baden-Württemberg v. 1.10.2004 – 4 TaBV 1/04, NZA-RR 2005, 85 (87). 2 BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 41; näher dazu Greiner NZA 2011, 825 (829). 3 BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112, Rz. 61. 4 BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112, Rz. 67. 5 Vgl. z.B. BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, NZA 2007, 987, Rz. 95. 6 Allgemein zu diesem Maßstab Greiner, Rechtsfragen, S. 46.

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Tariffähigkeit

Rz. 69 Teil 2

zugunsten der tarifgebundenen Arbeitnehmer1 oder die Akzeptanz eines „besonders krassen Missverhältnisses zwischen den vereinbarten Leistungen“2. Liegt ein solcher Extremfall vor, entfällt aus Sicht der Rechtsprechung lediglich die positive Indizwirkung des Tarifverhaltens in der Vergangenheit. Richtigerweise sollten zur Vermeidung des Missbrauchs der Tarifmacht und um eine echte Präventions- und Abschreckungswirkung zu erzielen, die Konsequenzen an dieser Stelle verschärft werden: Ist tatsächlich der Abschluss von Schein- oder GefälligkeitsTVen belegbar, sollte nicht nur die positive Indizwirkung des Tarifverhaltens in der Vergangenheit entfallen, sondern vielmehr eine Negativvermutung fehlender Durchsetzungskraft begründet werden, die die Koalition durch Darlegung einer längeren Phase „zuverlässiger“ Koalitionsbetätigung entkräften muss, um wieder tariffähig zu werden3.

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Die positive Indizwirkung des Tarifverhaltens in der Vergangenheit hat das BAG in seiner jüngsten Rechtsprechung an einem entscheidenden Punkt wieder eingeschränkt: In dem Sonderfall, dass eine Arbeitnehmerkoalition in der Vergangenheit TVe in einer Tarifgemeinschaft mit einer anderen Gewerkschaft abgeschlossen hat, indizieren die gemeinsam abgeschlossenen TVe per se weder Durchsetzungsfähigkeit noch organisatorische Leistungsfähigkeit der Arbeitnehmerkoalition, deren Durchsetzungskraft umstritten ist4. Diese Verschärfung stellt die im CGM-Beschluss erreichten Rechtsgrundsätze nicht grundsätzlich in Frage, grenzt sie jedoch für einen Sonderfall sachgerecht ein. In der Konstellation einer Tarifgemeinschaft ist nämlich nicht ersichtlich, ob die abgeschlossenen TVe auf die Durchsetzungsfähigkeit der Koalitionen mit umstrittener Tariffähigkeit oder aber auf die Durchsetzungsfähigkeit der anderen an der Tarifgemeinschaft beteiligten Koalition zurückzuführen sind. Sie sind daher, wie das BAG zutreffend erkannt hat, ohne echte Aussagekraft.

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In der jüngsten Rechtsprechung der Instanzgerichte wird die primär auf das Tarifverhalten in der Vergangenheit rekurrierende Rechtsprechung des BAG als zu großzügig bewertet. So hat insbesondere das LAG Berlin/Brandenburg5 zur Tariffähigkeit der CGZP ausgeführt, dass eine Vereinigung nicht tariffähig sei, wenn sie nur in einem Teilbereich der von ihr beanspruchten Zuständigkeit Mitglieder habe. Ohne Aussagekraft sei in diesem Fall die Tatsache, dass von ihr bereits eine große Anzahl von TVen abgeschlossen worden ist. Dieser Umstand lasse keine Aussage hinsichtlich der Tariffähigkeit zu. In der nachfolgenden Revisionsentscheidung vom 14.12.20106 hat das BAG diese Kritik nicht zum Anlass einer grundlegenden Korrektur seiner Rechtsprechung genommen, sondern die Tariffähigkeit der CGZP aus anderen Gründen verneint. Ausschlaggebend war insofern die Einordnung der CGZP als Spitzenorganisation (§ 2 Abs. 2, 3 TVG).

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1 BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112; näher dazu auch ArbG Köln v. 30.10.2008 – 14 BV 324/08, ArbuR 2009, 100, Rz. 77; Wank/Schmidt, RdA 2008, 257 (271) halten zu Recht insofern auch eine Kompensation weniger arbeitnehmergünstiger Arbeitsbedingungen durch Beschäftigungsgarantien für denkbar. 2 BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112. 3 Vgl. Henssler, S. 56 ff.; Greiner, Rechtsfragen, S. 241 f. 4 BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300. 5 LAG Berlin/Brandenburg v. 7.12.2009 – 23 TaBV 1016/09, BB 2010, 1927. 6 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289.

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Teil 2 Rz. 70

Tarifvertragsparteien

Das BAG beschränkt sich in der genannten Entscheidung darauf, zusätzliche Anforderungen an die Tariffähigkeit von Spitzenorganisationen zu statuieren, insbesondere die Anforderung, dass die Mitgliedgewerkschaften der Spitzenorganisation ihre Tariffähigkeit vollumfänglich vermitteln (s. Rz. 197 ff.). 70

In anderer Hinsicht erweist sich die Rechtsprechung auch nach dem CGM-Beschluss als zu streng. Die vergangenheitsbezogene Betrachtung soll danach auf den Bereich der Tarifnormsetzung beschränkt bleiben. Daneben erwägt das BAG nur eine Einbeziehung der Regelung von Arbeitsbedingungen durch – wenig praxisrelevante – schuldrechtliche Koalitionsvereinbarungen1. Stellt man den Gedanken der Zuverlässigkeitsprüfung in den Mittelpunkt des Durchsetzungsfähigkeitskriteriums (s. Rz. 33), sollte auch eine langjährige zuverlässige Betätigung der Koalition auf anderen koalitionstypischen Betätigungsfeldern, etwa der Mitbestimmung in Betrieb und Unternehmen sowie der Prozessvertretung von Gewerkschaftsmitgliedern, in die vergangenheitsbezogene Betrachtung einbezogen werden. Voraussetzung dafür wäre freilich die Aufgabe des – verfehlten – „einheitlichen Gewerkschaftsbegriffs“2.

71

Begründet das Verhalten der Koalition in der Vergangenheit keine hinreichende Tatsachengrundlage für den Rückschluss auf die gegebene Durchsetzungsfähigkeit, ist nach der Rechtsprechung damit noch keine Negativaussage hinsichtlich der sozialen Mächtigkeit getroffen. Vielmehr bedarf es dann einer Betrachtung des gegenwärtigen Zustandes der Koalition3. Diese muss also darlegen und beweisen, dass sie einen hinreichenden Grad an Durchsetzungsfähigkeit erreicht hat. Dazu muss sie insbesondere den Organisationsgrad offen legen. Organisationsgrad ist das Verhältnis der Mitgliederzahl der Gewerkschaften zur Gesamtzahl der Arbeitnehmer im satzungsautonom festgelegten Zuständigkeitsbereich der Koalition. Nach der Rechtsprechung muss die Arbeitnehmervereinigung insoweit Tatsachen darlegen, die den Schluss rechtfertigen, dass die Arbeitgeberseite ihre künftigen Tarifforderungen voraussichtlich nicht ignorieren und sich Tarifverhandlungen auf Dauer nicht entziehen kann. Hinsichtlich der geforderten Mitgliederstärke stellt das BAG seit dem CGM-Beschluss nur noch geringe Anforderungen: Die CGM hätte, wenn es darauf angekommen wäre, einen Organisationsgrad von etwa 1,6 % aufweisen können. Das BAG äußert sich insofern sehr zurückhaltend, wenn es ausführt, es sei „fraglich“, ob ein solcher Organisationsgrad ausreichen würde4. Auch hier zeigt sich die deutliche Liberalisierung und Absenkung der Anforderungen an die Tariffähigkeit. In der Vergangenheit hatte das BAG teilweise auch deutlich höhere Organisationsgrade als nicht ausreichend erachtet5. In der CGZP1 BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112; allg. zur schuldrechtlichen Koalitionsvereinbarung MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 190 Rz. 1 ff.; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 769 ff. 2 Zuletzt BAG v. 19.9.2006 – 1 ABR 53/05, NZA 2007, 518; zust. Kempen/Zachert/Kempen, § 2 TVG Rz. 78; Rüthers/Roth, Anm. AP Nr. 32 zu § 2 TVG, Bl. 8 („traditionell einheitliche“ Begriffsbildung); dagegen u.a. Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 122, 216 f.; GK-BetrVG/Kraft/Franzen, § 2 Rz. 33 ff.; Rieble, RdA 2008, 35. 3 BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112. 4 BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112. 5 BAG v. 6.6.2000 – 1 ABR 10/99, NZA 2001, 160: 14 % nicht ausreichend.

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Tariffähigkeit

Rz. 73 Teil 2

Entscheidung vom 14.12.2010 führt das BAG aus, die Annahme einer umfassenden Tarifzuständigkeit (der GÖD als Mitgliedsgewerkschaft der CGZP) mit der Konsequenz eines Organisationsgrades von 0,3 % führe „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ zur Tarifunfähigkeit1. Für die Zukunft wird man davon ausgehen können, dass ein Organisationsgrad von 5 % im selbst gewählten Zuständigkeitsbereich jedenfalls ausreichen dürfte, um die hinreichende soziale Mächtigkeit zu belegen. Im GKH-Beschluss vom 5.10.20102 präzisiert das BAG für diesen Fall die Anforderungen hinsichtlich der Offenlegung des Mitgliederbestandes: Die Koalition müsse ihre Mitglieder nicht namentlich benennen und den Mitgliederbestand auch nicht im Einzelnen regional aufschlüsseln; eine datenschutzrechtliche Problematik im Hinblick auf die Offenlegung personenbezogener Daten wird mit diesem Argument verneint. Jedoch bleibt fraglich, wie eine Gewerkschaft im Falle des Bestreitens des dargelegten Mitgliederbestandes diesen anders als durch Offenlegung von Mitgliederlisten nachweisen soll. Eine weitere beifallswürdige Liberalisierung liegt darin, dass das BAG lediglich verlangt, dass die Voraussetzung hinreichender Durchsetzungskraft nur in einem „zumindest nicht unbedeutenden Teil der Tarifzuständigkeit“ gegeben sein müsse3. Die geforderte Organisations- und Mitgliederstärke muss mithin nicht innerhalb des gesamten Zuständigkeitsbereichs in gleicher Weise realisiert sein. So ist es einer Koalition etwa möglich, ausgehend von einer gesicherten Mitgliederbasis in einer bestimmten Branche ihre Aktivität auch auf weitere Branchen auszudehnen, ohne ihre Tariffähigkeit insgesamt zu gefährden. Im Interesse einer Erleichterung der Gründung neuer Gewerkschaften und im Interesse einer gebotenen grundrechtsfreundlichen Betrachtungsweise ist dies zu begrüßen; insbesondere angesichts der Auswirkungen auf die Gründungsfreiheit.

72

Den abgesenkten Kriterien kommt eine ausgewogene, zugleich stabilisierende als auch dynamisierende Wirkung zu: Zum einen wird die Gründung neuer Gewerkschaften entscheidend erleichtert, indem diesen bereits zu einem möglichst frühen Zeitpunkt auch die Profilierung auf dem wichtigen Gebiet der Tarifnormsetzung ermöglicht wird. Hierdurch gewinnt die Koalition entscheidende Argumente, um für den Koalitionsbeitritt zu werben. Zum anderen wohnt der liberalisierten Rechtsprechung auch eine wichtige stabilisierende Wirkung inne: Vor dem Hintergrund insgesamt zurückgehender Organisationsgrade bei den etablierten (DGB-)Gewerkschaften wird deren Tariffähigkeit gesichert, indem ein Mitgliederverlust in Teilbereichen oder auch innerhalb der gesamten Tarifzuständigkeit die Tariffähigkeit nicht mehr substanziell gefährdet4. Insgesamt ist die Grundtendenz der Rechtsprechung somit als Sicherung der Funktionsfähigkeit des TV-Systems zu begrüßen.

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1 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 107. 2 BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300. 3 BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112, Rz. 59 f.; BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 81. 4 Vgl. Henssler, S. 36; Rieble, FS Wiedemann, S. 531 zu den Konsequenzen einer strengeren Betrachtungsweise.

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Teil 2 Rz. 74

Tarifvertragsparteien

(6) GKH-Beschluss 74

Eine Modifikation der im CGM-Beschluss vertretenen Prüfungsstruktur findet sich im Beschluss des BAG vom 5.10.20101 zur Tariffähigkeit der Gewerkschaft für Kunststoffgewerbe und Holzverarbeitung (GKH), ebenfalls einer christlichen Gewerkschaft. Leitend ist ersichtlich die Befürchtung, dass infolge der liberalisierten CGM-Rechtsprechung das Entstehen von Scheingewerkschaften begünstigt werden könnte, insbesondere mit Blick darauf, dass der bloße Abschluss von TVen in Zeiten des exzessiven Einsatzes tarifdispositiven Gesetzesrechts durch den Gesetzgeber nur noch von geringer Aussagekraft für das interessengerechte Agieren einer Arbeitnehmerkoalition ist2. Freilich hatte das BAG bereits im CGM-Beschluss diesen Sorgen Rechnung getragen, indem der bloßen Unterschreitung gesetzlicher Standards ohne hinreichende Kompensation keine positive Indizwirkung zukommen sollte (s. Rz. 66). Insofern scheint die Notwendigkeit dieser etwas kurzatmig wirkenden Neuausrichtung zweifelhaft.

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Im GKH-Beschluss stellt das BAG klar, dass der Mitgliederzahl als Indikator von Arbeitskampffähigkeit und finanzieller Leistungskraft3 (stets) eine entscheidende Bedeutung für die einzelfallbezogene Beurteilung der Mächtigkeit und Leistungsfähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung zukommt4. Nur „darüber hinaus“ komme es auf die Teilnahme am Tarifgeschehen an5. In exakter Umkehrung der Vorrang-Nachrang-Struktur des CGM-Beschlusses will das BAG nun die langjährige Teilnahme am Tarifgeschehen nur noch nachrangig als positives Indiz in die Betrachtung einbeziehen, wenn „Zweifel an der durch die Mitglieder vermittelten sozialen Mächtigkeit und der organisatorischen Leistungsfähigkeit“ verblieben6. Dabei komme es auf das Vorliegen von „originär ausgehandelte(n), eigenständige(n) Tarifverträge(n)“ an; undeutlich bleibt, ob das BAG damit auch seine Rechtsprechung zu AnschlussTVen revidieren möchte oder lediglich auf den Sonderfall der Tarifgemeinschaft abzielt. Im Fall einer Tarifgemeinschaft kommt den abgeschlossenen TVen keine entsprechende positive Indizwirkung zu, da den beteiligten Koalitionen keine individuellen Verhandlungsbeiträge zugeordnet werden könnten7.

76

Beteilige sich eine noch junge Arbeitnehmerkoalition im zeitlichen Zusammenhang mit ihrer Gründung am Aushandeln von TVen, könne ohne Angaben zur Zahl ihrer Mitglieder und organisatorischen Leistungsfähigkeit allein die Anzahl der von ihr abgeschlossenen TVe ihre Tariffähigkeit nicht belegen8.

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Die klare Vorrang-Nachrang-Struktur aus dem CGM-Beschluss erfährt somit eine deutliche Aufweichung. Freilich suggeriert der erste Senat eine (insofern tatsächlich nicht gegebene) Kontinuität zum CGM-Beschluss9. Letztlich han1 2 3 4 5 6 7 8 9

BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300. Explizit darauf verweist BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 43. BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 39. BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 38. BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 38. BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 40. BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 41. BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 43. BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 46.

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Tariffähigkeit

Rz. 79 Teil 2

delt es sich damit um eine Sonderrechtsprechung für junge, noch nicht etablierte Gewerkschaften ohne große Tradition. Hier scheint es eine nicht unvertretbare Einschätzung des BAG, dass die Zuverlässigkeitsprüfung andere Kriterien zu Grunde legen muss als bei bereits etablierten Gewerkschaften. Die Dynamisierung des TV-Systems wird damit begrenzt, der rechtspolitische Akzent deutlich in Richtung Stabilisierung verschoben. Die darin liegende Ungleichbehandlung alter und neuer Gewerkschaften scheint auch mit Blick auf Art. 3 Abs. 1, 9 Abs. 3 GG legitimierbar, da gerade in einem besonders aktiven Tarifverhalten einer neu gegründeten Koalition ohne starke Mitgliederbasis ein Indiz dafür liegen kann, dass es sich bei den abgeschlossenen TVen um Scheinoder GefälligkeitsTVe handelt (s.o. Rz. 66)1. Dieses Missbrauchsindiz muss durch die Darlegung eines hinreichenden Mitgliederbestandes und hinreichender Organisationsstrukturen entkräftet werden.

(7) Besondere Arbeitskampffähigkeit, Spezialistengewerkschaften In einer gesteigerten Arbeitskampffähigkeit kann ein positiv zu bewertender Aspekt zur Untermauerung der Durchsetzungskraft liegen: Dies zeigt sich am Beispiel der Spezialistengewerkschaften. Bereits in einer Entscheidung vom 9.7.19682 formuliert das BAG, dass auch eine Koalition mit vergleichsweise wenigen Mitgliedern tariffähig sein kann, wenn die Mitglieder „kraft ihrer Stellung im Arbeitsleben einen besonderen Einfluss gegenüber der Arbeitgeberseite ausüben“ können. Diese Sonderrechtsprechung zu Spezialistengewerkschaften hat das BAG zwischenzeitlich dahingehend interpretiert, dass auch solche Arbeitnehmer als „Spezialisten“ mit besonderer kollektiver Durchsetzungsmacht zu beurteilen sind, die bereits kraft ihrer besonderen Qualifikation eine hohe individuelle Marktmacht und individuelle Durchsetzungsfähigkeit aufweisen: Für das BAG war in der Entscheidung über die Tariffähigkeit des VOE von entscheidender Bedeutung, dass die Koalitionsmitglieder durchweg in führenden Positionen in den Unternehmen tätig und aufgrund ihrer Ausbildung und beruflichen Stellung in der Lage seien, „ihre Ansichten und Forderungen zu artikulieren, (…) mit Sachverstand zu begründen und mit Nachdruck zu vertreten“3.

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Von diesem individuell-qualifikationsbezogenen Begründungsansatz ist das BAG mittlerweile abgerückt und stellt die besonderen Blockademöglichkeiten im Arbeitskampf in den Mittelpunkt: Verfügt eine Koalition nur über eine kleine Zahl von Mitgliedern, könne sich die Durchsetzungsfähigkeit trotzdem ergeben, wenn es sich bei den organisierten Arbeitnehmern um „Spezialisten in Schlüsselstellungen handelt, die im Falle eines Arbeitskampfes kurzfristig überhaupt nicht oder nur schwer ersetzbar“ seien4. Für die Berufsgruppe der Flugbegleiter (UFO) hat das BAG dies bejaht, da ein Streik der Flugbegleiter ernsthafte Verhandlungen über den angestrebten TV angesichts der drohenden wirtschaftlichen Schäden durch den Ausfall von Flugverbindungen unzweifelhaft erzwingen kann. Für den Sonderfall der Spezialistengewerkschaften ist somit die Druckausübungsfähigkeit im Arbeitskampf ein entscheidendes Posi-

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1 2 3 4

Ausf. Greiner, Gemeins. Anm. EzA § 2 TVG Nr. 30, 31 unter II 3. BAG v. 9.7.1968 – 1 ABR 2/67, DB 1968, 1715. BAG v. 16.11.1982 – 1 ABR 22/78, DB 1983, 1151. BAG v. 14.12.2004 – 1 ABR 51/03, NZA 2005, 697.

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Teil 2 Rz. 80

Tarifvertragsparteien

tivkriterium; auf die gesteigerte individuelle Qualifikation kommt es für die Erfüllung des „Spezialisten“-Begriffs heute nicht mehr an.

cc) Organisatorische Leistungsfähigkeit 80

Neben der Durchsetzungsfähigkeit soll die organisatorische Leistungsfähigkeit der Koalition von maßgeblicher Bedeutung sein. Diese ist neben der Durchsetzungsfähigkeit die zweite Facette, die zur Begründung sozialer Mächtigkeit erforderlich ist. Auch hier gelangt das BAG mittlerweile zu einer stark liberalisierten Sichtweise. Die Anforderungen an die organisatorische Leistungsfähigkeit werden stark abgesenkt. Insbesondere zeigt sich dies bei der Bewertung der Tätigkeit ehrenamtlicher Mitarbeiter. Während das BAG in früheren Entscheidungen die Beschäftigung ehrenamtlicher Mitarbeiter eher despektierlich abgewertet und damit das Leitbild der professionellen Funktionärsgewerkschaft zugrunde gelegt hat1, erkennt es heute an, dass die Aufgaben einer Arbeitnehmerkoalition auch durch ehrenamtliche Mitarbeiter wahrgenommen werden können2. Dem ist zuzustimmen; gerade in der ehrenamtlichen Betätigung, die häufig bei kleineren Gewerkschaften anzutreffen ist, wird eine besonders starke Identifikation mit der Organisation sichtbar.

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Die Bewertung der organisatorischen Leistungsfähigkeit vollzieht sich entsprechend dem für die Durchsetzungsfähigkeit dargestellten zweistufigen Prüfungsansatz (s. Rz. 63, 71): Hat die Koalition bereits in der Vergangenheit zahlreiche TVe abgeschlossen und durchgeführt, soll dies regelmäßig die Vermutung begründen, dass sie eine hinreichende organisatorische Infrastruktur zur Erfüllung ihrer koalitionstypischen Aufgaben aufweist3. Auf die Bewertung der tatsächlich vorhandenen Infrastruktur (Mitarbeiter, Büroräume, technische Infrastruktur) kommt es somit nur dann an, wenn noch kein hinreichendes Tarifverhalten in der Vergangenheit dargetan werden kann. Auch wenn es mangels hinreichend aktiven Tarifverhaltens auf die aktuelle organisatorische Leistungsfähigkeit ankommt, sind die Maßstäbe nach dem CGM-Beschluss großzügig: Die Tariffähigkeit entfällt demnach nicht schon dann, wenn eine Arbeitnehmervereinigung personell nicht in der Lage sei, die Durchführung der TVe „jederzeit und überall vor Ort effektiv zu überwachen“. Es sei vielmehr ausreichend, „wenn diese Möglichkeit im Bedarfsfall gewährleistet“ sei. Eine geringe Anzahl von Mitarbeitern soll dafür ausreichen; bei der CGM hätte das BAG 43 hauptamtliche Mitarbeiter bei bundesweiter Tarifzuständigkeit für eine sehr große Branche offenbar genügen lassen. Auch mit Blick auf neue Kommunikationswege verliere der persönliche Kontakt der Gewerkschaftsrepräsentanten zu den Gewerkschaftsmitgliedern tendenziell an Bedeutung4. 1 BAG v. 6.6.2000 – 1 ABR 10/99, NZA 2001, 160, Rz. 45; vgl. auch schon BAG v. 25.11.1986 – 1 ABR 22/85, NZA 1987, 492; BAG v. 16.1.1990 – 1 ABR 10/89, NZA 1990, 623. 2 BAG v. 14.12.2004 – 1 ABR 51/03, NZA 2005, 697, Rz. 54; BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112, Rz. 52; zuletzt noch bestätigt in BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300. 3 BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112, Rz. 54. 4 Dagegen Kocher, ArbuR 2005, 336 (338).

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Tariffähigkeit

Rz. 84 Teil 2

Im GKH-Beschluss1 gelangt das BAG auch zu weiteren Konkretisierungen hinsichtlich der organisatorischen Leistungsfähigkeit. Es hält zwar im Ausgangspunkt daran fest, dass die Beschäftigung hauptamtlicher Gewerkschaftsmitarbeiter nicht – oder nicht in erheblichem Umfang – erforderlich ist. Es müsse jedoch gewährleistet sein, dass die Arbeitnehmervereinigung über loyale Mitarbeiter verfügt, die ihr und ihren Mitgliedern im Konfliktfall verpflichtet sind und nicht dem bestimmenden Einfluss Dritter unterliegen. Entsprechendes gelte, wenn eine Arbeitnehmervereinigung im Wesentlichen vom Aufbau einer eigenen Organisation absieht und sich hierfür der Einrichtungen und des Personals einer anderen Arbeitnehmervereinigung bediene – in casu hauptamtlicher Gewerkschaftssekretäre der „Schwestergewerkschaft“ CGM. In einem solchen Fall bedürfe es besonderer Vorkehrungen, die sicherstellen, dass die Arbeitnehmervereinigung nicht zum „verlängerten Arm“ derjenigen Vereinigung werde, deren Organisation sie sich bediene. Dazu gehöre auch, dass diejenigen, die das Tarifgeschehen bestimmen, eine gewisse fachliche Nähe hierzu aufwiesen, da diese fachliche Nähe erst das Richtigkeitsvertrauen in die TVe rechtfertige. Mit Blick auf die Transparenz der Tarifnormsetzung kann man dieser Position zustimmen: Es soll klar erkennbar werden, welche Gewerkschaft hinter einem Tarifabschluss steht; die Errichtung von „Tarnorganisationen“ soll unterbunden werden2.

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dd) Anerkennung des geltenden Tarifrechts Weitere Voraussetzung der Tariffähigkeit ist die Anerkennung des geltenden Tarifrechts3. Dies folgt bereits daraus, dass nach hier vertretener Auffassung die zusätzlichen Kriterien, die außerhalb des Koalitionsbegriffs für die Tariffähigkeit einer Koalition statuiert werden, letztlich die Zuverlässigkeit einer Koalition für die Tarifnormsetzung gewährleisten sollen (s. Rz. 33). Elementarer Bestandteil der Zuverlässigkeitsprüfung ist die Kontrolle, ob eine Koalition sich rechtstreu verhält4. Dazu gehört neben der Selbstverpflichtung zur Wahrung der verfassungsmäßigen Ordnung5 auch die Anerkennung des geltenden Tarifrechts6.

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Freilich wird diese Rechtstreue nicht dadurch in Frage gestellt, dass eine Koalition rechtspolitisch Änderungen der geltenden Rechtslage einfordert7. Gleichfalls wird die Tariffähigkeit selbstverständlich nicht dadurch gefährdet, dass eine Koalition in einzelnen Rechtsfragen von einer „herrschenden Meinung“ abweichende Rechtsstandpunkte vertritt. Würde eine Koalition hingegen gehäuft zu rechtswidrigen Arbeitskampfmaßnahmen aufrufen oder z.B. eine Strategie des „closed shop“ durch rechtswidrige qualifizierte Differenzierungsklau-

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BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300. Näher Greiner, Gemeins. Anm. EzA § 2 TVG Nr. 30, 31, unter II 4 c. So auch BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112. Vgl. Löwisch, ZfA 1970, 295 (311); weiterhin Doerlich, Tariffähigkeit, insb. S. 151 ff. Vgl. auch Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 127; Dietlein in Stern, Staatsrecht IV/1, S. 2081. 6 Zutr. Löwisch, ZfA 1970, 295 (310); a.A. Däubler, ArbuR 1977, 286 (287); Hagemeier, ArbuR 1988, 193 (196). 7 Vgl. Hagemeier, ArbuR 1988, 193 (196).

Greiner

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Teil 2 Rz. 85

Tarifvertragsparteien

seln (s. Teil 5 (8)) verfolgen1, würde dies die Anerkennung des geltenden Tarifrechts an einem ganz zentralen Punkt und damit auch die Zuverlässigkeit der Koalition als Basis ihrer Tariffähigkeit in Frage stellen.

ee) Demokratische Binnenorganisation 85

Bei Arbeitnehmerkoalitionen ist wegen der Betroffenheit der Persönlichkeitsrechte durch die Tarifnormsetzung und angesichts der mangelnden Alternative einer eigenständigen tarifpolitischen Betätigung der in der Koalition zusammengeschlossenen Individuen (s. bei Arbeitgeberkoalitionen Rz. 115 f.) eine Kontrolle der demokratischen Binnenorganisation zweifellos notwendiger als bei Arbeitgeberkoalitionen. Auch insofern äußert sich das BAG im CGM-Beschluss2: Inwieweit eine demokratische Binnenorganisation überhaupt zu fordern ist, wird offen gelassen, höchstens seien jedoch demokratische Mindeststandards, wie die Gleichheit der Mitglieder und die Berücksichtigung von Minderheiteninteressen, zu verlangen.

c) „Relative“ und „absolute“ Tariffähigkeit 86

Zu Recht eine Absage hat das BAG mittlerweile dem Konzept einer „relativen Tariffähigkeit“ erteilt. Nach der jüngeren Judikatur des BAG ist die Tariffähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung „für den beanspruchten Zuständigkeitsbereich (…) einheitlich und unteilbar“3. Eine „partielle, auf bestimmte Regionen, Berufskreise oder Branchen beschränkte Tariffähigkeit“ gibt es demnach nicht. Eine Beschränkung der Tariffähigkeit auf einzelne Regelungsgegenstände, Mitglieder oder räumliche Bereiche kann auch durch eine Eingrenzung der Tarifwilligkeit nicht erzielt werden4. Eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung (OT-Mitgliedschaft, s. Rz. 148 ff.) kann somit nicht durch Beschränkung der Tariffähigkeit auf bestimmte Mitglieder, sondern allein durch Ausgestaltung der Tarifzuständigkeit ermöglicht werden5. Freilich bewirkt die satzungsautonom festzulegende Tarifzuständigkeit, dass eine tariffähige Koalition den Bereich ihrer Normsetzungskompetenz im Übrigen in räumlicher und fachlicher Hinsicht frei gestalten kann (s. Rz. 212).

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Für die Bejahung der einheitlichen Tariffähigkeit innerhalb des gesamten, selbst gewählten Zuständigkeitsbereiches genügt es, „dass die Arbeitnehmervereinigung Durchsetzungskraft und organisatorische Leistungsfähigkeit in einem zumindest nicht unerheblichen Teil des beanspruchten Zuständigkeitsbereichs

1 Zutr. Rieble, SAE 2006, 89 (92). 2 BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112. 3 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 81; BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 24; BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112, Rz. 56; zust. Kissel, Arbeitskampfrecht, § 9 Rz. 34; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 394. 4 Zutr. Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 19; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 94; Gamillscheg, S. 529; Hanau/Kania, FS Däubler, S. 437 (440 f.). 5 Zutr. Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, S. 147; Buchner, NZA 1994, 2 (4).

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Tariffähigkeit

Rz. 90 Teil 2

besitzt“1. Bereits dies lasse regelmäßig erwarten, dass sich die Arbeitnehmerkoalition auch in den Bereichen, in denen es ihr an Durchsetzungskraft (noch) fehlt, beim Abschluss von TVen nicht den Forderungen der Arbeitgeberseite unterwirft. Eine Arbeitnehmerkoalition kann somit auch eine tariffähige Gewerkschaft in Branchen oder Betrieben sein, in denen sie (noch) keine Mitglieder hat. Auf ein „Vertretensein“ in den Betrieben kommt es demnach nicht an2. Damit grenzt sich das BAG von einer starken Literaturströmung deutlich ab3. Für das Konzept einer relativen Tariffähigkeit scheinen zunächst Gründe der Verhältnismäßigkeit zu sprechen: Das Konzept der relativen Tariffähigkeit vermeidet zweifellos eine „Alles-oder-nichts-Entscheidung“ über die bestehende oder fehlende Tariffähigkeit. Es ist ein sachgerechter Kompromiss, einer Arbeitnehmerkoalition die Tariffähigkeit nicht komplett abzusprechen, sondern sie gezielt dort zu bejahen, wo die Koalition bereits über hinreichende Durchsetzungskraft und Organisationsstärke verfügt.

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Diese Aspekte werden jedoch aufgewogen durch den Verweis des BAG auf Rechtssicherheit und Rechtsklarheit4. Wäre die Tariffähigkeit für einzelne Branchen, Unternehmen, Betriebe oder gar Betriebsteile festzustellen, so wäre in Grenzfällen häufig unklar, ob ein TV von einer insoweit relativ tariffähigen Gewerkschaft abgeschlossen und somit wirksam ist. Selbst bei etablierten Gewerkschaften könnte in Teilbereichen der Tarifzuständigkeit die Tariffähigkeit fraglich sein und zahlreichen TVen die (Teil-)Nichtigkeit drohen. Die Anerkennung einer absoluten, einheitlichen Tariffähigkeit dient damit dem bereits angesprochenen zweifachen Regelungszweck (s. Rz. 73): einerseits der Stabilisierung des Tarifsystems auch bei erheblichen Mitgliederverlusten in Teilbereichen, andererseits der Erleichterung neuer Gewerkschaftsgründungen im Interesse der durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisteten Gründungsfreiheit, indem es Gewerkschaften im Gründungsstadium ermöglicht wird, den Zuständigkeitsbereich auf Felder auszudehnen, auf denen sie bislang über keine hinreichende Durchsetzungskraft und Organisationsstärke verfügen.

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Voraussetzung für die Anerkennung einer einheitlichen absoluten Tariffähigkeit in Bereichen, in denen an sich die Tariffähigkeitsvoraussetzungen noch nicht gegeben sind, ist freilich ein (auch) delegatorisches Verständnis der Tarifnormsetzung; konsequent folgen die Vertreter eines rein kollektiv-privatautonomen Deutungsansatzes somit auch einhellig dem Konzept der relativen Tariffähigkeit5.

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1 Zuletzt BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 81. 2 BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112. 3 Rieble, FS Wiedemann, S. 529 ff.; Dütz, DB 1996, 2385 (2389 f.); Isenhardt, Relative Tariffähigkeit, passim; Henssler, S. 36 f. (Hilfsargumentation bei prinzipieller Ablehnung des Mächtigkeitskriteriums). 4 BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112. 5 Vgl. Rieble, FS Wiedemann, S. 529 ff.; Dütz, DB 1996, 2385 (2389 f.); Isenhardt, Relative Tariffähigkeit, passim; Henssler, S. 36 f. (Hilfsargumentation bei prinzipieller Ablehnung des Mächtigkeitskriteriums).

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Teil 2 Rz. 91

Tarifvertragsparteien

d) Verfassungsrechtliche Bewertung nach CGM- und GKH-Beschluss des BAG 91

Die verfassungsrechtliche Kritik an zusätzlichen einfachrechtlichen Voraussetzungen für die Tarifnormsetzungskompetenz1 hat das BAG durch die dargestellten Liberalisierungen, insbesondere im CGM-Beschluss, entscheidend entkräftet. Das dargestellte Prüfungssystem mit einer klar zweistufigen Prüfung erweist sich als sehr grundrechtsfreundlich, indem es sowohl das bestehende TV-System stabilisiert als auch die Gründung und Betätigung neuer Gewerkschaften erleichtert. Durch die klare Prüfungsstruktur wird ein weitaus höherer Grad an Rechtssicherheit erreicht als dies nach der strengeren Rechtsprechung früherer Zeiten der Fall war2. Durch die Relativierungen des GKHBeschlusses wird dieser Fortschritt teilweise zurückgenommen, ohne jedoch in die viel kritisierte Konturlosigkeit mancher früherer Entscheidungen zu verfallen. Natürlich bleiben in Sonderfällen erhebliche Wertungsspielräume, so etwa bei der Bewertung, ob ein TV ein Schein- oder GefälligkeitsTV ist. Diese Wertungsspielräume sind jedoch kaum vermeidbar.

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An der Kompetenz der Gerichte für Arbeitssachen, diese Kriterien richterrechtlich zu statuieren, bestehen keine durchgreifenden Zweifel. Das BVerfG hat eine Kompetenzüberschreitung der Judikative verneint3. Auch ist eine gesetzgeberische Grundentscheidung, dass es einen Begriff der Tariffähigkeit gibt, der über den Koalitionsbegriff des Art. 9 Abs. 3 GG hinausgeht, bereits in den §§ 2a Abs. 1 Nr. 4, 97 Abs. 1, Abs. 5 Satz 1 ArbGG klar ersichtlich. Die „wesentliche“ Grundentscheidung hat somit der parlamentarische Gesetzgeber getroffen, so dass ein Konflikt zur Wesentlichkeitstheorie nicht ersichtlich ist4.

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Die Kritik, beim Kriterium der sozialen Mächtigkeit handele sich um einen nicht erforderlichen Eingriff in die Koalitionsfreiheit, die insbesondere eine gravierende Erschwerung von Gewerkschaftsgründung und Gewerkschaftswettbewerb mit sich bringe5, kann man nach den erfolgten Liberalisierungen nicht mehr teilen. Die Zugangskontrolle zum Tarifsystem ist bereits im Interesse der Markttransparenz geboten. Gewerkschaftswettbewerb kann nur dann funktionieren, wenn es kein ungeordneter Wettbewerb ist, vielmehr die „Kunden“, also die Gewerkschaftsmitglieder, die Wahl zwischen zuverlässigen Regelungsanbietern haben, nicht hingegen bei Akzeptanz eines Durcheinanders von „echten“ und Scheingewerkschaften.

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Gegenüber denkbaren Alternativkonzepten wie einer verstärkten Inhaltskontrolle des abgeschlossenen TVes6 ist das Rechtsprechungsmodell deutlich vor1 Vgl. Gamillscheg, S. 433; Gamillscheg, FS Herschel, S. 115; Henssler, S. 26 ff.; MayerMaly, Anm. AP Nr. 25 zu § 2 TVG; ähnlich Kraft, SAE 1978, 43 f. 2 Zu Recht krit. insofern Giere, Soziale Mächtigkeit, S. 60 ff. m.w.N. 3 BVerfG v. 20.10.1981 – 1 BvR 404/78, NJW 1982, 815; vgl. auch Söllner, ArbuR 1976, 321 (322); Dütz, ArbuR 1976, 65 (78). 4 A.A. etwa Henssler, S. 27; Richardi, FS Wißmann, S. 170. 5 Vgl. Gamillscheg, S. 433; Gamillscheg, FS Herschel, S. 115; Henssler, S. 26 ff.; MayerMaly, Anm. AP Nr. 25 zu § 2 TVG; ähnlich Kraft, SAE 1978, 43 f. 6 Insb. Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 403 ff.; auch Bayreuther, BB 2005, 2633 (2637); ähnlich mit Blick auf arbeitskampfrechtliche Fragestellungen Otto, § 8 Rz. 41; zu Recht dagegen Henssler, S. 55 („Tarifzensur“).

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Tariffähigkeit

Rz. 97 Teil 2

zugswürdig, da es auf eine regelmäßige inhaltliche (Negativ-)Bewertung der TVe, die mit der Grundidee von Tarifautonomie schwerlich vereinbar ist, verzichtet.

3. Voraussetzungen der Tariffähigkeit auf Arbeitgeberseite Als tariffähige Akteure auf Arbeitgeberseite kommen gemäß § 2 Abs. 1 TVG einzelne Arbeitgeber sowie Arbeitgebervereinigungen in Betracht. Ferner können Spitzenorganisationen der Arbeitgeberverbände gemäß § 2 Abs. 3 TVG Parteien eines TVes sein, wenn der Abschluss von TVen zu ihren satzungsmäßigen Aufgaben gehört (s. Rz. 192 ff.). Schließlich ist zu beachten, dass die Tariffähigkeit auf Arbeitgeberseite durch das TVG nicht abschließend festgelegt wird: Weitere tariffähige Akteure auf Arbeitgeberseite können insbesondere Innungen und Innungsverbände sein, sofern ihnen die Tarifnormsetzung spezialgesetzlich anvertraut ist1.

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a) Tariffähigkeit einzelner Arbeitgeber aa) Arbeitgeberbegriff § 2 Abs. 1 TVG erklärt den einzelnen Arbeitgeber für stets tariffähig. Sinn dieser Regelung ist, der tarifzuständigen Gewerkschaft auch bei fehlender Verbandszugehörigkeit des Unternehmens stets einen Vertragspartner für den Abschluss von TVen zur Verfügung zu stellen2. Damit ist die Tariffähigkeit des einzelnen nicht verbandsangehörigen3 Arbeitgebers eine verfassungsrechtlich gebotene Funktionsvoraussetzung des TV-Systems4. Dementsprechend kann der Arbeitgeber sich seiner Tariffähigkeit weder durch „Tarifunwilligkeit“5 noch durch Verbandsbeitritt (s. Rz. 108 ff.) entziehen. Zugleich dient die Tariffähigkeit dem Schutz der negativen Koalitionsfreiheit auf Arbeitgeberseite, indem der Arbeitgeber auch ohne Verbandsbeitritt auf das Gestaltungsmittel TV zurückgreifen kann6.

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Arbeitgeber i.S.v. § 2 Abs. 1 TVG ist der jeweilige Rechtsträger eines Unternehmens. Es gilt der allgemeine arbeitsrechtliche Arbeitgeberbegriff: Arbeitgeber ist demnach der andere Partner des Arbeitsverhältnisses, also derjenige, der die Dienstleistungen vom Arbeitnehmer kraft des Arbeitsvertrages fordern kann. Dies ist diejenige natürliche oder juristische Person, zu welcher der Arbeitnehmer in einem Verhältnis persönlicher und regelmäßig auch wirtschaft-

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1 Dies ist trotz fehlender Koalitionseigenschaft verfassungskonform; vgl. BVerfG v. 19.10.1966 – 1 BvL 24/65, NJW 1966, 2305; BAG v. 11.6.1975 – 4 AZR 395/74, DB 1975, 2454; BAG v. 6.5.2003 – 1 AZR 241/02, NZA 2004, 562; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 30 f., 288 ff. 2 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 23, 124; vgl. weiterhin BVerfG v. 20.10.1981 – 1 BvR 404/78, NJW 1982, 815; Gamillscheg, S. 524; Henssler, ZfA 1998, 517 (519 f.). 3 Zu dieser Differenzierung Henssler, ZfA 1998, 517 (519 f.). 4 Witt, Der Firmentarifvertrag, 2004, S. 128 f. 5 Zutr. Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 23; Gamillscheg, S. 524; HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 21. 6 Zutr. Staudinger/Richardi, Vor §§ 611 ff. BGB Rz. 617.

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Teil 2 Rz. 98

Tarifvertragsparteien

licher Abhängigkeit steht1. Der Arbeitgeberbegriff wird somit funktional durch die Stellung als Vertragspartner des Arbeitnehmers bestimmt. Da es sich beim Betrieb ausschließlich um eine faktische organisatorische Untergliederung eines Rechtsträgers handelt2, kommen Betrieb oder Betriebsleitung nicht als tariffähige Arbeitgeber i.S.v. § 2 Abs. 1 TVG in Betracht. Bei Aufspaltung der Arbeitgeberstellung – etwa in Fällen der Zeitarbeit – ist Arbeitgeber allein derjenige, der den Arbeitsvertrag geschlossen hat3. Ein Rechtsträger ohne eigene Arbeitnehmer – etwa eine Konzernholding – ist mangels Arbeitgeberstellung nicht tariffähig4. 98

Arbeitgeber können mithin natürliche Personen, Personen(handels)gesellschaften sowie juristische Personen sein. In Betracht kommen sowohl juristische Personen des Zivilrechts (GmbH, AG, Genossenschaft) als auch solche des öffentlichen Rechts (Bund, Länder, Gemeinden). Auch die Angehörigen freier Berufe (Rechtsanwälte, Ärzte etc.) können Arbeitgeber sein. Handelt es sich um eine juristische Person im Gründungsstadium, kann bereits frühzeitig – sobald gesellschaftsrechtlich ein Stadium der (Teil-)Rechtsfähigkeit erreicht ist – ein TV für die juristische Person in Gründung abgeschlossen werden5; Sinn und Zweck ist, dass bereits vom ersten Tag der Geschäftsaufnahme an für die dort beschäftigten Arbeitnehmer ein TV die Arbeitsbeziehungen regelt. Etwa kann die Vor-GmbH oder Vor-AG TV-Partei sein6.

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Bei Personengesellschaften (GbR, OHG, KG) ist zu beachten, dass infolge der mittlerweile generell anerkannten Rechtsfähigkeit der Personengesellschaften, insbesondere auch der GbR7, als Partei eines FirmenTVes nur die Personengesellschaft als solche in Betracht kommt. Mit der Anerkennung der Rechtsfähigkeit auch der GbR ist die früher konstruierte Arbeitgeberstellung der einzelnen Gesellschafter obsolet8; die akzessorische Haftung analog § 128 HGB begründet keine Arbeitgeberstellung der Gesellschafter. Das BAG bejaht auch bei Personengesellschaften, dass der Abschluss eines TVes bereits vor Gesellschaftsgründung durch einen vollmachtslosen Stellvertreter möglich ist9. Abweichend von der Sichtweise des BAG hängt das Wirksamwerden des TVes in diesem Fall gemäß § 177 Abs. 1 BGB von der Genehmigung der Gesellschaft nach ihrer Gründung ab10.

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Rechtsfähige Körperschaften, Stiftungen und Anstalten des öffentlichen Rechts sind im Prinzip gleichfalls tariffähige Arbeitgeber i.S.v. § 2 Abs. 1 TVG, jedoch 1 2 3 4 5 6 7

BAG v. 9.9.1982 – 2 AZR 253/80, AP Nr. 1 zu § 611 BGB Hausmeister. Allg. zum Betriebsbegriff Preis, RdA 2000, 257. Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 125. Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 137. BAG v. 24.1.2001 – 4 ABR 4/00, NZA 2001, 1149. Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 128. Grundlegend BGH v. 29.1.2001 – II ZR 331/00, NJW 2001, 1056; weiterhin BGH v. 18.2.2002 – II ZR 331/00, NZA 2002, 405. 8 Zutr. nun BAG v. 30.10.2008 – 8 AZR 397/07, NZA 2009, 485; BAG v. 1.12.2004 – 5 AZR 597/03, NZA 2005, 318. 9 BAG v. 24.1.2001 – 4 ABR 4/00, NZA 2001, 1149. 10 Zutr. Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 128.

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Tariffähigkeit

Rz. 102 Teil 2

ist die Tariffähigkeit vielfach spezialgesetzlich ausgestaltet1. Auch die Kirchen und kirchlichen Einrichtungen sind tariffähige Arbeitgeber2, jedoch unterliegt ihre Tariffähigkeit – obwohl das TVG keinen expliziten Tendenzschutz statuiert – den aus dem Staatskirchenrecht folgenden Beschränkungen: So haben es die Kirchen in der Hand, anstelle von TVen auf spezielle Vereinbarungen zurückzugreifen (sog. „dritter Weg“)3. Die Arbeitgeberstellung bleibt durch den wirtschaftlichen Zusammenschluss mit anderen Unternehmen unberührt. Grundsätzlich nicht als Arbeitgeber i.S.v. § 2 Abs. 1 TVG kommt somit ein Konzern in Betracht4. Die Konzernobergesellschaft ist Arbeitgeberin i.S.v. § 2 Abs. 1 TVG ausschließlich im Hinblick auf diejenigen Arbeitnehmer, die unmittelbar in einem Arbeitsverhältnis zu ihr stehen. Für die bei anderen Konzerngesellschaften beschäftigten Arbeitnehmer hat die Konzernobergesellschaft nur dann die Arbeitgeberstellung inne, wenn sie im eigenen Namen die Arbeitsverträge abgeschlossen hat und die Beschäftigung bei anderen Konzerngesellschaften ausschließlich aufgrund arbeits- oder kollektivvertraglicher Konzern(versetzungs)klauseln erfolgt5. Nur in diesem Fall ist die Konzernobergesellschaft Vertragspartnerin der Arbeitnehmer, so dass der allgemeine arbeitsrechtliche Arbeitgeberbegriff zweifellos erfüllt ist. Ein praktisches Bedürfnis für die Tariffähigkeit des Konzerns besteht angesichts der dort gegebenen Gestaltungsmöglichkeiten durch Abschluss von KonzernverbandsTVen, mehrgliedrigen KonzernTVen und der schuldrechtlichen Verpflichtung zur konzerneinheitlichen Anwendung der mit der Konzernobergesellschaft abgeschlossenen TVe nicht6.

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Der Konzern kann auch nicht ohne weiteres als Arbeitgeberverband interpretiert werden, der die automatische Tarifzuständigkeit zum Abschluss für sämtliche Konzerngesellschaften besitzt7, denn es fehlt z.B. an den auch bei Arbeitgeberverbänden zu stellenden Anforderungen an eine demokratische Binnenstruktur (s. Rz. 114 ff.). Zweifellos ist es jedoch möglich, einen Arbeitgeberverband mit Tarifzuständigkeit für alle konzernangehörigen Unternehmen und Betriebe zu gründen; dies ist bei großen Konzernen in der Praxis durchaus üblich. Alternativ kommt der Abschluss eines sog. „mehrgliedrigen“ TVes in Betracht. Charakteristisch dafür ist, dass auf Arbeitgeberseite mehrere tariffähige, häufig wirtschaftlich verbundene Arbeitgeber handeln, ohne zu ei-

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1 Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 89; ausführlich Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 87. 2 Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche, § 13 Rz. 10 ff. 3 Ausf. MünchArbR/Richardi, § 330 Rz. 1 ff.; Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche, § 14 Rz. 1 ff.; Thüsing, RdA 1997, 163; Dütz, FS Schaub, S. 157. 4 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 141; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 79; Gamillscheg, S. 525, jeweils m.w.N. 5 A.A. Däubler, Grundrecht auf Mitbestimmung, S. 444 f., der eine Funktion der Konzernobergesellschaft als Arbeitgeberin neben der konzernangehörigen Vertragsarbeitgeberin konstruiert. 6 Zu diesen Gestaltungsmöglichkeiten ausführlich Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 143; Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 98. 7 In diese Richtung aber Reichel/Ansey, § 2 TVG Anm. 32; Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 98; Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 96; wie hier Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 141.

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Teil 2 Rz. 103

Tarifvertragsparteien

nem Arbeitgeberverband zusammengeschlossen zu sein. Der TV-Abschluss kommt dann nicht aufgrund der abgeleiteten Verhandlungsmacht eines Arbeitgeberverbandes, sondern in Ausübung der aus § 2 Abs. 1 TVG folgenden Tariffähigkeit der einzelnen beteiligten Unternehmen zustande1. 103

Hinsichtlich der Rechtsfolgen eines solchen mehrgliedrigen TVes muss danach differenziert werden, ob es sich lediglich um eine Parallelität rechtlich selbständiger TVe handeln soll, die z.B. durch das einzelne beteiligte Unternehmen separat gekündigt werden können, oder aber um den Abschluss durch eine Tarifgemeinschaft, auf deren Geschäftsführung die Vorschriften über die Gesellschaft bürgerlichen Rechts (§§ 705 ff. BGB) Anwendung finden. In letzterem Fall kann auch das Kündigungsrecht regelmäßig nur gemeinschaftlich ausgeübt werden.

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Entsprechend dem allgemeinen Arbeitgeberbegriff gelten hinsichtlich der Tariffähigkeit keine Besonderheiten für mitbestimmte Unternehmen2. Auch eine Gewerkschaft selbst ist Arbeitgeberin der bei ihr beschäftigten Arbeitnehmer, so dass sie in ihrer Arbeitgeberfunktion tariffähig ist3; freilich kann sie nicht auf beiden Seiten an einem TV beteiligt sein, so dass ein Tarifabschluss nur mit einer anderen Gewerkschaft in Betracht kommt4. Dementsprechend verhindert erst recht die Tatsache, dass ein Unternehmen im Eigentum einer Gewerkschaft steht, seine Tariffähigkeit als Arbeitgeber nicht5. Gleiches gilt für ein Unternehmen, das im Eigentum der dort tätigen Arbeitnehmer steht, wenn die Arbeitsleistung auf Grund von Arbeitsverträgen erfolgt – nicht hingegen, wenn es sich um Leistungen auf gesellschaftsrechtlicher Grundlage handelt6.

bb) Soziale Mächtigkeit? 105

Umstritten ist die Frage, ob an die Tariffähigkeit des einzelnen Arbeitgebers zusätzliche Anforderungen zu stellen sind, insbesondere ob auch der wirtschaftlich schwache Arbeitgeber Partei eines TVes sein kann. Überwiegender Auffassung entspricht dabei, dass § 2 Abs. 1 TVG sämtliche Unternehmen für tariffähig erklärt, ohne dass es auf ihre wirtschaftliche Stärke oder die Zahl der bei ihnen beschäftigten Arbeitnehmer ankommt7. Nach der Gegenauffassung ist, insbesondere mit Blick auf den grundgesetzlichen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG), eine Parallelbetrachtung zur Mächtigkeitsjudikatur auf Gewerk1 Vgl. Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 344 ff.; Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 89. 2 Vgl. Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 155 ff.; Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 95; a.A. Zöllner/Seiter, Paritätische Mitbestimmung, S. 38 ff. 3 BAG v. 17.2.1998 – 1 AZR 364/97, NZA 1998, 754; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 136; Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 97; a.A. noch BAG v. 28.4.1992 – 1 ABR 68/91, NZA 1993, 31; Dörrwächter, Tendenzschutz im Tarifrecht, S. 180 ff.; Dütz, AuR 1995, 337 f. 4 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 135; Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 97. 5 Zutr. Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 96 f.; a.A. Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 67 f. 6 Ebenso Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 126; Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 90; a.A. Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 67 f. 7 Vgl. nur BVerfG v. 20.10.1981 – 1 BvR 404/78, NJW 1982, 815; BAG v. 20.11.1990 – 1 ABR 62/89, NZA 1991, 428; Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 90.

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Tariffähigkeit

Rz. 108 Teil 2

schaftsseite angezeigt, so dass der kleine, wirtschaftlich besonders schwache Arbeitgeber, der sich einer übermächtigen Gewerkschaft gegenüber sieht, nicht als tariffähig betrachtet wird1. Der erstgenannten, überwiegenden Auffassung ist zuzustimmen. Die Legitimation des Mächtigkeitskriteriums auf Gewerkschaftsseite beruht darauf, dass die Gewerkschaft Normsetzungsmacht für tarifgebundene Arbeitnehmer ausübt. Erst dadurch entsteht eine Legitimation für die Beurteilung ihrer Zuverlässigkeit. Dies ist bei einem einzelnen Arbeitgeber als TV-Partei nicht ersichtlich. Vielmehr schließt er stets nur TVe ab, an die er selbst als Vertragsarbeitgeber gebunden ist. Bei einem freiwilligen TV-Abschluss ohne Arbeitskampfdruck entsteht somit auch angesichts der wirtschaftlichen Schwäche des Arbeitgebers kein Kontrollbedürfnis: Für sich selbst kann der Arbeitgeber beim Vertragsschluss privatautonom und eigenverantwortlich handeln. Eine normative Einwirkung auf die Rechtsverhältnisse anderer Rechtssubjekte auf Arbeitgeberseite ist nicht ersichtlich. Der zweifellos zu konstatierenden Drittbetroffenheit der tarifgebundenen Arbeitnehmer wird hingegen bereits durch die Zuverlässigkeitsanforderungen hinsichtlich der sie repräsentierenden Gewerkschaft Rechnung getragen (s. Rz. 55 ff.). Somit ist eine Mächtigkeitskontrolle hinsichtlich des einzelnen Arbeitgebers als TV-Partei zur Gewährleistung „zuverlässiger“ Tarifnormsetzung nicht erforderlich (zu diesem Zweck des Mächtigkeitskriteriums s. Rz. 56). Insofern vermag auch der Verweis auf den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) nicht zu überzeugen, da es sich um wesentlich ungleiche Sachverhalte handelt.

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Relevante Probleme ergeben sich lediglich dann, wenn der wirtschaftlich besonders schwache Arbeitgeber durch Arbeitskampf zum Abschluss eines TVes gezwungen wird. Dies ist jedoch kein Problem seiner Tariffähigkeit, sondern vielmehr ein spezifisch arbeitskampfrechtliches Problem, dem ggf. durch eine paritätsbezogene Verschärfung der Verhältnismäßigkeitsanforderungen beim Arbeitskampf gegen einen wirtschaftlich schwachen Arbeitgeber Rechnung getragen werden muss2.

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cc) Verlust der Tariffähigkeit durch Verbandsbeitritt? Ebenfalls umstritten ist die Frage, ob die Tariffähigkeit des einzelnen Arbeitgebers fortbesteht, wenn dieser sich einem Arbeitgeberverband angeschlossen hat. Wer dies verneint3, will letztlich den verbandsangehörigen Arbeitgeber vor der Inanspruchnahme auf Abschluss eines FirmenTVes schützen. Somit könnte der einzelne Arbeitgeber sich der tarifzuständigen Gewerkschaft als po-

1 Insb. Müller, Tarifautonomie, S. 262 ff.; Müller, RdA 1990, 322; vgl. dazu Henssler, S. 33 f.; Eitel, S. 51, 56; Franzen, RdA 2001, 1 (7); Wiedemann, Gemeins. Anm. AP Nr. 24 zu Art. 9 GG und Nr. 30 zu § 2 TVG unter II 2 a (2); Zeuner, FS 25 Jahre BAG, S. 730. 2 Tendenziell ähnlich BAG v. 21.4.1971 – GS 1/68, NJW 1971, 1668; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 137 f., 140 m.w.N. 3 Matthes, FS Schaub, S. 483; Heinze, DB 1997, 2122 (2126); Kleinke/Kley/Walter, ZTR 2000, 499.

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Teil 2 Rz. 109

Tarifvertragsparteien

tentieller Partner eines FirmenTVes entziehen, indem er dem Arbeitgeberverband beitritt. 109

Diese Schutzwirkung ist dem Verbandsbeitritt nicht beizumessen1. Der einzelne Arbeitgeber hat es nicht in der Hand, die ihm durch § 2 Abs. 1 TVG verliehene Tariffähigkeit durch Verbandsbeitritt aufzugeben2. Ebenso wenig wie er sich generell dem Abschluss eines TVes durch bloße „Tarifunwilligkeit“ entziehen kann (s. Rz. 96), kann er dies durch den Beitritt zu einem Arbeitgeberverband. Vielmehr statuiert § 2 Abs. 1 TVG die Tariffähigkeit des einzelnen Arbeitgebers insbesondere mit der Intention, der Gewerkschaft stets einen Verhandlungspartner zur Verfügung zu stellen. Will die Gewerkschaft trotz Mitgliedschaft eines Unternehmens im Arbeitgeberverband mit diesem einen speziellen FirmenTV abschließen, ist diese Entscheidung über den Zuschnitt des angestrebten Geltungsbereichs Bestandteil ihrer grundrechtlich gesicherten Betätigungsfreiheit. Für eine derartige Entscheidung können sehr plausible Gründe bestehen, etwa eine differenzierte wirtschaftliche Situation innerhalb der Branche. Häufig liegt der Abschluss von TVen, die auf die Situation des jeweiligen Unternehmens abgestimmt sind, sogar im Arbeitgeberinteresse.

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Müsste der Arbeitgeber zwischen der Möglichkeit einer eigenständigen Tarifpolitik durch Abschluss von FirmenTVen und der Verbandsmitgliedschaft wählen, entstünde ein sehr starres TV-System, in dem sinnvoll differenzierende Gestaltungen vielfach ohne Not ausgeschlossen wären. Auch würde ein der Funktionsfähigkeit des TV-Systems abträglicher Bedeutungsverlust der Arbeitgeberverbände drohen, da Unternehmen mit einem Interesse an eigenständiger, differenzierter Tarifpolitik nur der Austritt aus dem Arbeitgeberverband bzw. der Wechsel in eine OT-Mitgliedschaft bliebe.

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Untersagt ein Arbeitgeberverband seinen Mitgliedsunternehmen satzungsrechtlich den Abschluss von FirmenTVen, wird auch dadurch die Tariffähigkeit der Mitgliedsunternehmen nicht aufgehoben. Ein gleichwohl – z.B. unter Arbeitskampfdruck – abgeschlossener FirmenTV ist wirksam, mag er auch gegen die Verbandssatzung verstoßen und das Unternehmen – zulässigen3 – vereinsrechtlichen Sanktionen aussetzen4.

1 So auch die ganz h.M., etwa BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, NZA 2003, 734 m.w.N.; Bayreuther, S. 305 f.; Henssler, ZfA 1998, 517 (535); Witt, Der Firmentarifvertrag, S. 64 ff.; Lobinger, RdA 2006, 12 (13 ff.); Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 149 m. zahlr. Nachw. 2 Vgl. BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, NZA 2003, 734; Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 94. 3 BAG v. 24.1.2001 – 4 AZR 655/99, NZA 2001, 788; Hanau/Kania, FS Däubler, S. 437 (455 ff.). 4 Näher Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 151 ff.

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Tariffähigkeit

Rz. 114 Teil 2

b) Tariffähigkeit der Arbeitgeberverbände aa) Koalitionsbegriff (1) Allgemeines Tariffähig sind gemäß § 2 Abs. 1 TVG auch „Vereinigungen von Arbeitgebern“. Angesprochen ist damit der Koalitionsbegriff des Art. 9 Abs. 3 GG. Das Vorliegen einer Arbeitgeberkoalition setzt unstreitig voraus, dass es sich um einen freiwilligen Zusammenschluss von Arbeitgebern handelt, der dem Koalitionszweck des Art. 9 Abs. 3 GG verpflichtet ist, also die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen anstrebt (s. Teil 1 Rz. 18). Umstritten ist, ob innerhalb des verfassungsrechtlich geprägten Koalitionsbegriffs auch im Hinblick auf Arbeitgeberkoalitionen weitere Merkmale vorauszusetzen sind. Teilweise wird das Bestehen weiterer Anforderungen mit Hinweis auf die historische Entwicklung verneint: Arbeitgeberkoalitionen seien lediglich als Reaktion auf die Gründung von Gewerkschaften entstanden1. Grundlage dieser bereits beim Koalitionsbegriff zwischen Arbeitnehmerund Arbeitgeberseite differenzierenden Betrachtungsweise ist letztlich die verfehlte Interpretation, dass Art. 9 Abs. 3 GG ausschließlich oder jedenfalls überwiegend ein „Arbeitnehmergrundrecht“ sei2. Tatsächlich gewährt Art. 9 Abs. 3 GG jedoch Arbeitnehmer- und Arbeitgeberkoalitionen dieselben Rechte. Auch beim Koalitionsbegriff sollte daher nur insofern differenziert werden, als sachliche Unterschiede eine Abweichung notwendig machen3. Zu bedenken ist auch, dass eine Absenkung der Anforderungen des Koalitionsbegriffs für Arbeitgeberkoalitionen letztlich dazu führen würde, dass der kollektiv-persönliche Schutzbereich auf Arbeitgeberseite unversehens weiter wäre als auf Arbeitnehmerseite; die skizzierte Intention dieser Auffassung würde somit geradezu auf den Kopf gestellt.

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Wie bei Arbeitnehmerkoalitionen ist daher auch hier zusätzlich zu den genannten Kriterien eine privatrechtliche Grundlage, eine organisatorische Verfestigung und Dauerhaftigkeit, aus der die Fähigkeit zu eigener Willensbildung folgt4, eine demokratische Binnenstruktur sowie eine Unabhängigkeit des Verbandes vorauszusetzen (zu den einzelnen Begriffsmerkmalen s. Rz. 47 ff.).

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(2) Insbesondere: demokratische Binnenstruktur Trotz dieser im Ausgangspunkt parallelen Betrachtung ergeben sich jedoch graduelle Abweichungen gegenüber dem Koalitionsbegriff auf Arbeitnehmerseite: Die Anforderungen an die demokratische Binnenstruktur sind, verglichen mit der Arbeitnehmerseite, zu reduzieren: Dass auch dem einzelnen Arbeitgeber 1 So Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 99. 2 Dezidiert AK-GG/Kittner, 2. Aufl., Art. 9 III Rz. 26; ähnlich noch AK-GG/Kittner/ Schiek, Art. 9 III Rz. 80 ff.; dagegen zu Recht Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 118; Scholz in Maunz/Dürig, Art. 9 GG Rz. 157 m. Fn. 6. 3 Zutr. für eine einheitliche Betrachtung plädiert etwa Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 222 f. 4 Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 10 ff.

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Teil 2 Rz. 115

Tarifvertragsparteien

durch § 2 Abs. 1 TVG die Tarifnormsetzungsmacht auf Arbeitgeberseite eingeräumt wird, lässt den Schluss zu, dass die notwendige demokratische Legitimation der Tarifnormsetzung insgesamt primär über die demokratische Willensbildung auf Arbeitnehmerseite vermittelt wird. Der einen TV abschließende einzelne Arbeitgeber verfügt über keinerlei demokratische Legitimation – und braucht sie auch nicht, da er niemanden als sich selbst repräsentiert1. Auch wenn auf Arbeitgeberseite ein Arbeitgeberverband normsetzend tätig wird, ist das Schutzbedürfnis des verbandsangehörigen Arbeitgebers vor „undemokratischer“ Tarifnormsetzung im Vergleich zu einem Gewerkschaftsmitglied deutlich reduziert, da der verbandsangehörige Arbeitgeber infolge der ihm durch § 2 Abs. 1 TVG verliehenen Tariffähigkeit (s. Rz. 96) stets die Alternative hat, dem Verband für die Zukunft die Normsetzungslegitimation zu entziehen und künftig eine eigenständige Tarifpolitik zu verfolgen2. 115

Stein3 stellt überzeugend dar, dass Grundgedanke des Postulats einer demokratischen Binnenstruktur von Gewerkschaften letztlich der Schutz der Persönlichkeitsrechte der einzelnen Gewerkschaftsmitglieder ist. Diese Überlegung lässt sich nicht bruchlos auf Arbeitgeberverbände übertragen, da es bei großen Unternehmen jedenfalls nicht um Persönlichkeitsrechtsentfaltung, sondern allein um wirtschaftliche Betätigung geht. Insofern ist ein Abstimmungsmodus angebracht, der nicht „nach Köpfen“ zählt, sondern die wirtschaftliche und arbeitsmarktpolitische Bedeutung der Mitgliedsunternehmen gewichtet4.

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Anderes mag man erwägen, wenn in einem Arbeitgeberverband auch Unternehmen organisiert sind, die der Praktizierung persönlicher Freiheitsrechte des Unternehmensinhabers dienen5. Zu bejahen ist dies etwa bei Personenunternehmen und Personengesellschaften, in denen der Einzelunternehmer bzw. die Gesellschafter persönlich mitarbeiten. Grundrechtlich geht es dann nicht um den bloßen Schutz des Anteilseigentums (Art. 14 Abs. 1 GG), sondern um die betätigte Berufsfreiheit auf Unternehmerseite (Art. 12 Abs. 1 GG). In diesem Fall spricht auf den ersten Blick einiges dafür, die genannten Unternehmen vor einer undemokratischen Tarifnormsetzung durch den Verband zu schützen. Jedoch wird man auch dagegen anführen können, dass das einzelne Verbandsmitglied sich den im Verband geltenden Spielregeln durch den freiwilligen Verbandsbeitritt unterworfen hat. Da es auf Unternehmerseite nie um die persönlich abhängige Arbeitsleistung geht, sondern um die selbstbestimmte unternehmerische Berufstätigkeit, ist eine Betroffenheit von Persönlichkeitsrechten außerhalb der genannten Berufsfreiheit nicht ersichtlich. Vieles spricht daher dafür, dass die reduzierten Anforderungen an die demokratische Binnenstruktur auf Arbeitgeberverbandsseite unabhängig von der Art der im Verband organisierten Unternehmen gelten.

1 2 3 4 5

Vgl. auch Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 125 m.w.N. Greiner, Rechtsfragen, S. 233. Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 114. Zutr. Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 117; Löwisch, ZfA 1970, 295 (306). Dafür Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 114.

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Tariffähigkeit

Rz. 120 Teil 2

bb) Überbetrieblichkeit Weitere Abweichungen ergeben sich hinsichtlich des für Gewerkschaften zum Kriterium der Überbetrieblichkeit Festgestellten (s. Teil 1 Rz. 18 f.): Handelt es sich um einen „Arbeitgeberverband“, dem nur ein Unternehmen angehört, fehlt es bereits am Merkmal des „Zusammenschlusses“ mehrerer Unternehmen, der für den Koalitionsbegriff essentiell ist (zur Möglichkeit des Zusammenschlusses mehrerer Konzernunternehmen s. dagegen Rz. 102). Ein solcher Arbeitgeberverband genösse nicht den Schutz durch Art. 9 Abs. 3 GG1.

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cc) Unabhängigkeit Als weitere Anforderung an die Tariffähigkeit ist auch bei Arbeitgebervereinigungen die Gegnerunabhängigkeit im bereits dargestellten Sinne (Rz. 50) zu fordern. Insoweit ist wie bei Arbeitnehmerkoalitionen eine großzügige Betrachtungsweise geboten (s. Rz. 50): Insbesondere die zahlreichen Phänomene partieller Kooperation zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite stehen der Unabhängigkeit nicht entgegen. Anders als im Zuge der Mitbestimmungsdebatte erwogen, gilt dies auch angesichts des Umstandes, dass, vermittelt durch die Aufsichtsräte der mitbestimmten Kapitalgesellschaften, ein partieller Gewerkschaftseinfluss auf die Tarifpolitik von Arbeitgeberverbänden gegeben sein kann2.

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Eine gewisse Unabhängigkeit vom Vertragspartner ist funktionale Voraussetzung für das Zustandekommen eines echten Vertrages (vgl. auch § 181 BGB)3. Ein Vertrag, der auf beiden Seiten von wirtschaftlich oder sozial identischen bzw. stark voneinander abhängigen Parteien abgeschlossen wird, ist ein bloßer Scheinvertrag, ein In-Sich-Geschäft. Soll dieser Vertrag unmittelbar und zwingend auf die Rechtsbeziehungen Dritter – nämlich der tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien – einwirken, ist in deren Interesse somit auch die Gegnerunabhängigkeit auf Arbeitgeberverbandsseite unerlässliche Voraussetzung für die Zuverlässigkeit des Verbandes und damit seine Tariffähigkeit4. Daher rekurriert auch das BVerfG in ständiger Rechtsprechung ohne Unterscheidung zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite darauf, dass Koalitionen gegnerunabhängig sein müssen5.

119

Soweit an diesem Erfordernis von Teilen der Literatur Zweifel geltend gemacht werden6, vermag dies nicht zu überzeugen. Nicht überzeugend scheint, als

120

1 Mit Recht bezeichnet Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 104 das Merkmal der Überbetrieblichkeit als „hier schon aus praktischen Gründen bedeutungslos“. 2 Dazu Dietlein in Stern, Staatsrecht IV/1, S. 2034, der zutreffend die fortschreitende Relativierung des ursprünglichen Konzepts der „absoluten“ Gegnerfreiheit beschreibt. 3 Dazu Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 299; ausführlich Zöllner/Seiter, Paritätische Mitbestimmung, S. 34 ff.; überkritisch zu dieser Argumentation: Kempen/Zachert/ Stein, § 2 TVG Rz. 107. 4 Zutr. Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 298 ff. m.w.N. 5 Vgl. – ohne Differenzierung zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberkoalitionen – BVerfG v. 18.11.1954 – 1 BvR 629/52, NJW 1954, 1881; BVerfG v. 6.5.1964 – 1 BvR 79/62, NJW 1964, 1267; BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, NJW 1979, 833. 6 Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 105.

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Teil 2 Rz. 121

Tarifvertragsparteien

Fundament des Unabhängigkeitspostulats das – tatsächlich nur für die Gewerkschaftsseite nutzbar zu machende – Gegenmachtsprinzip anzuführen. Anders als das Kriterium der sozialen Mächtigkeit besagt das bloße Unabhängigkeitspostulat über die Durchsetzungsfähigkeit der Koalition und damit die wirkungsvolle Begründung von „Gegenmacht“ nämlich nicht viel: Es beinhaltet lediglich einen Mindeststandard und eine notwendige Voraussetzung für den Abschluss eines vollwertigen Vertrages. Für die dem Vertrag innewohnende Richtigkeitsgewähr (s. Rz. 56), die an das Gegenmachtsprinzip anknüpft, ist es ohne echte Aussagekraft. 121

Mit Blick darauf, dass der einzelne verbandsangehörige Arbeitgeber stets die Alternative einer eigenständigen Tarifpolitik hat, können allenfalls die Anforderungen an die Unabhängigkeit graduell weiter abgesenkt werden. Allerdings wurde bereits bei Arbeitnehmerkoalitionen gezeigt (s. Rz. 50), dass das Unabhängigkeitspostulat nur einen Minimalstandard kennzeichnen kann; die wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite stehen auch dort der Eröffnung des Koalitionsbegriffs nicht entgegen. Dass die Abhängigkeit des einzelnen Arbeitnehmers von seinem Arbeitgeber ein besonderes Unabhängigkeitserfordernis bei kollektiven Vereinigungen von Arbeitnehmern erfordert1, ist zwar ein richtiger Gedanke, angesprochen wird damit jedoch auch wieder das Gegenmachtsprinzip. Die persönliche und regelmäßig auch wirtschaftliche Abhängigkeit des Arbeitnehmers von seinem Arbeitgeber kann wirksam nur durch eine sozial mächtige Arbeitnehmerkoalition ausgeglichen werden, so dass auch dieser Aspekt ausschließlich für das Mächtigkeitskriterium nutzbar gemacht werden kann. Seine Rechtfertigung findet das Unabhängigkeitspostulat mithin nicht im Gegenmachtsprinzip, sondern in der Normwirkung des TVes und der daraus folgenden unmittelbaren Betroffenheit fremder Interessensphären durch den Vertragsschluss.

dd) Tarifwilligkeit 122

Problematisch ist, inwieweit die Arbeitgeberkoalition nach ihrer satzungsautonomen Zwecksetzung die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen gerade durch den Abschluss von TVen anstreben muss. Hat es der Arbeitgeberverband also in der Hand, durch entsprechende Ausgestaltung der Satzung den tarifpolitischen Wirkungskreis aus seinem Aufgabenspektrum auszuklammern? Bejaht man dies, findet damit die gewollte Tarifunfähigkeit Anerkennung; die Tariffähigkeit hinge auch auf Seiten eines Arbeitgeberverbandes letztlich von seiner Tarifwilligkeit ab (s. für Gewerkschaften Rz. 53).

123

Entsprechend der durch Art. 9 Abs. 3 GG vorbehaltlos gewährleisteten Satzungsautonomie steht es auch Arbeitgeberverbänden frei, die Entscheidung, inwieweit von dem durch Art. 9 Abs. 3 GG verbürgten Freiheitsrecht Gebrauch gemacht werden soll, autonom zu treffen. Insbesondere kann der Arbeitgeberverband somit in seiner Satzung den Wirkungskreis auf ein Tätigwerden außerhalb tarifpolitischer Zwecksetzungen beschränken. Auch bei einem Arbeit1 So Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 116.

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Tariffähigkeit

Rz. 125 Teil 2

geberverband ist folglich die Tariffähigkeit von der satzungsautonom artikulierten Tarifwilligkeit abhängig1. Will ein Zusammenschluss von Arbeitgebern von der durch Art. 9 Abs. 3 GG verbürgten Tarifautonomie keinen Gebrauch machen, ist es grundrechtsdogmatisch nicht begründbar, ihm diese Kompetenz rechtlich aufzuzwingen. Da die Satzungsautonomie auch die jederzeitige autonome Satzungsänderung umfasst, kann sich ein bestehender Arbeitgeberverband, der zunächst tarifwillig war, nachträglich durch Satzungsänderung für tarifunwillig erklären. Mit diesem von Art. 9 Abs. 3 GG vorbehaltlos geschützten Gestaltungsakt entfällt auch die Tariffähigkeit2. Diese Freiheit stößt erst dann an ihre Grenzen, wenn sie zu unzuträglichen Konsequenzen für die Tarifautonomie führt und dadurch eine grundrechtsimmanente Schranke der Satzungsautonomie, die Funktionsfähigkeit des TVSystems3, aktiviert wird. Wird die Tarifunwilligkeit durch Satzungsänderung gezielt herbeigeführt, um die Auswirkungen eines bereits vereinbarten Tarifabschlusses von den eigenen Mitgliedern abzuwenden, liegt darin ein missbräuchlicher Einsatz der Satzungsautonomie zu tarifpolitischen Zwecken. Diese vor allem in der Zeit der Weimarer Republik praktizierte Flucht in die gewollte Tarifunfähigkeit entzieht daher dem getätigten Tarifabschluss nicht die Geltungsgrundlage. Vielmehr tritt die Tarifunwilligkeit und damit der Verlust der Tariffähigkeit auf Arbeitgeberverbandsseite erst mit Ablauf des abgeschlossenen TVes ein, so dass dessen Geltungsgrundlage nicht berührt wird. Die Gegenauffassung, wonach der nachträgliche Verzicht auf die Tariffähigkeit bei Arbeitgebervereinigungen nur dadurch möglich sei, dass die Vereinigung generell die Interessenvertretung der Mitglieder auf dem Gebiet der Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen aufgebe4, ist mit Art. 9 Abs. 3 GG nicht vereinbar. Verkannt wird, dass Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen auch ohne Rückgriff auf das spezifische Mittel der Tarifnormsetzung gewahrt und gefördert werden können, so dass im Interesse eines grundrechtsfreundlichen Schutzbereichsverständnisses der Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG auch für derartige Koalitionen eröffnet ist, die die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen auf anderen Gebieten als der Tarifpolitik wahren und fördern wollen5.

124

ee) Kein Mächtigkeitserfordernis Nicht vorauszusetzen ist bei Arbeitgeberverbänden das im Gegenmachtsprinzip wurzelnde Kriterium der sozialen Mächtigkeit. Eine besondere Durchsetzungskraft muss der Arbeitgeberverband nicht aufweisen6. Die Gegenauffassung7 verkennt, dass § 2 Abs. 1 TVG bereits einzelnen Arbeitgebern unab1 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 364 ff. 2 So BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 111/08, NZA 2010, 105, Rz. 34; a.A. Kempen/Zachert/ Stein, § 2 TVG Rz. 103. 3 Dazu Wank, FS SOKA Bau, S. 141 ff. 4 Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 103. 5 A.A. – Schutz solcher Verbände nur nach Art. 9 Abs. 1 GG – Gamillscheg, S. 528. 6 So zutr. BAG v. 20.11.1990 – 1 ABR 62/89, NZA 1991, 428; Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 116; Gamillscheg, S. 438 f. 7 ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 67; MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 164 Rz. 10 ff.; Hanau, NZA 2003, 128 f.; Gitter, FS Kissel, S. 265 ff.

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Teil 2 Rz. 126

Tarifvertragsparteien

hängig von ihrer sozialen Mächtigkeit und wirtschaftlichen Stärke die Tariffähigkeit zuspricht (s. Rz. 96). Weshalb dann einem Zusammenschluss tariffähiger Arbeitgeber die Tariffähigkeit wegen mangelnder Durchsetzungsstärke versagt werden sollte, ist nicht begründbar. 126

Auch ein dies legitimierendes Schutzbedürfnis besteht nicht: Nach hier vertretener Auffassung (s. Rz. 123) hat der Arbeitgeberverband es in der Hand, durch satzungsautonome Beschränkung des eigenen Wirkungskreises die Tariffähigkeit für die Zukunft entfallen zu lassen (gewillkürte Tarifunfähigkeit; Tarifunwilligkeit).

127

Anderes folgt auch nicht aus dem gemeinsamen Protokoll über die Leitsätze des Staatsvertrages vom 18.5.19901. Dort wird der Staatsvertrag zur Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwar dahingehend interpretiert, dass der Wille, „durch Ausüben von Druck auf den Tarifpartner zu einem Tarifabschluss zu kommen“ und die dahingehende Druckentfaltungsfähigkeit Wesensmerkmale „tariffähige(r) Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände“ seien. Angesichts des begrenzten Regelungsgegenstandes dieses Staatsvertrages ist jedoch keine Intention des Gesetzgebers ersichtlich, das TV-Recht dort neu mit konstitutiver Wirkung regeln zu wollen. Dem Leitsätzeprotokoll kommt nicht der Rang eines materiellen Gesetzes zu2. Vielmehr war seine Intention, den geltenden Rechtszustand in der Bundesrepublik Deutschland vor der Wiedervereinigung zu beschreiben und die Erstreckung dieses vorgefundenen Rechtszustandes auf das Beitrittsgebiet sicherzustellen. Erfasste der Gesetzgeber somit die Rechtsprechung zur Tariffähigkeit unzutreffend, handelt es sich eher um eine Falschbezeichnung durch den Gesetzgeber als eine verbindliche Gestaltungsentscheidung. Auffassungen, die hieraus weitergehende Schlüsse für das heute geltende Tarifrecht ziehen3, verkennen diesen Umstand und überdies auch den begrenzten Regelungsgegenstand des Staatsvertrages: Dieser ist auf den Beitrittsprozess und die Rechtsangleichung auf dem Gebiet der ehemaligen DDR bezogen und hat sich durch den historischen Ablauf, insbesondere die erfolgte Wiedervereinigung und die damit eingetretene Rechtsangleichung, gegenständlich erledigt4.

128

Keine Frage der Tariffähigkeit eines Arbeitgeberverbandes, sondern eine Frage der Tarifbindung (§ 3 Abs. 1 TVG) ist die satzungsautonome Eröffnung von Mitgliedschaften ohne Tarifbindung („OT-Mitgliedschaft“). Siehe dazu ausführlich Rz. 148 ff.

1 BGBl. II, 518, 537, 545. 2 Zutr. BAG v. 6.6.2000 – 1 ABR 21/99, NZA 2001, 156, Rz. 34; BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 66; BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 27. 3 Z.B. Richardi, § 2 BetrVG Rz. 39; Gitter, FS Kissel, S. 268 ff.; Schrader, NZA 2001, 1337; Kissel, NZA 1990, 545 (549 f.). 4 Zutr. Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 14; Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 113; Henssler, S. 14 f.; HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 1; differenzierend Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 204, der den Staatsvertrag als Grundlage einer (historischen) Auslegung heranzieht.

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Tariffähigkeit

Rz. 131 Teil 2

c) Weitere tariffähige Akteure auf Arbeitgeberseite § 2 Abs. 3 TVG statuiert die Tariffähigkeit von Spitzenorganisationen der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände (s. Rz. 192 ff.).

129

Der Gesetzgeber hat darüber hinaus speziell auf Arbeitgeberseite weiteren Akteuren die Tariffähigkeit verliehen, die den Koalitionsbegriff des Art. 9 Abs. 3 GG nicht erfüllen. Zu nennen sind insofern Innungen und Innungsverbände1. Bei diesen handelt es sich um Körperschaften des öffentlichen Rechts, § 53 Satz 1 HandwerksO. Es fehlt ihnen mithin an der von Art. 9 Abs. 3 GG für den Koalitionsbegriff vorausgesetzten privatrechtlichen Grundlage. Gleichwohl wird ihnen durch das Gesetz (§§ 54 Abs. 3 Nr. 1, 82 Nr. 3, 85 Abs. 2 i.V.m. 82 Nr. 3 HandwerksO) die Tariffähigkeit verliehen. Auf Basis der damals vorherrschenden Delegationstheorie hatte das BVerfG insofern keine Bedenken2, da der Gesetzgeber berechtigt sei, „jedenfalls auf Seite der Arbeitgeber“ die Tariffähigkeit auf andere Organisationen als die von Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Verbände auszudehnen. Die Möglichkeit, Arbeitgeberverbände zu schaffen, sei dadurch auch im Bereich des Handwerks nicht beeinträchtigt. Angesichts des bestehenden faktischen Zwangs zum Innungsbeitritt ist dies nicht unbedenklich3, auch wenn das Gesetz heute keine Zwangsmitgliedschaft mehr begründet4.

130

Im Interesse einer pragmatischen Effektuierung der Tarifnormsetzung im Bereich des Handwerks mag diese Ausgestaltungsentscheidung des Gesetzgebers (noch) vertretbar sein. Der öffentlich-rechtliche Charakter der Innungen steht jedoch in einem erheblichen Spannungsverhältnis zur Staatsferne der institutionellen Gewährleistung der Tarifautonomie. Im Übrigen hängt die verfassungsrechtliche Bewertung massiv von der dogmatischen Herleitung der Tarifnormsetzungsmacht ab und lässt sich nur auf Basis eines auch delegatorischen Begründungsansatzes untermauern. Die Verleihung der Tariffähigkeit an Handwerksinnungen ist ein weiteres deutliches Indiz dafür, dass eine reine Legitimationstheorie als Erklärungsmuster für das geltende TV-Recht nicht trägt5. Insofern wäre jede Schaffung weiterer tariffähiger Akteure durch Gesetz – auch unter dem Gesichtspunkt der drohenden Aushöhlung der verfassungsrechtlich geschützten Koalitionsfreiheit durch konkurrierende Akteure6 – fragwürdig und stünde in einem Spannungsverhältnis zur grundrechtlich „staatsfern“ konzipierten Tarifautonomie.

131

1 Vgl. BAG v. 6.5.2003 – 1 AZR 241/02, NZA 2004, 562. Unrichtig ist insofern das Diktum des BAG (14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 64), die Aufzählung in § 2 Abs. 1 TVG sei „abschließend“. 2 BVerfG v. 19.10.1966 – 1 BvL 24/65, BB 1966, 1267. 3 Vgl. auch BVerfG v. 19.10.1966 – 1 BvL 24/65, BB 1966, 1267. 4 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 289. 5 S. allgemein Greiner, Rechtsfragen, S. 99 ff. 6 BVerfG v. 19.10.1966 – 1 BvL 24/65, NJW 1966, 2305; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 32.

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Teil 2 Rz. 132 132

Tarifvertragsparteien

Nicht tariffähig sind Kreishandwerkerschaften (§§ 86 ff. HandwO) sowie Handwerkskammern (§§ 90 ff. HandwO)1. Die Bundesrepublik Deutschland ist TVPartei auf Arbeitgeberseite hinsichtlich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen derjenigen Arbeitnehmer, die auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland bei NATO-Truppen beschäftigt sind2. Die umstrittene Tariffähigkeit der Lotsenbrüderschaften und Bundeslotsenkammern3 wird überwiegend verneint4.

4. Folgen des Entfalls der Tariffähigkeit a) Tatbestandliche Voraussetzungen 133

Die Tariffähigkeit von Koalitionen entfällt im Prinzip durch die Auflösung der Koalition5. Ebenso kommt der Verzicht auf die Tariffähigkeit in Betracht (gewollte Tarifunfähigkeit, Tarifunwilligkeit; s. Rz. 53 f., 123). Ferner entfällt die Tariffähigkeit, wenn die rechtlichen Voraussetzungen der Tariffähigkeit nicht mehr gegeben sind, z.B. die hinreichende Durchsetzungskraft (s. Rz. 55 ff.) der Gewerkschaft nicht mehr gegeben ist6.

134

Ist der einzelne Arbeitgeber TV-Partei, führt die Einstellung der Betriebstätigkeit und Liquidation des Unternehmens zum Entfall der Tariffähigkeit. Auch das Unternehmen in Liquidation bleibt freilich an die TVe gebunden. Ein TV endet erst dann, wenn das letzte Arbeitsverhältnis im Unternehmen beendet ist und mithin der TV gegenstandslos geworden ist7. Auch der Insolvenzverwalter bleibt an die geschlossenen FirmenTVe gebunden8. Bei Gesamtrechtsnachfolge (Verschmelzung gemäß § 20 UmwG, Erbfall) tritt keine Beendigung der Tariffähigkeit ein, vielmehr tritt der Rechtsnachfolger in die Parteistellung bei FirmenTVen und damit auch in die Tariffähigkeit ein9. Für den Fall der Verschmelzung folgt dies bereits aus § 20 Abs. 1 Nr. 1 UmwG. Besondere Probleme ergeben sich im Fall der Unternehmensspaltung (vgl. Teil 15 Rz. 193 ff.). Nicht zum Entfall der Tariffähigkeit führen Verbandsaustritt, Herauswachsen aus dem Geltungsbereich des geltenden TVes oder Betriebsübergang (zu den dann eintretenden Rechtsfolgen s. Rz. 237; Teil 6 Rz. 61 ff.; Teil 15 Rz. 7 ff., 16 ff.).

1 Vgl. BAG v. 10.12.1960 – 2 AZR 490/59, BB 1961, 179; BAG v. 27.1.1961 – 1 AZR 311/59, RdA 1961, 179; zutr. Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 126; weiterhin Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 293. 2 So das NATO-Truppenstatut v. 30.3.1955, BGBl. II, 405; Zusatzabkommen v. 3.8.1959, BGBl. II 1961, 1218 und Zusatzabkommen v. 21.10.1971, BGBl. II 1972, 1022, weiterhin Abkommen v. 28.9.1994 BGBl. II 1994, 2598; dazu näher Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 132. 3 Vgl. Gesetz über das Seelotsenwesen v. 13.10.1954, BGBl. II, 1035. 4 Dazu Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 128; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 294. 5 Für Gewerkschaften BAG v. 25.9.1990 – 3 AZR 266/89, NZA 1991, 314. 6 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 34; ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 17. 7 Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 146. 8 BAG v. 27.6.2000 – 1 ABR 31/99, NZA 2001, 33. 9 Für den Tod des Arbeitgebers so ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 26; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 375; Koberski/Clasen/Menzel, § 2 TVG Rz. 101.

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Tariffähigkeit

Rz. 137 Teil 2

b) Rechtsfolgen Problematisch ist, welche Rechtsfolgen beim Verlust der Tariffähigkeit eines Verbandes eintreten. Eine gesetzliche Regelung besteht dazu nicht. Unstreitig entfällt die Fähigkeit zum Abschluss neuer TVe bereits während des vereinsrechtlichen Liquidationsstadiums, es sei denn es handelt sich um Aufhebungsverträge zur Beendigung zuvor geschlossener TVe1.

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Im Insolvenzfall ist Ausgangspunkt der Betrachtung, dass mit dem Eröffnungsbeschluss die – jedenfalls bei Arbeitgeberverbänden regelmäßig gegebene (s. Rz. 3) – Rechtsfähigkeit des Vereins erlischt, § 42 BGB. Jedoch erlöschen dadurch noch nicht die in die Welt gesetzten Verträge2. Als Liquidationsverein besteht der Verein fort (§ 49 Abs. 2 BGB analog). Zu den im Abwicklungsstadium zu liquidierenden Rechtsverhältnissen gehören auch die abgeschlossenen TVe. Im Rahmen der Liquidation kann ein geltender TV durch den Insolvenzverwalter gekündigt werden, sofern die Kündigungsvoraussetzungen gegeben sind. Wichtig ist hervorzuheben, dass der Eröffnungsbeschluss die Tarifbindung nicht entfallen lässt. Vielmehr besteht die mitgliedschaftliche Bindung an die TVe des Verbandes fort. Erst mit Kündigung endet die Bindung. Daran schließt sich die Nachwirkung an, § 4 Abs. 5 TVG. Der Rekurs des BAG3 auf die Nachbindung (§ 3 Abs. 3 TVG) hat zu dem Fehlschluss verleitet, es handele sich bei der während des Insolvenzverfahrens fortbestehenden Bindung um eine Nachbindung4. Zutreffend ist hingegen, dass es sich um die „normale“ mitgliedschaftliche Bindung gemäß § 3 Abs. 1 TVG handelt5.

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Bei einem autonom veranlassten Auflösungsbeschluss – außerhalb einer Insolvenz – hat das BAG früher vertreten, dass bereits damit der TV beendet werde6. Der TV wirke mit dem Wirksamwerden des Auflösungsbeschlusses nur noch nach (§ 4 Abs. 5 TVG)7. Begründet wurde dies damit, dass das Liquidationsstadium nur der vermögensrechtlichen Abwicklung des Vereines diene, nicht hingegen der weiteren Durchführung von TVen8. Der genaue Zeitpunkt, zu dem die Beendigungswirkung eintreten sollte, blieb dabei unklar9. Mit Recht wurde dies von Teilen der Literatur kritisch bewertet10. Bei Lichte betrachtet gilt im

137

1 Statt aller Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 41. 2 Vgl. BVerfG v. 18.7.1967 – 2 B vH 1/63, BVerfGE 22, 221 (231) „Coburg“ für einen Staatsvertrag; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 35. 3 BAG v. 27.6.2000 – 1 ABR 31/99, NZA 2001, 334. 4 Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 155. 5 Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 140. 6 BAG v. 11.11.1970 – 4 AZR 522/69, DB 1971, 483; BAG v. 15.10.1986 – 4 AZR 289/85, NZA 1987, 246; BAG v. 28.5.1997 – 4 AZR 546/95, NZA 1998, 40. 7 So BAG v. 15.10.1986 – 4 AZR 289/85, NZA 1987, 246; BAG v. 28.5.1997 – 4 AZR 546/95, NZA 1998, 40; a.A. (sofortiger Entfall jeder Tarifwirkung) Heinze, ZfA 2001, 159 (170). 8 Vgl. nur Koberski/Clasen/Menzel, § 2 TVG Rz. 100a; Richardi, Kollektivgewalt, S. 220. 9 Vgl. Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 36 m.w.N. 10 So Peter, FS Däubler, S. 489 ff.; Wiedemann, Anm. AP Nr. 4 zu § 3 TVG; Buchner, AR Blattei Tarifvertrag III Entscheidung Nr. 4; Reuter, JuS 1987, 666; der Rspr. zust. aber Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 68 ff.; ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 18; Heinze, ZfA

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Teil 2 Rz. 138

Tarifvertragsparteien

Fall des autonom veranlassten Auflösungsbeschlusses nichts anderes als im Fall der Insolvenz. Auch hier tritt der Verband in ein Liquidationsstadium ein, das der Abwicklung aller bestehenden Rechtsbeziehungen dient, nicht allein der vermögensrechtlichen1. Nicht ersichtlich ist, weshalb den von dem Verein geschlossenen Verträgen dadurch die Grundlage entzogen werden sollte2. Die Liquidatoren können von Kündigungsrechten Gebrauch machen, sofern diese tarifrechtlich bestehen. Erst mit ausgesprochener Kündigung treten die Tarifnormen in das Nachwirkungsstadium ein. Die mitgliedschaftliche Bindung nach § 3 Abs. 1 TVG wird auch in diesem Liquidationsstadium fortgeschrieben. Zutreffend ist der Hinweis, dass es wertungsmäßig ein vergleichbarer Vorgang ist, ob die Mitglieder nach und nach austreten, zugleich austreten oder einen Auflösungsbeschluss treffen3. Insbesondere der Rechtsgedanke des § 3 Abs. 3 TVG gebietet somit, die volle Tarifbindung auch bei Verbandsauflösung aufrecht zu erhalten. Der Grundsatz pacta sunt servanda gebietet es, die mitgliedschaftliche Bindung an den – in Ausübung kollektiver Privatautonomie geschlossenen – TV fortzuschreiben. 138

Dieser Position hat sich auch das BAG mit Urteil vom 23.1.20084 angeschlossen. Die Tarifgebundenheit eines Verbandsmitgliedes endet demnach generell nicht ohne weiteres allein dadurch, dass der Verband sich auflöst. Die bestehenden TVe treten mit Verbandsauflösung nicht in den Zustand der Nachwirkung, sondern gelten zunächst vollwirksam weiter. Seine frühere Rechtsprechung5 gibt das BAG ausdrücklich auf. Nach Auflösung eines Verbandes bestünden weiterhin die gegebenen Möglichkeiten der Beendigung der TVe, z.B. durch Befristung oder Kündigung. Die Rechtsfähigkeit des Vereins sei bis zur Auflösung gegeben und bestehe im Anschluss bis zur Beendigung der Liquidation fort (§ 49 Abs. 2 BGB), soweit es der Liquidationszweck erfordere. Nicht begründbar sei die früher vorherrschende Position, dass der interne Auflösungsbeschluss im Außenverhältnis die Wirkung einer fristlosen Kündigung des TVes habe.

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Auch hier handelt es sich um die unveränderte mitgliedschaftliche Bindung nach § 3 Abs. 1 TVG. Da die Mitgliedschaft nicht sofort, sondern erst mit dem individuell erklärten Austritt aus dem Liquidationsverein endet, erfolgt mit dem Auflösungsbeschluss kein Übergang zur Nachbindung (§ 3 Abs. 3 TVG)6. In der Entscheidung vom 23.1.2008 entnimmt das BAG zwar § 3 Abs. 3 TVG und § 4 Abs. 5 TVG die den „Tarifverträgen zukommende Funktion, als Rege-

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2001, 159 (169 f.); Richardi, Kollektivgewalt, S. 219; Koberski/Clasen/Menzel, § 2 TVG Rz. 100; Bergerhoff, Tarifflucht durch Auflösung des Arbeitgeberverbandes?, S. 212 ff. Zutr. Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 40. Zutr. Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 38; Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 142; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 60; Buchner, RdA 1997, 259 (263 f.). Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 142; ähnlich Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 40. BAG v. 23.1.2008 – 4 AZR 312/01, NZA 2008, 771. BAG v. 15.10.1986 – 4 AZR 289/85, NZA 1987, 246; BAG v. 28.5.1997 – 4 AZR 545/95, AP Nr. 27 zu § 4 TVG Nachwirkung; s. Rz. 137. Zutr. Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 40; a.A. Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 60.

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Tariffähigkeit

Rz. 142 Teil 2

lungs- und Ordnungssystem die Arbeitsverhältnisse nachhaltig zu gestalten“. Mit diesem Rekurs auf §§ 3 Abs. 3, 4 Abs. 5 TVG ist aber nicht gemeint, dass lediglich eine Nachbindung oder Nachwirkung einträte; das BAG argumentiert lediglich mit dem in diesen Vorschriften exemplarisch zum Ausdruck gebrachten allgemeinen Rechtsgedanken, dass TVe eine auch bei Veränderungen der verbandlichen und mitgliedschaftlichen Voraussetzungen funktionsfähig bleibende Ordnung begründen sollen. In Verallgemeinerung dieser Erwägungen begründet der Wegfall der Tariffähigkeitsvoraussetzungen auf einer Seite des geschlossenen TVes nicht ohne weiteres ein außerordentliches Kündigungsrecht, und zwar weder für die davon betroffene Partei noch für das tarifvertragliche Gegenüber. Ein außerordentliches Kündigungsrecht entsteht auch in diesen Fällen nur, wenn durch die verbandsrechtlichen Veränderungen die Geschäftsgrundlage des TVes entfallen ist1 oder das Festhalten am TV in anderer Weise unzumutbar i.S.v. § 314 BGB ist – insbesondere angesichts einer unzumutbar langen noch verbleibenden Laufzeit ohne ordentliche Kündigungsmöglichkeit2. Im Auflösungsbeschluss als solchem wird man eine Kündigungserklärung nur unter besonderen Umständen erblicken können3; es muss eine eigenständige Willensbildung über das Schicksal der TVe erkennbar werden. In jedem Fall muss die Kündigungserklärung dem Tarifpartner zugegangen sein, um wirksam zu sein (§ 130 Abs. 1 BGB)4.

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5. Verfahren zur Feststellung der Tariffähigkeit Das Verfahren zur gerichtlichen Feststellung der Tariffähigkeit bzw. Tarifunfähigkeit einer Koalition findet seine Regelung in den §§ 2a Abs. 1 Nr. 4, 97 ArbGG. Es handelt sich um ein Beschlussverfahren mit besonderem Gegenstand; gemäß § 97 Abs. 2 ArbGG finden die §§ 80–84, 87–96a ArbGG entsprechende Anwendung. Der Antrag zielt darauf ab festzustellen, inwieweit die Tariffähigkeit der Vereinigung nach den dargestellten Kriterien (s. Rz. 45 ff.; 95 ff.) gegeben ist. Es handelt sich um eine Feststellungsklage, auf die § 256 ZPO Anwendung findet5; das erforderliche Feststellungsinteresse folgt bereits aus der Antragsberechtigung6.

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Antragsberechtigt sind zum einen die oberste Arbeitsbehörde des Bundes sowie eines von der Tarifzuständigkeit erfassten Bundeslandes, also Bundes- und Landesarbeitsminister. Antragsberechtigt sind zum anderen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberkoalitionen mit zumindest teilidentischem Zuständigkeitsbereich, insbesondere also auch konkurrierende Koalitionen desselben sozialen „Lagers“. Dies hat in der Vergangenheit insbesondere DGB-Gewerkschaften veranlasst, auch die Tariffähigkeit relativ starker Konkurrenzorganisationen immer wieder gerichtlich in Zweifel zu ziehen. Eine solche Instrumentalisierung

142

1 Vgl. Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 42; Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 144; die außerordentliche Kündigung generell verneinend Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 157. 2 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 42. 3 Vgl. BAG v. 15.10.1986 – 4 AZR 289/85, NZA 1987, 246. 4 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 42. 5 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289. 6 BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 25.

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Teil 2 Rz. 143

Tarifvertragsparteien

des Verfahrens nach § 97 ArbGG zur Verhinderung legitimen Koalitionswettbewerbs scheint bedenklich1. Freilich entspricht die Antragsberechtigung geltendem Recht. Auch mit Blick auf die Wettbewerbssituation hält das BAG derartige Anträge nicht für rechtsmissbräuchlich2. 143

Die Antragsbefugnis einer konkurrierenden Gewerkschaft erfordert nicht die Betroffenheit eines anderen eigenen Rechts oder rechtlichen Interesses, sondern ergibt sich bereits aus § 97 Abs. 1 ArbGG selbst3. Für die Antragsberechtigung genügt es, dass der räumliche und sachliche Zuständigkeitsbereich der antragstellenden Gewerkschaft zumindest teilweise mit dem Zuständigkeitsbereich der angegriffenen Vereinigung übereinstimmt4. Die antragstellende Koalition muss selbst tariffähig sein5. Ob sie in dem streitgegenständlichen Zuständigkeitsbereich selbst eine erfolgreiche Tarifpolitik betrieben hat oder betreibt, soll aus Sicht des BAG unerheblich sein, sofern sich ihre Tariffähigkeit nach den Grundsätzen der einheitlichen, unteilbaren Tariffähigkeit ergibt6.

144

Auch die Antragsbefugnis der obersten Arbeitsbehörde des Bundes oder Landes folgt aus § 97 Abs. 1 ArbGG selbst. Eine darüber hinausgehende Betroffenheit muss nicht vorliegen7. Die Antragsbefugnis der obersten Arbeitsbehörde eines Landes setzt nicht voraus, dass sich die Tätigkeit der Vereinigung auf das Gebiet des jeweiligen Bundeslandes beschränkt8. Daraus kann sich eine parallele Antragsbefugnis unterschiedlicher Landesminister und des Bundesministers ergeben.

145

In dem Verfahren nach § 97 Abs. 1 ArbGG ist der Antragsteller notwendig Beteiligter. Die weiteren Beteiligten ergeben sich aus § 83 Abs. 3 ArbGG; dieser findet gemäß § 97 Abs. 2 ArbGG entsprechende Anwendung. Entscheidend kommt es auf die unmittelbare Betroffenheit in der Rechtsstellung als Arbeitnehmer- oder Arbeitgebervereinigung an. Daher ist stets die Vereinigung beteiligt, über deren Tariffähigkeit gestritten wird. Beteiligt sind ferner die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite, soweit die Entscheidung sie berühren kann9. Aus Perspektive des BAG ist grundsätzlich die Beteiligung der jeweiligen Spitzenverbände ausreichend. Nicht zu beteiligen sind demnach z.B. einzelne Arbeitgeber, die mit der in ihrer Tariffähigkeit angegriffenen Gewerkschaft Fir1 Vgl. aber BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 52 ff. 2 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289; BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 25; BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112, Rz. 32. 3 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 47; BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112, Rz. 27. 4 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 47; BAG v. 6.6.2000 – 1 ABR 10/99, NZA 2001, 160, Rz. 16. 5 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289; BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112, Rz. 28 m.w.N. 6 BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 24. 7 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 48. 8 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 48; BAG v. 15.3.1977 – 1 ABR 16/75, DB 1977, 772, Rz. 16; ebenso GK-ArbGG/Dörner, § 97 Rz. 33; GMPM/Matthes/ Schlewing, § 97 ArbGG Rz. 18; Schwab/Weth/Walker, § 97 ArbGG Rz. 12; offengelassen bei HWK/Bepler, § 97 ArbGG Rz. 7. 9 BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 18.

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Tariffähigkeit

Rz. 147 Teil 2

menTVe abgeschlossen haben1. Auch wenn diese ein unabweisbares Interesse an der Rechtswirksamkeit der geschlossenen TVe haben, ist dieser Verengung des Beteiligtenkreises aus Gründen der Prozessökonomie und mit Blick darauf beizupflichten, dass das Verfahren nach § 97 ArbGG der objektiven Feststellung der Tariffähigkeit dient, nicht hingegen der Verteidigung von Individualinteressen. Welche Argumente einzelne Arbeitgeber vortragen könnten, um einer objektiv tarifunfähigen Gewerkschaft zur Tariffähigkeit zu verhelfen, ist nicht ersichtlich. Erstreckt sich die Zuständigkeit der Vereinigung, deren Tariffähigkeit umstritten ist, auf das Gebiet mehrerer Bundesländer, ist in dem Verfahren auch die oberste Arbeitsbehörde des Bundes beteiligt2. In dem Verfahren gilt der Amtsermittlungsgrundsatz. Sofern es auf die Darlegung der Organisationsstärke ankommt (s. Rz. 71), kann die Arbeitnehmerkoalition Mitgliederlisten in einem „Geheimverfahren“ einem Notar vorlegen, um eine Offenbarung des Mitgliederstandes vor Gericht zu vermeiden3. Gegen ein derartiges Verfahren bestehen keine durchgreifenden Bedenken.

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Von Bedeutung ist, dass § 97 Abs. 5 ArbGG die zwingende Aussetzung eines Rechtsstreits vorsieht, wenn es für die Entscheidung darauf ankommt, ob eine Vereinigung tariffähig ist. Maßgeblich ist, ob es auf die Frage der Tariffähigkeit tatsächlich ankommt, nicht hingegen, ob es auf die Tariffähigkeit möglicherweise ankommen könnte4. Diese Aussetzungsregelung erstreckt sich auf sämtliche Gerichtsbarkeiten, insbesondere auch auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit5. Die Aussetzungspflicht besteht schon bei bloßen Bedenken, etwa „allgemein bekannt gewordenen“ Zweifeln an der Tariffähigkeit6. Das aussetzende Gericht muss infolge des Amtsermittlungsgrundsatzes selbst ermitteln, ob Zweifel an der Tariffähigkeit bestehen. Es muss im Aussetzungsbeschluss die ermittelten Tatsachen darlegen. Insbesondere ist das Aussetzungsverfahren daher geboten, wenn in der Fach- oder Tagespresse valide Zweifel an der Tariffähigkeit geäußert werden7. Von besonderer Bedeutung ist das Aussetzungsverfahren, wenn es auf die Wirksamkeit eines TVes ankommt. Wird das Aussetzungsgebot des § 97 Abs. 5 ArbGG nicht beachtet, verstößt das nicht aussetzende Gericht damit in revisibler Weise gegen seine Verfahrensordnung; zugleich ist das Gebot des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) betroffen. Wirkung der Aussetzung ist nicht die automatische Initiierung des Verfahrens nach § 97 Abs. 1 ArbGG, sondern vielmehr sind die Parteien des Ausgangsverfahrens gehalten, von ihrem aus § 97 Abs. 5 Satz 2 ArbGG folgenden Recht Gebrauch zu machen, selbst einen Antrag auf Feststellung der Tarif-

147

1 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 59 f.; dazu Greiner, Gemeins. Anm. EzA § 2 TVG Nr. 30, 31, unter V 2. 2 BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 18; BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112, Rz. 19. 3 Dazu BAG v. 25.3.1992 – 7 ABR 65/90, NZA 1993, 134; Doerlich, Tariffähigkeit, S. 278 ff.; jeweils m.w.N.; Prütting/Weth, DB 1989, 2273. 4 Zutr. BAG v. 28.1.2008 – 3 AZB 30/07, NZA 2008, 489. 5 Verkannt von VG Berlin v. 7.3.2008 – 4 A 439.07, NZA 2008, 482. 6 BAG v. 28.1.2008 – 3 AZB 30/07, NZA 2008, 489. 7 Zutr. BAG v. 28.1.2008 – 3 AZB 30/07, NZA 2008, 489 („Erkenntnisse in der rechtswissenschaftlichen Literatur und sonstigen allgemeinen Quellen“).

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Teil 2

Tarifvertragsparteien

fähigkeit zu stellen, sofern nicht bereits ein Verfahren zur Feststellung der Tariffähigkeit anhängig ist1.

II. Sonderkonstellationen Literatur: Bauer, Informationsobliegenheiten bei „Blitzaustritt“ und „Blitzwechsel“, in: Festschrift Picker, 2010, S. 889; Bauer/Haußmann, Blitzaustritt und Blitzwechsel: Wirksam, aber ohne Wirkung?, RdA 2009, 99; Bauer/Rolf, „Blitzaustritt“ aus dem Arbeitgeberverband, DB 2003, 1519; Bayreuther, OT-Mitgliedschaft, Tarifzuständigkeit und Tarifbindung, BB 2007, 325; Buchner, Bestätigung der OT-Mitgliedschaft durch das BAG, NZA 2006, 1377; Buchner, Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung, NZA 1994, 2; Buchner, Verbandsmitgliedschaft ohne Tarifgebundenheit, NZA 1995, 761; Danz, Die Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband ohne Tarifbindung, 2000; Däubler, Tarifaussteig – Erscheinungsformen und Rechtsfolgen, NZA 1996, 225; Deinert, Schranken der Satzungsgestaltung beim Abstreifen der Verbandstarifbindung durch OT-Mitgliedschaften, RdA 2007, 83; Dieterich/Hanau/Henssler/Oetker/Wank/Wiedemann, Empfehlungen zur Entwicklung des Tarifvertragsrechts, RdA 2004, 65; Dymke, Tarifgemeinschaft und mehrgliedriger Tarifvertrag, 2002; Franzen, Das Ende der Tarifeinheit und die Folgen, RdA 2008, 193; Franzen, Gesetzesbindung im Tarifvertragsrecht, in: Festschrift Picker, 2010, S. 929; Glaubitz, Tariffähigkeit von Arbeitgeberverbänden mit tarifgebundenen und -ungebundenen Mitgliedern?, NZA 2003, 140; Greiner, Der GKH-Beschluss – Evolution oder (erneute) Revolution der Rechtsprechung zur Tariffähigkeit?, NZA 2011, 825; Hanxleden, Tarifgemeinschaften, 1930; Hensche, Verfassungsrechtlich bedenkliche Neujustierung des Verhältnisses zwischen Individualwille und kollektiver Ordnung, NZA 2009, 815; Henssler, Tarif- und arbeitsvertragliche Folgen der Auflösung von Arbeitgeberverbänden und Tarifgemeinschaften, in: Festschrift 25 Jahre Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht, 2006, S. 37; Höpfner, Blitzaustritt und Blitzwechsel in die OT-Mitgliedschaft, ZfA 2009, 541; Höpfner, Die unbegrenzte Nachbindung an Tarifverträge, NJW 2010, 2173; Höpfner, Normativer und schuldrechtlicher Konzerntarifvertrag – Gestaltungsformen einer konzerneinheitlichen Tarifbindung, in: Rieble/Junker/Giesen (Hrsg.), Arbeitsrecht im Konzern, 2010, S. 113; A. Hueck, Handbuch des Arbeitsrechts, 3. Buch: Das Tarifrecht, 1922; Jacobs/Krois, Anm. AP TVG § 3 Nr. 38; Jacobs/Krois, Das Zusammenspiel von Tarif- und Satzungsautonomie bei Blitzaustritt und Blitzwechsel, in: Festschrift Reuter, 2010, S. 555; Junker, Beschränkung der Tarifzuständigkeit – OTMitgliedschaft, SAE 1997, 172; Konzen, Blitzaustritt und Blitzwechsel. Vereins- und koalitionsrechtliche Aspekte der Flucht des Arbeitgebers aus dem Verbandstarif, in: Festschrift Bauer, 2010, S. 559; Krause, „Blitzaustritt“ und „Blitzwechsel“ von Arbeitgebern als Herausforderung des Tarifrechts, in: Gedächtnisschrift Zachert, 2010, S. 605; Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Band I, Allgemeiner Teil, 1987; Löwisch, Gewollte Tarifunfähigkeit im modernen Kollektivarbeitsrecht, ZfA 1974, 29; Melot de Beauregard, Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden und Tarifbindung, 2002; F. Moll, Tarifausstieg der Arbeitgeberseite: Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband „Ohne Tarifbindung“, 2000; Oetker, Die Beendigung der Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden als tarifliche Vorfrage, ZfA 1998, 41; Oetker, Die Kündigung von Tarifverträgen, RdA 1995, 82; Ostrop, Mitgliedschaft ohne Tarifbindung, 1997; S.-J. Otto, Die rechtliche Zulässigkeit einer tarifbindungsfreien Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden, NZA 1996, 624; Plander, Tarifflucht durch kurzfristig vereinbarten Verbandsaustritt?, NZA 2005, 897; Reuter, Die Mitgliedschaft ohne Tarifbindung (OT-Mitgliedschaft) im Arbeitgeberverband, RdA 1996, 201; Ricken, Autonomie und tarifliche Rechtsetzung, 2006; Rieble, „Blitzaustritt“ und tarifliche Vorbindung, RdA 2009, 280; Rieble, Der gewerkschaftshörige Arbeitgeberverband, in: Festschrift Reuter, 2010, S. 805; Rieble, Der Tarifvertrag als kollektiv-privatautonomer Vertrag, ZfA 2000, 5; Rieble, Tarifkoordinierung durch Spitzenverbände, in: 1 BAG v. 28.1.2008 – 3 AZB 30/07, NZA 2008, 489.

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Tariffähigkeit

Rz. 149 Teil 2

Festschrift Otto, 2008, S. 471; Röckl, Zulässigkeit einer Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung?, DB 1993, 2382; Schlochauer, OT-Mitgliedschaft, in: Festschrift Hromadka, 2008, S. 379; Schlochauer, OT-Mitgliedschaft in tariffähigen Arbeitgeberverbänden, in: Festschrift Schaub, 1998, S. 699; K. Schmidt, Zur „Außenhaftung der Innengesellschaft“, JuS 1988, 444; Schüren, Die Legitimation tariflicher Normsetzung, 1990; Stumpfe, Änderungen in der Verbandslandschaft – Arbeitgeber, NZA-Beilage zu Heft 24/2000, S. 1; Thüsing, Die Mitgliedschaft ohne Tarifbindung in Arbeitgeberverbänden, ZTR 1996, 481; Thüsing/Stelljes, Verbandsmitgliedschaft und Tarifgebundenheit, ZfA 2005, 527; Wiedemann, Gesellschaftsrecht, Band II, Personengesellschaftsrecht, 2006; Wiedemann/Thüsing, Die Tariffähigkeit von Spitzenorganisationen und der Verhandlungsanspruch der Tarifvertragsparteien, RdA 1995, 280; Wilhelm/Dannhorn, Die „OT-Mitgliedschaft“ – neue Tore für die Tarifflucht?, NZA 2006, 466; Willemsen/Mehrens, Die Rechtsprechung des BAG zum „Blitzaustritt“ und ihre Auswirkungen auf die Praxis, NJW 2009, 1916; Windbichler, Arbeitsrecht im Konzern, 1989; Wroblewski, Kein generelles o. k. für OT, NZA 2007, 421; Zöllner, Das Wesen der Tarifnormen, RdA 1964, 443; Zöllner, Die Rechtsnatur der Tarifnormen nach deutschem Recht, 1966; Zöllner, Tarifmacht und Außenseiter, RdA 1962, 453.

1. OT-Mitgliedschaft Die Mitgliedschaft ohne Tarifbindung (OT-Mitgliedschaft) erfreut sich wachsender Beliebtheit unter Arbeitgebern. Als der FlächenTV in den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts, insb. aufgrund des Einstiegs in die 35-StundenWoche1 und seiner nur beschränkten Flexibilität2, in eine Krise geriet, war die Folge eine „Flucht“ aus dem Arbeitgeberverband. Viele Verbände reagierten darauf mit der Möglichkeit einer OT-Mitgliedschaft als Alternative zum Verbandsaustritt3. Damit ermöglichen sie ihren Mitgliedern, sich der Bindung an die VerbandsTVe zu entledigen, ohne zugleich auf die Leistungen des Verbandes (juristische Beratung, gerichtliche Vertretung etc.) verzichten zu müssen. Die OT-Mitgliedschaft schwächt zwar das tarifpolitische Gewicht des Verbandes. Sie sichert ihm aber das Mitglied zumindest als Beitragszahler und gewährleistet, dass die Verankerung des Verbandes im Unternehmen nicht vollständig verloren geht.

148

Die Erosion des FlächenTVes hält bis heute an. In der Privatwirtschaft wurde im Jahr 2007 nur noch etwa die Hälfte der Beschäftigten (West: 52 %; Ost: 33 %) von VerbandsTVen erfasst4. Im Gegenzug hat sich die Zahl der Unternehmen, die einen FirmenTV abgeschlossen haben, von 1990 bis 2009 mehr als verdreifacht5. Auch die Zahl der OT-Mitglieder wächst kontinuierlich an. Während bei Gesamtmetall die Zahl der tarifgebundenen Mitglieder von 4 425

149

1 Buchner, NZA 1994, 2; Schlochauer, FS Hromadka, S. 379 (380). 2 Vgl. Dieterich/Hanau/Henssler/Oetker/Wank/Wiedemann, RdA 2004, 65 (66 f.). 3 Zur Diskussion auf Arbeitgeberseite Stumpfe, NZA-Beil. 24/2000, 1; vgl. ferner Röckl, DB 1993, 2382; Buchner, NZA 1994, 2; Buchner, NZA 1995, 761; Däubler, NZA 1996, 225; S.-J. Otto, NZA 1996, 624; Thüsing, ZTR 1996, 481; Reuter, RdA 1996, 201; Junker, SAE 1997, 172; Schlochauer, FS Schaub, S. 699. 4 Vgl. IAB-Kurzbericht 16/2008, S. 1, abrufbar unter: http://doku.iab.de/kurzber/ 2008/kb1608.pdf (Stand: 27.3.2012). 5 Vgl. WSI-Tarifhandbuch 2010, S. 116 (1990: rd. 3 150 Unternehmen; 2009: 9 561 Unternehmen). Von den 72 797 gültigen TVen am Jahresende 2009 sind 36 224, also rund die Hälfte, FirmenTVe (a.a.O., S. 110).

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Teil 2 Rz. 150

Tarifvertragsparteien

auf 3 900 im Zeitraum von 2005 bis 2011 gesunken ist, kann in demselben Zeitraum bei den OT-Mitgliedern ein Anstieg von 63 % von 1 514 auf heute 2 400 Mitglieder verzeichnet werden1. Auch wenn tragfähige branchenübergreifende Statistiken zur Mitgliederentwicklung in den Verbänden fehlen, erlauben die Zahlen in der Metallbranche zumindest einen vorsichtigen Rückschluss auf die Gesamtentwicklung. 150

Die OT-Mitgliedschaft hat ihre wesentliche praktische Bedeutung für Arbeitgeber, die aus der Tarifbindung „flüchten“ wollen, ohne auf die Vorteile der Verbandsmitgliedschaft zu verzichten. Aber auch bei Gewerkschaften sind OT-Mitgliedschaften seit langem üblich. Ihre Zulässigkeit ist nie bestritten worden2. So haben etwa ver.di sowie die im „dbb beamtenbund und tarifunion“ zusammengeschlossenen Gewerkschaften beamtete Mitglieder, für die sie TVe von vornherein nicht abschließen können3. Darüber hinaus können auch Rentner, Freiberufler oder Sympathisanten zu den OT-Mitgliedern gezählt werden, sofern die Gewerkschaft keine TVe mit Wirkung für diese Gruppen schließen kann oder will4.

a) OT-Mitgliedschaft im Aufteilungs- und Stufenmodell 151

Verbände können OT-Mitgliedschaften auf zwei verschiedenen Wegen einführen: Beim sog. Aufteilungsmodell existieren zwei getrennte Arbeitgeberverbände, von denen nur einer tariffähig ist, der andere sich dagegen auf Dienstleistungen gegenüber seinen Mitgliedern und die Interessenvertretung nach außen beschränkt. Die organisatorische Trennung der Verbände erfolgt entweder durch die Spaltung eines bestehenden tariffähigen Verbandes, durch Gründung eines zweiten Verbandes ohne Tariffähigkeit und anschließenden Austritt und Neueintritt der Mitglieder oder durch Gründung eines tariffähigen Verbandes, der an die Stelle des bisherigen Verbandes tritt5. Im Ergebnis besteht neben dem tariffähigen Verband ein zweiter, rechtlich selbständiger Verband, der zwar ebenfalls als Koalition unter dem Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG steht, der aber mangels Tarifwilligkeit keine TV-Partei gemäß § 2 Abs. 1 TVG ist6. Die rechtliche Zulässigkeit des Aufteilungsmodells steht seit jeher außer Frage7. Die praktische Umsetzung wirft jedoch nicht unerhebliche Probleme auf. So 1 Daten nach Schlochauer, FS Hromadka, S. 379 (381) sowie der Internetpräsenz von Gesamtmetall, abrufbar unter: http://www.gesamtmetall.de/gesamtmetall/meonline.nsf/ id/DE_Verband (Stand: 27.3.2012). 2 Vgl. BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (1369); Thüsing, ZTR 1996, 481 (483); Schlochauer, FS Schaub, S. 699 (701 f.); Schlochauer, FS Hromadka, S. 379 (380); Wilhelm/Dannhorn, NZA 2006, 466 (470). 3 Vgl. ausdrücklich § 63 der Satzung von ver.di v. 29./30.9.2009. 4 BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (1369); a.A. Hensche, NZA 2009, 815 (816). 5 Ostrop, S. 78; Schlochauer, FS Schaub, S. 699 (702). 6 Vgl. Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 25; HWK/Hergenröder, Art. 9 GG Rz. 57; Bayreuther, Tarifautonomie, S. 399 f.; Besgen, S. 30 ff.; Buchner, NZA 1994, 2 (10); Löwisch, ZfA 1974, 29 (33); a.A. Danz, S. 165 ff.; Däubler, NZA 1996, 225 (231). 7 Vgl. nur Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 22; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 3; Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 119 f.; Ostrop, S. 145.

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Tariffähigkeit

Rz. 153 Teil 2

ist für die Begründung der Mitgliedschaft im neuen Verband eine Beitrittserklärung aller Mitglieder erforderlich, die erfahrungsgemäß nicht ohne Schwierigkeiten beizubringen ist1. Des Weiteren erfordern zwei parallel bestehende Verbände doppelte Verwaltungsstrukturen und sorgen so für erhöhten organisatorischen und finanziellen Aufwand. Aus diesem Grunde bevorzugen viele Arbeitgeberverbände das sog. Stufenmodell. Danach gibt es nur einen Verband, der neben einer Mitgliedschaft mit Tarifbindung (Voll- oder T-Mitgliedschaft) eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung (OT-Mitgliedschaft) vorsieht2. Die Satzung räumt den Mitgliedern ein Wahlrecht über die Art ihrer Mitgliedschaft ein. Vereinsrechtlich sind OT-Mitglieder „echte“ Mitglieder des Verbandes (vgl. Rz. 24). Sie werden jedoch von der Bindung an VerbandsTVe nicht erfasst. Zudem nehmen sie grundsätzlich nicht an den tarifpolitischen Aktivitäten des Verbandes teil.

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b) OT-Mitgliedschaft und Gastmitgliedschaft Von der OT-Mitgliedschaft zu unterscheiden ist die Gast- oder Fördermitgliedschaft. Als „außerordentliche Mitglieder“3 nehmen Gastmitglieder üblicherweise nicht an den verbandsinternen Entscheidungsprozessen teil. Sie haben zwar ein in der vereinsrechtlichen Mitgliedschaft4 wurzelndes, unabdingbares Recht auf Teilnahme an der Mitgliederversammlung5. Gastmitglieder sind aber nach den meisten Verbandssatzungen nicht stimmberechtigt, können selbst keine Verbandsfunktion wahrnehmen und haben oft kein Recht auf juristische Beratung und gerichtliche Vertretung durch den Verband6. Darin unterscheiden sie sich von OT-Mitgliedern, deren im Grundsatz volles Teilhabe- und Stimmrecht nur in tarif- und arbeitskampfpolitischen Angelegenheiten beschränkt ist. Aus Sicht des Tarifrechts besteht aber ein weitgehender Gleichlauf von OT- und Gastmitgliedschaft: Beide Arten der Mitgliedschaft begründen keine Tarifbindung des Mitgliedes. Gastmitglieder ohne Stimmrecht in der Mitgliederversammlung legitimieren den Verband nicht dazu, Tarifnormen mit Wirkung für sie selbst zu setzen7. Tarifrechtlich sind sie keine Mitglieder i.S.d. § 3 Abs. 1 TVG8. Nur wenn ein Gastmitglied nach der Verbandssatzung 1 2 3 4

5 6 7 8

Vgl. Buchner, NZA 1994, 2 (9). Höpfner, ZfA 2009, 541 (544). MünchKomm/Reuter, § 38 BGB Rz. 8. Unrichtig BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 285/08, NZA 2010, 230 (232 f.) sowie Deinert, RdA 2007, 83 (86), wonach Gastmitglieder „keine Mitglieder im vereinsrechtlichen Sinn“ seien; wie hier Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 6 TVG Rz. 13; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 44. Palandt/Ellenberger, § 38 BGB Rz. 2; MünchKomm/Reuter, § 38 BGB Rz. 9; Melot de Beauregard, S. 117; Ostrop, S. 40. Vgl. BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 285/08, NZA 2010, 230 (231); Wilhelm/Dannhorn, NZA 2006, 466 (467). BAG v. 16.2.1962 – 1 AZR 167/61, AP TVG § 3 Verbandszugehörigkeit Nr. 12; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 135. BAG v. 20.2.1986 – 6 AZR 236/84, SAE 1987, 107; BAG v. 25.9.2002 – 4 AZR 294/01, NZA 2003, 807 (809); weitergehend BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 285/08, NZA 2010, 230 (232 f.).

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Teil 2 Rz. 154

Tarifvertragsparteien

ausnahmsweise einmal die Stellung eines Vollmitgliedes in allen wesentlichen Punkten (Stimmrecht, Wahlrecht etc.) haben sollte, die Gastmitgliedschaft mithin nur auf dem Papier besteht, kommt eine Tarifbindung in Betracht1.

c) OT-Mitgliedschaft als Problem der Tarifgebundenheit 154

Die Zulässigkeit der OT-Mitgliedschaft im Stufenmodell war lange heftig umstritten2, bis der 1. Senat des BAG in einer Grundsatzentscheidung die OT-Mitgliedschaft im Stufenmodell gebilligt hat3. Im Schrifttum und in der bisherigen Rechtsprechung des 4. Senats wurde die Frage der Zulässigkeit einer OT-Mitgliedschaft verbreitet als Problem der Tarifzuständigkeit gesehen4. In seinem sorgfältig begründeten Beschluss vom 18.7.2006 hat der 1. Senat sich von dieser Sichtweise gelöst und die Zulässigkeit der OT-Mitgliedschaft zutreffend zu einer Frage der Tarifgebundenheit erklärt5. Der 4. Senat hat sich der Rechtsprechung angeschlossen und sieht die OT-Mitgliedschaft nun ebenfalls als grundsätzlich zulässige Beschränkung der Tarifgebundenheit einzelner Mitglieder an6.

155

Die Tarifzuständigkeit ist eine rechtliche Eigenschaft des Verbandes. Dagegen betrifft die Tarifgebundenheit den einzelnen Arbeitgeber oder Arbeitnehmer (vgl. Teil 6 Rz. 3). Folgerichtig richtet sich die Tarifzuständigkeit als Ausdruck der kollektiven Koalitionsfreiheit nach der Satzung des jeweiligen Verbandes, währenddessen die Tarifgebundenheit als Bestandteil der individuellen Koalitionsfreiheit des Arbeitgebers oder Arbeitnehmers nach dem Modell der mitgliedschaftlichen Legitimation7 von dessen individueller Entscheidung über 1 So bereits BAG v. 16.2.1962 – 1 AZR 167/61, AP TVG § 3 Verbandszugehörigkeit Nr. 12. 2 Vgl. nur Röckl, DB 1993, 2382; Buchner, NZA 1994, 2; Buchner, NZA 1995, 761; Däubler, NZA 1996, 225; S.-J. Otto, NZA 1996, 624; Thüsing, ZTR 1996, 481; Reuter, RdA 1996, 201; Junker, SAE 1997, 172; aus jüngerer Zeit: Glaubitz, NZA 2003, 140; Buchner, NZA 2006, 1377; Thüsing/Stelljes, ZfA 2005, 527; Bayreuther, BB 2007, 325; Deinert, RdA 2007, 83; Wroblewski, NZA 2007, 421. 3 BAG 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225; zuvor bereits BAG v. 23.2.2005 – 4 AZR 186/04, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 42. 4 Grundlegend Löwisch, ZfA 1974, 29, 37; Buchner, NZA 1994, 2 (4 f.); Buchner, NZA 1995, 761 (764); vgl. ferner BAG v. 23.2.2005 – 4 AZR 186/04, NZA 2005, 1320; BAG v. 23.10.1996 – 4 AZR 409/95, NZA 1997, 383; Wiedemann/Thüsing, RdA 1995, 280 (282); Thüsing/Stelljes, ZfA 2005, 527 (561 ff.); Reuter, RdA 1996, 201 (202); Besgen, S. 84 ff.; Ostrop, S. 114 ff.; Melot de Beauregard, S. 132 f. 5 BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225 (1230 f.); zustimmend Wiedemann/ Oetker, § 2 TVG Rz. 80; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 4; Bayreuther, BB 2007, 325 (326); Buchner, NZA 2006, 1377 (1379 f.); Höpfner, ZfA 2009, 541 (545 f.); Konzen, FS Bauer, S. 559 (563); jetzt auch Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 226; im Ansatz ähnlich Wroblewski, NZA 2007, 421; generell ablehnend Hensche, NZA 2009, 815. 6 BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (1368 f.); BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 316/07, AP TVG § 3 Nr. 37; BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 111/08, NZA 2010, 105 (107); BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 294/08, NZA-RR 2010, 305 (307); BAG v. 15.12.2010 – 4 AZR 256/09, BB 2011, 357. 7 Grundlegend Zöllner, RdA 1962, 453; Zöllner, RdA 1964, 443; Zöllner, Die Rechtsnatur der Tarifnormen, S. 21 ff.; vgl. ferner Biedenkopf, S. 47 ff., 292 ff.; ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 57 ff. sowie (scharf ablehnend) Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 15 III 3.

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Rz. 157 Teil 2

Tariffähigkeit

die Mitgliedschaft in einem Verband abhängt. Dementsprechend darf die Tarifzuständigkeit nicht vom Willen des einzelnen Verbandsmitgliedes abhängen, sondern muss abschließend in der Satzung des Verbandes geregelt sein. Ansonsten wäre das Merkmal der Tarifgebundenheit, wie das BAG zu Recht hervorhebt1, weitgehend wirkungslos. Die OT-Mitgliedschaft ist durch die Verbandsautonomie und die individuelle Koalitionsfreiheit des Arbeitgebers legitimiert2. Rechtsdogmatisch handelt es sich um eine in der Verbandssatzung geregelte Form gewillkürter Tarifunwilligkeit des Verbandes3. Dem Verband steht es aufgrund seiner als Bestandteil der innerverbandlichen Organisation von Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Satzungsautonomie frei, eine Mitgliedschaft vorzusehen, die nicht die Rechtsfolgen des § 3 Abs. 1 TVG auslöst. Ein Verstoß gegen diese Rechtsnorm liegt nicht vor, da § 3 Abs. 1 TVG nur vorgibt, dass Mitglieder eines Verbandes an die von diesem abgeschlossenen TVe gebunden sind, nicht aber, wer Mitglied im Sinne des TVG ist4.

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d) Anforderungen an die Zulässigkeit der OT-Mitgliedschaft Trotz grundsätzlicher Anerkennung der OT-Mitgliedschaft stellen BAG und Schrifttum hohe Anforderungen an die satzungsmäßige Ausgestaltung der OTMitgliedschaft im Stufenmodell. Es reicht nicht aus, dass die Satzung lediglich die Tarifgebundenheit für OT-Mitglieder abbedingt. Gemäß dem Prinzip des „Gleichlaufs von Verantwortlichkeit und Betroffenheit“ ist eine klare und eindeutige Trennung der Befugnisse von Mitgliedern mit und ohne Tarifbindung erforderlich5. Nach der vom BVerfG6 gebilligten Rechtsprechung des BAG7 muss die Verbandssatzung dafür Sorge tragen, dass OT-Mitglieder auf tarifpolitische Entscheidungen nicht unmittelbar Einfluss nehmen können. Insb. dürfen sie nicht in Tarifkommissionen entsandt werden oder den Verband im Au1 BAG 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225 (1229). 2 BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225 (1230); HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 5; Bayreuther, BB 2007, 325 (326); Höpfner, ZfA 2009, 541 (546). 3 Vgl. ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 9; Thüsing/Braun/Emmert, 2. Kap. Rz. 157; Besgen, S. 19. 4 BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225 (1230); a.A. Kempen/Zachert/Stein, § 3 TVG Rz. 118. 5 BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366; BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 316/07, AP TVG § 3 Nr. 37; BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 111/08, NZA 2010, 105; BAG v. 20.5.2009 – 4 AZR 179/08, NZA 2010, 102; BAG v. 15.12.2010 – 4 AZR 256/09, BB 2011, 357; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 137; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 107 ff.; Besgen, S. 116 f.; Bayreuther, BB 2007, 325 (327); Deinert, RdA 2007, 83 (86); Höpfner, ZfA 2009, 541 (547 ff.); Jacobs/Krois, AP TVG § 3 Nr. 38; S.-J. Otto, NZA 1996, 624 (627 f.); Rieble, FS Reuter, S. 805 (821); Röckl, DB 1993, 2382 (2383 ff.); Schlochauer, FS Hromadka, S. 379 (390 ff.); Wilhelm/Dannhorn, NZA 2006, 466 (471); a.A. Thüsing/ Stelljes, ZfA 2005, 527 (551 ff.). 6 BVerfG v. 1.12.2010 – 1 BvR 2593/09, NZA 2011, 60. 7 BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366; BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 316/07, AP TVG § 3 Nr. 37; BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 111/08, NZA 2010, 105; BAG v. 20.5.2009 – 4 AZR 179/08, NZA 2010, 102; BAG v. 15.12.2010 – 4 AZR 256/09, BB 2011, 357.

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Teil 2 Rz. 158

Tarifvertragsparteien

ßenverhältnis in tarifpolitischen Angelegenheiten vertreten. Sie dürfen bei Abstimmungen über die Festlegung von tarifpolitischen Zielen oder über die Annahme von Tarifverhandlungsergebnissen kein Stimmrecht haben1. Eine beratende Teilnahme an tarifpolitischen Entscheidungen ist dagegen stets möglich2. 158

Das BAG erstreckt das Trennungsgebot auch auf alle Fragen des Arbeitskampfes und seiner Gestaltung. Insb. dürfen OT-Mitglieder keinen Zugriff auf den Streik- oder Aussperrungsfonds haben3. Da OT-Mitglieder regelmäßig Beiträge in derselben Höhe wie Vollmitglieder zu entrichten haben, tragen sie zur Finanzierung des Arbeitskampffonds bei. Jedenfalls in den Fällen, in denen die Satzung einen Anspruch des OT-Mitgliedes auf Unterstützung in Auseinandersetzungen um einen HausTV vorsieht, wird man daher entgegen der Rechtsprechung ein Mitentscheidungsrecht zumindest über die Höhe des Arbeitskampffonds annehmen müssen4.

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Für unzulässig hält das BAG auch das sog. „Fachgruppenmodell“, wonach die Mitglieder nur dann tarifgebunden sind, wenn sie zusätzlich Mitglied einer Fachgruppe des Verbandes werden5. Im konkreten Fall hatte der 4. Senat Zweifel daran, dass die Organisationsstruktur der Fachgruppen in der Satzung hinreichend eigenständig geregelt und eine unzulässige Einflussnahme von Verbandsmitgliedern ohne Tarifbindung ausgeschlossen sei. Darauf kam es aber letztlich nicht an. Denn der Senat beanstandete schon, dass die Existenz der Fachgruppen selbst in den Händen aller Verbandsmitglieder lag und der von allen Mitgliedern gewählte Vorstand des Verbandes die laufenden Geschäfte der Fachgruppen führte6.

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Nach der Rechtsprechung setzt die Begründung der OT-Mitgliedschaft voraus, dass es für diese Mitgliedschaftsform zu dem Zeitpunkt, in dem ein Vollmitglied in die OT-Mitgliedschaft wechseln will, eine wirksame satzungsmäßige Grundlage gibt7. Entsprechendes muss für den Beitritt eines Nichtmitgliedes in die OT-Mitgliedschaft gelten. Dazu ist die Eintragung der Satzungsänderung in das Vereinsregister notwendig. Das gemäß § 71 Abs. 1 Satz 1 BGB konstitutive Eintragungserfordernis schließt eine rückwirkende Begründung der OT-Mitgliedschaft aus. Die Satzungsänderung wird erst am Tag der Eintragung wirksam; 1 BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (1370); BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 316/07, AP TVG § 3 Nr. 37; BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 111/08, NZA 2010, 105 (108); BAG v. 20.5.2009 – 4 AZR 179/08, NZA 2010, 102 (103); BAG v. 15.12.2010 – 4 AZR 256/09, BB 2011, 357. 2 BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (1370); BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 316/07, AP TVG § 3 Nr. 37; BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 111/08, NZA 2010, 105 (108); Deinert, RdA 2007, 83 (86); a.A. Danz, S. 90 f. 3 BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 111/08, NZA 2010, 105 (109); BAG v. 15.12.2010 – 4 AZR 256/09, BB 2011, 357. 4 S.-J. Otto, NZA 1996, 624 (627 f.); Thüsing, ZTR 1996, 481 (484); Thüsing/Stelljes, ZfA 2005, 527 (553); Jacobs/Krois, AP TVG § 3 Nr. 38; ähnlich auch Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 111; a.A. Deinert, RdA 2007, 83 (87); Röckl, DB 1993, 2382 (2384). 5 BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 111/08, NZA 2010, 105. 6 BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 111/08, NZA 2010, 105 (108 ff.). 7 BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 294/08, NZA-RR 2010, 305; ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 9a.

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Tariffähigkeit

Rz. 163 Teil 2

die Eintragung wirkt nicht auf den Tag der Beschlussfassung zurück1. Eine zwar beschlossene, aber nicht eingetragene Satzungsänderung entfaltet weder gegenüber Dritten noch im Rahmen der internen Vereinsverfassung Wirkung2. Der Rechtsprechung ist im Grundsatz zuzustimmen. Der geforderte „Gleichlauf von Verantwortlichkeit und Betroffenheit“ kann zwar nicht mit dem Erfordernis einer demokratischen Binnenstruktur der Koalition begründet werden3. Denn dabei geht es nicht um eine echte demokratische Organisationsstruktur im staatsrechtlichen Sinne4. Nach der Rechtsprechung des 1. Senats müssen lediglich gewisse Mindestanforderungen erfüllt sein: die Gleichheit der Mitglieder im Grundsatz und deren Teilnahme am innerverbandlichen Willensbildungsprozess (vgl. Rz. 85, 114)5. Das Erfordernis einer Trennung der Befugnisse von Mitgliedern mit und ohne Tarifbindung folgt jedoch aus dem Gebot der Unabhängigkeit6. Ein Verband ist nur dann Koalition i.S.d. Art. 9 Abs. 3 GG und damit gemäß § 2 Abs. 1 TVG tariffähig, wenn er unabhängig von Weisungen Dritter ist7. In tarif- und arbeitskampfpolitischen Angelegenheiten gelten OT-Mitglieder, obgleich sie verbandsrechtlich „echte“ Mitglieder sind, als „Dritte“, da sie von der Normsetzung des Verbandes gerade nicht betroffen sind.

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Entgegen der h.M. führt jedoch allein die von der Satzung eröffnete Möglichkeit der OT-Mitglieder, an tarif- und arbeitskampfpolitischen Abstimmungen teilzunehmen, nicht zu einem Verstoß gegen das Unabhängigkeitsgebot. Es muss vielmehr zu einer tatsächlichen Beeinträchtigung der Willensbildung des Verbandes kommen8. Eine solche setzt in der Regel einen verhältnismäßig hohen Anteil an Mitgliedern ohne Tarifbindung voraus, die an der tarifpolitischen Abstimmung auch tatsächlich teilnehmen. Das Mitwirken eines einzelnen OT-Mitgliedes reicht dafür nicht aus. Die Unabhängigkeit des Verbandes ist aber jedenfalls dann beeinträchtigt, wenn OT-Mitglieder so zahlreich vertreten sind, dass sie tarifpolitische Entscheidungen der Vollmitglieder überstimmen oder blockieren können und damit eine meinungsbildende Funktion einnehmen.

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e) Rechtsfolgen einer unzulässigen Satzungsgestaltung Noch nicht abschließend geklärt sind die Konsequenzen einer satzungsrechtlich unwirksamen OT-Mitgliedschaft. Hierbei ist zu differenzieren zwischen dem Beitritt eines bisherigen Nichtmitgliedes und dem Wechsel eines Vollmitgliedes 1 BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 294/08, NZA-RR 2010, 305 (307 f.); MünchKomm/Reuter, § 71 BGB Rz. 4. 2 BGH v. 17.1.1957 – II ZR 239/55, NJW 1957, 497; BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 294/08, NZA-RR 2010, 305 (307). 3 Höpfner, ZfA 2009, 541 (547 ff.); Thüsing/Stelljes, ZfA 2005, 527 (533); a.A. Deinert, RdA 2007, 83 (86); Löwisch, ZfA 1974, 29 (40); Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 107 f. 4 ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 46; MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 164 Rz. 6. 5 BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112; vgl. auch Schüren, S. 275. 6 Deinert, RdA 2007, 83 (86); Höpfner, ZfA 2009, 541 (549 f.); vgl. auch Moll, S. 70; a.A. Thüsing/Stelljes, ZfA 2005, 527 (553). 7 BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, NJW 1979, 699 (710); HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 11; HWK/Hergenröder, Art. 9 GG Rz. 42; Brox/Rüthers/Henssler, Rz. 633. 8 Vgl. Höpfner, ZfA 2009, 541 (550); ebenso nun Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 101.

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Teil 2 Rz. 164

Tarifvertragsparteien

in die OT-Mitgliedschaft. Das BAG hatte bisher lediglich letzteren Fall zu entscheiden. Wird die Satzung den Anforderungen des Trennungsprinzips nicht gerecht, so soll der Statuswechsel unwirksam sein. Das Mitglied ist dann weiter als Vollmitglied gemäß §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG unmittelbar und zwingend an den VerbandsTV gebunden1. Im Grundsatz ist dies folgerichtig (vgl. aber Rz. 168). Sieht die Satzung keine wirksame OT-Mitgliedschaft vor, so kann eine Willenserklärung, die auf einen derartigen Statuswechsel gerichtet ist, keine Rechtswirkung entfalten. Es bleibt daher beim status quo ante2. Auch eine Teilnichtigkeit der Erklärung kommt nicht in Betracht. Das BAG geht zu Recht davon aus, dass der Statuswechsel ein einheitliches Rechtsgeschäft darstellt und nicht bloß eine Zusammenfassung von Verbandsaustritt und anschließendem Neu-Eintritt als OT-Mitglied3. Auch eine Umdeutung in eine Austrittserklärung wird regelmäßig nicht möglich sein4. Es ist nämlich völlig offen, ob das Mitglied, wenn es die Unzulässigkeit der OT-Mitgliedschaft gekannt hätte, tatsächlich aus dem Verband ausgetreten wäre. Wer sichergehen will, die Tarifbindung in jedem Falle abzustreifen, sollte daher für den Fall der Unwirksamkeit des Statuswechsels hilfsweise den Austritt aus dem Verband erklären. 164

Umstritten ist die Rechtslage im Fall des Beitritts als OT-Mitglied, wenn die Verbandssatzung nicht hinreichend zwischen den Befugnissen der Voll- und der OT-Mitglieder trennt. Zum Teil wird vorgeschlagen, das vermeintliche OT-Mitglied in diesem Falle wie ein Vollmitglied zu behandeln5. Der mit dem Verband verhandelnde Sozialpartner dürfe davon ausgehen, dass sämtliche Mitglieder des Verbandes sich der Tarifbindung gemäß §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG unterwerfen wollten. Eine Anfechtung der Beitrittserklärung scheide regelmäßig aus, da der Beitretende nur einem Rechtsirrtum unterlegen sei. Dogmatisch stützt sich diese Auffassung auf eine entsprechende Anwendung der §§ 133, 157, 171 ff. BGB6.

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Andere sind der Meinung, die Erklärung zum Beitritt bzw. Statuswechsel sei in sich widersprüchlich und daher wegen Perplexität nichtig7. Der Beitretende wolle zwar Verbandsmitglied werden, aber gerade nicht von der Tarifmacht des Verbandes erfasst werden. Eine Auslegung der Willenserklärung helfe nicht weiter. Dem Beitretenden könne weder unterstellt werden, er wolle die Tarifbindung vermeiden, noch, dass er dem Verband notfalls unter Inkaufnahme der Tarifbindung beitreten wolle. Folge der unwirksamen Beitrittserklärung ist danach, dass der Beitretende nicht Mitglied des Verbandes wird, ohne dass es hierfür einer Anfechtung bedarf8. 1 BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 111/08, NZA 2010, 105 (111); BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 294/08, NZA-RR 2010, 305 (308); ebenso HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 5a; Bayreuther, BB 2007, 325 (326); Deinert, RdA 2007, 83 (87, 90). 2 Thüsing/Stelljes, ZfA 2005, 527 (571). 3 BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 294/08, NZA-RR 2010, 305 (308). 4 Thüsing/Stelljes, ZfA 2005, 527 (571 f.); generell ablehnend BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 294/08, NZA-RR 2010, 305 (308); anders aber Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 136 f. 5 Bayreuther, BB 2007, 325 (326); Deinert, RdA 2007, 83 (87). 6 Bayreuther, BB 2007, 325 (326). 7 Thüsing/Stelljes, ZfA 2005, 527 (570 f.). 8 Thüsing/Stelljes, ZfA 2005, 527 (570); i.E. ebenso Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 90 f.

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Tariffähigkeit

Rz. 167 Teil 2

Beide Auffassungen greifen zu kurz1. Zunächst kann dem beitretenden OTMitglied regelmäßig nicht der Wille unterstellt werden, im Falle der Unzulässigkeit der OT-Mitgliedschaft als Vollmitglied beitreten zu wollen. Da bereits in der Beitrittserklärung die Tarifbindung ausgeschlossen wird, fehlt dem Verband die mitgliedschaftliche Legitimation zur Normsetzung mit Wirkung für den Beitretenden. Nach den allgemeinen Grundsätzen der Rechtsgeschäftslehre kann sich auch der Sozialpartner als außenstehender Dritter nicht auf die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit der Beitrittserklärung stützen. Für die Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont ist ein objektiver Dritter in der Stellung des Erklärungsempfängers maßgebend. Die Beitrittserklärung ist daher aus Sicht des Verbandes auszulegen und nicht aus Sicht des Sozialpartners2. Auch ein Rückgriff auf die §§ 171 ff. BGB ist nicht möglich. Da der Beitretende die Tarifbindung ausdrücklich ablehnt, setzt die Erklärung zum Beitritt in die OT-Mitgliedschaft gerade keinen Rechtsschein einer Tarifbindung, auf den sich ein gutgläubiger Dritter berufen könnte.

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Doch auch die Perplexität der Beitrittserklärung führt zu untragbaren Konsequenzen für die Praxis. Im Falle der Unwirksamkeit des Beitritts wirken Nichtmitglieder am Zustandekommen von TVen mit. Sofern hierdurch die Unabhängigkeit des Verbandes beeinträchtigt ist (dazu Rz. 162), führt dies zu dessen Tarifunfähigkeit und in der Folge zur Unwirksamkeit aller bereits abgeschlossenen VerbandsTVe. Anstelle eines derartigen „Radikalschnitts“ bietet sich eine deutlich flexiblere Lösung über das Verbot widersprüchlichen Verhaltens an3. Durch den Erwerb der OT-Mitgliedschaft erklärt der Beitretende seinen Willen, gerade nicht von den vom Verband geschlossenen TVen erfasst zu werden. Die Tarifpolitik des Verbandes berührt seine rechtlich schutzwürdigen Interessen nicht. Nimmt er in der Folge dennoch an tarifpolitischen Entscheidungen des Verbandes teil, die für ihn keine unmittelbaren Auswirkungen haben, so setzt er sich in Widerspruch zu der Wahl der OT-Mitgliedschaft. Dabei ist es nicht erforderlich, dass das OT-Mitglied unredlich handelt oder die Widersprüchlichkeit seines Verhaltens schuldhaft erkennt4. Einer Anwendung des § 242 BGB steht auch nicht entgegen, dass durch die Wahl der OT-Mitgliedschaft kein schutzwürdiges Vertrauen des Sozialpartners auf den Verzicht der Teilnahme an tarifpolitischen Entscheidungen des Verbandes begründet wird. Ein widersprüchliches Verhalten liegt bereits dann vor, wenn der Beitretende bei der Ausübung der Mitgliedschaft ohne Tarifbindung nicht konsistent handelt5. Das ist hier der Fall, weil das OT-Mitglied die Vorteile aus der fehlenden Tarifbindung für sich beansprucht, aber dennoch auf die Tarifpolitik des Verbandes Einfluss nimmt. Das OT-Mitglied verhält sich also nicht schon durch die Wahl der OT-Mitgliedschaft, sondern erst durch die Teilnahme an der Tarifpolitik gegenüber dem Verband widersprüchlich6. Zugleich verletzt es

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1 Vgl. Höpfner, ZfA 2009, 541 (551 ff.). 2 Vgl. Höpfner, ZfA 2009, 541 (552). 3 Vgl. Höpfner, ZfA 2009, 541 (553 f.); a.A. Wilhelm/Dannhorn, NZA 2006, 466 (471); Rieble, FS Reuter, S. 805 (822). 4 Vgl. MünchKomm/Roth, § 242 BGB Rz. 259. 5 Vgl. MünchKomm/Roth, § 242 BGB Rz. 287, 290. 6 Aus diesem Grunde geht die Kritik von Wilhelm/Dannhorn, NZA 2006, 466 (471) fehl.

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Teil 2 Rz. 168

Tarifvertragsparteien

dadurch seine verbandsrechtliche Treuepflicht, weil es sein Stimmrecht gerade nicht zur Förderung des Verbandszwecks (Abschluss wirksamer TVe) einsetzt1, sondern im Gegenteil seine Mitwirkung ohne Rückgriff auf § 242 BGB die Tarifunfähigkeit des Verbandes zur Konsequenz haben kann. Weil der Beitrittsakt nach der hier vertretenen Lösung vereinsrechtlich wirksam ist und über § 242 BGB lediglich die Tarifbindung im Einzelfall einer Mitwirkung an tarifpolitischen Abstimmungen begründet werden kann, geht auch das Argument fehl, dass über eine Vertrauenshaftung keine Vereinsmitgliedschaft simuliert werden könne2. 168

Folge dieses venire contra factum proprium ist, dass das OT-Mitglied sich nicht auf die fehlende Tarifbindung berufen kann. Das bedeutet jedoch nicht, dass die OT-Mitgliedschaft im Zeitpunkt der Teilnahme an tarifpolitischen Entscheidungen zur Vollmitgliedschaft erstarkt. Gemäß § 242 BGB muss sich das OT-Mitglied vielmehr (nur) an denjenigen Entscheidungen festhalten lassen, an deren Zustandekommen es selbst als stimmberechtigtes Mitglied beteiligt war. Bei einer Teilnahme an einer Tarifabstimmung wird das OT-Mitglied bezüglich dieses TVes wie ein Vollmitglied behandelt. Was künftige TVe betrifft, kann das OT-Mitglied dagegen jederzeit die Tarifbindung vermeiden, indem es an den Abstimmungen nicht teilnimmt. Diese Wertungen lassen sich übertragen auf den unwirksamen Wechsel eines Vollmitgliedes in die OT-Mitgliedschaft. Die Lösung des BAG, das Mitglied generell als Vollmitglied zu behandeln, schießt über das Ziel hinaus. Angesichts des Erfordernisses einer mitgliedschaftlichen Legitimation tariflicher Normsetzung ist es überzeugender, eine Bindung allein an denjenigen TV anzunehmen, über den das Mitglied tatsächlich mitentschieden hat.

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Die Anwendung des § 242 BGB führt schließlich dazu, dass der Verband seine Tariffähigkeit nicht wegen Verstoßes gegen das Unabhängigkeitsgebot verliert3. Denn im Falle der Mitwirkung eines OT-Mitgliedes an einer tarifpolitischen Entscheidung tritt dessen Tarifbindung nach § 242 BGB ein. Er ist diesbezüglich einem Vollmitglied gleichgestellt und daher gerade kein „Dritter“. Ein Verstoß gegen das Unabhängigkeitsgebot liegt somit nicht vor, weshalb der Verband seine Tariffähigkeit behält.

f) Voraussetzungen und Rechtsfolgen des Wechsels in die OT-Mitgliedschaft 170

Hat ein Verband die OT-Mitgliedschaft wirksam eingeführt, so können Vollmitglieder entsprechend der Satzung durch einseitige Erklärung oder durch Vereinbarung mit dem zuständigen Verbandsorgan in die OT-Mitgliedschaft wechseln. Der Verband kann wie für den Austritt auch für den Statuswechsel eine Wechselfrist bestimmen. Eine gesetzliche Höchstfrist für den Wechsel 1 Vgl. dazu MünchKomm/Reuter, § 34 BGB Rz. 23; BeckOK-BGB/Schöpflin, § 38 Rz. 27. 2 So aber Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 297. 3 Darauf läuft die Lösung von Rieble, FS Reuter, S. 805 (820 ff.) hinaus, vgl. auch Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 53.

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Tariffähigkeit

Rz. 171 Teil 2

gibt es nicht. Insb. ist § 39 BGB nicht anwendbar1, da das wechselwillige Mitglied keinen Austritt aus dem Verband anstrebt, sondern sich lediglich der Tarifbindung entledigen will. Vereinsrechtlich ist der Statuswechsel neutral, da die Mitgliedschaft fortbestehen bleibt. Umgekehrt muss der Verband keine Mindestwechselfrist beachten2. Denn Austritts- und Wechselfristen dienen allein dem Schutz des Verbandes3. Sie entfalten keine Schutzwirkung zugunsten Dritter4. Eine Mindestfrist lässt sich auch nicht mit Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG i.V.m. § 134 BGB begründen, um etwaige Störungen der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie infolge fristloser Statuswechsel zu vermeiden5. Es trifft zwar zu, dass strategisch eingesetzte „Blitzwechsel“ zur Schädigung des Verhandlungspartners in Ausnahmefällen rechtsmissbräuchlich sein können (vgl. Rz. 177). Missbräuchlich ist dann allerdings erst der Wechsel als solcher und nicht bereits die Regelung in der Satzung, die einen fristlosen Wechsel erlaubt6. Die Satzungsautonomie des Verbandes umfasst schließlich auch das Recht, für den Austritt und den Statuswechsel unterschiedliche Fristen vorzusehen7. Damit steht dem Verband ein Instrument zur Verfügung, mit dem er austrittswilligen Mitgliedern einen Anreiz für die Wahl der OT-Mitgliedschaft liefern und so zumindest den Fortbestand der Beitragszahlung sichern kann. Neben dem einseitigen Statuswechsel ist auch ein Wechsel durch Vereinbarung zwischen Verband und Mitglied möglich. Ein solcher „Statuswechselvertrag“ kann nur mit Wirkung ex nunc geschlossen werden, da eine bereits bestehende Tarifbindung nicht nachträglich unter Umgehung der §§ 3 Abs. 3, 4 Abs. 5 TVG beseitigt werden kann8. Ein einvernehmlicher Wechsel ist immer dann von Bedeutung, wenn das in der Satzung geregelte einseitige Wechselrecht mangels Eintragung in das Vereinsregister unwirksam ist. In diesem Fall kann der unwirksam erklärte Wechsel des Mitgliedes gemäß § 140 BGB in ein Angebot zum Statuswechsel umgedeutet werden9. Dieses Angebot kann anschließend durch das nach der Satzung vertretungsberechtigte Organ des Verbandes angenommen werden.

1 Unklar BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (1370). 2 BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (1370); Buchner, NZA 2006, 1377 (1381); Jacobs/Krois, AP TVG § 3 Nr. 38. 3 Vgl. zuletzt BAG v. 18.5.2011 – 4 AZR 457/09, NZA 2011, 1378 (1380). 4 BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (1370); BAG v. 20.5.2009 – 4 AZR 179/08, NZA 2010, 102 (104); generell zur Verbandssatzung BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, NZA 2003, 734 (737); Bauer/Rolf, DB 2003, 1519. 5 So aber Franzen, FS Picker, S. 929 (940). 6 Zudem wäre eine Mindestfrist nicht geeignet, strategische Blitzwechsel stets zu vermeiden. Wenn nämlich der Zeitpunkt von Tarifverhandlungen rechtzeitig bekannt ist, kann das Verbandsmitglied ohne weiteres „vorsorglich“ den Wechsel erklären, ohne dies der Gewerkschaft mitzuteilen. 7 BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (1370); BAG v. 20.5.2009 – 4 AZR 179/08, NZA 2010, 102 (104). 8 Vgl. zum Aufhebungsvertrag Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 55; Oetker, ZfA 1998, 41 (50 f.); Plander, NZA 2005, 897 (902); Bauer/Haußmann, RdA 2009, 99 (101). 9 Vgl. Bauer/Haußmann, RdA 2009, 99 (101); Höpfner, ZfA 2009, 541 (559); zum entsprechenden Problem beim Verbandsaustritt BAG v. 20.2.2008 – 4 AZR 64/07, NZA 2008, 946 (948).

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Teil 2 Rz. 172 172

Tarifvertragsparteien

Der Wechsel eines Verbandsmitgliedes von der Voll- in die OT-Mitgliedschaft hat in Bezug auf die Tarifgebundenheit dieselben Rechtswirkungen wie der Austritt aus dem Verband1. Das OT-Mitglied behält zwar vereinsrechtlich seine Mitgliedschaft im Verband. Tarifrechtlich ist es aber kein Mitglied mehr i.S.d. § 3 Abs. 1 TVG2. An die Stelle der Tarifbindung gemäß §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG treten daher die Nachbindung an den VerbandsTV gemäß § 3 Abs. 3 TVG bis zum Ende des TVes3 sowie anschließend die Nachwirkung der Tarifnormen gemäß § 4 Abs. 5 TVG4.

g) Transparenzanforderungen und „Blitzwechsel“ 173

Für die Wirksamkeit des Statuswechsels kommt es nicht darauf an, ob der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über den Wechsel informiert hat5. Das BAG hat offengelassen, ob eine derartige Informationspflicht des Arbeitgebers aus § 2 Abs. 1 Nr. 10 NachwG folgt6. Jedenfalls führe eine unterbliebene Information nicht zur Unwirksamkeit des Statuswechsels, da die Wirksamkeit des Wechsels einer etwaigen Informationspflicht zeitlich vorgehe7. Richtigerweise wird man schon eine Informationspflicht als solche ablehnen müssen, da es aufgrund der sich an den Statuswechsel anschließenden Nachbindung des OTMitgliedes an die VerbandsTVe, die ebenso wie die ursprüngliche Tarifbindung unmittelbar und zwingend wirkt8, nicht zu einer wesentlichen Änderung der Tarifbindung kommt.

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Erfolgt der Wechsel in die OT-Mitgliedschaft in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Abschluss eines TVes, so stellt das BAG erhöhte Anforderungen an die Wirksamkeit des Statuswechsels. Ein sog. „Blitzwechsel“ des Arbeitgebers in die OT-Mitgliedschaft während laufender Tarifverhandlungen oder in der Phase zwischen dem Abschluss der Verhandlungen und dem endgültigen Vertragsschluss9 soll tarifrechtlich unwirksam sein, wenn er für die an den Tarifverhandlungen beteiligte Gewerkschaft nicht rechtzeitig erkennbar sei10. Da die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie infolge der fehlenden Transparenz gestört werde, sei der Statuswechsel gemäß Art. 9 GG i.V.m. § 134 BGB unwirksam. Die Nichtigkeitsfolge soll aber nur soweit gelten, wie die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie auch tatsächlich 1 BAG v. 25.2.2009 – 4 AZR 986/07, AP TVG § 3 Nr. 40; Besgen, S. 104 ff. 2 BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (1368). 3 Zur zeitlichen Begrenzung der Nachbindung vgl. BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53; Höpfner, NJW 2010, 2173. 4 BAG v. 18.3.1992 – 4 AZR 339/91 und st. Rspr. 5 BAG v. 20.5.2009 – 4 AZR 179/08, NZA 2010, 102. 6 BAG v. 20.5.2009 – 4 AZR 179/08, NZA 2010, 102 (105). 7 Richtig BAG v. 20.5.2009 – 4 AZR 179/08, NZA 2010, 102 (105). 8 Vgl. nur HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 41. 9 BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 285/08, NZA 2010, 230 (234); enger demgegenüber noch BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (1371): „während laufender Tarifverhandlungen“; näher dazu Bauer, FS Picker, S. 889 (902 ff.). 10 BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (1367, 1371 ff.); vgl. zum Blitzwechsel in die Gastmitgliedschaft BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 285/08, NZA 2010, 230 (233); zustimmend Krause, GS Zachert, S. 605 (614 ff.).

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Tariffähigkeit

Rz. 176 Teil 2

beeinträchtigt werde. Daher werde die vereinsrechtliche Wirksamkeit des Statuswechsels nicht berührt. Lediglich tarifrechtlich sei der Wechsel ohne Bedeutung. Im Ergebnis wird so eine „Vorbindung“ an die nach dem Wechsel in die OT-Mitgliedschaft geschlossenen VerbandsTVe statuiert1. Im Schrifttum ist diese Rechtsprechung zu Recht auf heftige Kritik gestoßen2. Es ist nicht einzusehen, weshalb gerade die fehlende Offenlegung des Statuswechsels die Tarifautonomie gefährden soll. Allein darauf stellt das BAG aber ab. Es hält einen kurzfristigen Statuswechsel während laufender Tarifverhandlungen ausdrücklich für zulässig, sofern er der Gegenseite so rechtzeitig mitgeteilt wird, dass sie darauf reagieren kann3. Doch auch wenn diese Information zeitnah erfolgt, bleiben die Reaktionsmöglichkeiten der Gewerkschaft überschaubar. Sie kann darüber entscheiden, ob sie in Tarifauseinandersetzungen mit dem vom VerbandsTV nicht erfassten Arbeitgeber tritt oder nicht. Wird der Statuswechsel vor Abschluss des VerbandsTVes nicht mitgeteilt, stünde sie vor derselben Entscheidung4. Hinzu kommt, dass auch bei langfristig herbeigeführten Veränderungen im Mitgliederbestand eines Verbandes Informationsdefizite bestehen, was bisher einhellig akzeptiert wurde5. Im Übrigen betrifft das Transparenzproblem nicht allein Gewerkschaften. Auch ein Arbeitgeber kann während der Tarifverhandlungen nie wissen, ob seine Arbeitnehmer bei Abschluss des TVes noch Mitglieder der tarifschließenden Gewerkschaft sind6. Sollte das BAG seine Rechtsprechung konsequent fortführen, so müsste man neben dem (umstrittenen)7 Fragerecht des Arbeitgebers nach der Gewerkschaftszugehörigkeit eine entsprechende Informationsobliegenheit der verhandelnden Gewerkschaft erwägen8.

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Selbst wenn man mit dem BAG eine Informationspflicht annehmen wollte, kann deren Verletzung keine Tarifbindung des Mitgliedes nach § 3 Abs. 1 TVG begründen. Unklar ist zunächst, wer Adressat der Informationspflicht sein soll.

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1 Bauer, FS Picker, S. 889 (896); Krause, GS Zachert, S. 605 (614); Rieble, RdA 2009, 280 (281 f.). 2 Vgl. Bauer, FS Picker, S. 889 (895 ff.); Bauer/Haußmann, RdA 2009, 99 (104 ff.); Franzen, FS Picker, S. 929 (936 ff.); Höpfner, ZfA 2009, 541 (561 ff.); Jacobs/Krois, AP TVG § 3 Nr. 38; Jacobs/Krois, FS Reuter, S. 555 (566 ff.); Konzen, FS Bauer, S. 559 (565 ff.); Willemsen/Mehrens, NJW 2009, 1916 (1917 ff.); Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 239 ff. 3 BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (1373); BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 285/08, NZA 2010, 230 (234); ebenso zum Blitzaustritt BAG v. 20.2.2008 – 4 AZR 64/07, NZA 2008, 946 (950). 4 Höpfner, ZfA 2009, 541 (563 f.); zustimmend Franzen, FS Picker, S. 929 (937); Jacobs/ Krois, FS Reuter, S. 555 (567 f.). 5 Vgl. auch Bauer, FS Picker, S. 889 (899); Franzen, FS Picker, S. 929 (937 f.); Jacobs/ Krois, AP TVG § 3 Nr. 38; Konzen, FS Bauer, S. 559 (574 ff.); Rieble, RdA 2009, 280 (283); Willemsen/Mehrens, NJW 2009, 1916 (1918). 6 Bauer, FS Picker, S. 889 (908 f.); Bauer/Haußmann, RdA 2009, 99 (104); Willemsen/ Mehrens, NJW 2009, 1916 (1917). 7 Vgl. nur BAG v. 27.1.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 645 (653); BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, NZA 2002, 634 (635); BAG v. 28.3.2000 – 1 ABR 16/99, NZA 2000, 1294; Franzen, RdA 2008, 193 (195 f.); HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 57; Staudinger/Richardi/ Fischinger, § 611 BGB Rz. 208. 8 Vgl. Bauer/Haußmann, RdA 2009, 99 (104).

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Teil 2 Rz. 177

Tarifvertragsparteien

Das BAG spricht unpräzise von einer „Obliegenheit der Arbeitgeberseite“. Das ist gleich mehrfach missverständlich1. Erstens besteht ein Schuldverhältnis nur zwischen den Parteien des TVes. Eine Informationspflicht der Verbandsmitglieder ist als Vertrag zu Lasten Dritter unzulässig. In Betracht kommt daher allenfalls eine Informationspflicht des Verbandes. Deren Verletzung aber kann niemals als Sanktion eine Tarifbindung des Mitgliedes zur Folge haben2. Zweitens führt die Verletzung einer Informationspflicht nach den allgemeinen Grundsätzen des Leistungsstörungsrechts lediglich zu einem Anspruch auf Schadensersatz neben der Leistung. Der Geschädigte ist so zu stellen, wie er stünde, wenn ihm die richtige Auskunft erteilt worden wäre. Selbst wenn der Verband und/oder das Mitglied die Gewerkschaft rechtzeitig über den Blitzwechsel informiert hätten, hätte dies jedoch keine Tarifbindung des OT-Mitgliedes zur Folge gehabt3. 177

Festzustellen ist somit: Die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie kann nicht durch die fehlende Transparenz eines Statuswechsels, sondern allenfalls durch den kurzfristigen Statuswechsel an sich beeinträchtigt werden4. Das wird man allerdings nur in seltenen Ausnahmefällen annehmen können, wenn der gesamte Verband oder eine maßgebende Gruppe von Mitgliedern das Instrument des Blitzwechsels rechtsmissbräuchlich zur gezielten Schädigung der Gegenseite nutzt5. Solche Fälle sind bisher nicht bekannt, und es ist auch nicht zu erwarten, dass ein Verband zu einer solchen, letztlich selbstschädigenden6 Taktik greifen wird.

2. Tarifgemeinschaft a) Grundlagen und Begriff der Tarifgemeinschaft 178

Mit dem Begriff „Tarifgemeinschaft“ werden ganz unterschiedliche Sachverhalte bezeichnet7. In der frühen Weimarer Republik verstand man darunter den Zusammenschluss von Arbeitnehmern und Arbeitgebern oder deren Verbänden zu einer Organisation, die Arbeitsnormen kraft Verbandsbeschluss festsetzen konnte (z.B. die „Tarifgemeinschaft deutscher Buchdrucker“)8. Heute bezeichnen sich teilweise Verbände selbst als Tarifgemeinschaft, etwa die „Tarifgemeinschaft deutscher Länder“ (TdL) oder die „Tarifgemeinschaft der Deutschen Rentenversicherung“ (TgDRV). Darüber hinaus wird im Zusam1 2 3 4 5 6

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Vgl. Höpfner, ZfA 2009, 541 (565 ff.); zustimmend Bauer, FS Picker, S. 889 (896). Ebenso Rieble, RdA 2009, 280 (284 f.). Ebenso Bauer/Haußmann, RdA 2009, 99 (105); Franzen, FS Picker, S. 929 (939). Ebenso im Ausgangspunkt Franzen, FS Picker, S. 929 (940); a.A. Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 239. Höpfner, ZfA 2009, 541 (565). Die Auffassung von Franzen, FS Picker, S. 929 (939 f.), der Verband habe kein Interesse, Blitzwechsel zu vermeiden, da sie für ihn „mit keinerlei Nachteilen“ verbunden seien, überzeugt nicht. Jeder Verlust eines tarifgebundenen Mitgliedes schwächt das tarifpolitische Gewicht des Verbandes. Darüber hinaus können Massenstatuswechsel eine „Sogwirkung“ für andere Mitglieder entfalten, vgl. nur Stumpfe, NZA-Beil. 24/2000, 1 (2). Vgl. dazu schon Hanxleden, S. 9 ff.; aus jüngerer Zeit Ricken, S. 284 f. Hueck, S. 100 f.; Ricken, S. 284; Rieble, ZfA 2000, 5 (10).

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Tariffähigkeit

Rz. 180 Teil 2

menhang mit der OT-Mitgliedschaft sowohl im Aufteilungs- wie im Stufenmodell die Gruppe der tarifgebundenen Mitglieder als Tarifgemeinschaft bezeichnet1. In beiden Fällen ist die Terminologie unglücklich. Denn sowohl die TdL und die TgDRV als auch der tariffähige Arbeitgeberverband beim Aufteilungsmodell sind „echte“, d.h. tariffähige und tarifwillige, Vereinigungen von Arbeitgebern i.S.d. § 2 Abs. 1 TVG2, die TVe im eigenen Namen abschließen3. Die Verwendung des Begriffs Tarifgemeinschaft (im weiteren Sinne) ist insoweit überflüssig und irreführend. Nach dem heute überwiegenden Sprachgebrauch versteht man unter einer Tarifgemeinschaft einen Zusammenschluss von Arbeitgebern, Arbeitgeberverbänden oder Gewerkschaften zum Zweck des gemeinsamen Abschlusses von TVen im Namen ihrer Mitglieder4. Im Gegensatz zur Gewerkschaft und zum Arbeitgeberverband wird die Tarifgemeinschaft nicht Partei des TVes. Nach außen treten als Rechtssubjekte allein ihre Mitglieder auf. So hat etwa die „Tarifgemeinschaft Zeitarbeit“ mehrere TVe sowohl mit dem „Bundesverband Zeitarbeit Personal-Dienstleistungen e.V.“ (BZA)5 als auch mit dem „Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen e.V.“ (iGZ) verhandelt, die jeweils von ihren Mitgliedsgewerkschaften6 unterzeichnet wurden.

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Die Tarifgemeinschaft ist eine Zwischenlösung zwischen dem unkoordinierten Auftreten einzelner TV-Parteien und dem Zusammenschluss zu einem (Spitzen-)Verband7. Der Zweck der Tarifgemeinschaft ist das gemeinsame Auftreten bei Tarifverhandlungen mit dem Ziel der gemeinschaftlichen Interessendurchsetzung. Die Tarifmacht ihrer Mitglieder soll gebündelt werden, um bestimmte, tariflich regelbare Ziele durchsetzen zu können. Man wird die vorherrschende Definition daher in einem Punkt präzisieren müssen: Der Zweck des Zusammenschlusses ist nicht der gemeinsame Abschluss, sondern die einheitliche Verhandlung von TVen8. Insofern ist die Tarifgemeinschaft eine Verhandlungsgemeinschaft, die den Abschluss inhaltsgleicher TVe anstrebt. Wenn zum Teil vorgeschlagen wird, Tarif- und Verhandlungsgemeinschaft voneinander abzugrenzen9, so kann dies nicht überzeugen. Denn es ist nicht einzusehen, weshalb die eher zufällige und willkürliche Frage, ob die Un-

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1 Vgl. Löwisch, ZfA 1974, 29 (40); Däubler, NZA 1996, 225 (232); Besgen, S. 15; S.-J. Otto, NZA 1996, 624; Röckl, DB 1993, 2382; Höpfner, ZfA 2009, 541 (544, 548); Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 2 TVG Rz. 12; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 21 f.; Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 117. 2 Vgl. Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 398; unklar Kittner/Zwanziger/Deinert/Deinert, § 8 Rz. 17. 3 Entsprechendes gilt für die „Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen“ (CGZP), die entgegen ihrer Bezeichnung nach Ziff. 1 der Satzung eine Spitzenorganisation i.S.d. § 2 Abs. 3 TVG darstellt; zur Tariffähigkeit vgl. BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289. 4 Ricken, S. 284; Dymke, S. 9. 5 Bzw. nach der Verschmelzung von AMP und BZA am 16.7.2011 der „Bundesarbeitgeberverband der Personaldienstleister“ (BAP). 6 IG BCE, NGG, IG Metall, GEW, ver.di, IG BAU und GdP. 7 Höpfner in Arbeitsrecht im Konzern, S. 113 (130). 8 Vgl. Höpfner in Arbeitsrecht im Konzern, S. 113 (130). 9 So Ricken, S. 285, 289 (in der Sache freilich übereinstimmend); wie hier Dymke, S. 9.

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Teil 2 Rz. 181

Tarifvertragsparteien

terzeichnung der TVe nach Abschluss der einheitlich geführten Verhandlungen gemeinsam an einem Ort erfolgt oder ob die einzelnen TVe zeitlich und/oder örtlich getrennt unterschrieben werden, auf die Eigenschaft der Gruppe als Tarifgemeinschaft einen Einfluss haben soll. Ferner ist es für den Begriff der Tarifgemeinschaft ohne Bedeutung, ob die abgeschlossenen TVe rechtlich selbständig sind oder ob sie eine „geschlossene Einheit“ bilden1. Keine Tarifgemeinschaft, sondern (nur) ein mehrgliedriger TV2, liegt jedoch vor, wenn ein AnerkennungsTV auf einen anderen TV verweist, ohne dass beide Verträge zuvor gemeinsam verhandelt worden sind3. 181

Als mögliche Rechtsform der Tarifgemeinschaft kommen sowohl die GbR als auch der nicht eingetragene Verein in Betracht4. In der Regel erfüllt die Tarifgemeinschaft als Verhandlungsgemeinschaft nur einen vorübergehenden Zweck. Sie wird daher meistens keine gegenüber ihren Mitgliedern verselbständigte Organisation mit korporativem Charakter aufweisen. Die übliche Rechtsform der Tarifgemeinschaft ist aus diesem Grunde die Gesellschaft bürgerlichen Rechts5. Da die Tarifgemeinschaft nicht selbst TV-Partei ist, tritt sie „als solche“ nicht nach außen im Rechtsverkehr auf und soll dies nach dem Willen der Beteiligten auch nicht. Zudem hat sie in der Regel weder Geschäftsführungsorgane noch ein Gesellschaftsvermögen6. Die Tarifgemeinschaft ist somit grundsätzlich eine reine Innen-GbR7 und als solche nicht rechtsfähig (vgl. aber Rz. 191).

b) Tarifgemeinschaft und mehrgliedriger TV 182

Schließen die Mitglieder einer Tarifgemeinschaft nach gemeinsamer Verhandlung inhaltsgleiche TVe ab, so handelt es sich dabei um einen mehrgliedrigen TV8. Ein solcher liegt vor, wenn der TV nicht nur von einer Gewerkschaft und einem Arbeitgeber(verband), sondern auf mindestens einer Seite von mehreren TV-Parteien unterzeichnet wird9. Mehrgliedrige TVe treten in zwei Arten auf, 1 HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 11; BPSU-TVG, § 1 Rz. 28 f.; Ricken, S. 285 f.; a.A. Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 400, wonach der TV einer Tarifgemeinschaft stets ein EinheitsTV sein soll; ebenso Thüsing/Braun/Emmert, 2. Kap. Rz. 157. 2 Vgl. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1300; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 214; a.A. Anw-ArbR/Friedrich, § 1 TVG Rz. 30; Däubler/Reim, § 1 TVG Rz. 73a. 3 So aber wohl Ricken, S. 285. 4 Dymke, S. 105 ff.; Ricken, S. 286 ff. 5 Allg. Auffassung, vgl. Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 400, 406 ff.; Dymke, S. 116; Ricken, S. 287; Rieble, FS Otto, S. 471 (482). 6 Zur Bedeutung dieser Kriterien für die Abgrenzung von Innen- und Außengesellschaft vgl. nur K. Schmidt, JuS 1988, 444 (445); K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, §§ 43 II 3 a, 58 II 2 a; Wiedemann, Gesellschaftsrecht II, § 7 I 4 a; MünchKomm/Ulmer, § 705 BGB Rz. 254, 275. 7 Dymke, S. 114; Höpfner in Arbeitsrecht im Konzern, S. 113 (131); Ricken, S. 287 f.; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 397 (a.A. noch die Vorauflage); für Außen-GbR dagegen HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 11; Thüsing/Braun/Emmert, 2. Kap. Rz. 148. 8 A.A. offenbar Thüsing/Braun/Emmert, 2. Kap. Rz. 151, wonach Tarifgemeinschaft und mehrgliedriger TV einander ausschließen sollen. 9 BAG v. 7.5.2008 – 4 AZR 229/07, AP TVG § 1 Nr. 45; BAG v. 8.11.2006 – 4 AZR 590/05, NZA 2007, 576; BAG v. 10.11.1993 – 4 AZR 198/93, AP TVG § 1 Tarifverträge: Einzelhandel Nr. 42; Nikisch, Arbeitsrecht II, § 72 II 1; Gamillscheg, Kollektives Ar-

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Tariffähigkeit

Rz. 185 Teil 2

für die das BAG (in unglücklicher Formulierung) den Oberbegriff mehrgliedriger TV im weiteren Sinne verwendet1. Dabei kann es sich zunächst um eine bloße Zusammenfassung mehrerer rechtlich selbständiger TVe in einer einzigen Urkunde handeln (sog. mehrgliedriger TV im engeren Sinne). In diesem Fall bestehen keine Besonderheiten gegenüber einem getrennten Vertragsschluss. Der mehrgliedrige TV im engeren Sinne ist rechtlich genauso zu behandeln, als ob jeder TV in einer eigenen Urkunde abgefasst worden wäre. Jede Partei kann „ihren“ TV ohne Mitwirkung der anderen Mitglieder der Tarifgemeinschaft kündigen oder – im Einvernehmen mit dem Vertragspartner – aufheben oder abändern, ohne dass dies Auswirkungen auf die übrigen TVe hat2.

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Davon zu unterscheiden ist der sog. EinheitsTV3. Dabei schließt zwar ebenfalls jedes Mitglied der Tarifgemeinschaft einen eigenen TV mit dem Tarifpartner ab. Die TVe bilden jedoch als „geschlossene Einheit“ ein einheitliches „Schuldverhältnis höherer Ordnung“4: Das rechtliche Schicksal der einzelnen TVe ist dergestalt miteinander verknüpft, dass eine Kündigung, Aufhebung oder Änderung des EinheitsTVes nur durch gemeinsame Erklärung aller auf einer Seite beteiligten TV-Parteien möglich ist5. Darüber hinaus haften die Mitglieder der Tarifgemeinschaft gesamtschuldnerisch für die Erfüllung tarifvertraglicher Pflichten, sofern der TV nichts anderes bestimmt6.

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Welche Art von TV vorliegt, ist im Einzelfall durch Auslegung zu ermitteln7. Hierbei ist zu beachten, dass die Tarifmacht der Parteien beim EinheitsTV stark eingeschränkt ist, weil die Herrschaft über das tariflich Geregelte durch Gestaltungsmittel wie Kündigung, Aufhebung etc. nur gemeinsam mit den anderen auf ihrer Seite am Tarifabschluss beteiligten TV-Parteien ausgeübt werden kann8. Aus diesem Grunde geht das BAG (im Anschluss an Hueck und Nipperdey)9 davon aus, dass im Zweifel mehrere selbständige TVe vorliegen,

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beitsrecht I, S. 503; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 209; HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 9; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1289; Ricken, S. 285. BAG v. 8.11.2006 – 4 AZR 590/05, NZA 2007, 576 (577); ebenso BPSU-TVG, § 1 Rz. 29; abweichend Höpfner in Arbeitsrecht im Konzern, S. 113 (127 ff.). Vgl. BAG v. 8.11.2006 – 4 AZR 590/05, NZA 2007, 576 (577); HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 9; Thüsing/Braun/Lembke, 9. Kap. Rz. 71 f. BAG v. 29.6.2004 – 4 AZR 143/03, AP TVG § 1 Nr. 36; BAG v. 8.11.2006 – 4 AZR 590/05, NZA 2007, 576 (577). Vgl. dazu Larenz, Schuldrecht I, § 37 II. Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 212. Höpfner in Arbeitsrecht im Konzern, S. 113 (129); wohl auch HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 9; a.A. Ricken, S. 287 f.; Stein, Tarifvertragsrecht, Rz. 53; Dymke, S. 46 f., der eine ausdrückliche Haftungsvereinbarung verlangt. Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 213; Kittner/Zwanziger/Deinert/Deinert, § 8 Rz. 17. BAG v. 8.11.2006 – 4 AZR 590/05, NZA 2007, 576 (577); BAG v. 7.5.2008 – 4 AZR 229/07, AP TVG § 1 Nr. 45. Hueck, S. 39; Nipperdey in Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht II/1, § 21 II 1; ebenso Nikisch, Arbeitsrecht II, § 72 II 2.

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Teil 2 Rz. 186

Tarifvertragsparteien

die nur äußerlich in einer Urkunde zusammengefasst sind1. Wollen die Parteien die TVe zu einer rechtlichen Einheit zusammenfassen, so müssen sie dies nach der Rechtsprechung des BAG2 explizit vereinbaren, etwa durch eine Formulierung wie: „Eine Kündigung ist nur gemeinschaftlich möglich.“ Andere Umstände, z.B. die einheitliche Benennung der unterzeichnenden Mitgliedsverbände als „eine TV-Partei“, können dagegen nicht als Indiz für den Willen zu einem einheitlichen TV gewertet werden. 186

Nach diesen Grundsätzen handelt es sich etwa bei den TVen der „Tarifgemeinschaft Zeitarbeit“ mit dem iGZ nicht um EinheitsTVe mit der Folge, dass jede unterzeichnende Gewerkschaft den TV selbständig kündigen kann. Auch die am 15.3.2010 von der CGZP und dem „Arbeitgeberverband Mittelständischer Personaldienstleister“ (AMP), heute BAP, geschlossenen TVe sind, wie die Präambel klarstellt, mehrgliedrige TVe, die von jeder der vertragsschließenden Gewerkschaften jeweils selbständig gekündigt werden können. Im Verhältnis zu den übrigen Mitgliedsgewerkschaften bleiben sie auch im Falle der fehlenden Tariffähigkeit der CGZP wirksam3.

187

Etwas anderes gilt jedoch, wenn an einem mehrgliedrigen TV ausschließlich Konzernunternehmen beteiligt sind4. In diesem Fall handelt es sich nicht um zwei in ihrer Tarifpolitik freie TV-Parteien, sondern um einen zentral gesteuerten Unternehmensverbund, der mithilfe einer sog. „Konzern-Tarifgemeinschaft“ eine konzerneinheitliche Tarifpolitik verfolgen will (vgl. dazu Teil 15 Rz. 173 ff.). Das Argument, dass die Tarifmacht der einzelnen Unternehmen eingeschränkt werde, überzeugt jedenfalls im Beherrschungskonzern5 nicht. Da das Tochterunternehmen an Weisungen der Obergesellschaft gebunden ist, steht seine eigene Tarifmacht von vornherein unter dem Vorbehalt des Einvernehmens mit der Konzernleitung6. Bei einem mehrgliedrigen TV, der auf Arbeitgeberseite ausschließlich von Konzerngesellschaften abgeschlossen wird, spricht daher eine Vermutung für den EinheitsTV7. Will die Tarifgemeinschaft ein selbständiges Kündigungsrecht der tarifschließenden Konzerngesellschaften durchsetzen, so muss sie dies im TV ausdrücklich vereinbaren. Mit der Rechtsprechung des BAG ist dies zu vereinbaren, da der Konzernsachverhalt eine „besondere Fallgestaltung“ darstellt, für die das BAG ausdrücklich eine „andere Auslegung nicht ausgeschlossen“ hat8. 1 BAG v. 29.6.2004 – 4 AZR 143/03, AP TVG § 1 Nr. 36; BAG v. 8.11.2006 – 4 AZR 590/05, NZA 2007, 576 (577); ebenso Oetker, RdA 1995, 82 (100 f.); MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 165 Rz. 6; HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 9; ErfK/Franzen, § 1 TVG Rz. 22; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 213; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 27; Däubler/Reim, § 1 TVG Rz. 75; Ricken, S. 286; zweifelnd Rieble, FS Otto, S. 471 (481); Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1295. 2 BAG v. 8.11.2006 – 4 AZR 590/05, NZA 2007, 576 (577). 3 Neef, NZA 2011, 615 (618). 4 Dazu Höpfner in Arbeitsrecht im Konzern, S. 113 (129 f.). 5 Zur Situation im faktischen Konzern vgl. Höpfner in Arbeitsrecht im Konzern, S. 113 (126). 6 Ähnlich Rieble, Der Konzern 2005, 475 (481). 7 So i.E. auch Windbichler, S. 471; in diese Richtung auch Rieble, Der Konzern 2005, 475 (482): „insbesondere bei unternehmensübergreifenden Regelungen“. 8 BAG v. 8.11.2006 – 4 AZR 590/05, NZA 2007, 576 (577).

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Höpfner

Tariffähigkeit

Rz. 189 Teil 2

c) Tariffähigkeit der Tarifgemeinschaft Die Tarifgemeinschaft ist grundsätzlich nicht tariffähig. Das folgt zwar nicht bereits aus der fehlenden Rechtsfähigkeit der Innen-GbR1, aber aus dem fehlenden Willen der Tarifgemeinschaft, TVe im eigenen Namen abzuschließen2. Für die Gültigkeit der TVe ist somit ausschließlich die Tariffähigkeit der Mitglieder der Tarifgemeinschaft entscheidend. Diese richtet sich nach den allgemeinen Grundsätzen (vgl. Rz. 45 ff., 96 ff.). Bei Gewerkschaften ist nach h.M. insb. eine überbetriebliche Organisation erforderlich3. Da die Mitgliedschaft in einer Tarifgemeinschaft bereits die Tariffähigkeit voraussetzt, kann eine fehlende Überbetrieblichkeit nicht durch das Mitwirken der Gewerkschaft in der Tarifgemeinschaft ausgeglichen werden4. Entsprechendes gilt für die Durchsetzungskraft von Gewerkschaften. Nach der Rechtsprechung des BAG gelten Tarifabschlüsse einer Tarifgemeinschaft nicht als Indiz für die Durchsetzungsfähigkeit der Mitgliedsgewerkschaften (vgl. Rz. 68)5.

188

Sind nicht alle Mitglieder der Tarifgemeinschaft tariffähig, so stellt sich die Frage, welche Auswirkungen dies auf die Wirksamkeit der abgeschlossenen TVe hat. Zum Teil wird unter Hinweis auf das Verbot der Fremdbestimmung verlangt, dass stets alle Mitglieder einer Tarifgemeinschaft tariffähig sein müssten. Anderenfalls seien die abgeschlossenen TVe unwirksam6. Das kann nicht überzeugen. Diese Auffassung geht von der unzutreffenden Prämisse aus, dass die als Tarifgemeinschaft auftretenden TV-Parteien notwendig nur EinheitsTVe abschließen können7. Nach dem hier zugrundeliegenden Verständnis der Tarifgemeinschaft als Verhandlungsgemeinschaft (vgl. Rz. 180) spricht nichts für eine derartige Beschränkung der tariflichen Gestaltungsmacht der Parteien. Es ist vielmehr auch bei den Mitgliedern einer Tarifgemeinschaft im Zweifel nicht davon auszugehen, dass sie ihr Recht, den TV zu kündigen oder abzuändern, von der Mitwirkung der anderen Mitglieder abhängig machen wollen8. Bei der Mitwirkung einer tarifunfähigen Partei in einer Tarifgemeinschaft ist daher zu differenzieren: Handelt es sich um mehrere rechtlich selbständige

189

1 Zum Verhältnis von Rechts- und Tariffähigkeit vgl. nur Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 10 ff.; HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 2. 2 Vgl. Dymke, S. 183; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 416; Thüsing/Braun/Emmert, 2. Kap. Rz. 148; Rieble, FS Otto, S. 471 (481 f.). 3 Vgl. BVerfG v. 6.5.1964 – 1 BvR 79/62, NJW 1964, 1267 (1268); BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77 u.a., NJW 1979, 699 (709); BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289 (295); BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112 (1114); BAG v. 14.12.2004 – 1 ABR 51/03, NZA 2005, 697; HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 12; a.A. ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 6; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 133. 4 A.A. Kempen/Zachert/Kempen, § 2 TVG Rz. 67. 5 BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300 (305); ebenso Greiner, NZA 2011, 825. 6 Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 419; MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 165 Rz. 6; Thüsing/ Braun/Emmert, 2. Kap. Rz. 147. 7 Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 400; Rieble, FS Otto, S. 471 (481); Kempen/Zachert/Zachert, § 1 TVG Rz. 41; Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 89; Thüsing/Braun/Emmert, 2. Kap. Rz. 157. 8 Ebenso HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 9; BPSU-TVG, § 1 Rz. 28 f.; Ricken, S. 285 f.; Kittner/Zwanziger/Deinert/Deinert, § 8 Rz. 17; Stein, Tarifvertragsrecht, Rz. 53.

Höpfner

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Teil 2 Rz. 190

Tarifvertragsparteien

TVe, die nur in einer einzigen Urkunde zusammengefasst wurden, so ist die Wirksamkeit jedes TVes getrennt zu prüfen. Die fehlende Tariffähigkeit eines Mitgliedes der Tarifgemeinschaft betrifft nur dessen eigenen TV. Die Wirksamkeit der übrigen TVe bleibt unberührt. Anders ist die Rechtslage beim EinheitsTV. Dieser setzt die Tariffähigkeit aller TV-Parteien voraus1. Die Mitwirkung einer tarifunfähigen Partei führt dann zur Nichtigkeit des gesamten TVes2.

d) Tarifzuständigkeit der Tarifgemeinschaft 190

Mangels Tariffähigkeit hat die Tarifgemeinschaft auch keine eigene Tarifzuständigkeit. Der maximale tarifliche Geltungsbereich der von den Mitgliedern der Tarifgemeinschaft abgeschlossenen TVe bemisst sich allein nach der Tarifzuständigkeit der Mitglieder3. Anders als bei Spitzenorganisationen, deren Tariffähigkeit nach der neuesten (zweifelhaften) Rechtsprechung des BAG4 u.a. eine „vollständige Übertragung der Organisationsbereiche“ ihrer Mitgliedsverbände voraussetzt, stellt sich das Problem einer abgeleiteten Tariffähigkeit und -zuständigkeit bei Tarifgemeinschaften nicht. Es begegnet keinen rechtlichen Bedenken, wenn der Geltungsbereich des von einer Tarifgemeinschaft verhandelten TVes nicht die gesamte Tarifzuständigkeit aller ihrer Mitglieder ausfüllt5. Bleibt im umgekehrten Fall die Tarifzuständigkeit eines Verbandes hinter dem verhandelten Geltungsbereich des TVes zurück, so ist der TV jeweils nur insoweit und nicht vollständig unwirksam.

e) Tarifgemeinschaft als Tarifpartei 191

Problematisch sind die (seltenen) Fälle, in denen eine Tarifgemeinschaft ausnahmsweise einmal einen TV im eigenen Namen unterzeichnet. So hat z.B. die „Tarifgemeinschaft des Großhandels, Außenhandels und der Dienstleistungen in Nordrhein-Westfalen“ jeweils im eigenen Namen einen Mantel- und einen LohnTV mit den Gewerkschaften ver.di und DHV geschlossen6. In diesem Fall tritt die Tarifgemeinschaft „als solche“7 nach außen im Rechtsverkehr auf. Es handelt sich dann um eine rechtsfähige Außen-GbR8. Damit ist jedoch ein weiteres Problem verbunden: Die Tarifgemeinschaft, die TVe im eigenen Namen schließt, ist faktisch nichts anderes als ein (Spitzen-)Verband in der Rechtsform der GbR. Über dessen Zulässigkeit wird im Schrifttum seit langem gestritten. Überwiegend wird eine körperschaftliche Struktur der Vereinigung verlangt, um sicherzustellen, dass die Existenz der Tarifpartei und da1 2 3 4 5 6

Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 17; Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 2 TVG Rz. 8. BAG v. 15.11.2006 – 10 AZR 665/05, NZA 2007, 448 (451). Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 417; Thüsing/Braun/Emmert, 2. Kap. Rz. 159. BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289. So ausdrücklich BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289 (298). Vgl. die Eintragung im Tarifregister Nordrhein-Westfalen, abrufbar unter: www.tarif register.nrw.de/material/gross_aussen.pdf (Stand: 27.3.2012). 7 Dazu K. Schmidt, JuS 1988, 444. 8 Insoweit zutreffend HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 11; Henssler, FS ARGE Arbeitsrecht, S. 37 (38).

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Höpfner

Tariffähigkeit

Rz. 193 Teil 2

mit auch des TVes von Veränderungen des Mitgliederbestandes unabhängig sind1. Folgt man dem, ist die GbR keine taugliche Rechtsform für einen (Spitzen-)Verband2. Doch auch wenn man das anders beurteilen wollte, wird regelmäßig die Tarifzuständigkeit der Tarifgemeinschaft mangels einer den Bestimmtheitsanforderungen des BAG (vgl. Rz. 16) gerecht werdenden Regelung im Gesellschaftsvertrag fehlen3. Schließlich wird regelmäßig die vom BAG für Spitzenorganisationen geforderte Zuständigkeitskongruenz4 fehlen. Ein von der Tarifgemeinschaft im eigenen Namen abgeschlossener TV ist daher grundsätzlich unwirksam. Eine Umdeutung in einen mehrgliedrigen TV mit den Mitgliedern der Tarifgemeinschaft als Vertragsparteien scheitert jedenfalls5 am Schriftformerfordernis des § 1 Abs. 2 TVG.

3. Tariffähigkeit von Spitzenorganisationen a) Begriff und tarifliche Wirkungsmöglichkeiten der Spitzenorganisation Bei Spitzenorganisationen handelt es sich um verfasste Zusammenschlüsse von Koalitionen auf Arbeitgeber- oder Arbeitnehmerseite. Prominenteste Beispiele sind DGB und BDA. Auch die Tarifgemeinschaft der Christlichen Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen (CGZP) ist als Spitzenorganisation konstituiert; sie war für das BAG Anlass, sich in einer grundlegenden Entscheidung vom 14.12.2010 mit der Tariffähigkeit der Spitzenorganisationen zu befassen6. Unter bestimmten Voraussetzungen ist den Spitzenorganisationen die Tariffähigkeit gem. § 2 Abs. 2, 3 TVG eröffnet.

192

Insofern sind zwei Fälle zu unterscheiden7: Zum einen kann die Spitzenorganisation gemäß § 2 Abs. 2 TVG durch ihre Mitgliedsverbände zum Abschluss von TVen bevollmächtigt werden und in deren Namen handeln. In diesem Fall handelt es sich um Stellvertretung iSv. § 164 BGB. TV-Partei wird dann „nicht die Spitzenorganisation, sondern die von ihr vertretene TV-Partei“8. In diesem Fall kommt es unmittelbar auf die Tariffähigkeit der jeweiligen Mitgliedsorga-

193

1 Vgl. nur HWK/Henssler, 4. Aufl. 2010, § 2 TVG Rz. 8; Wiedemann/Oetker, TVG, 7. Aufl. 2007, § 2 TVG Rz. 235 m.w.N. 2 Vgl. MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 164 Rz. 18; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 236; a.A. HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 11; Henssler, FS ARGE Arbeitsrecht, S. 37 (38); Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 51 sowie für den Fall einer Fortsetzungsklausel auch Rieble, Der Konzern 2005, 475 (479 f.). 3 Enthält die Satzung dagegen entsprechende Regelungen, so handelt es sich ohnehin regelmäßig um einen „echten“ Verband in der Rechtsform des nicht eingetragenen Vereins (vgl. Rz. 178). 4 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289. 5 Zweifelhaft ist schon, ob eine Umdeutung einen Parteiwechsel zur Folge haben kann. Das BAG bejaht dies im Grundsatz, stellt aber hohe Anforderungen an einen entsprechenden hypothetischen Parteiwillen, vgl. BAG v. 24.1.1996 – 1 AZR 597/95, NZA 1996, 948 (949 f.). 6 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289; dazu ausf. Greiner, Gemeins. Anm. EzA § 2 TVG Nr. 30, 31. 7 Vgl. Franzen, BB 2009, 1472 (1474); BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 69. 8 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 69.

Greiner

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Teil 2 Rz. 194

Tarifvertragsparteien

nisation an – ebenso wie es auch im Übrigen bei Stellvertretung auf die Geschäftsfähigkeit1 des Vertretenen ankommt (vgl. § 165 BGB). In den Fällen des § 2 Abs. 3 TVG wird die Spitzenorganisation hingegen selbst Partei des TVes. Hierzu muss der Abschluss von TVen zu ihren satzungsmäßigen Aufgaben gehören. 194

Auch durch einen derartigen TV-Abschluss werden die Mitglieder der in der Spitzenorganisation zusammengeschlossenen Koalitionen normativ gem. § 4 Abs. 1 TVG berechtigt und verpflichtet2. Die der Spitzenorganisation angehörenden Koalitionen verlieren durch die Vermittlung der Tarifnormsetzungskompetenz an die Spitzenorganisation derselben nicht die Möglichkeit, selbst TVe in demselben Zuständigkeitsbereich zu schließen. Ihre Tariffähigkeit bleibt somit ungeschmälert bestehen3. Nur im Innenverhältnis von Koalition und Spitzenorganisation können sich Beschränkungen – etwa durch die Satzung der Spitzenorganisation – ergeben, denen freilich keine Außenwirkung zukommt.

b) Voraussetzung: Tariffähigkeit der Mitgliedskoalitionen 195

Die Spitzenorganisation ist nicht originär tariffähig, sondern leitet ihre Tariffähigkeit in beiden Fällen von den Mitgliedskoalitionen ab4. Somit ist die Tariffähigkeit der Mitgliedskoalitionen Voraussetzung. Auch bei der zweiten Variante, dem eigenständigen TV-Abschluss durch die Spitzenorganisation in eigenem Namen (§ 2 Abs. 3 TVG) ist dieses Erfordernis unverzichtbar: Mitglieder der Spitzenorganisation sind lediglich die ihr angeschlossenen Verbände. Ihre Durchsetzungsfähigkeit kann sich daher nur aus der Durchsetzungsfähigkeit ihrer Mitgliedsorganisationen speisen5; ihre Zuverlässigkeit resultiert allein aus der Zuverlässigkeit der Mitgliedsorganisationen. Daraus folgt zwangsläufig, dass die Mitgliedsorganisationen nur im Rahmen ihrer eigenen Tariffähigkeit der Spitzenorganisation die Tariffähigkeit vermitteln können6.

196

In der Literatur umstritten ist, ob lediglich zwei Mitglieder der Spitzenorganisation tariffähig sein müssen oder ob sämtliche Mitglieder der Spitzenorganisation tariffähig sein müssen7. Das BAG wählt einen Mittelweg und verlangt, 1 Vgl. MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 164 Rz. 1 (Tariffähigkeit als „spezielle Art der Geschäftsfähigkeit“); dagegen Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 13. 2 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 70. 3 BAG v. 22.2.1957 – 1 AZR 426/56, SAE 1957, 119. 4 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 74. 5 Vgl. Franzen, BB 2009, 1472 (1474); Jacobs, ZfA 2010, 27 (41). Systematisch spricht auch die Haftungsregelung in § 2 Abs. 4 TVG für diese Perspektive; dazu Buchner, FS 50 Jahre Arbeitsgerichtsbarkeit Rheinland-Pfalz, 1999, S. 331 (340). 6 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 71; ebenso Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 55; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 437; Wiedemann/Thüsing, RdA 1995, 280 (281); Jacobs, ZfA 2010, 27 (41); Franzen, BB 2009, 1472 (1474). 7 Für die erstgenannte Auffassung: LAG Niedersachsen v. 25.8.1998 – 11 Sa 1455/97, LAGE § 2 TVG Nr. 5, Rz. 31; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 432; Lembke, NZA 2007, 1333 (1135); Jacobs, ZfA 2010, 27 (46); Franzen, BB 2009, 1472 (1474 f.); für die letztgenannte Auffassung insbesondere: Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 56; D. Ulber, NZA 2008, 439 (441).

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Greiner

Tariffähigkeit

Rz. 199 Teil 2

dass alle das Tarifgeschehen der Spitzenorganisation prägenden Mitgliedsorganisationen ihrerseits tariffähig sein müssen1. Dem ist zu folgen: Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb Zuverlässigkeit und Tariffähigkeit der Spitzenorganisation entfallen sollten, wenn ihr einzelne tarifunfähige Organisationen angehören. Andererseits muss gewährleistet sein, dass diese tarifunfähigen Organisationen keinen maßgeblichen Einfluss auf die Tarifnormsetzung der Spitzenorganisation haben. Dieser Mittelweg fügt sich in die Rechtsprechung zur „OT-Mitgliedschaft“2 ein.

c) Prinzip der Zuständigkeitskongruenz Im CGZP-Beschluss statuiert das BAG im Wege richterlicher Rechtsfortbildung ein weiteres Erfordernis: Die Zuständigkeitsbereiche von Spitzenorganisation und Mitgliedsorganisationen müssen exakt übereinstimmen, sog. Prinzip der Zuständigkeitskongruenz3. Demnach darf zum einen die der Spitzenorganisation übertragene Zuständigkeit nicht über die Tarifzuständigkeiten der Mitgliedsorganisationen hinausgehen, zum anderen darf sie dahinter auch nicht zurückbleiben.

197

aa) Keine Überschreitung der Tarifzuständigkeiten Geht man davon aus, dass Spitzenorganisationen über keine originäre, sondern lediglich über eine abgeleitete Tariffähigkeit verfügen4, erschließt sich die Validität des erstgenannten Aspekts nahezu von selbst: Da die Mitgliedskoalitionen außerhalb des selbst gewählten Zuständigkeitsbereichs nicht tariffähig sind, kommt auch eine abgeleitete Tariffähigkeit der Spitzenorganisation insofern nicht in Betracht5.

198

Zutreffend scheint somit, Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit gleichermaßen von den Mitgliedsorganisationen abzuleiten. Die teilweise vertretene Entkoppelung beider Aspekte – die Tarifzuständigkeit sei autonom der Satzung der Spitzenorganisation, die Tariffähigkeit hingegen der Durchsetzungskraft der Mitgliedsorganisationen zu entnehmen –6, verkennt die innere Verknüpfung beider Aspekte. Ferner würde dadurch eine legitimationslose und missbrauchs-

199

1 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rn. 72 ff. mit ausf. Begründung. In diese Richtung bereits Wiedemann/Thüsing, RdA 1995, 280 (282); Rolfs/Witschen, DB 2010, 1180; offen gelassen bei Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 426; dezidiert dagegen Jacobs, ZfA 2010, 27 (45). 2 Auf diesen Konnex verweisen auch Franzen, BB 2009, 1472 (1475); Jacobs, ZfA 2010, 27 (43). 3 Vgl. BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 76: „Die zu einer Spitzenorganisation (…) zusammengeschlossenen Gewerkschaften müssen dieser ihre Tariffähigkeit vollständig vermitteln. Dies setzt voraus, dass sich die einer Spitzenorganisation angeschlossenen Gewerkschaften in ihrem Organisationsbereich nicht nur teilweise, sondern vollständig miteinander verbinden.“ 4 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 71. 5 So bereits vor dem CGZP-Beschluss Franzen, BB 2009, 1472 (1475); D. Ulber, NZA 2008, 438 (439). 6 Lembke, NZA 2007, 1133.

Greiner

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Teil 2 Rz. 200

Tarifvertragsparteien

anfällige Tarifnormsetzung in Zuständigkeitsbereichen ermöglicht, für welche die tariffähigen Mitgliedskoalitionen keinerlei Normsetzungskompetenz haben1. 200

Bemerkenswert ist freilich, dass nach dem CGZP-Beschluss die Rechtsfolge einer (auch nur marginalen) Überschreitung des Kongruenzbereichs der vollständige Entfall der Tariffähigkeit der Spitzenorganisation sein soll, nicht lediglich ein auf den Bereich der Überschreitung beschränkter Entfall. Dies steht in Kontrast zur genau gegenteiligen Sichtweise auf Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit einer einzelnen Koalition: Hier steht das Fehlen von Durchsetzungskraft in einem kleineren Teilbereich der Tarifzuständigkeit der (absoluten) Tariffähigkeit nicht entgegen (s. Rz. 87). Diese scharfe Rechtsfolge kommt einer Sanktion nahe und ist deutlicher Ausdruck einer skeptisch-distanzierten Sichtweise des BAG auf tarifpolitische Aktivitäten von Spitzenorganisationen auf Gewerkschaftsseite2.

bb) Kein Zurückbleiben hinter den Tarifzuständigkeiten 201

Die Validität des zweiten Aspekts des Kongruenzprinzips bedarf einer eingehenderen Begründung. Demnach steht eine nur partielle Übertragung der Tarifzuständigkeiten der Mitgliedskoalitionen an die Spitzenorganisation gleichfalls deren Tariffähigkeit entgegen. Zutreffend stellt das BAG auf Aspekte der Rechtssicherheit und der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie ab3. Aus Sicht des BAG folgt diese Ausprägung des Kongruenzprinzips aus dem absoluten, „unteilbaren“ Verständnis der Tariffähigkeit (s. Rz. 86 ff.). Hinsichtlich der Tariffähigkeit von Spitzenorganisationen führt die Absage an eine relative Tariffähigkeit in der Tat zu notwendigen Restriktionen: Können Mitgliedskoalitionen auch für Tarifgebiete tariffähig sein, auf denen sie für sich genommen über keine hinreichende, durch Mitglieder gestützte Durchsetzungskraft verfügen (s. Rz. 87), muss eine punktuelle Verlagerung dieser schwach legitimierten Betätigungsfelder auf eine Spitzenorganisation unterbunden werden.

202

Andernfalls könnten die Mitgliedsorganisationen soziale Mächtigkeit durch ihre Mitgliederstärke in anderen Tarifgebieten begründen, um die daraus resultierende absolute Tariffähigkeit für weitere Betätigungsfelder, in denen sie über keinerlei Mitglieder, wohl aber über eine satzungsautonom definierbare Tarifzuständigkeit verfügen, der Spitzenorganisation zu vermitteln. Die Mitgliedskoalitionen hätten auf diese Weise einen Anreiz, die Zuständigkeit auf weitere Betätigungsfelder auszudehnen, ohne jedoch eine Mitgliedergewinnung durch eigenverantwortliche Tarifaktivitäten dort auch nur anzustreben4. Zugleich distanzieren sie sich gewissermaßen durch die Verlagerung der Tarifaktivitäten auf die Spitzenorganisation von der Tarifnormsetzung für diesen Bereich. Die „Bewährung“ einer Mitgliedskoalition in anderen Bereichen ihrer 1 D. Ulber, NZA 2008, 438 (442). 2 Ausf., auch zu den dogmatischen Hintergründen Greiner, Gemeins. Anm. EzA § 2 TVG Nr. 30, 31, S. 29 ff. 3 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 83. 4 S. Greiner, Gemeins. Anm. EzA § 2 TVG Nr. 30, 31, S. 25.

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Rz. 204 Teil 2

Tarifzuständigkeit

Tarifzuständigkeit trägt in diesem Fall den Rückschluss auf die Zuverlässigkeit der Spitzenorganisation nicht, da die Einheitlichkeit des infolge der Bewährung in anderen Zuständigkeitsbereichen für zuverlässig befundenen Normgebers durchbrochen ist1.

cc) Praktische Konsequenzen Durch die Einführung des Kongruenzprinzips dürften Spitzenorganisationen als eigenständige Tarifakteure auf Gewerkschaftsseite künftig keine bedeutende Rolle mehr spielen; sie behalten freilich ihre Bedeutung als nicht tariffähige Dachverbände einander nahestehender Gewerkschaften. Konsequenzen für Spitzenorganisationen auf Arbeitgeberseite sind hingegen nicht ersichtlich: Weil Geltungsgrund des „Kongruenzprinzips“ allein der Schutz der durch die Mächtigkeitsprüfung angestrebten Zuverlässigkeit zur Tarifnormsetzung ist und bei Arbeitgeberverbänden auf die Mächtigkeitsprüfung ohnehin mit Recht verzichtet wird (s. Rz. 105 ff.)2, scheint eine Übertragung des Kongruenzprinzips auf Spitzenorganisationen der Arbeitgeberverbände nicht begründbar.

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C. Tarifzuständigkeit Literatur: Blank, Tarifzuständigkeiten nach der Gründung von ver.di, in: Festschrift 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, 2004, S. 597; Buchner, Bestätigung der OT-Mitgliedschaft durch das BAG – Grundsätzliche Anerkennung – Offene Folgefragen, NZA 2006, 1377; Deinert, Schranken der Satzungsgestaltung beim Abstreifen der Verbandstarifbindung durch OT-Mitgliedschaften, RdA 2007, 83; Deinert, Arbeitsrechtliche Herausforderungen einer veränderten Gewerkschaftslandschaft, NZA 2009, 1176; Ebert, Die Zuständigkeit der Tarifvertragsparteien zum Abschluss von Verbands- und Firmentarifverträgen, 2003; Feudner, Tarifzuständigkeit der Gewerkschaften, BB 2004, 2297; Heinze, Tarifzuständigkeit von Gewerkschaften und Arbeitgebern/Arbeitgeberverbänden, DB 1997, 2122; Henssler, Firmentarifverträge und unternehmensbezogene Verbandstarifverträge als Instrument einer „flexiblen“, betriebsnahen Tarifpolitik, ZfA 1998, 517; Höpfner, Blitzaustritt und Blitzwechsel in die OT-Mitgliedschaft, ZfA 2009, 541; Junker, Die Tarifzuständigkeit als Wirksamkeitserfordernis des Tarifvertrages, ZfA 2007, 229; Konzen, Die Tarifzuständigkeit im Tarif- und Arbeitskampfrecht, in: Festschrift Kraft, 1998, S. 291; Lembke, Die Aussetzung von Verfahren zur Prüfung der Tariffähigkeit einer Organisation, NZA 2008, 451; Ricken, Autonomie und tarifliche Rechtsetzung, 2006; Ricken, Neues zur Tarifzuständigkeit?, RdA 2007, 35; Wiedemann, Zur Tarifzuständigkeit, RdA 1975, 78.

I. Begriff der Tarifzuständigkeit 1. Definition Die Tarifzuständigkeit ist nach der ständigen Rechtsprechung des BAG die Fähigkeit eines an sich tariffähigen Verbands, TVe für einen bestimmten Gel1 Ausf. Greiner, Gemeins. Anm. EzA § 2 TVG Nr. 30, 31, S. 24 ff. 2 H.M.; vgl. BVerfG v. 20.10.1981 – 1 BvR 404/78, EzA § 2 TVG Nr. 13; BAG v. 20.11.1990 – 1 ABR 62/89, EzA § 2 TVG Nr. 20; Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 90; a.A. insb. Müller, RdA 1990, 322.

Sittard

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204

Teil 2 Rz. 205

Tarifvertragsparteien

tungsbereich abzuschließen1. Die Tarifzuständigkeit ist eine rechtliche Eigenschaft der Arbeitgeber- oder Arbeitnehmervereinigung bzw. des einzelnen Arbeitgebers. Sie kommt bei Verbänden dem Verband als solchem und nicht dessen einzelnen Mitgliedern zu2. 205

Mit der Tarifzuständigkeit besteht neben der Tariffähigkeit eine weitere Voraussetzung für das wirksame Zustandekommen eines TVes. Trotz der fehlenden ausdrücklichen Erwähnung im TVG ist sie als eigenständige Wirksamkeitsvoraussetzung von TVen nahezu allgemein anerkannt3. Durch die prozessuale Regelung in den §§ 2a Abs. 1 Nr. 4, 97 ArbGG hat die Tarifzuständigkeit zudem eine einfachgesetzliche Anerkennung erfahren. Anders als die Tariffähigkeit legen die Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften diese grds. durch ihre Satzung selbst und autonom fest. Die Tarifzuständigkeit eines tariffähigen Verbandes bestimmt den Geschäftsbereich, in dem der Verband TVe abschließen kann und stellt damit die äußerste Grenze für die Tarifnormsetzung eines Verbandes dar4. Die Tarifzuständigkeit begrenzt daher den Bereich, in dem eine TV-Partei Regelungsbefugnis beansprucht. Daraus folgt aber zugleich, dass durch diese Selbsteinschränkung auch der maximale Geltungsbereich eines TVes in räumlicher, fachlicher und persönlicher Hinsicht umschrieben wird, den der Verband abschließen kann.

2. Zweck 206

Der Zweck der Tarifzuständigkeit besteht im Kern in der Abgrenzung der Kompetenzbereiche verschiedener Verbände auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite5. Da der Staat sich mit Regelungen im Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbeziehungen zurückhält, überlässt er die Abgrenzung der Zuständigkeitsbereiche der autonomen Regelungsbefugnis der TV-Parteien. Dahinter steht die Erwartung, dass auf diese Weise ein funktionales Tarifvertragssystem ermöglicht wird und Kompetenzstreitigkeiten zwischen ebenbürtigen Organisationen vermieden werden6. Zugleich dient die Tarifzuständigkeit damit auch der 1 St. Rspr., vgl. nur BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225 ff. m.w.N. 2 BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225 (1227). 3 BAG v. 19.12.1958 – 1 AZR 109/58, AP Nr. 3 zu § 2 TVG; BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225 (1228); Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 164; HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 38; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 180 f.; ausführlich mit historischer Darstellung Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 52, 60 f. m.w.N.; krit. Gamillscheg, S. 535 f.; a.A. Richardi, Anm. zu BAG v. 22.2.1957 – 1 AZR 426/56, AP Nr. 2 zu § 2 TVG Tarifzuständigkeit, der annimmt, dass die Tarifzuständigkeit dogmatisch ein Teil der Tariffähigkeit sei. 4 BAG v. 17.2.1970 – 1 ABR 14/69, AP Nr. 2 zu § 2 TVG; BAG v. 19.11.1985 – 1 ABR 37/83, NZA 1986, 480 (482); BAG v. 20.4.1988 – 4 AZR 646/87, AP Nr. 95 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG v. 22.11.1988 – 1 ABR 6/87, NZA 1989, 561 (562); BAG v. 24.7.1990 – 1 ABR 46/89, NZA 1991, 21 (22); BAG v. 12.11.1996 – 1 ABR 33/96, NZA 1997, 609 (611); BAG v. 10.2.2009 – 1 ABR 36/08, NZA 2009, 908 (911) m. Anm. Franzen, ZfA 2010, 723 (842); Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 164; HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 37; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 177 f.; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 56. 5 Kempen/Zachert/Kempen, § 2 TVG Rz. 154 f.; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 178; Jacobs, Tarifeinheit, S. 123 f. 6 S. nur HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 40; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 58.

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Tarifzuständigkeit

Rz. 210 Teil 2

Gewährleistung der Richtigkeitsgewähr von TVen1, da durch die Abgrenzung der Zuständigkeitsbereiche zumindest im Ansatz sichergestellt wird, dass die Koalitionen TVe jeweils nur für einen Bereich schließen, in dem sie besonders kompetent sind; aufgrund der weitgehenden Satzungsautonomie der Koalitionen wird dieses Ziel indes nur eingeschränkt zu erreichen sein. Allerdings ist zu konstatieren, dass aufgrund des immer stärker werdenden Koalitionspluralismus in der Bundesrepublik die Ordnungsfunktion der Tarifzuständigkeit abnimmt, da – insbesondere auf Seiten der (konkurrierenden) Gewerkschaften – für immer mehr Zuständigkeitsbereiche überlappende Kompetenzen bestehen. Ursache dafür ist, dass es zunehmend mehr (und vor allem stärkere) Gewerkschaften außerhalb des DGB gibt, die – ganz bewusst – ihre Zuständigkeiten nicht mit anderen Gewerkschaften abstimmen, sondern als Konkurrenzgewerkschaften auftreten2. Gerade zwischen den Berufsgewerkschaften (Cockpit, GdL, Marburger Bund etc.) und den nach dem Industrieverbandsprinzip (dazu unten Rz. 222 f.) organisierten Gewerkschaften sind sich überlappende Kompetenzbereiche beinahe zwingend.

207

Trotz der damit einhergehenden Probleme ist eine gesetzliche Regulierung der Tarifzuständigkeit rechtspolitisch nicht wünschenswert, überdies wäre sie verfassungsrechtlich vor dem Hintergrund der Koalitionsfreiheit wohl kaum zulässig. Würde der Staat die Tarifzuständigkeiten selbst regeln, griffe er elementar in die kollektive Koalitionsfreiheit der Verbände ein, da es gerade Kern des verfassungsrechtlich geschützten Freiheitsrechts des Art. 9 Abs. 3 GG ist, dass die Koalitionen selbst entscheiden können, für welchen Bereich sie zuständig sein wollen3. Aus dieser Erwägung folgt im Übrigen auch, dass keine Koalition Unterlassungs- oder Abwehransprüche gegen die Tarifzuständigkeit regelnde Satzungsstatuten anderer Koalitionen geltend machen kann.

208

3. Ermittlung der Tarifzuständigkeit Für welche Branchen bzw. Arbeitnehmer die Tarifparteien zuständig sind, ist durch Auslegung der Satzung zu ermitteln. Dabei wird auf den objektivierten Willen des Satzungsgebers und somit die allgemeinen Grundsätze der Gesetzesauslegung abgestellt4. Maßgeblich sind insbesondere der Wortlaut, der Sinn und Zweck, die Entstehungsgeschichte und der Gesamtzusammenhang der Satzung. Die Herangehensweise überzeugt vor dem Hintergrund der Normwirkung von TVen, die mit einer Auslegung am (subjektiveren) Maßstab von Willenserklärungen nicht vereinbar ist.

209

Im Rahmen des Gesamtzusammenhangs ist es zulässig, auch satzungsmäßige Verpflichtungen zu beachten, die die Koalition gegenüber Dritten (z.B. einem Dachverband) eingegangen ist. So ist es bspw. nach der BAG-Rechtsprechung

210

1 2 3 4

Ricken, RdA 2007, 35 (36 f.). Eingehend Deinert, NZA 2009, 1176. S. hierzu auch Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 172. BAG v. 14.12.1999 – 1 ABR 74/98, NZA 2000, 949; BAG v. 27.9.2005 – 1 ABR 41/04, NZA 2006, 273 (277); BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225 (1228); BAG v. 10.2.2009 – 1 ABR 36/08, NZA 2009, 908 (911) m. Anm. Franzen, ZfA 2010, 723 (842); BAG v. 17.4.2012 – 1 ABR 5/11.

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Teil 2 Rz. 211

Tarifvertragsparteien

geboten, bei der Auslegung einer Satzung einer DGB-angehörigen Gewerkschaft die DGB-Satzung in die Betrachtung einzubeziehen1. Dies betrifft insbesondere das (ungeschriebene) Prinzip „Ein Betrieb – eine Gewerkschaft“. Wenn allerdings erkennbar ist, dass die Gewerkschaft die Organisationsprinzipien des DGB (bewusst) nicht einhalten wollte, dann gilt der Wille des Satzungsgebers ohne Rücksicht auf die DGB-Satzung2.

4. Abgrenzung der Tarifzuständigkeit von der Tariffähigkeit 211

Die Tarifzuständigkeit ist von der Tariffähigkeit abzugrenzen. Bei der Tariffähigkeit handelt es sich – stark vereinfacht – um eine objektive Bewertung, ob ein Verband (oder auch ein einzelner Arbeitgeber, der jedoch gemäß § 2 Abs. 1 TVG stets tariffähig ist) in der Lage ist, TVe abzuschließen. Die Tarifzuständigkeit setzt einen Schritt später an und beantwortet nach der bejahten Frage nach der generellen Kompetenz zum Abschluss von TVen (Tariffähigkeit) die Frage, für welchen Bereich der jeweilige Verband bzw. der betroffene Arbeitgeber TVe abschließen kann. Bei der Tarifzuständigkeit geht es also um die Frage nach dem Umfang des Geltungsbereiches der tariflichen Regelungsbefugnis3. Der Teil eines TVes, der die Tarifzuständigkeit als äußerste Grenze für die Tarifnormsetzung nicht beachtet und darüber hinausgeht, ist unwirksam4. Im Gegensatz zur Tariffähigkeit einer Partei, über die diese nicht selbst entscheiden kann, sondern die sich nach objektiven Merkmalen richtet (vgl. hierzu Rz. 45 ff.), bestimmt sich das Regelungsterrain der Tarifzuständigkeit allein durch die jeweilige Satzung.

II. Festlegung der Tarifzuständigkeit 1. Regelung durch Satzung bei Verbänden 212

Für die Regelung des Umfangs der Tarifzuständigkeit gewährt Art. 9 Abs. 3 GG den Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften Satzungsautonomie und damit die Befugnis zur unabhängigen Festlegung der Tarifzuständigkeit über die Verbandssatzung. Diese ist mithin verfassungsrechtlich geschützt5. Sie darf nicht fremdbestimmt werden und ist zwingend der Mitglieder- oder Vertreterversammlung vorbehalten6. Deshalb ist auch eine dynamische Verweisung in einer Satzung hinsichtlich der Tarifzuständigkeit, bspw. auf den Geltungsbereich eines MantelTVes, unwirksam. Die Tarifzuständigkeit bemisst sich ausschließlich nach der statutarischen Festlegung. Allerdings schließt die Organisations- und Satzungsautonomie das Recht ein, den Zuständigkeitsbereich 1 BAG v. 27.9.2005 – 1 ABR 41/04, NZA 2006, 273; kritisch aber Ricken, RdA 2007, 35 (39 ff.). 2 Vertiefend Ricken, RdA 2007, 35 (40 ff.). 3 Ähnlich ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 33. 4 BAG v. 19.11.1985 – 1 ABR 37/83, NZA 1986, 480 (481 f.); Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 181; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 44. 5 Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 165, 172; HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 37; Thüsing/Braun/ Emmert, 2. Kap. Rz. 82. 6 Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 229 ff.; MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 164 Rz. 85; Ricken, RdA 2007, 35 (39 f.).

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Tarifzuständigkeit

Rz. 213 Teil 2

jederzeit neu zu bestimmen, zu begrenzen oder zu erweitern, wenn dies zweckmäßig erscheint1. Die Festlegung der Tarifzuständigkeit, ihre Grenzen und (eventuelle) Erweiterungen müssen dabei in der Satzung wegen der Normsetzungsbefugnis der TV-Parteien und der damit verbundenen Außenwirkung hinreichend deutlich bestimmt sein2. Dies schließt allerdings nicht aus, dass die Satzung Interpretationsspielraum bietet und z.B. Zuständigkeitsregelungen wie „[…] zuständig für Betriebe anverwandter Industriezweige […]“ enthält. Ebenfalls zulässig, und im Übrigen hilfreich, sind Regelbeispiele für Tätigkeitsmerkmale oder Berufsgruppen, an die die Zuständigkeit anknüpft, wobei diese aber nicht abschließend sein müssen. Wegen fehlender Bestimmtheit unzulässig ist hingegen eine Satzungsbestimmung, wonach eine Gewerkschaft für Unternehmen oder Branchen tarifzuständig ist, in denen sie eine „hinreichende Repräsentativität“ besitzt3. Neben der Festlegung der Tarifzuständigkeit von Arbeitnehmervereinigungen durch Satzung wird vertreten, dass sich diese auch aus Vereinsgewohnheitsrecht (sog. Observanz) ergeben kann; unabhängig von anderweitigen Satzungsbestimmungen könne sich die Änderung der Vereinsverfassung aus lang andauernder Übung ergeben4. Zwar gelte dies wegen § 71 Abs. 2 BGB nur für nichtrechtsfähige Arbeitnehmervereinigungen, jedoch könnten sich, so z.B. die DGB-Gewerkschaften, bei der Begründung ihrer Tarifzuständigkeit auf eventuelle Oberservanztatbestände berufen. Diese Auffassung ist abzulehnen. Es wäre mit der Normsetzungskompetenz der TV-Parteien nicht vereinbar, den Zuständigkeitsbereich von Gewohnheitsrecht abhängig zu machen. Eine solche Annahme widerspricht auch den Bestimmtheitsanforderungen an die Satzung5. Bspw. müssen neu in einer Branche oder Region tätige Arbeitnehmer schon anhand der Satzung erkennen können, ob die ihnen entgegen tretende (und ggf. einen Streik androhende) Gewerkschaft tarifzuständig ist. Dies schließt es allerdings nicht aus, Verpflichtungen der Koalition gegenüber einem Dachverband (z.B. dem DGB) bei der Auslegung zu berücksichtigen (siehe oben Rz. 209). Keinesfalls erweitert das bloße Tätigwerden außerhalb des satzungsgemäßen Regelungswillens die Tarifzuständigkeit. Der tatsächliche Abschluss von TVen bietet somit keine Indizwirkung für den Inhalt der Satzung6. 1 Vgl. BAG v. 12.12.1995 – 1 ABR 27/95, NZA 1996, 1042 (1043); BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 4/96, NZA 1997, 613 (615); BAG v. 14.12.1999 – 1 ABR 74/98, NZA 2000, 949 (952). 2 BAG v. 19.11.1985 – 1 ABR 37/83, NZA 1986, 480 (482); BAG v. 10.2.2009 – 1 ABR 36/08, NZA 2009, 908 (911) m. Anm. Eberling, BB 2009, 2432; BAG v. 17.4.2012 – 1 ABR 5/11. 3 BAG v. 17.4.2012 – 1 ABR 5/11. 4 Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 235, 108; MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 164 Rz. 86; Thüsing/Braun/Emmert, 2. Kap. Rz. 84, 221. 5 BAG v. 19.11.1985 – 1 ABR 37/83, NZA 1986, 480 (482); BAG v. 10.2.2009 – 1 ABR 36/08, NZA 2009, 908 (911) m. Anm. Eberling, BB 2009, 2432; ähnlich HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 44. 6 BAG v. 24.7.1990 – 1 ABR 46/89, NZA 1991, 21 (23); BAG v. 17.4.2012 – 1 ABR 5/11; Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 165; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 235; Thüsing/Braun/ Emmert, 2. Kap. Rz. 83.

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Teil 2 Rz. 214 214

Tarifvertragsparteien

Die Übertragung der Regelungsbefugnis zur Festlegung der Tarifzuständigkeit auf einen Dachverband für seine Mitgliedsverbände ist unzulässig, da ansonsten die verfassungsrechtlich geschützte Koalitionszweckautonomie des Verbandes unterlaufen würde. Gleiches gilt, sofern die Bestimmung oder Veränderung der Tarifzuständigkeit unter einen Genehmigungsvorbehalt des Dachverbandes gestellt wird1. Das BAG vertritt in Hinblick auf einen Zustimmungsvorbehalt (eines Dachverbandes) aber eine andere Auffassung2. Eine solche Selbstbeschränkung der Satzungsautonomie sei zulässig, solange die eigene Willensbestimmung des Verbandes nicht vollständig zum Erliegen gebracht werde. Allerdings führe ein Verstoß gegen einen derartigen Zustimmungsvorbehalt im Außenverhältnis nicht notwendig zur Unwirksamkeit der entsprechenden Satzungsänderung des Verbandes3.

2. Regelung bei Spitzenorganisationen und Tarifgemeinschaften 215

Hinsichtlich der Tarifzuständigkeit von Spitzenorganisationen und Tarifgemeinschaften gilt Folgendes, wobei zwischen beiden hinsichtlich der Frage der Tarifzuständigkeit bei Abschluss eines TVes zu unterscheiden ist: Handelt eine Spitzenorganisation bei Abschluss eines TVes in eigenem Namen (§ 2 Abs. 3 TVG), so kommt es auf ihre Tarifzuständigkeit an, die sich aus der Satzung der Spitzenorganisation ergeben muss. Dabei ist es aber unproblematisch möglich, dass die Tarifzuständigkeit der Spitzenorganisation gegenüber der der Mitgliedsverbände eingeschränkt ist4. Eine Erweiterung über die Tariffähigkeit der Mitgliedsverbände hinaus ist jedoch nicht zulässig. Handelt die Spitzenorganisation aber im Namen ihrer Mitglieder (§ 2 Abs. 2 TVG), so ist die Tarifzuständigkeit der Mitgliedsverbände maßgeblich.

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Für Tarifgemeinschaften scheidet eine eigene Tarifzuständigkeit bereits aufgrund der mangelnden Tariffähigkeit aus. Ihre tarifliche Regelungsmacht statuiert sich nur nach der Tarifzuständigkeit ihrer Mitglieder oder der durch sie vertretenen Verbände bzw. Arbeitgeber, welche nach der Rspr. bereits zwingende Voraussetzung zur wirksamen Bildung einer Tarifgemeinschaft ist5. Daraus folgt, dass sich die Tarifzuständigkeit einer Tarifgemeinschaft nach der Tarifzuständigkeit ihrer Mitglieder richtet. Deshalb kann über die Bildung einer Tarifgemeinschaft keine Ausweitung der Tarifzuständigkeit auf Mitglieder der Tarifgemeinschaft erfolgen, die kraft eigener Satzung keine Organisationszuständigkeit besitzen. Die Mitgliedschaft in einer Tarifgemeinschaft hat keine Auswirkungen auf die eigene Tariffähigkeit und -zuständigkeit. Deshalb kann das Mitglied der Tarif1 MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 164 Rz. 87 ff.; Thüsing/Braun/Emmert, 2. Kap. Rz. 82; Ricken, RdA 2007, 35 (40); vgl. aber BAG v. 27.9.2005 – 1 ABR 41/04, NZA 2006, 273 (277 f.). 2 BAG v. 27.9.2005 – 1 ABR 41/04, NZA 2006, 273 (277 f.). 3 BAG v. 27.9.2005 – 1 ABR 41/04, NZA 2006, 273 (277 f.). 4 Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 314. 5 BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 4/96, NZA 1997, 613 (617 f.); BAG v. 27.9.2005 – 1 ABR 41/04, NZA 2006, 273 (280); Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 417; Ricken, Tarifliche Rechtsetzung, S. 292; Ricken, RdA 2007, 35 (43); a.A. Blank, FS 50 Jahre BAG, S. 597 (610).

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Tarifzuständigkeit

Rz. 218 Teil 2

gemeinschaft mit einer Koalition einen TV abschließen, der dann dem TV der Tarifgemeinschaft als speziellere Regelung vorgehen kann1.

3. Regelung bei einzelnen Arbeitgebern und Gewerkschaften Dem einzelnen Arbeitgeber, der gemäß § 2 Abs. 1 TVG tariffähig ist, kommen bei der Bestimmung der Tarifzuständigkeit allenfalls geringfügige Gestaltungsmöglichkeiten zu. Der jeweilige Arbeitgeber, d.h. der Rechtsträger, ist zwingend für das Unternehmen bzw. seine Betriebe tarifzuständig; diese Zuständigkeit bestimmt sich grundsätzlich (ebenso in Mischbetrieben) im Rahmen von FirmenTVen in der Regel über den überwiegenden Gegenstand des Unternehmens, also die Tätigkeit, die dem Unternehmen das Gepräge verleiht2. Die dem Arbeitgeber gewährte Tariffähigkeit würde leerlaufen, wenn sich der Arbeitgeber durch eine engere Bestimmung seiner Tarifzuständigkeit TVen bzw. Arbeitskämpfen entziehen könnte. Die neuere Rechtsprechung des BAG lehnt darüber hinaus die selbstständige Festlegung einer einzelnen Tarifzuständigkeit eines individuellen Arbeitgebers anhand von dessen primärer Tätigkeitsausrichtung ab, da dieser für alle seine Betriebe tarifzuständig sei und damit auch gegen seinen Willen gezwungen werden könne, für jeden seiner Betriebe unterschiedliche TVe abzuschließen3. An dieser Rechtsprechung bestehen Zweifel: Der Arbeitgeber hat ein verfassungsrechtlich geschütztes Interesse daran, sein Unternehmen einer einheitlichen Tarifordnung zu unterwerfen. Hinzu kommt, dass zwar die Gewerkschaftsseite bei Festlegung der Tarifzuständigkeit völlig frei ist, der einzelne Arbeitgeber aber überhaupt keine Gestaltungsmöglichkeit hat4.

217

Auf Gewerkschaftsseite ist grundsätzlich diejenige Gewerkschaft tarifzuständig, die in der Branche tätig ist, der das Unternehmen seinem Gesamtgepräge nach angehört5. Auf Seiten der Gewerkschaften gestattet die Vereinsautonomie wiederum, die Tarifzuständigkeit betriebs- oder berufsbezogen auszugestalten: Eine Gewerkschaft kann bei einer entsprechenden Regelung in der Satzung einen FirmenTV abschließen, ohne für das gesamte Unternehmen oder sein wirtschaftliches Gesamt-/Hauptgepräge zuständig zu sein – der TV erfasst dann aber nur die von der Zuständigkeit gedeckten Bereiche (z.B. Betriebe) des Unternehmens6. Ebenso ist es möglich, TVe für einzelne Berufsgruppen unabhängig vom Gesamtgepräge des Unternehmens abzuschließen.

218

Keine Bedeutung für die Tarifzuständigkeit bei einem FirmenTV hat die gleichzeitige Mitgliedschaft des Arbeitgebers in einem nicht tarifzuständigen Arbeit1 MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 164 Rz. 73. 2 HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 43; Gamillscheg, § 14 II 2d; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 68; so früher auch das BAG: BAG v. 22.11.1988 – 1 ABR 6/87, NZA 1989, 561 (562). 3 BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 4/96, NZA 1997, 613 (618); differenzierend und auf den Betriebszweck abstellend Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 168; Däubler, Tarifvertragsrecht, S. 93 f.; Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, § 2 TVG Rz. 157. 4 HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 43; vgl. auch Henssler, ZfA 1998, 517 (523). 5 BAG v. 27.11.1964 – 1 ABR 13/63, AP Nr. 1 zu § 2 TVG Tarifzuständigkeit; Däubler/ Peter, § 2 TVG Rz. 168; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 68. 6 BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 4/96, NZA 1997, 613 (618).

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Teil 2 Rz. 219

Tarifvertragsparteien

geberverband bzw. die Mitgliedschaft der Arbeitnehmer in einer unzuständigen Gewerkschaft1.

III. Inhaltliche Freiheiten und Begrenzungen der Zuständigkeitsregelung in der Verbandssatzung 1. Räumliche Zuständigkeit 219

Die räumliche Festlegung bzw. die Begrenzung oder Erweiterung der eigenen Tarifzuständigkeit steht im Ermessen der Verbände. Es kommt nicht darauf an, ob der Verband in der jeweiligen Region stark vertreten oder repräsentativ ist. Bei Arbeitgeberverbänden muss die Satzung regeln, ob Anknüpfungspunkt für den räumlichen Geltungsbereich ihrer Mitglieder deren Unternehmenssitz oder der konkrete Ort einer ihrer Betriebsstätten ist. Auf Gewerkschaftsseite ist der Tarifbereich in der Regel das gesamte Bundesgebiet. Bei einer hohen geographischen Konzentration einzelner Unternehmen aus einer bestimmten Branche kann es jedoch vorkommen, dass sich lokal begrenzte Arbeitnehmervertretungen als zuständig konstituieren.

220

Grundsätzlich dürfte es außerdem zulässig sein, dass eine Koalition ihre Tarifzuständigkeit auch auf Gebiete außerhalb der Bundesrepublik ausdehnt. Es ist deshalb anerkannt, dass auch Betriebsstätten im Ausland von der Tarifzuständigkeit umfasst sein können2. Davon zu trennen ist allerdings die Frage, ob die TVe dieser Koalition im Ausland dann auch tatsächlich Anwendung finden und normative Wirkung entfalten. Dies beurteilt sich nach dem internationalen Privatrecht (vgl. unten Teil 17).

2. Fachliche Zuständigkeit 221

Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände können ihre Tarifzuständigkeit in fachlicher Hinsicht autonom festlegen. Dabei stellt weder der Zusammenschluss nach dem Industrieverbandsprinzip noch nach dem Berufsverbandsprinzip eine zwingende Bestimmung der Zuständigkeit dar3. Vielmehr muss bzgl. der Tarifzuständigkeit keines dieser beiden Prinzipien eingehalten werden – es existiert kein „Koalitionstypenzwang“4. So ist das Industrieverbandsprinzip, das mit dem Grundsatz „Ein Betrieb – eine Gewerkschaft“ einhergeht, nur ein Organisationsgrundsatz des DGB, dem richtigerweise allein interne Bedeutung zukommt5. Insbesondere existiert im geltenden Tarifrecht kein Verbot der Doppelzuständigkeit von Koalitionen für bestimmte Branchen/Unternehmen oder Betriebe6. Es ist gerade Bestandteil der Koalitionsfreiheit, die Tarifzuständigkeit auch in die Bereiche anderer Koalitionen auszudehnen und somit mit diesen in Konkurrenz zu treten. Soweit es durch sich überschneidende Tarifzuständigkeiten zu sich überschneidenden TVen kommt, finden die Prinzi1 2 3 4 5 6

BAG v. 24.7.1990 – 1 ABR 46/89, NZA 1991, 21 (22). BAG v. 19.11.1985 – 1 ABR 37/83, NZA 1986, 480 (483). Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 166. BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 4/96, NZA 1997, 613 (615). BAG v. 19.11.1985 – 1 ABR 37/83, NZA 1986, 480 ff. BAG v. 27.9.2005 – 1 ABR 41/04, NZA 2006, 273 (279).

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Tarifzuständigkeit

Rz. 224 Teil 2

pien der Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität (vgl. dazu Teil 9 Rz. 86 ff., Rz. 98 ff.) Anwendung. Da die Grundsätze des Industrie- und Berufsverbandsprinzips insbesondere die Gewerkschaftslandschaft in der Bundesrepublik bestimmen, werden sie – obwohl sie keinen rechtlich zwingenden Charakter haben – im Folgenden dargestellt:

a) Industrieverbandsprinzip Das Industrieverbandsprinzip findet sich insbesondere in den Satzungen der DGB-Gewerkschaften und der christlichen Gewerkschaften. Dieses Prinzip knüpft an alle Unternehmen oder Betriebe in einem bestimmten Wirtschaftszweig (Branche) an. Es kommt dann nicht darauf an, ob einzelne Arbeitnehmer in einem solchen Unternehmen/Betrieb branchenfremde Tätigkeiten wahrnehmen (Bsp: Kantinenmitarbeiter in der Automobilindustrie).

222

Knüpft die Satzung für den fachlichen Geltungsbereich der Tarifzuständigkeit an die Branchenzugehörigkeit des Unternehmens an, so ist – vorbehaltlich einer anderweitigen Regelung in der Satzung – derjenige Verband zuständig, dessen satzungsmäßiger Organisationsbereich der Tätigkeit entspricht, die dem Unternehmen seinen maßgeblichen Gegenstand gibt1. Maßgebend ist hierbei ebenfalls das Gesamtgepräge des Unternehmens und nicht dasjenige einzelner Betriebe. Alternativ oder kumulativ kann aber auch an den Betrieb oder selbständige Betriebsabteilungen angeknüpft werden.

223

Bei Mischunternehmen und -betrieben ist maßgebliche Eigenschaft für die Zuständigkeitsbestimmung, welches Merkmal dem Unternehmen/dem Betrieb/ der selbständigen Betriebsabteilung sein Gepräge verleiht, sofern nicht bereits durch die Satzung der Koalition eine explizite Regelung über die Branchenzuordnung für ein konkretes Unternehmen insgesamt oder den betroffenen Betrieb(-steil) getroffen wurde; Indizwirkung haben dann z.B. der arbeitstechnische Zweck, die Anzahl an entsprechenden Facharbeitern eines speziellen Bereichs oder der proportionale Anteil der Sparte am Umsatz und Erfolg des Gesamtunternehmens2. Zudem bietet es sich an, wie auch bei der Frage, ob ein Betrieb in den Geltungsbereich eines TVes fällt, auf die überwiegende Arbeitszeit der Arbeitnehmer im Unternehmen bzw. im Betrieb abzustellen3.

224

1 Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 168; HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 42; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 56. 2 Sog. „Geprägetheorie“, vgl. BAG v. 22.11.1988 – 1 ABR 6/87, NZA 1989, 561 (562); BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 4/96, NZA 1997, 613 (617); in den Kriterien differenzierend Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 210; Thüsing/Braun/Emmert, 2. Kap. Rz. 224. 3 BAG v. 12.12.2007 – 10 AZR 995/06, AP Nr. 299 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau mit Anm. Sittard, RdA 2009, 259; vgl. zur Bestimmung des betrieblichen Geltungsbereichs von TVen außerdem BAG v. 27.11.1963 – 4 AZR 486/62, AP Nr. 3 zu § 1 Tarifverträge: Bau; BAG v. 17.2.1971 – 4 AZR 62/70, AP Nr. 8 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG v. 19.7.2000 – 10 AZR 918/98, AP Nr. 232 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG v. 25.1.2005 – 9 AZR 258/04, AP Nr. 20 zu § 1 AEntG; BAG v. 23.2.2005 – 10 AZR 382/04, AP Nr. 270 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; ebenso HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 16 f.; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 150.

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Teil 2 Rz. 225

Tarifvertragsparteien

225

Die Tarifzuständigkeit kann durch Satzung auf eine bestimmte Branche oder einen Teilbereich eines Wirtschaftssektors beschränkt werden; andersherum kann die Zuständigkeitserklärung ebenso mehrere Wirtschaftssektoren umfassen. Branchenfremde Betriebe können durch die Satzung von der Zuständigkeit ausgenommen werden1. Ferner können sich Arbeitgeberverbände wie Gewerkschaften innerhalb derselben Branche auf bestimmte Unternehmen oder Betriebe beschränken, also z.B. nur einzelne Betriebseinheiten von der Tarifzuständigkeit erfassen lassen2. Einer Koalition steht aber auf der anderen Seite das Recht zu, ihre Tarifzuständigkeit mit der Branchenzugehörigkeit eines einzelnen Betriebes zu verknüpfen, unabhängig davon, welchem Wirtschaftszweig das Unternehmen an sich angehört3. Ebenso dürfen auch (auf einen neuen Rechtsträger) ausgegliederte Unternehmensteile und (branchenfremde) Nebenbetriebe von der Tarifzuständigkeit erfasst werden. Damit können Gewerkschaften erreichen, auch für Unternehmen/Betriebe zuständig zu sein, obwohl das konkrete Unternehmen/der konkrete Betrieb branchenmäßig eigentlich außerhalb der Tarifzuständigkeit liegt4. Praktische Relevanz erlangt dies in Ausgliederungsfällen, in denen arbeitgeberseitig versucht wird, durch Gründung einer (neuen) Tochtergesellschaft mit eigenem Tätigkeitsschwerpunkt außerhalb der klassischen Tarifzuständigkeit der Gewerkschaft aus dem „Machtbereich“ der Gewerkschaft „herauszuwachsen“. Darauf kann die Gewerkschaft grundsätzlich durch eine entsprechende Ausweitung ihrer Tarifzuständigkeit reagieren. Zudem kann durch Änderung des Unternehmenszwecks oder Verlegung eines Betriebes die Tarifzuständigkeit enden5.

226

Grenze der Satzungsautonomie ist sowohl bezüglich der Ausgrenzung bestimmter Unternehmen/Betriebe als auch bezüglich deren Einbeziehung das Willkürverbot6. Liegt mithin ein sachlicher Grund für die Differenzierung vor, ist gegen die Satzungsgestaltung nichts einzuwenden. Das BAG hat eine Grenze dort gezogen, wo die Satzungsgestaltung in vorsätzlicher und sittenwidriger Schädigungsabsicht (§ 826 BGB) vollzogen wird7.

b) Berufsverbandsprinzip 227

Das Berufsverbandsprinzip, das insbesondere bei „Spezialistengewerkschaften“ (Vereinigung Cockpit für Piloten, Gewerkschaft der Lokomotivführer (GdL) für Lokomotivführer, Marburger Bund für Ärzte, etc.) anzutreffen ist, stellt auf die Zugehörigkeit der Arbeitnehmer zu einer Berufsgruppe ab. Derart organisierte Gewerkschaften wollen nur für diese Gruppe von Arbeitnehmern in einem Un1 BAG v. 19.11.1985 – 1 ABR 37/83, NZA 1986, 480 (483); BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 4/96, NZA 1997, 613 (615); Thüsing/Braun/Emmert, 2. Kap. Rz. 224. 2 BAG v. 20.4.1988 – 4 AZR 646/87, AP Nr. 95 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau. 3 BAG v. 19.11.1985 – 1 ABR 37/83, NZA 1986, 480 (483); BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 4/96, NZA 1997, 613 (618); Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 212; Thüsing/Braun/Emmert, 2. Kap. Rz. 224. 4 Vgl. dazu ausführlich Ricken, RdA 2007, 35 ff. 5 Vgl. BAG v. 22.11.1988 – 1 ABR 6/87, NZA 1989, 561 (563); Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 267. 6 Henssler, ZfA 1998, 517 (529). 7 BAG v. 19.11.1985 – 1 ABR 37/83, NZA 1986, 480 ff.

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Tarifzuständigkeit

Rz. 229 Teil 2

ternehmen TVe abschließen. Konsequenz dessen ist natürlich, dass die Solidarität der Arbeitnehmer innerhalb des Unternehmens leidet, weil Berufsgewerkschaften regelmäßig (nur) für ihre Klientel „das Beste herausholen“ wollen. Auch die Unternehmen werden durch die dadurch ggf. eintretende Tarifpluralität im Unternehmen/Betrieb vor das Problem gestellt, u.U. mehrere TVe anwenden zu müssen.

3. Sachliche Zuständigkeit Der sachliche Geltungsbereich der Zuständigkeitserklärung muss die Regelung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen i.S.v. Art. 9 Abs. 3 GG umfassen. Nach herrschender Auffassung dürfen einzelne Regelungsbereiche, die nach allgemeiner Ansicht Gegenstand der Tarifautonomie sind (z.B. vermögenswirksame Leistungen), nicht von der satzungsmäßigen Zuständigkeit ausgenommen werden, da Verbände ansonsten in der Folge TV-Verhandlungen und Arbeitskämpfe über bestimmte Bereiche mangels erforderlicher Tarifzuständigkeit verhindern könnten1. Vor dem gleichen Hintergrund soll die Satzung die tarifliche Zuständigkeit nicht auf bestimmte Gegner reduzieren oder TV-Verhandlungen und Vertragsabschlüsse mit gegnerischen Verbänden ausschließen dürfen, sofern diese ihrerseits tariffähig und tarifzuständig sind. Da mit der Einschränkung der Satzungsautonomie ein Eingriff der verfassungsrechtlich gewährten Koalitionsfreiheit verbunden ist, stellt sich die Frage, ob diese Beschränkung der Satzungsautonomie aus Gründen der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie tatsächlich zwingend erforderlich ist. Denn die Begrenzung der eigenen Tarifzuständigkeit schränkt die „gegnerische“ Koalition nicht erheblich in ihren Kompetenzen ein. Ist ein Verband für bestimmte Regelungsmaterien nicht tarifzuständig, so entfalten dessen TVe insoweit auch keine Friedenspflicht. So wäre es bspw. einer Gewerkschaft, die einem Arbeitgeberverband mit eingegrenzter Tarifzuständigkeit gegenüber steht, uneingeschränkt möglich, auch gegenüber Verbandsmitgliedern dieses Arbeitgeberverbandes FirmenTVe zu den mit dem Arbeitgeberverband nicht regelbaren Arbeitsbedingungen zu erstreiken.

228

4. Personelle Zuständigkeit a) In personeller Hinsicht muss die Tarifzuständigkeit mit den tatsächlich im satzungsgemäßen Wirtschaftszweig arbeitenden Mitgliedern korrespondieren2. Von der h.M. wird verlangt, dass die Koalition in der Branche oder Berufsgruppe zumindest in geringer Zahl durch Mitglieder vertreten ist; fehlt es in einem Branchenzweig ausnahmslos an derartigen Mitarbeitern, bestehe keine Zuständigkeit des Verbandes für diesen Zweig3. Diese Voraussetzung darf jedoch nicht überspannt werden, weil Koalitionen ansonsten die „Expansion“ auf neue Branchen und Berufsgruppen unverhältnismäßig erschwert werden würde. Durch die grundsätzliche Freiheit bei der Festlegung ihrer Zuständigkeit können die Verbände ihre Tarifzuständigkeit auch für Branchen und Regionen be1 HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 45; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 81 f. 2 HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 44; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 77; Wiedemann, RdA 1975, 78; a.A. Staudinger/Richardi, Vorb. zu §§ 611 ff. BGB Rz. 615. 3 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 77.

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Teil 2 Rz. 230

Tarifvertragsparteien

anspruchen, in denen sie (bislang) nicht stark vertreten oder gar repräsentativ sind. Die Koalitionen dürfen demnach nicht gezwungen sein, ihre Tarifzuständigkeit nach ihrer Mitgliederstärke ausrichten zu müssen. 230

Zulässig ist – wie oben bereits geschildert (vgl. Rz. 227) – die Begrenzung der Tarifzuständigkeit auf bestimmte Arbeitnehmer einer Branche, z.B. Piloten in der Luftfahrt (Berufsverbandsprinzip). Stellt eine Satzung für die Luftfahrtbranche bspw. nur auf Piloten ab, fehlt es an der Tarifzuständigkeit für Flugbegleiter, obwohl auch diese in der gleichen Branche tätig sind. Die personelle Tarifzuständigkeit kann jedoch immer nur im Hinblick auf die eigenen Mitglieder, nicht bezüglich derer der Gegenseite festgelegt werden1.

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b) Eine Begrenzung der Regelungsmöglichkeit der personellen Zuständigkeit ergibt sich nach der Rechtsprechung des BAG aus § 3 Abs. 1 und 2 TVG, die vor allem bei der sog. OT-Mitgliedschaft (vgl. dazu Rz. 148 ff.) relevant wird: Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände können ihre Tarifzuständigkeit nicht allein auf ihre (Voll-) Mitglieder beschränken. Die Tarifzuständigkeit muss vielmehr so abstrakt definiert werden, dass diese nicht von der Entscheidung der Mitglieder über einen jeweiligen Ein- oder Austritt aus dem Verband abhängig ist2. Durch eine Satzungsbestimmung, nach welcher der Verband ausschließlich für seine jeweiligen Mitglieder tarifzuständig wäre, würde er seine Tarifzuständigkeit nicht unmittelbar selbst regeln, sondern letztlich von einer im Willen der aktuellen oder potentiellen Mitglieder stehenden „Potestativbedingung“ abhängig machen. Umfang und Reichweite der Tarifzuständigkeit des Verbands wären damit nicht festgelegt, sondern änderten sich mit jeder Veränderung des Mitgliederbestands3. Eine dahingehende Satzungsbestimmung gefährdet nach der Rechtsprechung des BAG die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie und ist mit §§ 3 Abs. 3, 5 Abs. 4 TVG und § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG inkompatibel.

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Unabhängig davon besteht jedoch für Verbände die Möglichkeit, durch Satzungsbestimmungen OT-Mitgliedschaftsformen zu schaffen, wonach Verbandsmitglieder der Tarifbindung nach § 3 Abs. 1 TVG nicht unterliegen. Nach richtiger und vom BAG bestätigter Auffassung knüpft die OT-Mitgliedschaft dabei aber nicht an die Tarifzuständigkeit des Verbandes an, sondern betrifft die Tarifgebundenheit der Verbandsmitglieder: Die Herausnahme der OTMitglieder aus der Tarifwirkung über eine entsprechende Beschränkung der Tarifzuständigkeit würde ansonsten notwendigerweise dazu führen, dass die OT-Mitglieder aus dem persönlichen Geltungsbereich der von ihrem Tarifverband abgeschlossenen TVe herausfallen, weil die Tarifzuständigkeit über den den Tarifparteien zur Normierung offen stehenden Geltungsbereich bestimmt4. Praktische Konsequenzen hätte dies u.a. bei der Allgemeinverbind1 Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 190. 2 BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225 (1228 f.); HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 37. 3 BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225 (1228 f.). 4 BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225 (1228, 1230); im Ansatz bereits BAG v. 22.3.2005 – 1 ABR 64/03, NZA 2006, 383 (386); HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 5 f.; a.A. noch BAG v. 23.10.1996 – 4 AZR 409/95, NZA 1997, 383 (384); BAG v. 23.2.2005 – 4 AZR 186/04, AP Nr. 42 zu § 4 TVG Nachwirkung; Deinert, RdA 2007, 83 (85); krit.

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Tarifzuständigkeit

Rz. 235 Teil 2

licherklärung nach § 5 TVG, wo nur die fehlende Tarifbindung, nicht auch die fehlende Tarifzuständigkeit durch den staatlichen Erstreckungsakt kompensiert wird, sowie für den Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 BetrVG.

IV. Tarifzuständigkeit als Wirksamkeitsvoraussetzung des Tarifvertrages 1. Korrespondierende Tarifzuständigkeit Das wirksame Zustandekommen eines TVes bedarf (neben der Tariffähigkeit beider TV-Parteien) der Tarifzuständigkeit, wobei diese in doppelter Hinsicht gegeben sein muss. Erforderlich ist nämlich die beiderseitige Tarifzuständigkeit für die Regelungsgegenstände des zu vereinbarenden TVes bei seinem Abschluss1. Die Tarifzuständigkeiten beider TV-Parteien müssen für die Wirksamkeit des normativen Teils des TVes miteinander korrespondieren, d.h. der Geltungsbereich des TVes ist auf die Bereiche zu beschränken, für die sich beide Seiten zuständig erklären. Nicht erforderlich ist hingegen eine gänzliche Deckungsgleichheit der beiderseitigen Tarifzuständigkeiten, beide Vertragsparteien müssen lediglich eine gemeinsame Zuständigkeit für den angestrebten Geltungsbereich des TVes haben2. Weichen die Tarifzuständigkeiten voneinander ab, kann der TV im Umkehrschluss nur im Regelungsbereich der gemeinsamen Tarifzuständigkeit gelten3.

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Hinsichtlich des schuldrechtlichen Teils eines TVes sprechen gute Argumente dafür, dass dieser trotz fehlender korrespondierender Tarifzuständigkeit wirksam ist4. Denn der schuldrechtliche Teil begründet keine normative Außenwirkung, so dass es des besonderen Erfordernisses der Tarifzuständigkeit nicht bedarf.

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2. Fehlen der korrespondierenden Tarifzuständigkeit a) Anfängliches Fehlen der Tarifzuständigkeit Fehlt die Tarifzuständigkeit bei Abschluss des TVes vollständig oder teilweise, so ist der normative Teil des TVes insoweit wegen des Fehlens einer Wirksamkeitsvoraussetzung rechtsunwirksam5. Eine nur teilweise fehlende beiderseitige Tarifzuständigkeit führt aber nicht zur Gesamtnichtigkeit des TVes.

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auch Buchner, NZA 2006, 1377 (1379); zum Streitstand insgesamt Höpfner, ZfA 2009, 541 (545 f.). BAG v. 19.12.1958 – 1 AZR 109/58, AP Nr. 3 zu § 2 TVG; BAG v. 27.11.1964 – 1 ABR 13/63, AP Nr. 1 zu § 2 TVG Tarifzuständigkeit; BAG v. 22.11.1988 – 1 ABR 6/87, NZA 1989, 561 (562); BAG v. 24.7.1990 – 1 ABR 46/89, NZA 1991, 21 (22); Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 172. Vgl. BAG v. 19.12.1958 – 1 AZR 109/58, AP Nr. 3 zu § 2 TVG; HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 39; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 180; Konzen, FS Kraft, S. 291 (292). Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 180; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 59. Vgl. Ricken, Tarifliche Rechtsetzung, S. 273 ff. BAG v. 27.11.1961 – 1 ABR 13/63, AP Nr. 1 zu § 2 TVG Tarifzuständigkeit; ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 38; MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 164 Rz. 96.

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Teil 2 Rz. 236 236

Tarifvertragsparteien

Eine nachträgliche Satzungsänderung kann die fehlende Tarifzuständigkeit einer TV-Partei bei Vertragsschluss nicht rückwirkend heilen1. Ebenso erlangt der TV nach wohl herrschender Meinung keine Wirksamkeit durch die beiderseitige Gutgläubigkeit der TV-Parteien bezogen auf ihre Tarifzuständigkeit bei Vertragsschluss2. Dieser Auffassung ist zuzustimmen, denn im Bereich der Normsetzung kann die Gutgläubigkeit bezüglich der Normsetzungskompetenz die fehlende Rechtsetzungsmacht nicht mit Wirkung für Dritte herstellen. Entsprechend ist von der Teilnichtigkeit des TVes für den Fall auszugehen, dass sich die gemeinsame Zuständigkeit beider TV-Parteien nur auf einen Teil des Geltungsbereichs des TVes erstreckt.

b) Nachträglicher Wegfall der Tarifzuständigkeit 237

Sofern die Tarifzuständigkeit nachträglich wegfällt, der TV aber bereits angewandt wurde und gleichsam keine Übergangsregelung in der Satzung des Verbandes getroffen wurde, wird der TV nach herrschender Meinung nicht automatisch unwirksam. Hauptargument dieser Auffassung ist, dass ein Verband ansonsten die Wirksamkeit eines TVes durch bloße Satzungsänderung einseitig beenden könnte und die negativen Folgen des tariflosen Zustands beim ersatzlosen Wegfall der TV-Wirkung die betroffenen Arbeitnehmer einseitig belasten würden3. Allerdings könne der Wegfall der Tarifzuständigkeit zur ordentlichen, nach teils vertretener Auffassung auch zur außerordentlichen, Kündigung des TVes berechtigen, wenn dieser Wegfall mit dem Geltungsbereich eines TVes deckungsgleich ist, die Zuständigkeit also für den gesamten Geltungsbereich des TVes entfällt4. Betreffe der Wegfall der Tarifzuständigkeit hingegen nur einen Teil des TVes, bleibe der Wegfall der Tarifzuständigkeit für die Wirksamkeit des weiter reichenden TVes ohne Auswirkungen5. Falls ein TV ohne die notwendige Tarifzuständigkeit geschlossen, aber faktisch nie angewandt wurde, sei von dessen Nichtigkeit von vorneherein auszugehen. Ggf. ist dann gemäß § 4 Abs. 5 TVG der vorangegangene TV anzuwenden, sofern dieser einmal gültig war6. 1 BAG v. 24.7.1990 – 1 ABR 46/89, NZA 1991, 21; BAG v. 29.6.2004 – 1 ABR 14/03, NZA 2004, 1236 (1238); HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 47; Kempen/Zachert/WendelingSchröder, § 2 TVG Rz. 169; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 42; Konzen, FS Kraft, S. 291 (292); einschränkend Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 172, 183; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 89 ff. 2 Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 172; Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, § 2 TVG Rz. 150; a.A. Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 89 ff. 3 HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 47; Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, § 2 TVG Rz. 170 f.; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 55; a.A. Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 272; für einen darüber hinaus gehenden Ausschluss der Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG zudem KassArbR/Dörner, Gruppe 8.1 Rz. 100; Ricken, Tarifliche Rechtsetzung, S. 305 ff.; zum Verlust der Tarifzuständigkeit durch Satzungsänderung allgemein Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 175 ff. 4 HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 47; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 55; a.A. Kempen/ Zachert/Wendeling-Schröder, § 2 TVG Rz. 177. 5 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 55; Konzen, FS Kraft, S. 291 (303). 6 So auch Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 50; Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, § 2 TVG Rz. 169, die wegen der Eigenschaft der Tarifzuständigkeit als Wirksamkeits-

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Tarifzuständigkeit

Rz. 240 Teil 2

Gegen die herrschende Auffassung bestehen hingegen erhebliche Bedenken. Beim nachträglichen Wegfall von Wirksamkeitsvoraussetzungen eines TVes sprechen die überzeugenden Argumente für den sofortigen Eintritt der Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG und zwar insoweit, wie die Wirksamkeitsvoraussetzungen entfallen sind. Für den Wegfall der Tarifzuständigkeit folgt daraus, dass der TV mit Inkrafttreten der die Tarifzuständigkeit verkleinernden Satzungsänderung insoweit in die Nachwirkung geht, wie die Tarifzuständigkeit aufgehoben wurde. Es erscheint nicht überzeugend, für den Fall einer nachträglichen Satzungsänderung zur Beendigung der Tarifwirkungen eine Kündigung zu verlangen, wenn eine TV-Partei insoweit ihre Regelungskompetenz für den Geltungsbereich des TVes verloren hat. Rieble/Klumpp betonen zu Recht, dass die Mitglieder der ehemals tariffähigen Partei so tarifgebunden blieben, ohne die Tarifgeltung beeinflussen zu können. Eine solche von der Herrschaft der TV-Parteien abgelöste Tarifgeltung ist durch die Mitgliedschaft für diesen Fall nicht mehr legitimiert1. Im Übrigen erscheint es überzeugend, alle Fälle des Wegfalls von Wirksamkeitsvoraussetzungen eines TVes dogmatisch gleich zu behandeln und daher auch beim nachträglichen Wegfall der Tarifzuständigkeit vom Eintritt der Nachwirkung auszugehen.

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3. Konsequenzen für das Arbeitskampfrecht Die Tarifzuständigkeit kann schon vor dem Tarifabschluss von Bedeutung sein, wenn ein TV durch einen Arbeitskampf durchgesetzt werden soll. Ein Streik ist rechtswidrig, wenn die Streik führende Gewerkschaft tarifunzuständig ist. So muss bei den Verhandlungen um einen FirmenTV die den Streik führende Gewerkschaft für die Arbeitnehmer des bestreikten Unternehmens bzw. Betriebs tarifzuständig sein2. Umgekehrt scheiden Arbeitskampfmaßnahmen um einen VerbandsTV aus, wenn der Arbeitgeberverband keine Mitglieder hat, für deren Arbeitnehmer die Gewerkschaft zuständig wäre3.

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V. Flucht aus dem Tarifvertrag über die Tarifzuständigkeit? Durch die Rechtsprechung nicht abschließend geklärt sind die Folgen, die sich ergeben, wenn ein Unternehmen durch eine Umstrukturierung den Tarifzuständigkeitsbereich der Tarifparteien verlässt, welche den vor der Umstrukturierungsmaßnahme in diesem Unternehmen geltenden TV abgeschlossen haben. Regelmäßig wird mit dem Verlassen des Tarifzuständigkeitsbereichs auch ein Herauswachsen aus dem Geltungsbereich des abgeschlossenen TVes verbunden sein (denn die Tarifzuständigkeit der beteiligten Koalitionen stellt die äußerste Grenze des zulässigen Geltungsbereichs eines TVes dar), was zur Nachwirkung analog § 4 Abs. 5 TVG führt4. Aber auch unabhängig vom kon-

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voraussetzung des TVes den Wegfall der gesamten Zuständigkeit dann bereits ipso iure annimmt. MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 164 Rz. 98. Vgl. hierzu Richardi, Anm. zu BAG v. 17.2.1970 – 1 ABR 14/69 u. 1 ABR 15/69, AP Nr. 2 u. 3 zu § 2 TVG Tarifzuständigkeit. Vgl. Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 173. HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 6.

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Teil 2 Rz. 241

Tarifvertragsparteien

kreten Geltungsbereich des TVes ist bei dem Herauswachsen eines Arbeitgebers aus der Tarifzuständigkeit im Fall eines VerbandsTVes von einer (analogen) Anwendung des § 4 Abs. 5 TVG auszugehen1. Denn mit dem nachträglichen Wegfall der Tarifzuständigkeit entfällt eine Geltungsvoraussetzung des TVes, sodass ein Rückgriff auf die Nachwirkung geboten erscheint. Aus Arbeitgebersicht ist es sinnvoll, nicht nur allein aus dem Geltungsbereich des TVes herauszuwachsen, sondern zugleich auch die Tarifzuständigkeit (insbesondere der Gewerkschaft) zu verlassen. Denn dadurch verhindert der Arbeitgeber, dass die Gewerkschaft das Unternehmen unmittelbar nach Herauswachsen aus dem Geltungsbereich des TVes z.B. durch Forderung nach Abschluss eines FirmenTVes wieder „einfängt“2. Dies ist dann erst möglich, wenn die Satzung der Gewerkschaft entsprechend erweitert wird3. 241

Schwieriger ist die Rechtslage, wenn ein FirmenTV oder ein unternehmensbezogener VerbandsTV betroffen ist. Wenn in einem FirmenTV der Geltungsbereich mit „für den Betrieb XY am Standort XY“ beschrieben ist, wächst der Betrieb bei einer Umstrukturierung (Verlagerung des Schwerpunkts der Tätigkeit in eine andere Branche) nicht aus dem Geltungsbereich des TVes, aber u.U. aus der Tarifzuständigkeit der Gewerkschaft bzw. (beim unternehmensbezogenen VerbandsTV) des Arbeitgeberverbandes heraus. Dann ist die Tarifzuständigkeit der beteiligten Koalitionen entfallen, jedoch könnte der TV aufgrund seines Geltungsbereiches weiterhin Anwendung finden. Auch für diesen Fall lässt sich vertreten, dass der TV wegen des Wegfalls einer Geltungsvoraussetzung in die Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG geht. Alternativ wäre zu überlegen, den TV-Parteien ein Kündigungsrecht hinsichtlich des TVes einzuräumen4. Durch die Umstrukturierung hat sich das von den Regelungen des TVes erfasste Objekt derartig geändert, dass es dem Zuständigkeitsbereich der zuvor zuständigen Gewerkschaft bzw. des Arbeitgeberverbandes nicht länger untersteht (vgl. dazu ausführlich Teil 15 Rz. 7 ff.) und deshalb ein (außerordentliches) Kündigungsrecht bestehen muss. Überzeugender ist es jedoch – wie auch bei einer nachträglichen Satzungsänderung (vgl. oben Rz. 238) – den sofortigen Eintritt der Nachwirkung anzunehmen, da auf diese Weise alle Fälle des Wegfalls von Wirksamkeitsvoraussetzungen einheitlich gehandhabt werden könnten.

1 Ebenso Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, § 2 TVG Rz. 174; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 96; ähnlich: Hromadka/Maschmann/Wallner, Tarifwechsel, Rz. 258 ff.; aus BAG v. 26.9.1979 – 4 AZR 819/77, AP Nr. 17 zu § 613a BGB ergibt sich nichts Gegenteiliges, da es sich dort gerade nicht um eine unternehmensinterne Umstrukturierungsmaßnahme handelte. 2 Ricken, RdA 2007, 35 (36); Rieble/Klebeck, BB 2006, 885 (888). 3 Rieble/Klebeck, BB 2006, 885 (888). 4 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 95 f.; a.A. Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, § 2 TVG Rz. 176, die für eine analoge Anwendung des § 4 Abs. 5 TVG plädieren; Däubler/ Peter, § 2 TVG Rz. 178 nimmt eine Fortgeltung gemäß § 3 Abs. 3 TVG an.

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Tarifzuständigkeit

Rz. 244 Teil 2

VI. Feststellung der Tarifzuständigkeit 1. Gerichtliche Klärung Den Arbeitsgerichten obliegt gemäß §§ 2a Abs. 1 Nr. 4, 97 ArbGG im Wege des Beschlussverfahrens die Feststellung über das Bestehen bzw. das Nichtbestehen von Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit; zu- oder aberkannt werden sie hingegen nicht. Inhaltlich betrifft das Verfahren die Frage, ob eine grundsätzlich tariffähige Vereinigung zuständig ist, TVe für einen bestimmten Geltungsbereich abzuschließen. Sofern der Ausgang eines anderen Verfahrens von der Tarifzuständigkeit einer TV-Partei abhängt, ist dieses gemäß § 97 Abs. 5 ArbGG auszusetzen1. Ein solcher anderweitig anhängiger Rechtsstreit kann insofern auch das Beschlussverfahren über die Tarifzuständigkeit initiieren; die Gerichte sind in diesem Fall gar zur Aussetzung des anderen Rechtsstreits verpflichtet2.

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Antragsberechtigt sind gemäß § 97 Abs. 1 ArbGG räumlich und sachlich zuständige Vereinigungen von Arbeitnehmern oder von Arbeitgebern, ein einzelner betroffener Arbeitgeber3 sowie die oberste Arbeitsbehörde des Bundes (BMAS) bzw. des Landes (Landesarbeitsministerium) wegen ihrer Befugnisse im Rahmen des § 5 TVG. Umfasst werden mithin alle tariffähigen Vereinigungen sowie Spitzenorganisationen i.S.d. § 2 Abs. 2 und 3 TVG4. Auch die betroffene Koalition, deren Tarifzuständigkeit in Frage gestellt wird, ist antragsberechtigt. Ferner sind antragsberechtigt die Parteien des Verfahrens, dessen Ausgang von der Feststellung der Tarifzuständigkeit abhängt und welches daher auszusetzen ist, § 97 Abs. 5 Satz 2 ArbGG. Der Betriebsrat eines einzelnen Arbeitgebers besitzt hingegen kein Antragsrecht5.

243

Für die Antragsbefugnis ist auf ein konkretes Rechtsschutzbedürfnis des antragstellenden Beteiligten abzustellen, also darauf, ob seine Tarifzuständigkeit bestritten wird oder er selbst die Zuständigkeit einer (konkurrierenden) Gewerkschaft bzw. eines Arbeitgeberverbandes festgestellt haben möchte6. Das Antragsrecht eines einzelnen Arbeitgebers wird in § 97 Abs. 1 ArbGG nicht erwähnt, es ist jedoch auch von dessen Rechtschutzbedürfnis auszugehen, wenn eine Gewerkschaft ihn aufgrund seiner in § 2 Abs. 1 TVG begründeten Tarif-

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1 BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 25/96, NZA 1997, 668 (670); BAG v. 28.1.2008 – 3 AZB 30/07, NZA 2008, 489; HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 48; zum Verfahren ausführlich GMPM/Matthes, § 97 ArbGG Rz. 26 ff. 2 Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 189; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 507 ff.; Lembke, NZA 2008, 451. 3 BAG v. 27.9.2005 – 1 ABR 41/04, NZA 2006, 273. 4 BAG v. 15.11.1963 – 1 ABR 5/63, AP Nr. 14 zu § 2 TVG; Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 186. 5 BAG v. 13.3.2007 – 1 ABR 24/06, NZA 2007, 1069 (1071); BAG v. 17.4.2012 – 1 ABR 5/11. 6 BAG v. 19.1.1962 – 1 ABR 14/60, AP Nr. 13 zu § 2 TVG; BAG v. 10.9.1985 – 1 ABR 32/83, NZA 1986, 332 (333); BAG v. 25.11.1986 – 1 ABR 22/85, NZA 1987, 492 (493); BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 4/96, NZA 1997, 613; ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 39; GMPM/Matthes, § 97 ArbGG Rz. 19; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 91.

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Teil 2 Rz. 245

Tarifvertragsparteien

fähigkeit auf Abschluss eines TVes in Anspruch nimmt oder gar mit Streik droht1. Örtlich zuständig ist das Arbeitsgericht am Sitz der betroffenen Koalition2. Das Beschlussverfahren zur Feststellung der Tarifzuständigkeit kann und wird regelmäßig über alle drei Instanzen geführt werden, da es sich bei diesen Streitigkeiten um Verfahren von grundsätzlicher Bedeutung handelt3. 245

Die rechtskräftige Entscheidung im Verfahren über die Tarifzuständigkeit entfaltet nach wohl h.M. analog § 9 TVG Bindungswirkung (Erweiterung der subjektiven Rechtskraft4), die hinsichtlich der Feststellung der Tarifzuständigkeit nur entfällt, wenn die Satzung der jeweiligen Koalition geändert wird5. Teilweise wird jedoch vertreten, dass eine Entscheidung über die Tarifzuständigkeit (anders als über die Tariffähigkeit) nur zwischen den am Verfahren materiell Beteiligten wirken soll6.

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In rechtspolitischer Hinsicht sollte überlegt werden, ob man dieses grundlegende Verfahren abkürzt und bspw. das LAG für erstinstanzlich zuständig erklärt, die Einlassungsfristen verkürzt und gegen die LAG-Entscheidung dann noch die Rechtsbeschwerde zum BAG zulässt.

2. Verbandsinterne Klärung 247

Zwischen den dem DGB angehörenden Gewerkschaften sind die Tarifzuständigkeiten gemäß § 15 der Satzung des DGB aufeinander abzustimmen, um Kompetenzstreitigkeiten zu vermeiden. Durch Änderungen von Unternehmensstrukturen oder neuerliche Festlegungen von Zuständigkeiten der Einzelgewerkschaften können sich dennoch Streitigkeiten und Überschneidungen der Zuständigkeitsbereiche ergeben7. Dies betraf z.B. im Fall IBM das Herauswachsen eines Unternehmens aus der Metall- in die Dienstleistungsbranche8.

248

Nach § 15 der DGB-Satzung bedarf jede Satzungsänderung einer Einzelgewerkschaft hinsichtlich deren Tarifzuständigkeit der Zustimmung des DGB-Bundesausschusses (vgl. dazu oben Rz. 247); sofern eine einvernehmliche Lösung dennoch nicht gelingt, sind die Gewerkschaften gehalten, ein Schiedsverfahren gemäß § 16 der DGB-Satzung durchzuführen (sog. DGB-Clearingverfahren), für

1 BAG v. 17.2.1970 – 1 ABR 14/69, AP Nr. 2 zu § 2 TVG; GMPM/Matthes, § 97 ArbGG Rz. 19; Grunsky, § 97 ArbGG Rz. 7; Kempen/Zachert/Kempen, § 2 TVG Rz. 183. 2 HWK/Bepler, § 97 ArbGG Rz. 10. 3 Vgl. BAG v. 25.11.1986 – 1 ABR 22/85, NZA 1987, 492; BAG v. 10.5.1989 – 4 AZR 80/89, NZA 1989, 687; BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 4/96, NZA 1997, 613. 4 Vgl. zur Bindungswirkung gemäß § 9 TVG: HWK/Henssler, § 9 TVG Rz. 18. 5 BAG v. 19.11.1985 – 1 ABR 37/83, NZA 1986, 480; Däubler/Reinecke, § 9 TVG Rz. 53; HWK/Henssler, § 9 TVG Rz. 22. 6 HWK/Bepler, § 97 ArbGG Rz. 15. 7 Vgl. Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 170; HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 46; Wiedemann/ Oetker, § 2 TVG Rz. 75 ff.; Feudner, BB 2004, 2297. 8 Vgl. dazu ausführlich Ricken, RdA 2007, 35 ff.

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Sittard

Tarifzuständigkeit

Rz. 251 Teil 2

das der DGB-Bundesausschuss eigens eine Schiedsgerichtsordnung und entsprechende Richtlinien erlassen hat. Die Schiedsstelle des DGB ist kein Schiedsgericht i.S. der §§ 1025 ff. ZPO. Es handelt sich nicht um eine Schiedsgerichtsbarkeit, da es zu deren Wesen gehört, dass sie von unbeteiligten Dritten ausgeübt wird, die dem Gebot der Distanz und Neutralität genügen müssen. Diese Voraussetzungen sind nach den DGB-Richtlinien über die Durchführung des Schiedsverfahrens nicht gegeben1. Die Schiedsstelle ist nach der Rechtsprechung des BAG vielmehr als zusätzliches Vereinsorgan zu betrachten, dessen Einrichtung dem Verein grundsätzlich freisteht und mit einem Vereinsgericht zu vergleichen ist. Es geht um die Befugnis zur Durchsetzung der vom Verband selbst gesetzten Grundsätze bezüglich der Abgrenzung von Organisationsbereichen unter Berücksichtigung des Industrieverbandsprinzips. Die Zuständigkeit der Schiedsstelle findet ihre Grundlage in der Satzung und den darin vorgesehenen und gesetzten Richtlinien2.

249

Solange das Schiedsverfahren zur verbindlichen Klärung einer Konfliktsituation noch nicht durchgeführt ist, besteht nach den Vorgaben des DGB die Alleinzuständigkeit derjenigen Gewerkschaft fort, die vor Entstehen der Konkurrenzlage als zuständig angesehen wurde, sodass die Beteiligten bis zu einem Spruch oder einer Einigung Klarheit über die Zuständigkeitsverhältnisse haben3.

250

Die Streitigkeit wird im Schiedsverfahren durch einen Schiedsspruch beendet, der von den in Konflikt stehenden Gewerkschaften anzuerkennen ist; zudem ist jederzeit eine einvernehmliche Lösung zwischen den Parteien möglich, die dann das Verfahren beendet und wie ein Schiedsspruch wirkt4. Das BAG und Teile der Literatur gehen davon aus, dass der Spruch der Schiedsstelle verbindliche Außenwirkung für anderweitig Beteiligte wie den Arbeitgeberverband bzw. den Arbeitgeber hat5. Teilweise wird im Schrifttum sogar eine Bindung der Arbeitsgerichte angenommen6. Nach Rechtsprechung des BAG kann der Schiedsspruch die in Konflikt stehenden Satzungen dabei nicht im Sinne einer Zuständigkeitserweiterung ergänzen oder berichtigen, jedoch verbindlich, d.h. auch für Dritte, auslegen7. Diese Begrenzung auf die Auslegung muss auch für

251

1 BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 4/96, NZA 1997, 613 (616). 2 BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 4/96, NZA 1997, 613 (616). 3 BAG v. 12.11.1996 – 1 ABR 33/96, NZA 1997, 609 (612); HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 46. 4 BAG v. 14.12.1999 – 1 ABR 74/98, NZA 2000, 949 (952); vgl. auch BAG v. 27.9.2005 – 1 ABR 41/04, NZA 2006, 273; Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 170; Blank, FS 50 Jahre BAG, S. 597 (599); siehe dazu auch Dieterich, RdA 2003, 59. 5 BAG v. 17.2.1970 – 1 ABR 15/69, AP Nr. 3 zu § 2 TVG Tarifzuständigkeit; BAG v. 22.11.1988 – 1 ABR 6/87, NZA 1989, 561 (562); BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 4/96, NZA 1997, 613 (615); Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 171; Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, § 2 TVG Rz. 159; Junker, ZfA 2007, 229 (242). 6 Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 171; Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, § 2 TVG Rz. 159. 7 BAG v. 17.2.1970 – 1 ABR 15/69, AP Nr. 3 zu § 2 TVG Tarifzuständigkeit; BAG v. 19.11.1985 – 1 ABR 37/83, NZA 1986, 480 (482); BAG v. 14.12.1999 – 1 ABR 74/98,

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Teil 2 Rz. 252

Tarifvertragsparteien

eine Einigung der Gewerkschaften im Rahmen des Clearingverfahrens gelten. Der Schiedsstelle wird dabei von der Rechtsprechung ein bindender Beurteilungsspielraum zugebilligt1. Für ein derartiges Ermessen der Schiedsstelle existiert jedoch in der DGB-Satzung keinerlei Rechtsgrundlage2. Es ist auch fraglich, ob einem Schiedsgericht einer privatrechtlichen Vereinigung die Kompetenz zur verbindlichen Auslegung der Satzung zugebilligt wird. Keinesfalls kann das Schiedsgericht die staatlichen Gerichte binden. Dafür fehlt es an einer Grundlage im Gesetzesrecht. 252

Insgesamt muss das DGB-Clearingverfahren und insbesondere die angenommene Außenwirkung des Spruchs der DGB-Schiedsstelle äußerst kritisch gesehen werden3. Das ArbGG weist die Kompetenz insoweit eindeutig den Arbeitsgerichten zu. Die Schiedsgerichte des DGB würden auf Grundlage der Rechtsprechung des BAG das arbeitsgerichtliche Beschlussverfahren zur Klärung der Tarifzuständigkeit hingegen bei Beteiligung von DGB-Gewerkschaften größtenteils überflüssig machen.

NZA 2000, 949 (952); Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 171; Kempen/Zachert/WendelingSchröder, § 2 TVG Rz. 160; ähnlich Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 70. 1 BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 4/96, NZA 1997, 613 (616). 2 Gänzlich ablehnend Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 242 f.; MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 164 Rz. 91 ff.; Ricken, Tarifliche Rechtsetzung, S. 195; ebenso kritisch Feudner, BB 2004, 2297 (2301); Heinze, DB 1997, 2122 (2126); Junker, ZfA 2007, 229 (243); Konzen, FS Kraft, 1998, S. 291 (314); instruktiv Jacobs, Tarifeinheit, S. 209 ff. 3 Vgl. Ricken, RdA 2007, 35 ff.

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Sittard

Teil 3 Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages Rz. A. Der Weg zum Tarifabschluss I. Gesetzlicher und/oder gewillkürter Verhandlungsanspruch? 1. Die rechtstatsächliche Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2. Verhandlungsanspruch kraft Gesetzes? a) Die Position des Bundesarbeitsgerichts . . . . . . . . . . . 4 b) Literaturauffassungen . . . . 9 c) Stellungnahme . . . . . . . . . . 13 3. Tarifvertraglich begründeter Verhandlungsanspruch . . . . . . . 20 II. Tarifschlichtung . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die (Zwangs-)Schlichtung in der Weimarer Republik . . . . . . . 2. Schlichtung im Tarifvertragssystem der Bundesrepublik Deutschland a) Tarifautonome, freiwillige Schlichtung . . . . . . . . . . . . . b) Gesetzliche Schlichtungsangebote . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21 22

26 31 33

III. Die Tarifverhandlungen 1. Verhandlungsführung . . . . . . . . 35 2. Abschlussbefugnis . . . . . . . . . . . 36 B. Schriftformzwang für Tarifverträge (§ 1 Abs. 2 TVG) I. Normzweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 II. Erfüllung der Schriftform . . . . . . . . 43 III. Anwendungsbereich des Schriftformgebots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 IV. Rechtsfolge eines Formverstoßes . 53 C. Verhandlungsergebnisse . . . . . . . . . 55 I. Ergebnisniederschriften, Vorverträge, sonstige schuldrechtliche Koalitionsverträge . . . . . . . . . . . . . . 56 II. Protokollnotizen, Fußnoten, Anlagen und Anhänge . . . . . . . . . . . . . . . 62

Rz. III. Regelungen über Inkrafttreten und hinausgeschobene Fälligkeit 1. Tarifwirkung mit Inkrafttreten 2. Verzögerte Inkraftsetzung und Stufentarifverträge . . . . . . . . . . . 3. Rückwirkende Inkraftsetzung . 4. Erklärungsfristen für Tarifvertragsparteien . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Abgeschwächte Inkraftsetzung (ERA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66 70 73 81 89

D. Die Publizität tariflicher Regelungswerke I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 II. Tarifregister und Tarifarchiv 1. Eintragung und Archivierung . 2. Mitwirkungspflichten der Tarifvertragsparteien . . . . . . . . . . . 3. Zweck und Wirkung der Registrierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Reformüberlegungen . . . . . . . . .

94 98 101 103

III. Die Auslegungspflicht nach § 8 TVG 1. Zweck und Inhalt der Auslegungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . 108 2. Wirkung der Auslegung und Rechtsfolge ihres pflichtwidrigen Unterlassens . . . . . . . . . . . 114 IV. Transparenz durch das Nachweisgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 V. Keine Transparenz durch § 305 Abs. 2 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 E. Inhaltsermittlung von Tarifverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 I. Die Auslegung des normativen Teils 1. Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 2. Ergänzende und konkretisierende Auslegungsregeln . . . . . . 140 3. Lückenschließung . . . . . . . . . . . 151 II. Der Inhalt schuldrechtlicher Koalitionsvereinbarungen . . . . . . . . . . 155

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Teil 3

Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen Rz.

Rz.

III. Zuordnung und Qualifikation durch Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . 157

3. Folgen der Unwirksamkeit von Tarifnormen für den Tarifvertrag a) Teilunwirksamkeit . . . . . . 186 b) Rechtsfolgenproblematik bei Gleichheits- und Diskriminierungsverstößen . . 187

F. Anfechtbarkeit und Nichtigkeit von Tarifverträgen I. Anfechtbarkeit 1. Mit Wirkung für den normativen Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 2. Anfechtung schuldrechtlicher Koalitionsvereinbarungen . . . . 163 II. Unwirksamkeit und Teilunwirksamkeit 1. Mängel des Tarifvertrags als solchem a) Nichtigkeitsgründe . . . . . . 165 b) Vertrauensschutz . . . . . . . . 167 c) Weitergeltung als vertraglich in Bezug genommenes Regelwerk . . . . . . . . . . . . . . 169 2. Kontrolle tariflicher Regelungen anhand höherrangigen Rechts a) Verstoß gegen zwingendes Gesetzesrecht . . . . . . . . . . . 170 b) Verstoß gegen Grundrechte und Europarecht . . . 176

G. Das Ende der zwingenden Tarifgeltung I. „Automatische“ Beendigungen durch Veränderungen bei den Tarifvertragsparteien? . . . . . . . . . . . . . 200 II. Die ordentlichen Beendigungsformen 1. Ordentliche Kündigung und Befristung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 a) Kündigungszuständigkeit . 209 b) Kündigungsfristen . . . . . . . 212 c) Schriftform . . . . . . . . . . . . . . 213 d) Vertreterkündigungen . . . . 214 2. Beendigung durch Aufhebungsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 3. Wirkungsbeendigung durch anderweitigen Tarifabschluss . . . 216 III. Beendigung durch außerordentliche Kündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . 224

Literatur: Ahrendt, Firmentarifvertrag und firmenbezogener Verbandstarifvertrag, RdA 2012, 129; Arnold, Die tarifrechtliche Dauerrechtsbeziehung, 1996; Bauer/Krieger, Altersdiskriminierende Tarifverträge und ihre Rechtsfolgen, in: Festschrift für Klaus Bepler, 2012, S. 1; Bender, Der Wegfall der Geschäftsgrundlage bei arbeitsrechtlichen Kollektivverträgen am Beispiel des Tarifvertrages und des Sozialplans, 2005; Bepler, Transparenz im Arbeitsrecht, in: Festschrift für Franz Josef Düwell, 2011, S. 307; Coester, Zur Verhandlungspflicht der Tarifvertragsparteien, ZfA 1977, 87; Creutzfeldt, Die „Tarifauskunft“ im Arbeitsgerichtsverfahren, in: Festschrift für Franz Josef Düwell, 2011, S. 286; Dieterich, Die Grundrechtsbindung von Tarifverträgen, in Festschrift für Günter Schaub, 1998, 117; Dieterich, Die grundrechtsdogmatischen Grenzen der Tarifautonomie in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, in Festschrift für Herbert Wiedemann, 2002, S. 229; Henssler, Ende der Tarifeinheit – Eckdaten eines neuen Arbeitskampfrechts, RdA 2011, 65; Hottgenroth, Die Verhandlungspflicht der Tarifvertragsparteien, 1990; Houben, Die Rückwirkung von Tarifverträgen, 2006; Lieb, Vorbeugende Schlichtung unter Beteiligung Dritter, in: Festschrift für Peter Hanau, S. 561; Mayer-Maly, Der Verhandlungsanspruch tariffähiger Verbände, RdA 1966, 201; Mikosch, Vertrauensvolle Zusammenarbeit der Tarifvertragsparteien, in: Festschrift für Thomas Dieterich, 1999, S. 365; Seiter, Dauerrechtsbeziehungen zwischen Tarifvertragsparteien?, ZfA 1989, 283; Waas, Der Verhandlungsanspruch tariffähiger Verbände und schuldrechtliche Dauerrechtsbeziehungen zwischen den Tarifvertragsparteien, AuR 1991, 334; Wiedemann/Thüsing, Die Tariffähigkeit von Spitzenorganisationen und der Verhandlungsanspruch der Tarifvertragsparteien, RdA 1995, 280; Wißmann, Unionsrechtskonforme Auslegung von Tarifverträgen, in: Festschrift für Klaus Bepler, 2012, S. 657.

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Der Weg zum Tarifabschluss

Rz. 2 Teil 3

Ein TV ist ein formbedürftiger privatschriftlicher Vertrag, dessen Zustandekommen und Beendigung sich grundsätzlich nach den Regeln des bürgerlichen Rechts richtet. Seine normative Wirkung, also seine Fähigkeit, auf Arbeitsverhältnisse Dritter unabhängig von deren aktuellem Wissen und Wollen einzuwirken und einseitig, als Mindestarbeitsbedingung, verbindlich zu sein, setzt voraus, dass er von tariffähigen Parteien in ihrem autonom festgelegten Zuständigkeitsbereich abgeschlossen wurde. Aus der vom Gesetzgeber festgelegten Normwirkung ergeben sich Besonderheiten sowohl, was den Abschluss des TVes und dessen Beendigung angeht, als auch bei der Ermittlung seines für die Normunterworfenen maßgebenden Inhalts.

1

A. Der Weg zum Tarifabschluss I. Gesetzlicher und/oder gewillkürter Verhandlungsanspruch? 1. Die rechtstatsächliche Ausgangslage Typischerweise kommt es zu Tarifverhandlungen, weil der bisher maßgebende TV ausgelaufen ist oder kurz vor seinem Ende steht und eine oder beide TVParteien ein erhebliches Eigeninteresse an einer Neuregelung haben. Auf Seiten der Gewerkschaft geht es regelmäßig darum, an die Stelle des nur noch nachwirkenden TVes (§ 4 Abs. 5 TVG), der in jede Richtung abweichende einzelvertragliche Vereinbarungen zulässt, eine neue, zu Gunsten des mitgliedschaftlich verbundenen Arbeitnehmers einseitig zwingende Ordnung zu setzen. Die Arbeitgeberseite wird vielfach ein Interesse daran haben, dass ein neues, Friedenspflicht begründendes und deshalb Kalkulationssicherheit schaffendes Regelwerk zustande kommt, das ohne Verhandlungsaufwand in jedem einzelnen Arbeitsverhältnis zur Mitgestaltung der betrieblichen Abläufe und Festlegung der Rechte und Pflichten einheitlich einsetzbar ist. Die Frage danach, ob es einen Rechtsanspruch einer Seite darauf gibt, dass die andere Seite sich auf Verhandlungen mit einem derartigen Regelungsziel einlässt, stellt sich deshalb typischerweise nicht. Anders kann es sich aber verhalten, wenn sich eine neu gegründete oder sich neu „in das Tarifgeschäft“ begebende Organisation um den Abschluss von TVen bemüht und erfahren muss, dass keiner der potentiellen Vertragspartner mit ihr hierüber verhandeln will. Vergleichbares erleben gelegentlich auch alt eingesessene Gewerkschaften, wenn es ihnen darum geht, mit einzelnen tariffähigen, aber nicht oder nicht mehr tarifwilligen und deshalb auch nicht (mehr) verbandsgebundenen Arbeitgebern zu TVen zu kommen. Hier könnte ein angesichts des Schweigens des einfachen Gesetzgebers wohl nur auf Art. 9 Abs. 3 GG oder allgemeine Rechtsgrundsätze zu stützender Verhandlungsanspruch bessere Startbedingungen schaffen. Ihn müsste man wohl, damit er einen zumindest vordergründigen Sinn macht, inhaltlich ähnlich § 74 Abs. 1 Satz 2 BetrVG verstehen, also als Pflicht, „mit dem ernsten Willen zur Einigung zu verhandeln und Vorschläge für die Beilegung von Meinungsverschiedenheiten zu machen“. Bepler

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Teil 3 Rz. 3 3

Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen

Auch in weiteren Fallkonstellationen kann man an einen solchen Verhandlungsanspruch denken: Ein Spitzenverband beschließt, seine Mitgliedsverbände aufzufordern, mit bestimmten, in wichtigen Teilen der öffentlichen Meinung schlecht beleumundeten Organisationen keine TVe mehr abzuschließen. Können Mitgliedsunternehmen, die sich hieran halten wollen, und sich deshalb weigern, mit den betreffenden Organisationen auch nur zu verhandeln, hierzu gerichtlich gezwungen werden? Haben diese Organisationen in Konsequenz eines ihnen eingeräumten Verhandlungsanspruchs auch einen Anspruch gegen den Spitzenverband, die entsprechende Aufforderung zu unterlassen? Oder: Kurz vor dem Auslaufen eines befristet und unter dem Ausschluss jeder Nachwirkung vereinbarten SanierungsTVes kommt der beteiligte Arbeitgeber zu dem Schluss, für eine Sanierung seines Unternehmens bedürfe es der Verlängerung der getroffenen Regelungen um sechs Monate. Kann er von der am ursprünglichen TV-Schluss beteiligten Gewerkschaft verlangen, dass sie mit ihm in Verhandlungen hierüber eintritt, auch wenn der Organisation dies vor dem Hintergrund des Druckes von Mitgliedern, die in anderen Unternehmen beschäftigt sind und um ihre Arbeitsplätze dort fürchten, nicht opportun erscheint? Weiter: Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, von denen die TV-Parteien bei Abschluss eines TVes ausgegangen sind, verändern sich ganz grundlegend. Hat bei einer dramatisch sich verschlechternden wirtschaftlichen Lage der Branche der beteiligte Arbeitgeberverband einen Rechtsanspruch darauf, dass die beteiligte Gewerkschaft Verhandlungen mit dem Ziel aufnimmt, eine Anpassung des Geregelten an die veränderten Umstände zu vereinbaren? Kann die beteiligte Gewerkschaft während der Laufzeit eines TVes eine Verhandlung über Nachbesserungen verlangen, wenn an die Stelle der bei Tarifabschluss prognostizierten wirtschaftlichen Notlage überraschend eine sehr günstige Ertragslage getreten ist mit entsprechenden Ausschüttungen an die Kapitaleigner? Beide Situationen hat es gegeben. Schließlich: Die rechtlichen Bewertungen, die beide TV-Parteien beim Tarifabschluss zu Grunde gelegt und von der ausgehend sie bestimmte Regelungen getroffen haben, erweisen sich als rechtsirrig. Das Kostenvolumen des Tarifabschlusses verändert sich auf der Grundlage der – z.B. vom Europäischen Gerichtshof erkannten und nun von den nationalen Gerichten exekutierten – wahren Rechtslage grundlegend. Kann die hiervon nachteilig betroffene Seite die Aufnahme von Anpassungsverhandlungen verlangen?

2. Verhandlungsanspruch kraft Gesetzes? a) Die Position des Bundesarbeitsgerichts 4

Das Bundesarbeitsgericht hat es bisher in ständiger Rechtsprechung abgelehnt, einen eigenständigen einklagbaren Anspruch darauf zuzuerkennen, dass Tarifverhandlungen zu einem bestimmten Verhandlungsgegenstand überhaupt aufgenommen werden1. Die Entscheidungen sind zu sehr unterschiedlichen Fall1 BAG v. 2.8.1963 – 1 AZR 9/63, NJW 1963, 228 = AP GG Art. 9 Nr. 5 mit abl. Anm. Mayer-Maly; BAG v. 14.7.1981 – 1 AZR 159/78, NJW 1982, 2395 = AP TVG § 1 Verhandlungspflicht Nr. 1 mit abl. Anm. Wiedemann = EzA GG Art. 9 Nr. 33 mit Anm. Konzen; BAG v. 19.6.1984 – 1 AZR 361/82, NZA 1984, 79 = AP TVG § 1 Verhandlungs-

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Der Weg zum Tarifabschluss

Rz. 8 Teil 3

konstellationen ergangen. Es ist aber unverkennbar, dass die Entscheidungsbegründungen über den entschiedenen Einzelfall hinaus reichen und eine allgemeine Aussage tragen sollen. Nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts lässt sich ein Anspruch auf Führung von TV-Verhandlungen nicht nur nicht aus Art. 9 Abs. 3 GG herleiten. Ein solcher Anspruch stehe vielmehr sogar mit der verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Tarifautonomie im Widerspruch, wonach die TV-Parteien frei über den Inhalt ihrer TVe entscheiden. Denn ein Verhandlungsanspruch müsse auch zum Inhalt haben, dass die Verhandlungen mit dem Ziel der Einigung geführt würden. Er könne sich nicht in einer Pflicht zu bloß förmlichem Verhandeln erschöpfen. Hiervon ausgehend hingen ein Verhandlungsanspruch und dessen Vollstreckung im gerichtlichen Verfahren letztlich daran, ob das Gericht die strikte Ablehnung einer bestimmten Forderung als Ausdruck genereller Verhandlungsunwilligkeit, also als bloßes Pro-forma-Verhandeln, oder als sachlich begründet ansehe. Dies laufe letztlich auf eine Inhaltskontrolle von Tarifforderungen hinaus.

5

Aus der Aufgabe, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu ordnen, könne kein Anspruch darauf hergeleitet werden, sich auf Tarifverhandlungen einzulassen und Forderungen mit dem sozialen Gegenspieler zu erörtern. Diese Aufgabe werde nicht durch die Verhandlung über, sondern durch den Abschluss von TVen wahrgenommen.

6

Für einen Verhandlungsanspruch könne schließlich auch nicht ins Feld geführt werden, es müsse kleineren Arbeitnehmerkoalitionen die Chance gegeben werden, auf diesem Weg zum Abschluss von TVen zu kommen. Wenn es eines dahin gehenden Rechtsanspruchs bedürfe, fehle der betreffenden Koalition offenbar die für die allein Gewerkschaften im Rechtssinne vorbehaltene Tariffähigkeit wesentliche Mächtigkeit. Diese Voraussetzung jedes Tarifabschlusses sei aber unverzichtbar. Auch aus dem Ultima-Ratio-Grundsatz des Arbeitskampfrechts könne ein Verhandlungsanspruch nicht hergeleitet werden. Dieser Grundsatz sage etwas darüber, wann vor dem Hintergrund der Interessen der Allgemeinheit frühestmöglich Tarifauseinandersetzungen von kampfweisen Arbeitsniederlegungen oder Aussperrungen begleitet sein dürften. Aus ihm lasse sich nichts dafür herleiten, dass Verhandlungsmöglichkeiten von der verhandlungswilligen Seite erst mit gerichtlicher Hilfe erzwungen werden müssten. Der Ultima-RatioGrundsatz verlange auch nicht, dass stets verhandelt worden sein müsse, bevor es zu Kampfmaßnahmen kommen dürfe. Er gestatte Kampfmaßnahmen vielmehr auch mit dem Ziel, einen Tarifgegner, der jede Verhandlung verweigert, an den Verhandlungstisch zu bringen.

7

anspruch Nr. 3 mit abl. Anm. Wiedemann; zuletzt kurz bestätigt durch BAG v. 14.2.1989 – 1 AZR 142/88, NZA 1989, 601.

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Teil 3 Rz. 9

Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen

b) Literaturauffassungen 9

Die Auffassung des Bundesarbeitsgerichts hat in der Literatur vielfach Zustimmung gefunden1. Es gibt aber auch einige gewichtige Gegenstimmen, die in unterschiedlichem Umfang und auf voneinander abweichenden Wegen zu einem Anspruch insbesondere von Gewerkschaften darauf kommen, dass Tarifverhandlungen auf Anforderung tatsächlich aufgenommen werden.

10

Nur für einen Teil der aufgezeigten Konfliktlagen führt ein konstruktiver Weg weiter, der insbesondere von Theo Mayer-Maly2 und Markus Arnold3 für richtig gehalten wurde: Aus dem mehrfachen Abschluss von TVen mit demselben Tarifpartner erwachse eine Dauerrechtsbeziehung mit der Pflicht, sich auf vom Tarifpartner gewünschte Tarifverhandlungen einzulassen. Weitergehend wird ein allgemeiner Verhandlungsanspruch angenommen, der soweit er überhaupt im Einzelnen hergeleitet wird, überwiegend auf Art. 9 Abs. 3 GG, teilweise im Zusammenhang mit § 242 BGB, gestützt wird4. Ein Zusammenschluss zur Ausübung des Koalitionsgrundrechtes, dessen Ziel mit dem Abschluss von Kollektivverträgen erreicht werde, müsse auch einen Anspruch darauf haben, dass hierüber Verhandlungen mit dem Ziel einer sinnvollen Regelung des Arbeitslebens aufgenommen werden. Die Pflicht, sich auf eine solche Tarifverhandlung einzulassen, sei letztlich die Kehrseite der Tariffähigkeit und ihrer Voraussetzungen: Die hier erforderliche Tarifwilligkeit liege nur dann vor, wenn man sich auch auf Tarifverhandlungen einzulassen bereit sei. Es müsse auch berücksichtigt werden, dass eine Verweigerung von Tarifverhandlungen die hiervon betroffene Koalition in ihrem Bestand gefährden könne5. Darüber hinaus spreche für einen allgemeinen Verhandlungsanspruch auch das Allgemeininteresse, dass jede Seite vor etwaigen kampfweisen Auseinandersetzungen einen Versuch konsensualer Lösung erzwingen könne6. Insbesondere Herbert Wiedemann und Gregor Thüsing ziehen auch die ausdrückliche Konsequenz, dem von ihnen angenommenen Verhandlungsanspruch gerichtliche Durchsetzbarkeit zuzubilligen. Hier müsse ein präziser, auf ein bestimmtes Verhandlungsverhalten gerichteter Antrag gestellt werden, der nach § 888 Abs. 1 ZPO vollstreckbar sei. Im Falle der Verweigerung von Tarif-

1 Z.B. Berg/Platow/Schoof/Unterhinninghofen, § 1 TVG Rz. 34; Coester, ZTR 1977, 87; Däubler, Das Arbeitsrecht 1, 2006, Rz. 215; Löwisch/Rieble, TVG, Grundl. Rz. 226 f.; Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 3 Rz. 18; Stein, Tarifvertragsrecht, Rz. 72; v. Steinau-Steinrück in Thüsing/Braun, Tarifrecht, 3. Kap. Rz. 15; Waas, AuR 1991, 334; Kempen/Zachert/Zachert, § 1 TVG Rz. 27; im Grundsatz auch HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 12; Däubler/Reim/Nebe, § 1 TVG Rz. 121 ff. 2 Mayer-Maly, RdA 1966, 201; Anm. zu BAG AP GG Art. 9 Nr. 5. 3 Arnold, Die tarifrechtliche Dauerrechtsbeziehung, 1996. 4 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Band I, S. 276 ff.; Hottgenroth, Die Verhandlungspflicht der Tarifvertragsparteien, 1990; Lieb, FS Hanau, S. 561, 574 f.; Löwisch, ZfA 1971, 319, 339; Mikosch, FS Dieterich, S. 365, 380 f.; Seiter, ZfA 1989, 283; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 216 ff.; Wiedemann/Thüsing, RdA 1995, 280; Zöllner/Loritz/Hergenröder, Arbeitsrecht, § 33 III 4. 5 So insbesondere Hottgenroth, Die Verhandlungspflicht der Tarifvertragsparteien, S. 76 ff. 6 Z.B. Lieb, FS Peter Hanau, S. 566, 574; Heinze, FS Molitor, 1988, S. 159.

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Bepler

Der Weg zum Tarifabschluss

Rz. 14 Teil 3

verhandlungen trotz anstehender Tarifrunde könne insoweit sogar einstweiliger Rechtsschutz nach §§ 935, 938 ZPO in Anspruch genommen werden1. Ernst Mikosch2 geht vom Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit aus, der auch für die TV-Parteien gelte und sich nach Treu und Glauben aus ihrer gemeinsamen Aufgabe und der Bedeutung der verwirklichten Tarifautonomie für das Gemeinwesen ergebe. Es führe zu einer unnötigen Ausdehnung der Kampfphase einer Tarifauseinandersetzung, wenn man schon das Ob von Tarifverhandlungen der Mächtigkeit der jeweils Beteiligten überlasse und letztlich so die Koalition zum Beweis ihrer Mächtigkeit in den Arbeitskampf zwinge. Ein Verhandlungsanspruch sei ein Wert an sich; es gehe nicht darum, hierdurch unter Verstoß gegen die grundrechtlich garantierte Tarifautonomie inhaltliche Vorgaben zum Verhandlungsinhalt zu machen. Es genüge, sei aber auch erforderlich, die Beteiligten „an einen Tisch“ zu bringen.

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De lege ferenda fordert schließlich unter dem Eindruck der wiederhergestellten Möglichkeit von Tarifpluralitäten im Betrieb Martin Henssler, der einen allgemeinen Verhandlungsanspruch auf der Grundlage des geschriebenen Rechts ablehnt, eine umfassende Verhandlungspflicht der Arbeitgeberseite, mit der eine Verhandlungs-, besser: Mitverhandlungspflicht, und entsprechende Ansprüche aller im Betrieb vertretenen Gewerkschaften korrespondieren. Ergänzt um einen Zwang zur Teilnahme an einem gemeinsam durchzuführenden Schlichtungsverfahren in Pluralitätssituationen sieht er eine Möglichkeit, die aus seiner Sicht hier bestehende Gefahr übermäßiger, die Tarifautonomie gefährdender Streikaktivitäten zu beherrschen3.

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c) Stellungnahme Für die Beantwortung der aufgeworfene Frage muss deutlich zwischen einem klagbaren Verhandlungsanspruch und einer die einzelne TV-Partei treffenden Verhandlungsobliegenheit unterschieden werden, die diese zwingt, sich auf Verhandlungen über den Abschluss von TVen einzulassen, um rechtliche und/ oder tatsächliche Nachteile zu vermeiden.

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Diese Unterscheidung ist insbesondere vor dem Hintergrund des von der höchstrichterlichen Rechtsprechung geprägten Arbeitskampfrechts4 von entscheidender Bedeutung. Es ist im hier interessierenden Zusammenhang immer noch vom Ultima-Ratio-Grundsatz geprägt, demzufolge der Schäden verursachende Arbeitskampf mit dem Ziel, einen bestimmten Tarifabschluss zu erzwingen – oder zu verhindern –, erst dann rechtmäßig ist und sanktionslos bleibt, wenn andere zumutbare Wege, ohne Streik und Aussperrung zu angemessenen Verhandlungsergebnissen zu kommen, gescheitert sind5. Zwar hat

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Wiedemann/Thüsing, RdA 1995, 280 (286). Mikosch, FS Dieterich, S. 380 f. Henssler, RdA 2011, 72. Zum aktuellen, vielfach umstrittenen Stand des Arbeitskampfrechts vgl. etwa Däubler, Arbeitskampfrecht; ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 94 ff.; Gagel/Bepler, SGB II/ SGB III, Vor § 146 SGB III; HWK/Hergenröder, Art. 9 GG Rz. 146 ff.; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., §§ 192 ff. 5 BAG GS v. 21.4.1971 – GS 1/68, BB 1971, 701.

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das Bundesarbeitsgericht zu Recht angenommen, dass in der tatsächlichen Einleitung von Arbeitskampfmaßnahmen die freie und nicht überprüfbare Entscheidung der TV-Parteien liege, die Verhandlungsmöglichkeiten als ausgeschöpft anzusehen1. Es hat jedoch in derselben Entscheidung festgehalten, das Ultima-Ratio-Prinzip behalte seine Gültigkeit für die Frage, ob und ab wann Arbeitskampfmaßnahmen zulässig seien. Die Zulässigkeit jeder Arbeitskampfmaßnahme setze nämlich voraus, dass zuvor Forderungen für den Inhalt des abzuschließenden TVes erhoben und dass über diese Forderungen auch Tarifverhandlungen geführt worden seien, es sei denn, die andere Seite habe Verhandlungen über eine Forderung überhaupt abgelehnt2. 15

Von Bedeutung für das Bestehen einer Verhandlungsobliegenheit ist der Ultima-Ratio-Grundsatz auch, soweit er das Recht der außerordentlichen Kündigung beherrscht: Wer meint, die Geschäftsgrundlage des abgeschlossenen TVes sei durch nachträgliche, nicht vorhersehbare und schwerwiegende tatsächliche oder rechtliche Entwicklungen gestört, muss über Anpassungen zu verhandeln versuchen, um eine Änderung der Vertragslage herbeizuführen, und kann sich nicht sofort vom TV durch dessen fristlose Kündigung lossagen (§§ 313, 314 BGB)3. Umgekehrt muss sich auf Verhandlungen mit einem anpassungswilligen TV-Partner einlassen, wer in einer solchen Situation die sofortige fristlose Kündigung eines TVes wegen Störung der Geschäftsgrundlage und den Verlust eines Kalkulationssicherheit vermittelnden und arbeitnehmerschützenden, zwingend wirkenden und Friedenspflicht vermittelnden TVes vermeiden will.

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Wer sich vor diesem Hintergrund für einen klagbaren Verhandlungsanspruch ausspricht, fordert zugleich, dass Arbeitskampfmaßnahmen erst dann rechtmäßig sein sollen, wenn der betreffende Anspruch auch gerichtlich durchgesetzt und erfolglos realisiert ist. Damit würde aber insbesondere das Recht auf Streik ganz wesentlich eingeschränkt und eine Ausweitung des betreffenden Konflikts eher befördert. Denn es würden sogar dort, wo es normalerweise aufgrund der bestehenden Kooperationsstruktur oder auch nur des wechselseitigen Drohpotentials an sich ohne Weiteres zur Aufnahme von Verhandlungen kommt, also im Normalfall, Anreize gesetzt, den Tarifkonflikt durch Verhandlungsverweigerung und anschließende gerichtliche Klärung eines Verhandlungsanspruchs, in die mit hoher Wahrscheinlichkeit inhaltliche Fragen eingespeist würden (Anspruch auf Verhandlung über – z.B. diskriminierende – Tarifforderungen?), zur Abschwächung bereits erfolgter Mobilisierungserfolge zu verzögern. Dort, wo es möglicherweise eines Anspruchs bedürfte, um die „Beteiligten“ an einen Tisch zu bringen, würde sich der Konflikt in vielen Fällen in eine Auseinandersetzung über die Tariffähigkeit verlagern (§ 97 Abs. 5 ArbGG!).

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Es ist auch nicht einsichtig, warum es – gar unter dem Gesichtspunkt der Koalitionsrechtsgarantie – bedenklich sein und zu der geforderten Konsequenz ei1 BAG v. 21.6.1988 – 1 AZR 651/86, NZA 1988, 846. 2 BAG v. 21.6.1988 – 1 AZR 651/86, NZA 1988, 846 unter A I 3 d) der Gründe. 3 BAG v. 18.12.1996 – 4 AZR 129/96, NZA 1997; BAG v. 18.6.1997 – 4 AZR 710/95, NZA 1997, 1234; vgl. auch Belling, NZA 1996, 906; Däubler, ZTR 1996, 241.

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nes allgemeinen Verhandlungsanspruchs führen soll, wenn eine Koalition mit einer anderen nicht oder nicht mehr in Tarifverhandlungen eintreten will. Das Erfordernis der Tarifwilligkeit verpflichtet nur dazu, sich überhaupt auf das TV-System aktiv einzulassen und gegenüber anderen Koalitionen um der Gestaltung des Wirtschafts- und Arbeitslebens willen verhandlungsbereit zu sein. Ein Rechtsanspruch für bestimmte Koalitionen, vom sozialen Gegenspieler an der Regelungsaufgabe beteiligt zu werden, ergibt sich daraus nicht. Der Staat hat auch keine verfassungsrechtliche Schutzpflicht gegenüber kleinen Organisationen, ihnen die Teilnahme am Tarifgeschehen zu ermöglichen. Das richtige Verständnis der Tarifautonomie dahin, dass durch sie autonom eine sozial angemessene und wirtschaftlich ausgewogene Regelung des Arbeitslebens herbeigeführt werden soll, spricht vielmehr dagegen, jeder Organisation zu jedem Zeitpunkt unabhängig von ihren realen Durchsetzungschancen einen Rechtsanspruch auf Teilnahme an Tarifverhandlungen einzuräumen. Ob man an eine solche Rechtseinräumung in tarifpluralen Situationen zur Domestizierung für die Akzeptanz des TV-Systems besonders gefährlich erscheinender Arbeitskampfsituationen denken sollte, bleibe dahingestellt. Eine dahin gehende Entscheidung kann in jedem Falle nur vom Gesetzgeber kommen.

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Ist hiernach ein klagbarer Verhandlungsanspruch im TV-System jedenfalls auf der Grundlage des geschriebenen Rechts grundsätzlich abzulehnen, bleibt doch nach dem Ultima-Ratio-Grundsatz in den bereits angesprochenen Fällen eine Pflicht, sich im wohlverstandenen Eigeninteresse auf Tarifverhandlungen einzulassen, um Nachteile zu vermeiden1. Ein Arbeitgeber, der Verhandlungen über Tarifforderungen von vornherein verweigert, riskiert den sofortigen Ausbruch eines Streiks und die sich daraus ergebenden Schäden. Eine Gewerkschaft, die ihre Tarifforderungen mit Kampfmaßnahmen durchzusetzen versucht, ohne auch nur einmal hierüber verhandelt zu haben, streikt in der Regel rechtswidrig und macht sich gegebenenfalls schadensersatzpflichtig. Kommt es einmal zu einer schwerwiegenden Störung der Geschäftsgrundlage des bestehenden TVes, sind beide Vertragsparteien ebenfalls im bereits beschriebenen Eigeninteresse gehalten, über eine Anpassung vorab zunächst zu verhandeln. Ein klageweise durchsetzbarer Anspruch des Arbeitgebers oder Arbeitgeberverbandes auf Durchführung von Tarifverhandlungen besteht aber nicht.

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3. Tarifvertraglich begründeter Verhandlungsanspruch Ein Anspruch auf Aufnahme von Tarifverhandlungen kann sich allerdings aus einer entsprechenden tarifvertraglichen Vereinbarung ergeben. Dies steht dem Grunde nach außer Streit2. Denkbar sind etwa Regelungen in befristeten HausTVen zur Beschäftigungssicherung, in denen sich die TV-Parteien verpflichten, in einem bestimmten Zeitraum vor dem Ende der Tarifgeltung Verhandlungen über einen AnschlussTV aufzunehmen3. Es kommt aber auch vor, 1 So zutreffend ErfK/Franzen, § 1 TVG Rz. 24; Löwisch/Rieble, TVG, Grundl. Rz. 226 ff. 2 Vgl. nur Berg/Platow/Schoof/Unterhinninghofen, § 1 TVG Rz. 34; MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 187 Rz. 37. 3 Beispiel in BAG v. 16.5.2012 – 4 AZR 366/10.

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dass unter der Voraussetzung, dass bestimmte externe Bedingungen eintreten, z.B. eine Tarifentgelterhöhung in einem BezugsTV, ein Nachverhandlungsanspruch zur Anpassung der Entgeltregelungen vorgesehen wird1. In solchen Fällen wird vielfach von einem gerichtlich durchsetzbaren Verhandlungsanspruch auch schon während noch bestehender Friedenspflicht mit dem Inhalt des § 74 Abs. 1 Satz 2 BetrVG auszugehen sein. Anders kann es sich bei entsprechenden Festlegungen in TVen verhalten, die dauerhaft regelungsbedürftige Gegenstände betreffen. Hier wird es sich nicht selten um bloße Absichts- oder Good-Will-Erklärungen oder auch nur die deklaratorische Wiedergabe der geschilderten Obliegenheit handeln, also nicht um die Begründung eines gerichtlich einklagbaren Anspruchs. Was genau gewollt ist, ist aber in jedem Streitfall durch Auslegung der betreffenden Tarifklausel zu klären2.

II. Tarifschlichtung 21

Der vielfach wahrgenommenen, wenn auch (noch?) nicht statistisch absicherbaren Gefahr, dass es in einem die Tarifautonomie gefährdenden Übermaß zu Arbeitskämpfen kommen könnte, ist nach alledem von einem allgemeinen Verhandlungsanspruch der TV-Parteien aus über den Ultima-Ratio-Grundsatz in aller Regel nicht wirksam zu begegnen. Anders verhält es sich, wenn man davon ausgeht, dass vor Streikmaßnahmen ein förmliches Schlichtungsverfahren durchlaufen werden muss3. In der jüngeren Vergangenheit ist mehrfach eine modifizierende Verstärkung eines Arbeitskämpfe verhindernden oder doch zumindest zeitlich hinausschiebenden tariflichen Schlichtungswesens gefordert worden4, das ja auch unabhängig von seinen arbeitskampfrechtlichen Folgen wesentliche Bedeutung für Zustandekommen und Inhalt von TVen haben kann. Deshalb soll der Ist-Zustand insoweit und sein historischer Hintergrund, der auf die Notwendigkeit gesetzgeberischer Zurückhaltung hinweisen könnte, im Folgenden dargestellt werden5.

1. Die (Zwangs-)Schlichtung in der Weimarer Republik 22

In den tarifvertraglich geregelten Arbeitsbeziehungen wird in Deutschland seit weit mehr als einhundert Jahren versucht, durch ein strukturiertes Schlichtungsverfahren das Zustandekommen kollektiver Neuregelungen der Löhne und sonstigen Arbeitsbedingungen zwischen Gewerkschaften auf der einen 1 Eine dahin gehende Auslegung kommt für § 19 des TVes für Musiker in Kulturorchestern in der aktuellen Fassung in Betracht; dieser Bestimmung will die tarifschließende Gewerkschaft – allerdings bislang erfolglos – sogar die Pflicht entnehmen, mit einem bestimmten Regelungsergebnis die Verhandlungen abzuschließen (LAG Köln v. 6.1.2012 – 4 Sa 7569/10, n. rkr.). 2 Es erscheint zweifelhaft, ob hier wirklich für den Regelfall nur von einer bloßen Absichtserklärung auszugehen ist, wie dies Berg/Platow/Schoof/Unterhinninghofen, § 1 TVG Rz. 436 annehmen. 3 So zumindest tendenziell BAG v. 21.4.1971 – GS 1/68, BB 1971, 701. 4 Z.B. durch Heinze, FS Molitor, S. 159; Lieb, FS Hanau, S. 561; Gentz, FS Däubler, S. 421; Henssler, RdA 2011, 65 (70). 5 Zum tariflichen Schlichtungswesen schon Bepler, FS Grädler, 2012, S. 44, 52 ff.

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und Arbeitgeberverbänden oder einzelnen Arbeitgebern auf der anderen Seite zu fördern1. Dabei ging und geht es immer auch darum, Arbeitskämpfe durch kollektive Arbeitsniederlegungen und Aussperrungen zu verhindern oder doch zumindest einzudämmen, die bei den an der Auseinandersetzung Beteiligten zu oft recht erheblichen Schäden führen und typischerweise im Verhältnis der am Arbeitsleben Beteiligten wie auch im Verhältnis zum sozialen Umfeld starke Irritationen bis hin zu nachhaltigen persönlichen Verletzungen zur Folge haben, die in der Folgezeit eine befriedigende und produktive Zusammenarbeit erschweren. Schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatten die Gewerbegerichte als sogenannte Einigungsämter die Aufgabe der – verbindlichen – Schlichtung in Regelungsstreitigkeiten. Während des Ersten Weltkrieges, im Jahre 1916, folgte eine unter starkem staatlichem Einfluss stehende Schlichtung auf der Grundlage des Gesetzes über den vaterländischen Hilfsdienst, die in den kriegswichtigen Betrieben und Unternehmen mit ihren Schiedssprüchen für ungestörte Produktivität unter vertretbaren Arbeitsbedingungen sorgen sollten.

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Die auch für die Arbeitsbeziehungen höchst unruhigen Zeiten nach dem Ende des Ersten Weltkrieges haben dann Pate gestanden für eine besondere Form der Zwangsschlichtung, die Michael Kittner sehr nachvollziehbar als die Epoche prägende Eigenart der Weimarer Arbeitsverfassung2 bezeichnet hat: Die Tarifvertragsverordnung vom 23. Dezember 1918 sah sie zwar noch nicht vor; hier war nur geregelt, dass ein Schlichtungsverfahren vor einem Schlichtungsausschuss zu durchlaufen war; der hier zustande gekommene Schiedsspruch konnte aber ohne Zustimmung der beiden Verhandlungspartner nicht verbindlich werden. Dies wurde aber mit der Demobilmachungsverordnung vom 3. September 1919 anders. Der hierdurch installierte Demobilmachungskommissar bekam in § 26 der Verordnung auch die Befugnis, bei Streitigkeiten über Löhne, Gehälter und sonstige Arbeitsbedingungen ergangene Schiedssprüche des Schlichtungsausschusses für verbindlich zu erklären. Diese Verordnung wurde durch die Verordnung für das Schlichtungswesen vom 30. Oktober 1923 bestätigt und weiterentwickelt. Danach konnten Schlichtungsausschüsse und Schlichter nicht nur „auf Anruf“ einer Streitpartei, sondern auch von Amts wegen tätig werden und hatten zum Abschluss von Gesamtvereinbarungen Hilfe zu leisten, soweit eine autonom vereinbarte Schlichtungsstelle nicht bestand. Das Verfahren verlief dann in drei Schritten: zunächst hatten die Streitparteien zu versuchen, vor der Schlichtungsstelle eine Einigung zu finden; gelang das nicht, machte die Schlichtungsstelle einen Vorschlag für den Abschluss einer Gesamtvereinbarung, der wie die Vereinbarung selbst wirkte, wenn er von beiden Parteien angenommen wurde. Geschah dies nicht, konnte der Schiedsspruch mit der Wirkung einer Gesamtvereinbarung, also insbesondere mit der Wirkung, Friedenspflicht zu begründen und Arbeitskämpfe zu verhindern oder zu beenden3, für verbindlich erklärt werden, „wenn die in ihm getroffene Rege-

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1 Hierzu im Einzelnen höchst instruktiv Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Band I, S. 1298 ff.; Kittner, Arbeitskampf, S. 454 ff. 2 Kittner, Arbeitskampf, S. 454. 3 Däubler/Däubler, Arbeitskampfrecht, § 4 Rz. 21.

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lung bei gerechter Abwägung der Interessen beider Teile der Billigkeit entspricht und ihre Durchführung aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen erforderlich ist.“1 Der Schiedsspruch konnte zwar an sich nur mit – einfacher – Stimmenmehrheit der Mitglieder der Schlichtungsstelle ergehen; für den Fall, dass sich bei der Abstimmung aber mehr als zwei Meinungen bildeten, von denen auch nach einer Nachverhandlung keine die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen konnte, entschied die Stimme des Vorsitzenden. Ihn bestellten der Reichsarbeitsminister oder die jeweils zuständigen Landesminister zumindest mittelbar, in wichtigen Angelegenheiten unmittelbar. Die Hürden für eine Verbindlicherklärung waren mit den Maßstäben der Billigkeit und der Erforderlichkeit aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen nicht gerade unüberwindbar. Auf diese Weise war mit der Einführung dieses während der gesamten folgenden Zeit der Weimarer Republik praktizierten Konfliktlösungsverfahrens zwar nicht notwendig die Aufgabe des in der Weimarer Reichsverfassung vorgezeichneten Modells eines verbandsautonom und verbandsverantwortlich geregelten Arbeitslebens verbunden. Die TV-Parteien hätten durch tarifautonome Regelungen ihren Gestaltungsraum bewahren können, wenn sie in diesem Ziel einig gewesen wären. Die Machtverteilung zwischen den Beteiligten und das wechselseitige Verhältnis zueinander war aber nicht so, dass beiderseits ein starkes Interesse an autonom geschaffenen Regelungen und hinreichendes Vertrauen auf deren soziale Qualität bestand. Damit dürfte es zu erklären sein, dass mit fortschreitender Zeit die angesichts der tatsächlichen Durchführung im Schwerpunkt staatlichen Vorgaben und Bedürfnissen entsprechende Zwangsschlichtung den frei vereinbarten TV zumindest in den wichtigsten Regelungsmaterien fast völlig verdrängte und dies nicht selten vor dem Hintergrund schwieriger wirtschaftlicher Bedingungen um einer Absenkung der Arbeitsbedingungen willen2. Das Verhältnis staatlicher Schiedssprüche zu autonomen tarifvertraglichen Abschlüssen betrug schließlich 73 zu 173. 25

Franz Gamillscheg resümiert die Erfahrungen mit der Zwangsschlichtung in der Weimarer Republik dahin, es habe sich gezeigt, dass dann, wenn ein staatlicher Zwangsschlichter bereit stehe, der Wille zum Ausgleich erlahme, weil jede Seite schon um der eigenen Mitglieder willen auf ihren Höchstforderungen beharre. Die Verantwortung liege ja beim Schlichter. Die bereitstehende Zwangsschlichtung sei so eine Erziehung oder Einladung zur Verantwortungs-

1 § 6 SchlichtungsVO. 2 Die zentrale, weit über die Regelung eines Arbeitskonfliktes hinausgehende Bedeutung des Schlichtungswesens in der Weimarer Republik verdeutlicht eine Einschätzung von Hugo Sinzheimer, Die Justiz 1930/31 (Band VI Heft 3) S. 164, 167: „Der Zwangstarifvertrag ist ein Mittel, zwangsweise in das Lohnniveau einzudringen, ohne dass ihm auf anderen Gebieten des Sozial- und Wirtschaftslebens ähnliche Einrichtungen entsprechen.“ Eine aus Gewerkschaftssicht deutlich erwartungsvollere Bewertung des Schlichtungswesens findet sich nur wenige Jahre zuvor bei Clemens Nörpel, Schlichtungsergebnisse, in Gewerkschaftszeitung v. 18. April 1925 Nr. 16 (bei Flemming/ Krohn/Stegmann/Witt, Die Republik vom Weimar, Band 2: Das sozialökonomische System, 1979, S. 270 f.). 3 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Band I, S. 1301.

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losigkeit1. Hinzufügen lässt sich die Vermutung, die bei vielen fehlende Bereitschaft, den Staat von Weimar in seinem Bestand und seiner (auch: Arbeits-)Verfassungsordnung zu schützen und zu bewahren, könnte auch etwas damit zu tun gehabt haben, dass bei vielen der Eindruck entstand, die ohne maßgebenden Einfluss der Verbände letztlich staatlich geschaffenen Arbeitsbedingungen und damit auch Lebensbedingungen hätten mit den eigenen Interessen und Bedürfnissen, wie sie von den Verbänden erfolglos (gelegentlich auch: über-)artikuliert worden waren, grundsätzlich nicht in Übereinstimmung gestanden.

2. Schlichtung im Tarifvertragssystem der Bundesrepublik Deutschland a) Tarifautonome, freiwillige Schlichtung Auch wenn nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges durch Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie verfassungsrechtlich gewährleistet wurden, erwog man zunächst durchaus, wieder ein staatliches Schlichtungs- bis hin zum Zwangsschlichtungssystem zur Sicherung eines möglichst arbeitskampfarmen Wiederaufbaus zu errichten. Anders als in der Republik von Weimar2 gelang es hier jedoch den Sozialpartnern, dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) und der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), sich im Jahre 1954 im sogenannten Margarethenhof-Abkommen3 auf eine Musterschlichtungsvereinbarung zu einigen, die den Vorrang der tariflichen, zwischen den TV-Parteien vereinbarten Schlichtung4 vor jeder Form von staatlich beeinflusster Schlichtung festschrieb.

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In den meisten wichtigen Branchen wurde diese Mustervereinbarung modifiziert vereinbart, so etwa im Baugewerbe, in der Chemischen und in der Metallindustrie sowie im Öffentlichen Dienst5. Einige Branchen, wie etwa die Ban-

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1 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Band I, S. 1303; eine in diese Richtung gehende, die eigene Existenz gefährdende Tendenz des (Zwangs-)Schlichtungswesen sah der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB) im März 1924 voraus, ohne daraus letztlich die gebotenen Konsequenzen zu ziehen; in einer Verlautbarung heißt es: „Wenn es Übung wird, dass die Behörde aus Schiedssprüchen Tarifverträge macht, so werden damit die Gewerkschaften ausgeschaltet und nach vieler Meinung entbehrlich gemacht. Sie tragen für die geltenden Arbeitsbedingungen keine Verantwortung und der Arbeitnehmer glaubt, es ginge auch ohne Gewerkschaften, Beiträge und Disziplin; es genüge, Forderungen zu erheben, und zwar möglichst viel zu fordern, sodass der Schlichter weit genug entgegen kommt, und alles übrige besorgt die Schlichtungsbehörde. Eine solche Entwicklung des künftigen Schlichtungswesens wäre der Ruin der Gewerkschaften.“ (zitiert nach Kittner, Arbeitskampf, S. 460 f.). 2 Zu dem hier erfolglosen Versuch Kittner, Arbeitskampf, S. 461 f. 3 Abgedruckt in RdA 1954, 383. 4 Im vorliegenden Zusammenhang geht es um die Schlichtung zur Herbeiführung tariflicher Regelungen im Sinne einer Vertragshilfe. TV-Parteien verwenden den Begriff gelegentlich auch in ihren TVen, um paritätisch besetzte Einrichtungen zu schaffen und ihr Verfahren zu regeln, deren Aufgabe es ist, bei Meinungsverschiedenheiten der TVParteien über den Inhalt des von ihnen Vereinbarten Klarheit zu schaffen oder ein übereinstimmendes Normverständnis zu erreichen. Solche Schlichtungs- oder Schiedsstellen gibt es beispielsweise in der Metallindustrie, bei den privaten Eisenbahnen und in der Systemgastronomie. 5 Texte sind abgedruckt bei Löwisch/Rumler, Schlichtungs- und Arbeitskampfrecht, S. 503 ff.

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Teil 3 Rz. 28

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ken oder der Groß- und der Einzelhandel, haben zwar keine solchen auf Dauer angelegten Schlichtungsvereinbarungen getroffen. Dies schließt aber nicht aus, dass sie sich im einzelnen Konfliktfall auf ein Schlichtungsverfahren unter dem Vorsitz eines externen Schlichters verständigen. Zudem gibt es auch einzelne TVe, die speziell für einen abzuschließenden NachfolgeTV ein Schlichtungsverfahren vorsehen. 28

Die als schuldrechtliche Vereinbarungen zu qualifizierenden und deshalb bei einer etwaigen Kündigung nicht nach § 4 Abs. 5 TVG nachwirkenden1 Schlichtungsvereinbarungen legen grundsätzlich fest, dass eine gleich große Zahl von Arbeitgeberverbands- und Gewerkschaftsvertretern Mitglieder der „Schlichtungsstelle“ oder „Schlichtungskommission“ genannten Einrichtung werden. Außerdem steht die Schlichtungsstelle regelmäßig unter dem Vorsitz eines stimmberechtigten unparteiischen Vorsitzenden. Anders ist es bei der Chemischen Industrie, die ganz ohne unparteiischen Vorsitzenden auskommt – und gleichwohl eine der Branchen mit den geringsten Arbeitsausfällen infolge von Arbeitskämpfen ist –, und der Metallindustrie, bei der zwei Vorsitzende benannt werden, von denen nur einer – entweder einvernehmlich oder aufgrund eines Losentscheids festgelegt – stimmberechtigt ist.

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Die Schlichtungsvereinbarungen sehen ein Tätigwerden der Schlichtungsstelle nur nach vorheriger erfolgloser Verhandlung der TV-Parteien und auch dann nicht von Amts wegen, sondern nur nach Anrufung durch eine der Parteien vor. Ganz überwiegend begründen sie nach einer solchen einseitigen Anrufung einen Einlassungszwang der anderen TV-Partei. Nur in der Metallindustrie findet eine Schlichtung nicht statt, wenn die Schlichtungsstelle nicht einvernehmlich, sondern nur von einer Partei angerufen wurde und die andere Partei sich nicht binnen zwei Werktagen dieser Anrufung angeschlossen hat. Die nicht öffentliche Verhandlung vor der Schlichtungsstelle endet – im Einzelnen unterschiedlich geregelt – mit der Feststellung des Scheiterns der Schlichtung oder der Einigung der TV-Parteien, einem beiderseits angenommenen Einigungsvorschlag der Schlichtungsstelle oder deren mehrheitlich gefälltem Spruch. Wird ein Einigungsvorschlag angenommen, haben die TV-Parteien die Pflicht, ihn in einen formgerechten TV umzusetzen. Durch einen Spruch der Schlichtungsstelle wird zwar deren Verfahren beendet; der Tarifkonflikt ist damit aber nicht notwendig zu Ende. Nur wenn der Spruch die Qualität eines TVes erreicht hat, weil er auch förmlich verbindlich geworden ist, ist dies der Fall. Dazu kommt es nach den branchenspezifischen Regelungen unter unterschiedlichen Voraussetzungen: Bedingung kann eine nachträgliche schriftliche Annahme des Spruchs durch beide Parteien sein, aber auch die schriftliche Vorabunterwerfung unter den bevorstehenden Spruch. Einige Schlichtungsvereinbarungen verzichten aber auch auf eine solche ausdrücklich Annahme des Spruchs und lassen ihn bereits dann verbindlich werden, wenn er entweder einvernehmlich (Baugewerbe) oder mit einer qualifizierten Mehrheit (Druckgewerbe) zustande gekommen ist. In allen diesen Fällen dürfte es aber einer Umsetzung in einen formgerechten TV im Sinne des § 1 Abs. 2 TVG bedürfen, dem allein der Gesetzgeber Normwirkung verliehen hat. 1 Dazu Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 863.

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Rz. 32 Teil 3

Den hier bekannten Schlichtungsvereinbarungen ist gemeinsam, dass sie in unterschiedlicher Regelungstechnik für die Zeit der Durchführung des Schlichtungsverfahrens, also bis zu dessen Scheitern oder seinem Erfolg, eine Friedenspflicht hinsichtlich der Verhandlungsgegenstände festlegen. Teilweise sind auch nur sog. Abkühlungsphasen nach Auslaufen des betreffenden TVes vorgesehen, die aber zeitlich so dimensioniert sind, dass vor ihrem Ablauf ein Schlichtungsverfahren durchgeführt werden kann. Auch wenn eine ausdrückliche Festlegung der Friedenspflicht während der Dauer der Schlichtungsverhandlungen fehlen sollte, würde die höchstrichterliche Rechtsprechung eine kampfweise Arbeitsniederlegung während laufender Schlichtung wohl als unverhältnismäßig und rechtswidrig ansehen, wenn sie mehr ist als eine kurze demonstrative Solidarisierung mit den Verhandlungszielen der Gewerkschaft. Die Warnstreikentscheidung des Bundesarbeitsgerichts, die es nach Aufnahme der Tarifverhandlungen in das freie Ermessen der Gewerkschaft stellt, ob sie ausschließlich friedliche Verhandlungen nicht mehr für aussichtsreich und deshalb gescheitert hält1, steht dem nicht entgegen. Denn eine Gewerkschaft, die unter Einschaltung Dritter in die Schlichtung geht, bringt damit zum Ausdruck, dass sie friedliche Verhandlungen noch nicht für ausgereizt hält.

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b) Gesetzliche Schlichtungsangebote Soweit ersichtlich ohne wesentliche praktische Bedeutung sind einige ältere landesgesetzliche Regelungen, die überwiegend als dessen Ausführungsbestimmungen auf das wohl immer noch förmlich geltende Kontrollratsgesetz Nr. 35 vom 20.8.1946 zurückgehen und die es deshalb auch nur in der alten Bundesrepublik überhaupt noch gibt2. Sie bieten die – kaum in Anspruch genommenen – Dienste von Landesschlichtern oder Landesschlichtungsstellen an, die aber nur von beiden TV-Parteien übereinstimmend angerufen werden können und deren Spruch auch nur Verbindlichkeit erlangt, wenn er im Vorhinein oder nachträglich beiderseits angenommen wurde.

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Eine eher exotische Besonderheit gilt im Landesteil Baden des Landes BadenWürttemberg mit der Badischen Schlichtungsordnung. Hier kann der Schlichter nach dem Gesetzeswortlaut nicht nur auf Antrag einer Partei, sondern sogar von Amts wegen tätig werden kann; sein Spruch soll durch Entscheidung des zuständigen Landesministers für verbindlich erklärt werden können. Gegen diese gesetzlich eingeräumte und praktisch wohl nicht in Anspruch genommene Möglichkeit der staatlichen Zwangsschlichtung werden gut nachvollziehbare verfassungsrechtliche Bedenken unter dem Gesichtspunkt eines Verstoßes gegen die positive Koalitionsfreiheit erhoben3.

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1 BAG v. 21.6.1988 – 1 AZR 651/86, NZA 1988, 846. 2 Der begründete Entwurf eines Gesetzes zur Regelung kollektiver Arbeitskonflikte durch prominente deutsche Hochschullehrer (Rolf Birk, Horst Konzen, Manfred Löwisch, Thomas Raiser und Hugo Seiter), der dem Schlichtungsverfahren einen eigenen Gesetzesabschnitt mit immerhin acht von 40 Paragrafen widmete (Tübingen 1988), blieb ohne erkennbaren Widerhall in der neueren Gesetzgebung. 3 Berg/Platow/Schoof/Unterhinninghofen, AKR Rz. 420 m.w.N.

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Teil 3 Rz. 33

Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen

3. Würdigung 33

Insgesamt lässt sich zum heute erreichten Stand des Schlichtungswesens im deutschen TV-Recht sagen: Es gibt kein staatlich beherrschtes, autoritäres Schlichtungswesen mehr, das die Regelungsautonomie der TV-Parteien überwinden könnte. Es wäre wohl auch verfassungsrechtlich kaum zu halten. Da es für eine teure Arbeitskämpfe vermeidende Schlichtung aber offenbar bei beiden Beteiligten des kollektiven Gestaltungsprozesses im Arbeitsleben ein Bedürfnis gibt, haben die Koalitionen fast durchgängig tarifautonom ein Schlichtungsverfahren eingeführt – oder praktizieren es zumindest –, in dem in mehreren hintereinander geschalteten Verfahrensschritten bis hin zur Einschaltung eines unparteiischen Dritten mit besonderer Sachkunde oder besonderer sozialer Autorität auch ohne vorherige Arbeitskämpfe eine Vielzahl allseits akzeptierter Tarifeinigungen gelungen sind und auch weiter gelingen wird. Arbeitskämpfe und – in einigen Branchen heute praktisch vielleicht mindestens ebenso bedeutsam: das In-Aussicht-Stellen von Arbeitskampfmaßnahmen – sind nicht durchgängig zu vermeiden. Die Streikstatistik, die Deutschland unter den vergleichbaren Staaten immer noch als eine der am wenigsten von Streiks betroffenen Gesellschaften und Volkswirtschaften ausweist1, belegt indes anschaulich, dass der Weg zum Tarifabschluss, wie er sich in Deutschland eingebürgert und durchgesetzt hat, eher konsensual als konfrontativ geprägt ist.

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Für eine verfassungskonforme Reform, welche die Möglichkeit einer inhaltlichen Zwangsschlichtung wohl aussparen müsste, ist danach ein Bedarf nicht zu erkennen, nimmt man nur die Eindämmung von Arbeitskämpfen als solche als Regelungsziel in den Blick. Anders könnte es in tarifpluralen Situationen sein, wobei es dann aber im Schwerpunkt um eine verfahrensmäßige Bündelung der verschiedenen Verhandlungsaktivitäten in einem – dann mehrseitigen – Schlichtungsverfahren gehen müsste2. Aber auch insoweit wird zumindest aktuell kein Reformbedarf gesehen.

III. Die Tarifverhandlungen 1. Verhandlungsführung 35

Verantwortlich für die eigentlichen TV-Verhandlungen und deren Abschluss sind die Organe der Verbände, die in den jeweiligen Satzungen bestimmt sind. Üblicherweise werden die Verhandlungen von Verhandlungskommissionen geführt, die auf Gewerkschaftsseite von den den Gewerkschaftsvorstand beratenden Tarifkommissionen gebildet werden3. In den Satzungen oder in auf Satzungsgrundlage erlassenen Richtlinien, die hierzu oft Näheres bestimmen, finden sich insbesondere bei Großgewerkschaften, die für sehr unterschiedliche 1 Zur Streikstatistik vgl. etwa aus jüngerer Zeit die Zusammenstellungen bei Schaub/ Treber, ArbR-Hdb., § 192 Rz. 4; Däubler/Däubler, Arbeitskampfrecht, § 8 Rz. 30 ff. jeweils m.w.N. 2 In diese Richtung de lege ferenda Henssler, RdA 2011, 65 (72 ff.). 3 Däubler, Arbeitsrecht, Leitfaden für Arbeitnehmer Band 1, 2006, Rz. 211.

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Der Weg zum Tarifabschluss

Rz. 38 Teil 3

Arbeitnehmergruppen verhandeln, auch Regelungen über die Zusammensetzung dieser Kommissionen oder Ausschüsse. Insbesondere wird dann, wenn ein TV für eine bestimmte Beschäftigtengruppe verhandelt wird, angeordnet, dass diese Gruppe in der Tarifkommission oder der Verhandlungskommission in bestimmter Weise vertreten sein muss. Werden solche Bestimmungen verletzt, kann dies innerverbandliche Folgen nach sich ziehen; ein derartiger Fehler bleibt aber ohne Einfluss auf die Wirksamkeit des dann zustande gekommenen TVes1.

2. Abschlussbefugnis Über das wirksame Zustandekommen entscheidet, was die am Abschluss Beteiligten angeht, das Satzungsrecht mit seinen Regelungen über Organschaft und Außenvertretung, weshalb typischerweise für bundesweite Tarifabschlüsse auf Seite der beteiligten Gewerkschaft deren Hauptvorstand zuständig ist, für den dann letztlich der oder die Vorsitzende oder ein oder mehrere andere die erforderlichen Erklärungen abgeben, was ebenfalls häufig schon in den Satzungen entsprechend festgelegt ist. Für regionale Abschlüsse ist vielfach eine eigene Abschlusskompetenz der gewerkschaftlichen Bezirksleitungen und eine Vertretungsbefugnis bestimmter Funktionsträger satzungsmäßig bestimmt.

36

Soweit die Abschlusskompetenz in der Satzung insoweit nicht eingeschränkt ist, können für den konkreten Tarifabschluss auch rechtsgeschäftliche (Unter-)Vertreter bevollmächtigt werden, was insbesondere bei HausTVen häufiger geschieht. Insoweit gilt das allgemeine Vertretungsrecht, das eine Bevollmächtigung durch eine herfür kompetente Person oder ein solches Gremium verlangt, einschließlich der Möglichkeit einer nachträglichen Genehmigung vollmachtlosen Handelns (§ 177 BGB)2. Es gelten auch die Grundsätze der Anscheins- und Duldungsvollmacht, die ausnahmsweise ohne weitere Aufklärung über das Vorliegen einer Vollmacht für die Wirksamkeit eines TVes streiten können3. Dies wird insbesondere dann in Frage kommen, wenn ein TV über längere Zeiträume durch die nach außen vertretene Partei unbeanstandet umgesetzt worden ist.

37

Die Anwendung der genannten Grundsätze setzt allerdings voraus, dass der formbedürftige TV (§ 1 Abs. 2 TVG) ohne weiteres erkennbar für einen anderen abgeschlossen worden ist. Dies ist dann nicht der Fall, wenn das Mutterunternehmen – offenbar in Verkennung der Grenzen der eigenen Tariffähigkeit4 –

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1 BAG v. 16.11.2011 – 4 AZR 856/09, NZA-RR 2012, 308. 2 BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 120/09, DB 2011, 600; BAG v. 9.9.2010 – 2 AZR 936/08, ZTR 2011, 296. 3 BAG v. 13.7.1994 – 4 AZR 699/93, NZA 1995, 79; BAG v. 12.12.2007 – 4 AZR 996/06, NZA 2008, 892. 4 Die irrige Vorstellung, es sei über die Grenzen des § 2 Abs. 1 TVG hinaus möglich, auch als solche bezeichnete KonzernTVe abzuschließen, ist erkennbar auch unter Gewerkschaften verbreitet. Ein einzelnes Konzernunternehmen kann nur TVe zur Regelung auch der in anderen Konzernunternehmen tatsächlich durchgeführten Arbeitsverhältnisse abschließen, wenn es als Personalführungsgesellschaft fungiert, also von Rechts wegen Arbeitgeber aller Beschäftigten ist; insoweit zutreffend Berg/Platow/ Schoof/Unterhinninghofen, § 2 TVG Rz. 76.

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Teil 3 Rz. 39

Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen

TVe in eigenem Namen abgeschlossen hat und lediglich bei der Bestimmung von deren Geltungsbereich angegeben wird, für welche Konzernunternehmen das Geregelte auch gelten soll1. Hier werden die TVe nur zwischen den Parteien des TVes wirksam. 39

Ein konzerneinheitliches Tarifrecht ist hiernach nicht ausgeschlossen. Es muss nur § 2 Abs. 1 und § 1 Abs. 2 TVG berücksichtigen. Die konzernangehörigen Unternehmen, in denen der TV gelten soll, können im Rahmen eines mehrgliedrigen TVes selbst – mit – als TV-Partei auftreten und sich dabei auch durch die Konzernobergesellschaft rechtsgeschäftlich vertreten lassen, wobei deren im TV schriftlich dokumentiertes Handeln als Vertreter zumindest einen einer ausdrücklichen Nennung des Vertretenen als TV-Partei gleichwertigen Grad an Klarheit und Eindeutigkeit haben muss. Aus § 1 Abs. 2 TVG folgt auch, dass für die Tarifunterworfenen aus dem TV selbst ersichtlich sein muss, ob der betreffende TV überhaupt für sie gelten kann; dies setzt die eindeutige Erkennbarkeit voraus, wer Partei des TVes ist2.

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Ein konzerneinheitliches Tarifrecht auch für künftige konzernangehörige Unternehmen lässt sich allerdings auf diese Weise nicht erreichen. Zu diesem Ziel kann man auch nicht mit Hilfe der rechtlichen Konstruktion gelangen, eine Konzernobergesellschaft als eine Art Spitzenverband anzusehen, der analog § 2 Abs. 2 TVG für die jeweiligen Konzernunternehmen TVe abschließen könne3. Spitzenverbände sind Organisationen, in denen sich Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbände zusammengeschlossen haben; in Konzernen sind Unternehmen miteinander verbunden, wobei keineswegs deren Eigenschaft als Arbeitgeber im Vordergrund steht. § 2 Abs. 2 TVG kann deshalb von vornherein nicht als Legitimationsgrundlage für „KonzernTVe“ herangezogen werden. Im Übrigen: Spitzenverbände sind nicht durch die Mitgliedschaft von Arbeitnehmern oder Arbeitgebern legitimiert. Die von ihnen abgeschlossenen TVe haben von vornherein ein Transparenzdefizit, weil die Verbindung zwischen Regelungsgebern und Regelungsunterworfenen nur vermittelt ist. Die für Spitzenverbände geltenden tarifvertragsgesetzlichen Ermächtigungen sollten deshalb weder mit Hilfe einer extensiven Analogie noch auch nur de lege ferenda erweitert werden4.

1 BAG v. 17.7.2007 – 4 AZR 1005/06, NZA 2008, 713; BAG v. 18.11.2009 – 4 AZR 491/08, NZA 2010, 835; BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 120/09, NZA-RR 2011, 137. 2 BAG v. 12.2.1997 – 4 AZR 419/95, NZA 1997, 1064; BAG v. 29.6.2004 – 1 AZR 143/03, NZA 2005, 600; BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 120/09, NZA-RR 2011, 137. 3 So Berg/Platow/Schoof/Unterhinninghofen, § 2 TVG Rz. 77, im Anschluss an Däubler/Peter, § 2 TVGRz. 96, die unter Rz. 93 auf besondere Schwierigkeiten hinweist, einen TV mit allen konzernangehörigen Unternehmen durchzusetzen. 4 Zur Tariffähigkeit von Spitzenorganisationen BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289; hierzu nur D. Ulber, RdA 2011, 353; Schüren, RdA 2011, 368; Lunk/Rodenbusch, RdA 2011, 375; Lembke, FS Bepler, 2012, S. 345; jeweils m.z.w.N.

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Schriftformzwang für Tarifverträge (§ 1 Abs. 2 TVG)

Rz. 44 Teil 3

B. Schriftformzwang für Tarifverträge (§ 1 Abs. 2 TVG) I. Normzweck TVe, die nicht notwendig in deutscher Sprache abgefasst sein müssen1, bedürfen nach § 1 Abs. 2 TVG der Schriftform, damit die tarifvertraglichen Regelungen insbesondere für die am Tarifabschluss nicht unmittelbar beteiligten, aber den dortigen Regelungen unterworfenen Dritten jederzeit feststellbar klargestellt werden können und die Normurheber zweifelsfrei feststehen2. Dem Schutz der TV-Parteien vor Übereilung dient der Schriftformzwang nach allgemeiner Meinung nicht3.

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Die angesprochenen, in erster Linie den schützenswerten Interessen der Tarifunterworfenen dienenden Zwecke des § 1 Abs. 2 TVG sprechen in jedem Falle dafür, diese Bestimmung nicht restriktiv, sondern in einem der tarifautonomen Gestaltung des Arbeitslebens dienenden Sinn anzuwenden.

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II. Erfüllung der Schriftform § 1 Abs. 2 TVG verweist nicht auf § 126 BGB. Diese Bestimmung ist jedoch grundsätzlich entsprechend den § 1 Abs. 2 TVG zu Grunde liegenden tarifrechtlichen Zwecken anzuwenden. Dies bedeutet, dass jeder TV von den an seinem Abschluss Beteiligten oder ihren Vertretern eigenhändig zu unterschreiben ist; eine Paraphe genügt nicht4. Darüber hinaus ist erforderlich, dass die in der Unterschrift liegende Vertragsannahmeerklärung dem jeweils anderen Vertragspartner im Original zugehen muss, wenn die Unterschriften in Abwesenheit der Gegenseite geleistet werden. Die Mitteilung an diese, man habe den übersandten TV unterzeichnet, reicht ebenso wenig aus, wie eine Übermittlung des unterschriebenen TVes per Fax5. Jeder TV wird erst dann wirksam, wenn diese Voraussetzungen vollständig und von und gegenüber allen Beteiligten erfüllt worden sind.

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Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und einem großen Teil der Literatur reicht es für die Formwirksamkeit eines TVes aus, wenn mehrere gleich lautende TV-Urkunden aufgenommen wurden und jede TV-Partei die für die andere Seite bestimmte Urkunde unterzeichnet und das von ihr unter-

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1 Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 312; Däubler/Reim/Nebe, § 1 TVG Rz. 163; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1448. 2 Zuletzt BAG v. 15.4.2008 – 1 AZR 86/07, NZA 2008, 1074; ebenso Berg/Platow/ Schoof/Unterhinninghofen, § 1 TVG Rz. 46; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 199 Rz. 10; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 310. 3 Z.B. Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 3 Rz. 54; Däubler/Reim/Nebe, § 1 TVG Rz. 166; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 310. 4 Statt aller Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 3 Rz. 55 m.z.w.N. 5 BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 1023/08, NZA-RR 2011, 30.

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Teil 3 Rz. 45

Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen

schriebene Exemplar der Gegenseite im Original zugeleitet hat1. Dies erscheint schon deshalb zweifelhaft, weil ein derartiger Austausch einseitig unterzeichneter Urkunden, wenn es um Betriebsvereinbarungen geht, dem Schriftformerfordernis des § 77 Abs. 2 Satz 2 BetrVG nach allgemeiner Auffassung nicht genügt2. Man mag sich für diesen Unterschied noch auf den Wortlaut des § 77 Abs. 2 Satz 1 BetrVG stützen können, wonach Betriebsvereinbarungen gemeinsam zu beschließen und schriftlich niederzulegen sind. Eine vergleichbare Umschreibung des Zustandekommens eines TVes hat der weit ältere § 1 Abs. 2 TVG nicht vorgenommen. Man muss aber mit bedenken, dass nach der eben dargelegten, ganz überwiegend vertretenen Auffassung für die Wirksamkeit eines TVes keine TV-Urkunde existieren müsste, die von allen tarifschließenden Parteien unterzeichnet ist. Deshalb lässt sich hiervon ausgehend das wirksame Zustandekommen eines solchen TVes im Streitfall möglicherweise nur dadurch feststellen, dass darüber Zeugenbeweis erhoben werden muss, ob wechselseitig einseitig unterzeichnete TV-Urkunden zugegangen sind und ob diese gleichlautend waren. Die hier bestehenden Unsicherheiten liegen auf der Hand. Sie sind in einem die Rechtsverhältnisse vieler Dritter betreffenden Regelungssystem nicht hinnehmbar. Es spricht deshalb nach dem tarifvertragsrechtlichen Regelungszweck des § 1 Abs. 2 TVG alles dafür, eine solche Möglichkeit gar nicht erst zu eröffnen. Für das TV-Recht ist deshalb ebenso wie für das Betriebsverfassungsrecht zu verlangen, dass Vereinbarungen mit normativer Regelungsmacht nur dann formwirksam sind, wenn sich auf derselben Urkunde die Unterschriften aller Beteiligten befinden. 45

Der Gesamtzusammenhang des Tarifvertragsgesetzes spricht auch entgegen der überwiegenden Literaturmeinung3 dagegen, für einen formgerechten TV die elektronische Form nach §§ 126 Abs. 3, 126a BGB ausreichen zu lassen. Solange § 7 TVG die Übersendung der Urschrift eines jeden TVes zum Tarifregister verlangt und das TVG nicht ausdrücklich §§ 126 ff. BGB in Bezug nimmt, kommen TVe nur als verkörperte Willenserklärungen formgerecht zustande4.

III. Anwendungsbereich des Schriftformgebots 46

Dem Schriftformgebot muss jeder TV als Ganzer und in allen seinen Teilen genügen. Es gilt auch für die mit einem normativ wirkenden TV im unmittelbaren sachlichen Zusammenhang stehenden schuldrechtlichen Vereinbarungen der TV-Parteien. Formfreiheit besteht allerdings für sonstige schuldrecht1 BAG v. 9.7.1997 – 4 AZR 635/95, NZA 1998, 49; BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 1023/08, NZA-RR 2011, 30; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 199 Rz. 11; Oetker in Jacobs/Krause/ Oetker, § 3 Rz. 55; Däubler/Reim/Nebe, § 1 TVG Rz. 160, jeweils m.w.N. 2 BAG v. 21.8.1990 – 3 AZR 422/89, NZA 1991, 675; Fitting, § 77 BetrVG Rz. 21; WPK/ Preis, § 77 BetrVG Rz. 9. Thüsing (Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 311) begründet seine Bedenken gegen die andere herrschende Meinung im TV-Recht zu Recht auch mit diesem Gesichtspunkt. 3 Berg/Platow/Schoof/Unterhinninghofen, § 1 TVG Rz. 47; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1447; Däubler/Reim/Nebe, § 1 TVG Rz. 162; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 313; HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 16; Kempen/Zachert/Zachert, § 1 TVG Rz. 766. 4 Ebenso Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 3 Rz. 55.

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Schriftformzwang für Tarifverträge (§ 1 Abs. 2 TVG)

Rz. 49 Teil 3

liche Koalitionsverträge, welche sich nicht auf den Abschluss, den Inhalt oder die Beendigung von TVen mit Normwirkung beziehen, sondern allein Verhaltensweisen und Verpflichtungen im Gegenseitigkeitsverhältnis regeln. Nach Sinn und Zweck des Formgebots müssen nicht nur die normativen Regelungen und schuldrechtliche Vereinbarungen eines TVes schriftlich und eigenhändig unterzeichnet vorliegen. Auch die tarifschließenden Parteien müssen schriftlich niedergelegt dem formgerechten TV-Text zu entnehmen sein. Deshalb müssen auch etwaige Vertretungsverhältnisse und die einzelnen Mitglieder einer Tarifgemeinschaft formgerecht offengelegt sein. Der Tarifunterworfene muss die am TV-Schluss beteiligten Parteien ohne weiteres feststellen und so ermitteln können, welches Tarifrecht für ihn durch einen der erkennbar Verantwortlichen vermittelt als unter den Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 TVG zwingend geltend in Betracht kommt.

47

Auch die Normtexte, die durch die Unterschrift legitimiert werden sollen, müssen sich aus dem Zusammenhang der Urkunde zweifelsfrei ergeben. Das Bundesarbeitsgericht geht von einem Gebot der Rechtsquellenklarheit aus, das insbesondere dann greift, wenn, etwa in Standort- und Arbeitsplatzsicherungsvereinbarungen, Regelungen, bei denen man von einem TV-Charakter ausgehen könnte, solche mit möglicherweise betriebsverfassungsrechtlichem Inhalt und eher politische Willensäußerungen in einer Urkunde zusammengefasst und von allen denkbaren Urhebern, also Betriebsrat, Arbeitgeber, Koalitionsvertretern und politischen Mandatsträgern gemeinsam unterzeichnet werden. Es muss sich aus der unterzeichneten Urkunde ergeben, wer für welchen Regelungsteil die Verantwortung übernimmt und welche Rechtsqualität mit welchen Rechtsfolgen die betreffenden Regelungsteile deshalb haben sollen. Soweit eine solche Erkennbarkeit fehlt, ist die Vereinbarung unwirksam1.

48

Protokollnotizen, ergänzenden Erläuterungen oder Anlagen, wie z.B. Zuordnungsmatrices zu ÜberleitungsTVen in ein neues tarifliches Eingruppierungssystem2, können nur dann verbindliche normative Wirkung haben, wenn sie § 1 Abs. 2 TVG genügen oder in einer dieser Bestimmung genügenden Form Teil des betreffenden TVes geworden sind. Fehlt es daran, handelt es sich um Meinungs- oder Willensäußerungen der TV-Parteien ohne Regelungswirkung3. Ob man sich ihrer in Zweifelsfällen zur Unterstützung eines bestimmten Ergebnisses der Auslegung des TVes, auf den sie sich beziehen, bedienen kann, ist eine Frage des Einzelfalles. Eine darüber hinausgehende Wirkung für den Geltungsbereich des BezugsTVes ist ausgeschlossen.

49

1 BAG v. 23.1.2008 – 4 AZR 312/01, AP TVG § 3 Nr. 36 mit Anm. Höpfner = NZA 2008, 771; BAG v. 15.4.2008 – 1 AZR 86/07, NZA 2008, 1074; kritisch zur Rechtsprechung des 1. Senats Benrath/Thau, FS Bauer, 2010, S. 147. 2 BAG v. 19.10.2011 – 4 AZR 643/09, ArbR 2012, 254. 3 Im Ergebnis ebenso Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 3 Rz. 57; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1456; Berg/Platow/Schoof/Unterhinninghofen, § 1 TVG Rz. 49; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 199 Rz. 10; in der Unwirksamkeitsfolge zutreffend präzisierend Däubler/Reim/Nebe, § 1 TVG Rz. 175.

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Teil 3 Rz. 50

Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen

50

Die genannten Übereinkünfte entsprechen dem Formgebot, wenn sie selbst schriftlich niedergelegt und eigenhändig unterzeichnet sind. Es genügt aber auch, wenn zweifelsfrei feststeht, dass sie – inhaltlich, nicht notwendig auch körperlich, verknüpft – Teil eines formgerechten TVes sind. Dies kann sich z.B. aus einer durchgehenden Paginierung, aus einer wechselseitigen Inbezugnahme von TV und weiterer Übereinkunft in den jeweiligen Texten oder auch einer seitenweisen Paraphierung von Anlagen durch die TV-Parteien ergeben1.

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Bezugnahmen auf andere Regelwerke, auch TVe, genügen dem Formgebot, wenn sie nur selbst in der gehörigen Form vereinbart wurden. Die TV-Parteien der Bezug nehmenden Tarifregelung müssen nicht auch noch selbst die Form für das in Bezug Genommene wahren, indem sie den Text des Verweisungsobjekts jeweils eigenhändig unterzeichnen. Hier genügt es für dessen Anwendbarkeit im Geltungsbereich des verweisenden TVes, wenn die in Bezug genommene Regelung die für sie geltenden Anforderungen im Verhältnis zwischen den dortigen Regelungsgebern erfüllt und wirksam ist2. Das Problem der hier angesprochenen Bezugnahmen liegt gelegentlich in der nicht hinreichenden Bestimmtheit oder darin, dass die TV-Parteien sich allzu weit ihrer originären Rechtssetzungsaufgabe entledigen. Die Rechtsprechung verlangt, dass der TV das Bezugnahmeobjekt so präzise kennzeichnet, dass es jederzeit zweifelsfrei feststellbar ist3. Sie begrenzt die Möglichkeit, durch umfassende Verweisung auf ein anderes Tarifwerk in seiner jeweiligen Fassung (Blankettverweisung), die grundsätzlich eng auszulegen ist4, die eigene Rechtssetzungsaufgabe auf andere TV-Parteien zu delegieren; nur die Inbezugnahme von TVen derselben TVParteien oder von solchen TVen anderer TV-Parteien ist rechtlich möglich, mit denen ein enger sachlicher Zusammenhang zum VerweisungsTV besteht. Auf diese Weise soll gewährleistet werden, dass auch bei einer Übertragung der Rechtssetzungsbefugnis auf andere TV-Parteien, die in jeder Blankettverweisung liegt, dem Ziel der Sachgerechtigkeit der tariflichen Regelungen im Sinne eines angemessenen Interessenausgleichs Rechnung getragen wird5.

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Auch alle Änderungen, Ergänzungen von TVen und der Abschluss von AnschlussTVen sowie der Beitritt einer neuen TV-Partei zu einem bereits formwirksam existierenden TV bedürfen der Schriftform des § 1 Abs. 2 TVG.

IV. Rechtsfolge eines Formverstoßes 53

Ein den dargelegten Formanforderungen nicht genügender TV ist unheilbar nichtig. Es ist von Rechts wegen ausgeschlossen, gegenüber der Berufung auf die Formnichtigkeit eines TVes den Einwand unzulässiger Rechtsausübung zu 1 Statt aller Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 199 Rz. 12. 2 Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 3 Rz. 58; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1453; Däubler/Reim/Nebe, § 1 TVG Rz. 168 jeweils m.w.N. 3 BAG v. 9.7.1980 – 4 AZR 564/78, NJW 1981, 1574 = AP TVG § 1 Form Nr. 7 mit Anm. Wiedemann = DB 1981, 374; BAG v. 10.11.1982 – 4 AZR 1203/79, DB 1983, 717. 4 BAG v. 16.6.2010 – 4 AZR 944/08, NZA 2011, 480. 5 BAG v. 4.4.2001 – 4 AZR 215/00, NZA 2002, 104; BAG v. 25.7.2006 – 3 AZR 134/05, NZA 2007, 578; BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 561/06, AP TVG § 4 Nr. 27; BAG v. 22.2.2012 – 4 AZR 8/10.

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Rz. 56 Teil 3

Verhandlungsergebnisse

erheben (§ 242 BGB)1. Auch eine Umdeutung in einen Vorvertrag auf Abschluss eines TVes ist ausgeschlossen2. Dies gilt unabhängig davon, ob man auch einen solchen Vorvertrag dem Schriftformzwang des § 1 Abs. 2 TVG unterwirft. Ein Vorvertrag ist gegenüber einem auf Normsetzung gerichteten TV nicht ein Weniger, sondern etwas Anderes, das vom ursprünglichen Rechtssetzungswillen nicht mit umfasst ist. Die Gesamtnichtigkeit eines TVes wegen Formverstoßes ist nur dann ausgeschlossen, wenn der Formverstoß nur bei einzelnen, typischerweise gesondert als Anlage oder Anhang erstellten Teilen festzustellen ist und der formgerechte TV im Übrigen aus sich heraus eine sinnvoll anwendbare Regelung darstellt3.

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C. Verhandlungsergebnisse Erst in Zusammenschau mit dem Formzwang, dem die TV-Parteien unterliegen, können manche Verhandlungsergebnisse richtig eingeordnet werden.

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I. Ergebnisniederschriften, Vorverträge, sonstige schuldrechtliche Koalitionsverträge Üblicherweise steht am Ende der eigentlichen Tarifverhandlungen jedenfalls dann, wenn komplexere Regelwerke verhandelt worden sind, eine Ergebnisniederschrift, in der die wesentlichen Verhandlungsergebnisse zusammengefasst werden, die dann in einen präzise regelnden und deshalb auch praktisch umsetzbaren TV-Text gefasst werden sollen4. Solche Ergebnisniederschriften, die üblicherweise nicht von allen Beteiligten förmlich unterzeichnet, sondern nur von den jeweiligen Verhandlungsführern unterschrieben oder auch nur paraphiert werden, sind schon wegen des Formmangels noch keine TVe, die für die hieran Beteiligten, ihre Verbände und deren Mitglieder Rechte und Pflichten begründen können. Es kann aber auch einmal sein, dass eine als „Ergebnisprotokoll über Tarifverhandlungen“ überschriebene und formgerecht von Seiten aller TV-Parteien unterzeichnete Urkunde als TV im Rechtssinne zu bewerten ist. Dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn die Formulierungen dort bereits den Willen der Verhandlungspartner deutlich werden lassen, Normen zu setzen, und die Niederschrift keine Hinweise darauf enthält, dass das hier Niedergelegte selbst noch in die ansonsten übliche Form eines TVes umgesetzt werden soll5; die Absicht, das Vereinbarte ändernd in andere, bereits vorhan1 BAG v. 21.3.1973 – 4 AZR 225/72, NJW 1973, 1343; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 323; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 199 Rz. 10; Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 3 Rz. 56; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1456. 2 A.A. Berg/Platow/Schoof/Unterhinninghofen, § 1 TVG Rz. 52; Däubler/Reim/Nebe, § 1 TVG Rz. 146; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 199 Rz. 10. 3 Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 323. 4 Hierzu näher Däubler/Reim/Nebe, § 4 TVG Rz. 112. 5 Eine im Ergebnis nicht unproblematische Qualifizierung als – obwohl § 1 Abs. 2 TVG genügend – bloße Ergebnisniederschrift ohne Normcharakter in BAG v. 26.1.1983 – 4 AZR 224/80, DB 1983, 2146.

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Teil 3 Rz. 57

Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen

dene TVe einarbeiten zu wollen, hindert eine Qualifikation der Niederschrift als TV nicht1. 57

Nach entsprechenden Kriterien richtet sich die Entscheidung, ob ein normativ wirkender TV oder ein schuldrechtlicher Koalitionsvertrag vorliegt. Auch aus letzterem können sich, wenn man ihn als Vertrag zu Gunsten Dritter auszulegen hat, – individualvertraglich abdingbare – Rechte Dritter ergeben. Es handelt sich indes hier nie um Mindestarbeitsbedingungen, wie sie ein TV schafft2.

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Genügt eine Ergebnisniederschrift den Formanforderungen an einen TV nicht, und tun sich bei der Feinarbeit am Tariftext Schwierigkeiten auf, die verhindern, dass ein formgerechter TV entsteht, kann fraglich sein, ob die Ergebnisniederschrift als Vorvertrag interpretiert werden kann, aus dem die daran interessierte TV-Partei im Streitfall einen formgerechten Tarifabschluss mit dem – im Klageantrag wiederzugebenden – Inhalt des niedergelegten Verhandlungsergebnisses gerichtlich durchsetzen kann. Eine entsprechende Frage kann sich stellen, wenn, was schon vorgekommen ist3, Regelungen oder Regelungskomplexe aus der Ergebnisniederschrift nicht in das dann erstellte Tarifwerk – möglicherweise versehentlich – übernommen worden sind.

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Die hier anstehende Auslegungsfrage stellt sich nur dann, wenn ein auf Abschluss eines bestimmten TVes gerichteter Vorvertrag überhaupt ohne Einhaltung der Form des § 1 Abs. 2 TVG wirksam zustande kommen kann. Die ältere Rechtsprechung hat dies mit Unterstützung der Literatur angenommen4. In neueren Entscheidungen hat das Bundesarbeitsgericht Zweifel an dieser Rechtsprechung artikuliert5: Der normative Charakter von TVen gebiete es möglicherweise, für Erklärungen, die im Rahmen eines Tarif-Vorvertrages abgegeben würden, aus dem eine Verpflichtung zum Abschluss eines vollgültigen TVes abgeleitet werde, eine diesem Verbindlichkeitsgrad entsprechende Formstrenge zu verlangen. Das Bundesarbeitsgericht hat die aufgeworfene Frage letztlich offengelassen, weil es auf deren Beantwortung für die Entscheidung nicht ankam.

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Ein Vorvertrag, aus dem auf Abschluss eines TVes geklagt werden kann, setzt in jedem Falle den abschließend gebildeten Willen aller an den Verhandlungen als zukünftige TV-Parteien Beteiligten voraus, einen TV mit einem bestimmten Inhalt6 abzuschließen. Daran fehlt es, wenn die beabsichtigten Regelungs1 BAG v. 25.6.2003 – 4 AZR 405/02, NZA 2004, 215. 2 Vgl. BAG v. 14.4.2004 – 4 AZR 232/03, NZA 2005, 178 = AP TVG § 1 Auslegung Nr. 188 mit Anm. Kamanabrou. 3 Vgl. hierzu BAG v. 5.7.2006 – 4 AZR 381/05, BB 2007, 556. 4 BAG v. 19.10.1976 – 1 AZR 611/75, DB 1977, 405 = AP TVG § 1 Form Nr. 6 mit Anm. Wiedemann; BAG v. 26.1.1983 – 4 AZR 224/80, DB 1983, 2146; ebenso Däubler/Reim/ Nebe, § 1 TVG Rz. 174; HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 18; Kempen/Zachert/Zachert, § 1 TVG Rz. 778; Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 3 Rz. 61; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 322; a.A. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1444. 5 BAG v. 5.7.2006 – 4 AZR 381/05, ZTR 2007, 248; BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 285/08, NZA 2010, 230; ebenso schon Mangen, RdA 1982, 229 (231 ff.); den Zweifeln beitretend Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 199 Rz. 4; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1444. 6 Hierzu BAG v. 5.7.2006 – 4 AZR 381/05, ZTR 2007, 248.

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Verhandlungsergebnisse

Rz. 64 Teil 3

inhalte nicht zweifelsfrei und mit der Bestimmtheit festgelegt sind, dass sie ohne Weiteres in eine Tarifregelung umgesetzt werden können. Darüber hinaus muss, wenn die hierzu nach Satzung Befugten nicht selbst gehandelt haben, der Wille erkennbar sein, die für den Tarifabschluss Verantwortlichen zu binden, und die Fähigkeit, dies zu tun. Allerdings genügt insoweit, wenn die übrigen Voraussetzungen vorliegen, auch ein Zustimmungsvorbehalt zu Gunsten der Zuständigen und deren später erklärte Zustimmung, nach der ein Vorvertrag über den Abschluss eines TVes zustande gekommen sein kann. Vorverträge über den Abschluss von Folge-TVen können im Übrigen bei hinreichender Bestimmtheit ohne weiteres auch in TVen enthalten sei. Dies kommt etwa in Betracht, wenn sich der Arbeitgeber in einem HausTV gegenüber der tarifschließenden Gewerkschaft verpflichtet, bevorstehende Verbandstarifabschlüsse in HausTVe zu übernehmen.

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II. Protokollnotizen, Fußnoten, Anlagen und Anhänge Aus Anlass von TV-Abschlüssen kommt es immer wieder auch zur Formulierung und schriftlichen Niederlegung von Protokollnotizen, in denen übereinstimmende Vorstellungen der TV-Parteien davon zum Ausdruck gebracht werden, was unter bestimmten Regelungen oder in Regelungen verwendeten Begriffen zu verstehen oder auch nur nicht zu verstehen ist1. Ähnliche Klarstellungs- oder Konkretisierungsziele werden üblicherweise mit Fußnoten verfolgt, während Anlagen und Anhänge häufig eigenständige, strukturell nachrangige Regelungsabsichten verfolgen, etwa in Form von die allgemeinen Entgeltbestimmungen konkretisierenden Eingruppierungsbestimmungen oder von Überleitungsregelungen zur Besitzstandswahrung aus dem bisherigen in das neue Regelwerk2. Solche Festlegungen oder Klarstellungen hätten auch in den TV-Text selbst aufgenommen werden können, was aber wohl um einer Entlastung des eigentlichen TV-Textes willen unterblieben ist.

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Die genannten Texte haben materiell dieselbe Normqualität wie die Tariftexte selbst, wenn in ihnen die Absicht zum Ausdruck kommt, Regelungen für die Arbeitsverhältnisse der Tarifunterworfenen zu treffen, und sie in der hierfür gebotenen Form niedergelegt und/oder in der gebotenen Art und Weise zu unselbständigen Teilen des TVes gemacht wurden, dessen Anwendbarkeit sie dienen sollen. Ist dies der Fall, können sie den Inhalt des eigentlichen Tariftextes über die Grenzen von dessen Wortlaut hinaus bestimmen. Sie sind Teil des Gesamttextes, mit dem sich der Tarifanwender im Wege der Auslegung zu befassen hat.

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Dies gilt allerdings nur dann, wenn die Anhänge usw. auch von den tariffähigen TV-Parteien herrühren, die den ergänzten Tariftext geschaffen haben.

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1 Z.B. BAG v. 17.9.2003 – 4 AZR 540/02, ZTR 2004, 478. Wegen sonstiger im Zuge der Tarifverhandlungen entstehender schriftlicher Unterlagen, bei denen eine TV-Qualität meist aber nur theoretisch in Betracht kommt, Berg/Platow/Schoof/Unterhinninghofen, § 1 TVG Rz. 15. 2 Beispiel in BAG v. 19.10.2011 – 4 AZR 643/09, ArbR 2012, 254.

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Teil 3 Rz. 65

Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen

Wenn einem mehrgliedrigen HausTV, der unter Beratung durch einen Interessenverband zustande gekommen ist, eine Überleitungserläuterung als Anhang beigegeben wird, den der beratende Verband, der selbst nicht tarifwillig ist, in eigenem Namen mit der tarifschließenden Gewerkschaft schriftlich niedergelegt hat, kann diesem Text jedenfalls keine eigene normativ wirkende, über den TV-Wortlaut hinausgehende Ergänzungsregelung entnommen werden1. 65

Dies gilt ganz allgemein auch für sonstige Ergänzungstexte, bei denen die genannten Formerfordernisse nicht erfüllt wurden. Durch sie kann im Einzelfall ein anhand des TV-Textes gefundenes Auslegungsergebnis seine Bestätigung finden. Was dem Tariftext aber nicht entnommen werden kann, kann auch nicht mit Hilfe von noch so eindeutigen, dem Schriftformzwang für TVe aber nicht genügenden Begleittexten zu einem die tarifunterworfenen Arbeitsverhältnisse nach § 4 Abs. 1 TVG beherrschenden tariflichen Regelungsgehalt werden.

III. Regelungen über Inkrafttreten und hinausgeschobene Fälligkeit 1. Tarifwirkung mit Inkrafttreten 66

Mit Abschluss des TVes oder mit einem hiervon abweichenden von den TVParteien autonom festgelegten Termin für das Inkrafttreten beginnt die normative Wirkung des Regelwerks. Es entstehen tarifvertraglich geregelte Rechte und Pflichten für die zu diesem Zeitpunkt in einem Arbeitsverhältnis im tariflichen Geltungsbereich stehenden tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien und diejenigen, die in der Folgezeit ein solches Arbeitsverhältnis begründen.

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Umstritten ist, wie es sich mit tarifvertraglichen Neuregelungen verhält, die an einen tatsächlichen Vorgang anknüpfen, der im konkreten Arbeitsverhältnis bereits abgeschlossen in der Vergangenheit liegt. Hinsichtlich der hier diskutierten Abschlussnormen (Schriftform des Arbeitsvertrages; kein Arbeitsvertragsschluss mit Personen, die bestimmte persönliche Eigenschaften aufweisen2) wird vertreten, sie begründeten eine Pflicht des Arbeitgebers oder beider tarifgebundener Arbeitsvertragsparteien, die zwischen ihnen bestehende Vertragsrechtslage an die neue Tariflage anzupassen3. Dieser Ansatz ist abzulehnen, wobei allerdings die gesetzliche Entwicklung die Problematik vielfach überholt haben könnte:

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Ist der Arbeitsvertrag einmal nach der zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses geltenden (Tarif-)Rechtslage wirksam zustande gekommen, kann eine spätere Rechtsänderung hieran nichts mehr ändern. Eine etwa tarifvertraglich neu eingeführte Pflicht, die Arbeitsbedingungen zu dokumentieren, an deren Unterlassung die TV-Parteien anders als der Gesetzgeber des Nachweisgesetzes Rechts1 BAG v. 21.9.2011 – 4 AZR 828/09, ZTR 2012, 221. 2 Soweit solche Regelungen vor dem Hintergrund des AGG oder sonstiger zwingender gesetzlicher Vorgaben überhaupt wirksam sind! 3 Näher Jacobs in Jacobs/Krause/Oetker, § 5 Rz. 83; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 636, jeweils m.w.N. zu den hier vertretenen Auffassungen.

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Verhandlungsergebnisse

Rz. 70 Teil 3

folgen knüpfen, hätte nichts mit dem Vertragsschluss zu tun. Sie begründete eine mit dem Nachweisgesetz abzustimmende Dauerpflicht, und würde als Inhaltsnorm auch auf Altarbeitsverhältnisse einwirken. Die Vorstellung, ein neues Abschlussverbot wegen Gefährlichkeit führe in einem Alt-Arbeitsverhältnis zu einem Kündigungsgebot, kollidiert mit dem Grundsatz, dass es keine verbindlich festlegbaren tarifvertraglichen Kündigungsgründe geben kann, die Wirksamkeit einer Kündigung sich vielmehr stets erst nach einer Abwägung der beteiligten Interessen im Einzelfall entscheidet. Ein TV kann dem Arbeitgeber deshalb auch nicht die Aufgabe abnehmen, vor seiner Entscheidung, eine Kündigung auszusprechen, eine solche Abwägung ergebnisoffen durchzuführen. Eine Ausnahme kommt grundsätzlich auch dann nicht in Betracht, wenn nach Abschluss eines ohne Sachgrund befristeten Arbeitsvertrages (§ 14 Abs. 2 TzBfG) eine tarifvertragliche Neuregelung wirksam wird, die – zulässigerweise1 – nur befristete Arbeitsverträge zulässt, für die es einen Sachgrund im Sinne von § 14 Abs. 1 TzBfG gibt. Hier mag es sich, da die Befristungskontrolle nach ständiger Rechtsprechung eine Vertragsabschluss- und keine Beendigungskontrolle ist, um eine Abschlussnorm2 handeln; sie will den Vertragsschluss regeln. Dieser ist in dem hier angesprochenen Fall aber bereits rechtmäßig erfolgt, ohne dass es für die Befristung eines Sachgrundes bedurfte. Eine nachträgliche Anpassung an die neue Rechtslage ist hier ausgeschlossen. Man könnte zwar möglicherweise daran denken, dem Arbeitgeber in einem solchen Fall aufgrund der neuen Tariflage im Streitfall die Berufung auf § 14 Abs. 2 TzBfG zu versagen. Dies käme aber allenfalls in Betracht, wenn der Arbeitgeber bei Arbeitsvertragsschluss sicher damit rechnen musste, dass alsbald aufgrund einer tariflichen Neuregelung sachgrundlose Befristungen nicht mehr möglich sein werden, und die TV-Parteien eine Rückwirkung ihrer Neuregelung auf bei Inkrafttreten des TVes bereits abgeschlossene befristete Arbeitsverträge in den Grenzen des hierfür gebotenen Vertrauensschutzes ausdrücklich angeordnet haben.

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2. Verzögerte Inkraftsetzung und Stufentarifverträge Weil erst mit Inkrafttreten eines TVes aus ihm Rechte und Pflichte entstehen können, kann allerdings auch erst von diesem Termin an – bei beiderseitiger Tarifgebundenheit – die Kontinuitätswahrung aus § 3 Abs. 3 TVG oder § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB greifen. Auch wenn zu diesem Zeitpunkt der TV-Text schon vollständig ausgehandelt und formgerecht unterzeichnet, von den TV-Parteien aber noch nicht in Kraft gesetzt ist, führt das Wirksamwerden3 eines Austritts 1 H.M., vgl. nur APS/Backhaus, § 14 TzBfG Rz. 406; Annuß/Thüsing/Maschmann, § 14 TzBfGRz. 67; Dörner, Der befristete Arbeitsvertrag, 2011, Rz. 490. 2 Streitig; wie hier BAG v. 14.2.1990 – 7 AZR 68/89, NZA 1990, 737; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 636; es spricht aber auch einiges dafür, von einer den einzelnen Arbeitnehmer nicht unmittelbar berechtigenden Betriebsnorm auszugehen, die das angesprochene Problem nicht entstehen ließe; so BAG v. 28.6.1994 – 1 ABR 59/93, NZA 1995, 387. 3 Zu den Transparenzanforderungen an die tarifrechtliche Wirksamkeit eines Verbandsaustritts oder Statuswechsels BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366; BAG

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Teil 3 Rz. 71

Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen

eines Arbeitgebers aus dem tarifschließenden Arbeitgeberverband oder ein Statuswechsel in die OT-Mitgliedschaft dazu, dass dieser TV für ihn nie gilt; dasselbe gilt, wenn in diesem Zeitraum der Gewerkschaftsaustritt eines Arbeitnehmers wirksam wird. Bei der Veräußerung eines Betriebs oder Betriebsteils von einem Verbandsmitglied auf einen nicht tarifgebundenen Erwerber vor dem förmlichen Inkrafttreten eines TVes existieren insoweit noch keine „Rechte und Pflichten“, die „durch Rechtsnormen eines Tarifvertrages … geregelt“ wären; sie können deshalb auch nicht durch Transformation nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB Inhalt der Arbeitsverhältnisse zwischen dem Erwerber und den übernommenen gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern werden1. Ein Herausschieben des Wirksamwerdens eines bereits formgerecht zustande gekommenen TVes räumt stets die Möglichkeit zur Tarifflucht ein. 71

Anders verhält es sich, wenn die TV-Parteien ihr Tarifwerk zwar mit sofortiger Wirkung in Kraft setzen, in ihm aber vorsehen, dass bestimmte Regelungen, insbesondere (weitere) Erhöhungen der Tarifvergütung, erst zu herausgeschobenen Fälligkeitszeitpunkten Rechte der Arbeitnehmer begründen2 (sog. StufenTVe). Bei solchen, inzwischen weit verbreiteten und tarifrechtlich unbedenklichen3 Regelungen sind die betreffenden Rechte mit dem Tarifabschluss bereits dem Grunde nach entstanden. Die Möglichkeit, sie mit Erfolg geltend machen zu können, hängt dann nur noch vom Zeitablauf ab. Hier genügt es dafür, dass dem Arbeitnehmer die Rechte auf die späteren Vergütungsstufen zustehen, dass der betreffende TV als solcher im Arbeitsverhältnis bei Inkrafttreten des TVes kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit galt. Entfällt erst im Anschluss die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers aufgrund Wegfalls der Vollmitgliedschaft im Arbeitgeberverband, umfasst die Nachbindung aus § 3 Abs. 3 TVG auch die späteren Vergütungsansprüche; wird der Beschäftigungsbetrieb nach Inkrafttreten eines solchen TVes auf einen nicht tarifgebundenen Arbeitgeber übertragen, gehören die später fällig werden Rechte auf die nächste Vergütungsstufe zu den nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB transformierten, auch gegenüber dem Betriebserwerber fällig werdenden Ansprüchen4.

1

2

3 4

v. 26.8.2009 – 4 AZR 285/08, NZA 2010, 230; BAG v. 18.5.2011 – 4 AZR 457/09, NZA 2011, 1378. Zu den satzungsmäßigen Voraussetzungen einer als solcher wirksamen, also keine Tarifgebundenheit vermittelnden OT-Mitgliedschaft BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366; BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 111/08, NZA 2010, 105 (hierzu BVerfG 1.12.2010 – 1 BvR 2593/09, DB 2011, 361); BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 294/08, DB 2010, 344; BAG v. 15.12.2010 – 4 AZR 256/09, AP TVG § 3 Nr. 50. BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 294/08, ZTR 2010, 288; BAG v. 16.5.2012 – 4 AZR 320/10, NZA 2012, 923; ebenso Jacobs in Jacobs/Krause/Oetker, § 5 Rz. 80; Wiedemann/ Wank, § 4 TVG Rz. 4. Z.B. Tariflohnerhöhung zum Inkrafttreten des TVes am 1. Januar um 1 %, weitere Erhöhung um 1, 5 % zum 1. Juli, letzte festgelegte Tariflohnerhöhung um 1 % zum 1. März des Folgejahres. BAG v. 10.11.1982 – 4 AZR 1203/79, DB 1983, 717; BAG v. 17.5.2000 – 4 AZR 363/99, NZA 2001, 453. BAG v. 19.9.2007 – 4 AZR 711/06, NZA 2008, 241; BAG v. 14.11.2007 – 4 AZR 828/06, NZA 2008, 420; ebenso Jacobs in Jacobs/Krause/Oetker, § 5 Rz. 80; Wiedemann/ Wank, § 4 TVG Rz. 4; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 387. Zur Rechtslage bei der Nachwirkung von TVen, die ihre Stufungen durch Verweisungen auf fremde TVe in ihrer jeweiligen Fassung herbeiführen, vgl. Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 823 m.w.N.

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Verhandlungsergebnisse

Rz. 73 Teil 3

Voraussetzung für eine derartige unbeschränkte Wirkung über die unmittelbare Tarifgeltung hinaus ist allerdings, dass der TV die Stufen selbst vollständig regelt. Ergibt sich eine materielle Regelung erst durch Einbeziehung eines fremden TVes in seiner jeweiligen Fassung1, endet die eigene Dynamik des selbst Geregelten mit jeder Änderung des Bezugsobjekts. Im Falle eines Betriebsübergangs auf einen nicht tarifgebundenen Erwerber oder bei Austritt oder Statuswechsel des bis dahin tarifgebundenen Arbeitgebers versteinern die Rechte aus dem TV in dem Stand, den sie beim Ende oder der ersten Änderung des in Bezug genommenen Tarifwerkes erreicht hatten2.

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3. Rückwirkende Inkraftsetzung Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage, ob und ggf. wie weit die TVpartien bei ihrer Regelung der Inkraftsetzung eines TVes Rückwirkung vorsehen und dadurch Ansprüche beseitigen oder kürzen können3, ist die Feststellung, dass die TV-Parteien auch im Verhältnis zu den Tarifunterworfenen das Recht haben, die von ihnen geschaffenen Regelungen jederzeit abzuändern. Tarifvertragliche Regelungen stehen auch während ihrer Laufzeit stillschweigend unter tarifvertraglichem Abänderungsvorbehalt durch die TV-Parteien4. Ein Vertrauensschutz, dass nichts nachteilig geändert wird, besteht grundsätzlich nicht5. Dies gilt im Prinzip auch für tarifliche Neuregelungen, die eine Inkraftsetzung zu einem in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt festlegen und in bereits entstandene, „wohlerworbene“ Rechte eingreifen wollen6. Wenn sie eine derartige Neuregelung wollen, müssen die TV-Parteien allerdings in der Sache ebenso wie der Gesetzgeber die Grundsätze des Vertrauensschutzes berücksichtigen7.

1 Z.B. 85 %, dann 88 % dann 92 % des jeweiligen Tarifentgelts eines anderen Tarifgebiets. 2 Ebenso HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 41; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 80 f.; Jacobs, § 5 Rz. 80; auch BAG v. 17.5.2000 – 4 AZR 363/99, NZA 2001, 453 = AP TVG § 3 Verbandsautritt Nr. 8 mit Anm. Zachert. 3 Hierzu umfassend Houben, Die Rückwirkung von Tarifverträgen, 2006. 4 BAG v. 2.2.2006 – 2 AZR 58/05, NZA 2006, 868; teilweise a.A. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 245. 5 BAG v. 22.10.2003 – 10 AZR 152/03, NZA 2004, 444; BAG v. 23.3.2005 – 4 AZR 203/04, NZA 2005, 1003 = AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 29 mit Anm. Waas; BAG v. 17.7.2007 – 9 AZR 1089/06, ZTR 2008, 161. 6 BAG v. 23.11.1994 – 4 AZR 879/93, NZA 1995, 844; BAG v. 17.5.2000 – 4 AZR 216/99, NZA 2000, 1297. 7 Z.B. BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 486/05, NZA 2007,634; BAG v. 17.7.2007 – 9 AZR 1089/06, ZTR 2008, 161; BAG v. 17.10.2007 – 4 AZR 812/06, BB 2008, 1121; BAG v. 9.9.2010 – 2 AZR 936/08, ZTR 2011, 936. Dies gilt für Verbands-, Haus- und firmenbezogene VerbandsTVe, wenn und soweit sie von der Gewerkschaft mit abgeschlossen wurden, die auch die verschlechterte Tarifregelung mit geschaffen hat. Ist diese Gewerkschaft beteiligt, öffnet das Tarifrecht die von dieser abgeschlossenen TVe für abändernde, auch verschlechternde, Neuregelungen. Die Fallkonstellation tritt in der Hauptsache im Verhältnis zwischen Verbands- und HausTV, insbesondere zu einem SanierungsTV auf; vgl. hierzu ausführlich auch Bepler, AuR 2010, 234 ff., auch zur Rückwirkungsproblematik.

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Teil 3 Rz. 74

Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen

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Maßgeblicher Stichtag für die Frage, ob eine rückwirkend belastende Regelung vorliegt, die nur wirksam werden kann, wenn sie Vertrauensschutzgesichtspunkte hinreichend berücksichtigt, ist der Zeitpunkt der Anspruchsentstehung. Auch wenn der betreffende (alt-)tarifvertragliche Anspruch vor Inkrafttreten der Neuregelung schon entstanden, aber noch nicht fällig geworden ist, genießt er Vertrauensschutz. Der Begünstigte hat einen Rechtsanspruch, über den er verfügen kann1. Dies gilt auch dann, wenn eine Sonderzuwendung tarifvertraglich versprochen worden ist, die pro rata temporis erdient wird. Der diesbezügliche Anspruch entsteht jeden Monat im Umfang eines Zwölftels des Vollanspruchs. Er kann ohne Begrenzung durch die Grundsätze des Vertrauensschutzes nur insoweit beseitigt werden, wie er erst nach Inkrafttreten des verschlechternden TVes erdient wird2.

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Fraglich ist, ob es für den Umfang des Vertrauensschutzes von Bedeutung ist, ob der betreffende Anspruch auch schon tatsächlich erfüllt worden ist. Der 4. Senat hat dies verneint. Es komme lediglich auf den Zeitpunkt der Anspruchsentstehung an. Sei zu diesem Zeitpunkt bereits das Vertrauen auf den Bestand eines Anspruchs beseitigt, komme der bloßen Erfüllung keine das schützenswerte Vertrauen wiederbelebende Wirkung zu. Wollte man anders entscheiden, würde der säumige Arbeitgeber in seinen Gestaltungsmöglichkeiten gegenüber dem Arbeitgeber zu Unrecht besser gestellt, der seine Verpflichtungen rechtzeitig erfüllt hat3. Der 10. Senat hat demgegenüber mehrfach, zuletzt am 24. Oktober 20074, die Gewährung von Vertrauensschutz in vergleichbaren Fällen auch mit der Begründung verneint, es habe sich insoweit zwar um entstandene, aber noch nicht abgewickelte Ansprüche gehandelt.

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Gab es zum Zeitpunkt der Entstehung des betreffenden tarifvertraglichen Anspruchs keinen Anlass, daran zu zweifeln, dass dieser Anspruch auch bestehen bleiben wird, scheidet ein nachträglicher rückwirkender Eingriff zum Nachteil der Anspruchsinhaber aus. Anders verhält es sich, wenn zu diesem Zeitpunkt das schützenswerte Vertrauen auf den Bestand der Rechtslage bereits nachhaltig erschüttert war5, weil die Normunterworfenen mit einer auch rückwirkenden Änderung rechnen mussten6. 1 BAG v. 22.10.2003 – 10 AZR 152/03, NZA 2004, 444; BAG v. 6.6.2007 – 4 AZR 573/06, ZTR 2007, 551; BAG v. 17.7.2007 – 9 AZR 1089/06, ZTR 2008, 161. 2 BAG 22.10.2003 – 10 AZR 152/03, NZA 2004, 444. 3 BAG 5.7.2006 – 4 AZR 381/05, ZTR 2007, 551. 4 BAG v. 24.10.2007 – 10 AZR 878/06, NZA 2008, 131. 5 Angesichts der im Tarifrecht fehlenden praktischen Bedeutung werden die für die Gesetzgebung bedeutsamen Fälle für eine Rechtfertigung rückwirkender Normsetzung: unklare oder verworrene bestehende Rechtlage und zwingende Gründe des Gemeinwohls; hier nicht weiter behandelt; vgl. hierzu auch Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 244 m.w.N. 6 BAG v. 24.10.2007 – 10 AZR 878/06, NZA 2008, 131; hier bleiben die einen scheinbar rückwirkenden Eingriff eröffnenden Entscheidungen außer Betracht, in denen nach einer Störung der Geschäftsgrundlage eine Ersetzung des Geregelten durch eine Neuregelung auch mit Wirkung für Zeiten vor der Neuregelung für zulässig gehalten wurde. Es kann jedenfalls grundsätzlich kein schützenswertes Vertrauen in den Bestand einer Regelung geben, deren Geschäftsgrundlage gestört ist. Man kann hier allenfalls an eine zeitliche Begrenzung der Rückwirkung auf den Zeitpunkt denken, in dem die Störung der Geschäftsgrundlage für jeden Kundigen erkennbar geworden ist.

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Verhandlungsergebnisse

Rz. 79 Teil 3

Es spielt eine entscheidende Rolle für die Beantwortung der Frage, ob die TVParteien Vertrauensschutz gewähren müssen und erworbene Rechte nicht mehr entziehen können, ob und wenn ja wann die TV-Parteien oder eine von ihnen im beabsichtigten Geltungsbereich der Neuregelung bekannt gemacht hat, dass Verhandlungen über Regelungsverschlechterungen, z.B. zu einer Unternehmenssanierung, stattfinden. Liegt eine derartige Publizierung erst nach dem Zeitpunkt des Rechtserwerbs oder Teilrechtserwerbs aus dem alten TV, scheidet ein Eingriff in entstandene Rechte durch die Neuregelung unter Vertrauensgesichtspunkten aus. Informationen, die vor diesem Zeitpunkt liegen, eröffnen den TV-Parteien die Möglichkeit zu wirksamen rückwirkend verschlechternden Regelungen1. Nach Auffassung des 4. Senats des Bundesarbeitsgerichts muss sich eine Publizierung von auf Verschlechterungen auch für die Vergangenheit gerichteten Tarifverhandlungen, damit sie Unsicherheit über den Fortbestand des Rechts begründet und einen rückwirkenden Eingriff ohne Verletzung schutzwürdigen Vertrauens ermöglicht, auf die konkreten Ansprüche beziehen, die später durch rückwirkende tarifliche Neuregelung beseitigt werden sollen. Die Mitteilung, es werde über Einschnitte in das bisherige Tarifniveau verhandelt, um das betroffene Unternehmen oder auch die gesamte notleidende Branche zu sanieren, reicht danach nicht aus2.

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Nicht zweifelsfrei ist, dass diese strengen Regeln auch dann gelten, wenn die zwingende Wirkung eines TVes in Folge Kündigung oder Fristablaufs geendet hat und der TV nur noch nachwirkt, aber auch in der Nachwirkungsphase natürlich Rechte oder Teilrechte begründet. Wenn die TV-Parteien vor Eintritt der Nachwirkung nicht zum Abschluss ihrer Verhandlungen gekommen sind, liegt es nahe, dass sie ihre Neuregelung auf den Zeitpunkt des Außer-Kraft-Tretens der Altregelung zurückwirken lassen. Es erscheint vertretbar, ist aber soweit ersichtlich noch nicht entschieden, in einem solchen Fall anzunehmen, dass jeder Rechtserwerb im Nachwirkungszeitraum zumindest dann unter dem Vorbehalt einer abweichenden, auch verschlechternden tarifvertraglichen Neuregelung steht, wenn der Umstand, dass der Altvertrag nur noch nachwirkt und über – gegebenenfalls auch verschlechternde – Neuregelungen von den TVParteien verhandelt wird, allgemein bekannt ist. Mit dem in einem solchen Fall typischerweise fehlenden Vertrauensschutz hängt es zusammen, dass es allgemein als unproblematisch angesehen wird, wenn TV-Parteien eine Entgelterhöhung rückwirkend auf den Zeitpunkt des Endes des VorgängerTVes in Kraft setzen, obwohl sie auch hier – diesmal den Arbeitgeber – rückwirkend belasten, also schlechter stellen, als es die aktuelle Rechtslage aus dem nachwirkenden Alt-TV vorsah.

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Die Frage, auf wessen Kenntnis von möglicherweise bevorstehenden Verschlechterungen es ankommt, ist aus kollektiver Sicht zu beantworten. Es geht schließlich darum, inwieweit ein kollektives Regelwerk in aus einem anderen kollektiven Regelwerk begründete Rechte insgesamt rechtsbeseitigend eingreifen kann, ohne schützenswertes Vertrauen zu verletzen. Es kommt des-

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1 BAG v. 17.7.2007 – 9 AZR 1089/06, ZTR 2008, 161. 2 BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 486/05, NZA 2007, 634 = AP TVG § 1 Rückwirkung Nr. 24 mit Anm. Houben.

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Teil 3 Rz. 80

Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen

halb nicht darauf an, ob der einzelne Arbeitnehmer, der sich dann in einem späteren Prozess auf die Unwirksamkeit einer verschlechternden Ablösung beruft, Kenntnis von den vorangegangenen Verhandlungen hierüber hat oder nicht. Man ist einerseits zu Recht von einem vorrangigen Vertrauensschutz sogar in einem Fall ausgegangen, in dem der konkrete Kläger sogar Mitglied der Tarifkommission war, in der über den Fortbestand des betreffenden Rechts verhandelt worden war1. Andererseits war es aber auch zutreffend, Vertrauensschutz in eine Altregelung zu versagen, auch wenn der im Einzelfall klagende Arbeitnehmer bereits aus dem Betrieb, für den ein HausTV verhandelt und später abgeschlossen worden war, ausgeschieden war und an den betriebsinternen Informationsveranstaltungen über die Verhandlungen nicht teilgenommen hatte2. Entscheidend ist stets, ob die betroffene Betriebs-, Unternehmens- oder Branchenöffentlichkeit, „die betroffenen Kreise“3, in geeigneter Form über die stattfindenden Absenkungsverhandlungen der hierfür zuständigen Verhandlungspartner und deren konkreten Verhandlungsgegenstand rechtzeitig, also vor Anspruchsentstehung, informiert worden sind. Eine hierfür geeignete Information an den Kreis der von der Neuregelung Betroffenen als Ganzen, als Kollektiv, ist stets erforderlich, reicht aber auch aus. 80

Deshalb kann von den TV-Parteien eine Verschlechterung durch eine tarifliche Neuregelung auch mit Wirkung für einen bereits Ausgeschiedenen vereinbart werden. Voraussetzung ist allerdings hier ebenso wie überhaupt für die Geltung rückwirkender Tarifregelungen, dass sowohl zum Zeitpunkt des rückwirkend angeordneten Inkrafttretens der Regelung als auch zum Zeitpunkt von deren Vereinbarung beiderseitige Tarifgebundenheit, sowohl des Arbeitgebers als auch des ausgeschiedenen Arbeitnehmers, bestand4. In diesem Fall entscheidet allein, ob nach den allgemeinen Regeln gegenüber der Abänderung schützenswertes Vertrauen der Gruppe der belasteten Arbeitnehmer bestand oder nicht, darüber, ob der bereits ausgeschiedene Arbeitnehmer für die Zeit, in der er noch im Arbeitsverhältnis stand, die vereinbarte Verschlechterung, wenn sie denn ihre Wirkung insoweit nicht ausdrücklich beschränkt, hinnehmen muss oder nicht5.

4. Erklärungsfristen für Tarifvertragsparteien 81

Eine weitere nicht selten gewählte Regelung kann zum Herausschieben der Vollwirksamkeit eines TVes führen: Insbesondere bei dezentral abgeschlossenen TVen, die nicht von den Spitzen der jeweiligen Gewerkschaft mit ausgehandelt wurden, kommt es häufig vor, dass sich in einem schriftlich nieder1 BAG v. 17.7.2007 – 9 AZR 1089/06, ZTR 2008, 161. 2 BAG v. 24.10.2007 – 10 AZR 878/06, NZA 2008, 131 3 Hierauf stellt die ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ab seit BAG v. 23.11.1994 – 4 AZR 879/93, NZA 1995, 844 = AP TVG § 1 Rückwirkung Nr. 12 mit Anm. Buchner. 4 BAG v. 13.9.1994 – 3 AZR 148/94, NZA 1995, 740; Jacobs in Jacobs/Krause/Oetker, § 5 Rz. 85; Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 117. 5 BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 486/05, NZA 2007, 634; BAG v. 24.10.2007 – 10 AZR 878/06, NZA 2008, 264.

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Verhandlungsergebnisse

Rz. 83 Teil 3

gelegten Regelungstext ein Vorbehalt findet, wonach dem Verhandlungsergebnis noch Personen oder Gremien der TV-Parteien zustimmen müssen. Findet sich eine solche Festlegung in einer Ergebnisniederschrift, die von vornherein als normativ wirkender TV ausscheidet, sei es, weil § 1 Abs. 2 TVG nicht eingehalten wurde, sei es, weil sich aus der Niederschrift im Übrigen ergibt, dass es noch zu einer förmlichen Tarifregelung kommen soll, ist dies ohne Außenwirkung. Ein solcher Vorbehalt beschreibt nur den weiteren Ablauf bis zu einem beabsichtigten Tarifabschluss. Auch für die Tarifunterworfenen bedeutsam wird es aber, wenn sich die Regelung zur Erklärungsfrist in einem formgerechten TV befindet, der selbst bereits Rechte und Pflichten begründen will. Man könnte daran denken, eine solche Regelung als schriftliche Niederlegung des Umstandes zu bewerten, dass hier ein Vertrag durch Erklärung eines Vertreters ohne Vertretungsmacht zustande gekommen ist, und als Regelung, bis wann, durch wen und in welcher Form die hiernach erforderliche Genehmigung der Vertretenen (§ 177 Abs. 1 BGB) mit der Genehmigungswirkung des § 184 BGB erklärt werden kann. Dies entspricht aber rein tatsächlich in aller Regel nicht den Gegebenheiten. Die am förmlichen Tarifabschluss Beteiligten sind hierzu grundsätzlich an sich vertretungsbefugt. Sie sind nur im Innenverhältnis, verbandsintern, verpflichtet, Personen und/oder Gremien einzuschalten und deren Zustimmung einzuholen. Um dies sicherzustellen, also auch um sich innerhalb des Verbandes abzusichern, vereinbaren sie deshalb mit dem TV-Partner, dass der TV unter der Bedingung im Sinne von § 158 BGB stehen soll, dass die benannten Dritten innerhalb einer bestimmten Frist zustimmen oder nicht widersprechen.

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Die TV-Parteien wählen hier höchst unterschiedliche Formulierungen, denen im Hinblick auf die unterschiedliche Wirkung nach § 158 Abs. 1 oder Abs. 2 BGB im Wege der Auslegung entnommen werden muss, ob sie das endgültige Wirksamwerden des vereinbarten TVes von einer aufschiebenden oder einer auflösenden Bedingung abhängig machen wollten1. Haben sie bestimmt, dass die betreffenden Gremien oder Personen bis zu einem bestimmten Termin befugt sein sollen, dem abgeschlossenen TV zu widersprechen, besteht der TV vom Zeitpunkt seines Abschlusses an als Vertrag2 vollwirksam. Er erlischt, wenn und sobald die Dritten von ihrer Befugnis im Rahmen der ihnen tarifvertraglich eingeräumten Möglichkeiten zu Widerspruch oder Widerruf Gebrauch machen (§ 158 Abs. 2 BGB). Haben die TV-Parteien demgegenüber geregelt, dass der TV erst wirksam werden soll, wenn Zustimmungen der betreffenden Personen in bestimmter Weise erfolgt sind, liegt eine aufschiebende Bedingung (§ 158 Abs. 1 BGB) vor. Der abgeschlossene TV wird als Vertrag erst wirksam, wenn die Zustimmung vorliegt. Setzen die TV-Parteien zusätzlich eine Frist, innerhalb deren die Zustimmung erklärt werden muss, ist der Vertrag nach fruchtlosem Fristablauf endgültig unwirksam, weil die Bedingung nicht mehr eintreten kann. Geht eine Zustimmung verspätet zu, wird man § 150 Abs. 1

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1 Berg/Platow/Schoof/Unterhinninghofen, § 1 TVG Rz. 32; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 199 Rz. 1. 2 Ob er bereits „gilt“, hängt davon ab, ob die TV-Parteien sein Inkrafttreten entsprechend der vereinbarten Erklärungsfrist hinausgeschoben haben oder nicht.

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Teil 3 Rz. 84

Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen

BGB entsprechend anzuwenden haben: Die andere TV-Partei kann nun durch eine weitere Genehmigungserklärung den TV zustande bringen, muss dies aber nicht. Ihre eigene rechtzeitige Genehmigungserklärung bindet sie jedenfalls gegenüber einer verspäteten Erklärung der Gegenseite nicht. 84

Wegen der fehlenden Transparenz bedenklich, aber durchaus verbreitet ist die Praxis, dass im Falle eines befristeten Genehmigungsvorbehaltes entgegen der genannten Rechtsfolge das Schweigen innerhalb der zur Verfügung stehenden Genehmigungsfrist als Zustimmung gelten soll. Diese einem Widerrufsvorbehalt angenäherte, aber gleichwohl die Wirkungen des § 158 Abs. 1 BGB auslösende Regelung steht zwar mit dem allgemeinen Verständnis vom Zustandekommen von Verträgen im Widerspruch, dürfte aber angesichts der entsprechenden Praxis der TV-Parteien und des Umstandes, dass es sich hier nicht um die eigentlichen Vertragserklärungen handelt, statthaft sein.

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In allen behandelten Auslegungsvarianten entstehen keine wirklichen Schwierigkeiten, wenn die vorgesehenen Erklärungsfristen enden, bevor der von den TV-Parteien vorgesehene Zeitpunkt des Inkrafttretens erreicht ist. Entweder es fehlt an der vorgesehenen Genehmigung durch das benannte Gremium oder die benannten Personen oder es liegt ein form- und fristgerechter Widerspruch vor, dann kommt es nicht zu einem normativ wirksamen TV. Oder aber es wird innerhalb der zuvor ablaufenden Frist genehmigt oder nicht widerrufen, dann tritt der TV wie vereinbart in Kraft.

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Schwierig wird es nur in dem auch schon vorgekommenen Fall, dass die TVParteien das Inkrafttreten des TVes nicht entsprechend der Erklärungsfrist hinausgeschoben haben und auch eine dahin gehende Auslegung nicht möglich ist, oder wenn sie gar ausdrücklich bestimmt haben, dass der TV zu einem bestimmten vor Ablauf der Erklärungsfristen liegenden Zeitpunkt in Kraft treten solle. In einem solchen Fall muss differenziert werden:

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Haben die TV-Parteien insoweit einen Genehmigungsvorbehalt, also eine aufschiebende Bedingung, vereinbart, besteht bis zu der Genehmigung, auch wenn der vereinbarte Termin des Inkrafttretens bereits überschritten ist, kein wirksamer TV. Rechte und Pflichten entstehen bis dahin noch nicht. Die Kontinuitätsregeln der § 3 Abs. 3 TVG und § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB greifen nicht. Tarifflucht ist bis zum Wirksamwerden nach § 158 Abs. 1 BGB möglich. Wird der TV in einem solchen Fall genehmigt, tritt der TV rückwirkend in Kraft, die zum Zeitpunkt der Genehmigung beiderseits Tarifgebundenen unterliegen dann ab Inkrafttreten dem genehmigten TV1.

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Wurde der TV demgegenüber unter einer auflösenden Bedingung, also beispielsweise einem Widerrufsvorbehalt, abgeschlossen, entstanden mit seinem Inkrafttreten tarifliche Rechte und Pflichten, die auch nicht mit form- und fristgerechter Ausübung des Widerrufs erlöschen. Eine Tarifflucht ist hier nicht möglich; § 3 Abs. 3 TVG und § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB gelten zu Recht von Anfang an. Auch ein später ausgeschiedenes Mitglied einer tarifschließenden Partei hat den Tarifabschluss und das frühzeitige Wirksamwerden des Re1 Vgl. hierzu auch BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 294/08, ZTR 2010, 188.

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Verhandlungsergebnisse

Rz. 90 Teil 3

gelwerks legitimiert. Fraglich könnte allenfalls sein, ob mit der allgemeinen Nachwirkungslehre des Bundesarbeitsgerichts1 auch im Falle eines – kurzfristigen – Endes des TVes durch Ausübung eines vorbehaltenen Widerrufsrechts der widerrufene TV nachwirkt. Die Frage ist indes eindeutig zu verneinen, selbst wenn man die Nachwirkungslehre über die Fälle des Wegfalls der Tarifgebundenheit hinaus anwenden wollte. Man kann diese Antwort auf einen Vorrang des § 158 Abs. 2 BGB gegenüber einer erweiternden Auslegung des § 4 Abs. 5 TVG stützen oder auch damit begründen, dass TV-Parteien, die ihre Übereinkunft unter den wie auch immer konstruierten Vorbehalt einer Mitwirkung interner Gremien oder Personen stellen, jedenfalls nicht wollen, dass das so im Innenverhältnisintern nur unvollkommen zustande Gekommene über den Zeitpunkt der Ablehnung durch die genannten Personen hinaus gilt. Da die TV-Parteien auch ganz allgemein über den Eintritt der Nachwirkung disponieren können2, ist eine dahin gehende Auslegung rechtsverbindlich.

5. Abgeschwächte Inkraftsetzung (ERA) Eine neue Form abgeschwächter Inkraftsetzung von tariflichen Regelwerken haben die TV-Parteien der Metall- und Elektroindustrie in verschiedenen regionalen Regelungen zur Überleitung in das ganz neu strukturierte Entgeltrahmenabkommen (ERA) entwickelt. So bestimmen beispielsweise § 16 des für Norddeutschland geltenden EntgeltrahmenTVes (TV ERA-Nord) sowie ähnlich auch § 2 Abs. 1 des ÜberleitungsTVes hierzu, dass das neue Tarifrecht „zum Zwecke der Überleitung auf die neue Entgeltstruktur“ am 1. September 2003 in Kraft trete. Ab diesem Zeitpunkt könne der TV ERA-Nord auf freiwilliger Basis im Betrieb eingeführt werden. Ab dem 1. Januar 2008 sollen die Bestimmungen dieses TVes dann in allen verbandsangehörigen Betrieben gelten. Ab diesem Einführungsstichtag gelte der TV ERA-Nord dann mit unmittelbarer und zwingender Wirkung. Gleichzeitig, so wird weiter angeordnet, sollen die bis dahin nachwirkenden Lohn- und GehaltsTVe außer Kraft treten.

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Das Bundesarbeitsgericht sah keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken gegen diese in der Tarifgeschichte soweit ersichtlich ganz außergewöhnliche Einführungsregelung3. Führt man sie auf den Kern zurück, haben die TV-Parteien hier mit ihrer ersten Inkraftsetzung zunächst nur eine Option für ein übliches, unmittelbar und zwingend wirkendes tarifliches Regelwerk geschaffen. Die verbandsangehörigen Arbeitgeber haben vom 1. September 2003 bis zum 31. Dezember 2007 die Möglichkeit, ERA im Betrieb einzuführen. Wählen sie sie, wirkt das neue Tarifrecht, der TV ERA-Nord, ab diesem Zeitpunkt unmittelbar und zwingend und löst das nachwirkende alte tarifliche Vergütungsrecht

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1 Dazu Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 879 ff. 2 Allgemeine Meinung seit BAG v. 8.5.1974 – 4 AZR 288/73, DB 1974, 1918; vgl. auch Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 362; Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 548; Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 828. 3 BAG v. 6.7.2011 – 4 AZR 424/09, NZA 2012, 281; BAG v.19.10.2011 – 4 ABR 116/09, NZA-RR 2012, 417.

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Teil 3 Rz. 91

Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen

als andere Abmachung ab1. Sie haben aber auch die Freiheit hiervon abzusehen, dann gilt für sie bis zum 31. Dezember 2007 das nachwirkende alte Tarifrecht weiter. Erst ab dem 1. Januar 2008 müssen sie dann das nun auch für sie unmittelbar und zwingend geltende neue Tarifrecht anwenden. 91

Wohl bewusst in Kauf genommene Konsequenz dieser besonderen Regelungstechnik zur Einführung einer in vieler Hinsicht höchst innovativen neuen Vergütungsstruktur war allerdings, dass sich verbandsgebundene Arbeitgeber in der Zeit zwischen dem 1. September 2003 und dem 31. Dezember 2007 durch Verbandsaustritt oder Wechsel in eine OT-Mitgliedschaft der Anwendung des TV ERA-Nord entziehen konnten. § 3 Abs. 3 TVG fand, was diesen TV angeht, in diesem Zwischenzeitraum, solange nicht eine freiwillige ERA-Einführung gewählt wurde, ebenso wenig Anwendung wie § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB auf den Fall eines Betriebsinhaberwechsel auf einen nicht tarifgebundenen Betriebserwerber. Wenn dieser TV für den aus der Tarifbindung ausscheidenden Arbeitgeber nicht unmittelbar und zwingend galt, schied auch eine Nachbindung an ihn oder eine Transformation von sich aus ihm ergebenden Rechten und Pflichten aus2.

D. Die Publizität tariflicher Regelungswerke I. Überblick 92

TVe kommen wie Gesetze ohne die unmittelbare Mitwirkung der diesen Regelwerken Unterworfenen zustande. Die an die TVe Gebundenen sollen aber genau wie die den Gesetzen unterworfenen Bürger die dort festgelegten Pflichten erfüllen und die eingeräumten Rechte wahrnehmen. Beide Normgeber streben auf diese Weise, indem sie das eine Verhalten mit einem Rechtserwerb, ein anders mit einem Rechtsverlust verknüpfen, eine Steuerung des Verhaltens der Normunterworfenen an. Das legte es an sich nahe, auch für die von den TV-Parteien geschaffenen Normen durch Publizierung eine vergleichbare Regelungstransparenz zu schaffen, wie sie für Gesetze und Rechtsverordnungen des Bundes Art. 82 Abs. 1 GG3 trifft: Diese Normen werden überhaupt erst rechtlich existent, wenn sie – im Regelfall – im Bundesgesetzblatt verkündet sind. Erst im Anschluss daran treten sie nach Maßgabe des Art. 82 Abs. 2 GG in Kraft4. Damit hängt das Wirksamwerden der getroffenen staatlichen Regeln nicht nur von ihrer schriftlichen Niederlegung, sondern auch davon ab, dass ihre Inhalte in einer für eine allgemeine Zugänglichkeit geeigneten Form verlautbart werden. Nur so können die getroffenen Bestimmungen auch inhaltlich Wirksamkeit erlangen5. 1 BAG v. 6.7.2011 – 4 AZR 424/09, NZA 2012, 281 für eine entsprechende Regelung in einem anderen Tarifbezirk. 2 BAG v. 6.7.2011 – 4 AZR 424/09, NZA 2012, 281. 3 Vergleichbare Regelungen finden sich für die Rechtsakte der Union in Art. 297 Abs. 1 III Sätze 1 und 2 AEUV, für Landesrecht in den Landesverfassungen und für kommunales Satzungsrecht im Kommunalrecht. 4 Statt aller Dreier/Bauer, Art. 82 GG Rz. 16. 5 BVerfG v. 22.11.1983 – 2 BvL 25/81, BVerfGE 65, 283 (291).

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Die Publizität tariflicher Regelungswerke

Rz. 95 Teil 3

Aufgrund des häufig kleinteiligen Geltungsbereichs von TVen und deren kaum mehr überschaubarer Zahl schied für sie die Festlegung einer gleichwertigen Publizierungspflicht aber wohl schon aus Praktikabilitätserwägungen aus1. Stattdessen wurde im TVG selbst mit der Einführung von Tarifregister und Tarifarchiv (§§ 6, 7 TVG) eine besondere Rechtslage für TVe geschaffen, die durch §§ 14 ff. der Durchführungsverordnung zum TVG (TVGDV)2 weiter konkretisiert wird. Den Arbeitgebern hat der Gesetzgeber in § 8 TVG außerdem die Pflicht auferlegt, die für ihren Betrieb maßgebenden TVe an geeigneter Stelle auszulegen. Auch das allgemeine Vertragsrecht hält an sich Regelungen bereit, die die gebotene Regelungstransparenz im Tarifrecht fördern könnten. Gleichwohl ist die aktuelle Rechtslage insgesamt unbefriedigend3.

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II. Tarifregister und Tarifarchiv 1. Eintragung und Archivierung Das für das Arbeitsrecht zuständige Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat das Tarifregister zu führen, in das alle TVe aufzunehmen sind, was die am Abschluss beteiligten Parteien, ihren Geltungsbereich, den Zeitpunkt ihres Abschlusses und den ihres Inkrafttretens angeht. Darüber hinaus ist jede Änderung und die Aufhebung dieser TVe einzutragen (§ 6 TVG i.V.m. § 11 Nr. 1 TVG, § 14 TVGDV), wobei unter Aufhebung jede Form der Beendigung der Tarifwirkung durch Kündigung, Zeitablauf, Aufhebungsvertrag oder aus sonstigen Gründen zu verstehen ist4. Diese Registrierungsaufgabe gilt für alle TVe im Sinne von § 1 TVG, auch HausTVe, nicht nur die allgemeinverbindlichen (§ 5 TVG). Insoweit ist nach der Bekanntmachung der Allgemeinverbindlichkeit (§ 5 Abs. 7 TV) im Bundesanzeiger zusätzlich einzutragen, wann deren Allgemeinverbindlichkeit beginnt und wann sie endet.

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Der Text der TVe ist in das eigentliche Tarifregister nicht aufzunehmen. Die TVe sind jedoch auch als Ganzes zu registrieren und als solche in dem ebenfalls beim Bundesministerium geführten Tarifarchiv zur Verfügung zu stellen, das wohl als materieller Teil des Tarifregisters zu verstehen ist. Dass auch die TV-Texte beim Bundesministerium für alle Interessierten erschließbar aufzubewahren sind, folgt schon aus § 7 Abs. 1 TVG, der nicht nur die Mitteilung der einzutragenden Daten der TVe anordnet, sondern die Übersendung der gesamten TVe verlangt. Das Erfordernis, ein Tarifarchiv zu führen, ergibt sich mittelbar aus § 11 Nr. 1 TVG sowie unmittelbar aus § 16 Satz 1 TVGDV: „Die

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1 Däubler/B. Reinecke, § 6 TVG Rz. 2 m.w.N. 2 In der Fassung der Bekanntmachung vom 16.1.1989 (BGBl. I S. 76) zuletzt geändert durch Art. 434 der 9. Zuständigkeitsanpassungsverordnung vom 31.10.2006 (BGBl. I S. 2407). 3 Kritisch auch Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 518 („Trübes Kapitel“); HWK/Henssler, § 8 TVG Rz. 9 („Verbesserung der Publizität von Tarifverträgen überfällig“); Bepler, FS Düwell, 2011, S. 307 ff.; Däubler/B. Reinecke, § 6 TVG Rz. 9 ff. 4 Däubler/B. Reinecke, § 6 TVG Rz. 15; Kempen/Zachert/Zachert, § 6 TVG Rz. 12; Wiedemann/Oetker, § 6 TVG Rz. 20.

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Teil 3 Rz. 96

Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen

Einsicht des Tarifregisters und der registrierten Tarifverträge ist jedem gestattet“. 96

Tarifregister und Tarifarchive werden darüber hinaus auch in den meisten Bundesländern, überwiegend bei den Ministerien und Senatoren, die für Arbeit und Soziales zuständig sind, geführt1, die eigene Nutzungsregelungen schaffen können, weil § 6 TVG für sie nicht gilt. Hiervon geht auch der Gesetzgeber des TVG in § 7 Abs. 1 Satz 2 aus.

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Das für das Tarifregister nach § 6 TVG zuständige Bundesministerium hat grundsätzlich keine Befugnis, die Eintragung von bei ihm eingereichten TVen aus Rechtsgründen abzulehnen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn offensichtlich ist, dass es sich nicht um einen TV im Rechtssinn handelt. Eine Eintragung hat auch zu unterbleiben, wenn das Regelwerk unter Beteiligung eines Verbandes zustande gekommen ist, von dem rechtskräftig feststeht, dass er nicht tariffähig ist; bloße Zweifel des Ministeriums an der Tariffähigkeit eines Beteiligten reichen nach der klaren Wertung des § 97 Abs. 5 ArbGG nicht. Das Bundesministerium steht es in einem solchen Fall allerdings frei, nach einer Eintragung das Verfahren nach § 97 Abs. 1 ArbGG auf Feststellung der fehlenden Tariffähigkeit zu betreiben und die Eintragung nach einem entsprechenden Ergebnis des Rechtsstreits zu löschen. Auch eine wie auch immer geartete Inhaltskontrolle des TVes scheidet aus2.

2. Mitwirkungspflichten der Tarifvertragsparteien 98

§ 7 TVG schafft die Voraussetzungen zur Führung eines – wenn möglich – vollständigen Tarifregisters und Tarifarchivs, indem es beiden TV-Parteien als Gesamtschuldnern (§ 7 Abs. 1 Satz 3 TVG) die Pflicht auferlegt, dem Bundesministerium innerhalb eines Monats nach Tarifabschluss eine Urschrift oder beglaubigte Kopie sowie zwei weitere Abschriften eines jeden TVes und seiner Änderungen zu übersenden. Darüber hinaus ist von den TV-Parteien innerhalb derselben Frist das Außerkrafttreten des TVes, also das Ende von dessen zwingender Wirkung, nicht das einer etwaigen Nachwirkung, zum Tarifregister mitzuteilen. Bei einem Streit darüber, ob und gegebenenfalls wann die Tarifwirkung – z.B. nach einer fristlosen TV-Kündigung aus wichtigem Grund – geendet hat, ist die TV-Partei, die von einer Beendigung ausgeht, verpflichtet, die Beendigung und den nach ihrer Auffassung richtigen Beendigungstermin mitzuteilen sowie zugleich darauf hinzuweisen, dass hier Streit mit der anderen TV-Partei besteht3.

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Die Verpflichtung beider TV-Parteien, auch den obersten Arbeitsbehörden der Länder innerhalb eines Monats nach Abschluss der TVe drei Abschriften hiervon sowie von jeder Änderung zu übersenden und auch deren Außerkrafttreten innerhalb eines Monats mitzuteilen, bezieht sich auf die TVe, die nach den Be1 Aktuelle Aufstellung mit Anschriften bei Däubler/B. Reinecke, § 6 TVG Rz. 40. 2 Löwisch/Rieble, § 6 TVG Rz. 18; Däubler/B. Reinecke, § 6 TVG Rz. 20 ff.; weiter gehend möglicherweise Berg/Platow/Schoof/Unterhinninghofen, § 6 TVG Rz. 5. 3 Zutreffend Däubler/B. Reinecke, § 7 TVG Rz. 7.

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Die Publizität tariflicher Regelungswerke

Rz. 101 Teil 3

stimmungen über ihren räumlichen Geltungsbereich innerhalb der betreffenden Länder gelten. Das bedeutet, dass die Pflichten des § 7 Abs. 1 Satz 2 TVG sich nicht nur auf die TVe beziehen, die ausschließlich in den Landesgrenzen des jeweiligen Bundeslandes gelten wollen. Sie bestehen auch bei solchen, die zumindest auch in dem betreffenden Bundesland Geltung beanspruchen, also TVen mit bundesweitem oder Länder übergreifendem Geltungsbereich. Werden die Mitwirkungspflichten der TV-Parteien aus § 7 Abs. 1 TVG vorsätzlich oder fahrlässig verletzt, handelt es sich nach Abs. 2 um eine Ordnungswidrigkeit nach dem Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG), das mit einem Bußgeld von bis zu 1 000 Euro geahndet werden kann (§ 17 OWiG). Tatsächlich ist eine Geldbuße aber bis heute soweit ersichtlich nicht festgesetzt worden, obwohl gelegentlich Zweifel geäußert werden, dass das Tarifregister tatsächlich die angestrebte Vollständigkeit erreicht1.

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3. Zweck und Wirkung der Registrierung Zweck von Tarifregister und Tarifarchiv ist es weniger, dem Staat eine authentische Dokumentation des gegenwärtigen und früheren Tarifrechts zur Verfügung zu stellen2; gegenüber einem derartigen vorrangigen Zweck bestünden angesichts des Umstandes, dass die Mitwirkungspflichten der TV-Parteien mit Sanktionen bewehrt sind, Bedenken aus Art. 9 Abs. 3 GG, soweit es nicht um allgemeinverbindliche TVe geht. Sehr viel wesentlicher ist, dass alle hieran Interessierten, von den Gerichten bis zu jedem einzelnen betroffenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die Möglichkeit erhalten sollen, sich lückenlos über alle abgeschlossenen TVe und deren Geltungsbereich zu informieren3. Für allgemeinverbindliche TVe wird zur Begründung einer dahin gehenden Verpflichtung auch darauf hingewiesen, dass ein Veröffentlichungsverfahren mit Dokumentationswirkung rechtsstaatlich geboten ist, wenn durch Mitgliedschaft legitimierte Rechtsnormen auch auf Außenseiter angewendet werden sollen; diese Aufgabe werde durch Tarifregister und Tarifarchiv erfüllt4. Dieses rechtsstaatlich gebotene Publizitätserfordernis als Gesetzgebungsaufgabe dürfte aber auch für nicht allgemeinverbindliche TVe gelten5. Der Gesetzgeber hat auch für diese TVe, die nur durch Mitgliedschaft legitimiert sind, angeordnet, dass sie ohne konkretes Wissen über ihre Existenz und ihren Inhalt seitens der Verbandsmitglieder und ohne deren Zustimmung hierzu als Normen gelten. Er muss deshalb auch hier in irgendeiner dafür geeigneten Weise sicherstellen, dass die Normadressaten von den Normen Kenntnis nehmen und ihr Verhalten daran ausrichten können. Er hat hierfür Tarifregister und Tarifarchiv mit Einsichtsansprüchen für jedermann eingerichtet.

1 Berg/Platow/Schoof/Unterhinninghofen, § 7 TVG Rz. 2. 2 Zurückhaltend insoweit auch Wiedemann/Oetker, § 6 TVG Rz. 6; Löwisch/Rieble, § 6 TVG Rz. 13. 3 Däubler/B. Reinecke, § 6 TVG Rz. 5; Kempen/Zachert/Zachert, § 6 TVG Rz. 1; Löwisch/Rieble, § 6 TVG Rz. 13. 4 BVerfG, Kammerbeschluss v. 10.9.1991 – 1 BvR 561/89, AP TVG § 5 Nr. 27. 5 Ebenso Wiedemann/Oetker, § 6 TVG Rz. 7.

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Teil 3 Rz. 102 Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen 102

Es ergibt sich aus dem zumindest auch öffentlich-rechtlichen Charakter der §§ 6 und 7 TVG zwar nicht zwingend, entspricht aber angesichts der Entstehungsgeschichte dieser Normen zu Recht allgemeiner Auffassung, dass die Meldung zum Tarifregister und die Eintragung dort nicht Wirksamkeitsvoraussetzung von TVen ist1. Dem Tarifregister kommt auch keine Publizitätswirkung ähnlich § 15 HGB zu. Man wird aber erwägen können, bei einem Streit darüber, ob eine bestimmte Einigung der TV-Parteien als TV zu bewerten ist, als Hilfstatsache auf dessen Anmeldung oder Nichtanmeldung zum Tarifregister abzustellen. Dies kommt jedenfalls bei Übereinkünften auf Verbandsebene in Betracht.

4. Reformüberlegungen 103

Es ist offensichtlich, dass die hier bestehende Möglichkeit, vom Inhalt der einschlägigen TVe über eine Auskunftsbitte beim Tarifregister Kenntnis zu nehmen, angesichts der Vielzahl der im Arbeitsleben alltäglich auftretenden Klärungsbedürfnisse zumindest deutlich verbesserungsfähig ist, wenn eine derartige Verbesserung nicht sogar von Rechts wegen geboten ist.

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Eine Arbeitsgruppe Tarifvertragsrecht hat im Jahre 2004 um einer Verbesserung des Zugriffs auf die für die Arbeitsverhältnis maßgebenden TVe willen vorgeschlagen, das Tarifregister an die veränderten Informations- und Kommunikationstechniken anzupassen. In Anlehnung an den elektronischen Bundesanzeiger solle künftig auch ein elektronisches Tarifregister geführt werden, das allerdings – mit der Ausnahme von MantelTVen und allgemeinverbindlichen TVen – aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung erst ab einem zu bestimmenden Stichtag verbindlich sein solle2.

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Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat diesen Gedanken aufgegriffen, ihn aber bis heute nicht in einen Gesetz- oder Verordnungsentwurf umgesetzt, weil es schon bei den Vorarbeiten Widerstände von Seiten der Verbände gab, deren Spitzenverbände eigene Tarifregister unterhalten: Die Entscheidung, ob und in welchem Umfang TVe, für die betont wird, dass es sich hier – nur? – um eine Leistung handele, die auf die Mitglieder der Koalitionen ziele, und Urheberrechtsschutz reklamiert wird, einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht würden, müsse der jeweils zuständigen TV-Partei überlassen bleiben3. Die Stellungnahme problematisiert besonders die Möglichkeit der Einsichtnahme Dritter und den damit einhergehenden Verlust der Interpretationshoheit der TV-Parteien als „Herren“ ihrer TVe. Angesprochen ist damit aber sicher auch, dass die Werbewirkung zu Gunsten der Koalitionen erhalten bleiben soll, die damit verbunden ist, dass eine leichte und einigermaßen kurz1 BAG v. 16.5.1995 – 3 AZR 535/94, AP TVG § 4 Ordnungsprinzip Nr. 15; Wiedemann/ Oetker, § 6 TVG Rz. 25; Löwisch/Rieble, § 6 TVG Rz. 17; Däubler/B. Reinecke, § 6 TVG Rz. 18. 2 Dieterich/Hanau/Henssler/Oetker/Wank/Wiedemann, RdA 2004, 65 (77). 3 Stellungnahme der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) zum Entwurf einer Verordnung zur Änderung der Durchführungsverordnung zum TVG, September 2011: „Digitales Tarifregister gestalten“, die nach Einschätzung des Verf. auch vom DGB stammen könnte.

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Die Publizität tariflicher Regelungswerke

Rz. 107 Teil 3

fristige Kenntnisnahme von Tarifinhalten im Wesentlichen nur unter Einschaltung der Verbände möglich ist1. Das Interesse der Koalitionen an einer effektiven Mitgliederwerbung als Teil der Koalitionsbetätigungsfreiheit ist um eines funktionierenden TV-Systems willen erheblich schutzbedürftig und auch verfassungsrechtlich abgesichert2. Im Hinblick auf gegenläufige verfassungsrechtlich geschützte Individualinteressen aus Art. 9 Abs. 3 und Art. 12 GG und die angesprochenen Gebote des Rechtsstaats ist allerdings fraglich, ob dieses Interesse ausgerechnet dadurch befriedigt werden muss, dass der – tägliche! – Zugang zu den Tarifinhalten derart schwierig gehalten werden muss, wie er sich derzeit darstellt. Denn die TVParteien informieren zwar ihre Mitglieder. Aber schon dies ist gegenüber einem Zugriff über Internet mit einem unvermeidbaren Zeitverlust verbunden, der den Bedürfnissen der Praxis nicht gerecht wird. Außenseiter werden zudem, soweit hier bekannt, wenn überhaupt, dann allenfalls zurückhaltend informiert. Dass es aber auch insoweit nach dem Willen des Gesetzgebers ein rechtlich zu schützendes Informationsinteresse gibt, ergibt sich ohne weiteres daraus, dass der Gesetzgeber und die höchstrichterliche Rechtsprechung zumindest von der Leitbildfunktion der TVe ausgehen, die von diesen nur ausgehen kann, wenn sie auch allgemein bekannt sein können. Der rechtlich anerkannte Schutzbedarf zeigt sich im Übrigen konkret auch daraus, dass der Gesetzgeber in einer Vielzahl von staatlichen Schutznormen eine Abweichung zu Lasten der an sich geschützten Arbeitnehmer auch dann zulässt, wenn entsprechende tarifvertragliche Regelungen nur arbeitsvertraglich in Bezug genommen werden. Die Kenntnis vom Bestehen oder Nicht-mehr-Bestehen solcher Regelungen ist damit auch, was Außenseiter angeht, in den Regelungsplan des Gesetzes aufgenommen.

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Dieser Umstand spricht im Übrigen auch dafür, TVen Urheberrechtsschutz nicht zuzuerkennen. Denn die Bereichsausnahme des § 5 UrhG ist maßgebend. Nach dieser Bestimmung sind u.a. Gesetze, Verordnungen, amtliche Erlasse und Bekanntmachungen nicht urheberrechtlich geschützt. TVe sind jedenfalls in ihrem auf Betriebe und Arbeitsverhältnisse zielenden – normativen (!) – Teil Gesetze im materiellen Sinn, auch wenn sie nicht allgemeinverbindlich und deshalb im Ausgangspunkt nur Ergebnisse kollektiv ausgeübter Privatautonomie sind. Jeder TV steht nicht nur dem Grunde nach einer Allgemeinverbindlicherklärung offen; er tritt darüber hinaus potentiell in ein im Einzelfall zu seinen Gunsten aufzulösendes Konkurrenzverhältnis zu ansonsten zwingenden staatlichen Schutznormen, eine Qualität, die ein „normales“ Produkt ausgeübter Privatautonomie nicht hat3.

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1 So auch Berg/Platow/Schoof/Unterhinninghofen, § 6 TVG Rz. 6. 2 Hierzu nur BAG v. 20.1.2009 – 1 AZR 515/08, SAE 2009, 280 mit Anm. Cord Meyer; BAG v. 22.6.2010 – 1 AZR 179/09, NZA 2010, 1365. 3 Im Ergebnis und Teilen der Begründung ebenso BAG v. 11.11.1968 – 1 AZR 16/68, NJW 1969, 861 (im Rahmen einer Entscheidung, die das Werberecht der Koalitionen und ihren wettbewerbsrechtlichen Schutz gegenüber konkurrierenden Organisationen gerade betont); Franzen, RdA 2006, 1 (10); Däubler/B. Reinecke, § 6 TVG Rz. 29 m.w.N. auch zur Gegenmeinung.

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Teil 3 Rz. 108 Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen

III. Die Auslegungspflicht nach § 8 TVG 1. Zweck und Inhalt der Auslegungspflicht 108

Der Gesetzgeber hat weiter durch § 8 TVG und § 9 Abs. 2 der TVGDV mit der Pflicht des Arbeitgebers, nach § 4 Abs. 1 TVG geltende TVe und – zusätzlich geregelt1 – allgemeinverbindliche TVe an geeigneter Stelle im Betrieb auszulegen, eine besondere Publizierungspflicht begründet, die sehr sinnvoll und mit größerer Wahrscheinlichkeit, zur Kenntnisnahme durch die Betroffenen zu führen, als eine allgemeine Publizierungsanordnung, an den Ort anknüpft, an dem die tariflichen Verhaltensanweisungen befolgt werden sollen, nämlich den Betrieb als Ort der Arbeitsleistung.

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§ 8 TVG, dem für das Betriebsverfassungsrecht § 77 Abs. 2 Satz 3 BetrVG entspricht, wird spezialgesetzlich durch § 16 Abs. 1 ArbZG konkretisiert, der einen betrieblichen Aushang der TVe anordnet, in denen von den Öffnungsklauseln des Arbeitszeitgesetzes Gebrauch gemacht wird.

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§ 8 TVG und § 9 TVGDV gelten für alle TVe, also auch deren schuldrechtliche Regelungen; „maßgebend“ im Sinne des § 8 TVG sind alle diejenigen TVe, die aufgrund der Bestimmungen des TVG Anwendung finden, wobei etwaige Tarifpluralitäten zu berücksichtigen sind. Dabei genügt die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers. Schon aus Praktikabilitätserwägungen kann es nicht darauf ankommen, ob zur Zeit – zufälligerweise – ein tarifgebundener Arbeitnehmer beschäftigt wird oder dies gerade einmal nicht der Fall ist2. Hiergegen spricht auch, dass die Pflicht des § 8 TVG nicht geltende TVe wie z.B. § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB, sondern maßgebende TVe anspricht und zum Gegenstand der Auslegungspflicht macht. Dass für einen tarifgebundenen Arbeitgeber und seine betriebliche Vertragsdurchführungspraxis in aller Regel die TVe, an die er gebunden ist, maßgebend sind, dürfte außer Streit stehen. Es genügt deshalb, dass der TV aufgrund der Tarifgebundenheit des Arbeitgebers geeignet ist, im Betrieb kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit zu gelten.

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Die gesetzliche Auslegungspflicht besteht auch für Mindestarbeitsbedingungen nach dem Arbeitnehmerentsendungsgesetz, weil § 7 Abs. 1 AEntG zwar nicht die Bestimmungen des TVG insgesamt in Bezug nimmt, aber doch die Anwendung der betreffenden TVe als TVe anordnet3, sowie für Mindestarbeits1 Wobei § 9 Abs. 1 TVGDV zusätzlich einen Rechtsanspruch der einem allgemeinverbindlichen TV unterworfenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer begründet, von einer TVPartei eine Abschrift dieses TVes gegen Erstattung der Selbstkosten (§ 5 Satz 3 TVGDV) verlangen zu können. 2 Däubler/B. Reinecke, § 8 TVG Rz. 8; Wiedemann/Oetker, § 8 TVG Rz. 14; Kempen/ Zachert/Zachert, § 8 TVG Rz. 3; Berg/Platow/Schoof/Unterhinninghofen, § 8 TVG Rz. 3; a.A. (mindestens ein tarifgebundener Arbeitnehmer) HWK/Henssler, § 8 TVG Rz. 2; ErfK/Franzen, § 8 TVG Rz. 2; Löwisch/Rieble, § 8 TVG Rz. 10; (TV muss für den Betrieb eine gewisse Bedeutung haben) Hohenhaus, NZA 2001, 1107 (1109). 3 Ebenso Löwisch/Rieble, § 8 TVG Rz. 12. Die Rechtslage ist hier anders als zu der Frage, ob durch Rechtsverordnung nach § 7 Abs. 1 AEntG erstreckte TVe nach § 4 Abs. 5 TVG über den Wirkungszeitraum der Rechtsverordnung hinaus nachwirken; denn dort geht es um die Geltung des Tarifrechts, die nicht, was ihren Beginn und die Geltung dem Grunde nach angeht, von einer hoheitlichen Entscheidung in einer Rechtsverord-

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Die Publizität tariflicher Regelungswerke

Rz. 114 Teil 3

entgelte nach dem Gesetz über Mindestarbeitsbedingungen, dessen § 8 Abs. 1 S. 2 ausdrücklich auf die Bestimmungen des TVG verweist. Die Auslegungspflicht nach § 8 TVG besteht dagegen insbesondere nicht für solche TVe, an die der Arbeitgeber nicht gebunden ist, die nur kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahme betriebsüblich gelten1. Andererseits sind auch TVe, die durch TVe in Bezug genommen worden sind, die im Betrieb kraft Tarifgebundenheit gelten, Teile des Bezug nehmenden TVes und als solche normativ geltendes Tarifrecht. Sie oder auch nur die dort in Bezug genommenen TV-Teile unterliegen deshalb der Auslegungspflicht2. Wie die Auslegungspflicht zu erfüllen ist, ist eine Frage des Einzelfalles. Es muss für die Tarifunterworfenen jedenfalls ohne Schwierigkeiten möglich sein, die verkörperten Tarifregelungen zur Kenntnis zu nehmen. Eine Auslegung im Personal- oder Betriebsratsbüro wird jedenfalls dann ausreichen, wenn dieser Einsichtsort allgemein im Betrieb bekannt gemacht wird und während der gesamten Normalarbeitszeit dort üblicherweise eine Einsichtnahme möglich ist. Eine „Auslegung“ durch Einstellung ins Intranet entspricht zwar nicht einem sehr auf den historischen Gesetzgeber abstellenden Verständnis des Gesetzeswortlauts. Sie genügt aber nach Sinn und Zweck des § 8 TVG nach deren vorheriger Bekanntmachung bei einem Betrieb, in dem das Intranet allgemein als „Schwarzes Brett“ genutzt wird und auch genutzt werden kann3.

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Der zeitliche Umfang der Auslegungspflicht umfasst den Zeitraum, in welchem der betreffende TV „maßgebend“ im Betrieb ist. Dies ist die Zeit vom Inkrafttreten des TVes bis zum Ende von dessen normativer Geltung. Darauf, dass der TV noch zwingend gilt, kommt es nicht an. Hat er einmal gegolten, gilt er nach § 4 Abs. 5 TVG bis zu einer anderen Abmachung. Deshalb ist jeder TV bis zum Ende seiner Nachwirkung im Betrieb auszulegen4.

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2. Wirkung der Auslegung und Rechtsfolge ihres pflichtwidrigen Unterlassens Dass die Erfüllung der Auslegungspflicht aus § 8 TVG, § 9 Abs. 2 TVGDV nicht Wirksamkeitsvoraussetzung der „maßgebenden“ TVe für die in dem be-

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nung abhängig gemacht werden kann, sich dann aber, was ihre Beendigung angeht, von einer solchen Entscheidung unabhängig nach allgemeinem Recht für autonom geschaffene Rechtsnormen richten soll, vgl. BAG v. 20.4.2011 – 4 AZR 467/09, NZA 2011, 1105. ErfK/Franzen, § 8 TVG Rz. 1; Däubler/B. Reinecke, § 8 TVG Rz. 10; Wiedemann/Oetker, § 8 TVG Rz. 14; Berg/Platow/Schoof/Unterhinninghofen, § 8 TVG Rz. 3; Kempen/Zachert/Zachert, § 8 TVG Rz. 3 f.; offen gelassen von BAG v. 23.1.2002 – 4 AZR 56/01, AP NachwG § 3 Nr. 5; a.A. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 520, der § 8 TVG aber auch nicht unmittelbar anwenden will, sondern die dort festgelegte Pflicht als mit der Bezugnahme nach Treu und Glauben mit vereinbart ansieht. Ebenso Wiedemann/Oetker, § 8 TVG Rz. 10; HWK/Henssler, § 8 TVG Rz. 2; Däubler/B. Reinecke, § 8 TVG Rz. 7; a.A. Hohenhaus NZA 2001, 1107 (1108); BAG v. 10.11.1982 – 4 AZR 1203/79 – DB 1983, 717, soweit es um in Bezug genommene Teile eines TVes geht. Wiedemann/Oetker, § 8 TVG Rz. 7; Löwisch/Rieble, § 8 TVG Rz. 18. HWK/Henssler, § 8 TVG Rz. 6; Wiedemann/Oetker, § 8 TVG Rz. 18; Däubler/B. Reinecke, § 8 TVG Rz. 11; Löwisch/Rieble, § 8 TVG Rz. 15a.

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Teil 3 Rz. 115 Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen treffenden Betrieb angesiedelten Arbeitsverhältnisse ist, entspricht zu Recht allgemeiner Auffassung1. Fraglich und höchst umstritten ist, ob sich aus einer Verletzung der Auslegungspflicht für den insoweit verpflichteten Arbeitgeber negative Auswirkungen ergeben2. 115

§ 8 TVG und § 9 Abs. 2 TVGDV sind, wenn sich die hierzu verpflichteten Arbeitgeber an ihre Auslegungspflicht halten, an sich gut geeignet, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer „vor etwaiger Unkenntnis ihrer Rechte zu schützen“3, soweit diese sich aus normativ geltenden TVen ergeben. Der Umstand, dass die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts es bisher mit Zustimmung eines Teils der Literatur ablehnt, irgendwelche Rechtsfolgen an eine Verletzung der Auslegungspflicht zu knüpfen, nimmt diesen Bestimmungen aber viel von ihrer praktischen Wirksamkeit bei der Erfüllung ihrer auch von der Nachweis-Richtlinie 91/533/EWG vorgegebenen Aufgabe, ein Mindestmaß von Regelungstransparenz im TV-Recht herbeizuführen. Im Anschluss an ältere Rechtsprechung hat der 4. Senat des Bundesarbeitsgerichts am 23. Januar 2002 ausdrücklich darauf erkannt, es handele sich bei § 8 TVG um eine sanktionslose Ordnungsvorschrift oder eine Norm, die zwar eine Schutzfunktion aufweise, deren Nichtbeachtung aber keine Folgen zeitige4. Damit ist die betriebliche Publizierung der tarifvertraglichen Normen gegenüber den nicht an deren Zustandekommen beteiligten Arbeitnehmern letztlich in das Belieben des vom Gesetzgeber hiermit betrauten Arbeitgebers gestellt. Er kann, wie dies typischerweise auch geschieht, die Regelungen im Betrieb an geeigneter Stelle auslegen. Er kann, erfährt die bisherige Rechtsprechung keine Änderung, dies aber auch unterlassen, ohne dass ihm hieraus Rechtsnachteile drohen. In seinem ausführlichen Urteil vom 23. Januar 2002 hat sich das Bundesarbeitsgericht mit der in diesem Zusammenhang typischen Fragestellung befasst, ob der Anspruch eines Arbeitnehmers auch dann mit Fristablauf ohne weiteres verfallen ist, wenn der TV, in dem sich die Ausschlussfristbestimmung befindet, nicht im Betrieb ausgelegt worden war. Es hat diese Frage bejaht. Weder sei dem Arbeitgeber in einem solchen Fall die Berufung auf den fruchtlosen Ablauf der Ausschlussfrist von vornherein versagt, noch schulde er es dem Arbeitnehmer, bei Erfüllung der weiteren Anspruchsvoraussetzungen im Wege des Schadensersatzes so gestellt zu werden, als hätte er die Ausschlussfrist eingehalten. Nach dem Willen des historischen Gesetzgebers diene § 8 TVG im Interesse der Öffentlichkeit der Information der Arbeitnehmer über die für den Betrieb 1 Löwisch/Rieble, § 8 TVG Rz. 5; Däubler/B. Reinecke, § 8 TVG Rz. 15; Wiedemann/ Oetker, § 8 TVG Rz.; Kempen/Zachert/Zachert, § 8 TVG Rz. 7. 2 Hierzu eingehend Bepler, FS Düwell, 2011, S. 307 (314 ff.). 3 So der 2. Erwägungsgrund der Richtlinie 91/533/EWG des Rates vom 14.10.1991 über die Pflicht des Arbeitgebers zur Unterrichtung des Arbeitnehmers über die für seinen Arbeitsvertrag oder sein Arbeitsverhältnis geltenden Bedingungen (Nachweis-Richtlinie), der auch bei geltenden Rechten und Pflichten eine Schutzaufgabe der Mitgliedstaaten, den Arbeitnehmern die Kenntnisnahme der Rechtslage zu erleichtern, beschreibt. 4 BAG v. 23.1.2002 – 4 AZR 56/01, NZA 2002, 800 m.z.w.N.; die etwas merkwürdige Gegenüberstellung findet sich unter 5b aa bbb der Gründe; in seinem Urteil v. 21.2.2007 – 4 AZR 258/06, AP TVG § 1 TVe: Dachdecker Nr. 8, hat der 4. Senat betont offen gelassen, ob an der hier referierten Rechtsprechung festzuhalten ist.

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maßgeblichen TVe und dem Publizitätsbedarf von Tarifnormen. Das Bundesarbeitsgericht nimmt auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu allgemeinverbindlichen TVen Bezug, wonach das Bekanntgabesystem nach dem TVG zwar nicht zu befriedigen vermöge, es aber der verfassungsrechtlichen Nachprüfung unter dem Aspekt des Rechtsstaatsprinzips noch stand halte, auch weil es dem Arbeitnehmer möglich sei, Einsicht in den TV zu nehmen, wenn ihn sein Arbeitgeber an geeigneter Stelle im Betrieb auslege1. Es nimmt im Anschluss hieran an, § 8 TVG als nicht mit einer Rechtsfolgenanordnung versehene Publizitätsvorschrift sei eine Ordnungsvorschrift, die keinen Individualschutz bezwecke und deshalb auch nicht als Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB in Betracht komme. Es sei auch nicht möglich, an eine Verletzung einer im Arbeitsverhältnis geltenden Nebenpflicht die Rechtsfolge eines Schadensersatzanspruchs zu knüpfen. § 8 TVG habe nicht den für die Annahme einer Nebenpflicht im Arbeitsverhältnis erforderlichen Zweck, dem Schutz des Einzelnen zu dienen. Sie konkretisiere deshalb auch nicht die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers gegenüber dem einzelnen Arbeitnehmer2. Diese Rechtsprechung hat vielfach Kritik erfahren. Ulrich Koch hat sich auf der Grundlage einer an die strukturelle Ungleichgewichtslage im Arbeitsverhältnis anknüpfenden verfassungskonformen Auslegung des § 8 TVG dafür ausgesprochen, tarifvertragliche Ausschlussfristregelungen nicht anzuwenden, solange der Arbeitgeber den betreffenden TV nicht in geeigneter Form bekannt gegeben hat3. Überwiegend wird dafür plädiert, dem Arbeitnehmer bei einer Verletzung der Auslegungspflicht einen Schadensersatzanspruch aus einer durch § 8 TVG konkretisierten vertraglichen Nebenpflichtverletzung zu geben. Dieser auf § 280 Abs. 2, § 241 Abs. 1 BGB zu stützende Anspruch stellt den Arbeitnehmer so, als hätte der Arbeitgeber ihm durch Auslegung des TVes die Möglichkeit gegeben, sich über den Inhalt des TVes zu informieren4. Ähn1 BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, DB 1977, 1249. 2 Ebenso ErfK/Franzen, § 8 TVG Rz. 4; Krebber in Dornbusch/Fischermeier/Löwisch, Fachanwaltskommentar Arbeitsrecht, 4. Aufl. 2011, § 8 TVG Rz. 4; AnwK-ArbR/Besgen, § 8 TVG Rz. 8; auch Löwisch/Rieble, § 8 TVG Rz. 32 ff., die ihre gegenüber der ersten Auflage geänderte Auffassung wie Franzen auf § 2 NachwG, dem sie eine abschließende Regelung der Individualinteressen der Arbeitnehmer entnehmen, stützen; im Ergebnis auch Oetker in Wiedemann, § 8 TVG Rz. 19 ff., 24 f., der § 8 keinen Schutzgesetzcharakter beimisst, dem Arbeitgeber nach Inkrafttreten des NachwG aber gleichwohl eine Pflicht zur Auslegung zuweist; deren Verletzung führe aber nicht zu einem Schadensersatzanspruch aus § 280 Abs. 1 BGB, weil der Schutzzweck des § 8 TVG nicht auch darin liege, den Arbeitnehmer vor Rechtsnachteilen aus der Unkenntnis von Rechtsnormen zu bewahren; Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, S. 165. Zu der § 8 TVG entsprechenden Bestimmung des § 77 Abs. 2 Satz 3 BetrVG auch WPK/Preis, § 77 BetrVG Rz. 11; GK-BetrVG/Kreutz, § 7 Rz. 52; Richardi, § 77 BetrVG Rz. 41. 3 Koch, FS Schaub, S. 421 (434 ff.); kritisch dazu Löwisch/Rieble, § 8 TVG Rz. 6. 4 Berg/Platow/Schoof/Unterhinninghofen, § 8 TVG Rz. 4; Kempen/Zachert/Zachert, § 8 TVG Rz. 8 ff.; Däubler/B. Reinecke, § 8 TVG Rz. 18 ff.; Henssler (HWK/Henssler, § 8 TVG Rz. 9) stützt sich für seine Annahme eines Schadensersatzanspruchs ausdrücklich auf das Inkrafttreten des NachwG und den damit deutlich gewordenen individualschützenden Charakter von Informationsnormen; ähnlich auch Bepler, ZTR 2001, 241 ff.; im Ergebnis ebenso für § 77 Abs. 2 Satz 3 BetrVG Fitting, 25. Aufl. 2010, § 77 BetrVG Rz. 26; DKKW/Berg, § 77 BetrVG Rz. 33; Lorenz in Düwell (Hrsg.), HaKo-

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Teil 3 Rz. 117 Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen lich der Problematik in Arzthaftpflichtprozessen nach fehlerhafter Aufklärung muss einem betroffenen Arbeitnehmer hinsichtlich des Nachweises der Ursächlichkeit der Pflichtverletzung des Arbeitgebers für die eingetretene Fristversäumnis oder das sonstige rechtsbeeinträchtigende Verhalten1 dann die – widerlegliche – Vermutung zu Gute kommen, dass er sich bei richtiger und vollständiger Unterrichtung nach Maßgabe der Aufklärung sachgerecht verhalten hätte. 117

Die gegenteilige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts überzeugt schon bei der vermeintlichen „Weichenstellung“ über den Begriff der Ordnungsvorschrift nicht. Birgit Reinecke2 hat überzeugend begründet darauf hingewiesen, dass dieser Begriff im verwendeten Zusammenhang ohne jede Aussagekraft ist. Ordnungen werden u.a. zur Gewährleistung bestimmter Rechte oder Interessen geschaffen. Dafür, dass es sich dabei um überindividuelle Interessen handeln muss, spricht nichts, schon gar nicht, wenn es um die „Ordnung“ von TVen geht, die im Regelfall nur das Ergebnis der Wahrnehmung kollektiver Privatautonomie sind. Aber selbst im Bereich der allgemeinverbindlichen TVe hat das Bundesverfassungsgericht3 die zentrale Bedeutung des § 8 TVG mit der sich aus dieser Vorschrift ergebenden Möglichkeit der betroffenen Arbeitnehmer begründet, von den Tarifinhalten Kenntnis zu nehmen.

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Darüber hinaus wird die Bedeutung von Nachweisrichtlinie und Nachweisgesetz nicht ausreichend berücksichtigt. Spätestens auf der Grundlage der hierdurch entstandenen Rechtslage muss der gesetzgeberische Wille verbindlich zugrunde gelegt werden, dass der Arbeitnehmer alle – auch kollektivrechtlich begründeten – Rechte und Pflichten, die er kennen oder doch zumindest aufgrund eigener Bemühungen kennen lernen kann, nicht allein von sich aus auch kennen oder doch zumindest ermitteln muss. Die Rechtsordnung weist dem Arbeitgeber hier eine fürsorgliche, die Rücksichtnamepflicht aus § 241 Abs. 2 BGB konkretisierende Mitwirkungsaufgabe zu.

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Den Schöpfern des TVG mag die Einführung einer derartigen Mitwirkungspflicht fern gelegen haben. Für sie stand bei § 8 (damals § 7) TVG möglicherweise wirklich dessen Publizierungsfunktion im Mittelpunkt. Aber – abgesehen davon, dass auch eine solche Funktion bei privatautonom gesetztem Recht ohne individualschützende Komplementärfunktion kaum denkbar ist und auch nicht gedacht wird – spätestens mit dem Nachweisgesetz ist deutlich BetrVG, 3. Aufl. 2010, § 77 Rz. 14; de lege ferenda auch Dieterich/Hanau/Henssler/ Oetker/Wank/Wiedemann, RdA 2005, 65 (77), sowie Hanau, SR [Soziales Recht] 2011, 3 (13). 1 Z.B.: Ein TV räumt einen Anspruch auf eine Abfindung für den Fall einer betriebsbedingten Kündigung ein, verlangt dafür aber, dass der Gekündigte nicht klageweise gegen die Kündigung vorgehe. Erhebt der Arbeitnehmer gleichwohl Kündigungsschutzklage, weil er die tarifliche Vorschrift nicht kannte und war sie auch nicht im Betrieb ausgelegt, dürfte der Arbeitnehmer ein Wahlrecht haben, ob er die Kündigungsschutzklage weiterverfolgt oder die tarifliche Abfindung in Anspruch nimmt; vgl. hierzu BAG v. 3.5.2006 – 4 AZR 189/05, NZA 2006,1420; BAG v. 6.12.2006 – 4 AZR 798/05, NZA 2007, 576. 2 Däubler/B. Reinecke, § 8 TVG Rz. 18 ff.; ebenso DKKW/Berg, § 77 BetrVG Rz. 33. 3 BVerfG v. 24. Mai 1977 – 2 BvL 11/74, DB 1977, 1249.

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geworden, dass Normen, die zur Publizität arbeitsrechtlicher Rechte und Pflichten führen, nicht die individualschützende Funktion abgesprochen werden kann1. Das Nachweisgesetz hat sich auch nicht dadurch, dass es sich mit der Festlegung der Pflicht begnügt hat, auf einschlägige TVe – und nicht auch auf ihre wesentlichen Inhalte – hinzuweisen, und für dort eintretende Änderungen keinen „Nachtragsnachweis“ verlangt hat, die restriktive Rechtsprechung zu § 8 TVG zu eigen gemacht und die Absicht verfolgt, mit der Erfüllung der Pflichten des Nachweisgesetzes einen im vorliegenden Zusammenhang ausreichenden Individualschutz zu installieren. Einem solchen Regelungswillen stehen die Motive des Nachweisgesetzes entgegen. Die Entbehrlichkeit einer detaillierten Auflistung des Regelungsgehaltes von TVen im vom Arbeitgeber zu erstellenden Nachweis wird ausdrücklich mit einem Hinweis auf die Auslegungspflicht nach § 8 TVG begründet2, der offenbar hier eine Art Lückenschließungsfunktion zugewiesen wird. Man greift zu kurz, wenn man hierzu meint, die Verkennung der Reichweite einer Norm, auf die in einer Begründung für eine andere gesetzliche Regelung Bezug genommen werde, ändere nicht die Reichweite dieser Norm; eine solche Änderung bleibe dem Gesetzgeber vorbehalten. Ausgangspunkt der hier vertretenen Gegenauffassung ist die Feststellung, dass die Auslegung eines sehr knapp gehaltenen, in einem bestimmten historischen Kontext geschaffenen Gesetzes aus der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht bei der Würdigung der damaligen Umstände und einem nicht im Gesetz selbst zum Ausdruck gekommenen Willen des historischen Gesetzgebers stehen bleiben darf. Kommt es im arbeitsrechtlichen Kontext zu grundlegenden gesetzgeberischen Neubewertungen, müssen diese im Rahmen der nach Wortlaut und Gesetzessystematik möglichen Gesetzesauslegung mit berücksichtigt werden, es sei denn, der für die neuen gesetzgeberischen Grundwertungen verantwortliche Gesetzgeber hätte etwas anderes zum Ausdruck gebracht, den Einwirkungsbereich seiner Grundentscheidung also abschließend und § 8 TVG ausschließend beschrieben. Dies ist nicht nur nicht geschehen. Der Gesetzgeber des Nachweisgesetzes hat vielmehr ausdrücklich § 8 TVG in das von ihm geschaffene System individualschützender Regeln zur Förderung der Regelungstransparenz im Arbeitsrecht eingebunden.

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IV. Transparenz durch das Nachweisgesetz Durch das bereits mehrfach angesprochene Nachweisgesetz hat der Gesetzgeber, durch den europäischen Richtliniengeber dazu angehalten (RL 91/533/EWG3), auch für das individuelle Arbeitsverhältnis einen kleinen 1 Die Bedeutung des Inkrafttretens des Nachweisgesetzes für die vorzunehmende Grundwertung betonen – mit unterschiedlichem Ergebnis auch HWK/Henssler, § 8 TVG Rz. 9; ErfK/Franzen, § 8 TVG Rz. 4; Löwisch/Rieble, § 8 TVG Rz. 34; und Wiedemann/Oetker, § 8 TVG Rz. 24 f. 2 BT-Drucks. 13/668, S. 11. 3 Richtline 91/533/EWG des Rates vom 14. Oktober 1991 über die Pflicht des Arbeitgebers zur Unterrichtung des Arbeitnehmers über die für seinen Arbeitsvertrag oder sein Arbeitsverhältnis geltenden Bedingungen (ABl. Nr. L 288 S. 32).

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Teil 3 Rz. 122 Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen Schritt getan, um Arbeitnehmern Klarheit über das für sie geltende Tarifrecht zu verschaffen. § 2 Abs. 1 Satz 1 NachwG gibt dem Arbeitnehmer einen Anspruch gegen seinen Arbeitgeber, innerhalb eines Monats nach dem vereinbarten Arbeitsbeginn einen schriftlichen Nachweis über die wesentlichen Vertragsbedingungen ausgehändigt zu erhalten. Zu den hiernach erforderlichen Angaben gehört nach § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 10 NachwG unter anderem ein „in allgemeiner Form gehaltener Hinweis auf die Tarifverträge, …, die auf das Arbeitsverhältnis anzuwenden sind“. Bereits der Wortlaut dieser Bestimmung zeigt, dass die hiernach herbeizuführende Transparenz begrenzt ist. Es ist auf die anzuwendenden TVe, nicht deren Inhalt im Einzelnen hinzuweisen. Ihn muss sich der Arbeitnehmer anderweit erschließen, wofür er dringend eines durch die Erfüllung des § 8 TVG vermittelten Zugangs zum Tariftext bedarf. 122

Hinsichtlich der Einzelheiten der Bestimmung ist vieles umstritten, was nicht zur Effektivität der Norm beigetragen hat: So ist fraglich, wie konkret und wie umfassend das anzuwendende Tarifrecht nachzuweisen ist. Weiter ist umstritten, ob nur TVe nachzuweisen sind, die im Betrieb aufgrund beiderseitiger, gegebenenfalls aufgrund gesetzlicher Anordnung zu unterstellender Tarifgebundenheit gelten (§ 4, § 5 TVG) oder alle, die aus welchem Rechtsgrund auch immer im Betrieb allgemein angewendet werden. Damit zusammenhängt die Frage, welche Rolle § 2 Abs. 3 NachwG spielt, wonach bestimmte, in den Nachweis mindestens aufzunehmende wesentliche Vertragsbedingungen „durch einen Hinweis auf die einzelnen Tarifverträge …, die für das Arbeitsverhältnis gelten“ ersetzt werden können: Handelt es sich um eine – beschränkte – Ausnahme vom Grundsatz, dass alle wesentlichen Arbeitsbedingungen im Nachweis selbst im Einzelnen anzugeben sind, auch diejenigen, deren Geltung sich aus einem angewendeten TV ergeben, oder sind mit dem Nachweis der anzuwendenden TVe auch dessen inhaltliche Angaben insgesamt pauschal nachgewiesen mit Ausnahme der in § 2 Abs. 3 NachwG genannten, bei denen gesondert angegeben werden muss, dass gerade sie sich nach bestimmten tarifvertraglichen Bestimmungen richten sollen?

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Was den Umfang der nachzuweisenden TVe angeht, so geht der nationale Gesetzgeber davon aus, mit dem „in allgemeiner Form gehaltenen Hinweis“ deutlich gemacht zu haben, dass es einer detaillierten Auflistung aller auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren TVe nicht bedürfe1. Damit wird allerdings der Vorgabe von Art. 2 Abs. 2j i RL 91/533/EWG2 wohl nicht genügt3. Eine Korrektur durch den Europäischen Gerichtshof droht. Deshalb wird zu Recht empfohlen, dem Arbeitnehmer eine Liste aller maßgebenden TVe auszuhändigen4, auch wenn nicht zu übersehen ist, dass – etwa in einigen Großunternehmen wie der Deutschen Post, der Deutschen Telekom oder Deutschen Lufthansa – eine namentliche Aufzählung aller anwendbaren TVe eher zur Verwirrung füh1 BT-Drucks. 13/668 S. 10 f. 2 „Angabe der Tarifverträge und/oder der kollektiven Vereinbarungen, in denen die Arbeitsbedingungen des Arbeitnehmers geregelt sind, …“ 3 Lörcher, AuR 1994, 450 (454); tendenziell auch ErfK/Preis, § 2 NachwG Rz. 23. 4 HWK/Kliemt, § 2 NachwG Rz. 40; Wank (RdA 1996, 21 [23]) verneint eine dahin gehende Pflicht.

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ren als die Transparenz des anzuwendenden Tarifrechts fördern dürfte. Die Annahme, es genüge für den Nachweis nach § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 10 NachwG, wenn sich im – dafür dem Grunde nach ausreichenden (§ 2 Abs. 4 NachwG) – Arbeitsvertrag die Klausel finde „Im Übrigen finden auf das Arbeitsverhältnis die einschlägigen Tarifverträge Anwendung“1, dürfte allerdings schon im Widerspruch zum nationalen Recht auch ohne europarechtskonforme erweiternde Auslegung stehen. Eine derartige, vielfach als Tarifwechselklausel bewertete Angabe genügt dem Nachweisgesetz nur, wenn sie z.B. um den Halbsatz ergänzt wird „das sind derzeit die Tarifverträge für die Metallindustrie in Nordrhein-Westfalen“. Besteht in der Branche oder im einzelnen Unternehmen tarifrechtlich eine Pluralitätssituation, müssen für eine ausreichende Kennzeichnung zusätzlich die TV-Parteien angegeben werden, es sei denn, bereits aus der Geltungsbereichsangabe wird deutlich, welche TVe gemeint und welche nicht gemeint sind (z.B. TVe für Ärzte oder Lokführer). Eine Differenzierung der Nachweispflicht nach dem Geltungsgrund der TVe lehnt die Rechtsprechung zu Recht ab. Jeder TV, der im Betrieb aus welchem Rechtsgrund auch immer angewendet wird, sei es aufgrund TV-Rechts, sei es aufgrund einzelvertraglicher Vereinbarung, sei es aufgrund betrieblicher Übung, ist nachzuwiesen. Dass darin eine Privilegierung der Arbeitgeber und eine Einschränkung der Nachweispflicht liegen, wird allerdings deutlich, wenn man die weitere Annahme des Bundesarbeitsgerichts hinzunimmt, dass mit dem Nachweis eines anzuwendenden TVes auch alle sonst im TV aufgeführten wesentlichen Arbeitsbedingungen nachgewiesen seien mit Ausnahme der in § 2 Abs. 3 NachwG speziell aufgeführten. Dort bedürfe es eines bestimmten, auf die betreffende Vertragsbedingung bezogenen Hinweises auf die Maßgeblichkeit des konkret zu benennenden Tarifrechts2. Demgegenüber vertritt insbesondere Ulrich Preis, der eine Nachweispflicht für nicht auf tarifrechtlicher Grundlage geltende TVe ablehnt, die praktisch entgegengesetzte Auffassung3: Alle in § 2 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 9 NachwG genannten und die sonstigen wesentlichen Vertragsbedingungen, die nach § 2 Abs. 1 Satz 1 NachwG nachzuweisen seien, bedürften eines schriftlichen Nachweises, gleichgültig, ob sie aufgrund TVes oder kraft einzelvertraglicher Vereinbarung gelten. Der Nachweis nach § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 10 NachwG hat damit nur Bedeutung für nicht wesentliche Vertragsbedingungen. § 2 Abs. 3 NachwG ergebe nur bei einem solchen Normverständnis einen Sinn. Die Bestimmung eröffne als Ausnahmeregelung für die dort genannten Regelungsthemen die Möglichkeit, durch die – im Zweifel dynamische – Verweisung auf das insoweit einschlägige Tarifrecht den konkreten und damit notwendig statischen Nachweis zu ersetzen4.

1 So offenbar ErfK/Preis, § 2 NachwG Rz. 23. 2 BAG v. 23.1.2002 – 4 AZR 56/01, NZA 2002, 800; BAG v. 17.4.2002 – 5 AZR 89/01, NZA 2002, 1096; BAG v. 29.5.2002 – 5 AZR 105/01, NZA 2002, 1360; ebenso AnwKArbR/Nuria Schaub, § 2 NachwG Rz. 40; HWK/Kliemt, § 2 NachwG Rz. 40 ff. 3 ErfK/Preis, § 2 NachwG Rz. 22 ff. 4 Dagegen unter Verteidigung der Rechtsprechung HWK/Kliemt, § 2 NachwG Rz. 41 ff.

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Teil 3 Rz. 125 Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen 125

Angesichts des Diskussionsstandes ist es auch hier nachvollziehbar, wenn empfohlen wird, in den Nachweis neben der Angabe der maßgebenden TVe auch die Angabe aller wesentlichen Vertragsbedingungen aufzunehmen, aus welchem Rechtsgrund auch immer sie im Arbeitsverhältnis gelten sollen1.

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Die nach alledem nur eingeschränkt durch das Nachweisgesetz geförderte Transparenz des Tarifrechts für die ihm unterworfenen Arbeitnehmer wird weiter durch § 3 Satz 2 NachwG abgeschwächt, wonach alle Änderungen wesentlicher Vertragsbedingungen, die auf TV beruhen, nicht in einem „Nachtragsnachweis“ ergänzend nachgewiesen werden müssen2. Andererseits können aber aufgrund der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgericht zumindest soweit, wie die Nachweispflichten reichen, diese auch praktische Wirksamkeit erlangen: Wird die Geltung eines TVes nicht nachgewiesen, liegt hierin eine Vertragsverletzung, die nach § 280 BGB zu einem Schadensersatzanspruch führt. Ist der Arbeitnehmer unter Verstoß gegen das Nachweisgesetz nicht auf die Anwendbarkeit eines TVes hingewiesen worden, in dem sich eine Ausschlussfristregelung befindet, und hat er die dortige Frist zur Geltendmachung seines Anspruchs versäumt, kann er einen Anspruch haben, so gestellt zu werden, als wäre der Anspruch nicht erloschen. Es wird zu seinen Gunsten – widerleglich – vermutet, dass er die tarifliche Ausschlussfrist gewahrt hätte, wenn er auf die Geltung des betreffenden TVes hingewiesen worden wäre3.

V. Keine Transparenz durch § 305 Abs. 2 BGB 127

Nur ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass insbesondere für diejenigen, bei denen TVe nur kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahme gelten und auch der Arbeitgeber nicht tarifgebunden ist, sodass zu ihren Gunsten nicht einmal § 8 TVG gilt, auch die nach seinem Sinn und Zweck an sich passende und den dominierenden Vertragsteil treffende Offenlegungsvorschrift des § 305 Abs. 2 BGB keine Hilfe gibt, das anwendbare Tarifrecht im Betrieb zur Kenntnis nehmen zu können. Der Gesetzgeber hat die Anwendbarkeit dieser für jeden Verbraucher geltenden Bestimmung für den Bereich des Arbeitsrechts aus welchen Gründen auch immer insgesamt ausgeschlossen (§ 310 Abs. 4 Satz 2 Halbs. 2)4.

1 AnwK-ArbR/Nuria Schaub, § 2 NachwG Rz. 42. 2 Eine Bestimmung, die gegen die umfassende konkrete Nachweispflicht von durch TV geregelten wesentlichen Vertragsbedingungen spricht, weil ein derartiger Nachweis wegen der hier nicht erforderlichen Berichtigungspflicht mit Zeitablauf eher täuscht als klärt. 3 BAG v. 17.4.2002 – 5 AZR 89/01, NZA 2002, 1096; es erscheint auch angesichts dieser Rechtsprechung schwer begründbar, an einen Verstoß gegen die mit dem Nachweisgesetz inhaltlich verbundene Auslegungspflicht nach § 8 TVG keine Rechtsfolgen im Arbeitsverhältnis zu knüpfen. 4 Kritisch hierzu Bepler, FS Düwell, S. 307 (321).

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Inhaltsermittlung von Tarifverträgen

Rz. 130 Teil 3

E. Inhaltsermittlung von Tarifverträgen TVe sind ungewöhnliche Rechtsquellen: Sie entstehen als Vertrag, durch den wechselseitigen Zugang übereinstimmender Willenserklärungen der Verhandlungspartner; und sie sind, zumindest was den größten Teil des Geregelten angeht, als für den täglichen Austausch von Leistung und Gegenleistung maßgebende Norm in den auf Dauer angelegten Arbeitsverhältnissen von Dritten anzuwenden, die im gesetzlichen Regelfall des § 4 Abs. 1 TVG zwar mit den TV-Parteien mitgliedschaftlich verbunden sind, am Tarifabschluss selbst aber nicht beteiligt waren. Diese Besonderheit legt von vornherein die Frage nahe, nach welchen Rechtsregeln sich die Ermittlung des TV-Inhalts richtet. Sind die Regeln der Vertragsauslegung mit ihren besonderen auf das Wissen und Verständnis der vertragschließenden Personen abstellenden Bestimmungen oder die der objektiven Gesetzesauslegung maßgebend? Gilt in jedem Falle – im Grundsatz: nur – das von den Regelungsurhebern wirklich und übereinstimmend Gewollte, auch wenn es nicht, ganz unzureichend oder anders im schriftlich Niedergelegten zum Ausdruck gekommen ist, oder kommt es auf die objektivierte Sicht der den tarifvertraglichen Regelungen Unterworfenen an?

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I. Die Auslegung des normativen Teils 1. Grundsätze Als Methode zur Bestimmung des Inhalts der Tarifregelungen, die den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen ordnen, hat sich das Bundesarbeitsgericht schon früh und zu Recht für die grundsätzliche Maßgeblichkeit der Regeln der objektiven Gesetzesauslegung entschieden und einen „Urteilsbaustein“ entwickelt und im Laufe der vergangenen Jahre immer wieder ergänzt, der zunächst mehr oder weniger wörtlich in vielen älteren Urteilen wiederholt wurde, bis man sich heute häufig nur noch mit Verweisungen auf eine solche Passage aus einem oder mehreren älteren Urteilen begnügt:

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„Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages folgt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Wortlaut. Zu erforschen ist der maßgebende Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften. Dabei sind der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und damit der von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm mit zu berücksichtigen, soweit sie in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben. Auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ist abzustellen. Verbleiben noch Zweifel, können weitere Kriterien wie Tarifgeschichte, praktische Tarifübung und Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrages ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge berücksichtigt werden. Im Zweifel ist die Tarifauslegung

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Teil 3 Rz. 131 Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen zu wählen, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Lösung führt.“1 131

Große Teile der Literatur stehen dem Ansatz der Rechtsprechung, die den maßgebenden Willen der TV-Parteien jedenfalls im Grundsatz aus objektiven Gegebenheiten erschließt, kritisch gegenüber2. Es wird gefordert, stärker auf den nach Art. 9 Abs. 3 GG als maßgeblich anzusehenden tatsächlichen Willen der TV-Parteien abzustellen. Dabei wird insbesondere auf das neuere Verständnis vom TV als Ergebnis kollektiv ausgeübter Privatautonomie verwiesen und der Rechtsprechung vorgehalten, es entscheide auf der Grundlage ihres methodischen Ansatzes entgegen der grundgesetzlichen Vorgabe über den maßgebenden Inhalt des TVes nicht der Wille der TV-Parteien, sondern die Interpretation der Gerichte. Darüber hinaus wird bisweilen geltend gemacht, die Umstände bei der Entstehung des TVes führten gelegentlich zu begrifflichen Unklarheiten und Formelkompromissen. Diese müssten durch eine Auslegungsmethode überwunden werden, die weniger an den bloßen Wortlaut als an den tatsächlichen Willen der TV-Parteien anknüpfe.

132

Die Einwände überzeugen weder im Grundsatz noch im Rechtstatsächlichen: Dass TVe das Ergebnis kollektiv ausgeübter Privatautonomie sind, erklärt ihre Entstehung und begründet ihre Legitimität. Für die richtige Anwendung der zustande gekommenen TVe gibt diese Herleitung wenig her. In der Sache geht es darum, dass die TV-Parteien die grundgesetzlich geschützte Freiheit haben, autonom und mit Hilfe ihrer überlegenen Sachkunde das Arbeitsleben in der ihnen angemessen erscheinenden Weise zu regeln. Auf ihren Regelungswillen kommt es deshalb im Grundsatz in gleicher Weise an, wie hinsichtlich der staatlichen Gesetze auf den des demokratisch legitimierten Gesetzgebers.

133

TVe müssen indes ihrer Regelungsaufgabe täglich in einer kaum überschaubaren Vielzahl von Fällen, nicht selten im Vorhinein Verhalten steuernd, erfüllen. Sie sollen als schriftlich niedergelegter Ausgleich der strukturell widerstreitenden Interessen zugleich die Entstehung von Konflikten im Arbeitsleben für die Dauer ihrer Geltung verhindern. Zur Erfüllung dieser Aufgaben kann es vom Grundsatz her nur darum gehen, dass die den Rechtsnormen Unterworfenen aus dem Produkt kollektiv ausgeübter Privatautonomie, dem TV selbst, erkennen können und müssen, was sie tun und was sie unterlassen sollen, was ihnen zusteht und worauf sie keinen Rechtsanspruch haben. Der Hinweis auf die Möglichkeit, bei ihren Verbänden um Auskunft nachzusuchen3, greift zu spät, weil er typischerweise erst nach Entstehung eines Konflikts Hilfe verspricht. Er führt letztlich auch nicht zu seinem Ziel, den Tarifinhalt, also den 1 Etwa BAG v. 21.7.1993 – 4 AZR 468/92, NZA 1994, 181; BAG v. 7.7.2004 – 4 AZR 433/03, AP § 1 TVe: Verkehrsgewerbe Nr. 10; BAG v. 19.9.2007 – 4 AZR 670/06, NZA 2008, 950, jeweils m.w.N. 2 Däubler/Däubler, TVG Einleitung Rz. 499 ff.; Krause in Jacobs/Krause/Oetker, § 4 Rz. 175; HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 77 ff.; Wiedemann/Wank, § 1 TVG Rz. 991 ff.; Kempen/Zachert/Zachert, TVG, Grundlagen, Rz. 374 ff.; dagegen im Grundsatz zustimmend, wenn auch in vielen Einzelergebnissen kritisch Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1459 ff.; alle m.z.w.N. 3 So Zöllner, RdA 1964, 443 (449).

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Rz. 136 Teil 3

übereinstimmenden Willen der TV-Parteien, zu erfahren, weil regelmäßig nur der eigene Verband um Information gebeten werden und auch nur zur Auskunft bereit sein wird1. Die Verständnismöglichkeit der Normunterworfenen müssen auch die Gerichte zu Grunde legen. Es ist ausgeschlossen und wäre für die Akzeptanz von Tarifnormen in höchstem Maße gefährlich, würden die Gerichte für Arbeitssachen bei der Inhaltsermittlung von TVen auf subjektive Erkenntnisquellen zurückgreifen, die dem Tarifunterworfenen im Normalfall verschlossen sind oder auf die er zumindest typischerweise nicht zurückgreift. Wenn sich der Normunterworfene nicht auf das verlassen kann, „was da steht“, weil er wenig später durch ein Gericht erfährt, dass die TV-Parteien es ganz anders gemeint haben, wird er im täglichen Arbeitsleben jede den eigenen Interessen zuwiderlaufende Tarifnormanwendung verweigern, solange er hierzu nicht durch ein Gericht gezwungen wird.

134

Dem kann nicht entgegengehalten werden, auch die Ergebnisse der vom Grundansatz her objektiv anknüpfenden Auslegung durch die Rechtsprechung seien für den normalen Tarifunterworfenen vielfach nicht vorhersehbar2. Dies mag darauf hindeuten, dass gelegentlich und im Einzelfall zu konstruiert und lebensfremd „objektive“ Gesichtspunkte gesucht und mit ihrer Hilfe nicht plausible Auslegungsergebnisse ermittelt worden sind. Man wählt jedoch einen Weg in die falsche Richtung, wenn man hierauf mit der Forderung reagiert, stärker auf einen schriftlich nicht zum Ausdruck gekommenen Willen der TVParteien zu reagieren.

135

Soweit auf Unzulänglichkeiten der TV-Verhandlungen verwiesen wird, die gelegentlich zu unzureichenden Verhandlungsergebnissen führen sollen, die den wirklichen Willen der TV-Parteien nicht präzise zum Ausdruck bringen, spricht dies nicht gegen, sondern für eine objektiv anknüpfende Auslegungsmethode in der abgeschwächten Form der als „Andeutungstheorie“ bezeichneten Auslegungsmethode der Gerichte für Arbeitssachen. Die gerichtliche Erfahrung nicht nur mit den in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle erfolglos eingeholten Tarifauskünften zeigt, dass unvollkommene Verhandlungsergebnisse weniger durch schwierige Verhandlungsumstände als vielmehr dadurch verursacht werden, dass sich die an den Verhandlungen Beteiligten nicht hinreichend und schon gar nicht übereinstimmend klargemacht haben, was sie schriftlich niedergelegt geregelt haben. Es ist auch nicht selten, dass sie etwas – offen gelegt oder auch nicht – so gefasst haben, dass aus ihrer jeweiligen Sicht die Chance bestand, dass die Rechtsprechung schon das für sie und ihre Mitglieder Günstige „daraus machen wird“.

136

1 Lässt man hier einmal außer Betracht, dass dieser Weg in einem Arbeitsverhältnis von vornherein ohnehin nicht eröffnet ist, in dem beide Arbeitsvertragsparteien nicht tarifgebunden sind, sondern sich – anerkannt und gewünscht durch den Gesetzgeber, der die TVe als umfassende Leitlinie des Arbeitslebens will – vertraglich den einschlägigen TVen unterworfen haben. 2 Däubler/Däubler, TVG, Einleitung Rz. 500.

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Teil 3 Rz. 137 Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen 137

Die Forderung nach einer Auslegungsmethode, die noch stärker als nach der Formel des Bundesarbeitsgericht geboten unabhängig vom schriftlich Niedergelegten auf den tatsächlichen Willen der TV-Parteien abstellt, übersieht im Grundsatz, dass TVe Ergebnis eines kämpferischen Ringens um einen Ausgleich strukturell gegenläufiger Interessen sind. Unter diesen Bedingungen ist das schriftlich Niedergelegte jedenfalls in den seltenen Fällen, in denen sich dessen Inhalt nicht auf den ersten Blick erschließt, oft ein Formelkompromiss oder auch ein um eines baldigen Abschlusses der Verhandlungen willen gefundener erster Regelungsversuch.

138

Ausgehend von dem dargestellten Regelungsziel und der grundgesetzlich vorgegebenen Aufgabe, den tatsächlichen Willen der TV-Parteien entscheiden zu lassen und nicht ein Angemessenheitsverständnis der Gerichte für Arbeitssachen, muss die Regelung der Arbeitsbedingungen durch die TV-Parteien letztlich in einem Dialog zwischen ihnen und den Tarifanwendern, auch den Gerichten, optimiert werden. Die Rechtsanwender müssen den aus dem Willen der TV-Parteien erwachsenen Inhalt der Tarifnormen so, wie sie ihn nach der eingangs wiedergegebenen anwendungsorientierten Methode der schriftlichen Niederlegung entnehmen können, ermitteln, anwenden und bekannt machen. Wird damit der übereinstimmende tatsächliche Regelungswille der TVParteien verfehlt, haben diese jederzeit die rechtliche Möglichkeit, durch eine dies klärende Festlegung in der Form des § 1 Abs. 2 TVG das tatsächlich Gewollte in das Arbeitsleben mit Wirkung für die Zukunft zwingend und für die Gerichte verbindlich einzuführen. Dass dies relativ selten geschieht, zeigt, dass die Gerichte das von den TV-Parteien übereinstimmend Gewollte in Anwendung der „Andeutungstheorie“ in aller Regel nicht verfehlen. Sicherlich werden gelegentlich Auslegungsergebnisse gefunden, an die die TV-Parteien nicht gedacht haben. Dies liegt aber in der Natur jeder Normsetzung, die nicht alle letztlich von der Norm zu beherrschenden Fallkonstellationen vorhersehen kann.

139

Der Einwand gegen eine Optimierung von TVen durch Dialog, derjenige, der durch eine gerichtliche Interpretation zu seiner eigenen Überraschung „beschenkt“ worden sei, werde das so Erreichte nicht mehr aufgeben, mag in der Theorie etwas für sich haben. In der Praxis wird ein solches Festhalten zwischen langjährig und immer wieder sich in Verhandlungen treffenden TV-Parteien aber nur dort stattfinden, wo ursprünglich ein übereinstimmender Regelungswille tatsächlich nicht gefunden worden war. In einem solchen Fall führt aber auch eine andere, stärker subjektiv orientierte Auslegungsmethode nicht zu mehr effektiver Tarifautonomie.

2. Ergänzende und konkretisierende Auslegungsregeln 140

Praktisch alle der Rechtsprechungsformel gegenüber kritischen Literaturstimmen gehen davon aus, dass es kaum je allein aufgrund der Methodenwahl zu unterschiedlichen Auslegungsergebnissen kommt. Insbesondere will soweit ersichtlich niemand vor dem Hintergrund der Regelungsaufgabe der TV-Parteien im TV-Recht die falsa-demonstratio-Regel oder die Bestimmungen über den Dissens angewendet wissen. 202

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Inhaltsermittlung von Tarifverträgen

Rz. 143 Teil 3

Angesichts dessen werden im Folgenden nur ergänzend zu der für die tägliche Handhabung grundsätzlich ausreichenden Formel des Bundesarbeitsgerichts für die Auslegung von Tarifnormen einige weitere Auslegungsregeln aus der jüngeren Rechtsprechung und zusätzlich auftretende Fragen behandelt (zu den prozessualen Besonderheiten bei der Durchsetzung tariflicher Ansprüche und zu dem besonderen Verfahren bei einem Streit der TV-Parteien über Bestand und Inhalt von TVen siehe unten Teil 16). Dabei ist zunächst festzuhalten, dass gerade in jüngerer Zeit eine stärker an der Regelungsaufgabe der TV-Parteien ausgerichtete Auslegung, die die Tarifunterworfenen in den Blick nimmt, Platz zu greifen scheint. In diese Richtung deutet jedenfalls die Aussage, bei der Auslegung eines TVes sei davon auszugehen, dass die TV-Parteien es den Tarifunterworfenen ermöglichen wollten, grundsätzlich auch ohne Rückfrage bei ihren Koalitionen den Inhalt der ihre Arbeitsverhältnisse bestimmenden Tarifnormen dem TV entnehmen zu können1. In dieselbe Richtung geht auch eine Auslegungsregel, wonach dann, wenn bei der Auslegung einer tarifvertraglichen Regelung alle nach den anerkannten Auslegungsregeln heranzuziehenden Gesichtspunkte zu keinem eindeutigen Ergebnis führen, letztlich der Auslegung der Vorzug zu geben ist, die bei einem unbefangenen Durchlesen der Regelung als näher liegend erscheint und folglich von den Normadressaten typischerweise als maßgeblich empfunden wird2.

141

Mit dieser anwendungsorientierten Auslegung korrespondiert es, wenn die Rechtsprechung betont, dass auf die Entstehungsgeschichte des TVes erst zurückgegriffen werden kann, wenn nach einer Tarifauslegung nach Wortlaut, Wortsinn und tariflichem Gesamtzusammenhang Zweifel am wirklichen im TV zumindest andeutungsweise zum Ausdruck gekommenen Willen der TVParteien bleiben; der Entstehungsgeschichte ist dann mit dem Ziel, die vorhandenen Zweifel auszuräumen, nachzugehen, wenn eine Partei insoweit Tatsachen vorträgt, die hierzu geeignet sind; im Falle eines Bestreiten der Gegenseite ist hierüber Beweis zu erheben3.

142

Zu diesem Verständnis von der gerichtlichen Aufgabenstellung bei der Ermittlung des Regelungsinhalts von Tarifnormen passt die zuletzt von Malte Creutzfeldt4 zutreffend geäußerte Kritik an der Praxis mancher Instanzgerichte, Auskünfte der TV-Parteien über den von diesen angezielten Tarifinhalt einzuholen. Ein solches gerichtliches Verhalten ist nur dann unbedenklich zulässig, wenn es darum geht, ob TVe (noch) gelten und welchen Wortlaut das gemeinsam Vereinbarte hat. Sehr zweifelhaft ist demgegenüber, ob auf diesem Weg Hilfe bei der Rechtsanwendung, der Auslegung tarifvertraglicher Normen, gesucht werden darf. Dies ist allenfalls dann nach entsprechendem Parteivortrag statthaft, wenn auch unter Heranziehung aller dargelegten Auslegungsregeln Zweifel bleiben, welchem von mehreren hiernach an sich möglichen Auslegungsergebnissen der Vorrang gebührt.

143

1 2 3 4

BAG v. 19.9.2007 – 4 AZR 670/06, NZA 2008, 950. BAG v. 22.4.2010 – 6 AZR 962/08, NZA 2011, 1293. BAG v. 24.2.2010 – 10 AZR 1035/08, ZTR 2010, 361. Creutzfeldt, FS Düwell, 2011, S. 286 (293 ff.).

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Teil 3 Rz. 144 Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen 144

In dieselbe Richtung geht auch die Regel, dass Rechtsbegriffe, die von den TVParteien verwendet werden, im Zweifel im allgemein anerkannten fachlichen Sinn zu verstehen sind1. Dies ändert natürlich nichts daran, dass hier wie überhaupt bei der Wortlautauslegung ein vom herkömmlichen oder allgemein anerkannten Begriffsinhalt abweichendes Normverständnis der TV-Parteien maßgebend ist, wenn es im TV im Übrigen oder in einer ergänzenden Festlegung (Protokollnotiz; nachträglicher verdeutlichender gemeinsamer Hinweis der TV-Parteien o. ä.) in der Form des § 1 Abs. 2 TVG hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht worden ist2.

145

Mit der grundsätzlichen Maßgeblichkeit des Willens der TV-Parteien ist es auch zu begründen, wenn die Rechtsprechung davon ausgeht, eine tarifvertragliche Verweisung auf einen anderen TV, an dessen Zustandekommen (auch) andere TV-Parteien beteiligt waren und sind, sei im Zweifel eng auszulegen3. Denn mit dieser Regelungstechnik wird die eigene autonome Rechtsetzung teilweise zurückgenommen, was im Zweifel eher nicht gewollt ist.

146

Fraglich ist, inwieweit die Praxis der Tarifanwendung durch die Mitglieder der TV-Parteien Auslegungshilfe dafür sein kann, wie Tarifnormen von den TVParteien verstanden worden sind4; zumindest wird man nur eine von den TVParteien selbst gebilligte Tarifpraxis der Normanwender berücksichtigen können und dies auch nur dann, wenn es auf sie auch im Tarifwortlaut einen ausreichenden Hinweis gibt5. Bei Zweifeln über den Inhalt von branchenbezogenen Fachbegriffen wird aber auch die Tarifpraxis der Normunterworfenen allein Hinweise auf das zutreffende Begriffsverständnis geben können.

147

In der Folgezeit nicht mehr aufgegriffen wurden zwei Entscheidungen des 3. Senats des Bundesarbeitsgerichts, wonach bei einem HausTV aus der Tarifpraxis des Arbeitgebers, die ihn belastete und die Arbeitnehmer begünstigte, ein entsprechender Regelungswille entnommen wurde, der auch dann zu berücksichtigen sei, wenn er im TV nur unzureichend zum Ausdruck gekommen ist6. Es ist zwar denkbar, in einem solchen, sich selbst belastenden Verhalten des Arbeitgebers eine Art authentische Interpretation des Inhalts des unter seiner Mitwirkung zustande gekommenen TVes zu sehen. Es ist aber fraglich, ob daraus auf den für die Normwirkung allein maßgeblichen übereinstimmenden Willen der TV-Parteien geschlossen werden kann. In solchen Fällen spricht

1 BAG v. 14.12.2004 – 9 AZR 33/04, NZA 2005, 1319; BAG v. 13.11.2011 – 8 AZR 514/10, DB 2012, 1104. 2 BAG v. 17.9.2003 – 4 AZR 540/02, DB 2004, 769. 3 BAG v. 16.6.2010 – 4 AZR 944/08, NZA 2011, 480. 4 Vgl. BAG v. 7.6.2006 – 4 AZR 272/05, ZTR 2007, 187; BAG v. 27.8.2008 – 4 AZR 485/07, AP TVG § 1 Auslegung Nr. 212, wo jeweils eine derartige Hilfsfunktion nur für die Auslegung schuldrechtlicher Vereinbarungen der TV-Parteien anerkannt, im Übrigen aber unentschieden gelassen wird. 5 BAG v. 25.11.1987 – 4 AZR 403/87, ZTR 1998, 142; für eine weitergehende Berücksichtigung im Rahmen der Entstehungsgeschichte Kempen/Zachert/Zachert, TVG, Grundlagen, Rz. 385; auch Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1490 f. 6 BAG v. 22.1.2002 – 3 AZR 554/00, NZA 2002, 1224; BAG v. 30.7.2002 – 3 AZR 471/01, AP TVG § 1 Auslegung Nr. 180.

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Inhaltsermittlung von Tarifverträgen

Rz. 148 Teil 3

mehr dafür zu prüfen, ob eine normüberschreitende betriebliche Übung vorliegt, statt grundsätzlich von den Regeln der Tarifauslegung abzuweichen. Nicht in allen Einzelheiten abschließend geklärt ist das Regel/Ausnahme-Verhältnis, wenn es darum geht, wie die tarifvertragliche Verweisung auf ein Gesetz oder eine mehr oder weniger wörtliche Gesetzeswiederholung auszulegen ist. Wird auf Gesetzesrecht verwiesen, das zwar nicht auf das geregelte Arbeitsverhältnis anwendbar ist, aber mit ihm in einem engen sachlichen Zusammenhang steht, wird dieses Gesetzesrecht, angepasst an das geregelte Rechtsverhältnis, Inhalt des TVes1, wobei dieses im Zweifel dynamisch, in seiner jeweiligen Fassung, als Tarifrecht anzuwenden ist2. Wird auf Gesetzesrecht verwiesen, das ohnehin auf das geregelte Rechtsverhältnis anzuwenden ist, ohne es inhaltlich zu wiederholen oder zu ergänzen, wird in aller Regel nur eine klarstellende Information der Tarifunterworfenen, kein eigenes zwingendes Tarifrecht gewollt sein. Umgekehrt bringen TV-Parteien, die einschlägiges Gesetzesrecht im TV inhaltlich wiederholen und es in Einzelheiten modifizieren oder ergänzen, zum Ausdruck, dass sie das übernommene Gesetzesrecht mit ihren Ergänzungen und Veränderungen als eigenes Recht wollen. Umstritten ist, wie im Normalfall eine wörtliche oder zumindest inhaltliche Wiederholung eines von vornherein einschlägigen Gesetzestextes in einem TV ohne weitere Bestimmungen zu verstehen ist. Die Rechtsprechung geht davon aus, regelmäßig handele es nur um einen der Erläuterung dienenden, deklaratorischen Teil des TVes; die TV-Parteien können zwar insoweit auch eine eigenständige, „konstitutive“, Regelung treffen; dies setzt jedoch voraus, dass ein dahin gehender Regelungswille im TV einen ausreichenden Niederschlag gefunden hat3. Demgegenüber wird aber mit guten Gründen vertreten, dass eine Aufnahme von Gesetzestext in einen TV an sich überflüssig ist, wenn die TVParteien nicht deren Geltung als Tarifrecht wollen, was sie deshalb zum Ausdruck bringen müssten, ansonsten sei eine Gesetzeswiederholung im TV konstitutiv4. Die praktische Bedeutung dieses Meinungsstreits zeigt sich besonders in zwei Punkten: Zum einen wird die Auslegung eines Gesetzes als Teil eines TV regelmäßig ergeben, dass es sich hier auch dann um zwingendes Tarifrecht handeln soll, wenn das übernommene Gesetzesrecht zur Disposition der Arbeitsvertragsparteien steht. Zum anderen führt eine Änderung der betreffenden gesetzlichen Regelung zum Nachteil der Arbeitnehmer5 nur dann auch zur Veränderung der Rechtslage für die tarifunterworfenen Arbeitnehmer, wenn es nur deklaratorisch in den TV-Text aufgenommen worden ist. 1 BAG v. 18.3.2010 – 6 AZR 434/07, NZA-RR 2010, 664. 2 A.A. Däubler/Däubler, TVG Einleitung Rz. 534, der eine statische Inbezugnahme für typischerweise gewollt hält. 3 BAG v. 16.6.1998 – 5 AZR 688/97, NZA 1998, 1062; BAG v. 12.4.2000 – 5 AZR 228/98, NZA 2001, 1028; BAG v. 22.4.2010 – 10 AZR 308/09, AP TVG § 1 TVe: Metallindustrie Nr. 212; zustimmend Thüsing/Braun/Wißmann, 4. Kap. Rz. 160; Kamanabrou, RdA 1997, 22 (27). 4 Däubler/Däubler, TVG, Einleitung Rz. 534; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1504; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 203, Rz. 17; Preis, FS Schaub, 1998, S. 592; Rieble, RdA 1997, 134; Wedde, AuR 1996, 421. 5 Wird sie zu deren Vorteil verändert, tritt der ungünstigere TV im Zweifel demgegenüber zurück.

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Teil 3 Rz. 149 Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen 149

Hinsichtlich des Verhältnisses von Tarifrecht zu höherrangigem zwingendem nationalem Recht. Geht die Rechtsprechung schließlich grundsätzlich davon aus, dass die TV-Parteien wirksames, also gesetzeskonformes Recht wollen und legt tarifliche Regelungen im Zweifel in diese Richtung aus, wenn dies nach den grundlegenden Auslegungsregeln möglich ist1. Dies gilt in aller Regel auch für das Verhältnis von Tarifrecht zu Richterrecht. Es steht den TV-Parteien aber frei, durch eine mit richterlichen Rechtssätzen zweifelsfrei im Widerspruch stehende Normsetzung die Voraussetzung für eine Überprüfung überkommenen, aber für unrichtig gehaltenen Richterrechts zu schaffen2. Nichts grundlegend anderes gilt auch für das Verhältnis von Tarifrecht zu einfach dispositivem oder tarifdispositivem Gesetzesrecht; es gibt keinen Anlass davon auszugehen, im Zweifel wollten TV-Parteien gesetzlich eingeräumte Dispositionsmöglichkeiten nutzen. Ein darauf gerichteter Wille muss im TV mit hinreichender Deutlichkeit zum Ausdruck kommen3. Eine Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung eines TVes gibt es demgegenüber grundsätzlich nicht; die TV-Parteien sind nicht deren Adressat. Anderes gilt nur dort, wo Richtlinien Arbeitnehmer unmittelbar berechtigen, also im Verhältnis zu einem öffentlichen Arbeitgeber. Unionskonforme Auslegung ist darüber hinaus dann geboten, wenn es sich um Unionsrecht handelt, welches sonst die Anwendung des Tarifrechts nicht ausschlösse4.

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Die nach den dargestellten Grundsätzen ermittelten Auslegungsergebnisse sind im Einzelfall mehr oder auch weniger „arbeitnehmerfreundlich“. Für einen Grundsatz, wonach bei verbleibenden Zweifeln am gewollten Tarifinhalt aufgrund des arbeitsrechtlichen Schutzprinzips das arbeitnehmerfreundlichere Auslegungsergebnis zu wählen sei5, gibt es indes keine rechtliche Grundlage. Das arbeitsrechtliche Schutzprinzip gilt unmittelbar im Individualarbeitsrecht. Es knüpft an die strukturelle Ungleichgewichtslage im einzelnen Arbeitsverhältnis an und nimmt von hier aus über §§ 305 ff., 310 Abs. 3 BGB eine Inhaltskontrolle der Arbeitsverträge oder eine Beschränkung der Arbeitsvertragsfreiheit durch zwingende gesetzliche Vorgaben vor. Auf die eine Korrektur durch das Recht gebietende strukturelle Ungleichgewichtslage reagiert das kollektive Arbeitsrecht aber anders, nicht inhaltlich, sondern dadurch, dass es Verfahren schafft oder vorgefundene Verfahren garantiert und ausgestaltet, in denen diese individuelle Ausgangsposition, die einen angemessenen Interessenausgleich oft verhindert, typischerweise nicht besteht. Ein in solchen Verfahren erwartbarer angemessener Interessenausgleich setzt allerdings voraus, dass sich nur Kollektive mit bestimmten Eigenschaften an den Verfahren beteiligen können6 und die teilnehmenden Akteure hierbei rechtlich abgesichert und mit Verfah1 Zuletzt BAG v. 17.2.2009 – 9 AZR 611/07, ZTR 2009, 435. 2 Z.B. die qualifizierte Differenzierungsklausel, die Gegenstand von BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920, war. 3 BAG v. 10.8.1967 – 5 AZR 81/67, DB 1967, 1462; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1502. 4 Näher Wißmann, FS Bepler, S. 659; weitergehend Kempen/Zachert/Kocher, TVG, Grundlagen Rz. 305 ff.; ähnlich wie hier Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1497 ff. 5 So Däubler/Däubler, TVG, Einleitung Rz. 520, m.z.w.N. auch zu der überwiegend vertretenen Gegenauffassung. 6 Dazu zuletzt BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 39.

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Inhaltsermittlung von Tarifverträgen

Rz. 153 Teil 3

rensrechten ausgestattet sind; entsprechend sind die Verfahren auszugestalten. Hiervon ausgehend wirkt sich das arbeitsrechtliche Schutzprinzip im kollektiven Arbeitsrecht nicht mehr dahin aus, dass es dort als Auslegungsregel für die Verfahrensergebnisse fortzuschreiben wäre. Als seine Konsequenz liegen Rechtsanwendungsgrundsätze wie „im Zweifel für die Betriebsverfassung“ oder „im Zweifel für ein funktionierendes Tarifvertragssystem“ nahe. Einen Anlass, die in den kollektiven Verfahren zustande gekommenen Übereinkünfte und Verträge zusätzlich noch im Zweifel zu Gunsten der Arbeitnehmer auszulegen, besteht von Rechts wegen nicht. In einem funktionierenden TVSystem ist die das Arbeitsleben prägende strukturelle Ungleichgewichtslage zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern bereits beim Tarifabschluss kompensiert.

3. Lückenschließung Die Maßgeblichkeit des nach Art. 9 Abs. 3 GG entscheidenden Willens der TV-Parteien für das von ihnen geschaffene Regelwerk wird dann besonders deutlich, wenn der Tariftext für eine bestimmte Frage oder Fallgestaltung auch nach Ausschöpfung aller Auslegungsmittel keine Regelung bereit hält, also insoweit aus der Sicht der Rechtsanwender lückenhaft ist.

151

Die Rechtsprechung unterscheidet hier zwischen einer planmäßigen und einer planwidrigen Tariflücke, ohne dass sich das in den meisten entschiedenen Fällen im Ergebnis ausgewirkt hätte: Liegt eine planmäßige Lücke vor, ergibt die Auslegung des TVes also, dass die TV-Parteien die betreffende Frage oder Fallkonstellation bewusst nicht geregelt haben, scheidet eine Lückenfüllung durch die Gerichte von vornherein aus. Die Gerichte für Arbeitssachen sind nicht befugt, die vorhandenen Regelungen entgegen dem Regelungswillen der TVParteien daraufhin zu überprüfen, ob es in Betracht kommt, sie entsprechend anzuwenden oder von ihnen aus weiterzudenken, um einem vom Gericht gesehenen Regelungsbedarf zu genügen1. Keine Frage der – ergänzenden – Vertragsauslegung, sondern ein Fall der Inhaltkontrolle von TVen anhand höherrangigen Rechts ist die im Einzelfall angezeigte Untersuchung, ob die in einer planmäßigen Lücke möglicherweise gegenüber einer bestimmten Personengruppe liegende Vorenthaltung von Rechten als diskriminierende Ungleichbehandlung zu bewerten und gegebenenfalls zu korrigieren ist.

152

Vom Ansatz her anders sieht es bei planwidrigen Regelungslücken in TVen aus, also dann, wenn die TV-Parteien einen Regelungsbedarf nicht gesehen, eine Regelungsmöglichkeit nicht erwogen haben. Hier kommt – gleichgültig ob es sich um eine anfängliche oder um eine nachträglich entstandene Regelungslücke handelt – an sich eine Fortschreibung des Regelungsplans der TVParteien in Betracht. Sie wird von der Rechtsprechung jedoch nur in seltenen Fällen vorgenommen. Mit Rücksicht auf die den TV-Parteien vorbehaltene

153

1 Z.B. BAG v. 16.6.2010 – 4 AZR 924/08, ZTR 2010, 642; BAG v. 11.11.2010 – 8 AZR 392/09, NZA 2011, 763; Däubler/Däubler, TVG, Einleitung, Rz. 522; Krause in Jacobs/ Krause/Oetker, § 4 Rz. 198; Kempen/Zachert/Zachert, TVG, Grundlagen Rz. 402; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1519; Wiedemann/Wank, § 1 TVG Rz. 1038; Schaub, NZA 1994, 597 (601).

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Teil 3 Rz. 154 Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen Aufgabe, das Arbeits- und Wirtschaftsleben nach den ihnen angemessen erscheinenden Vorgaben zu gestalten, kommt eine Lückenfüllung durch die Gerichte für Arbeitssachen durch eine bestimmte Ergänzung nur dann in Betracht, wenn nach dem tariflichen Gesamtzusammenhang und/oder zwingenden rechtlichen Vorgaben1 zweifelsfrei davon auszugehen ist, dass die TV-Parteien bei Kenntnis der Lücke insoweit überhaupt eine Regelung2 und dann auch genau diese getroffen hätten3. 154

Die tatsächliche Schwierigkeit festzustellen, ob eine bewusste oder unbewusste Regelungslücke vorliegt, wird in vielen Entscheidungen deutlich, in denen eine abschließende Bewertung mit der Begründung unterbleibt, selbst wenn eine unbewusste Regelungslücke vorliegen sollte, sei eine Schließung ohne Verstoß gegen die Tarifautonomie nicht möglich, weil ein hypothetischer Wille der TV-Parteien, die Lücke in einer bestimmten Weise zu schließen, nicht zu ermitteln sei.

II. Der Inhalt schuldrechtlicher Koalitionsvereinbarungen 155

Es steht vom Ausgangspunkt her außer Streit, dass der Inhalt der Regelungen, die nur Rechte und Pflichten von Koalitionen im Verhältnis zueinander festlegen, nach den Regeln über die Vertragsauslegung zu ermitteln ist. Gilt das Vereinbarte nur zwischen den am Vertragsabschluss Beteiligten, gibt es keinen Anlass für eine anwenderorientierten Auslegung. Auch die falsa-demonstratioRegel kann hier eine Rolle spielen4.

156

Anders soll es sich nach einer verbreiteten Meinung verhalten, wenn die unmittelbar nur zwischen den TV-Parteien geltenden Vereinbarungen sich auf die Rechte Dritter prägend auswirken, was insbesondere, aber nicht nur, bei Koalitionsverträgen zu Gunsten Dritter5 oder vergleichbar tarifvertragsersetzenden Regelungen der Fall sein soll. Zu denken sein könnte hier auch an herkömmlich zum schuldrechtlichen Teil eines TVes gezählten Bestimmungen zur Befristung oder zur Kündbarkeit von TVen. Für das richtige Verständnis 1 Ausgehend von dem Grundsatz, dass TV-Parteien im Zweifel rechtskonform regeln wollen. 2 Diese Voraussetzung betonen Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1522 f. und meinen, es bleibe stets die der Entscheidung der TV-Parteien vorbehaltene Alternative, keine Regelung zu treffen, weshalb eine Lückenschließung grundsätzlich ausscheide. Diese Position ist zu rigoros, weil sie zu Unrecht die Möglichkeit ausschließt, dass dem Geregelten der Wille der TV-Parteien bei Tarifabschluss entnommen werden kann, nach einem bestimmten Regelungsplan lückenlos zu regeln. Späteres Verhalten der TV-Parteien hat demgegenüber keine Aussagekraft. 3 BAG v. 11.11.2010 – 8 AZR 392/09, NZA 2011, 763; BAG v. 16.12.2010 – 6 AZR 423/09, DB 2011, 766; Krause in Jacobs/Krause/Oetker, § 4 Rz. 200; Kempen/Zachert/ Zachert, TVG, Grundlagen, Rz. 403; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 203 Rz. 18 ff.; Wiedemann/Wank, § 1 TVG Rz. 1040; HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 84 ff.; differenzierend Däubler/Däubler, TVG, Einleitung, Rz. 523 ff. 4 Wiedemann/Wank, § 1 TVG Rz. 984; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1529; Kempen/Zachert/Zachert, TVG Grundlagen Rz. 305; Däubler/Däubler, TVG Einleitung Rz. 536. 5 Hierzu BAG v. 5.11.1997 – 4 AZR 872/95, NZA 1998, 654 (658); ebenso HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 75.

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Inhaltsermittlung von Tarifverträgen

Rz. 159 Teil 3

von solchen schuldrechtlichen Regelungen mit engem Bezug zu Dritten könnte es geboten sein, auf die allgemeinen Regeln zur Auslegung des normativen Teils eines TVes zurückzugreifen1.

III. Zuordnung und Qualifikation durch Auslegung Vor der Aufgabe, den Inhalt eines TVes in seinem schuldrechtlichen und normativen Teil zu ermitteln, steht nicht selten die Aufgabe zu klären, welche Qualität eine bestimmte Regelung in einem „TV“ oder eine „Ergebnisniederschrift“, ein „Sozialvertrag“ oder eine sonstige nicht einschlägig überschriebene Koalitionsvereinbarung hat. Ähnlich verhält es sich mit der gelegentlich auftretenden Frage, ob ein mehrgliedriger TV ein aus mehreren selbständig zu behandelnden TVen zusammengesetztes Regelwerk oder ein EinheitsTV ist, dessen Rechte und Pflichten grundsätzlich nur gemeinsam ausgeübt werden können. Auch hier geht es nicht um den Inhalt von Tarifnormen, sondern um den Umfang des Bindungswillens der TV-Parteien.

157

Die überwiegende Zahl der Senate des Bundesarbeitsgerichts geht für die hier anstehenden Auslegungsfragen davon aus, es gehe um das Verhältnis der TVParteien zueinander. Es sei deshalb nach den uneingeschränkt anzuwendenden Regeln der Vertragsauslegung (§§ 133, 157 BGB) vorzugehen2.

158

Diese Auffassung ist nicht unangefochten. Sowohl in der Literatur als auch in Teilen der höchstrichterlichen Rechtsprechung gibt es die Auffassung, hier seien die Regeln zur Bestimmung des Inhalts von Tarifnormen heranzuziehen3. Ihr ist beizutreten. Ausgehend von dem hier vertretenen Standpunkt einer anwendungsorientierten Auslegung von Verträgen, die von TV-Parteien stammen, muss die Frage, ob eine von diesen herrührende schriftliche Übereinkunft oder ein Teil von ihr Normcharakter hat, also den Tarifunterworfenen unmittelbar Rechte gibt oder nimmt, oder ob dies nicht der Fall ist, weil es nur um die Rechtsbeziehungen der Vertragsparteien zueinander geht, aus der objektivierten Sicht der – möglicherweise – Tarifunterworfenen und deshalb Berechtigten und Verpflichteten beantwortet werden.

159

1 ErfK/Franzen, § 1 TVG Rz. 95; Däubler/Däubler, TVG, Einleitung Rz. 536; Thüsing/ Braun/Wißmann, 2. Kap. Rz. 168; a.A. Wiedemann/Wank, § 1 TVG Rz. 984; Löwisch/ Rieble, § 1 TVG Rz. 1530, die auch bei solchen Regelungen nachvollziehbar Vertragsrecht uneingeschränkt maßgeblich sein lassen; die mittelbar Betroffenen könnten hier nicht mehr oder andere Rechte erwerben, als sie der Hauptgläubiger für sie erworben habe. 2 Für die Klärung, ob es um eine nur schuldrechtlich wirkende Regelung oder eine Tarifnorm geht: BAG v. 14.4.2004 – 4 AZR 232/03, NZA 2005, 178; BAG v. 24.8.2011 – 4 AZR 717/10, DB 2012, 444; BAG v. 14.4.2008 – 9 AZR 159/07, NZA-RR 2008, 586; BAG v. 13.10.2011 – 8 AZR 514/10, DB 2012, 1104; BAG v. 8.12.2011 – 6 AZR 291/10; zustimmend HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 76; Krause in Jacobs/Krause/Oetker, § 4 Rz. 201; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 203 Rz. 2; für die Klärung, ob ein EinheitsTV und ein gebündeltes Tarifwerk vorliegt: BAG v. 29.6.2004 – 1 AZR 143/03, ZTR 2005, 141. 3 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1463; BAG v. 18.3.2008 – 1 ABR 81/06, NZA 2008, 832; BAG v. 8.12.2010 – 7 ABR 98/09, NZA 2011, 751.

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Teil 3 Rz. 160 Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen

F. Anfechtbarkeit und Nichtigkeit von Tarifverträgen I. Anfechtbarkeit 1. Mit Wirkung für den normativen Teil 160

Die Besonderheit des TVes als eines Normenvertrages, der auf die Rechtsverhältnisse der Tarifunterworfenen einwirkt und bei dem die Vorschriften über den Dissens (§§ 154, 155 BGB) deshalb unstreitig keine Anwendung finden, hat nach richtiger Auffassung auch zur Folge, dass TVe nicht wegen Irrtums, arglistiger Täuschung oder widerrechtlicher Drohung angefochten werden können1. Im Falle einer arglistigen Täuschung wird statt dessen eine außerordentliche Kündigung des so zustande gekommenen TVes in Betracht kommen. Geht man davon aus, dass ein mit einer solchen Begründung außerordentlich gekündigter TV nicht nachwirkt2, kommt die Gegenauffassung, die Willensmängel der TV-Parteien grundsätzlich3 oder zumindest in den Fällen des § 123 BGB4 für beachtlich hält, letztlich nicht zu einem anderen Ergebnis. Denn sie schließt aus dem Normcharakter eines TVes, dass eine rückwirkende Vertragsauflösung, wie sie § 142 BGB vorsieht, bei der Anfechtung von TVen ausscheidet5.

161

Wird nach einer Drohung mit einem rechtswidrigen Streik ein TV formgerecht abgeschlossen, kommt zwar eine darauf gestützte außerordentliche Kündigung oder – nach der Gegenauffassung – eine Anfechtung des TVes mit Wirkung für die Zukunft in Betracht6. Es wird hier aber stets im Einzelfall zu fragen sein, ob die Drohung ursächlich für den Tarifabschluss war. Dies ist bei einem derart effektiv ausgestalteten Rechtsbehelfssystem wie dem der Bundesrepublik Deutschland nicht selbstverständlich. Es müsste gegebenenfalls wohl plausibel gemacht werden, warum der von der Drohung mit einem rechtswidrigen Streik ausgehende Druck nicht mit Hilfe einstweiligen Rechtsschutzes aufgefangen werden konnte, sondern ihm ohne weiteres mit der Schaffung eines formwirksamen TVes nachgegeben wurde.

162

Die Besonderheit des normativ wirkenden TVes wirkt sich auch aus, prüft man die vielfach angesprochene Möglichkeit, dass eine Anfechtung eines mit Willensmängeln behafteten TVes ausgeschlossen sein kann, wenn dieser vom 1 Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 245; Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 147; Däubler/Reim/Nebe, § 1 TVG Rz. 179 f.; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 199 Rz. 8; offengelassen in BAG v. 19.10.1976 – 1 AZR 611/75, DB 1977, 405. 2 Anders aber z.B. Däubler/Reim/Nebe, § 1 TVG Rz. 180. 3 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1339 f.; HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 20; ErfK/Franzen, § 1 TVG Rz. 26. 4 So Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht Band I, S. 773. 5 Eine Ausnahme macht Gamillscheg (Kollektives Arbeitsrecht Band I, S. 513) für den Fall, dass der mit Willensmängeln behaftete TV bis zur Anfechtungserklärung noch nicht umzusetzen war. Er hält andererseits (S. 773) § 124 BGB für unanwendbar und verlangt eine unverzügliche Anfechtung. 6 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht Band I, S. 773; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1345.

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Anfechtbarkeit und Nichtigkeit von Tarifverträgen

Rz. 165 Teil 3

Anfechtungsberechtigten bestätigt wird (§ 144 Abs. 1 BGB)1. Zwar handelt es sich bei der Bestätigung um ein einseitiges, nicht empfangsbedürftiges und formfreies (§ 144 Abs. 2 BGB) Rechtsgeschäft. Das, was im TV festgelegt ist, wird aber zumindest bei einem VerbandsTV im Wesentlichen nicht von den TV-Parteien selbst, sondern von den Tarifunterworfenen vollzogen. Da aber jedem TV die schuldrechtliche Durchführungspflicht immanent ist2, genügt deren einmalige Erfüllung seitens des anfechtungsberechtigten Verbandes, um die Rechtsfolge des § 144 Abs. 1 BGB auszulösen. Hiervon wird man etwa auszugehen haben, wenn der Verband seine Mitglieder ohne Vorbehalt in der hierfür üblichen Form über den Abschluss des TVes unterrichtet und dessen Inhalt im Einzelnen mitgeteilt hat. In einem solchen Fall schließt § 144 Abs. 1 BGB auch eine außerordentliche Kündigung des TV wegen Drohung aus.

2. Anfechtung schuldrechtlicher Koalitionsvereinbarungen Die gesonderte Anfechtung einzelner schuldrechtlicher Regelungen eines auch normativ wirkenden TVes scheidet grundsätzlich aus. Eine derartige Teilanfechtung ist bei derartigen TVen ebenso ausgeschlossen wie eine Teilkündigung3.

163

Die gegenüber der Anfechtbarkeit von TVen allgemein geltend gemachten Einwände gelten allerdings nicht bei rein schuldrechtlichen Koalitionsvereinbarungen. Auch wenn sie, etwa weil ein Vertrag zu Gunsten Dritter abgeschlossen wurde, Wirkungen außerhalb des Vertragsverhältnisses haben, sind sie unter den Voraussetzungen der §§ 119, 123, 142, 144 BGB anfechtbar. Wird ein solcher Koalitionsvertrag erfolgreich angefochten, nachdem der Dritte bereits die versprochene Leistung empfangen hat, ohne dass dadurch die Voraussetzungen des § 144 BGB erfüllt wurden, kommt es zur Rückabwicklung im Dreiecksverhältnis nach § 812 BGB, es sei denn, man geht auch in einem solchen Fall im Hinblick auf die Einwirkung des Vertrags zu Gunsten Dritter auf ein Dauerschuldverhältnis nur von einer Anfechtungswirkung für die Zukunft aus.

164

II. Unwirksamkeit und Teilunwirksamkeit 1. Mängel des Tarifvertrags als solchem a) Nichtigkeitsgründe Ein nach Maßgabe des allgemeinen Vertragsrechts zustande gekommener TV ist jedenfalls als TV, als – auch – normativ wirkender Koalitionsvertrag, unwirksam, wenn er in seiner Entstehung im Übrigen unheilbare tarifvertragsrechtliche Mängel aufweist. Dies ist der Fall, wenn er nicht dem Formgebot des § 1 Abs. 2 TVG entsprechend abgeschlossen wurde, wenn nicht auf beiden 1 HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 20; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 199 Rz. 9; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1343. 2 Z.B. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1001. 3 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1342.

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165

Teil 3 Rz. 166 Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen Seiten tariffähige Koalitionen Vertragsparteien waren (§ 2 TVG), oder wenn eine der Vertragsparteien oder beide ihre durch ihre Satzung autonom vorgegebene Normsetzungszuständigkeit1 überschritten haben2. Da es keine relative, aufteilbare Tariffähigkeit3 gibt, kommt es beim Fehlen der Tariffähigkeit stets zur Unwirksamkeit eines als TV geschlossenen, aber nicht schließbaren Vertrags als Ganzem. Tarifzuständigkeit ist demgegenüber ein gewissermaßen auf der Fläche wirkender Begriff. Deshalb ist ein TV, der nicht für einen fremden, sondern für einen über den eigenen Zuständigkeitsbereich hinausgehenden Geltungsbereich abgeschlossen wurde, immerhin teilweise durch die betreffende Organisation legitimiert. Die Rechtsprechung geht deshalb in einem solchen Fall zu Recht davon aus, der betreffende TV sei nur insoweit (teil-)nichtig, wie sein Geltungsbereich über die satzungsmäßige Zuständigkeit der tariffähigen Organisation hinausgehe4. 166

Zu den tarifvertragsrechtlichen Unwirksamkeitsgründen, die hier aber einzelne Regelungen betreffen und deshalb in aller Regel auch nur für einen Teil des jeweiligen TVes zu dessen Nichtigkeit führen, gehören Überschreitungen der den TV-Parteien eingeräumten Normsetzungsbefugnis durch Regelungen – auch – des außertariflichen Bereichs. Hierzu zählen nach der Rechtsprechung des BAG normativ regelnde qualifizierte Differenzierungsklauseln in der Form von Spannenklauseln und Effektivklauseln. Mit Spannenklauseln wollen die TV-Partei über ihre Rechtssetzungsmacht hinaus arbeitsvertragliche Vereinbarungen verhindern, die Nichtorganisierte in jedem Falle so stellen als seien sie Mitglieder der tarifschließenden Gewerkschaft5. Insbesondere Effektivgarantieklauseln6 versuchen in den außertariflichen Bereich einzugreifen, indem sie einen übertariflich vereinbarten Entgeltbestandteil als dessen Teil in den tariflichen Mindestlohn übernehmen und dieses Entgelt dann erhöhen.

1 Hierzu etwa BAG v. 27.9.2005 – 1 ABR 41/04, NZA 2006, 273; BAG v. 10.2.2009 – 1 ABR 36/08, NZA 2009, 908. 2 Zur Tarifzuständigkeit als Wirksamkeitsvoraussetzung grundlegend BAG v. 27.11.1964 – 1 ABR 13/63, DB 1965, 479 = SAE 1965, 201 mit Anm. Isele; BAG v. 24.7.1990 – 1 ABR 46/89, NZA 1991, 21; BAG v. 29.7.2009 – 7 ABR 27/08, NZA 2009, 1424; jedenfalls im hier interessierenden Zusammenhang zustimmend Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 172, 180; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 271 ff.; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 54. 3 BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 19; Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, 1999, S. 147; a.A. Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 127 ff. 4 BAG v. 29.7.2009 – 7 ABR 27/08, NZA 2009, 1424 unter B II.4.a) der Gründe m.w.N. 5 BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920 = AP GG Art. 9 Nr. 147 mit Anm. Neumann = EzA GG Art. 9 Nr. 104 mit Anm. Ulber/Strauß; ausführlich und kritisch auch Däubler/Hensche/Heuschmid, § 1 TVG Rz. 989 ff. 6 Hierzu grundlegend BAG v. 14.2.1968 – 4 AZR 275/67, DB 1968, 1133; zustimmend etwa Jacobs in Jacobs/Krause/Oetker, § 7 Rz. 79 ff.; HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 113 f.; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1893 f.; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 529 ff.; kritisch Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 387; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 791 ff.; ob für einfache Effektivklauseln, die nur für den Zeitpunkt einer Tarifentgelterhöhung deren Verrechnung mit übertariflichen Entgeltbestandteilen untersagen, dieselbe Bewertung gelten muss, bleibe hier dahingestellt (dazu Teil 5 [10]).

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Anfechtbarkeit und Nichtigkeit von Tarifverträgen

Rz. 169 Teil 3

b) Vertrauensschutz Im Bereich der gewerblichen Arbeitnehmerüberlassung ist bekanntlich in den letzten Jahren auf Arbeitnehmerseite eine Organisation als TV-Partei aufgetreten, von der das BAG1 und im Anschluss daran das LAG Berlin-Brandenburg2 angenommen haben, sie sei in dem maßgeblichen Zeitraum bei Abschluss der betreffenden TVe nicht tariffähig gewesen. Im Zusammenhang mit dieser Entscheidung und den Folgeverfahren, in denen es insbesondere um die Entgeltansprüche nach dem Equal-Treatment-Prinzip (§ 10 Abs. 4 Satz 1 AÜG) und daraus erwachsene Verpflichtungen geht, dem entsprechende Beiträge an die Sozialversicherungsträger abzuführen, ist die Frage aufgekommen, ob den Arbeitgebern Vertrauensschutz zu gewähren ist, die versucht haben, mithilfe der betreffenden „Tarifverträge“ die in § 10 Abs. 4 Satz 2 i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 3, § 9 Nr. 2 AÜG eröffnete Möglichkeit zu nutzen, die Gleichstellung der Leiharbeitnehmer mit vergleichbaren Stammarbeitnehmern zu vermeiden. Dabei ist teilweise auch auf die Grundsätze über die fehlerhafte Gesellschaft verwiesen worden. Es wurde deshalb gefordert, die Nichtigkeit der betreffenden TVe dürfe sich von Rechts wegen erst für die Zeit von deren Rechtserkenntnis an für die Zukunft auswirken.

167

Die nach hier vertretener Auffassung durchschlagenden Bedenken gegenüber dieser Rechtsauffassung ergeben sich zumindest aus der besonderen Normqualität gerade der für den Bereich der Arbeitnehmerüberlassung abgeschlossenen TVe: Es geht hier nicht nur darum, TVe zu bewerten, die zwischen beiderseits Tarifgebundenen und solchen Teilnehmern am Arbeitsleben Anwendung finden, die sich privatautonom in arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln hierfür entschieden haben; schon in solchen Fällen kann man zweifeln, ob es so etwas wie ein von Rechts wegen schützenswertes Vertrauen in die Tariffähigkeit eines autonom ausgewählten TV-Partners geben kann. Hier geht es aber sogar darum, dass der Gesetzgeber für die in § 10 Abs. 4 Satz 2 i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 3, § 9 Nr. 2 AÜG genannten TVe die Möglichkeit eröffnet hat, von der übergeordneten sozialpolitischen Grundentscheidung des „equal treatment“ durch „Tarifvertrag“ zu Lasten der zu schützenden Arbeitnehmergruppe abzuweichen. Hier muss es in dem durch Vertrauensschutzerwägungen nicht reduzierbaren Risikobereich derer, die diese Möglichkeit nutzen wollen, bleiben, ob die Vertragspartei, die sie sich zu diesem Zweck ausgesucht haben, hierzu auch fähig ist.

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c) Weitergeltung als vertraglich in Bezug genommenes Regelwerk Soweit ersichtlich noch ungeklärt ist das vertragsrechtliche Schicksal von arbeitsvertraglich in Bezug genommenen Regelwerken, die als TVe aus einem der kurz angesprochenen Gründe unwirksam sind. Es versteht sich von selbst, dass sie keine der mit der Eigenschaft als TV verbundenen Privilegierungen genießen (z.B. Freiheit von der Kontrolle als Allgemeine Geschäftsbedingung, Fä1 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289. 2 LAG Berlin-Brandenburg v. 9.1.2012 – 24 TaBV 1285/11 u.a.; rkr. nach Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde durch BAG v. 22.5.2012 – 1 ABN 27/12.

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169

Teil 3 Rz. 170 Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen higkeit, eine Tariföffnungsklausel zu nutzen). Es ist aber wohl nicht selbstverständlich, aus der in diesem Zusammenhang immer wieder so genannten Nichtigkeit als TV ohne weiteres zu schließen, sie könnten damit auch nicht Teil des Arbeitsvertrages sein, der sie durch Inbezugnahme inkorporiert hat. Vielfach wird dies so sein, etwa dann, wenn die Vertragsauslegung ergibt, die Bezugnahme des betreffenden TVs oder Tarifwerks sei – etwa zur Nutzung von Tariföffnungsklauseln – in aller erster Linie um seiner Eigenschaft als TV willen erfolgt. Die hier maßgeblichen Grundsätze der Individualvertragsauslegung können aber im Einzelfall auch einmal dazu führen anzunehmen, es sei den Vertragsparteien nur darum gegangen, ein als passend angesehenes einheitliches Regelwerk vergleichbar einer vom Arbeitgeber erlassenen und uneingeschränkt kontrollfähigen Betriebsordnung dem Arbeitsverhältnis zu Grunde zu legen; hieran wird insbesondere in Bereichen des Arbeits- und Wirtschaftslebens zu denken sein, in denen die Akteure nicht auf TVe von in ihrer Tariffähigkeit unangreifbaren Organisationen zurückgreifen können, was etwa – bedauerlicherweise – für einige Bereiche des Handwerks in den jungen Bundesländern gilt.

2. Kontrolle tariflicher Regelungen anhand höherrangigen Rechts a) Verstoß gegen zwingendes Gesetzesrecht 170

Die TV-Parteien genießen den Schutz der Verfassung bei der kollektiv und autonom wahrgenommenen Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch TVe. Sie haben bei dieser Ausgestaltung aber kein Normsetzungsmonopol1, sondern sind mit ihren Normen Teil der Gesamtrechtsordnung im Arbeitsrecht. Dabei ist ihr Verhältnis zum einfachen staatlichen Gesetzgeber zumindest dogmatisch-theoretisch noch nicht abschließend geklärt2.

171

Unproblematisch ist das Verhältnis zu für jedermann dispositiven Gesetzen oder Gesetzesrecht, das der Gesetzgeber zur Disposition der TV-Parteien gestellt hat3. Dasselbe gilt in aller Regel für gesetzesvertretendes Richterrecht, das ebenfalls grundsätzlich zur Disposition der TV-Parteien steht4. Durch eine solche Rechtssetzung wird die Gestaltungsfreiheit der TV-Parteien grundsätz1 Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 200 Rz. 17. 2 Vgl. hierzu z.B. ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 87 ff.; Kempen/Zachert/Kempen, TVG Grundlagen Rz. 272; Henssler, ZfA 1998, 1 ff. 3 Z.B. § 622 Abs. 4 BGB für Kündigungsfristbestimmungen, § 8 Abs. 4, § 12 Abs. 3 und § 13 Abs. 4 TzBfG für das Recht der Teilzeitbeschäftigten sowie § 3 Abs. 1 Nr. 3, § 9 Nr. 2 und § 10 Abs. 4 AÜG für den Equal-treatment-Grundsatz. Soweit gesetzliche Regelungen nur für einen Teil des Regelungsbereichs Öffnungen vornehmen, wie etwa in § 13 BUrlG, handelt es sich im nicht freigegebenen Teil um einseitig zwingendes Recht. 4 Also zur Rechtsprechung über Rückzahlungsklauseln für Sonderzuwendungen (BAG v. 23.2.1967 – 5 AZR 234/66, DB 1967, 778; HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 136) und Ausbildungsvergütungen (BAG v. 6.9.1995 – 5 AZR 174/94, NZA 1996, 437; ErfK/Preis, § 611 BGB Rz. 442). Hinsichtlich der rechtsfortbildend entwickelten Grundsätze zur Arbeitnehmerhaftung geht Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 200 Rz. 24, trotz BAG v. 27.1.2000 – 8 AZR 876/98, NZA 2000, 727, von einer einseitig zwingenden Rechtslage aus.

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Anfechtbarkeit und Nichtigkeit von Tarifverträgen

Rz. 174 Teil 3

lich nicht eingeschränkt. Jede Abweichung von Gesetz oder gesetzesvertretendem Richterrecht ist ihnen eröffnet. Solange die TV-Parteien hiervon keinen äußerlich erkennbaren Gebrauch machen, bietet das von den TV-Parteien vorgefundene dispositive Recht als Ausgangsrechtslage Hilfestellung für die Auslegung des TV-Textes (oben Rz. 149). Das seltene zweiseitig zwingende Gesetzesrecht erlaubt den TV-Parteien demgegenüber keinerlei Abweichungen. Hiermit sind insbesondere das Organisationsrecht für die Beschäftigtenvertretungen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst angesprochen sowie einige wenige Regelungen des materiellen Arbeitsrechts wie etwa § 626 BGB, § 107 Abs. 2 GewO, § 113 InsO und – mit einer ausdrücklichen Einschränkung in Satz 3 der Bestimmung – § 1 des Gesetzes über befristete Arbeitsverhältnisse in der Wissenschaft (WissZeitVG). In diesen Gesetzen konkurrieren Schutzgüter von besonderem Wert, bei denen es dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben muss, eine abschließende Abwägung vorzunehmen; dies in der Regel auch deshalb, weil die Rechtsgutinhaber an der tariflichen Normsetzung nicht beteiligt sind. Weichen die TV-Parteien mit ihren Normen von dem auf diese Weise gerechtfertigten, beiderseitig zwingend ausgestalteten Gesetzesrecht auf dem Gebiet des Arbeitsrechts ab, sind ihre Bestimmungen unwirksam, wobei es nicht darauf ankommt, ob die TVe in Kenntnis des anderslautenden Gesetzesbefehls oder erst nach dessen Erlass geschlossen worden sind1.

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Dieselbe Rechtsfolge tritt ein, soweit der Gesetzgeber einseitig – zu Gunsten der Arbeitnehmer – zwingend ausgestaltetes Gesetzesrecht geschaffen hat und die TV-Parteien das durch dieses Gesetzesrecht geschaffene Niveau nicht überschreiten, was ihnen frei steht, sondern zu Lasten der geschützten Arbeitnehmer unterschreiten. Solche einseitig zwingenden Arbeitnehmerschutzbestimmungen sind z.B. die gesetzliche Regelungen zum materiellen Kündigungsschutz, zum Schutz vor Diskriminierungen, zur Dauer des Erholungsurlaubs oder auch zur Arbeitszeit nach dem Arbeitszeitgesetz, soweit die dortigen Festlegungen nicht in § 7 und § 12 ArbZG zur Disposition der TV-Parteien gestellt sind.

173

Mit solchen Regelungen greift der Gesetzgeber in Bereiche des Arbeitsrechts ein, die auch durch die TV-Parteien in Wahrnehmung ihres verfassungsrechtlich geschützten Freiheitsrechts abschließend geregelt werden könnten. Wählt er hier nicht die Technik von Tariföffnungsklauseln, räumt den Koalitionen also keinen Regelungsvorrang ein, wird deren geschützter Freiheitsraum jedenfalls berührt, gleichgültig, ob man hier von einem Eingriff in die oder einer Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit spricht. In jedem Falle wird danach im Grundsatz stets eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen sein, inwieweit es einer solchen, die Koalitionsfreiheit beeinträchtigenden Rechtssetzung um des Zieles willen bedarf, übergeordnete Interessen zur Geltung zu bringen2.

174

1 Richtig Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 578. 2 So BVerfG v. 24.4.1996 – 1 BvR 712/86, NZA 1996, 1157; BVerfG v. 3.4.2001 – 1 BvL 32/97, NZA 2001, 777, das aber bislang in den einschlägigen Fällen noch nicht zu einem Vorrang der Tarifvertragsparteien gekommen ist; kritisch gegenüber der Uferlosigkeit dieser Rechtsprechung zu Lasten der Tarifvertragsparteien ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 89.

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Teil 3 Rz. 175 Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen 175

Die besondere verfassungsrechtlich geschützte Stellung der TV-Parteien ist letztlich der Grund dafür, dass es auf der einfachgesetzlichen Ebene über die Inhaltskontrolle anhand zumindest einseitig zwingender Gesetze hinaus keine Angemessenheits- oder Billigkeitskontrolle von TVen gibt, wie auch § 310 Abs. 4 BGB zeigt. TVe sind angesichts der Sachnähe und der Ausgewogenheit der Verhandlungssituation auch nicht von den Gerichten für Arbeitssachen darauf hin zu überprüfen, ob die von ihnen gefundene Lösung die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste ist1.

b) Verstoß gegen Grundrechte und Europarecht 176

Dass tarifvertragliche Regelungen im Ergebnis gegen Grundrechte verstoßen können und dann unwirksam sind, steht außer Frage. Bei der Diskussion, auf welchem rechtlich-konstruktiven Weg, auf der Grundlage einer wie intensiven und wie umfassenden Prüfung ein solches Ergebnis zu Stande kommen kann, gibt es allerdings einigen Streit in der Wissenschaft und – im Wesentlichen – früher auch in der Rechtsprechung. Ihm liegt unverkennbar ein grundlegender Wertungsunterschied zu Grunde: Diejenigen, die jeder kollektiven Ordnung mit einigem Misstrauen begegnen, streben zum Individualschutz eine staatlicher Eingriffskontrolle möglichst gleichstehende Intensität und Breite der Grundrechtsprüfung an2, während die Gegenmeinung den aus dem Freiheitsrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG begabten Kollektiven, deren Mitglied man werden kann, aber nicht muss, einen größeren Regelungsspielraum belassen, der von der Regelungsautonomie auf der Grundlage einer ungestörten individuellen Vertragsfreiheit ausgeht3.

177

Die aktuelle höchstrichterliche Rechtsprechung, die in der Vergangenheit gelegentlich durch voneinander abweichende Ansätze den Eindruck fehlender Einheitlichkeit gemacht hat, ist im Grundsatz durch das zweitgenannte Vorverständnis geprägt. Es entspricht der historischen Herkunft des TV-Systems als einer Art Arbeitnehmerschutz durch (Kollektiv-)Verfahren und sieht deshalb die Kollektivierung stärker als Chance zu angemessener Interessenwahrnehmung denn als Gefährdung der Möglichkeiten individueller Freiheitsbehauptung. Der Satz „So wie die Vertragskontrolle im Dienst der richtig verstandenen Vertragsfreiheit steht, so steht die Tarifkontrolle im Dienst der richtig verstandenen Tarifautonomie“4 ist zwar griffig, aber falsch. Er blendet aus, dass die Individualvertragskontrolle der Kompensation möglicher Angemessenheitsdefizite in strukturell gestörten Vertragssituationen dient, während die TVe als Ergebnis ausgewogener kollektiver Interessenwahrnehmung, die im 1 Allg. Meinung vgl. nur Krause, in Jacobs/Krause/Oetker, Tarifvertragsrecht, § 1 Rz. 110; HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 88; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 200 Rz. 25, jeweils m.w.N. 2 Beispielhaft etwa Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 581 ff.; Picker, Die Tarifautonomie in der deutschen Arbeitsverfassung, 2000. 3 Besonders ausgeprägt bei Dieterich, FS Schaub, 1998, S. 117 ff.; Schliemann, FS Hanau, 1999, S. 583 ff.; Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 25 ff. 4 So Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 582 unter Bezugnahme auf Gamillscheg, AuR 2001, 226 (227 f.).

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Anfechtbarkeit und Nichtigkeit von Tarifverträgen

Rz. 180 Teil 3

Normalfall durch freiwillige begründete Mitgliedschaften legitimiert ist, gerade der Überwindung dieser strukturellen Ungleichgewichtslage im Individualverhältnis dienen. Dies ändert nichts daran, dass es Defizite bei der verbandlichen Willensbildung geben kann, die auch eines im Notfall eingreifenden Schutzsystems auf der Grundlage der in den Grundrechten niedergelegten Werteordnung bedürfen. Hierfür reichen aber die insbesondere vom 6. Senat des BAG1 zuletzt mehrfach ausformulierte Grundsätze für eine Grundrechtsprüfung von TVen in aller Regel aus, die missverstanden wird, wenn man sie auf eine grobe Willkürkontrolle reduziert:

178

Ausgangspunkt ist die Grundwertung, dass TV-Parteien als Vereinigungen privaten Rechts nicht unmittelbar grundrechtsgebunden sind. Die Schutzfunktion der Grundrechte verpflichtet jedoch die Gerichte darauf, Tarifregelungen insbesondere dann die Durchsetzung zu verweigern, wenn sie zu gleichheitsund sachwidrigen Differenzierungen führen und deshalb im Ergebnis Art. 3 GG verletzen; eine derartige Gleichheitsverletzung kann dann auch darin liegen, dass TVe bei der Festlegung des persönlichen Geltungsbereichs Arbeitnehmergruppen von der Normsetzung ausnehmen, für deren Herausnahme keine sachbezogenen Gruppenunterschiede erkennbar sind. Die höchstrichterliche Rechtsprechung misst bei der Anwendung der Gleichheitsgebote und Diskriminierungsverbote den TV-Parteien als selbständigen Grundrechtsträgern aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie einen nicht unerheblichen Gestaltungsspielraum zu. Diesen bemisst sie im Einzelfall danach, nach welchen Differenzierungsmerkmalen die Ungleichbehandlung vorgenommen wurde. Die Einschätzungsprärogative der TV-Parteien bezieht sie auf die Bewertung der tatsächlichen Gegebenheiten und der betroffenen Interessen der unterschiedlich Behandelten.

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Die besonders herausgehobene Bedeutung von Gleichheitsgeboten und Diskriminierungsverboten erklärt sich aus der Kollektivität der Willensbildung auf Seiten der TV-Parteien und der gerichtlichen Erfahrungen, dass sich fast alle Gerechtigkeitsbedenken, die im ersten Zugriff gegenüber tarifvertraglichen Regelungen empfunden werden, auf tatsächliche oder vermeintliche Verstöße gegen Gleichheitsgebote oder Diskriminierungsverbote zurückführen lassen. Grundrechtlich geschützte Freiheitsrechte, die bei der Individualvertragskontrolle unter dem Gesichtspunkt von deren Schutzfunktion eine nicht unerhebliche Rolle spielen, prägen die Rechtsprechung bei der TV-Kontrolle nicht wesentlich. Dies hat auch mit der Grundannahme zu tun, dass im TV-System das Vertragsmodell mit seiner durch gleichstarke Wahrnehmung gesicherten, im Gegenseitigkeitsverhältnis optimal angemessenen Interessendurchsetzung idealtypisch verwirklicht ist. Da es im Einzelfall aber auch einmal zu deutlich defizitären Umsetzungen kommen kann, bedarf es neben der auf strukturelle De-

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1 BAG v. 27.5.2004 – 6 AZR 129/03, NZA 2004, 1399; BAG v. 28.5.2009 – 6 AZR 144/08, DB 2009, 1769; BAG v. 8.12.2011 – 6 AZR 319/09, NZA 2012, 275; speziell für die Festlegung von Vergütungsdifferenzen BAG v. 17.12.2009 – 6 AZR 665/08, ZTR 2010, 190; ebenso auch schon BAG v. 29.8.2001 – 4 AZR 352/00, NZA 2002, 863.

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Teil 3 Rz. 181 Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen fizite1 reagierenden Kontrolle anhand der Gleichbehandlungsgebote nur eines Rückgriffs auf eine Vertragskontrolle anhand des § 138 BGB, mit dem die Einhaltung elementarer Gerechtigkeitsanforderungen2 durch die TV-Parteien sichergestellt werden kann. 181

Einen strengeren Prüfungsmaßstab hat der 7. Senat des BAG am 8. Dezember 2010 angelegt3. Er hat bei der Überprüfung von Betriebsnormen angenommen, dass TV-Parteien, die durch solche Bestimmungen in grundrechtlich geschützte Rechtspositionen von Arbeitnehmern und Arbeitsplatzbewerbern eingreifen, ihre Regelungen an den Maßstäben zu messen haben, die auch für den Gesetzgeber oder andere fremd bestimmende Normgeber gelten. In diesem Zusammenhang sei sogar der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz anwendbar, dessen Anwendung ansonsten bei der TV-Kontrolle grundsätzlichen Bedenken begegnet; sie führt letztlich zu einer Tarifzensur, weil sie nur über eine Kontrolle der Bewertung der tatsächlichen Regelungsgrundlagen und beteiligten Interessen durch die TV-Parteien möglich ist.

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Bei dieser Rechtsprechung des 7. Senats handelt es sich jedoch nicht um eine Ausnahme von oder gar eine Gegenposition zu den bisher referierten Leitlinie der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. Sie stellt zur Begründung auf eine Besonderheit ab, die für die Inhaltsnormen eines TVes nicht gilt. Betriebsnormen erstrecken ihre Wirkung über den Kreis der Gewerkschaftsmitglieder hinaus, weil sie schon dann im einzelnen Betrieb gelten, wenn nur dessen Inhaber tarifgebunden ist. Die weitere Rechtsprechungsentwicklung wird zeigen, ob diese Besonderheit die gezogenen Konsequenzen bei der Inhaltskontrolle trägt4.

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Eine ähnliche Frage, wie sie der Siebte Senat des BAG für Betriebsnormen behandelt hat, könnte sich auch im Bereich der allgemeinverbindlichen TVe stellen. Auch hier ist durch eine wie immer zu qualifizierende hoheitliche Erstreckungsmaßnahme bestimmt, dass auch in Bereichen ohne mitgliedschaftliche Legitimation Normwirkung eintritt. Ginge man auch hier grundsätzlich von einer intensiveren Bindung an die Grundfreiheiten und den Gleichheitssatz aus, stellte sich die Folgefrage, wo und mit welcher Wirkung die Prüfung einzusetzen hat. Geht es um eine Kontrolle des Rechtsaktes der Allgemeinverbindlicherklärung, die die Normerstreckung herbeiführt, oder doch nur um eine Inhaltskontrolle des erstreckten Rechts? Folgt man der ersten Alternative, die eine Spaltung der Tarifkontrolle verhinderte5, stellt sich weiter die Frage, ob im 1 Angesprochen sind hiermit die in der unterschiedlich starken Repräsentation einzelner Arbeitnehmergruppen liegende Gefahr unterschiedlich intensiver Interessenwahrnehmung. 2 Dass es auf sie bei der Tarifvertragskontrolle neben der Gleichbehandlungskontrolle ankommen kann, betont auch BAG v. 28.5.2009 – 6 AZR 144/08, DB 2009, 1769. 3 BAG v. 8.12.2010 – 7 ABR 98/09, NZA 2011, 751. 4 Wobei nicht zu verkennen ist, dass der Prüfungsansatz hier „nur“ inhaltlich von der überkommenen Qualifikationsfrage, ob etwas Betriebsnorm sein will und sein kann, auf die Ebene der Inhaltskontrolle verlagert worden ist. 5 Diese Gefahr sehen Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 588, wenn man die „normale“ Inhaltskontrolle im Hinblick auf die mit der freiwilligen Begründung der Mitgliedschaft verbundene „Belastungseinwilligung“ (Dieterich) so wie die Rechtsprechung des BAG

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Anfechtbarkeit und Nichtigkeit von Tarifverträgen

Rz. 186 Teil 3

Falle eines etwaigen Verstoßes von einer Teilbarkeit der Allgemeinverbindlicherklärung ausgegangen werden kann oder ob dieser Rechtsakt bei einem entsprechenden Rechtsverstoß gegebenenfalls insgesamt unwirksam wäre. Der Blick auf das Recht der Europäischen Union braucht nur kurz zu sein; dies nicht deshalb, weil es bei der TV-Kontrolle keine Bedeutung hätte. Seine wesentliche Rolle hat das Recht der Europäischen Union hier jedoch inzwischen bei der Auslegung der zumindest einseitig zwingenden nationalen Umsetzungsgesetze, insbesondere des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG), die unter dem Gebot der Gemeinschaftsrechtskonformität steht.

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In diesem Zusammenhang, in dem es immer wieder auch zu einer Anrufung des Gerichtshofs der Europäischen Union kommt und kommen muss, zeigt sich hinsichtlich des Vorverständnisses mit Konsequenzen für die Rechtsanwendung im Einzelfall ein merkbarer Unterschied zwischen dem Gerichtshof und der nationalen Arbeitsgerichtsbarkeit: der Gerichtshof billigt den TVParteien bei der Regelsetzung erkennbar nicht den Vertrauensvorschuss zu, wie er Grundlage der zurückgenommenen nationalen Rechtskontrolle ist, und erkennt ihnen auch nicht in vergleichbarer Weise wie die nationalen Gerichten eine daraus folgende Einschätzungsprärogative zu. Er betont zwar in den bekannten Fällen zur Altersdiskriminierung stets, die Sozialpartner hätten ebenso wie die Mitgliedstaaten selbst ein weites Ermessen auf dem Gebiet und der Sozial- und Beschäftigungspolitik; sie könnten entscheiden, welches der nach Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 RL 2000/78/EG legitimen Ziele für eine Ungleichbehandlung von mehreren sie mit welchen Mitteln verfolgen wollten1. Er betont dabei zunächst nur, dass sich die Normsetzung im Rahmen des vorgegebenen europarechtlichen Rahmens halten müsse; er untersucht die tarifvertraglichen Regeln aber dann im Einzelnen darauf, ob sie aus gerichtlicher Sicht angemessen und erforderlich zur Erreichung des angestrebten Ziels seien2. Es bleibt abzuwarten, ob und wie sich diese Rechtsprechung auf die Rechtskontrolle von TVen durch die nationalen Gerichte auswirken wird.

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3. Folgen der Unwirksamkeit von Tarifnormen für den Tarifvertrag a) Teilunwirksamkeit Sind einzelne Bestimmungen eines TVes aus welchen Gründen auch immer rechtsunwirksam, bedeutet dies nach allgemeiner Meinung nicht, dass damit der betreffende TV insgesamt in der Regel unwirksam wäre. Die widerlegliche Vermutung des § 139 BGB gilt im Hinblick auf den Normcharakter der TVe und deren auf Dauer angelegte Regelungsaufgabe im TV-Recht nicht. Der betroffene TV im Übrigen bleibt regelmäßig wirksam und regelt in seinem verzurücknimmt, weil man diesen Gesichtspunkt für eine entsprechend zurückgenommene Kontrolle allgemeinverbindlicher TVe nicht heranziehen kann. 1 Z.B. EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-45/09, NZA 2010, 1167 – Rosenbladt; EuGH v. 8.9.2011 – Rs. C-297 und 298/10, NZA 2011, 1100 – Hennigs und Mai. 2 Besonders ausgeprägt EuGH v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09, NZA 2011, 1039 – Prigge, wo auch von einer „Ermächtigung“ des staatlichen Gesetzgebers an die Tarifvertragsparteien die Rede ist.

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Teil 3 Rz. 187 Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen bleibenden Teil weiterhin, es sei denn, das „bereinigte“ Regelwerk kann aus sich heraus nicht mehr sinnvoll angewendet, seiner Regelungsaufgabe nicht mehr gerecht werden1.

b) Rechtsfolgenproblematik bei Gleichheits- und Diskriminierungsverstößen 187

Besonders bei tarifvertraglichen Verstößen gegen Gleichbehandlungsgebote und Diskriminierungsverbote ist mit der Aussage, dass die Unwirksamkeit einzelner Bestimmungen in aller Regel nicht zur Unwirksamkeit des TVes als Ganzem führt, noch nicht viel gewonnen. Schwierig wird es, wenn zu ermitteln ist, welche Rechtsfolgen sich aus einer derartigen Rechtsverletzung ergeben: – Bis vor wenigen Jahren stellte die unterschiedliche Behandlung von Arbeitern und Angestellten den Normalfall dar. Vermutlich gab es auch Versorgungstarifverträge, die eine deutlich höhere Versorgung für Angestellte als für Arbeiter vorsahen; unterstellt, es gab hierfür keine sachliche Rechtfertigung, konnte der Arbeiter „Angestelltenversorgung“ verlangen?2 – Wenn ein TV nur Ehegatten bestimmte Ortszuschläge zuerkennt, eine entsprechende Rechtseinräumung für eingetragene Lebenspartner aber nicht vorsieht, erhält auch der Lebenspartner den höheren Ortszuschlag, wenn diese Ungleichbehandlung eine Diskriminierung wegen der sexuellen Identität darstellt?3 – Unterstellt, ein TV sehe für Witwen eine Hinterbliebenenversorgung vor, für Witwer aber nicht oder nur unter einer von ihm nicht erfüllten besonderen Bedingung, kann auch der Witwer Hinterbliebenenversorgung verlangen?4 – Ein TV sehe für im Einzelnen benannte sogenannte leichteste Tätigkeiten ein Entgelt der Eingangsentgeltgruppe vor und bewerte andere Tätigkeiten, die er nur als leicht bezeichnet, die indes nach den Regeln der Arbeitsbewertung als den erstgenannten gleichwertig anzusehen sind, höher; kann eine mit „leichtesten“ Tätigkeiten befasste Frau die höhere Vergütung für „leichte“ Tätigkeiten beanspruchen, wenn in ihrer tariflich definierten Beschäftigtengruppe signifikant mehr Frauen vertreten sind als in der Gruppe, nach deren Vergütungsgruppe sie vergütet werden will?5 1 BAG v. 9.5.2007 – 4 AZR 275/06, NZA 2007, 1439; BAG v. 12.12.2007 – 4 AZR 996/06, NZA 2008, 892; BAG v. 16.11.2011 – 4 AZR 856/09; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 245; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 503; Däubler/Reim/Nebe, § 1 TVG Rz. 186 f. 2 Vgl. BAG v. 10.12.2002 – 3 AZR 3/02, NZA 2004, 321. 3 BAG v. 18.3.2010 – 6 AZR 434/07, NZA-RR 2010, 664, im Anschluss an BAG v. 29.4.2004 – 6 AZR 101/03, NZA 2005, 57; kritisch Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1523. 4 Vgl. BAG v. 5.9.1989 – 3 AZR 575/88, NZA 1990, 271; Rolfs in Blomeyer/Rolfs/Otto, Anh. § 1 BetrAVG Rz. 206 m.w.N. 5 Vgl. hierzu immerhin BAG v. 15.10.1986 – 4 AZR 572/85, AP TVG § 1 Tarifverträge: Metallindustrie Nr. 27 (a.E.); sowie EuGH v. 27.10.1993 – Rs. C-127/92, NZA 1994, 797; Däubler/Winter, § 1 TVG Rz. 508, 528.

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Anfechtbarkeit und Nichtigkeit von Tarifverträgen

Rz. 191 Teil 3

– Eine TV-Bestimmung sah für Beschäftigte bis zum vollendeten 30. Lebensjahr einen Erholungsurlaub von 26 Arbeitstagen, bis zum vollendeten 40. Lebensjahr von 29 Arbeitstagen und nach dem vollendeten 40. Lebensjahr von 30 Arbeitstagen vor; kann ein 31jähriger unter dem Gesichtspunkt der Altersdiskriminierung 29 oder gar 30 Arbeitstage Tarifurlaub verlangen?1 – Schließlich: Ein tarifliches Vergütungssystem sah eine Vergütung vor, die sich nach Lebensaltersstufen steigerte; kann ein Arbeitnehmer, der gerade einmal die erste Lebensaltersstufen erreicht hat, gleichwohl Vergütung nach der höchsten Altersstufe verlangen, weil die Differenzierung nach Alter bei der Vergütung generell nicht gerechtfertigt ist?2 Das BAG hat bekanntlich alle aufgeworfenen Fragen bereits entschieden, oder es lassen sich seine Antworten aus seinen bisherigen Judikaten zumindest relativ sicher prognostizieren. Dabei ist im behandelten Zusammenhang nicht von Interesse, ob die angesprochenen tarifvertraglichen Regelungen tatsächlich ohne sachlichen Grund ungleich behandelten oder gar diskriminierten; dies wird unterstellt. Wesentlich ist die Frage, welche Rechtsfolge sich nach der Rechtsprechung hieraus ergibt. Ihr allein soll hier kurz nachgegangen werden.

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Die Analyse erscheint richtig, dass das BAG nach seiner bisherigen Rechtsprechung sowohl bei Gleichheitsverstößen als auch bei Diskriminierungen eine Anpassung oder Angleichung „nach oben“ vornimmt; der Angehörige der Arbeitnehmergruppe, der im Verhältnis zu einer anderen bestimmte Rechte nicht oder nicht in gleicher Qualität eingeräumt oder ausdrücklich ganz oder teilweise vorenthalten wurden, erhielte die Rechte, die der begünstigten Gruppe tariflich zuerkannt worden waren3.

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Die bisherigen Ergebnisse der Rechtsprechung beruhen auf der Grundüberlegung, dass ohne die von ihr vorgenommene Anpassung nach oben kein dem Gleichheitsgebot oder den Diskriminierungsverboten entsprechender Zustand herbeigeführt werden könne. Die beiden grundlegenden Einwände hiergegen werden gesehen aber bisher letztlich nicht als durchschlagend bewertet:

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Es wird zu Recht betont, dass die TV-Parteien einen Normsetzungsvorrang haben und ihn auch behalten müssen4. Eine aufgrund der festgestellten Nichtigkeit einer gleichheitswidrigen oder diskriminierenden tarifvertraglichen

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1 BAG v. 20.3.2012 – 9 AZR 529/10. 2 BAG v. 10.11.2011 – 6 AZR 148/09, NZA 2012, 161, im Anschluss an EuGH v. 8.9.2011 – Rs. C-297 und 298/10, NZA 2011, 1100 – Hennigs und Mai. 3 Der Analyse der Rechtsprechung zustimmend und deren bisherigen älteren Ergebnissen – teilweise widerstrebend – beitretend: Däubler/Winter, § 1 TVG Rz. 544; Wiedemann/Thüsing, TVG, Einleitung Rz. 166; Schleusener in Schleusener/Suckow/Voigt, § 7 AGG Rz. 44; Meinel/Heyn/Helms, § 7 AGG Rz. 46; Wendeling-Schröder/Stein, § 7 AGG Rz. 20; Wiedemann/Wiedemann, TVG Einleitung Rz. 246 ff., der seine Zustimmung auf die Fälle der Diskriminierung durch TV beschränkt; kritisch demgegenüber insbesondere Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1518 ff.; Adomeit/Mohr, § 7 AGG Rz. 21; Bauer/Göpfert/Krieger, § 7 AGG Rz. 27; Bauer/Krieger in FS Bepler, S. 8 ff. 4 Z.B. Wiedemann/Thüsing, TVG Einleitung Rz. 166; Wiedemann/Wiedemann, TVG, Einleitung Rz. 247; Adomeit/Mohr, § 7 AGG Rz. 21; Bauer/Krieger, FS Bepler, S. 10 f.

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Teil 3 Rz. 192 Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen Rechtsvorenthaltung entstandene Regelungslücke müsse ebenso durch die TVParteien selbst geschlossen werden wie es ihre Sache sei, auf einen neu unter dem Gesichtspunkt der Gleichstellungspflicht erkannten Regelungsbedarf zu reagieren. Es gebe für diese Regelungsaufgabe stets mehrere Regelungsalternativen, nämlich neben der Anpassung nach oben zumindest auch eine Regelung auf mittlerer Ebene und auch die Entscheidung, die bisherige, eine Arbeitnehmergruppe diskriminierende, eine andere begünstigende Regelung, zum Beispiel die Gewährung familienbezogener Ortszuschläge, ersatzlos entfallen zu lassen. Angesichts dessen scheide eine Lückenfüllung durch die Rechtsprechung in den hier behandelten Fällen stets aus1. 192

Eine Lückenfüllung im Sinne einer Anpassung nach oben komme im Übrigen auch deshalb in aller Regel nicht in Betracht, weil mit einer Anpassung nach oben aufgrund einer gleichheitswidrigen oder diskriminierenden Gruppenbildung normalerweise die Belastungen aus den betreffenden TV in erheblichem Umfang gegenüber dem ursprünglichen Regelungsplan beider TV-Parteien erhöht würden2. Es entspreche deshalb in aller Regel gerade nicht dem für eine Lückenfüllung im Wege ergänzender Vertragsauslegung erforderlichen mutmaßlichen Willen beider TV-Parteien bei Tarifabschluss, die von ihnen vorgenommene Differenzierung im Wege einer Anpassung nach oben zu beseitigen.

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Daneben wird auch beispielhaft auf höchst zweifelhafte bis absurde Ergebnisse einer „Anpassung nach oben“ hingewiesen3.

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Andererseits weist insbesondere Herbert Wiedemann4 überzeugend auch auf die beteiligten Gegeninteressen hin, die für eine „Anpassung nach oben“ streiten: Neben den berechtigten Interessen der betroffenen Arbeitnehmer in Vergangenheit und Zukunft nicht sachwidrig ungleich oder diskriminierend, sondern so wie die Begünstigten behandelt zu werden, muss berücksichtigt werden, dass ein den gesellschaftlichen Zielvorstellungen entsprechender Zustand nicht erreicht werden wird, wenn es sich „nicht lohnt“, auf eine sachwidrige Ungleichbehandlung oder eine Diskriminierung mit einem Gang vor Gericht zu reagieren.

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In seiner jüngsten Entscheidung zu der BAT-Vergütungsordnung nach Altersstufen, in der die angeordnete „Anpassung nach oben“ wohl die bisher am weitesten gehenden tatsächlichen Konsequenzen hatte, hat sich der 6. Senat des BAG5 sowohl mit dem Normsetzungsvorrang der TV-Parteien als auch mit der durch eine „Anpassung nach oben“ eintretenden Mehrbelastung auseinandergesetzt. Im Ergebnis hat er angenommen, dass eine andere Lösung des Gleich1 So prononciert Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1518 ff, 1523. 2 Auf die planwidrig erhöhten Kosten und Belastungen weisen neben den Genannten auch Meinel/Heyn/Helms, § 7 AGG Rz. 44 f. und Wendeling-Schröder/Stein, § 7 AGG Rz. 22 hin. 3 Bauer/Göpfert/Krieger, § 7 AGG Rz. 32; wobei allerdings nicht sicher erscheint, dass alle dort aufgeführten Regelungen gerichtlich wirklich als altersdiskriminierend mit der Folge einer „Anpassung nach oben“ bewertet würden. 4 Wiedemann/Wiedemann, TVG, Einleitung Rz. 246. 5 BAG v. 10.11.2011 – 6 AZR 148/09, NZA 2012, 161.

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Anfechtbarkeit und Nichtigkeit von Tarifverträgen

Rz. 196 Teil 3

heitsproblems im Sinne einer Herbeiführung eines diskriminierungsfreien Zustandes nicht möglich gewesen sei und auch nicht in Aussicht gestanden habe: Den begünstigten älteren Arbeitnehmern habe man den Anspruch auf ihr höchstes Grundgehalt nicht rückwirkend entziehen können und die TV-Parteien hätten auch keine Anstalten gemacht, rückwirkend ein diskriminierungsfreies Vergütungssystem zu installieren. Eine gerichtlich verordnete Verpflichtung der TV-Parteien scheide schon angesichts von Art. 9 Abs. 3 GG aus. Durch eine Fristsetzung zu irgendeiner Neuregelung hätte den TV-Parteien auch nur eine Neuregelung für die Zukunft nahegelegt werden können. Die vorgenommene „Anpassung nach oben“ stehe im Übrigen auch in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, wenn dieser bisher auch im Wesentlichen nur auf Anpassungen der Rechte von Minderheiten an die besseren Rechte der Mehrheit gedrungen habe. Sie werde auch in der vorliegenden Fallkonstellation einer insgesamt altersdiskriminierenden Vergütungsregelung „der Vorgabe des Gerichtshofs, die diskriminierende Regelung außer Acht zu lassen und auf die durch die Diskriminierung benachteiligten Arbeitnehmer die gleiche Regelung wie auf die nicht benachteiligten Arbeitnehmer anzuwenden, jedenfalls dann am ehesten gerecht, wenn die Tarifvertragsparteien von einer rückwirkenden Ersatzregelung absehen und von den nicht diskriminierten Arbeitnehmern deshalb und auf Grund tariflicher Ausschlussfristen sowie aus Gründen des Vertrauensschutzes Leistungen nicht mehr mit Aussicht auf Erfolg zurückgefordert werden“1 könnten. Auch die wirtschaftliche Mehrbelastung des verklagten Arbeitgebers durch die „Anpassung nach oben“ wird gesehen. Der Senat lässt aber offen, ob dieser Gesichtspunkt überhaupt im Ergebnis eine Rolle spielen kann. Angesichts eines Anteils der Mehrbelastungen von 1,8 % der gesamten Personalkosten hätten diese in keinem Falle ein hierfür ausreichendes Gewicht. Diese Entscheidung, in der auch klargestellt wird, die Annahme einer Diskriminierung mit der Rechtsfolge einer „Anpassung nach oben“ werde nicht dadurch ausgeschlossen, dass die benachteiligte Arbeitnehmergruppe groß und die Gruppe der gleichheitswidrig Begünstigten klein ist, ist sicherlich nicht das letzte Wort zu der angesprochenen Problematik in all ihren auch tatsächlich und regelungstechnisch sehr unterschiedlichen Konstellationen. Sie macht jedoch zumindest zwei wichtige Punkte deutlich: – Die Vorstellung, den TV-Parteien eine Frist zu einer den Gleichbehandlungsgeboten entsprechenden Neuregelung zu setzen und von ihr eine abschließende Entscheidung abhängig zu machen, führt schon rechtlich nicht zum Ziel. Sie bietet darüber hinaus nach aller Erfahrung angesichts der beteiligten Interessen auch keine hinreichend Wahrscheinlichkeit, dass es innerhalb einer angemessenen Frist zu einer solchen Neuregelung kommt. Dann steht aber das Gericht nach Fristablauf ebenso wie es bei Fristsetzung stand. – Zu Recht hat das BAG nicht angenommen, eine ergänzende TV-Auslegung vorgenommen zu haben. Sie ist in Fällen wie den vorliegenden aus den von den Rechtsprechungskritikern zutreffend genannten Gründen zumindest 1 BAG v. 10.11.2011 – 6 AZR 148/09, NZA 2012, 165, Rz. 32.

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Teil 3 Rz. 197 Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen nicht mit dem von der Rechtsprechung gefundenen Ergebnis möglich. Die Rechtsprechung, die in Fällen von Gleichheitsverstößen der TV-Parteien eine „Anpassung nach oben“ anordnet, beruht auf dem durch das nationale wie das Unionsrecht vorgegebenen Ordnungsbefehl, eine den Gleichstellungsgeboten entsprechende Ordnung herzustellen. Dieser überwindet den Normsetzungsvorrang der TV-Parteien jedenfalls dann, wenn diese nicht von sich aus gemeinsame und ernsthafte Anstrengungen unternehmen, zu einer entsprechenden tariflich geregelten Ordnung zu gelangen. 197

Es spricht einiges dafür, dass die Frage der wirtschaftlichen Mehrbelastungen auch in Zukunft nur selten eine Rolle spielen wird. Stellt man sie in Relation zu den gesamten Personalkosten, was dann richtig ist, wenn es um die Beseitigung einer Diskriminierung durch eine überkommene Vergütungsordnung geht, wird man kaum je eine einer rechtserheblichen Störung der Geschäftsgrundlage entsprechende Kostensteigerung feststellen können. Anders kann es sich verhalten, wenn eine bestimmte differenzierende Neuregelung im Mittelpunkt eines ändernden TVes stand, die sich im Nachhinein als gleichheitswidrig erweist. Hier könnte das Kostenvolumen dieses TVes der Vergleichsmaßstab sein.

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Die Überlegung, im Falle einer altersdiskriminierenden Vergütungsordnung eine mittlere Vergütung zu ermitteln1, indem man die altersbedingten Differenzierungen herausrechnet, hat nicht nur praktische Bedenken gegen sich. Sie entfernt sich – zwar nicht im Volumen, wohl aber in der Regelung – ebenso weit wie eine Anpassung nach oben vom gemeinsamen Regelungskonzept der TV-Parteien. Darüber hinaus – und dies spricht letztlich gegen alle einer Anpassung nach oben entgegengestellten Lösungsmodelle – erweitert sie die gesetzliche Anordnung, wonach die Bestimmungen, die gegen das Benachteiligungsverbot verstoßen, unwirksam sind, dahin, ein Regelwerk, das nach verpönten Merkmalen differenziert, sei als Ganzes unwirksam; auch der Begünstigte habe im Hinblick auf eine Verletzung des Diskriminierungsverbotes keinen gesicherten Rechtsanspruch. Entsprechendes gilt im Verhältnis zur Anwendung des Gleichheitssatzes: Auch hier geht es nicht darum, eine günstige Behandlung der einen zu verhindern, sondern die anderen unter im Übrigen gleichen Bedingungen nicht ohne sachlichen Grund schlechter zu stellen. Beide Einschätzungen hindern nicht, ein sachwidrig differenzierendes System „auf mittlerer Ebene“ neu zu justieren. Es sind aber keine rechtlichen Gesichtspunkte dafür erkennbar, den besonders günstig Behandelten bis zu einer Neuregelung etwas wegzunehmen.

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Nach alledem spricht viel dafür, es in den typischen, aber nicht gerade täglich vorkommenden Fällen eines Gleichheitsverstoßes der TV-Parteien grundsätzlich bei einer „Anpassung nach oben“ zu belassen und bei hierdurch nach Qualität und Quantität besonders gewichtigen Veränderungen des ursprünglich übereinstimmend Gewollten die Möglichkeit der außerordentlichen fristlosen TV-Kündigung zu eröffnen, wenn Anpassungsverhandlungen in angemessener Zeit nicht zum Erfolg geführt haben (dazu näher Rz. 231 ff.). 1 So der Vorschlag von Bauer/Krieger, FS Bepler, S. 12.

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Das Ende der zwingenden Tarifgeltung

Rz. 203 Teil 3

G. Das Ende der zwingenden Tarifgeltung I. „Automatische“ Beendigungen durch Veränderungen bei den Tarifvertragsparteien? Es ist grundsätzlich ausgeschlossen, dass TVe allein deshalb enden, weil es zu Veränderungen auf Seiten einer oder beider TV-Parteien gekommen ist. Dies kann im Einzelfall zur Einschränkung oder zum Wegfall des Anwendungsbereichs solcher TVe führen; sie werden gegenstandslos. Eine außerordentliche Beendigung des auf Zeit abgeschlossenen, normativ wirkenden TVes ergibt sich daraus nicht.

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Dies gilt zunächst für den Fall, dass ein Unternehmen, sei es an einen Flächen-, sei es an einen HausTV gebunden, seine Geschäftstätigkeit völlig einstellt und sich wirksam von allen Beschäftigten trennt. Hier werden die tarifvertraglichen Regelungen, soweit sie nicht über das Arbeitsvertragsende hinaus wirken sollen, gegenstandslos; die tarifvertraglich begründeten Normen als solche bleiben bestehen1.

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Ob bei der Auflösung eines von mehreren Unternehmen gebildeten Gemeinschaftsbetriebes nach § 1 Abs. 2 BetrVG ein auf den Gemeinschaftsbetrieb bezogener und unter Beteiligung dieser Unternehmen abgeschlossener TV anwendbar bleibt, ist keine Frage der – fortbestehenden – Tarifgeltung, sondern der Auslegung der Geltungsbereichsregelungen des betreffenden TVes: Wollten die TV-Parteien den TV nur für ihren Gemeinschaftsbetrieb und die dort durchzuführenden Arbeitsverhältnisse schaffen, hat der TV mit der Auflösung des Gemeinschaftsbetriebes keinen Anwendungsbereich mehr; der TV selbst erlischt deshalb aber nicht; bei Wiederbegründung des Gemeinschaftsbetriebes, ohne dass zwischenzeitlich der TV ausgelaufen wäre, wird dieser wieder anwendbar. Ging es den TV-Parteien aber darum, für die Arbeitnehmer der am Gemeinschaftsbetrieb beteiligten Unternehmen unabhängig von ihrem aktuellen Beschäftigungsbetrieb tarifliche Mindestarbeitsbedingungen zu schaffen, handelt es sich zumindest auch um einen echten mehrgliedrigen TV, der in den fortbestehenden Arbeitsverhältnissen auch nach Auflösung des Gemeinschaftsbetriebes weiter gilt. Für ein dahingehendes Verständnis spricht etwa, wenn die am Gemeinschaftsbetrieb beteiligten Arbeitgeber nur dort, im Gemeinschaftsbetrieb, Arbeitnehmer beschäftigten, wenn es für jeden am Tarifabschluss beteiligten Arbeitgeber ein eigenes Kündigungsrecht hinsichtlich dieses TVes gibt, und wenn der TV im Wesentlichen allgemeine, nicht speziell auf die Besonderheiten der Zusammenarbeit in Gemeinschaftsbetrieb gerichtete Bestimmungen enthält2.

202

Der Wegfall der Tariffähigkeit oder der Tarifzuständigkeit eines an Tarifabschlüssen beteiligten Verbandes führt nicht ohne weiteres zum Erlöschen der von ihm abgeschlossenen TVe; es ist erforderlich, aber auch ausreichend,

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1 Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 208 Rz. 14; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 14; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 77. 2 Für ein generelles Fortbestehen in solchen Fällen Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 77; für ein ausnahmsloses Ende des betreffenden TVes Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 385.

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Teil 3 Rz. 204 Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen wenn TVe von tariffähigen Verbänden im Rahmen ihrer satzungsmäßigen Zuständigkeit abgeschlossen wurden1. Die spätere Entwicklung bei den tarifschließenden Verbänden ändert nichts daran, dass einem derart zustande gekommenen TV unverändert die hinter den genannten Abschlussvoraussetzungen stehende Angemessenheitsvermutung zukommt. Es gibt auch beide Vertragsparteien des TVes noch. Eine von ihnen ist lediglich nicht mehr in der Lage, einen ablösenden TV im Rechtssinne abzuschließen. Ob sich allein daraus ein Recht der anderen TV-Partei ergibt, den TV außerordentlich zu kündigen, mag man erwägen können2. 204

Die spätere Entwicklung allein ist jedenfalls ebenso unerheblich für den Fortbestand eines ordnungsgemäß zustande gekommenen TVes wie das Abstreifen der Tarifgebundenheit durch den einzelnen Arbeitgeber nach Tarifabschluss durch Verbandsaustritt oder Statuswechsel in die OT-Mitgliedschaft. Insoweit bestimmt § 3 Abs. 3 TVG ausdrücklich, dass die bei Ende der Tarifgebundenheit bestehenden TVe bis zu ihrem Ende – zwingend – weitergelten. Auf diese Weise wird die Kontinuität der auch durch die später ausgetretenen Mitgliedsunternehmen legitimierten TVe sichergestellt. Gelegentlich wird die Möglichkeit angesprochen, es könne zu einem automatischen Wegfall eines HausTVes führen, wenn der am Tarifabschluss beteiligte Arbeitgeber ersatzlos, d.h. insbesondere ohne Rechtsnachfolger, wegfalle3. Dazu mag es in ganz außergewöhnlichen Fallkonstellationen kommen. Für den Normalfall gilt aber im deutschen Recht, dass Rechtssubjekte nicht ohne weiteres ersatzlos erlöschen; sie werden entweder als natürliche Person beerbt oder müssen als juristische Personen als Liquidationsgesellschaften abgewickelt werden. Ein Erlöschen wegen Wegfalls eines Vertragspartners eines HausTVes, bei dem die Wertung des § 3 Abs. 3 TVG keine Rolle spielt, kommt deshalb nur dann in Betracht, wenn eine juristische Person, die als Partei des HausTVes bisher einen Betrieb unterhielt, diesen stilllegt und sodann liquidiert wird.

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Auf vergleichbaren Erwägungen, die hier aber um die Grundwertung aus § 3 Abs. 3 TVG angereichert sind, beruht die Annahme der neueren Rechtsprechung, die Auflösung eines Arbeitgeberverbandes führe nicht ohne Weiteres zur Beendigung der von dem Verband abgeschlossenen und für die Mitgliedsunternehmen nach § 3 Abs. 1 TVG und § 4 Abs. 1 TVG normativ wirkenden TVe4. Der Verband muss – notfalls im Zuge seiner Liquidation – die unter seiner Beteiligung abgeschlossenen TVe kündigen. Bis zum Wirksamwerden der Kündigung gilt der TV nach § 3 Abs. 1 TVG weiter, es sei denn, das Liquidationsverfahren wäre vorher beendet worden. In diesem Falle gilt der TV bis zum Ablauf der Kündigungsfrist vollwirksam nach § 3 Abs. 3 TVG. Die an der Li1 Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 2 Rz. 31; a.A. HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 27 [Fn. 6]; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 168, § 1 TVG Rz. 1398. 2 So Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 2 Rz. 31 und – hilfsweise – Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 168, § 1 TVG Rz. 1398. 3 Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 81 m.w.N. 4 BAG v. 23.1.2008 – 4 AZR 312/01, NZA 2008, 774, unter Aufgabe seiner gegenteiligen Rechtsprechung (BAG v. 15.10.1986 – 4 AZR 289/85, NZA 1987, 246 = AP TVG § 3 Nr. 4 mit Anm. Wiedemann, und BAG v. 28.5.1997 – 4 AZR 545/95, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 27 und 4 AZR 546/95, NZA 1998, 40).

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Rz. 207 Teil 3

quidation beteiligten Verbandsmitglieder werden im Ergebnis so behandelt, als wären sie jeweils einzeln aus dem Tarifbindung vermittelnden Arbeitgeberverband ausgetreten1. Ein anderes Ergebnis stünde im Wertungswiderspruch zu § 3 Abs. 3 TVG. Die bei der Gründung von ver.di als Fusion vorher selbstständiger Einzelgewerkschaften unter Ausschluss von Auflösung und Abwicklung aufgetretene Frage, was aus den von diesen Einzelgewerkschaften abgeschlossenen TVen wird, hat das Bundesarbeitsgericht mit der ganz herrschenden Meinung in der Literatur dahin entschieden, dass diese TVe fortgelten; bei den an sie gebundenen Mitgliedern der Gründungsgewerkschaften setzt sich die Tarifgebundenheit aufgrund ihrer Mitgliedschaft in der aufnehmenden Gewerkschaft ver.di fort2.

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II. Die ordentlichen Beendigungsformen 1. Ordentliche Kündigung und Befristung TVe sind in aller Regel „Friedensverträge auf Zeit“. Sie regeln aktuell und für einen von den TV-Parteien festgelegten Zeitraum in der Zukunft in beiderseits tarifgebundenen Arbeitsverhältnissen, was dort zwingend als Mindestarbeitsbedingungen gelten und was für diese Zeit schuldrechtlich zwischen den TVParteien maßgebend sein soll. Dabei werden die TVe in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle nicht einfach befristet oder auch auflösend bedingt3 abgeschlossen („Der Tarifvertrag endet am 31. Dezember 2013“ oder „Der Tarifvertrag endet mit der Veröffentlichung einer Feststellung des Statistischen Bundesamtes, wonach seit Inkrafttreten des Tarifvertrages eine allgemeine Preissteigerung um mehr als 5,0 % eingetreten ist.“4). Sehr viel häufiger dürften TVe auf unbestimmte Zeit sein, die eine bestimmte Kündigungsfrist festlegen und zu einem bestimmten Zeitpunkt erstmals ordentlich kündbar ge1 Ebenso auch Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 84; Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 142; Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 2 Rz. 26; Berg/Platow/Schoof/Unterhinninghofen, § 4 TVG Rz. 88. 2 BAG v. 11.5.2005 – 4 AZR 315/04, NZA 2005, 1362 = AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 30 mit Anm. Jacobs = RdA 2007, 47 mit Anm. Moll; im Ergebnis ebenso Rieble, AuR 1990, 365; sowie Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 87 f., dessen Auffassung überzeugt, eine Gewerkschaftsfusion unterliege im Hinblick auf den besonderen Bestandschutz für Koalitionen in ihrer historisch gewachsenen Form aus Art. 9 Abs. 3 GG in entsprechender Anwendung der §§ 99 ff. UmwG keinem Zwang zu vorheriger Selbstauflösung und Begründung neuer Mitgliedschaften, auch wenn es sich um den Zusammenschluss nicht rechtsfähiger Vereine handele. 3 Zu dieser selten praktizierten, aber in den dem allgemeinen Recht zu entnehmenden Grenzen zulässigen Beendigungsform vgl. nur Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 18 f.; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1357 ff.; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz.75. 4 Hierzu etwa Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 8 Rz. 4 m.w.N.; es liegt allerdings näher, das hier angestrebte Regelungsziel über eine Revisionsklausel, also ein vorherige Anpassungsverhandlungen voraussetzendes Lossagungsrecht zu verfolgen; eine haustarifvertragliche Revisionsklausel mit Nachverhandlungspflicht behandelt BAG v. 14.11.1958 – 1 AZR 247/57, DB 1959, 114.

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Teil 3 Rz. 208 Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen stellt werden (z.B. § 39 Abs. 2 TVöD: „Dieser Tarifvertrag kann von jeder Tarifvertragspartei mit einer Frist von drei Monaten zum Schluss eines Kalenderhalbjahres schriftlich gekündigt werden, frühestens jedoch zum 31. Dezember 2009.“). Solche Regelungen können auch mit einer Verlängerungsklausel versehen sein, die für den Fall, dass von dem eingeräumten Kündigungsrecht kein Gebrauch gemacht wird, eine Verlängerung der durch ordentliche Kündigung nicht abkürzbaren Mindestlaufzeit vorsehen1. Umgekehrt ist insbesondere für (Haus-)SanierungsTVe aber auch denkbar, TVe für eine bestimmte – in der Sache dann – Höchstlaufzeit abzuschließen und während der Laufzeit eine Kündigungsmöglichkeit zu eröffnen2. 208

Auf einzelne Regelungsbereiche bezogene Teilkündigungen sind bei TVen grundsätzlich ausgeschlossen, es sei denn, der TV eröffnet selbst eine solche an sich zulässige Gestaltungsmöglichkeit3, was nicht selten geschieht. So hat etwa der TV für den öffentlichen Dienst (TVöD) in § 39 für eine Vielzahl von Regelungen, insbesondere zur Arbeitszeit, Teilkündigungsrechte eröffnet.

a) Kündigungszuständigkeit 209

Befugt, einen TV zu kündigen oder eine TV-Kündigung entgegenzunehmen, sind grundsätzlich nur die im TV selbst benannten TV-Parteien und ihre Gesamtrechtsnachfolger4. Bei mehrgliedrigen TVen, bei denen am Tarifabschluss auf einer oder beiden Seiten mehrere Verbände oder Arbeitgeber beteiligt gewesen sind, ist im Zweifel jeder von ihnen zur Kündigung befugt5. Eine derartige Kündigung kann dann aber auch nur für den gekündigten TV wirken, der im Verhältnis zwischen dem Kündigenden und der Gegenseite gilt. Die übrigen, im mehrgliedrigen TV gebündelten TVe bleiben vollwirksam bestehen. Die TV-Parteien können allerdings auch eine andere Regelung treffen und die Ausübung des Kündigungsrechts den TV-Parteien einer Seite nur gemeinsam zuweisen; in einem solchen Fall spricht man üblicherweise von einem EinheitsTV. Eine solche Regelung, die typischerweise schon deshalb die Ausnahme darstellt, weil eine TV-Partei sich im Zweifel auch nicht auf Zeit ihrer tariflichen Rechtssetzungsbefugnis begibt, ist verbindlich und beschränkt die Kündigungsbefugnis auch im Außenverhältnis wirksam. 1 Die in die Literatur häufiger erörterte Frage, für welchen Zeitraum höchstens man auf diese Weise einen TV ordentlich unkündbar stellen kann, ohne dass die TV-Parteien, was ihnen nicht eröffnet ist, den Kernbereich ihrer Normsetzungsbefugnis aufgeben (vgl. hierzu auch BAG v. 10.11.1982 – 4 AZR 1203/79, DB 1983, 717), dürfte nur selten praktisch werden. Die hier erwogene, an § 624 BGB orientierte Höchstfrist von fünf Jahren (Hanau/Kania, DB 1995, 1229 [1230]; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 107b) erscheint aber zur Sicherung einer ausreichenden Handlungsfähigkeit bei der Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen plausibel. 2 So der HausTV, der Gegenstand des Urteils des BAG v. 26.8.2009 war (– 4 AZR 280/08, NZA 2010, 238). 3 BAG 3.5.2006 – 4 AZR 795/05, NZA 2006, 1125 m.w.N.; Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 8 Rz. 13; HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 25; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1385 f. 4 Statt aller Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 21; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 110. 5 BAG v. 8.11.2006 – 4 AZR 590/05, NZA 2007, 576; BAG v. 7.5. 2008 – 4 AZR 229/07, ZTR 2008, 615; Oetker, RdA 1995, 82 (100 f.); Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 16, 27.

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Rz. 212 Teil 3

Dass die Kündigungszuständigkeit sich nur auf die am Tarifabschluss Beteiligten und ihre Gesamtrechtsnachfolger erstreckt, ist für VerbandsTVe insgesamt unstrittig. Dies gilt auch dann, wenn ein an einen Verbandstarif gebundener Arbeitgeber seinen Betrieb auf einen nicht tarifgebundenen Betriebserwerber überträgt. Hier entsteht für den Betriebserwerber kein besonderes, sich auf die nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB transformierten Tarifregelungen beziehendes Kündigungsrecht. Fraglich ist geworden, ob dies auch dann gilt, wenn es sich bei den transformierten Tarifregelungen um solche eines HausTVes handelt. Das Bundesarbeitsgericht hat dies bejaht1. Peter Hanau und Sandy Strauß2 nehmen demgegenüber an, das tarifliche Kündigungsrecht, das auf den normativen Tarifbestand einwirke, gehöre als solches auch zum normativen Teil eines TVes. Es werde deshalb auch Teil des in das Arbeitsverhältnis transformierten normativen Tarifrechts (§ 613a Abs. 1 Satz 2 BGB). Als solches könne es dann aber auch von und gegenüber dem Erwerber ausgeübt werden, auch wenn dieser nicht Gesamtrechtsnachfolger des Betriebsveräußerers sei.

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Es bleibt abzuwarten, ob das Bundesarbeitsgericht sich dieser Rechtsauffassung, die den Vorteil der einfacheren Handhabung für sich hat, anschließt. Dies dürfte allerdings nur für den – vom Bundesarbeitsgericht anders entschiedenen – Fall in Betracht kommen, dass der Erwerber die gesamten betrieblichen Aktivitäten der ursprünglichen HausTV-Partei übernimmt. Bleibt bei einem Betriebsteil-Veräußerer ein Anwendungsbereich für den HausTV, dürften die von Hanau und Strauß gegen eine Kündigungsbefugnis des Erwerbers bei ursprünglicher Bindung an einen VerbandsTV angeführten Gesichtspunkte entsprechend gelten.

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b) Kündigungsfristen Eine Mindestkündigungsfrist ist für eine Beendigung durch ordentliche Kündigung von Gesetzes wegen ebenso wenig ausdrücklich vorgeschrieben wie eine besondere Kündigungsform. Üblicherweise bestimmen die TV-Parteien selbst, dass Kündigungen innerhalb einer bestimmten Frist und schriftlich oder auch durch eingeschriebenen Brief erfolgen müssen. Fehlt ausnahmsweise eine ausdrückliche Regelung zur Kündigungsfrist, tendiert die Rechtsprechung im Einklang mit der Wissenschaft dazu, eine ordentliche Kündigungsmöglichkeit stets zuzulassen und die Regelkündigungsfrist von drei Monaten für Betriebsvereinbarungen aus § 77 Abs. 5 BetrVG entsprechend heranzuziehen3, wobei mangels dort festgelegtem Kündigungstermin der Fristablauf nach § 187 Abs. 1 BGB zu ermitteln ist. Wird die Kündigungsfrist in der Erklärung nicht eingehal1 BAG 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, AP BGB § 613a Nr. 376; zustimmend Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 110a. 2 Hanau/Strauß, FS Bepler, 2012, S. 199 (202 ff.). 3 Zuletzt BAG v. 18.6.1997 – 4 AZR 710/95, NZA 1997, 1234; siehe auch BAG v. 15.4.2008 – 9 AZR 159/07, DB 2009, 800; Däubler/Deinert, § 1 TVG Rz. 109; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht Band I, S. 770; HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 25; Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 132; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1383; Wiedemann/ Wank, § 4 TVG Rz. 24; es mag in Einzelfällen aber auch Ergebnis der Auslegung von TVen mit besonderem Regelungsgehalt sein, dass eine entfristete Vertragsaufsage möglich sein soll, vgl. dazu Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 1435.

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Teil 3 Rz. 213 Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen ten, ergibt sich aber durch Auslegung der Kündigungserklärung, dass eine ordentliche Kündigung des TVes beabsichtigt war, wirkt die Kündigung im Zweifel ohne weiteres zum richtigen Zeitpunkt1. Einer Umdeutung bedarf es nicht, weil die Angabe eines Kündigungsendtermins im Zweifel nur eine – unrichtige – Wissenserklärung ist, was das vermeintliche Ende der ordentlichen Kündigungsfrist angeht. Sie ist nicht Teil der rechtsgeschäftlichen ordentlichen Kündigungserklärung.

c) Schriftform 213

Eine im TV vorgesehene Schriftform für die TV-Kündigung, die keiner Begründung bedarf, ist im Zweifel Wirksamkeitsbedingung (§ 125 Satz 2 BGB)2. Aber auch wenn sie nicht ausdrücklich vorgesehen ist, bedürfen TV-Kündigungen grundsätzlich der Schriftform. Zwar mag beim Schriftformgebot des § 1 Abs. 2 TVG die Publizitätsfunktion nicht im Vordergrund stehen3. Die Bestimmung ist jedoch auch hier zu Grunde zu legen. Die Beweisprobleme, die sich aus einer Möglichkeit ergeben, TVe auch nur mündlich wirksam zu kündigen, können im Interesse einer funktionsfähigen Tarifautonomie mit der ihr auch zugewiesenen Ordnungsaufgabe grundsätzlich nicht hingenommen werden. Das Schriftformgebot des § 1 Abs. 2 TVG ist als eine das TV-Recht prägende Grundentscheidung zu verstehen und deshalb entsprechend grundsätzlich auch als Gebot für den Ausspruch von TV-Kündigungen heranzuziehen4. Die überwiegende Gegenauffassung in der Wissenschaft geht demgegenüber davon aus, es handele sich bei § 1 Abs. 2 TVG um eine abschließende Regelung der Formbedürftigkeit nur des TVes selbst, die keine ausweitende Anwendung erlaube, sondern einen Umkehrschluss nahelege.

d) Vertreterkündigungen 214

Kündigungen von TVen unterliegen den Bestimmungen des BGB. Sie sind als auslegungsbedürftige (§§ 133, 157 BGB) Gestaltungserklärungen bedingungsfeindlich und können durch Vertreter erklärt werden. Die Zurückweisung einer in Vertretung ausgesprochenen TV-Kündigung nach § 174 BGB ist an sich möglich, wenn der Kündigungserklärung eine Vollmachturkunde nicht beigelegt worden ist. Regelmäßig wird die Erklärung zwar im laufenden Tarifgeschäft durch eine für die Gegenseite erkennbar berechtigte Person erfolgen; der Erklärungsgegner wird im Allgemeinen vorab über die erklärungsbefugten Personen der gegenüber stehenden zuständigen Organisation oder Unterorganisation hinreichend informiert sein. Auch ohne eine solche förmliche Information wird eine Zurückweisung nach § 174 BGB wegen Fehlens einer Vollmachturkunde in aller Regel ausscheiden, wenn die Person, die für die gegnerische Organisation den TV abgeschlossen hatte, auch die Kündigung erklärt 1 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 23; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 115. 2 A.A. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 23. 3 Thüsing (Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 319) spricht der Bestimmung sogar jede Publizitätsfunktion ab. 4 Ebenso Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1434; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 111 mit Nachweisen zur überwiegenden Gegenauffassung.

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Rz. 216 Teil 3

hat. Gleichwohl sollte wegen der Bedeutung einer TV-Kündigung für Dritte einer Kündigungserklärung durch einen Vertreter grundsätzlich eine Vollmachturkunde beigefügt werden.

2. Beendigung durch Aufhebungsvertrag Als Herren ihres Vertrages können die TV-Parteien dessen zwingende Wirkung auch jederzeit und ohne Einhaltung einer Frist einvernehmlich, also durch Aufhebungsvertrag, beenden. In einer älteren Entscheidung hatte das Bundesarbeitsgericht angenommen, ein solcher Aufhebungsvertrag sei formfrei möglich1. Es hat angenommen, wenn die Kündigung eines TVes ohne Einhaltung einer Form erfolgen könne, könne auch dessen einvernehmliche Beendigung keinem Formzwang unterliegen. Das überzeugt schon vom Ansatz her nicht, folgt man der hier vertretenen Auffassung, dass auch TV-Kündigungen entsprechend § 1 Abs. 2 TVG formbedürftig sind. Aber selbst wenn man mit der überwiegende Literatur von der Formfreiheit von Kündigungserklärungen ausgeht, spricht alles dafür, für Aufhebungsverträge zur Beendigung der zwingenden Tarifgeltung einen Formzwang nach § 1 Abs. 2 TVG anzunehmen: § 6 und § 7 TVG verlangen ausdrücklich für Aufhebungsverträge der TV-Parteien ebenso wie für den Abschluss und die Änderung von TVen, dass sie zum Tarifregister gemeldet werden müssen. Angesichts der äußerst zurückhaltenden Regelung von Publizitätspflichten im TV-Recht spricht bereits diese gesetzliche Gleichstellung dafür, sie auch bei § 1 Abs. 2 TVG vorzunehmen2. Darüber hinaus stellt normalerweise jeder Aufhebungsvertrag zumindest insoweit auch einen Abänderungsvertrag dar, der unstreitig dem Schriftformzwang unterfällt3, als er die Laufzeitbestimmungen des aufgehobenen TVes einvernehmlich abändert, weshalb er im Interesse der Tarifunterworfenen einer unproblematischen Beweisbarkeit bedarf.

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3. Wirkungsbeendigung durch anderweitigen Tarifabschluss In einem schon länger tariflich geregelten Bereich beenden neu abgeschlossene TVe regelmäßig die Geltung von Vorgängernormen. War die Vorgängerregelung bereits gekündigt und war die Kündigungsfrist abgelaufen, sind von den Parteien dieses TVes abgeschlossene Neuverträge „andere Abmachungen“ im Sinne von § 4 Abs. 5 TVG und beenden dessen normative, aber abdingbare Nachwirkung. War der VorgängerTV nicht gekündigt worden, ist der NachfolgeTV im Zweifel zugleich als Aufhebungsvertrag für die Vorgängerregelung

1 BAG v. 8.9.1976 – 4 AZR 359/75, BB 1977, 94 = AP TVG § 1 Form Nr. 5 mit Anm. Wiedemann. 2 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 15; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 97; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1442; Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 144; Oetker in Jacobs/ Krause/Oetker, § 8 Rz. 6. 3 So auch BAG v. 21.3.1973 – 4 AZR 225/72, AP TVG § 4 Geltungsbereich Nr. 12 mit Anm. Kraft.

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Teil 3 Rz. 217 Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen auszulegen1, ein Ergebnis, das üblicherweise begrifflich aus der Anwendung des im Verhältnis zwischen denselben TV-Parteien geltenden Ablösungs- bzw. Ordnungsprinzips oder der Zeitkollisionsregel hergeleitet wird2; hier scheidet eine Anwendbarkeit des Günstigkeitsprinzips aus3. 217

Im Einzelfall kann problematisch sein, in welchem Umfang ein vorausgegangener TV durch eine Neuregelung tatsächlich in der beschriebenen Weise beendigt wird. Auch dies muss durch Auslegung des neuen TVes geklärt werden: Haben die TV-Parteien ihren TV in gleicher Weise wie eine ältere Regelung bezeichnet (z.B. MantelTV, EntgeltrahmenTV o. ä.), sind, wenn sie in ihrem neuen Regelwerk nichts Abweichendes festgelegt haben, alle Bestimmungen der Vorgängerregelung aufgehoben. Schweigt die Neuregelung zu einem Regelungskomplex, der bisher behandelt worden war, ist dieses Schweigen im Zweifel beredt, die Vorgängerbestimmungen hierzu sind aufgehoben.

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Schwieriger wird es, wenn die TV-Parteien ihrer Neuregelung eine neue, bislang so nicht verwendete Bezeichnung vorangestellt haben, oder wenn sie erkennbar mehrere Regelungskomplexe, die bisher in verschiedenen TVen behandelt worden waren, in einem Normenwerk zusammengefasst haben. Hier ist, wenn ausdrückliche Festlegung der TV-Parteien selbst fehlen, nach Regelungsbereichen ähnlich der Aufteilung für den Sachgruppenvergleich bei der Anwendung des Günstigkeitsprinzips zu entscheiden. Im Zweifel wollen TVParteien nicht innerhalb desselben Sachbereichs Regelungen aus unterschiedlichen Regelwerken zur Anwendung gebracht wissen. Neuregelungen in einem Sachbereich heben die hierauf bezogenen Altregelungen, in welchem TV auch immer sie sich zuvor fanden, auf. Nicht behandelte Regelungskomplexe aus Altverträgen bleiben bei dieser Fallgestaltung im Zweifel voll wirksam bestehen.

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Dass Neuregelungen derselben TV-Parteien deren Altregelungen aufheben, ist das wohl typische Ergebnis der Tarifauslegung. Es sind aber auch andere Regelungsinhalte denkbar. Es steht den TV-Parteien frei, Normenwerke für einen vorübergehenden Zeitraum zu schaffen, mit der erkennbaren Absicht, dass nach diesem Zeitraum die alte Regelung wieder wirken soll. In einem solchen Fall, der durch einen tarifvertraglichen Ausschluss der Nachwirkung in der Neuregelung eindeutig indiziert ist, findet entsprechend dem Willen der TVParteien keine Aufhebung der Altregelung statt, sondern lediglich deren Verdrängung auf Zeit. Die Altregelung bleibt als solche wirksam. Die dort geregelten Rechte und Pflichten werden deshalb auch zusammen mit denen aus der Neuregelung im Zuge eines Betriebsüberganges auf einen nicht tarifgebundenen Betriebserwerber in die Arbeitsverhältnisse der übernommenen Arbeitnehmer transformiert; nach Ablauf der Neuregelung werden sie im übergegangenen Arbeitsverhältnis wieder voll wirksam4. 1 Zu einer besonderen Fallkonstellation BAG v. 22.1.2003 – 10 AZR 227/02, ZTR 2003, 292. 2 So etwa Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1367. 3 Statt aller BAG v.14.10.2003 – 9 AZR 678/02, unter A II 3a) der Gründe, AP TVG § 1 TVe: Lufthansa Nr. 31; Ahrendt, RdA 2012, 129 (133); Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 77. 4 BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010,41 unter B I 3 der Gründe.

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Das Ende der zwingenden Tarifgeltung

Rz. 221 Teil 3

Zu den zuletzt angesprochenen Fallgestaltungen wird es insbesondere im Zuge haustarifvertraglicher Regelungen kommen. Hier ist die Rechtslage im Ausgangspunkt etwas anders: Ein Arbeitgeber, der an einen FlächenTV durch Verbandsmitgliedschaft gebunden ist, verliert hierdurch jedenfalls im hier allein interessierenden Außenverhältnis zum sozialen Gegenspieler nicht seine Fähigkeit, in eigenem Namen HausTVe abzuschließen1. Er bleibt aber auch nach Abschluss eines HausTVes mit der am FlächenTV beteiligten Gewerkschaft auch an diesen gebunden. Eine Aufhebung des FlächenTVes durch die neue Regelung scheidet angesichts der Verschiedenheit der Vertragsparteien auf Arbeitgeberseite aus. Da aber in einer solchen Situation für alle Arbeitsverhältnisse, wenn sie denn überhaupt kraft beiderseitiger Tarifbindung tariflichen Regelungen unterliegen, sowohl der FirmenTV als auch der HausTV Geltung beanspruchen, kommt es hier zu einer echten Tarifkonkurrenz. Sie muss aufgelöst werden. Dabei ist unstrittig, dass für die Dauer der Geltung des HausTVes dieser den FlächenTV verdrängt, soweit er zu bestimmten Regelungskomplexen dort besondere Regelungen enthält2. Ganz überwiegend wird zur Begründung auf den Spezialitätsgrundsatz abgestellt, der hier, bei fehlender Identität beider Regelungsgeber, nur als rechtsfortbildend zu Grunde gelegtes besonderes Ordnungsprinzip verstanden werden kann, das aber mit der Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit eigentlich seine Grundlage verloren hat; Matthias Jacobs und Christopher Krois3 begründen ihr hiermit übereinstimmendes Ergebnis statt dessen mit der Tarifautonomie als kollektiv ausgeübter Privatautonomie, nach der der individuellen Mitgestaltungsentscheidung des einzelnen Arbeitgebers der Vorrang einzuräumen sei.

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Ist im HausTV die Nachwirkung ausgeschlossen, was insbesondere für SanierungsTVe typisch ist, endet die Verdrängungswirkung mit Wirksamwerden der Kündigung des HausTVes ohne weiteres. Strittig ist, ob dies auch bei HausTVen gilt, bei denen die TV-Parteien die Nachwirkung nicht ausgeschlossen haben. Überwiegend wird wohl – mit unterschiedlicher dogmatischer Begründung – angenommen, auch in einem solchen Fall ende der HausTV ohne weiteres; der FlächenTV lebe wieder auf4. Die TV-Parteien des ohne Ausschluss der Nachwirkung abgeschlossenen HausTVes haben aber mit einer derartigen Regelung ihre grundsätzliche Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass sie in dem betreffenden Betrieb oder Unternehmen eine spezielle Normsetzung auf unbestimmte Zeit für geboten halten. Dies spricht dafür, in solchen Fällen auch den nur nachwirkenden HausTV den FlächenTV zumindest so lange verdrängen zu lassen, wie noch offen ist, ob es zum Abschluss eines Anschluss-

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1 BAG 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, NZA 2003, 734 m.z.w.N. 2 Statt aller Ahrendt, RdA 2012, 129 (133 m.z.w.N. [Fn. 67]). 3 Jacobs/Krois, FS Bepler, 2012, S. 241 (246) m.w.N.; ebenso Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, 2005, S. 360. 4 So wohl BAG v. 4.9.1996 – 4 AZR 135/95, NZA 1997, 271; BAG v. 28.5.1997 – 4 AZR 546/95, NZA 1998, 40 = AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 26 mit Anm. Kania; ebenso Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 938; Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, § 4 TVG Rz. 174; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 290; mit teilweise entgegengesetzter Tendenz BAG v. 4.7.2007 – 4 AZR 491/06, NZA 2008, 307.

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Teil 3 Rz. 222 Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen HausTVes zwischen denselben TV-Parteien kommen wird1. Dies ist nicht mehr der Fall, wenn eine der TV-Parteien ernsthaft und endgültig Verhandlungen über einen solchen TV verweigert; danach gilt bei beiderseitiger Tarifgebundenheit wieder der FlächenTV. Dieselbe Rechtsfolge tritt ein, wenn der am spezielleren HausTV beteiligte Arbeitgeber wegen Verschmelzung als Partei eines AnschlussTVes nicht mehr in Betracht kommt2. 222

Jedenfalls die Inhaltsnormen eines TVes enden in keinem Falle ohne weiteres allein dadurch, dass ein Arbeitgeberverband oder ein einzelner tarifgebundene Arbeitgeber mit einer anderen Gewerkschaft einen weiteren TV abschließt. Das Bundesarbeitsgericht hat den rechtsfortbildend entwickelten mit dem geschriebenen einfachen und Verfassungsrecht aber nicht vereinbaren Grundsatz der Tarifeinheit, nach dem die in einem solchen Fall entstehende Tarifpluralität zu Gunsten eines dieser TVe aufgelöst werden sollte, aufgegeben3. Angesichts dessen bleiben die Inhaltsnormen der TVe, die mit den konkurrierenden Gewerkschaften abgeschlossen worden sind, jeweils inhaltlich voll wirksam und gelten in den Arbeitsverhältnissen, in denen hinsichtlich des jeweiligen TVes beiderseitige Tarifgebundenheit besteht.

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Dies gilt allerdings nur für die Inhaltsnormen eines TVes; denn nur bei ihnen ist ein Nebeneinander der Regelungen rechtlich und tatsächlich möglich. Bei Betriebsnormen und Normen über betriebsverfassungsrechtliche Fragen, bei denen es nur auf die Tarifgebundenheit des an alle infrage kommenden TVe gebundenen Arbeitgebers ankommt (§ 3 Abs. 2 TVG), entsteht in einer solchen Fallkonstellation eine zu Gunsten einer tariflichen Regelung auflösungsbedürftige betriebsweite Tarifkonkurrenz4. Nach welchen Regeln die maßgebend bleibende betriebliche oder betriebsverfassungsrechtliche Tarifregelung zu bestimmen ist, ist noch nicht geklärt. Es spricht alles gegen eine Entscheidung nach Maßgabe der hier kaum praktikablen Spezialitätsregel oder gar nach der auch verfassungsrechtlich bedenklichen Zeitkollisionsregel. Soweit bisher erkennbar, kann die Entscheidung nur nach noch weiter zu konkretisierender Maßgabe der Repräsentativität der insoweit konkurrierenden TVe fallen. 1 Berg/Platow/Schoof/Unterhinninghofen, § 4 TVG Rz. 73; Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 861; Jacobs in Jacobs/Krause/Oetker, § 7 Rz. 219; offengelassen in BAG v. 4.7.2007 – 4 AZR 439/06, ZTR 2008, 278, für den Fall, dass der FlächenTV bereits galt, als der HausTV in den Zustand der Nachwirkung trat; nach dieser Entscheidung soll allerdings ein neu abgeschlossener FlächenTV stets einen nachwirkenden HausTV ablösen. Nach hier vertretener Auffassung ist es eine Frage der Auslegung, ob in dem Abschluss des FlächenTVes zum Ausdruck kommt, dass zumindest die beteiligte Gewerkschaft eine haustarifvertragliche Regelung nicht mehr will. 2 BAG v. 4.7.2007 – 4 AZR 491/06, NZA 2008, 307. 3 BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068; hierzu Bepler, Jahrbuch des Arbeitsrechts, Band 48 (2011), S. 23 m.z.w.N.; zu den Vorschlägen zur gesetzlichen Wiederherstellung des Grundsatzes der Tarifeinheit Franzen, FS Bepler, 2012, S. 1712 ff.; umfassend zu Problemen bei grundsätzlich fortbestehender Tarifpluralität Greiner, Rechtsfragen der Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfpluralität, 2010; Benedikt Schmidt, Tarifpluralität im System der Arbeitsrechtsordnung, 2011. 4 Stefan Greiner, Rechtsfragen der Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfpluralität, 2010, S. 403 ff.; Benedikt Schmidt, Tarifpluralität im System der Arbeitsrechtsordnung, 2011, S. 59 ff.

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Das Ende der zwingenden Tarifgeltung

Rz. 225 Teil 3

III. Beendigung durch außerordentliche Kündigung Es entspricht allgemeiner Auffassung, dass ein TV grundsätzlich auch außerordentlich, ohne Einhaltung einer im TV festgelegten Kündigungsfrist, kündbar ist1. Soweit als außerordentlicher Beendigungsgrund auch eine schwerwiegende Störung der bei Tarifabschluss zugrunde gelegten Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) angesprochen wird, handelt es sich nach richtiger Auffassung im Ergebnis nur um einen Unterfall der außerordentliche Kündigung, die auch bei Dauerregelungsverhältnissen das vorrangige Gestaltungsmittel ist2. Liegt eine solche Störung der tarifvertraglichen Geschäftsgrundlage vor, kann der TV außerordentlich gekündigt werden, wenn sich eine TV-Partei hierauf berufen und vergeblich versucht hat, mit der anderen TV-Partei eine ihnen beiden vorbehaltene Anpassung des Tarifinhalts an die grundlegend veränderten Umstände zu vereinbaren3. Die letzte einschlägige Rechtsprechung ist in diesem Zusammenhang nicht ganz klar. Während in einem Urteil vom 18. Dezember 19964 noch ausdrücklich offen gelassen wurde, „ob überhaupt und unter welchen Voraussetzungen die Unwirksamkeit eines TVes wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage eintreten kann“ heißt es wenig später5, es könne „dahin gestellt bleiben, ob und unter welchen Voraussetzungen eine außerordentliche Kündigung wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage in Betracht kommen“ könne. Im Ergebnis haben beide Entscheidungen die ausgesprochenen außerordentlichen Kündigungen zu Recht für unwirksam gehalten, weil die kündigende TV-Partei nicht vorab versucht hatte, den umstrittenen TV tarifautonom auf dem Verhandlungswege anzupassen.

224

Die auch in den angesprochenen Entscheidungen zum Ausdruck gekommene, sehr zurückhaltende Tendenz der höchstrichterlichen Rechtsprechung in sinngemäßer Anwendung des § 626 Abs. 1 BGB eine einseitige außerordentliche Beendigung von TVen im Hinblick auf Tatsachen zuzulassen, auf Grund deren dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände und nach umfassender Interessenabwägung nicht zugemutet werden kann, am TV bis zur ersten Möglichkeit einer ordentlichen TV-Beendigung festgehalten zu werden, wird verständlich, wenn man mögliche Kündigungsgründe im Einzelnen durchgeht. Herkömmlich wird darauf hingewiesen, wichtige Gründe könnten in der schwerwiegenden Verletzung schuldrechtlicher TV-Pflichten durch die andere

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1 Statt aller BAG 15.4.2008 – 9 AZR 159/07, DB 2009, 800. 2 Grundsätzlich a.A. Bender, Der Wegfall der Geschäftsgrundlage …, 2005, der das Rechtsinstitut des § 313 BGB auch im Tarifvertragsrecht anwenden will. Seine Ausführungen sind aber auch dann weiter führend, wenn man dem Kündigungsrecht hier den förmlichen Gestaltungsvorrang einräumt. 3 Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 119; Henssler, ZfA 1994, 487 (494); Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1406 ff.; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 65 m.z.w.N. auch zur Gegenauffassung. 4 BAG v. 18.12.1996 – 4 AZR 129/96, NZA 1997, 830 = AP TVG § 1 Kündigung Nr. 1 mit Anm. Löwisch. 5 BAG v. 18.6.1997 – 4 AZR 710/95, NZA 1997, 1234.

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Teil 3 Rz. 226 Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen TV-Partei liegen, etwa was Friedens- und Durchführungspflichten angeht1; darüber hinaus könnte eine Aufrechterhaltung der zwingenden Tarifwirkung auch dadurch unzumutbar werden, dass sich die tatsächlichen oder rechtlichen Rahmenbedingungen nach Tarifabschluss grundlegend verändert hätten2. 226

In allen angesprochenen Fällen gibt es rechtliche und tatsächliche Schwierigkeiten, die erklären, warum es soweit ersichtlich noch nicht zu einer höchstrichterlich anerkannten fristlosen TV-Kündigung gekommen ist: Eine Friedenspflichtverletzung kommt als Kündigungsgrund von vornherein nur in Betracht, wenn sie von der am Tarifabschluss beteiligten Gewerkschaft ausgegangen ist. Es ist indes wenig wahrscheinlich, dass eine derartige Pflichtverletzung einmal zum Anlass für eine fristlose TV-Kündigung genommen wird. Wäre doch die Folge, dass die offenbar in Belegschaften drohenden kampfweisen Arbeitsniederlegungen nunmehr sanktionslos möglich würden, weil mit Wegfall des TVes auch die durch ihn vermittelte Friedenspflicht entfiele. Vergleichbares gilt für eine Verletzung der den TV betreffenden schuldrechtlichen Durchführungspflicht; wenn eine TV-Partei Interesse an einer lückenlosen Umsetzung des tariflich Geregelten hat, wird sie kaum je auf die Idee kommen, dieses bislang zwingend Geregelte mit sofortiger Wirkung zu beseitigen, zumindest mit sofortiger Wirkung zur Disposition der Arbeitsvertragsparteien zu stellen. Denkbar erscheint in diesem Zusammenhang allenfalls, dass ein überregionaler TV außerordentlich gekündigt werden könnte, wenn der tarifschließende Dachverband sich nachhaltig weigert, auf seine regionalen Mitgliedsverbände einzuwirken, die im TV vorgesehenen regionalen UmsetzungsTVe abzuschließen; auch hier wird aber eine Einwirkungsklage der Interessenlage eher entsprechen3.

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Es kann im Einzelfall auch durchaus zweifelhaft sein, ob mit einer von einer TV-Partei als erheblich störend empfundene Verhaltensweise auch wirklich eine schuldrechtliche Nebenpflicht der anderen TV-Partei verletzt wurde: Im Oktober 2009 kündigte ein Arbeitgeberverband FlächenTVe zu Entgelt und allgemeinen Arbeitsbedingungen aus wichtigem Grund fristlos, weil die tarifschließende Gewerkschaft trotz vorheriger „Abmahnungen“ mit einem Mitgliedsunternehmen, wohl dem Marktführer, einen SanierungsTV abgeschlossen hatte, wodurch die Arbeitsbedingungen dort erheblich kostengünstiger waren als in der übrigen Branche. Der Verband, der sich zwischenzeitlich auch von diesem Mitgliedsunternehmen getrennt hatte, wies zur Begründung darauf hin, durch den Abschluss des SanierungsTVes werde die Wettbewerbssituation der übrigen Mitgliedsunternehmen stark beeinträchtigt. Man kann schon darüber streiten, ob dem TV tatsächlich wie vielfach angenommen eine Kartellfunktion zukommt; es könnte sich insoweit auch um eine bloß tatsächliche

1 Diese Beispiele werden vielfach genannt, seit sie das BAG am 14.11.1958 (1 AZR 247/57, AP TVG § 1 Friedenspflicht Nr. 4) in einem Schadenersatzprozess wegen eines rechtswidrigen Streiks obiter dictum angesprochen hat. 2 Z.B. Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 8 Rz. 15; HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 27 f.; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 56 ff. 3 Vgl. BAG v. 25.1.2006 – 4 AZR 552/04, DB 2006, 2017.

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Das Ende der zwingenden Tarifgeltung

Rz. 230 Teil 3

Folge der hier bestehenden Regelungswirkungen handeln1. Jedenfalls ist aber höchst fraglich, dass die TV-Partei auf Arbeitnehmerseite ohne eindeutige dahin gehende tarifvertragliche Übereinkunft allein deshalb, weil sie auch einen FlächenTV geschlossen hat, in ihrer Koalitionsbetätigungsfreiheit durch die Pflicht gegenüber der anderen TV-Partei eingeschränkt ist, die Wettbewerbssituation in der geregelten Branche mit zu berücksichtigen. Es spricht mehr dafür, dass insoweit allenfalls eine nicht justiziable Obhutspflicht der Gewerkschaft gegenüber ihren in den anderen Unternehmen der Branche beschäftigten Arbeitnehmern besteht, und der betreffende Arbeitgeberverband insoweit allein auf die Durchsetzung mitgliedschaftlicher Pflichten verwiesen ist2. Damit bleiben als gewissermaßen verhaltensbedingte wichtige Kündigungsgründe nur solche – theoretisch – übrig, die außerhalb des TV-Rechts eine Vertragsanfechtung wegen arglistiger Täuschung durch die andere TV-Partei oder einer rechtswidrigen Drohung mit einem empfindlichen Übel rechtfertigen. Die deutsche TV-Wirklichkeit ist nicht so, dass hierzu eine ausgefeilte Rechtsprechung erwartet werden könnte3.

228

Wendet man sich den nachträglichen grundlegenden Veränderungen der rechtlichen und/oder tatsächlichen Rahmenbedingungen zu, wird die Rechtslage nicht klarer: Zunächst steht außer Frage, dass die Veränderungen, geht es um einen FlächenTV, dessen gesamten Anwendungsbereich und nicht nur einen einzelnen Betrieb oder ein einzelnes Unternehmen betreffen müssen. Darüber hinaus müssen bei Haus- wie bei FlächenTVen die Veränderungen sowohl qualitativ als auch quantitativ außergewöhnlich und erheblich sein: TVe regeln nicht einen bekannten Ist-Zustand, sondern ungewisse Zukunft. Sie sind Risikogeschäfte, bei denen jede Seite einen Wechsel auf die Zukunft zieht. Die sich daraus ergebenden Risiken können nur ganz ausnahmsweise mit der Eröffnung einer einseitigen außerordentlichen Lösungsmöglichkeit auf eine Seite verlagert werden. Hierzu bedarf es einer so auch unter Kundigen nicht zu erwartenden außerordentlichen Entwicklung und einer sich hieraus ergebenden ganz unverhältnismäßigen Schieflage des Verhältnisses von Leistung und Gegenleistung aus der Sicht bei TV-Abschluss.

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Dabei kann der jeweils nachteilig betroffenen TV-Partei helfen, wenn die Vorstellungen über die künftige Entwicklung bei Tarifabschluss im TV oder in Protokollnotizen niedergelegt worden sind. Als Grenzfall könnte man die Kündigung der StufenTVe in den jungen Bundesländern Anfang der neunziger Jahre bewerten: An sich war für manche vorhersehbar, dass im Zusammenhang mit der bevorstehenden Auflösung des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) auf viele vom Ost-Export abhängige ostdeutsche Unternehmen harte Zeiten zukommen würden. Dies hätte man wohl bei den dortigen Tarifabschlüssen berücksichtigen müssen, weshalb der Eintritt dieses Risikos an sich nicht geeignet war, eine außerordentliche Kündigung der damaligen TVe zu rechtfertigen. Andererseits hatten die TV-Parteien durch die von ihnen ver-

230

1 Dazu nur Löwisch/Rieble, TVG, Grundl. Rz. 32 ff. 2 Zu der hier angesprochenen Kündigung: LAG Hessen v. 5.4.2012 – 9 Sa 1748/11. 3 Ebenso Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 147.

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Teil 3 Rz. 231 Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung von Tarifverträgen einbarten sehr großzügige Stufenregelungen beim Entgelt zur Anpassung an das Entgeltniveau West übereinstimmend deutlich gemacht, dass sie von einer bestimmten positiven Entwicklung ausgingen. Angesichts dessen hätte man die damals ausgesprochenen fristlosen Kündigungen auch als materiell begründet ansehen können. Tatsächlich ist es auch zu nach unten anpassenden tariflichen Neuregelungen gekommen. Umgekehrt kommen auch überraschende und angesichts der getroffenen tariflichen Regelungen ganz unverhältnismäßige Konjunkturaufschwünge – nach erfolglosem Anpassungsversuch auf dem Verhandlungswege – als außerordentliche Kündigungsgründe in Betracht. In beiden Fällen spricht indes mehr für den Weg über eine hinreichend bestimmte Revisionsklausel, will man sich, was dem Institut des TVes sicherlich einen Teil seiner Attraktivität nimmt, eine Anpassung an veränderte Umstände auch während des Laufs des TVes vorbehalten. 231

Noch ungeklärt ist es, wie sich für die TV-Parteien überraschende rechtliche Entwicklungen auf deren Kündigungsmöglichkeiten auswirken. Eine außerordentliche Kündigungsmöglichkeit dürfte sich von vornherein nur dann ergeben, wenn es infolge der Rechtsentwicklung auch zu wesentlichen, das ursprüngliche Verhandlungsergebnis grob verfälschenden wirtschaftlichen Mehroder Minderbelastungen kommt. So mag die – richtige – Erkenntnis, dass eine mit der Vollendung des 30. Lebensjahres beginnende Staffelung des Urlaubsanspruchs, wie sie sich in § 26 TVöD findet, altersdiskriminierend ist, und allen Tarifunterworfenen unabhängig vom Lebensalter den gleichen Höchsturlaub von 30 Arbeitstagen gibt1, für die TV-Parteien überraschend gewesen sein – ob sie für einen Kundigen unvorhersehbar war, lässt sich schon in Frage stellen –; die wirtschaftlichen Folgen dieser Rechtserkenntnis reichen indes in keinem Falle aus, eine außerordentliche Kündigung des TVöD zu rechtfertigen. Anders hätte es sich etwa nach der Erkenntnis des Europäischen Gerichtshofs verhalten können, wonach die überkommenen Regelungen über Entgeltsteigerungen nach Altersstufen nicht nur altersdiskriminierend sind, sondern dass dem auch nur durch eine „Anpassung nach oben“ begegnet werden kann2. Hier hätte man nach den wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Erkenntnis eher an einen wichtigen Grund denken können, hätte es sich nicht ohnehin um bereits ausgelaufenes Tarifrecht gehandelt; ob eine derartige Rechtserkenntnis nicht vorhersehbar war, ist allerdings auch hier zweifelhaft. Auch in diesem Zusammenhang können die TV-Parteien aber im TV selbst klarstellen, dass für sie eine bestimmte Rechtslage gemeinsame Geschäftsgrundlage ist und eine Veränderung dort Verhandlungspflichten über eine Anpassung auslöst.

232

Der Umstand, dass sich Mitglieder der TV-Parteien, die von unverhältnismäßigen Verteuerungen des tariflich Geregelten oder auch – seltener, aber vorstellbar – einem nicht vorhersehbaren Verlust von angestrebten tarifvertraglichen Ansprüchen betroffen sind, von dem einmal Vereinbarten nicht einseitig lösen können (§ 3 Abs. 3 TVG), spricht jedenfalls bei den zuletzt behandelten Konstellationen dafür, die Möglichkeit einer fristlosen TV-Kündigung nach dem 1 BAG v. 20.3.2012 – 9 AZR 529/10. 2 EuGH v. 18.9.2011 – Rs. C-297/10 und Rs. C-298/10, NZA 2011, 1100; BAG v. 10.11.2011 – 9 AZR 148/09, NZA 2012, 161.

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Das Ende der zwingenden Tarifgeltung

Rz. 233 Teil 3

Scheitern von Anpassungsverhandlungen nicht von vornherein auszuschließen. Ob es sich bei der außerordentlichen TV-Kündigung wirklich um ein probates Mittel handelt, die angesprochenen Probleme zu bewältigen, ist allerdings zweifelhaft. Jedenfalls dann, wenn man davon ausgeht, dass TVe auch nach einer außerordentlichen Kündigung – zumindest im Regelfall – nachwirken1 (siehe dazu unten Teil 9), hängt eine interessengerechte Aufarbeitung von Geschäftsgrundlagenstörungen letztlich doch – und dies prinzipiell zu Recht – von der Fähigkeit der TV-Parteien ab, den ihnen überlassenen gesellschaftlichen Bereich angemessen zu gestalten.

1 Dazu Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 853 ff. m.w.N.

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Teil 4 Inhalt des Tarifvertrages Rz. I. Der Inhalt von Tarifverträgen – § 1 Abs. 1 TVG . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

II. Das Arbeitsverhältnis als zentraler Anknüpfungspunkt für die Normen von Tarifverträgen . . . . . .

3

B. Normativer Teil – Inhalte von Arbeitsverhältnissen und betriebliche Fragen I. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

II. Inhaltsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. (Auch) individualvertraglich regelbare Normen . . . . . . . . . . . . a) Arbeitszeit . . . . . . . . . . . . . . aa) Geschuldete Arbeitszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verteilung der Arbeitszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Arbeitsentgelt . . . . . . . . . . . aa) Grundentgelt . . . . . . . . bb) Eingruppierung in Entgeltgruppen . . . . . . . . . cc) Sonderzahlungen . . . . c) Urlaub, Bildungsurlaub . . . d) Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall . . . . . . . . . . . e) Vorübergehende Verhinderung, Arbeitsausfall, Annahmeverzug . . . . . . . . . . . . f) Sonstige Arbeitgeberleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Direktionsrecht . . . . . . . . . h) Nebenpflichten des Arbeitnehmers . . . . . . . . . . . . . . . . i) Ausschlussklauseln . . . . . . 2. Nicht individualvertraglich regelbare Inhalte . . . . . . . . . . . . .

11

III. Abschluss- und Beendigungsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Abschlussnormen . . . . . . . . . . . a) Formerfordernisse . . . . . . . b) Abschlussgebote . . . . . . . . . c) Abschlussverbote . . . . . . . . 2. Beendigungsnormen . . . . . . . . . a) Formerfordernisse . . . . . . .

Rz. b)

A. Einleitung

13 14 15 18 21 24 25 29 30 32

34 36 37 38 39 40 42 43 44 46 54 61 62

c)

Regelungen zur Kündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Kündigungsfristen . . . bb) Kündigungsgründe . . . cc) Besonderer Kündigungsschutz . . . . . . . . . Regelungen zur Befristung aa) Befristungskontrolle . bb) Altersgrenzen . . . . . . .

IV. Normen über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Normen über betriebliche Fragen a) Restriktive Auslegung . . . . b) Besetzungsregelungen . . . . c) Organisationsregelungen . d) Notwendiger Regelungswille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Normen über betriebsverfassungsrechtliche Fragen . . . . . . . a) Vorrang der Betriebsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Regelungen zur Betriebsorganisation . . . . . . . . . . . . . c) Erweiterung von Mitbestimmungsrechten . . . . . d) Unternehmensmitbestimmung und wirtschaftliche Angelegenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64 65 69 71 73 74 79

84

86 87 89 91 92 93 95 99

102

V. Normen über Gemeinsame Einrichtungen (§ 4 Abs. 2 TVG) . . . . . 104 1. Merkmale der Gemeinsamen Einrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 2. Gemeinsame Einrichtungen und sonstiges Tarifrecht . . . . . . 108 C. Obligatorischer Teil I. Rechte und Pflichten der Tarifvertragsparteien (Obligatorischer Teil) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 II. Normen mit Bezug auf die Tarifinhalte (Friedenspflicht, Durchführungspflicht) 1. Regelungen zur Friedenspflicht a) Ausgangslage . . . . . . . . . . . . 117

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Teil 4 Rz. 1

Inhalt des Tarifvertrages Rz.

b)

Erweiterung der Friedenspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 c) Einschränkung der Friedenspflicht . . . . . . . . . . . . . . 120 2. Regelungen zu Durchführungsund Einwirkungspflichten a) Ausgangslage . . . . . . . . . . . . 122 b) Ausgestaltung der Durchführungs-/Einwirkungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . 124

Rz. 3. Schiedsvereinbarungen . . . . . . . 126 III. Weitere schuldrechtliche Vereinbarungen 1. Vertragsfreiheit im Tarifrecht . 2. Schlichtungsvereinbarungen . . 3. Arbeitskampfregelungen . . . . . 4. Prozessuale Vereinbarungen . .

128 130 135 138

Literatur: Adomeit, Grenzen der Tarifautonomie – neu gezogen, NJW 1984, 595; Beckmann, Zur Einstufung von tarifvertraglichen Verboten als Verbotsgesetze, JZ 2001, 150; Bepler, Tarifeinheit im Betrieb, NZA-Beilage 3/2010, 99; Bepler, Die Rechtsprechung des BAG zur Tarifeinheit und Gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, NZABeilage 2/2011, 73; Boecken, Probleme der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, NZA 1999, 673; Forst, Der Regierungsentwurf zur Regelung des Beschäftigtendatenschutzes, NZA 2010, 1043; Franzen, Arbeitnehmerdatenschutz – rechtspolitische Perspektiven, RdA 2010, 257; Frey, Die Rechtsnatur tarifvertraglicher Lehrlingsskalen, zugleich ein Beitrag zur Tarifvertragssystematik, RdA 1970, 182; Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, 2002; Griebeling, Zusatzversorgungskasse des Baugewerbes – Auswirkungen eines Branchenwechsels des Arbeitgebers durch Fusion, Lösung aus dem bisherigen Tarifrecht, EWiR 1994, 325; Hanau, Tarifverträge über die Organisation der Betriebsverfassung, RdA 2010, 313; Hanau, Sicherung unternehmerischer Mitbestimmung, insbesondere durch Vereinbarung, ZGR 2001, 75; v. Hoyningen-Huene, Die Einführung und Anwendung flexibler Arbeitszeiten im Betrieb, NZA 1985, 9; Hromadka, Gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, NJW 1970, 1441; Kirchner, Möglichkeiten und Grenzen der tarifvertraglichen Gestaltung des Arbeitskampfes, RdA 1986, 159; Knevels, Das Schlichtungswesen in der Bundesrepublik – Instrument der Tarifpolitik, Möglichkeiten und Grenzen, ZTR 2008, 408; Krause, Gewerkschaften und Betriebsräte zwischen Kooperation und Konfrontation, RdA 2009, 129; Lembke, Staatliche Schlichtung in Arbeitsstreitigkeiten nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 35 – Relikt der Besatzungszeit oder Modell für Mediation im Arbeitsrecht?, RdA 2000, 223; Lingemann/ Gotham, AGG – Benachteiligungen wegen des Alters in kollektivrechtlichen Regelungen, NZA 2007, 663; Link, Der neue Chemietarifvertrag, AuA 2009, 410; Löwisch, Arbeitsrechtliche Fragen der Rente mit 67, ZTR 2011, 78; Löwisch, Arbeitsfrieden nach Schweizer Vorbild?, BB 1988, 1333; Löwisch, Fragen des schiedsrichterlichen Verfahrens zwischen Tarifvertragsparteien nach § 101 Abs. 1 ArbGG, ZZP 103 (1990), 22; Petrak, Kurzarbeit, NZA-Beilage 2/2010, 44; Stamer, Die Relativität der Friedenspflicht, ArbR 2010, 646; Temming, Diskriminierende Beendigung der Arbeitsverträge von Piloten bei Vollendung des 60. Lebensjahres, EuZA 2012, 205; Thüsing/v. Hoff, Differenzierungsklauseln und Gemeinsame Einrichtungen, ZfA 2008, 77; Wendeling-Schröder, Der Prüfungsmaßstab bei Altersdiskriminierungen, NZA 2007, 1399; Zeiss, Die gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien in Praxis und Rechtsprechung, JR 1970, 201.

A. Einleitung I. Der Inhalt von Tarifverträgen – § 1 Abs. 1 TVG 1

Die Fragen und Materien, die nach der Vorstellung des Gesetzgebers in einem TV geregelt werden können, lassen sich dem Gesetzestext entnehmen. In § 1 242

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Einleitung

Rz. 3 Teil 4

Abs. 1 TVG sind die Inhalte eines TVes beschrieben. Das Gesetz enthält an dieser Stelle zwar keine echte Legaldefinition des Begriffs „Tarifvertrag“1; ungeachtet dessen lässt sich dem Gesetzestext jedoch eine recht klare Beschreibung der Regelungsgegenstände entnehmen, durch die ein „typischer“ TV gekennzeichnet ist. In seinem sog. obligatorischen Teil (auch: schuldrechtlicher Teil) regelt der TV Rechte und Pflichten der TV-Parteien untereinander. In dem sog. normativen Teil finden sich demgegenüber Rechtsnormen, die den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen regeln. Sie entfalten, wie sich aus § 4 Abs. 1 TVG ergibt, wie gesetzliche Regelungen unmittelbare und zwingende Wirkung zwischen den Tarifgebundenen. Zu den Regelungen, die dem normativen Teil des TVes zuzuordnen sind, zählen auch solche zur Ordnung betrieblicher und betriebsverfassungsrechtlicher Fragen. Aus dieser Inhaltsbeschreibung in § 1 Abs. 1 TVG, die auf entsprechende Formulierungen von Nipperdey zurückzuführen ist, ergibt sich die Doppelnatur des TVes. Dass ein TV gleichzeitig das Verhältnis der TV-Parteien untereinander regelt und verbindliche Normen für die Tarifgebundenen aufstellt, wird seit langem als prägendes Element des Grundtypus eines TVes hervorgehoben2. Die TV-Parteien vereinbaren Rechte und Pflichten untereinander, setzen darüber hinaus aber auch normatives Recht für Dritte. Es muss aber nicht zwingend jeder TV beide Elemente enthalten. In der Praxis gibt es durchaus auch TVe, die sich entweder ausschließlich auf normative Regelungen oder alleine auf schuldrechtliche Absprachen beschränken oder die sich zumindest ganz schwerpunktmäßig auf einen der beiden Komplexe konzentrieren. Ein Beispiel für rein obligatorisch wirkende TVe sind die häufig zu findenden SchlichtungsTVe (s. unten Rz. 130 ff.) und SchiedsTVe (s. unten Rz. 126), die oft nur das Verhältnis der TV-Parteien untereinander regeln.

2

II. Das Arbeitsverhältnis als zentraler Anknüpfungspunkt für die Normen von Tarifverträgen Im Zentrum des Agierens der TV-Parteien und der Regelungen von Tarifwerken in ihrer Gesamtheit stehen die der Tarifbindung unterliegenden Arbeitsverhältnisse. Auch die Regelungen im obligatorischen Teil eines TVes dienen nicht bloßem Selbstzweck. Sie zielen darauf ab, das gemeinsame Wirken der TV-Parteien als kollektive Interessenvertreter sowie als Träger und als Umsetzer der Tarifautonomie zu fördern. Die Schaffung normativer Regelungen in Bezug auf Arbeitsverhältnisse steht im Mittelpunkt der tariflichen Betätigung der Koalitionen. Die rechtliche Möglichkeit der Koalitionen zur unmittelbaren Gestaltung von Arbeitsbedingungen stellt einen wesentlichen Bestandteil der Koalitionsfreiheit dar, wie sie in Art. 9 Abs. 3 GG geschützt ist (vgl. Teil 1 A Rz. 8). Das Bundesverfassungsgericht hat dies bei seiner Beurteilung der einschlägigen verfassungsrechtlichen Regelungen von Beginn an erkannt. Es hat bereits in einem frühen Urteil aus dem Jahr 1954 hervorgehoben, dass das 1 Kempen/Zachert/Zachert, § 1 TVG Rz. 1. 2 Schaub/Schaub, ArbR-Hdb., § 200 Rz. 6; BAG v. 15.1.1955 – 1 AZR 305/54, NJW 1955, 684.

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3

Teil 4 Rz. 4

Inhalt des Tarifvertrages

Grundrecht der Koalitionsfreiheit nicht nur den Zusammenschluss als solchen betreffe, sondern den Zusammenschluss zu dem im Grundgesetz bestimmten Gesamtzweck. Dies bedeute zugleich, dass frei gebildete Organisationen unter anderem auch auf die Gestaltung der Arbeitsbedingungen Einfluss nehmen und zu diesem Zweck Gesamtvereinbarungen treffen können müssten1. Auch das Bundesarbeitsgericht hebt seit jeher die Bedeutung des Kernbereichs eines TV-Systems, das das Recht zur normativen Gestaltung von Arbeitsbedingungen einschließt, als Basis der Funktionsgarantie der Koalitionen heraus. Es sieht die Regelung der Arbeitsbedingungen als eine den Gewerkschaften gemeinsam mit den Arbeitgebern und den Arbeitgeberverbänden obliegende sozialpolitische Ordnungsaufgabe an2. Der Gesetzgeber hat den Koalitionen danach das Mittel des TVes an die Hand gegeben, damit sie die von Art. 9 Abs. 3 GG intendierte autonome Ordnung des Arbeitslebens verwirklichen können. 4

Die im TVG mehrfach verwendeten Begriffe „Arbeitsverhältnis“, „Arbeitgeber“ und „Arbeitnehmer“ haben im TVG keine eigene Definition erfahren. Damit gilt für das TVG der einheitliche Arbeitnehmerbegriff, wie er auch sonst für das Arbeitsrecht maßgeblich ist. Arbeitnehmer ist nach ständiger Rechtsprechung des BAG derjenige, der aufgrund eines privatrechtlichen Vertrags im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener fremdbestimmter Tätigkeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet ist3. Arbeitgeber ist, wer (mindestens) einen Arbeitnehmer auf Grund eines Arbeitsverhältnisses abhängig beschäftigt. Der Begriff des Arbeitsverhältnisses nach dem TVG schließt damit jede Form eines Arbeitsverhältnisses im engeren Sinne ein. Dass der Gesetzgeber z.B. die Regelungsmacht der TV-Parteien für Teilzeitarbeitsverhältnisse voraussetzt, ist aufgrund der in § 12 Abs. 3 und § 13 Abs. 4 TzBfG vorgesehenen Öffnung für tarifliche Regelungen ersichtlich. Gleiches gilt für befristete Arbeitsverhältnisse, für deren Ausgestaltung durch TVe gemäß § 14 Abs. 2 und § 15 Abs. 3 TzBfG ein bestimmter Regelungsspielraum eröffnet wird. Auch eine nur geringfügige Beschäftigung im Sinne der einschlägigen Vorschriften der Sozialversicherung ist ein tariflich regelbares Arbeitsverhältnis. Soweit die TV-Parteien sich vor diesem Hintergrund dazu entschließen, geringfügig Beschäftigte von den Regelungen eines TVes auszunehmen, bedarf es dafür nach dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz eines sachlichen Grundes4. Auch Leiharbeitsverhältnisse sind einer tariflichen Regelung zugänglich, was spätestens seit der Einfügung der gesetzlichen Regelungen zum „Equal Pay“-Gebot in § 3 und § 9 AÜG feststeht.

5

Wie das BAG inzwischen klargestellt hat, können TVe auch Regelungen für ehemalige Arbeitnehmer enthalten, die zu ihrem vormaligen Arbeitgeber noch in einem Ruhestands- oder Anwartschaftsverhältnis stehen. Nach der Auffas1 BVerfG v. 18.11.1954 – 1 BvR 629/52, NJW 1954, 1881; s. auch BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, NJW 1977, 2255. 2 BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028. 3 Vgl. BAG v. 11.11.2008 – 1 ABR 68/07, NZA 2009, 450; BAG v. 16.2.2000 – 5 AZB 71/99, NZA 2000, 385 m.w.N. 4 Vgl. BAG v. 25.4.2007 – 6 AZR 746/06, NZA 2007, 881; BAG v. 22.2.2000 – 3 AZR 845/98, NZA 2000, 659.

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Einleitung

Rz. 8 Teil 4

sung des für Fragen des BetrAVG zuständigen 3. Senats ist von einer Regelungskompetenz der TV-Parteien für Betriebsrentner auszugehen, weil die Tarifautonomie hinsichtlich ihres persönlichen Anwendungsbereichs, wie sich aus der Formulierung „jedermann“ in Art. 9 Abs. 3 GG ergebe, nicht auf aktive Arbeitsverhältnisse beschränkt sei, sondern auch darüber hinaus bestehe. Wenn deshalb § 1 Abs. 1 TVG Normen über den Inhalt von Arbeitsverhältnissen ermögliche, so betreffe dies auch solche auf das Arbeitsverhältnis bezogene Rechtsnormen, die erst nach dessen Ende wirken oder wirksam werden. Dazu gehörten auch Normen, die die betriebliche Altersversorgung regeln1. Schon früher hatte das BAG erklärt, dass es aufgrund der Tariföffnungsklausel in § 17 BetrAVG davon ausgehe, dass der Gesetzgeber für die Regelungsbefugnis der TV-Parteien das betriebsrentenrechtliche Versorgungsverhältnis und das Vorruhestandsverhältnis wie ein Arbeitsverhältnis behandele. Aus § 17 Abs. 3 BetrAVG ergebe sich, dass die TV-Parteien das sich an das Arbeitsverhältnis anschließende Versorgungsverhältnis regeln könnten2. Allgemein anerkannt ist, dass auch Berufsausbildungsverhältnisse tariflich geregelt werden können. Das BBiG bringt dies in seiner heutigen Fassung schon dadurch zum Ausdruck, dass es gemäß § 11 den Ausbilder unter anderem verpflichtet, bei der schriftlichen Niederlegung der wesentlichen Inhalte des Berufsausbildungsvertrages einen allgemeinen Hinweis auf die TVe, die auf das Berufsausbildungsverhältnis anzuwenden sind, aufzunehmen, vgl. § 11 Abs. 1 Satz 2 Nr. 9 BBiG. Das BAG hatte die Möglichkeit der TV-Parteien, normative Regelungen in Bezug auf Berufsausbildungsverhältnisse zu vereinbaren, bereits vor Inkrafttreten des BBiG in seiner ersten Fassung (1969) anerkannt3.

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Das Recht der TV-Parteien zur Normsetzung ist indes nicht auf den Bereich der Arbeitsverhältnisse im engeren Sinne beschränkt. Aus § 12a TVG ergibt sich, dass das Gesetz analog auch auf die Gruppe der sog. arbeitnehmerähnlichen Personen und auf die von ihnen durch Dienst- oder Werkverträge begründeten Rechtsverhältnisse anzuwenden ist. TVe über die materiellen Vertragsbedingungen dieses Personenkreises finden sich vornehmlich im Bereich der Rundfunk- und Fernsehanstalten. So sind die Rechtsverhältnisse der bei den öffentlichen Rundfunkanstalten beschäftigten freien Mitarbeiter umfassend tariflich geregelt4. Inhaltlich unterscheiden sich diese TVe im Hinblick auf Aufbau und Regelungsgehalt regelmäßig nicht nachhaltig von den typischerweise für Arbeitnehmer vereinbarten Tarifwerken.

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Eine Sonderregelung für Heimarbeiter enthält § 17 Abs. 1 HAG. Vereinbarungen zwischen Gewerkschaften und Auftraggebern oder deren Vereinigungen über Inhalt, Abschluss oder Beendigung von Vertragsverhältnissen der in Heimarbeit Beschäftigten gelten danach als TVe und unterfallen dem TVG, das insoweit ergänzend gilt5. Die sog. bindenden Festsetzungen nach § 19 HAG ha-

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1 2 3 4 5

BAG v. 17.6.2008 – 3 AZR 409/06, NZA 2008, 1244. BAG v. 5.12.1995 – 3 AZR 226/95. BAG v. 12.3.1962 – 1 AZR 4/61, NJW 1962, 1222. Kempen/Zachert/Stein, § 12a TVG Rz. 4 f. BVerfG v. 27.2.1973 – 2 BvL 27/69, NJW 1973, 1320; BAG v. 5.5.1992 – 9 AZR 447/90, NZA 1993, 315.

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Teil 4 Rz. 9

Inhalt des Tarifvertrages

ben die gleiche Wirkung wie ein für allgemeinverbindlich erklärter TV, vgl. § 19 Abs. 3 Satz 1 HAG.

B. Normativer Teil – Inhalte von Arbeitsverhältnissen und betriebliche Fragen I. Vorbemerkung 9

§ 1 Abs. 1 TVG, der die Normsetzungskompetenz der TV-Parteien (vgl. Teil 1 A Rz. 13) gesetzlich festschreibt, nennt die Ordnung des Inhalts, des Abschlusses und der Beendigung von Arbeitsverhältnissen nicht an erster Stelle, sondern erwähnt die Regelung der Rechte und Pflichten der Tarifparteien zuerst. Ungeachtet dessen werden hier die Ausführungen über den normativen Teil von TVen vorangestellt. Erst dann ist auf den obligatorischen Teil von TVen einzugehen (vgl. unten Rz. 113 ff.). Rein quantitativ überwiegen die normativen Tarifregelungen, wie ein Blick in die Tariflandschaft zeigt. Der ganz überwiegende Teil der bisher in Kraft gesetzten TVe enthält vorwiegend Regelungen mit unmittelbarer normativer Wirkung in Bezug auf Arbeitsverhältnisse. Zuvorderst zu nennen sind die in zahlreichen Branchen verhandelten MantelTVe, die zahlreiche Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis wie auch Details seiner Begründung und Beendigung regeln, sowie die regelmäßig neu zu verhandelnden Lohn- und GehaltsTVe. Ergänzt werden diese TVe in vielen Branchen durch besondere TVe zu Einmalzahlungen (häufig: tarifliches 13. Monatsgehalt), zur betrieblichen Altersversorgung (häufig: flankierende Regelungen zum Anspruch auf Entgeltumwandlung aus § 1a BetrAVG), zur Qualifizierung von Arbeitnehmern oder zur Beschäftigungssicherung, um nur einige Beispiele zu nennen. Die TV-Parteien machen von ihrer Normsetzungsbefugnis regen Gebrauch1 und kommen so ihrem Auftrag zur Ordnung des Arbeitslebens nach.

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Im Bereich der normativen Regelungen gibt § 1 Abs. 1 TVG den Koalitionen darüber hinaus die Möglichkeit, auch betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen mit unmittelbarer Wirkung zu ordnen. Die existierenden tariflichen Regelungen, die sich mit solchen Fragen befassen, machen in quantitativer Hinsicht nicht den wesentlichen Teil der zwischen TV-Parteien getroffenen Vereinbarungen aus. Es wäre aber verfehlt, alleine deswegen davon auszugehen, dass sie nur eine untergeordnete Rolle spielen. Betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Regelungen kommt qualitativ eine besondere Bedeutung zu. Dies liegt zum einen darin begründet, dass sich ihre Wirkung auch auf die nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer des Betriebes erstreckt. Losgelöst von diesem möglichen Spannungsfeld im Hinblick auf Außenseiter ist zum anderen zu berücksichtigen, dass das BetrVG viele zwingende Regelungen enthält. Im Hinblick auf die Möglichkeit der Koalitionen zur Regelung betriebsverfassungsrechtlicher Fragen ist deswegen immer zu prüfen, inwieweit die jeweils einschlägigen gesetzlichen Normen des BetrVG überhaupt zur Disposition der TV-Parteien gestellt sind. 1 Vgl. zur Zahl der TVe: Wiedemann/Thüsing, § 4 TVG Rz. 28 ff.

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Normativer Teil

Rz. 13 Teil 4

II. Inhaltsnormen Angesichts der Vielschichtigkeit der Inhalte von Arbeitsverhältnissen und deren unterschiedlicher Ausgestaltung gibt es naturgemäß eine Vielzahl unterschiedlichster Inhaltsnormen in den TVen der verschiedenen Branchen. Eine abschließende Definition oder Liste aller zulässigen Inhaltsnormen gibt es nicht. Die Inhalte von Arbeitsverhältnissen unterliegen einem ständigen Wandel, der den Bedarf nach neuen tariflichen Normen mit sich bringt. Wegen des zunehmenden Einflusses elektronischer Medien und der immer größer werdenden Bedeutung des Internets für die Arbeitswelt werden beispielsweise aller Voraussicht nach tarifliche Regelungen zum Beschäftigtendatenschutz in Zukunft häufiger zu finden sein als bisher. Schon jetzt wird befürwortet, in das neue Gesetz zum Beschäftigtendatenschutz ausdrücklich aufzunehmen, dass „andere Rechtsvorschriften“ im Sinne des heutigen § 4 BDSG neben Betriebsvereinbarungen auch TVe sein können1. Ungeachtet dieser Vielfalt denkbarer Regelungsgegenstände haben sich in der Tarifpraxis bestimmte Regelungsbereiche herauskristallisiert, die typischerweise für einen großen Teil der Arbeitsverhältnisse in einer Vielzahl von Branchen Bedeutung haben. Eine Beschreibung einiger solcher typischen Inhaltsnormen, wie sie in den TVen insbesondere derjenigen Branchen zu finden sind, in denen eine große Zahl von Arbeitnehmern tätig ist, findet sich in unten in Teil 5.

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Kennzeichnendes Element aller Inhaltsnormen ist die Intention der TV-Parteien, durch ihre Vereinbarung unmittelbar Rechte und Pflichten im Rahmen der Durchführung von Arbeitsverhältnissen zu regeln, die von dem TV erfasst werden2. Daher können die TV-Parteien jedenfalls Regelungen über all diejenigen Inhalte eines Arbeitsverhältnisses verabreden, über die auch Arbeitgeber und Arbeitnehmer in einem Individualarbeitsvertrag Vereinbarungen treffen könnten. Mit solchen Regelungen ersetzen die TV-Parteien – soweit nicht das Günstigkeitsprinzip vorgeht (vgl. Teil 9 Rz. 140 ff.) – die individualvertraglichen Absprachen der Arbeitsvertragsparteien. Sie können von ihren besonderen Privilegien als Koalitionspartner Gebrauch machen und unterliegen dabei weniger strengen Vorgaben als die Parteien des einzelnen Arbeitsvertrages.

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1. (Auch) individualvertraglich regelbare Normen Zu den zentralen Regelungen vieler TVe zählen naturgemäß diejenigen Bestandteile arbeitsvertraglicher Vereinbarungen, die typischerweise auch im Zentrum der Verhandlungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer über den Inhalt des Arbeitsvertrages stehen, weil sie von herausgehobener (wirtschaftlicher) Bedeutung sind. Zu nennen sind hier insbesondere Regelungen über wesentliche wechselseitige Hauptleistungspflichten, allen voran die Vereinbarungen zur geschuldeten Arbeitszeit und zur Höhe des Arbeitsentgelts.

1 Franzen, RdA 2010, 257 (260); Forst, NZA 2010, 1043 (1044). 2 Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 409; Kempen/Zachert/Zachert, § 1 TVG Rz. 60.

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Teil 4 Rz. 14

Inhalt des Tarifvertrages

a) Arbeitszeit 14

In den meisten Branchen, in denen TVe existieren, gehören Fragen der Arbeitszeit zu den mit geregelten Materien. Dabei spiegelt sich in den verschiedenen tariflichen Regelungen wider, dass der Begriff „Arbeitszeit“ im Arbeitsrecht unter ganz verschiedenen Gesichtspunkten relevant sein kann und dass es vor diesem Hintergrund im Arbeitsrecht keine allgemein gültige Definition der Arbeitszeit gibt1. Deswegen regeln TVe typischerweise verschiedene Aspekte der Arbeitszeit, wobei es im alleinigen Ermessen der TV-Parteien steht, ob sie alle denkbaren Fragen zur Arbeitszeit oder nur bestimmte Aspekte regeln.

aa) Geschuldete Arbeitszeit 15

Zu den Fragen der Arbeitszeit, welche die TV-Parteien fast immer regeln, gehört die Festlegung des Arbeitszeitvolumens, das der Arbeitnehmer im Gegenzug für die – typischerweise korrespondierend mit der tariflich vorgesehenen Arbeitszeit tariflich geregelte – Tarifvergütung zu erbringen hat. Da heute branchenübergreifend in fast allen Fällen zumindest die Grundvergütung von Arbeitnehmern als Gegenleistung für die erbrachte Arbeitszeit gezahlt wird und nicht von bestimmten Arbeitserfolgen abhängt, gehört die Bestimmung der Arbeitszeit, die mit der vereinbarten bzw. durch TV geregelten Vergütung abgegolten ist, zu den zentralen Fragen der Tarifpolitik. Sie steht im Kern des arbeitsrechtlichen Synallagmas zwischen Leistung und Gegenleistung. Meist ist deswegen in den MantelTVen, die die grundlegenden Rahmenbedingungen in einer Branche langfristig fixieren sollen und die typischerweise nur relativ selten geändert werden, eine tarifliche Regelarbeitszeit festgelegt. Davon, dass gerade die Festlegung der regelmäßigen Arbeitszeit in einer Branche zu den zentralen Themen der Tarifpolitik gehört, zeugen nicht zuletzt die Anfang der 1980er-Jahre geführten Arbeitskämpfe um die Einführung einer 35-StundenWoche in der Metallindustrie2 und die damit einhergehende Ablösung der bis dahin üblichen 40-Stunden-Woche.

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Neben der Festlegung einer tariflichen Regelarbeitszeit enthalten TVe regelmäßig damit korrespondierende Regelungen zum Umgang mit Mehrarbeit bzw. Überstunden. Der Begriff der Mehrarbeit ist in diesem Kontext nicht fest vorgegeben. Allgemein wird Mehrarbeit vielfach mit Blick auf das ArbZG als diejenige Arbeitszeit bezeichnet, die über die gesetzlich in § 3 ArbZG vorgesehene regelmäßige Arbeitszeit von acht Stunden pro Tag und 48 Stunden pro Woche hinaus geleistet wird3. Die TV-Parteien bezeichnen mit Mehrarbeit hingegen häufig die Arbeit, die über die tarifvertraglich vereinbarte regelmäßige Arbeitszeit hinaus geleistet und sonst häufig unter den Begriff Überstunden gefasst wird. Die tariflichen Regelungen definieren also meist in einem ersten Schritt einen eigenen, tarifvertragsspezifischen Mehrarbeitsbegriff und regeln darüber hinaus, unter welchen Voraussetzungen und ggf. innerhalb welcher 1 HWK/Thüsing, § 611 BGB Rz. 303; Küttner/Reinecke, Arbeitszeit Rz. 1. 2 S. dazu Adomeit, NJW 1984, 595; Kirchner, RdA 1986, 159. 3 Heiden in Tschöpe, AHB-Arbeitsrecht, Teil 2 A Rz. 369; ErfK/Preis, § 611 BGB Rz. 486.

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Normativer Teil

Rz. 17 Teil 4

Grenzen Mehrarbeit in diesem Sinne zulässig ist. Speziell in Branchen, in denen TVe flexible Arbeitszeitmodelle mit Arbeitszeitkonten und Freizeitausgleichsregelungen vorsehen, wird von den TV-Parteien Mehrarbeit meist abgegrenzt von der im Rahmen der flexiblen Arbeitszeit gegebenenfalls an einem Tag abgeleisteten zusätzlichen Arbeitszeit, die durch vorher oder später angefallene „Minusstunden“ zu kompensieren ist. Während die innerhalb des vorgegebenen flexiblen Rahmens geleistete zusätzliche oder verringerte tägliche Arbeitszeit keiner besonderen zusätzlichen Beschränkung (oder Bezahlung) bedarf, wollen viele TV-Parteien Mehrarbeit, also außerhalb des vorgesehenen Rahmens geleistete Arbeitszeit, nicht unbeschränkt zulassen. Entsprechende Mehrarbeitsregelungen sind beispielhaft unten in Teil 5 (15) kommentiert. Nicht nur das Thema Mehrarbeit wird von vielen TV-Parteien geregelt. Besondere Bedeutung kommt tariflichen Regelungen auch im Zusammenhang mit der Möglichkeit der Einführung von Kurzarbeit zu. Gerade in den Zeiten der Krise der Jahre 2009 und 2010 konnte dem Vernehmen nach durch die vorübergehende Ausweitung der sozialversicherungsrechtlichen Vorgaben zu den Voraussetzungen und Grenzen der Kurzarbeit1 ein noch massiverer Abbau von Arbeitsplätzen verhindert werden. Die Voraussetzungen, unter denen Arbeitgeber Leistungen der Agentur für Arbeit in Phasen der Kurzarbeit beanspruchen können, sind nach der am 1.4.2012 in Kraft getretenen Novelle des SGB III nunmehr in §§ 95 ff. SGB III geregelt2. Auch bei Erfüllung der gesetzlichen Förderungsvoraussetzungen bedarf der Arbeitgeber im Verhältnis zum Arbeitnehmer zur Einführung von Kurzarbeit einer Rechtsgrundlage. Das Direktionsrecht des Arbeitgebers reicht dafür nach ständiger Rechtsprechung des BAG nicht3. In Arbeitsverträgen sind entsprechende Regelungen nach wie vor eher selten zu finden. Nach der Auffassung des LAG Berlin-Brandenburg, zu der eine Äußerung des BAG noch nicht vorliegt, sind an formularvertragliche Klauseln mit Blick auf die §§ 305 ff. BGB und das dort verankerte Transparenzgebot hohe Anforderungen zu stellen4. Bisher werden zumindest in Teilen der Literatur geringere Anforderungen gestellt und Standardklauseln für zulässig erachtet, die die Einführung von Kurzarbeit an die Erfüllung der Voraussetzungen des SGB III knüpfen und eine angemessene Ankündigungsfrist vorsehen5. Da TVe nicht der AGB-Kontrolle unterliegen, haben jedenfalls die TV-Parteien bei der Schaffung von Regelungen zur Einführung von Kurzarbeit mehr Gestaltungsfreiheit. Das BAG hat aber auch insoweit gewisse Mindestanforderungen entwickelt. Einige typische Formulierungsbeispiele für Regelungen zur Einführung von Kurzarbeit werden unten in Teil 5 behandelt (vgl. Teil 5 (13)).

1 S. zum sog. Konjunkturpaket: Petrak, Kurzarbeit, NZA Beilage 2/2010, 44. 2 S. zur Kurzarbeit: Heiden in Tschöpe, AHB-Arbeitsrecht, Teil 2 A Rz. 764 ff. 3 Vgl. nur BAG v. 17.1.1995 – 1 AZR 283/94, n.v., m.w.N.; BAG v. 16.12.2008 – 9 AZR 164/08, NZA 2009, 689. 4 LAG Berlin-Brandenburg v. 7.10.2010 – 2 Sa 1230/10, NZA-RR 2011, 65; LAG BerlinBrandenburg v. 19.1.2011 – 17 Sa 2153/10, ArbRB 2011, 169. 5 Preis/Lindemann, Der Arbeitsvertrag, Teil II A 90 Rz. 79.

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Teil 4 Rz. 18

Inhalt des Tarifvertrages

bb) Verteilung der Arbeitszeit 18

In den meisten Branchen beschränken sich die TV-Parteien nicht darauf, das regulär geschuldete Arbeitsvolumen zu bestimmen und Regelungen zu Mehrarbeit bzw. Überstunden zu schaffen. Spätestens seit den 1990er-Jahren ist neben der Frage, welche Arbeitszeit mit welchem (Tarif-)Entgelt abgegolten ist, mehr und mehr auch die individuelle Flexibilität bei der Vereinbarung des geschuldeten Arbeitszeitvolumens als neuer eigenständiger Wert in den Vordergrund gerückt. Immer mehr TVe enthalten heute Regelungen über Möglichkeiten der Arbeitsvertragsparteien, Vereinbarungen über die Arbeitszeit zu treffen, die von der jeweiligen regelmäßigen tariflichen Arbeitszeit abweichen. So sehen viele TVe Rahmenbedingungen für die Ausgestaltung von Teilzeitarbeit vor; tarifvertraglich begründete Ansprüche auf Teilzeitarbeit waren bekanntlich in nicht wenigen Branchen schon lange vor der Einführung der gesetzlichen Ansprüche nach dem TzBfG geschaffen worden. Manche TVe, wie beispielsweise in der Metallindustrie, gestatten aber auch ausdrücklich – wenn auch nur innerhalb vorgegebener Grenzen –, dass die Vertragsparteien individualvertraglich Vereinbarungen über eine längere Wochenarbeitszeit treffen können1. In jüngerer Zeit finden sich auch TVe mit Modellen zur Einführung einer sog. Lebensarbeitszeit2. Nähere Ausführungen zu Arbeitszeitmodellen und Beispiele für tarifliche Regelung zur Flexibilisierung der Verteilung der Arbeitszeit finden sich unten in Teil 5 (5).

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Bei der Vereinbarung von tariflichen Regelungen zur Verteilung der Arbeitszeit können die TV-Parteien von ihrem Privileg Gebrauch machen, sich auf Regelungen verständigen zu dürfen, die von den ansonsten zwingend geltenden öffentlich-rechtlichen Arbeitszeitbeschränkungen abweichen. In diesem Kontext erlangen die zu Gunsten der TV-Parteien vorgesehenen Öffnungsklauseln in § 7 und § 12 ArbZG Bedeutung. In vielen TVen finden sich nicht nur detaillierte Bestimmungen zur Verteilung der regelmäßigen Arbeitszeit innerhalb einer Kalenderwoche. Vielmehr ermöglichen zahlreiche TVe ausdrücklich flexible Arbeitszeitmodelle, bei denen die regelmäßige tarifliche Arbeitszeit nur im Durchschnitt längerer Zeiträume erreicht wird. Hier wird häufig von den Möglichkeiten nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 lit. b und Nr. 4 lit. b ArbZG Gebrauch gemacht, die ansonsten vorgesehenen gesetzlichen Ausgleichszeiträume zu verlängern.

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Soweit es um die konkrete Lage der täglichen Arbeitszeit geht, halten sich die TV-Parteien regelmäßig mit Regelungen eher zurück. Regelungen darüber, an welchen Wochetagen die Arbeit zu leisten ist, insbesondere, ob auch an Samstagen und Sonntagen regelmäßig zu arbeiten ist, finden sich in verschiedenen TVen. Detaillierte Regelungen zu Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit sowie in Bezug auf Pausenzeiten sind demgegenüber selten. Die meisten tariflichen Regelungen zur Flexibilisierung der Arbeitszeit beschränken sich auf die Festlegung von Rahmenvorgaben. Häufig wird nur generell bestimmt, dass fle1 Vgl. zum MantelTV für Arbeiter und Angestellte in der Metallindustrie in Nordwürttemberg-Nordbaden v. 5.5.1990: BAG v. 17.6.1997 – 1 ABR 3/97, NZA 1998, 213. 2 Vgl. z.B. zum ChemieTV „Lebensarbeitszeit und Demografie“ v. 16.4.2008: Link, AuA 2009, 410.

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Rz. 21 Teil 4

xible Arbeitszeitmodelle – durch Betriebsvereinbarung oder arbeitsvertraglich – vereinbart werden dürfen. Zum Teil eröffnen die TV-Parteien auch konkret die Möglichkeit, bestimmte, dann aber meist nur rahmenartig vorgegebene Modelle zur Arbeitszeitflexibilisierung betrieblich einzuführen. Dies ist nicht zwingend, weil es durchaus zu den von den Tarifpartnern regelbaren Arbeitsbedingungen gehört, auch spezifische Regelungen zur Lage der Arbeitszeit zu treffen1. Ungeachtet dessen besteht offenbar bei den TV-Parteien ganz überwiegend die Auffassung, dass es in erster Linie die Sache der Arbeitsvertragsparteien, insbesondere aber im Rahmen des § 87 Abs. 1 Nr. 2 und 3 BetrVG auch der betrieblichen Sozialpartner, sein soll, die konkrete Lage der nach dem Tarif geschuldeten Arbeitszeit unter Berücksichtigung der spezifischen betrieblichen Bedürfnisse und etwaiger sonstiger Besonderheiten festzulegen. Soweit sich die TV-Parteien vor diesem Hintergrund auf Rahmenregelungen beschränken, obliegt die nähere Ausfüllung des Rahmens den Betriebsparteien. Die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG greift nach der Vorrangtheorie des BAG2 aufgrund des zu berücksichtigenden Vorrangs des Eingangssatzes von § 87 Abs. 1 BetrVG insoweit nicht. Einige TVe stärken sogar ganz gezielt die Position des Betriebsrats, indem sie z.B. die Einführung flexibler Arbeitszeitmodelle ausschließlich auf der Basis einer Betriebsvereinbarung und damit nicht durch bloße Individualabrede zulassen.

b) Arbeitsentgelt Neben der Arbeitszeit gehört das den Arbeitnehmern geschuldete Arbeitsentgelt ohne Zweifel zu den wichtigsten Vertragskonditionen überhaupt. Es ist abgesehen von der Beschäftigung des Arbeitnehmers als solcher die wesentliche Hauptleistungspflicht des Arbeitgebers. Das Tarifentgelt schreibt regelmäßig die an die Tarifmitarbeiter zu zahlende Mindestvergütung verbindlich vor und lässt davon in aller Regel zu Lasten der Arbeitnehmer keine Ausnahmen zu. Selbst für Arbeitsverhältnisse von Vertragsparteien, die keiner Tarifbindung unterliegen, kann das Tarifentgelt einer Branche von Bedeutung sein. So sind existierende Tarife entscheidend, wenn eine (wirksame) Vereinbarung der Vertragsparteien über die Vergütung fehlt, weil Tarifgehälter zur Bestimmung des „üblichen Entgelts“ nach § 612 Abs. 2 BGB herangezogen werden können3. Das BAG hat dies zuletzt nochmals in Entscheidungen bestätigt, in denen eine arbeitsvertragliche umfassende Abgeltungsklausel hinsichtlich der Bezahlung von Überstunden für unwirksam befunden wurde, sodass sich die Frage stellte, ob der Arbeitnehmer nach § 612 BGB eine Überstundenvergütung verlangen konnte4. Auch bei der Feststellung, ob eine einzelvertraglich vereinbarte Ver1 BAG v. 18.8.1987 – 1 ABR 30/86, NZA 1987, 779; Richardi/Richardi, § 87 BetrVG Rz. 323; s. auch Käppler, Tarifvertragliche Regelungsmacht, NZA 1991, 745 (748). 2 BAG v. 3.12.1991 – GS 2/90, NZA 1992, 749 (zuletzt bestätigt durch BAG v. 27.6.2006 – 3 AZR 255/05, NZA 2006, 128). 3 BAG v. 26.5.1993 – 4 AZR 461/92, NZA 1993, 1049; kritisch: HWK/Thüsing, § 612 BGB Rz. 14 m.w.N. 4 BAG v. 17.8.2011 – 5 AZR 406/10, NZA 2011, 1335; BAG v. 21.9.2011 – 5 AZR 629/10, NZA 2012, 145 (unter Bezugnahme auf BAG v. 11.10.2000 – 5 AZR 122/99, NZA 2001, 458).

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Teil 4 Rz. 22

Inhalt des Tarifvertrages

gütung angesichts ihrer geringen Höhe sittenwidrig ist, stellt das BAG entscheidend auf eine für vergleichbare Tätigkeiten üblicherweise gezahlte tarifliche Vergütung ab1. 22

Angesichts der besonderen Bedeutung der tariflichen Vergütung verwundert es nicht, dass in fast allen Branchen die Regelungen zum Arbeitsentgelt in eigenen Lohn- und GehaltsTVen bzw. Entgeltabkommen vereinbart werden. Wegen der mitunter sehr großen Zahl von verschiedenen Arbeitsplätzen, deren Bezahlung geregelt werden soll, und der sich daraus ergebenden Komplexität werden in den meisten Branchen zunächst EntgeltrahmenTVe entwickelt, in denen bestimmte Grundzüge des tariflichen Vergütungssystems festgeschrieben sind. Detailregelungen, insbesondere auch zur konkreten Höhe der Tarifentgelte, werden sodann zum Gegenstand „ausfüllender“ EntgeltTVe gemacht. Beispielhaft beschrieben und kommentiert ist dies für wichtige Branchen unten in Teil 5 (3).

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Tarifliche Vergütungsregelungen betreffen im Übrigen nicht nur die zu zahlenden Grundgehälter, sondern regeln umfassend auch verschiedenste Vergütungselemente, wie z.B. die Leistung von Zulagen für besondere Tätigkeiten (Schichtarbeit, schwere Arbeiten), in vielen Fällen auch die Grundzüge von variablen Vergütungskomponenten wie Akkord- oder Prämienlöhnen, Leistungsentgelten oder (Vertriebs-)Provisionen, die Bezahlung von Mehrarbeit (Zuschläge für Überstunden und für Arbeit zu besonderen Zeiten – z.B. nachts oder an Wochenend- bzw. Feiertagen) und schließlich verschiedenste Arten von sonstigen Leistungen.

aa) Grundentgelt 24

Wesentliches Element eines tariflichen Vergütungssystems ist regelmäßig die Festlegung eines tariflichen Grundentgelts, das häufig den wesentlichen Anteil der tariflich geregelten Vergütung ausmacht. Fast ausnahmslos wird dieses tarifliche Grundentgelt von den Tarifpartnern für verschiedene Arbeitnehmergruppen in tariflichen Entgelttabellen festgelegt.

bb) Eingruppierung in Entgeltgruppen 25

Die Festlegung der Tarifentgelte für verschiedene Arbeitnehmergruppen wird zumeist in erster Linie in Abhängigkeit von der Tätigkeit der Arbeitnehmer, also nach arbeitsplatzbezogenen Merkmalen, bestimmt. Zu diesem Zweck verständigen sich die TV-Parteien typischerweise auf ein bestimmtes Tarifgruppensystem. Für jede dieser Tarifgruppen legen sie dann das maßgebliche Tarifentgelt fest. Hinsichtlich der Frage, wonach sich die Zuordnung eines bestimmten Arbeitsplatzes zu einer Tarifgruppe richtet, gehen die Tarifparteien verschiedene Wege. In einigen Fällen werden die in der Branche maßgeblichen

1 BAG v. 24.3.2004 – 5 AZR 303/03, NZA 2004, 971; BAG v. 22.4.2009 – 5 AZR 436/08, NZA 2009, 837.

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Rz. 27 Teil 4

Positionen den jeweiligen Tarifgruppen gezielt zugeordnet1. In den meisten Fällen werden – schon weil sich dies in der Praxis als flexibler erweist – die Tarifgruppen anhand abstrakter, tätigkeitsübergreifender Beschreibungen so definiert, dass sich die zu einer Tarifgruppe gehörenden Arbeitsplätze aufgrund bestimmter Merkmale den einzelnen Gruppen zuordnen lassen. Die Zuordnung erfolgt in diesem Fall meist zum einen in Abhängigkeit von Art und Umständen der von den Arbeitnehmern auf einem bestimmten Arbeitsplatz zu erbringenden Tätigkeiten, beispielsweise im Hinblick auf Selbstständigkeit, Eigenverantwortung und Führungsaufgaben. Zusätzlich wird in vielen TVen für die Frage der Zuordnung eines Arbeitsplatzes zu einer Tarifgruppe auch darauf abgestellt, welche Vorbildung und Qualifikation üblicherweise von einem Mitarbeiter, der die fragliche Position besetzt, erwartet wird. Als Hilfestellung für die Eingruppierung listen viele TVe zu den einzelnen Tarifgruppen bestimmte Arbeitsplätze auf, die nach dem Willen der TV-Parteien dieser Gruppe zugehören (Regelbeispiele). Unten in Teil 5 (11) sind beispielhaft einige Eingruppierungssysteme beschrieben. Vor der Geltung des AGG haben TVe vielfach innerhalb verschiedener Tarifgruppen unterschiedliche Entgeltstufen festgelegt, bei deren Erreichen sich jeweils ein erhöhter Entgeltanspruch ergab. Nach welcher Stufe ein Mitarbeiter zu bezahlen war, richtete sich dann häufig nach seiner Beschäftigungszeit, teilweise auch nach seinem Lebensalter. Inzwischen steht fest, dass eine nach Lebensaltersstufen gestaffelte Vergütung gegen das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters verstößt, das in Art. 21 GrCh verankert und durch die Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf konkretisiert worden ist. Sie stellt gleichzeitig eine unmittelbare Diskriminierung wegen des Alters im Sinne von Art. 2 der Richtlinie dar, die nicht nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie gerechtfertigt ist2. Die den Entscheidungen zugrunde liegenden Übergangsregelungen des TVÜ-Bund zeigen einen zulässigen Weg auf, wie die TV-Parteien eine Überleitung von diskriminierenden und damit unzulässigen Tarifen, die eine Staffelung nach dem Lebensalter vorsehen, auf ein nicht diskriminierendes Entgeltgruppensystem bewerkstelligen können3.

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Nach wie vor zulässig sein können, wie der EuGH in seiner Entscheidung ausdrücklich ausgeführt hat, Entgeltsysteme, die innerhalb einer nach Tätigkeitsmerkmalen bestimmten Tarifgruppe die zu gewährende Vergütung in Abhängigkeit von Zeiten der Berufserfahrung nach unterschiedlichen Stufen bestimmen4. Solche dienstzeitabhängigen Entgeltstufen, wie sie sich beispielsweise im Entgeltsystem des TVöD finden, können also auch nach Einführung des

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1 Vgl. z.B. Tarifvertrag für Ärztinnen und Ärzte an kommunalen Krankenhäusern im Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeber (TV-Ärzte/VKA); s. dazu: LAG Hamm v. 20.1.2009 – 12 Sa 1163/08. 2 EuGH v. 8.9.2011 – Rs. C-297/10 und Rs. C-298/10, NZA 2011, 1100 – Hennigs; BAG v. 10.11.2011 – 6 AZR 481/09, NZA-RR 2012, 100. 3 BAG v. 8.12.2011 – 6 AZR 319/09, NZA 2012, 275. 4 EuGH v. 8.9.2011 – Rs. C-297/10 und Rs. C-298/10, NZA 2011, 1100 – Hennigs.

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Teil 4 Rz. 28

Inhalt des Tarifvertrages

AGG und unter Berücksichtigung der Vorgaben der Richtlinie 2000/78/EG wirksam vereinbart werden1. 28

Der tarifgebundene Arbeitgeber, in dessen Betrieb ein auf einem TV basierendes Entgeltgruppensystem anzuwenden ist, hat die Arbeitnehmer des Betriebs (mindestens) so zu vergüten, wie es nach dem System vorgesehen ist. Um dieser Verpflichtung nachkommen zu können, muss der Arbeitgeber jeden Mitarbeiter dementsprechend in das Entgeltsystem eingruppieren. Diese Eingruppierung ist Gegenstand der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats nach §§ 95, 99 BetrVG2. Für den tarifgebundenen Arbeitgeber stellt das Entgeltsystem des einschlägigen TVes gleichzeitig auch das im Betrieb maßgebliche Entlohnungssystem im Sinne von § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG dar. Nach Auffassung des BAG ist deswegen der Arbeitgeber betriebsverfassungsrechtlich zur Eingruppierung auch von nicht tarifgebundenen Arbeitnehmern verpflichtet, obwohl es sich bei den Tarifnormen zum Entgeltsystem nicht um Betriebsnormen handele. Die Transparenz der betrieblichen Lohngestaltung und die Beachtung der Verteilungsgerechtigkeit erforderten eine vergleichende Bewertung des gesamten betrieblichen Entgeltgefüges3. Ein individualrechtlicher Anspruch des einzelnen nicht tarifgebundenen Mitarbeiters auf die tarifliche Vergütung geht damit, wie das BAG in seiner Entscheidung ausdrücklich betont, nicht einher. Besondere Grundsätze gelten nach der Rechtsprechung des BAG für Fälle einer fehlerhaften Eingruppierung. Einzelheiten dazu sind im Rahmen der beispielhaften Kommentierung der EntgeltTVe der Chemieindustrie unten in Teil 5 (11) beschrieben.

cc) Sonderzahlungen 29

Viele TVe beschränken sich in Bezug auf die Entgeltansprüche der Tarifmitarbeiter nicht auf die Festlegung eines tariflichen Grundentgelts und anderer regelmäßiger, meist monatlich zu zahlender Vergütungselemente (Zulagen, Leistungslöhne etc.) Neben diesen Entgelten, die in erster Linie in Ansehung der Arbeitsleistung der Mitarbeiter gezahlt werden und im vertraglichen Synallagma stehen, sehen seit jeher viele TVe die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Leistung von Sonderzuwendungen (z.B. Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld, sonstige Gratifikationen) vor. Typisch sind dabei auch tarifliche Regelungen, nach denen bestimmte Zahlungen gezielt auch der Honorierung der Betriebstreue dienen sollen (Stichtagsklauseln, Rückzahlungsklauseln). In formularmäßigen Individualverträgen sind bei solchen Vereinbarungen – seit der Geltung des AGBRechts im Arbeitsrecht – besondere, den Arbeitnehmer schützende Vorgaben zu beachten4. Die TV-Parteien unterliegen demgegenüber nach der Rechtspre-

1 EuGH v. 3.10.2006 – Rs. C-17/05, NJW 2007, 47 – Cadman; BAG v. 27.1.2011 – 6 AZR 526/09, NZA 2011, 1361. 2 Vgl. zur Eingruppierung HWK/Ricken, § 99 BetrVG Rz. 24 ff.; Fitting, § 99 BetrVG Rz. 79 ff. 3 BAG v. 18.10.2011 – 1 ABR 25/10, NZA 2012, 392. 4 BAG v. 28.3.2007 – 10 AZR 261/06, NZA 2007, 687; BAG v. 24.10.2007 – 10 AZR 825/06, NZA 2008, 40; Heiden in Tschöpe, AHB-Arbeitsrecht, Teil 2 A Rz. 466 ff.

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Rz. 31 Teil 4

chung des BAG weniger strengen Vorgaben, wenngleich auch sie das Grundrecht der Arbeitnehmer auf freie Berufswahl nicht gänzlich aushöhlen dürfen1.

c) Urlaub, Bildungsurlaub Zu typischen Regelungsgegenständen in TVen gehören über die zentralen Fragen von Arbeitszeit und Arbeitsentgelt hinaus auch Fragen des Umfangs von Urlaubsansprüchen sowie der Verpflichtung des Arbeitgebers zur Gehaltsfortzahlung trotz nicht erbrachter Arbeitsleistung in anderen Fällen. Neben dem Anspruch auf Erholungsurlaub sehen TVe vielfach auch Ansprüche der Arbeitnehmer auf Bildungsurlaub vor, die häufig über die gesetzlich geregelten Ansprüche hinausgehen. In Bezug auf Urlaubsansprüche werden neben der Festlegung der Zahl von Urlaubstagen, die den Arbeitnehmern jährlich zustehen, häufig tarifliche Regeln zur Übertragbarkeit von Urlaubsansprüchen oder zum Entstehen von Teilurlaubsansprüchen bei unterjährigem Ein- oder Austritt vereinbart. Hier machen sich die Koalitionspartner häufig die Tariföffnungsklausel des § 13 Abs. 1 BUrlG zunutze. Angesichts der Entwicklungen in der Rechtsprechung des EuGH zum Schutz des Mindesturlaubsanspruchs nach der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 im Falle von langzeiterkrankten Mitarbeitern in den Entscheidungen „Schultz-Hoff“ und „Schulte“2 kommt TVen, die Regelungen über den Verfall von tariflich normierten Urlaubstagen beinhalten, wieder eine größere Bedeutung zu. So hat inzwischen das BAG nochmals ausdrücklich bestätigt, dass die TV-Parteien abweichend von den Grundsätzen, die der EuGH aufgestellt hat, Urlaubs- und Urlaubsabgeltungsansprüche, die den von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG gewährleisteten und von den §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG begründeten Anspruch auf Mindestjahresurlaub von vier Wochen übersteigen (Mehrurlaub), frei regeln können3.

30

Dass die TV-Parteien im Übrigen, auch wenn ihnen weniger enge Grenzen gesetzt sind als den Arbeitsvertragsparteien, an Recht und Gesetz gebunden sind, hat das BAG am Beispiel tariflicher Urlaubsregelungen nochmals deutlich gemacht. Es hat eine Staffelung von Urlaubsansprüchen in Abhängigkeit vom Lebensalter der Arbeitnehmer, wie sie in § 26 Abs. 1 Satz 2 TVöD-VKA (in der Fassung vom 13. September 2005) mit unterschiedlichen Ansprüchen für Mitarbeiter bis zur Vollendung des 30., des 40. Lebensjahres und darüber hinaus geregelt war, wegen Verstoßes gegen das Verbot der Altersdiskriminierung nach §§ 1, 7 AGG für unwirksam erachtet. Insbesondere sah das Gericht nicht, dass ein gesteigertes Erholungsbedürfnis von Beschäftigten bereits ab dem 30. bzw. 40. Lebensjahr eine Ungleichbehandlung rechtfertigen könne. Im Ergebnis sollten demnach alle Mitarbeiter unabhängig von ihrem Alter die tariflich

31

1 BAG v. 25.4.2007 – 10 AZR 634/06, NZA 2007, 875; BAG v. 23.5.2007 – 10 AZR 363/06, AP Nr. 24 zu § 1 TVG Tarifverträge: Großhandel; vgl. auch Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 518 ff. 2 EuGH v. 20.1.2009 – Rs. C-350/06, NZA 2009, 135 – Schultz-Hoff; EuGH v. 22.11.2011 – Rs. C-214/10, NZA 2011, 1333 – KHS. 3 BAG v. 22.5.2012 – 9 AZR 618/10, ZTR 2012, 330.

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Teil 4 Rz. 32

Inhalt des Tarifvertrages

vorgesehene Höchstzahl von 30 Urlaubstagen beanspruchen können1. Die TVParteien haben auf dieses Urteil umgehend reagiert und in der Tarifrunde 2012 unter Berücksichtigung der Hinweise des BAG den TVöD mit Wirkung ab Januar 2013 angepasst und die Urlaubsstaffelung abweichend geregelt2.

d) Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall 32

Im Hinblick auf sonstige Fälle der Gehaltsfortzahlung finden sich in TVen insbesondere Regelungen zur erweiterten Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Historisch war dies insbesondere von Bedeutung, als der Gesetzgeber noch unterschiedliche Regelungen zur Entgeltfortzahlung für Arbeiter und für Angestellte vorsah. Zahlreiche TVe sahen seinerzeit Regelungen vor, die die Rechtsposition und den Schutz von Arbeitern im Krankheitsfall verbesserten und auf die Beseitigung der Unterschiede im Vergleich zu den Ansprüchen der Angestellten abzielten. In der jüngeren Zeit kam tariflichen Regelungen zur Entgeltfortzahlung nochmals eine besondere Bedeutung zu, als die Höhe der gesetzliche Entgeltfortzahlung nach dem EFZG vorübergehend auf 80 % beschränkt war (EFZG i.d.F. vom 1.10.1996 bis 31.12.1998). Je nach dem, wie die Regelungen eines TVes auszulegen waren, konnte sich daraus für die Mitarbeiter ungeachtet der geänderten Gesetzeslage weiterhin ein Anspruch auf 100 % Entgeltfortzahlung ergeben. Nach der Rechtsprechung des BAG galt dies immer dann, wenn davon auszugehen war, dass die TV-Parteien eine selbständige, d.h. in ihrer normativen Wirkung von der gesetzlichen Norm unabhängige Regelung getroffen hatten3.

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Heute sehen tarifliche Regelungen zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall in Ergänzung zu den vereinheitlichten Regelungen des EFZG manchmal noch Ansprüche der Arbeitnehmer auf Zuschüsse zum gesetzlichen Krankengeld nach Ende des Entgeltfortzahlungszeitraums vor. Außerdem sind tarifvertragliche Regelungen zur Entgeltfortzahlung weiterhin mit Blick auf die Tariföffnungsklausel in § 4 Abs. 4 EFZG von Bedeutung. Gerade in Branchen, in denen das Entgelt der Arbeitnehmer viele leistungs- oder ergebnisabhängige Elemente beinhaltet, kann sich die Handhabung der gesetzlichen Regelungen in § 4 Abs. 1a EFZG zur Ermittlung der Höhe des fortzuzahlenden Entgelts als kompliziert erweisen. Die Idee des EFZG, nach der in erster Linie das tatsächlich in der Zeit der Abwesenheit nicht erzielte prognostizierte Entgelt ausgeglichen werden soll (Entgeltausfallprinzip), stößt dabei häufig an ihre Grenzen. Als besser praktikabel erweist sich oft eine Bemessung des Entgelts nach einem vor der Zeit der Arbeitsunfähigkeit liegenden Zeitraum in der Vergangenheit (Referenzprinzip)4. Die Tarifpartner können im Rahmen der ihnen gegebenen Regelungsmacht nicht zuletzt speziell für die von ihnen eingeführten variablen Ver1 BAG v. 20.3.2012 – 9 AZR 529/10, BB 2012, 831. 2 Nunmehr sind für Mitarbeiter bis zur Vollendung des 55. Lebensjahres 29, danach 30 Urlaubstage vorgesehen. 3 Vgl. BAG v. 16.6.1998 – 5 AZR 638/97, NZA 1998, 1062; BAG v. 16.6.1998 – 5 AZR 67/97, NZA 1998, 1288; BAG v. 16.6.1998 – 5 AZR 728/97, NZA 1998, 1343; s. auch Boecken, NZA 1999, 673 (677 f.). 4 HWK/Schliemann, § 4 EFZG Rz. 33 ff.

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Rz. 35 Teil 4

gütungselemente auch deren Berücksichtigung bei der Ermittlung der Höhe der Entgeltfortzahlung regeln. Einige Entgeltfortzahlungsklauseln verschiedener Branchen sind exemplarisch unten in Teil 5 (12) kommentiert.

e) Vorübergehende Verhinderung, Arbeitsausfall, Annahmeverzug Die gesetzliche Regelung in § 616 BGB zum Anspruch des Arbeitnehmers auf unbezahlte Freistellung in Fällen unverschuldeter Dienstverhinderung für verhältnismäßig kurze Zeiträume, die nicht auf eigene Arbeitsunfähigkeit zurückzuführen sind, ist durch die Rechtsprechung bisher nur für wenige Fallgruppen durch verallgemeinerungsfähige Grundsätze konturiert worden. Dies gilt zum Beispiel für die Fälle der Stellensuche nach § 629 BGB1 oder für Fehlzeiten aufgrund von Arztbesuchen2. Außerdem geht das BAG davon aus, dass regelmäßig eine besonders stark ausgeprägte sittliche Verpflichtung besteht, an der Familienfeier der Goldenen Hochzeit der Eltern teilzunehmen, sodass in solchen Fällen § 616 Abs. 1 Satz 1 BGB greift3. Eine umfassende Kasuistik, anhand derer sich die Arbeitsvertragsparteien bei der Bestimmung der Reichweite von § 616 BGB orientieren könnten, fehlt hingegen. Viele TVe präzisieren vor diesem Hintergrund die – dispositive – Regelung des § 616 BGB und enthalten recht umfassende Kataloge von Ereignissen, bei denen den Mitarbeitern ein oder zwei Tage bezahlten Sonderurlaubs zustehen (z.B. eigene Hochzeit, Geburt eines Kindes, Todesfall im Familienkreis, Umzug). Einige typische Klauseln, die Fälle der Arbeitsverhinderung zum Gegenstand haben, sind nachfolgend in Teil 5 (4) beschrieben.

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Einige TVe enthalten Regelungen, die sich mit dem Verdienstausfallrisiko bei einem Arbeitsausfall befassen und damit die Vorschriften zum Annahmeverzug nach § 615 BGB konkretisieren oder modifizieren. Neben den oben schon angesprochenen Tarifregelungen zur Kurzarbeit (vgl. oben Rz. 17) ist denkbar, dass die TV-Parteien auch in anderen Situationen, in denen ein weder vom Arbeitgeber noch vom Arbeitnehmer verschuldeter Arbeitsausfall gegeben ist, zugunsten des Arbeitgebers Vereinbarungen treffen, die von der Betriebsrisikolehre abweichen. Ein dahin gehender Wille der TV-Parteien muss sich aber aus dem TV eindeutig ergeben4. Beispielhaft finden sich unten in Teil 5 (2) Kommentierungen der Klauseln zum Annahmeverzug ausgewählter Branchen. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang außerdem Klauseln über die Verteilung des Lohnrisikos in der Schlechtwetterzeit, die Gegenstand der Ausführungen unten in Teil 5 (18) sind.

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1 BAG v. 11.6.1957 – 2 AZR 15/57, JZ 1957, 640; BAG v. 13.11.1969 – 4 AZR 35/69, DB 1970, 211. 2 Vgl. dazu Verweise auf einschlägige Literaturstimmen in BAG v. 21.1.1997 – 1 ABR 53/96, NZA 1997, 785. 3 BAG v. 25.10.1973 – 5 AZR 156/73, NJW 1974, 663. 4 BAG v. 6.11.1968 – 4 AZR 186/68, DB 1969, 399; BAG v. 9.3.1983 – 4 AZR 301/80, DB 1983, 1496; BAG v. 30.1.1991 – 4 AZR 338/90, NZA 1991, 519.

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Teil 4 Rz. 36

Inhalt des Tarifvertrages

f) Sonstige Arbeitgeberleistungen 36

Regelmäßig Gegenstand von TVen sind über Entgelt- und Entgeltfortzahlungsfragen hinaus Nebenleistungen des Arbeitgebers. So finden sich beispielsweise in verschiedenen TVen Regelungen über vermögenswirksame Leistungen des Arbeitgebers, über sog. Investivlohnmodelle oder über Ansprüche auf Gruppenversicherungen. Besondere Bedeutung haben in der jüngeren Vergangenheit angesichts der Veränderungen im gesetzlichen Rentensystem darüber hinaus TVe zu Systemen der betrieblichen Altersvorsorge erlangt. In vielen Branchen finden sich inzwischen spezielle Vereinbarungen zur Ausgestaltung der Altersvorsorge durch Entgeltumwandlungsmodelle. Diese dienen häufig dem Ziel, die Rahmenbedingungen, die sich aus dem gesetzlichen Anspruch auf eine arbeitnehmerfinanzierte Versorgung gemäß § 1a BetrAVG ergeben, umzusetzen bzw. auszufüllen. Aber auch Modelle der betrieblichen Altersversorgung, die der Arbeitgeber finanziert – oder zumindest durch Aufstockungsbeiträge mitfinanziert –, sind in vielen Branchen durch TV eingeführt worden. Insbesondere, soweit TVe zur Stärkung der sog. „zweiten Säule“ der Altersversorgung arbeitgeberfinanzierte Betriebsrentenmodelle vorsehen, sind diese häufig mit tariflichen Altersgrenzen (vgl. dazu nachfolgend Rz. 79 ff. und die Beispiele unten in Teil 5 (1)) verbunden.

g) Direktionsrecht 37

Verbreitet sind in TVen Regelungen zu finden, die das Direktionsrecht des Arbeitgebers – heute in seinen Grundzügen ausdrücklich gesetzlich normiert in § 106 GewO – regeln. Dies betrifft zum einen die oben schon erwähnten tariflichen Regelungen zur Lage der Arbeitszeit (vgl. oben Rz. 20). Das Weisungsrecht des Arbeitgebers bezieht sich darüber hinaus auch auf die Festlegung von Arbeitsinhalt und Arbeitsort. Insoweit finden sich in TVen nicht nur Beschränkungen des Direktionsrechts zugunsten der Arbeitnehmer, sondern – insbesondere z.B. im Bereich des öffentlichen Dienstes – auch Regelungen, die das Direktionsrecht des Arbeitgebers erweitern. Wie in verschiedenen anderen Regelungsbereichen auch besteht für die TV-Parteien in Bezug auf das Weisungsrecht des Arbeitgebers ein weiterer Regelungsspielraum als für die Parteien des Arbeitsvertrages. Dies gilt namentlich im Hinblick auf Regelungen, die es dem Arbeitgeber ermöglichen, dem Arbeitnehmer andere, gegebenenfalls auch geringerwertige Tätigkeiten zuzuweisen. Individualrechtlich sind dabei die Schranken der §§ 305 ff. BGB zu beachten. Eine formularvertragliche Erweiterung des Direktionsrechts, die die Zuweisung von nicht gleichwertigen Aufgaben ermöglichen soll, ist nach Auffassung des BAG unwirksam1. Hingegen hat das BAG schon wiederholt entschieden, dass eine Erweiterung des Leistungsbestimmungsrechts durch einen TV grundsätzlich denkbar ist. Voraussetzung dafür sei jedoch, dass dies nicht zur Umgehung zwingender Kündigungsschutzbestimmungen führen dürfe. Unter gewissen Umständen kann damit die in einem TV vorgesehene Möglichkeit der Zuweisung einer unterwertigen Beschäftigung zulässig sein, wobei die tariflichen Regelungen die Vo1 BAG v. 9.5.2006 – 9 AZR 424/05, NZA 2007, 145.

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Rz. 39 Teil 4

raussetzungen zu bestimmen und im Regelfall eine zeitliche Begrenzung der Zuweisung der geringerwertigen Tätigkeit vorzusehen haben1. Unten in Teil 5 (9) sind einige Direktionsrechtsklauseln aus verschiedenen Branchen beispielhaft kommentiert.

h) Nebenpflichten des Arbeitnehmers Verschiedene TVe enthalten neben den Normen über die synallagmatischen Hauptpflichten der Arbeitsvertragsparteien sowie über diverse Leistungspflichten des Arbeitgebers auch Regelungen, welche die Nebenpflichten der tarifgebundenen Arbeitnehmer konkretisieren. So finden sich beispielsweise Regelungen über Nebentätigkeitsverbote2, über Zustimmungserfordernisse in Bezug auf Nebentätigkeiten3 oder über Meldepflichten des Arbeitnehmers bei Arbeitsverhinderung4. In den meisten Fällen lehnen sich dabei die tariflichen Regelungen eng an bestehende gesetzliche Regelungen an oder erlangen – so z.B. verschiedene tarifliche Regelungen zu nachvertraglichen Wettbewerbsverboten – nur dann Anwendung, wenn die Arbeitsvertragsparteien überhaupt eine entsprechende Vereinbarung einzelvertraglich schließen möchten. Ein Blick in die zu solchen Regelungen veröffentlichte Rechtsprechung und Literatur zeigt, dass solchen Regelungen zumindest in der juristischen Praxis nur eine verhältnismäßig geringe Bedeutung zukommt.

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i) Ausschlussklauseln Seit jeher in vielen TVen zu finden sind Regelungen über den Verfall oder Ausschluss von Ansprüchen der Arbeitsvertragsparteien, wenn solche Ansprüche nicht innerhalb bestimmter Fristen in einer bestimmten Form gegenüber dem Vertragspartner geltend gemacht werden. Häufig vereinbaren die TV-Parteien insbesondere Regelungen zu zweistufigen Ausschlussfristen, nach denen in einem ersten Schritt der Anspruch gegenüber dem Vertragspartner geltend zu machen und bei Erfolglosigkeit in einem zweiten Schritt der Klageweg zu beschreiten ist (vgl. dazu auch Teil 16 Rz. 77 ff.). Tariflichen Verfallklauseln kommt in der Praxis nicht zuletzt deswegen eine erhebliche Bedeutung zu, weil das BAG an die Wirksamkeit der Vereinbarung von Ausschlussfristen in Formularverträgen seit Geltung des AGB-Rechts im Arbeitsrecht strenge Anforderungen stellt. Der Sache nach hält das BAG an der Möglichkeit der wirksamen Vereinbarung von Ausschlussklauseln in Formulararbeitsverträgen fest, stellt aber besondere Anforderung an deren Formulierung und Reichweite so-

1 BAG v. 23.9.2004 – 6 AZR 442/03, NZA 2005, 475; BAG v. 16.12.2004 – 6 AZR 658/03, ZTR 2005, 424; s. aber auch BAG v. 19.11.2002 – 3 AZR 591/01, NZA 2003, 880. 2 Vgl. z.B. Lenkzeitkontrolle nach dem MTV Nr. 6 v. 12.8.1998 für alle gewerblichen Arbeitnehmer/-innen des privaten Omnibusgewerbes in Bayern (dazu: BAG v. 26.6.2001 – 9 AZR 343/00, NZA 2002, 98). 3 Vgl. z.B. § 3 Abs. 3 Satz 2 TVöD (dazu: LAG Rheinland-Pfalz v. 4.5.2010 – 3 Sa 688/09, AE 2011, 120, n. rkr.). 4 Vgl. zu entsprechenden Klauseln in MTVen der Klimatechnik BAG v. 27.6.1990 – 5 AZR 314/89, NZA 1991, 103.

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Teil 4 Rz. 40

Inhalt des Tarifvertrages

wie an die vereinbarten Fristen1. Eine Vielzahl der Klauseln in existierenden Arbeitsverträgen hält der AGB-Kontrolle nicht stand. Die – gerade auch in zahlenmäßig bedeutsamen Branchen – existierenden tariflichen Verfallklauseln werden hingegen vom BAG überwiegend für zulässig erachtet. Das BAG hat dies in zwei Entscheidungen jüngst nochmals für den MTV für den Einzelhandel Nordrhein-Westfallen und für den MTV für die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in den bayerischen Betrieben des Groß- und Außenhandels bestätigt. Bemerkenswert sind diese BAG-Entscheidungen2 nicht zuletzt auch deswegen, weil sie die neue Rechtsprechung des BAG zu den Grundsätzen des Urlaubsrechts umsetzen, zu der sich das Gericht wegen verschiedener Entscheidungen des EuGH veranlasst sah. Danach kann sich aus tariflichen Regelungen nunmehr auch der Verfall von Urlaubsabgeltungsansprüchen ergeben, weil diese nach der nunmehrigen Auffassung des 9. Senats als reine Geldansprüche denselben tariflichen Bedingungen unterfallen wie alle übrigen Zahlungsansprüche der Arbeitsvertragsparteien3. Weitere allgemeine Erläuterungen zu Tarifregelungen über den Verfall und Ausschluss von Ansprüchen finden sich unten in Teil 5 (21). Dort sind die relevanten Klauseln verschiedener Branchen beispielhaft beschrieben.

2. Nicht individualvertraglich regelbare Inhalte 40

Die Natur eines TVes als Kollektivvereinbarung bringt es mit sich, dass die TV-Parteien bei der Regelung des Inhalts von Arbeitsverhältnissen nicht darauf beschränkt sind, Rechte und Pflichten zu regeln, welche auch die Individualvertragsparteien im einzelnen Arbeitsvertrag vereinbaren könnten. Dies gilt nicht nur im Hinblick auf betriebliche oder betriebsverfassungsrechtliche Fragen nach § 3 Abs. 2 TVG, bei denen die mangelnde Regelungsmöglichkeit durch bloße Individualvereinbarung offenkundig ist (vgl. unten Rz. 86 ff.). Es gibt vielmehr Beispiele dafür, dass normativ wirkende, aber nur für die Tarifgebundenen geltende Inhaltsnormen so ausgestaltet sind, dass sie in gleicher Form nicht Gegenstand eines einzelnen Arbeitsvertrages sein könnten. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang Regelungen in TVen, die es den Tarifgebundenen untersagen, bestimmte Inhalte oder Regelungen im Arbeitsvertrag zu vereinbaren. Man bezeichnet solche tariflichen Verbotsnormen als negative Inhaltsnormen (auch: negative Ordnungsnormen)4. Ihnen wohnt, ohne dass es sich deswegen zwingend um betriebliche Normen handeln muss, ein kollektiver Charakter inne. Sie dienen der umfassenden Durchsetzung eines von den TV-Parteien verfolgten Ziels. So kann ein TV generell verbieten, bei der Vereinbarung von Teilzeitarbeitsverhältnissen eine bestimmte Mindeststundenzahl zu unterschreiten, soweit nicht besondere Gründe vorliegen5. Ein TV kann vor1 BAG v. 25.5.2005 – 5 AZR 572/04, NZA 2005, 1111; BAG v. 28.11.2007 – 5 AZR 992/06, NZA 2008, 293; BAG v. 12.3.2008 – 10 AZR 152/07, NZA 2008, 699. 2 BAG v. 21.2.2012 – 9 AZR 486/10, NZA 2012, 750. 3 BAG v. 9.8.2011 – 9 AZR 365/10, NZA 2011, 1421; BAG v. 21.2.2012 – 9 AZR 486/10, NZA 2012, 750. 4 Preis/Preis, Der Arbeitsvertrag, Teil I C Rz. 18; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 337 ff.; vgl. auch BAG v. 18.7.1978 – 1 ABR 79/75, BB 1978, 1718. 5 Vgl. BAG v. 28.1.1992 – 1 ABR 45/91, NZA 1992, 606.

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Normativer Teil

Rz. 43 Teil 4

sehen, dass der Ausgleich bestimmter Freizeitguthaben in keinem Falle durch Abgeltung in Geld erfolgen darf1. Die TV-Parteien können auch die maximal zulässige Dauer einer Probezeitbefristung regeln2. Entgegenstehende Individualvereinbarungen sind in diesen Fällen unwirksam. Nur so kann dem erkennbaren Ansinnen der TV-Parteien Rechnung getragen werden. Sie möchten offenbar die betroffenen Arbeitnehmer vor bestimmten, als objektiv nachteilig empfundenen Regelungsinhalten schützen. Auf das Günstigkeitsprinzip soll sich der Arbeitnehmer angesichts der besonderen Intention der negativen Inhaltsnormen nicht berufen können3. Die TV-Parteien haben damit ein Mittel an der Hand, die Regelungsbefugnis der tarifgebundenen Parteien des Arbeitsvertrages zu beschränken, ohne in dem fraglichen Bereich selbst eine inhaltliche Regelung zu schaffen. Eine Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG (vgl. dazu Teil 9 Rz. 21 ff.) kommt bei negativen Inhaltsnormen freilich nicht in Betracht.

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III. Abschluss- und Beendigungsnormen Der Regelungsauftrag der TV-Parteien bezieht sich gemäß § 1 Abs. 1 TVG nicht nur auf den Inhalt des Arbeitsverhältnisses, sondern gleichermaßen auf seinen Abschluss und seine Beendigung. Den Koalitionen obliegt bei der Ausübung der ihnen gewährten Grundrechte nach Art. 9 Abs. 3 GG ein umfassender Ordnungsauftrag. Zu einer sinnvollen autonomen Ausgestaltung des Arbeitslebens gehört danach nicht nur eine ausgewogene Regelung der Arbeitsbedingungen derjenigen, die am Berufsleben teilhaben. Der Aufgabe, vor die die TV-Parteien gestellt sind, können sie nur gerecht werden, wenn sie die Möglichkeit haben, durch Abschluss- oder Beendigungsnormen einerseits auch den Zugang zum Arbeitsleben und andererseits Fragen im Zusammenhang mit der Auflösung von Arbeitsverhältnissen verbindlich zu regeln. Eine Normsetzungsbefugnis, die auf die Regelungen der Inhalte bestehender Arbeitsverhältnisse beschränkt wäre, würde dem nicht angemessen Rechnung tragen.

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1. Abschlussnormen Abschlussnormen regeln Fragen, die im Zusammenhang mit der Eingehung eines Arbeitsverhältnisses stehen. In der Praxis häufig zu finden sind Vorschriften, die für die Begründung von Arbeitsverhältnissen – generell oder in bestimmten Fällen – eine besondere Form vorsehen. Abschlussnormen können aber auch eine weitergehende Regelungsintensität haben. Es finden sich tarifliche Gebote, nach denen bestimmte Arbeitsverhältnisse neu zu begründen oder unterbrochene Arbeitsverhältnisse fortzusetzen sind (Abschlussgebote). Umgekehrt kann eine Abschlussnorm auch die Möglichkeit zur Begründung bestimmter Arbeitsverhältnisse beschränken, indem z.B. die Anstellung 1 Vgl. BAG v. 7.12.1956 – 1 AZR 480/55, BB 1957, 293. 2 Vgl. BAG v. 7.8.1980 – 2 AZR 563/78, DB 1980, 2244. 3 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 18 V 4b, S. 846; Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 270.

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Teil 4 Rz. 44

Inhalt des Tarifvertrages

bestimmter Personengruppen verboten oder die Begründung bestimmter Arten von Arbeitsverhältnissen untersagt wird (Abschlussverbote).

a) Formerfordernisse 44

Der Abschluss eines Arbeitsvertrages ist im deutschen Recht grundsätzlich formfrei möglich, vgl. § 105 Satz 1 GewO. Das NachwG gibt dem Arbeitnehmer zwar einen Anspruch auf eine vom Arbeitgeber unterzeichnete Niederschrift der wesentlichen Vertragsbedingungen, vgl. § 2 Abs. 1 NachwG. Die Beachtung der Vorgaben des Nachweisgesetzes durch den Arbeitgeber ist jedoch keine Voraussetzung für die Wirksamkeit des Vertrages. Die Nichtigkeitsfolge des § 125 BGB greift nicht1. Es gibt im Übrigen nur wenige gesetzliche Regelungen, welche die schriftliche Vereinbarung von Arbeitsverträgen bzw. punktuell von bestimmten Abreden der Vertragsparteien zur Wirksamkeitsvoraussetzung machen. Zu den wichtigsten Bestimmungen gehören insoweit § 74 Abs. 1 HGB (besondere Schriftform bei nachvertraglichem Wettbewerbsverbot) sowie §§ 14 und 21 TzBfG (Befristung, auflösende Bedingung). Regelungen über die Befristung sind unten bei den Beendigungsnormen behandelt (Rz. 73 ff.), obwohl das BAG sie zum Teil als Abschlussnormen qualifiziert (vgl. dazu Rz. 78). Für Ausbildungsverhältnisse sieht § 11 BBiG die (nachträgliche) Unterzeichnung der Vertragsniederschrift vor. Formverstöße führen, wenn das Formerfordernis nicht ohnehin nur deklaratorischer Natur ist (so z.B. § 11 BBiG2), nach der gesetzlichen Konzeption zur Nichtigkeit lediglich der formbedürftigen Vertragsabrede, nicht etwa zur Unwirksamkeit des Arbeitsvertrages an sich. Nur so kann dem Schutzbedürfnis des Arbeitnehmers, auf dessen Interessen die Schriftformerfordernisse in erster Linie abzielen, Rechnung getragen werden. Tarifvertragliche Schriftformerfordernisse, die sich auf die Begründung des Arbeitsverhältnisses im Ganzen beziehen (sog. globale Formvorschriften), sind vor diesem Hintergrund gleichermaßen regelmäßig deklaratorischer Natur3. Soweit sich diese Rechtsfolge eines Formverstoßes nicht unmittelbar aus den tariflichen Regelungen ergibt4, wird die dann notwendige Auslegung meist zu dem Ergebnis führen, dass ein konstitutives Schriftformerfordernis nicht gewollt war. Es dürfte selten im wohlverstandenen Interesse der TV-Parteien liegen, wegen eines Verstoßes gegen ein Schriftformerfordernis von einem unwirksamen Arbeitsverhältnis auszugehen, für das dann die Regelungen über das faktische Arbeitsverhältnis gelten würden5. Nur vereinzelt machen TVe ausdrücklich die Schriftform des Arbeitsvertrages zur Wirksamkeitsvorsaussetzung6. 1 2 3 4

HWK/Kliemt, Vorb. NachwG Rz. 14. BAG v. 21.8.1997 – 5 AZR 713/96, NZA 1998, 37. BAG v. 22.2.1995 – 5 AZR 416/94; HWK/Lembke, § 105 GewO Rz. 5. Vgl. z.B. § 3 Ziff. 1 des Manteltarifvertrages für das Hotel- und Gaststättengewerbe in West-Berlin vom 1.6.1975, dazu BAG v. 24.6.1981 – 7 AZR 197/79, DB 1982, 1576. 5 BAG v. 22.2.1995 – 5 AZR 416/94; a.A. LAG Berlin v. 17.4.1978 – 9 Sa 130/77, AuR 1979, 220. 6 Vgl. z.B. § 3 Abs. 1 Satz 2 des Tarifvertrages für die Musiker in Kulturorchestern (TVK), dazu LAG Schleswig-Holstein v. 16.2.1999 – 3 Sa (1) 549c/96, LAGE § 125 BGB Nr. 9.

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Normativer Teil

Rz. 47 Teil 4

Tariflich geregelte Formvorschriften beziehen sich vor diesem Hintergrund meist auch nicht global auf das Arbeitsverhältnis als solches, sondern auf die Regelung bestimmter Vertragsinhalte (z.B. Wettbewerbsverbote, Probezeitabreden, Vereinbarung des AT-Status), auf Nebenabreden im Allgemeinen (vgl. z.B. § 2 Abs. 3 TVöD) oder auf Fragen der Vertragsbeendigung. Bei solchen Regelungen ist es durchaus denkbar, dass die TV-Parteien ihnen eine konstitutive Wirkung zukommen lassen wollten und ein Formverstoß zur Unwirksamkeit der betroffenen Vertragsabrede führt.

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b) Abschlussgebote Ein in einem TV geregeltes und an die Tarifunterworfenen gerichtetes Gebot, bestimmte Arbeitsverträge einzugehen, stellt eine wesentliche Ausnahme vom Grundsatz der Kontrahierungsfreiheit dar, der ansonsten im Arbeitsrecht gilt. Die Vertragsfreiheit bezieht sich dabei nicht nur auf die Frage, ob die Parteien überhaupt ein Arbeitsverhältnis eingehen möchten (Abschlussfreiheit) sondern auch darauf, mit wem ein Arbeitsverhältnis begründet wird (Auswahlfreiheit). Zu Lasten des Arbeitgebers finden sich in arbeitsrechtlichen Gesetzen – wenn auch nur in wenigen Fällen –verschiedene Vorschriften zum Kontrahierungszwang, wie z.B. in § 10 AÜG, § 15 Abs. 5 TzBfG oder § 613a BGB, und auch das Richterrecht hat zugunsten der Arbeitnehmer einzelne Abschlussgebote wie den Wiedereinstellungsanspruch bei Wegfall des Kündigungsgrundes oder den allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruch entwickelt1. Es gibt jedoch keine gesetzlichen Vorgaben dahingehend, dass sich ein Arbeitgeber, dem sich für eine von ihm zu besetzende Stelle mehrere Bewerber anbieten, im Rahmen seiner Auswahl für eine bestimmte Person entscheiden müsste, oder dass er bestimmte Gesichtspunkte bei seiner Auswahl zwingend positiv zu berücksichtigen hätte2. Die in jüngerer Zeit vermehrt diskutierten gesetzlichen Quotenregelungen, z.B. zugunsten von Frauen bei der Besetzung von Führungspositionen, existieren bisher nicht.

46

Gänzlich frei ist der Arbeitgeber bei seiner Auswahlentscheidung dennoch insoweit nicht, als er die verschiedenen gesetzlichen Diskriminierungsverbote, insbesondere nach § 7 AGG, aber auch zugunsten Schwerbehinderter (§ 81 Abs. 2 SGB IX) oder zugunsten von Mandatsträgern (§ 78 Satz 2 BetrVG)3, zu berücksichtigen hat. Auch diese beinhalten jedoch kein konkretes Abschlussgebot zugunsten der geschützten Personengruppen. Es obliegt dem Arbeitgeber lediglich, seine – im Übrigen in seinem Ermessen stehende – Entscheidung frei von unzulässigen Beweggründen zu treffen. Im Übrigen zieht selbst eine Verletzung der Diskriminierungsverbote in aller Regel keinen Anstellungsanspruch nach sich, sondern führt allenfalls zu Ersatz- bzw. Entschädigungsansprüchen, vgl. z.B. § 15 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 6 AGG4.

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1 Weitere Nachweise bei HWK/Lembke, § 105 GewO Rz. 2. 2 ErfK/Preis, § 611 BGB Rz. 318; Boemke, NZA 1993, 532. 3 Vgl. zur Frage des Anspruchs eines Betriebsratsmitglieds auf ein unbefristetes Anstellungsverhältnis: LAG Berlin-Brandenburg v. 4.11.2011 – 13 Sa 1549/11, BB 2012, 380. 4 ErfK/Preis, § 611 BGB Rz. 318.

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Teil 4 Rz. 48

Inhalt des Tarifvertrages

48

In manchen TVen finden sich weitgehende Abweichungen von der Vertragsfreiheit, wie sie gemäß den vorstehenden Erläuterungen auf Basis der gesetzlichen Regelungen ausgestaltet ist. Die Kontrahierungsfreiheit der einzelnen Arbeitnehmer können die TV-Parteien nicht wirksam beschränken, weil dem das Grundrecht auf freie Berufs- und Arbeitsplatzwahl nach Art. 12 Abs. 1 GG entgegenstünde1. Die einschlägigen TVe richten sich also an den Arbeitgeber und setzen häufig schon bei der Beschränkung seiner Abschlussfreiheit an, nicht erst bei seiner Auswahlfreiheit. Dass dabei Grundrechtspositionen des Arbeitgebers betroffen sind, liegt auf der Hand. Der mit den Abschlussgeboten einhergehende Kontrahierungszwang alleine für den Arbeitgeber und die sich daraus ergebende Beschränkung seiner Freiheitsrechte werden heute dem Grunde nach überwiegend akzeptiert, solange die TV-Parteien bei der Ausgestaltung von Abschlussgeboten zugunsten der Arbeitgeber die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und Bestimmtheit beachten2.

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Häufig zu finden sind in TVen sog. Wiedereinstellungsklauseln (vgl. dazu im Einzelnen Teil 5 (23)). Sie gebieten dem Arbeitgeber, ausgeschiedenen Arbeitnehmern unter bestimmten Voraussetzungen erneut den Abschluss eines – regelmäßig unbefristeten – Arbeitsvertrages anzubieten. Historisch hatten Wiedereinstellungsklauseln erhebliche Bedeutung im Arbeitskampfrecht, als Arbeitgeber sich als Reaktion auf umfassende Streikmaßnahmen mit der sog. lösenden Aussperrung von Arbeitnehmern trennten3. Vereinbarungen zwischen den TV-Parteien, dass ausgesperrte Arbeitnehmer nach Ende des Arbeitskampfes wieder einzustellen waren, gehörten bereits zu Zeiten des Reichsgerichts in den 1920er Jahren zur gelebten Praxis4. Spätestens seit der Große Senat des BAG in seiner Leitentscheidung vom 21.4.1971 klargestellt hat, dass Aussperrungen im Allgemeinen nur suspendierenden Charakter haben und somit nicht zu einer – wenn auch nur vorübergehenden – Beendigung bzw. Unterbrechung des Arbeitsverhältnisses führen5, ist der Bedarf für Wiedereinstellungsgebote nach Arbeitskämpfen weitestgehend entfallen.

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Praktische Bedeutung haben Gebote zur Wiedereinstellung von Arbeitnehmern nach wie vor, beispielsweise in Bezug auf Personen, die aus betriebsbedingten Gründen, beispielsweise im Rahmen einer Rationalisierungsmaßnahme, ausgeschieden sind. Zu finden sind aber auch tarifliche Regelungen, die einen Wiedereinstellungsanspruch für den Fall der Unterbrechung des Arbeitsverhältnisses, z.B. für Zeiten der Kindererziehung, vorsehen. Seitdem für Erziehungszeiten gesetzliche Regelungen bestehen (BEEG bzw. früher BErzGG), spielen TVe vor allen Dingen eine Rolle, wenn sie über die gesetzlichen Ansprüche hinausgehende Möglichkeiten der Wahrnehmung von Erziehungszeiten vorsehen6.

1 Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 609. 2 Vgl. BAG v. 14.10.1997 – 7 AZR 298/96, NZA 1998, 775 m.w.N.; s. auch Wiedemann/ Thüsing, § 1 TVG Rz. 609 ff.; kritisch: Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 321 ff. 3 Vgl. dazu Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 21 III 6a, S. 1040 ff. 4 Vgl. RG v. 30.6.1925 – III 371/24, RGZ 111, 166. 5 BAG v. 21.4.1971 – GS 1/68, NJW 1971, 1668. 6 So z.B. § 9 des Manteltarifvertrages für das private Versicherungsgewerbe.

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Normativer Teil

Rz. 52 Teil 4

Zu den Abschlussgeboten zählen auch die verschiedentlich zu findenden tariflichen Regelungen zur Verpflichtung von Arbeitgebern, zur Übernahme von Auszubildenden in ein Arbeitsverhältnis nach erfolgreichem Abschluss ihrer Ausbildung. Entsprechende Tarifklauseln sind regelmäßig so auszulegen, dass sie nicht mit Abschluss der Ausbildung automatisch zur Begründung eines Arbeitsverhältnisses führen. Sie beinhalten vielmehr eine – wenn auch normativ, d.h. zugunsten der einzelnen Auszubildenden wirkende, – Verpflichtung des Arbeitgebers, den betreffenden Auszubildenden einen (oftmals genügt: befristeten) Arbeitsvertrag anzubieten. Diese Auslegung lässt sich meist schon auf den Wortlaut der Regelungen stützen, in denen oft von einer „Verpflichtung“ des Arbeitgebers die Rede ist oder davon, dass dieser unter bestimmten Voraussetzungen (z.B. personenbedingte Gründe, akute Beschäftigungsprobleme) kein „Angebot eines Arbeitsverhältnisses“ machen müsse1. Das BAG geht außerdem davon aus, dass sich die Verpflichtung des Arbeitgebers aus solchen Klauseln, zumindest wenn sie von einer „Übernahme“ sprechen, nur auf den Abschluss eines Arbeitsvertrags für eine sich direkt an die Berufsausbildung anschließende Beschäftigung richtet. Dies gebiete der regelmäßig mit solchen Klauseln verfolgte Zweck, dem Auszubildenden durch die Umsetzung seiner in der Ausbildung erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten Berufspraxis zu verschaffen sowie die Bemessungsgrundlage für die Gewährung von Arbeitslosengeld zu verbessern2. Kommt der Arbeitgeber einer tarifvertraglichen Übernahmeverpflichtung schuldhaft nicht oder nicht rechtzeitig im unmittelbaren Anschluss an die Ausbildung nach, macht er sich gegenüber dem ehemaligen Auszubildenden schadenersatzpflichtig und schuldet nach § 280 i.V.m. § 251 Abs. 1 Alt. 1 BGB eine Entschädigung in Geld3.

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Es wird abzuwarten bleiben, ob das BAG diese Auslegungsgrundsätze und weiteren Überlegungen auch auf die in der Metall- und Elektroindustrie in der Tarifrunde 2012 vereinbarte Verpflichtung zur Übernahme von Leiharbeitnehmern übertragen wird. Nach dem TV über den Einsatz von Leih-/Zeitarbeitnehmern der Metall- und Elektroindustrie in Baden-Württemberg haben Entleiharbeitgeber, sofern nicht in einer freiwilligen Betriebsvereinbarung etwas Abweichendes geregelt ist, nach 18-monatiger Überlassung desselben Arbeitnehmers zu prüfen, ob sie den Zeitarbeitnehmer in eine unbefristetes Arbeitsverhältnis übernehmen können. Nach insgesamt 24-monatiger Beschäftigungszeit (Zeiten vor Inkrafttreten des TVes zählen dabei nicht mit) ist der Entleiharbeitgeber sogar verpflichtet, dem Leih-/Zeitarbeitnehmer einen unbefristeten Arbeitsvertrag anzubieten. Es dürfte davon auszugehen sein, dass eine Vielzahl der Metallarbeitgeber versuchen wird, dieser Verpflichtung durch den Abschluss einer nach dem TV ausdrücklich zugelassenen freiwilligen Betriebsvereinbarung zu entgehen oder eine nicht gewünschte Übernahmepflicht auf andere Weise – unter legitimer Ausnutzung der im TV bestimmten Voraussetzungen – zu vermeiden. So werden beispielsweise Beschäftigungszeiten im

52

1 Vgl. zu TVen in der Metall-Industrie: BAG v. 14.5.1997 – 7 AZR 159/96, NZA 1998, 50; BAG v. 29.9.2005 – 8 AZR 573/04, AP Nr. 35 zu § 611 Haftung des Arbeitgebers. 2 BAG v. 17.6.1998 – 7 AZR 443/97, NZA 1998, 1178. 3 BAG v. 29.9.2005 – 8 AZR 573/04, AP Nr. 35 zu § 611 Haftung des Arbeitgebers.

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Teil 4 Rz. 53

Inhalt des Tarifvertrages

Falle einer Unterbrechung von nicht weniger als drei Monaten nach den Regelungen des TVes nicht zusammengerechnet. 53

Fraglich ist die rechtliche Einordnung der in einigen TVen vereinbarten Regelungen, die dazu dienen, gezielt die Beschäftigung bestimmter Arbeitnehmergruppen zu fördern bzw. zu schützen. Solche Quotenregelungen, nach denen z.B. ein vereinbarter Anteil der eingestellten Arbeitnehmer aus einer bestimmten Personengruppe kommen soll (z.B. Schwerbehinderte, Arbeitslose, Jugendliche), beinhalten für den Arbeitgeber der Sache nach ein Einstellungsgebot. Sie dienen dabei zunächst dem Schutz der Mitglieder der begünstigten Gruppe. Gleichzeitig zielen sie immer auch auf eine bestimmte Belegschaftsstruktur ab und dienen so dem Schutz kollektiver Interessen. Regelmäßig geht deswegen mit quantitativen Besetzungsregelungen kein individueller Einstellungsanspruch einher1. Es fehlt aus Sicht des Arbeitgebers, dessen Grundrechte es im Rahmen der gebotenen Abwägung zu beachten gilt, an einer ausreichenden Bestimmbarkeit der potentiell Begünstigten. Während die oben angesprochenen Wiedereinstellungsklauseln oder Verpflichtungen zur Übernahme von Auszubildenden an – zumindest in der Vergangenheit schon einmal bestehende – vertragliche Bindungen mit dem Arbeitgeber anknüpfen und so zumindest eine klare Begrenzung des begünstigten Personenkreises erlauben, fehlt diese Möglichkeit bei der Umschreibung allgemeiner Personengruppen. Der Kreis derer, denen ein tariflicher Anspruch auf den Abschluss eines Arbeitsvertrages gewährt werden soll, darf aber nicht uferlos ausgeweitet werden. Nur so kann verhindert werden, dass ein dem deutschen Recht fremdes „Recht auf Arbeit“ für eine unüberschaubar große Personengruppe geschaffen wird2. Schon deswegen ist fraglich, ob Besetzungsregelungen als Abschlussnormen zu qualifizieren sind. Zumindest qualitative Besetzungsregelungen sind jedenfalls nach h.M. Betriebsnormen (vgl. dazu unten Rz. 87), weil sie gerade nicht auf das einzelne Arbeitsverhältnis abstellen, sondern auf die Besetzung eines Arbeitsplatzes als objektiven Faktor. Eine Regelung, die die Besetzung eines Arbeitsplatzes wegen seiner Anforderungen von einer bestimmten Ausbildung abhängig macht, kann sinnvollerweise nur für alle Arbeitnehmer einheitlich erfolgen3. Bedeutsam wird die Unterscheidung nach dem Normcharakter insbesondere, wenn es um die Frage der Nachwirkung und ihrer Folgen geht (vgl. dazu unten Teil 9 Rz. 33 ff.).

c) Abschlussverbote 54

Abschlussverbote spielen in der Tarifpraxis und damit auch in der einschlägigen Rechtsprechung und Literatur eine eher untergeordnete Rolle. Zum einen ist nicht jede Tarifnorm, die den Abschluss bestimmter Vereinbarungen verbietet, ein Abschlussverbot. Abschlussverbote sind vielmehr abzugrenzen von negativen Inhaltsnormen (vgl. oben Rz. 40). Letztere richten sich gegen bestimmte Inhalte eines Arbeitsvertrages, nicht aber gegen den Abschluss des Ar1 Wisskirchen/Bissels in Tschöpe, AHB-Arbeitsrecht, Teil 1 C Rz. 220. 2 Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 612 f. 3 BAG v. 26.4.1990 – 1 ABR 84/87, NZA 1990, 850 m.w.N.

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Normativer Teil

Rz. 57 Teil 4

beitsvertrages an sich. Demgegenüber zeichnen sich Abschlussverbote dadurch aus, dass sie den Abschluss eines Arbeitsvertrages schlechthin untersagen1. Sie haben damit auch eine andere Wirkung als bloße Beschäftigungsverbote. Diese richten sich gegen die tatsächliche Beschäftigung von Arbeitnehmern zu bestimmten Konditionen oder in bestimmten Bereichen, nicht aber auch notwendigerweise gegen das Zustandekommen eines Vertrages. Es fehlt vermutlich aus Sicht der TV-Parteien in den meisten Fällen an der Notwendigkeit, über die nicht gewünschte Beschäftigung auch den Vertragsschluss verhindern zu wollen, sodass für entsprechend weit reichende Verbote selten praktischer Bedarf besteht. Die TV-Parteien können im Übrigen mit Abschlussverboten verschiedene Zielrichtungen verfolgen. Ähnlich wie bei den oben beschriebenen Abschlussgeboten kommen grundsätzlich Verbote zum Schutz bestimmter Personengruppen (Jugendliche, Schwangere oder andere aus gesundheitlichen Gründen gefährdete Personen) in Betracht, wie man es von gesetzlichen Beschäftigungsverboten (JArbSchG, MuSchG) kennt. Dabei steht der Schutz des Einzelnen vor Überforderung oder vor Gesundheitsgefahren im Vordergrund2. Soweit sich Rechtsprechung und Literatur mit Fragen im Kontext von Abschlussverboten befasst haben, ging es überwiegend um Verbote, mit denen die TV-Parteien in erster Linie kollektive Ziele mit sozialem oder arbeitsmarktpolitischem Hintergrund verfolgten.

55

Dazu gehörten zum einen die als „Lehrlingsskalen“ bezeichneten Tarifklauseln, die darauf abzielten, für ein angemessenes Verhältnis zwischen Auszubildenden und zur Ausbildung befähigten Fachkräften zu sorgen3. Inzwischen hat der Gesetzgeber in das BBiG Vorschriften aufgenommen, nach denen sich tarifliche Regelungen erübrigt haben. So ist Voraussetzung für eine zulässige Ausbildung nach dem BBiG nicht nur, dass die Ausbildungsstätte generell für die Berufsausbildung geeignet ist. Darüber hinaus dürfen vielmehr Auszubildende in einem an sich geeigneten Betrieb nur eingestellt und ausgebildet werden, wenn insbesondere auch die Zahl der vorhandenen Ausbildungsplätze nicht so groß wird, dass eine Gefährdung des Berufsausbildungsziels zu besorgen ist, vgl. § 27 Abs. 1 Nr. 2 BBiG4.

56

Auch die oben bereits erwähnten qualitativen Besetzungsregelungen, nach denen die Einstellung von Personen auf bestimmten Positionen von der Erfüllung spezifischer Voraussetzungen abhängig sein soll (z.B. Fachkraft der Druckindustrie)5, werden in diesem Zusammenhang häufig angesprochen. Der Sache nach beinhalten sie das Verbot, die fraglichen Stellen nicht mit Personen zu besetzen, die die tariflich geforderten fachlichen Anforderungen nicht erfüllen. Dies dient meist weniger dem Schutz der nicht qualifizierten Kräfte vor Über-

57

1 HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 48; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 633. 2 Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 202 Rz. 21. 3 Vgl. dazu LAG Düsseldorf v. 19.9.1960 – 1 Sa 300/60, AP Nr. 1 zu § 4 TVG Lehrlingsskalen; Frey, RdA 1970, 182; Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung, S. 483. 4 Vgl. dazu HWK/Hergenröder, § 27 BBiG Rz. 3. 5 Vgl. BAG v. 13.9.1983 – 1 ABR 69/81, DB 1984, 1099; BAG v. 26.4.1990 – 1 ABR 84/87, NZA 1990, 850 (m.w.N.).

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Teil 4 Rz. 58

Inhalt des Tarifvertrages

forderung als vielmehr dem Beschäftigungsschutz der qualifizierten Personen und der generellen Qualitätssicherung. Deswegen handelt es sich regelmäßig um betriebliche Normen (vgl. dazu unten Rz. 87)1. 58

Verstöße gegen tarifliche Abschlussverbote führen zu unterschiedlichen Rechtsfolgen. So stellen tarifliche Regelungen, die sich gegen den Abschluss des Arbeitsverhältnisses an sich wenden, regelmäßig auch Vorschriften dar, wegen deren Verletzung der Betriebsrat im Rahmen seiner Mitbestimmung bei der Einstellung gemäß § 99 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG seine Zustimmung verweigern darf. Für ein Recht zur Zustimmungsverweigerung wegen Verstoßes gegen eine Bestimmung in einem TV ist nach der Rechtsprechung des BAG entscheidend, dass nicht nur einzelne Vertragsbestimmungen gegen den TV verstoßen, sondern dass der Verstoß nur durch das Unterbleiben der personellen Maßnahme verhindert werden kann2. Wenn die TV-Parteien sich aber mit einer Regelung gegen den Abschluss des Arbeitsvertrages an sich wenden, liegt es in aller Regel nahe, dass neben der Begründung des Arbeitsvertrages gerade auch seiner tatsächlichen Durchführung – in Form einer Einstellung oder Versetzung – entgegen gewirkt werden soll. Das BAG hat ein Zustimmungsverweigerungsrecht anerkannt bei dem Verstoß des Arbeitgebers gegen ein tarifliches Verbot, Arbeitnehmer mit einer Wochenarbeitszeit von weniger als 20 Stunden pro Woche zu beschäftigen3.

59

Individualrechtlich kann ein Verstoß gegen ein tarifliches Abschlussverbot dem Anwendungsbereich von § 134 BGB unterfallen. Ob die Nichtigkeit des Arbeitsvertrages nach der Intention der TV-Parteien tatsächlich die angemessene Rechtsfolge ist, ist durch Auslegung der fraglichen TV-Klausel zu ermitteln4. Solange sich aber dem TV nicht entnehmen lässt, welche andere Rechtsfolge ein Verstoß gegen das Abschlussverbot haben soll5, bleibt nur, den Arbeitsvertrag als nichtig zu behandeln6. Soweit der Arbeitnehmer ungeachtet des Verbots dennoch tatsächlich tätig wird, wird es in aller Regel angemessen sein, die Regelungen über das faktische Arbeitsverhältnis zur Anwendung zu bringen7. Der von den TV-Parteien mit dem Abschlussverbot bezweckte Schutz dürfte in aller Regel nicht erfordern, dass der Arbeitnehmer, wenn er die verbotene Arbeitsleistung erbracht hat, dafür kein Entgelt erhalten darf.

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Die Qualifizierung von Abschlussverboten als Abschlussnormen im Sinne von § 4 Abs. 1 TVG hat Bedeutung für die Frage, zu welchem Zeitpunkt die tariflichen Regelungen Geltung beanspruchen können. Für die Beurteilung der Wirksamkeit des Arbeitsvertrages im Hinblick auf Abschlussnormen ist der Zeit1 BAG v. 26.4.1990 – 1 ABR 84/87, NZA 1990, 850 m.w.N.; BAG v. 18.3.2008 – 1 ABR 81/06, NZA 2008, 832; Richardi/Thüsing, § 99 BetrVG Rz. 198. 2 BAG v. 14.12.2004 – 1 ABR 54/03, NZA 2005, 424; BAG v. 18.3.2008 – 1 ABR 81/06, NZA 2008, 832. 3 BAG v. 28.1.1992 – 1 ABR 45/91, NZA 1992, 606. 4 BGH v. 14.12.1999 – X ZR 34/98, NJW 2000, 1186; Beckmann, JZ 2001, 150. 5 Regelmäßig soll bei einem Verstoß gegen die Norm eines TVes die von ihm gewollte Regelung gelten, vgl. BAG v. 7.8.1980 – 2 AZR 563/78, DB 1980, 2244. 6 Vgl. auch Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 639; kritisch: Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 305 ff. 7 Thüsing/Braun/Wißmann, 4. Kap. Rz. 80; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 639.

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Normativer Teil

Rz. 62 Teil 4

punkt des Vertragsschlusses maßgeblich. Daraus ergibt sich zum einen, dass Abschlussnormen nur bei (beiderseitiger) Tarifgebundenheit bei Abschluss des Arbeitsvertrages die oben beschriebenen Wirkungen haben können1. Genauso dürfte in aller Regel davon auszugehen sein, dass Abschlussverbote, die erst nach dem Abschluss – dann verbotswidriger – Arbeitsverhältnisse in Kraft gesetzt werden, in aller Regel nicht zur Nichtigkeit der bereits bestehenden Arbeitsverträge führen sollen. Unter Umständen kann sich aus dem neu eingeführten Verbot ein Gebot ergeben, ein nicht mit dem Verbot in Einklang stehendes Arbeitsverhältnis zu beenden2.

2. Beendigungsnormen Dass die TV-Parteien einen Ordnungsauftrag außer in Bezug auf den Abschluss von Arbeitsverträgen und deren Inhalte auch hinsichtlich der Beendigung von Arbeitsverhältnissen haben, ergibt sich aus dem Wortlaut der §§ 1 Abs. 1 und 4 Abs. 1 Satz 1 TVG. Wie die nachfolgenden Ausführungen zeigen werden, steht in vielen tariflichen Regelungen, die Fragen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses betreffen, der Schutz der Arbeitnehmer im Vordergrund. Auch wenn tarifliche Regelungen nur in seltenen Fällen einen umfassenden Schutz vor dem Verlust des Arbeitsplatzes als wirtschaftliche Existenzgrundlage bieten, so zielen sie häufig darauf ab, den Betroffenen zumindest einen gewissen Schutz zu vermitteln, wenn die Beendigung des Arbeitsverhältnisses droht oder unvermeidlich ist. Demgegenüber dienen die in verschiedenen TVen vorgesehenen Regelungen zu Altersgrenzen, deren Erreichen zu einer automatischen Vertragsbeendigung führt, nicht in erster Linie dem Schutz des Einzelnen, sondern vor allen Dingen auch übergeordneten Zielen, wie beispielsweise dem Schutz der Allgemeinheit3 oder der Sicherung einer Beschäftigungschance für die nachrückende jüngere Generation von Arbeitnehmern4.

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a) Formerfordernisse Die praktische Bedeutung von tariflich vorgesehenen Formerfordernissen für Erklärungen oder Regelungen, die auf eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses abzielen, ist heute nur noch verhältnismäßig gering. Die gesetzlichen Anforderungen nach § 623 BGB und § 14 Abs. 4 TzBfG, welche die Schriftform für Kündigungen und Auflösungsverträge bzw. für Befristungsvereinbarungen vorschreiben, sind zwingend. Über § 21 TzBfG erstreckt sich das Schriftformerfordernis auch auf Vereinbarungen über auflösende Bedingungen für das Vertragsende. In Bezug auf das TzBfG ergibt sich aus einem Umkehrschluss zu den Regelungen in § 22 TzBfG, dass die Formvorschrift des § 14 Abs. 4 TzBfG nicht zur Disposition der TV-Parteien steht. Auch für § 623 BGB ist anerkannt, dass die Vorschrift nicht tarifdispositiv ist5. 1 BAG v. 27.4.1988 – 7 AZR 593/87, NZA 1988, 771; BAG v. 14.2.1990 – 7 AZR 68/89, NZA 1990, 737. 2 Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 640; LAG Düsseldorf (Köln) v. 17.5.1966 – 8 Sa 59/65, DB 1966, 987. 3 Vgl. BAG v. 2.6.2010 – 7 AZR 904/08 (A). 4 Vgl. BAG v. 18.6.2008 – 7 AZR 116/07, NZA 2008, 1302. 5 LAG Schleswig-Holstein v. 5.10.2010 – 2 Sa 136/10; HWK/Bittner, § 623 BGB Rz. 40.

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Teil 4 Rz. 63 63

Inhalt des Tarifvertrages

Zulässig ist es nach allgemeiner Auffassung, wenn die TV-Parteien höhere Anforderungen an die Form stellen, als sie das Gesetz vorsieht. Durchaus von praktischer Bedeutung sind damit weiterhin TVe, die die Wirksamkeit einer Kündigung davon abhängig machen, dass auch der Kündigungsgrund schriftlich mitzuteilen ist, wie es das Gesetz z.B. in § 9 Abs. 3 Satz 2 MuSchG für die Kündigungserklärung gegenüber einer Schwangeren oder in § 24 Abs. 3 BBiG für die Kündigung eines Ausbildungsverhältnisses vorsieht. Solche qualifizierten Schriftformklauseln fanden sich z.B. in der bis 2001 geltenden Fassung der Manteltariflichen Vorschriften für Arbeiter gemeindlicher Verwaltungen und Betriebe (BMT-G-O)1 und im TV für die Arbeitnehmer bei den Stationierungsstreitkräften im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland (TV AL II)2. In Bezug auf befristete Arbeitsverhältnisse finden sich speziell in TVen im Bereich des öffentlichen Dienstes Regelungen, nach denen sich aus der schriftlichen Befristungsabrede ergeben muss, ob es sich beispielsweise um eine Befristung mit oder ohne Sachgrund handeln soll. Ein solches sog. Zitiergebot fand sich z.B. in SR 2y BAT, das von der Rechtsprechung wiederholt als Grund für die Unwirksamkeit einer Befristungsabrede herangezogen wurde3. Wenn der Arbeitsvertrag nicht ausreichend deutlich zum Ausdruck bringt, dass eine sachgrundlose Befristung vereinbart war, kann sich der Arbeitgeber nach diesen Vorschriften nicht auf § 14 Abs. 2 TzBfG berufen.

b) Regelungen zur Kündigung 64

Ein Blick in die Tariflandschaft zeigt, dass in fast allen Branchen zwischen den TV-Parteien Regelungen vereinbart werden, die sich mit Fragen der Kündigung des Arbeitsverhältnisses befassen. Ein entsprechender Regelungsabschnitt gehört sozusagen zum „Standard“ eines typischen MantelTVes. In vielen Branchen wird dadurch das gesetzlich ohnehin aufgrund der einschlägigen Regelungen des BGB und insbesondere des KSchG bestehende Schutzniveau zugunsten der Arbeitnehmer noch weiter verbessert. Beispielhaft sind unten in Teil 5 (20) die entsprechenden Abschnitte der MTVe ausgewählter Branchen kommentiert.

aa) Kündigungsfristen 65

Die TV-Parteien haben die Möglichkeit, die gesetzlichen Regelungen in § 622 BGB über Kündigungsfristen umfassend zu ändern. Die Individualarbeitsvertragsparteien sind insoweit im Wesentlichen auf die Option der Vereinbarung längerer Kündigungsfristen beschränkt, vgl. § 622 Abs. 5 Satz 3 BGB. Hingegen enthält § 622 Abs. 4 Satz 1 BGB zugunsten der TV-Parteien ausdrücklich eine Öffnungsklausel. Sie können fast uneingeschränkt von den gesetzlichen Regelungen der Absätze 1 bis 3 abweichen.

1 Vgl. BAG v. 10.2.1999 – 2 AZR 848/98, NZA 1999, 603. 2 Vgl. LAG Hamm v. 17.3.2011 – 17 Sa 2263/10. 3 BAG v. 28.3.2007 – 7 AZR 318/06, NZA 2007, 937; BAG v. 16.7.2008 – 7 AZR 278/07, NZA 2008, 1347.

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Normativer Teil

Rz. 69 Teil 4

In der Praxis finden sich sehr häufig Regelungen, die für eine Arbeitgeberkündigung längere Kündigungsfristen vorsehen als das Gesetz. Insbesondere wird die gesetzlich vorgesehene Staffelung von Kündigungsfristen bei längeren Beschäftigungszeiten gerne zugunsten der Arbeitnehmer verändert. Soweit in entsprechenden TVen in Anlehnung an § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB vorgesehen ist, dass bei der Berechnung der Beschäftigungsdauer Zeiten vor Vollendung des 25. Lebensjahres nicht zu berücksichtigen sind, sind diese Regelungen wegen des Verstoßes gegen das unionsrechtliche Verbot der Altersdiskriminierung bzw. gegen das entsprechende Verbot nach § 7 Abs. 1, § 1 AGG unwirksam1. Nach der zitierten Rechtsprechung des BAG bewirkt dies im Ergebnis eine „Anpassung nach oben“ dergestalt, dass bei der Berechnung der tariflichen Kündigungsfristen sämtliche im Betrieb oder Unternehmen zurückgelegten Beschäftigungszeiten Berücksichtigung finden.

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Die TV-Parteien weichen mitunter auch zulasten der Arbeitnehmer von den gesetzlich vorgesehenen Mindestkündigungsfristen des BGB ab. Zu finden sind tarifliche Regelungen über deutlich kürzere Kündigungsfristen insbesondere im Bereich der gewerblichen Arbeitsverhältnisse. Beispielhaft zu nennen sind hier die besonders kurzen Kündigungsfristen während der ersten sechs Beschäftigungsmonate in der Bauindustrie2 oder die entsprechenden Regelungen für Montagezeitarbeiter im Bereich der Metall- und Elektroindustrie3.

67

Soweit die TV-Parteien von der ihnen in § 622 Abs. 4 Satz 1 BGB übertragenen Regelungsmöglichkeit Gebrauch machen, haben sie die allgemeinen und besonderen rechtlichen Grenzen zu beachten. Dies gilt beispielsweise für den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz. Demnach sind insbesondere unterschiedliche Kündigungsfristen für Arbeiter und Angestellte nicht ohne weiteres zulässig. Vielmehr haben die TV-Parteien insoweit die gleichen Anforderungen zu beachten wie der Gesetzgeber4. Es ist also von Fall zu Fall zu prüfen, inwieweit sich in der fraglichen Branche unterschiedliche Fristenregelungen rechtfertigen lassen. Seit der Neufassung des § 622 Abs. 6 BGB per 15.10.1993 dürfen im Übrigen auch die TV-Parteien für die Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitnehmer keine längeren Fristen mehr vorsehen als für die Arbeitgeberkündigung.

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bb) Kündigungsgründe Die gesetzlichen Vorschriften des KSchG zur Beschränkung der Rechte des Arbeitgebers bei der ordentlichen Vertragskündigung sowie auch die Anforderungen nach § 626 BGB an den wichtigen Grund für eine außerordentliche Kündigung stehen im Wesentlichen nicht zur Disposition der TV-Parteien. Sie sind vielmehr an das gesetzliche Kündigungsschutzniveau gebunden und können 1 2 3 4

BAG v. 29.9.2011 – 2 AZR 177/10, NZA 2012, 754. Siehe z.B. § 12 BRTV Bau. Siehe z.B. § 20 Ziff. 2 EMTV für die Metall- und Elektroindustrie NRW. Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 697 f.; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1980 f.; BAG v. 21.3.1991 – 2 AZR 616/90, NZA 1991, 803; BAG v. 29.10.1998 – 2 AZR 683/97, AuA 1999, 85.

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Teil 4 Rz. 70

Inhalt des Tarifvertrages

dieses nicht zulasten der Arbeitnehmer herabsenken1. Dies gilt zum Beispiel für die in § 1 KSchG enumerativ aufgezählten Kündigungsgründe, die auch durch die TV-Parteien nicht erweitert oder durch die Festlegung bestimmter absoluter Kündigungsgründe spezifiziert werden können2. Tarifliche Regelungen zu bestimmten Kündigungsgründen sollen jedoch nicht völlig unbeachtlich sein, sondern vielmehr von den Gerichten im Rahmen der nach dem KSchG bei der Prüfung einer jeden Kündigung gebotenen Interessenabwägung zu berücksichtigen sein3. An einer Stelle sieht das KSchG sogar ausdrücklich die Möglichkeit der TV-Parteien vor, im Hinblick auf einen Prüfungsaspekt bei der Beurteilung der Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung gestaltend tätig zu werden. Gemäß § 1 Abs. 4 KSchG kann ein TV die Position des Arbeitgebers in einem etwaigen Kündigungsschutzprozess verbessern: Wenn die TVParteien festgelegt haben, wie im Rahmen der nach § 1 Abs. 3 KSchG gebotenen Sozialauswahl die dort genannten sozialen Gesichtspunkte im Verhältnis zueinander zu bewerten sind (Sozialauswahlrichtlinien), so kann diese Bewertung im Prozess nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden. Dies führt in der Praxis zu einer beachtlichen Verschiebung des Prozessrisikos zulasten der klagenden Arbeitnehmer. Nach der Rechtsprechung des BAG ist eine im Rahmen der Regelungsmöglichkeiten des § 1 Abs. 4 KSchG erstellte sog. Punktetabelle nur dann nicht anzuwenden, wenn eines der gesetzlichen Auswahlkriterien gar nicht oder so gering bewertet wird, dass es als relevantes Auswahlkriterium nicht ins Gewicht fällt und allenfalls in Ausnahmefällen eine Rolle spielt4. Allerdings gestattet die Vorschrift nicht, von den Grundvorgaben des KSchG hinsichtlich der maßgeblichen Faktoren für die soziale Auswahl abzuweichen. Es kommt allenfalls eine Ergänzung im Rahmen der Gewichtung der Grunddaten aus § 1 Abs. 3 KSchG in Betracht, soweit die ergänzenden Faktoren einen unmittelbaren Bezug zu diesen Grunddaten haben5. 70

Für den nach § 626 BGB erforderlichen wichtigen Grund für eine fristlose Kündigung gilt das oben Gesagte im Wesentlichen entsprechend. Abweichungen zu Lasten von Arbeitnehmern spielen in der Tarifpraxis keine Rolle. Grundsätzlich können die TV-Parteien aber auch das gesetzliche Schutzniveau nicht zugunsten der Arbeitnehmer in einem Maße anheben, das für den Arbeitgeber nicht mehr tragbar ist. Insbesondere können die TV-Parteien die Möglichkeit einer außerordentlichen Kündigung nicht insgesamt ausschließen6. Denkbar ist es aber, dass die TV-Parteien im Sinne einer Konkretisierung der Regelungen des § 626 BGB bestimmte Gründe als Rechtfertigung für eine außerordentliche Kündigung nicht anerkennen. Herausgearbeitet hat dies das BAG in sei1 So schon BAG v. 11.3.1976 – 2 AZR 43/75, DB 1976, 1387. 2 KR/Griebeling, 9. Aufl. 2009, § 1 KSchG, Rz. 31; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1982 ff. 3 v. Hoyningen-Huene/Linck, KSchG, 14. Aufl. 2007, § 1 KSchG Rz. 8; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1984; vgl. auch BAG v. 3.5.1978 – 4 AZR 698/76, NJW 1978, 2525. 4 BAG v. 18.10.2006 – 2 AZR 473/05, NZA 2007, 504; BAG v. 5.6.2008 – 2 AZR 907/06, NZA 2008, 1120; BAG v. 5.11.2009 – 2 AZR 676/08, NZA 2010, 457 (für Richtlinien in einer Betriebsvereinbarung). 5 BAG v. 12.8.2010 – 2 AZR 945/08, NZA 2011, 460. 6 Kempen/Zachert/Zachert, § 1 TVG Rz. 81; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 686 f.; BAG v. 18.12.1961 – 5 AZR 104/61, DB 1962, 275.

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Rz. 71 Teil 4

ner Rechtsprechung zu § 55 BAT. Die dortigen Regelungen schließen dringende betriebliche Erfordernisse als möglichen wichtigen Grund für eine Kündigung ausdrücklich aus und verweisen den Arbeitgeber auf die Möglichkeit einer Herabgruppierung. Darin kann zumindest ein partieller Ausschluss der gesetzlichen Rechte nach § 626 BGB gesehen werden. Das BAG hält die Vorschrift dennoch für grundsätzlich zulässig. Die TV-Parteinen könnten eine Einschränkung auf bestimmte, fest umrissene Tatbestände zumindest dann vorsehen, wenn eine außerordentliche betriebsbedingte Kündigung nicht völlig ausgeschlossen sei, sondern eine Änderung der bisherigen Arbeitsbedingungen ermöglicht werde, sofern eine Beschäftigung zu den bisherigen Vertragsbedingungen aus dienstlichen Gründen nachweisbar nicht möglich sei. Bedenken könnten aus verfassungsrechtlicher Sicht nur insoweit bestehen, als der Ausschluss einer außerordentlichen Kündigung dazu führe, dass ein sinnentleertes Arbeitsverhältnis aufrecht erhalten werden müsste1. Konsequent betont das BAG vor diesem Hintergrund, dass Fälle denkbar sind, in denen auch im Rahmen des § 55 BAT eine außerordentliche betriebsbedingte Kündigung mit notwendiger Auslauffrist nach § 626 BGB in Betracht kommen kann2, legt dabei aber einen sehr strengen Prüfungsmaßstab an.

cc) Besonderer Kündigungsschutz Ohne Weiteres anerkannt ist die grundsätzliche Zulässigkeit von tariflichen Vereinbarungen, die die Rechte des Arbeitgebers zur ordentlichen Kündigung von Arbeitsverhältnissen einschränken3. In verschiedensten Branchen haben die TV-Parteien davon Gebrauch gemacht, indem sie z.B. bei älteren Arbeitnehmern das Recht des Arbeitgebers zur ordentlichen Kündigung insgesamt ausschließen oder von besonderen Voraussetzungen abhängig machen. Häufig greift dieser besondere Kündigungsschutz bei Arbeitnehmern ab Erreichen einer tariflich vereinbarten Altersgrenze, wobei meist als zusätzliches Kriterium auch noch eine Mindestbeschäftigungszeit vorgesehen ist. Der sich daraus ergebende Schutz für ältere Mitarbeiter kann in Fällen betriebsbedingter Kündigungen zum Nachteil jüngerer Arbeitnehmer gereichen, weil nach – zumindest bisher – h.M. die tariflich besonders geschützten Arbeitnehmer grundsätzlich nicht in eine nach § 1 Abs. 3 KSchG gebotene Sozialauswahl einzubeziehen sind4. Seit Inkrafttreten des AGG und insbesondere nach der Streichung von § 10 Satz 3 Nr. 7 AGG wird die Frage aufgeworfen, ob Regelungen zum besonderen Kündigungsschutz für ältere Arbeitnehmer eine unzulässige Altersdiskriminierung darstellen5. Das BAG hält jedoch an der grundsätzlichen Möglichkeit, solche Unkündbarkeitsregelungen zu vereinbaren, auch angesichts der gesetzlichen Regelungen im AGG fest. Gleichzeitig erkennt das BAG aber 1 BAG v. 31.1.1996 – 2 AZR 158/95, NZA 1996, 581; BAG v. 25.10.2001 – 2 AZR 216/00, ZMV 2002, 198. 2 BAG v. 27.6.2002 – 2 AZR 367/01, DB 2003, 102; BAG v. 6.10.2005 – 2 AZR 362/04, NZA-RR 2006, 416. 3 So bereits BAG v. 3.11.1955 – 2 AZR 39/54, BAGE 2, 214. 4 S. KR/Griebeling, 9. Aufl. 2009, § 1 KSchG Rz. 666 m.w.N. 5 Lingeman/Gotham, NZA 2007, 663 (665); Wendeling-Schröder, NZA 2007, 1399 (1404); vgl. auch Nachweise bei KR/Griebeling, 9. Aufl. 2009, § 1 KSchG Rz. 665d.

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Inhalt des Tarifvertrages

die Notwendigkeit, die Reichweite solcher Klauseln und deren Anwendbarkeit im konkreten Einzelfall einzuschränken, wenn bei ihrer Anwendung eine daraus resultierende Fehlgewichtung durch den durch die ordentliche Unkündbarkeit eingeschränkten Auswahlpool zu einer grob fehlerhaften Auswahl führen würde1. Die Rechtsprechung trägt damit den kritischen Literaturstimmen Rechnung. Eine exemplarische Kommentierung der sehr weit reichenden Regelungen zum Sonderkündigungsschutz für ältere Mitarbeiter in der Metall- und Elektroindustrie in Baden-Württemberg findet sich unten in Teil 5 (20). 72

Außer dem generellen und nicht anlassbezogenen besonderen Kündigungsschutz für bestimmte Arbeitnehmergruppen vereinbaren TV-Parteien häufig besonderen Kündigungsschutz im Zusammenhang mit Rationalisierungsmaßnahmen. So sehen TVe beispielsweise vor, dass Arbeitnehmer, die aufgrund von Reorganisationsmaßnahmen des Arbeitgebers nachteilige Änderungen ihrer Arbeitsbedingungen hinnehmen müssen, danach für einen bestimmten Zeitraum Schutz vor betriebsbedingten (Änderungs-)Kündigungen genießen. Eine solche Beschäftigungszusage ist ein typischer Gegenstand von SanierungsTVen (s. auch Teil 12 Rz. 34 ff.). Diese sehen häufig vor, dass die Belegschaft – meist vorübergehend – auf bestimmte Rechte verzichtet. Im Gegenzug für diesen Beitrag zur Verbesserung der Finanzsituation des Unternehmens sollen die Arbeitnehmer während der Zeit des Verzichts keine Sorge um den eigenen Arbeitsplatz haben. Die TV-Parteien können den Kündigungsschutz auch verwirklichen, indem sie zwar den Ausspruch von (betriebsbedingten) Kündigungen nicht generell untersagen, ihn aber von einer Zustimmung des Betriebsrats in entsprechender Anwendung von § 102 Abs. 6 BetrVG abhängig machen. Angesichts der Regelungsbefugnis der TV-Parteien nach § 1 Abs. 1 TVG ist es zulässig, wenn die TV-Parteien für den Konfliktfall unmittelbar den Weg zu den Arbeitsgerichten eröffnen und nicht die Einschaltung einer Einigungsstelle vorsehen2. Beispielhafte Regelungen zum Kündigungsschutz als Teil von Standortsicherungsvereinbarungen oder Beschäftigungssicherungsprogrammen finden sich unten in Teil 5 (20).

c) Regelungen zur Befristung 73

Vereinbarungen der TV-Parteien in Bezug auf die Befristung von Arbeitsverhältnissen lassen sich im Wesentlichen in zwei Kategorien unterteilen. Zum einen sehen verschiedene TVe vor, dass die Befristung von Arbeitsverhältnissen nur zulässig sein soll, wenn die Arbeitsvertragsparteien dabei bestimmte Anforderungen berücksichtigen. Diese Regelungen zielen häufig darauf ab, die Ausweitung von Zeitverträgen einzudämmen und den Abschluss unbefristeter Arbeitsverträge im Sinne einer Befristungskontrolle zu fördern (vgl. Beispiele unten in Teil 5 (6)). Daneben gibt es in einigen TVen aber auch Regelungen, die ihrerseits eine normativ wirkende Befristung der tariflichen Arbeitsverhältnisse, nämlich deren automatisches Ende bei Erreichen einer von den TV-Parteien vereinbarten Altersgrenze, vorsehen (vgl. Beispiele unten in Teil 5 (1)). 1 BAG v. 5.6.2008 – 2 AZR 907/06, NZA 2008, 1120. 2 BAG v. 21.6.2000 – 4 AZR 379/99, NZA 2001, 271 zu einer entsprechenden Regelung in § 15 Nr. 5 des Manteltarifvertrages für den Einzelhandel in Rheinland-Pfalz.

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Rz. 75 Teil 4

aa) Befristungskontrolle Die Befristung von Arbeitsverhältnissen und das sich daraus ergebende Spannungsverhältnis zu dem Bestandsschutz, den das Kündigungsschutzgesetz für die von ihm erfassten Arbeitsverhältnisse vorsieht, haben Gerichte und Literatur schon früh beschäftigt. Ursprünglich machte sich die Diskussion an den sog. Kettenarbeitsverhältnissen fest1. Im Jahr 1960 stellte der Große Senat des BAG den Grundsatz auf, dass befristete Arbeitsverträge daraufhin geprüft werden müssen, ob sie objektiv eine Umgehung der zwingenden Normen des Kündigungsschutzgesetzes bedeuten. Die Verträge müssten ihre sachliche Rechtfertigung in sich tragen, sodass sie mit Recht und aus gutem Grund von den Kündigungsschutzvorschriften nicht betroffen würden2. Seither geht es bei der Prüfung der Wirksamkeit von Befristungen regelmäßig um die Frage, ob es einen sachlichen Grund für die Befristung des konkreten Arbeitsverhältnisses gibt. Die beispielhafte Liste von Befristungsgründen, die sich heute in § 14 Abs. 1 Satz 2 TzBfG findet, spiegelt die wesentlichen anerkannten Sachgründe wider, welche das BAG in seiner Rechtsprechung seit 1960 fortlaufend herausgearbeitet und weiter entwickelt hatte3. Verschiedene TVe enthalten ihrerseits Regelungen zu sachlichen Gründen, die eine Befristung rechtfertigen können.

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Aus Entscheidungen des BAG aus der Zeit vor Inkrafttreten des TzBfG ist ersichtlich, dass es das Gericht offenbar für zulässig erachtet, dass die TV-Parteien die gewohnheitsrechtlich entwickelten Voraussetzungen der Sachgrundbefristung beschränken, indem sie beispielsweise Befristungen nur aus bestimmten Gründen für zulässig erklären und damit die an sich nach der Rechtsprechung möglichen Befristungsgründe beschränken4. Eine restriktive Befristungskontrolle durch normative Regelungen der TV-Parteien kann sich auch ergeben, wenn ein TV eigene Befristungsgrundformen definiert und die Wirksamkeit einer Befristungsabrede davon abhängig macht, dass sich aus der Vereinbarung der Parteien im Arbeitsvertrag ergibt, welche der tariflichen Grundformen der Befristung gewählt wurde5. Seit die Voraussetzungen der Sachgrundbefristung in § 14 Abs. 1 TzBfG gesetzlich normiert sind, richtet sich die Zulässigkeit solcher tariflicher Vereinbarungen nach § 22 Abs. 1 TzBfG. Abweichende Vereinbarungen zuungunsten des Arbeitnehmers sind nicht zulässig. Eine tarifliche Beschränkung der gesetzlich vorgesehenen Befristungsmöglichkeiten dürfte aber regelmäßig als eine den Arbeitnehmer begünstigende Regelung aufzufassen sein, sodass die bisher für zulässig erachteten Regelungsmöglichkeiten weiter Bestand haben sollten6. Gleiches dürfte für von der Rechtsprechung vor Inkrafttreten des BAG anerkannte Regelungen gelten, die die Vereinbarung der Befristung eines Arbeitsverhältnisses über eine bestimmte Dauer hinaus verbieten.

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1 2 3 4

Vgl. z.B. Molitor, Kritisches zum Problem der Kettenverträge, BB 1954, 504. BAG v. 12.10.1960 – GS 1/59, NJW 1961, 798. HWK/Schmalenberg, § 14 TzBfG Rz. 11; KR/Lipke, 9. Aufl. 2009, § 14 TzBfG Rz. 36. BAG v. 7.8.1980 – 2 AZR 563/78, DB 1980, 2244; BAG v. 12.12.1985 – 2 AZR 9/85, NZA 1986, 571. 5 Vgl. zu entsprechenden Klauseln im MantelTV für die Angestellten der BA: LAG Berlin-Brandenburg v. 16.6.2009 – 16 Sa 355/09. 6 KR/Bader, 9. Aufl. 2009, § 22 TzBfG Rz. 4.

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Inhalt des Tarifvertrages

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Da die Liste der in § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 8 TzBfG aufgezählten Sachgründe im Übrigen nicht abschließend ist, können TV-Parteien grundsätzlich nicht nur die im Gesetz schon vorgesehenen Sachgründe einschränken oder präzisieren, sondern auch eigene Sachgründe definieren. Allerdings zieht das BAG der Normsetzungsbefugnis der TV-Parteien mit Blick auf § 22 TzBfG auch insoweit Schranken. Sonstige, in § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 8 TzBfG nicht genannte Sachgründe können danach die Befristung eines Arbeitsvertrags nur rechtfertigen, wenn sie den in § 14 Abs. 1 TzBfG zum Ausdruck kommenden Wertungsmaßstäben entsprechen und den in dem gesetzlichen Sachgrundkatalog genannten Sachgründen von ihrem Gewicht her gleichwertig sind1.

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Das TzBfG regelt nicht nur die Sachgrundkontrolle bei der Befristung von Arbeitsverhältnissen, sondern sieht im Sinne der Beschäftigungsförderung in § 14 Abs. 2 ausdrücklich auch die Möglichkeit vor, unter bestimmten Voraussetzungen die Arbeitsverhältnisse im Falle von Neueinstellungen auch ohne Sachgrund wirksam zu befristen. Neben der Bedingung, dass der betroffene Arbeitnehmer zuvor nicht mit demselben Arbeitgeber in einem Arbeitsverhältnis gestanden haben darf2, schreibt das Gesetz eine Höchstgrenze sowohl für die maximale Dauer einer sachgrundlosen Befristung wie auch für die Anzahl der zulässigen Verlängerungen innerhalb dieser Höchstdauer vor. Gemäß § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG hat der Gesetzgeber die beiden letzten Elemente ausdrücklich tarifdispositiv ausgestaltet. Aus § 22 Abs. 1 TzBfG ergibt sich, das die TVParteien insoweit auch Abweichungen zuungunsten der Arbeitnehmer, insbesondere auch eine über zwei Jahre hinaus gehende Höchstdauer der sachgrundlosen Befristung, vorsehen dürfen. Nach überwiegender Auffassung ist das Gesetz so zu verstehen, dass ein TV nicht nur alternativ entweder eine abweichende Befristungsdauer oder eine eigene Begrenzung der Anzahl der Verlängerungen vorschreiben, sondern auch beides kumulativ abweichend vom Gesetz festlegen darf3. Das BAG hat dies jüngst bestätigt4.

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Nicht ganz geklärt ist die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen es sich bei Regelungen der tariflichen Befristungskontrolle um Abschlussnormen oder um Beendigungsnormen handelt. Das BAG geht davon aus, dass tarifliche Befristungsregelungen zumindest dann Abschlussnormen sind, wenn sie ihrem Regelungsgehalt nach die Zulässigkeit befristeter Arbeitsverträge vom Vorliegen bestimmter Voraussetzungen bei Vertragsabschluss abhängig machen und insoweit die Vertragsfreiheit der tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien im Interesse eines wirksamen Bestandsschutzes beschränken5. Konsequenz einer Einordnung als Abschlussnorm ist danach, dass die tarifliche Regelung nur dann Wirkung entfaltet und in der Konsequenz zu einem unbefristeten Arbeits1 BAG v. 16.3.2005 – 7 AZR 289/04, NZA 2005, 923; BAG v. 9.12.2009 – 7 AZR 399/08, NZA 2010, 495. 2 Vgl. dazu insbesondere auch BAG v. 6.4.2011 – 7 AZR 716/09, NZA 2011, 905; BAG v. 21.9.2011 – 7 AZR 375/10, NZA 2012, 255. 3 So zu § 2 Abs. 6 MTV für das Wach- und Sicherheitsgewerbe für die Bundesrepublik Deutschland LAG Hessen v. 3.12.2010 – 10 Sa 659/10, NZA-RR 2011, 240 m.w.N. 4 BAG v. 15.8.2012 – 7 AZR 184/11 (bisher nur als Pressemitteilung veröffentlicht). 5 BAG v. 14.2.1990 – 7 AZR 68/89, NZA 1990, 737; BAG v. 28.8.1996 – 7 AZR 849/95, NZA 1997, 550.

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verhältnis führt, wenn eine beiderseitige Tarifgebundenheit schon zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses vorlag. Betrachtet man den eigentlichen Regelungsgegenstand und das Ziel der Befristungskontrolle, die ja die automatische Beendigung des Arbeitsverhältnisses und nicht dessen Eingehung regulieren soll, spricht einiges dafür, die entsprechenden Regelungen auch zur Anwendung zu bringen, wenn eine Tarifbindung erst nach Abschluss des Arbeitsvertrages eintritt, und sie im Regelfall den Beendigungsnormen zuzurechnen1.

bb) Altersgrenzen In den TVen verschiedenster Branchen sind Altersgrenzen geregelt, bei deren Erreichen ein dem TV unterworfenes Arbeitsverhältnis automatisch endet. Zu finden sind dabei einerseits Regelungen, die in erster Linie beschäftigungspolitische Ziele verfolgen und ein Vertragsende mit Erreichen der Regelaltsrente, typischerweise also mit Vollendung des 65. Lebensjahres (s. wegen der stufenweisen Anhebung der Regelaltersgrenze Teil 5 (1) Rz. 2), vorsehen. Daneben gibt es Altersgrenzen für bestimmte Berufsgruppen, wie z.B. Piloten, die mit Blick auf die Anforderungen an die körperliche Leistungsfähigkeit schon vor Erreichen des Rentenalters greifen (vgl. die Beispiele unten in Teil 5 (1)). Ein Blick in die einschlägige Rechtsprechung und Literatur zu tariflichen Altersgrenzen zeugt davon, dass es zum einen entsprechende Regelungen in vielen Branchen gibt und dass zum anderen die Zulässigkeit und damit die Wirksamkeit von tariflichen Altersgrenzen unter verschiedenen Gesichtspunkten kritisch zu prüfen ist.

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Das BAG hat inzwischen seine Rechtsprechung zur Prüfung von Altersgrenzen im Hinblick auf das TzBfG gefestigt und misst nicht nur individualvertragliche Vereinbarungen über Altersgrenzen, sondern auch entsprechende Regelungen in TVen unter anderem daran, ob es für die vorgesehene automatische Beendigung von Arbeitsverhältnissen einen rechtfertigenden sachlichen Grund i.S.v. § 14 Abs. 1 Satz 1 TzBfG gibt2. Ob man das Erreichen der Altersgrenze dabei mit dem BAG und der überwiegenden Auffassung als Befristung ansieht oder als Bedingung, macht wegen § 21 TzBfG keinen entscheidenden Unterschied. Aufgrund der Regelungen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes und im Lichte der Rechtsprechung des EuGH zur Richtlinie 2000/78/EG ist darüber hinaus immer die Frage zu prüfen, ob es eine ausreichende Rechtfertigung für die jeweilige Altersgrenze auch unter dem Gesichtspunkt des Verbots der Altersdiskriminierung gibt.

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Bei Altersgrenzen, die eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit Erreichen der Regelaltersgrenze für eine Altersversorgung vorsehen, berücksichtigt das BAG bei der Abwägung der Interessen des Arbeitnehmers an der Fortsetzung und des Arbeitgebers an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses ausweislich

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1 Vgl. zur Problematik: Kempen/Zachert/Zachert, § 1 TVG Rz. 69; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 648; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 316. 2 BAG v. 27.11.2002 – 7 AZR 655/01, AP Nr. 22 zu § 620 BGB Altersgrenze; BAG v. 18.6.2008 – 7 AZR 116/07, NZA 2008, 1302; BAG v. 16.10.2008 – 7 AZR 253/07 (A), NZA 2009, 378; BAG v. 23.6.2010 – 7 AZR 1021/08, NZA 2010, 1248.

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Teil 4 Rz. 82

Inhalt des Tarifvertrages

seines Urteils vom 18.6.2008 im Wesentlichen die folgenden Aspekte1: Betroffen von der Regelung seien wirtschaftlich abgesicherte Arbeitnehmer, die bereits ein langes Berufsleben hinter sich haben, und deren Interesse an der Fortführung ihrer beruflichen Tätigkeit aller Voraussicht nach nur noch für eine begrenzte Zeit bestehe. Diese Arbeitnehmer hätten typischerweise von der Anwendung der Altersgrenzenregelungen durch ihren Arbeitgeber Vorteile gehabt, weil dadurch auch ihre Einstellungs- und Aufstiegschancen verbessert worden seien. Demgegenüber stehe das Bedürfnis des Arbeitgebers nach einer sachgerechten und berechenbaren Personal- und Nachwuchsplanung. Entscheidendes Kriterium und letztlich ausschlaggebend für eine Interessenabwägung zulasten des Arbeitnehmers soll es nach dieser Rechtsprechung des BAG sein, dass der Arbeitnehmer durch den Bezug einer gesetzlichen Altersrente wegen Erreichens der Altersgrenze wirtschaftlich abgesichert ist. Unter diesen Voraussetzungen sind solche Altersgrenzen auch eine ausreichende Rechtfertigung nach § 10 Satz 3 Nr. 5 AGG2. Diese Rechtsprechung des BAG steht im Einklang mit der Rechtsauffassung des EuGH zur Rechtfertigung von Altersgrenzen, die an das Erreichen des Regelrentenalters anknüpfen3. 82

Bei Altersgrenzen, die eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses schon vor Erreichen der Regelaltersrente vorsehen, bedarf es jedoch eines anderen sachlichen Grundes, da die wirtschaftliche Absicherung des Arbeitnehmers als entscheidendes Kriterium im Sinne der vorstehend zitierten Rechtsprechung nicht herangezogen werden kann. Das BAG erkannte zum Beispiel im Falle von Flugbegleitern keine ausreichenden Gründe für eine vorzeitige Altersrente4. Seine Auffassung, dass entsprechende Altersgrenzen bei Piloten zulässig seien, musste das BAG zwischenzeitlich angesichts abweichender Vorgaben des EuGH aufgeben. Nach der Einführung des AGG sah sich das BAG veranlasst, seine Überlegungen zum Prüfungsmaßstab für die Rechtfertigung von tariflichen Altersgrenzen auszudehnen. Neben der Notwendigkeit eines sachlichen Grundes im Sinne der bisherigen, an § 14 Abs. 1 Satz 1 TzBfG orientierten Rechtsprechung, musste es sich nunmehr mit der Frage auseinandersetzen, ob mit einer an das Lebensalter anknüpfenden Tarifregelung eine unzulässige Altersdiskriminerung einhergeht. In einem Vorlagebeschluss an den EuGH vom 17.6.20095 führte das BAG aus, dass es beabsichtige, auch im Angesicht der Diskriminierungsverbote aus §§ 1, 7 AGG an einer ausreichenden Rechtfertigung einer Altersgrenze von 60 Jahren für Piloten festzuhalten. Das BAG ersuchte den EuGH um Klärung, ob das Gemeinschaftsrecht im Rahmen von Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 der Richtlinie nur Ziele sozialpolitischer Art anerkenne 1 BAG v. 18.6.2008 – 7 AZR 116/07, NZA 2008, 1302. 2 BAG v. 8.12.2010 – 7 AZR 438/09, NZA 2011, 586; BAG v. 21.9.2011 – 7 AZR 134/10, NZA 2012, 271. 3 Vgl. EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-45/09, NZA 2010, 1167 – Rosenbladt; EuGH v. 21.7.2011 – Rs. C-159/10, EuGRZ 2011, 486 – Fuchs. 4 BAG v. 31.7.2002 – 7 AZR 140/01, NZA 2002, 1155; BAG v. 16.10.2008 – 7 AZR 253/07 (A), NZA 2009, 378; BAG v. 23.6.2010 – 7 AZR 1021/08, NZA 2010, 1248; BAG v. 19.10.2011 – 7 AZR 253/07, MDR 2012, 783. 5 BAG v. 17.6.2009 – 7 AZR 112/08 (A), RIW 2010, 76; s. dazu auch Anm. von Bauer, ArbR 2010, 38 und weiteren Aussetzungsbeschluss des BAG v. 2.6.2010 – 7 AZR 904/08 (A).

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Rz. 84 Teil 4

– wozu Gründe der Flugsicherheit nicht zu zählen wären – und ob darüber hinaus die TV-Parteien von der Angemessenheit und Erforderlichkeit der Altersgrenze für Piloten ausgehen durften. Der EuGH entschied dazu, dass die Flugsicherheit kein legitimes Ziel im Sinne von Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG sei und dass darüber hinaus die Festlegung einer Altersgrenze von 60 Jahren für Piloten unverhältnismäßig sei und deswegen nicht im Einklang mit dem EU-Recht stehe. Selbst die Lufthansa sehe für andere als die von der fraglichen Altersgrenze betroffenen Piloten eine Altersbegrenzung auf 65 Jahre vor1. In der Folge hat das BAG zahlreiche zur Prüfung gestellte Alterbegrenzungen für Cockpitpersonal für unwirksam erklärt2. Während sich also einige Fragen zur Rechtfertigung tariflicher Altersgrenzen inzwischen klären ließen, hatte das BAG bisher noch keine Gelegenheit, sich nochmals zu der Frage zu äußern, ob die Regelungen des § 41 Satz 2 SBG VI auf Kollektivnormen anwendbar sind und welche Rolle sie für tarifliche Altersgrenzen noch spielen. In den 1990er-Jahren vertrat das BAG die Ansicht, die gesetzlichen Vorschriften des § 41 SGB VI in ihrer bis zum 31.7.1994 geltenden Fassung seien auch für Kollektivvereinbarungen maßgeblich, sodass tarifliche Regelungen über Altersgrenzen wegen Rentenbezugs generell unwirksam seien3. Mit überzeugenden Gründen gehen inzwischen weite Teile der Literatur davon aus, dass die Änderungen, die der Gesetzgeber per 1.8.1994 in Kraft gesetzt hat, unter anderem darauf abzielten, den Anwendungsbereich der Vorschrift auf Individualvereinbarungen zu beschränken. Somit wäre für Vereinbarungen von TV-Parteien, wenn sie eine Altersgrenze unterhalb der Regelaltersgrenze für eine gesetzliche Rente festlegen, § 41 Satz 2 SGB VI nicht maßgeblich4. Andererseits dürfte sich die Frage stellen, ob die in vorstehender Rz. 82 beschriebenen Anforderungen an die wirtschaftliche Absicherung des ausscheidenden Arbeitnehmers, die Teil der Rechtfertigung einer unterschiedlichen Behandlung wegen Alters sind, erfüllt werden können, wenn der Arbeitnehmer nur eine vorzeitige – und damit um Abschläge gekürzte – Rente beziehen kann5.

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IV. Normen über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen Aus § 3 Abs. 2 und § 4 Abs. 1 Satz 2 TVG ergibt sich die Befugnis der TV-Parteien, neben Regelungen, die sich auf die einzelnen Arbeitsverhältnisses beziehen, auch Regelungen über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen zu treffen. Eine Besonderheit entsprechender Normen von TVen liegt da1 EuGH v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09, NZA 2011, 1039 – Prigge; s. dazu auch Temming, EuZA 2012, 205. 2 BAG v. 18.1.2012 – 7 AZR 112/08, NZA 2012, 575; BAG v. 15.2.2012 – 7 AZR 946/07, BB 2012, 1280. 3 BAG v. 20.10.1993 – 7 AZR 135/93, NZA 1994, 128; BAG v. 11.6.1997 – 7 AZR 186/96, NZA 1997, 1290. 4 Vgl. zur Problematik HWK/Ricken, § 41 SGB VI Rz. 15 und Wiedemann/Thüsing § 1 TVG Rz. 650 ff. (jeweils m.w.N.). 5 Bejahend Löwisch, ZTR 2011, 78 (80).

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Inhalt des Tarifvertrages

rin, dass sie gemäß § 3 Abs. 2 TVG in den Betrieben der tarifgebundenen Arbeitgeber betriebsweite Geltung beanspruchen. Sie entfalten damit unmittelbare Wirkung auch für die nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer, führen also zu einer gesetzlichen Erweiterung der Tarifgebundenheit (vgl. Teil 6 Rz. 94). Bei unbefangener Betrachtung könnte man darin eine aus Sicht der Koalitionen positive Möglichkeit sehen, ihren tarifautonomen Wirkungsbereich zu erweitern und ihnen damit zu größerer Bedeutung verhelfen. In der Praxis überwiegt demgegenüber aber offenbar das Bestreben einiger Gewerkschaften, eine Erstreckung jedenfalls von aus Arbeitnehmersicht positiven tariflichen Regelungen auf die sog. Außenseiter zu vermeiden. Der Umstand, dass betriebliche Tarifnormen unmittelbare Wirkung auch für die nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer haben, bietet diesen Arbeitnehmern die Möglichkeit, die Vorzüge von für sie günstigen Tarifregelungen zu genießen, ohne selbst Mitglied der Gewerkschaft zu werden. Dies könnte Arbeitnehmer vom Beitritt zu einer Gewerkschaft abhalten1. Je nachdem, welchen Inhalt Betriebsnormen haben, können sie also in Konflikt mit der positiven oder negativen Koalitionsfreiheit stehen. Nicht zuletzt deswegen wurden frühzeitig Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit von § 3 Abs. 2 TVG mit der Koalitionsfreiheit vorgebracht. Heute ist die Verfassungsmäßigkeit der Regelung jedoch überwiegend anerkannt (vgl. Teil 6 Rz. 96). 85

Die verfassungsrechtlichen Bedenken, die gegenüber der Erweiterung der Tarifgebundenheit durch die Vorschrift vorgebracht werden, finden bei der Auslegung von Tarifnormen und bei ihrer Einordnung als Betriebsnorm letztlich insoweit Berücksichtigung, als der sachlich-gegenständliche Bereich von Betriebsnormen vom BAG restriktiv ausgelegt wird2. Im Bereich der betriebsverfassungsrechtlichen Normen ergibt sich eine Kontrolle und Begrenzung der dem Grunde nach anerkannten Normsetzungsbefugnis insoweit, als die TVParteien in bestimmtem Umfang die bestehenden Regelungen des BetrVG als „zweiseitig zwingend“ und damit grundsätzlich nicht dispositiv anerkennen müssen3.

1. Normen über betriebliche Fragen a) Restriktive Auslegung 86

Die Frage, ob eine TV-Norm die Rechtsqualität einer Betriebsnorm hat und damit einhergehend eine normative Wirkung auch für nicht einer Gewerkschaft angehörende Arbeitnehmer im Betrieb entfaltet, ist jeweils von Fall zu Fall zu prüfen. Es haben sich verschiedene Fallgruppen herausgebildet, die unten näher beschrieben sind (siehe Rz. 87 f. und Rz. 89 f.). Der Rechtsprechung des BAG zu der Beurteilung, ob eine Norm als Betriebsnorm im Sinne von § 3 Abs. 2 TVG auszulegen ist, lassen sich einige allgemeine Aussagen entnehmen: Betriebsnormen haben regelmäßig eine über das einzelne Arbeitsverhältnis hinaus1 Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 35 f. 2 BAG v. 26.4.1990 – 1 ABR 84/87, NZA 1990, 850. 3 BAG v. 10.2.1988 – 1 ABR 70/86, NZA 1988, 699.

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Rz. 87 Teil 4

gehende Bedeutung und können in der sozialen Wirklichkeit aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen im Betrieb nur einheitlich gelten, weswegen sie nicht lediglich als Inhalt eines Individualarbeitsvertrages regelbar sind1. Das „Nichtregelnkönnen“ ist dabei, so das BAG, nicht im Sinne einer naturwissenschaftlichen Unmöglichkeit zu verstehen. Zur Wahrung der negativen Koalitionsfreiheit der nicht gewerkschaftsangehörigen Teile der Belegschaft im Betrieb genügt es vielmehr, nur solche Normen als Betriebsnormen anzusehen, bei deren Gegenstand eine individualvertragliche Regelung wegen evident sachlogischer Unzweckmäßigkeit ausscheidet. Gemeint ist damit die Regelung solcher Fragen, die unmittelbar die Organisation und Gestaltung des Betriebes, also der Betriebsmittel und der Belegschaft, betreffen2. Die einzelnen Arbeitnehmer sind von diesen kollektiven Vereinbarungen regelmäßig allenfalls mittelbar und reflexartig betroffen. Das BAG gesteht selbst zu, dass – zum Leidwesen derjenigen, die tarifliche Regelungen möglichst rechtssicher schaffen möchten – diese Umschreibung keine scharfe Grenze markiert; sie verdeutlicht aber nach Auffassung des BAG zumindest Funktion und Eigenart der Betriebsnormen im Sinne von § 3 Abs. 2 TVG3.

b) Besetzungsregelungen Regelmäßig als Betriebsnormen auszulegen sind Regelungen der TV-Parteien, in denen sie sich auf bestimmte Vorgaben für die Besetzung von Positionen innerhalb eines Betriebs einigen. Hierzu zählten z.B. die Anfang der 1980er-Jahre tariflich vereinbarten Regeln für die Druckindustrie, die beispielsweise als sog. quantitative Besetzungsregeln die Mindestanzahl der an bestimmten Maschinen zu beschäftigenden Hilfsarbeiter4 oder als sog. qualitative Besetzungsregeln die vorrangige Besetzung bestimmter Positionen mit Fachkräften der Druckindustrie5 vorsahen. Letztere dienten unter anderem dazu, im Sinne der in einem Betrieb vorhandenen qualifizierten Belegschaft zu verhindern, dass bestimmte Arbeitsplätze mit nicht gleichermaßen qualifizierten externen Kräften besetzt werden. Solche Regelungen können ihren intendierten Zweck naturgemäß nur dann erreichen, wenn sie im gesamten Betrieb und unabhängig von der Gewerkschaftszugehörigkeit einzelner Arbeitnehmer normativ gelten. Anderenfalls könnte der Arbeitgeber die Positionen ohne Rücksicht auf die Erfüllung der tariflichen Anforderungen mit nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern besetzen, was zu einer nicht gewollten und im Rahmen von Besetzungsklauseln der Sache nach nicht gerechtfertigten Benachteiligung von Gewerkschaftsmitgliedern führen würde.

1 BAG v. 26.4.1990 – 1 ABR 84/87, NZA 1990, 850; BAG v. 7.11.1995 – 3 AZR 676/94, NZA 1996, 1214. 2 BAG v. 17.6.1997 – 1 ABR 3/97, NZA 1998, 213; BAG v. 8.12.2010 – 7 ABR 98/09, NZA 2011, 751. 3 BAG v. 8.12.2010 – 7 ABR 98/09, NZA 2011, 751; BAG v. 26.1.2011 – 4 AZR 159/09, NZA 2011, 808. 4 Vgl. dazu BAG v. 17.6.1999 – 2 AZR 456/98, NZA 1999, 1157. 5 BAG v. 13.9.1983 – 1 ABR 69/81, DB 1984, 1099; BAG v. 26.4.1990 – 1 ABR 84/87, NZA 1990, 850; BAG v. 22.1.1991 – 1 ABR 19/90, NZA 1991, 675.

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Teil 4 Rz. 88 88

Inhalt des Tarifvertrages

Zu den Betriebsnormen zählt das BAG auch die Regelungen eines Luftfrachtunternehmens der Lufthansa-Gruppe über ein tarifvertragliches Höchstalter für Piloten, die nach einer Ausbildung in anderen Luftfahrtunternehmen übernommen werden sollen. Das Gericht sieht die Intention dieser Regelungen darin, für die zu besetzenden Arbeitsplätze von Piloten einheitlich bestimmte Mindestqualifikationen sicherzustellen. Auch dabei würde es weder einen Sinn machen, zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und Außenseitern zu unterscheiden, noch wäre eine Schlechterstellung von Gewerkschaftsmitgliedern mit dem Willen der TV-Parteien in Einklang zu bringen1. Unten in Teil 5 (7) sind verschiedene Besetzungsregeln beispielhaft kommentiert.

c) Organisationsregelungen 89

Tarifliche Regelungen, die die Ordnung eines Betriebes oder seine Organisation betreffen, sind in aller Regel auch als Betriebsnormen im Sinne von § 3 Abs. 2 TVG anzusehen. Dies trifft zunächst für alle tariflichen Regelungen in Bezug auf Fragen zu, die in § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG angesprochenen sind. Hierzu können Zugangskontrollen zum Betrieb, Kleiderordnungen und betriebliche Rauchverbote gehören2. Ebenso zu den auf die Organisation bezogenen Betriebsnormen zählen beispielsweise die in der Metall- und Elektroindustrie verbreiteten Klauseln über eine maximal zulässige Quote von Arbeitsverhältnissen, für die kraft individueller Vereinbarung eine längere als die an sich im TV geregelte regelmäßige Wochenarbeitszeit gilt. Es handelt sich dabei um einen kollektiven Tatbestand, nämlich die Verteilung des betrieblichen Arbeitszeitvolumens. Die Regelung betrifft die Zusammensetzung der Belegschaft entsprechend dem zahlenmäßigen Verhältnis der nach ihrer regelmäßigen Arbeitszeit zu unterscheidenden Arbeitnehmergruppen3. Es geht also um die Organisation des Betriebs in seiner Gesamtheit. Gleiches gilt für eine tarifliche Regelung über die Schließung von Betrieben an bestimmten Tagen (z.B. am 31. Dezember), die ebenso als Betriebsnormen einzustufen sind, sodass der Arbeitgeber an diesen Tagen nicht etwa den Betrieb mit Außenseitern aufrecht erhalten darf4.

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Keine ausreichende Notwendigkeit für eine einheitliche Geltung im Betrieb und das Gebot der Erstreckung tariflicher Regelungen auf Außenseiter sieht das BAG in tariflichen Regelungen über Entlohnungsgrundsätze wie z.B. Regelungen zur absoluten Vergütungshöhe oder über das ihnen zugrunde liegende abstrakte Vergütungsschema. Es gehe bei betrieblichen Vergütungssystemen nicht um Fragen der evident sachlogischen Zweckmäßigkeit5. Alleine das Prinzip der Lohngerechtigkeit und das Ziel einer Gleichbehandlung der Arbeitnehmer im Betrieb rechtfertigen somit nicht die Einordnung der fraglichen Tarifnormen als Betriebsnormen. 1 BAG v. 8.12.2010 – 7 ABR 98/09, NZA 2011, 751. 2 Vgl. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 15 VI 2b, S. 589 f.; HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 52. 3 BAG v. 17.6.1997 – 1 ABR 3/97, NZA 1998, 213. 4 Vgl. zu § 3 Nr. 2 Satz 2 des MTV für die Volksbanken und Raiffeisenbanken BAG v. 7.11.1995 – 3 AZR 676/94, NZA 1996, 1214. 5 BAG v. 11.11.2008 – 1 ABR 68/07, NZA 2009, 450.

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Rz. 92 Teil 4

d) Notwendiger Regelungswille Nicht alle tariflichen Regeln, bei denen sachlogische Zweckmäßigkeiten dafür sprechen, dass sie Geltung für den gesamten Betrieb beanspruchen, sind deswegen notwendigerweise als Betriebsnormen i.S.v. § 3 Abs. 2 TVG zu qualifizieren. Zusätzlich ist – wie auch sonst im Rahmen von § 1 Abs. 1 TVG – zu prüfen, ob die TV-Parteien auch wirklich den Willen hatten, eine normative Regelung zu schaffen, die unmittelbare Geltung im Betrieb beansprucht. Einen solchen normativen Regelungswillen i.S.v. § 4 Abs. 1 Satz 2 TVG vermisste das BAG in einem FirmenTV zur Beschäftigungssicherung, in dem die TV-Parteien die Möglichkeit eröffneten, die durchschnittliche individuelle regelmäßige Arbeitszeit für Vollzeitbeschäftigte befristet auf bis zu 32 Stunden wöchentlich herabzusetzen1. Die TV-Klausel enthalte keine für alle oder für bestimmte Arbeitsverhältnisse geltende inhaltliche normative Regelung, sondern nur eine Erlaubnis für die Beklagte als TV-Partei und Arbeitgeberin, derartige Absenkungen der tarifvertraglichen regelmäßigen Arbeitszeit mit Zustimmung der ÖTV bzw. der TV-Parteien vornehmen zu dürfen. Die Norm habe den Charakter einer schuldrechtlichen Verhaltens- und Verhandlungsklausel, ggf. auch den einer Öffnungsklausel mit Zustimmungsvorbehalt i.S.v. § 77 Abs. 3 BetrVG, nicht aber den einer Betriebsnorm i.S.v. § 3 Abs. 2 TVG. Ein ausreichender Wille zur Schaffung einer normativen Regelung fehlte dem BAG auch in dem PersonalüberleitungsTV einer Klinik. Darin war vereinbart, dass Maßnahmen des Outsourcing nur ausnahmsweise möglich sein sollten, wenn sie zur Vermeidung von betriebsbedingten Kündigungen erforderlich seien; sie bedürften dann zu ihrer Wirksamkeit der vorherigen Zustimmung der TV-Parteien. Darin sah das BAG eine schuldrechtliche Verpflichtung der TVParteien im Verhältnis untereinander, nicht jedoch eine Regelung mit unmittelbarer normativer Wirkung im Betrieb und gegenüber den Arbeitnehmern2. Beispiele solcher Öffnungsklauseln und Genehmigungsvorbehalte finden sich unten in Teil 5 (17).

91

2. Normen über betriebsverfassungsrechtliche Fragen Dass die TV-Parteien zur Regelung betriebsverfassungsrechtlicher Fragen ermächtigt sind, steht aufgrund des Wortlauts von §§ 1 Abs. 1 und 3 Abs. 2 TVG fest. Bei den Normen über betriebsverfassungsrechtliche Fragen ergibt sich in aller Regel eine Erstreckung der normativen Wirkung des TVes auf Außenseiter bereits daraus, dass Regelungen zur Betriebsverfassung in erster Linie das Verhältnis zwischen dem Arbeitgeber und dem Betriebsrat betreffen, ohne dass dabei ein direkter Bezug zu einzelnen Arbeitsverhältnissen besteht3. Der Betriebsrat nimmt seine Rechte als Sachwalter und Vertreter der Interessen der gesamten Belegschaft wahr4. Auch wenn es theoretisch – beispielsweise in Bezug auf personelle Einzelmaßnahmen – denkbar wäre, die Ausgestaltung der 1 2 3 4

BAG v. 1.8.2001 – 4 AZR 388/99, DB 2001, 2609. BAG v. 26.1.2011 – 4 AZR 159/09, NZA 2011, 808. BAG v. 5.7.1988 – 1 ABR 70/86, NZA 1988, 699. Fitting, § 1 BetrVG Rz. 188 ff.; Richardi/Richardi, § 1 BetrVG Rz. 13; vgl. auch Krause, RdA 2009, 129 (133).

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Teil 4 Rz. 93

Inhalt des Tarifvertrages

Mitwirkungsrechte des Betriebsrats durch einen TV von der Gewerkschaftszugehörigkeit des jeweils betroffenen Mitarbeiters abhängig zu machen, entspricht dies nicht der Praxis. TV-Regelungen über betriebsverfassungsrechtliche Fragen sind nicht zuletzt vor diesem Hintergrund immer auch mit Blick auf ihre Erstreckung auf die Außenseiter und deren negative Koalitionsfreiheit zu beurteilen.

a) Vorrang der Betriebsverfassung 93

Wann immer die TV-Parteien von ihrem Recht nach §§ 1 Abs. 1 und 3 Abs. 2 TVG Gebrauch machen, betriebsverfassungsrechtliche Fragen zu regeln, stellt sich die Frage, inwieweit konkrete Regelungen des BetrVG zugunsten der TVParteien dispositiv ausgestaltet sind. Zunächst ist dabei zu beachten, dass das BetrVG vielfach als ein in sich ausgewogenes und abschließendes Regelwerk über die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats angesehen wird1. Insoweit besteht Einigkeit, dass jedenfalls im Bereich der Ausgestaltung der eigentlichen Betriebsverfassung, also der organisatorischen Bestimmungen des BetrVG (im Wesentlichen zu finden in den ersten drei Teilen des BetrVG), eine Tarifdispositivität nur gegeben ist, soweit das Gesetz ausdrücklich Öffnungsklauseln zugunsten der Koalitionen zulässt, wie dies insbesondere in § 3 BetrVG der Fall ist2. Das BAG spricht in diesem Zusammenhang von zweiseitig zwingenden Vorschriften3.

94

Das BAG sieht demgegenüber andere Vorschriften des BetrVG, insbesondere soweit es um die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats geht, als nur einseitig zwingend an. Der Umstand, dass das BetrVG im Bereich der Regelungen über die Organisation der Betriebsverfassung ausdrückliche Regelungen über eine Normsetzungsbefugnis der Koalitionen enthalte, schließt demnach nicht aus, dass in anderen Regelungsbereichen betriebsverfassungsrechtliche Fragen auch ohne besondere Ermächtigungsnorm geregelt werden können. Die gesetzlichen Ausnahmevorschriften sind nach Auffassung des BAG (nur) erforderlich gewesen, weil TVe in den genannten Fällen auch von den ansonsten zweiseitig zwingenden Regelungen des Betriebsverfassungsgesetzes abweichen können sollten4. Insbesondere im Bereich der Mitbestimmung in sozialen, aber auch in personellen Angelegenheiten erkennt das BAG deswegen eine erweiterte Regelungskompetenz der TV-Parteien an (vgl. die Beispiele unten in Rz. 99 f.). Andererseits können die TV-Parteien, soweit entsprechende Möglichkeiten nicht im Gesetz vorgesehen sind (wie z.B. in sozialen Angelegenheiten durch den Tarifvorbehalt des § 87 Abs. 1 BetrVG), gesetzliche Aufgaben des Betriebsrats nicht aufheben oder einschränken, wie das BAG beispielsweise in Bezug auf die gesetzlichen Überwachungsaufgaben des Betriebsrats aus § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG zuletzt nochmals betont hat5. 1 Vgl. v. Hoyningen-Huene, NZA 1985, 9 (11). 2 Vgl. nur GK-BetrVG/Franzen, § 1 Rz. 3 m.w.N. 3 BAG v. 10.2.1988 – 1 ABR 70/86, NZA 1988, 699; BAG v. 29.7.2009 – 7 ABR 27/08, NZA 2009, 1424. 4 BAG v. 18.8.1987 – 1 ABR 30/86, NZA 1987, 779. 5 BAG v. 21.10.2003 – 1 ABR 39/02, NZA 2004, 936 m.w.N.

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Rz. 97 Teil 4

b) Regelungen zur Betriebsorganisation Eine besonders weit reichende Regelungskompetenz der TV-Parteien sieht § 3 BetrVG in seiner seit dem 28. Juli 2001 geltenden Fassung vor. Die Verfassungskonformität von § 3 BetrVG wird seit seiner Einführung kontrovers diskutiert1. Das BAG hat zwischenzeitlich in seinem Urteil vom 29. Juli 20092 ausdrücklich bestätigt, dass es die Norm für verfassungsgemäß hält und dass sie insbesondere nicht gegen die negative Koalitionsfreiheit der nicht- oder andersorganisierten Arbeitnehmer verstoße. Außerdem hat das Gericht in dieser Entscheidung klargestellt, dass eine Gewerkschaft selbst dann mit dem Arbeitgeber einen TV nach § 3 BetrVG wirksam vereinbaren kann, wenn auch noch eine oder mehrere weitere Gewerkschaften für die betroffenen betriebsverfassungsrechtlichen Einheiten tarifzuständig seien. Eine teleologische Reduktion der Vorschrift, wonach ein TV zur Vermeidung einer künftig möglichen Tarifkonkurrenz (vgl. dazu unten Teil 9 Rz. 116 ff.) nur von mehreren tarifzuständigen Gewerkschaften gemeinsam abgeschlossen werden könnte, lehnt das Gericht mit ausführlicher Begründung ab3.

95

Inzwischen machen Arbeitgeber offenbar auch vermehrt von der Möglichkeit Gebrauch, mit der Gewerkschaft TVe nach § 3 BetrVG abzuschließen, die auch schon verschiedentlich Gegenstand von Entscheidungen des BAG und einiger Landesarbeitsgerichte waren. Über die vorgenannte Entscheidung hinaus hat das BAG beispielsweise entschieden, dass ein ZuordnungsTV nach § 3 BetrVG über die abweichend vom Gesetz angestrebte Bildung von Betriebsräten selbst abschließende Regeln enthalten muss. Unzulässig sei es, wenn ein solcher TV es der Entscheidung der Arbeitnehmer überlasse, in welchen Einheiten jeweils einzelne oder gemeinsame Betriebsräte gewählt würden4. Solche Abstimmungsrechte der Arbeitnehmer, wie sie etwa § 4 Abs. 1 Satz 2 oder § 3 Abs. 3 BetrVG vorsehe, seien im Rahmen einer Regelung nach § 3 Abs. 1 BetrVG mangels einer entsprechenden gesetzlichen Regelung nicht gestattet.

96

In weiteren Entscheidungen hatte sich das BAG mit Fragen im Zusammenhang mit der Zusammenfassung von Betrieben durch einen TV nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 lit. b BetrVG zu befassen. Es hat sich dabei insbesondere zum Schicksal von Betriebsvereinbarungen geäußert, die in den einzelnen nach dem TV zusammengefassten Betrieben zum Zeitpunkt der Wirksamkeit des TVes galten. Demnach führt die Zusammenfassung von Betrieben für sich allein noch nicht zum Verlust der betriebsverfassungsrechtlichen Identität der zusammengefassten Einheiten. Bestehende Betriebsvereinbarungen gelten vielmehr grundsätzlich im fingierten Einheitsbetrieb – allerdings beschränkt auf ihren bisherigen Wirkungsbereich – kollektivrechtlich weiter5. Voraussetzung sei aber, dass die bisherigen Betriebe auch nach ihrer Zusammenfassung noch ihre eigene betriebsverfassungsrechtliche Identität bewahrten. Die räumliche und organisa-

97

1 Vgl. Annuß, NZA 2002, 290 (290 ff.); Richardi/Richardi, § 3 BetrVG Rz. 9 f. m.w.N. 2 BAG v. 29.7.2009 – 7 ABR 27/08, NZA 2009, 1424. 3 Vgl. die Ausführungen von Bepler, NZA-Beilage 3/2010, 99 (102 f.) und Hanau, RdA 2010, 313. 4 BAG v. 10.11.2004 – 7 ABR 17/04, AiB 2005, 619. 5 BAG v. 18.3.2008 – 1 ABR 3/07, NZA 2008, 1259.

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Teil 4 Rz. 98

Inhalt des Tarifvertrages

torische Abgrenzbarkeit des bisherigen Geltungsbereichs innerhalb der neuen Organisationseinheit allein sei dafür kein taugliches Abgrenzungskriterium. Entscheidend sei vielmehr, ob die Organisation der Arbeitsabläufe, der Betriebszweck und die Leitungsstruktur, welche die Betriebsidentität prägten, nach der erfolgten Zusammenfassung von Betrieben zu neuen Organisationseinheiten unverändert geblieben seien1. 98

Welche flexiblen Möglichkeiten sich den TV-Parteien bei der Ausgestaltung von TVen nach § 3 Abs. 1 BetrVG bieten, hat das BAG bei der Prüfung eines ZuordnungsTV der inzwischen insolventen Fa. Anton Schlecker e.K. aufgezeigt. Der TV sah vor, dass abweichend von § 4 BetrVG jeweils von allen Verkaufsstellen oder Filialen einer Region, die als Betriebsteile anzusehen seien, ein gemeinsamer Betriebsrat für die Region zu wählen war. Das BAG interpretierte den TV so, dass damit ein Betriebsrat jeweils für die Bezirksleiterregionen zu wählen war, die die Unternehmensleitung kraft der unternehmerischen Organisationsfreiheit zuschneiden konnte, und hielt dies für zulässig. Der TV könne dynamisch regeln, dass Betriebsräte jeweils in den Regionen zu wählen seien, in denen nach den organisatorischen Vorgaben des Arbeitgebers Bezirksleitungen bestünden, da dies dem Grundsatz entspreche, dass Interessenvertretungen der Arbeitnehmer dort zu bilden seien, wo sich unternehmerische Leitungsmacht konkret entfalte2.

c) Erweiterung von Mitbestimmungsrechten 99

Die TV-Parteien haben über die im BetrVG ausdrücklich vorgesehenen Möglichkeiten zur Schaffung von Vertretungsstrukturen, die von der gesetzlich vorgesehenen Organisation der Arbeitnehmervertretungen abweichen, hinaus nach h.M. auch das Recht, durch Regelungen nach § 3 Abs. 2 TVG Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte auszudehnen. Dies kann zum einen dadurch geschehen, dass ein TV nach dem BetrVG bereits vorgesehene Mitbestimmungsrechte gegenständlich erweitert und auf Sachverhalte erstreckt, für die das BetrVG eine Mitbestimmung nicht vorsieht. So kann z.B. ein TV die Mitbestimmung des Betriebsrats in sozialen Angelegenheiten, die das Gesetz hinsichtlich der Dauer und Lage der täglichen Arbeitszeit vorsieht, auf die Regelung auch der Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit eines Arbeitnehmers erstrecken. Er kann bestimmen, dass im Falle der Uneinigkeit der Betriebsparteien über die Dauer der individuellen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer eine Einigungsstelle – oder eine stattdessen zu errichtende tarifliche Schlichtungsstelle – eine verbindliche Entscheidung treffen soll3.

100

Eine solche Ausweitung der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats kommt daneben auch im Rahmen der Mitbestimmung bei personellen Angelegenheiten in Betracht. So konnte ein RahmenTV der Spielbank Berlin wirksam vorsehen, dass der Betriebsrat bei allen personellen Entscheidungen, insbesondere auch bei Beförderungen, ein volles Mitbestimmungsrecht haben und dass bei Fehlen einer Einigung eine verbindliche und endgültige Entscheidung einer Ei1 BAG v. 7.6.2011 – 1 ABR 110/09, NZA 2012, 110. 2 BAG v. 21.9.2011 – 7 ABR 54/10, NZA-RR 2012, 186. 3 BAG v. 18.8.1987 – 1 ABR 30/86, NZA 1987, 779.

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Normativer Teil

Rz. 103 Teil 4

nigungsstelle gelten sollte. Das BAG sah in der tariflichen Begründung eines echten Mitbestimmungsrechts des Betriebsrats bei personellen Einzelmaßnahmen keine übermäßige Einschränkung der unternehmerischen Entscheidungsfreiheit1. Dabei sei insbesondere zu berücksichtigen, dass die Einigungsstelle ihre Beschlüsse unter angemessener Berücksichtigung der Belange des Betriebs und der betroffenen Arbeitnehmer nach billigem Ermessen zu fassen habe und dass dem Arbeitgeber bei Überschreitung des Ermessens der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten offen stehe. Bestätigt hat das BAG in dieser Entscheidung in einem obiter dictum auch die bis dahin bereits herrschende Lehre, dass TVParteien die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses in Anlehnung an § 102 Abs. 6 BetrVG von der Zustimmung des Betriebsrats abhängig machen dürfen2 (vgl. auch das Klauselbeispiel in Teil 5 (19)). Schließlich bestehen Möglichkeiten zur Erweiterung von Mitbestimmungsrechten von Arbeitnehmervertretungen auch in Bereichen, in denen das Gesetz selbst Vertretungsstrukturen und Kompetenzen gar nicht vorsieht. In solchen gesetzlich ungeregelten Bereichen können die Koalitionen im Rahmen ihrer Betätigungsfreiheit auch auf die Betriebsverfassung bezogene Beteiligungsrechte neu schaffen. Sie können nicht nur die gesetzlichen Beteiligungsrechte inhaltlich erweitern, sondern z.B. auch bestimmte Regelungsbereiche des BetrVG auf Beschäftigtengruppen ausdehnen, die von ihnen gesetzlich nicht erfasst werden. Bestätigt hat dies das BAG zum Beispiel für einen von der Deutsche Telekom AG geschaffenen eigenständigen Ausbildungsbetrieb, für den der Arbeitgeber mit der Gewerkschaft ver.di eine eigene tarifliche Auszubildendenvertretung geschaffen hatte3. Damit sollte dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die Auszubildenden in einem solchen reinen Ausbildungsbetrieb, der keinen weitergehenden arbeitstechnischen Betriebszweck hat, von den gesetzlich vorgesehenen Gremien (insbesondere Jugend- und Auszubildendenvertretung) nicht erfasst wurden.

101

d) Unternehmensmitbestimmung und wirtschaftliche Angelegenheiten Auch wenn der in § 1 Abs. 1 TVG verwendete Begriff der betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Fragen, wie oben aufgezeigt (Rz. 84), einen recht weiten Gestaltungsspielraum der Koalitionen eröffnet, so sind doch bestimmte Bereiche der Regelungsmacht der TV-Parteien entzogen. Ihre normative Regelungsbefugnis nach § 1 Abs. 1 i.V.m. § 3 Abs. 2 TVG gilt nach überwiegender Auffassung nicht für die Ausgestaltung der Unternehmensverfassung. Vielmehr sind insoweit die bestehenden gesetzlichen Regelungen zur Mitbestimmung der Arbeitnehmer durch ihre Wahl in den Aufsichtsrat des Unternehmens, insbesondere das DrittelbG und das MitbestG, zwingend und nicht zur Disposition der TV-Parteien gestellt4.

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Auch soweit es um die Frage der Mitbestimmung des Betriebsrats in wirtschaftlichen Angelegenheiten, namentlich nach den §§ 106 ff. BetrVG geht,

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1 2 3 4

BAG v. 10.2.1988 – 1 ABR 70/86, NZA 1988, 699. BAG v. 10.2.1988 – 1 ABR 70/86, NZA 1988, 699 (unter B II 3a der Gründe, m.w.N.). BAG v. 24.8.2004 – 1 ABR 28/03, NZA 2005, 371. Vgl. Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 760; Hanau, ZGR 2001, 75 (80).

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Teil 4 Rz. 104

Inhalt des Tarifvertrages

wird die Möglichkeit der TV-Parteien zu einer Erweiterung von Rechten, wie sie für den Bereich der sozialen und personellen Angelegenheiten befürwortet wird, überwiegend kritisch gesehen1. Regelungselemente, die wirtschaftliche Angelegenheiten und damit auch Fragen der unternehmerischen Entscheidungsfreiheit betreffen, finden sich ungeachtet dessen durchaus in SanierungsTVen (vgl. dazu unten Teil 12 Rz. 34 ff.) oder im Kontext sog. Bündnisse für Arbeit (vgl. dazu unten Teil 13 Rz. 82 ff.).

V. Normen über Gemeinsame Einrichtungen (§ 4 Abs. 2 TVG) 104

Nicht unmittelbar aus § 1 Abs. 1 TVG, sondern aus § 4 Abs. 2 TVG ergibt sich, dass ein TV auch Regelungen über abhängige Organisationen der TV-Parteien, sog. Gemeinsame Einrichtungen, enthalten kann. Ob von den Koalitionspartnern eine Gemeinsame Einrichtung im Sinne des § 4 Abs. 2 TVG geschaffen werden soll, ergibt sich aus dem TV, der die Rechtsverhältnisse einer durch ihn geschaffenen Einrichtung regelt.

1. Merkmale der Gemeinsamen Einrichtung 105

Die Gemeinsame Einrichtung ist im Wesentlichen durch zwei Merkmale gekennzeichnet. Die Qualität einer „Einrichtung“ i.S.d. § 4 Abs. 2 TVG haben solche Einrichtungen, die im Rahmen einer eigenen Organisation von einem eigenständigen Rechtsträger gehalten werden2. Die Einrichtung muss, wie sich aus dem Gesetzestext ergibt, in der Lage sein, gleichsam als „Dritter“ ein Verhältnis sowohl zu den tarifgebundenen Arbeitnehmern wie auch zu den tarifgebunden Arbeitgebern zu begründen. Das Merkmal der „Gemeinsamkeit“ der Einrichtung verlangt, dass die Organisation so errichtet ist, dass beide TV-Parteien einen Einfluss auf sie ausüben können. So ist die von § 4 Abs. 2 TVG vorausgesetzte Abhängigkeit der Einrichtung von den TV-Parteien zu gewährleisten3. Dabei ist für die Einstufung einer Organisation als Gemeinsame Einrichtung überdies von Bedeutung, dass die Einflussmöglichkeit beider TV-Parteien paritätisch4 ist, wobei es nach Auffassung des BAG, der sich auch der BGH angeschlossen hat, ausreichend sein soll, wenn der paritätische Einfluss nicht bereits bei Errichtung der Einrichtung bestand; es genügt danach vielmehr, wenn die TV-Parteien sich einer existierenden Einrichtung bedienen und sie so durch Bestimmungen im TV, die eine paritätische Aufsicht und Kontrolle ermöglichen, zu einer Gemeinsamen Einrichtung machen5. 1 Vgl. Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, § 1 TVG Rz. 589; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 771 f. 2 Wiedemann/Oetker, § 1 TVG Rz. 785 f.; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 328; vgl. auch Hromadka, NJW 1970, 1441 (1442 f.). 3 BAG v. 25.1.1989 – 5 AZR 43/88, BAGE 61, 29; BAG v. 10.8.2004 – 5 AZB 26/04, ZTR 2004, 603; Wiedemann/Oetker, § 1 TVG Rz. 787 ff. 4 Str. vgl. Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 337; a.A. Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 240 (jeweils m.w.N.). 5 BAG v. 28.4.1981 – 3 AZR 255/80, BAGE 35, 221; BGH v. 14.12.2005 – IV ZB 45/04, NZA-RR 2006, 430; vgl. auch Hromadka, NJW 1970, 1441 (1443).

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Normativer Teil

Rz. 109 Teil 4

Damit kommt den Regelungen eines TVes über eine Gemeinsame Einrichtung entscheidende Bedeutung zu. Regelungsbedarf besteht bei der Errichtung Gemeinsamer Einrichtungen außerhalb des eigentlichen Leistungskatalogs insbesondere im Hinblick auf ihre Rechtsform und ihre rechtsformspezifische Binnenorganisation, die namentlich die notwendigen Möglichkeiten der paritätischen Einflussnahme vorsehen muss (vgl. dazu auch Teil 8 Rz. 100).

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Historisch dienen Gemeinsame Einrichtungen in erster Linie dazu, innerhalb einer Branche betriebsübergreifend Leistungen an Arbeitnehmer zu erbringen, die der einzelne Arbeitgeber alleine in dieser Form nicht erbringen könnte bzw. würde1. Damit sind durch Regelungen eines TVes neben der Organisation der Einrichtung als solcher zusätzlich die Beitragspflicht der tarifgebundenen Arbeitgeber gegenüber der Gemeinsamen Einrichtung einerseits, wie auch andererseits die typischerweise bestehende Leistungspflicht der Einrichtung gegenüber den begünstigten Arbeitnehmern zu regeln2. Zu den Gemeinsamen Einrichtungen, die von TV-Parteien bislang schon errichtet wurden, zählen neben den im Gesetz erwähnten Lohnausgleichskassen oder Urlaubskassen insbesondere auch solche zur Verbesserung der Altersversorgung (z.B. Zusatzversorgungskassen). Man kann aber, soweit sie entsprechend eigenständig organisiert und institutionalisiert sind, auch bestimmte Einrichtungen zur Fort-, Aus- und Weiterbildung von Arbeitnehmern oder, je nach Ausgestaltung, auch Schlichtungsstellen und Schiedsgerichte als Gemeinsame Einrichtungen einstufen3 (vgl. auch Teil 8 Rz. 99).

107

2. Gemeinsame Einrichtungen und sonstiges Tarifrecht Normen über die Errichtung Gemeinsamer Einrichtungen werfen eine Reihe von Folgefragen auf, die noch nicht alle umfassend geklärt sind. Dies beginnt damit, dass Normen über Gemeinsame Einrichtungen selbst weder als Inhaltsnormen i.S.d. § 1 Abs. 1 TVG (vgl. oben Rz. 11 ff.) anzusehen sind4 noch notwendigerweise als Betriebsnormen i.S.d. § 3 Abs. 2 TVG (vgl. oben Rz. 86 ff.) qualifiziert werden können5. Die von den TV-Parteien gemäß § 4 Abs. 2 TVG geschaffenen Institutionen sind somit nicht unmittelbar in das Arbeitsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer eingebunden, sondern treten gleichsam als Dritte hinzu. Damit bedurfte es einer über § 4 Abs. 1 TVG hinausgehenden Befugnis der Koalitionspartner, in Bezug auf Gemeinsame Einrichtungen normative Regelungen zu schaffen6.

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Nach wie vor werden vor diesem Hintergrund beispielsweise unterschiedliche Auffassungen zu der Frage vertreten, ob und unter welchen Voraussetzungen Normen eines TVes über Gemeinsame Einrichtungen Bindungswirkung auch

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1 Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 227; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 322. 2 Vgl. dazu beispielsweise die entsprechenden Regelungen im Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) v. 18.12.2009. 3 Wiedemann/Oetker, § 1 TVG Rz. 786; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 351. 4 Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 225; Wiedemann/Oetker, § 1 TVG Rz. 781 f. 5 Vgl. BAG v. 9.12.2009 – 4 AZR 190/08, NZA 2010, 712. 6 Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 225; Wiedemann/Oetker, § 1 TVG Rz. 781 f.

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Teil 4 Rz. 110

Inhalt des Tarifvertrages

für Außenseiter entfalten1. Das BAG und ihm folgend zahlreiche Stimmen in der Literatur gehen heute davon aus, dass Regelungen über Gemeinsame Einrichtungen genauso wie Normen nach § 1 Abs. 1 TVG insgesamt nur für diejenigen Arbeitsverhältnisse normative Geltung beanspruchen können, bei denen beiderseitige Tarifgebundenheit besteht2. Andere Stimmen sprechen sich für eine differenzierte Sichtweise aus. Danach sollen jeweils die Beitragsbeziehungen der tarifgebundenen Arbeitgeber und die Leistungsbeziehungen der tarifgebundenen Arbeitnehmer gesondert betrachtet werden. So wäre es durchaus denkbar, dass ein nicht-organisierter Arbeitnehmer eines tarifgebundenen Arbeitgebers Leistungen aus der Gemeinsamen Einrichtung erhalten kann, wie auch ein tarifgebundener Arbeitnehmer eines nicht tarifgebundenen Arbeitgebers berechtigt werden könnte3. Im Umgang mit Außenseitern stellt sich bei Gemeinsamen Einrichtungen überdies die Frage der Zulässigkeit von Differenzierungs- oder gar Spannensicherungsklauseln4 (vgl. dazu Teil 10 Rz. 27 ff. und Teil 5 (8)). 110

In der Praxis wird bei den wichtigen Gemeinsamen Einrichtungen, vor allen Dingen bei Zusatzversorgungskassen und bei Einrichtungen im Bereich des Bauhauptgewerbes, die Erstreckung des Wirkungskreises der Einrichtungen mithilfe der Allgemeinverbindlicherklärung gemäß § 5 TVG (vgl. dazu Teil 7 Rz. 11 ff.) erreicht. Da die Gemeinsamen Einrichtungen typischerweise auf dem Grundgedanken einer betriebsübergreifenden, möglichst branchenweiten Solidargemeinschaft beruhen, bietet es sich geradezu an, die entsprechenden TVe über die Beitrags- und Leistungspflichten für allgemeinverbindlich erklären zu lassen. Die Möglichkeit zur Erstreckung einer Allgemeinverbindlichkeitserklärung auf Tarifnormen nach § 4 Abs. 2 TVG ist heute allgemein anerkannt5.

111

Offene Fragen ergeben sich gerade auch bei TVen über Gemeinsame Einrichtungen der TV-Parteien hinsichtlich des jüngst vom BAG aufgegebenen Grundsatzes der Tarifeinheit (vgl. dazu Teil 9 Rz. 116 ff.). Für die nicht für allgemeinverbindlich erklärten TVe zum sog. Wertguthabenfonds zur Absicherung von Langzeitkonten in der Bahnindustrie hat das BAG entschieden, dass bei mehreren im Betrieb vertretenen Gewerkschaften nicht stets Tarifgemeinschaften gebildet werden müssen, um Tarifkonkurrenzen von vornherein zu vermeiden. Eine antizipierte Auflösung einer antizipierten Tarifkonkurrenz könne nicht dazu führen, dass der Abschluss des die Tarifkonkurrenz begründenden TVes unwirksam sei6. Da es zum Zeitpunkt der Entscheidung noch keine konkurrierenden TV-Regelungen gab, musste das BAG noch nicht entscheiden, wie die 1 Vgl. dazu bereits BAG v. 29.11.1967 – GS 1/67, BB 1968, 993; Zeiss, JR 1970, 201 (203 f.). 2 BAG v. 9.12.2009 – 4 AZR 190/08, NZA 2010, 712 m.w.N. 3 Vgl. Ausführungen bei Wiedemann/Oetker, § 1 TVG Rz. 844 f.; Hromadka, NJW 1970, 1441 (1444 f.). 4 Vgl. Beispiel bei Zeiss, JR 1970, 201 (203 f.); siehe auch: Thüsing/v. Hoff, ZfA 2008, 77 (98 ff.). 5 Zuletzt nochmals BAG v. 22.10.2003 – 10 AZR 13/03, DB 2004, 712; LAG Hessen v. 6.11.2006 – 16 Sa 727/06; siehe auch Wiedemann/Oetker, § 1 TVG Rz. 849 ff. m.w.N. 6 BAG v. 9.12.2009 – 4 AZR 190/08, NZA 2010, 712.

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Rz. 113 Teil 4

Obligatorischer Teil

Auflösung zu erfolgen hätte. Auf die Frage, wie eine denkbare Mehrheit von TVen, die in einem Betrieb Anwendung im Hinblick auf eine Gemeinsame Einrichtung beanspruchen – eventuell auch mit Blick auf eine Allgemeinverbindlichkeit der TV-Regelungen über die Einrichtung –, aufzulösen ist, lassen sich sicherlich verschiedene Antworten hören und gut begründen1. Hier bleiben die weiteren Entwicklungen abzuwarten. Besonderheiten gelten für Gemeinsame Einrichtungen auch im Hinblick auf die Nachwirkung von TV-Regelungen (vgl. dazu Teil 9 Rz. 34). Auch wenn Normen nach § 4 Abs. 2 TVG keine Inhaltsnormen sind, kommt eine Nachwirkung nach überwiegender Auffassung grundsätzlich durchaus in Betracht2. Dies gilt zumindest, wenn ein TV über eine Gemeinsame Einrichtung insgesamt endet. Anders ist die Rechtslage für den Fall des Herauswachsens aus dem Geltungsbereich eines TVes über eine Gemeinsame Einrichtung zu behandeln. So gilt nach Auffassung des BAG § 4 Abs. 5 TVG nicht für die in § 4 Abs. 2 TVG genannten Regelungen über Gemeinsame Einrichtungen, wenn der Arbeitgeber durch Änderung des Betriebszwecks aus dem betrieblichen Geltungsbereich des TVes ausscheidet und keine Beiträge an die Gemeinsame Einrichtung mehr zu erbringen hat3. Diese Beschränkung der Nachwirkung bei Ausscheiden des Arbeitgebers aus dem betrieblichen Geltungsbereich der TVe führt deswegen aber nicht zum Wegfall von Verpflichtungen gegenüber einzelnen Arbeitnehmern, die bis dahin bereits entstanden sind. Soweit der Arbeitgeber solche Verpflichtungen nicht mehr mittels der Gemeinsamen Einrichtung erbringen kann, muss er selbst gleichwertige Leistungen erbringen4.

112

C. Obligatorischer Teil I. Rechte und Pflichten der Tarifvertragsparteien (Obligatorischer Teil) Der Inhalt eines TVes ist nicht auf die normative Regelung von Arbeitsverhältnissen und von betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Fragen beschränkt. Neben der unmittelbaren Wirkung, welche die Regelungen eines TVes in Bezug auf die von seinem Geltungsbereich erfassten Arbeitsverhältnisse regelmäßig entfalten, begründet ein TV vielmehr auch gegenseitige Verpflichtungen der TV-Parteien untereinander. Anders als die oben beschriebenen Inhaltsnormen, die sich durch ihren normativen Charakter und ihre unmittelbare Wirkung auf Arbeitsverhältnisse auszeichnen, werden schuldrechtliche Absprachen zwischen den TV-Parteien nicht zum Teil der Arbeitsverhältnisse. Dies hat Auswirkungen auch in Bezug auf Fragen der Nachwirkung (vgl. dazu Teil 9 Rz. 33), der Reichweite tariflicher Bezugnahmeklauseln (vgl. dazu Teil 10 Rz. 7) oder der Fortgeltung von tariflichen Regelungen nach § 613a 1 Bepler, NZA-Beilage 2/2011, 73 (79). 2 Str., vgl. Nachweise bei Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 242. 3 BAG v. 5.10.1993 – 3 AZR 586/92, NZA 1994, 848; BAG v. 25.10.1994 – 9 AZR 66/91, NZA 1995, 1054. 4 HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 233; Griebeling, EWiR 1994, 325.

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Teil 4 Rz. 114

Inhalt des Tarifvertrages

BGB im Falle eines Betriebsübergangs (vgl. dazu Teil 15 Rz. 56); in allen Fällen werden rein obligatorische TV-Normen von den maßgeblichen Regelungen nicht erfasst. Unterschiedliche Regelungen gelten auch für die Auslegung von schuldrechtlichen TV-Normen (vgl. dazu Teil 3 Rz. 155 f.). Man kann die obligatorischen Vereinbarungen unterteilen in solche, die in erster Linie der Umsetzung der im normativen Teil eines TVes vereinbarten Regelungen dienen, und solche, die einen eigenständigen, von normativen Inhalten des TVes losgelösten Charakter haben. 114

Teilweise zielen schuldrechtliche Vereinbarungen der TV-Parteien primär darauf ab, die Umsetzung des normativen Teils und die Verwirklichung der dort getroffenen Regelungen eines TVes zu fördern. Dabei ist zu berücksichtigen, dass nach h.M. bestimmte schuldrechtliche Verpflichtungen der TV-Parteien einer ausdrücklichen Regelung durch die TV-Parteien im TV gar nicht zwingend bedürfen. Einige wesentliche Grund- bzw. Nebenpflichten sind vielmehr jedem TV immanent, sodass sie selbst dann zu beachten sind, wenn der TV diesbezüglich eine ausdrückliche Regelung nicht enthält. Zu diesen immanenten Pflichten zählt insbesondere die Friedenspflicht der TV-Parteien1, wenn dies auch nicht immer unbestritten war2. Ganz losgelöst von der Frage, ob und mit welcher Begründung man von einer immanenten Friedenspflicht als schuldrechtlicher Bestandteil eines jeden TV ausgeht, ist jedenfalls heute unbestritten, dass die TV-Parteien in einem TV auch ausdrückliche Vereinbarungen über Reichweite und Grenzen der Friedenspflicht treffen können (vgl. dazu unten Rz. 117 ff.).

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Als weitere Gegenstände obligatorischer Regelungen eines TVes sind in der Praxis die Konkretisierung und Ausgestaltung von Durchführungs- und Einwirkungspflichten zu finden. Auch diese Pflichten der TV-Parteien untereinander gehen automatisch mit dem Abschluss eines TVes einher, weil auch für TVe der Grundsatz pacta sunt servanda gilt3. Da sich bei der gerichtlichen Durchsetzbarkeit dieser Nebenpflichten zahlreiche offene Fragen stellen können (vgl. dazu Teil 16 Rz. 20 ff.), bietet es sich an, hierzu im TV ausdrückliche Regelungen zu vereinbaren.

116

Neben TV-Klauseln im vorbeschriebenen Sinne, die der Ausgestaltung und Präzisierung von Nebenpflichten und damit mittelbar der Durchsetzung der Regelungen des normativen Teils des TVes dienen, können die TV-Parteien auch gegenseitige Rechte und Pflichten begründen, die einen eigenständigen Charakter haben und nicht nur als sekundäre Pflichten einzustufen sind. Zu derart eigenständigen schuldrechtlichen Normen zählen beispielsweise Vereinbarungen über Mechanismen zur Konfliktlösung (Schiedsverfahren, Schlichtungsstelle), Arbeitskampfregelungen oder Vereinbarungen über Vertragsstra1 Vgl. zuletzt BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, NZA 2003, 734; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 868; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 987; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 22 II 1a, S. 1074. 2 Vgl. zur früheren Diskussion über die Herleitung der Friedenspflicht: Kempen/Zachert/Zachert, 3. Aufl. 1997, § 1 TVG Rz. 341 f. 3 BAG v. 11.9.1991 – 4 AZR 71/91, NZA 1992, 846; BAG v. 29.4.1992 – 4 AZR 432/91, NZA 1992, 846; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 913 f.

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Obligatorischer Teil

Rz. 118 Teil 4

fen oder Schadenersatz. In seiner grundlegenden Entscheidung vom 21.4.1971 zur Verhältnismäßigkeit im Arbeitskampfrecht hat der Große Senat des BAG zum Ausdruck gebracht, dass er Vereinbarungen dieser Art zwischen den TVParteien, die sich mit der Austragung der Interessengegensätze befassen, für erforderlich hält1. Ungeachtet dessen gibt es solche Regelungswerke, die eigenständige schuldrechtliche Pflichten zwischen den TV-Parteien begründen, nicht in allen Branchen und Bereichen. Die Vereinbarung eigenständiger Verpflichtungen der TV-Parteien steht typischerweise auch nicht an erster Stelle, wenn es um den Forderungskatalog der Koalitionspartner bei der Aufnahme von Tarifverhandlungen geht. Im Vordergrund und im Fokus der Priorität stehen meist doch die Inhaltsnormen, während den obligatorischen Regelungen eher ein dienender Charakter2 zukommt.

II. Normen mit Bezug auf die Tarifinhalte (Friedenspflicht, Durchführungspflicht) 1. Regelungen zur Friedenspflicht a) Ausgangslage Nach der ständigen Rechtsprechung des BAG dient die Friedenspflicht, die als immanente Nebenpflicht nicht gesondert vereinbart werden muss, dem Schutz der Mitglieder der TV-Parteien davor, hinsichtlich der tariflich geregelten Materie mit Arbeitskampfmaßnahmen überzogen zu werden. Sie stellt sich damit in Bezug auf die Mitglieder der Koalitionen, die nicht selbst Partei des TVes sein müssen, als Vertragsbestandteil zugunsten Dritter dar3. Wenn zwischen den TV-Parteien keine ausdrücklichen Regelungen über die Friedenspflicht getroffen werden, gilt sie nur als sog. relative Friedenspflicht, weil sie Arbeitskampfmaßnahmen nicht schlechthin ausschließt, sondern nur im Hinblick auf die Regelungsgegenstände, über die sich die TV-Parteien in einem konkreten TV jeweils verständigt haben. Sie verbietet es den TV-Parteien lediglich, einen bestehenden TV inhaltlich dadurch in Frage zu stellen, dass sie Änderungen oder Verbesserungen der vertraglich geregelten Gegenstände zu erkämpfen versuchen4 (vgl. dazu auch Teil 8 Rz. 17). Die relative Friedenspflicht gilt solange, bis die normative Wirkung des TVes endet, also nicht mehr während des Zeitraums der Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG5.

117

b) Erweiterung der Friedenspflicht Es ist im Wesentlichen unbestritten, dass die TV-Parteien die Möglichkeit haben, die dem TV innewohnende relative Friedenspflicht durch obligatorische 1 2 3 4

BAG v. 21.4.1971 – GS 1/68, BB 1971, 701. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 988. Vgl. nur BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, NZA 2003, 734 m.w.N. BAG v. 27.6.1989 – 1 AZR 404/88, NZA 1989, 969; BAG v. 19.6.2007 – 1 AZR 396/06, NZA 2007, 1055; vgl. auch Stamer, ArbR 2010, 646. 5 H.M. vgl. Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 881 m.w.N.

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Teil 4 Rz. 119

Inhalt des Tarifvertrages

Vereinbarungen zu erweitern1. Dazu können die TV-Parteien nicht nur den gegenständlichen Geltungsbereich des TVes selbst entsprechend weit definieren (vgl. dazu Teil 8 Rz. 17), sondern beispielsweise auch vereinbaren, dass in Bezug auf bestimmte Regelungsgegenstände, über die im TV keine Vereinbarung getroffen wurde, dennoch eine (relative) Friedenspflicht gelten soll2. Auf diese Weise können sie eine Erweiterung des Gegenstands der Friedenspflicht über den eigentlichen Regelungsbereich eines TVes hinaus erreichen. Vielfach zu finden sind auch TV-Regelungen, die die Friedenspflicht in zeitlicher Hinsicht – über das Ende der normativen Wirkung des TVes hinaus – verlängern. Die Vereinbarung einer entsprechenden Stillhaltefrist ist oft Gegenstand von tariflichen Schlichtungsabkommen3 (vgl. dazu unten Rz. 130 ff.). 119

Die TV-Parteien haben nach h.M. auch die Möglichkeit, kraft ausdrücklicher Vereinbarung anstatt einer nur relativen Friedenspflicht eine absolute Friedenspflicht zu vereinbaren4. Kraft einer solchen Vereinbarung können sie sich für eine bestimmte Zeit gegenseitig zusichern, jeglichen Arbeitskampf – gleich, um die Erkämpfung welchen Ziels es geht, – zu unterlassen. Als „prominentestes“ Beispiel für einen solchen TV finden sich in der Literatur in erster Linie Hinweise auf das Friedensabkommen in der Maschinen-, Metall- und Uhrenindustrie in der Schweiz5.

c) Einschränkung der Friedenspflicht 120

Weitaus weniger Einigkeit herrscht hinsichtlich der Frage, ob und in welchem Umfang die TV-Parteien die Friedenspflicht, obwohl sie grundsätzlich als immanenter Bestandteil eines jeden TVes anzusehen ist, wirksam einschränken können. Nach einer restriktiven Ansicht sollen die TV-Parteien zwar klarstellen können, dass zwischen bestimmten TVen kein innerer Zusammenhang besteht, sodass das Fortbestehen des einen TVes einen Kampf um die Regelungen des anderen TVes nicht hindert, sobald letzterer endet. Die Friedenspflicht kann nach dieser Auffassung aber in Bezug auf den in einem TV geregelten Bereich nicht abgeschwächt werden6.

121

Einige Literaturstimmen sprechen sich dafür aus, dass eine einschränkende Vereinbarung der Friedenspflicht jedenfalls insoweit möglich ist, als die TVParteien durch entsprechende Öffnungsklauseln in Bezug auf einzelne Ver1 Vgl. BAG 21.12.1982 – 1 AZR 411/80, NJW 1983, 1750; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 22 II 1d, S. 1076 f.; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1070 ff.; Kempen/Zachert/Zachert, § 1 TVG Rz. 695. 2 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 22 II 1d, S. 1077; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1073. 3 Vgl. zur Schlichtungs- und Schiedsvereinbarung in der Metallindustrie v. 1.1.1980: BAG v. 12.9.1984 – 1 AZR 342/83, NZA 1984, 393. 4 Vgl. BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, NZA 2003, 734. 5 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 22 II 1e, S. 1077; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 907; Löwisch, BB 1988, 1333. 6 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1080; ähnlich: Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 887 f.; Schaub/Schaub, ArbR-Hdb., § 201 Rz. 13a; Wieland in Tschöpe, AHB-Arbeitsrecht, Teil 4 C Rz. 153.

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Obligatorischer Teil

Rz. 123 Teil 4

bandsmitglieder eine Ausnahme von der Friedenspflicht vorsehen können1. Es soll auch möglich sein, Arbeitskampfmaßnahmen unter bestimmten Voraussetzungen, etwa im Falle einer unvorhergesehenen Steigerung der Gewinne, zuzulassen2. Ein über solche Fallgestaltungen, die auf bestimmte Sonderfälle abzielen, hinausgehender, umfassender und dauerhafter Ausschluss der Friedenspflicht ist auch nach diesen Auffassungen nicht möglich, hat aber offenbar auch in der Praxis der TV-Verhandlung und -gestaltung bisher keine erhebliche Rolle gespielt.

2. Regelungen zu Durchführungs- und Einwirkungspflichten a) Ausgangslage Die Pflicht der TV-Parteien, die in einem TV getroffenen Regelungen vereinbarungsgemäß umzusetzen, ist nach heute allgemein anerkannter Auffassung ein Wesenselement des TVes. Das BAG beschreibt sie als eine Nebenpflicht, die einem TV, wie jedem privatrechtlichen Vertrag, immanent ist3. Die Durchführungspflicht sei die Konkretisierung des allgemeinen Prinzips pacta sunt servanda und des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 BGB). Jede TVPartei sei danach verpflichtet, alles zu tun, um den vereinbarten Leistungserfolg vorzubereiten, herbeizuführen und zu sichern. Daraus ergeben sich in erster Linie positive Handlungspflichten. Gleichzeitig resultiert aus dieser Nebenpflicht aber auch ein Gebot der Unterlassung. Die TV-Parteien haben alles zu vermeiden, was zu einer Beeinträchtigung oder Gefährdung des im TV vereinbarten Erfolgs führen könnte. Sie haben in diesem Zusammenhang auch alles zu unterlassen, was die tarifvertraglichen Regelungen leerlaufen lassen könnte4.

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Die Besonderheit von TVen liegt in diesem Zusammenhang – im Vergleich zu den üblichen sonstigen privatrechtlichen Verträgen – darin, dass sie aufgrund ihrer Doppelnatur (vgl. dazu oben Rz. 2) typischerweise nicht nur die TV-Parteien obligatorisch binden, sondern normativ auf die Arbeitsverhältnisse der tarifgebundenen Mitglieder einwirken. Die Umsetzung des normativen Teils der TVe vollzieht sich damit primär zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die selbst – jedenfalls bei VerbandsTVen – nicht TV-Partei sind. Insoweit dienen bereits die gesetzlichen Regelungen in § 4 Abs. 1 bis Abs. 4 TVG, die auf eine Umsetzung der normativ wirkenden TV-Regelungen abzielen und diese flankieren (vgl. dazu auch Teil 9 Rz. 10 ff.), der Umsetzung eines TVes5. Zur Erfüllung der Durchführungspflicht der TV-Parteien gehört es unabhängig davon darüber hinaus, jeweils mit geeigneten Mitteln auf ihre Mitglieder einzuwirken, damit diese die normativen Regelungen einhalten und jegliche tarifwid-

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1 2 3 4

Kempen/Zachert/Zachert, § 1 TVG Rz. 696; Däubler/Reim, § 1 TVG Rz. 1138 m.w.N. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 22 II 1d, S. 1077. BAG v. 29.4.1992 – 4 AZR 432/91, NZA 1992, 846. BAG v. 29.4.1992 – 4 AZR 432/91, NZA 1992, 846; LAG Hamburg v. 12.11.2008 – 4 Sa 53/08. 5 So auch BAG v. 29.4.1992 – 4 AZR 432/91, NZA 1992, 846.

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Teil 4 Rz. 124

Inhalt des Tarifvertrages

rigen Maßnahmen unterlassen (vgl. zur Einwirkungspflicht und ihrer Durchsetzung Teil 16 Rz. 17 ff.).

b) Ausgestaltung der Durchführungs-/Einwirkungspflichten 124

Ähnlich wie im Hinblick auf die Friedenspflicht ist auch für die Durchführungs- und Einwirkungspflichten anerkannt, dass sie nicht durch obligatorische Regelungen insgesamt abbedungen oder ihrer Funktion zuwider tiefgreifend eingeschränkt werden können1. Dies stünde zum einen im Widerspruch zum Sinn und Zweck einer vertraglichen Vereinbarung im Allgemeinen und würde sich angesichts der Rechtsnatur des TVes im Speziellen auch nicht mit dem Regelungsauftrag der Koalition aus Art. 9 Abs. 3 GG vereinbaren lassen2 (vgl. dazu oben Rz. 42). Denkbar ist aber z.B. eine Vereinbarung, nach der geringfügige Verstöße gegen die Einwirkungspflicht lediglich mit einer Abmahnung sanktioniert werden können3. Gegen eine Erweiterung der Durchführungspflicht werden hingegen keine durchgreifenden Bedenken angemeldet. In der Praxis vereinbaren TV-Parteien mitunter verschiedene Regelungen mit dem Ziel der Konkretisierung und praktischen Umsetzung dieser Nebenpflichten.

125

So können die TV-Parteien z.B. konkret die Art und Weise, in welcher die TVParteien ihre Mitglieder über den Inhalt eines TVes zu informieren haben, regeln. Aus der dem TV immanenten Durchführungspflicht ergibt sich zwar eine allgemeine Informationspflicht gegenüber den Mitgliedern, deren Ausgestaltung jedoch Raum für Regelungen der TV-Parteien lässt4. Als weiteres Beispiel für tarifvertragliche Regelungen zur Durchführungspflicht werden die Vereinbarung von Vertragsstrafen für den Fall der Verletzung der Nebenpflicht5 oder eine gegenseitige Verpflichtung zur Beantragung der Allgemeinverbindlichkeit eines TVes6 angeführt.

3. Schiedsvereinbarungen 126

Zu den obligatorischen Vereinbarungen, die der Umsetzung des normativen Teils eines TVes dienen, können auch Vereinbarungen über die Beilegung von Streitigkeiten zwischen den TV-Parteien durch ein Schiedsgericht i.S.d. § 101 Abs. 1 ArbGG7 (vgl. dazu auch Teil 16 Rz. 56 ff.) zählen. Dazu kann der obligatorische Teil eines TVes beispielsweise im Rahmen einer sog. Gesamtschiedsvereinbarung regeln, dass anstelle der Arbeitsgerichte (gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1 ArbGG) ein von den TV-Parteien zu errichtendes Schiedsgericht über Rechtsstreitigkeiten zwischen den TV-Parteien aus dem TV abschließend entscheiden soll. Solche Streitigkeiten können sich insbesondere im Hinblick auf die 1 2 3 4 5 6 7

Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1107. Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 918. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1107. Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 917; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1103. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 15X 2a (4), S. 629. Dieses und weitere Beispiele bei Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1105 f. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1104; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 946.

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Obligatorischer Teil

Rz. 128 Teil 4

Erfüllungs- und Einwirkungspflichten der TV-Parteien ergeben1. Im Rahmen der Schiedsvereinbarung können die Parteien auch ausdrücklich bestimmen, dass das Schiedsgericht abschließende Entscheidungen in Bezug auf die Auslegung der normativen Inhalte des TVes treffen kann2. Ob und unter welchen Voraussetzungen ein Schiedsspruch, der auf eine solche Gesamtschiedsvereinbarung zurück geht, eine Bindungswirkung nach § 9 TVG haben kann, wovon das BAG in einer Entscheidung im Jahre 19603 auf Basis des TVG in seiner damals gültigen Fassung noch ausgegangen ist, ist im Einzelnen umstritten4. Wenn sich die Parteien in einem TV darauf verständigen, dass bestimmte Streitfragen durch ein Schiedsgericht geklärt werden sollen, ergibt sich aus der Durchführungspflicht des TVes für beide Parteien die implizierte Nebenpflicht, im Bedarfsfall auch an der Errichtung des Schiedsgerichts mitzuwirken5. Die TV-Parteien können auch detaillierte Regelungen über die Zusammensetzung, Organisation und Arbeit des Schiedsgerichts vereinbaren, insbesondere, wenn sie von vornherein von einem über den Einzelfall hinausgehenden Bedarf für eine Entscheidung des Schiedsgerichts ausgehen. In einem solchen Fall kann dem Schiedsgericht die Qualität einer gemeinsamen Einrichtung i.S.v. § 4 Abs. 2 TVG (vgl. dazu oben Rz. 104 ff.) zukommen6.

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III. Weitere schuldrechtliche Vereinbarungen 1. Vertragsfreiheit im Tarifrecht Die TV-Parteien sind im Rahmen der Vereinbarung obligatorischer TV-Normen nicht darauf beschränkt, lediglich Vereinbarungen im oben beschriebenen Sinne zu treffen, die sich mit der Friedenspflicht oder mit der Verpflichtung zur Durchführung eines TVes oder der Umsetzung seiner normativen Regelungen im weitesten Sinne befassen. Sie können vielmehr, weil der TV in seinem obligatorischen Teil einen rein privatrechtlichen Charakter hat, außerhalb des ihnen nach Art. 9 Abs. 3 GG obliegenden Normsetzungsauftrags umfassende Regelungen über gegenseitige Rechte und Pflichten vereinbaren7. Während die TV-Parteien bei der Vereinbarung normativer Regelungen im Sinne des § 1 Abs. 1 i.V.m. § 4 Abs. 1 TVG aufgrund der ihnen verliehenen Rechtsnormsetzungsbefugnis besonderen Beschränkungen unterliegen (vgl. dazu Teil 1 Rz. 33 ff.), können sie bei der Vereinbarung schuldrechtlicher Regelungen von dem allgemein geltenden Prinzip der Vertragsautonomie Gebrauch machen. 1 GMPM/Germelmann, § 101 ArbGG Rz. 9. 2 Vgl. zu § 19.3 des Manteltarifvertrags für Beschäftigte in der Metall- und Elektroindustrie in Nordwürttemberg/Nordbaden LAG Baden-Württemberg v. 23.11.2009 – 15 Sa 71/09; siehe auch Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1541. 3 BAG v. 20.5.1960 – 1 AZR 268/57, AP Nr. 8 zu § 101 ArbGG 1953. 4 Vgl. zu Einzelheiten GMPM/Germelmann, ArbGG § 108 Rz. 31; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 949 (jeweils m.w.N.); Löwisch, ZZP 103 (1990), 22 (27 f.). 5 Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 947. 6 Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 351; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 947. 7 LAG Schleswig-Holstein v. 15.1.2009 – 4 Sa 269/08; HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 74; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1169.

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Teil 4 Rz. 129

Inhalt des Tarifvertrages

An sich könnten die TV-Parteien – innerhalb der Grenzen des allgemeinen Rechts – damit jeden beliebigen Gegenstand schuldrechtlich regeln. Den Charakter eines TVes im Sinne des TVG behält eine schuldrechtliche Regelung zwischen den TV-Parteien dabei nur, wenn der Regelungsgegenstand noch dem Tarifauftrag der Koalitionen zugeordnet werden kann und sich noch innerhalb ihrer Zuständigkeit gemäß Art. 9 Abs. 3 GG bewegt1. 129

Zu den in der Praxis bedeutsamsten schuldrechtlichen TV-Regelungen, die nicht auf die Durchführung eines bestehenden TVes oder auf dessen Schutz durch die bestehende Friedenspflicht abzielen, zählen Vereinbarungen über die tarifliche Konfliktlösung. Sie befassen sich mit Fragen der Verhandlung und gegebenenfalls der Erkämpfung von neuen TVen in Form von Schlichtungsvereinbarungen oder Arbeitskampfregeln.

2. Schlichtungsvereinbarungen 130

Das Tarifrecht ist geprägt von der Möglichkeit der Koalitionen, die Ziele ihrer Tarifpolitik notwendigenfalls auch mit Arbeitskampfmaßnahmen durchzusetzen, soweit dem nicht die Friedenspflicht (vgl. dazu oben Rz. 117) entgegen steht. Das Recht zur Durchführung von Arbeitskämpfen gehört zu den wesentlichen Grundlagen der Betätigungsfreiheit der Koalitionen nach Art. 9 Abs. 3 GG2 (vgl. dazu oben Teil 1 A Rz. 8). Dennoch zeigt die Praxis, dass die TV-Parteien in aller Regel – sicherlich nicht alleine vor dem Hintergrund der Anforderungen der Rechtsprechung an die Verhältnismäßigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen3 – zunächst eine gewisse Zurückhaltung walten lassen, bevor sie in einen Arbeitskampf eintreten. Arbeitskämpfe sind mit erheblichen Kosten verbunden und bringen typischerweise für alle Beteiligten weitere Nachteile mit sich. Losgelöst von diesen „natürlichen Hindernissen“, aufgrund derer es in der Praxis häufig zu längeren TV-Verhandlungen und der Suche nach einer einvernehmlichen Lösung kommt, gibt es im deutschen Recht für die TV-Parteien keine Verpflichtung zur Durchführung eines Schlichtungsverfahrens4. Auf die Möglichkeit der staatlichen Schlichtung nach dem Kontrollratsgesetz von 1946 (KRG Nr. 35) greifen TV-Parteien vergleichsweise selten zurück, sodass die freiwillige staatliche Schlichtung in der Praxis keine bedeutende Rolle spielt5. In vielen Branchen haben die Koalitionen jedoch im Rahmen von TVen Vereinbarungen über Schlichtungsbemühungen bei Uneinigkeit über die Inhalte eines TV, den wenigstens eine der TV-Parteien schließen möchte, getroffen6. Dabei obliegt es der Freiheit der TV-Parteien, im Rahmen der Ausgestaltung des von ihnen zu regelnden Schlichtungsverfahrens sowohl dessen mögliche Gegenstände wie auch seinen Verlauf, insbesondere das Verfahren zum 1 Kempen/Zachert/Zachert, § 1 TVG Rz. 734. 2 Vgl. dazu in jüngerer Zeit nochmals BAG v. 19.6.2007 – 1 AZR 396/06, NZA 2007, 1055 (mit Verweisen auf zentrale Entscheidungen des BVerfG). 3 S. zusammenfassende Darstellung zum Ultima-Ratio-Prinzip in MünchArbR/Ricken, § 200 Rz. 47 ff. 4 BVerfG v. 6.5.1964 – 1 BvR 79/62, NJW 1964, 1267; Lembke, RdA 2000, 223 (233 f.). 5 HWK/C.W. Hergenröder, Art. 9 GG Rz. 372. 6 Siehe Nachweise bei Knevels, ZTR 2008, 408 (414).

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Obligatorischer Teil

Rz. 134 Teil 4

Zustandekommen eines Schlichtungsergebnisses, und schließlich dessen Wirksamwerden zu regeln1. Gegenstand von Schlichtungsvereinbarungen ist dabei häufig, dass die Parteien sich auf einer ersten Stufe gegenseitig dazu verpflichten, sich zur Beilegung von (bevorstehenden) Streitigkeiten über den Inhalt eines neuen TVes zunächst an den Verhandlungstisch zu setzen. So wird ein obligatorischer Verhandlungsanspruch über TV-Inhalte begründet, den es ohne entsprechende Vereinbarungen nicht gibt (vgl. dazu Teil 3 Rz. 4 ff.). Während dieser Verhandlungsphase gilt üblicherweise weiterhin die Friedenspflicht, die damit verlängert wird2.

131

Regelmäßig bestimmen Schlichtungsvereinbarungen sodann, dass im Falle des Scheiterns der Verhandlungen die Schlichtungsstelle tätig werden soll, wobei meist in der Schlichtungsvereinbauung selbst festgelegt wird, unter welchen Voraussetzungen von einem Scheitern der Verhandlungen auszugehen ist. In Betracht kommt hier neben dem einvernehmlichen Feststellen des Scheiterns beispielsweise auch die einseitige Erklärung einer TV-Partei, an die die Parteien gewisse Anforderungen hinsichtlich der Form und ggf. des Inhalts stellen können3. Die Anrufung der Schlichtungsstelle im Falle des Scheiterns kann typischerweise ebenfalls nicht nur gemeinsam durch die TV-Parteien, sondern auch einseitig durch eine Partei erfolgen4, wobei z.B. das Schlichtungsverfahren in der Metallindustrie vorsieht, dass sich die andere TV-Partei der Anrufung anschließen muss; andernfalls findet dort ein Schlichtungsverfahren nicht statt5.

132

Recht aufwendige Regelungen enthalten viele Schlichtungsvereinbarungen im Hinblick auf die Zusammensetzung der Schlichtungsstelle. Typischerweise setzt sich diese, ähnlich wie im Falle einer Einigungsstelle nach dem BetrVG, zum einen aus einer gleichen Anzahl von Mitgliedern (Beisitzern) zusammen, welche die TV-Parteien jeweils nominieren dürfen. Diese paritätische Besetzung zählt allgemein zu den Schlüsselelementen einer erfolgreichen Schlichtung6. Zum anderen bestimmen die TV-Parteien in der Schlichtungsvereinbarung regelmäßig einen (manchmal auch zwei) unparteiischen Vorsitzenden oder sehen detaillierte Regelungen vor, nach welchem Modus ein solcher unparteiischer Vorsitzender bestimmt werden soll7. Häufig beschreiben Schlichtungsvereinbarungen auch das weitere Verfahren, insbesondere Anhörungsund Stellungnahmerechte der TV-Parteien bzw. ihrer Beisitzer.

133

Am Ende der Schlichtung kann ein von den TV-Parteien einvernehmlich akzeptiertes Schlichtungsergebnis stehen, welches schriftlich zu dokumentieren

134

1 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 31 3b, S. 1307 f. 2 MünchArbR/Ricken, § 209 Rz. 2. 3 Vgl. z.B. die Regelungen in § 4 der Schlichtungs- und Schiedsvereinbarung für die Metallindustrie v. 1.1.1980. 4 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 31 3b (2), S. 1307. 5 Vgl. § 4 Ziffer 4. der Schlichtungs- und Schiedsvereinbarung für die Metallindustrie. 6 MünchArbR/Ricken, § 209 Rz. 2. 7 Vgl. § 5 Ziff. 2. bis 12. der Schlichtungs- und Schiedsvereinbarung für die Metallindustrie; siehe auch MünchArbR/Ricken, § 209 Rz. 3.

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Teil 4 Rz. 135

Inhalt des Tarifvertrages

ist und die gleichen Wirkungen hat wie ein TV1. Wenn auch in der Schlichtung eine einvernehmliche Lösung nicht erzielt werden kann, obliegt es regelmäßig der Schlichtungsstelle, einen Einigungsvorschlag oder Schlichterspruch zu verabschieden. Von der Vereinbarung der TV-Parteien in der Schlichtungsabrede hängt es ab, welche Wirkung der Schlichtungsspruch hat. Denkbar ist, dass die TV-Parteien sich vorab auf die Verbindlichkeit des Spruchs einigen2. Häufiger sehen jedoch Schlichtungsvereinbarungen vor, dass die Parteien den Schlichtungsspruch nachträglich annehmen müssen3. Wenn sich die TV-Parteien im Vorhinein dem Schlichtungsspruch unterwerfen, bleibt ihnen die Möglichkeit einer Rechtskontrolle erhalten4. Der Spruch oder Vorschlag der Schlichtungsstelle, der schriftlich auszufertigen ist, wirkt nach seinem Zustandekommen normativ wie ein TV5.

3. Arbeitskampfregelungen 135

Das BAG hat in seiner Entscheidung des Großen Senats vom 21.4.19716 zum Ausdruck gebracht, dass nach seiner Auffassung Vereinbarungen zwischen den TV-Parteien über die Austragung der Interessengegensätze der Koalitionen erforderlich sind. Die Mittel des Arbeitskampfes dürften ihrer Art nach nicht über das hinausgehen, was zur Durchsetzung des erstrebten Zieles jeweils erforderlich sei. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit betreffe auch die Art der Durchführung und die Intensität des Arbeitskampfes, der deshalb nur dann rechtmäßig sei, wenn und solange er nach Regeln eines fairen Kampfes geführt werde. Die Arbeitskampfregeln müssten u.a. Bestimmungen darüber enthalten, wie die Erhaltungsmaßnahmen für bestreikte Betriebe zu gewährleisten seien, ob und welche für die Allgemeinheit lebensnotwendigen Betriebe vom Arbeitskampf ausgenommen werden und ob und in welchem Umfang Vorsorge getroffen werde, dass Anwartschaften oder Versicherungen nicht verfallen. Nach Abschluss des Arbeitskampfes obliege es den TV-Parteien, Vereinbarungen zur Frage der Maßregelungsverbote und Wiedereinstellungen zu treffen7.

136

Die TV-Parteien verschiedener Branchen sind diesem Appell des BAG gefolgt und haben schuldrechtliche Vereinbarungen zu Fragen des Arbeitskampfes getroffen. So gibt es tarifliche Vereinbarungen über Erhaltungsarbeiten oder Notdienstarbeiten während der Streikphase8. Notdienstarbeiten sind dabei solche Arbeiten, die die Versorgung der Bevölkerung mit lebensnotwendigen Diensten 1 MünchArbR/Ricken, § 209 Rz. 5. 2 Vgl. BAG v. 24.2.1988 – 4 AZR 614/87, NZA 1988, 553; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 952. 3 Vgl. z.B. § 9 Ziff. 1. bis 4. der Schlichtungs- und Schiedsvereinbarung für die Metallindustrie. 4 HWK/C.W. Hergenröder, Art. 9 GG Rz. 374; Löwisch/Rieble, § 9 TVG Rz. 21. 5 BAG v. 24.2.1988 – 4 AZR 614/87, NZA 1988, 553 m.w.N. 6 BAG v. 21.4.1971 – GS 1/68, NJW 1971, 1668. 7 BAG v. 21.4.1971 – GS 1/68, NJW 1971, 1668; siehe auch BAG v. 31.1.1995 – 1 AZR 142/94, NZA 1995, 958. 8 Vgl. zur Notdienstvereinbarung über die Einrichtung von Notdiensten bei der Deutschen Flugsicherung LAG Baden-Württemberg v. 31.3.2009 – 2 SaGa 1/09, NZA 2009, 631.

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Obligatorischer Teil

Rz. 138 Teil 4

und Gütern während eines Arbeitskampfes sicherstellen1. Erhaltungsarbeiten sind demgegenüber Arbeiten, die erforderlich sind, um die Anlagen und Betriebsmittel während des Arbeitskampfes so zu erhalten, dass nach Beendigung des Kampfes die Arbeit fortgesetzt werden kann2. Abreden der TV-Parteien über diese Arbeiten werden häufig gezielt aus Anlass eines Arbeitskampfes vereinbart, nicht notwendigerweise als abstrakt-generelle Regelungen3. Soweit es um Regelungen zu Folgen eines Arbeitskampfes geht, spielten in der Vergangenheit vor allen Dingen Wiedereinstellungsklauseln (vgl. dazu Teil 5 (23)) und spielen heute Maßregelungs- oder Benachteiligungsverbote (vgl. dazu Teil 5 (14)) eine Rolle, wobei deren normative Wirkung im Vordergrund steht4.

137

4. Prozessuale Vereinbarungen Die TV-Parteien können, wie oben bereits angesprochen, nach § 101 Abs. 1 ArbGG vereinbaren, dass Entscheidungen in (bestimmten) streitigen Fragen nicht durch die Arbeitsgerichte, sondern durch ein von den TV-Parteien eingerichtetes Schiedsgericht herbeizuführen sind (vgl. dazu oben Rz. 126 f.). Nach § 48 Abs. 2 ArbGG haben die TV-Parteien auch die Möglichkeit, für bestimmte Streitigkeiten die örtliche Zuständigkeit eines an sich nicht zuständigen Arbeitsgerichts vorzusehen. Dabei können sie eine ausschließliche Zuständigkeit festlegen oder durch den TV neben dem an sich zuständigen Arbeitsgericht für ein weiteres Arbeitsgericht eine zusätzliche Zuständigkeit begründen5.

1 BAG v. 30.3.1982 – 1 AZR 265/80, BB 1983, 766; BAG v. 31.1.1995 – 1 AZR 142/94, NZA 1995, 958. 2 BAG v. 30.3.1982 – 1 AZR 265/80, BB 1983, 766; BAG v. 8.6.1982 – 1 AZR 464/80, DB 1982, 1827; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 193 Rz. 80. 3 HWK/C.W. Hergenröder, Art. 9 GG Rz. 293. 4 Vgl. dazu Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 618 f. und 620 ff.; Schaub/Treber, ArbRHdb., § 195 Rz. 21 ff. 5 GMPM/Germelmann, § 48 ArbGG Rz. 134.

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Teil 5 Katalog typischer Tarifnormen Seite (1) Altersgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Annahmeverzug/Betriebsrisiko . . (3) Arbeitsentgelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Arbeitsverhinderung . . . . . . . . . . . . (5) Arbeitszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (6) Befristungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . (7) Besetzungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . (8) Differenzierungsklauseln . . . . . . . . (9) Direktionsrechtsklauseln . . . . . . . (10) Effektivklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . (11) Eingruppierung . . . . . . . . . . . . . . . . . (12) Entgeltfortzahlung . . . . . . . . . . . . . . (13) Kurzarbeitsregelungen . . . . . . . . . . (14) Maßregelungsverbot . . . . . . . . . . . . (15) Mehrarbeitsregelungen . . . . . . . . . .

303 316 321 334 341 359 371 376 389 398 402 415 425 437 443

Seite (16) Meistbegünstigungsklauseln . . . . . 454 (17) Öffnungsklauseln/Genehmigungsvorbehalte . . . . . . . . . . . . . . . . 460 (18) Schlechtwetterklauseln . . . . . . . . . 472 (19) Standortsicherung/Beschäftigungssicherung/Arbeitsplatzsicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478 (20) Unkündbarkeiten/Kündigungsklauseln/Fristen . . . . . . . . . . . . . . . . 489 (21) Urlaubsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . 500 (22) Verfallklauseln/Ausschlussklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519 (23) Wiedereinstellungsklauseln . . . . . 529 (24) Zulagen-/Zuschlagsregelungen . . . 539

(1) Altersgrenzen Literatur: Bauer/v. Medem, Altersgrenzen zur Beendigung von Arbeitsverhältnissen – Was geht, was geht nicht?, NZA 2012, 945; Temming, Diskriminierende Beendigung der Arbeitsverhältnisse von Piloten bei Vollendung des 60. Lebensjahres, EuZA 2012, 205.

I. Zweck und Kontext Das deutsche Arbeitsrecht kennt, soweit es um die Beschäftigung älterer Menschen geht, im Wesentlichen keine gesetzlichen Altersgrenzen. Ohne besondere Vereinbarung würden unbefristete Arbeitsverhältnisse also unabhängig vom Lebensalter des Arbeitnehmers unbegrenzt fortgelten. Unter verschiedenen Gesichtspunkten ist es jedoch nicht unproblematisch, ältere Arbeitnehmer uneingeschränkt weiter arbeiten zu lassen. Zum einen lässt das persönliche Leistungsvermögen mit zunehmendem Alter nach, so dass es im Sinne des Gesundheitsschutzes des Einzelnen erwägenswert ist, seinem Arbeitsleben eine Grenze zu setzen. Zum anderen schafft das Ausscheiden älterer Arbeitnehmer aus dem Berufsleben angesichts des nach wie vor noch angespannten Arbeitsmarkts für die jüngere Generation verbesserte Möglichkeiten, in den Beruf einzusteigen und so gleichsam nachzurücken. Die TV-Parteien haben diese Situation erkannt und sehen in verschiedenen Branchen tarifliche Altersgrenzen vor.

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Tarifvertragliche Altersgrenzen lassen das Arbeitsverhältnis bei Erreichen eines bestimmten Lebensalters automatisch enden. In den meisten TVen wird in

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Teil 5 (1) Rz. 3

Altersgrenzen

diesem Zusammenhang auf das Erreichen des gesetzlich geregelten Rentenalters abgestellt (sog. Regelrentenaltersgrenzen). In zahlreichen TVen findet sich hierzu oftmals noch die Regelung, nach der das Arbeitsverhältnis mit dem 65. Lebensjahr automatisch endet (sog. „starre“ tarifliche Altersgrenze). Nach dem Entschluss des Gesetzgebers, die Regelaltersgrenze für die gesetzliche Altersrente in den Jahren 2012 bis 2035 schrittweise von 65 auf 67 Lebensjahre anzuheben, wird in neueren TVen überwiegend eine Klausel verwendet, wonach das Arbeitsverhältnis mit Ablauf des Monats endet, in dem der Arbeitnehmer das gesetzlich geregelte Alter zum Erreichen der Regelaltersrente vollendet hat (sog. „dynamische“/„flexible“ tarifliche Altersgrenze). TVe, deren Altersgrenzenklauseln nach wie vor auf das 65. Lebensjahr abstellen, sind deshalb heute so auszulegen, dass an die Stelle des 65. Lebensjahres jeweils das Erreichen der Regelaltersgrenze tritt. Dies dürfte jedenfalls auf die TVe zutreffen, die vor dem 1.1.2008 und damit vor Inkrafttreten des RV-Altersgrenzenanpassungsgesetzes vereinbart wurden1. 3

Darüber hinaus lassen sich in TVen aber auch Altersgrenzen finden, die unterhalb des gesetzlichen Rentenalters liegen. Derartige vorzeitige Altersgrenzen sind in der Regel starr ausgestaltet und aufgrund spezifischer Besonderheiten innerhalb einer bestimmten Branche oder Berufsgruppe (Beispiel: Piloten, vgl. unten Rz. 34 ff.) aufgenommen worden.

4

Altersgrenzenvereinbarungen in TVen bedürfen unter verschiedenen rechtlichen Gesichtspunkten einer kritischen Betrachtung und Prüfung, da es Normen aus unterschiedlichen Rechtsbereichen gibt, mit denen sie in Konflikt geraten können.

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Nach Ansicht des BAG handelt es sich bei den Altersgrenzenregelungen in TVen um kalendermäßige Befristungsvereinbarungen, weil der in der Zukunft liegende Beendigungszeitpunkt hinreichend bestimmbar ist2. Das Arbeitsverhältnis endet zu einem festen Zeitpunkt, zu dem der Arbeitnehmer entweder ein bestimmtes Alter erreicht hat oder eine gesetzliche Altersrente beziehen kann. Aus Sicht der Parteien ist die Vollendung eines bestimmten Lebensjahres ein zukünftiges Ereignis, dessen Eintritt sie als feststehend ansehen. Allein durch die Möglichkeit einer vorherigen anderweitigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses wird die vereinbarte Altersgrenze nicht zu einer auflösenden Bedingung3.

6

Tarifvertragliche Altersgrenzen unterliegen damit der arbeitsgerichtlichen Befristungskontrolle. Sie bedürfen zu ihrer Wirksamkeit eines sie rechtfertigenden Sachgrundes im Sinne des § 14 Abs. 1 TzBfG. Dem steht nach Ansicht des BAG auch nicht die verfassungsrechtlich gemäß Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie entgegen4. 1 So ErfK/Rolfs, § 41 SGB VI Rz. 9a mit dem Hinweis, dass die Altersgrenze seit dem Jahre 1916 bei 65 Jahren lag. 2 BAG v. 13.8.2002 – 7 AZR 469/01, NZA 2003, 1397. 3 Ob man das Erreichen der Altersgrenze mit dem BAG und der überwiegend vertretenen Auffassung als Befristung ansieht oder als auflösende Bedingung, macht letztlich wegen § 21 TzBfG keinen entscheidenden Unterschied. 4 Vgl. z.B. BAG v. 18.1.2012 – 7 AZR 112/08, DB 2012, 981.

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Altersgrenzen

Rz. 9 Teil 5 (1)

Die Zulässigkeit tarifvertraglicher Altersgrenzenregelungen galt lange Zeit als gesichert. Das BAG hielt insbesondere die auf das Erreichen des gesetzlichen Regelrentenalters abstellenden Befristungen in ständiger Rechtsprechung für sachlich gerechtfertigt im Sinne des § 14 TzBfG, sofern nur der Arbeitnehmer im Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses die Voraussetzungen für den Bezug einer Altersversorgung in der gesetzlichen Rentenversicherung erfüllt (Erfordernis der wirtschaftlichen Absicherung, vgl. unten Rz. 21 f.). Mit Inkrafttreten des AGG ist die Diskussion um die Wirksamkeit tarifvertraglicher Altersgrenzen wieder neu entfacht. Im Kern geht es hierbei um die Frage, ob die mit Altersgrenzen einhergehende Diskriminierung wegen des Alters gerechtfertigt sein kann. Eine zentrale Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der Regelung des § 10 Satz 3 Nr. 5 AGG zu, nach dessen Wortlaut sowohl kollektivvertragliche als auch arbeitsvertragliche Altersgrenzenregelungen zulässig sein können1. Aufgrund der Rechtsprechung des EuGH ist zudem zu beachten, dass bei der Anwendung des § 10 Satz 3 Nr. 5 AGG die Richtlinie 2000/78/EG (Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie) Berücksichtigung finden muss2.

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Diskutiert wird, ob die Regelung des § 41 Satz 2 SGB VI auch auf tarifvertragliche Altersgrenzen Anwendung findet. Hiernach gilt eine Vereinbarung, die die Beendigung des Arbeitsverhältnisses eines Arbeitnehmers ohne Kündigung zu einem Zeitpunkt vorsieht, zu dem der Arbeitnehmer vor Erreichen der Regelaltersgrenze eine Rente wegen des Alters beantragen kann, dem Arbeitnehmer gegenüber als auf das Erreichen der Regelaltersgrenze abgeschlossen. Der weit gefasste Wortlaut der Norm („Vereinbarung“) könnte für eine Anwendbarkeit sowohl auf einzelvertragliche als auch auf kollektivvertragliche Vereinbarungen sprechen3. Aus der Gesetzesbegründung zur Neufassung der Regelung4 lässt sich nunmehr jedoch deutlich entnehmen, dass tarifvertragliche Altersgrenzen dem Anwendungsbereich der Vorschrift nicht unterfallen sollen. Dieser Sichtweise hat sich der überwiegende Teil der Literatur mittlerweile angeschlossen5.

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II. Beispiele § 33 des Tarifvertrages für den öffentlichen Dienst (TVöD) – Beendigung des Arbeitsverhältnisses ohne Kündigung (1) Das Arbeitsverhältnis endet, ohne dass es einer Kündigung bedarf,

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a) mit Ablauf des Monats, in dem die/der Beschäftigte das gesetzlich festgelegte Alter zum Erreichen der Regelaltersrente vollendet hat, 1 ErfK/Schlachter, § 10 AGG Rz. 7; beachte: Gesetzliche Altersgrenzen werden von § 10 Satz 3 Nr. 5 AGG hingegen nicht erfasst. 2 EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-45/09, DB 2010, 2339 – Rosenbladt; dem später folgend BAG v. 18.1.2012 – 7 AZR 112/08, DB 2012, 981. 3 So noch BAG v. 1.12.1993 – 7 AZR 428/93, NZA 1994, 369; die Entscheidung erging jedoch zu der Vorgängernorm § 41 Abs. 4 Satz 3 SGB VI (RRG 1992). 4 BT-Drucks. 12/8145, S. 6. 5 HWK/Ricken, § 41 SGB VI Rz. 15; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 650 ff.

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Teil 5 (1) Rz. 10

Altersgrenzen

b) jederzeit im gegenseitigen Einvernehmen (Auflösungsvertrag). (2) (…) (5) Soll die/der Beschäftigte, deren/dessen Arbeitsverhältnis nach Absatz 1 Buchst. a geendet hat, weiterbeschäftigt werden, ist ein neuer schriftlicher Arbeitsvertrag abzuschließen. Das Arbeitsverhältnis kann jederzeit mit einer Frist von vier Wochen zum Monatsende gekündigt werden, wenn im Arbeitsvertrag nichts anderes vereinbart ist. § 19 Abs. 1 Satz 1 des Manteltarifvertrages Nr. 5a für das Cockpitpersonal bei Lufthansa 10

Das Arbeitsverhältnis endet – ohne dass es einer Kündigung bedarf – mit Ablauf des Monats, in dem das 60. Lebensjahr vollendet wird. (…)

III. Kommentierung 1. § 33 TVöD (Rz. 9) 11

Bei § 33 TVöD handelt es sich um ein typisches Beispiel für eine tarifvertragliche Altersgrenze, die zeitlich an das Regelrentenalter anknüpft. Nach § 33 Abs. 1a TVöD endet das Arbeitsverhältnis, ohne dass es einer Kündigung bedarf, mit Ablauf des Monats, in dem die/der Beschäftigte das gesetzlich festgelegte Alter zum Erreichen der Regelaltersrente vollendet hat. Die Regelung macht die Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht von weiteren Bedingungen abhängig. Insbesondere kommt es nach dem Wortlaut der tariflichen Regelung nicht darauf an, ob der Arbeitnehmer zu dem vorgesehenen Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses tatsächlich Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung oder aus einer sonstigen Altersversorgung bezieht.

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In seiner Ursprungsfassung sah § 33 Abs. 1a TVöD zunächst vor, dass die dem TV unterfallenden Arbeitsverhältnisse mit Vollendung des 65. Lebensjahrs ihr Ende finden sollten. Unmittelbar nach Inkrafttreten des TVöD kam es zu der eingangs bereits erwähnten stufenweisen Anhebung der Regelaltersgrenze für die gesetzliche Altersrente. Dies führte in der Folgezeit vielfach zu Problemen bei der Auslegung und Anwendung der Norm. Auch wurde die Verfassungsmäßigkeit des § 33 Abs. 1a TVöD a.F. in Frage gestellt1. Schließlich wurde die Vorschrift mit Wirkung vom 1.6.2008 geändert. In ihrer aktuellen Fassung verweist die Regelung des § 33 Abs. 1a TVöD n.F. nunmehr auf die jeweils bestehende gesetzliche Regelaltersgrenze, die individuell im Einzelfall zu bestimmen ist. Auf ein konkret bestimmtes einheitliches Rentenalter wird hingegen nicht mehr abgestellt.

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Zu beachten ist, dass § 33 Abs. 1a TVöD allein die allgemeine Regelrentenaltersgrenze, nicht jedoch auch andere vorzeitige Altersgrenzen erfasst. Erreicht beispielsweise ein Schwerbehinderter das für ihn geltende vorgezogene Rentenalter, so endet sein Arbeitsverhältnis deswegen nicht automatisch. 1 Bredemeier/Neffke/Cerff/Weizenegger, § 33 TVöD/TV-L Rz. 4.

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Altersgrenzen

Rz. 17 Teil 5 (1)

Möchte der Schwerbehinderte sein Arbeitsverhältnis rechtzeitig beenden, um sodann die vorzeitige Rente in Anspruch zu nehmen, muss er eine fristgerechte Eigenkündigung erklären. Den Vertragsparteien bleibt es im Übrigen selbstverständlich unbenommen, zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses einen Aufhebungsvertrag zu schließen (vgl. § 33 Abs. 1b TVöD). Die Vorschrift des § 33 Abs. 1b TVöD findet letztlich immer dann Anwendung, wenn der Arbeitnehmer – egal aus welchen Gründen – bereits vor Erreichen des gesetzlichen Renteneintrittsalters ohne Ausspruch einer Kündigung aus dem Arbeitsverhältnis ausscheiden will. Vorstellbar ist aber auch die Situation, dass ein Arbeitnehmer über die für ihn geltende Regelaltersgrenze hinaus für seinen Arbeitgeber tätig bleiben möchte. Dieser Fall einer Weiterbeschäftigung über die jeweilige Altersgrenze hinaus ist ausdrücklich in § 33 Abs. 5 Satz 1 TVöD geregelt. Danach ist mit dem Arbeitnehmer, der weiterbeschäftigt werden soll, ein neuer schriftlicher Arbeitsvertrag zu schließen. Uneinheitlich wird die Frage beantwortet, ob sich der neue Arbeitsvertrag an die Vorgaben des TVöD halten muss1. Sofern ein befristeter Arbeitsvertrag geschlossen werden soll, dürfte feststehen, dass aufgrund der Vorbeschäftigung des Arbeitnehmers nur eine Sachgrundbefristung in Betracht kommen kann.

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a) Sachliche Rechtfertigung der auf das gesetzliche Regelrentenalter bezogenen tariflichen Altersgrenze aa) Standpunkt des BAG Das BAG hat sich bereits 1977 mit der Rechtfertigung der tarifvertraglichen Regelaltersgrenze im Bundes-Angestelltentarifvertrag (BAT) auseinandergesetzt und diese im Ergebnis für wirksam erklärt2.

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Nach Ansicht des BAG ist die darin vorgesehene Befristung des Arbeitsverhältnisses auf das 65. Lebensjahr aus sachlichen, insbesondere sozialen Gründen gerechtfertigt. Durch die Regelung werde verhindert, dass im Einzelfall, etwa im Rahmen eines Kündigungsschutzprozesses, der Nachweis durch ärztliche Gutachten geführt werden muss, dass ein Arbeitnehmer aus altersbedingten Gründen nicht mehr in der Lage ist, seinen vertraglichen Verpflichtungen nachzukommen. Die Altersgrenze im TV erspare dem Arbeitnehmer somit ein demütigendes Verfahren zum Ende seines Berufslebens. Die Festlegung einer allgemeinen Altersgrenze auf das Rentenalter liege damit im wohlverstandenen Interesse des Arbeitnehmers3.

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An dieser Rechtsprechung hat das BAG im Kern bis heute festgehalten. Die Argumente, die für die sachliche Rechtfertigung einer auf das Rentenalter bezogenen Altersgrenze angeführt werden, haben sich über die Jahre jedoch teilweise

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1 Für eine Bindung an den TVöD z.B. Kunert, § 33 TVöD Rz. 33; a.A. Bremecker/Hock/ Klapproth/Kley, § 33 TVöD, S. 175. 2 BAG v. 21.4.1977 – 2 AZR 125/76, DB 1977, 1801. 3 So auch BAG v. 20.11.1987 – 2 AZR 284/86, NZA 1988, 617, in diesem Fall ging es jedoch um die Zulässigkeit einer Betriebsvereinbarung über Altersgrenzen.

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Teil 5 (1) Rz. 18

Altersgrenzen

geändert. Urteilt das BAG heute über die Zulässigkeit tariflicher Altersgrenzen, nimmt es regelmäßig eine Interessenabwägung vor1: 18

Aus Sicht des Arbeitnehmers sei zu berücksichtigen, dass dieser mit seinem Wunsch auf dauerhafte Fortsetzung seines Arbeitsverhältnisses über das 65. Lebensjahr hinaus legitime wirtschaftliche und ideelle Anliegen verfolge. Das Arbeitsverhältnis sichere ihm zum einen seine wirtschaftliche Existenzgrundlage und biete ihm zum anderen die Möglichkeit zur beruflichen Selbstverwirklichung. Allerdings handele es sich hierbei um das Fortsetzungsverlangen eines mit Erreichen der Regelaltersgrenze wirtschaftlich abgesicherten Arbeitnehmers, der bereits ein langes Berufsleben hinter sich habe, und dessen Interesse an der Fortführung seiner beruflichen Tätigkeit aller Voraussicht nach nur noch für kurze Zeit bestehe. Weiterhin sei zu berücksichtigen, dass der Arbeitnehmer von der Anwendung der Altersgrenzenregelung auch profitiert habe, weil dadurch seine eigenen Einstellungs- und Aufstiegschancen seinerzeit verbessert worden seien.

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Schließlich müsse auch dem Bedürfnis des Arbeitgebers nach einer sachgerechten und berechenbaren Personal- und Nachwuchsplanung Rechnung getragen werden. Es müsse dem Arbeitgeber möglich sein, rechtzeitig geeigneten Nachwuchs einzustellen und auch bereits beschäftigte Arbeitnehmer zu fördern.

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Den zuletzt genannten Gründen sei nach Auffassung des Gerichts gegenüber dem Bestandsschutzinteresse des Arbeitnehmers im Regelfall der Vorrang einzuräumen; dies gelte jedenfalls, soweit der Arbeitnehmer durch den Bezug einer gesetzlichen Altersrente wirtschaftlich abgesichert ist2.

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Vergegenwärtigt man sich die dargestellte Rechtsprechung, fällt zunächst auf, dass das BAG für die Rechtfertigung tarifvertraglicher Altersgrenzen uneingeschränkt auf die Begründungsansätze zurückgreift, die es für die Wirksamkeit einzelvertraglich vereinbarter Regelaltersgrenzen aufgestellt hat3. Das Erfordernis der wirtschaftlichen Absicherung folgt aus der sich aus Art. 12 Abs. 1 GG ergebenen Schutzpflicht, die den Staat im Bereich der Beendigung von Arbeitsverhältnissen trifft4. Endet das Arbeitsverhältnis durch die gesetzliche Altersgrenze, verliert der Arbeitnehmer den Anspruch auf die Arbeitsvergütung, die ihm bisher zum Bestreiten seines Lebensunterhalts zur Verfügung gestanden hat. Nach Ansicht des BAG sei dieses Ergebnis verfassungsrechtlich nur gerechtfertigt, wenn der dauerhafte Bezug von Leistungen aus einer Altersversorgung an die Stelle der Arbeitsvergütung tritt5.

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Ohne Bedeutung für die Wirksamkeit einer auf die Regelarbeitsgrenze abstellenden Befristung soll hingegen die Höhe der Ansprüche sein, die sich für den Einzelnen jeweils konkret aus den Vorschriften über die gesetzliche Rentenver1 BAG v. 18.6.2008 – 7 AZR 116/07, NZA 2008, 1302. 2 BAG v. 18.6.2008 – 7 AZR 116/07, NZA 2008, 1302. 3 Vgl. z.B. BAG v. 6.8.2003 – 7 AZR 9/03, NZA 2004, 96; BAG v. 19.11.2003 – 7 AZR 296/03, DB 2004, 1045; BAG v. 27.7.2005 – 7 AZR 443/04, NZA 2006, 37. 4 BVerfG v. 27.1.1998 – 1 BvL 15/87, NZA 1998, 470; BAG v. 18.6.2008 – 7 AZR 116/07, NZA 2008, 1302; Schaub/Koch, ArbR-Hdb., § 40 Rz. 49. 5 BAG v. 18.6.2008 – 7 AZR 116/07, NZA 2008, 1302.

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Altersgrenzen

Rz. 26 Teil 5 (1)

sicherung ergeben. Es wäre nach Auffassung des BAG systemwidrig, einen solchen individualisierten Prüfungsmaßstab anzulegen. Schließlich komme es im Befristungsrecht allein darauf an, ob der Arbeitgeber beim Vertragsschluss einen von der Rechtsordnung anzuerkennenden Grund für einen nicht auf Dauer angelegten Arbeitsvertrag hatte oder nicht1. Mit diesem Grundgedanken sei es unvereinbar, die Wirksamkeit der bei Vertragsschluss vereinbarten Befristung später nach den tatsächlichen finanziellen Verhältnissen des Arbeitnehmers zum Zeitpunkt des Erreichens der Altersgrenze zu beurteilen.

bb) Vereinbarkeit von tarifvertraglichen Altersgrenzen mit dem europäischen Gemeinschaftsrecht In jüngster Zeit stellte sich zunehmend die Frage nach der Vereinbarkeit tarifvertraglicher Regelrentenaltersgrenzen mit dem europäischen Gemeinschaftsrecht2. Der EuGH hatte darüber erstmals im Jahr 2007 zu entscheiden3. In dieser Entscheidung ging es um die Regelung in einem spanischen TV, die mit Vollendung des 65. Lebensjahres eine Zwangsversetzung in den Ruhestand vorsah. Der EuGH stellte zunächst klar, dass derartige Ruhestandsaltersgrenzen im Ausgangspunkt eine unmittelbare Diskriminierung wegen des Alters darstellen, deren Rechtfertigung am Maßstab der RL 2000/78/EG zu prüfen ist. Nach Ansicht des EuGH sind in TVen enthaltene Klauseln über die Zwangsversetzung in den Ruhestand, in denen als Voraussetzung lediglich verlangt wird, dass der Arbeitnehmer die im nationalen Recht auf 65 Jahre festgesetzte Altersgrenze erreicht hat und die übrigen sozialversicherungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Bezug einer beitragsbezogenen Altersrente erfüllt sind, mit der Richtlinie 2000/78/EG vereinbar, sofern

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– diese Maßnahme, auch wenn sie auf das Alter abstellt, objektiv angemessen ist und im Rahmen des nationalen Rechts durch ein legitimes Ziel, das in Beziehung zur Beschäftigungspolitik und zum Arbeitsmark steht, gerechtfertigt ist und

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– die Mittel, die zur Erreichung dieses im Allgemeininteresse liegenden Ziels eingesetzt werden, nicht als dafür unangemessen und nicht erforderlich erscheinen.

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Die EuGH-Richter stellten jedoch klar, dass die jeweilige nationale Regelung nicht zwingend selbst einen ausdrücklichen Hinweis auf die arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Ziele enthalten muss, sondern dass sich die Ziele aus dem Gesamtkontext ergeben können4. Weiterhin geht aus der Entscheidung hervor, dass beispielsweise eine Altersgrenze mit dem Ziel der Förderung von Vollbeschäftigung durch Begünstigung des Zugangs zum Arbeitsmarkt als angemessen und erforderlich angesehen werden kann.

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1 BAG v. 27.7.2005 – 7 AZR 443/04, NZA 2006, 37; BAG v. 18.6.2008 – 7 AZR 116/07, NZA 2008, 1302. 2 Vgl. Bauer/v. Medem, NZA 2012, 945. 3 EuGH v. 16.10.2007 – Rs. C-411/05, NZA 2007, 1219 – Palacios. 4 EuGH v. 16.10.2007 – Rs. C-411/05, NZA 2007, 1219 – Palacios: Es reicht, wenn die Ziele auf andere Weise bestimmbar sind.

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Teil 5 (1) Rz. 27

Altersgrenzen

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Mit der sog. Rosenbladt-Entscheidung musste der EuGH im Jahr 2010 schließlich erstmals über die Zulässigkeit einer Ruhestandsaltersgrenze in einem deutschen TV1 – die der Regelung des § 33 TVöD sehr ähnlich ist – entscheiden und hat seine bisherige Rechtsprechung aus der Palacios-Entscheidung darin konsequent fortgesetzt2. Der EuGH stellte zunächst die Frage nach der Vereinbarkeit von § 10 Satz 3 Nr. 5 AGG mit der Richtlinie 2000/78/EG. Gemäß § 10 Satz 3 Nr. 5 AGG ist eine Vereinbarung, die die Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses ohne Kündigung zu einem Zeitpunkt vorsieht, zu dem der oder die Beschäftige eine Rente wegen Alters beantragen kann, als unterschiedliche Behandlung wegen des Alters zulässig. Nach Ansicht des EuGH ist § 10 Satz 3 Nr. 5 AGG mit der Richtlinie 2000/78/EG vereinbar, da die Vorschrift keine zwingende Regelung, sondern lediglich eine Ermächtigung zum Abschluss einzelvertraglicher oder tarifvertraglicher Regelungen enthält. Für die Angemessenheit der Regelung spreche auch, dass von § 10 Satz 3 Nr. 5 AGG allein der Fall eines automatischen Ausscheidens zum Zeitpunkt, zu dem die Regelaltersrente beansprucht werden kann, erfasst wird. Der Fall eines automatischen Ausscheidens bereits zu dem Zeitpunkt, in dem erstmals eine Altersrente beantragt werden kann, unterfällt der Regelung gerade nicht3.

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Darüber hinaus hat der EuGH die von der Bundesregierung hervorgehobenen Ziele, die § 10 Satz 3 Nr. 5 AGG zugrunde liegen, als objektiv, angemessen und im Sinne der Richtlinie rechtfertigend angesehen: „Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses … komme unmittelbar den jüngeren Arbeitnehmern zugute, indem sie ihre vor dem Hintergrund anhaltender Arbeitslosigkeit schwierige berufliche Integration begünstige. Die Rechte älterer Arbeitnehmer genössen zudem angemessenen Schutz. Die meisten von ihnen wollten nämlich nach Erreichen des Rentenalters nicht länger arbeiten, da ihnen nach dem Verlust ihres Arbeitsentgelts die Rente einen Einkommensersatz biete. Für die automatische Beendigung des Arbeitsverhältnisses spreche zudem, dass Arbeitgeber ihren Beschäftigten nicht unter Führung des Nachweises kündigen müssten, dass diese nicht länger arbeitsfähig seien, was für Menschen fortgeschrittenen Alters demütigend sein könne4.“

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Der EuGH hielt darüber hinaus auch die tarifvertragliche Altersgrenze selbst für angemessen. Mit ihr gehe in zulässiger Weise eine nicht unerhebliche Flexibilität einher, zwischen den unterschiedlichen Interessen einen Ausgleich zu finden. Während sie dem Arbeitnehmer eine gewisse Stabilität der Beschäftigung und langfristig einen vorhersehbaren Eintritt in den Ruhestand gewährt, bietet die Regelung dem Arbeitgeber ein Mehr an Flexibilität in der Personalplanung.

1 Konkret ging es um § 19 Nr. 8 des Rahmentarifvertrages für die gewerbliche Beschäftigung in der Gebäudereinigung. 2 EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-45/09, DB 2010, 2339 – Rosenbladt. 3 EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-45/09, DB 2010, 2339 – Rosenbladt; derartige Individualvereinbarungen unterfallen allein dem Anwendungsbereich des § 41 SGB VI. 4 EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-45/09, DB 2010, 2339 – Rosenbladt; EuGH v. 5.7.2012 – Rs. C-141/11, NZA 2012, 785 – Hörnfeldt.

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Altersgrenzen

Rz. 32 Teil 5 (1)

Hinsichtlich der Erforderlichkeit verweist der EuGH auf den Regelungskontext, in den sich die Altersgrenzenregelung einfügt. Entscheidend sei, dass die Regelung nicht die Fortführung der Berufstätigkeit untersage. Vielmehr müsse Arbeitnehmern, die der Altersgrenze unterfallen, auch weiterhin ein Anspruch auf Schutz vor Altersdiskriminierungen nach Maßgabe des AGG zukommen. So könnte einem Arbeitnehmer, der die für ihn maßgebliche Regelaltersgrenze erreicht, eine anderweitige Beschäftigung beim bisherigen Arbeitgeber oder bei einem Dritten nicht auf Grund seines Alters verweigert werden. Gerade weil tarifvertragliche Regelrentenaltersgrenzen einen dahingehenden Zwang zum Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis nicht enthalten, gehen sie nach Ansicht des EuGH auch nicht über das Maß des Erforderlichen hinaus. Diese Rechtsprechungsgrundsätze hat der EuGH aktuell mit der sogenannten Hörnfeldt-Entscheidung – hier ging es um die schwedische Regelung zur Rente mit 67 – bestätigt1. Neu an dieser Entscheidung ist allein, dass das Gericht darin erstmals ausdrücklich klargestellt hat, dass die Wirksamkeit der Altersgrenze nicht von der zu erwartenden Höhe der Altersrente des jeweils Betroffenen abhänge2. Demnach würden auch Arbeitnehmer mit einer unauskömmlichen Altersrente wegen unsteter Erwerbsbiographie bei Erreichen der Altersgrenze automatisch ausscheiden. Das unbedingte Recht des Arbeitnehmers, bis zum 67. Lebensjahr arbeiten zu dürfen, rechtfertige nach Ansicht des Gerichts das Ausscheiden auch dieser Arbeitnehmer mit Erreichen der Altersgrenze. Entscheidend sei allein, dass dem Arbeitnehmer überhaupt ein finanzieller Ausgleich in Gestalt einer Altersrente zugute komme. Darüber hinaus begründet der EuGH seinen Standpunkt mit dem bereits aus der Rosenbladt-Entscheidung bekannten Argument, dass die Altersgrenzenregelung nicht zu einem endgültigen Ausscheiden aus dem Arbeitsmarkt und damit nicht zu einer Zwangsversetzung in den Ruhestand führe.

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Die Rosenbladt- und die Hörnfeldt-Entscheidung des EuGH schließen sich damit in weiten Teilen der vom BAG in der Vergangenheit vorgenommenen Bewertung tarifvertraglicher Regelrentenaltersgrenzen an. Für die bislang in Deutschland verbreiteten Altersgrenzenklauseln bringen die Entscheidungen die Gewissheit, dass die bestehenden Regelungen trotz des Verbots der Altersdiskriminierung weiter angewendet werden können. Zwar sind die mit jeder tariflichen Altersgrenzenregelung verfolgten Ziele in Verbindung mit dem automatischen Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis auf ihre Legitimität, Angemessenheit und Erforderlichkeit zu prüfen. Die Ausführungen haben jedoch gezeigt, dass die Anforderungen, die an eine dahingehende Prüfung gestellt werden, gering ausfallen.

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Der EuGH-Rechtsprechung folgend hat das BAG schließlich mit einer Entscheidung aus dem Jahr 2010 auch die Regelaltersgrenze des TVöD für sachlich gerechtfertigt befunden3. Nach Ansicht des Gerichts stelle die Regelung keine unzulässige Altersdiskriminierung dar. Sowohl § 10 Satz 3 Nr. 5 AGG als auch die tarifvertragliche Regelung seien unionsrechtlich nicht zu beanstan-

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1 EuGH v. 5.7.2012 – Rs. C-141/11, NZA 2012, 785 – Hörnfeldt. 2 So auch Bauer/v. Medem, NZA 2012, 945 (947). 3 BAG v. 8.12.2010 – 7 AZR 438/09, NZA 2011, 586.

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Teil 5 (1) Rz. 33

Altersgrenzen

den. Auch wenn sich die Entscheidung noch auf § 33 Abs. 1a TVöD-V a.F. bezog, dürfte Entsprechendes für die Neufassung des § 33 Abs. 1a TVöD gelten. Dies gilt umso mehr, als die Klausel durch ihre Neuformulierung allein an Transparenz dazu gewonnen hat. Wie dargestellt, endet das ihr unterfallende Arbeitsverhältnis nunmehr dynamisch mit Ablauf des Monats, in dem die/der jeweilige Beschäftigte das gesetzlich festgelegte Alter zum Erreichen der Regelaltersrente vollendet hat. 33

Abzuwarten bleibt, wie es sich in Zukunft mit den Fällen verhält, in denen sich von der Regelrentenaltersgrenze betroffene Arbeitnehmer nach ihrem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis auf eine Stelle beim alten Arbeitgeber oder bei einem Dritten bewerben. Wie erwähnt, hat der EuGH tarifliche Regelaltersgrenzen nur insoweit für gerechtfertigt gehalten, als durch sie dem betroffenen Arbeitnehmer nicht die Fortführung der Berufstätigkeit untersagt wird1. Der Wunsch, in anderer Position erneut eingestellt zu werden, könnte folglich nicht mit Verweis auf das Erreichen der tariflichen Altersgrenze oder sonstiger Argumente, die mit dem Alter zusammenhängen (Aufstiegschancen für jüngere Arbeitnehmer; das Erreichen einer ausgeglichenen Altersstruktur), abgelehnt werden. Darin wäre eine unmittelbare Diskriminierung wegen des Alters zu sehen. Eine Ablehnung könnte nur aus anderen Gründen erfolgen. Offen bleibt, wie sich dies in der Praxis effektiv durchsetzen lassen wird. Hierzu werden die Gerichte noch Wege aufzeigen müssen.

2. § 19 Abs. 1 Satz 1 des Manteltarifvertrages Nr. 5a für das Cockpitpersonal bei Lufthansa (Rz. 10) 34

Die Regelung des § 19 Abs. 1 Satz 1 des MantelTVes Nr. 5a für das Cockpitpersonal bei Lufthansa stellt ein Beispiel für eine tarifliche Altersgrenze dar, die unterhalb der gesetzlichen Regelrentenaltersgrenze liegt. Hiernach endet für Piloten das Arbeitsverhältnis automatisch und ohne dass es einer Kündigung bedarf bereits mit Vollendung des 60. Lebensjahres. Vergleichbare Klauseln lassen sich auch in den TVen vieler anderer Fluggesellschaften finden.

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Da das gesetzliche Renteneintrittsalter in diesen Fällen zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch nicht erreicht ist und es damit an dem für die Rechtsprechung maßgeblichen Kriterium der wirtschaftlichen Absicherung fehlt, ist ein strengerer Prüfungsmaßstab anzulegen. Dennoch haben sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch die Arbeitsgerichte in der Vergangenheit immer wieder anerkannt, dass auch unterhalb des gesetzlichen Rentenalters liegende tarifliche Altersgrenzen durch einen sachlichen Grund nach § 14 Abs. 1 Satz 1 TzBfG gerechtfertigt sein können2. Die Einschätzungsprärogative der TV-Parteien soll erst dann überschritten sein, wenn es für die tarifvertragliche Altersgrenze keine nachvollziehbaren Gründe gibt. Bislang wurde 1 EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-45/09, DB 2010, 2339 – Rosenbladt. 2 Vgl. z.B. BVerfG v. 25.11.2004 – 1 BvR 2459/04, BB 2005, 1231; BAG v. 25.2.1998 – 7 AZR 641/96, NZA 1998, 715; BAG v. 27.11.2002 – 7 AZR 414/01, NZA 2003, 812; BAG v. 21.7.2004 – 7 AZR 589/03, ZTR 2005, 255; LAG Hessen v. 15.10.2007 – 17 Sa 809/07.

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Altersgrenzen

Rz. 38 Teil 5 (1)

in der Flugsicherheit regelmäßig ein nachvollziehbarer Grund gesehen. Das BAG verwies hierzu auf die überdurchschnittlichen physischen und psychischen Belastungen, denen Piloten ausgesetzt sind. Altersbedingter Verschleiß und Abbau könnten nur sehr begrenzt durch Routine und Erfahrung ausgeglichen werden. Zwar sei zu berücksichtigen, dass eine verminderte Leistungsfähigkeit nicht allein vom Lebensalter abhänge und sich insbesondere von Person zu Person ganz unterschiedlich einstelle. Mit erhöhtem Lebensalter würden altersbedingte Folgen jedoch deutlich wahrscheinlicher. Hinzu komme, dass das Versagen eines Piloten immer gleich das Leben zahlreicher Menschen in Gefahr bringt. Dies und das gesteigerte Risiko altersbedingter Ausfallerscheinungen rechtfertigten es, von der Zulässigkeit vorzeitiger starrer Altersgrenzen für Piloten auszugehen1. Im Gegensatz hierzu hielt das BAG eine tarifvertragliche Regelung, die Arbeitsverhältnisse des Kabinenpersonals einer Fluggesellschaft mit Vollendung des 55. Lebensjahres automatisch für beendet erklärte, für unwirksam2. Entscheidend für die unterschiedliche Bewertung sei, dass die Flugsicherheit bei Kabinenpersonal durch altersbedingte Ausfallerscheinungen nicht in dem gleichen Maße beeinträchtigt würde wie bei Piloten. Durch die für das Kabinenpersonal regelmäßig zu durchlaufenden ärztlichen Untersuchungen auf Flugtauglichkeit werde die Flugsicherheit hinreichend gewahrt.

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Zuletzt hatte sich das BAG – nunmehr nach Inkrafttreten des AGG – mit der tarifvertraglichen Altersgrenzenregelung des § 19 Abs. 1 Satz 1 des MantelTVes Nr. 5a für Lufthansa-Piloten zu befassen3. Die Arbeitsrichter stellten zunächst die Anwendbarkeit der Vorschriften des AGG auf den Rechtsstreit fest. Hervorzuheben ist, dass dieser Annahme nach Ansicht des Gerichts auch nicht entgegensteht, dass § 19 Abs. 1 Satz 1 des MantelTVes Nr. 5a der Lufthansa bereits vor Inkrafttreten des AGG vereinbart wurde. Entscheidend sei allein, dass die Altersgrenze im Einzelfall erst nach Inkrafttreten des AGG erreicht werde. Weiterhin wies das BAG in Anlehnung an die Rechsprechung des EuGH darauf hin, dass das AGG als nationale Umsetzung der Richtlinie 2000/78/EG grundsätzlich unionsrechtskonform im Lichte der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie auszulegen ist. In diesem Zusammenhang hat das BAG den EuGH um Vorabentscheidung über die Frage ersucht, ob das Gemeinschaftsrecht Regelungen des nationalen Rechts entgegensteht, die eine auf Gründen der Gewährleistung der Flugsicherheit beruhende tarifliche Altersgrenzenregelung von 60 Jahren für Piloten anerkennen. Dabei hat es in dem Vorlagebeschluss besonders die Tarifautonomie der Vertragsparteien hervorgehoben.

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Der EuGH hat den Aspekt der Tarifautonomie nicht gelten lassen. Er hat vielmehr entschieden, dass eine tarifvertragliche Altersgrenze, nach der Piloten ihrer beruflichen Tätigkeit mit Vollendung des 60. Lebensjahres nicht mehr

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1 Vgl. BAG v. 12.2.1992 – 7 AZR 100/91, NZA 1993, 998. 2 BAG v. 31.7.2002 – 7 AZR 140/01, NZA 2002, 1155; vgl. hierzu auch BAG v. 19.10.2011 – 7 AZR 253/07, BB 2011, 2739. 3 BAG v. 18.1.2012 – 7 AZR 112/08, DB 2012, 981.

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Teil 5 (1) Rz. 39

Altersgrenzen

nachgehen dürfen, eine unmittelbare Ungleichbehandlung wegen des Alters darstelle und damit gegen das allgemeine gemeinschaftsrechtliche Verbot der Diskriminierung wegen des Alters verstoße1. Der Gerichtshof begründete seinen Standpunkt insbesondere mit den existierenden nationalen und internationalen Lizenzvorschriften, die eine Pilotentätigkeit im doppelt besetzten (Co-) Pilotencockpit bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres erlauben, soweit der Besatzung ein (Co-) Pilot angehört, der das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Eine hiervon abweichende tarifvertragliche Regelung sei für den Schutz der öffentlichen Sicherheit und der Gesundheit nicht notwendig. 39

Angesichts dieser Ausführungen sah sich das BAG ungeachtet seiner jahrzehntelangen Rechtsprechung zu einem Richtungswandel gezwungen und hat dem EuGH folgend § 19 Abs. 1 Satz 1 des MantelTVes Nr. 5a der Lufthansa für unwirksam erklärt2. Aufgrund der nationalen und internationalen Vorschriften fehle es an der Notwendigkeit tarifvertraglicher Regelungen, die die Ausübung des Pilotenberufs bereits mit Vollendung des 60. Lebensjahres untersagen. Weiterhin könne eine Rechtfertigung der Diskriminierung auch nicht über § 8 Abs. 1 AGG erfolgen. Zwar sei anzuerkennen, dass für Piloten besondere körperliche Fähigkeiten als wesentliche und entscheidende Anforderungen im Sinne des § 8 Abs. 1 AGG gelten. Es fehle aber letztlich an belastbaren Hinweisen dafür, dass die zurzeit existierenden öffentlich-rechtlichen Beschränkungen für die Sicherheit des Luftverkehrs nicht ausreichend seien, weswegen es an der Notwendigkeit strengerer tarifvertraglicher Beschränkungen fehle.

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Nicht zuletzt kommt nach Auffassung des BAG auch eine Rechtfertigung nach § 10 Satz 1 und 2 AGG nicht in Betracht. Die Vorschrift setze Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG um und müsse richtlinienkonform so ausgelegt werden, dass die Flugsicherheit kein „legitimes“ Ziel im Sinne des § 10 Satz 1 AGG sei. Als legitime Ziele kämen stattdessen nur Ziele sozialpolitischer Art, wie aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt oder berufliche Bildung, in Betracht.

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Nach den dargestellten Entscheidungen von EuGH und BAG dürfte für die Zukunft die Unwirksamkeit von auf das 60. Lebensjahr bezogenen tariflichen Altersgrenzen für Piloten feststehen, soweit die Altersbegrenzung allein auf Gründe der Flugsicherheit gestützt wird3. Es gibt bereits jetzt zwei Folgeentscheidungen des BAG, in denen das Gericht die ebenfalls auf das 60. Lebensjahr abstellende Regelung im MantelTV Nr. 1 für das Cockpitpersonal der Condor und Condor Berlin vom 1.1.2005 jeweils für unwirksam erklärte4. Als neue besondere Altersgrenze für Piloten gilt damit die Vollendung des 65. Lebensjahres, sofern die sich aus den nationalen und internationalen Lizenzvorschriften ergebenen Einschränkungen berücksichtigt werden. Die TV-Parteien sind 1 EuGH v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09, NZA 2011, 1039 – Prigge. 2 BAG v. 18.1.2012 – 7 AZR 112/08, DB 2012, 981. 3 Beachte: In der Literatur wird eine Übertragung der für das Cockpitpersonal aufgestellten Rechtsprechungsgrundsätze auf andere Arbeitnehmergruppen wie z.B. Chirurgen diskutiert, vgl. ErfK/Müller-Glöge, § 14 TzBfG Rz. 57. 4 BAG v. 18.1.2012 – 7 AZR 211/09, EzA-SD 2012, Nr. 9, 15; BAG v. 15.2.2012 – 7 AZR 946/07, BB 2012, 1280.

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Hexel

Altersgrenzen

Rz. 43 Teil 5 (1)

gehalten, die bestehenden TVe entsprechend anzupassen1. Bis dahin kann Piloten mit Vollendung des 65. Lebensjahres jedenfalls personenbedingt gekündigt werden2. Darüber hinaus wird sich die Praxis generell auf eine restriktive Handhabung von vorzeitigen tarifvertraglichen Altersgrenzen einstellen müssen3. Eine Ungleichbehandlung aufgrund des Alters wird sich allenfalls durch die Erreichung sozialpolitischer Ziele aus den Bereichen des Arbeitsmarktes, der Beschäftigungspolitik und der beruflichen Bildung rechtfertigen lassen. An dieser Stelle sind noch viele Fragen ungeklärt, wie beispielsweise die Bestimmung der Reichweite der vorgenannten Ziele. Ebenfalls offen ist die Frage, wie zukünftig mit der Einschätzungsprärogative der TV-Parteien umzugehen ist. Feststehen dürfte, dass wann immer eine tarifvertragliche Regelung in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, eine strengere als die bislang durch das BAG etablierte Kontrolle nach der Maßgabe des Unionsrechts stattzufinden hat4. Eine weitere Erkenntnis könnte darin bestehen, dass sich tarifliche Regelungen zu Altersgrenzen zukünftig stärker an dem orientieren sollten, was für den Gesetzgeber oder andere fremdbestimmte Normgeber gilt5.

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Letzteres wird auch aus einem Beschluss des BAG aus dem Jahr 2010 deutlich, mit dem erstmalig die Wirksamkeit einer tarifvertraglich vereinbarten Einstellungshöchstaltersgrenze für Piloten in Frage gestellt wurde6. Konkret ging es hier um eine Tarifnorm, die für ein Luftfahrtunternehmen das Höchstalter für die Einstellung von in anderen Luftfahrtunternehmen ausgebildeten Piloten auf 32 Jahre und 364 Tage vorsieht. Das nationale und internationale Luftsicherheitsrecht sieht neben der allgemeinen Altershöchstgrenze für Piloten keine Altersgrenzen für den Wechsel von Piloten zwischen verschiedenen Fluggesellschaften vor. Das BAG hielt die Regelung nicht zuletzt auch deswegen für unwirksam. Zudem sei es nicht mit höherrangigem Recht vereinbar. Die Regelung greife unverhältnismäßig in die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Freiheit der Berufswahl älterer Bewerber ein, weil es sich bei der zur Einstellungsvoraussetzung erklärten Altersgrenze nicht um eine vom Bewerber beeinflussbare Qualifikation handele. Darüber hinaus verstoße die Regelung gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG und das Verbot der Altersdiskriminierung in § 7 Abs. 1 AGG. Piloten nähmen ihre berufliche Tätigkeit frühestens mit 21 Jahren auf und könnten diese bei normalem Verlauf mindestens bis zum 60., wenn nicht sogar bis zum 65. Lebensjahr ausüben. Die Unverhältnismäßigkeit ergibt sich nach Ansicht des Gerichts daraus, dass dem Piloten damit bereits nach etwa einem Viertel seiner insgesamt möglichen Be-

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1 Zu der Frage, wie die TV-Parteien auf die sich in den nächsten Jahren auftuende Schere zwischen der besonderen Altersgrenze für Piloten und der Regelaltersgrenze reagieren, vgl. Temming, EuZA 2012, 205 (216). 2 BAG v. 31.1.1996 – 2 AZR 68/95, DB 1996, 1629. 3 Däubler/Hensche/Heuschmid, § 1 TVG Rz. 718. 4 Der EuGH verlangt eine Rechtskontrolle der Tarifnorm am höherrangigen Recht, EuGH v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09, NZA 2011, 1039 – Prigge. 5 Temming, EuZA 2012, 205 (214). 6 BAG v. 8.12.2010 – 7 ABR 98/09, NZA 2011, 751.

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Teil 5 (2) Rz. 44

Annahmeverzug/Betriebsrisiko

rufstätigkeit ein Wechsel zu einem anderen Arbeitgeber unmöglich gemacht würde. 44

Es bleibt abzuwarten, ob diese Rechtsprechung auch auf die Einstellungshöchstaltersgrenzen anderer Fluggesellschaften1 oder anderer Berufsgruppen übertragen wird. Der EuGH hat beispielsweise noch im Jahr 2010 eine Regelung der hessischen Feuerwehrlaufbahnverordnung, nach der die Einstellung in den mittleren feuerwehrtechnischen Dienst nur bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres zulässig ist, für zulässig erachtet2. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass dieses Urteil zeitlich vor den oben dargestellten richtungweisenden Entscheidungen (Rosenbladt und Prigge) erging.

(2) Annahmeverzug/Betriebsrisiko Literatur: Luke, § 615 S. 3 BGB – Neuregelung des Betriebsrisikos?, NZA 2004, 244.

I. Zweck und Kontext 1

Bei der Erbringung der Arbeitsleistung handelt es sich um eine absolute Fixschuld. Sie kann grundsätzlich nicht nachgeholt werden. Dementsprechend wird grundsätzlich mit Zeitablauf die Erbringung der Arbeitsleistung unmöglich3. Rechtsfolge ist nach § 326 Abs. 1 Satz 1 BGB i.V.m. § 275 Abs. 1 BGB, dass der Entgeltanspruch des Arbeitnehmers entfällt, wenn der Anspruch nicht aufgrund anderer Vorschriften oder Vereinbarungen aufrecht erhalten bleibt. Eine solche Abweichung sieht § 615 Satz 1 BGB vor4. Nach der Rechtsprechung des BAG besteht im Falle der Annahmeunwilligkeit des Arbeitgebers ein Anspruch auf Annahmeverzugslohn5. Hingegen soll in Fällen der Annahmeunmöglichkeit des Arbeitgebers kein Anspruch des Arbeitnehmers auf Gewährung von Annahmeverzugslohn bestehen6. Abweichend hiervon sieht § 615 Satz 3 BGB vor, dass in Fällen des Betriebsrisikos, also in Fällen, in denen Betriebsstörungen auftreten, die weder der Arbeitgeber noch der Arbeitnehmer zu vertreten haben, der Arbeitgeber das Risiko des Ausfalls alleine trägt.

2

In einer Vielzahl von TVen finden sich Regelungen zum Arbeitsausfall; insbesondere solche, die das Betriebsrisiko regeln. Damit wird branchenspezifischen Besonderheiten, so etwa dem Materialmangel auf Baustellen, Rechnung getragen. Teilweise wird aber auch die Risikoverteilung, die sich nach § 615 Satz 3 BGB ergibt, abweichend vom Gesetz festgelegt. Dies betrifft ins1 Nach Ansicht von Temming müsse sich der Umstand, dass Piloten künftig fünf Jahre länger arbeiten müssen, auf die Rechtmäßigkeit von Einstellungshöchstaltersgrenzen auswirken, Temming, EuZA 2012, 205 (216). 2 EuGH v. 12.1.2010 – Rs. C-229/08, NVwZ 2010, 244 – Wolf. 3 BAG v. 24.11.1960 – 5 AZR 545/59, NJW 1961, 381 (382). 4 ErfK/Preis § 615 BGB Rz. 1. 5 BAG v. 24.11.1960 – 5 AZR 545/59, NJW 1961, 381 (382). 6 Zur abweichenden h.L. vgl. ErfK/Preis § 615 BGB Rz. 4 ff., insb. 7.

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Hexel/Ulber

Annahmeverzug/Betriebsrisiko

Rz. 5 Teil 5 (2)

besondere Regelungen, die eine Nachholung der nicht erbrachten Arbeitsleistung zulassen und so den Eintritt der Unmöglichkeit durch Zeitablauf hindern. Unter das Betriebsrisiko fallen auch Regelungen zum Arbeitsausfall bei Schlechtwetter (vgl. dazu fi (18) Schlechtwetterklauseln, Rz. 7). Teilweise wird auch das Wegerisiko tarifvertraglich geregelt. Die tarifvertraglichen Regelungen zum Annahmeverzug haben sich im Zuge einer zunehmenden Flexibilisierung der Regelungen zur Arbeitszeit in TVen (vgl. dazu fi (5) Arbeitszeit, Rz. 2 ff.) in ihrer Bedeutung gewandelt und tendenziell an Relevanz verloren. Anders ist dies im Falle des Betriebsrisikos. Hier wird in TVen nach wie vor häufig von der gesetzlichen Risikoverteilung des § 615 Satz 3 BGB abgewichen oder diese einer gesonderten Regelung zugeführt. Teilweise wird in TVen festgeschrieben, dass nur die tatsächlich erbrachte Arbeitsleistung zu vergüten ist, soweit der TV nicht Abweichendes vorsieht. Die Reichweite solcher Regelungen wird, ungeachtet tarifvertraglicher Einschränkungen, bereits durch das zwingende Gesetzesrecht beschränkt. Regelmäßig beinhalten solche TV einen Katalog von Einschränkungen. Ob dieser abschließend sein soll, ist eine Frage der Auslegung im Einzelfall. In der Regel finden sich aber auch in solchen TVen Regelungen zum Betriebsrisiko.

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Sowohl § 615 Satz 1 BGB als auch § 615 Satz 3 BGB und die Grundsätze der Betriebsrisikolehre sind dispositiv1. Sie sind daher abweichenden tarifvertraglichen Regelungen grundsätzlich zugänglich. Die TV-Parteien müssen abweichende Regelungen aber hinreichend deutlich und klar abfassen. Insbesondere muss den Vorschriften eindeutig der Wille zur vom Gesetz abweichenden Risikoverteilung zu entnehmen sein2. Es gelten die allgemeinen Auslegungsgrundsätze für Tarifverträge. Sieht ein TV vor, dass „nur geleistete Arbeit“ bezahlt wird, so ist eine Auslegung erforderlich, ob dies nur Fälle des § 616 BGB, also der vorübergehenden Verhinderung an der Arbeitsleistung aus persönlichen Gründen, oder auch solche des Annahmeverzuges und insbesondere des Betriebsrisikos erfassen soll. Im Zweifelsfall ist davon auszugehen, dass nur der Vergütungsanspruch nach § 616 BGB erfasst werden soll3 (vgl. dazu fi (4) Arbeitsverhinderung, Rz. 3 ff.).

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II. Beispiele § 13 MTV ERA Metall- und Elektroindustrie Südwürttemberg-Hohenzollern – Arbeitsausfall, Arbeitsverhinderung, Unterstützung bei Todesfall, Wiedereinstellung nach Zeiten der Kindererziehung Soweit dieser Manteltarifvertrag oder ein Gesetz nichts anderes bestimmen, gelten von dem Grundsatz, dass nur geleistete Arbeit einschließlich Arbeitsbereitschaft bezahlt wird, folgende Ausnahmen: 1 BAG v. 5.9.2002 – 8 AZR 702/01, NZA 2003, 973 (975); BAG v. 9.3.1983 – 4 AZR 301/80, DB 1983, 1496; BAG v. 4.7.1958 – 1 AZR 559/57, AP Nr. 5 zu § 615 Betriebsrisiko. 2 BAG v. 4.7.1958 – 1 AZR 559/57, AP Nr. 5 zu § 615 Betriebsrisiko. 3 BAG v. 9.3.1983 – 4 AZR 301/80, DB 1983, 1496.

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Teil 5 (2) Rz. 6

Annahmeverzug/Betriebsrisiko

13.1 Arbeitsausfall 13.1.1 Bei einer Betriebsstörung, die der Arbeitgeber zu vertreten hat, wird der durchschnittliche Arbeitsverdienst weiterbezahlt. Während dieser Betriebsstörung sind die Beschäftigten verpflichtet, eine andere zumutbare Arbeit zu verrichten. 13.1.2 Bei einer Betriebsstörung, die weder der Arbeitgeber noch die Beschäftigten zu vertreten haben, wird der Arbeitsverdienst, soweit kein Anspruch auf Ausgleich aus öffentlichen Mitteln besteht, bis zu 5 Stunden in der Woche weiterbezahlt. Während dieser Betriebsstörung sind die Beschäftigten verpflichtet, andere zumutbare Arbeit zu verrichten. Ist dies nicht möglich, kann die ausgefallene Arbeitszeit unbeschadet der Entgeltzahlungspflicht bis zu 5 Stunden in der Woche ohne Mehrarbeitszuschlag im Rahmen der arbeitszeitrechtlichen Bestimmungen nachgearbeitet werden. Bei Ausfallzeiten über 5 Stunden ist das Entgelt in jedem Falle bis zu dem Zeitpunkt zu bezahlen, an welchem den Beschäftigten freigestellt wird, die Arbeitsstelle zu verlassen. (…) 6

§ 8 MTV Chemie West (…) II. Höhere Gewalt Außerdem erleidet der Arbeitnehmer bis zur Dauer eines Tages keinen Nachteil für das Versäumnis der Arbeitszeit, das dadurch eintritt, dass er wegen höherer Gewalt trotz zumutbarer eigener Bemühung seinen Arbeitsplatz nicht oder nicht rechtzeitig erreicht hat; entstehen hierbei Härten, so kann in besonderen Fällen eine weitergehende Einzelregelung getroffen werden.

III. Kommentierung 1. § 13 MTV ERA Metall- und Elektroindustrie Südwürttemberg-Hohenzollern (Rz. 5) 7

§ 13 MTV ERA Metall- und Elektroindustrie Südwürttemberg-Hohenzollern (MTV ERA) geht vom Grundsatz aus, dass nur geleistete Arbeit einschließlich Arbeitsbereitschaft bezahlt wird. Die Vorschrift erfasst nicht nur Fälle der vorübergehenden Arbeitsverhinderung, sondern auch solche des Betriebsrisikos. Dies ergibt sich aus der in § 13.1. MTV ERA vorgesehenen Regelung zum Arbeitsausfall, die ausdrücklich den Fall der Betriebsstörung regelt. Die Vorschrift bringt damit hinreichend bestimmt und transparent zum Ausdruck, dass eine eigenständige Regelung erwünscht ist und unterscheidet dabei zwei Fallgruppen: Den Fall der vom Arbeitgeber zu vertretenden Betriebsstörung (§ 13.1.1 MTV ERA) und den der beiderseits nicht zu vertretenden Betriebsstörung (§ 13.1.2. MTV ERA).

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§ 13.1.1 MTV ERA sieht vor, dass bei einer vom Arbeitgeber zu vertretenden Betriebsstörung der durchschnittliche Arbeitsverdienst weiter zu bezahlen ist. Dementsprechend ist im Wege der Rückschau der durchschnittliche Stunden318

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Annahmeverzug/Betriebsrisiko

Rz. 10 Teil 5 (2)

lohn zu ermitteln und ungeachtet des hypothetischen Verlaufs der ausgefallenen Arbeitsstunden zu zahlen. Die Zahlungspflicht ist zeitlich nicht beschränkt (anders im Falle der beiderseits nicht zu vertretenden Betriebsstörung, s.u. Rz. 11). Der Arbeitnehmer ist nicht zur Nachleistung der Arbeit verpflichtet. Die Vorschrift greift in allen Fällen, in denen der Arbeitgeber die Betriebsstörung zu vertreten hat. Fraglich ist, ob § 13.1.1. MTV ERA alle Fälle des Betriebsrisikos erfasst. Dafür spricht die ständige Rechtsprechung des BAG zu vergleichbaren Vorschriften1. Das BAG stützt sich in dieser darauf, dass der TV an den Begriff des Vetretenmüssens und nicht an den des Verschuldens anknüpft. Dementsprechend seien auch die Fälle erfasst, in denen der Arbeitgeber den Arbeitsausfall unabhängig von einem eigenen Verschulden zu vertreten hat. Dies betreffe sämtliche Fälle des Betriebsrisikos und stehe nicht im Widerspruch dazu, dass der TV eine Regelung des beiderseits nicht zu vertretenden Arbeitsausfalls vorsehe. Diese beziehe sich auf Fälle der sogenannten objektiven Leistungshindernisse im außerbetrieblichen Bereich, so z.B. allgemeine Verkehrssperren, den Verkehrsfluss behindernde Demonstrationen, den Ausfall öffentlicher Verkehrsmittel, ferner Naturereignisse wie Hochwasser, Schneeverwehungen und Eisglätte, die den Arbeitnehmer daran hindern, seinen Arbeitsplatz zu erreichen. Es stellt sich die Frage, ob diese Rechtsprechung auf § 13.1.1. MTV ERA übertragen werden kann. Zweifel könnten sich daraus ergeben, dass § 13.1.1. MTV ERA nicht daran anknüpft, dass der „Arbeitsausfall“ zu vertreten ist, sondern sich auf die Betriebsstörung bezieht. Durchschlagender scheint der Einwand zu sein, dass die TV-Parteien in § 13.1.2. MTV ERA offenbar davon ausgehen, dass dieser auch in Fällen greift, in denen der Arbeitsplatz erreicht werden kann. Insofern kann er sich nicht alleine auf Fälle der objektiven Leistungshindernisse beziehen. Dies könnte es – wenn man nicht darauf abstellt, dass im Zweifel die TV-Parteien keine Abweichung von den Grundsätzen der Betriebsrisikolehre vereinbaren wollen2 – nahe legen, jedenfalls Fälle höherer Gewalt nicht unter § 13.1.1. MTV ERA fallen zu lassen. Dann wäre entscheidend, ob die Betriebsstörung auf Umständen basiert, die so beschaffen waren, dass der Arbeitgeber keine zumutbaren Vorkehrungen treffen konnte oder musste. Auch bei dieser Betrachtungsweise würde der Anwendungsbereich des § 13.1.1. MTV ERA aber sehr weit bleiben. Gleichwohl scheint im Lichte der Rechtsprechung des BAG3 die Sichtweise vorzugswürdig, sämtliche Fälle des Betriebsrisikos unter die Vorschrift zu fassen.

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Soweit während der Betriebsstörung noch andere zumutbare Tätigkeiten ausgeführt werden können, sind die Arbeitnehmer verpflichtet, diese auszuführen. Unzumutbar ist eine Tätigkeit jedenfalls dann, wenn die Betriebsstörung zu Arbeitsbedingungen führt, bei denen kraft Gesetzes eine Beschäftigung unzulässig ist, insbesondere wegen Verstoßes gegen das Arbeitsschutzrecht. Im Übrigen ist die Unzumutbarkeit anhand der Umstände des Einzelfalles zu beurteilen, wobei der Arbeitgeber die allgemeinen Schranken des Direktionsrechts (§ 106 Satz 1

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1 BAG v. 9.3.1982 – 4 AZR 301/80, DB 1983, 1496; BAG v. 13.11.1974 – 4 AZR 106/74, DB 1975, 648 (649 f.); BAG v. 4.7.1958 – 1 AZR 559/57, AP Nr. 5 zu § 615 Betriebsrisiko. 2 BAG v. 4.7.1958 – 1 AZR 559/57, AP Nr. 5 zu § 615 Betriebsrisiko. 3 BAG v. 13.11.1974 – 4 AZR 106/74, DB 1975, 648 (650).

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Teil 5 (2) Rz. 11

Annahmeverzug/Betriebsrisiko

GewO) zu beachten hat. Da der TV auch eine Beschäftigung mit „anderen Arbeiten“ zulässt, wird auch eine Beschäftigung mit Tätigkeiten, die nach dem Arbeitsvertrag nicht geschuldet sind, nicht von vornherein unzulässig sein. Die Zuweisung der Tätigkeit muss aber ungeachtet dessen billigem Ermessen entsprechen. Weigert sich ein Arbeitnehmer, eine zumutbare andere Arbeit auszuführen, so stellt dies nicht nur eine Pflichtverletzung dar, sondern lässt auch den Anspruch auf Entgeltzahlung nach § 13.1.1. MTV ERA entfallen. 11

Nach § 13.1.2. MTV ERA wird die Verpflichtung des Arbeitgebers, das Entgelt weiter zu zahlen, im Falle eines Betriebsausfalls, den weder der Arbeitgeber noch die Beschäftigten zu vertreten haben (zur Abgrenzung zu § 13.1.1. MTV ERA vgl. Rz. 9), eingeschränkt.

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In diesen Fällen wird zwar der Arbeitsverdienst weiterbezahlt. Dieser Anspruch ist aber beschränkt auf fünf Stunden in der Woche. Eine hierüber hinausgehende Vergütung erhalten die Arbeitnehmer nach § 13.1.2. Satz 4 MTV ERA nur dann, wenn der Arbeitgeber veranlasst, dass diese länger als fünf Stunden auf der Arbeitsstätte bleiben. In diesem Falle endet die Vergütungspflicht erst zu dem Zeitpunkt, zu dem den Arbeitnehmern gestattet wird, die Arbeitsstätte zu verlassen. Ergänzt wird diese Vorschrift durch die Möglichkeit zur Nacharbeit.

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§ 13.1.2. Satz 2 MTV ERA sieht gleichermaßen wie § 13.1.1. Satz 2 MTV ERA eine Verpflichtung zur Ausführung von anderen Tätigkeiten vor (vgl. dazu Rz. 5). Abweichend von § 13.1.1. MTV ERA kann die Arbeitsleistung nach der fünften Ausfallstunde oder, sofern die Arbeitnehmer länger als fünf Stunden auf der Arbeitsstätte waren, mit dem Zeitpunkt, zu dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmern gestattet, die Arbeitsstätte zu verlassen, nachgeholt werden, sofern die Ausführung von anderen Tätigkeiten nicht möglich ist. Die vorher liegende Zeit muss nicht nachgearbeitet werden und ist in jedem Fall zu vergüten. Da es sich um eine „kann“-Vorschrift handelt, muss der Arbeitgeber nicht nacharbeiten lassen. Ist die Ausführung anderer Tätigkeiten möglich und beschäftigt der Arbeitgeber die Arbeitnehmer gleichwohl nicht mit diesen, so besteht keine Verpflichtung der Arbeitnehmer zur Nacharbeit. Nach dem Wortlaut der Vorschrift soll die Nachholung der Arbeitsleistung nur in Fällen verlangt werden können, in denen die Ausführung alternativer Tätigkeiten nicht möglich ist und damit die Arbeitsleistung insgesamt – mangels alternativer Beschäftigungsmöglichkeiten – nicht erbracht wird.

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Arbeitsverdienst im Sinne des § 13.1.2 MTV BRA ist trotz des abweichenden Wortlauts der durchschnittliche Arbeitsverdienst im Sinne von § 13.1.1. MTV ERA. Die Vorschrift dient erkennbar nur dazu, eine abweichende Risikoverteilung in Fällen vorzunehmen, in denen beiderseits die Betriebsstörung nicht zu vertreten ist. Dazu ist eine abweichende Berechnung des Arbeitsverdienstes nicht erforderlich. Die Formulierung „bis zu“ ist nicht so zu verstehen, dass auch weniger Stunden vergütet werden könnten. Wird nachgearbeitet, so fällt für diese Stunden kein Mehrarbeitszuschlag an.

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Rz. 1 Teil 5 (3)

Arbeitsentgelt

2. § 8 Abs. 2 MTV Chemie West (Rz. 6) § 8 Abs. 2 MTV Chemie West sieht eine Sonderregelung für das Wegerisiko vor. Grundsätzlich trägt der Arbeitnehmer das Risiko, dass Umstände eintreten, die ihn daran hindern, an seinen Arbeitsplatz als Erfüllungsort zu gelangen1. Dies gilt zwar nur dann, wenn der Betrieb nicht ohnehin wegen der Verwirklichung des Betriebsrisikos stillsteht2, gleichwohl bleiben hierfür eine Vielzahl von Fallkonstellationen.

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§ 8 Abs. 2 MTV Chemie West greift nur ein, wenn sich das Wegerisiko aufgrund höherer Gewalt realisiert. Sind die Straßen vereist und der Arbeitnehmer kann deswegen seinen Arbeitsplatz überhaupt nicht oder nur verspätet erreichen, greift die Vorschrift ein. Der Arbeitnehmer muss aber nachgewiesen haben, dass er alle ihm zumutbaren Möglichkeiten ausgeschöpft hat, um die Arbeitsstätte zu erreichen. Er muss daher sowohl andere Verkehrsmittel nutzen, als auch übliche Verzögerungen wegen der Witterungsverhältnisse in Kauf nehmen. Sicherheitsrisiken für die eigene Person muss er keinesfalls in Kauf nehmen.

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Der Anspruch auf die Entgeltzahlung wird für maximal einen Tag aufrecht erhalten. Bei länger andauernden Schwierigkeiten trägt der Arbeitnehmer das Risiko, den Arbeitsplatz nicht zu erreichen. Hiervon besteht nur dann eine Ausnahme, wenn hierdurch besondere Härten beim Arbeitnehmer entstehen. In diesem Fall kann eine Einzelfallregelung mit dem Arbeitgeber getroffen werden. Der Arbeitgeber hat hierüber nach billigem Ermessen zu entscheiden.

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(3) Arbeitsentgelt I. Zweck und Kontext Die überragende Bedeutung des Arbeitsentgelts ergibt sich bereits in soziologischer Hinsicht daraus, dass es die maßgebliche Lebensgrundlage aller abhängig Beschäftigten darstellt. Rechtlich trägt dieser Bedeutung § 611 BGB Rechnung, der die zentrale Bestimmung des Dienstvertragsrechts bildet. Nach § 611 BGB stellt die Entgeltzahlung die Hauptleistungspflicht des Arbeitgebers dar. Sie steht im Synallagma zur Arbeitspflicht des Arbeitnehmers. Aus dem Prinzip „Geld gegen Arbeit“ folgt zwangsläufig die Frage nach dem richtigen, dem „gerechten“ Lohn. Der Streit um den gerechten Lohn ist so alt wie die Gewerkschaften selbst. Entsprechend dieser Bedeutung machen die Regelungen zum Arbeitsentgelt das „Herzstück“ eines jeden TVes aus. Dabei handelt es sich – jedenfalls bei neueren TVen – überwiegend gar nicht mehr um Regelungen innerhalb eines TVes, sondern die Komplexität der Entgelt- und Bezahlungsstrukturen macht selbständige TVe hierfür notwendig. Tendenziell werden EntgeltrahmenTVe (ERTV, ERA) abgeschlossen, in denen die Strukturen der 1 MünchKomm/Henssler, § 615 BGB Rz. 34. 2 ErfK/Preis, § 615 BGB Rz. 134; a.A. MünchKomm/Henssler § 615 BGB Rz. 34.

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Teil 5 (3) Rz. 2

Arbeitsentgelt

Entgeltsystematik verankert sind, wie etwa Aufbau und Zusammensetzung des Entgelts (ggf. fixer und variabler Anteil), Grundregeln der Eingruppierung, ggf. Regeln zur Überprüfung der Eingruppierung, Vorschriften über die Berechnung und Auszahlung des Entgelts, über die Behandlung von Ausfallzeiten, Regelungen für vorübergehende höherwertige Beschäftigung, über Zulagen, über innerbetriebliche Bewertungsverfahren und Vereinbarungen zu den einzelnen Entgeltgruppen (Entgeltgruppenverzeichnis/Entgeltgruppenkatalog) sowie ggf. Regelungen zum leistungsabhängigen Anteil des Entgelts (Leistungsbeurteilung/Zielvereinbarung). Daneben wird für die Höhe des Entgelts in den jeweiligen Entgeltgruppen der eigentliche EntgeltTV abgeschlossen. Der EntgeltrahmenTV wird regelmäßig unbefristet abgeschlossen und ist auch ohne besondere Regelungen entsprechend § 77 Abs. 5 BetrVG mit dreimonatiger Frist kündbar (so überwiegend auch in den ERTV verankert)1. Der EntgeltTV wird zwar auch formal unbefristet abgeschlossen, wobei allerdings die erstmalige Kündigungsmöglichkeit der in der jeweiligen Tarifrunde vereinbarten Laufzeit entspricht. Die Kündigungsfrist beträgt meistens einen Monat. Während der Laufzeit des EntgeltTVes besteht relative Friedenspflicht, d.h. Arbeitskämpfe zur Entgelterhöhung sind in dieser Zeit ausgeschlossen. Die Gewerkschaften machen jeweils von der ersten Kündigungsmöglichkeit Gebrauch, um dann mit dem Druckpotential der Streikmöglichkeit nach Ablauf des EntgeltTVes und damit der Friedenspflicht die Verhandlungen über Lohnerhöhungen mit den Arbeitgebern bzw. Arbeitgeberverbänden aufzunehmen.

II. Beispiele 2

Beispiel Entgeltrahmentarifvertrag (ERTV): Bundesentgelttarifvertrag (Entgeltrahmentarifvertrag) Chemie (Auszug) I. Geltungsbereich §1 Räumlicher, persönlicher und fachlicher Geltungsbereich Der Tarifvertrag gilt für den räumlichen, persönlichen und fachlichen Geltungsbereich des Manteltarifvertrages für die chemische Industrie, jedoch nicht für Auszubildende. II. Entgeltrahmenbestimmungen §2 Öffnungsklausel Arbeitgeber und Betriebsrat können unter Berücksichtigung der tariflichen Mindestbestimmungen ergänzend zu diesem Tarifvertrag Betriebsvereinbarungen unter Beachtung des § 76 Abs. 6 BetrVG abschließen. Bis zum Inkrafttreten dieses Tarifvertrages abgeschlossene andere tarifliche Bestimmungen ergänzende Betriebsvereinbarungen gelten unabhängig von dieser Öffnungsklausel weiter und können unter Beachtung des § 76 Abs. 6 BetrVG geändert werden. 1 Zur Kündigung von TVen vgl. Teil 3 Rz. 207 ff.

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Arbeitsentgelt

Rz. 2 Teil 5 (3)

§3 Allgemeine Entgeltbestimmungen1 (…) §4 Entgeltberechnung 1. Das Entgelt wird in der Regel monatlich an einem mit dem Betriebsrat zu vereinbarenden Arbeitstag gezahlt. Bei Barzahlung darf der Arbeitnehmer am rechtzeitigen Verlassen der Arbeitsstätte nicht gehindert werden. Fällt der Zahltag auf einen Feiertag, so ist das Entgelt an dem vorhergehenden Arbeitstag auszuzahlen. 2. Durch schriftliche Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat können a) ein kürzerer Abrechungszeitraum, b) Abschlagszahlungen, c) bargeldlose Entgeltzahlung, d) Monatslohn für alle Arbeitnehmer oder Gruppen von ihnen eingeführt werden. 3. Die Ermittlung des Stundenentgelts erfolgt, indem das tarifliche Monatsentgelt durch den sich aus der Anmerkung 6 des Manteltarifvertrages für die chemische Industrie ergebenden Divisor geteilt wird. 4. Dem Arbeitnehmer ist eine Abrechnung auszuhändigen, aus der für den Abrechnungszeitraum die Errechnung des Gesamtverdienstes, die Abzüge und der Nettobetrag zu ersehen sind. 5. Der Arbeitnehmer ist zur Nachprüfung der Entgeltabrechnung bzw. der Endabrechnung verpflichtet. Ergeben sich Unstimmigkeiten, sind diese der für den Arbeitgeber abrechnenden Stelle unverzüglich mitzuteilen. 6. Teilzeitbeschäftigte erhalten ein anteiliges Entgelt im Verhältnis ihrer vereinbarten Wochenarbeitszeit zur tariflichen Wochenarbeitszeit. 7. Bei Ereignissen, die eine Erhöhung des Entgelts auslösen, tritt die Erhöhung rückwirkend ab dem 1. desjenigen Monats in Kraft, in den das Ereignis fällt. 8. Zu dem Tarifentgelt können Leistungszulagen und/oder andere Zulagen gezahlt werden. 9. Eine dem Arbeitnehmer auferlegte Schweigepflicht darf sich nicht auf seine tariflichen Ansprüche beziehen. 10. Ein Entgeltanspruch entsteht nach erfolgreich abgelegter Abschlussprüfung auch dann, wenn die Ausbildungszeit des Berufsausbildungsverhältnisses noch nicht beendet ist. Wird die Prüfung aus Gründen, die nicht in der Person des Auszubildenden liegen, erst nach dem Ablauf des vertraglichen Ausbildungsverhältnisses bestanden, so entsteht der Entgeltanspruch rückwirkend ab Ende des Ausbildungsvertrages. 1 Siehe die Kommentierung zur Klausel Eingruppierung, Teil 5 (11) Rz. 4.

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Teil 5 (3) Rz. 2

Arbeitsentgelt

§5 Vorarbeiter (…) §6 Erschwerniszulagen 1. Bei Schmutzarbeiten und anderen lästigen Arbeiten, bei denen Arbeitnehmer nachhaltigen Einwirkungen, z.B. von Rauch, Ruß, heißer Asche, Staub, Nässe, hohen Temperaturen, besonders belastendem Lärm oder besonders grellem künstlichen Licht ausgesetzt sind, oder bei Arbeiten in abgedunkelten Räumen ohne Belichtung oder mit lästigem farbigem Licht und bei Arbeiten mit Presslufthämmern erhalten Arbeitnehmer eine Erschwerniszulage. Die Höhe dieser Zulage bestimmt sich nach dem Grad der Lästigkeit, darf jedoch nicht unter 3 % des arithmetischen Durchschnitts der Tarifentgeltstundensätze der Entgeltgruppen E 1 bis E 8 (Anfangssätze bei E 5 bis E 8) betragen. 2. Wenn bei der Arbeit zur Vermeidung gesundheitsgefährdender Einwirkungen regelmäßig lästige persönliche Schutzausrüstungen, z.B. Sandstrahlhelme, Gehörschutzhelme, Staub-, Gasmasken und Frischluftgeräte oder andere Atemschutzmittel verwendet werden müssen, so beträgt der Zuschlag nicht unter 5 % des in Ziffer 1 genannten Durchschnittsbetrages. 3. Für Arbeiten, bei denen der Arbeitnehmer besonderen Gefahren ausgesetzt ist, ist von Fall zu Fall für die Dauer der besonderen Gefährdung eine betriebliche Regelung über die Höhe der Sonderzulagen zu treffen. Das gilt insbesondere für Betriebe der Sprengstoffindustrie. 4. Welche Arbeitnehmer Anspruch auf die Zulagen nach Ziffer 1 bis Ziffer 3 haben, für welche Zeit und in welcher Höhe sie zu gewähren sind, wird im Einvernehmen mit dem Betriebsrat festgelegt. 5. In gleicher Weise ist betrieblich festzulegen, für welche Arbeiten auf Kosten des Betriebes Schutzkleidung zu stellen ist. Instandsetzung und Reinigung gehen in diesen Fällen grundsätzlich zu Lasten des Betriebes. III. Entgeltgruppen §7 Entgeltgruppenkatalog1 (…) IV. Entgeltaufbau §8 Aufbau der Entgeltsätze 1. Für Arbeitnehmer der Gruppen E 1 bis E 3 vor Vollendung des 18. Lebensjahres beträgt das Tarifentgelt 85 % des in den regionalen Entgelttarifverträgen festgelegten Tarifentgelts. 1 Vgl. das Beispiel unter der Kommentierung Eingruppierung, Teil 5 (11) Rz. 5.

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Arbeitsentgelt

Rz. 3 Teil 5 (3)

2. Für die Entgeltgruppen E 5 bis E 12 gilt folgender Entgeltaufbau: a) Entgeltgruppe E 5: Anfangssatz Tarifsatz nach drei Tätigkeitsjahren in dieser Gruppe Tarifsatz nach sechs Tätigkeitsjahren in dieser Gruppe b) Entgeltgruppen E 6 bis E 12: Anfangssatz Tarifsatz nach zwei Tätigkeitsjahren in dieser Gruppe Tarifsatz nach vier Tätigkeitsjahren in dieser Gruppe Tarifsatz nach sechs Tätigkeitsjahren in dieser Gruppe (…) §9 Entgeltregelung bei Höhergruppierung Liegt bei einer Höhergruppierung in die Gruppen E 5 bis E 8 das bisherige Tarifentgelt über dem Tarifentgelt der neuen Gruppe, so erhält der höhergruppierte Arbeitnehmer so lange mindestens den bisherigen Tarifsatz in der durch die Tarifentwicklung jeweils erreichten Höhe, bis ihm infolge Zeitablaufs in der neuen Entgeltgruppe ein höherer Anspruch zusteht. Bei einer solchen Höhergruppierung werden die zurückgelegten Tätigkeitsjahre in den Gruppen E 6 und E 7 bis zu drei Jahren als Tätigkeitsjahre in der neuen Entgeltgruppe angerechnet. Bei einer Höhergruppierung in die Entgeltgruppen E 9 bis E 13 erhält der höhergruppierte Arbeitnehmer so lange den Tarifsatz der höheren Entgeltgruppe, der am nächsten über seinem bisherigen Tarifsatz liegt, bis ihm aufgrund seiner Tätigkeitsjahre in der neuen Entgeltgruppe ein höherer Tarifsatz zusteht. Die für diese Entgeltstufe geforderte zeitliche Zugehörigkeit gilt zur Hälfte als erfüllt. 3

Beispiel Leistungsentgelt (budgetiert): § 18 TVöD (Bund) Leistungsentgelt (1) Ab dem 1. Januar 2007 wird ein Leistungsentgelt eingeführt. Das Leistungsentgelt ist eine variable und leistungsorientierte Bezahlung zusätzlich zum Tabellenentgelt. (2) Ausgehend von einer vereinbarten Zielgröße von 8 v.H. entspricht bis zu einer Vereinbarung eines höheren Vomhundertsatzes das für das Leistungsentgelt zur Verfügung stehende Gesamtvolumen 1 v.H. der ständigen Monatsentgelte des Vorjahres aller unter den Geltungsbereich des TVöD fallenden Beschäftigten des jeweiligen Arbeitgebers. Das für das Leistungsentgelt zur Verfügung stehende Gesamtvolumen ist zweckentsprechend zu verwenden; es besteht die Verpflichtung zu jährlicher Auszahlung der Leistungsentgelte.

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Teil 5 (3) Rz. 4

Arbeitsentgelt

Protokollerklärung zu Absatz 2 Satz 1: Ständige Monatsentgelte sind insbesondere das Tabellenentgelt (ohne Sozialversicherungsbeiträge des Arbeitgebers und dessen Kosten für die betriebliche Altersvorsorge), die in Monatsbeträgen festgelegten Zulagen einschließlich Besitzstandszulagen sowie Entgelt im Krankheitsfall (§ 22) und bei Urlaub, soweit diese Entgelte in dem betreffenden Kalenderjahr ausgezahlt worden sind; nicht einbezogen sind dagegen insbesondere Abfindungen, Aufwandsentschädigungen, Auslandsdienstbezüge einschließlich Kaufkraftausgleiche und Auslandsverwendungszuschläge, Einmalzahlungen, Jahressonderzahlungen, Leistungsentgelte, Strukturausgleiche, unständige Entgeltbestandteile und Entgelte der außertariflichen Beschäftigten.

III. Kommentierung 1. Entgeltsysteme a) Grundstrukturen 4

Die Grundstrukturen der Entgeltsysteme haben sich in den letzten zwei Jahrzehnten geändert1, wobei dieser Prozess noch nicht in allen Branchen abgeschlossen ist. Die Änderungen umfassen neben einer Vielzahl von Einzelthemen insbesondere zwei Bereiche: Die unterschiedliche Behandlung und Bezahlung von Angestellten und Arbeitern sowie die Grundlogik der Bewertung der jeweiligen Tätigkeiten. Während die gesetzlichen Regelungen schon seit längerer Zeit nicht mehr zwischen Arbeitern und Angestellten unterscheiden (vgl. etwa die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall), haben die TVe diesen Wandel weit weniger schnell bewältigt. Dies hängt sowohl mit der Detailtiefe als auch mit den gegensätzlichen Interessen der TV-Partner zusammen. So unterscheiden etliche TVe noch heute zwischen Arbeitern und Angestellten. Weit schwieriger ist die Umstellung der tariflichen Regelungswerke hinsichtlich der Bewertung der Tätigkeiten, denn hierbei ist ein klassischer Fall des „gerechten“ Entgelts betroffen. Während die älteren TVe nach dem Senioritätsprinzip differenzierten, mithin also nach Alter und Betriebszugehörigkeit, stellen moderne TVe nur noch auf die Inhalte der Tätigkeit ab. Diese alleine bestimmen die Wertigkeit der jeweiligen Tätigkeit und damit auch das Gehalt. Diesen Gedanken folgend differenzieren TVe heutzutage auch nicht mehr nach dem Bildungsniveau desjenigen, der die Tätigkeit ausübt. Im Einzelnen sind jedoch häufig viele Regelungen umstritten, weshalb die grundlegenden Reformen lange Zeit in Anspruch nehmen. So dauerten etwa die Verhandlungen über eine grundlegende Neustrukturierung der Entgeltsystem in den großen Bereichen Chemie, Metallindustrie und im Öffentlichen Dienst zum Teil über zehn Jahre2; im Handel lässt die Reform der TVe seit Jahren auf sich warten3. 1 Vgl. dazu auch Däubler/Winter, § 1 TVG Rz. 360. 2 Dazu auch Däubler/Winter, § 1 TVG Rz. 360 m.w.N. 3 Instruktiv dazu Kalkowski, „Ist der Flächentarifvertrag im Einzelhandel noch zu retten? Rahmenbedingungen und Konturen einer Entgeltstrukturreform“, Soziologisches Forschungsinstitut Göttingen, 2008.

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Arbeitsentgelt

Rz. 5 Teil 5 (3)

b) Zeitlohn Das in Zeit bemessene Arbeitsentgelt ist die klassische Entgeltform schlechthin. Traditionell wird die Vergütung der Arbeiter als Lohn bezeichnet und die der Angestellten als Gehalt. In den neueren TVen finden sich indes die Begriffe Lohn bzw. Gehalt nicht mehr; sie sind bzw. werden durch den einheitlichen Begriff des Entgelts ersetzt1. Grund ist auch hier der Wegfall der Differenzierung zwischen Arbeitern und Angestellten. Beim Zeitentgelt wird das Entgelt nach Zeitabschnitten (Stunde, Woche, Monat, Jahr) bemessen. Auch hierbei hat sich die traditionelle Einteilung, nach der Arbeiter einen Stunden- oder Wochenlohn bezogen, Angestellte dagegen ein Monatsgehalt erhielten, geändert. In aller Regel bestimmen die TVe heute Monatsbeträge. Das gilt auch für diejenigen TVe, die noch nach Arbeitern und Angestellten unterscheiden. Soweit ein Entgelt für den Zeitraum eines Jahres bemessen wird, handelt es sich meist um eine Kombination von Zeit- und Leistungsentgelt, so etwa bei dem sog. Jahreszielentgelt; vgl. dazu noch ausführlicher Rz. 7. Das Zeitentgelt ist der Wert, der im Allgemeinen in den Entgeltgruppen den Arbeitswert der einzelnen Funktionen und/oder Tätigkeiten bestimmt; vgl. zur Bewertung der Tätigkeit Rz. 10 sowie fi (11) Eingruppierung, Rz. 2. Das reine Zeitentgelt hat den Nachteil, dass es auf das Arbeitsergebnis, also die Qualität und Quantität der Arbeit, grundsätzlich nicht ankommt, so dass der Arbeitgeber auch für Schlechtleistung die vereinbarte Vergütung zahlen muss2. Aber auch unterhalb der Schwelle der Schlechtleistung sind reine Zeitentgelte nicht in der Lage, den in der Praxis tatsächlich vorhandenen Leistungsunterschieden Rechnung zu tragen3. Der Arbeitnehmer schuldet zur Erfüllung seiner Arbeitspflicht nämlich nur die Leistung, die er bei angemessener Anspannung seiner geistigen und körperlichen Kräfte auf Dauer ohne Gefährdung seiner Gesundheit zu leisten imstande ist4. Maßgeblich ist damit das individuelle Leistungsvermögen5. Für einen Vergleich mit der Leistung anderer Mitarbeiter ist jedenfalls im Hinblick auf die Bezahlung kein Raum6. Allenfalls kann die (bessere) Leistung der anderen Arbeitnehmer ein Indiz dafür sein, dass der betreffende Arbeitnehmer seine persönliche Leistungsfähigkeit nicht ausschöpft7. Aus den genannten Gründen lösen sich moderne Entgeltsysteme vom reinen Zeitentgelt und versuchen, eine Differenzierung und Anerkennung der persönlichen Leistung über eine Kombination von Zeitentgelt plus Leistungsbezahlung zu erreichen. Dieser Weg ist einer der schwierigsten in der Tarifbewegung der neueren Zeit, weil er die unterschiedlichen Ansichten des „gerechten Lohns“ in ganz besonderer Weise offenbart: Während die Gewerkschaften es eher als gerecht erachten, dass jeder Arbeitnehmer, der dieselbe Arbeit verrichtet wie sein Kollege, auch denselben Lohn erhält, stellen die Arbeitgeber das Individuum in den Vor1 2 3 4 5

So auch Däubler/Winter, § 1 TVG Rz. 363b. ErfK/Preis, § 611 BGB Rz. 390. Däubler/Winter, § 1 TVG Rz. 363b. ErfK/Preis, § 611 BGB Rz. 643. BAG v. 11.12.2003 – 2 AZR 667/02, NZA 2004, 784; BAG v. 17.1.2008 – 2 AZR 536/06, NZA 2008, 693. 6 Dazu instruktiv BAG v. 17.1.2008 – 2 AZR 536/06, NZA 2008, 693 Rz. 16. 7 BAG v. 11.12.2003 – 2 AZR 667/02, NZA 2004, 784.

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Teil 5 (3) Rz. 6

Arbeitsentgelt

dergrund und bezeichnen es als gerecht, dass derjenige mehr Lohn erhält, der mehr leistet. In aller Regel haben die Tarifpartner hier einen gangbaren Kompromiss gefunden, der durch einen hohen fixen und zeitbemessenen Entgeltbestandteil die Existenzgrundlage des Arbeitnehmers sichert und durch einen geringeren variablen Anteil der unterschiedlichen Leistung der Arbeitnehmer Rechnung trägt; vgl. dazu Rz. 7.

c) Akkordlohn 6

Als rein leistungsbezogenes Entgeltsystem stellt sich der Akkordlohn dar, der in der produzierenden Industrie der 50er bis 70er Jahre des letzten Jahrhunderts weit verbreitet war. Mit der Verlagerung einfacher Produktionen ins Ausland und der Konzentration der inländischen Produktion auf hoch technologisierte Produkte hat jedenfalls in der Metall- und Elektroindustrie der Akkordlohn an Bedeutung verloren1. Der Akkord kann als Einzel- oder Gruppenakkord vorkommen. Bei der Vergütung des Akkords unterscheidet man im Wesentlichen zwischen Geldakkord und Zeitakkord. Beim Geldakkord wird direkt an die unmittelbare Leistungseinheit angeknüpft, indem z.B. pro gefertigtem Teil ein bestimmter Geldbetrag gezahlt wird. Beim Zeitakkord wird eine Zeit vorgegeben, die bei der Normalleistung benötigt wird, um etwa ein Produkt herzustellen. Um auf einen höheren Verdienst zu kommen, muss diese Vorgabezeit unterboten werden. Die Ermittlung der richtigen Vorgabezeit ist das eigentliche Kernelement beim Zeitakkord. Die Verfahren dazu sind in den LohnrahmenTVen festgelegt2. Beim Akkord sind ggf. die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 und 11 BetrVG zu beachten; vgl. dazu Rz. 13.

d) Flexibilisierung der Entgeltsysteme 7

Angesichts der mangelnden Differenzierungsmöglichkeiten bei ausschließlichem Zeitentgelt hat sich die tarifpolitische Diskussion der letzten Jahre auf die Flexibilisierung des Arbeitsentgelts konzentriert. Dabei ist jedoch von der Flexibilisierung nicht das gesamte Entgelt erfasst, sondern nur ein Teil des Entgelts bis max. 30 %3. Die häufigsten Modelle sind das Prämienentgelt einerseits und das Leistungsentgelt4 bzw. die Zielvereinbarung andererseits. Beim Prämienentgelt wird zusätzlich zum leistungsunabhängigen (Tabellen-)Entgelt eine Prämie gezahlt, mit der Leistungen wie Einsparungen, Qualitätserreichung, Termintreue etc. honoriert werden5. Die Prämie ähnelt in ihrer Grundstruktur eher der traditionellen Zulage6. In dieselbe Richtung geht das neu eingeführte Leistungsentgelt im Öffentlichen Dienst nach § 18 Bund und VKA 1 Däubler/Winter, § 1 TVG Rz. 360. 2 Näheres dazu bei Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 501 f. 3 Höhere variable Anteile finden sich jedenfalls regelmäßig nicht in TVen. Sie sind vielmehr außertariflichen Funktionen – in aller Regel Leitenden Angestellten – vorbehalten. 4 Zur Ambivalenz des Begriffs „Leistungsentgelt“ siehe Däubler/Winter, § 1 TVG Rz. 363d. 5 Vgl. dazu Däubler/Winter, § 1 TVG Rz. 371. 6 Vgl. auch ErfK/Preis, § 611 BGB Rz. 395.

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Arbeitsentgelt

Rz. 8 Teil 5 (3)

TVöD (vgl. oben Rz. 3). Dagegen finden sich in manchen neueren TVen (insbesondere HausTVen) echte flexibilisierte Arbeitsentgelte. Hier gibt es nicht mehr das klassische Grundgehalt und zusätzlich einen Leistungsanteil in Form einer Zulage oder einer Prämie, sondern das eigentliche Tabellenentgelt beinhaltet bereits einen variablen Anteil. Dieser beträgt abhängig von der Entgeltgruppe und der Tätigkeit zwischen 5 % und 30 %, wobei höhere Entgeltgruppen und Vertriebstätigkeiten die höchsten variablen Anteile verzeichnen. Meist werden sog. Zielentgelte vereinbart, die einen fixen und einen variablen Anteil beinhalten. Dabei unterstellt der Betrag des Zielentgelts eine 100%ige Leistung oder eine 100%ige Zielerreichung. Der fixe Anteil wird monatlich ausgezahlt; die Auszahlung des variablen Anteils hängt von der Dauer der Ziele bzw. der Periode der Leistungsbemessung ab (je nach Tätigkeit werden Quartals- oder Jahresziele vereinbart). Inhaltlich wird der variable Anteil entweder über eine Leistungsbeurteilung oder über Zielvereinbarungen ermittelt. Bei der Leistungsbeurteilung etwa entspricht eine vorher festgelegte Punktzahl einer 100%igen Variablen. Fällt die Beurteilung besser oder schlechter aus, kann das Zielentgelt über- oder auch unterschritten werden. Dasselbe gilt bei der Zielvereinbarung. In aller Regel werden mit dem Mitarbeiter oder einem Team zwei bis fünf Ziele vereinbart und je nach Erfolg zum Ablauf der Zielperiode bewertet. Dem Betriebsrat steht nach § 80 Abs. 2 BetrVG das Recht auf Auskunft und umfassende Information über getroffene Zielvereinbarungen zu1. Dazu gehört das Recht, sich Unterlagen vorlegen zu lassen, um die entsprechenden Vereinbarungen und Festlegungen einsehen zu können (zu weitergehenden Mitbestimmungsrechten nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 und 11 BetrVG siehe Rz. 13).

e) Sonstige tariflich geregelte Entgeltbestandteile Als sonstige regelmäßige Bestandteile des Entgelts kommen in erster Linie Zulagen und Einmalzahlungen in Betracht. Insbesondere Zulagen haben jedoch in letzter Zeit an Bedeutung verloren. Sie wurden früher des Öfteren als allgemeine Zulagen gezahlt, die im Kern jedoch zur regelmäßigen Gegenleistung für die spezifische Tätigkeit gehörten und keine besondere Erschwernis ausgleichen sollten. Zur Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Zulagen als vertraglich zugesagter, selbstständiger Entgeltbestandteil neben dem jeweiligen Tarifentgelt zu werten sind, hat sich eine umfangreiche Rechtsprechung entwickelt. Dabei geht es insbesondere auch um die Anrechnungsmöglichkeiten von Zulagen auf allgemeine Tarifentgelterhöhungen2. Im Zuge der Modernisierung des Entgeltsystems im Öffentlichen Dienst wurden – ebenso wie in anderen TVen – etliche Zulagen abgeschafft und in das Vergleichsentgelt eingerechnet3. Bestehen bleiben auch in neueren TVen jedoch echte Zulagen zum Ausgleich besonderer Belastungen, etwa für Schichtarbeit, Nachtarbeit etc., sowie sogenannte Funktionszulagen für echte Erschwernisse und Gefahren (z.B. Arbeiten unter besonderen Umgebungs- oder Belastungseinflüssen wie starke 1 BAG v. 21.10.2003 – 1 ABR 39/02, NZA 2004, 936. 2 Dazu etwa BAG v. 18.5.2011 – 10 AZR 206/10, NZA 2011, 1289 Rz. 39. 3 Vgl. BAG v. 18.5.2011 – 10 AZR 206/10, NZA 2011, 1289 Rz. 39.

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Teil 5 (3) Rz. 9

Arbeitsentgelt

Witterungseinflüsse, Lärm, Staub, Arbeiten mit gesundheitsbelastenden oder giftigen Stoffen sowie Arbeiten im Wasser oder Schlamm oder Arbeiten in besonderer Höhe). Zulagen sind grundsätzlich zu unterscheiden von Zuschlägen, wobei die Terminologie nicht immer einheitlich ist1. Unter Zulagen versteht man allgemein feste Geldbeträge (Pauschalen), die in der Regel monatlich dafür gezahlt werden, dass die zulagenberechtigende Tätigkeit an einer bestimmten Anzahl von Tagen ausgeübt wird. Ist diese Grundvoraussetzung erfüllt, kommt es auf die weitere Dauer und Häufigkeit der Tätigkeiten nicht an. Anders verhält es sich dagegen bei den Zuschlägen. Sie knüpfen an die konkreten Zeiten belastender Tätigkeiten an und werden meistens pro Arbeitsstunde abgerechnet; im Einzelnen vgl. dazu fi (24) Zulagen-/Zuschlagsregelungen. Für bestimmte Tätigkeiten können entweder Zulagen oder Zuschläge gezahlt werden oder auch beide Formen zusammentreffen. Beispiele hierfür sind etwa Schichtarbeit und Nachtarbeit. 9

Einmalzahlungen, die keine besondere Zwecksetzung haben, werden bisweilen als Ergebnis von Tarifverhandlungen zu einem EntgeltTV vereinbart. Sie stellen oft eine Kompromisslinie dar, bei der die verhandelnde Gewerkschaft eine weitergehende Zahlung zu Gunsten ihrer Mitglieder vorweisen kann, die Arbeitgeberseite aber gleichzeitig davon profitiert, dass die Einmalzahlung – anders als eine Erhöhung regelmäßiger Entgeltbestandteile – nicht den Basisbetrag für Entgeltersteigerungen in folgenden Tarifrunden erhöht. Daneben gibt es die, im Regelfall einem sozialen Zweck dienenden, klassischen Einmalzahlungen, z.B. das Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Auch hier ist bei manchen neueren TVen die Tendenz erkennbar, sie nicht mehr als Einmalzahlung auszuweisen, sondern in das Jahresentgelt einzubeziehen und damit anteilig monatlich auszuzahlen. Das hat für die Arbeitnehmer den Vorteil, dass sie mit jeder tariflichen Entgelterhöhung „automatisch“ erhöht werden und jeweils eigenständig geregelt werden müssen. Ferner finden sich in TVen oft Regelungen zu vermögenswirksamen Leistungen. Sie werden gezahlt, wenn der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber eine Anlage nach dem jeweils geltenden Vermögensbildungsgesetz nachweist. Sonstige Vergütungsbestandteile wie etwa Anwesenheitsprämien, Mitarbeiterbeteiligungen, verbilligte Einkaufsmöglichkeiten, Personalrabatte, Arbeitgeberdarlehen etc.2 sind meist nicht Gegenstand tariflicher Regelungen. Dasselbe gilt für Aktienoptionen, die im Wesentlichen im außer-/übertariflichen Bereich von Bedeutung sind3.

2. Arbeitsbewertung 10

Die Arbeitsbewertung ist Aufgabe der TV-Parteien im Rahmen der Entgeltfindung. Sie legen sowohl den „Wert der Arbeit“ im Einzelnen fest als auch die Wertigkeit der Tätigkeiten im Vergleich zueinander. In den TVen finden sich die Ergebnisse der Arbeitsbewertung an verschiedenen Stellen. Soweit es um den reinen Wert der Arbeit geht, stellt der EntgeltTV die maßgebliche Regelung dar. Durch das Aushandeln der einzelnen Entgelte in den „Tarifrunden“ passen 1 Vgl. etwa Däubler/Winter, § 1 TVG Rz. 375 ff. 2 Vgl. Küttner/Griese, Arbeitsentgelt Rz. 5. 3 Siehe BAG v. 21.10.2009 – 10 AZR 664/08, NZA 2010, 289.

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Arbeitsentgelt

Rz. 11 Teil 5 (3)

die TV-Parteien den Wert der Arbeit dem Produktions- und Leistungserfolg der Arbeitgeber an, der im Wesentlichen durch die Arbeit der Beschäftigten erzielt wird. Das Ergebnis der eigentlichen Arbeitsbewertung ist das Lohn- oder Entgeltgruppenverzeichnis, das meist Bestandteil des EntgeltrahmenTVes ist. In diesem Verzeichnis sind die einzelnen im Betrieb oder Unternehmen vorkommenden Funktionen oder Tätigkeiten entsprechend ihrer Wertigkeit zueinander in Entgeltgruppen zusammengefasst. Die in den einzelnen Entgeltgruppen (dazu fi (11) Eingruppierung, Rz. 5) beschriebenen Tätigkeitsmerkmale oder Richtbeispiele bilden die Basis für die Eingruppierung der Arbeitnehmer; vgl. dazu fi (11) Eingruppierung, Rz. 1. Als Methoden der Arbeitsbewertung sind das summarische und das analytische Verfahren zu unterscheiden. Während das summarische Verfahren versucht, die Arbeitsanforderungen ganzheitlich zu bewerten, geht das analytische Verfahren von den einzelnen Arbeitsanforderungen aus, bewertet diese jeweils mit Punktzahlen und ordnet nach Addition der Punktzahlen die zu beurteilende Funktion oder Tätigkeit einer Entgeltgruppe zu; vgl. dazu fi (11) Eingruppierung, Rz. 21. Gewandelt hat sich im Laufe der Zeit auch die Sichtweise, welche Faktoren grundsätzlich die Wertigkeit einer Tätigkeit bestimmen. Das sind zunächst unstreitig Kriterien wie etwa Können, Verantwortung, Selbstständigkeit oder Belastung2. Sie sind die „Kernkompetenzen“ der Arbeitsbewertung. Anders sieht es dagegen mit (Berufs-)Erfahrung, Alter oder Schulbildung aus. Sie haben früher – insbesondere im Öffentlichen Dienst – im Wesentlichen die Wertigkeit der Tätigkeit bzw. den Wert der Arbeit mit der Folge bestimmt, dass langjährig beschäftige Arbeitnehmer in derselben Funktion weit besser bezahlt wurden als (jüngere) Mitarbeiter mit geringerer Berufserfahrung. Neuere TVe messen hingegen dem Alter regelmäßig keine und der Berufserfahrung lediglich geringe Bedeutung zu. Danach werden die Arbeitnehmer ausschließlich nach der Tätigkeit, die sie ausüben, eingruppiert. Dem Kriterium der Berufserfahrung wird sachgerecht dadurch Rechnung getragen, dass innerhalb der – nur nach Anforderung bewerteten – Entgeltgruppen sog. Gruppenstufen vorhanden sind, die der Arbeitnehmer in einem überschaubaren Zeitraum durchläuft (ca. drei bis fünf Jahre).

3. Auszahlung des Entgelts Häufig enthalten TVe Regelungen über Zahlungsart und Zahlungszeitpunkt des Arbeitsentgelts. Regelungen über den Zahlungszeitpunkt betreffen die Fälligkeit des Entgelts. Nach der gesetzlichen Regelung des § 614 BGB ist die Vergütung nach der Leistung zu entrichten; bei der Vergütung nach Zeitabschnitten nach Ablauf der einzelnen Zeitabschnitte. Der Arbeitnehmer ist also grundsätzlich vorleistungspflichtig. § 614 BGB ist jedoch abdingbar, wovon durch TVe in aller Regel auch Gebrauch gemacht wird, so dass die Bedeutung der gesetzlichen Bestimmung in der Praxis gering ist3. Nach den herkömmlichen TVen war die Auszahlung der Vergütung nach der Leistung vor allem für Arbeiter vorgesehen, die oftmals einen Wochenlohn nach der geleisteten Arbeit erhielten. Für Angestellte, die traditionell ein Monatsentgelt erhalten, 1 Vgl. Däubler/Winter, § 1 TVG Rz. 366 f. 2 Däubler/Winter, § 1 TVG Rz. 365. 3 So auch ErfK/Preis, § 614 BGB Rz. 2.

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Teil 5 (3) Rz. 12

Arbeitsentgelt

war bereits früher eine Zahlung zur Monatsmitte tariflich vereinbart. Mit der Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten hat diese Unterscheidung an Bedeutung verloren und die TVe schreiben häufig eine Zahlung zum 16. des Monats vor (Zahltag). Fällt der 16. auf einen Samstag, Sonntag oder Feiertag, ist zum Teil die Zahlung zum vorangegangenen Werktag im TV angeordnet. Leistet der Arbeitgeber zum tariflich festgesetzten Tag nicht, gerät er gemäß § 286 Abs. 2 BGB ohne Mahnung in Verzug. Weitere Bedeutung hat der tariflich festgelegte Zahlungstag für tarifvertragliche Ausschlussfristen. Sofern der TV keine abweichenden Regelungen enthält, beginnt die Ausschlussfrist mit der Fälligkeit zu laufen1. Bezüglich der Zahlungsart regeln die TVe meistens, dass das Arbeitsentgelt auf ein vom Arbeitnehmer zu benennendes inländisches Bankkonto zu überweisen ist. Dabei muss die Überweisung so erfolgen, dass der Arbeitnehmer zum Zahltag über sein Entgelt verfügen kann. 12

TVe sehen auch vor, dass die Arbeitnehmer mit jeder monatlichen Entgeltzahlung eine ausführliche Abrechnung erhalten, aus der die jeweiligen Bestandteile des Arbeitsentgelts sowie die Abzüge im jeweiligen Abrechnungszeitraum zu entnehmen sind. Verzögert der Arbeitgeber schuldhaft die Abrechnung, ohne die der Arbeitnehmer seine Ansprüche nicht erkennen kann, darf er sich nach Treu und Glauben nicht auf den Ablauf der Ausschlussfrist berufen2. Welche Angaben zu einer ordnungsgemäßen Lohnabrechnung gehören, hängt auch von der spezifischen Entlohnungsform ab3. Ist die Entgeltabrechnung tarifvertraglich geregelt, ist dazu oft auch eine Verpflichtung des Arbeitnehmers vorgesehen, die Richtigkeit und Vollständigkeit der Abrechnung unverzüglich zu prüfen. Der Arbeitnehmer, der gegen den Anspruch des Arbeitgebers auf Rückzahlung zuviel gezahlter Arbeitsvergütung den Wegfall der Bereicherung geltend macht, hat darzulegen und ggf. zu beweisen, dass er nicht mehr bereichert ist4. Ist die Rückgewährverpflichtung von zu Unrecht empfangenen Entgeltleistungen im TV abschließend geregelt, ist ein Rückgriff auf gesetzliches Bereicherungsrecht daneben nicht mehr möglich5.

4. Mitbestimmung des Betriebsrats 13

Entgeltregelungen sind die klassische Domäne der TV-Parteien und damit in weiten Teilen der Mitbestimmung durch die Betriebsräte entzogen. EntgeltrahmenTVe und EntgeltTVe sind jedenfalls „üblich“ i.S.d. § 77 BetrVG, so dass schon deshalb kein Raum für die betriebliche Mitbestimmung bleibt. Allerdings bestehen mit § 87 Abs. 1 Nr. 10 und 11 BetrVG Mitbestimmungstatbestände des Betriebsrats im Entgeltbereich, die dann eingreifen, wenn kein TV besteht oder soweit ein bestehender TV keine abschließende Regelung enthält. Eine Tarifüblichkeit reicht dagegen im Anwendungsbereich des § 87 1 Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Lohn/Gehalt Rz. 10; vgl. auch BAG v. 25.1.2006 – 4 AZR 622/04, AP Nr. 22 zu § 1 TVG Tarifverträge: Großhandel. 2 BAG v. 6.11.1985 – 4 AZR 233/84, NZA 1986, 429; Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Lohn/Gehalt Rz. 7. 3 Siehe dazu BAG v. 6.11.1985 – 4 AZR 233/84, NZA 1986, 429. 4 BAG v. 18.1.1995 – 5 AZR 817/93, NZA 1996, 27. 5 BAG v. 25.8.1992 – 9 AZR 416/90, NZA 1993, 277.

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Arbeitsentgelt

Rz. 13 Teil 5 (3)

BetrVG nicht aus, um die betriebliche Mitbestimmung zurückzudrängen1. Die Reichweite des Mitbestimmungsrechts hängt davon ab, ob es sich um zeitoder leistungsbezogene Entgeltbestandteile handelt. Während § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG grundsätzlich für alle Vergütungsbestandteile gilt, greift § 87 Abs. 1 Nr. 11 BetrVG nur bei leistungsbezogenen Entgeltbestandteilen ein, hat dort aber einen weitergehenden Anwendungsbereich. Nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG hat der Betriebsrat mitzubestimmen bei Fragen der betrieblichen Lohngestaltung, insbesondere bei der Aufstellung von Entlohnungsgrundsätzen und der Einführung und Änderung von neuen Entlohnungsmethoden. Dies sind indes die Fragen, die in aller Regel zumindest grundsätzlich durch einen TV geregelt sind, so dass sich ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG in der Praxis auf die Ausfüllung eines nicht abschließenden TVes beschränkt, wenn dieser etwa Entgelthöhe und bestimmte Entgeltzahlungssysteme (z.B. Zeitlohn, Akkordlohn, Prämienlohn) festsetzt, aber nicht regelt, welches System in welchem Betrieb für welche Arbeit angewandt und wie es dort näher ausgestaltet werden soll2. Ein in der Praxis wichtiges Feld der betrieblichen Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG besteht dagegen bei freiwilligen übertariflichen Leistungen3. Hier ist der Arbeitgeber zwar frei in der Entscheidung, ob er solche gewährt und welche Mittel er einsetzt; bei der Verteilung der Leistungen muss er jedoch das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats beachten4. Ein weiterer wichtiger Bereich der betrieblichen Mitbestimmung betrifft die – zwangsläufig nicht im TV erfassten – ATAngestellten5. Nicht mitzubestimmen hat der Betriebsrat nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG über die Lohnhöhe6. Anderes gilt dagegen bei leistungsbezogenen Entgeltbestandteilen nach § 87 Abs. 1 Nr. 11 BetrVG. Hier geht das Mitbestimmungsrecht weiter, weil der Betriebsrat über alle Bezugsgrößen des Entgelts mitzubestimmen hat, einschließlich der Geldfaktoren, und damit auch über die Entgelthöhe7. Beispielhaft nennt das BetrVG Akkord- und Prämiensätze, über deren Höhe der Betriebsrat mitbestimmen kann, soweit sie nicht bereits tariflich geregelt sind. Dasselbe gilt für vergleichbare leistungsbezogene Entgelte. Dies sind wie Akkord und Prämie solche, bei denen die Höhe der Vergütung unmittelbar durch das vom Arbeitnehmer erzielte Arbeitsergebnis beeinflusst wird8. Die Diskussion um die Reichweite des Mitbestimmungsrechts bei Zielvereinbarungen ist noch nicht abgeschlossen. Hier sind Fragen der betrieblichen Lohngestaltung betroffen und es liegt ein leistungsbezogener Entgeltbestandteil vor, so dass ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs 1 Nr. 10 und 11 BetrVG in Betracht kommt9. 1 BAG v. 24.2.1987 – 1 ABR 18/85, NZA 1987, 639; differenzierter allerdings BAG v. 5.3.1997 – 4 AZR 532/95, NZA 1997, 951. 2 ErfK/Kania, § 87 BetrVG Rz. 104. 3 Dazu ausführlich etwa ErfK/Kania, § 87 BetrVG Rz. 107 ff. 4 St. Rspr., vgl. etwa BAG v. 26.5.1998 – 1 AZR 704/97, NZA 1998, 1292. 5 Dazu ausführlich ErfK/Kania, § 87 BetrVG Rz. 106. 6 BAG v. 30.10.2001 – 1 ABR 8/01, NZA 2002, 919; ErfK/Kania, § 87 BetrVG Rz. 103. 7 Dazu ausführlich ErfK/Kania, § 87 BetrVG Rz. 117 ff. 8 So etwa zur Provision BAG v. 28.7.1981 – 1 ABR 56/78, DB 1981, 2031. 9 So auch Küttner/Griese, Zielvereinbarung Rz. 20; zur Reichweite Däubler, NZA 2005, 793 ff. (796).

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Teil 5 (4) Rz. 1

Arbeitsverhinderung

(4) Arbeitsverhinderung I. Zweck und Kontext 1

Klauseln über Arbeitsverhinderungen sind regelmäßiger Bestandteil von TVen. Sie werden dort jedoch in aller Regel unter der Überschrift „Arbeitsbefreiung“ geführt. Dies ist deshalb zutreffend, weil die Klauseln im Wesentlichen zu einer Konkretisierung der von § 616 BGB erfassten unverschuldeten Arbeitsversäumnis führen. Über § 616 BGB hinausgehend erfassen sie weitere anspruchsbegründende Tatbestände, etwa Arbeits- oder Dienstjubiläen oder die Teilnahme an bestimmten gewerkschaftlichen Veranstaltungen oder an Tarifverhandlungen. Unter dem Begriff der „Arbeitsbefreiung“ im Sinne der gängigen Tarifregelungen versteht man die vorübergehende Freistellung von der Arbeit für näher bestimmte allgemeine oder persönliche Zwecke unter Fortzahlung des Entgelts. Vom Erholungsurlaub unterscheidet sich die Arbeitsbefreiung durch die Zweckgebundenheit; der Unterschied zum Sonderurlaub liegt in der Fortzahlung des Entgelts. Im Übrigen setzt die Arbeitsbefreiung bereits begrifflich voraus, dass für den Arbeitnehmer unter regelmäßigen Umständen eine Pflicht zur Arbeitsleistung besteht, weshalb Arbeitsbefreiung zum Beispiel nicht bei Erholungsurlaub gewährt werden kann. Dasselbe gilt für die eigene Krankheit, die im EFZG gesetzlich geregelt ist. Die Befreiung von der Arbeitspflicht zur Pflege von pflegebedürftigen Angehörigen regelt § 2 PflegeZG.

II. Beispiele 2

§ 29 TVÖD Arbeitsbefreiung (1) Als Fälle nach § 616 BGB, in denen Beschäftigte unter Fortzahlung des Entgelts nach § 21 im nachstehend genannten Ausmaß von der Arbeit freigestellt werden, gelten nur die folgenden Anlässe: a) Niederkunft der Ehefrau/der Lebenspartnerin im Sinne des Lebenspartnerschaftsgesetzes

ein Arbeitstag,

b) Tod der Ehegattin/des Ehegatten, der Lebenspartnerin/ des Lebenspartners im Sinne des Lebenspartnerschaftsgesetzes, eines Kindes oder Elternteils zwei Arbeitstage, c) Umzug aus dienstlichem oder betrieblichem Grund an einen anderen Ort

ein Arbeitstag,

d) 25- und 40-jähriges Arbeitsjubiläum

ein Arbeitstag,

e) Schwere Erkrankung aa) einer/eines Angehörigen, soweit sie/er in demselben Haushalt lebt,

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ein Arbeitstag im Kalenderjahr,

Arbeitsverhinderung

bb)

eines Kindes, das das 12. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, wenn im laufenden Kalenderjahr kein Anspruch nach § 45 SGB V besteht oder bestanden hat,

Rz. 2 Teil 5 (4)

bis zu vier Arbeitstage im Kalenderjahr,

cc) einer Betreuungsperson, wenn Beschäftigte deshalb die Betreuung ihres Kindes, das das 8. Lebensjahr noch nicht vollendet hat oder wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung dauernd pflegebedürftig ist, bis zu vier Arbeitstage übernehmen [muss], im Kalenderjahr. Eine Freistellung erfolgt nur, soweit eine andere Person zur Pflege oder Betreuung nicht sofort zur Verfügung steht und die Ärztin/der Arzt in den Fällen der Doppelbuchstaben aa und bb die Notwendigkeit der Anwesenheit der/des Beschäftigten zur vorläufigen Pflege bescheinigt. Die Freistellung darf insgesamt fünf Arbeitstage im Kalenderjahr nicht überschreiten. f) Ärztliche Behandlung von Beschäftigten, wenn diese während der Arbeitszeit erfolgen muss, erforderliche nachgewiesene Abwesenheitszeit einschließlich erforderlicher Wegezeiten Niederschriftserklärung zu § 29 Abs. 1 Buchst. f: Die ärztliche Behandlung erfasst auch die ärztliche Untersuchung und die ärztlich verordnete Behandlung.

(2) Bei Erfüllung allgemeiner staatsbürgerlicher Pflichten nach deutschem Recht, soweit die Arbeitsbefreiung gesetzlich vorgeschrieben ist und soweit die Pflichten nicht außerhalb der Arbeitszeit, gegebenenfalls nach ihrer Verlegung, wahrgenommen werden können, besteht der Anspruch auf Fortzahlung des Entgelts nach § 21 nur insoweit, als Beschäftigte nicht Ansprüche auf Ersatz des Entgelts geltend machen können. Das fortgezahlte Entgelt gilt in Höhe des Ersatzanspruchs als Vorschuss auf die Leistungen der Kostenträger. Die Beschäftigten haben den Ersatzanspruch geltend zu machen und die erhaltenen Beträge an den Arbeitgeber abzuführen. (3) Der Arbeitgeber kann in sonstigen dringenden Fällen Arbeitsbefreiung unter Fortzahlung des Entgelts nach § 21 bis zu drei Arbeitstagen gewähren. In begründeten Fällen kann bei Verzicht auf das Entgelt kurzfristige Arbeitsbefreiung gewährt werden, wenn die dienstlichen oder betrieblichen Verhältnisse es gestatten. Protokollerklärung zu Absatz 3 Satz 2: Zu den „begründeten Fällen“ können auch solche Anlässe gehören, für die nach Absatz 1 kein Anspruch auf Arbeitsbefreiung besteht (z.B. Umzug aus persönlichen Gründen).

(4) Zur Teilnahme an Tagungen kann den gewählten Vertreterinnen/Vertretern der Bezirksvorstände, der Landesbezirksvorstände, der Landesfachbereichsvorstände, der Bundesfachbereichsvorstände, der Bundesfachgruppenvorstände sowie des Gewerkschaftsrates bzw. entsprechender Gremien anderer vertragsschließender Gewerkschaften auf Anfordern der Gewerkschaften Arbeitsbefreiung bis zu acht Werktagen im Jahr unter Fortzahlung des Entgelts Steffan

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Teil 5 (4) Rz. 3

Arbeitsverhinderung

nach § 21 erteilt werden, sofern nicht dringende dienstliche oder betriebliche Interessen entgegenstehen. Zur Teilnahme an Tarifverhandlungen mit dem Bund und der VKA oder ihrer Mitgliedsverbände kann auf Anfordern einer der vertragsschließenden Gewerkschaften Arbeitsbefreiung unter Fortzahlung des Entgelts nach § 21 ohne zeitliche Begrenzung erteilt werden. (5) Zur Teilnahme an Sitzungen von Prüfungs- und von Berufsbildungsausschüssen nach dem Berufsbildungsgesetz sowie für eine Tätigkeit in Organen von Sozialversicherungsträgern kann den Mitgliedern Arbeitsbefreiung unter Fortzahlung des Entgelts nach § 21 gewährt werden, sofern nicht dringende dienstliche oder betriebliche Interessen entgegenstehen.

III. Kommentierung 1. Verhältnis zu § 616 BGB 3

Tarifklauseln über die Arbeitsverhinderung bzw. Arbeitsbefreiung stimmen mit § 616 BGB insoweit überein, als sie vom Prinzip „ohne Arbeit kein Lohn“ abweichen und zu dem Grundsatz „Entgeltzahlung trotz fehlender Arbeit“ übergehen. Allerdings unterscheiden sich tarifliche Arbeitsverhinderungsklauseln von der Regelung des § 616 BGB sowohl in den weiteren Voraussetzungen als auch in der Reichweite. Nach der gesetzlichen Regelung bleibt der Entgeltanspruch bestehen, wenn der Arbeitnehmer „für eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit durch einen in seiner Person liegenden Grund ohne sein Verschulden an der Dienstleistung verhindert wird“. Welche konkreten Fälle davon erfasst sind, regelt § 616 BGB dagegen ebenso wenig wie die Frage, wie lange der Arbeitnehmer ohne Entgeltminderung von der Arbeit fernbleiben darf („verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit“). Zudem ist jeweils die Frage des Verschuldens zu klären. Tarifliche Klauseln konkretisieren und systematisieren all diese Fragen, sodass der Arbeitnehmer nur noch prüfen muss, ob der Anlass für seine begehrte Arbeitsbefreiung unter die Beispiele der jeweiligen Klausel fällt.

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Konkretisierungen des § 616 BGB durch TVe sind zulässig1 Dabei können Abweichungen sowohl zugunsten als auch zu Ungunsten der Arbeitnehmer geregelt werden2. Bestimmt etwa ein TV, dass ein Arbeitnehmer bei der Niederkunft seiner Ehefrau einen Freistellungsanspruch hat, so gilt dies nach Ansicht des BAG nicht auch für den Fall der Niederkunft der nichtehelichen Lebensgefährtin3. Ebenfalls zulässig ist eine vollständige Abbedingung der gesetzlichen Regelung durch einen TV. Allerdings sind jeweils die Grundrechte zu beachten, insbesondere der Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 3 GG. Dabei haben die TV-Parteien eine weitgehende Gestaltungsfreiheit. Sie brauchen nicht die zweckmäßigste, vernünftigste und gerechteste Lösung zu wählen. Vielmehr genügt es, wenn es für die getroffene Regelung einen sachlich vertret1 BAG v. 18.1.2001 – 6 AZR 492/99, NZA 2002, 47; Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Arbeitsverhinderung/Arbeitsbefreiung Rz. 2. 2 ErfK/Dörner, § 616 BGB Rz. 13. 3 BAG 18.1.2001 – 6 AZR 429/99, NZA 2002, 47; kritisch dazu Küttner/Griese, Arbeitsverhinderung, Rz. 18.

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Arbeitsverhinderung

Rz. 7 Teil 5 (4)

baren Grund gibt. Der Gleichheitsgrundsatz wird durch eine Tarifnorm erst dann verletzt, wenn die TV-Parteien es versäumt haben, tatsächliche Gleichheiten oder Ungleichheiten der zu ordnenden Lebensverhältnisse zu berücksichtigen, die so bedeutsam sind, dass sie bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise beachtet werden müssen1. Ob in Fällen, die nicht von der tariflichen Regelung über Arbeitsbefreiung erfasst werden, ein Rückgriff auf § 616 BGB zulässig ist, muss durch Auslegung ermittelt werden. Dort, wo die tarifliche Regelung ausdrücklich bestimmt, dass „als Fälle des § 616 BGB […] nur die folgenden Anlässe“ gelten (vgl. § 29 TVöD, oben Rz. 2), bestehen die Ansprüche nur in den im TV selbst genannten Fällen und in dem dort vorgesehenen Umfang. Andere Fälle der Arbeitsverhinderung aus Gründen, die in der Person des Angestellten liegen, können einen Vergütungsanspruch nach § 616 BGB nicht begründen2. Die Regelung ist mithin abschließend. Anders kann es sein, wenn die tarifliche Regelung nur aufzählenden Charakter hat. Führt die tarifliche Regelung lediglich „beispielsweise“ an, in welchem Ausmaß der Lohn in bestimmten Fällen der Arbeitsverhinderung fortgezahlt wird, so liegt darin weder eine Beschränkung noch eine Abbedingung des § 616 BGB3. Dies gilt jedenfalls für die nicht in der Tarifregelung aufgeführten Fälle, sodass insoweit ein Rückgriff auf § 616 BGB möglich ist. Dagegen ist die tarifliche Regelung bezüglich der Beispielsfälle als abschließend zu sehen.

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Keine Konkretisierung beinhalten die tariflichen Regelungen über die Arbeitsbefreiung hinsichtlich der Kausalität. D.h., dass Arbeitsbefreiung in diesem Sinne nur dann gewährt wird, wenn ansonsten Arbeitspflicht bestünde. Tritt somit ein Arbeitsbefreiungsgrund z.B. im Urlaub oder Sonderurlaub des Arbeitnehmers ein, besteht kein Anspruch aufgrund der tariflichen Regelung und auch nicht – soweit noch anwendbar – nach § 616 BGB4. Der Tag des Anlasses muss mithin auf einen Arbeitstag fallen, so dass auch Wochenenden und dienstplanmäßig freie Tage nicht berücksichtigt werden. Bei einem Anspruch auf Arbeitsbefreiung für mehrere Tage gilt dies analog; d.h. der Arbeitnehmer erhält ggf. Arbeitsbefreiung in geringerem Umfang, wenn einer der folgenden Tage kein Regel- bzw. dienstplanmäßiger Arbeitstag ist. Heiratet etwa ein Arbeitnehmer an einem Freitag und es stehen ihm laut tariflicher Regelung zwei Tage Arbeitsbefreiung zu, so erhält er (soweit der Samstag regelmäßig frei ist) nur für den Freitag einen Tag Arbeitsbefreiung.

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2. Inhalt typischer Tarifklauseln Inhaltlich decken sich die gängigen tariflichen Regelungen zur Arbeitsbefreiung weitgehend mit den von § 616 BGB erfassten Fällen. Die klassischen Fälle sind die eigene Hochzeit bzw. neuerdings auch die Eintragung der Lebenspartnerschaft nach dem LPartG sowie ggf. die Hochzeit der Kinder, der Geschwis1 BAG v. 18.1.2001 – 6 AZR 492/99, NZA 2002, 47. 2 Vgl. BAG v. 18.1.2001 – 6 AZR 492/99, NZA 2002, 47; BAG v. 13.12.2001 – 6 AZR 30/01, NZA 2002, 1105. 3 BAG v. 25.4.1960 – 1 AZR 16/58, NJW 1960, 1686 = DB 1960, 699. 4 BAG v. 17.10.1985 – 6 AZR 571/82, AP Nr. 1 zu § 18 BAT.

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Teil 5 (4) Rz. 8

Arbeitsverhinderung

ter oder auch der Eltern (vgl. etwa § 8 EMTV Metall NRW, § 8 MTV Chemie), die silberne oder goldene Hochzeit der Eltern, die Geburt eigener Kinder, Todesfälle naher Angehöriger, eine schwere Erkrankungen naher Angehöriger und religiöse Feste wie Erstkommunion und Konfirmation der eigenen Kinder1. Hinzu kommen in den TVen häufig noch weniger „zwingende“ Anlässe wie Umzüge oder Arbeit- bzw. Dienstjubiläen (vgl. § 29 Abs. 1 Buchst. c und d TVöD, oben Rz. 2). 8

Oftmals sehen tarifliche Klauseln Arbeitsbefreiung zur „Erfüllung allgemeiner staatsbürgerlicher Pflichten“ (vgl. § 29 Abs. 2 TVöD, oben Rz. 2) oder gesetzlich auferlegter Pflichten aus öffentlichen Ehrenämtern (etwa § 22 Abs. 1 Buchst. j MTV Deutsche Telekom) vor. Diese Fälle sind gleichzeitig Fälle der persönlichen Verhinderung i.S.d. § 616 BGB2. Öffentliche Ehrenämter mit gesetzlicher Verpflichtung zur Übernahme sind z.B. das Amt des ehrenamtlichen Richters an ordentlichen Gerichten, den Arbeitsgerichten, den Sozialgerichten, den Verwaltungsgerichten und den Finanzgerichten. Schulungsveranstaltungen im Zusammenhang mit dem Ehrenamt sind nicht von der Arbeitsbefreiung umfasst3. Anderes soll für ein notwendiges Aktenstudium gelten4. Dies ist zweifelhaft, weil dem ehrenamtlichen Richter durchaus zuzumuten ist, Teile des Ehrenamtes, die nicht zwingend in die Arbeitszeit fallen, in seiner Freizeit wahrzunehmen. Auch das Amt eines Schöffen, das Amt als Mitglied eines Wahlvorstandes bei Bundestags-, Landtags, Kommunal- oder Europawahlen oder das Schiedsamt als vom Rat einer Kommune gewählte und ernannte Schiedsperson sind staatsbürgerliche Pflichten in diesem Sinne; dasselbe gilt für Pflichten in der Selbstverwaltung der Sozialversicherung5. Dagegen besteht keine gesetzliche Verpflichtung (und damit auch kein Anspruch auf Arbeitsbefreiung) zu der Tätigkeit eines ehrenamtlichen Bürgermeisters, zu einer Ratstätigkeit u. ä6. Damit ist auch die Kandidatur zu solchen öffentlichen Ämtern kein Fall von § 616 BGB oder tarifvertraglichen Regelungen zur Arbeitsbefreiung. Dasselbe gilt für die Wahrnehmung von Ämtern in privaten Vereinen7.

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Bei Behörden- und Gerichtsterminen wird man unterscheiden müssen. Erfolgen sie in eigener Sache, sind sie dem privaten Lebensbereich zuzuordnen. Sofern sie zwingend in der Arbeitszeit liegen, hat der Arbeitnehmer zwar einen Anspruch auf Freistellung zur Wahrnehmung solcher Termine, allerdings nicht unter Fortzahlung des Entgelts. Soweit eine Inanspruchnahme von Gleitzeit nicht in Betracht kommt, muss der Arbeitnehmer Jahresurlaub, Sonderurlaub oder sonstigen unbezahlten Urlaub nehmen8. Besonders deutlich wird dies, 1 Vgl. die Aufzählung bei ErfK/Dörner, § 616 BGB Rz. 4; ebenso Küttner/Griese, Arbeitsverhinderung, Rz. 3. 2 ErfK/Dörner, § 616 BGB Rz. 5. 3 BAG v. 25.8.1982 – 4 AZR 1147/79, DB 1983, 183; HWK/Krause, § 616 BGB Rz. 28. 4 LAG Bremen v. 14.6.1990 – 3 Sa 132/89, AiB 1992, 50; HWK/Krause, § 616 BGB Rz. 28. 5 ErfK/Dörner, § 616 BGB Rz. 5. 6 ErfK/Dörner, § 616 BGB Rz. 5; HWK/Krause, § 616 BGB Rz. 28. 7 ErfK/Dörner, § 616 BGB Rz. 5 m.w.N. 8 Küttner/Griese, Arbeitsverhinderung, Rz. 7.

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Steffan

Arbeitsverhinderung

Rz. 12 Teil 5 (4)

wenn der Arbeitnehmer in einem gegen seinen Arbeitgeber geführten Prozess einen Gerichtstermin wahrnehmen muss1. Anderes gilt dagegen, wenn der Arbeitnehmer als Zeuge geladen ist. Dass die Verpflichtung, als Zeuge zu erscheinen und auszusagen, eine Pflicht nach deutschem Recht ist, folgt schon aus §§ 373 ff. ZPO und §§ 48 ff. ArbGG. Nach richtiger Ansicht des BAG muss der Begriff der „staatsbürgerlichen Pflicht“ im Sinne einer allgemeinen bürgerlichen Pflicht verstanden werden und zwar unabhängig von der Staatsbürgerschaft. Staatsbürgerliche Pflicht i.S.d. einschlägigen Tarifbestimmungen sind daher rechtliche Verpflichtungen, die auch Mitbürger mit anderer Staatsangehörigkeit erfüllen müssen2. Aus den tarifvertraglichen Formulierungen folgt meist, dass der Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Falle der Arbeitsbefreiung für die Erfüllung gesetzlich auferlegter Pflichten aus Ehrenämtern insoweit nicht besteht, wie der Arbeitnehmer einen Ersatzanspruch geltend machen kann. In der Praxis wird allerdings die Entgeltzahlung fortgesetzt und mit dem Ersatzanspruch verrechnet. Der Arbeitnehmer ist dann ggf. verpflichtet, den Ersatzanspruch geltend zu machen und die erhaltenen Beträge an den Arbeitgeber abzuführen. Alternativ kann der Arbeitnehmer seinen Ersatzanspruch gemäß § 398 BGB an den Arbeitgeber abtreten, sodass der Anspruch durch den Arbeitgeber geltend gemacht werden kann.

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Sofern der Arbeitgeber aufgrund von landesgesetzlichen Regelungen verpflichtet ist, den Arbeitnehmer unter Fortzahlung des Arbeitsentgelts zum Dienst bei der freiwilligen Feuerwehr oder dem Katastrophenschutz (etwa Technisches Hilfswerk) frei zu stellen, wird die Erstattung nach den maßgebenden Regelungen vom Arbeitgeber beim zuständigen Kostenträger beantragt. Von der Arbeitsbefreiung bzw. Erstattungspflicht erfasst ist auch ein angemessener Zeitraum vor bzw. nach der Teilnahme an einem entsprechenden Einsatz3.

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Tätigkeiten in Gewerkschaften sind kein Fall der Arbeitsverhinderung i.S.d. § 616 BGB. Gleichwohl finden sich in TVen vielfach Regelungen dazu (vgl. etwa § 29 Abs. 4 TVöD, oben Rz. 2, sowie § 22 Abs. 1 Buchst. j–l MTV Deutsche Telekom). Meist geht es dabei um die Teilnahme an gewerkschaftlichen Tagungen und zum Teil auch an gewerkschaftlichen Lehrgängen. Ferner wird Arbeitsbefreiung auf tarifvertraglicher Basis z.B. auch zur Teilnahme an Tarifverhandlungen und Einigungsstellen oder zur Mitarbeit in Kommissionen (Tarifkommissionen, betriebliche paritätische Kommissionen) gewährt. Diese Arbeitsbefreiung ist in der Regel aus der Natur der Sache heraus nicht zeitmäßig definiert, sondern besteht im „erforderlichen Umfang“. Teilweise stehen die Arbeitsbefreiungen für gewerkschaftliche Tätigkeiten unter dem Vorbehalt, dass dringende dienstliche oder betriebliche Interessen nicht entgegenstehen.

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1 BAG v. 4.9.1985 – 7 AZR 249/83, AP Nr. 1 zu § 29 BMT-G II. 2 BAG v. 13.12.2001 – 6 AZR 30/01, NZA 2002, 1105 (1106). 3 Beispiel: Ein Arbeitnehmer wird bei einem Löscheinsatz der Freiwilligen Feuerwehr tätig. Der Einsatz beginnt um 17.00 Uhr und endet nach Mitternacht. Der Arbeitnehmer nimmt die Arbeit nach einer angemessenen Ruhepause erst im Laufe des Tages auf. In diesem Fall kann der Arbeitgeber beim Kostenträger den Arbeitsausfall für die Zeit bis zur Arbeitsaufnahme geltend machen.

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Teil 5 (4) Rz. 13

Arbeitsverhinderung

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Die Krankheit des Arbeitnehmers ist seit der Geltung des EFZG kein Fall des § 616 BGB oder einer entsprechenden tarifvertraglichen Regelung. Dagegen stellt die unvorhergesehene Erkrankung naher Angehöriger grundsätzlich ein persönliches Leistungshindernis i.S.d. § 616 BGB dar. Das gilt auch, soweit für Kinder ein Krankengeldanspruch nach § 45 Abs. 1 SGB V besteht. Diese Bestimmung ist gegenüber § 616 BGB insoweit subsidiär, als sie eine Entschädigung nur für den Fall vorsieht, dass der Arbeitnehmer keinen Anspruch auf Fortzahlung seiner Vergütung hat. Hingegen sehen tarifvertragliche Regelungen zum Teil vor, dass Arbeitsbefreiung unter Lohnfortzahlung nur dann gewährt wird, soweit kein Anspruch nach § 45 SGB V besteht (vgl. § 29 Abs. 1 Buchst. e bb TVöD, oben Rz. 2). Bei akuter Pflegebedürftigkeit naher Angehöriger regelt § 2 PflegeZG nur die Befreiung von der Arbeitspflicht, nicht jedoch die Frage die Vergütung. Hier gilt § 616 BGB1 oder die jeweilige tarifliche Bestimmung (vgl. § 29 Abs. 1 Buchst. e aa TVöD, oben Rz. 2).

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Bei Arztbesuchen während der Arbeitszeit ist zu differenzieren. Ist der Arbeitnehmer zum Zeitpunkt des Arztbesuchs bereits arbeitsunfähig, kommt Entgeltfortzahlung nur nach dem EFZG in Betracht. Ist der Arbeitnehmer dagegen noch nicht arbeitsunfähig, wird Arbeitsbefreiung nur dann gewährt, wenn das Aufsuchen des Arztes während der Arbeitszeit erfolgen muss (vgl. § 29 Abs. 1 Buchst. f TVöD, oben Rz. 2). Voraussetzung ist eine medizinische Notwendigkeit, etwa bei akuten Beschwerden. Dasselbe gilt, wenn außerhalb akuter Beschwerden die Festlegung des Termins der Untersuchung nicht vom Arbeitnehmer beeinflusst werden kann, z.B. zur Blutabnahme im nüchternen Zustand2.

3. Anzeige-, Nachweis- und Genehmigungspflichten 15

Die Verpflichtung zur Geltendmachung des Befreiungsanspruchs und ihre Modalitäten hängen vom jeweiligen Anlass der Arbeitsbefreiung ab. Grundsätzlich ist der Arbeitnehmer nach Treu und Glauben verpflichtet, dem Arbeitgeber Anlass und Dauer der Arbeitsverhinderung so rechtzeitig vorher anzuzeigen, dass sich der Arbeitgeber auf den Arbeitsausfall einstellen kann3. Ist der Anlass unvorhersehbar, wie etwa bei Todesfällen oder plötzlichen Erkrankungen nahestehender Personen, muss die Information unverzüglich nachträglich erfolgen4. Auf Anforderung des Arbeitgebers ist der Grund nachzuweisen, der zur Arbeitsverhinderung führt bzw. den Anspruch auf Arbeitsbefreiung auslöst. Soweit der TV selbst dazu keine Regelungen enthält, folgt das aus der nach allgemeinen Regeln bestehenden Nachweispflicht5. Als Nachweis für gewerkschaftliche Tagungen etwa dürfte die Vorlage des Programms/der Tagesordnung in Betracht kommen, während für die Teilnahme an Tarifverhandlun1 2 3 4

HWK/Krause, § 616 BGB Rz. 24. BAG v. 27.6.1990 – 5 AZR 365/89, NZA 1990, 894. HWK/Krause, § 616 BGB Rz. 45 m.w.N. BAG v. 27.6.1990 – 5 AZR 314/89, NZA 1991, 103; HWK/Krause, § 616 BGB Rz. 45 m.w.N. 5 BAG v. 27.6.1990 – 5 AZR 314/89, NZA 1991, 103; MünchArbR/Boewer, § 70 Rz. 21; a.A. HWK/Krause, § 616 BGB Rz. 45: Nur bei Anhaltspunkten für Unregelmäßigkeiten.

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Rz. 1 Teil 5 (5)

Arbeitszeit

gen eine Einladung der Gewerkschaft ausreichend ist. Eine echte Genehmigungspflicht besteht jedenfalls in den im TV explizit aufgeführten Anlässen nicht. Anderes kann gelten, wenn die Tarifregelung noch generalklauselartig für sonstige dringende Fälle Arbeitsbefreiung gewährt (vgl. § 29 Abs. 3 TVöD, oben Rz. 2). Weil § 616 BGB tarifdispositiv ist, können die TV-Parteien auch die Modalitäten der Geltendmachung festlegen, doch beinhalten die TVe dazu meist keine Regelungen. Verstößt der Arbeitnehmer gegen seine Pflichten im Zusammenhang mit der Geltendmachung, lässt dies den Entgeltanspruch unberührt. Es handelt sich indes um eine arbeitsvertragliche Nebenpflicht, deren Verletzung eine Abmahnung und/oder eine Kündigung nach sich ziehen kann.

4. Entgeltfortzahlung Liegen die Voraussetzungen eines tariflichen Tatbestandes der Arbeitsbefreiung vor, hat der Arbeitnehmer einen Entgeltfortzahlungsanspruch. Dies ist meist ausdrücklich in der entsprechenden Tarifnorm („unter Fortzahlung des Entgelts“) geregelt. Für den Umfang gilt das Lohnausfallprinzip, d.h. der Arbeitnehmer ist grundsätzlich so zu stellen, wie er stünde, hätte er durchgehend gearbeitet1. Allerdings können die TV-Parteien aufgrund ihrer Dispositionsbefugnis auch definieren, welche Bestandteile (etwa regelmäßiges Entgelt einschließlich bestimmter Zulagen) das fortzuzahlende Entgelt ausmachen. Im Übrigen ist die tarifvertragliche Regelung, die eine „Fortzahlung der Vergütung“ vorsieht, so auszulegen, dass dem an Tarifverhandlungen teilnehmenden Arbeitnehmer der Nachtzuschlag nicht zusteht, der ihm ansonsten wegen seines schichtplanmäßigen Dienstes zugestanden hätte2.

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(5) Arbeitszeit Literatur: Däubler, Der Arbeitsvertrag – ein Mittel zur Verlängerung der Wochenarbeitszeit?, DB 1989, 2534; Hanau, Möglichkeiten und Grenzen der Vereinbarungen von Lage und Dauer der Arbeitszeit, NZA-Beil. 2006, 34; Hegner/Bittelmeyer/van Bruggen/Heim/ Kramer, Betriebliche Zeitgestaltung für die Zukunft, 2005; Heinze, Flexible Arbeitszeitmodelle, NZA 1997, 681; v. Hoyningen-Huene/Meyer-Krenz, Flexibilisierung des Arbeitsrechts durch Verlagerung tariflicher Regelungskompetenzen auf den Betrieb, ZfA 1988, 311; Leinemann, Wirkungen von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen auf das Arbeitsverhältnis, DB 1990, 732; Schliemann, ArbZG, Kommentar, 2008; Wisskirchen/Bissels, Arbeiten, wenn Arbeit da ist – Möglichkeiten und Grenzen der Vereinbarungsbefugnis zur Lage der Arbeitszeit, NZA-Beil. 2006, 24; Ziepke/Weiss, Kommentar zum MTV Metall NRW, 4. Aufl. 1998.

I. Zweck und Kontext Arbeit und Entgelt stehen im Synallagma und bedingen sich damit. Deshalb ist die Arbeitszeitfrage auch immer mit Entgeltfragen verbunden, weshalb beide 1 HWK/Krause, § 616 BGB Rz. 46. 2 BAG v. 3.11.2004 – 4 AZR 543/03, NZA 2005, 1432.

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Teil 5 (5) Rz. 2

Arbeitszeit

Dinge zu regeln, zu den Essentialia tarifvertraglicher Normierungen gehört1. Dennoch sollte man beide Fragen strikt auseinanderhalten. Was arbeitszeitrechtlich möglich oder nicht möglich ist, hat nicht zugleich auch Auswirkungen auf das Entgelt. 2

Bei der Gestaltung von Arbeitszeit geht es darum, den betrieblichen Notwendigkeiten Rechnung zu tragen, um so die Arbeitskraft des Arbeitnehmers sinnvoll in Anspruch nehmen zu können und zugleich eine optimale Nutzung der im Betrieb eingesetzten materiellen Arbeitsmittel zu gewährleisten. So stehen als Ziele der Arbeitszeitgestaltung im Vordergrund2: – Verkürzung der Durchlaufzeiten und Lieferfristen – bessere Nutzung von (insb. kapitalintensiven) Betriebsmitteln durch bewegliche Kopplung von Arbeits- und Betriebszeiten – wirksamer Einsatz von Arbeitskräften durch Verringerung von Leerlaufzeiten – kundengerechte Ansprech- und Öffnungszeiten – reibungslose innerbetriebliche Kommunikation – Vermeidung zuschlagspflichtiger Mehrarbeit – Erhöhung von Arbeitsmotivation und –zufriedenheit – Senkung des Krankenstandes – Vermeidung teurer Kündigungen und Sozialpläne.

3

Die betrieblichen Notwendigkeiten haben in der Vergangenheit immer mehr zu einer Flexibilisierung der arbeitszeitrechtlichen Vorgaben geführt, die auf den Betrieb zugeschnittene Arbeitszeitlösungen zulassen. Hierbei handelt es sich allerdings nicht um eine Einbahnstraße; denn Flexibilisierung zielt auf die betrieblichen Belange ebenso ab wie auf die Belange der Beschäftigten im Sinne der Schaffung einer sog. work-life-balance.

4

Zunehmend kommt der Arbeitszeit aber auch eine Bedeutung im Hinblick auf das Arbeitsleben insgesamt zu. Galt es bislang, durch Modelle des Vorruhestandes und der Altersteilzeit auf die Dauer des Arbeitslebens Einfluss zu nehmen, geschieht dies nunmehr verstärkt durch langfristig angelegte Arbeitszeitkonten, die – wenn auch nicht nur, so aber doch primär – aus mit der Arbeit verbundenem Zeitguthaben gespeist werden.

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§ 2 Abs. 1 ArbZG definiert als Arbeitszeit die Zeit vom Beginn bis zum Ende der Arbeit ohne die Ruhepausen. Weiter ging der EuGH in seiner SIMAP-Entscheidung3 aus dem Jahr 2000. Dort definierte er die Arbeitszeit als „jede Zeitspanne, während derer ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeiten ausübt oder Aufgaben wahrnimmt“. Zwar 1 MünchArbR/Reichold, § 36 Rz. 83 spricht von „tarifvertraglichen Urgestein“. 2 Zu Folgendem s. Heinze, NZA 1997, 681; Hegner u.a., S. 5 ff. 3 EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98, NZA 2000, 1227.

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Arbeitszeit

Rz. 8 Teil 5 (5)

hat der Gesetzgeber diesen weiten Arbeitszeitbegriff nicht in das nationale Recht übernommen, wohl aber den Bereitschaftsdienst in Umsetzung dieser Rechtsprechung der Arbeitszeit zugerechnet1. Dies hat auch die TV-Parteien – jedenfalls, soweit diese Systeme der Arbeitsbereitschaft tarifieren – zu einer Anpassung ihrer TVe veranlasst. Die heute gängigen tarifvertraglichen Rahmenregelungen legen zunächst die Dauer der Arbeitszeit fest. „Dauer der Arbeitszeit“ meint den Umfang der geschuldeten Arbeitszeit. Bislang war es üblich, die Dauer der Arbeitszeit wochenbezogen festzulegen. So bestimmt bspw. § 3 EMTV für die nordrheinwestfälische Metall- und Elektroindustrie „die tarifliche regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit ohne Pausen“. Die Arbeitszeit kann hier mit Zustimmung des Beschäftigten auf bis zu 40 Stunden verlängert werden, wovon allerdings nur bezogen auf einen Teil der Belegschaft von 18 % Gebrauch gemacht werden darf. Ähnliches gilt für den Bereich der chemischen Industrie, wofür eine tarifliche wöchentliche Regelarbeitszeit von 37,5 Stunden festgelegt ist, von der aber im Rahmen eines von 35 bis 40 Wochenstunden umfassenden Arbeitszeitkorridor nach unten wie nach oben abgewichen werden kann.

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Inzwischen werden aber auch Jahresarbeitszeitmodelle vereinbart. Hierfür enthält bspw. der BRTV Garten-, Landschafts- und Sportplatzbau in seinem § 4a eine Öffnungsklausel, wonach in Betrieben oder selbständigen Betriebsabteilungen Jahresarbeitszeitvereinbarungen in Betrieben mit Betriebsrat durch Betriebsvereinbarung, in Betrieben ohne Betriebsrat durch individuelle, schriftliche Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer getroffen werden können. Für die Praxis macht es allerdings keinen Unterschied, ob die Arbeitszeit jahresbezogen festgelegt ist oder vorgesehen ist, dass die regelmäßige tarifliche wöchentliche Arbeitszeit in einem sog. Verteilzeitraum erreicht werden kann2. Von einem solchen spricht man, soweit es um die Frage geht, wie das geschuldete Arbeitszeitvolumen über einen bestimmten Zeitraum hinweg verteilt wird. Mittels der Arbeitszeitverteilung wird erreicht, dass die Arbeit flexibel abgerufen werden kann, ohne dass dies zu einem schwankenden Einkommen führt. Eine Ausnahme ergibt sich, was die Vergütungsfrage anbetrifft lediglich hinsichtlich solcher Zuschläge, die wie im Falle der steuerbegünstigten Sonn-, Feiertags- oder Nachtarbeit von tatsächlicher Arbeitsleistung abhängig sind.

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Während die Dauer in aller Regel – ggf. zusammen mit der Festlegung von Abweichungsmöglichkeiten – tarifvertraglich vorgegeben ist, ist die Festlegung der Lage der Arbeitszeit, also der Zeit, zu der konkret die Arbeitsleistung zu erbringen ist, regelmäßig in die Hand der Betriebs- bzw. Individualvertragsparteien gelegt3. Haben diese die Lage der Arbeitszeit nicht konkretisieret, obliegt

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1 S. auch Schliemann, § 2 ArbZG Rz. 5 ff. 2 So bspw. in § 2 I Ziff. 1 MTV Chemie, wonach die regelmäßige tarifliche oder abweichend festgelegte wöchentliche Arbeitszeit auch im Durchschnitt eines Verteilzeitraums von bis zu 12 Monaten erreicht werden kann; dieser kann auf bis zu 36 Mon. verlängert werden. Einen Verteilzeitraum von längstens sechs Monaten sieht § 4 Ziff. 1 EMTV für die Metall- und Elektroindustrie NRW vor. 3 Hanau, NZA-Beil. 2006, 34, bringt es daher auf die Formel „Die Lage der Arbeitszeit ist recht flexibel, die Dauer der Arbeitszeit recht unflexibel“.

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Teil 5 (5) Rz. 9

Arbeitszeit

deren Festlegung dem Arbeitgeber im Rahmen des ihm nach § 106 GewO zustehenden Direktionsrechts; er hat dabei allerdings das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach Maßgabe des § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG zu beachten. 9

Unstreitig kann von der tarifvertraglich festgelegten Dauer der Arbeitszeit zugunsten des Arbeitnehmers abgewichen werden. Er kann also mit weniger Arbeit betraut werden. Dies gilt jedenfalls, soweit damit keine Entgelteinbußen verbunden sind. Ansonsten bedarf es einer kollektiv- oder individualvertraglichen Rechtsgrundlage, aufgrund derer mit unmittelbarer Wirkung für das Entgelt in den Umfang der geschuldeten Arbeitsleistung eingegriffen werden kann1. Als problematisch wird indes der Fall angesehen, in dem der Individualvertrag eine längere Arbeitszeit als die tarifvertragliche vorsieht – das auch dann, wenn mit dem Mehr an Arbeit ein entsprechendes Mehr an Vergütung verbunden ist. Hier stellt sich dann die Frage, ob eine derartige Vereinbarung kraft Günstigkeit Bestand hat. Fest steht zunächst, dass eine Argumentation über die öffentliche Schutzfunktion arbeitszeitrechtlicher Tarifregelung obsolet ist; denn den Gründen des Gesundheitsschutzes trägt bereits der Gesetzgeber mit seinen Regelungen im ArbZG Rechnung2. Richtigerweise wird man eine individualvertragliche Regelung über die Höhe der Arbeitszeit im Zusammenhang mit deren Vergütung sehen und einer Prüfung zuführen müssen. Bleibt das synallagmatische Austauschverhältnis gewahrt oder steigt gar für das Mehr an Arbeitsleistung auch die Höhe der im Einzelnen zu leistenden Vergütung, ist von einer neutralen oder gar günstigeren Regelung für den Arbeitnehmer auszugehen. Dies zu vereinbaren, obliegt den Arbeitsvertragsparteien im Rahmen der von ihnen ausgeübten Privatautonomie3. Um diese geht es und nicht um die Tarifautonomie, aus der über den Weg des Günstigkeitsvergleichs ein zentraler Regelungsgegenstand herausgebrochen sein soll4. Jedes andere Ergebnis würde die Funktion von TVen als ein die Privatautonomie stärkendes Instrument5 verkennen. Somit ist davon auszugehen, dass das Günstigkeitsprinzip grundsätzlich auch Anwendung findet, soweit es um das Abweichen von tarifvertraglichen Arbeitszeitregelungen geht. Eine andere Frage ist die nach dem zu treffenden Günstigkeitsmaßstab. Hier wird man das objektiv zu beurteilende Interesse des einzelnen Arbeitnehmers heranzuziehen haben. Um dem Rechnung zu tragen, wird teilweise nicht nur auf die Interessenlage bei Vereinbarung der höheren Arbeitszeit abgestellt, sondern auch darauf, ob dem Arbeitnehmer die Möglichkeit eingeräumt ist, jederzeit in ange1 S. in diesem Zusammenhang zum klassischen Fall der Arbeitszeitverkürzung im Rahmen von Kurzarbeit: Säcker/Oetker, ZfA 1991, 131. 2 Leinemann, DB 1990, 734; MünchArbR/Reichold, § 36 Rz. 85. 3 S. insoweit auch Heinze, NZA 1997, 684, wonach stets schon dann von einer günstigeren Regelung auszugehen ist, wenn der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer tariflich oder betriebsverfassungsrechtlich begründete Arbeitszeitmodelle neben individuellen Arbeitszeitmodellen zur Wahl stellt und der Arbeitnehmer sich für das individuelle Modell entscheidet; vgl. ferner Hanau, NZA-Beil. 2006, 34, der die Freiheit des Arbeitnehmers zur Verwertung seiner Arbeitskraft unter den Schutz des Art. 12 GG gestellt und einen Eingriff darin nur für den Fall als gerechtfertigt ansieht, wenn ein unmittelbarer Bezug zur Beschäftigungssicherung gegeben ist. 4 So nämlich Däubler, DB 1989, 2534. 5 S. dazu Heinze, NZA 1991, 331; Natzel, NZA 2005, 904.

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Rz. 10 Teil 5 (5)

messener Frist zur tariflichen Arbeitszeitregelung zurückkehren zu können1. Durch ein solches Rückkehrrecht zur tariflich fixierten Normalarbeitszeit wird es dem einzelnen Arbeitnehmer in die Hand gegeben zu entscheiden, was er für das für ihn günstigere Ergebnis hält2.

II. Beispiele § 2 MTV Chemie – Regelmäßige Arbeitszeit

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I. Dauer und Verteilung der Arbeitszeit 1. Die regelmäßige tarifliche wöchentliche Arbeitszeit an Werktagen beträgt ausschließlich der Pausen 37,5 Stunden. Sie gilt nicht für Teilzeitbeschäftigte und Arbeitnehmer mit Arbeitsbereitschaft im Sinne des § 5. Die regelmäßige tarifliche oder abweichend festgelegte wöchentliche Arbeitszeit kann auch im Durchschnitt eines Verteilzeitraums von bis zu 12 Monaten erreicht werden. Bei der Verteilung der regelmäßigen Arbeitszeit kann die tägliche Arbeitszeit bis zu 10 Stunden betragen. Im Übrigen werden die Möglichkeiten der Verteilung der Arbeitszeit nach den gesetzlichen Bestimmungen nicht berührt. Durch freiwillige Betriebsvereinbarung können Arbeitgeber und Betriebsrat den Verteilzeitraum auf bis zu 36 Monate verlängern. In diesem Fall gilt für § 7d Absatz 1 Ziffer 2 des Sozialgesetzbuches IV der in der Betriebsvereinbarung festgelegte Zeitraum, höchstens jedoch 36 Monate. Im Rahmen flexibler Arbeitszeitregelungen, die unterschiedliche tägliche Arbeitszeiten ermöglichen, ist durch Betriebsvereinbarung die zeitliche Lage der betrieblichen Normalarbeitszeit festzulegen. Die betriebliche Normalarbeitszeit ist u.a. Grundlage für die Berechnung der Entgeltfortzahlung ohne Arbeitsleistung. Wird wöchentlich an fünf Werktagen gearbeitet, so beträgt die betriebliche tägliche Normalarbeitszeit ein Fünftel der regelmäßigen tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit, soweit betrieblich keine andere tägliche Arbeitszeit vereinbart worden ist. Bei gleitender Arbeitszeit wird, wenn sich Arbeitgeber und Betriebsrat nicht einigen, abweichend von Absatz 4 die wöchentliche Sollarbeitszeit bei der Arbeitszeitverkürzung von 39 auf 37,5 Stunden um 1,5 Stunden reduziert. 2. Für Wechselschichtarbeitnehmer in vollkontinuierlichen und teilkontinuierlichen Betrieben beträgt die regelmäßige wöchentliche Gesamtarbeitszeit ausschließlich der Pausen 37,5 Stunden. Eine geringfügige durch den Schichtplan bedingte Überschreitung der 37,5 Stunden ist mit Zustimmung des Betriebsrats zulässig. In vollkontinuierlichen Betrieben bleibt es der betrieblichen Vereinbarung überlassen, zur Erreichung zusätzlicher Sonntagsfreischichten Schichten bis zu 12 Stunden an Sonntagen einzulegen.

1 Löwisch, BB 1991, 62; MünchArbR/Reichold, § 36 Rz. 84. 2 v. Hoyningen-Huene/Meyer-Krenz, ZfA1988, 313.

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Teil 5 (5) Rz. 10

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Die Arbeitszeiten in vollkontinuierlichen und teilkontinuierlichen Betrieben sind im Rahmen eines betrieblichen Schichtplans zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat zu vereinbaren unter Zugrundelegung eines Verteilzeitraums von bis zu 12 Monaten. Die tägliche Arbeitszeit kann auf 12 Stunden verlängert werden, wenn in die Arbeitszeit regelmäßig und in erheblichem Umfang Arbeitsbereitschaft fällt1; Absatz 2 bleibt unberührt. 3. Für einzelne Arbeitnehmergruppen oder mit Zustimmung der Tarifvertragsparteien für größere Betriebsteile oder ganze Betriebe kann im Einvernehmen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat abweichend von der regelmäßigen tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit eine bis zu zweieinhalb Stunden längere oder kürzere regelmäßige Arbeitszeit festgelegt werden. Die Arbeitnehmer haben Anspruch auf eine der vereinbarten Arbeitszeit entsprechende Bezahlung. Diese Arbeitnehmer erhalten zusätzliches Urlaubsgeld und vermögenswirksame Leistungen in gleicher Höhe wie vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer. 4. Durch Betriebsvereinbarung können Arbeitgeber und Betriebsrat abweichend von § 5 Absatz 1 ArbZG die Ruhezeit in Ausnahmefällen um bis zu 2 Stunden kürzen, wenn die Art der Arbeit dies erfordert und die Kürzung der Ruhezeit innerhalb eines Ausgleichszeitraums von 6 Monaten ausgeglichen wird. II. Beginn und Ende der Arbeitszeit Beginn und Ende der regelmäßigen täglichen Arbeitszeit und der Pausen werden betrieblich im Einvernehmen mit dem Betriebsrat geregelt. III. Pausen Den Arbeitnehmern sind mindestens die gesetzlich vorgeschriebenen Pausen zu gewähren. Pausen sind in ihrem Beginn und Ende gleichbleibende oder vorhersehbare Unterbrechungen der Arbeitszeit von bestimmter Dauer, sie dienen der Erholung. Wird der Arbeitnehmer während einer Pause ausnahmsweise zur Leistung von Arbeit herangezogen, so ist die Zeit der Unterbrechung der Pause als Arbeitszeit zu bezahlen. Die dabei ausgefallene Pausenzeit ist am gleichen Tage nachzugewähren, falls nicht ausnahmsweise dringende betriebliche Gründe eine Nachgewährung verhindern. (…) Arbeitnehmer in voll- und teilkontinuierlicher Wechselschichtarbeit können statt fester Ruhepausen Kurzpausen von angemessener Dauer gewährt werden. Diese Kurzpausen gelten als Arbeitszeit und sind entsprechend zu bezahlen. (…)

1 Die Tarifvertragsparteien sind sich einig, dass Regelungen nach § 5 nicht unter diese Bestimmung fallen und dass in den Betrieben, in denen bisher 12-Stunden-Schichtsysteme praktiziert wurden, diese einschließlich der Pausenregelungen weitergeführt werden können.

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Rz. 11 Teil 5 (5)

IV. Frühschluss (…) V. Gleitende Arbeitszeit Gleitende Arbeitszeit kann durch Betriebsvereinbarung eingeführt werden. Bei gleitender Arbeitszeit kann die tägliche Arbeitszeit bis zu 10 Stunden betragen. Zeitschulden oder Zeitguthaben sind im Abrechnungszeitraum auszugleichen. Betrieblich ist festzulegen, bis zu welcher Höhe Zeitguthaben oder Zeitschulden in den nächsten Abrechnungszeitraum übertragen werden können. Die zu übertragenden Zeitguthaben oder Zeitschulden dürfen jedoch 16 Stunden nicht überschreiten. Kann der Zeitausgleich wegen Krankheit, Urlaub, Dienstreise oder aus ähnlichen Gründen nicht erfolgen, so ist er spätestens im darauffolgenden Abrechnungszeitraum vorzunehmen. Beginn, Ende und Dauer der Pausen können variabel gestaltet werden. Die gesetzlichen Vorschriften über die Mindestdauer und über die zeitliche Lage der Ruhepausen sind zu beachten. Zeitguthaben und Zeitschulden bleiben bei der Ermittlung der Höhe des Urlaubsentgelts, bei der Entgeltfortzahlung nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz und bei entsprechenden gesetzlichen, tariflichen oder betrieblichen Leistungen des Arbeitgebers außer Ansatz. Zuschlagspflichtige Mehrarbeit ist die über die Dauer der betrieblichen Normalarbeitszeit ausschließlich der Pausen hinausgehende Arbeit, soweit sie ausdrücklich angeordnet war. Zeitguthaben sind keine Mehrarbeit. Der Ausgleich von Zeitguthaben darf nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Urlaub erfolgen. In den Fällen der Freistellung von der Arbeit ist bei der Entgeltfortzahlung die zeitliche Lage der betrieblichen Normalarbeitszeit zugrunde zu legen. Wird wöchentlich an 5 Werktagen gearbeitet, so beträgt die betriebliche tägliche Normalarbeitszeit ein Fünftel der regelmäßigen tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit, soweit betrieblich oder arbeitsvertraglich keine andere tägliche Arbeitszeit vereinbart worden ist. Über eine Aussetzung der Regelung der gleitenden Arbeitszeit ist der Betriebsrat unverzüglich zu unterrichten, sofern nicht nur einzelne Arbeitnehmer betroffen sind. Soll die Regelung der gleitenden Arbeitszeit für mehr als zwei aufeinanderfolgende Arbeitstage ausgesetzt werden, so ist hierfür das Einvernehmen mit dem Betriebsrat erforderlich, sofern nicht nur einzelne Arbeitnehmer betroffen sind. 11

§ 5 MTV Chemie: Arbeitszeit der Arbeitnehmer mit Arbeitsbereitschaft I. 1. Für Arbeitnehmer, in deren Arbeitszeit regelmäßig und in erheblichem Umfange Arbeitsbereitschaft enthalten ist, kann die regelmäßige wöchentliche Gesamtarbeitszeit auf 46,5 Stunden wöchentlich (10 Stunden täglich) ausgedehnt werNatzel

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Teil 5 (5) Rz. 12

Arbeitszeit

den. Für LKW-Fahrer und Beifahrer darf die regelmäßige wöchentliche Gesamtarbeitszeit 45 Stunden wöchentlich (10 Stunden täglich) nicht überschreiten. 2. Arbeitsbereitschaft liegt vor, wenn der Arbeitnehmer an seinem Arbeitsplatz im Betrieb oder an einer sonstigen vom Arbeitgeber bestimmten Stelle ohne Entfaltung seiner vollen Arbeitstätigkeit anwesend und jederzeit in der Lage ist, sofort volle Arbeitstätigkeit zu entfalten (…) 3. (…) II. Für solche Arbeitnehmer, deren höchstens 24stündige Anwesenheitszeit im Betrieb sich unterteilt in Arbeit, Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftsruhe … gilt folgende Regelung: 1. Zu der regelmäßigen täglichen 8stündigen Arbeitszeit tritt eine regelmäßige tägliche Arbeitsbereitschaft bis zu 8 Stunden und eine regelmäßige tägliche Bereitschaftsruhezeit von mindestens 8 Stunden. Auf die Anwesenheitszeit im Betrieb (Arbeits-, Arbeitsbereitschafts- und Bereitschaftsruhezeit) muss regelmäßig jeweils eine Freizeit gleicher Länge folgen. Außerdem sind jährlich 35 weitere 24stündige Freizeiten in möglichst gleichmäßiger Verteilung zu gewähren. 2. Während der nach Ziff. 1 zulässigen Arbeitsbereitschaftszeit darf der Arbeitnehmer zusätzlich zu der regelmäßigen täglichen Arbeitszeit nach Ziff. 1 bis zu 3 Stunden nur zu solchen Arbeitsleistungen herangezogen werden, die in den betrieblichen Aufgabenbereich der oben genannten Arbeitnehmergruppen fallen oder ihm durch schriftlichen Arbeitsvertrag übertragen wurden. Entstehen Zweifel über den betrieblichen Aufgabenbereich, so sollen Arbeitgeber und Betriebsrat ihn gemeinsam klären. (…) 12

§ 3 EMTV: Dauer der regelmäßigen Ausbildungszeit/Arbeitszeit 1. Die tarifliche regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit ohne Pausen beträgt 35 Stunden. 2. (…) 3. Soll für einzelne Beschäftigte die individuelle regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit auf bis zu 40 Stunden verlängert werden, bedarf dies der Zustimmung des/der Beschäftigten. Lehnen Beschäftigte die Verlängerung ihrer individuellen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit ab, so darf ihnen daraus kein Nachteil entstehen. Bei der Vereinbarung einer solchen Arbeitszeit bis zu 40 Stunden hat der/die Beschäftigte Anspruch auf eine dieser Arbeitszeit angemessene Bezahlung. Die vereinbarte Arbeitszeit kann auf Wunsch des/der Beschäftigten oder des Arbeitgebers mit einer Ankündigungsfrist von 3 Monaten geändert werden, es sei denn, sie wird einvernehmlich früher geändert. Das Arbeitsentgelt wird dementsprechend angepasst. 348

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Rz. 13 Teil 5 (5)

Der Arbeitgeber teilt dem Betriebsrat jeweils vierteljährlich die Beschäftigten mit verlängerter individueller regelmäßiger wöchentlicher Arbeitszeit mit, deren Anzahl 18 % aller Beschäftigten und Auszubildenden des Betriebs nicht überschreiten darf. (…) § 6 TVöD – Regelmäßige Arbeitszeit1

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(1) Die regelmäßige Arbeitszeit beträgt ausschließlich der Pausen für a) die Beschäftigten des Bundes durchschnittlich 39 Stunden wöchentlich, b) die Beschäftigten der Mitglieder eines Mitgliedverbandes der VKA im Tarifgebiet West durchschnittlich 38,5 Stunden wöchentlich, im Tarifgebiet Ost durchschnittlich 40 Stunden wöchentlich; im Tarifgebiet West können sich die Tarifvertragsparteien auf landesbezirklicher Ebene darauf einigen, die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit auf bis zu 40 Stunden zu verlängern. Bei Wechselschichtarbeit werden die gesetzlich vorgeschriebenen Pausen in die Arbeitszeit eingerechnet. Die regelmäßige Arbeitszeit kann auf fünf Tage, aus notwendigen betrieblichen/dienstlichen Gründen auch auf sechs Tage verteilt werden. (2) Für die Berechnung des Durchschnitts der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit ist ein Zeitraum von bis zu einem Jahr zugrunde zu legen. Abweichend von Satz 1 kann bei Beschäftigten, die ständig Wechselschicht- oder Schichtarbeit zu leisten haben, ein längerer Zeitraum zugrunde gelegt werden. (3) (…) (4) (…) (5) Die Beschäftigten sind im Rahmen begründeter betrieblicher/dienstlicher Notwendigkeiten zur Leistung von Sonntags-, Feiertags-, Nacht-, Wechselschicht-, Schichtarbeit sowie – bei Teilzeitbeschäftigung aufgrund arbeitsvertraglicher Regelung oder mit ihrer Zustimmung – zu Bereitschaftsdienst, Rufbereitschaft, Überstunden und Mehrarbeit verpflichtet. (6) Durch Betriebs-/Dienstvereinbarung kann ein wöchentlicher Arbeitszeitkorridor von bis zu 45 Stunden eingerichtet werden. Die innerhalb eines Arbeitszeitkorridors geleisteten zusätzlichen Arbeitsstunden werden im Rahmen des nach Absatz 2 Satz 1 festgelegten Zeitraums ausgeglichen. (7) Durch Betriebs-/Dienstvereinbarung kann in der Zeit von 6 bis 20 Uhr eine tägliche Rahmenzeit von bis zu zwölf Stunden eingeführt werden. Die innerhalb der täglichen Rahmenzeit geleisteten zusätzlichen Arbeitsstunden werden im Rahmen des nach Absatz 2 Satz 1 festgelegten Zeitraums ausgeglichen. (8) Die Absätze 6 und 7 gelten nur alternativ und nicht bei Wechselschicht- und Schichtarbeit. (9) (…) 1 Der TV-Text ist ohne die dazugehörigen Protokollnotizen abgedruckt.

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Teil 5 (5) Rz. 14 14

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§ 7 TVöD – Sonderformen der Arbeit (1) Wechselschichtarbeit ist die Arbeit nach einem Schichtplan, der einen regelmäßigen Wechsel der täglichen Arbeitszeit in Wechselschichten vorsieht, bei denen Beschäftigte durchschnittlich längstens nach Ablauf eines Monats erneut zur Nachtschicht herangezogen werden. Wechselschichten sind wechselnde Arbeitsschichten, in denen ununterbrochen bei Tag und Nacht, werktags, sonntags und feiertags gearbeitet wird. Nachtschichten sind Arbeitsschichten, die mindestens zwei Stunden Nachtarbeit umfassen. (2) Schichtarbeit ist die Arbeit nach einem Schichtplan, der einen regelmäßigen Wechsel des Beginns der täglichen Arbeitszeit um mindestens zwei Stunden in Zeitabschnitten von längstens einem Monat vorsieht, und die innerhalb einer Zeitspanne von mindestens 13 Stunden geleistet wird. (3) Bereitschaftsdienst leisten Beschäftigte, die sich auf Anordnung des Arbeitgebers außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit an einer vom Arbeitgeber bestimmten Stelle aufhalten, um im Bedarfsfall die Arbeit aufzunehmen. (4) Rufbereitschaft leisten Beschäftigte, die sich auf Anordnung des Arbeitgebers außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit an einer dem Arbeitgeber anzuzeigenden Stelle aufhalten, um auf Abruf die Arbeit aufzunehmen. Rufbereitschaft wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass Beschäftigte vom Arbeitgeber mit einem Mobiltelefon oder einem vergleichbaren technischen Hilfsmittel ausgestattet sind. (5) Nachtarbeit ist die Arbeit zwischen 21 Uhr und 6 Uhr. (6) Mehrarbeit sind die Arbeitsstunden, die Teilzeitbeschäftigte über die vereinbarte regelmäßige Arbeitszeit hinaus bis zur regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von Vollbeschäftigten (§ 6 Abs. 1 Satz 1) leisten. (7) Überstunden sind die auf Anordnung des Arbeitgebers geleisteten Arbeitsstunden, die über die im Rahmen der regelmäßigen Arbeitszeit von Vollbeschäftigten (§ 6 Abs. 1 Satz 1) für die Woche dienstplanmäßig bzw. betriebsüblich festgesetzten Arbeitsstunden hinausgehen und nicht bis zum Ende der folgenden Kalenderwoche ausgeglichen werden. (8) Abweichend von Absatz 7 sind nur die Arbeitsstunden Überstunden, die im Falle der Festlegung eines Arbeitszeitkorridors nach § 6 Abs. 6 über 45 Stunden oder über die vereinbarte Obergrenze hinaus, im Falle der Einführung einer täglichen Rahmenzeit nach § 6 Abs. 7 außerhalb der Rahmenzeit, im Falle von Wechselschicht- oder Schichtarbeit über die im Schichtplan festgelegten täglichen Arbeitsstunden einschließlich der im Schichtplan vorgesehenen Arbeitsstunden, die bezogen auf die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit im Schichtplanturnus nicht ausgeglichen werden, angeordnet worden sind.

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§ 10 TVöD – Arbeitszeitkonto (1) Durch Betriebs-/Dienstvereinbarung kann ein Arbeitszeitkonto eingerichtet werden. Für einen Betrieb/eine Verwaltung, in dem/der ein Personalvertretungsgesetz Anwendung findet, kann eine Regelung nach Satz 1 auch in einem landesbezirklichen Tarifvertrag – für den Bund in einem Tarifvertrag auf Bun350

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Rz. 17 Teil 5 (5)

desebene – getroffen werden, wenn eine Dienstvereinbarung nicht einvernehmlich zustande kommt und der Arbeitgeber ein Letztentscheidungsrecht hat. Soweit ein Arbeitszeitkorridor (§ 6 Abs. 6) oder eine Rahmenzeit (§ 6 Abs. 7) vereinbart wird, ist ein Arbeitszeitkonto einzurichten. (2) In der Betriebs-/Dienstvereinbarung wird festgelegt, ob das Arbeitszeitkonto im ganzen Betrieb/in der ganzen Verwaltung oder Teilen davon eingerichtet wird. Alle Beschäftigten der Betriebs-/Verwaltungsteile, für die ein Arbeitszeitkonto eingerichtet wird, werden von den Regelungen des Arbeitszeitkontos erfasst. (3) Auf das Arbeitszeitkonto können Zeiten, die bei Anwendung des nach § 6 Abs. 2 festgelegten Zeitraums als Zeitguthaben oder als Zeitschuld bestehen bleiben, nicht durch Freizeit ausgeglichene Zeiten nach § 8 Abs. 1 Satz 5 und Abs. 2 sowie in Zeit umgewandelte Zuschläge nach § 8 Abs. 1 Satz 4 gebucht werden. Weitere Kontingente (z.B. Rufbereitschafts-/Bereitschaftsdienstentgelte) können durch Betriebs-/Dienstvereinbarung zur Buchung freigegeben werden. Die/Der Beschäftigte entscheidet für einen in der Betriebs-/Dienstvereinbarung festgelegten Zeitraum, welche der in Satz 1 genannten Zeiten auf das Arbeitszeitkonto gebucht werden. (4) Im Falle einer unverzüglich angezeigten und durch ärztliches Attest nachgewiesenen Arbeitsunfähigkeit während eines Zeitausgleichs vom Arbeitszeitkonto (Zeiten nach Absatz 3 Satz 1 und 2) tritt eine Minderung des Zeitguthabens nicht ein. (5) In der Betriebs-/Dienstvereinbarung sind insbesondere folgende Regelungen zu treffen: (…) (6) Der Arbeitgeber kann mit der/dem Beschäftigten die Einrichtung eines Langzeitkontos vereinbaren. In diesem Fall ist der Betriebs-/Personalrat zu beteiligen und – bei Insolvenzfähigkeit des Arbeitgebers – eine Regelung zur Insolvenzsicherung zu treffen.

III. Kommentierung 1. § 2 MTV Chemie – Regelmäßige Arbeitszeit (Rz. 10) Die wesentlichen arbeitszeitrechtlichen Rahmenregelungen enthält der MTV Chemie in seinem § 2. Dort wird die regelmäßige Wochenarbeitszeit ausschließlich der Pausen – gemeint sind echte Ruhepausen – auf 37,5 Stunden festgelegt. Für ältere Arbeitnehmer gilt aufgrund einer Regelung zu sog. Altersfreizeiten eine wöchentlich 2 1/ 2- bzw. 3 1/ 2-stündig verkürzte Arbeitszeit (§ 2a MTV Chemie).

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Von der wochenbezogen festgelegten Arbeitszeitdauer von 37,5 Stunden ist die tagesbezogene Dauer der Höchstarbeitszeit zu unterscheiden. Diese kann gemäß § 2 I Ziff. 1 Abs. 2 MTV Chemie bis zu zehn Stunden betragen. Mit dieser Regelung haben die TV-Parteien von der Öffnungsklausel des § 7 Abs. 1 ArbZG Gebrauch gemacht.

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Teil 5 (5) Rz. 18

Arbeitszeit

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Die tägliche Arbeitszeit kann aber auch auf bis zu 12 Stunden hochgefahren werden. Dies gilt aufgrund einer betrieblichen Vereinbarung zur Erreichung zusätzlicher Sonntagsfreischichten in vollkontinuierlich laufenden Betrieben (§ 2 I Ziff. 2 Abs. 2 MTV Chemie). Ferner kann die tägliche Arbeitszeit auf zwölf Stunden verlängert werden, wenn in die Arbeitszeit regelmäßig und in erheblichem Umfang Arbeitsbereitschaft fällt (§ 2 I Ziff. 2 Abs. 4 MTV Chemie).

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Zwei wesentliche Flexibilisierungselemente enthält der TV durch die Möglichkeit, die Arbeitszeit über einen bestimmten Zeitraum hinweg zu verteilen (Verteilzeitraum) sowie die Dauer der Arbeitszeit abweichend von der tariflich festgelegten Wochenarbeitszeit zu bestimmen (Arbeitszeitkorridor).

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Die regelmäßige tarifliche Wochenarbeitszeit von 37,5 Stunden kann im Durchschnitt eines Verteilzeitraumes von bis zu zwölf Monaten, durch freiwillige Betriebsvereinbarung auch bis zu 36 Monaten erreicht werden. Innerhalb dieses vom TV vorgegebenen Rahmens kann der Arbeitgeber aufgrund des ihm zustehenden Direktionsrechts (§ 106 GewO) grundsätzlich die Verteilung der Arbeitszeit nach billigem Ermessen vornehmen; das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats ist dabei zu beachten (s. § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG). Das Weisungsrecht kann allerdings arbeitsvertraglich durch eine konkrete Festlegung der Lage der Arbeitszeit eingeschränkt sein; dies ist in der Praxis vielfach bei Teilzeitbeschäftigten der Fall1.

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Neben der vorerwähnten Regelung über einen Verteilzeitraum haben die TVParteien inzwischen Langzeitkonten in das System der Chemie-Tarifverträge im Rahmen ihres TVes Lebensarbeitszeit und Demografie zu Zwecken einer flexiblen Gestaltung der Lebensarbeitszeit eingeführt. Als Langzeitkonto gelten Arbeitszeitkonten mit einem Verteilzeitraum von über zwölf (ggf. auch bis zu 36) Monaten und einer entsprechenden Zweckbestimmung im Sinne der tarifvertraglichen Vorgaben. Langzeitkonten sind von den Konten zur Arbeitszeitflexibilisierung, wie sie durch die auf bis zu 12, ggf. auch bis zu 36 Monaten laufenden Verteilzeiträume nach Maßgabe des § 2 I MTV Chemie ermöglicht werden, zu unterscheiden und getrennt zu führen. Sie können aber auch auf andere Weise als in Zeit gefüllt werden.

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Neben der Verteilung der Arbeitszeit enthält der TV durch den Arbeitszeitkorridor eine Flexibilisierung für die Dauer der Arbeitszeit. Dieser ermöglicht es den Betriebsparteien, von der tariflichen Regelarbeitszeit von 37,5 Stunden um bis zu zweieinhalb Stunden nach oben wie nach unten abzuweichen, wofür regelmäßig2 die Zustimmung der TV-Parteien erforderlich ist (§ 2 I Ziff. 3 MTV Chemie). Auch für diese abweichend festgelegte Regelarbeitszeit gilt der Verteilzeitraum des § 2 I Ziff. 1 MTV Chemie; Differenzierung und Variierung der Arbeitszeit ist also kombinierbar. Zu berücksichtigen ist, dass die im Rahmen des Arbeitszeitkorridors betrieblich abweichend festgelegte Arbeitszeit eine echte tarifliche Arbeitszeit darstellt. Dies bedeutet, dass ein Arbeitnehmer, dessen Arbeitszeit infolge der Anwendung des Arbeitszeitkorridors weniger als 1 S. auch BAG 17.7.2007 – 9 AZR 819/06, NZA 2008, 118. 2 Ausnahme bildet die differenzierte Festlegung der Arbeitszeit für einzelne Arbeitnehmergruppen.

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Rz. 25 Teil 5 (5)

37,5 Stunden beträgt, ein echter Vollzeitarbeitnehmer ist. Zugleich bedeutet dies, dass sich alle weiteren Leistungen nach dieser abweichend festgelegten Arbeitszeit bemessen; auch für die Frage, ab wann von Mehrarbeit auszugehen ist, ist diese abweichend vom TV festgelegte Arbeitszeit maßgeblich. Über den im Arbeitszeitkorridor vorgesehenen Umfang hinaus kann die Arbeitszeit im Rahmen der Tariföffnungsklausel „Tarifkonkurrierende Bereiche“ verändert und so an die eines tarifkonkurrierenden Bereichs durch einen firmenbezogenen VerbandsTV angepasst werden; siehe dazu auch fi (17) Öffnungsklauseln/ Genehmigungsvorbehalte. Die gesetzlich vorgeschriebenen Ruhepausen sind einzuhalten (§ 2 III MTV Chemie). In solchen Ruhepausen muss der Arbeitnehmer frei über sich und seine Arbeitskraft verfügen können1. Da die Einhaltung von Ruhepausen in kontinuierlich laufenden Schichtbetrieben praktische Probleme mit sich bringt, legt § 2 III Ziff. 5 MTV Chemie fest, dass bei einer voll- und teilkontinuierlichen Wechselschichtarbeit bezahlte Kurzpausen von angemessener Dauer an Stelle fester Ruhepausen gewährt werden können. Damit wird von der Öffnungsklausel des § 7 Abs. 1 Nr. 2 ArbZG Gebrauch gemacht und ein kontinuierlicher Lauf von Schichtbetrieben ermöglicht.

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Von Ruhepausen sind Ruhezeiten nach Maßgabe des § 5 ArbZG zu unterscheiden. Diese Regelung des ArbZG verlangt, dass zwischen den Arbeitsblöcken eine ununterbrochene Ruhezeit von mindestens elf Stunden liegt. Für die chemische Industrie haben die TV-Parteien auf der Grundlage der Öffnungsklausel des § 7 Abs. 1 Nr. 3 ArbZG eine abweichende Regelung getroffen und in § 2 I Ziff. 4 MTV Chemie bestimmt, dass durch Betriebsvereinbarung die Ruhezeit in Ausnahmefällen um bis zu zwei Stunden gekürzt werden kann, wenn die Art der Arbeit dies erfordert und die Kürzung der Ruhezeit innerhalb eines Ausgleichszeitraums von sechs Monaten ausgeglichen wird. Schichtsysteme mit generell verkürzten Ruhezeiten werden allerdings dadurch nicht ermöglicht.

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Mit der Normierung von Verteilzeiträumen ist die in § 2 V MTV Chemie enthaltene Regelung über Gleitzeit in den Hintergrund geraten. Sie bedarf der Einführung durch Betriebsvereinbarung. Bei der Festlegung der Lage der Kernarbeitszeit sowie der Gleitzeiträume haben die Betriebsparteien die arbeitszeitrechtlichen Vorgaben zu beachten. Zeitschulden oder -guthaben sind nach § 2 V Abs. 3 MTV Chemie „im Abrechnungszeitraum“ auszugleichen. In der Regel ist dies der Kalendermonat; er kann aber auch abweichend mit Zustimmung des Betriebsrats festgelegt werden. Übersteigt das am Ende des Abrechnungszeitraums bestehende Zeitguthaben die tarifvertraglich oder abweichend davon betrieblich festgelegte Grenze, verfällt der Teil des Zeitguthabens, der über die festgelegte Übertragungsgrenze hinausgeht. Der Arbeitnehmer hat also darauf zu achten, dass sein Zeitguthaben am Ende des Abrechnungszeitraums die festgelegte Grenze nicht übersteigt. Bleibt am Ende des Arbeitsverhältnisses ein Zeitguthaben, kann dieses – ggf. finanziell – auszugleichen sein2.

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1 BAG v. 5.5.1988 – 6 AZR 658/85, NZA 1989, 138. 2 BAG v. 13.12.2000 – 5 AZR 343/99, NZA 2002, 390.

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Teil 5 (5) Rz. 26

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Als problematisch erweist es sich, wie arbeitszeittechnisch in Fällen der Abwesenheit zu verfahren ist. Aus diesem Grunde legt § 2 V Abs. 10 MTV Chemie fest, dass vorbehaltlich einer anderen Regelung die betriebliche Normalarbeitszeit grundsätzlich ein Fünftel der regelmäßigen tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit beträgt.

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Ist die betriebliche Normalarbeitszeit nicht festgelegt, ist auf die Regelung des Abs. 10 zurückzugreifen. Als betriebliche tägliche Normalarbeitszeit gilt dann also ein Fünftel der regelmäßigen tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit.

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Der MTV Chemie regelt in seinem § 3 die Fälle von Mehrarbeit, Nachtarbeit, Sonn- und Feiertagsarbeit. Im Falle von Mehrarbeit1 gilt das Prinzip „Freizeitausgleich vor Zuschlagspflicht“; s. hierzu fi (15) Mehrarbeitsregelungen. Als Nachtarbeit definiert § 3 II MTV Chemie die Arbeit, die in der Zeit zwischen 22 Uhr und 6 Uhr geleistet wird, wobei dieser Zeitraum unter Wahrung der Zeitspanne von acht Stunden aus Verkehrs- oder aus sonstigen Gründen abweichend geregelt werden. Ebenfalls eine Abweichungsmöglichkeit sieht der TV für die Zeitspanne der Sonn- und Feiertagsarbeit vor (§ 3 III Satz 1 MTV Chemie). Er geht vom Grundsatz aus, dass eine solche Arbeit diejenige an Sonnund Feiertagen von 6 Uhr bis 6 Uhr darstellt. Doch auch dieser Zeitraum kann abweichend von den Betriebsparteien geregelt werden, wobei jedoch die Zeitspanne von 24 Stunden beibehalten werden muss. Jeweils sind bei der Festlegung der Zeiträume von Sonn-, Fertags- sowie Nachtarbeit die steuerrechtlichen Auswirkungen zu berücksichtigen; das EStG definiert in § 3 Abs. 3 eigenständig Zeiträume der Sonn-, Feiertags- und Nachtarbeit.

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Große Bedeutung hat in der chemischen Industrie die Schichtarbeit, wie sie in § 4 III Ziff. 1 MTV Chemie angesprochen ist. Nach der Rechtsprechung liegt Schichtarbeit vor, wenn eine bestimmte Arbeitsaufgabe über einen erheblich längeren Zeitraum als die wirkliche Arbeitszeit eines Arbeitnehmers erfüllt wird und von mehreren Arbeitnehmern oder Arbeitnehmergruppen in einer geregelten zeitlichen Reihenfolge erbracht wird; entscheidend ist insoweit, dass übereinstimmende Arbeitsaufgaben von untereinander austauschbaren Arbeitnehmern erbracht werden2. In der chemischen Industrie wird Schichtarbeit in voll- oder teilkontinuierlicher Form erbracht; sog. Wechselschichtarbeit. Diese Form der Schichtarbeit setzt regelmäßig voraus, dass der Arbeitsplatz durchgehend 24 Stunden besetzt ist. Ist dies ganzwöchig der Fall, spricht man von Vollkontinuität. Von fiktiver Vollkontinuität ist die Rede, wenn ein Arbeitsplatz auch in der Zeit von Samstag 14 Uhr bis Montag 6 Uhr ganz oder zeitweise besetzt ist. Bleibt er während jener Zeit unbesetzt, wird von Teilkontinuität gesprochen. Je nach dem, ob Voll- oder Teilkontinuität vorliegt, bemisst sich die Höhe der Schichtzulage.

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Auch für Wechselschichtarbeitnehmer gilt die regelmäßige tarifliche wöchentliche Arbeitszeit von 37,5 Stunden (§ 2 I Ziff. 2 Abs. 1 MTV Chemie). Nach § 2 I Ziff. 2 Abs. 3 MTV Chemie sind die Arbeitszeiten in voll- und teilkon1 Der umgekehrte Fall von Kurzarbeit ist in § 7 MTV Chemie geregelt. 2 BAG v. 20.6.1990 – 4 AZR 5/90, NZA 1990, 861.

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Rz. 32 Teil 5 (5)

tinuierlichen Betrieben im Rahmen eines betrieblichen Schichtplans unter Zugrundelegung eines Verteilzeitraums von bis zu zwölf Monaten und darüber hinaus zu vereinbaren. Bei der Schichtplangestaltung ist darauf zu achten, dass sie ein Schema für die Arbeitseinteilung zu erkennen gibt, damit ausgeschlossen werden kann, dass über die Schichtplangestaltung in willkürlicher Art und Weise auf dem Arbeitnehmer zustehende Rechtspositionen (insb. durch Umgehung eines ansonsten bestehenden Anspruches auf Entgeltfortzahlung) eingewirkt wird. Allerdings hat das BAG den Ausschluss von Entgeltfortzahlungsansprüchen dann als zulässig anerkannt, soweit sich die Arbeitsbefreiung aus dem Schema ergibt, das von der Feiertagsruhe an einem bestimmten Feiertag unabhängig ist1. Schichtarbeit ist mit einem ständigen Auf- und Abbau von Zeitguthaben verbunden. Letzterer erfolgt im Rahmen der Schichtplangestaltung durch Zeitausgleich in Form von Freischichten. Im Regelfall gilt hier in Ermangelung anderweitiger Regelungen2 das Glück-Pech-Prinzip, soweit ein Arbeitnehmer seinen Anspruch auf Zeitausgleich nicht realisieren konnte. Dies bedeutet, dass es im Risiko des Arbeitnehmers steht, den Zeitausgleich wegen einer krankheitsbedingten oder anderweitigen Verhinderung nicht realisieren zu können; kann also ein Arbeitnehmer bspw. wegen einer Erkrankung seinen Zeitausgleich nicht realisieren, kann dessen Nachgewährung nicht eingefordert werden3. Auf der anderen Seite ist er aber auch nicht zur Nacharbeit verpflichtet, wenn er einen planmäßigen Schichteinsatz etwa infolge einer Erkrankung nicht hat wahrnehmen können.

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Keine Schichtarbeit stellt die Arbeit in Arbeitsbereitschaft dar. Arbeitsbereitschaft sind Dienste, an denen sich der Arbeitnehmer an einer vom Arbeitgeber im oder außerhalb des Betriebs festgelegten Stelle auf gesonderte Anordnung hin für betriebliche Zwecke aufzuhalten hat, dort oder von dort aus zeitweilig zur Arbeit herangezogen wird, zeitweilig indessen nicht, was gelegentlich auch mit der Formulierung der „zeitweisen Aufmerksamkeit im Zustand der Entspannung“4 umschrieben wird. Zwar finden die Regelungen des TVes auch auf die Arbeitsverhältnisse von Arbeitnehmern in Arbeitsbereitschaft Anwendung, sofern sich nicht aus der Besonderheit dieses Rechtsverhältnisses etwas anderes ergibt. Eine anderweitige, den sonstigen Regelungen des TVes als lex specialis vorgehende Regelung ist aber in § 5 MTV Chemie enthalten. Aufgrund dieser Regelung gelten die Vorschriften über die regelmäßige tarifliche wöchentliche Arbeitszeit (§ 2 I Ziff. 1 Abs. 1 MTV Chemie) nicht. Für Mehrarbeit enthält § 5 III MTV Chemie eine die Mehrarbeitsregelung des § 3 I MTV Chemie verdrängende Regelung. Ebenfalls verdrängend wirkt die Vorschrift des § 5 II Ziff. 4 MTV Chemie über die Gewährung von SFN-Zuschlägen. Schließlich finden auch die Vorschriften über Schichtzulagen (§ 4 III MTV Chemie) und

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1 BAG v. 27.9.1983 – 3 AZR 159/81, DB 1984, 1251; BAG v. 9.10.1996 – 5 AZR 345/95, DB 1997, 480 f. 2 Anderweitige Regelungen enthält der TV in § 2 I Ziff. 1 Abs. 4, § 3 I Abs. 5 sowie § 12 I Ziff. 8 MTV Chemie. 3 BAG v. 2.12.1987 – 5 AZR 652/86, DB 1988, 1402. 4 S. etwa Schliemann, § 2 ArbZG Rz. 16.

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Teil 5 (5) Rz. 33

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zusätzlichen Urlaub für Schichtarbeitnehmer (§ 12 II Ziff. 2 MTV Chemie) keine Anwendung1. 33

Die tarifvertragliche Regelung zur Arbeitsbereitschaft hat einen rein arbeitszeitrechtlichen Charakter; aus ihr können also keine Vergütungsansprüche abgeleitet werden2. Aus diesem Grunde blieb auch die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache SIMAP3, was die vergütungsrechtliche Seite anbelangt, ohne Bedeutung; die Antwort auf die Frage, ob eine bestimmte Zeit als Arbeitszeit im Sinne der Arbeitszeitrichtline oder des ArbZG zu behandeln ist, gibt keine Auskunft über die Höhe einer zu zahlenden Vergütung. Diese richtet sich vielmehr nach der getroffenen betrieblichen oder einzelvertraglichen Vereinbarung4.

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Dem Einsatz in 24-stündiger Arbeitsbereitschaft hat eine Freizeit gleicher Länge zu folgen (§ 5 II MTV Chemie). Die Zeit der Arbeitsbereitschaft selbst teilt sich auf in acht Stunden Arbeitszeit, acht Stunden Arbeitsbereitschaft und acht Stunden Bereitschaftsruhezeit. Die Dauer der Zeiten unterschiedlicher Inanspruchnahme von jeweils acht Stunden ist regelmäßig einzuhalten. Allerdings bestehen hinsichtlich der zeitlichen Lage dieser Zeiten Gestaltungsmöglichkeiten. Lediglich zwingend ist es, die Bereitschaftsruhe zusammenhängend zu gewähren; hier ist ein Einsatz nur statthaft, wenn dieser innerhalb des Aufgabenbereichs unvorhergesehen erforderlich wird (s. § 5 II Ziff. 3 Abs. 2 MTV Chemie).

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Arbeitnehmer in Arbeitsbereitschaft erhalten jährlich 35 weitere 24-stündige Freizeiten, die in möglichst gleichmäßiger Verteilung zu gewähren sind; sie können Urlaubsansprüchen nicht gleichgesetzt werden5. Auch bei diesen zusätzlichen Freizeiten gilt das sog. „Glück-Pech-Prinzip“. Kann der Arbeitnehmer den durch den Schichtplan vorgegebenen Freizeitausgleich wegen krankheitsbedingter oder anderweitiger Verhinderung nicht realisieren, erwächst ihm also entsprechend dem „Glück-Pech-Prinzip“ kein Anspruch auf zusätzliche Freischichten. Andererseits ist er aber auch nicht zur Arbeitsleistung an einem Tag verpflichtet, an dem er laut Schichtplan frei gehabt hätte, wenn er zuvor an der Erbringung von Arbeitsleistung infolge einer Erkrankung, wegen Urlaubs oder aus sonstigen Gründen verhindert war.

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Der TV hat für Arbeitnehmer mit Arbeitsbereitschaft eine gesonderte Mehrarbeitsregelung. Danach gilt als zuschlagspflichtige Mehrarbeit diejenige Arbeitszeit, die über die Zeit der Arbeit und Arbeitsbereitschaft hinausgeht (§ 5 III MTV Chemie). Mehrarbeit kann also erst ab der 17. Arbeitsstunde anfallen. Aufgrund der Spezialität des § 5 III MTV Chemie gegenüber der Mehrarbeitsregelung des § 3 I MTV Chemie ist es nicht möglich, die Zuschlagspflicht durch Gewährung von Freizeit abzubedingen. 1 S. auch BAG v. 12.3.2008 – 4 AZR 616/06, DB 2009, 122. 2 So auch den vergütungsrechtlichen Aspekt einer arbeitszeitrechtlichen Regelung abgrenzend: BAG v. 5.6.2003 – 6 AZR 114/02, NZA 2004, 164; BAG v. 28.1.2004 – 5 AZR 530/02, NZA 2004, 656; BAG v. 12.3.2008 – 4 AZR 616/06, DB 2009, 122. 3 EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98, NZA 2000, 1227. 4 S. auch BAG v. 12.3.2008 – 4 AZR 616/06, DB 2009, 122. 5 BAG v. 2.12.1987 – 5 AZR 652/86, DB 1988, 1402.

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Rz. 40 Teil 5 (5)

2. § 3 EMTV: Dauer der regelmäßigen Ausbildungszeit/Arbeitszeit (Rz. 12) Der TV enthält zwei arbeitszeitrechtliche Grundbegriffe, die tarifliche wöchentliche Arbeitszeit und die individuelle regelmäßige Arbeitszeit, im Metallbereich auch unter der Abkürzung „IRWAZ“ verwendet. Die tarifliche wöchentliche Arbeitszeit beträgt ohne Pausen 35 Wochenstunden. Soweit es nicht anderweitig festgelegt ist, ist die tarifliche regelmäßige Wochenarbeitszeit auch zugleich die individuell vom Arbeitnehmer zu leistende Arbeitszeit. Allerdings gestattet der TV darüber hinaus auch eine individualrechtliche Abweichungsmöglichkeit, indem bestimmt ist, dass abweichend von der tariflichen Arbeitszeit für eine bestimmte Anzahl von Arbeitnehmern die individuelle regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit auf bis zu 40 Stunden pro Woche durch individualvertragliche Vereinbarung ebenso verlängert werden kann, wie sie einzelvertraglich im Rahmen eines Teilzeitmodells verkürzt werden kann. Diese Möglichkeit steht ausschließlich zur Disposition der Arbeitsvertragsparteien, ohne dass es insoweit einer Beteiligung des Betriebsrats bedarf1.

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Die Bestimmung einer individuellen regelmäßigen Arbeitszeit ist wie die tarifvertraglich festgelegte Wochenarbeitszeit zu behandeln. Sie bildet also die Grundlage der Entgeltfindung sowie der Feststellung des Vorliegens von Kurzund Mehrarbeit2.

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Die individuelle regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit kann im Rahmen eines Verteilzeitraumes von bis zu sechs Monaten erarbeitet werden. Dieser kann auf der Grundlage des TV Beschäftigungssicherung (im Folgenden: TV Besch) auf zwölf Monate oder in begründeten Ausnahmefällen auch darüber hinaus verlängert werden.

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Der TV Besch sieht weiter die Möglichkeit der kollektiven Absenkung der Arbeitszeit auf bis zu 30 Stunden vor3. Dies ist allerdings mit einer Erschwerung der Kündigungsmöglichkeit verbunden, indem betriebsbedingte Kündigungen gegenüber Beschäftigten, deren Arbeitszeit abgesenkt wurde, frühestens mit dem Ablauf der absenkenden Betriebsvereinbarung wirksam werden. Mit der durch den TV Besch eröffneten Absenkungsmöglichkeit ist eine Option geschaffen, auch auf die individuelle regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit einzuwirken. Können sich die Betriebsparteien über die Absenkung der tariflichen Arbeitszeit nicht einigen, kann unverzüglich nach Erklärung des Scheiterns der Gespräche die tarifliche Einigungsstelle nach Maßgabe der im TV Besch enthaltenen Vorschriften angerufen werden. Erfolgt dann aber eine Absenkung des Monatsentgelts, vermindert sich dieses entsprechend, indem es unter Berücksichtigung des zur tariflichen regelmäßigen Arbeitszeit reduzierten Arbeitszeitvolumens proportional gekürzt wird. Von der Absenkungsmöglichkeit kann in der Weise Gebrauch gemacht werden, dass die Arbeitszeit für die betroffenen Beschäftigten in unterschiedlicher Höhe und für unterschiedliche Zeiträume abgesenkt wird. Sie führt nicht zu einer Beschränkung der Einfüh-

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1 Ziepke/Weiss, MTV § 3 Anm. 1. 2 Ziepke/Weiss, MTV § 3 Anm. 2 Ziff. I.2. 3 Einzelheiten bei Ziepke/Weiss, MTV § 3 Anm. 2 Ziff. 5.

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Teil 5 (5) Rz. 41

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rung von Kurzarbeit. Auch wirkt sie sich nicht nachteilig auf die Bezugsbedingungen für Kurzarbeitergeld aus. Schließlich bleibt von der Absenkung der Status als Vollzeitbeschäftigter unberührt. 41

Soweit die Arbeitszeit individuell auf bis zu 40 Stunden verlängert wird, ist dies dadurch begrenzt, dass individuell vereinbarte Arbeitszeiten nicht mehr als 18 % aller Beschäftigten und Auszubildenden des Betriebs erfassen dürfen. Es ist der betriebsverfassungsrechtliche Betriebsbegriff zugrundezulegen. Nicht zu berücksichtigen bei der Beschäftigtenzahl sind im Rahmen von Werkverträgen tätige Personen, Zeitarbeitnehmer sowie Auslandsmonteure1.

3. §§ 6 ff. TVöD – Arbeitszeit im öffentlichen Dienst (Rz. 13 ff.) 42

Der TVöD legt in § 6 die regelmäßige Arbeitszeit fest. Über die in Abs. 2 enthaltene Regelung, dass für die Berechnung des Durchschnitts der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit ein Zeitraum bis zu einem Jahr zugrundezulegen ist, wird die Möglichkeit der Arbeitszeitverteilung eröffnet. Bei Arbeitnehmern, die ständig Wechsel- oder Schichtarbeit leisten, kann der Verteilzeitraum verlängert werden.

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Durch Betriebs- oder Dienstvereinbarung kann ein wöchentlicher Arbeitszeitkorridor von bis zu 45 Stunden eingerichtet werden. Eine echte Arbeitszeitverlängerung ist hierin allerdings nicht zu sehen. Denn die innerhalb dieses Arbeitszeitkorridors geleisteten zusätzlichen Arbeitsstunden sind innerhalb eines Jahres auszugleichen. Wohl aber entfaltet die Regelung insoweit eine entgeltrelevante Wirkung, indem infolge der Anhebung der wöchentlichen Arbeitszeit in Anwendung des Arbeitszeitkorridors bis zu 45 Stunden wöchentlich Arbeit abgefordert werden kann, ohne dass dafür ein Überstundenzuschlag gezahlt werden müsste; dieser kann also erst ab der 46. Arbeitsstunde anfallen.

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Durch Betriebs- oder Dienstvereinbarung kann eine tägliche Rahmenarbeitszeit von bis zu 12 Stunden in der Zeit von 6 bis 20 Uhr festgelegt werden. Überstunden fallen in diesem Fall nur dann an, wenn sie für Zeiten außerhalb des Rahmens angeordnet werden. Auch sie sind wiederum grundsätzlich innerhalb eines Jahres auszugleichen, es sei denn, sie werden als Wertguthaben in ein Arbeitszeitkonto eingebracht.

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§ 7 TVöD regelt Sonderformen der Arbeit und meint damit (Wechsel-)Schichtarbeit, Bereitschaftsdienste, Rufbereitschaft, Nachtarbeit, Mehrarbeit und Überstunden. Letztere sind die auf Anordnung des Arbeitsgebers geleisteten Arbeitsstunden, die im Rahmen der regelmäßigen Arbeitszeit eines Vollzeitbeschäftigten über die für die Woche dienstplanmäßig bzw. betriebsüblich festgesetzten Arbeitsstunden hinausgehen und die nicht bis zum Ende der folgenden Kalenderwoche ausgeglichen werden.

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Neu war bei Einführung des TVöD das durch § 10 TVöD normierte Arbeitszeitkontenmodell. Arbeitszeitkonten können durch Betriebs- oder Betriebsvereinbarung für ganze Betriebe/Verwaltungen oder Teile davon eingerichtet werden. 1 Einzelheiten bei Ziepke/Weiss, MTV § 3 Anm. 2 Ziff. 14.

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Rz. 2 Teil 5 (6)

Befristungsregeln

Auf das Arbeitszeitkonto können Zeiten gebucht werden, die als Zeitguthaben oder als Zeitschuld aus dem Arbeitszeitkorridor oder infolge der Anwendung einer Rahmenzeitregelung bestehen bleiben und nicht durch Freizeit ausgeglichen werden. Auch können in Zeit umgewandelte Zuschläge eingebucht werden. Weitere Kontingente (z.B. Rufbereitschafts-/Bereitschaftsdienstentgelte) können durch Betriebs-/Dienstvereinbarung zur Buchung freigegeben werden. Dabei entscheidet der Beschäftigte, welche Zeiten konkret auf das Arbeitszeitkonto gebucht werden oder ob Zeitüberschüsse durch Freizeit ausgeglichen werden sollen.

(6) Befristungsregeln Literatur: Annuß/Thüsing, Kommentar zum Teilzeit- und Befristungsgesetz, 3. Aufl. 2012; Boecken/Jacobsen, Tarifdispositivität nach § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG – Zur Zulässigkeit einer Beteiligung des Betriebsrats im Zusammenhang mit Abweichungen von § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG, ZfA 2012, 37; Boecken/Joussen, Teilzeit- und Befristungsgesetz, 3. Aufl. 2012; Francken, Die Tarifdispositivität des § 14 II 3 TzBfG als win/winRegelung in der Beschäftigungskrise, NZA 2010, 305; Fritz, Neues Tarifrecht für den öffentlichen Dienst – Teil 3, ZTR 2006, 2.

I. Zweck und Kontext Die Zulässigkeit befristeter Arbeitsverträge ergibt sich aus § 620 Abs. 1 BGB. Durch § 620 Abs. 3 BGB wird darüber hinaus festgelegt, dass für befristete Arbeitsverträge die Vorgaben des Teilzeit- und Befristungsgesetzes (TzBfG) einzuhalten sind. Nach dem TzBfG können in Arbeitsverträgen sowohl Sachgrundbefristungen als auch sachgrundlose Befristungen vereinbart werden. Für den Fall der Sachgrundbefristung, für die es hinsichtlich des möglichen Befristungszeitraums keine festen Grenzen gibt, werden in § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1–8 TzBfG Gründe für eine zulässige Befristung von Arbeitsverträgen aufgezählt. Wie sich dem Wortlaut („insbesondere“) entnehmen lässt, handelt es sich hierbei nicht um eine abschließende Liste, sondern vielmehr um die Auflistung wesentlicher von der Rechtsprechung entwickelter Fallgruppen zulässiger Sachgrundbefristungen1. Ohne Vorliegen eines Sachgrundes ist die kalendermäßige Befristung eines Arbeitsvertrages dagegen regelmäßig lediglich bis zu einer Dauer von höchstens zwei Jahren zulässig (vgl. § 14 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 TzBfG). Innerhalb dieses Maximalzeitraumes ist nach § 14 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 TzBfG auch die höchstens dreimalige Verlängerung des befristeten Arbeitsverhältnisses erlaubt.

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Gemäß § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG kann durch TVe von den Befristungsregelungen des TzBfG abgewichen werden2. Die Tariföffnungsklausel räumt den TV-

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1 Vgl. z.B. BAG v. 13.10.2004 – 7 AZR 218/04, DB 2005, 451; ErfK/Müller-Glöge, § 14 TzBfG Rz. 4 f. 2 Daraus wird deutlich, dass eine Abweichung von § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG zum Nachteil der Beschäftigten durch Betriebsvereinbarung unzulässig ist, so Boecken/Joussen/ Boecken, § 14 TzBfG Rz. 125; dies bedeutet aber nicht, dass eine für die Beschäftigten

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Teil 5 (6) Rz. 3

Befristungsregeln

Parteien das Recht ein, in einem TV für den Fall der sachgrundlosen Befristung die Anzahl der Verlängerungen oder die Höchstdauer der Befristung abweichend von § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG zu regeln1. Dadurch wird zugleich zum Ausdruck gebracht, dass nach dem Willen des Gesetzgebers eine Dispositionsmöglichkeit beispielsweise über das Anschlussgebot des § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG den TV-Parteien nicht zugestanden werden soll2. Die ausdrückliche Erwähnung des § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG in § 22 Abs. 1 TzBfG führt darüber hinaus zu der Erkenntnis, dass die nach der Tariföffnungsklausel zulässigen Abweichungen von § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG nicht nur zu Gunsten, sondern insbesondere auch zu ungunsten eines Arbeitnehmers von den TV-Parteien geregelt werden können (vgl. hierzu auch unten Rz. 21)3. 3

Die Tariföffnungsklausel des § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG gibt den TV-Parteien damit ein wichtiges Instrument an die Hand, um die Möglichkeiten der Befristung den jeweiligen Besonderheiten einer Branche anzupassen4. Dies kann darüber hinaus ein probates Mittel für die TV-Parteien sein, um flexibel auf (kurzfristige) Auftragseinbrüche und auf die daraus resultierenden Beschäftigungskrisen in einer Branche reagieren zu können5 (vgl. hierzu unten Rz. 25 ff.). In diesem Zusammenhang kann auch die Frage nach den Grenzen der Tarifdispositivität eine Rolle spielen. Eine klare Leitlinie hat sich hierzu, wie nachfolgend aufgezeigt wird (vgl. unten Rz. 24), bislang noch nicht herausgebildet.

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Eine andere Frage ist, ob von einer Tarifdispositivität zugunsten der TV-Parteien auch hinsichtlich der Sachgrundbefristung gemäß § 14 Abs. 1 TzBfG auszugehen ist. Dies ist schon deshalb schwieriger zu beantworten, weil der Gesetzgeber für die Sachgrundbefristung auf eine vergleichbare ausdrückliche Regelung wie in § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG verzichtet hat. Allerdings sollen den TV-Parteien nach gefestigter Rechtsprechung des BAG auch insoweit Gestaltungsspielräume zukommen. Es gilt weiterhin der bereits vor Inkrafttreten des TzBfG entwickelte gewohnheitsrechtliche Grundsatz, dass TVe die von der Rechtsprechung entwickelten und in § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1–8 TzBfG festgeschriebenen Sachgründe entgegen der gesetzgeberischen Intention als abschließend benennen oder den dort festgeschriebenen Katalog von Sachgründen sogar einschränken können6. Voraussetzung für eine dahingehende Vereinbarung soll nach der Rechtsprechung des BAG jedoch sein, dass der abschließende Charakter der Befristungsgründe in der Tarifnorm eindeutig zum Aus-

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von § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG nachteilig abweichende Regelung nicht unter Beteiligung des Betriebsrates erfolgen kann, vgl. hierzu umfassend Boecken/Jacobsen, ZfA 2012, 37 (41); vgl. unten Rz. 27. Zu der streitigen Frage, ob § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG ein Abweichen von der Anzahl der Verlängerungen sowie der Höchstdauer der Befristung lediglich alternativ oder kumulativ zulässt, vgl. unten Rz. 22. So auch Boecken/Joussen/Boecken, § 14 TzBfG Rz. 123. ErfK/Müller-Glöge, § 14 TzBfG Rz. 101; Boecken/Joussen/Boecken, § 14 TzBfG Rz. 125; Francken, NZA 2010, 305 (306); Boecken/Jacobsen, ZfA 2012, 37 (41). Zu der bis heute nicht abschließend geklärten Frage, ob es sich bei einer tariflichen Befristungsregelung um eine Abschlussnorm oder um eine Beendigungsnorm handelt, vgl. Teil 4 Rz. 78. Boecken/Jacobsen, ZfA 2012, 37 (38). Vgl. hierzu Thüsing/Braun/Thüsing, 5. Kap., Befristete Beschäftigung, Rz. 2 m.w.N.

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Rz. 5 Teil 5 (6)

druck gebracht wird1. Dies müsse schon aus Gründen der Rechtsklarheit gewährleistet sein. Allein aus dem Umstand, dass ein TV nur einen anerkannten Befristungsgrund benennt, kann deswegen nach Auffassung des Gerichts noch nicht der Schluss gezogen werden, dass eine Befristungsmöglichkeit aus anderen Sachgründen zwingend ausscheiden soll. Ebenso kann aus TVen, die nur einzelne Befristungsfälle, wie zum Beispiel ein Probe- oder Aushilfsarbeitsverhältnis regeln, nicht geschlossen werden, dass sie andere Möglichkeiten der Befristung ausschließen möchten, soweit das durch die Tarifnorm nicht unmissverständlich zum Ausdruck gebracht wird2. Demzufolge müsste beispielsweise ein TV den gewollten Ausschluss der Möglichkeit einer sachgrundlosen Befristung nach § 14 Abs. 2 TzBfG und damit die Beschränkung nur auf (bestimmte) Sachgrundbefristungen sehr eindeutig regeln. Die Tarifdispositivität des § 14 Abs. 1 TzBfG soll nach Ansicht der Rechtsprechung sogar so weit gehen, dass die TV-Parteien über § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1–8 TzBfG hinausgehende Sachgründe für eine Befristung vereinbaren können. Darunter fallen zunächst solche Sachgründe, die vom BAG bereits vor Inkrafttreten des TzBfG anerkannt, aber nicht vom Gesetzgeber in den Katalog des § 14 Abs. 1 Satz 2 TzBfG aufgenommen wurden3. Darüber hinaus soll selbst die Vereinbarung gänzlich „neuer“ Sachgründe möglich sein. Dies ist bereits mehrfach höchstrichterlich klargestellt worden, wobei das BAG jeweils zugleich die Grenzen eines solchen Vorgehens aufgezeigt hat4. Nach Ansicht des Gerichts ist zu berücksichtigen, dass weder die von der Rechtsprechung entwickelten Grundzüge der Befristungskontrolle noch das in § 14 Abs. 1 Satz 1 TzBfG normierte Sachgrunderfordernis als solches tarifdispositiv sind. Durch die Richtlinie 1999/70/EG werde nicht nur der Gesetzgeber an das Erfordernis sachlicher Gründe – wie in § 14 Abs. 1 TzBfG umgesetzt – gebunden. Entsprechendes müsse vielmehr auch für die TV-Parteien gelten. Dies führe dazu, dass auch tarifliche Normen über Befristungen zu ihrer Wirksamkeit eines sie rechtfertigenden Grundes bedürfen. Damit können andere, von § 14 Abs. 1 Satz 2 TzBfG abweichende Sachgründe eine Befristung nur rechtfertigen, wenn sie den in § 14 Abs. 1 TzBfG zum Ausdruck kommenden Wertungsmaßstäben Rechnung tragen5. Fallgruppen haben sich hierzu bislang nicht herausgebildet, so dass letztlich in jedem Einzelfall das Vorliegen einer wertungsmäßigen Vergleichbarkeit zu § 14 Abs. 1 Satz 2 TzBfG zu prüfen ist. Die Anforderungen an einen zulässigen neuen Sachgrund dürften hoch sein. Dies gilt nicht zuletzt mit Blick darauf, dass sowohl das Gemeinschaftsrecht als auch die nationalen Regelungen von dem Grundsatz ausgehen, dass unbefristete Arbeitsverhältnisse den Regelfall und befristete Arbeitsverhältnisse die Ausnahme darstellen. In der Vergangenheit hat das BAG beispielsweise eine zu einem späteren Zeitpunkt 1 BAG v. 7.8.1980 – 2 AZR 563/78, DB 1980, 2244; BAG v. 12.12.1985 – 2 AZR 9/85, NZA 1986, 571. 2 BAG v. 10.6.1988 – 2 AZR 7/88, DB 1988, 2004. 3 BAG v. 13.10.2004 – 7 AZR 218/04, DB 2005, 451. 4 BAG v. 23.1.2002 – 7 AZR 611/00, BB 2002, 1097; BAG v. 16.3.2005 – 7 AZR 289/04, NZA 2005, 923; BAG v. 9.12.2009 – 7 AZR 399/08, NZA 2010, 495. 5 BAG v. 16.3.2005 – 7 AZR 289/04, NZA 2005, 923; BAG v. 9.12.2009 – 7 AZR 399/08, NZA 2010, 495.

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Teil 5 (6) Rz. 6

Befristungsregeln

geplante anderweitige Besetzung des Arbeitsplatzes als einen sonstigen in § 14 Abs. 1 Satz 2 TzBfG nicht erwähnten Sachgrund angesehen, der geeignet sei, eine Befristung zu rechtfertigen1. Dies setze jedoch voraus, dass der Arbeitgeber bei Abschluss des befristeten Arbeitsvertrages mit dem anderen als Dauerbesetzung vorgesehenen Arbeitnehmer bereits vertraglich gebunden sei. In einer Entscheidung aus dem Jahr 2009 sah das BAG diese Voraussetzung als nicht erfüllt an, da es weder einen konkreten Mitarbeiter gab, der die streitgegenständliche Stelle einnehmen sollte, noch eine Bewerbung für diese Stelle vorlag2.

II. Beispiele § 30 des Tarifvertrags für den öffentlichen Dient (TVöD) – Befristete Arbeitsverträge 6

(1) Befristete Arbeitsverträge sind nach Maßgabe des Teilzeit- und Befristungsgesetzes sowie anderer gesetzlicher Vorschriften über die Befristung von Arbeitsverträgen zulässig. Für Beschäftigte, auf die die Regelungen des Tarifgebiets West Anwendung finden und deren Tätigkeit vor dem 1. Januar 2005 der Rentenversicherung der Angestellte unterlegen hätte, gelten die in den Absätzen 2 bis 5 geregelten Besonderheiten; dies gilt nicht für Arbeitsverhältnisse, für die die §§ 57a ff. HRG, das Gesetz über befristete Arbeitsverträge in der Wissenschaft (Wissenschaftszeitvertragsgesetz) oder gesetzliche Nachfolgeregelungen unmittelbar oder entsprechend gelten. (2) Kalendermäßig befristete Arbeitsverträge mit sachlichem Grund sind nur zulässig, wenn die Dauer des einzelnen Vertrages fünf Jahre nicht übersteigt; weitergehende Regelungen im Sinne von § 23 TzBfG bleiben unberührt. Beschäftigte mit einem Arbeitsvertrag nach Satz 1 sind bei der Besetzung von Dauerarbeitsplätzen bevorzugt zu berücksichtigen, wenn die sachlichen und persönlichen Voraussetzungen erfüllt sind. (3) Ein befristeter Arbeitsvertrag ohne sachlichen Grund soll in der Regel zwölf Monate nicht unterschreiten; die Vertragsdauer muss mindestens sechs Monate betragen. Vor Ablauf des Arbeitsvertrages hat der Arbeitgeber zu prüfen, ob eine unbefristete oder befristete Weiterbeschäftigung möglich ist. (4)–(5) (…) (6) Die §§ 31, 32 bleiben von den Regelungen der Absätze 3 bis 5 unberührt. § 31 des Tarifvertrags für den öffentlichen Dient (TVöD) – Führung auf Probe

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(1) Führungspositionen können als befristetes Arbeitsverhältnis bis zur Gesamtdauer von zwei Jahren vereinbart werden. Innerhalb dieser Gesamtdauer ist eine höchstens zweimalige Verlängerung des Arbeitsvertrages zulässig. Die beiderseitigen Kündigungsrechte bleiben unberührt. (2)–(3) (…) 1 BAG v. 13.10.2004 – 7 AZR 218/04, DB 2005, 451. 2 BAG v. 9.12.2009 – 7 AZR 399/08, NZA 2010, 495.

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Befristungsregeln

Rz. 10 Teil 5 (6)

§ 2 des Mantelrahmentarifvertrags für das Wach- und Sicherheitsgewerbe für die Bundesrepublik Deutschland – Arbeitsverhältnis/Kündigungsfristen 1.–5. (…)

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6. Die kalendermäßige Befristung eines Arbeitsvertrages ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes ist bis zur Dauer von 42 Monaten zulässig. Bis zu dieser Gesamtdauer ist die höchstens viermalige Verlängerung eines kalendermäßig befristeten Arbeitsverhältnisses zulässig. Befristete Arbeitsverträge unterliegen der ordentlichen Kündigung. Die genannten Kündigungsfristen gelten entsprechend. Diese Regelung gilt nicht für befristete Arbeitsverhältnisse, die am 31. August 2005 bereits bestanden. § 3 des Tarifvertrags zu Kurzarbeit, Qualifizierung und Beschäftigung 2009/2010 des Verbandes der Metall- und Elektroindustrie Baden Württemberg e.V., Stuttgart – Südwestmetall und der Industriegewerkschaft Metall Bezirk Baden-Württemberg Bezirksleitung Baden-Württemberg – Sachgrundlose Befristung Die weitere Befristung von in den Jahren 2009 und 2010 auslaufenden Arbeitsverträgen ist gem. § 14 II 3 TzBfG zulässig, wenn

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die Verlängerung insgesamt um maximal 24 Monate erfolgt, die Höchstdauer der sachgrundlosen Befristung insgesamt maximal 48 Monate beträgt und insgesamt eine höchstens sechsmalige Verlängerung des Arbeitsvertrags erfolgt. In Betrieben mit Betriebsrat ist die Anwendung dieser Regelung nach § 14 II 3 TzBfG durch eine freiwillige Betriebsvereinbarung oder im Einzelfall schriftlich durch den Betriebsrat zu bestätigen. Während der Laufzeit dieses Tarifvertrages nach Satz 1 vereinbarte Befristungen bleiben bis zu ihrem vereinbarten Ende auch dann zulässig, wenn dieser Tarifvertrag geendet hat.

III. Kommentierung 1. §§ 30 f. TVöD (Rz. 6, 7) Im Geltungsbereich des TVöD ist der Abschluss von befristeten Arbeitsverhältnissen zulässig. Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 TVöD beurteilt sich die Zulässigkeit eines befristeten Arbeitsverhältnisses nach den Vorgaben des TzBfG sowie anderen gesetzlichen Vorschriften über die Befristung von Arbeitsverträgen1. Für die Befristung eines Arbeitsvertrages im öffentlichen Dienst kommt damit im Regelfall § 14 TzBfG zur Anwendung2. 1 Hierunter fallen beispielsweise die Befristungsregelungen aus dem BEEG, dem WissZeitVG oder dem HRG. 2 Aus diesem Grund wird auch zum Teil der Standpunkt vertreten, dass § 30 Abs. 1 Satz 1 TVöD kein eigenständiger Regelungsgehalt zukommt, vgl. z.B. Fritz, ZTR 2006, 2 (7).

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Teil 5 (6) Rz. 11

Befristungsregeln

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Dies gilt nicht für die Beschäftigten des Tarifgebiets West, deren Tätigkeit vor dem 1. Januar 2005 der Rentenversicherung der Angestellten unterlegen hätte. Im Zuge eines Streites um die Zulässigkeit sachgrundloser Befristungen nach § 14 Abs. 2 TzBfG haben sich die TV-Parteien darauf geeinigt, für diese Beschäftigtengruppe die bisherigen Regelungen der SR 2y BAT inhaltlich fortbestehen zu lassen (§ 30 Abs. 1 Satz 2 TVöD). Geht es um die Befristung von Arbeitsverhältnissen dieser Gruppe, kommt das tarifvertragliche Sonderbefristungsrecht gemäß § 30 Abs. 2 bis 5 TVöD zur Anwendung. Allerdings sind daneben auch für die Beschäftigten des Tarifgebiets West die gesetzlichen Vorschriften des TzBfG einschlägig, sofern die § 30 Abs. 2 bis 5 TVöD keine abschließende Regelung vorsehen.

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Mit den Regelungen in § 30 Abs. 2 bis 5 TVöD haben die TV-Parteien in zulässiger Weise von der Tariföffnungsklausel des § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG Gebrauch gemacht. Wie die weiteren Ausführungen zeigen werden, handelt es sich überwiegend um Vorschriften, die zu Gunsten der Beschäftigten Einschränkungen gegenüber den gesetzlichen Befristungsmöglichkeiten vorsehen1. Sie gehören damit zu der Gruppe von Tarifnormen, mit denen die TVParteien das Ziel verfolgen, der Ausweitung von Zeitverträgen entgegenzuwirken und den Abschluss unbefristeter Arbeitsverträge im Sinne einer Befristungskontrolle zu fördern (vgl. Teil 4 Rz. 73).

a) Sachgrundbefristung (§ 30 Abs. 2 TVöD) 13

Aus § 30 Abs. 2 Satz 1 TVöD ergibt sich, dass kalendermäßig befristete Arbeitsverträge mit sachlichem Grund nur zulässig sind, wenn die Dauer des einzelnen Vertrages fünf Jahre nicht übersteigt. Die so festgeschriebene fünfjährige Höchstbefristungsdauer weicht zu Gunsten der Beschäftigten von der gesetzlichen Regelung des § 14 Abs. 1 TzBfG ab, wonach Sachgrundbefristungen grundsätzlich keiner bestimmten zeitlichen Begrenzung unterliegen. Dem Wortlaut der Regelung lässt sich entnehmen, dass sie nur für die kalendermäßige Sachgrundbefristung gelten soll. Die Regelung des § 30 Abs. 2 Satz 1 TVöD findet damit keine Anwendung auf zweckbefristete oder auch auflösend bedingte Arbeitsverhältnisse2. Die Höchstbefristungsdauer gilt jeweils für die einzelne Befristungsabrede mit der Folge, dass durch eine Befristung über diesen Zeitraum hinaus ein unbefristetes Arbeitsverhältnis geschlossen würde (§ 15 Abs. 5 TzBfG). Hiervon abzugrenzen ist der Fall mehrerer hintereinander vereinbarter Befristungsabreden, die lediglich in der Summe die fünfjährige Höchstbefristungsdauer überschreiten. In einer solchen Vorgehensweise will das BAG noch keine Umgehung der Regelung zur Höchstbefristung sehen, so dass auf diesem Wege die fünf Jahre in zulässiger Weise überschritten werden könnten3.

1 HWK/Schmalenberg, § 22 TzBfG Rz. 8. 2 Vgl. hierzu Fritz, ZTR 2006, 2 (8). 3 BAG v. 22.3.1985 – 7 AZR 142/84, BB 1985, 1729, beachte: Die Entscheidung erging bereits zur Protokollnotiz Nr. 2 zu Nr. 1 der SR 2y zum BAT; vgl. auch BAG v. 24.10.2001 – 7 AZR 620/00, NZA 2003, 153; so auch Fritz, ZTR 2006, 2 (8).

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Befristungsregeln

Rz. 18 Teil 5 (6)

Darüber hinaus sind Beschäftigte, die sich in einem kalendermäßig befristeten Arbeitsverhältnis mit sachlichem Grund befinden, nach § 30 Abs. 2 Satz 2 TVöD bei der Besetzung von Dauerarbeitsplätzen bevorzugt zu berücksichtigen, soweit die sachlichen und persönlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Durch diese Regelung wird wiederum der Wille der TV-Parteien zum Ausdruck gebracht, der Ausweitung befristeter Arbeitsverträge entgegenzuwirken. Nach Ansicht des BAG wird durch § 30 Abs. 2 Satz 2 TVöD das Auswahlermessen des Arbeitgebers bei der Besetzung eines Dauerarbeitsplatzes eingeschränkt1. Zu einem Anspruch auf Abschluss eines unbefristeten Arbeitsplatzes könne die Ermessensreduzierung jedoch allenfalls dann führen, wenn der befristet Beschäftigte nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung mit dem Konkurrenten im Wesentlichen gleich zu beurteilen ist2.

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b) Sachgrundlose Befristung (§ 30 Abs. 3 TVöD) Der Absatz 3 des § 30 TVöD enthält eine Regelung zur sachgrundlosen Befristung. Die Dauer des befristeten Arbeitsverhältnisses ohne sachlichen Grund muss hiernach mindestens sechs Monate betragen und soll in der Regel zwölf Monate nicht unterschreiten. Hinsichtlich der zwölf Monate handelt es sich um eine Soll-Vorschrift, weshalb befristete Arbeitsverträge ohne Sachgrund auch mit einer Laufzeit von weniger als zwölf Monaten geschlossen werden dürfen. Ein Unterschreiten der sechsmonatigen Mindestbefristungsdauer ist hingegen nicht zulässig und würde zur Begründung eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses führen.

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Durch § 30 Abs. 3 Satz 2 wird der Arbeitgeber darüber hinaus verpflichtet, vor Ablauf des Arbeitsvertrages zu prüfen, ob eine unbefristete oder befristete Weiterbeschäftigung möglich ist. Hierbei soll es sich um eine tariflich festgeschriebene Obliegenheit des Arbeitgebers handeln, bei deren Unterlassen dem Beschäftigten unter Umständen Schadenersatzansprüche zustehen können3.

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c) Führung auf Probe (§ 31 TVöD) Ferner ist auf den Sonderfall des § 31 TVöD zu verweisen4. Bei der dort geregelten Führung auf Probe handelt es sich um eine besondere Form der kalendermäßigen Befristung. Die Tarifnorm, die sich ausschließlich auf Führungspositionen bezieht, geht der allgemeinen Befristungsregelung des § 30 TVöD vor.

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Gemäß § 31 Abs. 1 TVöD können externe Kandidaten auf Führungspositionen zur Erprobung im Rahmen eines befristeten Arbeitsverhältnisses bis zu einer Gesamtdauer von zwei Jahren angestellt werden. Innerhalb dieses Zeitrahmens

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1 So bereits BAG v. 27.4.1988 – 7 AZR 593/87, DB 1988, 1803; BAG v. 6.11.1996 – 7 AZR 909/95, BB 1997, 1797. 2 So BVerwG v. 7.12.1994 – 6 P 35/92, ZTR 1996, 136; vgl. auch BAG v. 19.9.2001 – 7 AZR 333/00, ARST 2002, 125 zur gleichlautenden Protokollnotiz Nr. 4 zu Nr. 1 SR 2a des Manteltarifvertrages für die Bundesanstalt für Arbeit. 3 So jedenfalls Görg/Guth/Hamer/Pieper/Guth, § 30 TVöD Rz. 64. 4 Einen weiteren Sonderfall stellt § 32 TVöD dar, auf den hier aber nicht weiter eingegangen werden soll.

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Teil 5 (6) Rz. 19

Befristungsregeln

kann der Arbeitsvertrag höchstens zweimal verlängert werden. Hinsichtlich der Zulässigkeit dieser Regelung bestehen im Grundsatz keine Bedenken, da es sich bei der Befristung zur Erprobung um einen allgemeinen nach § 14 Abs. 1 Nr. 5 TzBfG anerkannten Befristungsgrund handelt. § 31 Abs. 1 TVöD ist zudem für den Mitarbeiter regelmäßig günstiger als die gesetzlichen Vorschriften. Würde sich der Arbeitgeber alternativ – bei § 31 Abs. 1 TVöD handelt es sich um eine „Kann-Regelung“ – und unabhängig davon, ob die Voraussetzungen des § 31 Abs. 1 TVöD erfüllt sind, für eine Befristung nach § 14 Abs. 2 TzBfG entscheiden, käme eine solche für zwei Jahre sogar ohne Sachgrund in Betracht. Darüber hinaus könnte das Arbeitsverhältnis innerhalb dieser zwei Jahre insgesamt dreimal verlängert werden (§ 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG). 19

Da der Arbeitgeber bei der Besetzung von Führungspositionen nicht gezwungen ist, eine Befristung nach § 31 TVöD einzugehen, stellt sich die Frage, wann es aus seiner Sicht überhaupt einmal Sinn machen könnte, auf die Tarifnorm zurückzugreifen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn es um Angestellte im Tarifgebiet West geht. Um die für diese Mitarbeitergruppe geltenden strengen Sonderregelungen des § 30 Abs. 2 bis 5 TVöD (vgl. hierzu oben Rz. 13 ff.) zu umgehen, kann es für den Arbeitgeber von Vorteil sein, eine Befristung des Arbeitsverhältnisses gemäß § 31 Abs. 1 TzBfG zu vereinbaren. Durch § 30 Abs. 2 TVöD wird ausdrücklich festgelegt, dass die §§ 31, 32 TVöD von den Regelungen der Absätze 3 bis 5 des § 30 TVöD unberührt bleiben. Auf diese Weise könnte beispielsweise entgegen § 30 Abs. 3 Satz 1 TVöD ein befristeter Arbeitsvertrag auch mit einer kürzeren Vertragslaufzeit als sechs Monate vereinbart werden. Eine Befristung nach § 31 TVöD könnte im Vergleich zu einer solchen nach § 14 Abs. 2 TzBfG auch deshalb vorteilhaft sein, weil der Arbeitgeber das Vorbeschäftigungsverbot des § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG1 nicht beachten muss.

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Eine Frage, die im Rahmen des § 31 TVöD regelmäßig diskutiert wird, ist die nach der Zulässigkeit der dort geregelten Länge der Probezeit von zwei Jahren. Dies erscheint nicht ganz unproblematisch, weil sowohl § 622 Abs. 3 BGB als auch § 2 Abs. 4 TVöD von einer regelmäßigen Probezeit von sechs Monaten ausgehen. Hiervon wird durch § 31 Abs. 2 TVöD deutlich abgewichen. Das BAG erkennt jedoch die Möglichkeit an, in TVen eine über sechs Monate hinausgehende Probezeit zu vereinbaren2. Es seien Fälle vorstellbar, in denen der Arbeitgeber Eignung und Leistung eines Arbeitnehmers wegen der besonderen Anforderungen des Arbeitsplatzes innerhalb von sechs Monaten nicht genügend beurteilen könne und deshalb eine verlängerte Probezeit sinnvoll erscheine3. Das Gericht legt damit die Entscheidung, ob eine verlängerte Probezeit erforderlich und deswegen nach § 14 Abs. 1 TzBfG zulässig ist, in die Regelungsmacht der TV-Parteien. Diese können für ihre Branche am besten beurteilen, welche Probezeit für Arbeitnehmer mit besonderem Aufgabengebiet jeweils erforderlich ist. 1 Vgl. BAG v. 6.4.2011 – 7 AZR 716/09, NZA 2011, 905; BAG v. 21.9.2011 – 7 AZR 375/10, NZA 2012, 255. 2 BAG v. 15.3.1978 – 5 AZR 831/76, DB 1978, 1744; BAG v. 12.9.1996 – 7 AZR 31/96, BB 1997, 104. 3 BAG v. 15.3.1978 – 5 AZR 831/76, DB 1978, 1744.

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Befristungsregeln

Rz. 23 Teil 5 (6)

2. § 2 des Mantelrahmentarifvertrags für das Wach- und Sicherheitsgewerbe für die Bundesrepublik Deutschland – Arbeitsverhältnis/ Kündigungsfristen (Rz. 8) Wie einleitend dargelegt, hat der Gesetzgeber durch die Tariföffnungsklausel des § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG sowohl die Höchstgrenze für die maximale Dauer einer sachgrundlosen Befristung als auch die Anzahl der zulässigen Verlängerungen innerhalb dieser Höchstgrenze zur Disposition der TV-Parteien gestellt (vgl. oben Rz. 2). Es wurde zugleich darauf hingewiesen, dass gemäß § 22 Abs. 1 TzBfG in TVen in diesem Kontext auch Abweichungen zu Ungunsten des Arbeitnehmers vorgesehen werden können. Als exemplarisch dafür ist § 2 des Manteltarifvertrags für das Wach- und Sicherheitsgewerbe für die Bundesrepublik Deutschland zu betrachten. Durch die in dieser Tarifnorm geregelten Inhalte wird von den gesetzlichen Vorgaben des § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG erheblich zu Ungunsten des Arbeitnehmers abgewichen und damit dem gesetzgeberischen Ziel, eine Ausweitung von Zeitarbeitsverträgen zu verhindern, entgegengewirkt. Anstelle der gesetzlich vorgeschriebenen Befristungshöchstdauer von zwei Jahren soll nach dem Willen der TV-Parteien für die Beschäftigten des Wach- und Sicherheitsgewerbes eine Befristung von bis zu 42 Monaten zulässig sein. Darüber hinaus ist den Arbeitsvertragsparteien bis zu dieser Gesamtdauer die viermalige Verlängerung eines kalendermäßig befristeten Arbeitsverhältnisses gestattet.

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Eine im Zusammenhang mit § 14 Abs. 2 Satz TzBfG immer wieder diskutierte Frage ist, ob in einer Tarifnorm, wie dies in § 2 des Manteltarifvertrags für das Wach- und Sicherheitsgewerbe für die Bundesrepublik Deutschland der Fall ist, kumulativ sowohl von der Höchstbefristungsdauer als auch von der Anzahl der möglichen Verlängerungen abgewichen werden darf. Dies wurde insbesondere wegen des Wortlauts von § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG hinterfragt, in dem es heißt, „Durch TV kann die Anzahl der Verlängerungen oder die Höchstdauer der Befristung abweichend von Satz 1 festgelegt werden“. Das Schrifttum spricht sich trotz des Umstandes, dass sich der Wortlaut der Norm dafür heranziehen lässt, dass der Gesetzgeber lediglich eine alternative tarifvertragliche Verschlechterung zulassen wollte, überwiegend für eine kumulative Abweichungsmöglichkeit der TV-Parteien aus1. Zur Begründung dieses Standpunktes wird insbesondere auf die Gesetzesbegründung verwiesen, der sich ein solches Alternativverhältnis gerade nicht entnehmen lässt.

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Spätestens seit einer aktuellen, bislang noch unveröffentlichten Entscheidung des BAG, dürfte die hier aufgeworfene Frage jedenfalls für die Praxis geklärt sein2. In dem vom BAG entschiedenen Fall ging es um einen Mitarbeiter, der auf Grundlage eines befristeten, mehrfach verlängerten Arbeitsvertrages für ein Unternehmen des Wach- und Sicherheitsgewerbes tätig war. Der Arbeitnehmer hielt die auf sein Arbeitsverhältnis anwendbare Regelung des § 2 des Manteltarifvertrags für das Wach- und Sicherheitsgewerbe für die Bundesrepu-

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1 Vgl. z.B. ErfK/Müller-Glöge, § 14 TzBfG Rz. 101; KR/Lipke, § 14 TzBfG Rz. 434; Francken, NZA 2010, 305; Boecken/Joussen/Boecken, § 14 TzBfG Rz. 123; Boecken/ Jacobsen, ZfA 2012, 37 (40). 2 BAG v. 15.8.2012 – 7 AZR 184/11, PM Nr. 57/12.

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Teil 5 (6) Rz. 24

Befristungsregeln

blik Deutschland für unwirksam und griff die darauf gestützte Befristung seines Arbeitsvertrages an. Seine Klage blieb in allen Instanzen erfolglos1. Der 7. Senat des BAG erklärte § 2 des Manteltarifvertrags für das Wach- und Sicherheitsgewerbe für die Bundesrepublik Deutschland für zulässig. Nach Ansicht des Gerichts sei die Tarifnorm von § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG gedeckt. In der Begründung folgt das BAG der herrschenden Meinung im Schrifttum. Bei einem nicht eindeutigen Gesetzeswortlaut müsse maßgeblich auf den Willen des Gesetzgebers abgestellt werden. In der Gesetzesbegründung heißt es: „Von der gesetzlichen Höchstbefristungsdauer und der Höchstzahl der Verlängerungen eines befristeten Arbeitsvertrages ohne sachlichen Grund kann durch Tarivertrag abgewichen werden. Die tarifliche Öffnungsklausel zielt darauf ab, branchenspezifische Lösungen zu erleichtern.“2 An anderer Stelle heißt es in der Gesetzesbegründung zu § 14 Abs. 2 TzBfG: „Satz 3 bestimmt, dass tarifvertraglich eine andere (höhere oder niedrigere) Anzahl von zulässigen Verlängerungen sowie eine andere (kürzere oder längere) Höchstbefristungsdauer eines befristeten Arbeitsvertrages ohne sachlichen Grund festgelegt werden kann.“3 Aus der Gesetzesbegründung wird nach Ansicht des Gerichts unmissverständlich klar, dass das Gesetz den TV-Parteien verschlechternde Regelungen sowohl hinsichtlich der Höchstbefristungsdauer als auch hinsichtlich der Anzahl der zulässigen Verlängerungen kumulativ zugestehen will4. 24

Keine Antwort musste das BAG hingegen auf die Frage nach den möglichen Grenzen der gesetzlich eröffneten Regelungsbefugnis der TV-Parteien finden. Während mit Blick auf § 14 Abs. 1 TzBfG feststeht, dass die durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistete Tarifautonomie den TV-Parteien gerade nicht die Möglichkeit eröffnet, unabhängig von den Vorgaben in § 14 Abs. 1 TzBfG Sachgründe für die Befristung von Arbeitsverträgen festzulegen (vgl. hierzu oben Rz. 5), scheint die Frage nach den Grenzen der Tarifdispositivität für den Bereich der sachgrundlosen Befristung gemäß § 14 Abs. 2 TzBfG weitgehend ungeklärt. Für einen weitreichenden Gestaltungsspielraum lässt sich argumentieren, dass den TV-Parteien – seit sich der Befristungsschutz dogmatisch vom Kündigungsschutz gelöst hat – mit § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG ein Werkzeug an die Hand gegeben wurde, mit dem der Gesetzgeber aus arbeitsmarktpolitischen Gründen bewusst eine Lockerung des Befristungsschutzes in Kauf genommen hat. Andererseits dürfte feststehen, dass dies nicht zu einer grenzenlosen Gestaltungsbefugnis der TV-Parteien führen kann. Für den Bereich des arbeitsvertraglichen Bestandsschutzes erscheint im Interesse der durch Art. 12 Abs. 1 GG garantierten Berufsfreiheit ein staatlicher Mindestschutz, der von den TVParteien nicht aufgehoben werden kann, unverzichtbar. Im Detail ist dieser Themenbereich in verschiedener Hinsicht noch ungeklärt. Aus Sicht der Praxis wäre eine ebenso klare Stellungnahme des BAG wie zu § 14 Abs. 1 TzBfG wünschenswert. 1 Vgl. LAG Hessen v. 3.12.2010 – 10 Sa 659/10, NZA-RR 2011, 240, als Vorinstanz zu BAG v. 15.8.2012 – 7 AZR 184/11. 2 BT-Drucks. 14/4374, S. 14. 3 BT-Drucks. 14/4374, S. 20. 4 BAG v. 15.8.2012 – 7 AZR 184/11; so auch bereits die Vorinstanz LAG Hessen v. 3.12.2010 – 10 Sa 659/10, NZA-RR 2011, 240.

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Befristungsregeln

Rz. 26 Teil 5 (6)

3. § 3 des Tarifvertrages zu Kurzarbeit, Qualifizierung und Beschäftigung 2009/2010 des Verbandes der Metall- und Elektroindustrie Baden Württemberg e.V., Stuttgart – Südwestmetall und der Industriegewerkschaft Metall Bezirk Baden-Württemberg Bezirksleitung BadenWürttemberg – Sachgrundlose Befristung (Rz. 9) Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass der Gesetzgeber den TV-Parteien mit der Tariföffnungsklausel ein Werkzeug an die Hand geben wollte, um branchenspezifische Lösungen zu erleichtern1. Dies bezieht sich nicht nur auf die generellen Verhältnisse einer Branche. Die TV-Parteien können von § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG vielmehr auch in Krisenzeiten Gebrauch machen, wenn es darum geht, kurzfristig und damit flexibel auf (krisenbedingte) Auftragseinbrüche in einer Branche angemessen zu reagieren. Ein in diese Richtung gehendes Beispiel lässt sich in der Metall- und Elektroindustrie in Baden-Württemberg finden. Dort wurde als Antwort auf den aus der Wirtschaftskrise im Jahr 2008 resultierenden massiven Auftragseinbruch in dieser Branche für die Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie ein TV zu Kurzarbeit, Qualifizierung und Beschäftigung geschlossen2. In § 3 dieses TVes, der ohne Nachwirkung zum 31. Dezember 2010 endete, haben die TV-Parteien von § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG Gebrauch gemacht. Hiernach sollte die weitere Befristung von in den Jahren 2009 und 2010 auslaufenden sachgrundlos befristeten Arbeitsverhältnissen zulässig sein, wenn die Verlängerung insgesamt um maximal 24 Monate erfolgte, die Höchstdauer der sachgrundlosen Befristung insgesamt maximal 48 Monate betrug und insgesamt eine höchstens sechsmalige Verlängerung des Arbeitsvertrages erfolgte.

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Zunächst fällt auf, dass die TV-Parteien mit der Regelung – wie auch in § 2 des Mantelrahmentarifvertrags für das Wach- und Sicherheitsgewerbe für die Bundesrepublik Deutschland – neben der Höchstdauer der Befristung kumulativ auch die Anzahl der Verlängerungen abweichend von § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG geregelt haben. Das ein solches Vorgehen von der Tariföffnungsklausel des § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG gedeckt ist, wurde bereits erörtert (vgl. oben Rz. 22 f.) und dürfte spätestens seit der dargestellten aktuellen Entscheidung des BAG feststehen3. Regelungen wie in § 3 des TVes zur Kurzarbeit, Qualifizierung und Beschäftigung in der Metall- und Elektroindustrie können in Krisenzeiten sowohl für die Beschäftigten als auch für die Arbeitgeber einer Branche von Vorteil sein4. Die Arbeitnehmer erhalten durch die Verlängerung der sachgrundlosen Befristung die vorläufige Gewissheit, ihren Arbeitsplatz zumindest vorübergehend nicht zu verlieren. Darüber hinaus bleibt die Hoffnung bestehen, nach Ablauf der weiteren zwei Jahre in dann unter Umständen wieder günstigeren wirtschaftlichen Zeiten in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis übernommen zu werden. Der Arbeitgeber hingegen erhält durch solche Tarifnor-

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BT-Drucks. 14/4374, S. 14. Der TV ist u.a. abgedruckt in NZA 2010, 321. BAG v. 15.8.2012 – 7 AZR 184/11, PM Nr. 57/12. So auch Francken, NZA 2010, 305 (306).

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Teil 5 (6) Rz. 27

Befristungsregeln

men die Möglichkeit, gut qualifizierte Mitarbeiter auch in wirtschaftlich unsicheren Zeiten vorläufig weiter im Unternehmen zu halten1. 27

Weiterhin wird durch § 3 Satz 2 der Tarifnorm festgelegt, dass in Betrieben mit Betriebsrat die Anwendung des Satzes 1 nach § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG durch eine freiwillige Betriebsvereinbarung oder im Einzelfall schriftlich durch den Betriebsrat zu bestätigen ist2. Hierbei handelt es sich um eine Regelung, die sich in der Tarifpraxis insbesondere vor dem Hintergrund der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 im Rahmen von TVen zu Kurzarbeit finden lässt3. Boecken/Jacobsen haben sich aktuell für die Zulässigkeit derartiger Tarifnormen ausgesprochen4. Durch Regelungen wie diese können der Tarifdisposivität durch die TV-Parteien selbst Grenzen gesetzt werden. Die Einbeziehung des Betriebsrats sorgt für eine maßvolle Umsetzung der Tarifnorm und stellt insbesondere sicher, dass die Interessen der Mitarbeiter hinreichend gewahrt bleiben. Durch Satz 3 des § 3 wird schließlich sichergestellt, dass die durch die Tarifnorm verlängerten befristeten Arbeitsverhältnisse, losgelöst von dem Ende des TVes, bis zu ihrem vereinbarten Ende zulässig bleiben.

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Abschließend soll noch die Regelung des § 14 Abs. 2 Satz 4 TzBfG Erwähnung finden. Aus dieser Vorschrift ergibt sich, dass im Geltungsbereich eines TVes, der abweichende Regelungen im Sinne des § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG enthält, zwischen nicht tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern die Anwendung der tariflichen Regelungen vereinbart werden kann. Die einzelvertragliche Vereinbarung ist nur für Arbeitgeber und Arbeitnehmer zulässig, die in fachlicher, persönlicher und räumlicher Hinsicht von dem TV erfasst würden, wenn sie Mitglieder der vertragsschließenden TV-Parteien würden5. Trotz des wiederum nicht eindeutigen Wortlautes – die Vorschrift könnte so verstanden werden, dass die gesamten Regelungen des TVes vereinbart werden müssen, – wird ganz überwiegend die Auffassung vertreten, dass über § 14 Abs. 2 Satz 4 TzBfG auch allein die von § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG abweichenden Tarifnormen zur Befristung vereinbart werden können6. In der Literatur wird zum Teil vertreten, dass dann aber jedenfalls die gesamten tariflichen Normen zu vereinbaren sind, die die Befristung regeln7. Gegen die „Gesamtübernahme“ aller Tarifnormen wird angeführt, dass dies eine übermäßige und nicht mehr mit der 1 Francken in NZA 2010, 305 (306) sieht deshalb in der Tarifnorm eine win-win-Regelung für Arbeitnehmer und Arbeitgeber der Branche. 2 Boecken und Jacobsen nahmen diese Regelung zum Anlass, um sich umfassend mit der Frage der Zulässigkeit einer tarifvertraglichen Abweichung von § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG unter Beteiligung des Betriebsrates – sog. „Subdelegation“ der tarifvertraglichen Abweichungsbefugnis – zu befassen, ZfA 2012, 37. 3 Boecken/Joussen/Boecken, § 14 TzBfG Rz. 125. 4 Boecken/Jacobsen, ZfA 2012, 37 (50 ff.). 5 Boecken/Joussen/Boecken, § 14 TzBfG Rz. 127; Annuß/Thüsing/Maschmann, § 14 TzBfG Rz. 68. 6 Vgl. hierzu insbesondere Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, § 14 TzBfG Rz. 408 ff., die über eine systematische Betrachtung auf dieses Ergebnis schließen; im Ergebnis ebenso Annuß/Thüsing/Maschmann, § 14 TzBfG Rz.68; ErfK/Müller-Glöge, § 14 TzBfG Rz. 101; Boecken/Joussen/Boecken, § 14 TzBfG Rz. 127; Francken, NZA 2010, 305 (306). 7 Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, § 14 TzBfG Rz. 408 ff.

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Rz. 2 Teil 5 (7)

Besetzungsregeln

negativen Koalitionsfreiheit zu vereinbarende Belastung darstellen würde1. In § 14 Abs. 2 Satz 4 TzBfG ist damit ein weiteres Mittel zur Verwirklichung des gesetzgeberischen Ziels, der Herbeiführung branchenspezifischer Lösungen, zu sehen. Über die einzelvertragliche Inbezugnahme der tariflichen Befristungsregelungen besteht die Möglichkeit, punktuell eine volle Tarifdispositivität herzustellen und im Geltungsbereich des TVes die Übernahme der tariflichen Befristungsregelungen auch nicht tarifgebundenen Parteien zu gewähren2. Dies dürfte insbesondere in Krisenzeiten nicht selten im Interesse beider Vertragsparteien liegen. Die Übernahme der tariflichen Regelungen gemäß § 14 Abs. 2 Satz 4 TzBfG bedarf nicht der Schriftform, da es hierbei nicht um die eigentliche Befristungsabrede im Sinne des § 14 Abs. 4 TzBfG geht3. Gleichwohl empfiehlt sich schon aus Beweiszwecken, die Vereinbarung klar und eindeutig schriftlich zu fixieren4.

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(7) Besetzungsregeln Literatur: Arnold, Betriebliche Tarifnormen und Außenseiter, 2007; H. Hanau, Zur Verfassungsmäßigkeit von tarifvertraglichen Betriebsnormen am Beispiel der qualitativen Besetzungsregeln, RdA 1996, 158; Schleusener, Die Zulässigkeit qualitativer Besetzungsregelungen in Tarifverträgen, 1997.

I. Zweck und Kontext Tarifvertragliche Besetzungsregeln treten in zwei verschiedenen Formen auf. Qualitative Besetzungsregeln5 verbieten auf bestimmten Arbeitsplätzen die Beschäftigung von Arbeitnehmern, die bestimmte persönliche oder fachliche Anforderungen, insbesondere eine bestimmte Ausbildung, nicht erfüllen. Quantitative Besetzungsregeln legen die (Mindest-)Zahl der für eine Tätigkeit einzusetzenden Arbeitnehmer fest. Abzugrenzen sind Besetzungsregeln von tariflichen Bestimmungen, die der zutreffenden Eingruppierung (vgl. dazu fi (11) Eingruppierung) in eine tarifliche Vergütungsordnung und der tariflichen Vergütungsgerechtigkeit dienen. Im Zweifel nimmt das BAG eine Eingruppierungsvorschrift an6.

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Besetzungsregeln werden insbesondere aus Gründen des Schutzes vor physischer und psychischer Überforderung, der Förderung der Arbeitsqualität sowie des Beschäftigungsschutzes für Fachkräfte vereinbart7. Daneben stehen weitere

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So z.B. Annuß/Thüsing/Maschmann, § 14 TzBfG Rz. 68. Vgl. hierzu Francken, NZA 2010, 305 (306). ErfK/Müller-Glöge, § 14 TzBfG Rz. 101. Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, § 14 TzBfG Rz. 411; ErfK/Meier-Glöge, § 14 TzBfG Rz. 101; Francken, NZA 2010, 305 (306). 5 Vgl. dazu BAG v. 26.4.1990 – 1 ABR 84/87, NZA 1990, 850; BAG v. 22.1.1991 – 1 ABR 19/90, NZA 1991, 675. 6 BAG v. 18.3.2008 – 1 ABR 81/06, NZA 2008, 832 (835 f.). 7 BAG v. 17.6.1999 – 2 AZR 456/98, NZA 1999, 1157 (1158 f.).

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Teil 5 (7) Rz. 3

Besetzungsregeln

Ziele, wie der Schutz vor Dequalifizierung oder die Schaffung von Anreizen zur Aus- und Weiterbildung. Besetzungsregeln finden sich unter anderem im Transportgewerbe, bei Cockpitbesetzungen von Flugzeugen, sowie – mit langer Tradition – in der Druckindustrie1. 3

Qualitative und quantitative Besetzungsregeln stellen grundsätzlich Betriebsnormen im Sinne von § 3 Abs. 2 TVG dar, die unabhängig von der Tarifbindung der Arbeitnehmer gelten, wenn der Arbeitgeber an den TV gebunden ist (vgl. allgemein zu Betriebsnormen Teil 4 Rz. 84 ff.)2. Soweit die Besetzungsregeln allerdings dem Schutz der Beschäftigten vor Überforderung dienen, sind sie zugleich Inhaltsnormen3. Jedenfalls insoweit bestehen individuelle Ansprüche der betroffenen Arbeitnehmer. Auch gekündigte Arbeitnehmer müssen sich darauf berufen können, dass ihre Kündigung zu einer Missachtung der tarifvertraglichen Besetzungsregeln im Betrieb führen würde4. Das BAG hält Letzteres allerdings lediglich für eine Auslegungsfrage im Einzelfall5. In jedem Fall kann die tarifschließende Gewerkschaft die Einhaltung der Besetzungsregel durchsetzen6. Dem Betriebsrat steht ein Zustimmungsverweigerungsrecht nach § 99 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG zu, wenn eine personelle Einzelmaßnahme zu einem Verstoß gegen die tarifvertragliche Besetzungsregel führen würde7.

4

Die Zulässigkeit tarifvertraglicher Besetzungsregeln war früher lebhaft umstritten, dürfte heute aber im Ergebnis anerkannt sein. Die Bedenken bestanden in erster Linie hinsichtlich der Vereinbarkeit von Besetzungsregeln mit Art. 12 Abs. 1 GG (zur Frage der Grundrechtsbindung der TV-Parteien vgl. Teil 1 Rz. 33 ff.). Bezogen auf den Arbeitgeber wurde die freie Berufsausübung (Art. 12 Abs. 1 GG) als beeinträchtigt angesehen, weil der Arbeitgeber über die Besetzung von Arbeitsplätzen nur unter Beachtung der Besetzungsregel entscheiden kann. Ebenso wurde mit Blick auf Arbeitsplatzbewerber, die anders oder nicht der Besetzungsregel entsprechend qualifiziert sind, die freie Berufswahl als beeinträchtigt angesehen. Das BAG sieht Besetzungsregeln mit Blick auf ihre Ziele (s. Rz. 1) grundsätzlich als verfassungsrechtlich gerechtfertigte Regelungen der freien Berufsausübung und der freien Berufswahl an8. Gleichwohl sind in Ansehung dieser Ziele unverhältnismäßige Klauseln unzulässig. Ungeachtet der Frage, ob der Prüfungsmaßstab des BAG überzeugt9, ist der Rechtsprechung im Ergebnis zuzustimmen. Diese hat ihren weitreichenden 1 Däubler/Hensche/Henschmid, § 1 TVG Rz. 845. 2 BAG v. 27.10.2010 – 7 ABR 36/09, NZA 2011, 527 (529); BAG v. 17.6.1999 – 2 AZR 456/98, NZA 1999, 1157 (1158); BAG v. 26.4.1990 – 1 ABR 84/87, NZA 1990, 850 (852 f.). 3 Insoweit offen gelassen von BAG v. 17.6.1999 – 2 AZR 456/98, NZA 1999, 1157 (1159); vgl. auch Däubler/Hensche/Henschmid, § 1 TVG Rz. 856. 4 LAG Düsseldorf v. 30.11.2010 – 8 Sa 1234/09, ArbuR 2011, 264. 5 BAG v. 17.6.1999 – 2 AZR 456/98, NZA 1999, 1157 (1159). 6 BAG v. 17.6.1999 – 2 AZR 456/98, NZA 1999, 1157 (1159). 7 BAG v. 27.10.2010 – 7 ABR 36/09, NZA 2011, 527 (529); zu § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG vgl. LAG Hessen v. 30.6.2011 – 9 TaBV 199/10, n.v., n.rkr. 8 BAG v. 26.4.1990 – 1 ABR 84/87, NZA 1990, 850; BAG v. 22.1.1991 – 1 ABR 19/90, NZA 1991, 675. 9 Krit. Däubler/Hensche/Henschmid, § 1 TVG Rz. 849.

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Besetzungsregeln

Rz. 8 Teil 5 (7)

Kontrollmaßstab für Betriebsnormen nach wie vor nicht aufgegeben (zur Grundrechtsbindung der TV-Parteien im Übrigen vgl. Teil 1 Rz. 33 ff.)1. Die TV-Parteien dürfen die Besetzungsregeln nicht gleichheitswidrig (Art. 3 Abs. 1 GG) oder diskriminierend ausgestalten. Die den Besetzungsregeln durch die TV-Parteien zu Grunde gelegten Sachgründe dürfen nicht willkürlich oder sachfremd sein. Die Rechtfertigungsbedürftigkeit für bloße Vorrangregeln ist geringer, als wenn die TV-Parteien absolute, uneingeschränkte Einstellungsvoraussetzungen schaffen. Eine Besetzungsregel, welche die Besetzung bestimmter (Beförderungs-)Stellen in einem Betrieb an Voraussetzungen knüpft, deren Herbeiführung einem (Groß-)Teil der Belegschaft selbst im Benehmen mit dem Arbeitgeber objektiv unmöglich ist, ist unwirksam2. Die tarifvertraglichen Regelungen sind allerdings häufig flexibler und weit weniger einschneidend, als dies in der Diskussion in der Vergangenheit bisweilen zum Ausdruck gekommen ist. Besetzungsregeln können erstreikt werden3.

5

Die Missachtung von Besetzungsregeln durch den Arbeitgeber kann sich auch dahingehend auswirken, dass bei einer – auch mittelbar – durch eine fehlerhafte oder unzureichende Besetzung erfolgten Beeinflussung von Fehlerquellen die Haftung des Arbeitnehmers für Pflichtverletzungen ausgeschlossen oder jedenfalls reduziert wird4.

6

Sofern auf der Grundlage tarifvertraglicher Besetzungsregeln Betriebsvereinbarungen abgeschlossen werden, dürfen diese nicht so ausgestaltet werden, dass sie eine Orientierung an den tatsächlichen Einsatzerfordernissen vor Ort vermissen lassen5.

7

II. Beispiele Anhang A MTV Druck (Auszug)

8

Anmerkung: Die Besetzungsregeln werden hier nur auszugsweise abgedruckt. Die Anhänge müssen im Zusammenhang mit dem Abschlussprotokoll der Tarifeinigung zwischen dem bvdm und ver.di vom 16.6.2005 und der Vereinbarung zum Tarifabschluss vom 6.2.1997, ergänzt durch die Tarifabschlüsse vom 21.2.2001 sowie vom 22.10.2001 gelesen werden.

(…) III. Sonstige Bestimmungen (…) 5. Alle Facharbeiten in den Gruppen Druckformherstellung, Druck, Weiterverarbeitung sind von Fachkräften der Druckindustrie auszuüben. Ausnahmen von dieser Bestimmung sind in den einzelnen Anhängen gesondert geregelt. 1 Zumindest lässt sie aber Zweifel erkennen, vgl. BAG v. 8.12.2010 – 7 ABR 98/09, NZA 2011, 751 (756 f.). 2 BAG v. 18.3.2008 – 1 ABR 81/06, NZA 2008, 832 (835 f.). 3 LAG Hessen v. 9.8.2011 – 9 SaGa 1147/11, n.v. 4 LAG Niedersachsen v. 23.9.1997 – 7 Sa 490/97, AiB 1998, 347 m. Anm. Kohte. 5 LAG Düsseldorf v. 30.11.2010 – 8 Sa 1234/09, ArbuR 2011, 264.

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Teil 5 (7) Rz. 9 9

Besetzungsregeln

Anhang C MTV Druck (Auszug) I. Allgemeines 1. Die Bedienung der Steuerungs- und Regeleinrichtungen, die Überwachung der Qualität und Produktionsmenge, des ordnungsgemäßen Laufs sowie die Veranlassung notwendiger Maßnahmen, ferner alle Arbeiten des Berufsbildes sind Aufgabe der Drucker. Protokollnotiz: Zur Maschinenbesetzung im Fortdruck an Rotationsmaschinen zählen auch die Abteilungsleiter und Schichtführer, wenn sie tatsächlich die Maschinen bedienen.

2. Arbeiten, wie beispielsweise das Ölen und Schmieren der Maschine, Ein- und Ausheben der Formen, Formenschließen, Mischen und Druckfertigmachen der Farben im Bogendruck, Einziehen der Papierbahnen, Bedienung von Rollenträgern, Abrichten und Schleifen der Rakel, Waschen der Zylinder bzw. Walzen, können auch von geeigneten Hilfskräften selbständig ausgeführt werden. 3. Bei vorübergehender Abwesenheit (Urlaub, Krankheit) eines Rotationsdruckers an einer Rollenrotationsmaschine kann vertretungsweise auch ein anderer Drucker mit den technischen Arbeiten an der Rotationsmaschine beschäftigt werden, vorausgesetzt, dass wenigstens ein ausgebildeter Rotationsdrucker an der Maschine arbeitet. 4. An Rollenrotationsmaschinen kann die unvorhergesehene kurzfristige Abwesenheit eines Druckers innerhalb einer Schicht nicht den Stillstand der Maschine zur Folge haben. 5. Zusatzaggregate (z.B. Postkartenankleber, Beiheftung usw.) an Rotationsmaschinen in allen Druckverfahren müssen bei der Maschinenbesetzung berücksichtigt werden. II. Bogendruck 1. Jede Fachkraft hat nur eine Einfarben-Bogendruckmaschine, zwei Tiegel oder zwei Einfarben-Kleinoffsetmaschinen zu bedienen. 2. An Bogendruck-Mehrfarbenmaschinen werden je zwei Farbwerke durch einen Drucker bedient. Protokollnotiz: Bei Bogendruck-Mehrfarbenmaschinen bis zum Format III b) kann die Besetzung mit Fachkräften durch betriebliche Regelung abweichend erfolgen.

Bei Vorliegen besonderer technischer Ausstattung (zentrale Farb-, Wasserund Registersteuerung) kann von dieser Bedienungsregelung abgewichen werden. 3. Den Fachkräften ist ab dem Format IV mindestens eine Hilfskraft beizustellen. Dies gilt bei Maschinen mit vier Farbwerken für die Formatklassen I bis V. An Maschinen mit vier Farbwerken ab dem Format VI und an Maschinen mit sechs Farbwerken sind zwei Hilfskräfte zu beschäftigen. (…)

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Besetzungsregeln

Rz. 13 Teil 5 (7)

III. Kommentierung Die Anhänge zum MTV Druck beinhalten sowohl quantitative als auch qualitative Besetzungsregeln. Die Regelungen sind von den TV-Parteien fortlaufend an die technische Entwicklung angepasst worden. Dies führt dazu, dass die Anhänge zum MTV Druck stets im Zusammenhang mit dem Abschlussprotokoll der Tarifeinigung zwischen dem bvdm und ver.di vom 16.6.2005 und der Vereinbarung zum Tarifabschluss vom 6.2.1997, ergänzt durch die Tarifabschlüsse vom 21.2.2001 sowie vom 22.10.2001, gelesen werden müssen. Diese flexibilisieren verschiedene Besetzungsregeln im TV. Eine redaktionelle Überarbeitung des TVes war zwischen den TV-Parteien vereinbart, ist aber gescheitert.

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Die Anhänge regeln gegliedert nach verschiedenen Druckformen die Besetzung unterschiedlicher Druckmaschinen. Der Anhang C unterscheidet zwischen Bogendruck (Anhang C II) und Rollenrotation (Anhang C IIII.). Bei letzterem wird zwischen Buchdruckrotationsmaschinen (Anhang C III. a)), Offsetrotationsmaschinen (Anhang C III. b)), Tiefdruckrotationsmaschinen (Anhang C III. c)) und Endlosrotationsmaschinen (Anhang C III. d)) unterschieden. Die Besetzungsregeln folgen immer einem ähnlichen Muster. Sie definieren zunächst die Maschinenart und sehen dann orientiert an der Ausstattung und Art der Maschine Mindestbesetzungen von Druckern und Hilfskräften vor. So verlangt Anhang C II. Ziff. 3 für den Bogendruck, dass entsprechend des Formats der Maschine und der Zahl der Farbwerke Hilfskräfte zu beschäftigen sind. Die Zahl der Drucker hängt demgegenüber von der Zahl der Farbwerke ab. Die Tätigkeitsbereiche von Druckern und Hilfskräften werden dabei so voneinander abgegrenzt, dass bestimmte Tätigkeiten alleine den Druckern zugewiesen werden, wobei im Einzelfall Ausnahmen zugelassen werden.

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Quantitative Besetzungsregeln finden sich sowohl hinsichtlich der Zahl der Drucker als auch der Hilfskräfte, die an bestimmten Maschinen tätig sein müssen. Die Regelungen sehen in der Regel eine Abhängigkeit von der Zahl der Druckwerke vor und sind an den Stand der Technik angepasst. Die Besetzungsregeln sehen verschiedentlich flexible Elemente vor, etwa Anhang C I. Ziff. 3 und Ziff. 4 MTV Druck, die es ermöglichen, vorübergehend von den Besetzungsregeln abzuweichen, um die Produktion aufrecht zu erhalten. Dies betrifft etwa Fälle kurzfristiger Abwesenheit eines Druckers (Anhang C I. Ziff. 4 MTV Druck) oder Fälle von Krankheit und Urlaub (Anhang C I. Ziff. 3 MTV Druck). Bei besonderen Erschwernissen besteht die Verpflichtung, über die vorgesehene Besetzung hinaus zu gehen. III. b) Offsetrotationsmaschinen Ziff. 2c) MTV Druck stellt die Entscheidung hierüber nicht in das Ermessen des Arbeitgebers. Liegen die Erschwernisse vor, ist eine zusätzliche Besetzung durch Betriebsvereinbarung zu regeln.

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Anhang C II Bogendruck Ziff. 3 Satz 1 bis 3 MTV legt die Mindestanzahl der an bestimmten Maschinen zu beschäftigenden Hilfskräfte fest. Die Regelung ist wirksam. Das BAG sieht den Zweck der Regelung alleine im Schutz der Facharbeiter vor Überforderung und Dequalifikation sowie Förderung der Arbeitsqualität, nicht aber darin, die Hilfskräfte zu schützen. Dementsprechend kön-

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Teil 5 (8) Rz. 14

Differenzierungsklauseln

nen diese sich nicht auf einen Verstoß gegen die Vorschrift berufen1. Die Facharbeiter hingegen können die Einhaltung der Vorschrift ebenso wie die Gewerkschaft und der Betriebsrat verlangen (s.o. Rz. 3). Die Vorschrift beinhaltet eine Mindestregelung für die Besetzung. Der Einsatz von mehr als den vorgeschriebenen Hilfskräften ist ebenso möglich wie der Einsatz von Fachkräften anstatt Hilfskräften. 14

Verschiedene Regelungen sehen in qualitativer Hinsicht vor, dass bestimmte Tätigkeiten nur von Fachkräften der Druckindustrie durchgeführt werden dürfen. Unter dem Begriff „Fachkraft der Druckindustrie“ ist eine Arbeitskraft mit einschlägiger abgeschlossener Berufsausbildung zu verstehen.

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Der TV sieht bisweilen Abweichungsmöglichkeiten (z.B. Anhang C II. Bogendruck, Ziff. 2 Abs. 2) vor. Der TV formuliert hier teilweise lediglich „Abweichungen“; in Protokollnotizen ist bisweilen von Abweichungen durch „betriebliche Regelungen“ die Rede. Das LAG Hessen hat daraus den Schluss gezogen, eine Abweichung sei auch ohne Beteiligung des Betriebsrats und ohne Abschluss einer Betriebsvereinbarung möglich2. Dies ergibt sich indes – auch unter Berücksichtigung der Systematik der Anhänge – nicht aus deren Wortlaut. Soweit die TV-Parteien ausdrücklich auf Betriebsvereinbarungen verweisen, betrifft dies den Fall, dass zusätzliche Druckeinheiten über die tarifvertraglich geregelte Zahl hinaus betrieben werden. Dieser Sachverhalt ist mit der Abweichung von Regelungen des TVes nicht vergleichbar.

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Die TV-Parteien haben vereinbart, dass die Besetzung mit Fach- und Hilfskräften während des Fortdrucks unter Zugrundelegung der Bestimmungen des Anhangs C III. durch Betriebsvereinbarung geregelt wird. Kommt eine Einigung nicht zustande, so entscheidet die Einigungsstelle gemäß § 76 BetrVG verbindlich (Tarifabschluss vom 6.2.1997, ergänzt durch die Tarifabschlüsse vom 21.2.2001 sowie vom 22.10.2001 Vereinbarung Nr. 1).

(8) Differenzierungsklauseln I. Zweck und Kontext 1

Unter Differenzierungsklauseln versteht man Tarifregelungen, wonach ausschließlich Gewerkschaftsmitgliedern bestimmte Leistungen des Arbeitgebers zugute kommen, die den nicht oder anders Organisierten nicht zustehen. Je nach Rechtswirkung sind zwei Grundarten von Differenzierungsklauseln zu unterscheiden: einfache und qualifizierte Differenzierungsklauseln. Bei einfachen Differenzierungsklauseln wird die Mitgliedschaft in der tarifschließenden Gewerkschaft zur Anspruchsvoraussetzung erhoben mit der Folge, dass Nichtmitgliedern kein Anspruch darauf zusteht. Allerdings hat der Arbeitgeber die Möglichkeit, dieselben Leistungen auch Nichtgewerkschaftsmitgliedern zu 1 BAG v. 17.6.1999 – 2 AZR 456/98, NZA 1999, 1157 (1158 f.). 2 LAG Hessen v. 30.6.2011 – 9 TaBV 199/10, n.v., n.rkr.

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gewähren. Weitergehende Rechtsfolgen lösen qualifizierte Differenzierungsklauseln aus, die in der Form von Tarifausschlussklauseln und sog. Spannen(auch Spannensicherungsklauseln) oder Abstandsklauseln vorkommen. Sie schränken zusätzlich zur Begünstigung der Gewerkschaftsmitglieder die Vertragsfreiheit des Arbeitgebers ein. Als Tarifausschlussklauseln verwehren sie es ihm, Nichtorganisierten tarifliche Leistungen zu gewähren; als Spannenklauseln verpflichten sie den Arbeitgeber, von ihm allgemein gewährte Leistungen wie Sonderzuwendungen oder Erholungsurlaub für die Mitglieder der tarifschließenden Gewerkschaft zusätzlich um den Spannenbetrag aufzustocken, sodass diesen stets eine höhere Leistung zusteht1. Begonnen hat die Diskussion um Differenzierungsklauseln in den 1960er Jahren, als Gewerkschaften erstmals exklusive Sonderleistungen für ihre Mitglieder forderten und erstreikten. Vorläufiger Schlusspunkt dieser Diskussion war die Entscheidung des Großen Senats des BAG vom 29.11.19672. In diesem Beschluss hat der Große Senat die Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit bei einem tariflichen Urlaubsgeld und deren Absicherung durch eine Spannenklausel wegen Verstoßes gegen die negative Koalitionsfreiheit für rechtswidrig erachtet. Danach spielten Differenzierungsklauseln jahrzehntelang keine große Rolle mehr3. Zwei Umstände haben Differenzierungsklauseln in den letzten Jahren wieder vermehrt ins Gespräch gebracht. Zum einen haben die Gewerkschaften mit nachlassenden Mitgliederzahlen zu kämpfen und machen sich deshalb vermehrt Gedanken um ihre Attraktivität und die Sicherung des Bestandes4. Zum anderen mussten die Gewerkschaften im Rahmen von SanierungsTVen oftmals Zugeständnisse bei den essenziellen Bestandteilen der Tarifregelungen, nämlich Arbeitszeit und Entgelt, machen und versuchten deshalb, über Differenzierungen, etwa bei Jahressonderzahlungen, die Belastungen für ihre Mitglieder zu reduzieren5. Im Jahre 2007 hat der 4. Senat dann entschieden, dass eine mit einer Stichtagsregelung verbundene Differenzierungsklausel unzulässig sei, weil sie dem Einzelnen entgegen der gesetzlichen Konzeption der §§ 3, 4 TVG nicht ermögliche, durch Gewerkschaftsbeitritt die Anspruchsvoraussetzungen zu begründen6. In dieser Entscheidung hat der Senat ausdrücklich offen gelassen, ob weiterhin an den vom Großen Senat aufgestellten Grundsätzen zu Differenzierungsklauseln festzuhalten sei. Weit mehr Aufsehen erregte dann die Entscheidung des 4. Senats vom 18.3.2009, nach der eine Differenzierungsklausel, durch die in einem TV die Mitgliedschaft in der tarifschließenden Gewerkschaft zum Tatbestandsmerkmal eines Anspruchs auf eine jährliche Sonderzahlung in Höhe von 535 Euro gemacht wurde, keinen grundsätzlichen tarifrechtlichen oder verfassungsrechtlichen Bedenken begegne7. Gegenstand der Entscheidung, mit der der 4. Senat nach ei1 ErfK/Franzen, § 1 TVG Rz. 62. 2 BAG v. 29.11.1967 – GS 1/67, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG. 3 Wiedemann/Wiedemann, TVG, Einleitung Rz. 287; Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Differenzierungsklauseln Rz. 1. 4 Zutreffend Deinert, jurisPR-ArbR 45/2009 Anm. 1. 5 Vgl. Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Differenzierungsklauseln Rz. 1. 6 BAG v. 9.5.2007 – 4 AZR 275/06, NZA 2007, 1439. 7 BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028.

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gener Aussage ausdrücklich nicht von der Entscheidung des Großen Senats von 1967 abweichen wollte1, war mithin eine einfache Differenzierungsklausel. Eine Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit dem Urteil von 1967 hätte der 4. Senat ziemlich genau zwei Jahre später gehabt. Grundlage der Entscheidung vom 23.3.2011 war eine qualifizierte Differenzierungsklausel in Form einer Spannenklausel, also eine der Entscheidung des Großen Senats aus 1967 vergleichbare Regelung. Eine Auseinandersetzung mit der Entscheidung des Großen Senats blieb jedoch aus, weil der 4. Senat die Klausel wegen Überschreitung der Tarifmacht für unwirksam erachtete2. 3

Zulässigkeit und Reichweite von Differenzierungsklauseln sind in den letzten zehn Jahren vor dem Hintergrund sog. „Tarifboni“ für Gewerkschaftsmitglieder wieder verstärkt diskutiert worden3. Gleichwohl sind Differenzierungsklauseln auch nach den Entscheidungen des 4. Senats aus 2007 und besonders 2009 (noch) kein Massenphänomen geworden. Soweit erkennbar, vereinbaren die Tarifpartner im Einzelfall einfache Differenzierungsklauseln, die meist jährlich wirkende Entgeltleistungen an die Gewerkschaftsmitglieder beinhalten, wie etwa Zuschüsse zum Urlaubsgeld, Zusatzleistungen zur betrieblichen Altersversorgung, Erholungsbeihilfen oder Jahressonderzahlungen. In der Höhe bleiben die Ansprüche in aller Regel unter der Grenze des Betrags, der der Entscheidung des 4. Senats vom 18.3.2009 zugrunde lag (535 Euro/Jahr), sodass davon nach den Ausführungen des Senats kein „zwangsähnlicher Druck“ zum Gewerkschaftsbeitritt ausgeht (siehe dazu Rz. 12). Spannen- bzw. Spannensicherungsklauseln, wie sie etwa in der Entscheidung vom 23.11.2011 vorlagen, dürften sich mit der Entscheidung des 4. Senats weitgehend erledigt haben. Tarifausschluss- bzw. Verbotsklauseln sind, soweit sie in den letzten Jahren überhaupt vorgekommen sind, Einzelfälle geblieben. Neben der unmittelbaren Besserstellung der Gewerkschaftsmitglieder finden auch mittelbare Begünstigungen über gemeinsame Einrichtungen nach § 4 Abs. 2 TVG sowie gewerkschaftsnahe Stiftungen, Vereine oder sonstige „Dritte“ statt4. Die Nutzung gemeinsamer Einrichtungen der TV-Parteien zur Differenzierung zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und Außenseitern wird dadurch erreicht, dass Ansprüche gegen diese Einrichtungen nur tarifgebundenen Arbeitnehmern zustehen. Dasselbe gilt im Fall der Einschaltung sonstiger Dritter. So werden z.B. gemeinnützige Vereine (Sozialvereine) in gewerkschaftlicher Trägerschaft mit finanziellen Mitteln des Arbeitgebers (mit-)ausgestattet. Der Verein bietet dann unmittelbar oder mittelbar (etwa über Erholungswerke) Leistungen an, die nur den Mitgliedern der entsprechenden Gewerkschaft zugute kommen. 1 Insoweit anders als die Vorinstanz, LAG Hannover v. 11.12.2007 – 5 Sa 914/07, DB 2008, 1977 = LAGE Art. 9 GG Nr. 15a m. Anm. Deinert. 2 BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920; instruktiv zur „Nichterwähnung“ der Entscheidung des Großen Senats Bauer/Arnold, NZA 2011, 945. 3 Etwa Bauer/Arnold, NZA 2005, 1209; Bauer/Arnold, NZA 2009, 1169; Bauer/Arnold, NZA 2011, 945; Greiner/Suhre, NJW 2010, 131; Brecht-Heitzmann, NZA-RR 2011, 505; Franzen, RdA 2006, 1; Gamillscheg, NZA 2005, 146; Giesen, NZA 2004, 1317; Kocher, NZA 2009, 119; Ulber/Strauß, DB 2008, 1970; Ulber, Anm. EzA Art. 9 GG Nr. 104. 4 So auch Bauer/Arnold, NZA 2011, 945 (949).

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II. Beispiele 4

1. Einfache Differenzierungsklausel Gegenstand der BAG-Entscheidung vom 18.3.2009 war eine einfache Differenzierungsklausel, der im Wesentlichen folgende Entwicklung zugrunde lag: In den Jahren 2003 bis 2005 schlossen die Gewerkschaft ver.di und die Beklagte bzw. deren Rechtsvorgänger mit regionaler Geltung sog. „Restrukturierungstarifverträge“, die eine befristete Absenkung der im BMT-AW II vorgesehenen Sonderzahlungen vorsahen. Nach der Umstrukturierung des Bezirksverbandes Weser-Ems durch Ausgliederung und gesellschaftsrechtliche Verselbständigung mehrerer gemeinnütziger Gesellschaften mit beschränkter Haftung, u.a. der Beklagten, schlossen diese Gesellschaften zusammen mit dem Bezirksverband auf der einen und der Gewerkschaft ver.di auf der anderen Seite aufgrund nachhaltiger wirtschaftlicher Probleme mehrere TVe, darunter einen „Haustarifvertrag“, der den Mitarbeitern in § 19 grundsätzlich einen Anspruch auf eine Jahressonderzahlung gewährte. Zusätzlich wurde jedoch ein „TV zum Ausgleich des strukturellen Defizits der Unternehmensgruppe des ehemaligen AWO-Bezirksverbandes Weser-Ems (TVAstD)“ abgeschlossen, der folgende Differenzierung vorsah: § 2 Außerkraftsetzen § 19 des Haustarifvertrages der AWO Gruppe Der § 19 des Haustarifvertrages der AWO-Gruppe vom 1. Juli 2006 wird durch diesen Tarifvertrag Ausgleich strukturelles Defizit (TV AstD) unter Beachtung der Regelungen in den folgenden Paragraphen außer Kraft gesetzt. § 3 Ausgleichszahlung für ver.di-Mitglieder (1) Als Ersatzleistung wegen des Verzichts auf die Sonderzahlungen gemäß § 19 des Haustarifvertrages der AWO-Gruppe erhalten die ver.di-Mitglieder der AWO-Gruppe in jedem Geschäftsjahr zum 31. Juli eine Ausgleichszahlung in Höhe von 535 Euro brutto je Vollzeitkraft gemäß tariflicher Wochenarbeitszeit. (2) Teilzeitbeschäftigte erhalten die Ausgleichszahlung anteilig. (3) Diese Ausgleichszahlung erhalten Beschäftigte, die ihre Mitgliedschaft in der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) für die zurückliegenden drei Monate bis zum Auszahlungstag glaubhaft zum 30. Juni nachgewiesen haben. (4) Für das Jahr 2006 ist die Mitgliedschaft für die zurückliegenden drei Monate bis zum Auszahlungstag (30.9.2006) glaubhaft zum 31.8.2006 nachzuweisen.

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2. Spannenklausel (Beispiel 1) Der BAG-Entscheidung vom 23.3.2011 lag eine qualifizierte Differenzierungsklausel in Form einer sog. Spannenklausel zugrunde. Die Klägerin ist ein Unternehmen im Bereich der Hafen-Logistik und beschäftigt ca. 1 500 Arbeitnehmer. Die von ihr verwendeten Formulararbeitsverträge verweisen jeweils auf die örtlich, zeitlich und inhaltlich für sie geltenden TVe. Die Beklagte ist die im Betrieb der Klägerin vertretene Gewerkschaft ver.di. Im Frühjahr 2008 traten die Parteien in TV-Verhandlungen ein, während derer die Beklagte der Klägerin u.a. schriftlich ankündigte, „eine gewerkschaftliche Vorteilsregelung Steffan

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notfalls auch mit Arbeitskampfmaßnahmen durchzusetzen“. Hiergegen wendete sich die Klage der Arbeitgeberin. Schließlich vereinbarten die Parteien den „TV über eine Erholungsbeihilfe für Lohn- und Gehaltsempfänger, die Mitglied der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di sind“ (TV ErhBeih), der hinsichtlich der Problematik der Differenzierung folgenden Wortlaut hat: I. Lohn- und Gehaltsempfänger, die Mitglied der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di sind, erhalten pro Kalenderjahr eine Erholungsbeihilfe als Bruttobetrag in Höhe von Euro 260. V. Gewährt die H. die Leistung nach Ziffer I., entsprechende oder über die in Ziffer I festgelegten Ansprüche hinausgehende Beträge oder sonstige Leistungen Lohnund Gehaltsempfängern, die nicht Mitglied der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di sind, so erhöht sich für die Lohn- und Gehaltsempfänger, die Mitglied der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di sind, die Arbeitgeberleistung entsprechend. 6

3. Spannenklausel (Beispiel 2) Dem Beschluss des Großen Senats vom 1967 lag ein TV über ein zusätzliches Urlaubsgeld zugrunde, das für Gewerkschaftsmitglieder nochmals erhöht wurde. Soweit der Arbeitgeber diesen Vorteil gegenüber Nicht-Gewerkschaftsangehörigen – auch durch andere Leistungen – kompensieren (oder übersteigen) will, muss er die Leistungen an die Gewerkschaftsmitglieder um diesen Betrag erhöhen. § 1 Urlaubsgeld (1) Zur erholungswirksameren Gestaltung des Urlaubs wird den Beschäftigten der Firma … ein zusätzliches Urlaubsgeld gezahlt. § 3 Auszahlung des Urlaubsgeldes (1) Die Treuhänder sind verpflichtet, vor Beginn des Jahresurlaubs den eingezahlten Betrag als zusätzliches Urlaubsgeld an die im Betrieb beschäftigten gewerblichen Arbeitnehmer nach folgender Maßgabe auszuzahlen: a) Alle Arbeitnehmer, die bei Beginn des Urlaubs mindestens einen Monat im Betrieb beschäftigt sind, erhalten 60,– DM als Grundbetrag. b) Die Hälfte des Restbetrages erhalten die Arbeitnehmer, die zu Beginn des Urlaubs mindestens ein Jahr in der Bekleidungsindustrie beschäftigt waren, zusätzlich zum Grundbetrag anteilig ausgezahlt. c) Die andere Hälfte des Restbetrages wird an die Mitglieder der GTB anteilig zu den Ansprüchen aus den Buchstaben a) beziehungsweise a) und b) zusätzlich ausgezahlt. (2) Der gesamte eingezahlte Betrag wird ausschließlich für den Vertragszweck verwendet. Etwaige Bearbeitungskosten dürfen nur aus den Zinserträgen des Treuhandkontos abgedeckt werden. 380

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(3) Die Treuhänder sind verpflichtet, der Firma den Nachweis über die ordnungsgemäße Auszahlung des Urlaubsgeldes zu erbringen. (4) Um eine pünktliche Auszahlung zu gewährleisten, händigt die Firma den Treuhändern rechtzeitig vor Urlaubsbeginn eine Liste aus, aus der die Namen und Anschriften der Arbeitnehmer sowie ihre Ansprüche aus Ziffer (2) Buchstaben a) und b) ersichtlich sind. § 4 Benachteiligungsverbot (1) Wenn und soweit in der Firma beschäftigte, aber nicht in der GTB organisierte Arbeitnehmer des Betriebes Geld oder sonstige Leistungen erhalten, die über die in dieser Vereinbarung festgelegten Ansprüche hinausgehen, so muss jeder in der Firma beschäftigte und der GTB angehörende Arbeitnehmer zusätzlich zu den sich aus dieser Vereinbarung ergebenden Leistungen die gleichen Geld- oder sonstigen Zuwendungen erhalten, wie es bei den unorganisierten Arbeitnehmern der Fall ist.

III. Kommentierung 1. Ausgangspunkt: Großer Senat Grundlage der Entscheidung des Großen Senats von 1967 war eine qualifizierte Differenzierungsklausel in Form einer Spannenklausel. Diese hielt der Große Senat im Wesentlichen mit der Argumentation für unzulässig, dass sie die negative Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG rechtswidrig einschränke und dass sie außerdem durch die Tarifmacht der Koalitionen nicht gedeckt sei. Wurde die Entscheidung des Großen Senats im Schrifttum zunächst vielfach abgelehnt1, entfachte sich die Diskussion um die Zulässigkeit von Differenzierungsklauseln und um die Rechtsprechung des Großen Senats im Laufe der letzten zehn Jahre erneut2. Neben der Diskussion um die inhaltliche Begründung der Entscheidung ist zudem deren Reichweite ungeklärt. Hat der Große Senat nur über die Zulässigkeit qualifizierter Differenzierungsklauseln in Form der sog. Spannenklauseln entschieden oder jeglichen Differenzierungsklauseln eine Absage erteilt? Für die Ansicht, dass sich das BAG nur zur Zulässigkeit qualifizierter Differenzierungsklauseln äußern wollte, spricht die Gestaltung des Ausgangsfalles. Hier ging es um eine Streikforderung, die auf den Abschluss eines TVes gerichtet war, der eine gemeinsame Urlaubskasse vorsah, die von den Arbeitgebern finanziert werden sollte und bei der die Gewerkschaftsmitglieder eine Mehrleistung gegenüber Nichtorganisierten erhalten sollten. Die Mehrleistung an die Mitglieder sollte dabei durch eine Abstandsoder Spannenklausel abgesichert werden, nach der eventuelle Zahlungen an Außenseiter zu der Verpflichtung des Arbeitgebers führen sollten, den Abstand zu den Außenseitern durch eine entsprechende Erhöhung der Leistung an die Gewerkschaftsmitglieder wieder herzustellen (vgl. oben Rz. 6 Beispiel 2). Für die Annahme, dass der Große Senat 1967 hingegen umfassend über die Zuläs1 Wiedemann/Wiedemann, TVG, Einleitung Rz. 285. 2 Vgl. die Nachweise bei BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028 Rz. 45.

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sigkeit tarifvertraglicher Differenzierung entschieden hat, lassen sich sowohl der Tenor als auch die Begründung der Entscheidung anführen. Im Tenor jedenfalls hatte der Große Senat allgemein festgestellt, dass in TVen zwischen den bei der vertragschließenden Gewerkschaft organisierten und anders oder nicht organisierten Arbeitnehmern nicht differenziert werden dürfe. Und nach Punkt II. der Gründe können Rechtsnormen eines TVes, die den Inhalt, den Abschluss oder die Beendigung des Arbeitsverhältnisses ordnen, keine Regelung zugunsten oder zu Lasten der Außenseiter ohne besondere staatliche Ermächtigung oder Mitwirkung treffen1. Der Große Senat hat die Differenzierung der tariflichen Leistungen nach Arbeitnehmern und Gewerkschaftsmitgliedern nicht nur in tarifrechtlicher, sondern auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht als unwirksam beurteilt. Verfassungsrechtlich verletze eine solche Differenzierung das Grundrecht der positiven Koalitionsfreiheit der anders und der negativen Koalitionsfreiheit der nicht organisierten Arbeitnehmer aus Art. 9 Abs. 3 GG. Tarifrechtlich stellten Differenzierungsklauseln eine Überschreitung der Tarifmacht dar. Die Vorenthaltung von Leistungen an die Außenseiter sei eine unzulässige Beitragserhebung für die Inanspruchnahme gewerkschaftlicher Tarifarbeit. Eine Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit sei für die Arbeitgeberseite unzumutbar. Sie müsse sich sonst „in die Dienste des Koalitionsgegners“ spannen lassen. Zudem verletze eine solche Differenzierung das „allgemeine Gerechtigkeitsempfinden“ der Außenseiter besonders. Eine finanzielle Besserstellung von organisierten gegenüber nicht oder anders organisierten Arbeitnehmern stelle daher einen „sozialinadäquaten“ Druck auf die Außenseiter dar.

2. Einfache Differenzierungsklauseln 8

Anders als der Entscheidung des Großen Senats im Jahre 1967 lag der Entscheidung des 4. Senats vom 18.3.2009 eine einfache Differenzierungsklausel zugrunde (vgl. oben Rz. 4), die der Senat – entgegen mancher Erwartung – nicht nach § 45 Abs. 3 ArbGG dem Großen Senat des Bundesarbeitsgerichts vorgelegt hatte. Nach seiner Ansicht ist der 4. Senat aus zwei Erwägungen nicht von der Entscheidung des Großen Senats aus dem Jahre 1967 abgewichen. Zum einen handele es sich bei der 2009 zu treffenden Entscheidung nicht um eine Rechtsfrage, die der Große Senat in seiner Entscheidung vom 29.11.1967 beantwortet habe, weil der Große Senat eine andere Rechtsfrage behandelt habe als diejenige nach der Zulässigkeit einfacher Differenzierungsklauseln. Da dies in der Literatur durchaus unterschiedlich gewertet wird2, stellte der Senat weiter fest, dass selbst bei der Annahme, der Große Senat habe diese Frage mit beantwortet, im konkreten Fall keine Abweichung vom Großen Senat vorgelegen habe3, denn weder habe es sich um eine „unzulässige Beitragserhebung“ bei den Außenseitern gehandelt noch um eine sozialinadäquate Regelung4. 1 BAG v. 29.11.1967 – GS 1/67, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG Rz. 60. 2 Zustimmend etwa Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 1186; Deinert, jurisPR-ArbR 45/2009 Anm. 1; a.A. Hanau, FS Hromadka, 2008, S. 115 (119). 3 BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028 Rz. 86. 4 BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028 Rz. 98.

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In der Sache hat der 4. Senat die Vereinbarung einfacher Differenzierungsklauseln im TV als rechtmäßig erachtet1. Eine Tarifregelung wie diejenige in Ziff. I TV ErhBeih (vgl. oben Rz. 5) normiere als zusätzliches Tatbestandsmerkmal für das Entstehen eines einzelnen Anspruchs die Mitgliedschaft in der tarifschließenden Gewerkschaft. Die Koalitionen seien bei der Bestimmung der tatbestandlichen Voraussetzungen für tariflich geregelte Ansprüche weitgehend frei. Der Maßstab für die Zulässigkeit von Differenzierungsklauseln sei die negative Koalitionsfreiheit, insbesondere der Außenseiter, d.h. der nicht oder anders organisierten Arbeitnehmer. Diese werde durch eine einfache Differenzierungsklausel nicht beeinträchtigt, weil die Normsetzungsmacht der TV-Parteien sich von Verfassungs und von Gesetzes wegen ausschließlich auf ihre Mitglieder beschränke. Die normative Wirkung einer Tarifregelung auf Außenseiter sei ausgeschlossen. Eine einfache Differenzierungsklausel als solche schränke auch die Handlungs- und insbesondere Vertragsfreiheit des Arbeitgebers nicht ein, da es ihm unbenommen bleibe, seine vertraglichen Beziehungen zu nicht oder anders organisierten Arbeitnehmern frei zu gestalten und durchzuführen. Der Rechtskreis der nicht oder anders organisierten Arbeitnehmer könne durch eine Tarifnorm nicht wirksam betroffen werden. Soweit eine Tarifnorm sich auf das Arbeitsverhältnis von Außenseitern auswirke, beruhe dies nicht auf der normativen Wirkung des TVes, sondern auf der privatautonom gestalteten Arbeitsvertragsbeziehung zwischen dem Außenseiter und dem Arbeitgeber2.

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Der Entscheidung des 4. Senats sind zwei Kernaussagen zu entnehmen: Erstens, einfache Differenzierungsklauseln tangieren nicht die negative Koalitionsfreiheit – insbesondere der Außenseiter –, wobei der Senat offen lässt, ob diese sich auf Art. 9 Abs. 3 GG oder Art. 2 Abs. 1 GG gründet3. Eine Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit von Außenseitern durch Tarifnormen komme nur dann in Betracht, wenn die tariflichen Regelungen ihrem Inhalt nach Drittwirkung entfalten sollten. Dies könne etwa dann der Fall sein, wenn das Vertragsverhalten einer tarifgebundenen Arbeitsvertragspartei gegenüber Dritten im TV unmittelbar oder mittelbar geregelt werden solle4. Vermutlich liegt in diesen Passagen bereits eine Absage des Senats an qualifizierte Differenzierungsklauseln, die entweder unmittelbar eine Gleichstellung nichtorganisierter Arbeitnehmer mit den durch die Klausel begünstigten Gewerkschaftsmitgliedern verbieten (Tarifausschlussklauseln) oder dies mittelbar durch die Vereinbarung einer Spannenklausel tun. Wie dem auch sei, jedenfalls greift eine einfache Differenzierungsklausel nicht in die Vertragsfreiheit des Arbeitgebers ein5. Dieser ist weder rechtlich noch tatsächlich gehindert, Außensei-

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1 Zustimmend etwa ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 34; a.A. HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 111. 2 BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920 Rz. 21 mit Hinweis auf BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028 Rz. 46 bis 59 und BAG v. 22.9.2010 – 4 AZR 117/09, AP Nr. 144 zu Art. 9 GG. 3 BAG 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028 Rz. 35. 4 BAG 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028 Rz. 52. 5 Bauer/Arnold, NZA 2009, 1169 (1171); ähnlich Giesen, NZA 2004, 1317 (1318); a.A. wohl Greiner, DB 2009, 398 (399), der von einer beabsichtigten normativen Wirkung einer einfachen Differenzierungsklausel ausgeht.

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tern die nach dem TV den Gewerkschaftsmitgliedern vorbehaltenen Leistungen zu gewähren1. Zweitens, einfache Differenzierungsklauseln überschreiten nicht die Grenzen der Tarifmacht. Erfreulicherweise hat sich der Senat von der sozialpolitisch geprägten und nicht mehr ganz zeitgemäßen Begründung des Großen Senats entfernt und stattdessen festgestellt, dass die Normsetzungsbefugnis der TV-Parteien (Tarifautonomie) kollektiv ausgeführte Privatautonomie sei, die mit dem Beitritt der Mitglieder zur Koalition legitimiert werde2. Dieser zutreffende Befund setzt gleichzeitig die Grenzen dieser Normsetzungsbefugnis: „Sie können keine Abschluss-, Inhalts- und Beendigungsnormen vereinbaren, die unmittelbar für nicht Tarifgebundene normativ gelten. Eine Tarifregelung, die u.a. Pflichten von Nichtmitgliedern einer TV-Partei regelte, würde keine Wirkung entfalten, vergleichbar einem Vertrag zu Lasten Dritter“3. Folgt man dieser zutreffenden These, überschreiten einfache Differenzierungsklauseln nicht die Grenzen der Tarifmacht. 11

Arbeitgeber sind nach Ansicht des 4. Senats auch nicht an einer Vereinbarung gehindert, in Ausübung der Vertragsfreiheit den Außenseiter in seinem Arbeitsverhältnis schuldrechtlich so zu stellen als sei er Gewerkschaftsmitglied4. Dieser Anspruch folgt aber nicht bereits aus der Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag, selbst wenn die Bezugnahmeklausel auch den TV oder die Tarifregelung erfasst, durch den/die den Gewerkschaftsmitgliedern die Sonderleistung gewährt werden soll. Die arbeitsvertragliche Inbezugnahme bewirkt lediglich die Anwendbarkeit des TVes, ersetzt jedoch nicht die als besondere Anspruchsvoraussetzung für eine Sonderleistung im TV festgeschriebene Mitgliedschaft in der Gewerkschaft5. Dies gilt selbst dann, wenn die Bezugnahmeklausel im Sinne der früheren Rechtsprechung des Senats als Gleichstellungsklausel auszulegen ist. Auch bei Annahme einer Gleichstellungsabrede werde der Arbeitgeber gegenüber Außenseitern nicht weitergehend gebunden als gegenüber einem normativ tarifgebundenen Arbeitnehmer. Deshalb habe auch die frühere Senatsrechtsprechung eine dynamische Verweisung auf einen TV oder ein Tarifwerk einschränkend dahin ausgelegt, dass die Dynamik nur so weit reicht, wie sie bei einem tarifgebundenen Arbeitnehmer reicht, also dann endet, wenn der Arbeitgeber wegen Wegfalls der eigenen Tarifgebundenheit nicht mehr normativ an künftige Tarifentwicklungen gebunden ist. In der Lite1 Zur Begründung siehe BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028 Rz. 54; dem zustimmend Bauer/Arnold, NZA 2009, 1169 (1171); Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 819; Giesen, NZA 2004, 1317; Franzen, RdA 2006, 1 (6). Nach a.A. kann sich der Arbeitgeber verpflichten, Exklusivleistungen für Gewerkschaftsmitglieder nicht weiter zu geben, so etwa Gamillscheg, NZA 2005, 146 (147); ähnlich Kocher, NZA 2009, 119 (123). 2 BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028 Rz. 49, mit Hinweis auf BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (347 f.). 3 BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028 Rz. 51, mit Hinweis auf Däubler/ Hensche, § 1 TVG Rz. 878; ebenso Bauer/Arnold, NZA 2009, 1169 (1171). 4 BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028 Rz. 54; a.A. Kocher, NZA 2009, 119 (123), die darin eine mit Art. 9 Abs. 3 GG begründete Überschreitung der Regelungsbefugnis der Arbeitsvertragsparteien sieht. 5 BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028 Rz. 26; Thüsing/Braun/Mengel/ Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Differenzierungsklauseln Rz. 4; a.A. etwa Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 229, 231.

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ratur wird diese Sichtweise zum Teil mit Hinweis auf die Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB abgelehnt1. Möchte ein Arbeitgeber jegliche Differenzierung seiner Belegschaft nach der Gewerkschaftszugehörigkeit vermeiden, rät die Praxis zu einer Ergänzung der Bezugnahmeklausel, nach der die Arbeitnehmer über die Anwendung der geltenden TVe hinaus so behandelt werden sollen, als wären sie Mitglieder der Gewerkschaft2. Wenn auch der 4. Senat klare rechtliche Konturen der Tarifautonomie aufgezeigt hat, so ist doch mit der Diskussion um die den TV-Parteien zugewiesene Gestaltungsaufgabe noch eine sozialpolitisch geprägte Erwägung in die Begründung eingeflossen3. Ausgangspunkt dabei war die Überlegung des Senats, dass ein TV möglicherweise grundsätzlich geeignet sein müsse, alle Arbeitsverhältnisse in seinem Geltungsbereich zu regeln. Zu einer solchen, den TV-Parteien von Rechts wegen zugewiesenen Aufgabe könne ggf. eine einfache Differenzierungsklausel im Widerspruch stehen und deshalb einer besonderen rechtlichen Überprüfung bedürfen. Allerdings umfasse die grundsätzliche Gestaltungsfreiheit auch differenzierte Regelungen und eine Begrenzung dieser Gestaltungsfreiheit könne nur dann angenommen werden, wenn die Regelung einen unverhältnismäßigen, einem Zwang ähnlichen Druck ausübe, das Recht darauf, einer Koalition fernzubleiben, aufzugeben, oder ein sonstiges überwiegendes Recht eines Dritten beeinträchtige. Beides sah der Senat bei der in Rede stehenden Differenzierungsklausel nach Art und Umfang nicht als gegeben an4. Der Höhe nach handelte es sich um eine einmal jährlich zu zahlende und damit außerhalb des laufenden Austauschverhältnisses liegende Leistung, die im Durchschnitt etwa ein Viertel einer Monatsvergütung und nicht mehr als zwei Jahresmitgliedsbeiträge für die Gewerkschaft ausmacht. Dies löst nach Ansicht des Senats bei einem verständigen Arbeitnehmer keinen zwangsähnlichen Druck auf seine negative Koalitionsfreiheit aus. Noch grundsätzlicher erkennt der Senat, dass auch bei der Annahme einer umfassenden Regelungsaufgabe der TV-Parteien die Pflicht bestehe, bei solchen tariflichen Regelungen konkurrierende Rechte mit zu berücksichtigen. Freiheitsrechte des Arbeitgebers hinsichtlich der individuellen Vertragsgestaltung müssten ebenso Teil des Abwägungsprozesses sein wie die negative Koalitionsfreiheit der Außenseiter. Zudem könne es darauf ankommen, dass das geschaffene Tarifwerk als Ganzes einer umfassenden Gestaltungsaufgabe der TV-Parteien gerecht werde. Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte dürften jedenfalls in aller Regel Differenzierungsklauseln nicht an den Regelungen anknüpfen, die das Austauschverhältnis von Leistung und Gegenleistung betreffen, die Grundlage des laufenden Lebensunterhaltes sind, und die im Arbeitsleben jedenfalls regelmäßig als Maßstab für die Bemessung der angemessenen und üblichen Arbeitsbedingungen dienen5. 1 ErfK/Franzen, § 1 TVG Rz. 62; Lobinger/Hartmann, RdA 2010, 235; Greiner/Suhre, NJW 2010, 131; Richardi, NZA 2010, 417; Bauer/Arnold, NZA 2009, 1169 (1171); Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Differenzierungsklauseln Rz. 4. 2 So etwa das Formulierungsbeispiel bei Bauer/Arnold, NZA 2009, 1169 (1173). 3 BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028 Rz. 60 ff., insb. Rz. 70 ff. 4 BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028 Rz. 61. 5 BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028 Rz. 78 f.

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Teil 5 (8) Rz. 13 13

Differenzierungsklauseln

Für die Praxis steht nach der Entscheidung des 4. Senats vom 18.3.2009 – die er in der Entscheidung vom 23.3.2011 bestätigt hat – fest, dass einfache Differenzierungsklauseln zulässig sind. Sie verstoßen grundsätzlich weder gegen die negative Koalitionsfreiheit, noch überschreiten sie die den Tarifparteien zugewiesene Tarifmacht. Eine Grenze ist allerdings erreicht, wenn die Differenzierung für den Außenseiter einen zwanghaften Druck erzeugt, der tarifschließenden Gewerkschaft beizutreten. Deshalb dürfen die TV-Parteien keine Regelungen treffen, die Bedeutung für den laufenden Lebensunterhalt haben oder zur Bemessung der angemessenen und üblichen Arbeitsbedingungen dienen. Zulässig sind also nur Leistungen außerhalb des Synallagmas, die nicht eine Höhe erreichen, dass sie das Austauschverhältnis im wirtschaftlichen Ergebnis maßgeblich beeinflussen1. Solange die vereinbarten Sonderleistungen nur „milden Druck“ zum Gewerkschaftsbeitritt ausüben, scheint dies noch gerechtfertigt2. Keine Rolle spielt dagegen der Umstand, dass der Arbeitgeber mit den vom 4. Senat tolerierten Klauseln die Gewerkschaftsbeiträge seiner Arbeitnehmer finanziert3.

3. Qualifizierte Differenzierungsklauseln a) Spannenklauseln 14

Nach Ansicht des 4. Senats ist dagegen eine tarifvertragliche Inhaltsnorm, die eine den Gewerkschaftsmitgliedern vorbehaltene Leistung dadurch absichert, dass sie für den Fall einer Kompensationsleistung des Arbeitgebers an nicht oder anders organisierte Arbeitnehmer eine entsprechende Erhöhung des Anspruchs für die Gewerkschaftsmitglieder vorsieht (sog. Spannenklausel), wegen Überschreitung der Tarifmacht unwirksam4. Zutreffend weist der Senat darauf hin, dass eine Spannenklausel es dem Arbeitgeber rechtlich-logisch unmöglich macht, eine Lohngleichstellung der Außenseiter mit den Gewerkschaftsmitgliedern herzustellen, selbst wenn er zu höheren Aufwendungen durch ergänzende Leistungen an die Außenseiter bereit ist. „Eine solche Wirkung kann ein TV nicht normativ anordnen, weil es den Koalitionen nicht zukommt, ein solches, dem außertariflichen Bereich zuzuordnendes Verhalten des Arbeitgebers im Verhältnis zu nicht oder anders organisierten Arbeitnehmern unmöglich zu machen. TV-Parteien können normativ Rechte und Pflichten der tarifunterworfenen Arbeitsverhältnisse bestimmen. Sie sind aber nicht befugt, die einzelvertraglichen Gestaltungsmöglichkeiten der Arbeitsvertragsparteien, insbesondere der nicht oder anders organisierten Arbeitnehmer, mit zwingender Wirkung in diese Arbeitsverhältnisse hinein einzuschränken“5. Vielmehr begrenzen die das Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG ausgestaltenden gesetzlichen Vorschriften des Tarifvertragsgesetzes die Macht der TV-Parteien zur Setzung von Abschluss-, Inhalts- und Beendigungsnormen auf ihre Mitglieder6. So wie 1 Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Differenzierungsklauseln Rz. 11. 2 So etwas ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 34, allerdings wohl im Hinblick auf qualifizierte Differenzierungsklauseln. 3 Darauf weist HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 111 zutreffend hin. 4 BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920. 5 BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920 Rz. 38 f. 6 BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920 Rz. 42.

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Differenzierungsklauseln

Rz. 15 Teil 5 (8)

der Arbeitgeber nicht verpflichtet ist, den nichtorganisierten Arbeitnehmern die tariflich geregelten Arbeitsbedingungen anzubieten, ist es ihm unter Gleichbehandlungsgesichtspunkten auch nicht verwehrt, Außenseiter und Tarifgebundene dergestalt gleich zu behandeln, dass er die tariflich vereinbarten Leistungen an die Außenseiter weitergibt1. Auch wenn der 4. Senat im Ergebnis auf der Linie des Großen Senats geblieben ist, verwundert es auf den ersten Blick, dass er weder dessen Entscheidung noch deren Begründung erwähnt. Dies ist jedoch insoweit konsequent, als der 4. Senat die Grenzen der Tarifmacht stringent aus ihrer privatautonomen Legitimation herleitet, statt mit dem Großen Senat Spannenklauseln für undurchsichtig, unzumutbar und „sozialinadäquat“ zu erachten2. Unabhängig davon, dass diese Begründung eher unscharf ist, bleibt die Frage, ob sie noch der Rechtsprechung des BVerfG entspricht3. Dagegen wirkt die Begründung, dass Tarifautonomie kollektiv ausgeübte Privatautonomie ist und sich an diesen Maßstäben messen lassen muss, insgesamt überzeugender4. Entscheidend sind allein die Grenzen der Tarifmacht, die dann erreicht sind, wenn sie einzelvertragliche Gestaltungsmöglichkeiten verhindern; dagegen kommt es auf ein „quantitatives“ Element nicht an. Qualifizierte Differenzierungsklauseln sind daher auch dann unzulässig, wenn sich der finanzielle Vorteil zu Gunsten der Gewerkschaftsmitglieder lediglich auf ihren Gewerkschaftsbeitrag beschränkt5. Richtigerweise dürfen die TV-Parteien dem Arbeitgeber eine Gleichstellung anders oder nicht organisierter Arbeitnehmer mit den Gewerkschaftsmitgliedern nicht verbieten. Ausgehend von der Begründung hinsichtlich der begrenzten Tarifmacht hat sich der 4. Senat zudem jegliche Ausführungen zur negativen Koalitionsfreiheit der nicht oder anders organisierten Arbeitnehmer erspart. Dies verwundert, denn der Maßstab für die Zulässigkeit von Differenzierungsklauseln ist nach der eigenen Auffassung des 4. Senats die negative Koalitionsfreiheit, insbesondere der Außenseiter, d.h. der nicht oder anders organisierten Arbeitnehmer6. Unabhängig vom dogmatischen Ansatz der negativen Koalitionsfreiheit wäre eine klare Aussage des Senats dazu, dass qualifizierte Differenzierungsklauseln die negative Koalitionsfreiheit der Außenseiter tangieren, wünschenswert gewesen. Wenn die TV-Parteien den durch Art. 9 Abs. 3 GG und die Vorschriften des TVG vorgegebenen Rahmen ihrer Tarifmacht durch die Vereinbarung von Spannenklauseln überschreiten, stellt dies stets eine Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit der Außenseiter dar7.

1 BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920 Rz. 46 m.w.N. 2 BAG v. 29.11.1967 – GS 1/67, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG Rz. 163 ff., 178 ff. 3 Ablehnend ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 34; Koche, NZA 2000, 119 m.w.N.; a.A. Greiner, DB 2009, 398 (400 f.). 4 So auch Bauer/Arnold, NZA 2011, 945 (947) m.w.N.; zum Begründungsansatz des 4. Senats bereits BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028 Rz. 49. 5 Ebenso Bauer/Arnold, NZA 2011, 945 (947); HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 111; a.A. wohl Kocher, NZA 2009, 121 f.; Gamillscheg, NZA 2005, 146 (150). 6 BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920 Rz. 21. 7 Zutreffend ebenso Bauer/Arnold, NZA 2011, 945 (947).

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Teil 5 (8) Rz. 16

Differenzierungsklauseln

b) Tarifausschluss-/Verbotsklauseln 16

Klauseln, die es dem Arbeitgeber verbieten, die mit der Gewerkschaft vereinbarten Leistungen auch an nichtorganisierte Arbeitnehmer weiterzugeben, sind unwirksam. Dies wird auch aus der Entscheidung des 4. Senats vom 23.3.2011 deutlich, in der der Senat ausführt, dass die TV-Parteien nicht befugt sind, die einzelvertraglichen Gestaltungsmöglichkeiten der Arbeitsvertragsparteien, insbesondere der nicht oder anders organisierten Arbeitnehmer, mit zwingender Wirkung in diese Arbeitsverhältnisse hinein einzuschränken1. Vielmehr begrenzen die das Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG ausgestaltenden gesetzlichen Vorschriften des Tarifvertragsgesetzes die Macht der TV-Parteien zur Setzung von Abschluss-, Inhalts- und Beendigungsnormen auf ihre Mitglieder2. Eine Tarifregelung, die die Gestaltungsfreiheit des Arbeitgebers hinsichtlich der Arbeitsverträge mit nicht oder anders tarifgebundenen Arbeitnehmern in der Weise einschränkt, dass sie ihm eine vertraglich vereinbarte oder zu vereinbarende Gleichstellung mit den an den TV normativ gebundenen Arbeitsverhältnissen rechtlich unmöglich macht, ist von der Rechtsetzungsmacht der TV-Parteien nicht gedeckt3. Eben diese verfassungsrechtlich gebotene Begrenzung durchbrechen Ausschluss- oder Verbotsklauseln, da sie dem Arbeitgeber untersagen, tariflich vereinbarte Leistungen auch nicht organisierten Arbeitnehmern zu gewähren. Insofern gehen Ausschluss- und Verbotsklauseln in ihrer negativen Wirkung noch über diejenige von Spannenklauseln hinaus, da diese (nur) zu einer relativen, jene aber zu einer absoluten Begrenzung der Arbeitsbedingungen von Außenseitern führen4. An dieser Bewertung ändert es nichts, dass Tarifausschlussklauseln nach überwiegender Auffassung lediglich schuldrechtlich im Verhältnis der TV-Parteien zueinander wirken, dagegen aber keine normative Wirkung gegenüber Außenseitern haben5. „Tariftechnisch“ wird im Falle eines Haus-/FirmenTVes unmittelbar durch diesen das schuldrechtliche Verbot des Arbeitgebers begründet, exklusiv für Gewerkschaftsmitglieder bestimmte Leistungen nicht oder anders organisierten Arbeitnehmern zu gewähren. Im VerbandsTV trifft den tarifschließenden Arbeitgeberverband die schuldrechtliche Verpflichtung, auf eine entsprechende Verhaltensweise seiner Mitglieder hinzuwirken6. Nach zutreffender Ansicht sind die Grenzen der Tarifmacht für normative Regelungen und schuldrechtliche Abmachungen dieselben, weil normativ und schuldrechtlich wirkende Differenzierungsklauseln gleichermaßen einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in die Vertragsfreiheit von Arbeitgebern und Außenseitern darstellen7.

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BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920 Rz. 38 f. BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920 Rz. 42. BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920 Rz. 48. So im Ergebnis wohl auch BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920 Rz. 42. Hartmann/Lobinger, NZA 2010, 221 (222); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. 1, S. 356, 361; a.A. Greiner, DB 2009, 398 (399 f.). 6 Bauer/Arnold, NZA 2011, 945 (948). 7 Bauer/Arnold, NZA 2011, 945 (948).

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Direktionsrechtsklauseln

Rz. 1 Teil 5 (9)

4. Mittelbare Differenzierungen Die mittelbare Begünstigung von Gewerkschaftsmitgliedern über den Weg gemeinsamer Einrichtungen nach § 4 Abs. 2 TVG hat der Große Senat des BAG in seinem Beschluss vom 29.11.1967 ausdrücklich für unzulässig erachtet (zur diesbezüglichen Praxis vgl. oben Rz. 3). Soweit gemeinsame Einrichtungen der TV-Parteien zur Differenzierung genutzt werden, wird die Exklusivität der Leistungen an die Gewerkschaftsmitglieder dadurch erreicht, dass nach ganz überwiegender Auffassung eine arbeitsvertragliche Bezugnahmeklausel auf Tarifnormen über gemeinsame Einrichtungen unzulässig ist. Die gemeinsame Einrichtung kann nicht durch einzelvertragliche Absprache zwischen den Arbeitsvertragsparteien zur Leistung an Außenseiter verpflichtet werden, da es sich insoweit um einen unzulässigen Vertrag zu Lasten Dritter handelt1. Erfolgt die Differenzierung über gewerkschaftsnahe Vereine (Sozialvereine), sind die Außenseiter in aller Regel schon durch die Satzung von deren Leistungen ausgenommen. Beide Vorgehensweisen sind auch im Lichte der Entscheidung des 4. Senats vom 23.3.2011 unzulässig, weil dem Arbeitgeber normativ oder schuldrechtlich eine Gleichstellung anders oder nicht organisierter Arbeitnehmer untersagt wird. Es macht nämlich keinen Unterschied, ob eine Leistung (etwa Urlaubsgeld oder Erholungsbeihilfe) den Außenseitern im Wege einer Spannen- oder Tarifausschlussklausel oder über eine gemeinsame Einrichtung oder einen arbeitgeberfinanzierten gemeinnützigen Verein vorenthalten wird2.

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(9) Direktionsrechtsklauseln I. Zweck und Kontext Typische „Direktionsrechtsklauseln“ findet man in den TVen nicht. Das folgt daraus, dass es „das“ Direktionsrecht gar nicht gibt. Vielmehr ist das Direktionsrecht eines der zentralen Rechte des Arbeitgebers, der jedenfalls grundsätzlich bestimmen kann, was, wann, wo und wie seine Arbeitnehmer zu arbeiten haben. Dies folgt maßgeblich aus § 106 GewO, der das Weisungsrecht des Arbeitgebers regelt. Allerdings besteht dieses Weisungsrecht (Direktionsrecht) nicht unbeschränkt, sondern nach § 106 GewO kann der Arbeitgeber Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen näher bestimmen, soweit diese Arbeitsbedingungen nicht durch Arbeitsvertrag, Betriebsvereinbarungen, TVe oder gesetzliche Vorschriften festgelegt sind. Unter dem Direktionsrecht ist mithin das Recht des Arbeitgebers zu verstehen, die vom Arbeitnehmer geschuldete Arbeitsleistung näher zu konkretisieren, soweit diese nicht im Arbeitsvertrag oder durch TV bzw. Betriebsvereinbarung abschließend geregelt ist3. 1 So etwa Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 159. 2 Zutreffend Bauer/Arnold, NZA 2011, 945 (949). 3 St. Rspr., vgl. nur BAG v. 7.12.2000 – 6 AZR 444/99, NZA 2001, 780; APS/Koch, § 2 KSchG Rz. 50 m.w.N. Einen Überblick über die Rechtsprechung zum Direktionsrecht gibt Hunold, NZA-RR 2001, 337.

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Teil 5 (9) Rz. 2

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II. Beispiele 2

§ 4 TVöD Versetzung, Abordnung, Zuweisung, Personalgestellung (1) Beschäftigte können aus dienstlichen oder betrieblichen Gründen versetzt oder abgeordnet werden. Sollen Beschäftigte an eine Dienststelle oder einen Betrieb außerhalb des bisherigen Arbeitsortes versetzt oder voraussichtlich länger als drei Monate abgeordnet werden, so sind sie vorher zu hören. Protokollerklärungen zu Absatz 1: 1. Abordnung ist die Zuweisung einer vorübergehenden Beschäftigung bei einer anderen Dienststelle oder einem anderen Betrieb desselben oder eines anderen Arbeitgebers unter Fortsetzung des bestehenden Arbeitsverhältnisses. 2. Versetzung ist die Zuweisung einer auf Dauer bestimmten Beschäftigung bei einer anderen Dienststelle oder einem anderen Betrieb desselben Arbeitgebers unter Fortsetzung des bestehenden Arbeitsverhältnisses. Niederschriftserklärung zu § 4 Abs. 1: Der Begriff „Arbeitsort“ ist ein generalisierter Oberbegriff; die Bedeutung unterscheidet sich nicht von dem bisherigen Begriff „Dienstort“.

(2) Beschäftigten kann im dienstlichen/betrieblichen oder öffentlichen Interesse mit ihrer Zustimmung vorübergehend eine mindestens gleich vergütete Tätigkeit bei einem Dritten zugewiesen werden. Die Zustimmung kann nur aus wichtigem Grund verweigert werden. Die Rechtsstellung der Beschäftigten bleibt unberührt. Bezüge aus der Verwendung nach Satz 1 werden auf das Entgelt angerechnet. Protokollerklärung zu Absatz 2: Zuweisung ist – unter Fortsetzung des bestehenden Arbeitsverhältnisses – die vorübergehende Beschäftigung bei einem Dritten im In- und Ausland, bei dem der Allgemeine Teil des TVöD nicht zur Anwendung kommt.

(3) Werden Aufgaben der Beschäftigten zu einem Dritten verlagert, ist auf Verlangen des Arbeitgebers bei weiter bestehendem Arbeitsverhältnis die arbeitsvertraglich geschuldete Arbeitsleistung bei dem Dritten zu erbringen (Personalgestellung). § 613a BGB sowie gesetzliche Kündigungsrechte bleiben unberührt. Protokollerklärung zu Absatz 3: Personalgestellung ist – unter Fortsetzung des bestehenden Arbeitsverhältnisses – die auf Dauer angelegte Beschäftigung bei einem Dritten. Die Modalitäten der Personalgestellung werden zwischen dem Arbeitgeber und dem Dritten vertraglich geregelt.

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§ 7 MTV Chemie Kurzarbeit I. Im Bedarfsfalle kann Kurzarbeit für Betriebe oder Betriebsabteilungen unter Beachtung des gesetzlichen Mitbestimmungsrechts des Betriebsrates mit einer Ankündigungsfrist von 14 Tagen eingeführt werden. Arbeitgeber und Betriebsrat können eine kürzere Ankündigungsfrist betrieblich vereinbaren.

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Direktionsrechtsklauseln

Rz. 4 Teil 5 (9)

II. Arbeitnehmer, die Kurzarbeitergeld beziehen, erhalten einen Zuschuss zum Kurzarbeitergeld, der brutto zu gewähren ist. Die Höhe des Zuschusses errechnet sich aus dem Unterschiedsbetrag zwischen dem infolge des Arbeitsausfalls verminderten Nettoarbeitsentgelt zuzüglich dem Kurzarbeitergeld und 90 % des Nettoarbeitsentgelts, das der Arbeitnehmer ohne Kurzarbeit im Abrechnungszeitraum erzielt hätte. Dieser Zuschuss ist kein Arbeitsentgelt und wird deshalb bei tariflichen Leistungen, deren Höhe vom Arbeitsentgelt abhängig ist, nicht berücksichtigt. Bei der Ermittlung des Nettoarbeitsentgelts werden die tariflichen Schichtzulagen und die tariflichen Zuschläge für Nacht- und Sonntagsarbeit mitberücksichtigt, nicht aber die Feiertagszuschläge. III. Ist einem Arbeitnehmer vor Einführung der Kurzarbeit gekündigt worden oder wird ihm während der Kurzarbeit gekündigt, so hat er für die Zeit seiner Kündigungsfrist Anspruch auf seine ungekürzten Bezüge. Der Arbeitgeber kann verlangen, dass der Arbeitnehmer in dieser Zeit voll arbeitet.

III. Kommentierung 1. Gestaltungsspielraum des TVes In TVen finden sich vielfach Regelungen, die das Weisungsrecht des Arbeitgebers konkretisieren. Prägnante Beispiele sind etwa Klauseln zur Versetzung (vgl. § 4 TVöD, oben Rz. 2), zur Einführung von Kurzarbeit (vgl. § 7 MTV Chemie, oben Rz. 3) oder zur Übernahme höherwertiger oder geringerwertiger Tätigkeiten. Solche Klauseln können die Handlungsmöglichkeiten des Arbeitgebers einengen oder erweitern, sodass der zum Teil gebrauchte Begriff der Direktionsrechtserweiterung durch TV irreführend ist1. Als Beispiel für eine einengende Regelung diene etwa die Pflicht zur Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die der Arbeitgeber nach § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG für Kurzerkrankungen ohne weitere Begründung ab dem ersten Tag der Erkrankung verlangen kann. Dagegen sehen TVe zum Teil vor, dass dies nur in begründeten Fällen angeordnet werden kann. In dieselbe Richtung geht die grundsätzlich im Arbeitsvertrag regelbare Befugnis, auch befristete Arbeitsverhältnisse ordentlich zu kündigen. Diese Möglichkeit ist oftmals für betriebsbedingte Kündigungen durch TV ausgeschlossen. Erweitert der TV den Handlungsrahmen des Arbeitgebers, so räumt die Rechtsprechung den TV-Parteien hierbei einen weiten Gestaltungsspielraum ein. Tarifvertragliche Regelungen, die das Direktionsrecht erweitern, beruhen auf der grundrechtlichen Gewährleistung des Art. 9 Abs. 3 GG, die es den Koalitionen als Träger dieses Grundrechts erlaubt, die Arbeitsbedingungen ihrer Mitglieder zu regeln. Die Regelungsbefugnis der TV-Parteien ist allerdings nicht unbeschränkt, sondern findet ihre Grenze im zwingenden Gesetzesrecht, das seinerseits mit Art. 9 Abs. 3 GG in Einklang stehen muss2. 1 So auch Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Direktionsrechtserweiterung Rz. 1. 2 BAG v. 23.9.2004 – 6 AZR 442/03, NZA 2005, 475 Rz. 22.

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Teil 5 (9) Rz. 5

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2. Grenzen a) Kündigungsrecht 5

Die durch einen TV mögliche Konkretisierung des Direktionsrechts geht zum Teil weit über die Möglichkeiten hinaus, die durch den Arbeitsvertrag eingeräumt werden können. Unstreitig sind beide – TV und Arbeitsvertrag – an den gesetzlichen Kündigungsschutz gebunden, der weder für die Arbeitsvertragsnoch für die TV-Parteien zur Disposition steht1. Das gilt auch und insbesondere für den durch § 2 KSchG gesicherten Inhaltsschutz. Im Arbeitsvertrag kann sich der Arbeitgeber kein Weisungsrecht vorbehalten, durch das grundlegend in das Gleichgewicht von Leistung und Gegenleistung eingegriffen wird2. Eine arbeitsvertragliche Vereinbarung, die bei arbeitszeitabhängiger Vergütung den Arbeitgeber berechtigen soll, die zunächst festgelegte Arbeitszeit später einseitig nach Bedarf zu reduzieren, stellt eine objektive Umgehung von zwingenden Vorschriften des Kündigungs- und Kündigungsschutzrechts dar und ist deshalb nichtig3. Direktionsrechtserweiternde Klauseln im Arbeitsvertrag unterliegen im Übrigen denselben Voraussetzungen wie Änderungsvorbehalte4. Dies bedeutet etwa für Klauseln, die Lohnbestandteile betreffen, dass sie zulässig sein können, soweit der widerrufliche Anteil am Gesamtverdienst unter 25 bis 30 % liegt und der Tariflohn nicht unterschritten wird5. Darüber hinausgehende Eingriffe stellen jedenfalls eine substanzielle Störung des Austauschverhältnisses dar mit der Folge, dass die angestrebte Anpassung nur durch Änderungsvertrag oder Änderungskündigung erreicht werden kann. Seit Inkrafttreten der Schuldrechtsreform sind Arbeitsverträge zudem am Maßstab der §§ 307 ff., 308 Nr. 4 BGB zu messen. Das heißt, dass unabhängig von der Höhe des Eingriffs für den Arbeitnehmer nachvollziehbare transparente Änderungsgründe vorliegen müssen. Objektiv müssen sachliche Gründe für die Einschränkung gegeben sein und der Arbeitnehmer muss aus der Klausel erkennen können, unter welchen Voraussetzungen welche Einschnitte auf ihn zukommen können. Soweit mit der Änderung der Arbeitsbedingungen zugleich eine Absenkung des Gehalts erfolgen soll, kann eine arbeitsvertragliche Klausel auch bei Absenkung von unter 20 % wegen der Doppelbelastung unangemessen und damit unwirksam sein6.

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Tarifvertragliche Klauseln zur Erweiterung des Direktionsrechts können nach der Rechtsprechung infolge der dem TV innewohnenden Angemessenheitsvermutung zwar weiter gehen als einzelvertragliche Regelungen, können aber ebenfalls den zwingenden Kündigungsschutz nicht ganz ausschalten7. Nach Ansicht des BAG muss auch eine tarifvertragliche Erweiterung des Direktionsrechts mit den Wertungen des § 2 KSchG in Einklang stehen. Allerdings habe 1 Däubler/Hensche, § 1 TVG Rz. 764. 2 Däubler/Hensche, § 1 TVG Rz. 764; Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Direktionsrechtserweiterung Rz. 4. 3 BAG v. 12.12.1984 – 7 AZR 509/83, NZA 1985, 321. 4 ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 55. 5 BAG v. 12.1.2005 – 5 AZR 364/04, NZA 2005, 264 Rz. 23. 6 Vgl. zum Ganzen ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 55a. 7 Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Direktionsrechtserweiterung Rz. 5.

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Rz. 7 Teil 5 (9)

der Gesetzgeber davon abgesehen, den wesentlichen Kernbereich eines Arbeitsverhältnisses, der vor einseitigen Eingriffen des Arbeitgebers aus Gründen des Verfassungsrechts zu schützen sei, im Einzelnen festzulegen. Deshalb komme den TV-Parteien eine Einschätzungsprärogative in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten und betroffenen Interessen zu, mittels derer sie in die Lage versetzt werden, die jeweiligen kündigungsschutzrechtlichen Wertvorstellungen zu konkretisieren und einen angemessenen Ausgleich zwischen den Interessen des Arbeitnehmers an einem unveränderten Fortbestand seines Arbeitsverhältnisses und dem Interesse des Arbeitgebers an einer flexiblen Gestaltung der Arbeitsbedingungen zu finden. An einem angemessenen Interessenausgleich fehle es, wenn tarifliche Regelungen dem Arbeitgeber ohne jede Vorgabe Einschränkungen bis hin zur Suspendierung des Arbeitsverhältnisses gestatten. Dementsprechend erachtet das BAG Tarifnormen für unwirksam, die dem Arbeitgeber die einseitige Anordnung von Kurzarbeit gestatten, ohne dass durch die TV-Parteien eine Konkretisierung bezüglich Anlass, Zeitpunkt, Dauer und Umfang der Arbeitszeitverkürzung und damit der Lohnabsenkung vorgenommen wurde1. Zulässig kann eine tarifliche Regelung hingegen dann sein, wenn die Erweiterung des Direktionsrechts nach Grund und Umfang an konkrete tarifliche Voraussetzungen geknüpft ist und eine damit verbundene Entgeltminderung gemildert wird. Soweit die tarifliche Erweiterung des Direktionsrechts nach Anlass und Umfang gerichtlich kontrollierbare Voraussetzungen bestimmt, unter denen der Arbeitgeber zu einseitigen Eingriffen in das Arbeitsverhältnis berechtigt ist, kann ein Verstoß gegen die zwingenden kündigungsschutzrechtlichen Regelungen ausscheiden2. Diese Voraussetzungen können etwa erfüllt sein, wenn bei einer tariflich vorgegebenen Kürzung der Arbeitszeit die Voraussetzungen im TV aufgeführt sind und eine Ankündigungsfrist vorgesehen ist3. Dasselbe gilt, wenn etwa die Übertragung der Tätigkeit einer niedrigeren Lohngruppe nur zulässig ist bei Arbeitsmangel oder wenn ein dringender Bedarf für eine vorübergehende Personalumbesetzung vorliegt4. Angesichts dieser Rechtsprechung erscheinen frühere Entscheidungen bedenklich, die Versetzungen auf niedriger bewertete Arbeitsplätze5 oder die einseitige Einführung von Kurzarbeit6 ohne dezidierte tarifvertraglich festgelegte Voraussetzungen zugelassen haben7. An der Grenze des Zulässigen bewegen sich zum Teil tarifliche Regelungen zum Rationalisierungsschutz. Hier verfolgen die TV-Parteien in aller Regel das Ziel, den Arbeitnehmern den Arbeitsplatz auch in Zeiten der Krise oder der Umstrukturierung möglichst erhalten. Dafür muten sie ihnen häufig Arbeits1 BAG v. 27.1.1994 – 6 AZR 541/93, NZA 1995, 134; BAG v. 18.10.1994 – 1 AZR 503/93, NZA 1995, 1064 Rz. 33. 2 BAG v. 23.9.2004 – 6 AZR 442/03, NZA 2005, 475 Rz. 24; Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Direktionsrechtserweiterung Rz. 5. 3 BAG v. 26.6.1985 – 5 AZR 585/83, DB 1986, 132. 4 Siehe BAG v. 23.9.2004 – 6 AZR 442/03, NZA 2005, 475 zur Regelung des § 27 Abs. 3 BMT-G II. 5 BAG v. 16.10.1965– 5 AZR 55/65, AP Nr. 20 zu § 611 BGB Direktionsrecht. 6 BAG v. 15.12.1961 – 1 AZR 310/60, AP Nr. 2 zu § 56 BetrVG Arbeitszeit. 7 So auch die Einschätzung von Däubler/Hensche, § 1 TVG Rz. 765; Thüsing/Braun/ Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Direktionsrechtserweiterung Rz. 5.

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Teil 5 (9) Rz. 8

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zeitverkürzungen mit Entgeltwirkung und/oder eine Änderung der Arbeitsform bzw. des Arbeitsinhalts zu (etwa Tätigkeiten in Leih- und Zeitarbeit). Dabei schießen die TV-Parteien zum Teil über das hehre Ziel des Arbeitsplatzschutzes hinaus, indem sie den kündigungsrechtlich festgelegten Inhaltsschutz zu weitgehend einschränken. Dabei ist nicht zu verkennen, dass die Rechtsprechung als Gegenleistung für Kündigungsschutz recht weitgehende Einschnitte akzeptiert. Als zulässig wurde etwa eine mehr als 20%ige Reduzierung der Arbeitsvergütung u.a. deshalb angesehen, weil der zugrunde liegende TV zur Beschäftigungssicherung und Vermeidung betriebsbedingter Kündigungen diente1. Kritisch ist es aber, wenn der Arbeitnehmer zur Vermeidung von Kündigungen auf Anweisung des Arbeitgebers gezwungen werden soll, andere inhaltliche (auch unterwertige) Arbeit als bisher, z.B. in Leih- und Zeitarbeit, zu verrichten oder längere Phasen der Nichtbeschäftigung zu dulden. Dadurch wird der arbeitsvertraglich bestimmte Kern des Beschäftigungsverhältnisses weitgehend suspendiert und das Gleichgewicht zwischen Leistung und Gegenleistung grundlegend verändert. Das gilt auch dann, wenn damit keine erheblichen Gehaltseinbußen einhergehen. Solche weitgehenden Änderungen des Beschäftigungsinhalts können dem Arbeitgeber nicht im Wege der Versetzung des Arbeitnehmers ermöglicht werden, auch nicht durch eine tarifvertragliche Ermächtigung. Hier bedarf es vielmehr der einvernehmlichen Änderung der Arbeitsbedingungen durch Änderungsvertrag oder des Ausspruchs einer Änderungskündigung. Die einseitige Anordnung wesentlich veränderter Arbeitsbedingungen ohne Überprüfungsmöglichkeit ist hingegen mit dem Schutzzweck des § 2 KSchG nicht zu vereinbaren. Diese Norm soll Vertragsinhaltsschutz gewähren; insbesondere soll es in der Hand des Arbeitnehmers liegen, trotz einer Verschlechterung seiner Arbeitsbedingungen den Arbeitsplatz zu behalten und gerichtlich überprüfen zu lassen, ob die neuen Bedingungen zumutbar sind. Wird dieser Schutzzweck durch Ausschaltung des § 2 KSchG vereitelt, ist die dahingehende Tarifnorm unwirksam2. 8

Soweit bei der Versetzung auf einen anderen Arbeitsplatz die Gleichwertigkeit der Tätigkeit gewahrt und die Bezahlung unverändert bleibt, sind auch sehr weitgehende Versetzungsmöglichkeiten zulässig. Insbesondere im öffentlichen Dienst sind die Arbeitnehmer grundsätzlich verpflichtet, jede ihnen im Bereich des Arbeitgebers zugewiesene Tätigkeit zu verrichten, die den Merkmalen ihrer Vergütungsgruppe entspricht, soweit ihnen diese Tätigkeit billigerweise zugemutet werden kann3. Soweit das Direktionsrecht auch eine Arbeitsleistung bei Dritten umfasst, bedarf dies besonderer Voraussetzungen und der Beibehaltung des bisherigen Entgelts (vgl. § 4 Abs. 2 und 3 TVöD, oben Rz. 2). Liegt eine in diesem Sinne zulässige Versetzungsklausel vor, muss die Veränderung der Arbeitsbedingungen grundsätzlich auch im Wege der Versetzung herbeigeführt werden. Entschließt sich der Arbeitgeber dagegen trotz der Versetzungsmöglichkeit zur Änderungskündigung, ist diese „überflüssige“ Änderungskündigung wegen der damit verbundenen Bestandsgefährdung jedenfalls 1 BAG v. 28.2.2009 – 6 AZR 144/08, DB 2009, 1769 Rz. 30. 2 Instruktiv ArbG Aachen v. 10.2.2004 – 5 Ca 3365/03. 3 LAG Hessen v. 24.10.2011 – 16 Sa 711/11, Rz. 34.

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dann unverhältnismäßig mit der Folge der Unwirksamkeit, wenn der Arbeitnehmer das Änderungsangebot nicht angenommen hat. Demgegenüber führt eine „überflüssige“ Änderungskündigung bei Annahme des mit der Änderungskündigung verbundenen Angebots unter Vorbehalt nicht zur Unwirksamkeit der Änderung der Arbeitsbedingungen wegen eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit1.

b) Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats Soweit das Direktionsrecht des Arbeitgebers durch einen TV konkretisiert ist, muss stets das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats beachtet werden. So steht etwa dem Betriebsrat – anders als dem Personalrat – ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG bei der Frage der Einführung von Kurzarbeit zu2. Die Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 BetrVG scheidet nur dann aus, wenn der TV selbst die Voraussetzungen und Modalitäten der Einführung von Kurzarbeit so abschließend festlegt, dass er die Entscheidung des Betriebsrats ersetzt. Dies indes wird praktisch nie der Fall sein, da dem Arbeitgeber bei der Einführung von Kurzarbeit immer ein Raum zur „Bestimmung“ bleibt, so dass die „Mitbestimmung“ eingreift. Darüber hinaus wird zu Recht kritisch hinterfragt, ob der TV eine so weitgehende Übertragung von Rechten des Betriebsrats auf den Arbeitgeber überhaupt vorsehen kann3. Außerhalb des öffentlichen Dienstes sehen die tariflichen Regelungen zur Einführung von Kurzarbeit ohnehin ausdrücklich die Mitbestimmung des Betriebsrats vor, so dass schon aus diesem Grund das (erweiterte) Direktionsrecht des Arbeitgebers durch die Regelungen einer notwendigen Betriebsvereinbarung beschränkt wird.

9

Bei tariflichen Versetzungsklauseln ist das Mitbestimmungsrecht nach § 99 BetrVG bzw. § 76 BPersVG zu beachten4. Zwar muss der tarifvertragliche Versetzungsbegriff nicht zwingend deckungsgleich mit dem nach § 95 Abs. 3 BetrVG sein, doch sind die Überschneidungen in aller Regel so weitgehend, dass das Mitbestimmungsrecht nach § 99 BetrVG eingreift. Oft sehen tarifvertragliche Versetzungsklauseln eine Beteiligung des Betriebsrats ausdrücklich vor.

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c) Die Beachtung billigen Ermessens Eine weitere Grenze für die Ausübung des tarifvertraglich konkretisierten Direktionsrechts durch den Arbeitgeber bildet das billige Ermessen. Auch soweit das Direktionsrecht durch einen TV konkretisiert ist, darf es nur nach billigem Ermessen im Sinne des § 315 Abs. 3 BGB ausgeübt werden5. Eine Leistungsbestimmung entspricht billigem Ermessen, wenn sie die wesentlichen Um1 2 3 4 5

BAG v. 6.9.2007 – 2 AZR 368/06, NZA-RR 2008, 291. BAG v. 18.10.1994 – 1 AZR 503/93, NZA 1995, 1064. Däubler/Hensche, § 1 TVG Rz. 766; Säcker/Oetker, RdA 1992, 16. BAG v. 4.5.2011 – 7 ABR 3/10, NZA 2011, 1373. St. Rspr., vgl. nur BAG v. 7.12.2000 – 6 AZR 444/99, NZA 2001, 780 m.w.N.; BAG v. 23.6.1993 – 5 AZR 337/92, NZA 1993, 1127.

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stände des Falles abgewogen und die beiderseitigen Interessen angemessen berücksichtigt hat1. So bedarf es etwa bei der Anwendung einer tarifvertraglichen Versetzungsklausel unabhängig von der ausdrücklichen Anordnung in der Klausel einer Abwägung der Interessen des Arbeitnehmers einerseits und der betrieblichen Interessen des Arbeitgebers andererseits2. Der Arbeitgeber muss für seine Weisung deshalb berechtigte betriebliche Interessen geltend machen. Allgemeine Grundsätze bestehen insoweit nicht. Vielmehr ist in jedem Einzelfall eine Interessenabwägung vorzunehmen und einzelfallabhängig festzustellen, wessen Interessen im Ergebnis überwiegen. Kommen für eine betrieblich notwendige Versetzung mehrere Arbeitnehmer in Betracht, hat eine Auswahl nach billigem Ermessen gemäß § 315 BGB stattzufinden. Dabei sind soziale Gesichtspunkte angemessen zu berücksichtigen. Anders als bei Ausspruch einer Änderungskündigung muss zwar keine Sozialauswahl nach § 2 i.V.m. § 1 Abs. 3 KSchG erfolgen, doch bietet es sich an, auf die dazu entwickelten Kriterien zurückzugreifen. Ferner setzt die Anwendung billigen Ermessens in aller Regel voraus, dass der Arbeitnehmer vor der Versetzung angehört worden ist. Das gebietet bereits die arbeitgeberseitige Fürsorgepflicht. Die Anhörung soll sicherstellen, dass der Arbeitgeber die möglicherweise belastenden Folgen der beabsichtigten Versetzung für den Arbeitnehmer und dessen Familie richtig einschätzen kann und seine Versetzungsentscheidung aufgrund einer Interessenabwägung treffen kann, die alle wesentlichen Umstände berücksichtigt. Dies gilt jedenfalls bei längeren Versetzungen (vgl. § 4 Abs. 1 TVöD, oben Rz. 2), kann aber nach § 315 BGB bereits bei kürzeren Versetzungen eingreifen. Soweit dagegen eine Zustimmung des Arbeitnehmers erforderlich ist (vgl. § 4 Abs. 2 TVöD, oben Rz. 2), begrenzt diese Notwendigkeit bereits das arbeitgeberseitige Direktionsrecht und führt nicht nur zu einer stärkeren Berücksichtigung seiner Belange im Rahmen der Interessenabwägung3.

d) Verhältnis zum Arbeitsvertrag 12

In vielen Fällen ist das arbeitgeberseitige Direktionsrecht sowohl durch den Arbeitsvertrag als auch durch Regelungen des TVes konkretisiert. Das Verhältnis des TVes zum Arbeitsvertrag bestimmt sich bekanntlich nach dem Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG. Soweit sich z.B. die Arbeitsleistung nach dem Arbeitsvertrag auf einen Ort konzentriert, ohne dass die Möglichkeit der anderweitigen Zuweisung besteht, geht eine Versetzungsklausel im TV ins Leere. Im Zweifel ist durch Auslegung zu ermitteln, ob im Arbeitsvertrag eine bindende Festlegung des Arbeitsortes erfolgt ist4. Dagegen wird das tarifliche Direktionsrecht zur Versetzung auch bei langjähriger Beschäftigung auf einer bestimmten Stelle ohne das Hinzutreten besondere Umstände nicht beschränkt5. Eine Konkretisierung der Arbeitsvertragsbedingungen tritt nicht allein durch Zeitablauf ein. 1 2 3 4 5

BAG v. 12.12.1984 – 7 AZR 509/83, NZA 1985, 321 Rz. 62. Vgl. ArbG Hamm v. 1.4.2008 – 1 Ga 11/08, AE 2008, 183 zu § 4 Abs. 1 TVöD. LAG Hamm v. 8.10.2009 – 17 Sa 906/09, Rz. 83. BAG v. 21.1.2004 – 6 AZR 583/02, NZA 2005, 61 Rz. 21 ff. LAG Brandenburg v. 2.6.2006 – 5 Sa 653/05, NZA-RR 2007, 448.

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Rz. 13 Teil 5 (9)

3. Bestimmungsklauseln Auch sog. Bestimmungsklauseln können das Direktionsrecht konkretisieren1. Dabei handelt es sich um Tarifnormen, die einen Beurteilungs- oder Ermessensspielraum bei der Anwendung der tariflichen Norm vorsehen2. Solche Klauseln sind zulässig3. Mit Öffnungsklauseln haben sie gemeinsam, dass es sich um die Delegation tarifvertraglicher Rechte handelt. Dagegen unterscheiden sie sich von den Öffnungsklauseln dahingehend, dass sie nicht selbst (abgeleitetes) Recht setzen, sondern beim Vollzug des TVes einen Beurteilungs- oder Ermessenspielraum vermitteln4. Rechtsgrundlage ist und bleibt bei Bestimmungsklauseln der TV, während bei Öffnungsklauseln die Betriebsvereinbarung Rechtsgrundlage der jeweiligen Regelung ist5. Adressaten zur Ausfüllung der tarifvertraglichen (Bestimmung-)Klausel können Arbeitgeber, Arbeitnehmer, die Betriebsparteien oder auch dritte Personen sein6. Dritte können insbesondere paritätische Kommissionen sein, nicht dagegen der Betriebsrat selbst7. Die genaue Grenze zwischen Bestimmungs- und Öffnungsklausel ist teilweise schwierig zu ziehen. Als Beispiel mag die Bewertung von Tätigkeiten dienen: Soweit es darum geht, eine neue Funktion im Unternehmen einer Entgeltgruppe zuzuordnen und dieses Recht einer paritätischen Kommission zusteht, handelt es sich um eine Bestimmungsklausel. Rechtsgrundlage für die Wertigkeit einer Tätigkeit ist und bleibt in diesem Fall das tarifvertragliche Entgeltgruppenverzeichnis. Delegiert wird hier nur das Recht zur Ausfüllung. Soll dagegen den Betriebsparteien das Recht zustehen, im Rahmen einer Betriebsvereinbarung festzulegen, wie ein Zielvereinbarungssystem zur Ausgestaltung variabler Entgeltbestandteile auszugestalten ist, so stellt der TV nur den Rahmen zur Verfügung. Die Konkretisierung dieses Rahmens erfolgt hier durch eigenes Recht der Betriebsparteien. Rechtsgrundlage des Zielvereinbarungssystems ist nicht mehr der TV, sondern die Betriebsvereinbarung. Soweit eine Bestimmungsklausel den Arbeitgeber zu einseitigen Festlegungen ermächtigt, unterliegt die Ausübung des Bestimmungsrechts wie bei der Direktionsrechtsweiterung der Billigkeitskontrolle nach den §§ 315 ff. BGB8. Dies gilt etwa, wenn der Arbeitgeber den Zeitpunkt eines Freizeitausgleichs einseitig festlegen kann. Hierbei muss er eine Ankündigungsfrist wahren und dem Arbeitnehmer die Arbeitsfreistellung so rechtzeitig mitteilen, dass er sich noch ausreichend auf die zusätzliche Freizeit einstellen kann. Setzt er den Arbeitnehmer erst zwischen 15.00 und 17.00 Uhr darüber in Kenntnis, ob er am folgenden Tag zur Arbeitsleistung verpflichtet ist oder Freizeitausgleich erhält, entspricht diese einseitige Leistungsbestimmung nicht billigem Ermessen und 1 Zu Bestimmungsklauseln siehe Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 901 ff.; Wiedemann/ Thüsing, § 1 TVG Rz. 260 ff.; Däubler/Hensche, § 1 TVG Rz. 767 ff. 2 Däubler/Hensche, § 1 TVG Rz. 767; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 261. 3 BAG v. 28.11.1984 – 5 AZR 123/83, DB 1985, 132; Däubler/Hensche, § 1 TVG Rz. 767; Däubler/Reim, § 1 TVG Rz. 210; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 901. 4 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 901; a.A. wohl Däubler/Reim, § 1 TVG Rz. 211. 5 Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 261. 6 Däubler/Hensche, § 1 TVG Rz. 767; vgl. die Übersicht zu möglichen Adressaten und Inhalten bei Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 262. 7 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 904 f. 8 BAG v. 28.11.1984 – 5 AZR 123/83, DB 1985, 132.

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Rz. 1

Effektivklauseln

ist deshalb nach § 315 Abs. 3 Satz 1 BGB unverbindlich1. Neben der Ausübungskontrolle des Bestimmungsrechts unterliegt auch die Bestimmungsklausel selbst denselben Grenzen wie bei der tarifvertraglichen Ausgestaltung des Direktionsrechts. Das gilt sowohl hinsichtlich der Grenzen des Kündigungsrechts2 als auch hinsichtlich der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats3. Zudem müssen die eingeräumten Leistungsbestimmungsrechte und Beurteilungsspielräume insgesamt gesetzeskonform sein und dürfen den Arbeitnehmern insbesondere nicht den Schutz tarifdispositiver Gesetze entziehen. Soweit eine Abweichung von gesetzlichen Normen zulässig ist, steht dies wegen der Angemessenheitsvermutung nur den TV-Parteien und damit der tarifvertraglichen Regelung selbst zu4. Außerdem müssen die Bestimmungsklauseln aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit bezüglich der Regelungsadressaten und des Regelungsinhalts hinreichend bestimmt sein5.

(10) Effektivklauseln I. Zweck und Kontext 1

Nach dem „Anrechnungsprinzip“ werden übertarifliche Entgeltbestandteile grundsätzlich auf spätere, zweckentsprechende Tariflohnerhöhungen angerechnet bzw. von diesen „aufgesogen“ (s. Teil 9 Rz. 204). Auch wenn man dem Anrechnungsprinzip skeptisch gegenüber tritt (s. Teil 9 Rz. 211 ff.), ist die (arbeits-)vertragliche Vereinbarung einer derartigen Anrechnung durch einen transparenten Anrechnungsvorbehalt möglich und praktisch verbreitet (s. Teil 9 Rz. 208 ff.).

2

Tarifvertragliche Effektivlohnklauseln zielen im Interesse der betroffenen Arbeitnehmer darauf ab, die Anrechnung zu verhindern, so dass der Arbeitgeber die ausgehandelte Erhöhung der Tarifentgelte in jedem Fall zusätzlich zu übertariflichen Entgeltbestandteilen leisten muss. Die Anrechnung infolge des Anrechnungsprinzips bzw. die vertraglich vorbehaltene Ausübung des Anrechnungsvorbehalts durch den Arbeitgeber soll somit durch die tarifvertragliche Regelung unterbunden werden. Im Fall eines arbeitsvertraglichen Vorbehalts wird der Konflikt zwischen Tarif- und Individualvertrag sehr deutlich: Dem Arbeitgeber wird die individualvertraglich wirksam vorbehaltene Dispositionsmöglichkeit über einen individualvertraglich vereinbarten Entgeltbestandteil durch eine tarifliche Regelung entzogen. Bedenkt man, dass auch das „Anrechnungsprinzip“ auf einer typisierenden Auslegung des rechtsgeschäftlichen Willens der Arbeitsvertragsparteien beruht, tritt insofern der Konflikt zwischen Kollektiv- und Individualautonomie in gleicher Weise auf. 1 2 3 4 5

BAG v. 17.1.1995 – 3 AZR 399/94, NZA 1995, 1000 Rz. 32 ff. BAG v. 27.1.1994 – 6 AZR 541/93, NZA 1995, 134. Däubler/Hensche, § 1 TVG Rz. 767. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 910. BAG v. 3.5.1978 – 4 AZR 731/76, AP Nr. 6 zu § 1 TVG Tarifverträge: Rundfunk; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 910; Däubler/Reim, § 1 TVG Rz. 210.

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Effektivklauseln

Rz. 7 Teil 5 (10)

Effektivklauseln begegnen in unterschiedlichen Erscheinungsformen: Am intensivsten wirken Effektivgarantieklauseln (auch allgemeine Effektivklauseln), die die bislang übertariflichen Zulagen dem Tarifentgelt zuschlagen und sie auf diese Weise der zwingenden Wirkung des § 4 Abs. 1 TVG (s. Teil 9 Rz. 10 ff.) unterwerfen; die vertraglich vorbehaltene Dispositionsmöglichkeit wird dem Arbeitgeber genommen. Begrenzte Effektivklauseln verzichten auf diese Einbeziehung in das Tarifentgelt und fokussieren auf die faktische Wirksamkeit der Tariflohnerhöhung.

3

II. Beispiele Effektivgarantieklausel:

4

Bisher gezahlte übertarifliche Zulagen sind dem erhöhten Grundentgelt hinzuzurechnen und gelten als Bestandteil des Tarifentgelts. Begrenzte Effektivklausel:

5

Die tarifliche Erhöhung muss je Arbeitnehmer und Stunde voll wirksam werden.1 Die Tarifentgelterhöhung muss in jedem Fall zusätzlich zu dem tatsächlich gezahlten Entgelt gewährt werden.

III. Kommentierung Das BAG hat in ständiger Rechtsprechung und mit Zustimmung der weit überwiegenden Literatur die sog. Effektivgarantieklauseln, die bisher als übertarifliche Zulagen gewährte Entgeltbestandteile dem tariflichen Entgelt zuschlagen und es als dessen Bestandteil deklarieren, für unwirksam erklärt2. Diese Rechtsprechung hat das BAG in der Folge auf sog. begrenzte Effektivklauseln erstreckt, die auf die Einbeziehung übertariflicher Zulagen in das Tarifentgelt verzichten, jedoch statuieren, dass die Tariflohnerhöhung in jedem Fall zusätzlich zu bislang gewährten übertariflichen Zulagen gezahlt werden muss3.

6

Die Argumentation des BAG und der h.L. beruht auf drei Kernargumenten: Erstens verstoße die Effektivklausel gegen den – auch die TV-Parteien bindenden (s. – kritisch – Teil 1 Rz. 33 ff.) – Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG): Infolge der Hinzurechnung des übertariflichen Entgelts zum Tariflohn werde ohne Kontrollmöglichkeit durch die TV-Parteien u.U. ohne sachlichen Grund unterschiedliche Vergütung für gleiche Arbeit festgesetzt. Zweitens sei die Schriftform (§ 1 Abs. 2 TVG) für Tarifnormen nicht eingehalten: Die Höhe der einzelnen Tarifentgelte sei der schriftlichen Vertragsurkunde nicht mehr zu

7

1 BAG v. 14.2.1968 – 4 AZR 275/67, NJW 1968, 1396. 2 BAG v. 13.6.1958 – 1 AZR 591/57, BB 1958, 771; BAG v. 14.2.1968 – 4 AZR 275/67, BB 1968, 665; BAG v. 16.4.1980 – 4 AZR 261/78, DB 1980, 1944; zust. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 529 ff.; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1895 ff.; Richardi, Kollektivgewalt, S. 412 ff.; Wlotzke, Günstigkeitsprinzip, S. 64 ff.; kritisch Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 792; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 867 ff.; Kempen, AuR 1982, 50 ff. 3 BAG v. 14.2.1968 – 4 AZR 275/67, BB 1968, 665; anders noch BAG v. 13.6.1958 – 1 AZR 591/57, DB 1959, 84; BAG v. 26.4.1961 – 4 AZR 501/59, DB 1961, 918.

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Teil 5 (10)

Rz. 8

Effektivklauseln

entnehmen. Schließlich sei drittens ein starker Eingriff in die individuelle Vertragssphäre zu konstatieren: Gegenstand des TVes könnten mit Blick auf das Arbeitsentgelt nur allgemeine Mindestarbeitsbedingungen sein. Individuelle Begünstigungen einzelner Arbeitnehmer seien Domäne des Individualarbeitsvertrages. Es handele sich um eine Überschreitung der Tarifmacht, um „Regelungsanmaßung“ der TV-Parteien; die Regelung außertariflicher Entgeltbestandteile sei ihnen verwehrt1. 8

Die Kritik an dieser Position2 zielt darauf ab, dass das BAG den Schutz des Individualvertrages gegenüber dem kollektivvertraglichen Zugriff an dieser Stelle zu hoch gewichte. Die Trennung beider Rechtskreise vernachlässige das strukturelle Übergewicht des Arbeitgebers bei der einzelvertraglichen Vertragsgestaltung3. Dem ist entgegenzuhalten, dass das Übergewicht des Arbeitgebers bei der Vertragsgestaltung nur die Festsetzung von tariflichen Mindestarbeitsbedingungen legitimieren kann (s. Teil 9 Rz. 157 f., 163). Eine davon zu trennende und eigenständigen Schutzes bedürfende Sphäre des Individualvertrages ist hingegen dort anzuerkennen, wo der Arbeitnehmer über das tarifvertraglich gewährte Mindestschutzniveau hinausgehend seine individuelle Privatautonomie erfolgreich betätigt hat, namentlich im Bereich der übertariflichen Entgeltbestandteile. Die Gegenansicht läuft darauf hinaus, neben der kollektivierten Privatautonomie in Form der Tarifautonomie keine individuelle Privatautonomie anzuerkennen4.

9

In der Tat zweifeln kann man dagegen an der Tragfähigkeit des Hinweises auf den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG)5. Selbst eine Effektivgarantieklausel greift eine individualvertraglich in legitimer Weise herbeigeführte Ungleichbehandlung lediglich auf6. Der die Differenzierung tragende Sachgrund ist somit in der individuell betätigten Privatautonomie der Arbeitsvertragsparteien zu sehen. Diese ist grundsätzlich nicht an den Gleichheitssatz gebunden. Durch die Anknüpfung an diese legitime individualvertragliche Differenzierung begehen auch die TV-Parteien ihrerseits keinen Gleichheitsverstoß.

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Nur teilweise überzeugt auch der Hinweis auf das Schriftformgebot (§ 1 Abs. 2 TVG). Begrenzte Effektivklauseln begegnen insoweit keinen durchgreifenden Bedenken: Die übertarifliche Zulage wird nicht Bestandteil des Tarifentgelts, anders als bei einer Effektivgarantieklausel. Im Falle einer Effektivgarantieklausel freilich gebietet der aus dem Schriftformgebot folgende Grundsatz der Urkundeneinheit7, auch im Fall einer schriftlichen Niederlegung des Arbeitsvertrags das Schriftformgebot für verletzt zu halten8. Dass sich die Vergütungshöhe aus der Gesamtschau von TV und Arbeitsvertrag bestimmen lässt, genügt 1 2 3 4 5 6

Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 531. Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 385; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 601. So Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 385. Plastisch Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 537. Zutr. Stein, Tarifvertragsrecht, Rz. 338. Zutr. Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 797; Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 386; Kempen, AuR 1982, 50 (52 f.); Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 596 f. 7 Allg. Staudinger/Hertel, § 126 BGB Rz. 112 ff. 8 A.A. Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 602; Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 386.

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Effektivklauseln

Rz. 13 Teil 5 (10)

für die Wahrung der Schriftform nicht, da sich im TV nicht einmal eine „Andeutung“ hinsichtlich der individualvertraglichen Vereinbarung findet; die tatsächliche individuell vereinbarte Höhe des übertariflichen Entgelts war den TV-Parteien beim TV-Schluss ja regelmäßig gar nicht bekannt. Trotz dieser Erwägungen ist der Rechtsprechung im Ergebnis in ihrer Ablehnung der Rechtswirksamkeit von Effektivklauseln zu folgen. Entscheidend ist, dass mit jeder derartigen Klausel unmittelbar der übertarifliche Bereich geregelt werden soll. Dieser ist jedoch per definitionem „übertariflich“, damit allein der individuellen Privatautonomie anvertraut und der Regelungskompetenz der Tarifparteien entzogen. Jede Effektiv(garantie)klausel zielt darauf ab, dem Arbeitgeber die individualvertraglich wirksam vereinbarte Möglichkeit der Anrechnung zu entziehen. Darin liegt ein Übergriff in die Regelungskompetenz der Arbeitsvertragsparteien, die im übertariflichen Bereich von tariflichen Vorgaben unberührt bleiben muss. Mithin zwingen derartige Klauseln den Arbeitsvertragsparteien einen anderen Vertragsinhalt auf als sie vereinbart haben und beinhalten eine Verletzung der individuellen Vertragsfreiheit (Art. 12 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG)1. Der arbeitsvertraglich vereinbarte Zusammenhang von übertariflicher Zulage und Anrechnungsklausel wird zerstört2.

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Zwar ist eine Verletzung des Günstigkeitsprinzips (§ 4 Abs. 3 TVG) nicht ersichtlich, da auch im Fall einer Effektivklausel die Gewährung weiterer Zulagen zum – lediglich erhöhten – Tarifentgelt möglich bleibt3. Die umfassende übertarifliche Regelungskompetenz der Arbeitsvertragsparteien, die im Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG nur exemplarisch Ausdruck gefunden hat und verfassungsrechtlich geboten ist (s. Teil 9 Rz. 158), würde gleichwohl verletzt, wenn auch der übertarifliche Bereich dem Regelungszugriff des TVes ausgesetzt würde. Retten kann die begrenzte Effektivklausel auch nicht das formale Argument, die rein arbeitsvertragliche Natur des übertariflichen Entgeltbestandteils werde gar nicht infrage gestellt: Die damit aufgestellte Behauptung verkennt, dass durch den Ausschluss der individualvertraglich wirksam vorbehaltenen Anrechnung Geltungsgrund des zuvor „übertariflichen“ arbeitsvertraglichen Entgelts nun ausschließlich ein normativ-tarifvertraglicher ist4.

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Die Anerkennung derartiger Klauseln würde folglich darauf hinauslaufen, den übertariflichen Bereich der tariflichen Regelung zu unterwerfen und somit zu einer Vermischung beider Sphären und einer übergreifenden, die Individualvertragsgestaltung erfassenden Kompetenz der Tarifparteien zu gelangen. Kollisionsregeln für das Verhältnis Individualvertrag und TV kann nur eine höherrangige (gesetzliche) Norm wie § 4 Abs. 3 TVG statuieren, nicht hingegen eines der an der Kollision selbst beteiligten Regelwerke5; es sei denn, es würde seine eigene Geltung zugunsten der kollidierenden Regelung einschränken.

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1 Zutr. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1893; a.A. Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 594 (Regelung bloßer Anspruchsmodalitäten). 2 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 537. 3 Zutr. Etzel, AuR 1969, 265; Hansen, RdA 1985, 78 (82); Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 386. 4 Zu diesem Widerspruch schon Nikisch, BB 1956, 468. 5 Zutr. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 531.

Greiner

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Teil 5 (11)

Rz. 1

Eingruppierung

(11) Eingruppierung I. Zweck und Kontext 1

Durch die Eingruppierung wird ein Mitarbeiter einem im Betrieb geltenden kollektiven Entgeltschema zugeordnet. Dasselbe gilt für die sog. Umgruppierung, die sich von der Eingruppierung im Wesentlichen dadurch unterscheidet, dass es sich hierbei nicht um die erstmalige Zuordnung zu einer Entgeltgruppe am Beginn einer neuen Tätigkeit handelt, sondern um die Zuordnung zu einer anderen Entgeltgruppe (z.B. weil sich die Wertigkeit der Tätigkeit verändert oder sich der Tätigkeitsschwerpunkt verschoben hat). Eingruppierungsregelungen finden sich wegen ihres entgeltrelevanten Charakters regelmäßig in sog. EntgeltrahmenTVen (auch Lohn- oder GehaltsrahmenTVe). Notwendige Voraussetzung der Eingruppierung und damit zwingender Bestandteil eines EntgeltrahmenTVes ist damit ein kollektives Entgeltschema, i.d.R. ein sog. Entgeltgruppenverzeichnis. Das Entgeltgruppenverzeichnis enthält mehrere Entgeltgruppen, denen jeweils eine Tätigkeitsbeschreibung entsprechend ihrer Wertigkeit hinterlegt ist (sog. Tätigkeitsmerkmale). Soweit es sich nicht um einfache Lohntätigkeiten handelt, sind den Tätigkeitsmerkmalen häufig noch sog. Richtbeispiele beigefügt (vgl. E 6 ERTV Chemie, unten Rz. 5). Unter Richtbeispielen versteht man im Betrieb vorhandene Tätigkeiten, die die Tätigkeitsmerkmale der jeweiligen Entgeltgruppe erfüllen und ihr deshalb beispielhaft zugeordnet werden. Sie dienen dazu, den Eingruppierungsvorgang für den Arbeitgeber zu erleichtern, da er sich bei der Eingruppierung eines Arbeitnehmers an den Richtbeispielen besser orientieren kann als lediglich an den Tätigkeitsmerkmalen.

2

Die Erstellung von Entgeltgruppenverzeichnissen, also die Zuordnung bestimmter Tätigkeitsmerkmale und Richtbeispiele zu den jeweiligen Entgeltgruppen (Wertigkeitsstufen), ist keine Eingruppierung, sondern (Arbeitsplatz-)Bewertung1. Die Bewertung ist ebenfalls Aufgabe der TV-Parteien, die häufig durch spezielle Tarifkommissionen, bestehend aus Vertretern der Gewerkschaften und der Arbeitgeber(-verbände), wahrgenommen wird. Beim Bewertungsverfahren wird im Kern zwischen analytischer und summarischer Bewertung unterschieden. Bei der summarischen Bewertung werden die Voraussetzungen der Tätigkeiten, die einer Entgeltgruppe zugeordnet sind, relativ global umschrieben (vgl. E 6 ERTV Chemie, unten Rz. 5). Bei der analytischen Bewertung dagegen wird den einzelnen Entgeltgruppen jeweils eine bestimmte Anzahl von Punkten hinterlegt. Zusätzlich werden den Einzelkriterien, die für die im Betrieb vorkommenden Tätigkeiten erforderlich sind, ebenfalls Punkte zugeteilt (etwa für Selbständigkeit, Ergebnisverantwortung, Kostenverantwortung, Personalverantwortung etc.). Nach der Erstellung des Entgeltgruppenverzeichnis durch die TV-Parteien werden zum Teil aufgrund des EntgeltrahmenTVes paritätische Kommissionen der Betriebsparteien gebildet, deren Aufgabe es ist, neue oder noch nicht bewertete Arbeitsaufgaben einer Entgelt-

1 BAG v. 17.11.2010 – 7 ABR 123/09, NZA 2011, 531.

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Steffan

Eingruppierung

Rz. 4 Teil 5 (11)

gruppe des bestehenden Entgeltgruppenverzeichnisses zuzuordnen (so etwa § 7 ERA-TV Metall BW)1. Die Eingruppierung der Arbeitnehmer in ein Gehaltsschema dient in erster Linie der innerbetrieblichen Lohngerechtigkeit. Damit soll erreicht werden, dass gleiche oder vergleichbare Tätigkeiten auch gleich bezahlt (entlohnt) werden. Bei der eigentlichen Eingruppierung wendet der Arbeitgeber das jeweils bestehende Entgeltgruppenverzeichnis entsprechend dem vorgegebenen Bewertungsverfahren an. Liegt ein Entgeltgruppenverzeichnis auf Basis einer summarischen Bewertung vor, prüft der Arbeitgeber, welchen Tätigkeitsmerkmalen des Entgeltgruppenverzeichnisses die Tätigkeiten des betreffenden (einzugruppierenden) Arbeitnehmers „in Summe“ entsprechen. Dieser Entgeltgruppe ordnet er den jeweiligen Mitarbeiter zu. Zur Eingruppierung in ein Entgeltgruppenverzeichnis auf Basis eines analytischen Bewertungsverfahrens gibt der Arbeitgeber zunächst den für die Aufgabe erforderlichen Kriterien jeweils eine bestimmte Anzahl von Punkten. Danach addiert er die Punktzahlen der jeweiligen Kriterien und ordnet den Mitarbeiter anhand der ermittelten Gesamtpunktzahl einer Entgeltgruppe zu. In aller Regel enthalten die jeweiligen Entgeltrahmenregelungen spezielle Regelungen, die bestimmte Grundsätze und Verfahrensweise der Eingruppierung festlegen (vgl. das Beispiel § 3 ERTV Chemie unten Rz. 4). Besonders detaillierte Eingruppierungsregelungen enthalten die TVe des öffentlichen Dienstes. In fast allen Branchen kommt es nach den heute geltenden Regelungen – anders als nach früheren TVen – für die Bewertung einer Tätigkeit und damit auch für die Eingruppierung maßgeblich auf die ausgeübte Tätigkeit selbst an (vgl. § 3 Abs. 2 ERTV Chemie unten Rz. 4), wohingegen Ausbildung und Verweildauer in der jeweiligen Entgeltgruppe nur noch eine untergeordnete oder gar keine Rolle spielen. Auch dies ist Teil der innerbetrieblichen Lohngerechtigkeit. Einer zunehmenden Erfahrung bei der Ausübung einer Tätigkeit wird zum Teil dadurch Rechnung getragen, dass sich innerhalb der Entgeltgruppen nochmals sog. Entgeltstufen befinden, die meistens innerhalb einer festgelegten Zeitspanne durchlaufen werden, zum Teil aber auch in einer Kombination von Zeit und Leistung (Performance).

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II. Beispiele § 3 ERTV Chemie Allgemeine Entgeltbestimmungen

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1. Der Bundesentgelttarifvertrag ist in Verbindung mit dem jeweils geltenden bezirklichen Entgelttarifvertrag Grundlage der Entgeltfestsetzung. 2. Die Arbeitnehmer werden entsprechend der von ihnen ausgeübten Tätigkeit in die Entgeltgruppen eingruppiert. Für die Eingruppierung in eine Entgeltgruppe ist nicht die berufliche Bezeichnung, sondern allein die Tätigkeit des Arbeitnehmers maßgebend. Die Eingruppierung richtet sich nach den Tätigkeitsmerkmalen der Oberbegriffe; hierzu sind als Erläuterung die bei den Entgeltgruppen aufgeführten Richtbeispiele heranzuziehen. Passen die Oberbegriffe nicht auf eine ausgeübte Tätigkeit, so ist ein Arbeitnehmer in diejenige Entgeltgruppe einzugruppieren, die seiner Tätigkeit am nächsten kommt. 1 Vgl. BAG v. 12.1.2011 – 7 ABR 34/09, NZA 2011, 1297.

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Rz. 5

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3. Ein- und Umgruppierungen erfolgen unter Beachtung des Mitbestimmungsrechts des Betriebsrates nach den Bestimmungen des Betriebsverfassungsgesetzes. 4. Übt ein Arbeitnehmer innerhalb seines Arbeitsbereiches ständig wiederkehrend mehrere Tätigkeiten aus, auf die verschiedene Entgeltgruppen zutreffen, so ist er in die Entgeltgruppe einzugruppieren, deren Anforderungen den Charakter seines Arbeitsbereiches im Wesentlichen bestimmen. Für solche Tätigkeiten, die bezüglich ihrer Anforderungen zu höheren Entgeltgruppen gehören und durch die Eingruppierung gemäß Satz 1 noch nicht abgegolten werden konnten, ist eine angemessene Vergütung als Ausgleich zu gewähren. 5. Übt ein in die Entgeltgruppen E 1 bis E 6 eingruppierter Arbeitnehmer auf Anordnung des Vorgesetzten vorübergehend (mindestens eine volle Schicht) vollwertig eine Tätigkeit aus, die nicht zu seinem persönlichen Arbeitsbereich gehört und die der Voraussetzung einer höheren Entgeltgruppe entspricht, ist ihm für diese Zeit das Tarifentgelt der höheren Entgeltgruppe zu zahlen. Übt ein in den Entgeltgruppen E 7 bis E 12 eingruppierter Arbeitnehmer auf Anordnung des Vorgesetzten vorübergehend vollwertig eine Tätigkeit aus, die einer höheren Entgeltgruppe zugeordnet ist, so hat er unter Anrechnung einer etwaigen Ausgleichszulage rückwirkend einen tariflichen Anspruch auf den Differenzbetrag zwischen seinem Tarifentgelt und dem Tarifentgelt der höheren Entgeltgruppe, wenn diese Tätigkeit zusammenhängend länger als vier Wochen dauert. Dabei ist das Gruppenjahr der höheren Entgeltgruppe zugrunde zu legen, dessen Entgeltsatz am nächsten über seinem bisherigen tariflichen Entgeltsatz liegt. Der Anspruch entsteht nicht, wenn der Einsatz zu Trainingszwecken oder zum Zwecke der beruflichen Weiterbildung erfolgt. 6. Einem Arbeitnehmer, der auch Provision bezieht, muss im Jahresdurchschnitt als Einkommen das Tarifentgelt seiner Entgeltgruppe garantiert sein. In Abrechnungsmonaten, in denen das Tarifentgelt nicht erreicht wird, kann der Arbeitnehmer verlangen, dass ihm der Differenzbetrag zum Tarifentgelt gezahlt wird, der mit künftigen höheren Monatseinkommen zu verrechnen ist. 7. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, den Arbeitnehmer über die erfolgte Ein- und Umgruppierung innerhalb eines Monats schriftlich (auch z.B. über Datenverarbeitung) zu unterrichten. Der Betriebsrat ist hiervon in geeigneter Weise, in der Regel schriftlich, zu unterrichten. 8. Zuschläge und Zulagen sowie sonstige variable Entgeltbestandteile können, jeder für sich oder insgesamt, pauschaliert werden. 5

Entgeltgruppenkatalog des ERTV Chemie: Entgeltgruppe 6 Arbeitnehmer, die Tätigkeiten verrichten, für die Kenntnisse und Fertigkeiten erforderlich sind, die durch eine abgeschlossene mindestens dreijährige Berufsausbildung in einem nach dem Berufsbildungsgesetz anerkannten oder gleichgestellten Ausbildungsberuf erworben worden sind. Das Merkmal der abgeschlossenen Be404

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Rz. 6 Teil 5 (11)

rufsausbildung wird erfüllt durch den erfolgreichen Abschluss, z.B. einer Handwerkerausbildung sowie einer Ausbildung zum Kaufmann, Chemikanten, Pharmakanten, Technischen Zeichner oder zur Fachkraft für Lagerwirtschaft. Arbeitnehmer ohne eine derartige planmäßige Ausbildung, die aufgrund mehrjähriger Berufspraxis gleichwertige Kenntnisse und Fertigkeiten erworben haben und entsprechende Tätigkeiten ausüben. Prozessleitelektroniker in den ersten zwei Berufsjahren, wenn sie eine ihrer Ausbildung entsprechende Tätigkeit ausüben. Bei Vorliegen dieser Voraussetzungen können folgende Tätigkeiten als Richtbeispiele gelten: Fahren (Überwachen und/oder Steuern) von Anlagen oder Teilanlagen, auch mit Prozessleittechnik, in Produktions- oder Energiebetrieben mit den entsprechenden Kenntnissen und Fertigkeiten des obengenannten Personenkreises Instandhaltungsarbeiten an Geräten, Maschinen oder Anlagen, auch mit Funktionsprüfung und Inbetriebnahme mit den entsprechenden Kenntnissen und Fertigkeiten des obengenannten Personenkreises Fertigen, Zusammenbauen oder Installieren von Geräten, Maschinen oder Anlageteilen mit den entsprechenden Kenntnissen und Fertigkeiten des obengenannten Personenkreises Assistenz- und Sekretariatstätigkeiten Kaufmännische Sachbearbeitung Anforderungsgerechte Lagerhaltung und Lagerplanung Anfertigen technischer Zeichnungen mit den dazugehörigen Berechnungen Anfertigen von Stromlaufplänen und Schaltplänen Vorbereiten, Berechnen und Durchführen von Routineanalysen nach festliegenden Methoden Vorbereiten, Berechnen und Durchführen von Serienansätzen, Reihenuntersuchungen, Versuchsabläufen oder präparativen Arbeiten nach festliegenden Methoden

III. Kommentierung 1. Definition und Verfahren Eingruppierung ist die Festsetzung der Lohn- bzw. Gehaltsgruppe, die für die Vergütung des Arbeitnehmers maßgebend ist1. Dabei geht es um die Einordnung des Arbeitnehmers in ein kollektives, mindestens zwei Vergütungsgruppen enthaltendes Entgeltschema, das eine Zuordnung der Arbeitnehmer nach bestimmten, generell beschriebenen Merkmalen vorsieht2. Basis der Eingruppierung sind zuvörderst tarifvertragliche Entgeltschemata (vgl. z.B. E 6 ERTV 1 BAG v. 12.12.2006 – 1 ABR 13/06, NZA 2007, 348. 2 BAG v. 28.6.2006 – 10 ABR 42/05, NZA-RR 2006, 648.

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Rz. 7

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Chemie, oben Rz. 5). Daneben finden auch Zuordnungen in betriebliche Entgeltschemata statt, insbesondere bei außertariflichen Angestellten; auch hierbei handelt es sich um Eingruppierungen1. Als Eingruppierung wurde bisher allgemein die erstmalige Einstufung oder Einreihung des Arbeitnehmers nach der Einstellung oder einer Versetzung in eine bestimmte tarifliche oder betriebliche Lohn- oder Vergütungsgruppe verstanden2. Sie erfolgt durch die Zuordnung eines Arbeitnehmers zu einer bestimmten Gruppe der Vergütungsordnung nach Maßgabe der dafür gültigen Kriterien3. Dagegen wurden Entwicklungen der Arbeitnehmer, die innerhalb einer Entgeltgruppe aufgrund einer im Vergütungssystem angelegten Ordnung automatisch erfolgten (sog. Gruppenstufen), nicht unter den Begriff der Eingruppierung subsumiert. Die neuere Rechtsprechung des 7. Senats des BAG geht indes darüber hinaus und definiert neben der erstmaligen Einordnung in eine Entgeltgruppe auch die spätere Zuordnung zu einer Gruppenstufe innerhalb derselben Entgeltgruppe als Eingruppierung. Begründet wird dies damit, dass beide Faktoren (also Entgeltgruppe und Gruppenstufe) für die Einreihung des Arbeitnehmers in die Vergütungsordnung relevant seien und damit Bestandteile der einheitlichen Ein- oder Umgruppierung4. Auch dass diese „Wanderung“ in den Gruppenstufen „automatisch“ aufgrund der tarifvertraglichen Vorgaben verlaufe und damit ein Einreihungsvorgang nicht stattfinde, ändere daran nichts. 7

Die Eingruppierung ist keine ins Ermessen des Arbeitgebers gestellte, rechtsgestaltende Maßnahme, sondern Rechtsanwendung. Was allgemein als Eingruppierungsvorgang verstanden wird, ist kein konstitutiver Rechtsakt, sondern hat nur deklaratorische Bedeutung5. Die Eingruppierung ergibt sich von selbst aus der vom Arbeitnehmer auszuübenden Tätigkeit6. Dies wird zum Teil auch als „Tarifautomatik“ bezeichnet7. Bei dieser deklaratorischen Festlegung der Entgeltgruppe geht der Arbeitgeber von der Tätigkeit aus, die den Charakter der Arbeitsleistung im Wesentlichen bestimmt. Maßgeblich sind die in der Vergütungsordnung vorgesehenen Tätigkeitsmerkmale und die ggf. dort aufgeführten Richtbeispiele. Erfüllt die Tätigkeit eines Arbeitnehmers die Kriterien eines Richtbeispiels, so reicht dies für die Zuordnung aus8. Ist kein Richtbeispiel einschlägig, erfolgt die Zuordnung durch Subsumtion unter die Tätigkeitsmerkmale der jeweiligen Entgeltgruppen9. Dabei wird üblicherweise auf die Tätigkeit abgestellt, die mehr als die Hälfte der Arbeitszeit einnimmt10. Zu der so verstandenen Eingruppierung ist der Arbeitgeber (jedenfalls betriebsverfassungsrechtlich) verpflichtet, sobald die von einem Arbeitnehmer zu ver1 BAG v. 27.10.1992 – 1 ABR 17/92, BB 1993, 1589. 2 Vgl. nur BAG v. 11.11.2008 – 1 ABR 68/07, NZA 2009, 450 Rz. 23 m.w.N.; Küttner/ Griese, Eingruppierung Rz. 1. 3 BAG v. 11.11.2008 – 1 ABR 68/07, NZA 2009, 450 Rz. 23. 4 BAG v. 6.4.2011 – 7 ABR 136/09, DB 2011, 2207 Rz. 25. 5 Küttner/Griese, Eingruppierung Rz. 4. 6 BAG v. 16.1.1991 – 4 AZR 301/90, NZA 1991, 490. 7 Vgl. dazu ErfK/Koch, § 46 ArbGG Rz. 31. 8 BAG v. 21.7.1993 – 4 AZR 486/92, NZA 1994, 710; BAG v. 8.3.2006 – 10 AZR 129/05, NZA 2007, 159; Küttner/Griese, Eingruppierung Rz. 7. 9 BAG v. 21.7.1993 – 4 AZR 486/92, NZA 1994, 710. 10 BAG v. 25.9.1991 – 4 AZR 87/91, NZA 1992, 273.

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Eingruppierung

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richtende Tätigkeit von einer im Betrieb anzuwendenden Lohn- oder Gehaltsgruppenordnung erfasst wird1. Dies gilt auch für geringfügig Beschäftigte2. Will der Arbeitgeber im Einzelfall von den Vorgaben des tarifvertraglichen Entgeltschemas abweichen, so kann er dies nicht durch Unterlassung der Eingruppierungsentscheidung tun. Negative Abweichungen scheiden schon wegen des zwingenden Charakters tarifvertraglicher Rechte aus, auf die der Arbeitnehmer auch nicht verzichten kann. Positive Abweichungen sind nach erfolgter Eingruppierung ggf. durch eine übertarifliche Zulage unter Berücksichtigung der allgemeinen arbeitsrechtlichen Vorgaben (ggf. Gleichbehandlungsgebot und Diskriminierungsverbot) möglich. Bei Höhergruppierungen hat der Arbeitgeber das Benachteiligungsverbot des § 612a BGB zu beachten und kann deshalb nicht etwa Arbeitnehmer von der Höhergruppierung ausnehmen, die auf eine Höhergruppierung geklagt haben. Ein solches Verhalten des Arbeitgebers führt zu einem Anspruch der betreffenden Arbeitnehmer auf die höhere Vergütung3. Nach der Eingruppierung teilt der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer das Ergebnis der Eingruppierung mit. Dies sehen die tariflichen Regelungen in aller Regel ausdrücklich so vor (vgl. § 3 Abs. 7 ERTV Chemie oben Rz. 4). Daneben ist auch der Betriebsrat bzw. Personalrat zu informieren (vgl. § 3 Abs. 8 ERTV Chemie oben Rz. 4), weil die Eingruppierung der Mitbestimmung nach § 99 BetrVG (vgl. dazu auch die Regelung in § 3 Abs. 3 ERTV Chemie, oben Rz. 4)4 bzw. § 75 BPersVG unterliegt.

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Unterschiedliche Regelungen finden sich in den TVen für den Fall, dass ein Arbeitnehmer vorübergehend höherwertiger Tätigkeiten ausübt. Hierbei gibt es im Wesentlichen zwei verschiedene Herangehensweisen. Nach der einen Logik bekommt der Arbeitnehmer von Beginn der höherwertigen Tätigkeit an einen Ausgleich in Geld bezogen auf die tatsächlich verrichtete Tätigkeit. Nach der anderen Logik bekommt der Arbeitnehmer zwar nicht von Anfang an einen finanziellen Ausgleich, dafür steht ihm aber ab einem gewissen Zeitpunkt ein Anspruch auf Höhergruppierung zu.

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2. Fehlerhafte Eingruppierungen Ist der Arbeitgeber der Ansicht, der Arbeitnehmer sei irrtümlich zu hoch eingruppiert, kann er diese falsche Eingruppierung grundsätzlich korrigieren. Ob er dies einseitig tun kann oder den Weg der Änderungskündigung beschreiten muss, hängt davon ab, ob die Vergütung Vertragsbestandteil geworden ist5. Dabei ist letztlich durch Auslegung zu ermitteln, ob die Parteien eine bestimmte Vergütungshöhe vereinbart haben oder nur übereingekommen sind, dass eine Vergütung entsprechend der Tätigkeit und der tariflichen Entgeltregelung er1 2 3 4 5

BAG v. 23.11.1993 – 1 ABR 34/93, NZA 1994, 461. BAG v. 18.6.1991 – 1 ABR 60/90, NZA 1991, 903. BAG v. 23.2.2000 – 10 AZR 1/99, NZA 2001, 680. Zur Mitbestimmung des Betriebsrats bei Eingruppierungen siehe Rz. 14 ff. ErfK/Koch, § 46 ArbGG Rz. 36; Hesse in Moll, Münchener Anwaltshandbuch, § 19 Rz. 21; a.A. Küttner/Griese, Eingruppierung Rz. 23 (stets Änderungskündigung notwendig).

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Rz. 11

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folgt1. Letztlich wird die Auslegung in den meisten Fällen zur Annahme einer vertraglichen Vereinbarung führen, soweit sich nicht der Arbeitgeber im Arbeitsvertrag oder in den Angaben nach § 6 Abs. 2 NachwG vorbehält, bei irrtümlicher „Falscheingruppierung“ eine Korrektur vorzunehmen. Unterbleibt dies, ist die bloße Mitteilung über die Vergütungshöhe in aller Regel Vertragsgrundlage geworden2. Eine „Tarifautomatik“ findet insoweit nicht statt. In diesem Fall kann sich der Arbeitgeber von der falschen Eingruppierung nur mit den allgemeinen arbeitsrechtlichen Instrumentarien lösen. Denkbar ist ein Änderungsvertrag, der jedoch in aller Regel an der Mitwirkung des Arbeitnehmers scheitern dürfte. Regelmäßig wird deshalb nur eine Änderungskündigung in Betracht kommen, bei der die Voraussetzungen des § 2 KSchG zu beachten sind3. Das für eine Änderungskündigung notwendige dringende betriebliche Erfordernis hat das BAG bejaht, wenn die falsche höhere Eingruppierung eines Arbeitnehmers zu Missstimmungen bei den anderen Arbeitnehmern führt, die korrekt eingruppiert sind. Dem Arbeitgeber wird ein legitimes Interesse daran zugestanden, eine hierdurch im Betrieb entstehende Unruhe erst gar nicht aufkommen zu lassen4. Eine Änderung der Eingruppierung unterfällt als Umgruppierung i.S.d. § 99 BetrVG bzw. 75 BPersVG der Mitbestimmung des Betriebsoder Personalrats5. Gegen die Änderungskündigung kann der Arbeitnehmer innerhalb von drei Wochen nach der Annahme des Änderungsangebots unter dem Vorbehalt der gerichtlichen Überprüfung eine Änderungskündigungsschutzklage erheben6. Hat dagegen der Arbeitgeber wissentlich mit einzelnen Arbeitnehmern einzelvertraglich eine höhere Vergütung vereinbart, als sie dem betrieblichen Niveau entspricht, ist es ihm verwehrt, unter Berufung auf den Gleichbehandlungsgrundsatz diese Vergütung dem Lohn der übrigen Arbeitnehmer anzupassen, mit denen er solch eine höhere Lohnvereinbarung nicht getroffen hat. In diesem Fall kann er auch kein dringendes betriebliches Erfordernis zur Rechtfertigung einer entsprechenden Änderungskündigung geltend machen7. Eine wiederholte korrigierende Rückgruppierung wegen fehlerhafter erster Rückgruppierung ist regelmäßig unzulässig, weil der Arbeitnehmer davon ausgehen kann, dass der Arbeitgeber anlässlich der ersten Rückgruppierung die Eingruppierung mit besonderer Sorgfalt überprüft hat. 11

Für den öffentlichen Dienst sieht die Rechtsprechung in der Angabe der Vergütungsgruppe keine vertragliche Vereinbarung und hält somit eine „korrigierende Rückgruppierung“ auch ohne Änderungskündigung für zulässig8. Die nach den tariflichen Bestimmungen erforderliche Angabe der Vergütungsgruppe im Arbeitsvertrag gebe nur wider, welche Vergütungsgruppe der Arbeitgeber als zutreffend ansehe. Daraus folge jedoch ohne das Hinzutreten weiterer Umstände kein eigenständiger, von den tariflichen Bestimmungen unabhängi1 2 3 4 5 6 7 8

Hesse in Moll, Münchener Anwaltshandbuch, § 19 Rz. 21. So im Ergebnis auch Küttner/Griese, Eingruppierung, Rz. 23. BAG v. 15.3.1991 – 2 AZR 582/90, NZA 1992, 120. BAG v. 15.3.1991 – 2 AZR 582/90, NZA 1992, 120 Rz. 47. BAG v. 30.5.1990 – 4 AZR 74/90, NZA 1990, 899 Rz. 13 (dort zum BPersVG). Zu den Voraussetzungen im Einzelnen APS/Künzl, § 2 KSchG Rz. 323 ff. BAG v. 1.7.1999 – 2 AZR 826/98, NZA 1999, 1336. BAG v. 16.10.2002 – 4 AZR 447/01, NZA 2003, 688; BAG v. 8.8.1996 – 6 AZR 1013/94, NZA-RR 1997, 76.

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ger Anspruch auf Vergütung, weil der Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes grundsätzliche keine übertarifliche Vergütung, sondern nur das gewähren wolle, was dem Arbeitnehmer tarifrechtlich zustehe1. Einem solchen Bindungswillen des Arbeitgebers stehe auch das Sparsamkeitsgebot des § 8 BHO bzw. der entsprechenden Haushaltsordnungen der Länder entgegen2. Ob diese Differenzierung gegenüber der Privatwirtschaft überzeugt, ist fraglich. In beiden Fällen ist die Festlegung einer Vergütungsgruppe im Arbeitsvertrag von den Arbeitsvertragsparteien grundsätzlich als bindend gewollt. Zutreffend wird auch darauf hingewiesen, dass sowohl ein öffentlicher Arbeitgeber als auch ein privater Arbeitgeber nach § 2 Nr. 6 NachwG zur Angabe der Berechnungsgrundlagen des Arbeitsentgelts verpflichtet ist. Auf dieser vertraglichen Grundlage arbeite der Arbeitnehmer. Im Übrigen sei es unter Vertrauensschutzgesichtspunkten nicht zu rechtfertigen, die Angabe der Vergütungsgruppe im Arbeitsvertrag im Bereich des öffentlichen Dienstes lediglich als unverbindliche Mitteilung zu qualifizieren3. Auch das BAG erkennt jedoch an, dass es im Einzelfall gegen Treu und Glauben in der Form widersprüchlichen Verhaltens verstoßen kann, wenn sich der öffentliche Arbeitgeber auf die Fehlerhaftigkeit der bisherigen tariflichen Bewertung berufe4. Ein solches Vertrauen kann insbesondere durch Umstände begründet werden, die nach der Eingruppierung eingetreten sind5. Anhaltspunkt dafür kann sein, dass der Arbeitgeber zu erkennen gegeben hat, er werde die Lohngruppe weiter gewähren, auch wenn die tariflichen Voraussetzungen nicht vorliegen6. Schützenswertes Vertrauen kann sich auch aus der Gesamtschau einzelner Umstände ergeben, von denen jeder für sich allein keinen hinreichenden Vertrauenstatbestand begründen kann7. Hat der Arbeitgeber zunächst eine Rückgruppierung angekündigt, sie dann aber unterlassen, erweckt dies für den Arbeitnehmer den Eindruck, seine Tätigkeit sei von Beginn an der zutreffenden Vergütungsgruppe zugeordnet gewesen8. Ebenfalls regelmäßig treuwidrig ist die wiederholte korrigierende Rückgruppierung des Arbeitnehmers bei unveränderter Tätigkeit. Der Vollzug einer korrigierenden Rückgruppierung durch den Arbeitgeber beinhaltet dessen Eingeständnis, sich bei der vormaligen tariflichen Bewertung der Tätigkeit des Arbeitnehmers geirrt zu haben. Bei der dann erfolgten korrigierten Eingruppierung kann der Arbeitnehmer erwarten, dass der Arbeitgeber dies mit besonderer Sorgfalt geprüft hat. Das gilt insbesondere dann, wenn der Arbeitnehmer für dieselbe Tätigkeit geringer bezahlt werden soll. Deshalb muss er nicht damit rechnen, dass der Arbeitgeber die Beseitigung eines angeblichen Eingruppierungsfehlers selbst erneut wieder in Frage stellt9. 1 2 3 4 5 6 7 8 9

BAG v. 8.8.1996 – 10 AZR 1013/94, NZA-RR 1997, 76. Vgl. ErfK/Koch, § 46 ArbGG Rz. 37. Küttner/Griese, Eingruppierung Rz. 23. BAG v. 24.1.2007 – 4 AZR 28/06, NZA 2007, 495 Rz. 31 m.w.N.; ErfK/Koch, § 46 ArbGG Rz. 37. BAG v. 10.3.2004 – 4 AZR 212/03, NZA 2004, 1408. BAG v. 23.3.2005 – 4 AZR 238/04, ZTR 2006, 78. BAG v. 14.9.2005 – 4 AZR 348/04, NZA-RR 2006, 336. BAG v. 5.6.2003 – 6 AZR 249/02, ZTR 2003, 626. BAG v. 23.9.2009 – 4 AZR 220/08, NZA 2010, 528 Rz. 17; BAG v. 23.8.2006 – 4 AZR 417/05, NZA 2007, 516 Rz. 17.

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Ist der Arbeitnehmer der Ansicht, der Arbeitgeber habe ihn nicht richtig eingruppiert (oder zu Unrecht rückgruppiert), kann er eine sog. Eingruppierungsfeststellungsklage erheben. Diese ist auch außerhalb des öffentlichen Dienstes allgemein üblich und nach ständiger Rechtsprechung des BAG zulässig1. Mangels rechtsgestaltender Wirkung der Eingruppierung kann der Arbeitnehmer jedoch nicht auf Eingruppierung in die „richtige“ Vergütungsgruppe klagen, sondern nur auf Feststellung, dass er nach der von ihm für richtig erachteten Vergütungsgruppe zu vergüten ist. Mit dieser Klage kann der Arbeitnehmer alle Arten der falschen Zuordnung rügen. Dies gilt sowohl für die von Anfang an fehlerhafte Eingruppierung als auch dann, wenn die Zuordnung nach Ansicht des Arbeitnehmers nicht mehr richtig ist, weil sich seine Tätigkeit geändert hat und/oder er eine höherwertige Tätigkeit im Laufe der Zeit übernommen hat, die eine höhere Vergütungsgruppe rechtfertigt. Für die Richtigkeit der von ihm erstrebten Vergütungsgruppe trägt der Arbeitnehmer im Prozess die Darlegungs- und Beweislast. Er muss daher im Einzelnen diejenigen Tätigkeitsmerkmale detailliert darlegen und beweisen, die seiner Ansicht nach die Höhergruppierung rechtfertigen2. Ist in einem zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat nach § 99 Abs. 4 BetrVG geführten Zustimmungsersetzungsverfahren eine bestimmte Entgeltgruppe als zutreffend festgestellt oder als unzutreffend ausgeschlossen worden, kann sich der Arbeitnehmer darauf berufen3. Bei der Festlegung der Lohn- oder Vergütungsordnung haben die TV-Parteien einen weiten Gestaltungsspielraum mit der Folge, dass die jeweiligen Regelungen durch die Arbeitsgerichte nicht auf ihre Zweckmäßigkeit zu überprüfen sind. Sie müssen sich aber im Rahmen des höherrangigen Rechts halten, insbesondere den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz und das Verbot der Geschlechterdiskriminierung beachten4.

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Neben der rechtlichen Möglichkeit der Überprüfung durch eine Eingruppierungsklage sehen manche EntgeltrahmenTVe zur Überprüfung ein spezielles Reklamations- oder Beanstandungsverfahren vor. Danach kann der Arbeitnehmer zunächst schriftlich beim Arbeitgeber reklamieren. Daraufhin überprüft der Arbeitgeber die Eingruppierung. Sollte dabei kein Einverständnis über die Eingruppierung erzielt werden, kann die sog. Paritätische Kommission angerufen werden, die entweder selbst verbindlich entscheidet oder an eine Schiedsstelle weiterleitet5. Solche im TV vorgesehenen betrieblichen Einrichtungen können die Aufgabe eines Schiedsgutachters haben. Dies verstößt nicht gegen das im Arbeitsrecht mit wenigen Ausnahmen geltende Verbot der Schiedsgerichtsbarkeit. Die für das arbeitsgerichtliche Verfahren aus der Gutachtenabrede folgende Bindung ist allein materiell-rechtlicher Natur. Sie führt zur entsprechenden Anwendung der §§ 317 ff. BGB mit einer nur begrenzten ge1 BAG v. 16.10.2002 – 4 AZR 447/01, NZA 2003, 688 Rz. 15. 2 Vgl. BAG v. 20.10.1993 – 4 AZR 47/93, NZA 1994, 514; BAG v. 21.7.1993 – 4 AZR 486/92, NZA 1994, 710. 3 BAG v. 28.8.2008 – 2 AZR 967/06, NZA 2009, 505; Küttner/Griese, Eingruppierung Rz. 28. 4 Küttner/Griese, Eingruppierung Rz. 7. 5 So etwa § 10 ERA-TV Metall BW; vgl. BAG v. 12.1.2011 – 7 ABR 34/09, NZA 2011, 1297.

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Rz. 14 Teil 5 (11)

richtlichen Überprüfbarkeit1. Allerdings bedarf es dafür einer (nachvollziehbaren) Begründung. Fehlt es daran, ist das „Schiedsgutachten“ nach § 319 BGB unbeachtlich2.

3. Mitbestimmung des Betriebsrats a) Voraussetzungen und Inhalt Ein- und Umgruppierungen unterliegen nach § 99 BetrVG der Mitbestimmung des Betriebsrats. Dahingehende Bestimmungen in einem TV sind rein deklaratorischer Natur (vgl. etwa § 3 Abs. 3 ERTV Chemie, oben Rz. 4). Voraussetzung ist, dass in dem Betrieb ständig mehr als 20 wahlberechtigte Arbeitnehmer beschäftigt werden. Maßgeblich ist die dauerhafte Belegschaft; kurzfristige Schwankungen haben auf das Mitbestimmungsrecht keinen Einfluss. Sinn und Zweck der Mitbestimmung sind zum einen die Richtigkeitskontrolle der Eingruppierungsentscheidung des Arbeitgebers und zum anderen die Schaffung einer Vergütungstransparenz als Voraussetzung der Lohngerechtigkeit3. Dabei geht es um die Mitbeurteilung der objektiv richtigen Eingruppierung nach den Kriterien in einem TV, einer Betriebsvereinbarung oder einer sonstigen abstrakt generellen Vergütungsordnung des Arbeitgebers4. Dass es sich um eine Mitbeurteilung handelt, ist eindeutig, wenn der Arbeitgeber aufgrund der Einordnung in ein Entgeltgruppenverzeichnis auf Basis eines summarischen Bewertungsverfahrens (siehe oben Rz. 2) eine wertende Entscheidung über die Zuordnung des Arbeitnehmers zu einer Entgeltgruppe trifft. Dasselbe gilt aber auch dann, wenn das Vergütungssystem ausdifferenziert ist und dem Arbeitgeber kaum Spielraum bei der Bewertung der Eingruppierung lässt. Dies ist regelmäßig bei einen analytischen Bewertungssystem der Fall. Bedingt durch die (engen) Vorgaben des Entgeltgruppensystems verbleiben dem Arbeitgeber zur eigenen „Bewertung“ der Tätigkeiten kaum Spielräume5. Gleichwohl macht eine differenzierte Bewertung der Arbeitsaufgaben die Zuordnung des einzelnen Arbeitnehmers zu einer Entgeltgruppe durch den Arbeitgeber nicht entbehrlich. Insbesondere bleibt zu prüfen, ob die Entgeltgruppe, welcher der einzelne Arbeitnehmer zugeordnet wird, der bewerteten und eingestuften Arbeitsaufgabe entspricht und ob der Arbeitnehmer die Arbeitsaufgabe tatsächlich ausführt. Die vom Arbeitgeber vorzunehmende und vom Betriebsrat zu kontrollierende Beurteilung ist insoweit keine grundlegend andere als bei einem EntgeltTV, der bestimmte Funktionen bestimmten Entgeltgruppen zuordnet, oder der bei Vergütungsgruppen, die durch abstrakt beschriebene Tätigkeitsmerkmale definiert werden, bestimmte Tätigkeitsbeispiele aufführt6. Ein- oder Umgruppierungen sind keine gestaltenden „Akte“ oder „Vorgänge“, sondern Normenvollzug. Der Arbeitnehmer „ist“ eingruppiert; er „wird“ nicht eingrup1 2 3 4

BAG v. 17.3.2005 – 8 AZR 179/04, NZA 2005, 896. BAG v. 17.3.2005 – 8 AZR 179/04, NZA 2005, 896. Küttner/Griese, Eingruppierung Rz. 9. BAG v. 2.8.2006 – 10 ABR 48/05, NZA-RR 2007, 554 Rz. 21; BAG v. 17.4.2003 – 8 AZR 482/01, AP Nr. 90 zu § 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel. 5 Vgl. dazu BAG v. 12.1.2011 – 7 ABR 34/09, NZA 2011, 1297 Rz. 22. 6 Zutreffend BAG v. 12.1.2011 – 7 ABR 34/09, NZA 2011, 1297 Rz. 23.

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Rz. 15

Eingruppierung

piert (sog. Tarifautomatik). Der Arbeitgeber äußert unter Berücksichtigung des maßgeblichen Entgeltgruppenverzeichnisses seine Ansicht über die „richtige“ Entgeltgruppe des Arbeitnehmers. Dies unterliegt der Mitbeurteilung durch den Betriebsrat nach § 99 Abs. 1 BetrVG1. Er hat nach § 99 Abs. 1 Satz 1 BetrVG mitzubeurteilen, ob der einzelne Arbeitnehmer die Stelle tatsächlich innehat und die dort zu leistenden Tätigkeiten der Arbeitsplatzbewertung entsprechen2. Der Betriebsrat kann der Eingruppierung widersprechen, wenn sie entweder zu niedrig oder zu hoch ist. Auch ein ggf. vorhandenes spezielles Reklamationsverfahren (etwa über paritätische Kommissionen, vgl. oben Rz. 2) schließt die Mitbestimmung des Betriebsrats bei Ein- und Umgruppierungen nicht aus. Es regelt vielmehr ein neben der gesetzlichen Mitbestimmung bestehendes Procedere im Falle der auf die mitgeteilte Entgeltgruppe bezogenen schriftlichen Reklamation durch den Beschäftigten oder den Betriebsrat. Die erfolgreiche Reklamation der Einstufung der Arbeitsaufgabe kann Auswirkungen auf die richtige Eingruppierung des Arbeitnehmers haben. Sie ersetzt allerdings nicht die vom Arbeitgeber vorzunehmende Eingruppierung3. Das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats greift nicht nur bei der erstmaligen Eingruppierung nach einer Einstellung oder einer Änderung der Arbeitsaufgabe ein, sondern besteht auch bei einem Durchlaufen der Gruppenstufen innerhalb einer Entgeltgruppe4. Dagegen steht dem Betriebsrat kein Initiativrecht nach § 99 zu, mit dem er eine Höhergruppierung als Umgruppierung verlangen könnte, wenn sich die Tätigkeit des Arbeitnehmers im Laufe der Zeit geändert hat. Der Betriebsrat kann also nicht stellvertretend für den Arbeitnehmer dessen Höhergruppierung betreiben, wenn er die bisherige Eingruppierung für unzutreffend hält. Die unterlassene Betriebsratsbeteiligung bei der vorübergehenden Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit führt nicht zu einem Höhergruppierungsanspruch5. 15

Von der Eingruppierung zu unterscheiden ist die Bewertung des Arbeitsplatzes (siehe oben Rz. 2). Sie ist nicht Gegenstand des als Mitbeurteilungsrecht ausgestalteten Mitbestimmungsrechts6. Dasselbe gilt, wenn im Unternehmen keine Lohn- oder Gehaltsgruppenordnung besteht und der Arbeitgeber deshalb gar keine Eingruppierung vornimmt7. In diesem Fall kann der Betriebsrat aber die Einführung betrieblicher Entgeltgruppen über sein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG geltend machen und notfalls über die Einigungsstelle gemäß § 87 Abs. 2 BetrVG durchsetzen8.

1 2 3 4 5 6 7

BAG v. 12.1.2011 – 7 ABR 34/09, NZA 2011, 1297 Rz. 25. BAG v. 1.6.2011 – 7 ABR 138/09, DB 2012, 355. BAG v. 12.1.2011 – 7 ABR 34/09, NZA 2011, 1297 Rz. 30. BAG v. 6.4.2011 – 7 ABR 136/09, DB 2011, 2207. Siehe BAG v. 17.4.2002 – 4 AZR 174/01, NZA 2003, 159. BAG v. 17.11.2010 – 7 ABR 123/09, NZA 2011, 531. Vgl. BAG v. 12.12.2006 – 1 ABR 13/06, NZA 2007 Rz. 13; BAG v. 20.12.1988 – 1 ABR 68/87, NZA 1989, 518. 8 BAG v. 23.9.2003 – 1 ABR 35/02, NZA 2004, 800.

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Eingruppierung

Rz. 17 Teil 5 (11)

b) Verfahren der Mitbestimmung aa) Unterrichtungspflicht des Arbeitgebers Der Arbeitgeber hat den Betriebsrat vor jeder Eingruppierung oder Umgruppierung nach § 99 Abs. 1 BetrVG im Einzelnen zu unterrichten und Auskunft über die Person des Beteiligten zu geben. Dabei muss er dem Betriebsrat auch die erforderlichen Unterlagen vorlegen und ihm mitteilen, in welche Entgeltgruppe der Arbeitnehmer eingruppiert werden soll. Der Unterrichtung sind die Unterlagen beizufügen, die den Betriebsrat in die Lage versetzen, sich eine Meinung über die geplante Eingruppierung und deren Auswirkungen zu bilden und zu entscheiden, ob eine Verweigerung der Zustimmung nach § 99 Abs. 2 BetrVG in Betracht zu ziehen ist1. Eine bestimmte Frist zur Vorlage sieht § 99 BetrVG nicht vor, doch ist es zweckmäßig, den Betriebsrat so früh wie möglich zu informieren. Spätester Zeitpunkt dürfte eine Woche vor der geplanten Einoder Umgruppierung sein, damit die Rückäußerung des Betriebsrats innerhalb der Wochenfrist nach § 99 Abs. 3 BetrVG noch vor Durchführung der Maßnahme erfolgen kann. Ist die Information des Arbeitgebers unvollständig, beginnt die Erklärungsfrist nach § 99 Abs. 3 BetrVG nicht zu laufen2. Die Unterrichtung hat der Arbeitgeber mit dem Antrag an den Betriebsrat zu verbinden, der vorgesehenen Eingruppierung zuzustimmen3.

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bb) Mögliche Zustimmungsverweigerung Der Betriebsrat kann die Zustimmung verweigern, wenn einer der in § 99 Abs. 2 BetrVG enumerativ und abschließend aufgeführten Gründe vorliegt. Bei geplanten Ein- oder Umgruppierungen kommt als Verweigerungsgrund in erster Linie ein Verstoß gegen „eine Bestimmung in einem Tarifvertrag oder in einer Betriebsvereinbarung“ in Betracht (§ 99 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG)4. Gerade in diesem Zustimmungsverweigerungsrecht kommt die Funktion des Mitbestimmungsrechts des Betriebsrats zum Ausdruck, die Richtigkeit der Eingruppierungsentscheidung des Arbeitgebers zu kontrollieren5. Der Verstoß i.S.d. § 99 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG wird regelmäßig in der falschen Anwendung des (richtigen) Vergütungssystems liegen. Es kommt aber auch die beabsichtigte Eingruppierung in ein falsches, nicht anwendbares Vergütungssystem in Betracht, etwa weil dieses ohne die erforderliche Beteiligung des Betriebsrats aufgestellt wurde6. Dagegen besteht kein Zustimmungsverweigerungsrecht, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer richtig eingruppiert, aber eine längere als die bisher betriebsübliche Wochenarbeitszeit vereinbaren will. Die wöchentliche Arbeitszeit eines Arbeitnehmers ist nämlich regelmäßig kein Merkmal für die Zuordnung zu einer Vergütungsgruppe und damit für die Eingruppierung eines Arbeitnehmers ohne Bedeutung7. Daraus wird deutlich, dass der Betriebsrat 1 2 3 4 5 6 7

Vgl. ErfK/Kania, § 99 BetrVG Rz. 21. BAG v. 10.8.1993 – 1 ABR 22/93, NZA 1994, 187; ErfK/Kania, § 99 BetrVG Rz. 22. Küttner/Griese, Eingruppierung Rz. 10. ErfK/Kania, § 99 BetrVG Rz. 25. Küttner/Griese, Eingruppierung Rz. 11. BAG v. 24.4.2001 – 1 ABR 37/00, NZA 2002, 234 Rz. 23. BAG v. 28.6.2006 – 10 ABR 42/05, NZA-RR 2006, 648 Rz. 10 f.

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Rz. 18

Eingruppierung

seine Verweigerungsgründe streng an der jeweiligen Maßnahme ausrichten muss. Das gilt insbesondere bei der mit einer Eingruppierung häufig einhergehenden Einstellung oder Versetzung. Der Betriebsrat muss jeweils getrennt prüfen, ob ein ausreichender Zustimmungsverweigerungsgrund vorliegt. Hält er die vorgesehene Eingruppierung für falsch, darf er nicht die Zustimmung zur Einstellung verweigern, sondern muss ihr zustimmen und der geplanten Eingruppierung hingegen unter Hinweis auf § 99 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG widersprechen1. 18

Nach der Unterrichtung durch den Arbeitgeber hat der Betriebsrat nach § 99 Abs. 3 BetrVG eine Woche Zeit, um über die Zustimmung oder die Zustimmungsverweigerung zu entscheiden. Eine Zustimmungsverweigerung hat schriftlich unter Angabe von Gründen zu erfolgen. Ausreichend ist eine Begründung, die es als möglich erscheinen lässt, dass einer der gesetzlichen Zustimmungsverweigerungsgründe geltend gemacht wird, ohne dass ausdrücklich auf eine der Nummern des § 99 Abs. 2 BetrVG Bezug genommen werden muss2. Nur eine Begründung, die offensichtlich auf keinen dieser Verweigerungsgründe Bezug nimmt, ist unbeachtlich mit der Folge, dass die Zustimmung des Betriebsrats als erteilt gilt3. Eine Wiederholung des Gesetzeswortlautes reicht nicht aus4.

cc) Zustimmungsersetzungsverfahren 19

Verweigert der Betriebsrat form- und fristgerecht und mit ausreichender Begründung die Zustimmung zur Ein- oder Umgruppierung, muss der Arbeitgeber nach § 99 Abs. 4 BetrVG beim zuständigen Arbeitsgericht beantragen, die Zustimmung des Betriebsrats zu der geplanten Eingruppierung zu ersetzen. Eine vorläufige personelle Maßnahme nach § 100 BetrVG wird bei Ein- und Umgruppierungen in aller Regel mangels Dringlichkeit nicht in Betracht kommen5. Über den Zustimmungsersetzungsantrag entscheidet das Arbeitsgericht im Beschlussverfahren nach §§ 80 ff. ArbGG. In dem Verfahren sind die von der Ein- oder Umgruppierung betroffenen Arbeitnehmer nicht Beteiligte. Der Betriebsrat muss lediglich die form- und fristgerechte Verweigerung der Zustimmung darlegen. Die Darlegungslast für das Nichtvorliegen der vom Betriebsrat vorgetragenen Verweigerungsgründe trifft den Arbeitgeber; nicht aufgeklärte Tatsachen gehen zu seinen Lasten. Das Zustimmungsersetzungsverfahren hat nur beschränkte Rechtskraft, es bindet den an dem Beschlussverfahren nicht beteiligten, einzugruppierenden Arbeitnehmer nicht. Dieser kann unabhängig von dem gerichtlichen Zustimmungsersetzungsverfahren die seines Erachtens nach richtige Lohn- oder Gehaltsgruppe im arbeitsgerichtlichen Urteilsverfahren geltend machen6. 1 Vgl. BAG v. 20.12.1988 – 1 ABR 68/87, NZA 1989, 518; Küttner/Griese, Eingruppierung Rz. 12. 2 BAG v. 20.11.1990 – 1 ABR 87/89, NZA 1991, 513 Rz. 25; ErfK/Kania, § 99 BetrVG Rz. 39. 3 BAG v. 20.11.1990 – 1 ABR 87/89, NZA 1991, 513 Rz. 25. 4 BAG v. 24.7.1979 – 1 ABR 78/77, DB 1979, 2327. 5 ErfK/Kania, § 100 BetrVG Rz. 1. 6 Küttner/Griese, Eingruppierung Rz. 17.

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Rz. 2 Teil 5 (12)

Entgeltfortzahlung

(12) Entgeltfortzahlung I. Zweck und Kontext Nicht immer greift der in § 611 BGB niedergelegte Grundsatz „Kein Lohn ohne Arbeit“ ein. Vielmehr regeln sowohl Gesetze als auch TVe bestimmte Fälle, in denen die Lohnzahlungspflicht bestehen bleibt, obwohl vom Arbeitnehmer keine Gegenleistung geschuldet ist. Die bekanntesten Fälle sind Urlaub, Feiertage und Krankheit; auch die vorübergehende Verhinderung der Arbeitsleistung gemäß § 616 BGB (dazu fi (4) Arbeitsverhinderung) gehört hierher. Des Weiteren bleibt der Lohnanspruch in den Fällen bestehen, in den sich das sog. Betriebsrisiko für den Arbeitgeber realisiert. Nach der bürgerlich-rechtlichen Betriebsrisikolehre trägt der Arbeitgeber in seiner Funktion als Unternehmer das Wirtschafts- und Betriebsrisiko, die ihm vom Arbeitnehmer angebotene Arbeitsleistung auch verwerten zu können. Gesetzliche Grundlage dieses Instituts ist seit der Schuldrechtsreform § 615 Satz 3 BGB, der im Wesentlichen die vorangegangene Rechtsprechung bestätigt hat1. Soweit die gesetzlichen Grundlagen der Entgeltfortzahlung tarifdispositiv sind, können sie durch TVe auch begrenzt oder ausgeschlossen werden. Dagegen sind die TV-Parteien bei Erweiterungen der gesetzlichen Regelungen zugunsten der Arbeitnehmer ebenso frei wie bei der Schaffung weiterer Anlässe der Entgeltzahlung ohne Arbeit. Die bekanntesten Beispiele hierfür sind die tarifvertragliche Erweiterung des gesetzlichen Urlaubsanspruchs oder die Gewährung bezahlter „Vorfesttage“ (24. und 31. Dezember). Soweit der Arbeitnehmer ohne eigenes Verschulden an der Arbeitsleistung gehindert ist, folgt die Pflicht zur Entgeltfortzahlung aus dem Prinzip der Daseinsvorsorge, das es dem Arbeitgeber auferlegt, dem Arbeitnehmer einen Teil der Lebensrisiken abzunehmen2.

1

II. Beispiele § 21 TVöD Bemessungsgrundlage für die Entgeltfortzahlung

2

In den Fällen der Entgeltfortzahlung nach § 6 Abs. 3 Satz 1, § 22 Abs. 1, § 26, § 27 und § 29 werden das Tabellenentgelt sowie die sonstigen in Monatsbeträgen festgelegten Entgeltbestandteile weitergezahlt. Die nicht in Monatsbeträgen festgelegten Entgeltbestandteile werden als Durchschnitt auf Basis der dem maßgebenden Ereignis für die Entgeltfortzahlung vorhergehenden letzten drei vollen Kalendermonate (Berechnungszeitraum) gezahlt. Ausgenommen hiervon sind das zusätzlich für Überstunden und Mehrarbeit gezahlte Entgelt (mit Ausnahme der im Dienstplan vorgesehenen Überstunden und Mehrarbeit), Leistungsentgelte, Jahressonderzahlungen sowie besondere Zahlungen nach § 23 Abs. 2 und 3. Protokollerklärungen zu den Sätzen 2 und 3: 1. Volle Kalendermonate im Sinne der Durchschnittsberechnung nach Satz 2 sind Kalendermonate, in denen an allen Kalendertagen das Arbeitsverhältnis bestanden hat. Hat das Ar1 Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 549. 2 Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 548; MünchArbR/Schlachter, § 72 Rz. 7.

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Teil 5 (12)

Rz. 2

Entgeltfortzahlung

beitsverhältnis weniger als drei Kalendermonate bestanden, sind die vollen Kalendermonate, in denen das Arbeitsverhältnis bestanden hat, zugrunde zu legen. Bei Änderungen der individuellen Arbeitszeit werden die nach der Arbeitszeitänderung liegenden vollen Kalendermonate zugrunde gelegt. 2. Der Tagesdurchschnitt nach Satz 2 beträgt bei einer durchschnittlichen Verteilung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit auf fünf Tage 1/65 aus der Summe der zu berücksichtigenden Entgeltbestandteile, die für den Berechnungszeitraum zugestanden haben. Maßgebend ist die Verteilung der Arbeitszeit zu Beginn des Berechnungszeitraums. Bei einer abweichenden Verteilung der Arbeitszeit ist der Tagesdurchschnitt entsprechend Satz 1 und 2 zu ermitteln. Sofern während des Berechnungszeitraums bereits Fortzahlungstatbestände vorlagen, bleiben die in diesem Zusammenhang auf Basis der Tagesdurchschnitte zustehenden Beträge bei der Ermittlung des Durchschnitts nach Satz 2 unberücksichtigt. 3. Tritt die Fortzahlung des Entgelts nach einer allgemeinen Entgeltanpassung ein, ist die/der Beschäftigte so zu stellen, als sei die Entgeltanpassung bereits mit Beginn des Berechnungszeitraums eingetreten.

§ 22 TVöD Entgelt im Krankheitsfall (1) Werden Beschäftigte durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an der Arbeitsleistung verhindert, ohne dass sie ein Verschulden trifft, erhalten sie bis zur Dauer von sechs Wochen das Entgelt nach § 21. Bei erneuter Arbeitsunfähigkeit infolge derselben Krankheit sowie bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses gelten die gesetzlichen Bestimmungen. Als unverschuldete Arbeitsunfähigkeit im Sinne der Sätze 1 und 2 gilt auch die Arbeitsverhinderung in Folge einer Maßnahme der medizinischen Vorsorge und Rehabilitation im Sinne von § 9 EFZG. Protokollerklärung zu Absatz 1 Satz 1: Ein Verschulden liegt nur dann vor, wenn die Arbeitsunfähigkeit vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt wurde.

(2) Nach Ablauf des Zeitraums gemäß Absatz 1 erhalten die Beschäftigten für die Zeit, für die ihnen Krankengeld oder entsprechende gesetzliche Leistungen gezahlt werden, einen Krankengeldzuschuss in Höhe des Unterschiedsbetrags zwischen den tatsächlichen Barleistungen des Sozialleistungsträgers und dem Nettoentgelt. Nettoentgelt ist das um die gesetzlichen Abzüge verminderte Entgelt im Sinne des § 21 (mit Ausnahme der Leistungen nach § 23 Abs. 1), bei freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherten Beschäftigten ist dabei deren Gesamtkranken- und Pflegeversicherungsbeitrag abzüglich Arbeitgeberzuschuss zu berücksichtigen. Für Beschäftigte, die nicht der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung unterliegen und bei einem privaten Versicherungsunternehmen versichert sind, ist bei der Berechnung des Krankengeldzuschusses der Krankengeldhöchstsatz, der bei Pflichtversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung zustünde, zugrunde zu legen. Bei Teilzeitbeschäftigten ist das nach Satz 3 bestimmte fiktive Krankengeld entsprechend § 24 Abs. 2 zeitanteilig umzurechnen. (3) Der Krankengeldzuschuss wird bei einer Beschäftigungszeit (§ 34 Abs. 3) – von mehr als einem Jahr längstens bis zum Ende der 13. Woche und – von mehr als drei Jahren längstens bis zum Ende der 39. Woche 416

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Entgeltfortzahlung

Rz. 3 Teil 5 (12)

seit dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit infolge derselben Krankheit gezahlt. Maßgeblich für die Berechnung der Fristen nach Satz 1 ist die Beschäftigungszeit, die im Laufe der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit vollendet wird. (4) Entgelt im Krankheitsfall wird nicht über das Ende des Arbeitsverhältnisses hinaus gezahlt; § 8 EFZG bleibt unberührt. Krankengeldzuschuss wird zudem nicht über den Zeitpunkt hinaus gezahlt, von dem an Beschäftigte eine Rente oder eine vergleichbare Leistung auf Grund eigener Versicherung aus der gesetzlichen Rentenversicherung, aus einer zusätzlichen Alters- und Hinterbliebenenversorgung oder aus einer sonstigen Versorgungseinrichtung erhalten, die nicht allein aus Mitteln der Beschäftigten finanziert ist. Innerhalb eines Kalenderjahres kann das Entgelt im Krankheitsfall nach Absatz 1 und 2 insgesamt längstens bis zum Ende der in Absatz 3 Satz 1 genannten Fristen bezogen werden; bei jeder neuen Arbeitsunfähigkeit besteht jedoch mindestens der sich aus Absatz 1 ergebende Anspruch. Überzahlter Krankengeldzuschuss und sonstige Überzahlungen gelten als Vorschuss auf die in demselben Zeitraum zustehenden Leistungen nach Satz 2; die Ansprüche der Beschäftigten gehen insoweit auf den Arbeitgeber über. Der Arbeitgeber kann von der Rückforderung des Teils des überzahlten Betrags, der nicht durch die für den Zeitraum der Überzahlung zustehenden Bezüge im Sinne des Satzes 2 ausgeglichen worden ist, absehen, es sei denn, die/der Beschäftigte hat dem Arbeitgeber die Zustellung des Rentenbescheids schuldhaft verspätet mitgeteilt.

III. Kommentierung 1. Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall a) Unabdingbare Regelungen Der grundsätzliche materielle Schutz des Arbeitnehmers im Falle der Krankheit folgt aus dem EFZG, das die Fortzahlung des Arbeitsentgelts für die ersten sechs Wochen der Krankheit sichert. Gleichwohl haben tarifliche Regelungen zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall hohe praktische Bedeutung. Das folgte früher daraus, dass die materielle Absicherung der Arbeiter gegen die Risiken krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit nicht durch Gesetz geregelt war, sondern allein durch den TV erfolgen musste. Mittlerweile ist der Unterschied zwischen Angestellten und Arbeitern weitgehend beseitigt und in der Frage der Entgeltfortzahlung sind beide Arbeitnehmergruppen gleichgestellt. Gleichwohl sind damit tarifliche Regelungen für den Krankheitsfall nicht bedeutungslos geworden, sondern nach wie vor aktuell. So sind zwar die Regelungen des EFZG gemäß dessen § 12 unabdingbar mit der Folge, dass von den Vorschriften des Gesetzes nicht zuungunsten der Arbeitnehmer abgewichen werden kann. Dies gilt etwa in Bezug auf den grundsätzlichen Entgeltfortzahlungsanspruch von sechs Wochen sowie die Behandlung von wiederholten und Mehrfacherkrankungen (§ 3 Abs. 1 EFZG), die Wartezeit des § 3 Abs. 3 EFZG, die Behandlung von Sterilisation und Schwangerschaftsabbruch (§ 3 Abs. 2 EFZG) sowie die Gleichstellung von Maßnahmen der medizinischen Vorsorge

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Teil 5 (12)

Rz. 4

Entgeltfortzahlung

und Rehabilitation (§ 9 EFZG)1. Infolge der Unabdingbarkeit sind etwa Regelungen unwirksam, die im Krankheitsfalle eine nicht ausreichende Gutschrift auf das Arbeitszeitkonto vorsehen2. Dasselbe gilt für eine Tarifregelung, die dem Arbeitgeber das Recht einräumt, für jeden Tag der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall den Arbeitnehmer 1,5 Stunden nacharbeiten zu lassen oder diese Stundenzahl von dessen Arbeitszeitkonto abzuziehen3. Dagegen steht § 12 EFZG der Anwendung einer tariflichen Ausschlussfrist auf den Entgeltfortzahlungsanspruch nach Ansicht des LAG Hamm nicht entgegen, weil die tarifliche Ausschlussfrist nicht den Inhalt des Anspruchs betreffe, sondern dessen Geltendmachung und zeitliche Begrenzung4. Ferner bezieht sich die Unabdingbarkeit nach § 12 EFZG nur auf die Vorschriften „dieses Gesetzes“, mithin des EFZG selbst. In anderen Gesetzen können Bestimmungen zur Entgeltfortzahlung in anderen Fällen damit auch anders geregelt werden5. Dies kann etwa die Fortzahlung der Vergütung im Falle kurzfristiger Verhinderung nach § 616 BGB betreffen; vgl. dazu fi (4) Arbeitsverhinderung, Rz. 16.

b) Tariflicher Gestaltungsspielraum 4

Zugunsten der Arbeitnehmer kann von den Bestimmungen des EFZG ohnehin abgewichen werden, sei es durch einen TV, eine Betriebsvereinbarung oder auch einen Arbeitsvertrag6. Von der Unabdingbarkeit macht § 12 EFZG eine Ausnahme zugunsten der TV-Parteien. Gemäß § 4 Abs. 4 EFZG dürfen TVe von den in § 4 Abs. 1, Abs. 1a und Abs. 3 EFZG enthaltenen Bestimmungen zur Bemessungsgrundlage des fortzuzahlenden Arbeitsentgelts abweichen, und zwar auch zum Nachteil der Arbeitnehmer7. Eine zu Lasten der Arbeitnehmer abweichende Regelung durch Betriebsvereinbarung oder Arbeitsvertrag ist dagegen unzulässig. Möglich ist jedoch eine tarifvertragliche Öffnungsklausel für Betriebsvereinbarungen, die sich ihrerseits im Rahmen des EFZG bewegen müssen8. Von der (verfassungskonformen)9 Ermächtigung des § 4 Abs. 4 EFZG wird in der Praxis weitreichend Gebrauch gemacht10. Zur Bemessungsgrundlage zählen die Berechnungsmethode und die Berechnungsgrundlage11.

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Als Berechnungsmethode kommt entweder das Entgeltausfallprinzip oder das Referenzperiodenprinzip in Betracht. § 4 Abs. 1 EFZG selbst geht vom Entgeltausfallprinzip aus, indem er auf das dem Arbeitnehmer zustehende Arbeitsent1 2 3 4 5 6 7 8

Vgl. auch ErfK/Dörner, § 4 EFZG Rz. 27. BAG v. 13.2.2002 – 5 AZR 470/00, NZA 2002, 683. BAG v. 26.9.2001 – 5 AZR 539/00, NZA 2002, 387. LAG Hamm v. 19.1.2005 – 18 Sa 1173/04. ErfK/Dörner, § 12 EFZG Rz. 3; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 837. ErfK/Dörner, § 4 EFZG Rz. 23. MünchArbR/Schlachter, § 78 Rz. 3; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 552. BAG v. 1.12.2004 – 5 AZR 68/04, NZA 2005, 1315; Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Entgeltfortzahlung Rz. 7. 9 BAG v. 26.9.2001 – 5 AZR 539/00, NZA 2002, 387. 10 So auch die Einschätzung von Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 552. 11 BAG v. 20.1.2010 – 5 AZR 53/09, NZA 2010, 455 Rz. 12; BAG v. 26.9.2001 – 5 AZR 539/00, NZA 2002, 387; Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Entgeltfortzahlung Rz. 3.

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Entgeltfortzahlung

Rz. 6 Teil 5 (12)

gelt abstellt und ihn fiktiv so behandelt, als hätte er gearbeitet1. Das Referenzperiodenprinzip dagegen löst sich von der fiktiven Betrachtung des Ausfallzeitraums und stellt bei der Berechnung des fortzuzahlenden Entgelts auf das Arbeitsentgelt ab, das in einem bestimmten Zeitraum vor dem Eintritt der Arbeitsunfähigkeit (in der Referenzperiode) verdient wurde (vgl. dazu § 21 TVöD, oben Rz. 2). Das Referenzperiodenprinzip wird in der Praxis häufig dort angewandt, wo das fiktive Entgelt während der Ausfallzeit schwer zu bestimmen ist, weil es Schwankungen unterliegt. Dies gilt etwa bei Arbeitnehmern in Vertriebstätigkeiten, deren Entgelt häufig einen variablen Anteil enthält, der auf kurzfristig laufenden Zielvereinbarungen basiert. Ähnlich kann es bei Tätigkeiten im Akkord sein. Wollen die TV-Parteien das Entgeltausfallprinzip durch das Referenzperiodenprinzip ersetzen, so bedarf es hierzu einer klaren Regelung. Soweit es daran mangelt, kommt das Entgeltausfallprinzip wieder zur Anwendung. So weicht etwa § 21 Satz 2 TVöD (vgl. oben Rz. 2) im Fall der Entgeltfortzahlung nach Änderung der Arbeitszeit von dem gesetzlich angeordneten Entgeltausfallprinzip nur dann ab, wenn zwischen der Arbeitszeitänderung und dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit mindestens ein voller Kalendermonat liegt. Andernfalls verbleibt es beim Entgeltausfallprinzip des EFZG2. Durch die Festlegung der Berechnungsgrundlage können die TV-Parteien Umfang und Bestandteile des zugrunde zu legenden Arbeitsentgelts regeln3. Die Berechnungsgrundlage beinhaltet neben den Geldfaktoren der Entlohnung auch die Zeitfaktoren, soweit sie nicht schon bei der Berechnungsmethode berücksichtigt werden. Der Geldfaktor umfasst alle Bestandteile des Entgelts wie Grundgehalt, Prämien, variable Entgeltbestandteile, Zulagen etc. Bis auf das Grundgehalt können grundsätzlich alle einzelnen Bestandteile, aus denen sich der Entgeltfaktor zusammensetzt, bei der Entgeltfortzahlung durch einen TV modifiziert werden. Allerdings sind die TV-Parteien an den Grundsatz der vollen Entgeltfortzahlung (100 %) im Krankheitsfall gemäß § 4 Abs. 1 EFZG gebunden4. Dies bedeutet zwar nicht, dass alle Vergütungsbestandteile (selbst wenn sie regelmäßig gezahlt werden) in die Entgeltfortzahlung einzurechnen sind. Die den TV-Parteien durch § 4 Abs. 4 EFZG eingeräumte Gestaltungsmacht findet ihre Grenze aber dort, wo der Entgeltfortzahlungsanspruch in seiner Substanz angetastet wird5. Zulässig ist es, wenn die TV-Parteien tarifliche Zuschläge, die im Arbeitsverhältnis regelmäßig anfallen (etwa Zuschläge für regelmäßige Nachtarbeit), von der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ausnehmen. Sie müssen auch bei einer Mehrzahl tariflicher Zuschläge, von denen einige regelmäßig und andere unregelmäßig aufgrund einzelner Anordnung anfallen, nicht einzelne hiervon bei der Entgeltfortzahlung bestehen lassen. Wenn die TV-Parteien einzelne Entgeltbestandteile ausklammern, ist die

1 Vgl. BAG v. 20.1.2010 – 5 AZR 53/09, NZA 2010, 455 Rz. 11; Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Entgeltfortzahlung Rz. 4. 2 BAG v. 20.1.2010 – 5 AZR 53/09, NZA 2010, 455 Rz. 13. 3 Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 552. 4 BAG v. 13.3.2002 – 5 AZR 648/00, NZA 2002, 744 Rz. 21. 5 BAG v. 24.3.2004 – 5 AZR 346/03, NZA 2004, 1042 Rz. 32; Däubler/Winter, § 1 TVG Rz. 473; ErfK/Dörner, § 4 EFZG Rz. 23.

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Teil 5 (12)

Rz. 7

Entgeltfortzahlung

Grundvergütung in vollem Umfang in die Entgeltfortzahlung einzubeziehen1. Auch kann abweichend vom Gesetz durch TV geregelt werden, dass sich die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nicht nach der individuellen regelmäßigen Arbeitszeit des Arbeitnehmers, sondern nach der regelmäßigen tariflichen Arbeitszeit bestimmt2.

c) Regelungen in der Praxis 7

Im Ergebnis ist das Grundgehalt für tarifliche Regelungen unantastbar, so dass sich die Tarifverhandlungen zu Regelungen der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall auf die sonstigen Entgeltbestandteile konzentrieren müssen, wie etwa Prämien, Zuschläge oder Zulagen. Noch weitgehend ungeklärt ist die Behandlung variabler Entgeltbestandteile. Soweit der variable Entgeltanteil eine Leistung außerhalb eines fest definierten Grundgehalts darstellt, dürfte er von der Entgeltfortzahlung ausgenommen werden. Anders ist es aber, wenn der variable Teil des Entgelts Bestandteil des sog. Zielentgeltes ist. Da das Zielentgelt (in aller Regel ein Jahreszielentgelt) das Entgelt ist, das der Arbeitnehmer bei einer „voll guten“ Leistung erreichen soll, spricht mehr dafür, den variablen Anteil als Bestandteil der „vollen“ Entgeltfortzahlung zu betrachten mit der Folge, dass er lediglich für die Berechnungsmethode modifiziert werden kann, nicht dagegen für die Berechnungsgrundlage.

8

In der Praxis finden sich in den TVen vielfach Regelungen zur Höhe des fortzuzahlenden Entgelts, wobei diese meist inhaltsgleich mit den Bestimmungen des EFZG formuliert sind3. Ob es sich hierbei um eine konstitutive oder eine deklaratorische Regelung handelt, ist zurzeit aufgrund der 100%igen Entgeltfortzahlung von untergeordneter Bedeutung. Anders war dies unter der Geltung des Arbeitsrechtlichen Beschäftigungsförderungsgesetzes von 1996, das die gesetzliche Entgeltfortzahlung von 100 % auf 80 % des Arbeitsentgelts absenkte4. Zwar ist anerkannt, dass eine tarifliche Regelung bei hinreichend eindeutiger Formulierung den Leistungsanspruch gegen den Arbeitgeber auch gegen etwaige Gesetzesänderungen absichern kann, doch ist dafür ein eigenständiger Regelungswille der TV-Parteien erforderlich5. Die dazu ergangene Rechtsprechung ist eher restriktiv. Danach bleibt es bei einer deklaratorische Klausel, „wenn der Wille der TV-Parteien zu einer gesetzesunabhängigen eigenständigen Tarifregelung im TV keinen hinreichend erkennbaren Ausdruck gefunden hat“6. Dabei wurde ein eigenständiger Regelungswille der Tarifpartner abgelehnt, wenn die Regelungen nur eine Verweisung auf die Gesetzesnorm ent1 BAG v. 13.3.2002 – 5 AZR 648/00, NZA 2002, 744 Rz. 21 ff., Rz. 26. 2 BAG v. 24.3.2004 – 5 AZR 346/03, NZA 2004, 1042; BAG v. 18.11.2009 – 5 AZR 975/08, NZA 2010, 472. 3 So auch MünchArbR/Schlachter, § 72 Rz. 4. 4 BGBl. I 1996, S. 1476. 5 So auch MünchArbR/Schlachter, § 72 Rz. 4; ausführlich dazu Rieble, RdA 1997, 134 ff. 6 BAG v. 27.8.1982 – 7 AZR 190/80, AP Nr. 133 zu § 1 TVG Auslegung; BAG v. 5.10.1995 – 2 AZR 1028/94, AP Nr. 48 zu § 622 BGB; BAG v. 14.2.1996 – 2 AZR 201/95, AP Nr. 50 zu § 622 BGB; BAG v. 14.2.1996 – 2 AZR 166/95, AP Nr. 21 zu § 1 TVG Tarifverträge: Textilindustrie.

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Rz. 9 Teil 5 (12)

hielten1. Dasselbe soll aber auch bei wort- oder inhaltsgleicher Übernahme der einschlägigen Vorschriften gelten, wenn nicht zusätzliche Anhaltspunkte vorliegen, die auf den Willen zur Schaffung einer gesetzesunabhängigen Regelung schließen lassen2. Entgegen der Ansicht der Rechtsprechung sieht die überwiegende Meinung im Schrifttum im Zweifel eine eigenständige tarifliche Regelung als gewollt an3. Durch die Rückkehr zur 100 %-Regelung seit dem 1.1.1999 über das „Korrekturgesetz“4 hat der Streit seine praktische Relevanz verloren. Überwiegend sichern die TVe in erster Linie das Leistungsniveau des EFZG. Darüber hinaus werden in einigen TVen zusätzliche Leistungen gewährt, die typischerweise in einem Zuschuss zum Krankengeld nach Ablauf der sechswöchigen Entgeltfortzahlungsfrist bestehen. Nach diesem Zeitraum besteht regelmäßig ein Anspruch des gesetzlich oder freiwillig sozialversicherten Beschäftigten gegen die Krankenkasse auf Zahlung von Krankengeld. Krankengeld wird gemäß § 47 Abs. 1 Satz 1 SGB V in Höhe von 70 % desjenigen regelmäßigen Arbeitsentgelts gezahlt, das der Beitragsberechnung unterliegt und für max. 78 Wochen innerhalb von drei Jahren gewährt. Durch den Zuschuss zum Krankengeld wird dieser Leistungsumfang aufgestockt, um den Abstand zum entgangenen regelmäßigen Arbeitsverdienst auszugleichen (vgl. § 22 Abs. 2 TVöD, oben Rz. 2). Dabei wird der Krankengeldzuschuss oft für unterschiedliche Zeiträume gewährt, wobei die Länge des jeweiligen Gewährungszeitraums in aller Regel von der Dauer der Betriebszugehörigkeit abhängt (vgl. § 22 Abs. 2 TVöD, oben Rz. 2)5. Welche Betriebszugehörigkeit für die Dauer des Krankengeldzuschusses maßgeblich ist, hängt von der Formulierung der Tarifregelung ab. Ist dazu nichts Besonderes geregelt, kommt es auf die vollendete Betriebszugehörigkeit bei Beginn der Arbeitsunfähigkeit an. Wird während einer bestehenden Arbeitsunfähigkeit eine eigentlich zu einer längeren Bezugszeit berechtigende Betriebszugehörigkeit vollendet, hat dies auf die laufende Bezugszeit des Zuschusses zum Krankengeld keine Auswirkung6. Anders ist es nur dann, wenn eine besondere Regelung auch die Zeiten der Betriebszugehörigkeit erfasst, die während der Krankheit erreicht werden (so § 22 Abs. 3 Satz 2 TVöD, oben Rz. 2). Die Höhe des Krankengeldzuschusses deckt meist den Unterschiedsbetrag zwischen dem Krankengeld und dem bisherigen Netto-Entgelt des Arbeitnehmers ab (vgl. § 22 Abs. 2 TVöD, oben Rz. 2). Keine modifizierenden Regelungen enthalten TVe in aller Regel bezüglich der grundsätzlichen Voraussetzungen der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall gemäß § 3 EFZG. Der Arbeitnehmer hat demnach nur einen Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts, wenn er krank ist, die Krankheit ihn arbeitsunfähig macht, die Arbeitsverhinderung Folge der Arbeitsunfähigkeit ist und er die Ar1 BAG v. 16.6.1998 – 5 AZR 67/97, NZA 1998, 1288. 2 BAG v. 16.6.1998 – 5 AZR 638/97, NZA 1998, 1062. 3 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 836; Rieble, RdA 1997, 134 ff.; MünchArbR/Schlachter, § 72 Rz. 4. 4 BGBl. I 1998, S. 3843. 5 Vgl. auch die tariflichen Regelungen in der Entscheidung des BAG v. 1.7.1998 – 5 AZR 456/97, NZA 1998, 1066. 6 So etwa § 21 Ab. 6 MTV Deutsche Telekom AG.

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beitsunfähigkeit nicht selbst verschuldet hat (vgl. § 22 Abs. 1 TVöD, oben Rz. 2)1.

2. Entgeltfortzahlung bei Urlaub a) Unabdingbare Regelungen 10

Die maßgeblichen gesetzlichen Grundlagen des Urlaubsrechts sind in den §§ 1 bis 3 BUrlG geregelt. Sie betreffen den Urlaubsanspruch als solchen, die Anspruchsberechtigten und die Höhe des gesetzlichen Mindesturlaubs (24 Werktage). Negative Eingriffe in diese Ansprüche sind aufgrund der Unabdingbarkeitsregelung des § 13 BUrlG unzulässig. Das gilt auch und insbesondere für den Grundsatz des bezahlten Erholungsurlaubs nach § 1 BUrlG. Für die Dauer des gesetzlichen Mindesturlaubs ist die ausgefallene Arbeitszeit einschließlich der Mehrarbeitsstunden zu vergüten2. Es gilt nach § 11 BUrlG ein gemischtes System aus Referenz- und Lohnausfallprinzip3 (zu den Berechnungsmethoden vgl. oben Rz. 5). Auch Zuschläge4 und laufende Prämien sind zu berücksichtigen5. Davon kann auch nicht durch TV zuungunsten der Arbeitnehmer abgewichen werden6. Dies folgt auch aus Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG. Außerdem sind Tarifregelungen unzulässig, die für das Urlaubsjahr einen anderen Zeitraum als das Kalenderjahr definieren7 oder dazu führen, dass ein Arbeitnehmer in einem Kalenderjahr keinen Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub erwirbt8. Dasselbe gilt, wenn bestimmte Arbeitnehmer, arbeitnehmerähnliche Personen oder Auszubildende vom Erwerb des Urlaubsanspruchs ausgeschlossen werden9. Haben die TV-Parteien ihren Regelungsspielraum überschritten, sind die entsprechenden Bestimmungen unwirksam mit der Folge, dass an ihre Stelle die gesetzliche Regelung tritt10. Der Urlaubsanspruch in der gesetzlichen Höhe unterliegt selbst auch keiner tariflichen Ausschlussfrist11; anders dagegen das während der urlaubsbedingten Freistellung weitergezahlte Arbeitsentgelt des Arbeitnehmers (Urlaubsentgelt)12.

b) Tariflicher Gestaltungsspielraum 11

Zunächst steht es den TV-Parteien frei, für die Arbeitnehmer günstigere Regelungen als nach dem BUrlG zu vereinbaren13. Dies gilt auch für die Regelung 1 Vgl. dazu etwa ErfK/Dörner, § 3 EFZG Rz. 3 ff.; HWK/Schliemann, § 3 EFZG Rz. 10 ff. 2 BAG v. 22.2.2000 – 9 AZR 107/99, NZA 2001, 268. 3 ErfK/Gallner, § 11 BUrlG Rz. 2a. 4 BAG v. 22.1.2002 – 9 AZR 601/00, NZA 2002, 1041. 5 BAG v. 15.12.2009 – 9 AZR 887/08, NZA-RR 2011, 224. 6 BAG v. 22.2.2000 – 9 AZR 107/99, NZA 2001, 268. 7 Sonderregelungen bestehen für die Bauwirtschaft sowie für ehemalige Staatsunternehmen nach § 13 Abs. 2 und 3 BUrlG. 8 ErfK/Gallner, § 13 BUrlG Rz. 3. 9 ErfK/Gallner, § 13 BUrlG Rz. 3. 10 BAG v. 15.12.2009 – 9 AZR 887/08, NZA-RR 2011, 224; BAG v. 22.1.2002 – 9 AZR 601/00, NZA 2002, 1041; ErfK/Gallner, § 13 BUrlG Rz. 7. 11 ErfK/Gallner, § 13 BUrlG Rz. 8. 12 BAG v. 22.1.2002 – 9 AZR 601/00, NZA 2002, 1041. 13 BAG v. 22.1.2002 – 9 AZR 601/00, NZA 2002, 1041.

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zur Dauer des (bezahlten) Urlaubs nach § 3 Abs. 1 BUrlG, weil es sich hierbei um einen gesetzlichen Mindestanspruch handelt1. Von dieser Möglichkeit macht die Praxis vielfach Gebrauch. Ob eine tarifvertragliche Regelung günstiger ist als die gesetzliche, richtet sich nach dem Günstigkeitsvergleich bezogen auf die einzelnen Bestimmungen. Dabei kommt es auf eine abstrakte Betrachtung der tariflichen Regelung an und nicht ihre konkreten Auswirkungen im Einzelfall2. Gleichwohl müssen die tarifvertraglichen Regelungen individuell für den einzelnen Arbeitnehmer günstiger sein; ein kollektiver Günstigkeitsvergleich bezogen auf die gesamte Belegschaft scheidet aus3. Von der Regelung des § 11 BUrlG können die TV-Parteien auch zu Ungunsten der Arbeitnehmer abweichen. Sie sind frei, jede ihnen als angemessen erscheinende Berechnungsmethode zu wählen und zu pauschalieren4. Allerdings muss die tariflich eigenständige Regelung eindeutig sein5. Unabhängig davon sind die TV-Parteien an den Grundsatz des bezahlten Mindesturlaubs nach §§ 1, 2 und 3 Abs. 1 BUrlG gebunden und dürfen deshalb nur solche Berechnungsmethoden vereinbaren, die geeignet sind, ein Urlaubsentgelt sicherzustellen, wie es der Arbeitnehmer bei der Weiterarbeit ohne Freistellung voraussichtlich hätte erwarten können. Wegen der Tarifautonomie kommt ihnen dabei ein weiter Beurteilungsspielraum zu. Sie dürfen aber keine Berechnungsvorschriften vereinbaren, die zielgerichtet der Kürzung des Urlaubsentgelts dienen. Damit ist es nicht vereinbar, Zuschläge für Sonn-, Feiertags- und Nachtarbeit von der Berechnung des Urlaubsentgelts auszunehmen6. Eine von § 1 BUrlG abweichende, geringere Bemessung des Urlaubsentgelts ist nach § 13 Abs. 1 BUrlG nur auf tarifvertragliche Urlaubsansprüche anwendbar, die über den gesetzlichen Mindesturlaub hinausgehen, wie z.B. ein zusätzliches Urlaubsgeld oder eine überschießende Anzahl von Urlaubstagen7. Regelt ein TV, dass der Urlaub auch nach Ablauf des gesetzlichen Übertragungszeitraums genommen werden kann, sind die TV-Parteien befugt, die Bemessung des Entgelts für diesen Urlaub frei zu gestalten, weil ohne diese tarifvertragliche Bestimmung der Urlaubsanspruch untergegangen wäre8.

3. Entgeltfortzahlung in sonstigen Fällen Die Fortzahlung des Entgelts an Feiertagen regelt § 2 EFZG. Danach hat der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer das Arbeitsentgelt zu zahlen, das er ohne den Arbeitsausfall erhalten hätte. Es gilt also das Entgeltausfallprinzip9. Die Vor1 2 3 4

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ErfK/Gallner, § 13 BUrlG Rz. 4. BAG v. 22.1.2002 – 9 AZR 601/00, NZA 2002, 1041. ErfK/Gallner, § 13 BUrlG Rz. 6. BAG v. 15.12.2009 – 9 AZR 887/08, NZA-RR 2011, 224; BAG v. 22.2.2000 – 9 AZR 107/99, NZA 2001, 268; Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Entgeltfortzahlung Rz. 9. Däubler/Winter, § 1 TVG Rz. 472; Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Entgeltfortzahlung Rz. 9. BAG v. 22.1.2002 – 9 AZR 601/00, NZA 2002, 1041. BAG v. 15.12.2009 – 9 AZR 887/08, NZA-RR 2011, 224. BAG v. 22.2.2000 – 9 AZR 107/99, NZA 2001, 268. ErfK/Dörner, § 2 EFZG Rz. 14.

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schrift ist nicht tarifdispositiv. Fällt ein gesetzlicher Feiertag in einen Zeitraum, in dem der Arbeitnehmer wegen Krankheit arbeitsunfähig ist, so hat er für den Feiertag Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle. Die Höhe der Lohnfortzahlung bemisst sich aber nach der Feiertagsregelung des § 2 Abs. 1 EFZG. Dieser Grundsatz ist im Anschluss an die Rechtsprechung des BAG in § 4 Abs. 2 EFZG positiv geregelt worden1. 13

Hat der Arbeitgeber den Arbeitsausfall im Rahmen der sog. Betriebsrisikolehre zu vertreten2, kann der TV die Folgen des Arbeitsausfalls grundsätzlich frei regeln, da es sich um dispositives Recht handelt3. Daran hat sich durch die positive Regelung des Betriebsrisikos in § 615 Satz 3 BGB durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz nichts geändert, da § 615 BGB insgesamt dispositiv ist4. Der TV kann den Arbeitnehmer also zur Nacharbeit verpflichten oder die Entgeltfortzahlung beschränken. Die Abweichung muss dem TV aber eindeutig zu entnehmen sein, um den Arbeitgeber von der Entgeltzahlung in Fällen des Betriebsrisikos zu befreien5. Es reicht nicht aus, wenn eine Tarifbestimmung regelt, dass die Arbeitszeit zu vergüten ist, die infolge eines vom Arbeitgeber zu vertretenden Umstandes ausfällt, und eine andere Tarifbestimmung für den Fall des beiderseits unverschuldeten Arbeitsausfalls die Gelegenheit gibt, die ausgefallene Arbeitszeit „zur Vermeidung von Lohnausfällen“ nachzuarbeiten. Damit ist ein Abweichen von den Grundsätzen der Betriebsrisikolehre nicht eindeutig vereinbart6. Teilweise Begrenzungen des Betriebsrisikos finden sich regelmäßig etwa für bestimmte witterungsbedingte Arbeitsausfälle im Baugewerbe7. Durch solche Regelungen werden aber andere Fälle des Betriebsrisikos nicht erfasst. Besagt eine Tarifbestimmung, dass nur geleistete Arbeit bezahlt werde, schließt dies im Zweifel nur den Entgeltanspruch nach § 616 BGB für Fälle der persönlichen Verhinderung des Arbeitnehmers aus, nicht aber den Entgeltanspruch im Fall des Betriebsrisikos8. Eine abweichende Regelung, die u.U. auch eine Verpflichtung zur Nacharbeit vorsieht, enthält der VW-Tarifvertrag 5000 × 5000 mit der IG-Metall vom 1.1.2002. Dieser bestimmt: „Fällt die Arbeit aus Gründen aus, die der Arbeitgeber zu vertreten hat, und wird arbeitgeberseitig keine Gelegenheit gegeben, die ausgefallene Arbeit nachzuholen, wird die Vergütung längstens bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses fortgezahlt. Während des Arbeitsausfalls und/oder der Nachholarbeit sind die Beschäftigten verpflichtet, eine andere zumutbare Tätigkeit auszuführen.“

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Grundsätzlich besteht die Pflicht zur Entgeltfortzahlung auch in den Fällen der vorübergehenden persönlichen Verhinderung gemäß § 616 BGB. Allerdings ist 1 Vgl. BAG v. 19.4.1989 – 5 AZR 248/88, NZA 1989, 715. 2 Dazu instruktiv ErfK/Preis, § 615 BGB Rz. 120 ff. 3 BAG v. 8.12.1982 – 4 AZR 143/80, DB 1983, 395; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 383; Däubler/Winter, § 1 TVG Rz. 476; Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Entgeltfortzahlung Rz. 11. 4 ErfK/Preis, § 615 BGB Rz. 130. 5 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 838. 6 BAG v. 9.3.1983 – 4 AZR 301/80, DB 1983, 1496 Rz. 22. 7 Vgl. etwa BAG v. 25.1.2012 – 5 AZR 671/10. 8 BAG v. 8.3.1961 – 4 AZR 223/59, DB 1961, 747 Rz. 17; BAG v. 18.5.1999 – 9 AZR 13/98, NZA 1999, 1166 Rz. 26; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 838.

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auch § 616 BGB abdingbar mit der Folge, dass der Anspruch beschränkt oder ganz ausgeschlossen werden kann. Siehe dazu ausführlich fi (4) Arbeitsverhinderung.

(13) Kurzarbeitsregelungen Literatur: Bauer/Günther, Ungelöste Probleme bei Einführung von Kurzarbeit, BB 2009, 662; Buschmann/Ulber J., Flexibilisierung: Arbeitszeit – Beschäftigung, 1989; Cohnen/ Röger, Kurzarbeit als Antwort auf kurzfristig auftretende Konjunkturschwankungen, BB 2009, 46; Dendorfer/Krebs, Kurzarbeit und Kurzarbeitergeld – Überblick unter Berücksichtigung des Konjunkturpakets II, DB 2009, 902; Heinze, Die arbeitsrechtliche Zulässigkeit der Einführung von Kurzarbeit, RdA 1998, 14; Säcker/Oetker, Tarifliche Kurzarbeits-Ankündigungsfristen im Gefüge des Individualarbeitsrechts und des kollektiven Arbeitsrechts, ZfA 1991, 131; Schaub/Schindele, Kurzarbeit – Massenentlassung – Sozialplan, 3. Aufl. 2011; Voelzke, Das Eingliederungschancengesetz – neue Regeln für das Arbeitsförderungsrecht, NZA 2012, 177; Zabel, Anm. zu ArbG Elmshorn v. 11.1.2010, ArbuR 2011, 263.

I. Zweck und Kontext Kurzarbeit ist das vorübergehende teilweise Ruhen von Arbeits- und Entgeltzahlungspflicht. Der Arbeitnehmer wird teilweise von seiner Verpflichtung zur Arbeitsleistung befreit, erhält aber auch nur ein entsprechend reduziertes Arbeitsentgelt. Die wechselseitigen Leistungsverpflichtungen werden durch die Kurzarbeit beschränkt. Kompensatorisch kann ein Anspruch auf Kurzarbeitergeld nach den §§ 169 ff. SGB III a.F. bestehen. Diese sind durch das „Gesetz zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt“1 mit Wirkung vom 1.4.2012 in die §§ 95 ff. SGB III verschoben worden.

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Aufgrund des Beschäftigungsanspruchs des Arbeitnehmers bedarf der Arbeitgeber zur Einführung von Kurzarbeit einer Rechtsgrundlage2. Diese kann sich aus Gesetz (z.B. § 19 KSchG), TV, Betriebsvereinbarung oder dem Arbeitsvertrag3 ergeben4. Fehlt es an einer solchen Rechtsgrundlage, bedarf es einer Änderungskündigung5. Das Direktionsrecht des Arbeitgebers allein reicht zur Anordnung von Kurzarbeit nicht aus6. Ordnet der Arbeitgeber ohne Rechtsgrundlage Kurzarbeit an, kann der Arbeitnehmer wegen Annahmeverzugs des Arbeitgebers (§ 615 Satz 1 BGB) den vollen Lohnanspruch geltend machen7.

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1 V. 20.12.2011, BGBl. I., 2854; vgl. dazu Voelzke, NZA 2012, 177 ff. 2 BAG v. 17.1.1995 – 1 AZR 283/94, n.v. 3 Zur Klauselgestaltung vgl. Preis/Lindemann in Preis, Der Arbeitsvertrag, II A 90 Rz. 79 ff. 4 BAG v. 18.10.1994 – 1 AZR 503/93, NZA 1995, 1064; BAG v. 27.1.1994 – 6 AZR 541/93, NZA 1995, 134 (135). 5 BAG v. 14.2.1991 – 2 AZR 415/90, NZA 1991, 607; BAG v. 12.10.1994 – 7 AZR 398/93, NZA 1995, 641 (642); vgl. dazu Bauer/Günther, BB 2009, 662 (665 ff.). 6 BAG v. 18.10.1994 – 1 AZR 503/93, NZA 1995, 1064. 7 BAG v. 27.1.1994 – 6 AZR 541/93, NZA 1995, 134 (135).

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Rz. 3

Kurzarbeitsregelungen

Tarifvertragliche Regelungen zur Kurzarbeit sind überaus vielfältig. Wegen ihrer engen Verzahnung mit den Vorschriften des SGB III sind sie oftmals Ausdruck der „Arbeitsteilung“1 zwischen Arbeitsrecht und Sozialversicherungsrecht. TVe zur Kurzarbeit sehen sowohl Regelungen zum „ob“ als auch zum „wie“ der Einführung von Kurzarbeit vor. Die Regelungen betreffen im Wesentlichen folgende Sachverhalte: – Verfahrensregelungen zur Einführung von Kurzarbeit: Die entsprechenden TVe sehen in der Regel eine Erlaubnis für die Betriebspartner vor, Kurzarbeit einzuführen. Dies wird regelmäßig verbunden mit einem Zustimmungserfordernis des Betriebsrats. Es kann aber auch die Einführung durch Betriebsvereinbarung verlangt werden, oder lediglich ein Anhörungsrecht vorgesehen sein. – Ankündigungsfristen für die Einführung von Kurzarbeit. – Regelungen zum Entgeltanspruch der Arbeitnehmer während der Kurzarbeit; häufig verbunden mit einem Anspruch auf Zuschuss zum Kurzarbeitergeld. Dabei können auch die Auswirkungen der Kurzarbeit auf den Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, auf Urlaubsgeld oder sonstige tarifvertragliche Ansprüche mit Entgeltbezug gesondert geregelt sein. – Sonderregelungen für Arbeitnehmer, denen vor oder während der Einführung der Kurzarbeit gekündigt wurde. – Sonderkündigungsrechte für die Arbeitnehmer. Einen Sonderfall bilden tarifvertragliche Regelungen zur Kurzarbeit bei Schlechtwetter (Saisonkurzarbeit; vgl. dazu fi (18) Schlechtwetterklauseln).

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Die Befugnisse der TV-Parteien zur Zulassung von Kurzarbeit sind nicht schrankenlos. Eine Bestimmung, die dem Arbeitgeber das Recht einräumt, einseitig Kurzarbeit einzuführen, ist wegen Verstoßes gegen das nicht tarifdispositive Kündigungsschutzrecht, das auch vor einer Änderung der Arbeitsbedingungen schützt, unwirksam2. Vielmehr muss der TV Regelungen über die Voraussetzungen, unter denen die Kurzarbeit eingeführt werden darf, z.B. über deren zulässigen Umfang oder ihre zulässige Höchstdauer, enthalten3. Wie hoch die Regelungsdichte sein muss, ist nach der Rechtsprechung des BAG offen. Ein Mindestmaß an Bestimmtheit und Bindung des Arbeitgebers darf aber jedenfalls nicht unterschritten werden4. Eine Besonderheit besteht bei Kurzarbeit im Bereich der Leiharbeit, da hier aufgrund § 96 (bis 31.3.2012: § 170) Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 SGB III der Arbeitsausfall in verleihfreien Zeiten das typische Unternehmerrisiko darstellt5. § 11 Abs. 4 Satz 3 AÜG, der dies abwei1 Seiter, FS 25 Jahre BSG, 1979, S. 515 (516). 2 BAG v. 27.1.1994 – 6 AZR 541/93, NZA 1995, 134 (135); BAG v. 18.10.1994 – 1 AZR 503/93, NZA 1995, 1064 (1066). 3 Dendorfer/Krebs, DB 2009, 902. 4 Dies gilt auch mit Blick auf Betriebsvereinbarungen, LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 20.7.2006 – 1 Sa 34/06; Dendorfer/Krebs, DB 2009, 902. 5 BSG v. 21.7.2009 – B 7 AL 3/08 R, NZS 2010, 292; Ulber/J. Ulber, § 11 AÜG Rz. 120; vgl. auch J. Ulber, AiB 2009, 133 ff.

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Kurzarbeitsregelungen

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chend hiervon ausnahmsweise zuließ, war in seiner Wirkung bis zum 31.3.2012 befristet. Diese Frist wurde durch das „Gesetz zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt“1 auf den 31.12.2011 verkürzt. Die TV-Parteien binden bei der tarifvertraglichen Zulassung von Kurzarbeit die Betriebspartner in unterschiedlicher Weise ein. So wird die Einführung von Kurzarbeit von einer Zustimmung des Betriebsrats, seiner Anhörung oder dem Abschluss einer Betriebsvereinbarung zur Einführung von Kurzarbeit abhängig gemacht. Soweit eine tarifvertragliche Zulassungsnorm existiert, soll nach der Rechtsprechung des BAG das Mitbestimmungsrecht auch durch eine Regelungsabrede gewahrt werden können. Im Verhältnis zu den Arbeitnehmern reicht eine Regelungsabrede allerdings nicht aus, um Kurzarbeit einzuführen2. Auswirkungen auf das notwendige Maß an Bestimmtheit einer Betriebsvereinbarung hat die Form der Beteiligung des Betriebsrats grundsätzlich nicht. Seine Beteiligung ist aufgrund des Mitbestimmungsrechts nach § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG ohnehin erforderlich und kann daher zur Begründung abgesenkter inhaltlicher Anforderungen an die tarifvertragliche Zulassung von Kurzarbeit nicht herangezogen werden3. Setzt ein TV die Beteiligung des Betriebsrats voraus, so kann in betriebsratslosen Betrieben auf tarifvertraglicher Grundlage keine Kurzarbeit eingeführt werden. Insoweit ist eine Sonderregelung für betriebsratslose Betriebe erforderlich. Die Praxis weicht hiervon teilweise ohne normative Grundlage ab. Wird die Möglichkeit, trotz fehlenden Betriebsrats Kurzarbeit einführen zu können, von den TV-Parteien gewünscht, so müssen sie dies hinreichend deutlich zum Ausdruck bringen.

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Inhaltlich sehen die TV-Parteien in aller Regel nur einen mehr oder weniger großen, nicht abschließenden, Rahmen für die Betriebspartner vor. Der TV schafft im Regelfall lediglich die Möglichkeit der Einführung von Kurzarbeit unter bestimmten Voraussetzungen. Das Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG wird dadurch grundsätzlich nicht ausgeschlossen4. Dieses kann aber nur innerhalb der Schranken des TVes ausgeübt werden. Gleichwohl bleibt die Ausgestaltung mit Blick auf die konkreten betrieblichen Besonderheiten möglich. Kein Mitbestimmungsrecht besteht nur dann, wenn der TV – was praktisch unüblich ist – eine umfassende und abschließende Regelung beinhaltet (vgl. § 87 Abs. 1 Einls. BetrVG), die vom Arbeitgeber nur noch vollzogen werden muss5 und dem Schutzzweck des verdrängten Mitbestimmungsrechts genügt. Die TV-Parteien können das Mitbestimmungsrecht nicht ausschließen, ohne die mitbestimmungspflichtige Angelegenheit selbst zu regeln6.

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V. 20.12.2011, BGBl. I., 2854; vgl. dazu Voelzke, NZA 2012, 177 ff. BAG v. 14.2.1991 – 2 AZR 15/90, NZA 1991, 607. A.A. insoweit Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Kurzarbeit Rz. 6. BAG v. 25.11.1981 – 4 AZR 271/79, DB 1982, 909; ArbG Elmshorn v. 11.1.2010 – 4 BV 67c/09, ArbuR 2011, 263 m. Anm. Zabel; vgl. aber BAG v. 5.3.1974 – 1 ABR 28/73, AP Nr. 1 zu § 87 BetrVG 1972 Kurzarbeit m. Anm. Wiese. 5 BAG v. 5.3.1974 – 1 ABR 28/73, AP Nr. 1 zu § 87 BetrVG 1972 Kurzarbeit m. Anm. Wiese. 6 LAG Berlin-Brandenburg v. 9.10.2009 – 14 Sa 1173/09, NZA-RR 2010, 244 (245).

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Rz. 7

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Soweit der TV Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis mit Blick auf die Kurzarbeit regelt, ist man sich darüber einig, dass das Günstigkeitsprinzip (Teil 9 Rz. 140 ff.) dem im Ergebnis nicht entgegensteht. Eine Begründung für diese Auffassung bleibt regelmäßig aus1. Unter Anwendung des Günstigkeitsprinzips wird bisweilen vertreten, dass Kurzarbeit die gegenüber einer ansonsten notwendigen Kündigung günstigere Alternative darstelle2. Ob sich diese Begründung mit der Rechtsprechung des BAG zum Sachgruppenvergleich (Teil 9 Rz. 171 ff.) vereinbaren lässt, erscheint zweifelhaft. Man kann die absolut h.M3., dass das Günstigkeitsprinzip der Einführung von Kurzarbeit im Ergebnis nicht entgegen stehen soll, zwar aus Praktikabilitätsgründen nachvollziehen. Unproblematisch ist Kurzarbeit aber nur dann zulässig, wenn Arbeitszeit und Entgelt im Arbeitsvertrag nicht eigenständig geregelt sind, sondern sich alleine aus einer Bezugnahme auf den TV ergeben4. Dann haben die TV-Parteien ohne Weiteres die Möglichkeit, diese tarifvertraglichen Ansprüche auszugestalten. Ungeachtet dieser Bedenken könnte erwogen werden, bei Betriebsvereinbarungen auf Grundlage von § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG das Günstigkeitsprinzip deshalb nicht zur Anwendung zu bringen, weil der Gesetzgeber insoweit eine Eingriffsbefugnis in den Arbeitsvertrag geschaffen hat5. Soweit eine Betriebsvereinbarung auf einer tarifvertraglichen Zulassungsnorm basiert, kann die hochproblematische Frage, ob der Arbeitsvertrag betriebsvereinbarungsoffen ist6 oder ob auch insoweit das Günstigkeitsprinzip greift7, dahinstehen. Grundlage für die Zulassung der Kurzarbeit bleibt dann der TV. Ungeachtet dessen ist der Praxis aufgrund der alles andere als konsistenten Rechtsprechung in diesem Bereich anzuraten, die Arbeitsverträge hinsichtlich der Kurzarbeit zumindest betriebsvereinbarungsoffen zu gestalten.

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Mit Blick auf die Rechtsnatur der Tarifnormen über Kurzarbeit ist umstritten, ob es sich hier um Inhaltsnormen8 oder Betriebsnormen9 handelt. Die Recht1 Ohne Begründung etwa: Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 467. 2 Berg/Platow/Schoof/Unterhinnighofen, § 1 TVG Rz. 320; aus dieser Argumentationslinie erklärt sich wohl auch die regelmäßige Bezugnahme auf BAG v. 4.3.1986 – 1 ABR 51/84, NZA 1986, 432, auf die die entsprechende Auffassung aber nicht gestützt werden kann. 3 Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 467; Berg/Platow/Schoof/Unterhinnighofen, § 1 TVG Rz. 320; Kempen/Zachert/Zachert, § 1 TVG Rz. 355. 4 Insoweit ist Heinze, RdA 1998, 14 (18) zuzustimmen, der ansonsten übermäßig restriktiv vorgeht. 5 Vgl. hierzu BAG v. 14.2.1991 – 2 AZR 415/90, NZA 1991, 607 f.; a.A. Heinze, RdA 1998, 14 (19); zweifelnd Linsenmaier, RdA 2008, 1 (12); zur Geltung des Günstigkeitsprinzips im Betriebsverfassungsrecht vgl. BAG (GS) v. 7.11.1989 – GS 3/85, NZA 1990, 816 (819). 6 Bauer/Günther, BB 2009, 662 (663); hochgradig filigran wird hier vom BAG v. 3.6.2003 – 1 AZR 349/02, NZA 2003, 1155 differenziert. 7 Bedenken auch bei Heinze RdA 1998, 14 (19) und Linsenmaier, RdA 2008, 1 (12); zur arbeitsvertraglichen Bezugnahme auf Betriebsvereinbarungen zur Vermeidung des Problems vgl. Preis, NZA 2010, 361 (365); vgl. zur Problematik auch Fitting, § 77 BetrVG Rz. 203. 8 Kempen/Zachert/Zachert, § 1 TVG Rz. 353. 9 Schaub/Linck, ArbR-Hdb., § 41 Rz. 4; HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 128; differenzierend Däubler/Hensche/Henschmid, § 1 TVG Rz. 637.

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Rz. 9 Teil 5 (13)

sprechung hat die Frage bislang offen gelassen1. Vor dem Hintergrund tarifpluraler Strukturen handelt es sich um eine Frage mit zunehmender Praxisrelevanz (vgl. zur Problematik des Koalitionspluralismus Teil 1 Rz. 28 ff. und zur Abgrenzung von Inhalts- und Betriebsnormen allgemein Teil 4). Bislang spielte die Frage insbesondere mit Blick auf Außenseiterarbeitnehmer eine Rolle. Auch hier stellt sich die Rechtslage unter Berücksichtigung der betriebsverfassungsrechtlichen Möglichkeiten zur Vereinbarung von Kurzarbeit unübersichtlich dar. Unproblematisch dürfte Kurzarbeit unternehmenseinheitlich nur bei monistischer Tarifbindung des Arbeitgebers und einheitlicher arbeitsvertraglicher Bezugnahme auf ein Tarifwerk sein2. Insofern sollten Arbeitgeber, die Kurzarbeit einführen wollen, davon Abstand nehmen, mit mehreren Gewerkschaften unterschiedliche Tarifverträge abzuschließen und so eine inkongruente Tarifbindung in der Belegschaft herbeizuführen. Ansonsten könnte nur noch der Umweg über eine Betriebsvereinbarung helfen, weil diese unternehmenseinheitliche Geltung, unabhängig von der Tarifbindung der Arbeitnehmer, herstellen kann3. Soweit man die dargestellten Bedenken (Rz. 7) mit Blick auf das Günstigkeitsprinzip teilt, muss auch hier zusätzlich eine arbeitsvertragliche Öffnungsklausel vorhanden sein. Sollte die Rechtsprechung in Zukunft annehmen, tarifvertragliche Regelungen der Kurzarbeit seien Inhaltsnormen und keine Betriebsnormen, dürfte die Einführung von Kurzarbeit durch TV in tarifpluralen Unternehmensstrukturen vor erhebliche Probleme gestellt werden. Die TV-Parteien sehen in aller Regel eine Ankündigungsfrist für die Einführung von Kurzarbeit vor. Zweck der Ankündigungsfrist ist, den Arbeitnehmern Gelegenheit zu geben, sich auf die veränderte Situation einzustellen, insbesondere ihre finanziellen Angelegenheiten – soweit möglich – mit Blick auf die Kurzarbeit zu regeln. Die Ankündigungsfristen sind in der Regel nicht verkürzbar. Eine Ausnahme gilt, sofern die TV-Parteien hierfür ausdrücklich eine Öffnungsklausel vorsehen4. Betriebsvereinbarungen, die eine tarifvertraglich festgelegte Ankündigungsfrist unterschreiten, sind aber nur insoweit unwirksam, als sie einen Beginn der Kurzarbeit vor Ablauf der Ankündigungsfrist vorsehen5. Bei einer fehlenden tarifvertraglichen Öffnungsklausel wird teilweise eine außerordentliche abgekürzte Ankündigungsfrist in Notfällen erwogen. Eine solche kann nur bei für die TV-Parteien unvorhersehbaren Fällen erwogen werden, da ansonsten von einer bewussten Entscheidung der TV-Parteien gegen eine Abkürzungsmöglichkeit auszugehen ist6. Eine Ankündigung vor der Zustimmung des Betriebsrats setzt die Frist ebenso wenig in Gang wie eine An1 BAG v. 1.8.2001 – 4 AZR 388/99, AP Nr. 5 zu § 3 TVG Betriebsnormen m. Anm. Wiedemann; allerdings deutet BAG v. 27.10.2010 – 7 ABR 36/09, NZA 2011, 527 (529) auf eine Tendenz hin, eine Inhaltsnorm anzunehmen. 2 Vgl. hierzu auch Däubler/Hensche/Henschmid,, § 1 TVG Rz. 637. 3 Für dieses tarifrechtliche „Über Bande spielen“ auch Kempen/Zachert/Zachert, § 1 TVG Rz. 355. 4 BAG v. 12.10.1994 – 7 AZR 398/93, NZA 1995, 641 (642). 5 BAG v. 12.10.1994 – 7 AZR 398/93, NZA 1995, 641 (642). 6 Im Ergebnis ebenso Schaub/Schindele, Kurzarbeit/Massenentlassung/Sozialplan, Rz. 112 f.

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Teil 5 (13)

Rz. 10

Kurzarbeitsregelungen

kündigung vor Abschluss einer Betriebsvereinbarung zur Kurzarbeit; die Frist beginnt aber mit der nachträglichen Zustimmung ebenso wie mit dem nachträglichen Abschluss der Betriebsvereinbarung zu laufen1. Die Ankündigung hat gegenüber allen Arbeitnehmern zu erfolgen und wirkt erst ab Zugang2. Eine Ankündigung gegenüber dem Betriebsrat allein reicht nicht aus. 10

Auch ohne ausdrückliche Regelung im TV ist davon auszugehen, dass sich der Entgeltanspruch entsprechend der Arbeitszeitverkürzung durch Kurzarbeit reduziert. TVe zur Kurzarbeit sehen häufig die Zahlung von Zuschüssen zu Kurzarbeitergeld und gekürztem Arbeitsentgelt vor3. Ebenso werden die Auswirkungen der kurzarbeitsbedingten Entgeltkürzung auf sonstige Ansprüche (Urlaubsentgelt4, Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, Sonderzahlungen usw.) geregelt. Durch die nunmehr in § 106 Abs. 2 SGB III (vormals § 421t Abs. 2 Nr. 3 SGB III) dauerhaft in das SGB III übernommene Privilegierung für Beschäftigungssicherungsvereinbarungen in Tarifverträgen (dazu unten Teil 12) ist sichergestellt, dass sich diese nicht negativ auf den Anspruch auf Kurzarbeitergeld auswirken. Alleine daraus, dass die TV-Parteien einzelne Anspruchsvoraussetzungen nicht regeln, ergibt sich nach der Rechtsprechung des BAG nicht automatisch, dass sie stillschweigend an die Vorschriften des SGB III anknüpfen. Hierfür bedarf es Anhaltspunkten im TV5.

11

Soweit Arbeitnehmern vor oder während der Einführung von Kurzarbeit gekündigt wird, sehen TVe regelmäßig die Aufrechterhaltung des vollen Entgeltanspruchs bis zum Ablauf der Kündigungsfrist vor. Der Arbeitnehmer schuldet dann aber auch die Erbringung der vollen Arbeitsleistung.

12

Alternativen oder Kombinationen mit der Regelung von Kurzarbeit in TVen können Arbeitszeitkonten oder die Herabsenkung der tarifvertraglichen Regelarbeitszeit z.B. durch entsprechende Öffnungsklauseln (fi (17) Öffnungsklauseln/Genehmigungsvorbehalte) oder gesonderte Sanierungstarifverträge (dazu Teil 12) sein. Die Betriebsparteien sind allerdings nicht gezwungen, von tarifvertraglichen Öffnungsklauseln Gebrauch zu machen, bevor Kurzarbeitergeld durch die Bundesagentur für Arbeit geleistet wird6. Sofern kein Kurzarbeitergeld mehr gezahlt werden kann, weil dessen Voraussetzungen nicht (mehr) vorliegen, greifen teilweise Tarifverträge zur Beschäftigungssicherung7.

1 BAG v. 12.10.1994 – 7 AZR 398/93, NZA 1995, 641 (642). 2 BAG v. 12.10.1994 – 7 AZR 398/93, NZA 1995, 641 (642 f.). 3 Vgl. zur Situation in der Metallindustrie den Überblick bei Schumann, AiB 2010, 222 ff. 4 Beachte hierzu Vorlagebeschluss des ArbG Passau v. 13.4.2011 – 1 Ca 62/11, an den EuGH (Rs. C-229/11). 5 BAG v. 22.4.2009 – 5 AZR 310/08, NZA 2009, 913 (915). 6 Geschäftsanweisung Kurzarbeitergeld (einschließlich Saisonkurzarbeitergeld) der Bundesagentur für Arbeit 2012, S. 51 f. 7 Vgl. dazu Schumann, AiB 2010, 222 ff.

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Rz. 16 Teil 5 (13)

II. Beispiele 6.6.2 MTV zum ERA-TV für Beschäftigte in der Metallindustrie in Nordwürttemberg/Nordbaden (MTV Metall) – regelmäßige Arbeitszeit – Flexibles Arbeitszeitkonto

13

Bei Kurzarbeit ist der Alterssicherungsbetrag für die Dauer der Kurzarbeit gemäß §§ 8.2.3, 8.2.4 zu ermitteln. 7.7.1.4 MTV zum ERA-TV für Beschäftigte in der Metallindustrie in Nordwürttemberg/Nordbaden – regelmäßige Arbeitszeit – Flexibles Arbeitszeitkonto

14

Die Möglichkeiten vorhandener betrieblicher flexibler Arbeitszeitkonten haben grundsätzlich Vorrang vor der Anwendung der Regeln des Tarifvertrages zur Beschäftigungssicherung und der Kurzarbeit. 8.2 MTV für Beschäftigte in der Metallindustrie in Nordwürttemberg/Nordbaden – Kurzarbeit

15

8.2 Kurzarbeit Kurzarbeit im Sinne des Dritten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB III) kann mit Zustimmung des Betriebsrates eingeführt werden. 8.2.1 Einer Kündigung des Arbeitsverhältnisses bedarf es dazu nicht. 8.2.2 Die Einführung bedarf einer Ankündigungsfrist von 3 Wochen zum Wochenschluss. Die Kurzarbeit gilt als eingeführt mit dem Beginn der Kalenderwoche, für die sie angekündigt wurde. 8.2.3 Würde ein Arbeitsausfall infolge Kurzarbeit (i.S.d. SGB III) zu einer Verringerung des monatlichen Bruttoentgelts um bis zu 10 % führen, bleibt das monatliche Bruttomonatsentgelt, das Beschäftigte ohne den Arbeitsausfall erhalten hätten, ungekürzt. 8.2.4 Bei einer Verringerung des monatlichen Bruttoentgelts infolge Kurzarbeit um mehr als 10 % gewährt der Arbeitgeber dem Beschäftigten zum gekürzten Monatsentgelt und zum Kurzarbeitergeld einen Zuschuss. Dieser ist so zu bemessen, dass Beschäftigte zum gekürzten Bruttomonatsentgelt und Kurzarbeitergeld einen Ausgleich bis zu 80 % des vereinbarten Bruttomonatsentgelts (ohne Mehrarbeit) einschließlich der leistungsabhängigen variablen Bestandteile des Monatsentgelts erhalten, jedoch nicht mehr als das Nettoentgelt, das diesem Bruttomonatsentgelt entspricht. Nettoentgelt in diesem Sinne ist das um die gesetzlichen Entgeltabzüge, die bei Beschäftigten gewöhnlich anfallen, verminderte Bruttoentgelt. 8.2.5 Wird das Arbeitsverhältnis vor Ankündigung der Kurzarbeit gekündigt, so besteht für die Dauer der Kündigungsfrist Anspruch auf das volle Entgelt für die individuelle regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit; auf Verlangen muss die entsprechende Arbeitszeit geleistet werden. § 12 MTV für Beschäftigte in der Metallindustrie in Nordwürttemberg/Nordbaden – Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit 12.3.3 Bei Verdiensterhöhungen, die während des Berechnungszeitraumes oder der Krankheit eintreten, ist ab diesem Zeitpunkt von dem erhöhten Verdienst auszugehen. Ulber

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Teil 5 (13)

Rz. 17

Kurzarbeitsregelungen

Verdienstkürzungen, die im Berechnungszeitraum infolge Kurzarbeit eintreten, bleiben für die Entgeltfortzahlung außer Betracht. § 4 Abs. 3 Entgeltfortzahlungsgesetz bleibt von § 12.3.1 unberührt. Wird in dem Betrieb verkürzt gearbeitet und würde der Beschäftigte nach Beginn der Arbeitsunfähigkeit Kurzarbeit leisten, so ist von diesem Zeitpunkt ab die veränderte Arbeitszeit zu berücksichtigen. 17

§ 7 MTV Chemie – Kurzarbeit I. Im Bedarfsfalle kann Kurzarbeit für Betriebe oder Betriebsabteilungen unter Beachtung des gesetzlichen Mitbestimmungsrechts des Betriebsrates mit einer Ankündigungsfrist von 14 Tagen eingeführt werden. Arbeitgeber und Betriebsrat können eine kürzere Ankündigungsfrist betrieblich vereinbaren. II. Arbeitnehmer, die Kurzarbeitergeld beziehen, erhalten einen Zuschuss zum Kurzarbeitergeld, der brutto zu gewähren ist. Die Höhe des Zuschusses errechnet sich aus dem Unterschiedsbetrag zwischen dem infolge des Arbeitsausfalls verminderten Nettoarbeitsentgelt zuzüglich dem Kurzarbeitergeld und 90 % des Nettoarbeitsentgelts, das der Arbeitnehmer ohne Kurzarbeit im Abrechnungszeitraum erzielt hätte. Dieser Zuschuss ist kein Arbeitsentgelt und wird deshalb bei tariflichen Leistungen, deren Höhe vom Arbeitsentgelt abhängig ist, nicht berücksichtigt. Bei der Ermittlung des Nettoarbeitsentgelts werden die tariflichen Schichtzulagen und die tariflichen Zuschläge für Nacht- und Sonntagsarbeit mitberücksichtigt, nicht aber die Feiertagszuschläge. Protokollnotiz VI. lautet: Maßgeblich für die Berechnung des Zuschusses zum Kurzarbeitergeld gemäß § 7 II MTV ist der dem Arbeitnehmer gewöhnlich – d.h. ohne Berücksichtigung von Einkünften aus Nebentätigkeiten oder individuellen Fehlbeträgen – zustehende Anspruch auf Kurzarbeitergeld.

III. Ist einem Arbeitnehmer vor Einführung der Kurzarbeit gekündigt worden oder wird ihm während der Kurzarbeit gekündigt, so hat er für die Zeit seiner Kündigungsfrist Anspruch auf seine ungekürzten Bezüge. Der Arbeitgeber kann verlangen, dass der Arbeitnehmer in dieser Zeit voll arbeitet. 18

§ 9 MTV Chemie – Krankheit und Maßnahmen der medizinischen Vorsorge und Rehabilitation I. (…) II. Grundsatz der Entgeltfortzahlung Für die Fortzahlung des Entgelts bei unverschuldeter, mit Arbeitsunfähigkeit verbundener Krankheit und bei Maßnahmen der medizinischen Vorsorge oder Rehabilitation gelten die gesetzlichen Vorschriften. Die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall bemisst sich unabhängig von der jeweiligen gesetzlichen Regelung nach dem Arbeitsentgelt, das dem Arbeitnehmer bei der für ihn maßgebenden tariflichen regelmäßigen oder davon abweichend vereinbarten Arbeitszeit zusteht ohne Mehrarbeit und Mehrarbeitszuschläge, auch soweit diese pauschaliert sind. Bei Kurzarbeit ist die verkürzte Arbeitszeit maßgebend. Für die Entgeltberechnung 432

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Kurzarbeitsregelungen

Rz. 23 Teil 5 (13)

können die durchschnittlichen Verhältnisse eines Zeitraums zugrunde gelegt werden, der durch Betriebsvereinbarung festzulegen ist. § 12 MTV Chemie – Urlaub

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I. (…) II. (…) III. Urlaubsentgelt 1. Für den Urlaub ist ein Entgelt zu zahlen in Höhe des Arbeitsverdienstes, den der Arbeitnehmer erhalten würde, wenn er gearbeitet hätte. Das Urlaubsentgelt bemisst sich nach der tariflichen regelmäßigen Arbeitszeit oder der davon abweichend vereinbarten Arbeitszeit ohne Mehrarbeit und Mehrarbeitszuschläge, auch soweit diese pauschaliert sind. Bei der Ermittlung des Urlaubsentgelts bleiben Kurzarbeitszeiten bis zur Dauer von 6 Monaten sowie Zahlungen im Krankheitsfalle nach 6 Wochen, Gratifikationen, Jahresabschlusszuwendungen und dergleichen außer Ansatz.

III. Kommentierung 1. § 8.2 MTV Metall – Kurzarbeit (Rz. 15) In § 8.2 MTV Metall finden sich die wesentlichen Rahmenregelungen für die Einführung von Kurzarbeit. Die Vorschrift regelt, neben § 7.7.1 MTV Metall, die Zulässigkeitsvoraussetzungen für die Einführung von Kurzarbeit. Daneben enthält sie aber auch Vorgaben für die Auswirkungen der Kurzarbeit auf den Entgeltanspruch, sowie Sonderregelungen für gekündigte Arbeitnehmer.

20

§ 8.2 MTV Metall lässt die Einführung von Kurzarbeit grundsätzlich zu. § 8.2.1. MTV Metall stellt klar, dass auch ohne eine Änderungskündigung Kurzarbeit eingeführt werden kann (vgl. zur Problematik Rz. 7).

21

§ 8.2 des MTV Metall macht die Einführung von Kurzarbeit von einer Zustimmung des Betriebsrats abhängig. Dementsprechend muss der Arbeitgeber vor der Einführung der Kurzarbeit die Zustimmung des Betriebsrats zu der konkreten von ihm beabsichtigten Einführung der Kurzarbeit einholen. Dies gilt auch dann, wenn der Arbeitsvertrag des Arbeitnehmers Kurzarbeit ausdrücklich zulässt. Eine Nachholung der Zustimmung kann nicht zu Lasten der Arbeitnehmer zurückwirken (zur Ankündigungsfrist vgl. Rz. 9).

22

Das BAG hat in seiner Rechtsprechung aus der Formulierung „mit Zustimmung des Betriebsrats“, im Unterschied zur Formulierung „kann durch Betriebsvereinbarung eingeführt werden“, geschlossen, dass im ersteren Fall kein Initiativrecht des Betriebsrates zur Einführung von Kurzarbeit bestehen soll1. Auf Basis dieser Rechtsprechung könnte der Betriebsrat auf Grundlage des

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1 BAG v. 4.3.1986 – 1 ABR 15/84, AP Nr. 3 zu § 87 BetrVG 1972 Kurzarbeit m. Anm. Wiese.

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Teil 5 (13)

Rz. 24

Kurzarbeitsregelungen

§ 8.2 MTV Metall die Einführung von Kurzarbeit nicht erzwingen, weil der TV insoweit Sperrwirkung entfaltet. Im Übrigen bleibt sein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG in den Grenzen der tarifvertraglichen Regelung bestehen. Für die Betriebspartner bleibt vor dem Hintergrund des TVes eine weitreichende Möglichkeit zur Ausgestaltung der Kurzarbeit hinsichtlich Beginn und Dauer der Kurzarbeit, Lage und Verteilung der Arbeitszeit, Auswahl der von der Kurzarbeit betroffenen Arbeitnehmer usw1. 24

§ 8.2 MTV Metall lässt nur die Einführung von Kurzarbeit im Sinne des SGB III zu. Damit wird sichergestellt, dass Kurzarbeit eingeführt werden kann, wenn die Voraussetzungen des § 96 SGB III vorliegen.

25

Den gleichen Regelungszweck verfolgt § 7.7.1.4 des MTV Metall. Danach haben die Möglichkeiten, die flexible Arbeitszeitkonten bieten (zur Arbeitszeit vgl. fi (5) Arbeitszeit), Vorrang vor der Einführung von Kurzarbeit. Dies korrespondiert mit § 96 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3 SGB III (§ 170 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3 SGB III a.F.). Danach liegt ein vermeidbarer Arbeitsausfall im Sinne des § 96 Abs. 1 Nr. 3 SGB III vor, wenn durch die Nutzung von im Betrieb zulässigen Arbeitszeitschwankungen der Arbeitsausfall vermieden werden kann. Diese Regelung bezieht sich insbesondere auf Möglichkeiten der Arbeitszeitflexibilisierung durch Arbeitszeitkonten. Der Arbeitgeber muss dementsprechend grundsätzlich die Möglichkeiten, die Arbeitszeitkonten bieten, ausschöpfen (vgl. aber § 96 Abs. 4 Satz 3 SGB III), bevor der TV den Rückgriff auf Kurzarbeit zulässt. § 7.7.1.4. MTV Metall lässt Raum für Ausnahmen. Angesichts des engen Zusammenhangs mit dem Anspruch auf Kurzarbeitergeld wird aber ein Abweichen nur solange und soweit zulässig sein, wie die – ggf. auch geänderten – Vorschriften des SGB III nicht dazu führen, dass der Anspruch auf Kurzarbeitergeld entfällt.

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Die Kurzarbeit darf nach § 8.2.2. MTV Metall nur mit einer Ankündigungsfrist von drei Wochen zum Wochenschluss eingeführt werden. Die Ankündigung wirkt gegenüber den Arbeitnehmern erst mit Zugang der Ankündigung2. Die Frist kann durch die Betriebsparteien nicht abgekürzt werden3. Eine Ankündigung vor der Zustimmung des Betriebsrats vermag die Frist nicht in Gang zu setzen. Soweit der Arbeitgeber die Zustimmung des Betriebsrats zur Einführung der Kurzarbeit nachträglich eingeholt hat, bestehen aber keine Bedenken, den Beginn der Kurzarbeit zum nächsten zulässigen Zeitpunkt zu verschieben4.

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Die Auswirkungen der Kurzarbeit auf den Entgeltanspruch regeln § 8.2.3 und § 8.2.4 MTV Metall. Dabei ist mit Blick auf die Folgen der Kurzarbeit für den 1 Ob diese Gegenstände zur Wirksamkeit der Regelung geregelt sein müssen, ist str., vgl. LAG Sachsen v. 31.7.2002 – 2 Sa 910/01, NZA-RR 2003, 366 (367) einerseits und LAG Thüringen v. 7.10.1999 – 2 Sa 404/98, n.v. andererseits. 2 Vgl. hierzu ebenso Schaub/Schindele, Kurzarbeit/Massenentlassung/Sozialplan, Rz. 106. 3 Vgl. zu einer ähnlichen Tarifnorm BAG v. 12.10.1994 – 7 AZR 398/93, NZA 1995, 641 (642). 4 BAG v. 12.10.1994 – 7 AZR 398/93, NZA 1995, 641 (642).

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Kurzarbeitsregelungen

Rz. 30 Teil 5 (13)

Bruttoentgeltanspruch zu differenzieren. Eine Kürzung des Entgelts erfolgt nur dann, wenn die Kurzarbeit zu einer Verringerung des Bruttomonatsentgelts um mehr als 10 % führt. Diese Betrachtungsweise gilt bezogen auf den individuellen Arbeitnehmer. Tritt auf diesem Wege eine Kürzung des Bruttomonatsgehalts ein, hat der Arbeitnehmer einen Anspruch auf einen Zuschuss zum gekürzten Monatsentgelt und zum Kurzarbeitergeld. Bleibt die Kürzung unter 10 %, so findet keine Kürzung statt. Der Zuschuss wird unter Berücksichtigung von zwei Obergrenzen berechnet: Zunächst werden das gekürzte Bruttomonatsentgelt und das Kurzarbeitergeld addiert. Dieser Betrag darf 80 % des Bruttomonatsgehalts (ohne Mehrarbeit) einschließlich der leistungsabhängigen variablen Bestandteile des Monatsentgelts nicht übersteigen. Die tarifvertragliche Regelung ist trotz der Formulierung „bis zu 80 %“ nicht so zu verstehen, dass die Grenze von 80 % unterschritten werden könnte1. Bei der Berechnung des Monatsentgelts sind abgesehen von der Mehrarbeit auch die zeitabhängigen variablen Anteile zu berücksichtigen, weil der Begriff des „Bruttomonatsgehalts“ im Sinne des MTV Metall diese bereits umfasst2. Die zweite, isoliert hiervon zu betrachtende Obergrenze, ist das Nettoentgelt, das der Arbeitnehmer unter Zugrundelegung dieses Bruttoentgelts erhalten hätte. Addiert man das gekürzte Bruttomonatsentgelt und das Kurzarbeitergeld und bringt es hiervon in Abzug, bleibt wiederum ein Saldo. Zweck dieser Regelung ist es, dass der Arbeitnehmer nicht mehr erhält, als er erhalten hätte, wenn die Kurzarbeit überhaupt nicht eingeführt worden wäre. Vereinfacht lässt sich das Regelungsziel wie folgt darstellen: Der Zuschuss soll dem Arbeitnehmer 80 % seines bisherigen Bruttomonatsentgelts sichern, dabei soll er netto nicht mehr als 100 % des Nettoentgelts erhalten, welches er bei ungekürzter Vergütung erhalten würde3.

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Nach § 12.3.3. Abs. 2 MTV Metall sind bei Berechnung des Entgeltfortzahlungsanspruchs im Krankheitsfall in den Berechnungszeitraum fallende Kürzungen des Entgelts aufgrund Kurzarbeit nicht zu berücksichtigen. Dies betrifft die Erkrankung außerhalb der Zeit der Kurzarbeit. Erkrankt der Arbeitnehmer hingegen vor oder während der Zeit, in der die Arbeitzeit aufgrund Kurzarbeit verkürzt ist, so erhält er ab der Einführung der Kurzarbeit nur das Entgelt, das er aufgrund der durch Kurzarbeit veränderten Arbeitszeit erhalten hätte. Ebenso hat die Kurzarbeit Auswirkungen auf die Berechnung des Alterssicherungsbetrages für Beschäftigte ab 54 Jahren (§ 6.6.2 MTV Metall).

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Ist ein Arbeitsverhältnis vor Einführung der Kurzarbeit gekündigt worden, so findet keine Entgeltkürzung statt (§ 8.2.5. MTV Metall). Der Arbeitnehmer behält während der Beschäftigung bis zum Ablauf der Kündigungsfrist seinen vollen Entgeltanspruch, muss aber auf Verlangen auch die entsprechende geschuldete Arbeitszeit ableisten. Der Ablauf der Kündigungsfrist im Sinne der Vorschrift ist die sich aus der Kündigungserklärung ergebende Kündigungsfrist,

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1 LAG Baden-Württemberg v. 11.3.2011 – 18 Sa 40/10. 2 Vgl. LAG Baden-Württemberg v. 24.11.2010 – 13 Sa 40/10, n.v. (zum MTV Metall Südbaden). 3 LAG Baden-Württemberg v. 11.3.2011 – 18 Sa 40/10; LAG Baden-Württemberg v. 24.11.2010 – 13 Sa 40/10.

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Teil 5 (13)

Rz. 31

Kurzarbeitsregelungen

auch wenn diese die tarifvertragliche Mindestkündigungsfrist überschreitet1. Eine Kündigung, die nach der Ankündigung, aber vor der Einführung der Kurzarbeit erfolgt, fällt nicht mehr unter den Anwendungsbereich der Vorschrift2.

2. § 7 MTV Chemie (Rz. 17) 31

Nach § 7.1 MTV Chemie kann Kurzarbeit im Bedarfsfalle unter Beachtung des Mitbestimmungsrechts des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG eingeführt werden. Dementsprechend ist vorab zu prüfen, ob ein Bedarfsfall vorliegt. Es liegt nahe, sich hier an den Voraussetzungen für Kurzarbeitergeld nach den §§ 95 ff. SGB III zu orientieren, auch wenn der TV auf diese nicht ausdrücklich Bezug nimmt. Durch den Verweis auf das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats wird klargestellt, dass die tarifliche Regelung nicht abschließend sein soll.

32

Die Ankündigungsfrist für die Einführung von Kurzarbeit beträgt 14 Tage (§ 7.1 MTV Chemie). Die Einführung der Kurzarbeit wird nicht von einer Zustimmung des Betriebsrats abhängig gemacht. Gleichwohl ist sein Mitbestimmungsrecht zu wahren. Dementsprechend kann die Kurzarbeit so lange nicht eingeführt werden, wie eine Einigung auf betrieblicher Ebene fehlt. Die Betriebsparteien sind befugt, die Ankündigungsfrist abzukürzen. Der TV sieht keine Mindestfrist vor. Gleichwohl wird eine Verkürzung nicht schrankenlos zulässig sein, wenn man sich den Zweck der Regelungen, nämlich die Sicherung einer angemessenen Reaktionsfrist für den Arbeitnehmer, vergegenwärtigt. Dementsprechend ist für die Abkürzung der Ankündigungsfrist ein sachlicher Grund erforderlich.

33

Die Auswirkungen auf den Entgeltanspruch regelt § 7.2 MTV Chemie. Im Ergebnis wird hier das Kurzarbeitergeld und das entsprechend der Arbeitszeitverkürzung reduzierte Arbeitsentgelt auf 90 % des Nettoarbeitsentgelts, das ohne die Einführung von Kurzarbeit angefallen wäre, aufgestockt. Bei der Ermittlung des Nettoarbeitsentgelts sind auch tarifliche Zuschläge für Nacht- und Sonntagsarbeit zu berücksichtigen, nicht aber die Feiertagszuschläge. Der Zuschuss ist kein Arbeitsentgelt im Sinne des MTV und wird daher bei tariflichen Leistungen, deren Berechnungsgrundlage das Arbeitsentgelt ist, grundsätzlich nicht berücksichtigt. Eine differenzierte Regelung erfahren der Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und auf Urlaubsentgelt. Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ist während der Kurzarbeit nur in Höhe des reduzierten Entgelts zu leisten. Für die Berechnung des Anspruchs auf Urlaubsentgelt bleibt die Kurzarbeit bis zu einem Zeitraum von sechs Monaten außer Betracht (vgl. § 12 Abs. 3 MTV Chemie).

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Eine Sonderregelung für vor oder während der Kurzarbeit gekündigte Arbeitnehmer sieht vor, dass diese ihre vollen Bezüge behalten (§ 7.3 MTV Chemie). Allerdings kann der Arbeitgeber von diesen Arbeitnehmern auch die Erbringung der vollen Arbeitsleistung verlangen.

1 BAG v. 1.8.2001 – 4 AZR 810/98, AP Nr. 178 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie. 2 Vgl. zur Problematik auch Däubler/Hensche/Henschmid, § 1 TVG Rz. 634.

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Rz. 2 Teil 5 (14)

Maßregelungsverbot

(14) Maßregelungsverbot I. Zweck und Kontext Maßregelungsverbote (Nichtmaßregelungsklauseln) werden typischerweise am Ende einer Tarifauseinandersetzung mit Streik- oder streikähnlichen Maßnahmen zwischen den Tarifparteien in sog. Tarifabschlüssen oder sog. Tarifeinigungen vereinbart. Sinn und Zweck solcher Klauseln ist es zuvörderst, die streikbeteiligten Arbeitnehmer vor Sanktionen durch den Arbeitgeber zu schützen und Differenzierungen aufgrund der Streikteilnahme weitgehend zu verhindern. Außerdem werden häufig gegenseitige Schadensersatzansprüche ausgeschlossen, was sich in aller Regel zugunsten der Gewerkschaften auswirkt. Wie weitgehend die Differenzierung zwischen streikenden und nicht streikenden Arbeitnehmern durch eine Nichtmaßregelungsklausel ausgeschlossen wird, richtet sich nach dem Inhalt der jeweiligen Klausel. In der Praxis werden sowohl pauschal gehaltene wie auch sehr differenzierte Klauseln verwendet (vgl. Beispiele 1 und 2, unten Rz. 3 und 4).

1

Früher war die Wiedereinstellung streikbeteiligter Arbeitnehmer nach einem Streik die bedeutendste Regelung einer Nichtmaßregelungsklausel. Bis zur grundlegenden Entscheidung des Großen Senats des BAG im Jahr 1955 waren die Arbeitnehmer gezwungen, ihr Arbeitsverhältnis zu beenden, um an dem Arbeitskampf teilnehmen zu können. Taten sie dies nicht, konnte der Arbeitgeber den streikbeteiligten Arbeitnehmern ordentlich kündigen (sog. Kampfkündigungen) oder eine außerordentliche Kündigung wegen Vertragsbruchs aussprechen. Dadurch bestand die Gefahr des endgültigen Arbeitsplatzverlustes, denn die Arbeitgeber konnten die Situation dazu nutzen, sich von unliebsamen Arbeitnehmern zu trennen1. An dieser individualrechtlichen Betrachtungsweise wurde zu Recht kritisiert, das Kündigungserfordernis sei mit dem Willen der Arbeitnehmer, das Arbeitsverhältnis lediglich für die Zeit des Streiks zu unterbrechen, um gegenüber der anderen Tarifpartei ein gewisses Druckpotential aufzubauen, nicht vereinbar. Deshalb setzte der Große Senat des BAG der individualrechtlichen Betrachtungsweise eine kollektivrechtliche Betrachtungsweise entgegen, wonach die Teilnahme eines Arbeitnehmers an einem rechtmäßigen Streik keine Vertragsverletzung darstellt2. Vielmehr ruht das Arbeitsverhältnis während der Streikteilnahme und die gegenseitigen Hauptleistungspflichten sind suspendiert3. Das bedeutet, dass der Arbeitnehmer von seiner Arbeitspflicht befreit ist, zugleich aber auch seinen Anspruch auf Vergütung während der Dauer der Streikteilnahme verliert4. Die Suspendierung der Hauptleistungspflichten beginnt aber nicht schon mit dem Streikaufruf der Gewerkschaften, sondern erst dann, wenn der Arbeitnehmer sich selbst am Streik beteiligt und in den Ausstand tritt. Die Nebenleistungspflichten

2

1 MünchArbR/Ricken, § 203 Rz. 1. 2 Grundlegend BAG v. 28.1.1955 – GS 1/54, AP Nr. 1 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NJW 1955, 882. 3 Dazu jüngst auch Hopfner/Heider, DB 2012, 114. 4 BAG v. 22.3.1994 – 1 AZR 622/93, NZA 1994, 1097.

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Rz. 3

Maßregelungsverbot

bleiben dagegen auch während des rechtmäßigen Streiks bestehen. Insbesondere also trifft die Vertragsparteien nach § 241 Abs. 2 BGB die Pflicht, Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und sonstigen Interessen des anderen Teils zu nehmen1. Soweit der Arbeitnehmer an einem rechtmäßigen Streik teilnimmt, verbieten sich Maßregelungen des Arbeitgebers sowohl nach Art. 9 Abs. 3 GG als auch nach § 612a BGB. Diesen Schutz verstärken tarifliche Nichtmaßregelungsklauseln und dehnen ihn vielfach in zweierlei Hinsicht aus: Erstens schützen sie die Arbeitnehmer auch vor den Folgen rechtswidriger Arbeitskämpfe und zweitens bewahren sie teilweise die Gewerkschaften vor Schadensersatzforderungen der Arbeitgeber2.

II. Beispiele Beispiel 1:3 3

Vereinbarung zur Wiederherstellung des Arbeitsfriedens 1. Jede Maßregelung von Beschäftigten aus Anlass oder im Zusammenhang mit der Tarifbewegung in der Papierverarbeitung 1991 unterbleibt oder wird rückgängig gemacht, falls sie erfolgt ist. 2. Schadenersatzansprüche aus Anlass oder im Zusammenhang mit der Tarifbewegung entfallen. Beispiel 2 (Deutsche Telekom):

4

Nichtmaßregelungsklausel 1. Die Deutsche Telekom-AG verzichtet auf jede Maßregelung von Beschäftigten und Auszubildenden der Deutsche Telekom-AG, die sich aus Anlass oder im Zusammenhang mit der Tarifrunde 2011 an kollektiven Aktionen der Gewerkschaft ver.di beteiligt haben. Dazu gehören die Teilnahme an Informations-, Demonstrations- und Protestveranstaltungen, Warnstreiks oder ähnlichen gemeinschaftlichen Aktivitäten der Gewerkschaft ver.di (einschl. der Organisation solcher Aktionen). 2. Bereits eingeleitete oder durchgeführte Maßregelungen werden rückgängig gemacht. 3. Alle Vorgänge zur Maßregelung im Zusammenhang mit der Tarifrunde 2011 werden aus den Akten entfernt und vernichtet. Personenbezogene Daten werden nicht erhoben, verarbeitet oder genutzt, sondern physikalisch gelöscht. Dies gilt nicht für die notwendige Umsetzung der Entgeltkürzungen für die streikbedingten Ausfallzeiten. Nach Abwicklung der Entgeltkürzungen sind diese Daten ebenfalls zu löschen. 4. Die Deutsche Telekom-AG erklärt, keinerlei Schadensersatzforderungen gegenüber der Gewerkschaft ver.di oder einzelnen Mitgliedern der Gewerkschaft 1 MünchArbR/Ricken, § 203 Rz. 12. 2 Ähnlich Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Maßregelungsverbote Rz. 1; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 916. 3 Vgl. BAG v. 13.7.1993 – 1 AZR 676/92, VZH 1993, 1135.

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Maßregelungsverbot

Rz. 5 Teil 5 (14)

ver.di im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen zur Tarifrunde 2011 zu stellen. 5. Die vorstehenden Regelungen gelten nicht für Aktionen und Handlungen, die einen Straftatbestand erfüllen. 6. Die im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen in der Tarifrunde 2011 entstandenen Unterbrechungszeiten sind zur Erfüllung von Zeiten für tarifliche Ansprüche oder Anwartschaften unschädlich.

III. Kommentierung 1. Rechtsnatur Obwohl Maßregelungsverbote oft nicht in allgemeinen TVen geregelt werden (vgl. aber § 6 Arbeitszeit-TV Baden-Württemberg), sondern in einem Tarifabschluss oder in einer Tarifeinigung, handelt es sich rechtlich um einen TV i.S.d. § 3 TVG. Soweit Nichtmaßregelungsklauseln nicht Rechte und Pflichten der TV-Parteien untereinander regeln, sondern normativ auf die Arbeitsverhältnisse der Arbeitsvertragsparteien einwirken, sind sie deshalb wie normative Regelungen eines TVes auszulegen1. Ferner genießen sie den Schutz des § 4 Abs. 4 TVG2. Maßregelungsverbote gehören zu den Inhaltsnormen eines TVes3. Sie wirken also nicht per se wie etwa Betriebsnormen einheitlich für die gesamte Belegschaft4. Geltung erlangen sie für die organisierten Arbeitnehmer über die kollektive Tarifgebundenheit. Für die nicht organisierten Arbeitnehmer kommt eine Geltung auf schuldrechtlicher Basis zunächst über eine Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag in Betracht, wobei eine allgemeine Bezugnahmeklausel auf die anwendbaren TVe für die Einbeziehung des Maßregelungsverbots ausreicht. Fehlt eine arbeitsvertragliche Inbezugnahme, kommt es maßgeblich auf die Auslegung des Maßregelungsverbots an. In aller Regel differenzieren sie nicht zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und Außenseitern, sondern beziehen sich auf „die Arbeitnehmer/Beschäftigten“ oder „alle Arbeitnehmer/Beschäftigten“ (vgl. Beispiel 2, oben Rz. 4). Diese Formulierung deutet darauf hin, dass die Regelung auch für Außenseiter gelten soll5. Dasselbe ist anzunehmen, wenn ohne personellen Bezug nur allgemein die Maßregelung untersagt wird (vgl. Beispiel 1, oben Rz. 3). Im Übrigen dürfte eine ausdrückliche Differenzierung durch die TV-Parteien eine nicht gerechtfertigte Diskriminierung nichttarifgebundener Streikteilnehmer darstellen6. Nichtmaßregelungsklauseln beziehen sich auf die Vergangenheit; gegen die Rückwirkung bestehen keine Bedenken7. Für die Zukunft können sie hingegen nicht 1 BAG v. 13.2.2007 – 9 AZR 374/06, AP Nr. 18 zu § 1 TVG Tarifverträge: Presse; LAG Baden-Württemberg v. 17.12.2009 – 21 Sa 30/09. 2 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 916. 3 Däubler/Hensche, § 1 TVG Rz. 903; a.A. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 918. 4 Wiedemann/Wiedemann, § 1 TVG Rz. 496; Däubler/Reim, § 1 TVG Rz. 1195; Gamillscheg, Kollektives Abeitsrecht I, S. 1239 ff.; a.A. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 918. 5 Däubler/Reim, § 1 TVG Rz. 1195. 6 Däubler/Reim, § 1 TVG Rz. 1195; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 918. 7 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 920; Däubler/Reim, § 1 TVG Rz. 1191.

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Rz. 6

Maßregelungsverbot

abgeschlossen werden, weil der rechtswidrige Arbeitskampf damit von Anfang an sanktionslos gestellt würde1.

2. Erscheinungsformen und Reichweite 6

Inhaltlich finden sich in der Praxis im Wesentlichen zwei unterschiedliche Formen tariflicher Maßregelungsverbote. Zum einen gibt es allgemeine Regelungen, die pauschal eine Maßregelung der Arbeitnehmer nach einem Tarifkonflikt verbieten und bereits erfolgte Maßregelungen rückgängig machen, oft verbunden mit einem Verzicht auf Schadensersatzforderungen des Arbeitgebers gegen die Gewerkschaften und die Arbeitnehmer. Das tarifliche Maßregelungsverbot aus Beispiel 1 (Rz. 3) etwa dient nach dem Wortlaut der Überschrift der „Wiederherstellung des Arbeitsfriedens“ nach Beendigung des Arbeitskampfs. Aus diesem Grunde ist nach Ansicht des BAG unter Maßregelung im Sinne dieser Vereinbarung schon jede unterschiedliche Behandlung der Arbeitnehmer zu verstehen, die nach der Teilnahme am Arbeitskampf unterscheidet, soweit diese Unterscheidung nicht schon durch die Rechtsordnung selbst vorgegeben ist. Ein Maßregelungsverbot, das lediglich die Vorenthaltung oder Beschneidung von Rechten wegen der Teilnahme am Arbeitskampf oder die tatsächliche Benachteiligung als Sanktionierung der Ausübung des Streikrechts verbieten würde, wäre weitgehend ohne Bedeutung, weil sich die damit angeordneten Rechtsfolgen ohnehin aus § 612a BGB ergeben2. Im konkreten Fall hatte das BAG über die nachträgliche Erstattung einer Streikbruchprämie an nichtstreikende Arbeitnehmer zu entscheiden (dazu noch Rz. 9). Über die allgemeinen Klauseln hinaus sind in der Praxis auch sehr differenzierte Klauseln anzutreffen, die weitgehend die Unterschiede zwischen den streikbeteiligten und den nicht streikbeteiligten Arbeitnehmern nivellieren wollen und damit über den Anwendungsbereich eines echten „Maßregelungsverbots“ hinausgehen (vgl. Beispiel 2, oben Rz. 4).

3. Einzelne Regelungen 7

Dem Wiedereinstellungsanspruch als vormals wesentlichem Inhalt von Maßregelungsverboten kommt nach der Rechtsprechung des BAG, wonach das Arbeitsverhältnis während des Arbeitskampfs ruht, kaum noch praktische Bedeutung zu3. Anderes gilt nur in Ausnahmefällen, so bei der lösenden Aussperrung oder wenn tatsächlich während des Arbeitskampfs ordentliche oder außerordentliche Kündigungen erfolgt sind4.

8

In aller Regel haben Maßregelungsklauseln keinen Einfluss auf den Grundsatz „ohne Arbeit kein Lohn“. Das heißt, dass Maßregelungsverbote nicht dazu 1 Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Maßregelungsverbote Rz. 1; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 923. 2 BAG v. 13.7.1993 – 1 AZR 676/92, NZA 1993, 1135 (1138). 3 Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Maßregelungsverbote Rz. 4; Däubler/ Reim, § 1 TVG Rz. 1204. 4 Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Maßregelungsverbote Rz. 4; kritisch im Hinblick auf ordentliche Kündigungen Däubler/Reim, § 1 TVG Rz. 1207.

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Maßregelungsverbot

Rz. 9 Teil 5 (14)

führen, den streikbedingten Arbeitsausfall zu egalisieren. Insoweit bleibt es bei der Suspendierung der Entgeltzahlungspflicht1. Das gilt auch für Einmalzahlungen, die im Rahmen von Tarifverhandlungen oft für zurückliegende Zeiten vereinbart werden und die – ebenso wie das regelmäßige Arbeitsentgelt – an die tatsächliche Arbeitsleistung anknüpfen. Für die Tage, an denen der Arbeitnehmer am Arbeitskampf teilgenommen hat, ist die Einmalzahlung deshalb zu kürzen2. Abweichend von diesem Grundsatz können die TV-Parteien jedoch auch vereinbaren, dass das Arbeitsverhältnis durch die Arbeitskampfmaßnahme als nicht ruhend gilt. In diesem Fall kann auch eine tarifliche Jahresleistung nicht gemindert werden, deren Höhe für Zeiten unbezahlter Arbeitsbefreiung gekürzt wird3. Darüber hinaus ist auch eine ausdrückliche Lohnnachzahlungsvereinbarung zulässig4. Auch während des Streiks gezahlte Streikbruchprämien werden von einer Nichtmaßregelungsklausel erfasst. Grundsätzlich verstoßen nach wohl überwiegender Meinung die während eines Streiks gezahlten Streikbruchprämien nicht gegen den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz i.V.m. § 612a BGB. Das gilt auch dann, wenn mit der Prämie nur die Nichtteilnahme am Streik honoriert wird, ohne dass bei den Nichtstreikenden weitergehende Belastungen vorliegen müssen5. Anders verhält es sich bei Zahlungen, die nach Streikende an diejenigen Mitarbeiter gezahlt werden, die nicht am Streik teilgenommen haben. Darin liegt in aller Regel eine unzulässige Maßregelung i.S.d. § 612a BGB, sofern nicht die nicht streikenden Arbeitnehmer ganz außergewöhnlichen Belastungen ausgesetzt waren, die weit über das normale Maß der ohnehin mit einem Streik verbundenen Erschwerungen hinausgehen6. Liegen nach dieser Definition zulässige Streikbruchprämien vor, so führt bereits eine allgemeine Nichtmaßregelungsklausel im Sinne des oben genannten Beispiels 1 (Rz. 3) dazu, dass die Differenzierung zwischen streikenden und nicht streikenden Arbeitnehmern aufgehoben wird und auch die streikbeteiligten Arbeitnehmer einen Anspruch auf die gezahlte Prämie haben7. Einer ausdrücklichen Regelung in der Nichtmaßregelungsklausel bedarf es dazu nach Ansicht des BAG nicht8. Für die Praxis dürften Streikbruchprämien damit an Attraktivität verloren haben, denn wenn es nach gefundener Tarifeinigung zur endgültigen Befriedung des Tarifkonflikts (nur) noch um die Vereinbarung eines Maßregelungsverbots geht, dürfte eine explizite Ausnahme gezahlter Streikbruchprämie nur schwer erreichbar sein. 1 Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Maßregelungsverbote Rz. 5; Däubler/ Reim, § 1 TVG Rz. 1196; a.A. wohl Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 924. 2 LAG Baden-Württemberg v. 17.12.2009 – 21 Sa 30/09. 3 BAG v.13.2.2007 – 9 AZR 374/06, AP Nr. 18 zu § 1 TVG Tarifverträge: Presse. 4 Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Maßregelungsverbote Rz. 5; Däubler/ Reim, § 1 TVG Rz. 1196; a.A. MünchArbR/Otto, § 291 Rz. 32. 5 Sehr instruktiv dazu BAG v. 13.7.1993 – 1 AZR 676/92, NZA 1993, 1135 (1138) m.w.N.; ErfK/Preis, § 612a BGB Rz. 16; a.A. insb. Gaul, NJW 1994, 1025. 6 BAG v. 28.7.1992 – 1 AZR 87/92, AP Nr. 123 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; Thüsing/ Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Maßregelungsverbote Rz. 10. 7 BAG v. 13.7.1993 – 1 AZR 676/92, NZA 1993, 1135 (1138); a.A. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 925. 8 BAG v. 13.7.1993 – 1 AZR 676/92, NZA 1993, 1135 (1138).

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Rz. 10

Maßregelungsverbot

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Ein allgemeines Maßregelungsverbot ohne besondere Regelung beinhaltet keinen Verzicht auf Schadensersatzansprüche gegen die Gewerkschaft oder streikbeteiligte Arbeitnehmer1. Anders ist es dann, wenn der Ausschluss von Schadensersatzansprüchen ausdrücklicher Inhalt von Maßregelungsverboten ist (vgl. Beispiel 1 Nr. 2, oben Rz. 3, oder Beispiel 2 Nr. 5, oben Rz. 4). Mit solchen speziellen Regelungen wird auch der Streit darüber beigelegt, ob eine Arbeitskampfmaßnahme rechtswidrig war. Von solchen Regelungen nicht erfasst werden Ansprüche wegen sittenwidriger Schädigung des Arbeitgebers, seines Unternehmens und anderer Mitarbeiter2. Schadensersatzansprüche einzelner Arbeitnehmer gegen die Gewerkschaft können nicht mit normativer Wirkung durch eine Maßregelungsklausel der TV-Parteien ausgeschlossen werden. Möglich ist dies allenfalls mit schuldrechtlichen Mitteln3.

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Haben Arbeitnehmer in ihrer Eigenschaft als Betriebsratsmitglieder oder hat der Betriebsrat als Gremium gegen die Neutralitätspflicht und/oder das Streikverbot aus § 74 Abs. 2 BetrVG verstoßen, kann der Arbeitgeber beim zuständigen Arbeitsgericht den Ausschluss der betreffenden Arbeitnehmer aus dem Betriebsrat oder die Auflösung des Betriebsrats beantragen4. Auf dieses Antragsrecht kann der Arbeitgeber nicht kollektiv im Rahmen einer Nichtmaßregelungsklausel verzichten; in Betracht kommt hier wegen der zwingenden Wirkung des § 23 Abs. 1 BetrVG nur ein nachträglicher individueller Verzicht5.

12

Die Beseitigung von Ermahnungen, Abmahnungen und sonstigen (streikbedingten) Einträgen aus der Personalakte folgt bereits aus einer allgemeinen Nichtmaßregelungsklausel. Gleichwohl wird dies häufig in differenzierten Maßregelungsverboten ausdrücklich erwähnt. Dasselbe gilt für die Löschung von im Rahmen von Streikmaßnahmen erhobenen, verarbeiteten oder genutzten personenbezogenen Daten (vgl. Beispiel 2 Nr. 3, oben Rz. 4).

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Soweit im Zusammenhang mit Streikmaßnahmen der Verdacht von Straftaten besteht (typischerweise Beleidigung, Hausfriedensbruch), können Maßregelungsverbote dem Arbeitgeber nicht verbieten, von seinem Strafantragsrecht Gebrauch zu machen6. Als öffentliches Recht unterfällt es nicht der Tarifmacht7. Teilweise sehen die gängigen Regelungen hier explizit eine Ausnahme vom Maßregelungsverbot vor (vgl. Beispiel 2 Nr. 5, oben Rz. 4).

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Da das Arbeitsverhältnis während eines rechtmäßigen Streiks ruht, hat dies grundsätzlich Auswirkungen auf alle Ansprüche, die eine ununterbrochene Beschäftigung oder Betriebszugehörigkeit voraussetzen. Dabei kann es sich han1 BAG v. 8.11.1988 – 1 AZR 417/86, AP Nr. 111 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. 2 Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Maßregelungsverbote Rz. 13; Däubler/ Reim, § 1 TVG Rz. 1214. 3 BAG v. 8.11.1988 – 1 AZR 417/86, AP Nr. 111 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; Thüsing/ Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Maßregelungsverbote Rz. 3. 4 Vgl. nur Fitting, § 23 BetrVG Rz. 19, 37. 5 MünchArbR/Otto, § 291 Rz. 41; Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Maßregelungsverbote Rz. 6. 6 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 922; a.A. Däubler/Reim, § 1 TVG Rz. 1217. 7 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 922.

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Steffan

Rz. 1 Teil 5 (15)

Mehrarbeitsregelungen

deln um Anlaufzeiten und Anwartschaften bei Höhergruppierungsregelungen, betrieblicher Altersversorgung, Rationalisierungsschutz, Gratifikationen, Jahresprämien, Anwesenheitsprämien, variabler Entgeltbestandteile usw. Besteht lediglich eine allgemeine Nichtmaßregelungsklausel im Sinne des Beispiels 1 (Rz. 3), können solche Ansprüche entsprechend der streikbedingten Ausfallzeiten gekürzt bzw. angerechnet werden1. Praktisch ist hingegen insbesondere bei größeren Unternehmen und umfangreicher Streikteilnahme eine Kosten-Nutzen-Betrachtung anzuraten. Oftmals dürfte die aufwändige Anrechnung streikbedingter Ausfallzeiten auf etwa die Anwartschaften der betrieblichen Altersversorgung oder die Anlaufzeiten für Höhergruppierungen am Ende höhere Kosten verursachen als die Nichtberücksichtigung solcher Zeiten. In differenzierten Nichtmaßregelungsklauseln ist dagegen bereits häufig ausdrücklich geregelt, dass die im Zusammenhang mit der jeweiligen Tarifauseinandersetzung entstandenen Unterbrechungszeiten zur Erfüllung von Zeiten für tarifliche Ansprüche oder Anwartschaften unschädlich sind (vgl. etwa Beispiel 2 Nr. 8, oben Rz. 4). Zu demselben Ergebnis führen auch Klauseln, die das Arbeitsverhältnis ausdrücklich als ununterbrochen fingieren. Solche Regelungen sind zulässig2.

(15) Mehrarbeitsregelungen Literatur: Dikomey, Der Anspruch auf Mehrarbeitsvergütung, DB 1988, 1949; Diller, Fortschritt oder Rückschritt – Das neue Arbeitszeitrecht, NJW 1994, 2726; Hümmerich, Gestaltung von Arbeitsverträgen nach der Schuldrechtsreform, NZA 2003, 753; Hümmerich/Rech, Antizipierte Einwilligung in Überstunden durch arbeitsvertragliche Mehrarbeitsabgeltungsklauseln?, NZA 1999, 1132; Lindemann, Entgeltpauschalierung für geleistete Überstunden, BB 2006, 826; Schrader/Schubert, AGB-Kontrolle von Arbeitsverträgen – Grundsätze der Inhaltskontrolle arbeitsvertraglicher Vereinbarungen, NZA-RR 2005, 225; Sowka, Teilzeitarbeit – ausgewählte Rechtsprobleme, DB 1994, 1873; Ziepke/ Weiss, Kommentar zum MTV Metall NRW, 4. Aufl. 1998.

I. Zweck und Kontext Mehrarbeit ist ein notwendiges Mittel, um auftragsstarke Zeiten bewältigen zu können, ohne zusätzliches Personal einstellen und anlernen zu müssen. Begrifflich hatte das Wort „Mehrarbeit“ seine Verankerung in der Vorgängerregelung zum Arbeitszeitgesetz (ArbZG), der Arbeitszeitordnung (AZO), die auch eine Bestimmung zur Mehrarbeitsvergütung enthielt. Nach deren § 15 war Mehrarbeit die mit einem gesetzlichen Zuschlag zu vergütende Überschreitung der gesetzlich zulässigen Wochenarbeitszeit. 1 BAG v. 3.8.1999 – 1 AZR 735/98, AP Nr. 156 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; BAG v. 15.5.1964 – 1 AZR 432/63, AP Nr. 35 zu § 611 BGB Gratifikationen; Thüsing/Braun/ Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Maßregelungsverbote Rz. 7. 2 BAG v. 13.2.2007 – 9 AZR 374/06, AP Nr. 18 zu § 1 TVG Tarifverträge: Presse; Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Maßregelungsverbote Rz. 7; MünchArbR/Otto, § 291 Rz. 30.

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Rz. 2

Mehrarbeitsregelungen

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Das ArbZG in seiner heutigen Fassung verwendet den Begriff der Mehrarbeit nicht. Es bedurfte auch nicht seiner Verwendung, da mit der Festlegung flexibler Grenzen für die Höchstarbeitszeit eine gesetzliche Regelung der Mehrarbeit obsolet geworden ist1. Allerdings hat sich der Begriff in den Mehrarbeitsverboten des Schwerbehindertenrechts (dort: § 124 SGB IX) sowie Mutterschutzrechts (dort: § 8 MuSchG) gehalten, ohne jedoch in jenen Regelungen definiert zu werden.

3

In TVen und dem folgend auch in individualvertraglichen Regelungen findet der Begriff der Mehrarbeit weiterhin Verwendung. Eine allgemein gültige Definition, was Mehrarbeit ist bzw. wann diese anfällt, gibt es jedoch auch hier nicht. Dementsprechend ist jeweils anhand des Einzelfalls zu prüfen, wie die Individual- bzw. Kollektivvertragsparteien in ihren Regelungen den Begriff der Mehrarbeit verwenden. In TVen wird vielfach für das Vorliegen von Mehrarbeit auf das Überschreiten der – in der Regel der tariflichen wöchentlichen oder der in diesem Rahmen betrieblich festgelegten – regelmäßigen täglichen Arbeitszeit hinausgehende Arbeitszeit ausschließlich der Pausen abgestellt, soweit diese angeordnet war2.

4

Die Begriffe „Mehrarbeit“ und „Überarbeit/Überstunden“ werden vielfach synonym verwendet, obgleich sie oftmals nicht deckungsgleich sind. Von Überarbeit ist vorbehaltlich anderer Begriffsbestimmungen im Individual- oder Kollektivvertrag3 bereits dann zu sprechen, wenn der Arbeitgeber Arbeitsleistung über das vertraglich geschuldete Maß einfordert, ohne dass die tarifliche regelmäßige Arbeitszeit überschritten wird. Wird also bspw. ein teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer, der regelmäßig 25 Stunden Arbeitsleistung in einem Betrieb erbringt, in dem kraft TVes für vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer die 35-Stundenwoche gilt, in einer Woche mit 40 Stunden beschäftigt, leistet er – die zuvor erwähnte Definition von Mehrarbeit zugrundegelegt – zwar insgesamt 15 Stunden Überarbeit; davon gilt als Mehrarbeit aber erst die Arbeit ab der 36. Wochenstunde4.

5

Das Direktionsrecht nach Maßgabe des § 106 GewO reicht für die Anordnung von Mehrarbeit in der Regel nicht aus; sie bedarf daher regelmäßig einer gesonderten individual- oder kollektivvertraglichen Rechtsgrundlage. Allerdings kann der Arbeitnehmer im Einzelfall aus seinen vertraglichen Nebenpflichten heraus zur Mehrarbeit verpflichtet sein, wie auch die Regelung des § 14 ArbZG belegt, die für Notfälle und außergewöhnliche Fälle ein Abweichen von den zwingenden Regelungen des ArbZG erlaubt. Gehört es zum Berufsbild, dass ein gewisses Mehr an Arbeit, als sie von einem bspw. tariflich eingruppierten Arbeitnehmer abverlangt werden kann, zu leisten ist, kann sich hieraus bereits die Pflicht zur Mehrarbeit ergeben5. In diesem Sinne hat auch das BAG entschieden, dass es gerade bei Diensten höherer Art einen allgemeinen Rechtsgrundsatz nicht gebe, dass jede Mehrarbeitszeit oder jede dienstliche Anwesen1 2 3 4 5

MünchArbR/Reichold, § 36 Rz. 67; Schliemann, § 3 ArbZG Rz. 2. So in § 3 I MTV Chemie, unten Rz. 15. S. hierzu noch die Beispiele des § 7 Abs. 6 und 7 TVöD, unten Rz. 17. Zur Anordnungsbefugnis bei Teilzeitbeschäftigten s. noch im Folgenden Rz. 6. So für den leitenden Angestellten: MünchArbR/Reichold, § 36 Rz. 66.

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Mehrarbeitsregelungen

Rz. 8 Teil 5 (15)

heitszeit über die vereinbarte Arbeitszeit hinaus zu vergüten sei1. Unbeschadet dessen sollte dennoch der Arbeitsvertrag klar und unmissverständlich deutlich machen, was dem Arbeitnehmer abverlangt wird und dass dies dann auch im Rahmen der Vergütung mit abgegolten sein soll2. Teilweise wird die Auffassung vertreten, dass ein Teilzeitbeschäftigter nicht zur Mehrarbeit herangezogen werden könne, da der Abschluss des Teilzeitarbeitsvertrags indiziere, dass der Arbeitnehmer nur im Rahmen der vereinbarten Arbeitszeit zur Verfügung stehen wolle3. Dem kann nicht gefolgt werden, baut diese Auffassung doch auf dem Trugschluss auf, dem Vollzeitbeschäftigten sei es egal, ob seine Arbeitskraft für 35, 40 oder 60 Stunden in der Woche abgefragt wird. Jedenfalls soweit eine tarifvertragliche Regelung besteht, die eine Rechtsgrundlage für die Anordnung von Mehrarbeit bietet, ist diese auch für das Teilzeitarbeitsverhältnis verbindlich4. Kann der Teilzeitbeschäftigte zur Mehrarbeit herangezogen werden, darf dieser nicht mit einem geringeren Stundensatz vergütet werden als ein Vollzeitbeschäftigter5.

6

Soweit die Regelung als Mehrarbeit das Überschreiten der tariflichen regelmäßigen Wochenarbeitszeit definiert6, folgt daraus, dass der Mehrarbeitstatbestand bei einem Teilzeitbeschäftigten erst eintreten kann, wenn durch die angeordnete Arbeit die für Vollzeitarbeitnehmer festgelegte Arbeitszeitgrenze überschritten wird7.

7

Macht eine Regelung die Gewährung von Mehrarbeitsstunden von der Überschreitung einer bestimmten Arbeitszeitgrenze abhängig, bleiben Zeiten der Freistellung, auch wenn diese bezahlt erfolgt, für die Feststellung des Vorliegens zuschlagspflichtiger Mehrarbeit außer Betracht8.

8

Beispiel: Die tarifvertragliche Arbeitszeitregelung legt eine Arbeitszeit von wöchentlich 37,5 Stunden bzw. 162 Stunden im Monat fest. Nimmt nunmehr der Arbeitnehmer in einem Monat, in dem er 169 Stunden Arbeitsleistung erbracht hat, fünf Arbeitstage Urlaub, wird er für diesen Zeitraum nicht etwa so gestellt, als hätte er Arbeitsleistung erbracht. Ihm erwächst also nur für die über 162 Stunden hinausgehende Arbeitszeit ein Anspruch auf Mehrarbeitsvergütung.

1 BAG v. 17.8.2011 – 5 AZR 406/10, DB 2011, 2550. 2 Zur inhaltlichen Ausgestaltung solcher Vergütungsabreden und deren Inhaltskontrolle s. BAG v. 1.9.2010 – 5 AZR 517/09, DB 2011, 61. 3 So bspw. LAG Bremen v. 29.4.1998 – 2 Sa 223/97, n.v.; a.A.: Sowka, DB 1994, 1878. 4 S. auch Ziepke/Weiss, § 5 MTV Anm. 4. 5 EuGH v. 6.12.2007 – Rs. C-300/06, DB 2008, 187. 6 Anderweitige, zwischen Voll- und Teilzeitbeschäftigten differenzierende Regelungen kommen in der Praxis zwar seltener, aber auch vor. So heißt es bspw. in § 4 MTV Einzelhandel NRW: „Mehrarbeit für Vollbeschäftigte ist jede über die vereinbarte oder festgelegte tägliche Arbeitszeit hinausgehende Arbeit, sofern sie nicht gemäß § 2 Abs. 5 ausgeglichen wird. Mehrarbeit für Teilzeitbeschäftigte ist jede Arbeitszeit, die über die in § 2 Abs. 1 geregelte Arbeitszeit hinaus geleistet wird.“ 7 BAG v. 25.7.1996 – 6 AZR 138/94, NZA 1997, 774; die Zulässigkeit solcher Regelungen bestätigend: BAG v. 16.6.2004 – 5 AZR 448/03, NZA 2004, 1119. 8 BAG v. 7.7.2004 – 4 AZR 433/03, DB 2004, 2374.

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Rz. 9

Mehrarbeitsregelungen

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Mehrarbeit bedarf ihrer ausdrücklichen Anordnung, was im Falle selbstbestimmter Arbeitszeitmodellen zur Folge hat, dass der Tatbestand der Mehrarbeit nur in Ausnahmefällen auftreten kann. Je nach Einzelfall kann die Anordnung auch konkludent (z.B. durch Setzen von Terminen) oder in der Billigung von Mehrarbeit erfolgen1. Allerdings setzt die Billigung auch voraus, dass der Arbeitgeber davon Kenntnis hatte, dass der Arbeitnehmer zur Verrichtung seiner Aufgaben Mehrarbeit leistet. Erlangt er erst später hiervon Kenntnis, genügt dies nicht2. Bei der Anordnung von Mehrarbeit sind die Grenzen des Arbeitszeitgesetzes zu berücksichtigen. Ist die Anordnung von Mehrarbeit unzulässig, berechtigt eine daraufhin erfolgte Arbeitsverweigerung nicht zur Kündigung3. Überdies ist für den Fall, dass der Arbeitgeber in einer generalisierenden Form Mehrarbeit anbietet, zu beachten, dass er nicht ohne sachlichen Grund einzelne Arbeitnehmer aus der Zuweisung von Mehrarbeitsstunden herausnehmen darf4.

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Auch im Falle der Teilzeitbeschäftigung bedarf die Anordnung von Mehrarbeit regelmäßig keiner gesonderten Ankündigungsfrist zur Anordnung von Mehrarbeit. Aber auch hier gilt das Gleiche wie für das Vollzeitarbeitsverhältnis: Eine Ankündigung kann noch am Tage des Arbeitseinsatzes erfolgen. Auch aus § 12 TzBfG folgt nichts anderes; er findet auf die Anordnung von Überstunden keine Anwendung5.

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Soweit in Betrieben von tariflichen Arbeitszeitkorridoren Gebrauch gemacht wird, die eine längere oder kürzere Festlegung der regelmäßigen betrieblichen Arbeitszeit ermöglichen, ist die betrieblich festgelegte Arbeitszeit maßgebend für die Beurteilung der Frage nach Mehrarbeit. Die anderweitige Verteilung der regelmäßigen Arbeitszeit im Rahmen von Verteilzeiträumen führt jedoch regelmäßig nicht zur Mehrarbeit6. Dies gilt insbesondere für den Fall von Zeitguthaben, die zum Ablauf eines Ausgleichszeitraums existieren. Werden diese ausbezahlt, kann dies unter Außerachtlassung etwaiger Mehrarbeitszuschläge geschehen; durch Auszahlung werden positive Zeitsalden nicht zur tarifvertraglichen Mehrarbeit7. Bestehen hingegen bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses negative Zeitsalden, kann der Arbeitgeber diese mit den ausstehenden Lohnzahlungen verrechnen8. Dies hat das BAG für den Fall entschieden, dass der Arbeitnehmer selbst über die Entstehung und den Ausgleich eines negativen Kontostandes entscheiden kann. Denn mit der einvernehmlichen Einrichtung eines Arbeitszeitkontos geht regelmäßig die konkludente Abrede einher, dass das Konto spätestens mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses auszuglei1 MünchArbR/Reichold, § 36 Rz. 69. 2 MünchArbR/Reichold, § 36 Rz. 69. 3 LAG Düsseldorf v. 21.1.1964 – 8 Sa 490/63, DB 1964, 628; anders jedoch für den Fall zulässiger, aber verweigerter Mehrarbeit: LAG Köln v. 27.4.1999 – 13 Sa 14/98, NZA 2000, 39. 4 BAG v. 7.11.2002 – 2 AZR 742/00, DB 2003, 828. 5 ErfK/Preis, § 12 TzBfG Rz. 15. 6 So auch ausdrücklich geregelt in § 3 I Abs. 4 MTV Chemie. 7 BAG v. 25.10.2000 – 4 AZR 556/99, DB 2001, 1620. 8 BAG v. 13.12.2000 – 5 AZR 234/99, DB 2001, 1565; ebenso bereits LAG RheinlandPfalz v. 12.3.1998 – 8 Sa 1032/97, ARST 1998, 169.

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Rz. 14 Teil 5 (15)

chen sei. Da es sich bei einem negativen Zeitguthaben des Arbeitnehmers der Sache nach um einen Lohn- oder Gehaltsvorschuss des Arbeitgebers handelt, geht das BAG davon aus, dass der Arbeitnehmer das bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses bestehende negative Guthaben finanziell auszugleichen hat. Hinsichtlich der Vergütung von Mehrarbeit enthalten die einschlägigen Tarifregelungen regelmäßig gesonderte Regelungen, bei denen wiederum zwischen der Grundvergütung für Mehrarbeit und hierauf zu zahlenden Mehrarbeitszuschlägen unterschieden wird1. Eine Regelung, wonach die Mehrarbeit Teilzeitbeschäftigter mit einem geringeren Stundensatz vergütet wird als diejenige von Vollzeitbeschäftigten, ist dabei unwirksam2. Davon unbeschadet können die TV-Parteien über die Definition von Mehrarbeit bestimmen, dass ein Mehrarbeitszuschlag erst bei Überschreiten der tariflich regelmäßigen Arbeitszeit anfällt3. Ist dem Arbeitgeber nicht, wie es in einigen tariflichen Regelungsbereichen heutzutage gebräuchlich ist4, die Möglichkeit eingeräumt, geleistete Mehrarbeit durch Freizeit auszugleichen, kann der Arbeitgeber einen bereits entstandenen Anspruch auf Vergütung für geleistete Überstunden nicht einseitig durch Anordnung der Freistellung von der Arbeit erfüllen5.

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Soweit keine Bindung an kollektivvertragliche Regelungen besteht, bedient sich die Praxis vielfach Regelungen zur pauschalen Überstundenvergütung. Grundsätzlich ist es anerkannt, Mehrarbeit über die Grundvergütung abzugelten6. Voraussetzung ist jedoch, dass die getroffene Abrede klar zu erkennen gibt, dass die vereinbarte Vergütung als Äquivalent für die gesamte Arbeitsleistung gezahlt werde7.

13

Wird die Vergütung von Mehrarbeit eingefordert, ist im Einzelnen darzulegen, an welchen Tagen und zu welchen Tageszeiten der Arbeitnehmer über die übliche Arbeitszeit hinaus gearbeitet hat8. Dies gilt auch bzgl. der Frage, ob der Leistung von Mehrarbeit eine ausdrücklichen Anordnung zugrunde gelegen hat, dass die regelmäßige tägliche oder tarifliche wöchentliche Arbeitszeit überschritten werden soll9. Je nach der Einlassung des Arbeitgebers kann insoweit eine abgestufte Darlegungs- und Beweislast bestehen10.

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1 Derartige Bestimmungen sind regelmäßig dahin gehend auszulegen, dass nur die tatsächlich geleistete Arbeit den Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge auslöst; vgl. auch BAG v. 21.11.2001 – 5 AZR 296/00, NZA 2002, 439. 2 EuGH v. 6.12.2007 – Rs. C-300/06, DB 2008, 187. 3 BAG v. 25.7.1996 – 6 AZR 138/94, NZA 1997, 774. 4 Vgl. etwa § 2 I Abs. 5 MTV Chemie. 5 So für eine individualvertraglich vereinbarte Vergütungsregelung BAG v. 18.9.2001 – 9 AZR 307/00, DB 2002, 434; vgl. ferner BAG v. 17.1.1995 – 3 AZR 399/94, DB 1995, 1413; BAG v. 14.10.1997 – 7 AZR 562/96, n.v. 6 BAG v. 24.2.1960 – 4 AZR 475/57, AP Nr. 11 zu § 611 BGB Dienstordnung-Angestellte; vgl. ferner Hümmerich/Rech, NZA 1999, 1132 ff.; Schrader/Schubert, NZA-RR 2005, 225 ff.; Seel, DB 2005, 1330 ff. 7 BAG v. 16.1.1965 – 5 AZR 154/64, AP Nr. 1 zu § 1 AZO. 8 BAG v. 29.5.2002 – 5 AZR 370/01, NZA 2003, 120. 9 Vgl. hierzu auch Hümmerich/Rech, NZA 1999, 1132 ff. 10 BAG v. 24.10.2001 – 5 AZR 245/00, DB 2002, 1110.

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Teil 5 (15)

Rz. 15

Mehrarbeitsregelungen

II. Beispiele 15

§ 3 I MTV Chemie Mehrarbeit ist die über die tarifliche wöchentliche oder über die in diesem Rahmen betrieblich festgelegte regelmäßige tägliche Arbeitszeit hinausgehende Arbeitszeit ausschließlich der Pausen, soweit sie angeordnet war. Dies gilt nicht für Teilzeitbeschäftigte und Arbeitnehmer, die gemäß § 2a Anspruch auf Altersfreizeiten haben, solange nicht die regelmäßige tarifliche wöchentliche Arbeitszeit gemäß § 2 I Ziffer 1 überschritten wird. Für Arbeitnehmer in voll- und teilkontinuierlicher Wechselschichtarbeit ist Mehrarbeit die über die in § 2 I Ziffer 2 genannten Grenzen hinausgehende Wochenarbeitszeit. Für Arbeitnehmer mit gemäß § 2 I Ziffer 3 abweichend festgelegten längeren oder kürzeren Regelarbeitszeiten ist die jeweils darüber hinausgehende Arbeitszeit Mehrarbeit, soweit sie angeordnet ist. Die gemäß § 2 vorgenommene anderweitige Verteilung der regelmäßigen Arbeitszeit führt nicht zur Mehrarbeit. Geleistete Mehrarbeit ist durch Freizeit auszugleichen. Die Zuschlagspflicht bleibt hiervon unberührt, sofern der Ausgleich nicht innerhalb eines Monats erfolgt. Kann der Freizeitausgleich wegen Krankheit, Urlaub, Dienstreise oder ähnlichen Gründen nicht innerhalb eines Monats erfolgen, ist er spätestens in dem darauffolgenden Monat vorzunehmen. Erfolgt der Zeitausgleich nicht innerhalb der vorgenannten Zeiträume, ist er mit Ablauf von zwei weiteren Monaten einschließlich des Mehrarbeitszuschlages von 25 % in Freizeit auszugleichen. Bei notwendiger Mehrarbeit für einzelne Arbeitnehmer oder Arbeitnehmergruppen, für die ein Zeitausgleich aus betrieblichen oder arbeitsorganisatorischen Gründen nicht oder schwierig durchzuführen ist, kann der Arbeitgeber die geleisteten Mehrarbeitsstunden zuschlagspflichtig abgelten. Gelegentliche geringfügige Überschreitungen der täglichen Arbeitszeit sind bei Arbeitnehmern der Gruppen E 9 bis E 13 mit dem Tarifentgelt abgegolten.

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§ 5 Ziff. 1 Einheitlicher Manteltarifvertrag für die Metall- und Elektroindustrie NRW (EMTV) Mehrarbeit sind die über die nach den §§ 3 und 4 festgelegte individuelle regelmäßige tägliche Arbeitszeit hinaus geleisteten Arbeitsstunden; hierunter fallen nicht die Arbeitsstunden, die im Rahmen des § 4 Nr. 3 außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit zum Ausgleich ausgefallener Arbeitsstunden vor- oder nachgearbeitete werden. Für Beschäftigte: Überschreiten Beschäftigte im Einzelfall die nach den §§ 3 und 4 festgelegte tägliche Arbeitszeit geringfügig und im Grenzfall um nicht mehr als eine halbe Stunde, so gilt dies nicht als Mehrarbeit, wenn diese Arbeitszeit im gegenseitigen Einvernehmen auf die regelmäßige Arbeitszeit eines folgenden Arbeitstages angerechnet wird. 448

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Mehrarbeitsregelungen

Rz. 18 Teil 5 (15)

Für Auszubildende: Werden Auszubildende in begründeten Ausnahmefällen nach Vereinbarung mit dem Betriebsrat über die regelmäßige Ausbildungszeit hinaus beschäftigt, so ist hierfür ein entsprechender Freizeitausgleich zu gewähren. Bei Auszubildenden, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, kann unter sinngemäßer Anwendung von § 6 Nr. 2a) und 4 verfahren werden. Für Teilzeitbeschäftigte ist Mehrarbeit die Arbeitszeit, die über die Dauer der regelmäßigen täglichen Arbeitszeit vergleichbarer Vollzeitbeschäftigter hinausgeht. Sind keine vergleichbaren Vollzeitbeschäftigten vorhanden, ist Mehrarbeit die Arbeitszeit, die über 7 Stunden pro Tag hinausgeht. Daher ist Arbeit an einem sonst für den Teilzeitbeschäftigten arbeitsfreien Tag Mehrarbeit. Mehrarbeit bis zu 16 Stunden im Monat kann im einzelnen Fall auch durch bezahlte Freistellung von der Arbeit ausgeglichen werden. Bei mehr als 16 Mehrarbeitsstunden im Monat kann der/die Beschäftigte die Abgeltung durch bezahlte Freistellung von der Arbeit verlangen, soweit dem nicht dringende betriebliche Belange entgegenstehen. Der Freizeitausgleich hat in den folgenden drei Monaten zu erfolgen; in besonderen Fällen (z.B. Montagen) kann im Einvernehmen von Arbeitgeber und Beschäftigten der Freizeitausgleich innerhalb von sechs Monaten erfolgen. Mehrarbeitszuschläge sind grundsätzlich in Geld zu vergüten. 17

§ 7 Abs. 6–8 TVöD (6) Mehrarbeit sind die Arbeitsstunden, die Teilzeitbeschäftigte über die vereinbarte regelmäßige Arbeitszeit hinaus bis zur regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von Vollbeschäftigten (§ 6 Abs. 1 Satz 1) leisten. (7) Überstunden sind die auf Anordnung des Arbeitgebers geleisteten Arbeitsstunden, die über die im Rahmen der regelmäßigen Arbeitszeit von Vollbeschäftigten (§ 6 Abs. 1 Satz 1) für die Woche dienstplanmäßig bzw. betriebsüblich festgesetzten Arbeitsstunden hinausgehen und nicht bis zum Ende der folgenden Kalenderwoche ausgeglichen werden. (8) Abweichend von Absatz 7 sind nur die Arbeitsstunden Überstunden, die a) im Falle der Festlegung eines Arbeitszeitkorridors nach § 6 Abs. 6 über 45 Stunden oder über die vereinbarte Obergrenze hinaus, b) im Falle der Einführung einer täglichen Rahmenzeit nach § 6 Abs. 7 außerhalb der Rahmenzeit, c) im Falle von Wechselschicht- oder Schichtarbeit über die im Schichtplan festgelegten täglichen Arbeitsstunden einschließlich der im Schichtplan vorgesehenen Arbeitsstunden, die bezogen auf die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit im Schichtplanturnus nicht ausgeglichen werden, angeordnet worden sind. § 8 TVöD

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Ausgleich für Sonderformen der Arbeit (1) Der/Die Beschäftigte erhält neben dem Entgelt für die tatsächliche Arbeitsleistung Zeitzuschläge. Die Zeitzuschläge betragen – auch bei Teilzeitbeschäftigten – je Stunde Natzel

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Teil 5 (15)

Rz. 19

Mehrarbeitsregelungen

a) für Überstunden in den Entgeltgruppen 1 bis 9 30 v.H., in den Entgeltgruppen 10 bis 15 15 v.H., (…) Beim Zusammentreffen von Zeitzuschlägen nach Satz 2 Buchst. c bis f wird nur der höchste Zeitzuschlag gezahlt. Auf Wunsch der/des Beschäftigten können, soweit ein Arbeitszeitkonto (§ 10) eingerichtet ist und die betrieblichen/ dienstlichen Verhältnisse es zulassen, die nach Satz 2 zu zahlenden Zeitzuschläge entsprechend dem jeweiligen Vomhundertsatz einer Stunde in Zeit umgewandelt und ausgeglichen werden. Dies gilt entsprechend für Überstunden als solche. Protokollerklärung zu Absatz 1 Satz 1: Bei Überstunden richtet sich das Entgelt für die tatsächliche Arbeitsleistung nach der jeweiligen Entgeltgruppe und der individuellen Stufe, höchstens jedoch nach der Stufe 4.

(2) Für Arbeitsstunden, die keine Überstunden sind und die aus betrieblichen/ dienstlichen Gründen nicht innerhalb des nach § 6 Abs. 2 Satz 1 oder 2 festgelegten Zeitraums mit Freizeit ausgeglichen werden, erhält die/der Beschäftigte je Stunde 100 v.H. des auf eine Stunde entfallenden Anteils des Tabellenentgelts der jeweiligen Entgeltgruppe und Stufe. Protokollerklärung zu Absatz 2 Satz 1: Mit dem Begriff „Arbeitsstunden“ sind nicht die Stunden gemeint, die im Rahmen von Gleitzeitregelungen im Sinne der Protokollerklärung zu § 6 anfallen, es sei denn, sie sind angeordnet worden.

(…)

III. Kommentierung 1. § 3 I MTV Chemie (Rz. 15) 19

Mehrarbeit ist für die chemische Industrie im TV als gesondert angeordnete, über die tarifliche wöchentliche oder über die in diesem Rahmen betrieblich festgelegte regelmäßige tägliche Arbeitszeit hinausgehende Arbeitszeit definiert. Maßgeblich ist in erster Linie die regelmäßige tägliche Arbeitszeit. Nur in Ausnahmefällen kommt es auf die tarifliche wöchentliche Arbeitszeit an, nämlich wenn bspw. bei einer sonst üblichen Fünf-Tage-Woche Arbeit für den sechsten Werktag angeordnet wird. Arbeitet bspw. ein Arbeitnehmer der Normalschicht, der regulär von Montag bis Freitag 7,5 Stunden arbeitet, zusätzlich an einem Samstag, überschreitet er aber die tariflich wöchentliche Arbeitszeit deshalb nicht, weil er an einem anderen Tag in der Woche wegen Abfeierns von Mehrarbeit arbeitsfrei hatte, liegt Mehrarbeit nicht vor.

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In der chemischen Industrie erfolgt Arbeit vielfach in vollkontinuierlichen Schichtbetrieben. Für diese ist als Mehrarbeit die über die wöchentliche Gesamtarbeitszeit hinausgehende Arbeit anzusehen.

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Mehrarbeitsregelungen

Rz. 27 Teil 5 (15)

Wie sonst regelmäßig auch kann Mehrarbeit nur bei einer ausdrücklichen Anordnung angenommen werden, dass die regelmäßige tägliche oder tarifliche wöchentliche Arbeitszeit überschritten werden soll.

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Soweit von dem für die chemische Industrie geltenden Arbeitszeitkorridor Gebrauch gemacht wird, ist Maßstab für die Annahme von Mehrarbeit die vereinbarte längere oder kürzere regelmäßige betriebliche Arbeitszeit. Bei Teilzeitbeschäftigten ist auf die regelmäßige tarifliche wöchentliche Arbeitszeit abzustellen. Bei ihnen führt erst die Überschreitung der 37,5 Stunden-Woche zur Mehrarbeit1.

22

Die anderweitige Verteilung der regelmäßigen Arbeitszeit führt nicht zu Mehrarbeit. Auch führen Zeitguthaben aus Arbeitszeitkonten nicht zur Mehrarbeit. Gleiches gilt für Zeitguthaben bei gleitender Arbeitszeit im Sinne von § 2 V MTV.

23

Für Arbeitnehmer mit Arbeitsbereitschaft enthält der TV an anderer Stelle eine gesonderte Mehrarbeitsregelung. Danach kann Mehrarbeit erst dann angenommen werden, soweit Arbeitsleistung außerhalb der Arbeits- und Arbeitsbereitschaftszeit, d.h. in der Zeit der Bereitschaftsruhe, erbracht wird.

24

Geleistete Mehrarbeit ist grundsätzlich durch Freizeit auszugleichen. Erfolgt der Freizeitausgleich innerhalb eines Monats, entfällt der Mehrarbeitszuschlag. Die Monatsfrist ist nach den Bestimmungen des § 187 Abs. 1 und § 188 Abs. 2 BGB zu berechnen; es handelt sich also nicht um einen Kalendermonat.

25

Da nach der Grundregel des TVes Mehrarbeit durch Freizeit auszugleichen ist, kann der Arbeitgeber vor Ablauf der Monatsfrist durch Freistellung des Arbeitnehmers innerhalb dieser Frist einseitig den Freizeitausgleich veranlassen. Dabei sind sowohl die betrieblichen als auch persönlichen Belange des Arbeitnehmers zu berücksichtigen. Entscheidend nach dem Wortlaut des TVes ist, dass der Freizeitausgleich bei vernünftiger Betrachtungsweise in dem Monatszeitraum tatsächlich gewährt werden kann. Kann der Freizeitausgleich wegen Krankheit, Urlaub, Dienstreise oder ähnlichen Gründen nicht innerhalb eines Monats vorgenommen werden, ist er spätestens in dem darauffolgenden Monat vorzunehmen.

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Erfolgt der Zeitausgleich nicht innerhalb der vorgenannten Zeiträume, ist er innerhalb von zwei weiteren Monaten einschließlich des Mehrarbeitszuschlags von 25 % in Freizeit auszugleichen. Das bedeutet, dass für eine Stunde Mehrarbeit eine Stunde und 15 Minuten Freizeitausgleich zu gewähren sind. Die im TV normierte Zwei-Monats-Frist für den Zeitausgleich ist eine Ordnungsnorm. Auch bei einer ausnahmsweisen Überschreitung der ZweiMonats-Frist ist die Mehrarbeit einschließlich des Mehrarbeitszuschlags grundsätzlich in Freizeit auszugleichen. Dies kann bspw. der Fall sein, wenn durch unvorhersehbare Reparaturarbeiten an der Anlage der betreffende Arbeitnehmer innerhalb des Zwei-Monats-Zeitraums die volle tarifliche Arbeitszeit oder zusätzliche Mehrarbeit leisten muss, er also aus objektiven betrieblichen Gründen nicht freigestellt werden kann.

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1 BAG v. 25.7.1996 – 6 AZR 138/94, NZA 1997, 774.

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Teil 5 (15)

Rz. 28

Mehrarbeitsregelungen

2. § 5 Ziff. 1 EMTV (Rz. 16) 28

§ 5 Ziff. 1 EMTV sieht als Mehrarbeit die Arbeitsstunden an, die über die individuelle tägliche Arbeitszeit hinausgeht. Entscheidend ist also die individuelle tägliche Arbeitszeit, sofern es sich nicht um Vor- und Nacharbeit handelt. Die Mehrarbeitsregelung hat also – wie die meisten tarifvertraglichen Regelungen auch – einen Tagesbezug. Dieser setzt voraus, dass für jeden Arbeitnehmer die tägliche Arbeitszeit von Vornherein feststeht.

29

Die Tarifregelung nimmt Fälle der Vor- und Nacharbeit aus der Mehrarbeitsregelung heraus. Damit sind die Fälle gemeint, dass aus bestimmten Fällen wie Betriebsfeiern oder auf eigenen Wunsch hin ausfallende Arbeit vor- oder nachgeholt wird1.

30

Wie in anderen Tarifbereichen auch gilt es zu beachten, dass der Grad der Flexibilisierung der Arbeitszeit darüber entscheidet, ob der zusätzliche Anfall von Arbeit als Mehrarbeit zu behandeln ist oder im Rahmen der üblichen Verteilung der Arbeitszeit auf Schwankungen beim Bedarf nach Arbeitskraft reagiert wird2.

31

Auch wenn ein Passus wie „angeordnete Mehrarbeit“ oder „soweit sie angeordnet war“ fehlt, ist auch vorliegend davon auszugehen, dass die über die arbeitsvertraglich vereinbarte Arbeitszeit geleistete Arbeit angeordnet oder zumindest billigend entgegengenommen worden ist3.

32

Der TV enthält eine Regelung zum Freizeitausgleich, die wiederum durch den für die Metall- und Elektroindustrie abgeschlossenen TV Besch ergänzt wird4. § 5 Ziff. 1 MTV differenziert zwischen Mehrarbeit bis und über 16 Stunden. Bei monatlicher Mehrarbeit bis zu 16 Stunden ist die Mehrarbeit vorbehaltlich einer anderweitigen Vereinbarung durch Geld auszugleichen. Wird der Arbeitnehmer zu mehr als 16 Stunden Mehrarbeit im Monat herangezogen, hat er einen durchsetzbaren Anspruch auf Freizeitausgleich, soweit dem nicht dringende betriebliche Belange entgegenstehen. Dieser Anspruch soll sich laut BAG5 auf sämtliche Mehrarbeitsstunden beziehen. Er muss innerhalb von drei Monaten nach dem Anfall der Mehrarbeit erfüllt werden.

33

Der Arbeitgeber legt den Freizeitausgleich nach billigen Ermessen fest; er hat dabei eine angemessene Ankündigungsfrist zu wahren6. Erkrankt der Arbeitnehmer im Zeitpunkt der bezahlten Freistellung, gilt das Glück-Pech-Prinzip; der Arbeitgeber braucht also die Freizeit nicht nachzugewähren7.

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Erfolgt ein Freizeitausgleich, handelt es sich hierbei um eine bezahlte Freistellung für die geleistete Mehrarbeit. Es wird aber nur die Arbeit als solche durch 1 2 3 4

Ziepke/Weiss, § 5 MTV Anm. 1. Ziepke/Weiss, § 5 MTV Anm. 1. Ziepke/Weiss, § 5 MTV Anm. 1. Vgl. dort § 5, wonach ergänzend zu § 5 I Nr. 1 EMTV die Betriebsparteien durch freiwillige Betriebsvereinbarung vereinbaren können, dass Mehrarbeitsstunden ganz oder teilweise durch Freizeit ausgeglichen werden. 5 BAG v. 24.1.1990 – 4 AZR 468/89, NZA 1990, 533. 6 Ziepke/Weiss, § 5 MTV Anm. 5. 7 Ziepke/Weiss, § 5 MTV Anm. 5.

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Mehrarbeitsregelungen

Rz. 37 Teil 5 (15)

die Freistellung abgegolten; der Mehrarbeitszuschlag entfällt dadurch nicht1. Allerdings können aufgrund des seit Anfang 1997 für die Metallindustrie geltenden TV Besch die Betriebsparteien ergänzend zu der manteltarifvertraglichen Mehrarbeitsregelung durch freiwillige Betriebsvereinbarung festlegen, dass die Mehrarbeit ganz oder teilweise durch Freizeit ausgeglichen wird; dann werden Mehrarbeitszuschläge nicht fällig2.

3. § 7 Abs. 6–8 TvöD (Rz. 17) Der TVöD versteht unter Überstunden vom Arbeitgeber angeordnete Arbeitszeiten, die über die im Rahmen der regelmäßigen Arbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten für die Woche dienstplanmäßig bzw. betriebsüblich festgesetzten Arbeitsstunden hinausgehen und nicht bis zum Ende der folgenden Kalenderwoche ausgeglichen werden. Der Begriff Mehrarbeit wird lediglich explizit für eine Regelung für Teilzeitbeschäftigte verwandt. Er meint dort die Arbeitsstunden, die über die vereinbarte regelmäßige Arbeitszeit hinaus bis zur regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von Vollbeschäftigten geleistet werden. Damit wird die eingangs vollzogene Abgrenzung zwischen Mehr- und Überarbeit umgedreht mit der Folge, dass Überstunden im dem TVöD unterfallenden Arbeitsverhältnis besser vergütet werden als Mehrarbeit.

35

Auch der TVöD enthält eine Regelung zum Ausgleich durch Freizeit. So werden angeordnete Überstunden erst zuschlagspflichtig, wenn sie bis zum Ende der folgenden Kalenderwoche nicht ausgeglichen werden. Zur Vermeidung von Mehrarbeit kann aber auch ein wöchentlicher Arbeitszeitkorridor von bis zu 45 Stunden durch Betriebs- oder Dienstvereinbarung eingerichtet werden. Allerdings sieht der TV zugleich vor, dass die durchschnittliche Wochenarbeitszeit im einjährigen Ausgleichszeitraum erreicht werden muss. Die Regelung dient damit nicht wie bspw. die der chemischen Industrie der Variierung der Arbeitszeitdauer insgesamt, sondern der Verteilung der Arbeitszeit innerhalb eines Ausgleichszeitraums. Erfolgt kein Zeitausgleich innerhalb des Ausgleichszeitraumes, ist die über die tarifvertraglich festgelegte Arbeitszeit hinausgehende Arbeit mit 100 % des individuellen Entgelts zzgl. etwaiger Zuschläge auszugleichen.

36

Die Höhe der Zuschläge für Überstunden ist im TVöD nach Entgeltstufen gestaffelt. Ebenso wie bei der dargestellten Chemieregelung geht der TV vom vorrangigen Ausgleich durch Freizeit aus. Kommt es nicht zum Ausgleich, ist dem Arbeitnehmer neben dem Überstundenzuschlag auch das Stundenentgelt zu gewähren. Dessen Bemessung richtet sich also nach dem Entgelt für die tatsächliche Arbeitsleistung entsprechend der jeweiligen Entgeltgruppe und der individuellen Stufe, höchstens jedoch nach der Stufe 4 (s. Protokoll-Erklärung zu § 8 Abs. 1 Satz 1 TVöD).

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1 Ziepke/Weiss, § 5 MTV Anm. 5. 2 Ziepke/Weiss, § 5 MTV Anm. 5.

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Teil 5 (16)

Rz. 1

Meistbegünstigungsklauseln

(16) Meistbegünstigungsklauseln Literatur: Hanau, Die tarifvertragliche Meistbegünstigung im öffentlichen Dienst, ZTR 2008, 234; Rieble/Klebeck, Tarifvertragliche Meistbegünstigung, RdA 2006, 65; Waas, Firmentarifvertrag und verbandstarifvertragliche Meistbegünstigungsklausel, ZTR 2000, 341.

I. Zweck und Kontext 1

Meistbegünstigungsklauseln bestehen in aller Regel aus zwei Elementen. Zunächst aus einer Verpflichtung der TV-Parteien, keine günstigeren TVe mit Dritten abzuschließen. Des Weiteren wird für den Fall, dass ein solcher TV dennoch abgeschlossen wird, der anderen TV-Partei ein Recht eingeräumt, die abweichenden Regelungen aus diesem TV ganz oder teilweise zu übernehmen. Diese Befugnis kann auf einzelne Regelungsgegenstände, wie etwa die Arbeitszeit, beschränkt sein.

2

Die TV-Parteien verfolgen mit sogenannten Meistbegünstigungsklauseln unterschiedliche Ziele. Für die Arbeitgeber geht es zunächst um die Ausschaltung von Unterbietungskonkurrenz durch abweichende, günstigere TVe. Meistbegünstigungsklauseln bezwecken Anreize zum Verbandsaustritt zu beseitigen, die durch Unterbietungskonkurrenz entstehen. Daneben ist dem Arbeitgeberverband die Aufrechterhaltung der Verhandlungssolidarität seiner Mitglieder wichtig. Er hat in ihrem Interesse darauf zu achten, dass einzelne Verbandsmitglieder nicht aus dem abgeschlossenen FlächenTV durch günstigere FirmenTVe ausbrechen, weil ansonsten die Attraktivität des Verbandes und seiner TVe geschmälert wird1. Für die Gewerkschaften dienen Meistbegünstigungsklauseln in erster Linie dazu, die Einigungsbereitschaft der Arbeitgeberseite zu erhöhen, indem durch die Meistbegünstigungsklausel die Absicherung vergleichbarer Wettbewerbsbedingungen angeboten wird.

3

Meistbegünstigungsklauseln sind schuldrechtliche Regelungen im TV2. Sie berechtigen und verpflichten daher ausschließlich die Parteien des TVes. Deswegen kann eine Meistbegünstigungsklausel die Wirksamkeit von TVen, deren Abschluss gegen sie verstößt, nicht hindern3. Ebenso wenig beeinflussen Meistbegünstigungsklauseln die Fähigkeit zum Abschluss von abweichenden TVen4. Meistbegünstigungsklauseln führen auch nicht zu einer automatischen Übernahme abweichender Regelungen aus anderen TVen5. Damit bleibt eine solche Vereinbarung zunächst weitgehend wirkungslos.

1 Witt, Der Firmentarifvertrag, 2004, S. 306. 2 ArbG Berlin v. 4.1.2008 – 91 Ca 7827/07, ZTR 2008, 250 (251); Waas, ZTR 2000, 341 (344); Witt, Der Firmentarifvertrag, 2004, S. 306 f. 3 BAG v. 8.10.2008 – 5 AZR 8/08, NZA 2009, 98 (100); Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 201 Rz. 19. 4 BAG v. 8.10.2008 – 5 AZR 8/08, NZA 2009, 98 (100). 5 Witt, Der Firmentarifvertrag, 2004, S. 306.

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Meistbegünstigungsklauseln

Rz. 7 Teil 5 (16)

Deswegen wird sie in der Praxis mit einer (wechselseitigen) schuldrechtlichen Verpflichtung verbunden, die Regelungen des unter Verstoß gegen die Meistbegünstigungsklausel abgeschlossenen TVes, in den TV, der durch die Meistbegünstigungsklausel gesichert wird, zu übernehmen. Sobald ein günstigerer abweichender TV mit einer anderen TV-Partei geschlossen wird, gilt dies zugleich als Angebot auf Übernahme der abweichenden Regelungen in das durch die Meistbegünstigungsklausel gesicherte Tarifwerk. Dieses Angebot muss nur noch durch die andere Partei des TVes angenommen werden1. Dabei wird der TV-Partei, die sich auf die Meistbegünstigungsklausel beruft, bisweilen ein Wahlrecht eingeräumt, die abweichenden Bestimmungen ganz oder lediglich teilweise2 in den TV zu übernehmen.

4

Ob eine TV-Partei sich auf die Meistbegünstigungsklausel berufen kann, richtet sich nach der Ausgestaltung der jeweiligen Klausel im TV und ist damit Auslegungsfrage (zur Auslegung des schuldrechtlichen Teils von TVen vgl. Teil 4)3. So kann etwa die Meistbegünstigungsklausel auf bestimmte Regelungsgegenstände beschränkt sein oder eine bestimmte Form der Abweichung zu ihrem Gegenstand machen.

5

Mit Blick auf den zunehmenden Koalitionspluralismus4 erscheint es auch denkbar, dass die Arbeitgeberseite einer Gewerkschaft eine Meistbegünstigungsklausel mit Blick auf die TVe von konkurrierenden Gewerkschaften anbietet, um mit dieser eine Einigung zu erreichen. Dies könnte insbesondere dann in Betracht kommen, wenn in einem Unternehmen Spartengewerkschaften für einzelne Berufsgruppen günstigere Arbeitsbedingungen auszuhandeln versuchen. Der Arbeitgeber kann dann einer Gewerkschaft, die für die gesamte Belegschaft verhandelt, anbieten, dass der TV zunächst für das gesamte Unternehmen abgeschlossen wird und eine spätere, abweichende, günstigere Vereinbarung mit der Spartengewerkschaft in das Tarifwerk übernommen wird (Partizipationsklausel). Auf diesem Weg kann eine schnellere Befriedung von Tarifauseinandersetzungen erreicht werden, wenn eine Synchronisierung der Tarifverhandlungen mit den im Betrieb vorhandenen Gewerkschaften nicht möglich ist oder fehlschlägt.

6

Meistbegünstigungsklauseln haben bislang vor allem im BRTV und im TVöD eine Rolle gespielt. Der TV Meistbegünstigung vom 9.2.2005 sicherte dem Bund und der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) zu, dass, sofern mit einem oder mehreren Bundesländern ein TV mit günstigeren Regelungen mit Blick auf Arbeitszeit und Sonderzahlungen sowie das Entgelt vereinbart werden sollte, dies als Angebot auf Übernahme der Gesamtheit oder Teile dieser Regelungen durch ver.di anzusehen sei. Ziel des TVes war es, dafür zu sorgen, dass die Bedingungen für Bund und Kommunen nicht schlechter sind als die der Länder, und eine Vereinheitlichung der im TV Meistbegünstigung bezeichneten Regelungsgegenstände zu bewirken. Da eine Übernahme

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1 ArbG Berlin v. 4.1.2008 – 91 Ca 7827/07, ZTR 2008, 250 (251). 2 Hiergegen erheben ArbG Berlin v. 4.1.2008 – 91 Ca 7827/07, ZTR 2008, 250 (251) und Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 201 Rz. 19, Bedenken. 3 ArbG Berlin v. 4.1.2008 – 91 Ca 7827/07, ZTR 2008, 250 (251). 4 Vgl. dazu im vorliegenden Zusammenhang Krebber, RdA 2011, 23 (29 f.).

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Teil 5 (16)

Rz. 8

Meistbegünstigungsklauseln

der Regelungen des TVöD durch die Länder von ver.di nicht erreicht werden konnte, kam es zu einer hochkomplexen Regelung der Arbeitszeit in § 6 TV-L1. Diese sollte bewirken, dass die Rechtsfolge der Meistbegünstigungsklausel nicht ausgelöst wird. Ob dies der Fall war, war umstritten2. Der Streit ist mittlerweile beigelegt, der TV Meistbegünstigung ist von ver.di zum 31.12.2007 fristgerecht gekündigt worden. Eine Nachwirkung war ausgeschlossen3. 8

Die Wirksamkeit von tarifvertraglichen Meistbegünstigungsklauseln wird unter einer Vielzahl von Gesichtspunkten bestritten. Gleichwohl sind Meistbegünstigungsklauseln wirksam4. Sie sind nicht zuletzt als Mittel der Bestandserhaltung für Arbeitgeberverbände von der in Art. 9 Abs. 3 GG enthaltenen Betätigungsgarantie verfassungsrechtlich geschützt.

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Meistbegünstigungsklauseln führen nicht dazu, dass eine oder beide TV-Parteien sich (in verfassungswidriger Weise) ihrer Tarifverantwortung begeben, weil ihre Freiheit zu differenzierender Tarifpolitik beschnitten wird5. Da eine Meistbegünstigungsklausel die Befugnis zum Abschluss inhaltlich abweichender TVe nicht beschränkt, kommt eine Verletzung von Art. 9 Abs. 3 GG nicht in Betracht. Im Übrigen wird die entsprechende Regelung von jeder TV-Partei autonom herbeigeführt. Sie muss bei Tarifverhandlungen mit Dritten lediglich die Rechtsfolgen, die ein TV aufgrund der Meistbegünstigungsklauseln haben kann, bedenken. Dies ist unproblematisch, weil sie die Klausel in Kenntnis solcher zukünftigen TV-Verhandlungen schließt. Dementsprechend ist davon auszugehen, dass Meistbegünstigungsklauseln auch in Ansehung solcher potentiellen zukünftigen TVe von der tarifschließenden Gewerkschaft für sachgerecht gehalten werden6. Dies gilt auch umgekehrt für die TVe, die sie nach Abschluss der Meistbegünstigungsklausel schließt.

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In engem Zusammenhang mit der Überlegung, die Gewerkschaft begebe sich in verfassungswidriger Weise ihrer Tarifverantwortung, steht ein weiteres Argument gegen die Wirksamkeit von Meistbegünstigungsklauseln. So wird angenommen, diese seien als unzulässige dynamische Verweisung auf einen fremden TV anzusehen7. Die Gewerkschaft verletze ihre Tarifverantwortung gegenüber ihren Mitgliedern, wenn sie der ganzen oder teilweisen Übernahme von Regelungen aus einem anderen TV zustimme. Denn dessen Richtigkeitsgewähr beziehe sich auf andere Sachverhalte und werde darüber hinaus noch dadurch, dass lediglich Teile der Regelungen übernommen werden könnten, 1 Vgl. dazu Rieger, ZTR 2006, 402 (403 f.). 2 Ablehnend ArbG Berlin v. 4.1.2008 – 91 Ca 7827/07, ZTR 2008, 250; vgl. dazu Hanau, ZTR 2008, 234 ff. 3 Vgl. hierzu Gaumann in Bepler/Böhle/Meerkamp/Stöhr, Beck-OK TV-L, Anhang zu § 6 Rz. 9.1. 4 Hanau, ZTR 2008, 234; Däubler/Reim/Ahrendt, § 1 TVG Rz. 1073; Thüsing/Burg, FS Otto, 2008, S. 555 (564 ff.); Witt, Der Firmentarifvertrag, 2004, S. 306 f.; a.A. HWK/ Henssler, § 1 TVG Rz. 73; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 77 f.; Rieble/Klebeck, RdA 2006, 65 ff.; Söllner, Sonderbeilage zu NZA Heft 24/2000, 33 (39). 5 A.A. Bayreuther, Tarifautonomie, S. 317; Bonin, Standortsicherung versus Tarifbindung, 2003, S. 320; Rieble/Klebeck, RdA 2006, 65 (68). 6 Dies übersehen Rieble/Klebeck, RdA 2006, 65 (68). 7 A.A. Hanau, ZTR 2008, 234 (236 f.).

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Meistbegünstigungsklauseln

Rz. 12 Teil 5 (16)

aufgehoben. Dies ist bereits im Ausganspunkt unzutreffend, weil die Meistbegünstigungsklausel sich ausschließlich auf TVe bezieht, die die Gewerkschaft selbst abschließt1. Diese werden von ihr in Kenntnis der Meistbegünstigungsklausel abgeschlossen2. Die Klausel ist auch gerade nicht dynamisch gefasst, sondern setzt mehrere Zwischenakte (Abschluss des TVes und Ausübung des Rechts auf Übernahme) voraus3. Richtigerweise wird man davon ausgehen dürfen, dass die TV-Parteien die Meistbegünstigungsklausel bei nachfolgenden TV-Verhandlungen im Blick haben, so dass davon auszugehen ist, dass abweichende Regelungen in Ansehung der Meistbegünstigungsklausel als sachgerecht anzusehen sind4. Deswegen verkennt es auch die Wirkungsweise von Meistbegünstigungsklauseln, wenn davon ausgegangen wird5, diese führten zu einer Übertragung der Tarifverantwortung auf Dritte. Der TV, der die Rechtsfolgen der Meistbegünstigungsklausel auslöst, wird ja von der durch die Meistbegünstigungsklausel verpflichteten Gewerkschaft selbst verantwortet6. Dass dies in Verhandlungen mit einer anderen TV-Partei geschieht, ist irrelevant. Die Gewerkschaft kann deren Forderungen ablehnen, wenn sie sie in Ansehung der Meistbegünstigungsklausel für sachwidrig hält7. Dementsprechend liegt in der Vereinbarung einer Meistbegünstigungsklausel auch kein Verstoß einer TV-Partei gegen die Tarifverantwortung im Innenverhältnis zu ihren Mitgliedern8. Sie verliert durch die Meistbegünstigungsklausel weder ihre Tariffähigkeit noch werden TVe, die gegen die Meistbegünstigungsklausel verstoßen, unwirksam. Deswegen liegt auch kein unzulässiger Grundrechtsverzicht vor, wenn eine Meistbegünstigungsklausel in einem TV vereinbart wird9. Die Entscheidung, einem TV-Partner eine Meistbegünstigung zu gewähren, ist vielmehr verfassungsrechtlich geschützte Ausübung der Koalitionsfreiheit und Ausübung des tarifpolitischen Mandats. Ob sich eine Gewerkschaft in Ansehung der Notwendigkeit, bei zukünftigen Tarifverhandlungen die Meistbegünstigung im Blick zu haben, binden will, ist von ihr autonom im Rahmen ihrer Einschätzungsprärogative zu beurteilen10. Treten unüberbrückbare Schwierigkeiten auf, bleibt die Möglichkeit, den TV mit der Meistbegünstigungsklausel zu kündigen oder bei der nächsten Tarifrunde eine solche nicht mehr abzuschließen.

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Soweit darüber hinaus vertreten wird, die Koalitions- und Vertragsfreiheit Dritter werde unzumutbar beeinträchtigt, weil ihnen durch die Meistbegünstigungsklausel „der verhandlungsbereite Gegenspieler abhanden“ komme11, ist dies unzutreffend. Das Gleiche gilt für die Annahme, die Meistbegünstigungs-

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1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11

Thüsing/Burg, FS Otto, 2008, S. 555 (565). Waas, ZTR 2000, 341 (346). Witt, Der Firmentarifvertrag, 2004, S. 306. Thüsing/Burg, FS Otto, 2008, S. 555 (565); Waas, ZTR 2000, 341 (346). Bayreuther, Tarifautonomie, S. 318. Waas, ZTR 2000, 341 (346). Im Erg. ähnlich ArbG Berlin v. 4.1.2008 – 91 Ca 7827/07, ZTR 2008, 250 (251 f.). So aber: Bayreuther, Tarifautonomie, S. 317; Rieble/Klebeck, RdA 2006, 65 (69). So aber: Bayreuther, Tarifautonomie, S. 317. Hanau, ZTR 2008, 234 (237). So, wenn auch widersprüchlich, Rieble/Klebeck, RdA 2006, 65 (68).

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Rz. 13

Meistbegünstigungsklauseln

klausel nehme den Arbeitgebern, die nicht am TV beteiligt sind, (faktisch) ihre Tariffähigkeit1. Schon der tatsächliche Ausgangspunkt ist unzutreffend. Auf Gewerkschaftsseite steht ein Verhandlungspartner zum Abschluss von TVen ja bereit. Dieser ist lediglich nicht zu jedem vom Arbeitgeber gewünschten Abschluss gewillt. Diese Folge der Meistbegünstigungsklausel ist unbedenklich. Einzelne Arbeitgeber oder andere Arbeitgeberverbände mögen ein Interesse am Abschluss von TVen mit der Gewerkschaft haben. Dieses mag auch darauf gerichtet sein, einen günstigeren TV abzuschließen, als dies der Partei des TVes mit der Meistbegünstigungsklausel gelungen ist. Indes ist dieses Interesse rechtlich nicht geschützt2. Es gibt keinen Anspruch eines Arbeitgebers auf Aufnahme von Tarifverhandlungen durch eine Gewerkschaft. Noch weniger muss sich diese auf bestimmte Inhalte eines TVes einlassen. Verfügt der Arbeitgeber über genügend soziale Macht, um einen abweichenden TV durchzusetzen, so kann ihn die Meistbegünstigungsklausel hieran nicht hindern3. 13

Soweit vereinzelt in Meistbegünstigungsklauseln ein unzulässiger Vertrag mit Lastwirkungen für Dritte gesehen wird4, verkennt dies bereits die Tatbestandsvoraussetzungen für die Unzulässigkeit solcher Verträge5. Das allgemeine Interesse am Erhalt der durch die Teilnahme am Rechtsverkehr offen stehenden Vereinbarungschancen ist kein derartig verfestigtes Recht, dass jeder dagegen verstoßende Vertrag ein Vertrag zulasten Dritter und damit unwirksam ist6. Vielmehr kann dieses Interesse nur im Einzelfall mit den berechtigten Regelungsinteressen der an dem Vertragswerk mit Drittwirkung beteiligten Parteien abgewogen werden7. Für Meistbegünstigungsklauseln gibt es aber erhebliche, verfassungsrechtlich geschützte Interessen der TV-Parteien (vgl. Rz. 2, 6). Die entgegenstehenden Interessen sind größtenteils weder verfassungsrechtlich noch einfachrechtlich geschützt. Die Interessenabwägung fällt daher in aller Regel zugunsten der Parteien des TVes mit der Meistbegünstigungsklausel aus.

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II. Beispiel § 17 Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe vom 4. Juli 2002 in der Fassung vom 17. Dezember 2003, 14. Dezember 2004, 29. Juli 2005, 19. Mai 2006 und 20. August 2007 (BRTV-Bau) – Durchführung des Vertrages Die Tarifvertragsparteien verpflichten sich, mit anderen Organisationen und einzelnen Arbeitgebern keine Tarifverträge zu vereinbaren, die von diesem Tarifvertrag inhaltlich abweichen. Schließt eine Tarifvertragspartei gleichwohl einen Satz 1 widersprechenden Tarifvertrag ab, so kann die andere Tarifvertragspartei verlangen, 1 2 3 4 5

So wohl Bonin, Standortsicherung versus Tarifbindung, 2003, S. 322. A.A. Rieble/Klebeck, RdA 2006, 65 (71 f.). Dies übersehen Rieble/Klebeck, RdA 2006, 65 (71 f.). Rieble/Klebeck, RdA 2006, 65 (69). Thüsing/Burg, FS Otto, 2008, S. 555 (564 f.); vgl. dazu Strauß/Ulber D., Anm. zu BAG EzA Art 9 GG Nr. 104. 6 Martens, AcP 177 (1977), 112 (137). 7 Martens, AcP 177 (1977), 112 (137).

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Meistbegünstigungsklauseln

Rz. 20 Teil 5 (16)

dass die abweichenden Bestimmungen ganz oder teilweise Inhalt dieses Tarifvertrages werden. Die Tarifvertragsparteien verpflichten sich, gemeinsam die Allgemeinverbindlicherklärung zu beantragen.

III. Kommentierung § 17 BRTV-Bau weist keine wesentlichen Besonderheiten auf. Er wirkt als schuldrechtliche Regelung nur zwischen den Parteien des TVes (vgl. dazu Rz. 3). § 17 Satz 1 BRTV-Bau enthält eine Verpflichtung der TV-Parteien, mit anderen Organisationen und einzelnen Arbeitgebern keine inhaltlich abweichenden TVe zu vereinbaren.

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§ 17 Satz 2 BRTV-Bau sieht vor, dass, sofern eine TV-Partei einen Satz 1 widersprechenden TV abschließt, die andere TV-Partei verlangen kann, dass dessen abweichende Bestimmungen ganz oder teilweise Inhalt dieses TVes werden.

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Ein TV, der die Rechtsfolgen der Meistbegünstigungsklausel auslöst, liegt nicht nur dann vor, wenn Mitglieder des Arbeitgeberverbandes einen abweichenden FirmenTV abschließen, sondern bei jedem anderen von einer der TVParteien geschlossenen TV1. Auch Sanierungs-TVe können erfasst sein.

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Nach § 17 BRTV-Bau ist auch die teilweise Übernahme von Regelungen möglich. Alleine mit der Möglichkeit der teilweisen Übernahme von Regelungen ist aber noch nichts darüber gesagt, ob eine Regelung teilbar ist. Es spricht einiges dafür, dass Regelungen inhaltlich derart eng mit einander verknüpft sein können, dass eine teilweise Übernahme nicht möglich ist. Dies ist eine Frage der Auslegung des jeweiligen TVes.

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§ 17 BRTV ist wirksam. Dies gilt für die Meistbegünstigungsklausel insgesamt, also auch insoweit, als sie nicht nur die vollständige Übernahme der abweichenden Regelungen gestattet, sondern auch deren teilweise Übernahme ermöglicht. Soweit man hiergegen Bedenken haben könnte, weil dies es ermöglicht, Regelungen auseinander zu reißen und damit den Kompromisscharakter und die Richtigkeitsgewähr des TVes aufzulösen2, greifen diese nicht durch. Zunächst werden die entsprechenden Regelungen in Kenntnis der Meistbegünstigungsklausel vereinbart, so dass davon auszugehen ist, dass die TVParteien sie auch mit Blick auf deren Rechtsfolgen als sachgerecht angesehen haben (vgl. dazu oben Rz. 9 ff.). Des Weiteren ist der TV, in den die Regelungen übernommen werden, von den TV-Parteien in Ansehung der Meistbegünstigungsklausel als sachgerecht angesehen worden.

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Besonderheiten ergeben sich mit Blick auf die Allgemeinverbindlicherklärung des BRTV. Die Meistbegünstigungsklausel nimmt als schuldrechtliche Abrede nicht an der Allgemeinverbindlicherklärung teil3. Der Gebrauch von der Meist-

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1 Waas, ZTR 2000, 341 (345 f.). 2 ArbG Berlin v. 4.1.2008 – 91 Ca 7827/07, ZTR 2008, 250 (251); Schaub/Treber, ArbRHdb., § 201 Rz. 19. 3 Wiedemann/Wank, § 5 TVG Rz. 161 ff.

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Teil 5 (17)

Rz. 1

Öffnungsklauseln/Genehmigungsvorbehalte

begünstigungsklausel führt die gleichen Rechtsfolgen herbei, die auch ansonsten bei einer Änderung eines für allgemeinverbindlich erklärten TVes entstehen (vgl. dazu Teil 7 Rz. 78 ff.)1.

(17) Öffnungsklauseln/Genehmigungsvorbehalte Literatur: Dieterich, Flexibilisiertes Tarifrecht und Grundgesetz, RdA 2002, 1; Gentz, Werden die geltenden Tarifverträge der betrieblichen Praxis gerecht?, in: Festschrift für Schaub, 1998, S. 205; Heinze, Tarifautonomie und Günstigkeitsprinzip, NZA 1991, 329; Heinze, Gibt es eine Alternative zur Tarifautonomie?, DB 1996, 729; Heinze, Anforderungen an einen zukunftsfähigen Flächentarifvertrag – Brauchen wir ein neues Tarifrecht?, in: Festschrift für Weinspach, 2002, S. 103; v. Hoyningen-Huene/Meier-Krenz, Flexibilisierung des Arbeitsrechts durch Verlagerung tariflicher Regelungskompetenzen auf den Betrieb, ZfA 1988, 293; Kissel, Das Spannungsfeld zwischen Betriebsvereinbarung und Tarifvertrag, NZA 1986, 73; Kittner, Öffnung des Flächentarifvertrags, in: Festschrift für Schaub, 1998, S. 389; Natzel, Gesetzliche Öffnungsklausel im Kommen?, NZA 2005, 903; Natzel, Subsidiaritätsprinzip im kollektiven Arbeitsrecht, ZfA 2003, 103; Rieble, Öffnungsklausel und Tarifverantwortung, ZfA 2004, 405.

I. Zweck und Kontext 1

Das zweigliedrige System kollektiven Interessenausgleiches einerseits auf betrieblicher Ebene und andererseits auf tariflicher Ebene zielt darauf ab, Konflikte aus den Betrieben herauszuhalten. Es beruht auf der Grundüberlegung, dass auf betrieblicher Ebene mit besonderen Rechten und Pflichten ausgestattete, dafür aber ohne ein Arbeitskampfrecht versehene Betriebsparteien zum Wohle der Arbeitnehmer und des Betriebs zusammenarbeiten (§ 2 Abs. 1 BetrVG). TV-Parteien sind keinem vergleichbaren Reglement unterworfen, besitzen aber das Arbeitskampfrecht, das anstelle der betriebsverfassungsrechtlich geregelten Zwangsschlichtung tritt. Dies entledigt die TV-Parteien zwar nicht von der Verpflichtung zur Zusammenarbeit, zeigt aber wohl die unterschiedliche Funktionswahrnehmung durch die Betriebs- und TV-Parteien2. Allerdings können die Systeme kollektiver Interessenwahrnehmung einerseits auf betrieblicher, andererseits auf tarifvertraglicher Ebene nicht getrennt voneinander gesehen werden. Vielmehr greifen sie immer intensiver ineinander, wie die Praxis immer zahlreicher werdender Öffnungsklauseln belegt, mit denen das System des FlächenTVes in Zeiten des Europäischen Binnenmarktes und der Globalisierung durch Möglichkeiten differenzierter Ausgestaltung tarifvertraglich vorgegebener Rahmenbedingungen flexibilisiert wurde und wird. Durch dieses Zusammenspiel wird gewährleistet, dass mit Mitteln des TVes in seiner friedens- und ordnungsstiftenden Funktion Rahmenbedingungen geschaffen werden, die ein Höchstmaß an Akzeptanz genießen, zugleich aber auf den Betrieb zugeschnittene Lösungen ermöglichen3. 1 Waas, ZTR 2000, 341 (346). 2 Dazu auch Dieterich, RdA 2002, 1 ff.; Natzel, NZA 2005, 903 ff. 3 S. dazu auch Gentz, FS Schaub, S. 214 f.; Natzel, NZA 2005, 904.

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Öffnungsklauseln/Genehmigungsvorbehalte

Rz. 3 Teil 5 (17)

Mittels tarifvertraglicher Öffnungsklauseln wird die Möglichkeit eingeräumt, vom TV abweichende Regelungen zu treffen. Ihre rechtliche Grundlage finden sie in § 4 Abs. 3 TVG, wonach die TV-Parteien von ihren Tarifnormen abweichende Abmachungen gestatten können. Sie verzichten damit auf die zwingende Normwirkung ihrer tarifvertraglichen Regelungen, setzen anstelle dessen dispositives Recht und machen dadurch den TV für die Betriebe sowie die dort Beschäftigten letztlich handhabbar1. Von „Delegation der Tarifmacht“ insoweit zu sprechen, lehnt das BAG ab. Soweit von Öffnungsklauseln Gebrauch gemacht wird, wird nach Auffassung des BAG nicht aufgrund einer Ermächtigung der TV-Parteien gehandelt, da in Wahrnehmung der gesetzlichen Regelungsbefugnis gehandelt werde2. Soweit also Öffnungsklauseln eine Abweichung vom TV ermöglichen, gewinnen die Betriebsparteien, ggf. aber auch die Parteien des Individualarbeitsvertrags eine Regelungsbefugnis, die ihnen ohne die Tariföffnung nicht zustehen würde; die Öffnung ist damit aber nicht zugleich mit einer Ermächtigung oder Delegation verbunden3. Selbstverständlich geht es bei der Frage nach Flexibilisierung von Arbeitsbedingungen um wirtschaftliche Aspekte der Unternehmen, weshalb es zuallererst um ein Abweichen tariflicher Mindeststandards zuungunsten von Arbeitnehmern geht, um einen Kosteneffekt zu erreichen; einer Regelung für ein Abweichen zugunsten von Arbeitnehmern bedarf es von vorherein nicht, da dies aufgrund des § 4 Abs. 3 TVG innewohnenden Günstigkeitsprinzips stets zulässig ist4. Allerdings stehen die wirtschaftlichen Aspekte nicht für sich alleine, wie Regelungen zur Einstellung und Förderung leistungsschwacher oder arbeitsloser Arbeitnehmer oder die Öffnung des Tarifentgelts zugunsten der Anlage in Systemen der betrieblichen Altersversorgung belegen. Solche Regelungen zeigen, dass die Ausübung von Kollektivautonomie keinen Selbstzweck darstellt, sondern eine auf die Privatautonomie des Einzelnen bezogene Hilfsfunktion hat5. Diese kann auch begrenzend wirken, nämlich dort, wo sie Privatautonomie zu überlagern droht6. Hier gilt es für TV-Parteien, durch eine Gestattung abweichender Vereinbarungen nach § 4 Abs. 3 TVG vorzubeugen. Dies kann in unterschiedlicher Form erfolgen, was im Rahmen der tarifvertraglichen Gestattung selbst zu bestimmen ist. Sie kann eine Abweichung durch einen anderen TV, Betriebsoder Individualvereinbarung vorsehen7. Auch wenn § 4 Abs. 3 TVG von abweichenden „Abmachungen“ spricht, kann die tarifvertragliche Gestattung auch Abweichungen vom tarifvertraglich Geregelten zulassen, indem sie dem Arbeitgeber Gestaltungsrechte zugesteht8. Diese wirken direktionsrechtserweiternd und werden in der Praxis vielfach als Kompensationsinstrument dann eingesetzt, wenn eine tarifvertragliche Regelung rechtsbeschränkend wirkt oder dem Ar1 Heinze, NZA 1997, 7, hat insoweit auch eine „Krise des Flächentarifvertrags“ zurück-, wohl aber auf die Frage der „Handhabung des Flächentarifvertrags“ hingewiesen. 2 BAG v. 20.8.1991 – 1 ABR 85/90, NZA 1992, 317; s. hierzu auch Rieble, ZfA 2004, 405 ff. 3 Rieble, ZfA 2004, 411. 4 S. auch MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 182 Rz. 2 ff. 5 Heinze, NZA 1991, 331; Natzel, NZA 2005, 904. 6 Heinze, DB 1996, 729; Natzel, NZA 2005, 905; Natzel, ZfA 2003, 111. 7 MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 182 Rz. 1; Rieble, ZfA 2004, 407. 8 MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 182 Rz. 7.

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Rz. 4

Öffnungsklauseln/Genehmigungsvorbehalte

beitgeber zusätzliche Belastungen aufbürdet, wie es etwa bei kündigungsbeschränkenden Regelungen der Fall sein kann. Die hier zu behandelnden Öffnungsklauseln haben als Bezugspunkt eine normativ wirkende Tarifregelung, von der abgewichen werden kann. Wird von der Öffnungsklausel kein Gebrauch gemacht, gilt also das tariflich Geregelte. Damit unterscheiden sich tarifvertragliche Öffnungsklauseln von ergänzungsbedürftigen/-fähigen Rahmenregelungen1. Solche auch als Bestimmungsklauseln bezeichneten Regelungen kennzeichnen sich dadurch aus, dass der TV bestimmte Arbeitsbedingungen nicht in allen Einzelheuten regelt, sondern der Konkretisierung bedarf2. Die Umsetzung der durch die Bestimmungsklausel eingeräumten Befugnis macht also den TV erst handhabbar. Die Zulässigkeit solcher Klauseln steht fest. Allerdings fordert das BAG aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit, dass die Bestimmungsklausel hinsichtlich des anvisierten Adressaten sowie des Umfangs hinreichend bestimmt ist3. Die in Ausübung des Bestimmungsrechts getroffene Regelung ergänzt den Tarifinhalt und schafft damit Normen, die wie Tarifvorschriften wirken und auch deren rechtliches Schicksal teilen. Sie enden mit dem Auslaufen des TVes, der die rechtliche Grundlage ihrer Entstehung geschaffen hat. Sieht der nachfolgende TV keine Bestimmungsklausel mehr vor, ist auch kein Raum mehr für den Fortbestand von Regelungen, die aufgrund einer solchen Klausel entstanden sind, es sei denn, ihr Fortbestand würde einzelvertraglich ausdrücklich vereinbart4. Macht der Arbeitgeber von der Bestimmungsklausel Gebrauch, hat er – gerichtlich nachprüfbar – den Vorgaben des TVes zu folgen und die Grundsätze billigen Ermessens zu berücksichtigen5. Wird die Konkretisierung beiden Betriebsparteien auferlegt6, ersetzt die Richtigkeitsvermutung der einvernehmlichen Regelung die Billigkeitskontrolle. Auch wenn dies teilweise thematisiert wurde7, kann die tarifvertragsrechtliche, aber auch verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit tarifvertraglicher Öffnungsklauseln nicht in Frage gestellt werden8. Insbesondere liegt auch keine Entäußerung der Tarifmacht vor, da die TV-Parteien diese auch bei Öffnung ihrer TVe beibehalten und die zwingende Wirkung ihrer Tarifregelungen stets im Rahmen der Ausübung der ihnen zustehenden Tarifautonomie durch Aufgabe der Öffnung herbeiführen können. Sie delegieren damit also nicht ihre Rechtsetzungskompetenz, sondern verzichten auf diese, ohne sie aber zu verlieren9.

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MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 182 Rz. 8. v. Hoyningen-Huene/Meier-Krenz, ZfA 1988, 295. BAG v. 28.11.1984 – 5 AZR 195/83, DB 1985, 183. BAG v. 28.11.1984 – 5 AZR 195/83, DB 1985, 183. v. Hoyningen-Huene/Meier-Krenz, ZfA 1988, 295. So z.B. § 14 MTV für die chemische Industrie, wonach „betrieblich im Einvernehmen mit dem Betriebsrat“ eine Verdienstsicherung für den Fall festzulegen ist, dass ein älterer Arbeitnehmer auf einen Arbeitsplatz mit geringeren Anforderungen unverschuldet versetzt wird. 7 S. dazu etwa Kempen/Zachert, TVG, Grundl. Rz. 266; Kissel, NZA 1986, 73 ff. 8 Vgl. dazu Rieble, ZfA 2004, 405. 9 Rieble, ZfA 2004, 407 ff., spricht daher zutreffend von einer „Selbstbeschränkung“ der TV-Parteien.

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Rz. 8 Teil 5 (17)

Von einer Tariföffnungsklausel ist die sog. Tarifoption zu unterscheiden. Auch hier wird eine Tarifmaterie für (regelmäßig freiwillige) Betriebsvereinbarungen geöffnet, wobei die TV-Parteien Leitlinien für die betriebliche Ausgestaltung den Betriebsparteien mit an die Hand geben1. Ein solches Modell haben bspw. die TV-Parteien der chemischen Industrie mit dem im Jahre 2002 vereinbarten Modell einer erfolgsabhängigen Gestaltung der tariflichen Jahresleistung geregelt2. Dieses lässt eine variable Gestaltung der auf 95 % eines Tarifentgelts festgelegten Jahresleistung in einer Bandbreite von 80 % und 125 % in Abhängigkeit zur wirtschaftlichen Situation des Betriebes oder des Unternehmens zu.

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1. Möglichkeiten der Abweichung Öffnungsklauseln können die Abweichung tariflich festgelegter Arbeitsbedingungen durch einen TV vorsehen3. Dieser muss wiederum wirksam abgeschlossen sein. Allerdings ist ein solcher TV nicht mittels Arbeitskampfes erzwingbar, soweit bereits ein FlächenTV besteht. Denn dann sperrt bereits dieser TV, von dem abgewichen werden soll, kraft seiner friedenpflichtenden Funktion selbst. Es gilt somit auch hier der Grundsatz: Haben die TV-Parteien eine Regelung getroffen, greift die Friedenspflicht; haben sie indes eine Materie ungeregelt gelassen, ist diese einem Arbeitskampf zugänglich4.

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Vielfach bildet die Betriebsvereinbarung das Gestaltungsmittel zur Festlegung vom Tarif abweichender Arbeitsbedingungen. Dabei kann die Öffnungsklausel nach Maßgabe des § 4 Abs. 3 TVG die zwingende Wirkung beseitigen, was zugleich zur Folge hat, dass die Sperrwirkung des § 87 Abs. 1 Einleitungssatz entfällt. Ob darüber hinaus den Betriebsparteien eine umfassende, die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG beseitigende Regelungskompetenz zugestanden sein soll, ist anhand des Einzelfalls zu ermitteln5. Es liegt in der Hand der TVParteien, inwieweit sie die Regelungsbefugnis auf die Betriebsparteien verlagern. Das BAG verneinte insoweit im Rahmen seiner Entscheidung zum sog. Leber-Kompromiss6, von einer delegierten Regelungsbefugnis zu sprechen, da die Betriebsparteien bei der Ausgestaltung einer tariflichen Rahmenregelung in Wahrnehmung ihrer gesetzlichen Regelungsbefugnisse handeln würden, und verwies auf Gefahren, wenn materielle Arbeitsbedingungen in größerem Umfang nicht durch TV selbst geregelt, sondern auf die Betriebsparteien verlagert werde. Ob es hierauf aber ankommt, ist fraglich. Denn letztlich geht es darum, ob die TV-Parteien auf den gesetzlich gewährleisteten Tarifvorrang im Rahmen der Ausübung ihrer Tarifautonomie bestehen oder nicht7. Die Tarifautonomie

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1 Fehlgehend daher Kittner, FS Schaub, S. 410 f., der das Modell der Tarifoption mangels eines nach § 1 TVG erforderlichen Tarifinhaltes ablehnt. Dieser Inhalt ist gerade angesichts der Vorgabe von Leitlinien gegeben. 2 S. § 5a TV über Einmalzahlungen und Altersvorsorge v. 18.9.2001 i.d.F. v. 9.6.2008. 3 S. hierzu auch Dieterich, RdA 2002, 5. 4 MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 182 Rz. 32. 5 MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 182 Rz. 29. 6 BAG v. 18.8.1987 – 1 ABR 30/86, NZA 1987, 779. 7 Kritisch insoweit aber Kittner, FS Schaub, S. 403 ff.

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Teil 5 (17)

Rz. 9

Öffnungsklauseln/Genehmigungsvorbehalte

und Rechtssetzungsbefugnis besteht; inwieweit und in welcher Form TV-Parteien davon Gebrauch machen, obliegt aufgrund ihrer grundgesetzlich gewährten Betätigungsfreiheit ihnen. 9

In der Praxis stellt den wohl häufigsten Fall der Abweichungsmöglichkeit die Öffnungsklausel zur Abweichung durch Betriebsvereinbarung dar. § 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG sieht dies als Regelungsmodell ausdrücklich vor. Mittels einer solchen Regelung soll die nach § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG den Betriebsparteien entzogene Gestaltungsmacht in dem durch die TV-Parteien bestimmten Umfang zurückgegeben werden1.

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Im Regelfall ist vorgesehen, dass die Abweichung kraft freiwilliger Betriebsvereinbarung erfolgt. Teilweise geschieht dies durch die Benennung der Abweichungsmöglichkeit durch „freiwillige Betriebsvereinbarung“2 oder den Verweis auf § 76 Abs. 6 BetrVG, dessen Anwendung gerade voraussetzt, dass es sich nicht um eine Materie der erzwingbaren Mitbestimmung handelt, die einigungsstellenfähig wäre3. Auch die Formulierung „kann durch Betriebsvereinbarung geregelt werden“ weist auf die Freiwilligkeit der Vereinbarung hin4. Ihr Abschluss kann in all diesen Fällen nicht über die Einigungsstelle erzwungen werden5. Wird die Betriebsvereinbarung freiwillig abgeschlossen, ist zu prüfen, ob sie ganz oder teilweise nachwirken soll. Dies zu vereinbaren, ist möglich6 und hat zur Folge, dass die Betriebsvereinbarung weiter unmittelbare Wirkung auch nach ihrer Beendigung behält.

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Öffnungsklauseln, die eine Abweichung vom tariflich Gebotenen „mit Zustimmung des Betriebsrats“7 oder „im Einvernehmen mit dem Betriebsrat“8 ermöglichen, verpflichten den Arbeitgeber bei Ingebrauchnahme der Öffnung zwingend, den Betriebsrat mit einzuschalten. Anderweitig kann er von der Öffnung nicht Gebrauch machen. Erzwingbar wird damit die Regelung allerdings nicht notwendigerweise. Sieht bspw. ein TV vor, dass die Betriebsparteien eine vom TV um 2 1/ 2 Stunden geringere oder höhere betriebliche Arbeitszeit vereinbaren können9, kann der Betriebsrat zwar nicht eine derzeitige Regelung ver-

1 BAG v. 20.4.1999 – 1 AZR 631/98, SAE 2000, 109 m. Anm. Natzel. 2 So kann bspw. in der chemischen Industrie der Zeitraum für die Verteilung der Arbeitszeit durch „freiwillige Betriebsvereinbarung“ von 12 auf bis zu 36 Monate verlängert werden (§ 2 I Ziff. 1 Abs. 3 MTV Chemie). 3 So kann in der chemischen Industrie die Lage von Altersfreizeiten „unter Berücksichtigung des § 76 Abs. 6 BetrVG“ geregelt werden (§ 2a MTV Chemie). 4 So „kann durch Betriebsvereinbarung“ in der chemischen Industrie das Modell der gleitenden Arbeitszeit eingeführt werden (§ 2 V MTV Chemie). 5 BAG v. 28.2.1984 – 1 ABR 37/82, NZA 1984, 230. 6 S. BAG v. 28.4.1998 – 1 ABR 43/97, NZA 1998, 1348. 7 So können in der chemischen Industrie Schichtübergabezeiten „mit Zustimmung des Betriebsrats“ festgelegt werden (§ 2 I Ziff. 2 Abs. 1 MTV Chemie). 8 So kann in der chemischen Industrie die Arbeitszeit für einzelne Arbeitnehmergruppen oder mit Zustimmung der TV-Parteien für größere Betriebsteile oder Betriebe „im Einvernehmen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat“ bis zu 2 1/ 2 Stunden abweichend von der tariflichen Arbeitszeit festgelegt werden (§ 2 I Ziff. 3 MTV Chemie). 9 So etwa im Fall vorerwähnten Arbeitszeitkorridors (des § 2 I Nr. 3 MTV Chemie).

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langen; der Arbeitgeber ist allerdings auch daran gehindert, eine abweichende Arbeitszeit ohne Beteiligung des Betriebsrats durchzusetzen. Soll „unter Beachtung des gesetzlichen Mitbestimmungsrechts“ von einer Öffnungsklausel Gebrauch gemacht werden können1, ist hierin lediglich ein Verweis auf das ohnehin bestehende Mitbestimmungsrecht zu sehen.

12

Soweit eine betriebliche Regelung zustande kommt, ist deren Wirkungsweise nicht unproblematisch, da mit der Ingebrauchnahme der Öffnung Arbeitnehmer erfasst werden, die ansonsten mangels Zugehörigkeit zur Gewerkschaft nicht von der Tarifwirkung erfasst worden wären. Während v. Hoyningen-Huene/Meier-Krenz2 für Bestimmungsklauseln die Auffassung vertreten, dass die Betriebsparteien über die betriebliche Regelung nicht den Mangel einer Tarifgebundenheit des Arbeitnehmers überwinden können, führen sie zur Ingebrauchnahme einer Öffnungsklausel durch Betriebsvereinbarung aus, diese könne unbeschadet einer Gewerkschaftszugehörigkeit die Normwirkung auf alle Arbeitnehmer eines Betriebs erstrecken und damit auch nicht organisierte Arbeitnehmer erfassen. Der betrieblichen Normsetzung seien alle Arbeitnehmer unterworfen, zumal sie über den von ihnen gewählten Betriebsrat als ihren Repräsentanten an der Normsetzung beteiligt sind; eine Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit könne hierin nicht gesehen werden. Dem ist zuzustimmen. Denn die Regelungsbefugnis der Betriebsparteien folgt der Betriebsautonomie, die als Folge der Beseitigung der Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG durch die Öffnung des TVes für entsprechende Betriebsvereinbarungen wieder auflebt3. Diese Auffassung trägt auch der Rechtsprechung des BAG Rechnung, nach der die Betriebspartner auch materielle Arbeitsbedingungen regeln können, wenn die TV-Parteien durch eine Öffnungsklausel die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG beseitigen4.

13

Wenngleich es in der Praxis eher der Ausnahmefall ist, kann eine Öffnungsklausel auch die Abweichung vom tariflich Vorgegebenen kraft individualvertraglicher Vereinbarung vorsehen.

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2. Umfang und Grenzen der Abweichung Ob und unter welchen Voraussetzungen von dem tariflich Normierten abgewichen werden kann, bestimmen die TV-Parteien5. Sie legen also fest, unter welchen formellen wie materiellen Voraussetzungen von einer Abweichungsmöglichkeit Gebrauch gemacht werden kann. Soweit der TV für Betriebsvereinbarungen geöffnet ist, muss er klar und eindeutig bestimmen, ob er lediglich für ergänzende oder abweichende Vereinbarungen geöffnet sein soll6. Stets be1 So kann in der chemischen Industrie „unter Beachtung des gesetzlichen Mitbestimmungsrechts“ Kurzarbeit eingeführt werden (§ 7 MTV Chemie). 2 S. zu dieser Problematik v. Hoyningen-Huene/Meier-Krenz, ZfA 1998, 297 f. 3 Buchner, NZA 1986, 378; Buchner, DB 1985, 916; v. Hoyningen-Huene/Meier-Krenz, ZfA 1998, 304. 4 BAG v. 18.8.1987 – 1 ABR 30/86, NZA 1987, 779. 5 MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 182 Rz. 9 ff. 6 Kort, NZA 2001, 479.

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Rz. 16

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grenzt sind die TV-Parteien insoweit durch übergeordnetes Recht; sie müssen also insbesondere die Grenzen ihrer Tarifmacht wahren und unterliegen den Bindungen der Grundrechte1.

a) Abweichung und Genehmigungsvorbehalt 16

Wenngleich dies nicht zwingend ist, wird in der Praxis vielfach die Ingebrauchnahme einer Öffnungsklausel von der Zustimmung der der TV-Parteien abhängig gemacht. Ein solcher Zustimmungsvorbehalt dient dazu sicherzustellen, dass die Voraussetzungen der Ingebrauchnahme einer Öffnungsklausel gegeben sind. Das BAG2 hat zu einer Tariföffnungsklausel, nach der die TV-Parteien einer von den Tarifregelungen abweichenden Betriebsvereinbarung zustimmen „sollen“, die Wirkung einer schuldrechtlichen Vereinbarung zugesprochen. Diese betreffe das Rechtsverhältnis zwischen den TV-Parteien und begründe gegenseitige Verhaltens- und Behandlungspflichten hinsichtlich der Einhaltung des tarifvertraglich geregelten Verfahrens zur Gewährung einer Abweichung vom tarifvertraglichen Normalstandard. Auch wenn die dieser Entscheidung zugrundeliegende Öffnungsklausel mit dem Wort „sollen“ bereits einen zwingenden Charakter aufwies mit der Folge, dass die unterlassene Zustimmung gewichtiger Gründe im Einzelfall bedurfte, kommt dieser Entscheidung eine grundlegende Bedeutung für die Fälle zu, dass die Öffnungsklausel ein Zustimmungsverfahren vorsieht. Denn die TV-Parteien trifft kraft des schuldrechtlichen Teils ihrer Vereinbarung die Pflicht, für die Umsetzung ihrer tarifvertraglichen Regelung Sorge zu tragen, wozu die Einhaltung eines tariflichen Mindeststandard ebenso gehören kann wie die tarifvertraglich vorgesehene Abweichung davon. Dies führt das BAG auch unter Berufung auf den Sinn und Zweck der jener Entscheidung zugrundeliegenden Öffnungsklausel aus, die dem Zweck der Beschäftigungssicherung und der Wettbewerbsverbesserung verfolgte. Eine solche Öffnungsklausel diene dem Ausgleich von Unzulänglichkeiten, die sich aus einer gleichförmigen und einheitlichen Anwendung der flächentarifvertraglichen Bestimmungen ergeben können. Das vereinbarte Zustimmungserfordernis qualifizierte das BAG insoweit als Verfahrensregelung, die den TV-Parteien diene, in gleicher Weise darüber zu wachen, dass die Möglichkeit einer abweichenden Regelung ohne Verstoß gegen das Tarifrecht und nach einheitlichen Kriterien erfolge. Die Ausübung des Zustimmungsrechts liege damit nicht im freien Belieben der TV-Parteien; auch insoweit gelten – so das BAG – die Bedingungen des Gleichheitssatzes.

b) Wirkung der Abweichung 17

Das, was eine Öffnungsklausel an Abweichungsmöglichkeiten zulässt, tritt an die Stelle des tariflich Normierten. Es wirkt also wie das tariflich Normierte. Lässt also bspw. eine Öffnungsklausel zu, dass der Tarifsatz X um einen bestimmten Prozentsatz unterschritten werden kann, wirkt das um diesen Satz reduzierte Entgelt als echtes Tarifentgelt, an dem sich dann ggf. alle weiteren Leistungen (z.B. Zulagen, Zuschläge, Jahresleistung) zu bemessen haben. 1 MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 182 Rz. 13 ff. sowie 22 ff. 2 BAG v. 20.10.2010 – 4 AZR 105/09, NZA 2010, 468.

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Rz. 20 Teil 5 (17)

In zeitlicher Hinsicht können TV-Parteien auch rückwirkend eine Abweichung vom TV zulassen. Allerdings ist eine solche Rückwirkung laut BAG durch die Grundsätze des Vertrauensschutzes begrenzt1. Dabei zieht das BAG die gleichen Grenzen wie bei der Rückwirkung von Gesetzen2. Danach gilt, dass rückwirkend der Normgeber auf bereits entstandene und fällige Rechtspositionen nur einwirken kann, wenn der Normadressat im Zeitpunkt des rückwirkenden Inkrafttretens der Norm keinen hinreichenden Vertrauensschutz auf den Fortbestand der bisherigen Rechtslage genießt.

18

Die zeitliche Dauer der Geltung der abweichenden Regelung zu bestimmen, obliegt den TV-Parteien. Diese können vorsehen, dass abweichende Regelungen nur einmalig zulässig sind. Ebenso können sie bestimmen, dass abweichende Regelungen nur befristet abgeschlossen werden können; dann greift nach Ablauf der Befristung wieder das tariflich Geregelte. Schließlich kann die Öffnungsklausel Abweichungen vom Tarif auf unbefristete Dauer zulassen. Solche Regelungen sehen aber regelmäßig ein Kündigungsrecht vor. Für den Fall, dass dieses ausgeübt wird, wirkt die abweichende Regelung nicht nach, wenn – was der überwiegenden Praxis entspricht – die TV-Parteien die Abweichungsmöglichkeit kraft freiwilliger Betriebsvereinbarung bestimmen. Allerdings können die Betriebsparteien die Nachwirkung der freiwilligen betrieblichen Regelung auch vereinbaren3. Dies kann unbefristet wie befristet geschehen. Allerdings ist bei der vereinbarten Nachwirkung zu beachten, dass sie vorbehaltlich einer anderweitigen Regelung nur solche Arbeitnehmer erfasst, die beim Auslaufen der befristeten Betriebsvereinbarung bereits in einem Arbeitsverhältnis stehen. Insofern kann es sich empfehlen, zugleich zu regeln, dass die nachwirkende Betriebsvereinbarung auch auf neu eingetretene Arbeitnehmer anzuwenden ist.

19

II. Beispiele Fn. 1 zum MTV Chemie

20

Arbeitgeber und Betriebsrat können unter Berücksichtigung der tariflichen Mindestbestimmungen ergänzend zu diesem Manteltarifvertrag Betriebsvereinbarungen im Sinne des § 77 Abs. 3 BetrVG unter Beachtung des § 76 Abs. 6 BetrVG abschließen. Das gilt nicht für die §§ 1, 4, 5, 7, 8, 10, 17 und 18 dieses Tarifvertrages. Bis zum Inkrafttreten dieses Tarifvertrages aufgrund der bisherigen Öffnungsklausel abgeschlossene, andere tarifliche Bestimmungen ergänzende Betriebsvereinbarungen wirken unabhängig von dieser Öffnungsklausel rechtsgültig weiter. Zur Sicherung der Beschäftigung oder zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit gegenüber tarifkonkurrierenden Bereichen können Arbeitgeber und Betriebsrat mit Zustimmung der Tarifvertragsparteien für Unternehmen, Betriebe und Betriebsabteilungen durch befristete Betriebsvereinbarung von den bezirklichen Ta1 BAG v. 20.4.1999 – 1 AZR 631/98, SAE 2000, 109 m. Anm. Natzel. 2 BAG v. 20.4.1999 – 1 AZR 631/98, SAE 2000, 109 m. Anm. Natzel. 3 Hanau, NZA-Beil. 2/1985, 3.

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Rz. 21

Öffnungsklauseln/Genehmigungsvorbehalte

rifentgeltsätzen abweichende niedrigere Entgeltsätze unter Beachtung des § 76 Absatz 6 BetrVG vereinbaren. In der Betriebsvereinbarung kann geregelt werden, dass sie nach Ablauf unbefristet weiter gilt. Tarifkonkurrierend sind solche Tarifverträge, die sich mit dem fachlichen Geltungsbereich des Manteltarifvertrages der chemischen Industrie überschneiden oder unter deren Geltungsbereich das Unternehmen, der Betrieb oder die Betriebsabteilung bei einer Ausgliederung oder Umstrukturierung fallen würde. Zwischen den Tarifvertragsparteien besteht Einvernehmen darüber, dass zur Sicherung der Beschäftigung oder Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit im Einzelfall abweichende tarifliche Regelungen auch in firmenbezogenen Tarifverträgen zwischen dem BAVC und der IG BCE vereinbart werden können. Soweit die tarifliche Regelung auch die bezirklichen Tarifentgeltsätze verändert, sind die firmenbezogenen Verbandstarifverträge von den regional zuständigen Arbeitgeberverbänden mit abzuschließen. 21

TV zur Beschäftigungssicherung für die Metall- und Elektroindustrie NRW vom 30.9.2005 – TV Besch (Auszug) § 2 Absenkung der Arbeitszeit 1. Bei vorübergehenden Beschäftigungsproblemen können Arbeitgeber und Betriebsrat zur Vermeidung von betriebsbedingten Kündigungen durch Betriebsvereinbarung die individuelle regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit einheitlich für alle Beschäftigten oder für Teile des Betriebes (Betriebsteile, Abteilungen, Beschäftigtengruppen) auf eine Dauer von unter 35 bis zu 30 Stunden absenken. Auch eine unterschiedliche Absenkung der Arbeitszeit und eine unterschiedliche Dauer der Absenkung können vereinbart werden. (…) Bei Beschäftigten mit einer von 35 Stunden abweichenden individuellen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit kann eine Absenkung um bis zu 5 Stunden erfolgen. Für Teilzeitbeschäftigte kann die individuelle regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit nicht auf unter 18 Stunden abgesenkt werden. Vollzeitbeschäftigte bleiben trotz abgesenkter Arbeitszeit Vollzeitbeschäftigte. 2. Eine betriebsbedingte Kündigung gegenüber Beschäftigten, deren Arbeitszeit abgesenkt wurde, wird frühestens mit dem Ablauf der Betriebsvereinbarung wirksam. 3. Die Monatslöhne und -gehälter bzw. festen Entgeltbestandteile des Monatsentgelts und von ihnen abgeleitete Leistungen vermindern sich entsprechend der verkürzten Arbeitszeit. (…) 6. Können sich Arbeitgeber und Betriebsrat über die Absenkung der tariflichen Arbeitszeit gem. Nr. 1 nicht einigen, kann unverzüglich nach Erklärung des Scheiterns der Gespräche die tarifliche Einigungsstelle nach § 24 Manteltarifvertrag bzw. EMTV nach Maßgabe der folgenden Vorschriften angerufen werden.

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Rz. 24 Teil 5 (17)

Die Einigungsstelle hat innerhalb von 2 Wochen nach ihrer Anrufung (Einschaltung einer der Tarifvertragsparteien durch eine Betriebspartei) zu entscheiden. Sie kann eine Entscheidung für einen Sachverhalt nur einmal und nur für die Dauer von längstens sechs Monaten treffen. Besteht zum Zeitpunkt des Einigungsstellenverfahrens für die betroffenen Beschäftigten eine Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeitverteilung, so entscheidet die Einigungsstelle für die Dauer der Absenkung der Arbeitszeit auch über ihre Verteilung. Die bestehende Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeitverteilung wird für die Dauer der Absenkung für die betroffenen Beschäftigten ausgesetzt. (…)

III. Kommentierung 1. Fn. 1 zum MTV Chemie (Rz. 20) Die Fn. 1 zum MTV Chemie enthält gleich drei Öffnungsklauseln unterschiedlicher Art.

22

Zunächst sieht Abs. 1 vor, dass die Betriebsparteien „ergänzend“ zum MTV „unter Beachtung des § 76 Abs. 6 BetrVG“ Betriebsvereinbarungen abschließen können. „Ergänzend“ bedeutet, dass die betriebliche Regelung den Inhalt der jeweiligen Tarifnorm unangetastet lassen muss; unzulässig sind damit ersetzende oder konkurrierende Betriebsvereinbarungen. Um also betrieblich tätig werden zu können, muss die Tarifregelung einen Ausgestaltungsspielraum belassen. Tut sie es nicht, würde eine dennoch abgeschlossene betriebliche Regelung ersetzend oder konkurrierend wirken. Die Regelung ist damit auf Regelungen im TV zugeschnitten, die noch einer Konkretisierung bedürfen. Mittels der Bezugnahme auf § 76 Abs. 6 BetrVG wird klargestellt, dass die aufgrund Öffnungsklausel abschließbaren Betriebsvereinbarungen nicht erzwungen werden können. Sie setzen somit eine Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat voraus, die nicht im Rahmen eines Einigungsstellenverfahren erzwungen werden kann.

23

Abs. 2 enthält hingegen eine echte Öffnungsklausel. Sie wurde als sog. Tariföffnungsklausel gegenüber tarifkonkurrierenden Bereichen („Tarifkonkurrenzklausel“) geschaffen, wobei der Begriff „Tarifkonkurrenz“ im technischen und nicht im rechtlichen Sinne zu verstehen ist. Tarifkonkurrierend meint hier also TVe, die sich mit dem fachlichen Geltungsbereich des Manteltarifvertrags der chemischen Industrie überschneiden (Beispiel: Ein Kautschuk verarbeitendes Unternehmen kann je nach Beitritt die vom Arbeitgeberverband der Deutschen Kautschukindustrie abgeschlossenen TVe ebenso zur Anwendung bringen wie die für die chemische Industrie abgeschlossenen TVe; die fachlichen Geltungsbereiche überschneiden sich hier.). Auch als tarifkonkurrierend ist anzusehen, wenn ein Unternehmen, ein Betrieb oder eine Betriebsabteilung bei einer Ausgliederung oder Umstrukturierung unter den Geltungsbereich eines anderen TV fallen würde (Beispiel: Die Kantine eines Unternehmens der chemischen Industrie soll ausgliedert werden mit dem Ziel, die Tarife von NGG zur Anwendung bringen zu können.). Mit der Öffnungsklausel wurde also an-

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Rz. 25

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gestrebt, durch die Möglichkeit der Absenkung der Entgeltsätze Ausgliederungen zu vermeiden und Eingliederungen in die Unternehmensstrukturen der chemischen Industrie zu fördern, um so die einheitliche Anwendung des Chemietarifs zu ermöglichen, zugleich aber Differenzierungsmöglichkeiten zu eröffnen. Des Weiteren haben die TV-Parteien mit dieser Klausel die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 BetrVG beseitigt, nach der Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch TV geregelt sind, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein können. Die Anwendung der Öffnungsklausel setzt stets eine Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat voraus, was durch den Hinweis auf § 76 Abs. 6 BetrVG klargestellt wird. Die betriebliche Regelung kann also nicht durch den Spruch der Einigungsstelle erzwungen werden. 25

Wirksamkeitsvoraussetzung für die Vereinbarung abweichender niedriger Entgeltsätze ist die Zustimmung der TV-Parteien. In deren Rahmen prüfen sie, ob die Voraussetzungen für die Anwendung der Öffnungsklausel gegeben sind.

26

Die durch Betriebsvereinbarung abweichend festgelegten niedrigeren Entgelte sind echte Tarifentgelte. Sie gelten unmittelbar und zwingend für alle Mitarbeiter, unabhängig davon, ob sie tarifgebunden sind oder nicht. Sie treten an die Stelle der in den bezirklichen EntgeltTVen geregelten Tarifentgelte. Dies bewirkt zugleich, dass auch Entgeltbestandteile, die vom Tarifentgelt abhängen, nach den abweichend festgelegten Entgeltsätzen zu berechnen sind.

27

Die im TV vorgesehene Möglichkeit, nach Ablauf der Betriebsvereinbarung eine unbefristete Weitergeltung vereinbaren zu können, bewirkt, dass auch nach Ablauf der Befristung die abweichend geregelten Entgeltsätze anstelle der tarifvertraglich festgelegten Entgeltsätze fortgelten. Im Weitergeltungszeitraum ist die Betriebsvereinbarung allerdings nach § 77 Abs. 5 BetrVG unter Einhaltung einer Frist von drei Monaten kündbar. Eine hiervon abweichende Kündigungsfrist kann in der Betriebsvereinbarung vereinbart werden. Dabei empfiehlt es sich, eine längere Frist als die gesetzlich vorgesehene Regelfrist von drei Monaten zu vereinbaren, um so eine größere Planungssicherheit zu erlangen.

28

Von der Regelung vereinbarter unbefristeter Weitergeltung werden auch neu eintretende Arbeitnehmer erfasst.

29

Anstelle der unbefristeten Weitergeltung können die Betriebsparteien auch eine Nachwirkungsklausel in die Betriebsvereinbarung aufnehmen. Die Vereinbarung einer Nachwirkung ist in einer freiwilligen Betriebsvereinbarung zulässig. Sie führt dazu, dass die vom TV abweichend festgelegten Arbeitsbedingungen bis zu einer Neuregelung fortgelten. Die Nachwirkungsregelung kann durch eine Vereinbarung ergänzt werden, durch die sich die Betriebsparteien verpflichten, bei Auslaufen der Betriebsvereinbarung gemeinsam zu prüfen, ob die Voraussetzungen, die zur Absenkung des Tarifniveaus geführt haben, immer noch vorliegen. Sollte dies der Fall sein, könnte in der Betriebsvereinbarung bereits geregelt werden, dass sie sich um einen bestimmten Zeitraum verlängert.

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Bei der vereinbarten Nachwirkung werden im Nachwirkungszeitraum neu eintretende Mitarbeiter von der nachwirkenden Betriebsvereinbarung nicht er470

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Rz. 35 Teil 5 (17)

fasst, es sei denn, die Betriebsparteien regeln ausdrücklich die Erstreckung der Nachwirkung auch auf neu eintretende Mitarbeiter. Die vereinbarte unbefristete Weitergeltung hat demgegenüber den Vorteil, dass von der weitergeltenden Betriebsvereinbarung auch ohne gesonderte Regelung durch die Betriebsparteien neu eintretende Arbeitnehmer erfasst werden. Eine weitere Abweichungsmöglichkeit ist in Abs. 3 der in der Fn. 1 zum MTV Chemie enthaltenen Öffnungsklausel vorgesehen. Dort ist es den TV-Parteien zugewiesen, im Einzelfall zur Sicherung der Beschäftigung oder Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit den tarifvertraglich vorgegebenen Rahmen durch einen firmenbezogenen VerbandsTV abzubedingen. Derartige sog. firmenbezogene VerbandsTVe stellen ein Mittel dar, für einzelne verbandszugehörige Arbeitgeber besondere tarifliche Arbeitsbedingungen zu vereinbaren, ohne auf das Mittel von HausTVen zurückgreifen zu müssen. Damit kann den ökonomischen Besonderheiten auch einzelner Arbeitgeber Rechnung getragen werden.

31

Zuständig für die Vereinbarung eines firmenbezogenen VerbandsTVes sind die BundesTV-Parteien. Diese erhalten so ihre Normsetzungskompetenz aufrecht, indem sie kraft TV über die Abweichung der von ihnen flächentarifvertraglich festgelegten Arbeitsbedingungen entscheiden. Das Mittel des firmenbezogenen VerbandsTVes dient somit der betriebseinheitlichen Anwendung der ChemieTVe. Soweit vom firmenbezogenen VerbandsTV auch die bezirklichen Entgeltregelungen betroffen sind, ist dieser vom jeweils regional zuständigen Arbeitgeberverband mit abzuschließen.

32

2. TV Besch (Rz. 21) Der mit der Rezession in den 1990er Jahren für die Metall- und Elektroindustrie abgeschlossene TV Besch ermöglicht es den Betriebsparteien, bei vorübergehenden Beschäftigungsproblemen zur Vermeidung von betriebsbedingten Kündigungen durch Betriebsvereinbarung die individuelle regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit betriebseinheitlich oder für Teile des Betriebes auf bis zu 30 Stunden abzusenken. Die konjunkturbedingten Beschäftigungsprobleme müssen zumindest absehbar sein.

33

Die Regelung zielt auf eine Reduzierung des Arbeitszeitvolumens ab, das weiterhin flexibel verteilt erfüllt werden kann. Die TV-Parteien gehen von der Erzwingbarkeit ihrer Regelung aus. Das bedeutet, dass jede Betriebspartei den Abschluss einer Betriebsvereinbarung zur Absenkung der Arbeitszeit verlangen und über die Einigungsstelle durchsetzen kann, was in der Praxis allerdings nicht zu Problemen geführt hat, da die Regelung ihrem Grundgedanke nach vom solidarischen Verhalten aller ausgeht.

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Die Regelung ist mit einem Kündigungsschutz verbunden. So können betriebsbedingte Kündigungen gegenüber Beschäftigten, deren Arbeitszeit abgesenkt wurde, frühestens mit Ablauf der hierzu abgeschlossenen Betriebsvereinbarung wirksam werden. Dies kann im Einzelfall zu einer über die tarifliche Kündigungsfrist hinausgehenden Beschäftigungspflicht führen.

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Teil 5 (18)

Rz. 36

Schlechtwetterklauseln

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Für die Phase der Arbeitszeitabsenkung können die festen Entgeltbestandteile entsprechend dem Verhältnis von reduziertem Arbeitszeitvolumen zu bisheriger individueller regelmäßiger Wochenarbeitszeit proportional gekürzt werden. Diese Kürzung wirkt sich auch auf Leistungen aus, die sich aus dem Monatsentgelt ableiten.

37

Interessant an der Metallregelung ist, dass hier eine tarifliche Schlichtungsstelle eingerichtet wurde, die nach Maßgabe des § 76 Abs. 8 BetrVG an die Stelle der gesetzlichen Einigungsstelle tritt. Diese hat über die Fälle zu befinden, in denen sich die Betriebsparteien nicht über die Arbeitszeitabsenkung oder deren Ausgestaltung einigen können. Für die Anrufung der Einigungsstelle ist es ausreichend, dass eine der TV-Parteien durch eine der Betriebsparteien eingeschaltet wird. Die Entscheidung der Einigungsstelle ist nicht auf ihre Sachgerechtigkeit, sondern lediglich auf Rechtsverstöße hin überprüfbar.

(18) Schlechtwetterklauseln Literatur: Bieback, Das neue Saisonkurzarbeitergeld, SGb 2007, 197; Biedermann/Möller, Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe (BRTV), 8. Aufl. 2011.

I. Zweck und Kontext 1

Erweist sich bereits die tarifvertragliche Regulierung der Kurzarbeit (fi (13) Kurzarbeitsregelungen) als filigran ausgestaltete Kooperation von Arbeits- und Sozialversicherungsrecht, so gilt dies umso mehr für die Ausgestaltung von Schlechtwetterklauseln in TVen. Wichtigster Anwendungsfall ist hier die Bauwirtschaft. Die TV-Parteien haben die anspruchsvolle Aufgabe, die tarifvertragliche Regulierung in das System des Saisonkurzarbeitergeldes (§ 101 SGB III = 175 SGB III a.F.) und des Wintergeldes (§ 102 SGB III = § 175a SGB III a.F.) einzubetten. Das System ist durch das Gesetz zur Förderung der ganzjährigen Beschäftigung1 neu gestaltet worden. Die TV-Parteien haben ihre Regelungen mit Blick hierauf angepasst. Ziel der Neuregelung war es, in Wirtschaftszweigen mit saisonbedingten Arbeitsausfällen zu einer Verstetigung der Beschäftigungsverhältnisse beizutragen. Seit dem 1.4.2012 sind die Vorschriften über die Kurzarbeit im SGB durch das „Gesetz zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt“2 neu gefasst worden und nunmehr in den §§ 95 ff. SGB III enthalten.

2

Neben § 101 und § 102 SGB III ist die „Verordnung über ergänzende Leistungen zum Saison-Kurzarbeitergeld und die Aufbringung der erforderlichen Mittel zur Aufrechterhaltung der Beschäftigung in den Wintermonaten“ (Winterbeschäftigungs-Verordnung)3 zu beachten.

1 V. 24.4.2006, BGBl. I, 926. 2 V. 20.12.2011, BGBl. I, 2854. 3 BGBl. 2006 I, 1086 zuletzt geändert durch Gesetz vom 20.12.2011, BGBl. 2011 I, 2854.

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Schlechtwetterklauseln

Rz. 5 Teil 5 (18)

Die TV-Parteien können ungeachtet der sozialversicherungsrechtlichen Lage auch eigenständige Anspruchsgrundlagen für Entgeltregelungen in der Schlechtwetterzeit schaffen. Sie sind dabei weder an die gesetzliche Definition der Schlechtwetterzeit (vom 1. Dezember bis zum 31. März, § 101 Abs. 1 SGB III) noch an die sonstigen Bewilligungsvoraussetzungen gebunden. Alleine daraus, dass die TV-Parteien einzelne Anspruchsvoraussetzungen nicht regeln, ergibt sich nach der Rechtsprechung des BAG nicht automatisch, dass sie stillschweigend an die Vorschriften des SGB III anknüpfen. Hierfür bedarf es Anhaltspunkten im TV1. Einen Ausgleich für die Lohneinbußen, die sich in der Schlechtwetterzeit ergeben, schafft der Bauzuschlag. Die wöchentliche Arbeitszeit kann durch tarifvertragliche Regelung für die Schlechtwetterzeit und die „normale“ Saison unterschiedlich ausgestaltet sein. Arbeitszeitkonten können zur Überbrückung der Schlechtwetterzeit beitragen.

3

Aufgrund der vielfältigen Parallelen sei im Übrigen auf die Kommentierung zu tarifvertraglichen Kurzarbeitsklauseln verwiesen (vgl. fi (13) Kurzarbeitsregelungen, Rz. 20).

4

II. Beispiele § 4 Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe vom 4. Juli 2002 in der Fassung vom 17. Dezember 2003, 14. Dezember 2004, 29. Juli 2005, 19. Mai 2006 und 20. August 2007 (BRTV) – Arbeitsversäumnis und Arbeitsausfall (…) 6. Arbeitsausfall aus Witterungs- oder wirtschaftlichen Gründen 6.1 Wird die Arbeitsleistung entweder aus zwingenden Witterungsgründen oder in der gesetzlichen Schlechtwetterzeit aus wirtschaftlichen Gründen unmöglich, so entfällt der Lohnanspruch. Soweit der Lohnausfall in der gesetzlichen Schlechtwetterzeit nicht durch die Auflösung von Arbeitszeitguthaben ausgeglichen werden kann, ist der Arbeitgeber verpflichtet, mit der nächsten Lohnabrechnung das Saison-Kurzarbeitergeld in der gesetzlichen Höhe zu zahlen. Der Lohnausfall für gesetzliche Wochenfeiertage ist in voller Höhe zu vergüten, wenn die Arbeit an diesen Tagen aus zwingenden Witterungsgründen oder in der gesetzlichen Schlechtwetterzeit aus wirtschaftlichen Gründen ausgefallen wäre. 6.2 Zwingende Witterungsgründe im Sinne der Nr. 6.1 liegen vor, wenn atmosphärische Einwirkungen (insbesondere Regen, Schnee, Frost) oder deren Folgewirkungen so stark oder so nachhaltig sind, dass trotz einfacher Schutzvorkehrungen (insbesondere Tragen von Schutzkleidung, Abdichten der Fenster- und Türöffnungen, Abdecken von Baumaterialien und Baugeräten) die Fortführung der Bauarbeiten technisch unmöglich oder wirtschaftlich unvertretbar ist oder den Arbeitnehmern nicht zugemutet werden kann. Der Arbeitsausfall ist nicht ausschließlich durch zwingende Witterungsgründe verursacht, wenn er durch Beachtung der besonderen arbeitsschutzrechtlichen Anforderungen an witterungsabhängige Arbeitsplätze auf Baustellen vermieden werden kann. 1 BAG v. 22.4.2009 – 5 AZR 310/08, NZA 2009, 913 (915).

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Teil 5 (18)

Rz. 6

Schlechtwetterklauseln

6.3 Die Arbeitnehmer verbleiben solange auf der Baustelle, bis aufgrund der voraussichtlichen Wetterentwicklung die Entscheidung des Arbeitgebers über die Wiederaufnahme oder die endgültige Einstellung der Arbeit getroffen worden ist. Diese Entscheidung ist unter Berücksichtigung der beiderseitigen Interessen des Arbeitgebers und der Arbeitnehmer zu treffen. Die Entscheidung über die endgültige Einstellung der Arbeit ist für den gesamten restlichen Arbeitstag bindend. 6.4 In der Schlechtwetterzeit (1. Dezember bis 31. März) entscheidet der Arbeitgeber über die Fortsetzung, Einstellung oder Wiederaufnahme der Arbeit nach pflichtgemäßem Ermessen nach Beratung mit dem Betriebsrat, wenn die Arbeit aus zwingenden Witterungs- oder aus wirtschaftlichen Gründen ausfällt; außerhalb der Schlechtwetterzeit gilt dies nur bei Arbeitsausfall aus zwingenden Witterungsgründen. 6

§ 12 BRTV – Beendigung des Arbeitsverhältnisses (…) 2. Kündigungsausschluss Das Arbeitsverhältnis kann in der Zeit vom 1. Dezember bis 31. März (Schlechtwetterzeit) nicht aus Witterungsgründen gekündigt werden.

III. Kommentierung 7

§ 4 Nr. 6.1 BRTV schließt den Entgeltanspruch aus, wenn die Arbeitsleistung entweder aus zwingenden Witterungsgründen oder in der gesetzlichen Schlechtwetterzeit (vom 1. Dezember bis zum 31. März, § 101 Abs. 1 SGB III) aus wirtschaftlichen Gründen unmöglich wird. Damit verlagert die Regelung abweichend von § 615 Satz 3 BGB das Betriebsrisiko auf den Arbeitnehmer. Dies führt allerdings nicht zu einem ersatzlosen Wegfall des Anspruchs. Der Arbeitgeber wird zum Ausgleich verpflichtet, soweit der Entgeltausfall nicht durch die Auflösung von Arbeitszeitguthaben ausgeglichen werden kann (vgl. § 3 1.43 Abs. 2 BRTV). Er muss mit der nächsten Lohnabrechnung das SaisonKurzarbeitergeld (§ 101 SGB III) in der gesetzlichen Höhe (§ 105 SGB III) auszahlen.

8

Zwingende Witterungsgründe liegen gemäß § 6 Nr. 4. 2 BRTV vor, wenn atmosphärische Einwirkungen (insbesondere Regen, Schnee, Frost) oder deren Folgewirkungen so stark oder so nachhaltig sind, dass trotz einfacher Schutzvorkehrungen (insbesondere Tragen von Schutzkleidung, Abdichten der Fenster- und Türöffnungen, Abdecken von Baumaterialien und Baugeräten) die Fortführung der Bauarbeiten technisch unmöglich oder wirtschaftlich unvertretbar ist oder den Arbeitnehmern nicht zugemutet werden kann. Damit bildet der TV im Wesentlichen inhaltsgleich § 101 Abs. 6 Satz 2 SGB III ab. Der TV betont aber in besonderer Weise die Verpflichtung des Arbeitgebers, zumutbare Maßnahmen zu ergreifen, um den Arbeitsausfall zu verhindern. Im Übrigen kann auf die Kommentierungen zu § 175 Abs. 6 SGB III a.F. bzw. § 101 Abs. 6 SGB III i.d.F. ab dem 1.4.2012 und die Geschäftsanweisung Kurzarbeit der Bundesagentur für Arbeit zurückgegriffen werden. Das Gleiche gilt hinsichtlich § 4 Nr. 6.2 474

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Schlechtwetterklauseln

Rz. 12 Teil 5 (18)

Satz 2 BRTV, der verlangt, dass der Arbeitsausfall nicht durch Beachtung der besonderen arbeitsschutzrechtlichen Anforderungen an witterungsabhängige Arbeitsplätze auf Baustellen vermeidbar sein darf. Letztere Anforderung entspricht wörtlich § 101 Abs. 6 Satz 3 SGB III (= § 175 Abs. 6 Satz 3 SGB III a.F.). Dementsprechend soll hier insoweit auf die einschlägigen Kommentierungen zum SGB III verwiesen werden. Nicht im TV aufgenommen ist § 101 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 SGB III, nach dem der Arbeitsausfall mindestens eine Stunde der regelmäßigen betrieblichen Arbeitszeit betragen muss. Stattdessen verlangt der TV, dass die Folgewirkungen der atmosphärischen Einwirkungen nachhaltig sind. Wesentliche inhaltliche Unterschiede scheinen sich daraus nicht zu ergeben1. Der TV betont lediglich deutlicher das Prognoseelement, das bei der Anordnung von Saison-Kurzarbeit zu beachten ist. Der Begriff der wirtschaftlichen Gründe wird durch den TV nicht definiert. Viel spricht dafür, sich hier an den Vorschriften des SGB III zu orientieren. Die TV-Parteien wollten erkennbar, wie auch das Gesetz (vgl. § 101 Abs. 4 SGB III), auch mittelbare wirtschaftliche Folgewirkungen der Schlechtwetterzeit erfassen, wie etwa die Verzögerung von Folgeaufträgen2. Im Übrigen wird hier auf die einschlägigen Kommentierungen zum Saison-Kurzarbeitergeld verwiesen3.

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Nach 6 Nr. 4.1 Abs. 2 BRTV ist an gesetzlichen Feiertagen, an denen unabhängig davon, ob die Arbeit aus zwingenden Witterungsgründen oder in der gesetzlichen Schlechtwetterzeit aus wirtschaftlichen Gründen ausgefallen wäre, der Lohnausfall in voller Höhe zu vergüten. Gesetzliche Wochenfeiertage sind die Werktage, die gesetzlich oder auf Grund gesetzlicher Vorschriften durch behördliche Anordnung zu gesetzlichen Feiertagen erklärt sind, und für die Arbeitsruhe angeordnet ist. An solchen Tagen besteht ein Anspruch auf Feiertagsbezahlung in voller Höhe.

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Die Tarifregelung enthält zum Ausgleich für den aufgrund § 4 Nr. 6.1 BRTV entfallenden Entgeltanspruch einen eigenständigen Anspruch auf Vergütung in Höhe des Kurzarbeitergeldes als Bruttobetrag und zwar auch dann, wenn der Anspruch auf Kurzarbeitergeld nach den Regelungen des SGB III nicht besteht4. Sie beinhaltet also nicht bloß eine (deklaratorische) Verpflichtung, das SaisonKurzarbeitergeld an die berechtigten Arbeitnehmer auszuzahlen. Der Arbeitgeber fungiert nicht bloß als Zahlstelle, sondern ist einem eigenständigen Zahlungsanspruch der Arbeitnehmer ausgesetzt. Der (eigenständige) tarifvertragliche Anspruch ist auf die Höhe des Saisonkurzarbeitergeld in der gesetzlichen Höhe begrenzt.

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Dementsprechend ist der hypothetische Anspruch unter Unterstellung des Vorliegens der Voraussetzungen für Saison-Kurzarbeit im Sinne des SGB III zu

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1 Biedermann/Möller, BRTV § 4 S. 424 f., setzen beide Vorschriften gleich. 2 Vgl. dazu ausführlich Biedermann/Möller, BRTV § 4 S. 405 ff.; zu den Besonderheiten für Werkpoliere, Baumaschinenfachmeister und Ofenwärter vgl. § 11 BRTV und BAG v. 25.1.2012 – 5 AZR 671/10, n.v. 3 Vgl. z.B. Sonnhoff in Hauck/Noftz, § 175 SGB III Rz. 46 (Lfg. 3/2011). 4 BAG v. 22.4.2009 – 5 AZR 310/08, NZA 2009, 913.

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Teil 5 (18)

Rz. 13

Schlechtwetterklauseln

berechnen1. Nach § 105 SGB III (= § 178 SGB III a.F.) beträgt das Kurzarbeitergeld für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die beim Arbeitslosengeld die Voraussetzungen für den erhöhten Leistungssatz erfüllen würden, 67 % und für die übrigen Arbeitnehmer 60 %der Nettoentgeltdifferenz (§ 106 SGB III) im Anspruchszeitraum. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die beim Arbeitslosengeld den erhöhten Leistungssatz erhalten würden, sind solche, die mindestens ein Kind im Sinne des § 32 Abs. 1, 3 bis 5 EStG haben, sowie Arbeitslose, deren Ehegatte oder Lebenspartner mindestens ein Kind im Sinne des § 32 Abs. 1, 3 bis 5 EStG hat, wenn beide Ehegatten oder Lebenspartner unbeschränkt einkommensteuerpflichtig sind und nicht dauernd getrennt leben (§ 129 Nr. 1 SGB III). Der Arbeitgeber hat bei der Berechnung grundsätzlich die in der Lohnsteuerkarte vorhandenen Eintragungen zugrunde zu legen. Eine rückwirkende Eintragung ist zu berücksichtigen, wenn der Abrechnungszeitraum noch nicht beendet ist. Eine Bescheinigung der Agentur für Arbeit über das Kindschaftsverhältnis kann die Eintragung auf der Lohnsteuerkarte ersetzen2. 13

Abweichend von § 320 Abs. 1 Satz 2 SGB III sieht der TV eine Regelung zur Fälligkeit der Ansprüche vor. Die Fälligkeit tritt mit der nächsten Lohnabrechnung ein. Deswegen ist der Arbeitgeber auch dann zur Leistung verpflichtet, wenn die Agentur für Arbeit das Geld für die Leistung (noch) nicht zur Verfügung gestellt hat.

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Der TV schränkt den Kreis der Anspruchsberechtigten, anders als § 98 SGB III, nicht ein. Da insoweit zu bedenken ist, dass § 6 Nr. 4.1 BRTV das Betriebsrisiko auf den Arbeitnehmer verlagert, muss eine solche Risikoverlagerung stets eindeutig und klar sein. Sofern der Anspruch vollständig abbedungen werden soll und der Arbeitnehmer allein auf die Ansprüche auf ersatzweise eintretende Sozialleistungen verwiesen werden soll, muss dies in einer tarifvertraglichen Regelung eindeutig zum Ausdruck kommen3. Dies ist bei § 6 Nr. 4.1 BRTV nicht der Fall. Von Bedeutung ist diese Frage insbesondere dann, wenn dem Arbeitnehmer die persönlichen Voraussetzungen für das Saisonkurzarbeitergeld fehlen, etwa dann, wenn er im Zeitpunkt der Kurzarbeit nicht in einem ungekündigten Arbeitsverhältnis steht (§ 98 Abs. 1 Nr. 2 SGB III4. Der Arbeitgeber hat damit unabhängig davon, ob für einen einzelnen Arbeitnehmer persönlich die Anspruchsvoraussetzungen vorliegen, Zahlungen in der gesetzlichen Höhe des Kurzarbeitergeldes zu leisten. Soweit der Arbeitnehmer Kündigungsschutzklage erhoben hat und er mit dieser durchdringt, besteht ein ungekündigtes Arbeitsverhältnis fort und die Anspruchsvoraussetzungen des Saison-Kurzarbeitergelds bestehen rückwirkend, so dass der Arbeitgeber in die-

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Biedermann/Möller, BRTV § 4 S. 404. Vgl. dazu insgesamt Striebinger in Gagel, § 320 SGB III Rz. 12 ff. BAG v. 22.4.2009 – 5 AZR 310/08, NZA 2009, 913 (914). Ob dies auch dann gilt, wenn der Arbeitnehmer eine Kündigungsschutzklage erhoben hat, ist strittig, vgl. Bieback in Gagel, § 172 SGB III Rz. 33; BAG v. 22.4.2009 – 5 AZR 310/08, NZA 2009, 913 (914) m.w.N.

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Schlechtwetterklauseln

Rz. 16 Teil 5 (18)

sem Fall nachträglich Erstattung erhält1. Das Gleiche gilt aber auch dann, wenn der Arbeitgeber den Arbeitsausfall nicht (rechtzeitig) bei der Agentur für Arbeit angezeigt hat2. Insgesamt dient § 6 Nr. 4.1 BRTV damit dazu, die tarifvertraglichen Anspruchsvoraussetzungen von denen des SGB III zu entkoppeln. Zentrales Element des Anspruchs nach § 4 Nr. 6.1 BRTV ist, wie auch im SGB III, die vorrangige Auflösung von Arbeitszeitguthaben. Diese werden nach § 3 Nr. 1.4 BRTV gebildet, wobei ein Höchstwert an Guthabenstunden von 150 Stunden erreicht werden kann. Der Verwendungszweck des Guthabenkontos ist in erster Linie die Sicherung eines verstetigten Monatslohns bei witterungsbedingtem Arbeitsausfall. Guthabenstunden sind daher aufzulösen, bevor Kurzarbeit eingeführt wird.

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§ 4 Nr. 6.4 BRTV schreibt vor, dass der Arbeitgeber über den Arbeitsausfall nach billigem Ermessen entscheidet. Er muss den Betriebsrat vorher anhören. Der TV verlangt keine Zustimmung des Betriebsrats3. Gleichwohl schließt die Regelung das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG nicht aus, weil sie nicht abschließend formuliert ist4 (zur Beteiligung des Betriebsrats bei der Einführung von Kurzarbeit vgl. fi (13) Kurzarbeitsregelungen, Rz. 5 f.). Die Entscheidung des Arbeitgebers muss unter Berücksichtigung der beiderseitigen Interessen von Arbeitgeber und Arbeitnehmern getroffen werden. Maßgebliches Kriterium ist die voraussichtliche Wetterentwicklung. Dabei müssen die Wetterlage und der auf Wettervorhersagen basierende voraussichtliche Witterungsverlauf, die individuellen Besonderheiten der Baustelle, wie etwa deren Lage und die Art der Bauarbeiten, der Stand der Bauarbeiten und die Witterungsempfindlichkeit der verwendeten Baustoffe berücksichtigt werden. Ist die Entscheidung über die Einstellung unbillig oder wird der Betriebsrat nicht angehört, tritt mit der Einstellung der Arbeiten Annahmeverzug des Arbeitgebers ein. Die Arbeitnehmer behalten bei einer unbilligen Entscheidung ihren Entgeltanspruch. Umgekehrt begehen die Arbeitnehmer keine Pflichtverletzung, wenn sie eine unbillige oder ohne Anhörung des Betriebsrats verlangte Wiederaufnahme oder Fortsetzung der Arbeiten verweigern. Soweit lediglich ein Teil der Arbeit ausfällt, hat der Arbeitgeber auch die Auswahl zwischen den betroffenen Arbeitnehmern nach billigem Ermessen vorzunehmen5. § 4 Nr. 6.3 BRTV schreibt vor, dass die Arbeitnehmer bis zur Entscheidung des Arbeitgebers auf der Baustelle zu verbleiben haben.

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1 Vgl. hierzu Geschäftsanweisung Kurzarbeitergeld (einschließlich Saisonkurzarbeitergeld) der Bundesagentur für Arbeit 2012, S. 82 ff., mit weiteren Hinweisen zum Umgang mit gekündigten Arbeitsverhältnissen. 2 BAG v. 22.4.2009 – 5 AZR 310/08, NZA 2009, 913 (914). 3 Vgl. hierzu Biedermann/Möller, BRTV § 4 S. 426 f. 4 LAG Berlin-Brandenburg v. 9.10.2009 – 14 Sa 1172/09, NZA-RR 2010, 244 (245). 5 Biedermann/Möller, BRTV § 4 S. 432.

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Teil 5 (19)

Rz. 1

Standortsicherung/Beschäftigungssicherung/Arbeitsplatzsicherung

(19) Standortsicherung/ Beschäftigungssicherung/Arbeitsplatzsicherung Literatur: Bauer, Betriebliche Bündnisse für Arbeit vor dem Aus?, NZA 1999, 957; Däubler, Rechtswidrige Unternehmerentscheidung und beriebsbedingte Kündigung, DB 2012, 2100; Ehlers, Personalabbau in schwierigen Zeiten – Ein Plädoyer für einen Beschäftigungspakt und die Mediation, NJW 2003, 2337; Etzel, Die „Orlando-Kündigung“: Kündigung tariflich unkündbarer Arbeitnehmer, ZTR 2003, 210; Hromadka, Bündnisse für Arbeit – Angriff auf die Tarifautonomie?, DB 2003, 42; Hümmerich/Welslau, Beschäftigungssicherung trotz Personalabbau, NZA 2005, 610; Kort, Arbeitszeitverlängerndes „Bündnis für Arbeit“ zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat – Verstoß gegen die Tarifautonomie?, NJW 1997, 1476; Lehmann, Betriebliches Bündnis für Arbeit, BB 2010, 2821; Papier, Der verfassungsrechtliche Rahmen für Privatautonomie im Arbeitsrecht, RdA 1989, 137; Robert, Betriebliche Bündnisse für Arbeit versus Tarifautonomie?, NZA 2004, 633; Schliemann, Tarifliches Günstigkeitsprinzip und Bindung der Rechtsprechung, NZA 2003, 122; Thüsing, Dreigliedrige Standortvereinbarungen, NZA 2008, 201; Wolter, Standortsicherung, Beschäftigungssicherung, Unternehmensautonomie, Tarifautonomie, RdA 2002, 218.

I. Zweck und Kontext 1

Aus § 1 Abs. 1 TVG ergibt sich, dass der Regelungsauftrag der TV-Parteien sich nicht auf die Schaffung von Normen über die Inhalte von Arbeitsverträgen (vgl. dazu Teil 4 Rz. 11 ff.) und deren Abschluss (vgl. dazu Teil 4 Rz. 43 ff.) beschränkt. Auch Fragen der Beendigung von Arbeitsverhältnissen gehören zu den tariflich regelbaren Gegenständen (vgl. dazu Teil 4 Rz. 61 ff.). So enthalten die TVe der meisten Branchen Regelungen über die Kündigung von Arbeitsverhältnissen, insbesondere hinsichtlich zu wahrender Kündigungsfristen (vgl. dazu fi (20) Unkündbarkeiten/Kündigungsklauseln/Fristen Rz. 18 ff.). Sie zählen zu den typischen Regelungen in MantelTVen.

2

Es gibt daneben TV-Regelungen, die einem bestimmten Mitarbeiterkreis – häufig älteren Arbeitnehmern (vgl. dazu fi (20) Unkündbarkeiten/Kündigungsklauseln/Fristen Rz. 10 ff.) – losgelöst von einem bestimmten Anlass einen höheren Kündigungsschutz zukommen lassen. Auch diese erfassen als Bestandteil von FlächenTVen oft die Arbeitsverhältnisse einer gesamten Branche. Hingegen finden sich generelle Regelungen, die nicht auf den Schutz bestimmter Mitarbeitergruppen ausgerichtet sind, sondern Mitarbeiter ganz allgemein vor (betriebsbedingten) Kündigungen schützen, insbesondere Standortsicherungszusagen oder allgemeine Kündigungsbeschränkungen, typischerweise nicht in FlächenTVen. In vielen Fällen werden derartige Vereinbarungen anlassbezogen getroffen. Es geht dann mitunter nicht um die Reaktion auf branchenweite Krisen, sondern um die besondere Situation einzelner Arbeitgeber, weshalb sich solche Zusagen in aller Regel in FirmenTVen oder in firmenbezogenen VerbandsTVen finden lassen.

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In aller Regel werden Arbeitgeber nur bereit sein, Standortsicherungszusagen zu geben oder Maßnahmen zur Arbeitsplatzsicherung verbindlich zu versprechen, wenn die Arbeitnehmerschaft im Gegenzug einen Beitrag zur Sicherung der Fortführung des Unternehmens leistet. Dies erfolgt meist, indem die Be478

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Standortsicherung/Beschäftigungssicherung/Arbeitsplatzsicherung

Rz. 5 Teil 5 (19)

schäftigten, regelmäßig zeitlich befristetet, auf Teile ihres Arbeitsentgelts (Urlaubs- oder Weihnachtsgeld, Zulagen) verzichten oder für einen gewissen Zeitraum einer untertariflichen Entlohnung, z.B. auch durch eine vorübergehende Erhöhung der wöchentlichen Arbeitszeit ohne Entgeltausgleich, zustimmen1. Klauseln über Standort- oder Beschäftigungssicherung stellen daher typische Elemente von Beschäftigungspakten dar, wie sie sich häufig in SanierungsTVen finden (vgl. dazu Teil 12 Rz. 28 ff.). Ein häufig gewähltes Mittel, den Abbau von Arbeitsplätzen bei geringerem Beschäftigungsbedarf zu verhindern, besteht darin, die tariflich an und für sich vorgesehene wöchentliche Regelarbeitszeit vorübergehend zu verkürzen. Solche Maßnahmen der TV-Parteien sind als Mittel der Beschäftigungssicherung – auch mit Blick auf die Berufsfreiheit der betroffenen Arbeitnehmer – grundsätzlich zulässig2. Insbesondere liegt darin nach Auffassung des BAG keine „verdeckte“ Umwandlung von Vollzeitbeschäftigungsverhältnissen in Teilzeitbeschäftigung und auch keine unverhältnismäßige und damit unzulässige Einschränkung der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) der betroffenen Arbeitnehmer3. Vielmehr komme die nur vorübergehende Reduzierung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit in ihren Auswirkungen der Einführung von Kurzarbeit gleich. Dadurch würden nicht, auch nicht vorübergehend, Teilzeitarbeitsverhältnisse oktroyiert, sondern es würde lediglich zum Zwecke der Beschäftigungssicherung vorübergehend die vorhandene Arbeit auf alle vorhandenen Arbeitnehmer verteilt, um betriebsbedingte Kündigungen zu vermeiden4.

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Tariflichen Regelungen über beiderseitige Sanierungsbeiträge, in denen die Arbeitnehmer eine für sie nachteilige Abweichung von dem tariflichen Vergütungssystem akzeptieren, um im Gegenzug die Zusage einer Arbeitsplatzsicherung zu erhalten, kommt in der Praxis eine erhebliche Bedeutung zu5. Einer Durchsetzung solcher Bündnisse für Arbeit durch Betriebsvereinbarungen steht regelmäßig die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 BetrVG entgegen6 (vgl. auch Teil 9 Rz. 191 ff.). Bei tarifgebundenen Arbeitgebern erweist sich auch die einzelvertragliche Umsetzung solcher Bündnisse, selbst wenn sie von einer – nicht von § 77 Abs. 3 BetrVG erfassten – Regelungsabrede flankiert werden, als rechtlich problematisch. Es wird nach wie vor darüber diskutiert, ob eine entsprechende Vereinbarung (Entgeltverzicht gegen Arbeitsplatzschutz), wenn sie auf einzelvertraglicher Basis getroffen wird, mit dem Günstigkeitsprinzip vereinbar ist oder nicht (vgl. dazu auch Teil 9 Rz. 165 ff. und 189 f.)7. In der sog.

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Vgl. Lehmann, BB 2010, 2821 (2823). BAG v. 28.6.2001 – 6 AZR 114/00, NZA 2002, 331. BAG v. 25.10.2000 – 4 AZR 438/99, NZA 2001, 328. BAG v. 25.10.2000 – 4 AZR 438/99, NZA 2001, 328. Vgl. Lehmann, BB 2010, 2821. Vgl. Nachweise bei Robert, NZA 2004, 633 (634). Vgl. bereits Papier, RdA 1989, 137 (141); Kort, NJW 1997, 1476 (1478 f.); Robert, NZA 2004, 633 (635 f.); Hromadka, DB 2003, 42 (43 f.); Schliemann, NZA 2003, 122 (124 ff.); Ehlers, NJW 2003, 2337 (2343).

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Teil 5 (19)

Rz. 6

Standortsicherung/Beschäftigungssicherung/Arbeitsplatzsicherung

Burda-Entscheidung des 1. Senats vom 20. April 19991 hat das BAG dazu ausgeführt, dass es § 4 Abs. 3 TVG nicht zulasse, dass Tarifbestimmungen über die Höhe des Arbeitsentgelts und über die Dauer der regelmäßigen Arbeitszeit mit einer betrieblichen Arbeitsplatzgarantie verglichen würden. Methodisch sei ein solcher Vergleich („Äpfel mit Birnen“) nicht möglich. 6

Wenn die Beteiligten eine rechtssichere Lösung schaffen möchten, können sie Abweichungen von tariflich festgelegten Arbeitsbedingungen zulasten der Arbeitnehmer mit dem Ziel der Beschäftigungssicherung somit im Ergebnis nur durch einen TV regeln2. Die Initiative zur Eingehung eines Bündnisses für Arbeit geht ungeachtet dessen in der Praxis häufig von den Betriebsparteien aus. Wenn diese dann – zur rechtlichen Absicherung einer betrieblichen Regelung – die Koalitionspartner in ihre Verhandlungen mit einbeziehen und die notwendigen Regelungswerke von den TV-Parteien mit unterzeichnen lassen, so birgt auch dies Risiken. Dies zeigen Entscheidungen des BAG zum Gebot der sog. Rechtsquellenklarheit3, welches in Teil 12 Rz. 13 ff. näher beschrieben ist.

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Der Bedarf, in der Praxis Lösungen zu suchen, um einen Abbau von Arbeitsplätzen selbst in Zeiten der Krise möglichst zu vermeiden, ist unverkennbar. Da entsprechende Vereinbarungen in vielen Fällen sowohl im Interesse des Arbeitgebers wie auch im Interesse der Belegschaft – zumindest in ihrer Gesamtheit – liegen, werden die TV-Parteien sich oft freiwillig, ggf. auch aufgrund entsprechenden Drängens der betrieblichen Sozialpartner, zur Vereinbarung eines auf Konsens basierenden Beschäftigungspaktes zusammen finden4. Gegen die Annahme einer Erstreikbarkeit von Standortsicherungsklauseln oder Arbeitsplatzschutzregelungen bestehen hingegen Bedenken. Die Implementierung solcher Instrumente der Beschäftigungssicherung gegen den Willen des Arbeitgebers stünde nicht im Einklang mit der Unternehmerfreiheit (vgl. dazu Teil 12 Rz. 36 f., 41).

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Bei der Implementierung von Bündnissen für Arbeit mittels tarifvertraglicher Regelungen stellt sich schließlich die Frage, wie sich die Durchsetzung der von den TV-Parteien vereinbarten Regelungen gegenüber Außenseitern auf Arbeitnehmerseite bewirken lässt. Dies gilt naturgemäß insbesondere für die Zugeständnisse (z.B. Lohnverzicht oder Reduzierung der Arbeitszeit mit Lohnabsenkung), die im Rahmen solcher Bündnisse üblicherweise zulasten der Arbeitnehmer verhandelt werden. Eine Erstreckung von Regelungen eines tariflichen Beschäftigungssicherungspakets auf nicht tarifgebundene Arbeitnehmer ist denkbar, wenn man den Regelungen die Qualität einer Betriebsnorm (vgl. dazu Teil 4 Rz. 86 ff.) beimessen kann5. Im Hinblick auf Bündnisse für Arbeit lässt sich beispielsweise argumentieren, dass es zwar durchaus naturwissenschaftlich möglich, jedoch evident sachlogisch unzweckmäßig wäre, eine als Maß1 BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887; kritisch dazu: Bauer, NZA 1999, 957. 2 Lehmann, BB 2010, 2821 (2824). 3 BAG v. 7.11.2000 – 1 AZR 175/00, NZA 2001, 727; BAG v. 15.4.2008 – 1 AZR 86/07, NZA 2008, 1074. 4 Wolter, RdA 2002, 218 (222). 5 Thüsing, NZA 2008, 201 (204); LAG Schleswig-Holstein v. 15.1.2009 – 4 Sa 269/08.

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Standortsicherung/Beschäftigungssicherung/Arbeitsplatzsicherung

Rz. 10 Teil 5 (19)

nahme der Beschäftigungssicherung vereinbarte Verkürzung der regelmäßigen Wochenarbeitszeit individualrechtlich umzusetzen1. Eine Differenzierung zwischen organisierten und nichtorganisierten Arbeitnehmern ist in diesem Kontext praktisch kaum durchführbar und würde das Ziel der Beschäftigungssicherung und langfristigen Erhaltung der Einrichtung nicht erreichen. Nur wenn die Arbeitszeit im Betrieb bzw. einzelnen Abteilungen einheitlich geregelt wird, ist das Ziel der Beschäftigungssicherung erreichbar und betriebswirtschaftlich sinnvoll2. Auch das BAG sieht die Möglichkeit, Normen zur Beschäftigungssicherung als Betriebsnormen zu implementieren3. Voraussetzung dafür sei aber, dass die tariflichen Bestimmungen eine normative Regelung enthielten, die eine über das einzelne Arbeitsverhältnis hinausgehende unmittelbare und zwingende Geltung auch gegenüber dem Arbeitnehmer beanspruchten und der Sache nach beanspruchen dürften. Ohne normativen Regelungsgehalt handele es sich nicht um eine Rechtsnorm i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 TVG (vgl. auch Teil 4 Rz. 91)4.

II. Beispiele § 7 des Tarifvertrages zwischen der Karstadt Warenhaus GmbH und der Gewerkschaft ver. di zur Sanierung und Beschäftigungssicherung (SanierungsTV)5 § 7 Standortsicherung

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Die in der Anlage 4 aufgeführten Betriebsstätten: – 89 große Warenhäuser (Verkaufsfläche über 8000 m2), – 32 Sporthäuser, – 67 kleine Warenhäuser (Verkaufsfläche unter 8000 m2) für die Dauer ihrer Zugehörigkeit zum … Konzern, – die Hauptverwaltung …, werden bis 31.12.2007 nicht geschlossen. §§ 7 bis 9 des Tarifvertrages zum Rationalisierungsschutz und zur Beschäftigungssicherung für die T-Systems Business Services GmbH (TV Ratio TS BS) § 7 Weiterbeschäftigungsmöglichkeit

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(1) Der Arbeitgeber hat zu prüfen, ob der Arbeitnehmer auf einem anderen freien Arbeitsplatz in demselben Betrieb oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens weiterbeschäftigt werden kann. Besteht ein derartiger freier Arbeitsplatz, wird er dem Arbeitnehmer angeboten, sofern die fachlich/funktionale Eignung des Arbeitnehmers gegeben ist oder durch eine vom Umfang her auf längstens vier 1 2 3 4 5

So LAG Baden-Württemberg v. 27.4.1999 – 10 Sa 82/98. LAG Baden-Württemberg v. 27.4.1999 – 10 Sa 82/98. BAG v. 1.8.2001 – 4 AZR 388/99, DB 2001, 2609. BAG v. 1.8.2001 – 4 AZR 388/99, DB 2001, 2609. Vgl. LAG Sachsen v. 24.5.2007 – 6 Sa 454/06.

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Teil 5 (19)

Rz. 10

Standortsicherung/Beschäftigungssicherung/Arbeitsplatzsicherung

Monate begrenzte Qualifizierungsmaßnahme erworben werden kann. Sofern vorhanden, wird ein gleichwertiger und zumutbarer Arbeitsplatz angeboten. Besteht ein derartiger Arbeitsplatz nicht, wird, sofern vorhanden, ein freier unzumutbarer Arbeitplatz angeboten. Hierbei hat ein gleichwertiger Arbeitsplatz Vorrang vor einem ungleichwertigen Arbeitsplatz. (2) Bei der Auswahl der Arbeitnehmer, denen ein freier Arbeitsplatz angeboten werden soll, ist als vorrangiges Kriterium die soziale Schutzwürdigkeit aufgrund der Sozialauswahl zu berücksichtigen. Bei der Auswahl zwischen mehreren anbietbaren Arbeitsplätzen sind die räumliche Nähe zum Wohnort sowie die Gleichwertigkeits- und die Zumutbarkeitskriterien des Arbeitsplatzes zu beachten. (3)–(6) (…) § 8 Folgen der Ablehnung eines Arbeitsplatzangebots (1) Kann dem Arbeitnehmer ein zumutbarer und gleichwertiger Arbeitsplatz angeboten werden, so ist er verpflichtet, diesen anzunehmen. Lehnt er das zumutbare und gleichwertige Arbeitsplatzangebot ab, verliert er die Rechte aus diesem Tarifvertrag; dies kann zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses führen. (2), (3) (…) (4) Lehnt der Arbeitnehmer ein unzumutbares und/oder ein zumutbares, aber ungleichwertiges Arbeitsplatzangebot ab bzw. kann ein Arbeitsplatzangebot nicht unterbreitet werden, erhält der Arbeitnehmer im Zusammenhang mit der Kündigung/Aufhebungsvertrag aus betrieblichem Anlass eine Abfindung bzw. bei Abschluss eines rechtswirksamen Aufhebungsvertrags aus betrieblichem Anlass anstelle der Abfindung einen befristeten Zugang zur Vivento. § 9 Zumutbarkeitskriterien (1) Zumutbar im Sinne der §§ 7 und 8 ist ein Arbeitsplatz, wenn er in funktioneller, zeitlicher, gesundheitlicher und sozialer Hinsicht zumutbar ist. (2) Funktionelle Zumutbarkeit Die funktionelle Zumutbarkeit ist gegeben, wenn der Arbeitnehmer nach seiner Befähigung, Ausbildung und Eignung den anderen Arbeitsplatz ausführen kann oder der Arbeitnehmer die fehlende Befähigung oder Ausbildung durch eine vom Umfang her auf längstens vier Monate begrenzte Qualifizierungsmaßnahme erwerben kann. (3) Zeitliche Zumutbarkeit Lediglich bei Arbeitnehmern, in deren Haushalt ein Kind unter 12 Jahren überwiegend lebt, ist eine neue, außerhalb des bisherigen maßgebenden Arbeitszeitrahmens zu leistende Arbeitzeit zwischen 16 Uhr und 8 Uhr nicht zumutbar, wenn hierdurch die Betreuung des Kindes nicht möglich ist. Voraussetzung hierfür ist, dass die Betreuung nicht von einer anderen im Haushalt lebenden Person wahrgenommen werden kann. (4) Gesundheitliche Zumutbarkeit Die gesundheitliche Zumutbarkeit ist gegeben, wenn für den neuen Arbeitsplatz eine arbeitsmedizinische Untersuchung nach den einschlägigen Regelungen nicht durchzuführen ist bzw. wenn der Betriebsarzt in den Fällen, in denen eine solche 482

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Standortsicherung/Beschäftigungssicherung/Arbeitsplatzsicherung

Rz. 12 Teil 5 (19)

Untersuchung durchzuführen ist, keine Einwände gegen den Einsatz auf dem neuen Arbeitsplatz hat. (5) Soziale Zumutbarkeit Die soziale Zumutbarkeit ist gegeben, wenn die Annahme des neuen Arbeitsplatzes für den betroffenen Arbeitnehmer keine gravierende soziale Härte darstellt. Eine gravierende soziale Härte kann vorliegen, wenn durch den Wechsel auf einen anderen Arbeitsplatz mit erforderlichem Wohnortwechsel eine bereits bislang tatsächlich durchgeführte und nach ärztlichem Gutachten auch künftig durch den Arbeitnehmer erforderliche ortsgebundene Pflege des Ehegatten oder eines Verwandten in gerader Linie nicht mehr möglich wäre oder gravierend erschwert würde oder eine andere, damit vergleichbare Härte vorliegt. § 12 eines FirmenTVes gemäß § 6 des Tarifvertrages zur Beschäftigungssicherung für die metallverarbeitende Industrie Nordrhein-Westfalens1 § 12 Beschäftigungssicherung

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Während der Laufzeit dieser Vereinbarung bedürfen Kündigungen der Zustimmung des Betriebsrats und bei Meinungsverschiedenheiten über die Berechtigung der Nichterteilung der Zustimmung entscheidet die Einigungsstelle gemäß §§ 76, 102 Abs. 6 BetrVG.

III. Kommentierung 1. § 7 des TVes zwischen der Karstadt Warenhaus GmbH und der Gewerkschaft ver.di zur Sanierung und Beschäftigungssicherung (SanierungsTV) (Rz. 9) Der von der Karstadt Warenhaus GmbH im Jahre 2004 mit der Gewerkschaft ver.di in Form eines FirmenTVes abgeschlossene SanierungsTV enthält eine klassische Standortsicherungsklausel. Sie erstreckt sich auf die Erhaltung der im Einzelnen in einer Anlage aufgelisteten Betriebsstätten (Warenhäuser). Anders als in manchen anderen Standortsicherungsvereinbarungen haben die TVParteien hier darauf verzichtet, zusätzlich zum Erhalt der Standorte als solcher auch eine Mindestgröße zu definieren. Dies dürfte von der Vorstellung getragen sein, dass ein Warenhaus, so lange es betrieben wird, ohnehin einer gewissen Zahl von Beschäftigten bedarf und dass eine Teilschließung bzw. Verkleinerung der Häuser angesichts des Konzepts der Warenhauskette wenig wahrscheinlich war. Häufig definieren die Parteien im Kontext einer Standortgarantie bestimmte Mindestgrößen, beispielsweise eine Zahl von Arbeitsplätzen, die am Standort nicht unterschritten werden darf, oder im Falle von Produktionsbetrieben die Aufrechterhaltung eines bestimmten Produktionsvolumens. So kann sich die Arbeitnehmerseite davor schützen, dass der Arbeitgeber versuchen könnte, eine Zusage zum Erhalt eines Standorts bereits innerhalb der laufenden Frist der Standortzusage durch eine schleichende Verkleinerung der Betriebsstätte zu unterwandern. 1 Zitiert aus dem Sachverhalt BAG v. 24.1.2001 – 4 AZR 655/99, NZA 2001, 788.

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Rz. 13

Standortsicherung/Beschäftigungssicherung/Arbeitsplatzsicherung

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Die Rechtswirkungen, welche die TV-Parteien einer Standortsicherungszusage beimessen wollten, ist durch Auslegung zu ermitteln (vgl. zur Auslegung von TVen Teil 3 Rz. 128 ff.). Die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen im Rahmen einer Standortgarantie ein Standort geschlossen werden darf oder nicht, ist zu trennen von der Frage, ob an diesem Standort (betriebsbedingte) Kündigungen ausgesprochen werden dürfen1. Mit einer Standortzusage ist nicht zwangsläufig das Verbot betriebsbedingter Kündigungen schlechthin verbunden. Regelungen dazu müssen die TV-Parteien vielmehr gesondert treffen. Wenn dies auch nicht ausdrücklich geschehen muss, so muss sich ein Kündigungsverbot aus den Tarifregelungen doch mit ausreichender Klarheit ergeben. Nicht ausreichend ist es beispielsweise, wenn die TV-Parteien einerseits ein Verbot der Standortschließung vereinbaren und gleichzeitig bestimmen, wie Schadensersatz berechnet wird, falls entgegen dem Verbot betriebsbedingte Kündigungen ausgesprochen werden. Diese Regelungen zum Schadenersatz sprechen dann vielmehr für die Auslegung, dass ein absolutes Kündigungsverbot nicht gewollt war2. Kündigungen, die entgegen der Vereinbarung ausgesprochen werden, sind dann nicht unwirksam, sondern lösen allenfalls die vereinbarten Schadenersatz- bzw. Kompensationsansprüche aus. Insgesamt sprechen, wenn nicht ausdrücklich ein Kündigungsverbot in den TV aufgenommen wurde, Regelungen zu den Konsequenzen der Nichteinhaltung der vom Arbeitgeber gegebenen Zusagen im Rahmen der Auslegung eher gegen die Annahme eines Kündigungsverbots3. Wenn hingegen ein tarifliches Kündigungsverbot statuiert wird, so sind vom Arbeitgeber gleichwohl erklärte Kündigungen unwirksam4.

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Wenn die Auslegung eines StandortsicherungsTVes ergibt, dass die Parteien kein Kündigungsverbot statuieren wollten, so ist weiter zu prüfen, welche anderen Sanktionen dem Arbeitgeber im Falle eines Verstoßes gegen seine Zusage drohen. Auch hierzu können die TV-Parteien ausdrückliche Regelungen treffen, wie beispielsweise Sonderkündigungsrechte der Gewerkschaft oder die Rückgängigmachung von finanziellen Beiträgen, welche die Arbeitnehmerschaft im Rahmen der Standortsicherungsvereinbarung erbracht haben (z.B. Nachzahlung von Entgelt, auf das verzichtet worden war). Fehlt es in einem TV an explizit vereinbarten Sanktionsmechanismen, so steht die Arbeitnehmerseite dennoch nicht schutzlos da, wenn der Arbeitgeber Maßnahmen ergreift, die nicht mit dem Geist der Standortsicherung vereinbar sind. Ein Verstoß gegen eine Standortsicherungszusage, auch wenn diese im Einzelfall mangels entsprechenden Regelungswillens nicht normativ auf die Arbeitsverhältnisse der Mitarbeiter am Standort einwirkt, führt zu einer Verletzung der schuldrechtlichen Verpflichtung des Arbeitgebers aus dem TV gegenüber der Gewerkschaft (vgl. zu obligatorischen Normen Teil 4 Rz. 113 ff.). Deswegen hat die Gewerkschaft, soweit es um einen FirmenTV geht, gegenüber dem Arbeitgeber einen unmittelbaren – schuldrechtlichen – Anspruch auf Unterlassung von Maßnahmen, die gegen die Standortzusage verstoßen. Diesen An1 2 3 4

LAG Sachsen v. 25.9.2007 – 7 Sa 697/06. Vgl. LAG Köln v. 10.3.2008 – 2 Sa 1411/07, AE 2009, 140. Vgl. LAG Köln v. 17.1.2012 – 12 Sa 580/11, ArbR 2012, 357. Thüsing, NZA 2008, 201 (206); Däubler, DB 2012, 2100 (2102).

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Rz. 17 Teil 5 (19)

spruch kann sie bei Vorliegen eines ausreichenden Verfügungsgrundes auch im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes geltend machen1.

2. §§ 7 bis 9 des TVes zum Rationalisierungsschutz und zur Beschäftigungssicherung für die T-Systems Business Services GmbH (TV Ratio TS BS) (Rz. 10) Die Vereinbarungen, welche die Deutsche Telekom AG und einige ihrer Tochtergesellschaften unter dem Titel Rationalisierungsschutz und Beschäftigungssicherung – TV Ratio – geschlossen haben, sind wiederholt Gegenstand von arbeitsgerichtlichen Entscheidungen gewesen. Die Deutsche Telekom sah sich vor die Aufgabe gestellt, zur Erhaltung, Sicherung und Steigerung sowohl ihrer Wettbewerbsfähigkeit als auch ihrer Marktanteile wirtschaftliche, organisatorische und personelle Maßnahmen zu ergreifen, um eine kontinuierliche Qualitäts- und Produktivitätsverbesserung sowie eine flexible Anpassung an technologische und nachfragebezogene Veränderungen sicherzustellen. Wie bei vielen Arbeitgebern bestand dabei einerseits die Notwendigkeit, in größerem Umfang Arbeitsplätze abzubauen, während an anderer Stelle innerhalb des Konzerns im Rahmen des Umbaus der Gesamtorganisation Arbeitsplätze geschaffen wurden.

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Um Mitarbeiter, deren Arbeitsplatz im Rahmen der Reorganisation des Konzerns wegfiel, nach Möglichkeit vor einer betriebsbedingten Kündigung zu bewahren, wurden umfassende Regelungen zur bevorzugten Ausschöpfung von anderweitigen Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten vereinbart. Bei der Deutsche Telekom AG selbst wurde vorübergehend eine Verpflichtung des Arbeitgebers zum Angebot von anderen Dauerarbeitsplätzen – ggf. auch bei Beteiligungsunternehmen – festgeschrieben. Während dieser Zeit waren dort betriebsbedingte Beendigungskündigungen ausgeschlossen. Der hier beispielhaft betrachtete TV Ratio der T-Systems Business Services GmbH sieht eine solche unbedingte Verpflichtung zum Angebot anderweitiger Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten nicht vor. Auch er zielt aber auf eine Beschäftigungssicherung ab und sieht als Möglichkeiten dafür eine befristete kollektive Arbeitszeitabsenkung oder eine Entgeltreduzierung vor. Der TV beinhaltet darüber hinaus in seinen §§ 7 bis 9 als ein wesentliches Kernelement ein mit der Gewerkschaft ver.di vereinbartes Konzept zum Angebot von Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten, an dem sich beim Wegfall von Arbeitsplätzen sowohl der Arbeitgeber wie auch die betroffenen Personen orientieren können. So können sie beurteilen, ob und unter welchen Voraussetzungen der Arbeitgeber durch das Angebot von anderweitigen Beschäftigungsmöglichkeiten vermeiden kann, Mitarbeitern Leistungen nach dem TV Ratio (Abfindung oder Möglichkeit des Eintritts in die Vermittlungs- und Qualifizierungseinheit Vivento2) zu gewähren, die er auf ihrem bisherigen Arbeitsplatz nicht mehr weiter beschäftigen kann.

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Das Prinzip ist vom Grundgedanken her einfach. Ist ein zumutbarer und gleichwertiger Arbeitsplatz vorhanden, hat ihn der Arbeitgeber dem Arbeitneh-

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1 Vgl. LAG Niedersachsen v. 18.5.2011 – 17 SaGa 1939/10, AiB 2011, 481. 2 Vgl. dazu Hümmerich/Welslau, NZA 2005, 610; s. auch BAG v. 18.9.2008 – 2 AZR 414/07, ArbRB 2009, 40.

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Rz. 18

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mer anzubieten. Falls sich diese Möglichkeit nicht bietet, ist auch ein „unzumutbarer“ Arbeitsplatz anzubieten. Die Kriterien, an denen die Zumutbarkeit zu messen ist, haben die TV-Parteien in § 9 des TVes festgeschrieben (funktionelle, zeitliche, gesundheitliche und soziale Zumutbarkeit). Soweit mehrere unzumutbare Arbeitsplätze vorhanden sind, ist vorrangig ein gleichwertiger, erst danach ein ungleichwertiger Arbeitsplatz anzubieten, vgl. § 7 Abs. 1 Satz 5 TV Ratio TS BS. Bietet der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer einen zumutbaren und gleichwertigen Arbeitsplatz an, so besteht nach § 8 Abs. 1 TV Ratio TS BS eine Verpflichtung des Arbeitnehmers, dieses Angebot anzunehmen. Tut er dies nicht, so verliert er die Rechte aus dem TV und riskiert die Kündigung seines Arbeitsverhältnisses. Der Arbeitnehmer ist andererseits nicht verpflichtet, ein unzumutbares oder ein zumutbares, aber ungleichwertiges Angebot anzunehmen. Schlägt er solche Angebote aus, behält er seinen Anspruch auf eine Abfindung nach dem TV oder auf den Zugang zur Vivento. Die Regelungen orientieren sich erkennbar an den Vorgaben des § 1 KSchG zur Prüfung von Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten bei betriebsbedingten Kündigungen, schaffen aber durch die Definition der Zumutbarkeitskriterien mehr Transparenz, als sie alleine aufgrund der gesetzlichen Regelungen besteht. Wichtig ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass die Rechtsprechung an das „Angebot“ des Arbeitgebers, der Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten sieht, gewisse Anforderungen stellt. So hat das LAG Schleswig-Holstein zum TV Ratio der Deutsche Telekom AG festgestellt, dass ein Angebot nicht darin gesehen werden könne, dass der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer Stellen nachweise und ihn auffordere, sich auf diese zu bewerben. Ein Angebot könne vielmehr begrifflich nur dann abgegeben sein, wenn das Zustandekommen des abändernden Vertrags nur noch von der Annahme durch den Vertragspartner abhänge1. Werde ein Arbeitnehmer hingegen aufgefordert, sich auf eine Stelle zu bewerben, so gebe er selbst mit seiner Bewerbung ein Angebot auf Vertragsschluss ab, das dann von dem Arbeitgeber angenommen werde. Ein Angebot könne mithin nicht darin liegen, dass der Kläger in Konkurrenz zu anderen Stellenbewerbern treten müsse. Dabei handele es sich allenfalls um eine „invitatio ad offerendum“2.

3. § 12 eines Firmen-TVes gemäß § 6 des Tarifvertrages zur Beschäftigungssicherung für die metallverarbeitende Industrie Nordrhein-Westfalens (Rz. 11) 18

Neben der oben (Rz. 12) dargestellten Möglichkeit des Arbeitgebers, im Rahmen einer Vereinbarung zur Beschäftigungssicherung seiner Belegschaft im Gegenzug für deren zeitweiligen Verzicht auf tarifliche Ansprüche die Beibehaltung eines Standorts oder einer bestimmten Mindestanzahl von Arbeitsplätzen zuzusagen, kann der Arbeitgeber auch generell auf betriebsbedingte Kündigungen verzichten. Ein solcher „absoluter“ Kündigungsschutz geht für den Arbeitgeber jedoch mit erheblichen Risiken einher. Gerade bei längeren Laufzeiten von Beschäftigungspakten ist für den Arbeitgeber nicht absehbar, 1 LAG Schleswig-Holstein v. 11.8.2004 – 2 Sa 475/03. 2 LAG Schleswig-Holstein v. 11.8.2004 – 2 Sa 475/03.

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Rz. 20 Teil 5 (19)

ob nicht doch einmal der Bedarf für den Ausspruch betriebsbedingter Kündigungen entsteht. Wäre der Arbeitgeber in dieser Situation alleine auf das Mittel der sog. „Orlando-Kündigung“, also einer außerordentlichen Kündigung aus wichtigem Grund nach § 626 Abs. 1 BGB, verwiesen1, so wäre damit für ihn eine erhebliche Rechtsunsicherheit verbunden. Angesichts der hohen Schwellen für die Begründung einer Kündigung aus wichtigem Grund (vgl. zu Unkündbarkeitsregelungen fi (20) Unkündbarkeiten/Kündigungsklauseln/Fristen Rz. 14 ff.) müsste der Arbeitgeber regelmäßig fürchten, in einem sich anschließenden Kündigungsschutzprozess zu unterliegen. Soweit sich Arbeitgeber auf einen vorübergehenden Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen einlassen, werden sie vor diesem Hintergrund regelmäßig darauf drängen, unter bestimmten, in den jeweiligen tariflichen Regelungen definierten Voraussetzungen ausnahmsweise doch betriebsbedingte Kündigungen aussprechen zu dürfen oder sogar ganz von dem vereinbarten Kündigungsverbot befreit zu werden. So kann als „Befreiungstatbestand“ in diesem Sinne vereinbart werden, dass das Verbot betriebsbedingter Kündigungen nicht gilt, wenn sie als Teil einer späteren Betriebsänderung i.S.v. § 111 BetrVG notwendig werden und der Arbeitgeber vor Ausspruch der Kündigungen mit dem zuständigen Betriebsrat einen Interessenausgleich sowie ggf. einen Sozialplan vereinbart hat. Die Aufhebung des Kündigungsverbots setzt dann voraus, dass der Arbeitgeber den Interessenausgleich nicht nur im Sinne der einschlägigen Rechtsprechung des BAG „versucht“2, sondern dass es tatsächlich zur Vereinbarung eines Interessenausgleiches kommt.

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In dem hier beispielhaft betrachteten FirmenTV zur Beschäftigungssicherung in einem Unternehmen der Metallindustrie in Nordrhein-Westfalen sind die TV-Parteien einem anderen, gleichermaßen üblichen Weg gefolgt. Sie haben nicht von vornherein bestimmte Situationen definiert, in denen eine Ausnahme von dem tariflich vereinbarten Kündigungsverbot gelten soll. Stattdessen haben sie die Wirksamkeit von Kündigungen während der Laufzeit der Vereinbarung zur Beschäftigungssicherung generell von der Zustimmung des Betriebsrats abhängig gemacht. Während eine solche Regelung, die zur Inanspruchnahme der Betriebsparteien führt, einzelvertraglich nicht wirksam getroffen werden kann3, ist die Möglichkeit der TV-Parteien, auf § 102 Abs. 6 BetrVG zurückzugreifen, allgemein anerkannt4 (vgl. auch Teil 12 Rz. 42). Der Vorteil einer solchen Regelung liegt erkennbar darin, dass sie die TV-Parteien von der Notwendigkeit befreit, im Vorhinein spezielle Ausnahmetatbestände oder besondere Konstellationen zu beschreiben, die zu einer Aufhebung oder Einschränkung des Kündigungsverbots führen sollen. Angesichts der Vielzahl denkbarer Sachverhaltskonstellationen und – gerade bei Beschäftigungssicherungsvereinbarungen mit längerer Laufzeit – der Unvorhersehbarkeit der Entwicklung des betroffenen Unternehmens erweist sich eine praxistaugliche Re-

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1 Vgl. Schaub/Linck, ArbR-Hdb., § 128 Rz. 15; Etzel, ZTR 2003, 210 (210 f.). 2 Vgl. BAG v. 26.10.2004 – 1 AZR 493/03, NZA 2005, 237; BAG v. 16.8.2011 – 1 AZR 44/10, NZA 2012, 640. 3 BAG v. 23.4.2009 – 6 AZR 263/08, NZA 2009, 915. 4 Vgl. zuletzt BAG v. 24.2.2011 – 2 AZR 830/09, NZA 2011, 708 m.w.N.

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Rz. 21

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gelung solcher „Ausstiegsszenarien“ erfahrungsgemäß als sehr schwieriges Unterfangen. Die Wirksamkeit von Kündigungen stattdessen unter Nutzung der in § 102 Abs. 6 BetrVG vorgesehenen Möglichkeit von der Zustimmung des Betriebsrats abhängig zu machen, bietet demgegenüber einige Vorteile. Zum einen erlaubt das Verfahren eine Einzelfallbetrachtung und Bewertung der Situation zu dem Zeitpunkt, in dem der Arbeitgeber sich tatsächlich zum Ausspruch von Kündigungen veranlasst sieht. Dabei ist nach überwiegender Auffassung der Betriebsrat in seiner Entscheidung über die Erteilung oder Verweigerung der Zustimmung nicht frei, sondern an die Maßstäbe des KSchG gebunden. Er hat einen Beurteilungsspielraum, jedoch keinen Ermessensspielraum1. Des Weiteren erlangt der Arbeitgeber, sobald die Zustimmung des Betriebsrats vorliegt, eine gewisse Rechtssicherheit, weil in einem etwaigen späteren Kündigungsschutzprozess die Voraussetzungen für eine Ausnahme des Kündigungsverbots nicht nochmals geprüft werden müssen. Außerdem entfällt das gesetzliche Widerspruchsrecht des Betriebsrats nach § 102 Abs. 3 BetrVG und damit der besondere gesetzliche Weiterbeschäftigungsanspruch des gekündigten Arbeitnehmers nach § 102 Abs. 5 BetrVG2. Der Arbeitgeber trägt insoweit nur die verbleibenden, ganz allgemein mit einem Kündigungsschutzprozess einhergehenden Risiken. 21

Auffällig an der hier betrachteten Regelung ist, dass sie nicht nur betriebsbedingte Kündigungen erfasst, sondern jegliche Kündigung während der Laufzeit der Vereinbarung. Oftmals sind personen- oder verhaltensbedingte Kündigungen von Kündigungsverboten, die im Rahmen eines Paktes zur Beschäftigungssicherung vereinbart werden, ausgenommen3. Die Regelung enthält darüber hinaus keine Vorschriften zum Verfahren der Zustimmungserteilung. Insbesondere haben die TV-Parteien nicht vorgesehen, dass die Zustimmung des Betriebsrats als erteilt gilt, wenn er auf das Zustimmungsersuchen des Arbeitgebers nicht innerhalb einer bestimmten Frist reagiert. Eine solche Regelung in einem TV wäre möglich; sie muss aber ausdrücklich vereinbart werden4. Die TV-Parteien haben hingegen von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, für den Fall der Nichterteilung der Zustimmung die Zuständigkeit der Einigungsstelle zu begründen. Auch dies ist zulässig. Nach Auffassung des BAG dürfen die TV-Parteien sogar selbst einen direkten Zugang zu den Gerichten für Arbeitssachen unter Umgehung der Einigungsstelle vorsehen5. Ob die Betriebsparteien im Rahmen einer Betriebsvereinbarung nach § 102 Abs. 6 BetrVG ebenfalls den direkten Weg zu den Arbeitsgerichten ohne Vorschaltung eines Einigungsstellenverfahrens vorsehen dürfen, wovon das BAG ausgeht6, ist nicht unumstritten7. 1 KR/Etzel, § 102 BetrVG Rz. 249a; ErfK/Kania, § 102 BetrVG Rz. 45. 2 ErfK/Kania, § 102 BetrVG Rz. 47; Fitting, § 102 BetrVG Rz. 125. 3 Ob die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung von einer Zustimmung des Betriebsrats abhängig gemacht werden kann, wovon die h.M. ausgeht, ist nicht ganz unumstritten (zum Streitstand: Fitting, § 102 BetrVG Rz. 124). 4 KR/Etzel, § 102 BetrVG Rz. 244; BAG v. 21.6.2000 – 4 AZR 379/99, NZA 2001, 271. 5 BAG v. 21.6.2000 – 4 AZR 379/99, NZA 2001, 271. 6 Vgl. BAG v. 21.6.2000 – 4 AZR 379/99, NZA 2001, 271. 7 Vgl. Nachweise bei Fitting, § 102 BetrVG Rz. 126.

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Unkündbarkeiten/Kündigungsklauseln/Fristen

Rz. 2 Teil 5 (20)

(20) Unkündbarkeiten/Kündigungsklauseln/Fristen Literatur: Adam, Abschied vom „Unkündbaren“, NZA 1999, 846; Breier/Dassau/Kiefer/ Lang/Langenbrinck, Kommentar TVöD, Tarif- und Arbeitsrecht im öffentlichen Dienst, Loseblatt; Bröhl, Kündigung im öffentlichen Dienst nach dem neuen TVöD, ZTR 2006, 174; Lingemann/Gotham, AGG – Benachteiligungen wegen des Alters in kollektivrechtlichen Regelungen, NZA 2007, 663; Wendeling-Schröder, Der Prüfungsmaßstab bei Altersdiskriminierungen, NZA 2007, 1399.

I. Zweck und Kontext Die gesetzlichen Regelungen in § 622 Abs. 1 bis 3 BGB sehen für die ordentliche Kündigung Kündigungsfristen und Kündigungstermine vor. Durch die Regelungen wird die Vertragsbeendigungsfreiheit eingeschränkt und ein zeitlich limitierter Kündigungsschutz bewirkt1. Durch die gesetzlich festgeschriebenen Mindestkündigungsfristen soll sichergestellt werden, dass sich der Arbeitnehmer frei von finanziellen Einbußen um einen neuen Arbeitsplatz bemühen kann2. In diesem Zusammenhang erfahren gerade ältere Beschäftigte durch die Beschränkung des Beendigungstermins auf das Ende eines Kalendermonats sowie insbesondere durch die verlängerten Kündigungsfristen des § 622 Abs. 2 BGB einen besonderen Schutz. Die Regelungen des § 622 BGB binden die Arbeitsvertragsparteien.

1

Gemäß § 622 Abs. 4 BGB kann durch TV von den gesetzlichen Kündigungsfristen abgewichen werden. Von dieser Möglichkeit wird in fast allen Branchen Gebrauch gemacht. Anders als im Individualarbeitsverhältnis – hier ist allenfalls eine Verlängerung der Kündigungsfristen durch Vereinbarung der Vertragsparteien in Erwägung zu ziehen (vgl. § 622 Abs. 5 Satz 2 BGB) –, räumt die Öffnungsklausel in § 622 Abs. 4 Satz 1 BGB den TV-Parteien das Recht ein, nahezu uneingeschränkt von den gesetzlichen Regelungen des § 622 Abs. 1–3 BGB abzuweichen. Durch die Tarifdispositivität soll nach dem Willen des Gesetzgebers den Besonderheiten der einzelnen Wirtschaftsbereiche und Beschäftigtengruppen Rechnung getragen werden3. Entsprechend den Bedürfnissen der jeweiligen Branche können so in TVen, abweichend von den gesetzlichen Regelungen, längere oder kürzere Kündigungsfristen – bis hin zu einem gänzlichen Verzicht auf eine Kündigungsfrist – vorgesehen werden. Die Vereinbarung längerer Kündigungsfristen stellt in der Praxis den Regelfall dar. Die Verlängerung der Kündigungsfristen bezieht sich in diesem Zusammenhang regelmäßig nicht nur auf die Grundkündigungsfrist, sondern insbesondere auch auf ein Abweichen von den an die Betriebszughörigkeit anknüpfenden bereits verlängerten Kündigungsfristen des § 622 Abs. 2 BGB. Die TV-Parteien sind in ihrer Gestaltungsfreiheit nur insoweit eingeschränkt, als auch im Rahmen eines TVes für die Eigenkündigung des Arbeitnehmers keine längeren Fristen als für die Kündigung des Arbeitgebers vereinbart werden dürfen (vgl. § 622 Abs. 6 BGB).

2

1 BAG v. 18.4.1985 – 2 AZR 197/84, NZA 1986, 229. 2 ErfK/Müller-Glöge, § 622 BGB Rz. 1. 3 BT-Drucks. 12/4902, B. Besonderer Teil, zu Artikel 1 (Änderung von § 622 des Bürgerlichen Gesetzbuches), S. 9.

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Teil 5 (20)

Rz. 3

Unkündbarkeiten/Kündigungsklauseln/Fristen

Neben der Möglichkeit der Regelung von Kündigungsfristen schließt die Öffnungsklausel auch abweichende Regelungen der TV-Parteien zu den Kündigungsterminen mit ein. 3

Machen die TV-Parteien von ihren Rechten nach § 622 Abs. 4 BGB Gebrauch, haben sie dabei die gleichen Anforderungen wie der Gesetzgeber einzuhalten. Beispielsweise darf die Tarifnorm nicht gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz oder die Vorgaben des allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) verstoßen (vgl. unten Rz. 13).

4

Ebenso stehen die Vorschriften des KSchG im Wesentlichen nicht zur Disposition der TV-Parteien (vgl. hierzu – insbesondere auch zu den Ausnahmen – im Einzelnen Teil 4 Rz. 69).

5

Zulässig soll es sein, dass die TV-Parteien die Rechte des Arbeitgebers zur ordentlichen Kündigung von Arbeitsverhältnissen, insbesondere für ältere Arbeitnehmer, beschränken. Nicht selten sehen TVe in diesem Zusammenhang sog. Unkündbarkeitsregelungen vor (vgl. hierzu unten Rz. 10 ff.). Hierbei handelt es sich um Regelungen, wonach den Beschäftigten, sofern sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen (in der Regel das Erreichen eines bestimmten Alters und/oder einer bestimmten Betriebszugehörigkeitszeit), nur noch außerordentlich gekündigt werden kann. Die ordentliche Kündigung durch den Arbeitgeber ist hingegen ausgeschlossen. Erfüllt ein Beschäftigter die für seine Branche geltenden Unkündbarkeitsvoraussetzungen, ist es dem Arbeitgeber versagt, Sachverhalte zum Anlass einer arbeitgeberseitigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu nehmen, auch wenn sie eine Kündigung gemäß § 1 Abs. 2 KSchG rechtfertigen würden. Möglich bleibt allein die Kündigung aus wichtigem Grund im Sinne von § 626 BGB. Der Sinn und Zweck derartiger Unkündbarkeitsregelungen in TVen besteht vorwiegend darin, den länger beschäftigten und älteren Arbeitnehmern einen weitergehenden Arbeitsplatzschutz zu gewähren.

II. Beispiele § 4 Abs. 6 des Manteltarifvertrags für Beschäftigte der Metall- und Elektroindustrie in Südwürttemberg-Hohenzollern – Kündigung, Aufhebungsvertrag 6

4.1 Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Kündigung oder Auflösungsvertrag bedarf zu ihrer Wirksamkeit der Schriftform; die elektronische Form ist ausgeschlossen. 4.2 Die Kündigungsfrist beginnt frühestens mit dem Tag der vereinbarten Arbeitsaufnahme zu laufen. Eine hiervon abweichende Regelung muss schriftlich vereinbart sein. 4.3 Auf Wunsch ist dem Beschäftigten nach Kündigung unter Fortzahlung des Arbeitsentgelts angemessene Zeit zu gewähren, um sich eine neue Stelle zu suchen. 4.4 Einem Beschäftigten, der das 53., aber noch nicht das 65. Lebensjahr vollendet hat und dem Betrieb mindestens drei Jahre angehört, kann nur noch 490

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Rz. 7 Teil 5 (20)

aus wichtigem Grund gekündigt werden. Dies gilt auch für eine Änderungskündigung. 4.5 Kündigungsfristen 4.5.1 Die beiderseitige Kündigungsfrist beträgt 4.5.1.1 innerhalb der ersten drei Monate Betriebszugehörigkeit einen Monat zum Monatsende; 4.5.1.2 nach Ablauf der ersten drei Monate zwei Monate zum Monatsende. 4.5.2 Die Kündigungsfrist des Arbeitgebers beträgt gegenüber dem Beschäftigten nach einer Betriebszugehörigkeit von 5 Jahren mindestens 3 Monate 8 Jahren mindestens 4 Monate 10 Jahren mindestens 5 Monate 12 Jahren mindestens 6 Monate jeweils zum Schluss eines Kalendervierteljahres. 4.5.3 Bei der Berechnung der Betriebszughörigkeit gemäß § 4.5.2 werden Beschäftigungszeiten, die vor der Vollendung des 25. Lebensjahres liegen, nicht berücksichtigt. 4.6

Für fristlose Kündigungen gelten die gesetzlichen Bestimmungen.

§ 34 TVöD – Kündigung des Arbeitsverhältnisses (1) Bis zum Ende des sechsten Monats seit Beginn des Arbeitsverhältnisses beträgt die Kündigungsfrist zwei Wochen zum Monatsschluss. Im Übrigen beträgt die Kündigungsfrist bei einer Beschäftigungszeit (Absatz 3 Satz 1 und 2) bis zu einem Jahr ein Monat zum Monatsschluss, von mehr als einem Jahr 6 Wochen von mindestens 5 Jahren 3 Monate von mindestens 8 Jahren 4 Monate von mindestens 10 Jahren 5 Monate von mindestens 12 Jahren 6 Monate zum Schluss eines Kalendervierteljahres. (2) Arbeitsverhältnisse von Beschäftigten, die das 40. Lebensjahr vollendet haben und für die die Regelungen des Tarifgebiets West Anwendung finden, können nach einer Beschäftigungszeit (Absatz 3 Satz 1 und 2) von mehr als 15 Jahren durch den Arbeitgeber nur aus einem wichtigen Grund gekündigt werden. Soweit Beschäftigte nach den bis zum 30. September 2005 geltenden Tarifregelungen unkündbar waren, verbleibt es dabei. (3) Beschäftigungszeit ist die bei demselben Arbeitgeber im Arbeitsverhältnis zurückgelegte Zeit, auch wenn sie unterbrochen ist. Unberücksichtigt bleibt die Zeit eines Sonderurlaubs gemäß § 28, es sei denn, der Arbeitgeber hat vor Antritt des Sonderurlaubs schriftlich ein dienstliches oder betriebliches Interesse anerkannt. Wechseln Beschäftigte zwischen Arbeitgebern, die vom Geltungsbereich dieses Tarifvertrages erfasst werden, werden die Zeiten bei dem andeHexel

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Rz. 8

Unkündbarkeiten/Kündigungsklauseln/Fristen

ren Arbeitgeber als Beschäftigungszeit anerkannt. Satz 3 gilt entsprechend bei einem Wechsel von einem anderen öffentlich-rechtlichen Arbeitgeber. § 12 des Bundesrahmentarifvertrags für das Baugewerbe (BRTV-Bau) – Beendigung des Arbeitsverhältnisses 8

1. Kündigungsfristen und Schriftformerfordernis 1.1 Allgemeine Kündigungsfrist Das Arbeitsverhältnis kann beiderseitig unter Einhaltung einer Frist von 6 Werktagen, nach sechsmonatiger Dauer von 12 Werktagen, gekündigt werden. 1.2 Verlängerte Kündigungsfrist für ältere Arbeitnehmer mit längerer Betriebszugehörigkeit Die Kündigungsfrist für den Arbeitgeber erhöht sich, wenn das Arbeitsverhältnis in demselben Betrieb oder Unternehmen drei Jahre bestanden hat, auf einen Monat zum Monatsende, fünf Jahre bestanden hat, auf zwei Monate zum Monatsende, acht Jahre bestanden hat, auf drei Monate zum Monatsende, zehn Jahre bestanden hat, auf vier Monate zum Monatsende, zwölf Jahre bestanden hat, auf fünf Monate zum Monatsende, fünfzehn Jahre bestanden hat, auf sechs Monate zum Monatsende, zwanzig Jahre bestanden hat, auf sieben Monate zum Monatsende Bei der Berechnung der Beschäftigungsdauer werden Zeiten, die vor der Vollendung des 25. Lebensjahres liegen, nicht berücksichtigt. Zeiten unterbrochener Betriebszugehörigkeit werden zusammengerechnet, wenn die Unterbrechung nicht vom Arbeitnehmer veranlasst wurde und wenn sie nicht länger als sechs Monate gedauert hat. 1.3 Schriftformerfordernis Jede Kündigung hat schriftlich zu erfolgen. 2. Kündigungsausschluss Das Arbeitsverhältnis kann in der Zeit vom 1. November bis 31. März (Schlechtwetterzeit) nicht aus Witterungsgründen gekündigt werden. 3. (…)

III. Kommentierung 1. § 4 Abs. 6 MTV für Beschäftigte der Metall- und Elektroindustrie in Südwürttemberg-Hohenzollern – Kündigung, Aufhebungsvertrag (Rz. 6) 9

Die Regelung des § 4 Abs. 6 des Manteltarifvertrags für Beschäftigte der Metall- und Elektroindustrie kann exemplarisch für eine tarifvertragliche Kündigungsvorschrift herangezogen werden, die insbesondere den älteren Beschäftigten dieser Branche einen sehr weitreichenden Sonderkündigungsschutz ein492

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Rz. 11 Teil 5 (20)

räumt (vgl. hierzu insbesondere Rz. 10 ff.). In formeller Hinsicht wird durch Ziff. 4.1 zunächst festgelegt, dass die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Kündigung oder Auflösungsvertrag zu ihrer Wirksamkeit der Schriftform bedarf1. Derartige, in TVen heute noch vielfach zu findende Regelungen, sind spätestens seit der Einführung des § 623 BGB und dem damit einhergehenden zwingenden gesetzlichen Schriftformerfordernis obsolet. Ziff. 4.1 kommt mithin lediglich eine deklaratorische Bedeutung zu.

a) Ausschluss der ordentlichen Kündigung (Ziff. 4.4) Die Regelung in Ziff. 4.4 des § 4 Abs. 6 beinhaltet einen tariflichen Ausschluss der ordentlichen Kündigung. Die Unkündbarkeit eines Beschäftigten wird darin an zwei Voraussetzungen geknüpft. Zum einen muss der Beschäftigte das 53., aber noch nicht das 65. Lebensjahr vollendet haben. Zum anderen setzt der tarifliche Ausschluss der ordentlichen Kündigung eine mindestens dreijährige Betriebszugehörigkeit2 voraus. Darüber hinausgehende Voraussetzungen werden für die Unkündbarkeit eines Beschäftigten in der Metall und Elektroindustrie in Baden-Württemberg nicht gefordert3.

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Erfüllt ein Beschäftigter die oben genannten Voraussetzungen, ist dem Arbeitgeber der Ausspruch einer ordentlichen Kündigung verwehrt. Dies soll neben der ordentlichen Beendigungskündigung auch für die ordentliche Änderungskündigung gelten4. Durch Ziff. Ziff. 4.4 Satz 2 wird dies noch einmal ausdrücklich klargestellt. Sollte sich ein Arbeitgeber dennoch für die ordentliche Kündigung eines tariflich unkündbaren Mitarbeiters entscheiden, wäre diese Kündigung wegen Verstoßes gegen das tarifliche Kündigungsverbot nach § 4 TVG i.V.m. § 134 BGB nichtig5. Für die Annahme der Unwirksamkeit müssen die genannten Voraussetzungen der Unkündbarkeit beim Zugang der Kündigung vorgelegen haben6. Eine unwirksame ordentliche Kündigung kann nicht in eine außerordentliche fristlose Kündigung umgedeutet werden, weil eine Umdeutung nicht zu einer rechtlich weitergehenden Folge führen darf7. Zulässig sein könnte allenfalls eine Umdeutung in eine außerordentliche Kündigung

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1 Ebenfalls an die Form der Kündigung anknüpfend finden sich Regelungen, nach denen der Arbeitgeber nach Ausspruch einer ordentlichen Kündigung zum Schutz des Arbeitnehmers auf dessen Verlangen den Kündigungsgrund mitzuteilen hat, vgl. z.B. § 11 Ziff. III 1. des Manteltarifvertrags für die chemische Industrie Nordrhein. 2 Nicht zuletzt wegen dieser Voraussetzung wird oftmals auf die besondere Tragweite dieser Tarifnorm hingewiesen, vgl. z.B. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1974; andere TVe setzen für die Unkündbarkeit eine deutlich längere Betriebszugehörigkeit voraus, vgl. z.B. § 34 Abs. 2 TVöD, der für den Unkündbarkeitsstatus eine Beschäftigungszeit von mehr als 15 Jahren verlangt. 3 So bezieht sich z.B. die Altersgrenze für die anrechenbaren Beschäftigungszeiten in Ziff. 4.5.3 (vgl. hierzu unten Rz. 20) systematisch nicht auf die Regelung zur Unkündbarkeit. 4 BAG v. 10.3.1982 – 4 AZR 158/79, DB 1982, 1520; ErfK/Müller-Glöge, § 622 BGB Rz. 45. 5 ErfK/Müller-Glöge, § 622 BGB Rz. 45; vgl. hierzu auch BAG v. 10.2.1999 – 2 AZR 422/98, NZA 1999, 657. 6 Vgl. BAG v. 16.10.1987 – 7 AZR 204/87, NZA 1988, 877. 7 So bereits BAG v. 12.9.1974 – 2 AZR 535/73, DB 1975, 214.

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Teil 5 (20)

Rz. 12

Unkündbarkeiten/Kündigungsklauseln/Fristen

mit notwendiger Auslauffrist (vgl. dazu unten Rz. 15)1. Möchte sich ein unkündbarer Beschäftigter gegen die ordentliche Kündigung seines Arbeitsverhältnisses durch seinen Arbeitgeber zur Wehr setzen, hat er die dreiwöchige Klagefrist des § 4 KSchG einzuhalten2. 12

Da der besondere Kündigungsschutz nur zugunsten der Beschäftigten wirkt, ist der Beschäftigte selbst nicht daran gehindert, seinerseits sein Arbeitsverhältnis durch ordentliche Eigenkündigung innerhalb der allgemeinen tariflich festgelegten Fristen gemäß der Ziff. 4.5 (vgl. unten Rz. 18) zu beenden.

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Eine im Zusammenhang mit dem tariflichen Sonderkündigungsschutz vermehrt diskutierte Frage ist, ob ein tariflich unkündbarer Beschäftigter im Fall von betriebsbedingten Kündigungen in die Sozialauswahl mit einzubeziehen ist. Dies wird teilweise mit der Begründung bejaht, dass den TV-Parteien nicht das Recht zustehe, einem Arbeitnehmer einen Arbeitsplatz auf Kosten eines anderen zu reservieren3. Die TV-Parteien dürften nicht gezielt durch die Festlegung der Unkündbarkeit kraft nur zweier Sozialauswahlkriterien (Dauer der Betriebszugehörigkeit, Lebensalter) die Sozialauswahl zu Lasten der anderen Arbeitnehmer steuern4. Nach der wohl überwiegend vertretenen Ansicht sind unkündbare Arbeitnehmer jedoch grundsätzlich aus der Sozialauswahl herauszunehmen5. Begründet wird dies unter anderem damit, dass eine Einschränkung des Kündigungsschutzes der ordentlich Kündbaren nur mittelbar erfolge. Ferner könne selbst der Arbeitgeber auch über andere Wege – zum Beispiel durch Versetzungsklauseln – den in die Sozialauswahl einzubeziehenden Personenkreis beeinflussen6. Das BAG scheint sich hinsichtlich dieser Fragestellung bislang nicht endgültig festlegen zu wollen und hat in einer Entscheidung aus dem Jahre 2008 zu der wortgleichen Ziff. 4.4 des Manteltarifvertrags der Metallindustrie Nordwürttemberg/Nordbaden in einem obiter dictum einen vermittelnden Standpunkt eingenommen7. Nach Ansicht des Gerichts sind Unkündbarkeitsregelungen grundsätzlich als zulässig anzusehen mit der Folge, dass sie grundsätzlich zu einer Herausnahme der Geschützten aus der Sozialauswahl führen. Die Regelungen über den Sonderkündigungsschutz müssten jedoch dann einschränkend angewendet werden bzw. sollen dann keine Wirkung entfalten, wenn hierdurch der Kündigungsschutz anderer Beschäftigter „grob fehlerhaft“ gemindert würde. Als Beispiel für einen solchen „Extremfall“ bildete das BAG den Fall, in dem ein 53-jähriger seit drei Jahren beschäftigter Arbeitnehmer ohne Unterhaltspflichten auf Grund der tarifvertraglichen Regelung aus der Sozialauswahl ausscheiden soll, während ein 52-jähriger seit 35 Jahren im Betrieb beschäftigter Arbeitnehmer mit mehrfachen Unterhaltspflichten zur Kündigung ansteht. Für derartig schwerwiegende Fälle müssten 1 Bröhl, Die außerordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist, 251 f.; dies zumindest nicht ausschließend auch ErfK/Müller-Glöge, § 620 BGB Rz. 62. 2 Görg/Guth/Hamer/Pieper/Guth, § 34 TVöD Rz. 34. 3 Vgl. z.B. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1971; Adam, NZA 1999, 847 f. 4 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1971. 5 So KR/Griebeling, § 1 KSchG Rz. 666; Däubler/Hensche, § 1 TVG Rz. 826; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 681 f. 6 Thüsing/Braun/Mengel/Burg, 5. Kap. Sonderkündigungsschutz Rz. 5. 7 BAG v. 5.6.2008 – 2 AZR 907/06, NZA 2008, 1120.

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Unkündbarkeiten/Kündigungsklauseln/Fristen

Rz. 15 Teil 5 (20)

nach Auffassung des Gerichts für die Anwendung der Ziff. 4.4 Einschränkungen gelten. Die Regelung sei dann im Hinblick auf die Grundrechte des ordentlich kündbaren Mitarbeiters verfassungskonform auszulegen bzw. im Hinblick auf die Regelungen zur Altersdiskriminierung gemeinschaftskonform einzuschränken oder im Einzelfall durch einen ungeschriebenen Ausnahmetatbestand innerhalb der Tarifnorm anzupassen1. Mit dieser letzten Aussage macht das Gericht deutlich, dass Unkündbarkeitsklauseln – mit Ausnahme der oben genannten grob fehlerhaften Auswahl – auch mit Blick auf das europarechtliche Verbot der Altersdiskriminierung, das auch jüngere Menschen schützt, grundsätzlich zulässig sein können. Im Regelfall ist damit nicht von einem Verstoß der Regelungen zum Sonderkündigungsschutz gegen das AGG auszugehen2. Einen absoluten Kündigungsschutz einzelner Mitarbeiter können selbst die TV-Parteien nicht begründen. Bei dem Recht zur außerordentlichen Kündigung handelt es sich um ein zwingendes Recht, von dem auch nicht durch TV wirksam abgewichen werden kann3. Dahinter steht die allgemeine Überlegung, dass keine Vertragspartei zur Fortführung eines unzumutbaren Arbeitsverhältnisses verpflichtet werden kann. Vielmehr muss ein Dauerschuldverhältnis für den Fall seiner Unzumutbarkeit kündbar bleiben4. Hiervon Abweichendes kann auch nicht in TVen geregelt werden5. Die TV-Parteien können damit lediglich die nach § 626 BGB geltende Rechtslage übernehmen6. Folgerichtig wird in Ziff. 4.4 Satz 1 allein darauf verwiesen, dass das Arbeitsverhältnis des Beschäftigten „aus wichtigem Grund“ jederzeit kündbar bleibt.

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Offen bleibt schließlich die Frage, wie im Rahmen der tariflichen Regelungen mit einem Arbeitnehmer umzugehen ist, der die Voraussetzungen der Ziff. 4.4 erfüllt und damit Sonderkündigungsschutz genießt, dessen Arbeitsplatz jedoch bereits zum Zeitpunkt der Vollendung des 54. Lebensjahres des Arbeitnehmers, beispielsweise aufgrund einer Betriebsstilllegung, wegfällt. Ohne einen wichtigen Grund für eine außerordentliche Kündigung wäre der Arbeitgeber nach dem bislang Gesagten in dieser Konstellation dazu verpflichtet, diesem Arbeitnehmer für die vielen Jahre bis zum Erreichen des Renteneintrittsalters sein Gehalt fortzuzahlen, ohne dafür eine entsprechende Gegenleistung zu erhalten. Diesem Risiko einer Ewigkeitsbindung7 versucht die Rechtsprechung mittels der so genannten „außerordentlichen Kündigung mit notwendiger Auslauffrist“ zu begegnen. Hierbei handelt es sich um ein Rechtsinstitut, das von der Rechtsprechung ursprünglich für die Kündigung von Arbeitnehmern mit

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1 BAG v. 5.6.2008 – 2 AZR 907/06, NZA 2008, 1120. 2 Vgl. hierzu allgemein Lingemann/Gotham, NZA 2007, 663 (665); Wendeling-Schröder, NZA 2007, 1399 (1404). 3 BAG v. 25.4.2007 – 6 AZR 746/06, NZA 2007, 881. 4 Vgl. auch Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 686, mit der Anmerkung, dass das Recht zur Kündigung eines Dauerschuldverhältnisses aus wichtigem Grund zu den zwingenden Grundprinzipien des Privatrechts gehört. 5 Vgl. BAG v. 27.6.2002 – 2 AZR 367/01, DB 2003, 102. 6 Zu der Möglichkeit der TV-Parteien, im Sinne einer Konkretisierung der Regelungen des § 626 BGB bestimmte Gründe als Rechtfertigung für eine außerordentliche Kündigung nicht anzuerkennen, vgl. Teil 4 Rz. 70. 7 Zu dieser Begrifflichkeit vgl. Bröhl, FS Schaub, 1998, S. 55 (67).

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Teil 5 (20)

Rz. 16

Unkündbarkeiten/Kündigungsklauseln/Fristen

gesetzlichem Sonderkündigungsschutz – insbesondere für die in § 15 Abs. 1–3a KSchG geschützten Personen1 – entwickelt und in der Folgezeit auch auf Arbeitnehmer mit tariflichem Sonderkündigungsschutz übertragen wurde. Ausnahmsweise soll danach eine vorzeitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses eines Arbeitnehmers mit Sonderkündigungsschutz zulässig sein. Die notwendige Auslauffrist entspricht dabei regelmäßig der im Falle einer ordentlichen Arbeitgeberkündigung zu wahrenden Kündigungsfrist des Arbeitnehmers. 16

Nach der Rechtsprechung kann auf das Mittel der außerordentlichen Kündigung mit notwendiger Auslauffrist nur in sehr engen Grenzen zurückgegriffen werden. Schließlich hat sich der Arbeitgeber durch seinen Verbandsbeitritt bewusst für die Anwendbarkeit der für die Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie geltenden Tarifnormen entschieden. Von diesem freiwillig übernommenen Beschäftigungsrisiko soll er sich nicht ohne weiteres lösen können. Darüber hinaus bedeutet der Unkündbarkeitsstatus auch ein nicht unerhebliches Maß an Rechtssicherheit für den Arbeitnehmer. Er soll darauf vertrauen können, dass sein Arbeitsverhältnis – sofern er keine schwerwiegende Pflichtverletzung begeht – nicht vorzeitig von Seiten des Arbeitgebers beendet werden kann. Eine außerordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist muss nicht zuletzt aufgrund dieser Gründe regelmäßig das letzte Mittel darstellen. Sie kann deshalb nur in Betracht kommen, wenn der Arbeitnehmer im Betrieb – z.B. in den Fällen einer Betriebseinschränkung oder -stilllegung – überhaupt nicht mehr mit sinnvoller Arbeit beschäftigt werden kann (sog. „sinnentleertes Arbeitsverhältnis“)2. Möchte der Arbeitgeber eine außerordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist aussprechen, muss er nach der Rechtsprechung des BAG zuvor sämtliche geeignete Maßnahmen ausgereizt haben, um den Ausspruch der Kündigung zu vermeiden3. Zunächst sind die im Rahmen von § 1 Abs. 3 KSchG vergleichbaren oder die in § 1 Abs. 2 Satz 3 KSchG genannten freien Arbeitsplätze einzubeziehen. Auch ist der Arbeitgeber verpflichtet zu prüfen, ob gegebenenfalls durch eine Umorganisation die Beendigung des Arbeitsverhältnisses vermieden werden könnte4. Das Fehlen jeglicher, auch anderweitiger Beschäftigungsmöglichkeiten stellt bei der außerordentlichen betriebsbedingten Kündigung mit notwendiger Auslauffrist regelmäßig einen Teil des wichtigen Grundes im Sinne von § 626 BGB dar und ist deshalb im Kündigungsschutzprozess vom Arbeitgeber hinreichend darzulegen5.

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Ob die Pflichten des Arbeitgebers nach der Vorstellung der Rechtsprechung so weit gehen, dass er für den Erhalt des Arbeitsplatzes des Arbeitnehmers mit tariflichem Sonderkündigungsschutz das Arbeitsverhältnis eines von den dringenden betrieblichen Gründen nicht betroffenen und im Sinne von § 1 Abs. 3 KSchG nicht vergleichbaren kündbaren Arbeitnehmers beenden muss, hat das 1 Vgl. hierzu allgemein Ascheid/Preis/Schmidt, § 15 KSchG Rz. 128 f. 2 Vgl. BAG v. 5.2.1998 – 2 AZR 227/97, DB 1998, 1035; BAG v. 27.6.2002 – 2 AZR 376/01, DB 2003, 102. 3 Vgl. BAG v. 26.3.2009 – 2 AZR 879/07, DB 2009, 2381; BAG v. 26.11.2009 – 2 AZR 272/08, MDR 2010, 876. 4 So z.B. BAG v. 12.8.1999 – 2 AZR 748/98, NZA 1999, 1267; BAG v. 6.10.2005 – 2 AZR 362/04, NZA-RR 2006, 416. 5 BAG v. 6.10.2005 – 2 AZR 362/04, NZA-RR 2006, 416.

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Unkündbarkeiten/Kündigungsklauseln/Fristen

Rz. 18 Teil 5 (20)

BAG bislang nicht abschließend entschieden. Es hat zu der mit Ziff. 4.4 vergleichbaren Vorschrift des § 55 Abs. 2 UAbs. 1 BAT klargestellt, dass eine Freikündigungspflicht des Arbeitgebers jedenfalls dann ausscheidet, wenn der Arbeitnehmer mit Sonderkündigungsschutz den freigekündigten Arbeitsplatz nicht innerhalb der für einen qualifizierten Stellenbewerber ausreichenden Einarbeitungszeit ausfüllen kann1. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass eine Freikündigungspflicht des Arbeitgebers allenfalls für die Fälle in Betracht kommt, in denen dem tariflich Unkündbaren durch die Freikündigung ein „gleichwertiger Arbeitsplatz“ zur Verfügung gestellt werden kann. Darüber hinaus lassen sich vereinzelte Entscheidungen finden, in denen hinsichtlich eines tariflich unkündbaren Arbeitnehmers die Möglichkeit einer Freikündigung als milderes Mittel in Betracht gezogen wurde2. Trotz alledem scheint das BAG nach wie vor Zweifel daran zu haben, ob sich die Freikündigungspflicht des Arbeitgebers als ein allgemeines Prinzip für Arbeitnehmer mit Sonderkündigungsschutz heranziehen lässt3. Dagegen ließe sich insbesondere anführen, dass das BAG die Freikündungspflicht des Arbeitgebers ursprünglich aus dem besonderen Zweck des § 15 Abs. 5 KSchG – eine Vorschrift, die dem Schutz der Funktionsfähigkeit des Betriebsrates dient – herleitete4.

b) Kündigungsfristen (Ziff. 4.5) Durch Ziff. 4.5.1 des Manteltarifvertrags für die Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie in Südwürttemberg-Hohenzollern werden die Kündigungsfristen geregelt, die für die ersten fünf Beschäftigungsjahre sowohl für den Arbeitnehmer als auch für den Arbeitgeber gelten. Die Länge der Kündigungsfrist ist jeweils abhängig von der Betriebszugehörigkeit des einzelnen Beschäftigten. Während der ersten drei Beschäftigungsmonate kann ein Arbeitsverhältnis gemäß Ziff. 4.5.1.1 innerhalb eines Monats zum Monatsende gekündigt werden. Die Regelung geht damit insoweit über die gesetzliche Regelung des § 622 Abs. 1 BGB hinaus, als das Arbeitsverhältnis nur zum Ende und nicht auch zum Fünfzehnten eines Monats gekündigt werden kann. Auch die Regelung in Ziff. 4.5.1.2 ist für den Arbeitnehmer deutlich günstiger als die gesetzliche Regelung. Unter dem TV kann das Arbeitsverhältnis bereits nach Ablauf der ersten drei Beschäftigungsmonate nur mit einer Frist von zwei Monaten zum Kalendermonatsende gekündigt werden. Das Gesetz sieht in § 622 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BGB eine zweimonatige Kündigungsfrist erst nach einer fünfjährigen Betriebszugehörigkeit vor. 1 BAG v. 18.5.2006 – 2 AZR 207/05, BB 2007, 668. 2 Vgl. BAG v. 6.10.2005 – 2 AZR 362/04, NZA-RR 2006, 416; ebenso BAG v. 25.4.2007 – 6 AZR 746/06, NZA 2007, 881; dies ablehnend LAG Schleswig-Holstein v. 4.9.2007 – 5 Sa 61/07, ZTR 2007, 684. 3 Vgl. hierzu insbesondere BAG v. 18.5.2006 – 2 AZR 207/05, BB 2007, 668: Der Senat hob in dieser Entscheidung hervor, dass eine Freikündigungspflicht bisher nur im Rahmen des § 15 Abs. 5 KSchG anerkannt sei; vgl. auch BAG v. 27.6.2002 – 2 AZR 367/01, DB 2003, 102: Hier wollte sich das Gericht nicht festlegen, ob auch hinsichtlich eines tariflich Unkündbaren eine Freikündigungspflicht des Arbeitgebers als milderes Mittel in Betracht kommen kann. 4 Vgl. hierzu BAG v. 18.10.2000 – 2 AZR 494/99, NZA 2001, 98; BAG v. 12.3.2009 – 2 AZR 47/08, DB 2009, 1712.

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Teil 5 (20)

Rz. 19

Unkündbarkeiten/Kündigungsklauseln/Fristen

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Nach Ablauf einer Betriebszugehörigkeit von fünf Jahren kommen schließlich für Kündigungen des Arbeitgebers die verlängerten Kündigungsfristen der Ziff. 4.5.2 zur Anwendung. Auch diese liegen jeweils über dem gesetzlich für Arbeitsverträge vorgeschriebenen Mindestrahmen (vgl. § 622 Abs. 2 BGB). Darüber hinaus legt Ziff. 4.5.2 abweichende Kündigungstermine fest. Statt zum Ende des Kalendermonats – wie es § 622 Abs. 2 BGB für sämtliche Stufen vorsieht – kann eine Kündigung gemäß Ziff. 4.5.2 nur zum Ende des Kalendervierteljahres erfolgen. Insgesamt sieht die Tarifnorm vier Stufen vor. Die Dauer der verlängerten Kündigungsfrist ist wiederum abhängig von der Betriebszugehörigkeit des Beschäftigten. Die Kündigungsfrist beträgt nach fünf Beschäftigungsjahren mindestens drei Monate, nach acht Beschäftigungsjahren mindestens vier Monate, nach zehn Beschäftigungsjahren mindestens fünf Monate und nach zwölf Jahren mindestens sechs Monate zum Ende des Kalendervierteljahres.

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Problematisch ist in diesem Zusammenhang, dass nach Ziff. 4.5.3 bei der Berechnung der Betriebszugehörigkeit gemäß Ziff. 4.5.2 Beschäftigungszeiten, die vor der Vollendung des 25. Lebensjahres liegen, unberücksichtigt bleiben sollen. § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB sieht eine entsprechende Regelung vor. Mit einer Entscheidung aus dem Jahr 2010 hat der EuGH auf Vorlage des LAG Düsseldorf festgestellt, dass § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB mit dem Unionsrecht, insbesondere dem Verbot der Altersdiskriminierung (RL 2000/78/EG), unvereinbar ist1. Soweit eine europarechtskonforme Auslegung wegen der Klarheit und Eindeutigkeit ausscheide, müsse die Bestimmung unangewendet bleiben. Das LAG Düsseldorf sah keine Auslegungsmöglichkeit und ließ § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB unangewendet2. Die EuGH-Entscheidung sorgte damit für Rechtsklarheit. Es dürfte heute feststehen, dass auch die Betriebszugehörigkeit, die ein Arbeitnehmer vor Vollendung des 25. Lebensjahres zurückgelegt hat, bei der Berechnung der gesetzlichen Kündigungsfristen mit zu berücksichtigen ist. Für die Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie in Südwürttemberg-Hohenzollern gilt Entsprechendes. Ziff. 4.5.3 findet zukünftig wegen Verstoßes gegen das Verbot der Altersdiskriminierung bzw. wegen Verstoßes gegen das entsprechende Verbot nach § 7 Abs. 1, § 1 AGG auf sie keine Anwendung. Die TV-Parteien werden die Tarifnorm bei Gelegenheit entsprechend anpassen müssen.

2. § 34 TVöD – Kündigung des Arbeitsverhältnisses (Rz. 7) 21

Die Regelung des § 34 TVöD ähnelt in weiten Teilen dem unter Rz. 9 ff. kommentierten § 4 Abs. 6 des Manteltarifvertrags für Beschäftigte der Metall- und Elektroindustrie. Im Folgenden soll deshalb nur auf einige Besonderheiten dieser Tarifnorm näher eingegangen werden.

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Anders als im Falle der Kündigungsklausel für die Metall- und Elektroindustrie wird durch § 34 TVöD das Schutzniveau im Vergleich zu den gesetzlichen Regelungen nicht ausschließlich zugunsten der Arbeitnehmer angehoben. Für die ersten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses sieht § 34 Abs. 1 Satz 1 TVöD 1 EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07, DB 2010, 228 – Kücükdeveci. 2 LAG Düsseldorf v. 17.2.2010 – 12 Sa 1311/07, DB 2010, 905.

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Unkündbarkeiten/Kündigungsklauseln/Fristen

Rz. 25 Teil 5 (20)

eine Kündigungsfrist von lediglich zwei Wochen zum Monatsende vor, die für beide Parteien des Arbeitsvertrages gilt. Diese gegenüber § 622 Abs. 1 BGB verkürzte tarifliche Kündigungsfrist verfolgt insbesondere den Zweck, die Leistungsfähigkeit des Arbeitnehmers zu erproben. Beiden Vertragsparteien soll die Möglichkeit eingeräumt werden, sich schnell von dem Arbeitsverhältnis zu lösen, sofern eine dauerhafte Zusammenarbeit unzumutbar erscheint. Anders als gemäß den gesetzlichen Regelungen des BGB (§ 622 Abs. 3 BGB) gilt die kurze Kündigungsfrist im Geltungsbereich des TVöD völlig unabhängig davon, ob die Parteien im Arbeitsvertrag ausdrücklich eine Vereinbarung über eine Probezeit treffen1. Nach Ablauf der ersten sechs Monate sieht § 34 Abs. 1 Satz 2 TVöD gestaffelte Kündigungsfristen und auch veränderte Kündigungstermine vor, die regelmäßig über den gesetzlich vorgeschriebenen Rahmen des § 622 Abs. 2 BGB hinausgehen. Ein Unterschied zu der oben erläuterten Regelungen für die Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie besteht jedoch darin, dass die hier geregelten Fristen nicht nur vom Arbeitgeber, sondern ebenso von den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes im Falle einer Eigenkündigung einzuhalten sind. Eine solche beidseitige Bindung auch an die verlängerten Kündigungsfristen entspricht nicht dem Regelfall. Das BAG hat jedoch bereits zu der – hinsichtlich der verlängerten Kündigungsfristen – wortgleichen Vorgängernorm des § 53 BAT entschieden, dass die darin zum Ausdruck kommende beidseitige Bindung an die verlängerten Kündigungsfristen für beide Parteien interessengerecht ist2.

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Schließlich sieht auch § 34 TVöD in seinem Abs. 2 einen tariflichen Ausschluss der ordentlichen Kündigung vor. Beschäftigte des Tarifgebietes West gelten als unkündbar, sofern sie das 40. Lebensjahr vollendet haben und eine Beschäftigungszeit von mehr als 15 Jahren vorweisen können. Hinsichtlich dieser Regelungen zur Unkündbarkeit kann weitestgehend auf die obigen Ausführungen (Rz. 10 ff.) verwiesen werden. Allerdings dürfte die in § 34 Abs. 2 TVöD vorgenommene Differenzierung zwischen Arbeitnehmern des Tarifgebiets West und Ost nicht ganz unbedenklich sein3.

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3. § 12 BRTV-Bau – Beendigung des Arbeitsverhältnisses (Rz. 8) Anhand der Regelung des § 12 BRTV-Bau soll schließlich aufgezeigt werden, wie weitreichend die TV-Parteien im Rahmen der ihnen zukommenden Tarifdispositivität (§ 622 Abs. 4 BGB) auch zu Lasten der Beschäftigten von den gesetzlichen Kündigungsvorschriften abweichen können. Die darin für die Beschäftigten des Baugewerbes während der ersten drei Beschäftigungsjahre vorgesehenen Kündigungsfristen unterschreiten deutlich den durch § 622 BGB normierten gesetzlichen Rahmen. Gemäß Ziff. 1.1.1 des TVes kann das Arbeitsverhältnis während der ersten sechs Monate der Betriebszugehörigkeit von beiden Parteien innerhalb von sechs Werktagen gekündigt werden. Ist der 1 Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 34 TVöD Rz. 11. 2 BAG v. 20.12.1990 – 2 AZR 412/90, NZA 1991, 331. 3 Vgl. hierzu Bröhl, ZTR 2006, 174 (178).

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Teil 5 (21)

Rz. 26

Urlaubsklauseln

Beschäftigte länger als sechs Monate, aber weniger als drei Jahre beschäftigt, kann das Beschäftigungsverhältnis beiderseitig innerhalb einer Frist von 12 Werktagen gekündigt werden. Dabei muss die Kündigung in beiden Fällen weder zum 15. noch zum Ende eines Monats erfolgen. Die Regelung trägt damit den besonderen Gegebenheiten der Baubranche Rechnung. Die Baubranche unterliegt in ihrem produktiven Bereich insbesondere saisonalen Einflüssen und Witterungsverhältnissen. Hinzu kommt eine sehr starke Konjunkturabhängigkeit, da in der Baubranche nicht auf Vorrat, sondern auftragsabhängig produziert wird. Erst nach Ablauf einer dreijährigen Betriebszugehörigkeit werden die Kündigungsfristen für die Arbeitgeberkündigung zu Gunsten des Beschäftigten angehoben. Sie entsprechen ab diesem Zeitpunkt den in § 622 Abs. 2 BGB vorgesehenen vertraglichen Mindestfristen. Die auch hier für die Berechnung der Beschäftigungsdauer vorgesehene Altersgrenze von 25. Jahren kommt aus den bereits oben genannten Gründen nicht zur Anwendung (vgl. oben Rz. 20). 26

Abschließend ist auf § 12 Ziff. 2 BRTV-Bau hinzuweisen. Danach ist es dem Arbeitgeber generell versagt, während der gesetzlichen Schlechtwetterzeit vom 1. Dezember bis zum 31. März (vgl. § 101 SGB III) Kündigungen auszusprechen. Die Regelung soll der Förderung einer ganzjährigen Beschäftigung im Baugewerbe dienen. Arbeitsausfälle sollen in diesen Monaten durch die Zahlung des sog. „Saison-Kurzarbeitergeldes“ (vgl. hierzu § 101 SGB III) überbrückt werden.

(21) Urlaubsklauseln Literatur: Bauer/v. Medem, Von Schultz-Hoff zu Schulte – der EuGH erweist sich als lernfähig, NZA 2012, 113; Beckschulze/Erarslan, Urlaubsansprüche trotz Arbeitsunfähigkeit, NWB 2010, 2154; Benecke, Urlaub und Urlaubsabgeltung, RdA 2011, 241; Düwell, Abgeltung des Urlaubsanspruchs als Surrogat? – Ein Luxemburger Missverständnis!, DB 2011, 2492; Franzen, Zeitliche Begrenzung der Urlaubsansprüche langzeiterkrankter Arbeitnehmer, NZA 2011, 1403; Hohmeister, BB-Rechtsprechungsreport zum Urlaubsrecht des Bundesarbeitsgerichts im Jahr 2011, BB 2012, 1343; Leinemann, Berechnung der Urlaubsdauer bei regelmäßig und unregelmäßig verteilter Arbeitszeit, DB 1999, 1499; Moderegger, Rolle rückwärts im Urlaubsrecht?, ArbRB 2012, 54; B. Natzel, Bundesurlaubsrecht, Handkommentar, 4. Aufl. 1988; I. Natzel, Die Betriebszugehörigkeit im Arbeitsrecht, Diss., 2000; I. Natzel, Tilgungsbestimmung – Heilmittel im Urlaubsrecht?, NZA 2011, 77; Oertel/Chmel, Verfällt der Urlaub bei Krankheit nun doch?, DB 2012, 460; Schiefer/Brasse, Verfallbarkeit wegen Krankheit nicht genommenen Urlaubs – Richtungswechsel?, DB 2011, 1976; Weiss, Kommentar zum MTV Metall NRW, 5. Aufl. 2012.

I. Zweck und Kontext 1

Während früher das Urlaubsrecht Gegenstand landesrechtlicher Regelungen war, besteht mit Inkrafttreten des BUrlG im Jahre 1963 eine bundeseinheitliche Urlaubsregelung, die aufgrund § 13 BUrlG unabdingbare Mindestbedingungen festlegt. Allerdings ist die Unabdingbarkeit auf die Vorschriften der §§ 1, 2 500

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Urlaubsklauseln

Rz. 4 Teil 5 (21)

und 3 Abs. 1 BUrlG beschränkt. Außerhalb der zitierten Bestimmungen sind auch Vereinbarungen zuungunsten von Arbeitnehmern in einem bestimmten Rahmen zulässig, wenn sie in einem TV erfolgen. Diesen Bestimmungen gilt dann der Vorrang vor den gesetzlichen Bestimmungen (tarifliches Vorrangprinzip). Darüber hinaus sind selbstredend günstigere Regelungen zulässig, die einzel- oder kollektivrechtlich vom Gesetz abweichen. Als Abweichung ist bspw. eine tarifliche Regelung zulässig,

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– die zuungunsten die Wartezeit des § 4 BUrlG verlängert, – nach der ein Arbeitnehmer bei Ausscheiden während der Wartezeit entgegen § 5 Abs. 1 BUrlG keinen Anspruch auf Teilurlaub hat1, – die die Fälligkeit von Teilurlaubsansprüchen hinausschiebt2 oder – die zur Bemessung des Urlaubsentgelts anstelle des Referenzprinzips das Entgeltausfallprinzip vorsieht (§ 11 Abs. 1 BUrlG). Unabhängig davon ist eine Regelung zulässig, die einen über das Gesetz hinausgehenden Urlaubsanspruch eigenständigen Regelungen unterwirft. Dies darf die tarifliche Regelung, da der über den gesetzlichen Mindesturlaub hinaus gewährte Mehrurlaub nicht den Schutzvorschriften des BUrlG untersteht3. Mehrurlaub kann also von den Tarifpartnern – Gleiches gilt für die Einzelvertragsparteien – ohne Rücksicht auf die Unabdingbarkeitsregelung des Gesetzes, also unter vom Gesetz abweichenden Bedingungen und mit besonderen Vorbehalten gewährt werden. Verstößt eine auch den gesetzlichen Teil des Urlaubs mit umfassende tarifvertragliche Regelung unmittelbar oder mittelbar gegen die Bestimmungen der §§ 1, 2 oder 3 Abs. 1 BUrlG, so ist sie gemäß § 134 BGB insoweit, nicht aber vollständig nichtig4.

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Die Regelungen der TV-Parteien schießen vielfach – insbesesondere hinsichtlich der Urlaubsdauer – über das Gesetz hinaus. Dann ist zu prüfen, ob die tarifliche Regelung auch diesen Teil des Urlaubs den gesetzlichen Bestimmungen bzw. der dazu ergangenen Rechtsprechung unterwirft oder diesen eigenständigen Regelungen unterstellt. Diese Frage wurde gerade durch die bekannte Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Schultz-Hoff5 in besonderer Weise virulent. Dort hatte das Gericht die RL 2003/88/EG (Arbeitszeitrichtlinie) so ausgelegt, dass die in der Bundesrepublik nach § 7 Abs. 3 BUrlG geltenden Verfallsfristen für Urlaubsansprüche nur dann zulässig sind, wenn sie Ausnahmen für arbeitsunfähige Beschäftigte vorsehen. Damit wurde zugleich die vom BAG in ständiger Rechtsprechung6 vertretene Auffassung gekippt, dass der Ar-

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1 BAG v. 5.10.1967 – 5 AZR 119/67 sowie v. 27.6.1978 – 6 AZR 59/77, AP Nr. 10 und 12 zu § 13 BUrlG m. Anm. Wiedemann. 2 BAG v. 15.12.1983 – 6 AZR 606/80, AP Nr. 14 zu § 13 BUrlG. 3 BAG v. 21.6.1968 – 5 AZR 408/67, BB 1968, 996. 4 B. Natzel, § 13 BUrlG Rz. 31. 5 EuGH v. 20.1.2009 – Rs. C-350/06, NZA 2009, 135. 6 Vgl. nur BAG v. 10.5.2005 – 9 AZR 253/04, NZA-RR 2006, 112.

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Rz. 4

Urlaubsklauseln

beitnehmer auch dann keinen finanziellen Ausgleich für nicht in Anspruch genommenen Urlaub verlangen kann, wenn er zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses und darüber hinaus bis zum Zeitpunkt des Anspruchsverfalls nach Ende des Übertragungszeitraums arbeitsunfähig erkrankt war1. Der geänderten Rechtsprechung des EuGH ist späterhin das vorlegende LAG2 ebenso gefolgt wie das BAG als Revisionsinstanz3. Dabei vertrat es die Auffassung, § 7 Abs. 3 und 4 BUrlG aufgrund der EuGH-Entscheidung gemeinschaftskonform fortbilden zu müssen. Diese Rechtsprechungsänderung führt dazu, nunmehr einer eingehenden Prüfung zu unterwerfen, wann ein über das BUrlG hinausgehender Urlaubsanspruch den Bestimmungen des BUrlG und der dazu unter Berücksichtigung der EuGH-Rechtsprechung ergangenen Rechtsprechung unterfällt und wann nicht. Zur Frage des Zusatzurlaubs für schwerbehinderte Menschen nach § 125 SGB IX entschied das BAG bereits, dass dieser das Schicksal des gesetzlichen Mindesturlaubs teile4. Ansonsten unterwirft es aber einer Prüfung, inwiefern ein TV zwischen gesetzlichen und übergesetzlichen Urlaubsansprüchen trennt. Denn es erkennt an, dass die TV-Parteien den nicht unionsrechtlich verbürgten Teil des Urlaubs (Mehrurlaub) in der Weise regeln können, dass der Arbeitnehmer das Risiko der Inanspruchnahme bis zu einem von den TV-Parteien festgelegten Zeitpunkt trage5. Es führt insoweit aus, dass die richtlinienkonforme Fortbildung oder unionsrechtskonforme Auslegung von Vorschriften des BUrlG nicht auf den tariflichen Mehrurlaub anzuwenden sei, wenn ein TV eine eigenständige Regelung treffe. Hierzu müsse die Auslegung ergeben, dass der TV vom grundsätzlichen Gleichlauf zwischen gesetzlichem Mindesturlaub und tariflichen Mehrurlaub abweiche. Ein solcher Fall der Abweichung sei gegeben, wenn der TV entweder zwischen gesetzlichem Urlaub und tariflichen Mehrurlaub unterscheide6 oder sowohl für Mindest- als auch Mehrurlaub wesentlich von § 7 Abs. 3 BUrlG abweichende Übertragungs- und Verfallsregeln bestimme7. Hierzu müssen im Rahmen der Auslegung nach §§ 133, 157 BGB „deutliche Anhaltspunkte“ bestehen8. Allerdings müssen die TV-Parteien nicht etwa im Wortlaut des Tariftextes eine Differenzierung vornehmen. Vielmehr genügt es für die Annahme der Unterscheidbarkeit, dass sich die TV-Parteien in weiten Teilen vom gesetzlichen Urlaubsregime lösen und stattdessen eigene Regeln aufstellen. Im Fall einer solchen eigenständigen, zusammenhängenden und in sich konsistenten Regelung ist ohne entgegenstehende Anhaltspunkte i.d.R. davon auszugehen, dass 1 2 3 4 5 6

S. insoweit Dornbusch/Ahner, NZA 2009, 180; Subatzus, DB 2009, 510. LAG Düsseldorf v. 23.1.2009 – 12 Sa 486/06, NZA-RR 2009, 242. BAG v. 23.9.2010 – 9 AZR 128/09, NZA 2010, 810. BAG v. 23.3.2010 – 9 AZR 128/09, NZA 2010, 810. BAG v. 12.4.2011 – 9 AZR 80/10, NZA 2011, 1050. So z.B. noch MTV Chemie v. 2.2.1953 i.d.F. vom 20.4.1956 in § 14 IV: „Verhältnis der tariflichen Urlaubsregelungen zu den Urlaubsgesetzen: Die TV-Parteien sind sich einig, dass diese für das Bundesgebiet getroffene Urlaubsregelung unter Beachtung der in den einzelnen Ländern bestehenden Urlaubsgesetze erfolgt ist und insgesamt über diese hinausgeht. Sie hat daher im Einzelfall den Vorrang vor diesen Urlaubsgesetzen“. 7 BAG v. 12.4.2011 – 9 AZR 80/10, NZA 2011, 1050. 8 BAG v. 24.3.2009 – 9 AZR 983/07, NZA 2009, 538; s. dazu auch Beckschulze/Erarslan, NWB 2010, 2154.

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die (Tarif-)Vertragsparteien Ansprüche nur begründen und fortbestehen lassen wollen, soweit eine gesetzliche Verpflichtung besteht1. Auch wenn die „Rolle rückwärts im Urlaubsrecht“ 2 mit der Entscheidung des EuGH v. 22.11.20113 eingeleitet ist und der EuGH zudem entschieden hat, dass die Arbeitszeitrichtlinie keiner nationalen Bestimmung entgegenstehe, nach der je nach Ursache der Fehlzeiten eines krankgeschriebenen Arbeitnehmers die Dauer des bezahlten Jahresurlaubs länger als die von dieser Richtlinie gewährleistete Mindestdauer von vier Wochen oder genau so lang wie diese ist4, hat nunmehr auch das BAG5 eingelenkt. Das BAG legt nunmehr § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG für Fälle langjährig arbeitsunfähiger Arbeitnehmer unionsrechtskonform so aus, dass der Urlaubsanspruch 15 Monate nach Ablauf eines Kalenderjahres entfällt. Dennoch: Angesichts divergierender gesetzlicher, kollektivsowie individualvertraglicher Regelungen wird man weiterhin diese oder jene Sachverhalts- und Normenkonstellationen klären lassen müssen6.

5

Zu typischerweise in TVen enthaltenen und im Zusammenhang mit Urlaubsrechtssachverhalten stehenden Fragen wurde neben den bereits erwähnten Fragestellungen bislang mitunter ausgeurteilt:

6

– Auch wenn für den gesetzlichen Mindesturlaub der Grundsatz gilt, dass dieser unabhängig von der erbrachten Arbeitsleistung entsteht, kann ein TV den Anspruch auf darüber hinausgehenden Urlaub vom Erbringen von Arbeitsleistung abhängig machen. So fordert § 46 Nr. 7 TVöD-BT-V eine „Arbeitsleistung“ als Voraussetzung für den Anspruch auf Zusatzurlaub. Hierzu hat das BAG7 entschieden, dass die geforderte Tätigkeit tatsächlich erbracht werden muss und weder der rechtliche Bestand des Arbeitsverhältnisses noch die bloße Einteilung des Arbeitnehmers im Schichtplan ausreichend sei. Insoweit verweist das Gericht auf Sinn und Zweck der Tarifvorschrift, einen Ausgleich für die Belastungen durch Schichtarbeit zu gewähren. – Soweit TV-Regelungen den Verfall von Urlaubsansprüchen vorsehen, ist dies zulässig. Dies gilt für tariflichen Mehrurlaub, aber nach der EuGH-Entscheidung v. 22.11.20118 auch für den gesetzlichen Mindesturlaub9. TVe gehören als Regelungen mit Normwirkung zu den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten, die den unionsrechtlich vorgesehenen Urlaubsanspruch näher ausgestalten können. Eine insoweit getroffene Rege-

1 BAG v. 23.3.2010 – 9 AZR 128/09, NZA 2010, 810. 2 So Moderegger, ArbRB 2012, 54. 3 EuGH v. 22.11.2011 – Rs. C-214/10, NZA 2011, 1333; dazu: Bauer/v. Medem, NZA 2012, 113; Franzen, NZA 2011, 1403; Oertel, DB 2012, 460; Schiefer/Brasse, DB 2011, 1976; Schinz, RdA 2012, 181. 4 EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10, NZA 2012, 139. 5 S. BAG v. 7.8.2012 – 9 AZR 353/10, Pressemitteilung Nr. 56/12. 6 S. dazu Überblicke bei Hohmeister, BB 2011, 890 sowie BB 2012, 1343. 7 BAG v. 17.11.2009 – 9 AZR 923/08, NZA 2010, 672. 8 EuGH v. 22.11.2011 – Rs. C-214/10, NZA 2011, 1333. 9 EuGH v. 22.11.2011 – Rs. C-214/10, NZA 2011, 1333; BAG v. 13.12.2011 – 9 AZR 399/10, NZA 2012, 514; s. ferner: Bauer/v. Medem, NZA 2012, 116.

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lung ist auch mit dem BUrlG vereinbar, da sie die Vorschriften der §§ 1, 2 und 3 Abs. 1 unangetastet lässt1. – Nachdem das BAG die Surrogationstheorie, die besagt, dass der Anspruch auf Urlaubsabgeltung ein Surrogat zum Urlaubsanspruch selbst darstelle, aufgegeben hat2, unterliegt der Urlaubsabgeltungsanspruch als reiner Geldanspruch, der sich nicht von anderen Entgeltansprüchen aus dem Arbeitsverhältnis unterscheidet, den tarifvertraglichen Ausschlussfristen3. Die Anwendung von tariflichen Ausschlussfristen für Urlaubsabgeltungsansprüche verstößt nicht gegen Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie und ist insbesondere mit Art. 7 Abs. 2 der Arbeitszeitrichtlinie und den hierzu vom EuGH aufgestellten Grundsätzen vereinbar4. Der Abgeltungsanspruch entsteht bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses und wird mangels anderweitiger Regelungen auch zu diesem Zeitpunkt fällig5. Soweit infolge einer Ausschlussfrist ein Verfall vorgesehen ist, ist der vom EuGH aufgestellte Rechtssatz, dass die Dauer des Übertragungszeitraums, innerhalb dessen der Urlaubsanspruch bei durchgängiger Arbeitsunfähigkeit nicht verfallen kann, die Dauer des Bezugszeitraums deutlich übersteigen muss, nicht auf die Länge einer tariflichen Ausschlussfrist für die Geltendmachung von Urlaubsabgeltungsansprüchen übertragbar. Diese kann für die Geltendmachung des Urlaubsabgeltungsanspruchs deutlich kürzer als ein Jahr sein6. – Fordert die Regelung einer tariflichen Ausschlussfrist eine schriftliche Geltendmachung von Ansprüchen aus dem Arbeitsverhältnis, ist diese Voraussetzung nicht mit der Erhebung einer Kündigungsschutzklage erfüllt7. – Als Folge der EuGH-Entscheidung in der Rechtssache Schultz-Hoff8 wurden auch tarifvertragliche Regelungen angedacht, die das Verhältnis vom tariflichen zum gesetzlichen Urlaub regeln sollten9. Damit sollte gewährleistet werden, dass der Arbeitgeber mit der Gewährung von Urlaub zunächst den gesetzlichen Mindesturlaub erfüllt. Solcher Tilgungsbestimmungen bedarf es nicht, da der tarifliche Urlaub regelmäßig neben den gesetzlichen tritt und er damit auf mehrere Anspruchsgrundlagen gestützt werden kann. Gewährt der Arbeitgeber Urlaub, leistet er auf zugleich unterschiedliche Anspruchsgrundlagen hin10. Das BAG betonte insoweit auch, dass die zwingen-

1 Bauer/v. Medem, NZA 2012, 116. 2 S. BAG v. 4.5.2010 – 9 AZR 183/09, NZA 2010, 1011, bestätigt durch BAG v. 19.6.2012 – 9 AZR 652/10, Pressemitteilung Nr. 43/12; dazu: Benecke, RdA 2011, 241; Düwell, DB 2011, 2492. 3 Ein Abgeltungsanspruch steht allerdings nicht den Erben zu, wenn das Arbeitsverhältnis infolge Todes endete und Urlaubsansprüche noch ausstanden; s. BAG v. 20.9.2011 – 9 AZR 416/10, NZA 2012, 326; dazu auch Jesgarzewski, BB 2012, 1347. 4 BAG v. 9.8.2011 – 9 AZR 352/10, BB 2011, 2035. 5 BAG v. 21.2.2012 – 10 AZR 486/10, DB 2012, 1388. 6 BAG v. 13.12.2011 – 9 AZR 399/10, NZA 2012, 514. 7 BAG v. 21.2.2012 – 10 AZR 486/10, DB 2012, 1388. 8 EuGH v. 20.1.2009 – Rs. C-350/06, NZA 2009, 135. 9 So z.B. noch MTV Chemie v. 2.2.1953 i.d.F. vom 20.4.1956. 10 Natzel, NZA 2011, 77.

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den Regelungen des BUrlG nicht ausschließen, dass Vertragsparteien neben den gesetzlichen Rechten auch vertragliche Ansprüche begründen1.

II. Beispiele § 12 MTV Chemie I. Urlaubsanspruch

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Der Urlaub dient der Erholung und der Erhaltung der Arbeitskraft. Während des Urlaubs darf der Arbeitnehmer keine Erwerbstätigkeit leisten. Der Arbeitnehmer hat für jedes Kalenderjahr Anspruch auf bezahlten Urlaub. Das Urlaubsjahr ist das Kalenderjahr. Im Eintrittsjahr hat der Arbeitnehmer für jeden angefangenen Beschäftigungsmonat im Unternehmen Anspruch auf ein Zwölftel des Jahresurlaubs. Der Urlaub, der ihm für diese Beschäftigungsmonate bereits von einem anderen Unternehmen gewährt oder abgegolten worden ist, wird angerechnet. Der Anspruch auf ein Urlaubszwölftel setzt voraus, dass das Arbeitsverhältnis mindestens einen Monat bestanden hat. Der Arbeitnehmer kann den Urlaub für das Eintrittsjahr nach sechs Monaten Betriebszugehörigkeit, spätestens aber im Dezember, geltend machen. Der Anspruch auf vollen Jahresurlaub entsteht erstmals für das auf das Eintrittsjahr folgende Urlaubsjahr, sobald das Arbeitsverhältnis sechs Monate bestanden hat. Die Regelung für das Austrittsjahr gemäß Ziff. 5 bleibt hiervon unberührt. Im Austrittsjahr hat der Arbeitnehmer für jeden angefangenen Beschäftigungsmonat im Unternehmen Anspruch auf ein Zwölftel des Jahresurlaubs. (…) (…) Bruchteile von Urlaubstagen von 0,5 an aufwärts sind auf volle Urlaubstage aufzurunden, Bruchteile darunter entsprechend abzurunden. Eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit, die durch ärztliches Zeugnis nachgewiesen wird, unterbricht den Urlaub. Der Arbeitnehmer muss mit dem Arbeitgeber vereinbaren, wann er den Resturlaub nehmen kann. Der Urlaub ist grundsätzlich in längeren zusammenhängenden Abschnitten zu nehmen und zu gewähren. Bei der Aufstellung des Urlaubsplanes sind die betrieblichen Notwendigkeiten und die Wünsche des einzelnen Arbeitnehmers zu berücksichtigen. Ergeben sich hierbei Schwierigkeiten, erfolgt eine Regelung im Einvernehmen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat. (…) Der Urlaub ist spätestens bis 31. März des folgenden Kalenderjahres zu gewähren. Der Urlaubsanspruch erlischt, wenn er nicht bis dahin geltend gemacht worden ist. II. Urlaubsdauer 1 BAG v. 18.10.2011 – 9 AZR 303/10, DB 2012, 407.

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Der Urlaub beträgt 30 Urlaubstage. (…) Für die Berechnung des sich aus den Ziff. 1, 2 und 3 ergebenden Urlaubs zählen als Urlaubstage grundsätzlich die Arbeitstage mit Ausnahme der Sonntage und der gesetzlichen Feiertage. Für Arbeitnehmer, die regelmäßig in 5-Tage-Woche mit einem arbeitsfreien Werktag, insbesondere mit arbeitsfreiem Samstag, beschäftigt sind, zählen als Arbeitstage die Tage, an denen der Arbeitnehmer aufgrund der regelmäßigen tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit zu arbeiten hätte. Arbeitnehmern, deren regelmäßige Arbeitszeit auf mehr oder weniger als 5 Werktage in der Woche verteilt ist, ist ein zeitlich gleichwertiger Urlaub zu gewährleisten; das gilt insbesondere für Arbeitnehmer in regelmäßiger Schichtarbeit, Arbeitnehmer mit Arbeitsbereitschaft und für Teilzeitbeschäftigte. Der Urlaub dieser Arbeitnehmer gilt dann als zeitlich gleichwertig, wenn er unter Einrechnung der in die Urlaubszeit fallenden arbeitsfreien Werktage ebenso viele Werktage umfasst, wie bei der Urlaubsberechnung nach Abs. 2; hierbei sind die jeweiligen Schichtpläne und die danach anfallenden arbeitsfreien Werktage zu berücksichtigen. Bei einer ungleichmäßigen Verteilung der Arbeitszeit muss sichergestellt werden, dass der Urlaub zeitlich und in Bezug auf die ausfallende Arbeitszeit gleichwertig ist. (…) III. Urlaubsentgelt Für den Urlaub ist ein Entgelt zu zahlen in Höhe des Arbeitsverdienstes, den der Arbeitnehmer erhalten würde, wenn er gearbeitet hätte. Das Urlaubsentgelt bemisst sich nach der tariflichen regelmäßigen Arbeitszeit oder der davon abweichend vereinbarten Arbeitszeit ohne Mehrarbeit und Mehrarbeitszuschläge, auch soweit diese pauschaliert sind. (…) (…) IV. Urlaubsabgeltung Der Urlaub kann grundsätzlich nicht abgegolten werden. Soweit jedoch bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses der Urlaubsanspruch noch nicht erfüllt ist, ist er abzugelten. Nicht erfüllbare Urlaubsansprüche sind nicht abzugelten. (…) Der Anspruch auf Urlaubsabgeltung ist nicht übertragbar. Abschn. III TV über Einmalzahlungen und Altersvorsorge 8

III. Zusätzliches Urlaubsgeld § 10 Vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmern wird ein Urlaubsgeld von 20,45 Euro für jeden tariflichen Urlaubstag gemäß § 12 Abschnitt II Ziffern 1 und 2 des Manteltarifvertrages für die chemische Industrie neben dem Urlaubsentgelt gewährt. 506

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(…) Teilzeitbeschäftigte erhalten ein anteiliges Urlaubsgeld im Verhältnis ihrer vertraglichen Arbeitszeit zu der tariflichen Arbeitszeit. § 11 Die Auszahlung des Urlaubsgeldes ist im Einvernehmen mit dem Betriebsrat zu regeln. (…) (…) § 14 Wenn der Arbeitnehmer durch eigenes schwerwiegendes Verschulden aus einem Grund entlassen wird, der eine fristlose Kündigung rechtfertigt, oder der Arbeitnehmer das Arbeitsverhältnis unberechtigt ohne Einhaltung der Kündigungsfrist löst, entfällt der Anspruch auf Urlaubsgeld. Einheitlicher Manteltarifvertrag für die Metall- und Elektroindustrie NRW (EMTV) 9

§ 11 Grundsätze der Urlaubsgewährung 1. Beschäftigte/Auszubildende haben nach Maßgabe der nachstehenden Bestimmungen in jedem Urlaubsjahr Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub. Urlaubsjahr ist das Kalenderjahr. Der Urlaubsanspruch erlischt drei Monate nach Ablauf des Kalenderjahres, es sei denn, dass er erfolglos geltend gemacht wurde oder dass Urlaub aus betrieblichen Gründen nicht genommen werden konnte. Konnte der Urlaub wegen Krankheit nicht genommen werden, erlischt der Urlaubsanspruch zwölf Monate nach Ablauf des Zeitraums nach Abs. 2. 2. Der Urlaub soll der Erholung dienen. Beschäftigte/Auszubildende dürfen während der Urlaubszeit keine dem Urlaubszweck widersprechende Erwerbsarbeit übernehmen. Unter Beachtung des Grundsatzes von Abs. 1 Satz 1 soll bei Urlaubsteilung – bei einem Urlaubsanspruch von mindestens 15 Arbeitstagen – einer der Urlaubsteile mindestens zehn aufeinander folgende Arbeitstage umfassen. Davon kann abgewichen werden, wenn das Interesse der Beschäftigten oder die Belange des Betriebes dies erforderlich machen. (…) 3. Eine Abgeltung des Urlaubsanspruchs ist nur bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses/Ausbildungsverhältnisses zulässig. Die Urlaubsabgeltung entfällt ausnahmsweise, wenn der/die Beschäftigte durch eigenes schwer wiegendes Verschulden aus einem Grund entlassen worden ist, der eine fristlose Kündigung rechtfertigt oder das Arbeitsverhältnis unberechtigt vorzeitig gelöst hat und in diesen Fällen eine grobe Verletzung der Treuepflicht aus dem Arbeitsverhältnis vorliegt. (…)

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6. Die Rechtsnatur des Urlaubs schließt eine Vererblichkeit des Anspruchs im Todesfall des/der Beschäftigten/Auszubildenden aus. (…) § 12 Allgemeine Urlaubsbestimmungen 1. Der Zeitpunkt des Urlaubs richtet sich nach dem aufgestellten Urlaubsplan. (…) 2. Im Ein- und Austrittsjahr haben Beschäftigte/Auszubildende gegen den alten und neuen Arbeitgeber/Ausbildenden Anspruch auf so viele Zwölftel des ihnen zustehenden Urlaubs, als sie Monate bei ihnen gearbeitet haben (Beschäftigungsmonate)/ausgebildet wurden (Ausbildungsmonate). Ein angefangener Monat wird voll gerechnet, wenn die Beschäftigung/Ausbildung mindestens zehn Kalendertage bestanden hat. Für eine Beschäftigung/Ausbildung bis zu zwei Wochen besteht kein Urlaubsanspruch. Dieser Anspruch kann bei Eintritt bis zum 31. Mai nach sechsmonatiger Betriebszugehörigkeit, bei Eintritt nach dem 31. Mai ab 1. Dezember geltend gemacht werden. 3. In den auf das Eintrittsjahr folgenden Kalenderjahren ist der volle Jahresurlaub zu gewähren, wenn das Arbeitsverhältnis durch ordentliche Kündigung des Arbeitgebers nach dem 1. April beendet wird. Für Beschäftigte, die wegen Erhalts einer Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung aus dem Betrieb ausscheiden, gilt § 12 Nr. 2 Abs. 1. 4. Die durch ärztliches Zeugnis nachgewiesenen Tage der Arbeitsunfähigkeit während des Urlaubs werden auf den Jahresurlaub nicht angerechnet. Es besteht Anspruch auf Nachgewährung dieser Urlaubstage. Der/die Beschäftigte/Auszubildende ist verpflichtet, den Arbeitgeber/Ausbildenden über seine Arbeitsunfähigkeit durch Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung unverzüglich in Kenntnis zu setzen. (…) 5. Ergeben sich bei dem anteiligen Urlaubsanspruch Bruchteile von Tagen, so werden Bruchteile von weniger als einem halben Tag nicht berücksichtigt, Bruchteile von einem halben Tag und mehr werden auf volle Tage aufgerundet. 6. Ein Urlaubsanspruch besteht insoweit nicht, als dem/der Beschäftigten/Auszubildenden für das Urlaubsjahr bereits von einem anderen Arbeitgeber/Ausbildenden Urlaub gewährt oder abgegolten worden ist. Beim Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis/Ausbildungsverhältnis ist dem/der Beschäftigten/Auszubildenden ein Nachweis über den erhaltenen Urlaub zu erteilen. Dieser Nachweis ist bei Beginn eines neuen Arbeitsverhältnisses/Ausbildungsverhältnisses dem neuen Arbeitgeber/Ausbildenden vorzulegen. § 13 Urlaubsdauer 1. Der Urlaub beträgt für Beschäftigte/Auszubildende 30 Arbeitstage/Ausbildungstage bei einer Verteilung der regelmäßigen Arbeitszeit auf fünf Tage/Woche. (…)

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7. Aufgrund freiwilliger Betriebsvereinbarung kann ein Urlaubskonto in Urlaubsstunden geführt werden. § 14 Urlaubsvergütung 1. Den Beschäftigten und Auszubildenden wird während des Urlaubs das regelmäßige Arbeitsentgelt/die regelmäßige Ausbildungsvergütung weitergezahlt (…). Sie erhalten darüber hinaus eine zusätzliche Urlaubsvergütung, die bei 30 Urlaubstagen gemäß § 13 Nr. 1 je Urlaubstag 2,4 % des monatlichen regelmäßigen Arbeitsentgelts/der regelmäßigen Ausbildungsvergütung ausmacht. (…) Berechnungsgrundlage der zusätzlichen Urlaubsvergütung sind die festen Entgeltbestandteile des laufenden Monats zuzüglich des Monatsdurchschnitts der gemäß § 16 Nr. 1 zu berücksichtigenden variablen Entgeltbestandteile der letzten sechs abgerechneten Monate. 2. Die Urlaubsvergütung ist auf Wunsch des/der Beschäftigten/Auszubildenden vor Antritt des Urlaubs zu zahlen, sofern der Urlaub mindestens zwei Wochen umfasst. Statt der Urlaubsvergütung kann ein entsprechender Abschlag geleistet werden. (…) 3. (…) Steht dem/der Beschäftigten/Auszubildenden bei Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis/Ausbildungsverhältnis ein anteiliger Urlaubsanspruch zu, kann die zu viel gezahlte zusätzliche Urlaubsvergütung zurückgefordert werden. § 26 TVöD – Erholungsurlaub (1) Beschäftigte haben in jedem Kalenderjahr Anspruch auf Erholungsurlaub unter Fortzahlung des Entgelts (§ 21). Bei Verteilung der wöchentlichen Arbeitszeit auf fünf Tage in der Kalenderwoche beträgt der Urlaubsanspruch in jedem Kalenderjahr 29 Arbeitstage und nach dem vollendeten 55. Lebensjahr 30 Arbeitstage. Es wird folgende Niederschrift zu § 26 Abs. 1 vereinbart: Niederschriftserklärung zu § 26 Abs. 1: Die Tarifvertragsparteien sind bei der Neuregelung übereinstimmend davon ausgegangen, dass für Beschäftigte, die das 55. Lebensjahr vollendet haben, ein entsprechend höherer Erholungsbedarf besteht. Deshalb ist für diese Beschäftigten ein zusätzlicher Urlaubstag gerechtfertigt.

Maßgebend für die Berechnung der Urlaubsdauer ist das Lebensjahr, das im Laufe des Kalenderjahres vollendet wird. Bei einer anderen Verteilung der wöchentlichen Arbeitszeit als auf fünf Tage in der Woche erhöht oder vermindert sich der Urlaubsanspruch entsprechend. Verbleibt bei der Berechnung des Urlaubs ein Bruchteil, der mindestens einen halben Urlaubstag ergibt, wird er auf einen vollen Urlaubstag aufgerundet; Bruchteile von weniger als einem halben Urlaubstag bleiben unberücksichtigt. Der Erholungsurlaub muss im laufenden Kalenderjahr gewährt und kann auch in Teilen genommen werden. Protokollerklärung zu Absatz 1 Satz 6: Der Urlaub soll grundsätzlich zusammenhängend gewährt werden; dabei soll ein Urlaubsteil von zwei Wochen Dauer angestrebt werden.

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(2) Im Übrigen gilt das Bundesurlaubsgesetz mit folgenden Maßgaben: a) Im Falle der Übertragung muss der Erholungsurlaub in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahres angetreten werden. Kann der Erholungsurlaub wegen Arbeitsunfähigkeit oder aus betrieblichen/dienstlichen Gründen nicht bis zum 31. März angetreten werden, ist er bis zum 31. Mai anzutreten. b) Beginnt oder endet das Arbeitsverhältnis im Laufe eines Jahres, erhält die/der Beschäftigte als Erholungsurlaub für jeden vollen Monat des Arbeitsverhältnisses ein Zwölftel des Urlaubsanspruchs nach Absatz 1; § 5 BUrlG bleibt unberührt. c) Ruht das Arbeitsverhältnis, so vermindert sich die Dauer des Erholungsurlaubs einschließlich eines etwaigen Zusatzurlaubs für jeden vollen Kalendermonat um ein Zwölftel. d) Das nach Absatz 1 Satz 1 fortzuzahlende Entgelt wird zu dem in § 24 genannten Zeitpunkt gezahlt. § 27 TVöD – Zusatzurlaub 11

(1) Beschäftigte, die ständig Wechselschichtarbeit nach § 7 Abs. 1 oder ständig Schichtarbeit nach § 7 Abs. 2 leisten und denen die Zulage nach § 8 Abs. 5 Satz 1 oder Abs. 6 Satz 1 zusteht, erhalten a) bei Wechselschichtarbeit für je zwei zusammenhängende Monate und b) bei Schichtarbeit für je vier zusammenhängende Monate einen Arbeitstag Zusatzurlaub. (…) (4) Zusatzurlaub nach diesem Tarifvertrag und sonstigen Bestimmungen mit Ausnahme von § 125 SGB IX wird nur bis zu insgesamt sechs Arbeitstagen im Kalenderjahr gewährt. Erholungsurlaub und Zusatzurlaub (Gesamturlaub) dürfen im Kalenderjahr zusammen 35 Arbeitstage nicht überschreiten. Satz 2 ist für Zusatzurlaub nach den Absätzen 1 und 2 hierzu nicht anzuwenden. (…) Protokollerklärung zu den Absätzen 1 und 2: Der Anspruch auf Zusatzurlaub bemisst sich nach der abgeleisteten Schicht- oder Wechselschichtarbeit und entsteht im laufenden Jahr, sobald die Voraussetzungen nach Satz 1 und 2 erfüllt sind. Für die Feststellung, ob ständige Wechselschichtarbeit oder ständige Schichtarbeit vorliegt, ist eine Unterbrechung durch Arbeitsbefreiung, Freizeitausgleich, bezahlten Urlaub oder Arbeitsunfähigkeit in den Grenzen des § 22 unschädlich.

III. Kommentierung 1. § 12 MTV Chemie (Rz. 7 f.) 12

Eingehend hat sich das LAG Hamm1 mit der Urlaubsregelung des MTV Chemie beschäftigt und aufgezeigt, dass diese den tariflichen Urlaub gegenüber 1 LAG Hamm v. 2.12.2010 – 16 Sa 1097/10, ArbR 2011, 386.

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dem gesetzlichen eigenständig regelt. Da nach § 12 IV Ziff. 2 MTV Chemie nur erfüllbare Urlaubsansprüche abzugelten sind, versagte es einem arbeitsunfähig ausgeschiedenen Arbeitnehmer die Abgeltung des noch ausstehenden Urlaubs. Es bestätigte damit, dass TV-Parteien darin frei sind, an welche Voraussetzungen sie über das Gesetz hinausgehende Urlaubsansprüche knüpfen. Der Einleitungssatz von Abschnitt I definiert den Urlaubszweck. Der Urlaub dient der Erholung. Auch wenn der Arbeitgeber nicht in das Privatleben von Arbeitnehmern Eingriff zu nehmen befugt ist, hat der Arbeitnehmer sein Verhalten an dem Erholungszweck zu orientieren. Insbesondere darf während des Urlaubs keine Erwerbstätigkeit ausgeübt werden, die dem Urlaubszweck widerspricht.

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Der Urlaubsanspruch erwächst jedem Arbeitnehmer oder Auszubildenden, der vom Geltungsbereich des MTV erfasst wird, und zwar unabhängig von erbrachter Arbeitsleistung1. Auf die Art der konkreten Ausgestaltung des Rechtsverhältnisses (befristet/unbefristet, Teilzeit/Vollzeit usw.) kommt es nicht an.

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Der Urlaubsanspruch ist ein kalenderjährlich entstehender Anspruch (§ 12 I Ziff. 1, 2 MTV, § 1 BUrlG). Zugleich ist er aber auch ein kalendertagesbezogener Anspruch. Dies schließt es grds. aus, dass der Jahresurlaub entsprechend der im Jahr anfallenden Sollarbeitszeit berechnet wird. Lediglich dann wird von der Rechtsprechung auch eine stundenbezogene Kontrollbetrachtung anerkannt, soweit die Ungleichmäßigkeit der Arbeitszeitverteilung dies zur Herstellung eines gleichwertigen Urlaubs2 gebietet. Für diesen Fall wurde die Herstellung der Gleichwertigkeit sowohl hinsichtlich der ausfallenden Arbeitszeit als auch der Anzahl ausfallender Tage mit Arbeitspflicht bestätigt3.

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Für den Fall, dass der Bestand des Beschäftigungsverhältnisses nicht dem Kalenderjahr entspricht, sieht der TV Sonderregelungen vor. So heißt es in § 12 I Ziff. 3 MTV Chemie, dass im Eintrittsjahr der Arbeitnehmer für jeden angefangenen Beschäftigungsmonat im Unternehmen Anspruch auf ein Zwölftel des Jahresurlaubs hat. Ebenso dieses Zwölftelungsprinzip gilt (mit Ausnahmen) für das Austrittsjahr (§ 12 I Ziff. 5 MTV Chemie). Jeweils wird dabei auf „jeden angefangenen Beschäftigungsmonat“ abgestellt. Dieser bezeichnet jeden Monat des Bestehens des Arbeitsverhältnisses und ist damit nicht deckungsgleich mit dem Kalendermonat. Damit weicht der TV zugunsten der Arbeitnehmer von der gesetzlichen Regelung ab; nach § 5 Abs. 1 BUrlG besteht nur für jeden vollen Monat des Bestehens des Arbeitsverhältnisses ein Anspruch auf 1/12 des Jahresurlaubs.

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Um im Eintrittsjahr den anteiligen Urlaub beanspruchen zu können, muss das Arbeitsverhältnis im Kalenderjahr mindestens einen Monat bestanden hat (§ 12 I Ziff. 3 Satz 3). Befindet sich ein im Laufe der zweiten Hälfte des Kalenderjahres neu eingestellter Arbeitnehmer noch in der Wartezeit, hat er für die entsprechend dem Zwölftelungsprinzip für das Eintrittsjahr zu errechnenden Teilurlaubsansprüche spätestens im Dezember des Kalenderjahres geltend zu

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1 S. dazu BAG v. 4.9.1987 – 8 AZR 96/85, n.v. 2 Zur Gleichwertigkeit s. noch im Folgenden. 3 BAG v. 5.11.2002 – 9 AZR 470/01, DB 2003, 1393.

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machen. Laut BAG kann das Zwölftelungsprinzip nicht auf gesetzlich festgelegte zusätzliche Urlaubsansprüche angewendet werden1. 18

Für den Fall eines Arbeitgeberwechsels enthält § 6 BUrlG eine Kollisionsregel, um den Kalenderjahresbezug des Urlaubsanspruchs sicherzustellen. So soll nach § 6 Abs. 1 BUrlG bereits bei einem früheren Arbeitgeber gewährter Urlaub einen Urlaubsanspruch beim Folgearbeitgeber ausschließen. Selbiges nimmt auch § 12 I Ziff. 3 Satz 2 MTV Chemie auf, wonach bereits bei einem früheren Arbeitgeber gewährter Urlaub anzurechnen ist. Nicht aber soll sich ein nach § 12 IV Ziff. 2 MTV grundsätzlich abgeltungspflichtige Arbeitgeber darauf berufen können, dass der Arbeitnehmer gegenüber einem nachfolgenden Arbeitgeber den Urlaubsanspruch geltend machen könnte. Denn Sinn der Kollisionsregel ist allein der Ausschluss zusätzlicher Urlaubsansprüche in einem nachfolgenden Arbeitsverhältnis2.

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Wie andere TVe üblicherweise auch enthält der MTV Chemie Regelungen zu Übertragbarkeit, Verfall und Abgeltung von Urlaubsansprüchen; diese stehen bekanntlich seit der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Schultz-Hoff3 im Zentrum der Aufmerksamkeit. Gemäß § 12 I Ziff. 11 Satz 1 MTV Chemie ist der Urlaub spätestens bis 31. März des folgenden Kalenderjahres zu gewähren. Damit wird nicht der Grundsatz durchbrochen, dass der Urlaub im jeweiligen Kalenderjahr zu nehmen bzw. zu gewähren ist; eine generelle Möglichkeit der Übertragbarkeit gibt es also nicht. Vielmehr ist die Übertragung daran gebunden, dass dem Arbeitnehmer aus dringenden betrieblichen Gründen oder in seiner Person liegenden Gründen eine Realisierung des Urlaubsanspruchs nicht möglich war.

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Die tarifliche Regelung ermöglicht keine Übertragung des Urlaubs über den 31. März des auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres hinaus. Den Arbeitgeber trifft daher die Verpflichtung, dem Arbeitnehmer den übertragenen und wirksam geltend gemachten Urlaub bis zum 31. März zu gewähren. Dabei ist der Arbeitnehmer verpflichtet, den Urlaub so frühzeitig geltend zu machen, dass er noch innerhalb des Übertragungszeitraums bis zum 31. März genommen werden kann; er muss ihn also rechtzeitig vor dem 31. März anmelden, so dass er tatsächlich in der Lage ist, den Urlaub vor Ablauf des Übertragungszeitraums zu nehmen. Mit Beendigung des Übertragungszeitraums verfällt der Urlaubsanspruch.

21

Zum Verfall des Urlaubs, der bis zum 31. März nicht realisiert wurde, kam es auch dann, soweit das Arbeitnehmer zu diesem Zeitpunkt arbeitsunfähig erkrankt war4. Hiervon kann allerdings infolge der EuGH-Rechtsprechung in der Rechtssache Schultz-Hoff5 nur hinsichtlich des tariflichen Urlaubs ausgegangen werden. Hinsichtlich des kraft Gesetzes bestehenden Urlaubsanspruchs, 1 2 3 4

So für den Schwerbehindertenurlaub: BAG v. 8.3.1994 – 9 AZR 49/93, DB 1994, 1528. BAG v. 28.2.1991 – 8 AZR 196/90, BB 1991, 1788 f. EuGH v. 20.1.2009 – Rs. C-350/06, NZA 2009, 135. BAG v. 31.10.1986 – 8 AZR 244/84, DB 1987, 844; BAG v. 4.9.1987 – 8 AZR 552/85; BAG v. 21.3.1995 – 9 AZR 959/93, n.v. 5 EuGH v. 20.1.2009 – Rs. C-350/06, NZA 2009, 135.

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Rz. 24 Teil 5 (21)

der der Unabdingbarkeit unterliegt, ist nach der Folgeentscheidung des EuGH in der Rechtssache Schulte1 davon auszugehen, dass dieser spätestens 15 Monate nach Ende des Urlaubsjahres verfällt2. Die Höhe des tarifvertraglichen Mindesturlaubs beträgt in der chemischen Industrie 30 Urlaubstage. Der TV bezeichnet die Tage als Urlaubstage, an denen der Arbeitnehmer von einer ansonsten bestehenden Arbeitspflicht freigestellt ist. Das hat zur Folge, dass ein Wechselschichtarbeitnehmer, der an einem Feiertag hätte arbeiten müssen, aber frei haben will, sich für diesen Tag auch Urlaub nehmen muss.

22

Teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmern, die nur an bestimmten Arbeitstagen Arbeitsleistung erbringen, ist – wie Arbeitnehmern in Wechselschicht auch – ein gleichwertiger Urlaub zu gewähren. Ein mit bspw. 20 Wochenstunden teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer, der fünf Tage jeweils vier Stunden Arbeitsleistung erbringt, ist also gleichzustellen mit einem ebensolchen Teilzeitbeschäftigten, der an lediglich zwei Tagen der Woche dieser Arbeitsverpflichtung nachkommt. Ändert sich im Verlauf eines Kalenderjahres die Verteilung der Arbeitszeit auf weniger oder auf mehr Arbeitstage einer Kalenderwoche, verkürzt oder verlängert sich entsprechend die Dauer des dem Arbeitnehmer zustehenden Urlaubs. Er ist dann jeweils unter Berücksichtigung der nunmehr für den Arbeitnehmer maßgeblichen Verteilung der Arbeitszeit neu zu berechnen. Anderes gebietet auch nicht die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Tirol, die zu einer Regelung erging, die – anders als der wochenbezogene Urlaubsanspruch – einen stundenbezogenen Urlaubsanspruch vorgesehen hatte3.

23

Wie bei Teilzeitbeschäftigten gilt auch sonst der Grundsatz, dass ein zeitlich gleichwertiger Urlaub zu gewähren ist, soweit sich die regelmäßige Arbeitszeit auf mehr oder weniger als fünf Werktage in der Woche verteilt ist (§ 12 II Ziff. 4 Abs. 3 MTV Chemie). Die Formulierung „zeitlich gleichwertig“ folgt einem wochenbezogenen Verständnis des Urlaubsanspruchs4. Dem Arbeitnehmer muss es möglich sein, bei zusammenhängender Urlaubsgewährung unter Berücksichtigung der ohnehin freien Tage auf eine wöchentliche Freistellung zu kommen, die dem Grundmodell des Urlaubs bei Zugrundelegung einer Fünf-Tage-Woche entspricht. Der Urlaub muss aber nicht nur zeitlich, sondern auch in Bezug auf die ausfallende Arbeitszeit gleichwertig sein (doppelte Gleichwertigkeit). Zwar muss keine keine völlige Gleichheit sichergestellt sein; aber es dürfen keine ins Gewicht fallenden Unterschiede bestehen. Kleinere Abweichungen, die mit den besonderen Schwierigkeiten der Urlaubsberechnung bei unregelmäßiger Arbeitszeit zusammenhängen, sind also hinzunehmen5.

24

1 EuGH v. 22.11.2011 – Rs. C-214/10, DB 2011, 2722. 2 BAG v. 7.8.2012 – 9 AZR 353/10, Pressemitteilung Nr. 56/12; ebenso bereits LAG Baden-Württemberg v. 21.12.2011 – 10 Sa 19/11, BB 2012, 1353. 3 EuGH v. 22.4.2010 – Rs. C-486/08, NZA 2010, 557. 4 BAG v. 22.10.1991 – 9 AZR 621/90, DB 1993, 841. 5 BAG v. 22.10.1991 – 9 AZR 621/90, DB 1993, 841; ausführlich zur Urlaubsberechnung bei regelmäßig und unregelmäßig verteilter Arbeitszeit s. Leinemann, DB 1999, 1499.

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Rz. 25

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25

Der Grundsatz der doppelten Gleichwertigkeit bedingt, dass bei der Berechnung des individuellen Urlaubsanspruchs auch dem Umstand der durchschnittlichen regelmäßigen Arbeitszeit pro Tag Rechnung zu tragen ist, die regelmäßig bei Schichtarbeitnehmern gegenüber anderen Arbeitnehmern aufgrund des Schichtrhythmus abweicht. Dauert eine Schicht des in Wechselschicht eingesetzten Arbeitnehmers 8 Std./Tag gegenüber 7,5 Std./Tag, die ein nicht in Schichtarbeit tätiger Arbeitnehmer zu leisten hat, ist dies also bei der Bemessung der Urlaubsschichten zu berücksichtigen1.

26

Dem Arbeitnehmer steht für jeden Urlaubstag ein Anspruch auf Entgelt gemäß dem Entgeltausfallprinzip zu, wobei die jeweilige Arbeitszeit zugrunde zu legen ist. Die Anwendung des Entgeltausfallprinzips führt dazu, dass dem Arbeitnehmer auch etwaige Zuschläge fortzuzahlen sind, die der Arbeitnehmer erhalten hätte, wenn er, anstelle Urlaub zu nehmen, gearbeitet hätte2. Mehrarbeitsvergütung sowie Mehrarbeitszuschläge fließen jedoch nicht in die Berechnung der Urlaubsvergütung ein. Allerdings sind während des Urlaubs eintretende Entgeltänderungen zu berücksichtigen.

27

Abweichend vom Entgeltausfallprinzip kann auch das Referenzprinzip zur Grundlage der Entgeltfortzahlung gemacht werden. Dies regelt eine Protokollnotiz zum TV, nach der bei der Entgeltfortzahlung Entgeltbestandteile, die monatlich regelmäßig aber nicht in gleicher Höhe anfallen, nach den durchschnittlichen Verhältnissen der letzten zwölf abgerechneten Kalendermonate oder eines durch Betriebsvereinbarung festzulegenden Zeitraums berechnet werden können. Weist der Arbeitnehmer eine geringere Betriebszugehörigkeit auf, ist Bemessungsgrundlage dieser kürzere Zeitraum.

28

Bei einem Statuswechsel (z.B. Wechsel von Voll- in Teilzeit oder aus einem Ausbildungs- in ein Arbeitsverhältnis hinein) gilt das Glück-/Pech-Prinzip. Wurde bereits in dem früheren Beschäftigtenstatus der gesamte Urlaubsanspruch verbraucht, ist nach einem Statuswechsel der Anspruch auf Urlaubsentgelt nicht rückwirkend neu zu berechnen.

29

Ist der Urlaubsanspruch bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch nicht erfüllt, ist er abzugelten. Mangels Erfüllbarkeit bestand – bis zur Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Schultz-Hoff3 unstreitig – kein Abgeltungsanspruch, wenn der Arbeitnehmer bei seinem Ausscheiden arbeitsunfähig erkrankt war und über das Ende des Urlaubsjahres hinaus sowie im Übertragungszeitraum arbeitsunfähig krank bleibt. Da aber das BAG nach Aufgabe der Surrogationstheorie4 den Urlaubsabgeltungsanspruch als reinen Geldanspruch ansieht, wird hieran – jedenfalls, was den verbliebenen gesetzlichen Teil des Urlaubsanspruchs anbetrifft – nicht mehr festgehalten werden können. Allerdings unterliegt dieser Geldanspruch, der sich nicht von anderen Entgelt1 2 3 4

BAG v. 5.11.2002 – 9 AZR 470/01, DB 2003, 1393. BAG v. 15.2.2005 – 9 AZR 632/03. EuGH v. 20.1.2009 – Rs. C-350/06, NZA 2009, 135. S. BAG v. 4.5.2010 – 9 AZR 183/09, NZA 2010, 1011, bestätigt durch BAG v. 19.6.2012 – 9 AZR 652/10, Pressemitteilung Nr. 43/12; dazu: Benecke, RdA 2011, 241; Düwell, DB 2011, 2492.

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Rz. 32 Teil 5 (21)

ansprüchen aus dem Arbeitsverhältnis unterscheidet, auch den tarifvertraglichen Ausschlussfristen1. Der MTV Chemie enthielt früher auch einen Anspruch auf ein zusätzliches Urlaubsgeld. Die Regelungen hierzu wurden in den TV über Einmalzahlungen und Altersvorsorge (TEA) überführt, um diesen Entgeltbetrag auch der Entgeltumwandlung zuzuführen, deren Zweck jener TV dient. Der Anspruch auf das zusätzliche Urlaubsgeld erwächst für jeden tariflichen Urlaubstag und richtet sich nach dessen Schicksal; er ist also akzessorisch zur Urlaubsgewährung. Er entsteht für Teilzeitbeschäftigte entsprechend dem Pro-rata-temporis-Prinzip. Soweit der Urlaubsanspruch entsprechend dem Grundsatz der Gleichwertigkeit umgerechnet wird, sind auch dann dem Anspruch auf das zusätzliche Urlaubsgeld die tarifvertraglich zustehenden Urlaubstage zugrunde zu legen.

30

Das zusätzliche Urlaubsgeld wird „für jeden tariflichen Urlaubstag“ gewährt. Ist also aufgrund anderweitiger Regelungen Urlaub zu gewähren, entsteht dieser Anspruch nicht.

31

2. § 11 EMTV (Rz. 9) Die Regelung des § 11 EMTV beschäftigt sich zunächst mit dem Grundanspruch auf Erholungsurlaub. Dieser entsteht wie im sonstigen Urlaubsrecht auch für das jeweilige Kalenderjahr unabhängig von erbrachter oder zu erbringender Arbeitsleistung2. Er erlischt nach dem TV drei Monate nach Ablauf des Kalenderjahres, es sei denn, dass er erfolglos geltend gemacht wurde oder aus betrieblichen Gründen nicht genommen werden konnte. Konnte er wegen Krankheit nicht genommen werden, erlischt der Urlaubsanspruch zwölf Monate nach vorerwähntem Zeitraum von drei Monaten, also spätestens nach 15 Monaten. Dies ist auch durch den EuGH3 bestätigt, der sich konkret in mit der Entscheidung v. 22.11.2011 mit der Verfallsregelung des § 11 EMTV beschäftigen musste und damit auch seine „Kehrwende rückwärts“ im Urlaubsrecht einleitete. Da die Tarifregelung mit ihrem normativen Charakter zu den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften gehört, die zu überprüfen der EuGH im Vorabentscheidungsverfahren befugt ist, konnte er deren Übereinstimmung mit der Arbeitszeitrichtlinie feststellen. Somit bestätigte er die Möglichkeit, Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub für einen während mehrerer Bezugszeiträume in Folge arbeitsunfähigen Arbeitnehmer dahingehend zu beschränken, dass diese nach einem Übertragungszeitraum von 15 Monaten erlöschen. Dies gilt für den gesamten, also den gesetzlichen wie tarifvertraglichen Anspruch auf Erholungsurlaub. Auch ist dies ausschließlich an den Fall der Übertragung wegen Krankheit, nicht aber dem Umstand eines anderen Leistungshindernisses (z.B. eine ohne Arbeitsunfähigkeit durchgeführte Maßnahme der medizinischen Vorsorge oder Rehabilitation) gebunden4. 1 BAG v. 20.9.2011 – 9 AZR 416/10, NZA 2012, 326; dazu auch Jesgarzewski, BB 2012, 1347. 2 BAG v. 8.3.1984 – 6 AZR 442/83, BB 1984, 1874. 3 EuGH v. 22.11.2011 – Rs. C-214/10, NZA 2011, 1333; dazu: Bauer/v. Medem, NZA 2012, 113; Franzen, NZA 2011, 1403; Oertel, DB 2012, 460; Schiefer/Brasse, DB 2011, 1976; Schinz, RdA 2012, 181. 4 Weiss, EMTV § 11 Anm. 4.

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Teil 5 (21)

Rz. 33

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Die Bindung des Urlaubsanspruchs an das Kalenderjahr gebietet, dass der Urlaubsanspruch grundsätzlich befristet ist, es sei denn, ein Übertragungsgrund nach Maßgabe des § 7 Abs. 3 BUrlG liegt vor. Kann der Arbeitnehmer bis zum Ablauf des Kalenderjahres seinen Urlaub nehmen, tut er es dennoch aus von ihm zu vertretenden Gründen aber nicht, verfällt er also1. Dies gilt allerdings vorbehaltlich einer anderweitigen Regelung, die der § 11 EMTV insoweit enthält, als der maßgebliche Stichtag für das Erlöschen ohne rechtzeitige Geltendmachung nicht wie im gesetzlichen Urlaubsrecht der 31.12. des Kalenderjahres, sondern der 31.3. des Folgejahres ist. Dann erlischt der Urlaubsanspruch, es sei denn, er wurde erfolglos geltend gemacht oder konnte aus betrieblichen Gründen nicht genommen werden. Aufgrund der Unabdingbarkeit des gesetzlichen Urlaubsanspruchs kann der Verfall infolge der EuGH-Rechtsprechung in der Rechtssache Schultz-Hoff2 allerdings nicht hinsichtlich des kraft Gesetzes bestehenden Urlaubsanspruchs eintreten. Hier gilt aufgrund der Folgeentscheidung des EuGH in der Rechtssache Schulte3, dass dieser spätestens 15 Monate nach Ende des Urlaubsjahres verfällt4.

34

Rechtzeitige Geltendmachung bedeutet, dass der Urlaubsanspruch noch vor dem Eintritt seines Verfalls realisiert werden kann. Dabei ist, was die Realisierbarkeit anbetrifft, nicht nur auf die freien Resttage, sondern auch die organisatorische Umsetzbarkeit des geltend gemachten Urlaubsanspruchs durch den Arbeitgeber abzustellen5.

35

In § 11 Ziff. 3 beschäftigt sich der TV mit der Frage der Urlaubsabgeltung. Nachdem das BAG inzwischen die Surrogationstheorie aufgegeben hat6, entsteht der Abgeltungsanspruch als reiner Geldanspruch mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses, unterliegt aber auch insoweit den tarifvertraglichen Ausschlussfristen7.

36

Soweit ein Anspruch auf Urlaubsabgeltung besteht, ist dieser ebenso zu bemessen, wie der Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Falle der Inanspruchnahme des Urlaubs.

37

Der Anspruch auf Urlaubsabgeltung soll laut TV ausnahmsweise entfallen, wenn ein schwerwiegendes Verschulden des Arbeitnehmers zur Auflösung seines Arbeitsverhältnisses geführt hat. Diese Regelung entfaltet nur für den tarifvertraglichen Teil des Urlaubsanspruchs Wirkung. Soweit der gesetzliche Teil betroffen ist, hat das BAG eine solche Regelung für unwirksam erklärt8.

38

Der TV schließt unter Verweis auf die Rechtsnatur des Urlaubsanspruchs dessen Vererblichkeit im Todesfall aus. Dies hat auch das BAG so bestätigt: Mit 1 2 3 4 5 6 7 8

BAG v. 9.8.2011 – 9 AZR 425/10, NZA 2012, 29. EuGH v. 20.1.2009 – Rs. C-350/06, NZA 2009, 135. EuGH v. 22.11.2011 – Rs. C-214/10, DB 2011, 2722. BAG v. 7.8.2012 – 9 AZR 353/10, Pressemitteilung Nr. 56/12; ebenso bereits LAG Baden-Württemberg v. 21.12.2011 – 10 Sa 19/11, BB 2012, 1353. BAG v. 7.11.1985 – 6 AZR 62/84, NZA 1986, 393. BAG v. 4.5.2010 – 9 AZR 183/09, NZA 2010, 1011. BAG v. 9.8.2011 – 9 AZR 365/10, NZA 2011, 1421. BAG v. 30.11.1977 – 5 AZR 667/76, DB 1978, 847.

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Rz. 45 Teil 5 (21)

dem Tod des Arbeitnehmers erlischt der Urlaubsanspruch; er wandelt sich nicht nach § 7 Abs. 4 BUrlG in einen Abgeltungsanspruch um1. In § 12 EMTV regelt der TV die allgemeinen Urlaubsgrundsätze. Wie in anderen Tarifbereichen auch wird dabei die Höhe des Urlaubsanspruchs mittels des Zwölftelungsprinzips für das Ein- und Austrittsjahr festgelegt. Dabei knüpft der TV an den Bestand des Arbeitsverhältnisses an, nicht jedoch an die tatsächliche Ausübung von Beschäftigung2. Wie stets – das stellt auch eine aus anderen Tarifbereichen bekannte Problematik dar – ist im Falle der Kürzung von Urlaubsansprüchen die Kontrollprüfung anzustrengen, dass von dieser nicht der gesetzliche Urlaubsanspruch tangiert sein darf; dieser ist durch den Unabdingbarkeitsgrundsatz geschützt3.

39

Wie gelegentlich in anderen Tarifbereichen auch, enthält der TV mit § 12 Ziff. 4 eine Regelung zur Kollision von Urlaub und Krankheit; jene wird auf den Urlaub nicht angerechnet, was de facto zu einem Nachgewährungsanspruch führt. Voraussetzung ist allerdings, dass der Arbeitnehmer seine Arbeitsunfähigkeit durch ein ärztliches Attest nachweist.

40

Der Urlaubsanspruch ist tagesbezogen. Hieraus begründet sich auch die in § 12 Ziff. 5 geregelte Behandlung von Bruchteilen, die entsprechend zu runden sind.

41

Der Urlaubsanspruch ist aber auch ein auf das Kalenderjahr bezogener. Aus diesem Grunde bedarf es auch des § 12 Ziff. 6 EMTV, der den Fall des Arbeitgeberwechsels behandelt. Um das Entstehen doppelter Ansprüche zu vermeiden, regelt er, dass ein Urlaubsanspruch insoweit nicht besteht, als für das Urlaubsjahr bereits von einem anderen Arbeitgeber Urlaub gewährt worden ist. Um dies nachprüfen zu können, hat der Arbeitnehmer die Urlaubsbescheinigung seines bisherigen Arbeitgebers vorzulegen.

42

Die Dauer des Urlaubs regelt § 13 EMTV. Dabei wird eine Verteilung der regelmäßigen Arbeitszeit auf fünf Tage in der Woche zugrunde gelegt. Ist sie länger oder kürzer, ist die Dauer des Urlaubs entsprechend den Grundsätzen der Gleichwertigkeit umzurechnen4.

43

Eine – zulässige – Durchbrechung des Grundsatzes, dass der Urlaubsanspruch ein tagesbezogener ist, eröffnet § 13 Ziff. 7. Danach kann aufgrund freiwilliger Betriebsvereinbarung ein Urlaubskonto eingerichtet werden, das in Urlaubsstunden geführt wird.

44

Um den besonderen Aufwendungen von Arbeitnehmern zur Bestreitung ihres Urlaubs Rechnung zu tragen, regelt § 14 EMTV neben dem fortzuzahlenden Arbeitsentgelt eine zusätzliche Urlaubsvergütung, die sich anhand eines Prozentsatzes des monatlichen regelmäßigen Arbeitsentgelts bemisst. Sie verhält

45

1 BAG v. 20.9.2011 – 9 AZR 416/10, DB 2012, 235. 2 BAG v. 13.10.2009 – 9 AZR 763/08, NZA 2010, 416; zu dieser Problematik s. auch I. Natzel, Die Betriebszugehörigkeit, S. 151 ff. 3 BAG v. 23.4.1996 – 9 AZR 317/95, DB 1996, 2391. 4 S. dazu Weiss, EMTV § 13 Anm. 4.

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Teil 5 (21)

Rz. 46

Urlaubsklauseln

sich zum Urlaubsanspruch selbst streng akzessorisch, kann also nur verbunden mit der Inanspruchnahme von Urlaub geltend gemacht werden. 3. § 26 TVöD (Rz. 10 f.) 46

Der TVöD regelt in § 26 den Anspruch auf Erholungsurlaub. Abweichend von der Regelung in § 7 Abs. 3 BUrlG bestimmt er in seinem Abs. 2a, dass der Erholungsurlaub im Falle seiner Übertragung bis zum 31.5. des Folgejahres angetreten werden muss, wenn er wegen Arbeitsunfähigkeit nicht bis zum 31.3. desselben Jahres angetreten werden konnte. Zu dieser Regelung hat das BAG mit Urteil v. 22.5.20121 festgestellt, dass sich die TV-Parteien mit der Regelung des § 26 Abs. 2 TVöD hinreichend deutlich vom gesetzlichen Fristenregime des § 7 Abs. 3 BUrlG gelöst und Übertragung wie Verfall des Urlaubsanspruchs eigenständig geregelt hätten. Damit könne von einem Gleichlauf von gesetzlichem Mindesturlaub und tariflichem Mehrurlaub nicht die Rede sein. Unbeschadet jener Entscheidung urteilte es allerdings zugleich zur Regelung des TVöD aus, dass dieser TV nicht den Verfall von Urlaubsansprüchen regeln könne, soweit der gesetzliche Urlaubsanspruch betroffen sei; dieser stehe nicht zur Disposition der TV-Parteien, was nach der Entscheidung des EuGH v. 22.11.20112 nach Auffassung des BAG dazu führt, dass wegen lang andauernder Arbeitsunfähigkeit übertragene Urlaubsansprüche 15 Monate nach Ablauf des Kalenderjahres verfallen. Insoweit wird man die Verfallsregelung des § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG nach der Rechtsprechung des BAG unionsrechtskonform auszulegen haben. Im Übrigen – d.h. in Bezug auf Urlaubsregelungen, die kraft anderweitiger als der gesetzlichen Regelung im Arbeitsverhältnis gelten – wird man Verfallsklauseln weiterhin anwenden können; Grundsätze des Gemeinschaftsrechts wird man dem nicht entgegenhalten können.

47

Die Regelung des § 26 Abs. 1 TVöD bildete auch Gegenstand der BAG-Entscheidung v. 15.3.20113. Dort hatte das Gericht festgestellt, dass bei einer Verteilung der Arbeitszeit auf mehr oder weniger als fünf Wochentagen die Anzahl der Urlaubstage mit dem Ziel einer gleichwertigen Urlaubsdauer durch „Umrechnung“ zu ermitteln sei. Damit bestätigte das Gericht seine Rechtsprechung zur Gleichwertigkeit des Urlaubs auch für den TVöD.

48

Der TVöD ist aufgrund der Entscheidung des BAG v. 20.3.20124 neu gefasst worden. Dort beschäftigte sich das Gericht mit der bislang bestehenden altersabhängigen Staffelung der Urlaubsdauer und erklärte diese für unwirksam. Die Neuregelung sieht nunmehr einen Urlaubsanspruch von 29 Tagen bis zur Vollendung des 55. Lebensjahres und von 30 Tagen für alle älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor. Ob die Neuregelung der Weisheit letzter Schluss ist, bleibt abzuwarten. Schließlich enthält sie eine neue Altersstaffel, die ihrer Rechtfertigung bedarf. Dies haben offenbar auch die TV-Parteien so gesehen, was ihnen Anlass gegeben haben mag, im Rahmen einer Protokollnotiz darauf 1 2 3 4

BAG v. 22.5.2012 – 9 AZR 618/10, Pressemitteilung Nr. 37/12. EuGH v. 22.11.2011 – Rs. C-214/10, NZA 2011, 1333. BAG v. 15.3.2011 – 9 AZR 799/09, DB 2011, 1814. BAG v. 20.3.2012 – 9 AZR 529/10, BB 2012, 1728.

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Rz. 1 Teil 5 (22)

Verfallklauseln/Ausschlussklauseln

hinzuweisen, dass sie davon ausgingen, dass für Beschäftigte, die das 55. Lebensjahr vollendet haben, ein entsprechend höherer Erholungsbedarf besteht. Wie andere TV-Regelungen auch enthält der TVöD eine Regelung zum Teilurlaub für den Fall, dass das Arbeitsverhältnis unterjährig beginnt oder endet. Beginnt oder endet das Arbeitsverhältnis im Laufe eines Jahres, erhält die/der Beschäftigte als Erholungsurlaub für jeden vollen Monat des Arbeitsverhältnisses ein Zwölftel des Urlaubsanspruchs nach Abs. 1; § 5 BUrlG bleibt unberührt. Letzteres soll sicherstellen, dass der gesetzliche Mindesturlaub durch die Zwölftelungsregelung nicht unterschritten wird, was es im Rahmen einer Vergleichsbetrachtung zu überprüfen gilt.

49

Eine ebensolche Teilurlaubsregelung wie für den Fall des unterjährigen Einund Austritts regelt der TV für den Fall des Ruhens des Arbeitsverhältnisses infolge von Elternzeit oder Sonderurlaub. Hierzu hat das BAG1 festgestellt, dass der nicht abdingbare gesetzliche Urlaubsanspruch nicht durch eine solche Ruhensregelung abbedungen werden könne2.

50

Hinsichtlich der Fortzahlung des Entgelts ergeben sich im Bereich des TVöD keine Besonderheiten. Dieses ist entsprechend dem in § 21 TVöD festgelegten Referenzprinzip fortzuzahlen. Kann der dort vorgesehene Referenzzeitraum von drei Monaten nicht erreicht werden, ist der Entgeltfortzahlung ein kürzerer Zeitraum zugrunde zu legen3. Auszahlungszeitpunkt ist der letzte Tag des Monats, wie sich aus dem Verweis auf § 24 TVöD ergibt. Dieser Tag ist also auch für den Lauf von Ausschlussfristen von Bedeutung.

51

Einen Anspruch auf zusätzlichen Erholungsurlaub legt § 27 TVöD für in Wechselschicht eingesetzte Arbeitnehmer fest. Der TV differenziert hier zwischen der Länge zusammenhängender Monate in Wechselschichtarbeit4. Überdies legt § 27 Abs. 4 TVöD für den Fall des Zusammentreffens des Grundurlaubs sowie des Zusatzurlaubs eine Höchstgrenze fest. Diese findet aber auf den nach § 125 SGB IX zu gewährenden Zusatzurlaub keine Anwendung.

52

(22) Verfallklauseln/Ausschlussklauseln I. Zweck und Kontext Ausschlussklauseln oder Verfallklauseln gehören zu den typischen tarifvertraglichen Regelungen, die sich meist in den entsprechenden Mantel- oder RahmenTVen finden. Das TVG sieht Ausschlussfristen für die Geltendmachung tariflicher Rechte in § 4 Abs. 4 Satz 3 TVG ausdrücklich vor. Sie regeln, dass bestimmte Ansprüche verfallen, wenn sie nicht innerhalb einer bestimmten Frist und regelmäßig in einer bestimmten Form (schriftlich) geltend gemacht 1 2 3 4

S. BAG v. 7.8.2012 – 9 AZR 353/10, Pressemitteilung Nr. 56/12. Zu dieser Regelung s. bereits auch Wicht, BB 2012, 1349. BAG v. 23.2.2010 – 9 AZR 52/09, ZTR 2010, 367. Zu dieser Regelung s. MünchArbR/Giesen, § 326 Rz. 94.

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Teil 5 (22)

Rz. 2

Verfallklauseln/Ausschlussklauseln

werden1. Nach Ablauf der Frist kann das Recht nicht mehr geltend gemacht werden2; ob es darüber hinaus erlischt, ist eine dogmatisch nicht abschließend geklärte Frage3. Jedenfalls ist der Anspruch des Klägers ausgeschlossen, soweit er von der Ausschlussregelung erfasst wird. Das Eingreifen einer tariflichen Ausschlussregelung ist von Amts wegen zu beachten. Erkennt das Arbeitsgericht aus dem Vortrag der Parteien, dass ein TV Anwendung findet, hat es den TV und die mögliche Anwendung von Ausschlussfristen nach § 293 ZPO von Amts wegen zu ermitteln. Allerdings muss das Gericht keine Nachforschungen darüber anstellen, ob überhaupt ein TV auf das Arbeitsverhältnis Anwendung findet4. Ausschluss- und Verfallklauseln wirken in der Praxis nicht lediglich kollektivrechtlich aufgrund beiderseitiger Tarifbindung, sondern sind auch häufig Bestandteil eines für allgemeinverbindlich erklärten TVes. Zudem finden sie oft aufgrund einer Inbezugnahme des einschlägigen TVes im Arbeitsvertrag Anwendung5. 2

Maßgeblicher Zweck von Ausschluss- und Verfallklauseln ist die Herstellung von Rechtssicherheit. Die Parteien des Arbeitsvertrags sollen angehalten werden, ihre Ansprüche gegenüber dem anderen Teil alsbald geltend zu machen, damit sich der Schuldner auf möglicherweise noch offene Forderungen rechtzeitig einstellen kann6. In aller Regel liegen die Fristen in den TVen zwischen zwei und sechs Monaten. Da Ausschluss- und Verfallklauseln zu den Inhaltsnormen zählen, wirken sie nach Ablauf des TVes nach7 und werden nach einem Betriebsübergang gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB Inhalt des Arbeitsverhältnisses8. Einer gesonderten Geltendmachung bedarf es dann nicht, wenn der Anspruch vom Schuldner bereits anerkannt worden ist, wobei das Anerkenntnis auch in der Erteilung der Gehaltsabrechnung9 oder der Mitteilung des Arbeitgebers an den Arbeitnehmer über den Stand des Arbeitszeitkontos liegen kann10. Die Obliegenheit zur Geltendmachung lebt auch dann nicht wieder auf, wenn der Arbeitgeber die Forderung später bestreitet11.

1 Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Ausschlussklauseln Rz. 1. 2 BAG v. 16.1.2001 – 5 AZR 430/00, NZA 2002, 746 (747). 3 So etwa Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 719; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 73; Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1185. 4 BAG v. 15.6.1993 – 9 AZR 208/92, NZA 1994, 274; Schaub, ArbR-Hdb., § 205 Rz. 1; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 73. 5 Vgl. etwa BAG v. 22.6.2005 – 10 AZR 459/04, AP Nr. 183 zu § 4 TVG Ausschlussfrist. 6 BAG v. 13.12.2007 – 6 AZR 222/07, NZA 2008, 478, Rz. 18; Thüsing/Braun/Mengel/ Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Ausschlussklauseln Rz. 3 m.w.N. 7 BAG v. 23.4.1961 – 1 AZR 239/59, DB 1961, 1198. 8 BAG v. 27.11.1991 – 4 AZR 211/91, NZA 1992, 800; Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1105. 9 BAG v. 29.5.1985 – 7 AZR 124/83, AP TVG § 4 Ausschlussfristen Nr. 92. 10 BAG v. 28.7.2010 – 5 AZR 521/09, NZA 2010, 1241. 11 BAG v. 21.4.1993 – 5 AZR 399/92, NZA 1993, 1091.

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Verfallklauseln/Ausschlussklauseln

Rz. 5 Teil 5 (22)

II. Beispiele Verfall- und Ausschlussklauseln kommen als sog. einstufige oder zweistufige Klauseln in Betracht (vgl. nachfolgende Beispiele):

3

§ 37 TVöD – Ausschlussfrist (1) Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis verfallen, wenn sie nicht innerhalb einer Ausschlussfrist von sechs Monaten nach Fälligkeit von der/dem Beschäftigten oder vom Arbeitgeber schriftlich geltend gemacht werden. Für denselben Sachverhalt reicht die einmalige Geltendmachung des Anspruchs auch für später fällige Leistungen aus. (2) Absatz 1 gilt nicht für Ansprüche aus einem Sozialplan. 4

§ 17 MTV Chemie – Ausschlussfristen (1) Der Arbeitnehmer ist verpflichtet, die richtige und vollständige Abrechnung von Vergütungen für Schicht-, Mehr-, Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit sowie bei Barzahlungen die Übereinstimmung des in der Abrechnung genannten Betrages mit der tatsächlichen Auszahlung unverzüglich zu überprüfen. (2) Die Ansprüche beider Seiten aus dem Arbeitsverhältnis müssen innerhalb einer Ausschlussfrist von drei Monaten nach Fälligkeit schriftlich geltend gemacht werden. Nach Ablauf dieser Frist ist die Geltendmachung ausgeschlossen. Das gilt nicht, wenn die Berufung auf die Ausschlussfrist wegen des Vorliegens besonderer Umstände eine unzulässige Rechtsausübung ist. (3) Im Falle des Ausscheidens müssen die Ansprüche beider Seiten spätestens einen Monat nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses geltend gemacht werden. (4) Wird ein Anspruch erst nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses fällig, muss er spätestens einen Monat nach Fälligkeit geltend gemacht werden. (5) Die genannten Ausschlussfristen gelten nicht für beiderseitige Schadensersatzansprüche sowie für beiderseitige nachwirkende Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis.

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§ 15 BRTV Bau – Ausschlussfristen (1) Alle beiderseitigen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis und solche, die mit dem Arbeitsverhältnis in Verbindung stehen, verfallen, wenn sie nicht innerhalb von zwei Monaten nach der Fälligkeit gegenüber der anderen Vertragspartei schriftlich erhoben werden; besteht bei Ausscheiden des Arbeitnehmers ein Arbeitszeitguthaben, beträgt die Frist für dieses Arbeitszeitguthaben jedoch sechs Monate. (2) Lehnt die Gegenpartei den Anspruch ab oder erklärt sie sich nicht innerhalb von zwei Wochen nach der Geltendmachung des Anspruchs, so verfällt dieser, wenn er nicht innerhalb von zwei Monaten nach der Ablehnung oder dem Fristablauf gerichtlich geltend gemacht wird. Dies gilt nicht für Zahlungsansprüche des Arbeitnehmers, die während eines Kündigungsschutzprozesses fällig werden und von seinem Ausgang abhängen. Für diese Ansprüche beginnt die Ver-

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fallfrist von zwei Monaten nach rechtskräftiger Beendigung des Kündigungsschutzverfahrens.

III. Kommentierung 1. Zeitlicher Ablauf der Fristen und Geltendmachung 6

Bei den einstufigen Klauseln verfallen die Ansprüche nur dann, wenn sie nicht innerhalb der geregelten Frist und in der geforderten Form gegenüber der anderen (Arbeitsvertrags-)Partei geltend gemacht wurden. Maßgeblich für den Fristbeginn ist die Fälligkeit des Anspruchs1. Die Rechtsprechung geht hierbei zum Teil von einem subjektiv geprägten Fälligkeitsbegriff aus, nach dem die Ausschlussfrist erst dann zu laufen beginnt, wenn der Gläubiger den Anspruch der Höhe nach beziffern kann2. Soweit eine Ausschlussfrist auf die Beendigung des Arbeitsverhältnisses abstellt (vgl. § 17 Abs. 3 MTV Chemie, oben Rz. 4), beginnt sie nicht mit der tatsächlichen, sondern der rechtlichen Beendigung, also im Falle eines Kündigungsschutzprozesses erst mit Rechtskraft des Urteils3. Werden Ansprüche erst nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses fällig (so z.B. bei variablen Entgeltbestandteilen nach Ablauf des Geschäftsjahres), beginnt die Ausschlussfrist erst mit Fälligkeit (vgl. § 17 Abs. 4 MTV Chemie, oben Rz. 4)4.

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Bei zweistufigen Klauseln ist mit der Geltendmachung gegenüber dem Vertragspartner die Gefahr des Anspruchsverlustes noch nicht gebannt. Lehnt dieser den Anspruch ab oder äußert er sich gar nicht zu dem Verlangen, greift eine zweite Frist ein, innerhalb derer der Gläubiger seinen vermeintlichen Anspruch gerichtlich geltend machen muss. Für die Wahrung der Frist genügt regelmäßig der rechtzeitige Eingang der Klageschrift bei Gericht (§§ 46 Abs. 2 ArbGG, 167 ZPO). Versäumt der Gläubiger die rechtzeitige Klageerhebung, kann der Anspruch auch dann nicht mehr durchgesetzt werden, wenn er ihn zunächst gegenüber seinem Schuldner zeit- und formgerecht geltend gemacht hatte. Zur Anspruchswahrung von Zahlungsansprüchen reicht nach der bisherigen Rechtsprechung des BAG alleine die Erhebung der Kündigungsschutzklage nicht aus. Sie wahrt nur die erste Stufe der Ausschlussfrist, während der Arbeitnehmer zur Wahrung auch der zweiten Stufe gehalten ist, den Anspruch bereits während des noch laufenden Kündigungsschutzprozesses durch Zahlungsklage geltend und damit zum Streitgegenstand zu machen5. Die Frist der zweiten Stufe beginnt, wenn der Schuldner den Anspruch ablehnt oder sich innerhalb einer bestimmten Frist nicht äußert (vgl. § 15 Abs. 2 BRTV Bau, oben Rz. 5). Als Ablehnung gilt auch der Klageabweisungsantrag des Arbeitgebers 1 HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 80; Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Ausschlussklauseln Rz. 9. 2 BAG v. 16.5.2007 – 8 AZR 709/06, NZA 2007, 1154. 3 BAG v. 3.12.1970 – 5 AZR 68/70, DB 1971, 485; Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Ausschlussklauseln Rz. 9. 4 BAG v. 17.10.1974 – 3 AZR 4/74, DB 1975, 455; Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Ausschlussklauseln Rz. 9. 5 BAG v. 26.4.2006 – 5 AZR 403/05, NZA 2006, 845; kritisch ErfK/Preis, §§ 194–218 BGB Rz. 64.

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im Kündigungsschutzverfahren; in diesem Fall bedarf es keiner ausdrücklichen schriftlichen Ablehnung mehr1. Beginnt die Frist für Zahlungsansprüche bei einer zweistufigen Klausel nach der tariflichen Regelung dagegen erst dann, wenn der Kündigungsschutzprozess beendet ist (vgl. § 15 Abs. 2 Satz 2 BRTV Bau, oben Rz. 5), kann der Anspruch nicht vor diesem Zeitpunkt fristwahrend geltend gemacht werden2. Grundsätzlich können hingegen nach der neueren Rechtsprechung Ansprüche auch schon vor Fälligkeit geltend gemacht werden, weil der Warnfunktion der Ausschlussklausel auch dann genügt ist, wenn der Gläubiger seinen Anspruch vorzeitig geltend macht3. Dies gilt auch dann, wenn die Geltendmachung im Rahmen eines Betriebsübergangs gegenüber dem Betriebsveräußerer erfolgte, weil der Erwerber die Fristwahrung gegenüber dem Betriebsveräußerer gegen sich gelten lassen muss4. Die Notwendigkeit, zur Sicherung der Entgeltansprüche eine separate Leistungsklage vor Abschluss des Kündigungsschutzprozesses zu erheben, ist nicht unbestritten und wird zum Teil insbesondere im Lichte verfassungsrechtlicher Anforderungen als übertriebener Formalismus angesehen5. Die Diskussion um die zusätzliche Leistungsklage während des Kündigungsschutzprozesses ist seit dem Kammerbeschluss des BVerfG vom 1.12.2010 im Fluss6. Danach darf der Zugang zu den Gerichten den Prozessparteien nicht in unzumutbarer, sachlich nicht zu rechtfertigender Weise erschwert werden. Das Kostenrisiko darf zu dem mit dem Verfahren angestrebten Erfolg nicht außer Verhältnis stehen, sodass die Inanspruchnahme von Gerichten nicht mehr sinnvoll erscheint. Daraus wird geschlossen, dass es bei zweistufigen Ausschlussklauseln der Erhebung einer Leistungsklage bereits vor rechtskräftigem Abschluss des Kündigungsschutzprozesses jedenfalls dann nicht mehr bedarf, wenn diese sich streitwerterhöhend gegenüber der Kündigungsschutzklage auswirkt7. Vgl. ausführlich zur gerichtlichen Geltendmachung der zweiten Stufe Teil 16 Rz. 76 ff.

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Zu einer ordnungsgemäßen Geltendmachung gehört, dass die andere Seite zur Erfüllung des Anspruchs zwar nicht wörtlich, aber eindeutig aufgefordert wird8. Nicht ausreichend ist der Hinweis des Gläubigers, er behalte sich die Verfolgung von Ansprüchen vor9, oder eine Aufforderung zur korrekten Abrechnung, zur Prüfung oder ähnliches10. Zudem muss der Schuldner nach Sinn und Zweck der Ausschlussfrist erkennen können, welche Forderung nach

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1 BAG v. 26.4.2006 – 5 AZR 403/05, NZA 2006, 845 (846); anders noch BAG v. 11.12.2001 – 9 AZR 510/00, NZA 2002, 816. 2 BAG v. 22.10.1980 – 5 AZR 453/78, NJW 1981, 1751. 3 BAG v. 11.12.2003 – 6 AZR 539/02, AP Nr. 1 zu § 63 BMT-G II. 4 BAG v. 13.2.2003 – 8 AZR 236/02, AP Nr. 244 zu § 613a BGB. 5 ErfK/Preis, §§ 194–218 BGB Rz. 64. 6 BVerfG v. 1.12.2010 – 1 BvR 1682/07, NZA 2011, 354; dazu ErfK/Preis, §§ 194–218 BGB Rz. 64; Nägele/Gertler, NZA 2011, 442 (445); Brecht-Heitzmann, DB 2011, 1523; dem BVerfG folgend LAG Köln v. 5.5.2011 – 13 Sa 954/06, n. rkr., Revision unter dem Az. 5 AZR 601/11. 7 ErfK/Preis, §§ 194–218 BGB Rz. 64. 8 Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1155. 9 Schaub, ArbR-Hdb., § 205 Rz. 30. 10 BAG v. 22.6.2005 – 10 AZR 459/04, AP Nr. 183 zu § 4 TVG Ausschlussfrist; ausführlich Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1155.

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Grund, Höhe und Zeitraum beansprucht wird1. Anderes gilt bezüglich der Höhe des Anspruchs nur dann, wenn dem Schuldner die Höhe des Anspruchs bekannt ist oder er sie ohne weiteres errechnen kann, so etwa bei Lohnansprüchen. Im Übrigen ist die Geltendmachung eines Anspruchs eine einseitige rechtsgeschäftsähnliche Handlung, auf deren Auslegung die §§ 133, 157 BGB entsprechend anzuwenden sind2; dasselbe gilt für § 130 Abs. 1 BGB. Dagegen ist § 174 BGB über die Zurückweisung vollmachtloser Vertreter nach Sinn und Zweck der Ausschlussregelungen nicht entsprechend anwendbar. Hier ist der Erklärungsempfänger nicht in gleicher Weise schützenswert wie etwa bei der Ausübung von Gestaltungsrechten (z.B. Kündigungen), denn auch bei der vollmachtlosen Geltendmachung kann sich der Empfänger darauf einstellen, eine Forderung ggf. noch erfüllen zu müssen3. 10

Versäumt der Gläubiger die rechtzeitige Geltendmachung, weil ihm die Ausschlussklausel unbekannt ist, läuft die Ausschlussfrist gleichwohl. Aus dem Rechtsnormcharakter des TVes folgt, dass die Normunterworfenen für dessen Eingreifen keine positive Kenntnis der einzelnen Bestimmungen haben müssen4. Vielmehr ist ihnen zuzumuten, sich über die geltenden TVe zu unterrichten, was auch dann gilt, wenn der TV – und damit die Ausschlussklausel – über eine Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag eingreift5. So ist z.B. der Arbeitgeber nicht gehalten, die diesbezügliche Unkenntnis des Arbeitnehmers zu beseitigen. Selbst wenn der Arbeitgeber gegen seine Verpflichtung zur Bekanntgabe nach § 8 TVG verstößt, hindert das die Geltung der Ausschlussklausel nicht6. Allerdings kann sich der Arbeitgeber auf die Ausschlussklausel nicht berufen, wenn er den Arbeitnehmer von der rechtzeitigen Geltendmachung abgehalten hat oder den Eindruck erweckt hat, er werde die Forderung erfüllen, ohne dass es einer förmlichen Geltendmachung bedürfe7. Die Rechtsprechung stellt allerdings hohe Anforderungen an einen entsprechenden Tatsachenvortrag des Arbeitnehmers.

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Welche Form der Anspruchsinhaber bei seiner Geltendmachung zu beachten hat, richtet sich nach der Regelung in der konkreten Ausschlussfrist. Regelmäßig wird hierbei eine schriftliche Geltendmachung verlangt (vgl. dazu die Beispiele oben Rz. 3–5). Die Schriftform ist jedenfalls bei einer § 126 BGB entsprechenden Form gewahrt, also durch unterzeichnetes Schreiben. Ausrei1 BAG v. 22.4.2004 – 8 AZR 652/02, AP BAT-O §§ 22, 23 Nr. 12; Schaub, ArbR-Hdb., § 205 Rz. 30; Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Ausschlussklauseln Rz. 10. 2 BAG v. 11.12.2003 – 6 AZR 539/02, AP Nr. 1 zu § 63 BMT-G II; Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Ausschlussklauseln Rz. 11. 3 BAG v. 14.8.2002 – 5 AZR 341/01, NZA 2002, 1344; Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1157; a.A. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 748. 4 BAG v. 18.2.1992 – 9 AZR 611/90, NZA 1992, 881; Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Ausschlussklauseln Rz. 14; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 733. 5 Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Ausschlussklauseln Rz. 14. 6 BAG v. 23.1.2002 – 4 AZR 56/01, NZA 2002, 800; BAG v. 22.1.2008 – 9 AZR 416/07, NZA-RR 2008, 525 Rz. 38; Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Ausschlussklauseln Rz. 14; kritisch hierzu mit Blick auf § 307 BGB Erk/Preis, §§ 194–218 BGB Rz. 35. 7 Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1188.

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chend zur Formwahrung ist auch ein Fax1. Zur umstrittenen Frage, ob daneben auch eine E-Mail ausreichend ist, hat das BAG neuerdings für eine arbeitsvertragliche Ausschlussfrist Stellung bezogen: Nach § 127 Abs. 2 Satz 1 BGB genügt zur Wahrung der durch Rechtsgeschäft bestimmten schriftlichen Form, soweit nicht ein anderer Wille anzunehmen ist, die telekommunikative Übermittlung. Erfasst sind damit unter den Voraussetzungen des § 126b BGB neben dem Telefax auch die E-Mail. Der Text muss demnach so zugehen, dass er dauerhaft aufbewahrt werden kann oder der Empfänger einen Ausdruck anfertigen kann. Es wird auf die Unterschrift, nicht aber auf eine textlich verkörperte Erklärung verzichtet2. Zur Wahrung der Schriftform genügt auch die Erhebung der Kündigungsschutzklage für diejenigen Ansprüche, die während des Rechtsstreits fällig werden und von dessen Ausgang abhängen. Dies gilt allerdings nicht für die notwendige gerichtliche Geltendmachung einer zweistufigen Ausschlussklausel. Hier muss der Gläubiger vielmehr nach derzeitiger Ansicht des BAG Zahlungsklage erheben und die Vergütungsansprüche zum Streitgegenstand machen (vgl. dazu im Einzelnen Teil 16 Rz. 78 ff.).

2. Regelungskompetenz und Reichweite Ausschlussfristen für die Geltendmachung tariflicher Rechte können nach § 4 Abs. 3 TVG nur die TV-Parteien vereinbaren. Damit sind diesbezügliche Regelungen in Arbeitsverträgen oder Betriebsvereinbarungen zumindest insoweit unwirksam, wie sie sich auf tarifvertragliche Ansprüche beziehen3. Im Übrigen unterliegen Ausschlussfristen in Betriebsvereinbarungen ohnehin der Regelungssperre des § 77 Abs. 3 BetrVG4. Da die Regelung von Ausschlussfristen – wenn nicht im einschlägigen TV ohnehin vorhanden – zumindest „tarifüblich“ ist, dürfte eine Regelung in einer Betriebsvereinbarung nur bei einer Öffnungsklausel im TV in Betracht kommen5. Dass sich eine tarifvertragliche Ausschlussfrist gegenüber Betriebsvereinbarungen und sonstigen kollektiven Tatbeständen durchsetzt, folgt zudem aus § 77 Abs. 4 Satz 4 BetrVG. Das gilt auch für in Bezug genommene Ausschlussfristen, sofern die Inbezugnahme den gesamten TV erfasst6.

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Ob eine Ausschlussfrist sich inhaltlich auf tarifrechtliche Rechte beschränkt oder darüber hinaus geht, ist zunächst aus dem Wortlaut der Klausel und ggf. durch Auslegung zu ermitteln, die sich nach den allgemeinen Regeln zur Auslegung von TVen richtet7. Gilt die Frist nur für „Ansprüche aus diesem Tarif-

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1 BAG v. 10.11.2000 – 5 AZR 313/99, NZA 2001, 231. 2 BAG v. 16.12.2009 – 5 AZR 888/08, NZA 2010, 401; ebenso ErfK/Preis, § 127 BGB Rz. 44; a.A. Thüsing/Braun/Mengel/Burg, 5. Kap. Ausschlussklauseln Rz. 12; Schaub, ArbR-Hdb., § 205 Rz. 33; Peetz/Rose, DB 2006, 2346. 3 ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 48. 4 Die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 BetrVG gilt nach h.M. auch für formelle Arbeitsbedingungen, vgl. Fitting, § 77 BetrVG Rz. 71. 5 Vgl. BAG v. 9.4.1991 – 1 AZR 406/90, NZA 1991, 734; Husemann, NZA-RR 2011, 337 (338). 6 BAG v. 27.1.2004 – 1 AZR 148/03, NZA 2004, 667; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 76; Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1087. 7 ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 49.

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vertrag“, erfasst sie keine gesetzlichen oder vertraglichen Ansprüche1. Regelmäßig formulieren die TVe jedoch weitergehend, dass „sämtliche beiderseitigen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis“ der Ausschlussfrist unterliegen, teilweise ergänzt um den Passus „und solche, die mit dem Arbeitsverhältnis in Verbindung stehen“ (vgl. dazu auch die Beispiele oben Rz. 3 ff.). Davon erfasst sind im Wesentlichen alle Ansprüche, die sich aus den Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer als einheitlichem Lebensvorgang ergeben2. Derartige umfassende Regelungen sind zulässig und werden von der Rechtsprechung sehr weitgehend interpretiert3. Dass tarifvertragliche Ausschlussfristen über die reinen tarifvertraglichen Ansprüche hinausgehen können, folgt aus der Rechtsetzungsbefugnis der TV-Parteien und der Ordnungsfunktion des TVes4. Die Reichweite der Tarifmacht bestimmt auch, für welche Rechte Ausschlussklauseln überhaupt geschaffen werden dürfen5. Davon ausgehend können grundsätzlich arbeitsvertragliche Ansprüche einbezogen werden6. Richtigerweise erfassen Ausschlussklauseln jedoch nicht die Grundlagen des Arbeitsverhältnisses (auch Stammrechte genannt), etwa eine falsche Eingruppierung, eine zu Unrecht unterlassene Höhergruppierung oder überhaupt das Recht auf vertragsgemäße Beschäftigung. Anderes gilt allerdings für die aus dem Stammrecht folgenden Einzelansprüche7, sodass zwar nicht der Anspruch auf Höhergruppierung nach Ablauf der Ausschlussfrist erlischt, wohl aber der Anspruch auf die dementsprechende rückwirkende Vergütung. Ebenfalls nicht erfasst werden sog. statusbestimmende Vertragsansprüche, wie etwa Verschaffung der Altersversorgung, Ansprüche wegen Eingriffs in das Persönlichkeitsrecht oder Abfindungen nach §§ 9, 10 KSchG8. Auch Ansprüche, die zum Teil im Persönlichkeitsrecht begründet sind, gehören hierher, wie etwa der Anspruch auf Beseitigung einer Abmahnung oder auf Schadensersatz wegen Verletzung von Persönlichkeitsrechten9. 14

Wegen des grundsätzlichen Vorrangs des TVes (vgl. Rz. 8) können Ausschlussklauseln Ansprüche aus Betriebsvereinbarungen erfassen und somit auch Sozialplanansprüche10. Dies gilt nicht nur für zukünftige Ansprüche aus einer Betriebsvereinbarung, sondern deren Regelungen können auch nachträglich einer Ausschlussklausel unterworfen werden11. Dabei macht es keinen Unterschied, 1 BAG v. 15.11.2001 – 8 AZR 95/01, NZA 2002, 612; Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Ausschlussklauseln Rz. 7. 2 Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1128 mit Hinweis auf BAG v. 18.11.2004 – 6 AZR 651/03, NZA 2005, 516. 3 HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 74 m.w.N. 4 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 741; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 74; Däubler/ Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1080. 5 Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1080. 6 BAG v. 24.10.1990 – 6 AZR 37/89, NZA 1991, 378; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 743. 7 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 743; ErfK/Koch, § 46 ArbGG Rz. 34. 8 Vgl. Beispiele bei Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 744 f. 9 Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Ausschlussklauseln Rz. 8. 10 BAG v. 19.1.1999 – 1 AZR 606/98, NZA 1999, 879; Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Ausschlussklauseln Rz. 8. 11 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 750.

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ob die Ausschlussklausel kollektivrechtlich aufgrund beiderseitiger Tarifbindung oder individualrechtlich über eine Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag Anwendung findet1. Dagegen sollen betriebsverfassungsrechtliche Rechte, die sich aus der Stellung eines Betriebsratsmitglieds ergeben, deshalb nicht erfasst werden, weil sie nicht auf dem Arbeitsverhältnis beruhen2. Dies ist zumindest zweifelhaft. Werden arbeitsvertragliche Ansprüche nur von der betriebsverfassungsrechtlichen Stellung beeinflusst, so etwa der Anspruch aus § 37 Abs. 4 BetrVG auf eine Vergütung entsprechend der beruflichen Entwicklung vergleichbarer Arbeitnehmer, soll die Ausschlussklausel eingreifen3. Auch unabdingbare gesetzliche Ansprüche unterwirft die Rechtsprechung weitgehend der Begrenzung durch Ausschlussklauseln. Dies gilt etwa für Entgeltfortzahlung, Feiertagslohn, Nachteilsausgleich oder den Zeugnisanspruch. Die Zulässigkeit solcher Einschränkungen stützt das BAG auf seine dogmatische Grundannahme, dass die Ausschlussfrist zwar die Durchsetzung der jeweiligen Rechte hindert, die Rechte selbst aber unangetastet lässt. Unabhängig davon, dass auch das BAG die Theorie der „Substanzerhaltung“ nicht durchgängig beachtet, ist sie alleine keine ausreichende Grundlage für den allgemeinen Verlust gesetzlicher Ansprüche. Richtigerweise wird man auf die Ausgestaltung des jeweiligen Gesetzes abstellen müssen, sodass eine Ausschlussklausel nur tarifdispositives Gesetzesrecht erfasst4. Insgesamt hat sich zur Frage, welche Ansprüche von einer Ausschlussklausel erfasste werden (können), eine weitreichende Kasuistik entwickelt, wobei die Grenzen hier fließend sind.

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Der Urlaubsabgeltungsanspruch unterlag nach der früheren Rechtsprechung des BAG nicht den tariflichen Ausschlussfristen, selbst wenn diese umfassend alle Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis betrafen5. Begründet wurde dies damit, dass der Abgeltungsanspruch kein einfacher Geldanspruch, sondern ein Surrogat des Urlaubsanspruchs sei. Als Ersatz für den unantastbaren Urlaubsanspruch nach § 1 und § 3 Abs. 1 BUrlG stehe er nicht zur Disposition der TVParteien und sei deshalb wie dieser nach § 13 Abs. 1 BUrlG unabdingbar6. An dieser Rechtsprechung hält das BAG mit Hinweis auf die Aufgabe der Surro-

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1 BAG v. 27.1.2004 – 1 AZR 148/03, NZA 2004, 667; Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1087. 2 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 751, unter Hinweis auf BAG v. 30.1.1973 – 1 ABR 1/73, AP Nr. 3 zu § 40 BetrVG 1972. 3 BAG v. 19.1.2005 – 7 AZR 208/04, n.v.; Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1128. 4 So Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 752, 757 ff.; Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1082 ff.; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 664, lösen die Frage indes über die Länge (bzw. Kürze) der Fristen. 5 BAG v. 20.1.2009 – 9 AZR 650/07, ArbRB 2009, 98; BAG v. 20.5.2008 – 9 AZR 219/07, NZA 2008, 1237; anders dagegen die überwiegende Meinung in der Instanzrechtsprechung und der Literatur; LAG Hamm v. 16.6.2011 – 16 Sa 1089/10; LAG Niedersachsen v. 14.12.2010 – 13 Sa 1050/10; ErfK/Dörner/Gallner, § 7 BUrlG Rz. 65; HWK/Schinz, § 7 BUrlG Rz. 108a, sowie die Nachweise bei BAG v. 9.8.2011 – 9 AZR 365/10, NZA 2011, 1421 Rz. 23. 6 BAG v. 20.1.2009 – 9 AZR 650/07, ArbRB 2009, 98; BAG v. 20.5.2008 – 9 AZR 219/07, NZA 2008, 1237.

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Rz. 17

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gatstheorie nicht mehr fest1. Jedenfalls bei lang andauernder Arbeitsunfähigkeit und der insoweit erfolgten Aufgabe der Surrogatstheorie stellt der Urlaubsabgeltungsanspruch einen reinen Geldanspruch dar, der sich nicht mehr von sonstigen Entgeltansprüchen aus dem Arbeitsverhältnis unterscheidet. Er unterfällt damit auch den Bedingungen des TVes für die Geltendmachung von Geldansprüchen. Dazu gehören auch die tariflichen Ausschlussfristen2. Fällig wird der Urlaubsabgeltungsanspruch auch im Fall der Arbeitsunfähigkeit mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses3. Im bestehenden Arbeitsverhältnis greifen dagegen auch bei langanhaltender krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit Ausschlussfristen bezüglich des Urlaubsanspruchs nicht ein4. 17

Zulässig ist auch die Einführung einseitiger Ausschlussfristen nur für Ansprüche der Arbeitnehmer. Maßgeblicher Grund dafür ist, dass es sich bei Ansprüchen von Arbeitnehmern gegenüber ihrem Arbeitgeber um Massentatbestände handeln kann, während dies umgekehrt nicht der Fall ist5. Ansprüche der Arbeitnehmer untereinander unterfallen hingegen nicht den Ausschlussfristen; selbst dann nicht, wenn sie z.B. nach § 6 EFZG auf den Arbeitgeber übergegangen sind6.

3. Inhaltskontrolle und Grenzen 18

Tarifvertragliche Ausschlussfristen sind wie jede Tarifnorm dem Bestimmtheitserfordernis unterworfen. Danach müssen TV-Normen so formuliert sein, dass der von ihnen angestrebte Regelungsinhalt zumindest im Wege der Auslegung bestimmbar ist. Eine faktische Delegation auf den entscheidenden Richter ist unzulässig7. Danach muss zumindest mit den herkömmlichen Auslegungsmethoden erkennbar sein, welcher Anspruch unter welchen Voraussetzungen und bis zu welchem Zeitpunkt geltend zu machen ist, um einen Verfall zu verhindern. Eine Inhaltskontrolle findet dagegen anders als bei arbeitsvertraglichen Ausschlussklauseln nicht statt8. Bereits vor der Ausdehnung des Anwendungsbereichs des AGB-Rechts auf Arbeitsverhältnisse wurde angenommen, dass aus der Parität der TV-Parteien eine Angemessenheit für die zwischen ihnen vereinbarte Regelung gefolgert werden kann. Aus diesem Grund lehnte die Rechtsprechung eine Inhaltskontrolle tarifvertraglicher Bestimmungen generell ab9. Eine Überprüfung tarifvertraglicher Regelungen er1 2 3 4 5

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BAG v. 9.8.2011 – 9 AZR 365/10, NZA 2011, 1421 Rz. 15. BAG v. 9.8.2011 – 9 AZR 365/10, NZA 2011, 1421 Rz. 16, 23. BAG v. 9.8.2011 – 9 AZR 365/10, NZA 2011, 1421 Rz. 21. Pulz, jurisPR-ArbR 6/2012 Anm. 3; Gaul/Bonanni/Ludwig, DB 2009, 1013 (1014); LAG Düsseldorf v. 5.5.2010 – 7 Sa 1571/09, NZA-RR 2010, 568 Rz. 46 ff. BAG v. 4.12.1997 – 2 AZR 809/96, NZA 1998, 431; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 49; ErfK/Preis, §§ 194–218 BGB Rz. 39 plädiert im Einzelfall für eine Angemessenheitskontrolle nach § 307 BGB. ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 49. BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920 Rz. 25 (zu Differenzierungsklauseln); Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 230. Zur Inhaltskontrolle vertraglicher Ausschlussfristen etwa ErfK/Preis §§ 194–218 BGB Rz. 44 ff. Vgl. etwa BAG v. 30.9.1971 – 5 AZR 146/71, AP Nr. 36 zu § 620 BGB Befristeter Arbeitsvertrag.

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Rz. 1 Teil 5 (23)

Wiedereinstellungsklauseln

folgte deshalb nur auf Verstöße gegen Verfassungsrecht, zwingendes Gesetzesrecht, gute Sitten und tragende Grundsätze des Arbeitsrechts1. Ob die tarifliche Regelung eine gerechte und zweckmäßige Lösung darstellt und/oder zu ausgewogenen und sinnvollen Ergebnissen führt, entzieht sich hingegen der gerichtlichen Kontrolle2. Dies gilt auch für Ausschlussfristen3. Mit § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB hat diese Rechtsprechung ihre gesetzliche Bestätigung erhalten. Unterliegt damit die Dauer der Ausschlussfrist keiner Inhaltskontrolle, können die TV-Parteien aufgrund der Tarifautonomie auch relativ kurze Fristen vereinbaren4. Extrem kurze Fristen können dagegen wegen eines Verstoßes gegen das Gebot von Treu und Glauben oder das Verbot der Sittenwidrigkeit unwirksam sein5. Auch unter der Prämisse der zügigen Rechtsklarheit muss dem Gläubiger noch eine effektive Chance zur Geltendmachung seiner Ansprüche verbleiben. Vorgeschlagen wird eine Untergrenze von einem Monat6. Wegen § 310 Abs. 4 Satz 3 BGB findet eine Inhaltskontrolle auch dann nicht statt, wenn der Arbeitsvertrag einen TV insgesamt in Bezug nimmt; dagegen ist bei einer Teilverweisung eine Inhaltskontrolle vorzunehmen7.

(23) Wiedereinstellungsklauseln Literatur: Beckschulze, Der Wiedereinstellungsanspruch nach betriebsbedingter Kündigung, DB 1998, 417; Boewer, Der Wiedereinstellungsanspruch – Teil 1, NZA 1999, 1121; Boewer, Der Wiedereinstellungsanspruch – Teil 2, NZA 1999, 1177; Bram/Rühl, Praktische Probleme des Wiedereinstellungsanspruchs nach wirksamer Kündigung, NZA 1990, 753; Kleinebrink, Die Gestaltung von Wiedereinstellungszusagen, ArbRB 2008, 317; Kleinebrink, Grundsätze der Gestaltung von Tarifverträgen zur Sanierung eines Unternehmens, ArbRB 2008, 279; Schrader/Straube, Die arbeitsrechtliche (Wieder-) Einstellungszusage, NZA-RR 2003, 337.

I. Zweck und Kontext Nicht selten enthalten TVe sog. Wiedereinstellungsklauseln. Sie sind als Abschlussnormen im Sinne des § 1 Abs. 1 TVG zu qualifizieren (vgl. dazu Teil 4 Rz. 43 ff.) und verpflichten den Arbeitgeber einseitig zur Einstellung8. Wiedereinstellungsklauseln kommen regelmäßig dann zur Anwendung, wenn das Ar1 Vgl. ErfK/Preis, §§ 194–218 BGB Rz. 43. 2 BAG v. 22.9.1999 – 10 AZR 839/98, NZA 2000, 551 Rz. 54; Thüsing/Braun/Mengel/ Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Ausschlussklauseln Rz. 4. 3 Vgl. BAG 22.9.1999 – 10 AZR 839/98, NZA 2000, 551; Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Ausschlussklauseln Rz. 5; ErfK/Preis, §§ 194–218 BGB Rz. 43. 4 Husemann, NZA-RR 2011, 337 (338). 5 BAG v. 16.11.1965 – 1 AZR 160/65, DB 1966, 272; BAG v. 22.9.1999 – 10 AZR 839/98, NZA 2000, 551. 6 Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1090. 7 BAG v. 6.5.2009 – 10 AZR 390/08, NZA-RR 2009, 593; ErfK/Preis, §§ 194–218 BGB Rz. 43. 8 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 2139; Thüsing/Braun/Mengel/Burg, 5. Kap. Wiedereinstellung Rz. 1.

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Rz. 2

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beitsverhältnis mit einem Arbeitnehmer bereits sein Ende gefunden hat oder beendet werden soll. Die Wiedereinstellungszusage zielt darauf ab, das Arbeitsverhältnis zu gleichen oder veränderten Bedingungen zu einem in der Zukunft liegenden Zeitpunkt neu zu begründen. Abzugrenzen sind sie von Weiterbeschäftigungszusagen, die auf die Fortführung eines bestehenden Arbeitsverhältnisses gerichtet sind1. Zu welchem Zeitpunkt und mit welchem Inhalt die Wiedereinstellung und damit die Begründung des neuen Arbeitsverhältnisses erfolgen soll, ist gegebenenfalls durch Auslegung zu ermitteln. Wiedereinstellungszusagen können einfach, bedingt und/oder befristet ausgestaltet sein. 2

Durch eine einfache bzw. unbedingte Wiedereinstellungszusage wird dem einzelnen Mitarbeiter die Zusage einer zukünftigen Einstellung erteilt, ohne dass diese an das Vorliegen besonderer Umstände zum Zeitpunkt der Wiedereinstellung geknüpft wird oder konkrete Rahmenbedingungen für die Wiedereinstellung (z.B. Dauer der Einstellungszusage) aufstellt. Derartige Wiedereinstellungsklauseln können ein erhebliches Risiko für den Arbeitgeber darstellen, der darauf vertrauen muss, dass sich die Umstände, unter denen er die Einstellungszusage erteilt hat, bis zum Wiedereintrittszeitpunkt nicht zu seinem Nachteil verändern2. Auch für den betroffenen Arbeitnehmer besteht eine nicht unerhebliche Rechtsunsicherheit, da die Auslegung der Reichweite unbedingter Wiedereinstellungsklauseln durch die Gerichte nicht immer vorhersehbar ist3.

3

Häufig finden sich deshalb in der Praxis sog. bedingte Wiedereinstellungszusagen. Mit ihnen kann der Arbeitgeber seine Zusage zur Wiedereinstellung ausdrücklich von dem Vorliegen ganz bestimmter Voraussetzungen abhängig machen. Beispielsweise kann eine Klausel vorsehen, dass das Recht auf Wiedereinstellung bei einer schlechten Auftrags- oder Beschäftigungslage oder bei einer Betriebsstilllegung entfällt4. Die Wiedereinstellungszusage kann aber auch in der Form eingeschränkt sein, dass die vorübergehende Beendigung des Arbeitsverhältnisses einem konkreten Zweck dienen soll und die Zusage entfällt, soweit sich der ehemalige Arbeitnehmer nicht dem Zweck entsprechend verhält5. Schließlich gibt es auch TVe, in denen sich die Wiedereinstellungszusage darauf beschränkt, dass der frühere Arbeitnehmer bei der zukünftigen Besetzung freier Arbeitsplätze externen Bewerbern gegenüber eine bevorzugte 1 Vgl. BAG v. 24.8.2006 – 8 AZR 317/05, NZA 2007, 1287. 2 Schrader/Straube, NZA-RR 2003, 337 (339); vgl. auch Thüsing/Braun/Mengel/Burg, 5. Kap. Wiedereinstellung Rz. 1, die sogar von einem unzulässigen Eingriff in die Vertragsfreiheit des Arbeitgebers ausgehen, wenn die Wiedereinstellungsklausel eine unbedingte Verpflichtung zur Einstellung enthält. 3 Vgl. hierzu BAG v. 15.7.1982 – 2 AZR 1054/79; ArbG Bonn v. 13.10.1999 – 5 Ca 1311/99 EU, EWiR 2000, 317; das Gericht hat hier den Standpunkt vertreten, dass eine einfache Wiedereinstellungszusage stets dahingehend auszulegen sei, dass eine Wiedereinstellung nur im Rahmen der betrieblichen Möglichkeiten und des Auftragsbestandes erfolgen soll; hierzu kritisch Moll/Reufels, Kurzkommentar zum Urteil des ArbG Bonn, EWiR 2000, 317. 4 Schrader/Straube, NZA-RR 2003, 337 (340). 5 Vgl. zu einer solchen Regelung in einer Betriebsvereinbarung LAG Hessen v. 10.9.1999 – 13 Sa 2769/98.

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Berücksichtigung findet (vgl. Rz. 7, 11)1. Auch wenn solche bedingten Wiedereinstellungszusagen beiden Parteien ein deutlich höheres Maß an Rechtssicherheit bieten, ist es nicht auszuschließen, dass sich im Falle einer gerichtlichen Überprüfung auch hier Auslegungsschwierigkeiten ergeben. Dies zeigt beispielsweise eine Entscheidung des LAG Hessen zur Auslegung einer Wiedereinstellungszusage in einer Betriebsvereinbarung recht deutlich2. Das Gericht hat einer Wiedereinstellungszusage, die nach dem ausdrücklich zum Ausdruck gebrachten Willen des Arbeitgebers nur für den Fall des Vorhandenseins eines geeigneten Arbeitsplatzes gelten sollte, im Ergebnis doch die Wirkung einer unbedingten Wiedereinstellungszusage beigemessen. Es hat dies damit begründet, dass trotz des eindeutigen Wortlauts der Klausel für den Arbeitgeber die weitergehende Verpflichtung bestanden hätte, gegebenenfalls den Zuschnitt bestehender Stellen im Rahmen einer Umorganisation zu ändern, um auf diese Weise eine Wiedereinstellung er ermöglichen. Neben der Möglichkeit, die Wirkung und damit aus Arbeitgebersicht das Risiko einer Wiedereinstellungszusage durch inhaltliche Beschränkungen zu steuern, kommt auch eine Befristung der Zusage in Betracht. Befristete Wiedereinstellungszusagen zeichnen sich dadurch aus, dass sie nur bis zu einem bestimmten Zeitpunkt gelten sollen. In der Regel muss sich der ehemalige Arbeitnehmer innerhalb eines in der Zusage definierten Zeitraums gegenüber dem Arbeitgeber erklären, wenn er von der Möglichkeit zur Wiedereinstellung Gebrauch machen möchte (vgl. Rz. 8, 21). Äußert sich der Adressat der Zusage erst nach Ablauf der gesetzten Frist, wird in diesen Fällen kein neues Arbeitsverhältnis mit dem alten Arbeitgeber begründet.

4

Inhaltlich gehen tarifvertragliche Wiedereinstellungsklauseln oftmals über den von der Rechtsprechung entwickelten allgemeinen Wiedereinstellungsanspruch, der vor allem bei Veränderungen der tatsächlichen Umstände während des Laufs der Kündigungsfrist entsteht3, hinaus4. In der Vergangenheit spielten Wiedereinstellungsklauseln insbesondere im Zusammenhang mit Arbeitskämpfen eine wichtige Rolle. Arbeitgeber konnten sich als Antwort auf langandauernde Streikmaßnahmen mittels der sog. „lösenden Aussperrung“ von ihren Arbeitnehmern trennen5. Nach Beendigung des Arbeitskampfes stand dann oftmals die Frage der Wiedereinstellung dieser Arbeitnehmer im Raum. Wiedereinstellungsvereinbarungen waren deshalb zwischen den TVParteien bereits in den 1920er Jahren ein beliebtes Instrument, um die streikbedingt eingetretenen Lücken in der Belegschaft möglichst schnell wieder zu

5

1 Vgl. hierzu auch Kleinebrink, ArbRB 2008, 317 (319); § 59 BAT sah eine Soll-Regelung vor. 2 LAG Hessen v. 10.11.1999 – 13 Sa 2769/98; s. dazu auch Schrader/Straube, NZA-RR 2003, 337 (340). 3 Vgl. hierzu BAG v. 27.2.1997 – 2 AZR 160/96, DB 1997, 1414; BAG v. 6.8.1997 – 7 AZR 557/96, NZA 1998, 254; BAG v. 4.12.1997 – 2 AZR 140/97, DB 1998, 1087; vgl. hierzu allgemein Boewer, NZA 1999, 1121 ff. 4 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 2135 f.: Der Wiedereinstellungsanspruch kann vom richterrechtlichen zum tarifrechtlichen Anspruch gemacht werden oder aber die Grenzen des richterlichen Anspruchs überschreiten. 5 Thüsing/Braun/Mengel/Burg, 5. Kap., Wiedereinstellung Rz. 3.

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Rz. 6

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schließen1. Heute ist die lösende Aussperrung dagegen nur noch in Ausnahmefällen rechtmäßig. Das BAG geht bereits seit Mitte der 1950er Jahre davon aus, dass rechtmäßige Streiks lediglich zu einer Suspendierung des Arbeitsverhältnisses führen2 und hat mit einer grundlegenden Entscheidung aus dem Jahr 1971 Entsprechendes für die Aussperrung bestätigt3. Der Anwendungsbereich für Wiedereinstellungsvereinbarungen ist damit im Bereich des Arbeitskampfrechts im Wesentlichen entfallen. 6

In der Gegenwart haben sich für Wiedereinstellungsklauseln die folgenden Fallgruppen herausgebildet: In der Praxis finden sich Wiedereinstellungszusagen überwiegend im Zusammenhang mit dem Ausspruch betriebsbedingter Kündigungen (vgl. dazu Rz. 10 )4. Relevant wird diese Fallgruppe insbesondere auch bei Saisonbetrieben sowie Unternehmen des Baugewerbes. Dort werden regelmäßig zum Saisonende bzw. zum Beginn der Schlechtwetterperiode Kündigungen ausgesprochen, die jedoch mit der Zusage an die Arbeitnehmer verbunden werden, sie zum Saisonbeginn wieder einzustellen. Ebenfalls zu finden sind Wiedereinstellungszusagen bei FirmenTVen in der Gestalt sog. SanierungsTVe5 (vgl. dazu auch Teil 12). Schließlich gibt es tarifvertragliche Regelungen, die zum Beispiel eine Wiedereinstellung nach der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit nach überwundener Berufsunfähigkeit vorsehen6, oder die Arbeitnehmern, die zur Betreuung ihres Kindes über die nach dem BEEG gesetzlich bestehenden Zeiträume hinaus aus dem Arbeitsverhältnis ausscheiden, Wiedereinstellungsanspruch gewähren (vgl. dazu Rz. 19).

II. Beispiele § 13 Abs. 6 des Manteltarifvertrages für die chemische Industrie – Wiedereinstellung und betriebsbedingte Umsetzungen 7

1. Aus betriebsbedingten Gründen entlassene Arbeitnehmer, die länger als 12 Monate dem Betrieb angehört haben und deren Entlassung nicht mehr als 12 Monate zurückliegt, werden im Falle der Neubesetzung von für sie geeigneten Arbeitsplätzen bevorzugt wieder eingestellt. Kommen mehr entlassene Arbeitnehmer in Betracht, als Arbeitsplätze wieder zur Verfügung stehen, hat der Arbeitgeber unter Beachtung des Mitbestimmungsrechtes des Betriebsrates gemäß § 99 BetrVG eine sachgerechte Auswahl zu treffen. 2. (…)

1 2 3 4 5 6

Vgl. z.B. RG v. 20.6.1925 – III 371/24, RGZ 111, 166. BAG v. 28.1.1955 – GS 1/54, BB 1955, 605. BAG v. 21.4.1971 – GS 1/68, BB 1971, 701. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 2135. Vgl. hierzu allgemein Kleinebrink, ArbRB 2008, 279. So z.B. § 59 Abs. 5 BAT (Stand: 1.11.2006).

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Rz. 10 Teil 5 (23)

§ 13 Ziff. 4 des Manteltarifvertrages für Beschäftigte der Metall- und Elektroindustrie (Südbaden) – Wiedereinstellung nach Zeiten der Kindererziehung 13.4.1 Beschäftigte, die im Anschluss an den gesetzlichen Erziehungsurlaub zur Betreuung eines Kindes aus dem Betrieb ausscheiden, haben einmalig einen Anspruch auf Wiedereinstellung auf einen vergleichbaren und gleichwertigen Arbeitsplatz, es sei denn, ein geeigneter Arbeitsplatz ist zum Zeitpunkt der Wiedereinstellung nicht vorhanden und steht auf absehbare Zeit nicht zur Verfügung.

8

13.4.2 Voraussetzung ist eine mindestens 5-jährige ununterbrochene Betriebszugehörigkeit. 13.4.3 Der Anspruch ist bis zur Vollendung des 5. Lebensjahres des Kindes begrenzt. 13.4.4 (…) 13.4.5 Frühere Beschäftigungszeiten werden bei Wiedereinstellung angerechnet. 13.4.6 Die Wiederaufnahme des Arbeitsverhältnisses ist mindestens 6 Monate vorher anzukündigen. 13.4.7 Betriebe mit weniger als 500 Beschäftigten sind von dieser Regelung ausgenommen. § 30 Abs. 2 des Tarifvertrages für den öffentlichen Dienst (TVöD) – Befristete Arbeitsverträge (1) (…)

9

(2) Kalendermäßig befristete Arbeitsverträge mit sachlichem Grund sind nur zulässig, wenn die Dauer des einzelnen Vertrages fünf Jahre nicht übersteigt; weitergehende Regelungen im Sinne von § 23 TzBfG bleiben unberührt. Beschäftigte mit einem Arbeitsvertrag nach Satz 1 sind bei der Besetzung von Dauerarbeitsplätzen bevorzugt zu berücksichtigen, wenn die sachlichen und persönlichen Voraussetzungen erfüllt sind.

III. Kommentierung 1. § 13 Abs. 6 MTV Chemie (Rz. 7) In tarifvertraglichen Wiedereinstellungsklauseln wird der Geltungsbereich der Regelung zunächst oftmals auf bestimmte Konstellationen beschränkt. So verhält es sich auch in § 13 Abs. 6 MTV Chemie. Nach Ziff. 1 der Regelung werden betriebsbedingt gekündigte Arbeitnehmer (persönlicher Geltungsbereich) bei der Neubesetzung der weggefallenen Stellen bevorzugt wiedereingestellt. Die Vorschrift betrifft damit den für Wiedereinstellungszusagen bereits erwähnten Hauptanwendungsfall der betriebsbedingten Kündigung. Anlass für die Verknüpfung einer betriebsbedingten Kündigung mit einer Wiedereinstellungszusage ist regelmäßig, dass im Zeitpunkt der Kündigung entweder noch nicht absehbar ist, wann genau in Zukunft wieder entsprechende Beschäfti-

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Rz. 11

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gungsmöglichkeiten bestehen werden, oder dass eine Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses dem Arbeitgeber für den vorhersehbaren Überbrückungszeitraum nicht zuzumuten ist1. 11

Betrachtet man die Regelung in § 13 Abs. 6 Ziff. 1 MTV Chemie, so fällt auf, dass dem Arbeitnehmer durch die Regelung kein Anspruch auf Wiedereinstellung, sondern lediglich ein Anspruch auf bevorzugte Berücksichtigung eingeräumt wird. Darüber hinaus handelt es sich um eine bedingte Zusage, da der Anspruch nur für den Fall bestehen soll, dass sich der Arbeitgeber für eine Neubesetzung der zunächst entfallenden Stellen entscheidet.

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Wie für Wiedereinstellungsklauseln typisch wird auch durch § 13 Abs. 6 Ziff. 1 MTV Chemie eine bestimmte Frist vorgegeben, innerhalb derer die bevorzugte Berücksichtigung von dem ausgeschiedenen Arbeitnehmer geltend gemacht werden muss. Diese beträgt zwölf Monate ab dem Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Es handelt sich um eine befristete Wiedereinstellungszusage. Die zeitliche Begrenzung der Zusage macht insbesondere aus Sicht des Arbeitgebers Sinn, damit er sich nicht noch Jahre später in unter Umständen wirtschaftlich schlechten Zeiten einer Forderung auf Wiedereinstellung ausgesetzt sieht2. Schließlich wird der Anspruch auf bevorzugte Wiedereinstellung noch an eine weitere Voraussetzung geknüpft: Er kann nur von solchen Mitarbeitern der chemischen Industrie geltend gemacht werden, die eine Betriebszugehörigkeit von mehr als zwölf Monaten vorweisen können3.

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Probleme ergeben sich regelmäßig dann, wenn eine größere Anzahl von Arbeitnehmern entlassen werden muss, als später Arbeitsplätze für eine mögliche Wiedereinstellung zur Verfügung stehen. Dann stellt sich die Frage nach der Auswahl der privilegierten Personen. Grundsätzlich sind die TV-Parteien in der Bestimmung des berechtigten Personenkreises und der Auswahlkriterien frei. Sie sind insbesondere nicht zwingend an das Gebot der sozialen Auswahl gemäß § 1 Abs. 3 KSchG gebunden4. Stattdessen kann der TV bestimmen, dass auch andere als soziale Gesichtspunkte bei der Auswahl Berücksichtigung finden sollen. So kann er beispielsweise vorsehen, dass innerbetriebliche Bewerber wiedereinzustellenden Arbeitnehmern vorzuziehen sind5. Ebenso könnten die TV-Parteien vereinbaren, dass ältere Arbeitnehmer bevorzugt wiedereinzustellen sind. Das LAG Köln hat zuletzt entschieden, dass eine bevorzugte Be1 Schrader/Straube, NZA-RR 2003, 337 (342) m.w.N. 2 Nach Ansicht von Löwisch/Rieble soll das beendete Arbeitsverhältnis, wenn der TV hierzu keine Regelungen vorsieht, spätestens nach fünf Jahren (Arg. § 624 BGB) „verblasst“ sein, so dass später keine Wiedereinstellung in Betracht kommt, vgl. Löwisch/ Rieble, § 1 TVG Rz. 2139. 3 In anderen TVen wird stattdessen oder als weitere Anspruchsvoraussetzung auf eine bestimmte Betriebsgröße abgestellt. 4 BAG v. 15.3.1984 – 2 AZR 24/83, NZA 1984, 226: Das geltende Arbeitsrecht kenne weder eine „sozialwidrige Einstellung“ noch eine „sozial ungerechtfertigte Nichteinstellung“; beachte aber: Eine Ausnahme soll laut BAG gelten, wenn sich der Arbeitgeber noch während der Kündigungsfrist entschließt, den Betrieb mit einer geringeren Anzahl von Arbeitnehmern fortzuführen, vgl. BAG v. 4.12.1997 – 2 AZR 140/97, DB 1998, 1087; vgl. dazu auch Boewer, NZA 1999, 1177. 5 Kleinebrink, ArbRB 2008, 317 (319).

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rücksichtigung älterer Arbeitnehmer bei der Wiedereinstellung keine unzulässige Altersdiskriminierung darstellt1. Zwar ist nach Ansicht des Gerichts in einer derartigen Regelung eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters zu sehen. Diese erweise sich jedoch durch das berechtigte Anliegen, ältere Arbeitnehmer im Erwerbsleben wegen der für sie bestehenden faktischen Nachteile besonders zu schützen, als gerechtfertigt. Der Regelung des § 13 Abs. 6 Ziff. 1 des MTV Chemie lassen sich keine konkreten Vorgaben hinsichtlich der Auswahl der wiedereinzustellenden Mitarbeiter entnehmen. Nach Ansicht des BAG hat der Arbeitgeber in diesen Fällen gemäß § 315 BGB nach billigem Ermessen zu entscheiden2. Dem entspricht die tarifliche Regelung im zweiten Absatz der Ziff. 1, nach der der Arbeitgeber eine „sachgerechte“ Auswahl zu treffen hat. Die Vorschrift räumt ihm ein Auswahlermessen ein. Dabei ist der Arbeitgeber gemäß § 315 Abs. 1 BGB verpflichtet, bei der Prüfung des Wiedereinstellungsantrags alle wesentlichen Umstände zu würdigen. Er hat zumindest auch die sozialen Belange der um die neu zu besetzenden Stellen konkurrierenden Arbeitnehmer mit zu berücksichtigen3. Weiterhin ergibt sich aus dem zweiten Absatz der Ziff. 1, dass der Arbeitgeber im Rahmen einer Wiedereinstellungsentscheidung die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats zu beachten hat. Ob dem Betriebsrat bei der Wiedereinstellung ehemaliger Mitarbeiter gemäß § 99 BetrVG ein Mitbestimmungsrecht zusteht, wurde lange Zeit insbesondere im Schrifttum diskutiert und überwiegend verneint4. Zur Begründung ist vorgebracht worden, dass der Arbeitnehmer bereits einmal in den Betrieb eingegliedert war und dass es sich deshalb bei der Wiedereinstellung nicht mehr um eine klassische Einstellung im Sinne des § 99 BetrVG handele5. Ferner wurde darauf verwiesen, dass das Beteiligungsrecht des Betriebsrats bei Einstellungen primär das Ziel verfolge, die Belegschaft im Falle von Einstellungen zu schützen. Dieser Zweck entfiele jedoch, wenn es um die Wiedereinstellung eines bereits im Unternehmen bekannten Arbeitnehmers gehe6. Andere Stimmen sprachen sich hingegen für ein Mitbestimmungsrecht aus und sahen ein wesentliches Argument dafür insbesondere darin, dass der Arbeitnehmer durch die Wiedereinstellung neu in den Betrieb eingegliedert werde, womit der Arbeitgeber das Beteiligungsrecht des Betriebsrats auslöse7.

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Mit einem Urteil aus dem Jahr 2001 schien das BAG in der Streitfrage Klarheit schaffen zu wollen und führte aus, dass eine Wiedereinstellung jedenfalls dann eine Einstellung i.S.v. § 95 BetrVG darstelle, wenn dem Arbeitgeber hinsicht-

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1 LAG Köln v. 11.5.2012 – 5 Sa 1009/10 (Revision eingelegt beim BAG unter dem Az. 7 AZR 752/12). 2 BAG v. 28.6.2000 – 7 AZR 904/98, DB 2000, 2171. 3 So BAG v. 23.1.1996 – 7 AZR 602/95, NZA 1996 823 (zu § 59 Abs. 5 BAT). 4 Vgl. z.B. Beckschulze, DB 1998, 417 (420 f.) m.w.N. 5 Vgl. Beckschulze, DB 1998, 417 (421) für Fälle, in denen es um die Wiedereinstellung eines Arbeitnehmers auf seinem „bisherigen“ Arbeitsplatz während des Laufs der Kündigungsfrist geht. 6 Vgl. hierzu auch Nicolai, MDR 2001, 1243 (1245). 7 Vgl. z.B. Bram/Rühl, NZA 1990, 752 (758).

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Rz. 16

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lich des Einsatzes des Arbeitnehmers nicht jeglicher Entscheidungsspielraum fehle1. 16

Blickt man auf den Wortlaut von § 13 Abs. 6 Ziff. 1 Abs. 2 MTV Chemie, wird man von einem Entscheidungsspielraum des Arbeitgebers hinsichtlich des Einsatzes des Arbeitnehmers ausgehen können. Die Klausel stellt nicht starr auf eine bevorzugte Berücksichtigung hinsichtlich des früher besetzten Arbeitsplatzes, sondern vielmehr flexibel auf jeden für den Bewerber geeigneten Arbeitsplatz ab. Damit verbleibt für den Arbeitgeber ein Entscheidungsspielraum im Sinne der Rechtsprechung. Ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats wird demnach in den dieser Tarifnorm unterfallenden Fällen regelmäßig zu bejahen sein. Dem Verweis in § 13 Abs. 6 Ziff. 1 Abs. 2 MTV Chemie auf § 99 BetrVG kommt damit lediglich eine deklaratorische Bedeutung zu.

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Es lässt sich jedoch nicht in allen Fällen von Wiedereinstellungszusagen so unproblematisch ein Beteiligungsrecht des Betriebsrats feststellen. Es stellt sich somit die Frage, wo die Grenze einer noch mitbestimmungspflichtigen Wiedereinstellung zu ziehen ist. Folgt man dem BAG und seinen in der oben genannten Entscheidung dargestellten Ausführungen, kann die Schwelle für einen ausreichenden Entscheidungsspielraum des Arbeitgebers selbst dann erreicht sein, wenn ein Arbeitnehmer nur auf einer einzigen freie Stelle im Unternehmen – bei der es sich nicht um seinen früheren Arbeitsplatz handelt –, eingesetzt werden kann. Dem BAG genügte offenbar schon der Umstand, dass bei Abgabe der Wiedereinstellungszusage weder der Zeitpunkt der Rückkehr feststand noch endgültig abzusehen war, welcher konkrete Arbeitsbereich dem Kläger im Falle der Wiedereinstellung zugewiesen werden würde2. Es sind damit nur wenige Fälle denkbar, in denen es an einem Entscheidungsspielraum des Arbeitgebers hinsichtlich des Einsatzes des Arbeitnehmers fehlt, sodass ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach §§ 95, 99 BetrVG ausgeschlossen wäre. Dies wird in Betracht zu ziehen sein, wenn die Stelle, auf der ein Arbeitnehmer eingesetzt werden soll, zum Zeitpunkt der Zusage bereits definitiv feststeht. In der Praxis ist davon insbesondere auszugehen, wenn sich die Wiedereinstellungszusage auf die Position bezieht, die der Arbeitnehmer vor der Beendigung seines Arbeitsverhältnisses innehatte. In anderen Fällen darf sich die Tätigkeit des Arbeitnehmers und ihr Umfeld innerhalb der Belegschaft jedenfalls nicht wesentlich verändern, wenn ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei der Wiedereinstellung ausgeschlossen sein soll3. Angesichts der offenen Fragen hinsichtlich der Beteiligungsrechte des Betriebsrats bei der Wiedereinstellung bleiben weitere klärende Entscheidungen des BAG abzuwarten.

1 BAG v. 5.4.2001 – 2 AZR 580/99, NZA 2001, 893; drei Jahre zuvor hatte der 1. Senat des BAG noch entschieden, dass eine Wiedereinstellung (nach einem ruhenden Arbeitsverhältnis) dann eine Einstellung im Sinne der §§ 95, 99 BetrVG darstelle, wenn sich die Umstände der Beschäftigung grundlegend änderten, vgl. BAG v. 28.4.1998 – 1 ABR 63/97, BB 1998, 2525. 2 BAG v. 5.4.2001 – 2 AZR 580/99, NZA 2001, 893. 3 Ähnlich auch Nicolai, MDR 2001, 1243, (1244) Kurzkommentar zum Urteil des BAG v. 5.4.2001.

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Wiedereinstellungsklauseln

Rz. 2 Teil 5 (23)

In der Praxis empfiehlt es sich schon aus Gründen der Rechtssicherheit, den Betriebsrat – so wie es § 13 Abs. 6 Ziff. 1 Abs. 2 MTV Chemie vorsieht – bei der Entscheidung über den Einsatz eines Mitarbeiters grundsätzlich miteinzubeziehen. Dies ist nicht zuletzt auch zur Risikovorbeugung ratsam. Wird ein Arbeitnehmer aufgrund einer Wiedereinstellungszusage mit neuem Arbeitsvertrag in den Betrieb eingegliedert, kann der Betriebsrat, wenn er nicht ordnungsgemäß beteiligt wurde, gemäß § 101 Satz 1 BetrVG dem Arbeitgeber gerichtlich auferlegen lassen, die Beschäftigung des Arbeitnehmers zu beenden. Dem Arbeitgeber droht die Verpflichtung zur Zahlung von Zwangsgeld (§ 101 Satz 2 BetrVG), wenn er eine solche gerichtliche Entscheidung nicht befolgt1.

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2. § 13 Ziff. 4 des MantelTVes für Beschäftigte der Metall- und Elektroindustrie (Südbaden) – Wiedereinstellung nach Zeiten der Kindererziehung (Rz. 8) Im Unterschied zu dem oben genannten Klauselbeispiel aus der chemischen Industrie (Rz. 7) ist die Ausgangskonstellation in § 13 Ziff. 4 des MantelTVes für Beschäftigte der Metall- und Elektroindustrie eine andere. Die Vorschrift sieht eine Wiedereinstellungsmöglichkeit nach Zeiten der Kindererziehung vor. Seit es mit dem BEEG bzw. dem früheren BErzGG gesetzliche Regelungen für Erziehungszeiten gibt, kommt TVen vor allem dann eine wichtige Bedeutung zu, wenn sie über die gesetzlich festgeschriebenen Ansprüche hinaus Möglichkeiten zur Wahrnehmung von Erziehungszeiten vorsehen2. § 13 Ziff. 4 des MantelTVes für die Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie bietet hierfür ein Beispiel. Nach Ziff. 4.1 können Beschäftigte, die nach Ablauf der gesetzlichen Elternzeit zur Betreuung ihres Kindes aus dem Betrieb ausscheiden3, einmalig die Wiedereinstellung auf einem vergleichbaren und gleichwertigen Arbeitsplatz beanspruchen. Die Klausel gewährt den Arbeitnehmern ausdrücklich einen Anspruch auf Wiedereinstellung. Allerdings steht auch dieser Anspruch unter einer Bedingung. Gemäß Ziff. 4.1 ist der Wiedereinstellungsanspruch ausgeschlossen, wenn es zum Zeitpunkt der Wiedereinstellung an einem geeigneten Arbeitsplatz fehlt und ein solcher auf absehbare Zeit auch nicht zur Verfügung steht.

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Schließlich werden in § 13 Ziff. 4 des MTV der Metall- und Elektroindustrie weitere Anspruchskriterien aufgestellt. So setzt der Wiedereinstellungsanspruch für die Beschäftigten eine mindestens fünfjährige ununterbrochene Betriebszugehörigkeit voraus (vgl. § 13 Ziff. 4.2). Darüber hinaus kann die Wiedereinstellung nach Zeiten der Kindererziehung nur in solchen Betrieben beansprucht werden, in denen nicht weniger als 500 Mitarbeiter beschäftigt werden (vgl. § 13 Ziff. 4.7). Sind die genannten Anspruchsvoraussetzungen erfüllt,

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1 Kleinebrink, ArbRB 2008, 317 (320). 2 § 9 des Manteltarifvertrages für das private Versicherungsgewerbe sieht bspw. nach Ablauf der gesetzlichen Elternzeit die Möglichkeit einer darüber hinausgehenden tariflichen Elternzeit von bis zu sechs Monaten vor. 3 Beachte: Während der Elternzeit ruhen die Hauptleistungspflichten aus dem Arbeitsverhältnis kraft Gesetzes lediglich, vgl. bereits BAG v. 24.5.1995 – 10 AZR 619/94, NZA 1996, 31.

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Teil 5 (23)

Rz. 21

Wiedereinstellungsklauseln

kann die Wiedereinstellung bis zur Vollendung des 5. Lebensjahres des Kindes geltend gemacht werden (befristete Wiedereinstellungszusage). Der Anspruch gemäß Ziff. 4.3 ist insoweit zeitlich begrenzt. 21

Hinsichtlich der Geltendmachung des Wiedereinstellungsanspruchs stellt sich regelmäßig die Frage, von wem die Initiative für den Abschluss des neuen Arbeitsvertrags ausgehen muss. Man spricht in diesem Zusammenhang von der sog. „Initiativlast“1. TVe sehen oftmals auch hierzu Regelungen vor2. § 13 des MantelTVes für die Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie enthält in seiner Ziff. 4.6 eine Regelung über das Verfahren der Geltendmachung. Möchte der Arbeitnehmer nach Zeiten der Kindererziehung in den Betrieb zurückkehren, ist er zur Ankündigung seiner Rückkehr verpflichtet. Er hat diese mindestens sechs Monate im Voraus anzuzeigen. Ferner bietet Ziff. 4.5 ein Beispiel dafür, dass in TVen nicht selten auch die Folgen der Wiedereinstellung geregelt werden. So sieht die Klausel vor, dass im Falle einer Wiedereinstellung und der damit einhergehenden Neubegründung des Arbeitsverhältnisses die früheren Betriebszugehörigkeiten angerechnet werden.

3. § 30 Abs. 2 TVöD (Rz. 9) 22

§ 30 Abs. 2 TVöD steht abschließend für ein Klauselbeispiel, aus dem sich für den betroffenen Arbeitnehmer weder ein Anspruch auf Wiedereinstellung noch ein Anspruch auf bevorzugte Wiedereinstellung herleiten lässt. Es handelt es sich um die Nachfolgeregelung zur früheren Protokollnotiz Nr. 4 zu Nr. 1 SR 2y BAT, die nahezu identisch in § 30 Abs. 2 TVöD übernommen wurde. Gemäß § 30 Abs. 2 Satz 2 TVöD sind Beschäftigte mit einem befristeten Arbeitsvertrag nach § 30 Abs. 2 Satz 1 TVöD bei der Besetzung von Dauerarbeitsplätzen bevorzugt zu berücksichtigen, soweit die sachlichen und persönlichen Voraussetzungen erfüllt sind.

23

Das BAG hatte bereits im Jahr 2003 über die mit § 30 Abs. 2 TVöD wortgleiche Protokollnotiz Nr. 4 zu Nr. 1 SR 2y BAT zu entscheiden und hat festgestellt, dass die Klausel zu unbestimmt sei und deshalb als Anspruchsgrundlage für den Abschluss eines unbefristeten Arbeitsvertrags nicht in Betracht komme3. Anspruchsgrundlage für eine Einstellung in den öffentlichen Dienst könne nach Ansicht des Gerichts im Übrigen auch im Anwendungsbereich der Regelung allein Art. 33 Abs. 2 GG sein, der für die Einstellung eines Bewerbers allein auf dessen Qualifikation abstellt. Damit werde jedem garantiert, bei seiner Bewerbung nach den in Art. 33 Abs. 2 GG aufgestellten Merkmalen beurteilt zu werden.

24

Anstatt ein allgemeines Anstellungsgebot zu begründen, wird nach Auffassung des BAG durch die Tarifnorm allein das Ermessen des Arbeitgebers bei der Aus1 Vgl. z.B. Thüsing/Braun/Mengel/Burg, 5. Kap., Wiedereinstellung Rz. 4; Kleinebrink, ArbRB 2008, 317 (319). 2 Vgl. z.B. § 46 Abs. 3 Satz 2 des Rahmentarifvertrages des Maler- und Lackiererhandwerks im Bund (ohne Saarland), wonach der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über die Wiederaufnahme der Arbeit im Saisonbetrieb zu unterrichten hat. 3 BAG v. 2.7.2003 – 7 AZR 529/02, DB 2004, 80.

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Zulagen-/Zuschlagsregelungen

wahl der Bewerber für Dauerarbeitsplätze eingeschränkt. Diese Ermessensreduzierung könne jedoch nur für den Fall der im wesentlichen gleichen Eignung zweier Bewerber gelten. Nur dann dürfe die vorherige befristete Beschäftigung ausschlaggebend sein. Die Klausel hindere den Arbeitgeber hingegen nicht, den freien Arbeitsplatz mit einem aus seiner Sicht besser geeigneten Bewerber zu besetzen, um so gegenüber diesem Arbeitnehmer seiner aus Art. 33 Abs. 2 GG folgenden Pflicht zur „Bestenauslese“ nachzukommen1. Entsprechendes wird heute für den wortgleichen § 30 Abs. 2 TVöD gelten.

25

(24) Zulagen-/Zuschlagsregelungen I. Zweck und Kontext Zulagen und Zuschläge sind gesondert ausgewiesene Vergütungsbestandteile, die für tatsächlich geleistete Arbeit neben dem Grundentgelt gezahlt werden. Sie dienen der Vergütung besonderer, mit der Arbeit verbundener Leistungen und erfüllen damit einen besonderen Zweck innerhalb des Arbeitsverhältnisses, Rechtlich können sie daher auch abweichend vom Grundentgelt behandelt werden2.

1

Die Unterscheidung zwischen Zulagen und Zuschlägen hat einen steuer-/sozialversicherungsrechtlichen Hintergrund. Während Zulagen stets der Steuerund Sozialversicherungspflicht unterliegen, gilt dies für Zuschläge nur in bestimmten Grenzen (s. § 3b EStG).

2

Zulagen und Zuschläge werden in mannigfaltiger Form gewährt. Zu nennen sind bspw.:

3

– Erschwerniszulagen, die als Ausgleich für besondere Belastungen (Schmutz, Erschütterung, Hitze, Gefahren, usw.) gewährt werden3. – Leistungszulagen, mit denen besondere Leistungen vergütet werden sollen. – Ausgleichszulagen bei Ausübung einer höherwertigen Tätigkeit4. – Funktionszulagen, die dem Ausgleich für die Übernahme zusätzlicher Verantwortung dienen5. – Sozialzulagen, wie sie teilweise noch im öffentlichen Dienst anzutreffen sind. – (Wechsel-)Schichtzulagen6. 1 2 3 4 5

BAG v. 2.7.2003 – 7 AZR 529/02, DB 2004, 80. MünchArbR/Krause, § 57 Rz. 50. So bspw. § 6 Bundesentgelttarifvertrag für die chemische Industrie; § 19 TVöD. So bspw. § 3 Ziff. 5 Bundesentgelttarifvertrag für die chemische Industrie; § 14 TVöD. So bspw. die nach § 5 Bundesentgelttarifvertrag für die chemische Industrie zu gewährende Vorarbeiterzulage. 6 So bspw. geregelt in § 4 III MTV für die chemische Industrie.

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Rz. 4

Zulagen-/Zuschlagsregelungen

– Nachtarbeitszuschlag, wie er vorbehaltlich einer tarifvertraglichen Regelung nach Maßgabe des § 6 Abs. 5 ArbZG zu gewähren ist. – Mehrarbeitszuschlag, worunter in TVen zumeist der Zuschlag für angeordnete Arbeit zu verstehen ist, die über die tarifliche wöchentliche oder über die in diesem Rahmen betrieblich festgelegte regelmäßige Arbeitszeit hinausgeht1. – Sonn-/Feiertagszuschlag, auf den es im Gegensatz zur Nachtarbeit keinen gesetzlichen Anspruch gibt2. 4

Von den beispielhaft aufgeführten Zulagen und Zuschlägen abzugrenzen sind Aufwandsentschädigungen, die eine Ersatzleistung für ein vom Arbeitnehmer erbrachtes Vermögensopfer darstellen. Sie sind nicht dem steuer- und beitragspflichtigen Arbeitsentgelt zuzurechnen.

5

§ 3b EStG bestimmt die Bedingungen für die Steuerfreiheit, legt indes nicht fest, dass diese Zuschläge in der dort genannten Höhe auch gezahlt werden müssen. So sind nach § 3b Abs. 1 EStG Zuschläge, die für tatsächlich geleistete Sonntags-, Feiertags- oder Nachtarbeit neben dem Grundlohn gezahlt werden, steuerfrei, soweit sie den jeweils gesetzlich bestimmten Prozentsatz des Grundlohns nicht übersteigen. Als Grundlohn definiert das Gesetz den laufenden Arbeitslohn, der dem Arbeitnehmer bei der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit für den jeweiligen Lohnzahlungszeitraum zusteht; er ist in einen Stundenlohn umzurechnen und mit höchstens 50 Euro anzusetzen. Ziff. 30 der Lohnsteuer-Richtlinien präzisiert den Begriff des Grundlohnes. Danach gehören auch Ansprüche auf Sachbezüge, Aufwendungszuschüsse und vermögenswirksame Leistungen zum Grundlohn, wenn sie dem laufenden Arbeitslohn zuzurechnen sind.

6

Die Anwendung des § 3b EStG erfordert einen Einzelnachweis der geleisteten Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit, um im Falle der Lohnsteuerprüfung die Voraussetzungen für die Steuerfreiheit der gezahlten Zuschläge zu belegen. Denn steuerfrei sind nur Zuschläge, die für tatsächlich geleistete Sonntags-, Feiertags- oder Nachtarbeit neben dem Grundentgelt gezahlt werden; anderenfalls unterliegen sie der Steuer- und Sozialversicherung. Vereinbaren die Arbeitsvertragsparteien zur Gewährleistung eines verstetigten Einkommens ein fixes Gesamtentgelt, das sich aus dem Grundentgelt und pauschalierten Zuschlägen für Sonn-, Feiertags- und Nachtarbeit zusammensetzt, sind auch diese im Rahmen des § 3b EStG steuerfrei, wenn sie getrennt vom Grundentgelt vereinbart und für den tatsächlichen Sonntags-, Feiertags- und Nacht-Einsatz gezahlt werden3.

II. Beispiele 7

Die nachfolgenden Beispiele für tarifvertragliche Zulagen-/Zuschlagsregelungen stammen aus dem Bereich der chemischen Industrie. Sie finden sich so 1 So bspw. geregelt in § 4 III MTV für die chemische Industrie. 2 BAG v. 11.1.2006 – 5 AZR 97/05, NZA 2006, 372. 3 BFH v. 17.6.2010 – VI R 50/09, DStR 2010, 1886.

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Zulagen-/Zuschlagsregelungen

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oder in ähnlicher Form auch in TVen anderer Branchen wieder, weshalb im Folgenden auf Beispiele anderer Branchen verzichtet, wohl aber hierauf im Rahmen der Kommentierung eingegangen wird. § 4 MTV Chemie – Zuschläge und Schichtzulagen

8

I. Zuschläge für Mehrarbeit, Nachtarbeit, Sonn- und Feiertagsarbeit Die Zuschläge betragen 1. 2. 3. 4. 5. 6.

für Mehrarbeit 25 % für regelmäßige Nachtarbeit 15 % für nichtregelmäßige Nachtarbeit 20 % für Arbeiten an Sonntagen und gesetzlichen Feiertagen 60 % für Arbeiten am 24. Dezember ab 13 Uhr 100 % für Arbeiten an den Wochenfeiertagen, an denen aufgrund gesetzlicher Bestimmungen der Arbeitsausfall zu vergüten ist; für Arbeiten am 1. Mai, an den Oster-, Pfingst- und Weihnachtsfeiertagen, am Neujahrstag, auch dann, wenn diese Feiertage auf einen Sonntag oder auf einen an sich arbeitsfreien Werktag fallen 150 %

II. Berechnung der Zuschläge 1. Berechnungsgrundlage für die Zuschläge und jede nicht mit dem Monatsentgelt abgegoltene Arbeitsstunde ist der auf eine Arbeitsstunde entfallende Teil1 des Monatsentgelts für den laufenden oder letzten Entgeltabrechnungszeitraum – ohne Zuschläge gemäß Abschnitt I. 2. Für die Berechnung von Mehrarbeits-, Nachtarbeits- und Sonntagsarbeitszuschlägen bleibt die Schichtzulage außer Betracht. Feiertagszuschläge werden hingegen auch von der Schichtzulage berechnet. 3. Treffen Zuschläge von 60 % oder höhere Zuschläge mit anderen Zuschlägen zusammen, so ist nur der höhere Zuschlag zu zahlen. Ausgenommen hiervon sind die Zuschläge für Nachtarbeit nach Abschnitt I Ziffern 2 und 3, die in jedem Falle zu zahlen sind. 4. Wird stundenweise Sonntags- oder Feiertagsarbeit angeordnet, so ist der sich nach den vorstehenden Bestimmungen ergebende Betrag für mindestens drei Arbeitsstunden zu zahlen. Dies gilt jedoch nicht, wenn die Sonntags- und Feiertagsarbeit unmittelbar vor oder in unmittelbarem Anschluss an die Werktagsarbeit geleistet wird. III. Schichtzulage 1. Arbeitnehmer, die in vollkontinuierlicher oder teilkontinuierlicher Wechselschichtarbeit eingesetzt sind und die regelmäßig in ihrem Schichtenturnus Nachtschichten leisten, erhalten nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen eine Schichtzulage.

1 Der Divisor zur Ermittlung des Stundenentgelts wird durch Multiplikation der jeweiligen regelmäßigen tariflichen Wochenarbeitszeit mit dem Faktor 4,35 festgestellt.

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Rz. 8

Zulagen-/Zuschlagsregelungen

Als vollkontinuierlich im Sinne dieser Bestimmungen gelten solche Arbeitsplätze, die auch in der Zeit von Samstag 14 Uhr bis Montag 6 Uhr ganz oder zeitweise besetzt sind. Als teilkontinuierlich gelten solche kontinuierlich besetzten Arbeitsplätze, die von Samstag 14 Uhr bis Montag 6 Uhr nicht, auch nicht zeitweise, besetzt sind. Sind die Arbeitsplätze an einzelnen Samstagen länger als bis 14 Uhr besetzt, wird aber diese Zeit innerhalb eines Zeitraumes von 3 Wochen am Freitag oder am Samstag vor 14 Uhr ausgeglichen, so gilt die Teilkontinuität als gegeben. Der in den Absätzen 2 und 3 genannte Zeitraum von Samstag 14 Uhr bis Montag 6 Uhr kann im Einvernehmen mit dem Betriebsrat aus Verkehrsgründen am Samstag und am Montag geringfügig verkürzt werden; die Teilkontinuität der Arbeitsplätze bleibt in diesem Fall erhalten. 2. Die Schichtzulage beträgt für Schichtarbeit – in vollkontinuierlichen Betrieben – in teilkontinuierlichen Betrieben

10 % 6%

des Tarifentgelts. Ist der Arbeitnehmer im Abrechnungszeitraum nur zeitweise in Wechselschicht eingesetzt, ist für die Berechnung der Schichtzulage je Arbeitsstunde dieses Zeitraums ein Tarifstundenentgelt in Ansatz zu bringen. Überschreitet die Schichtarbeit im Durchschnitt des Schichtenturnus die regelmäßige tarifliche wöchentliche Arbeitszeit, so ist für die Berechnung der Schichtzulage je zusätzliche Stunde ein Tarifstundenentgelt mit in Ansatz zu bringen. 3. Die Schichtzulage ist neben den Zuschlägen nach Abschnitt I zu zahlen. Die Schichtzulage erhalten auch diejenigen Arbeitnehmer, die nur zeitweise an kontinuierlichen Arbeitsplätzen volle Nachtschichten leisten, und zwar für die Dauer dieser Nachtschichten. Das Gleiche gilt für diejenigen Arbeitnehmer, die an kontinuierlichen Arbeitsplätzen ausschließlich Nachtschichten leisten. Die Schichtzulage erhalten auch diejenigen Arbeitnehmer, die vertretungsweise mindestens für die Dauer eines normalen Wechsels zwischen den Tag- und Nachtschichten in kontinuierlicher Wechselschichtarbeit eingesetzt sind, und zwar für die Dauer dieses Einsatzes. IV. Pauschalierung 1. Die nach den vorstehenden Bestimmungen zu zahlenden Vergütungen können durch Pauschale abgegolten werden. 2. Bei der Pauschalierung muss erkennbar sein, welche Vergütungsarten mit der Pauschale abgegolten werden sollen. Soweit hierbei steuerfreie tarifliche Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit pauschaliert werden, muss deren Anteil an der Pauschale gesondert festgesetzt oder feststellbar sein. 3. Die Pauschale muss mindestens den durchschnittlich im Zeitraum eines Jahres anfallenden Einzelleistungen entsprechen. Verändern sich die Grundlagen die-

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Zulagen-/Zuschlagsregelungen

Rz. 11 Teil 5 (24)

ser Berechnung, so ist die Pauschale entsprechend anzupassen; geringe Abweichungen können jedoch unberücksichtigt bleiben. 9

§ 3 Bundesentgelttarifvertrag Chemie: Allg. Bestimmungen 5. Übt ein in die Entgeltgruppen E 1 bis E 6 eingruppierter Arbeitnehmer auf Anordnung des Vorgesetzten vorübergehend (mindestens eine volle Schicht) vollwertig eine Tätigkeit aus, die nicht zu seinem persönlichen Arbeitsbereich gehört und die der Voraussetzung einer höheren Entgeltgruppe entspricht, ist ihm für diese Zeit das Tarifentgelt der höheren Entgeltgruppe zu zahlen. Übt ein in den Entgeltgruppen E 7 bis E 12 eingruppierter Arbeitnehmer auf Anordnung des Vorgesetzten vorübergehend vollwertig eine Tätigkeit aus, die einer höheren Entgeltgruppe zugeordnet ist, so hat er unter Anrechnung einer etwaigen Ausgleichszulage rückwirkend einen tariflichen Anspruch auf den Differenzbetrag zwischen seinem Tarifentgelt und dem Tarifentgelt der höheren Entgeltgruppe, wenn diese Tätigkeit zusammenhängend länger als vier Wochen dauert. Dabei ist das Gruppenjahr der höheren Entgeltgruppe zugrunde zu legen, dessen Entgeltsatz am nächsten über seinem bisherigen tariflichen Entgeltsatz liegt. Der Anspruch entsteht nicht, wenn der Einsatz zu Trainingszwecken oder zum Zwecke der beruflichen Weiterbildung erfolgt. (…) 8. Zuschläge und Zulagen sowie sonstige variable Entgeltbestandteile können, jeder für sich oder insgesamt, pauschaliert werden.

10

§ 5 Bundesentgelttarifvertrag Chemie: Vorarbeiter Vorarbeiter und Arbeitnehmer in gleicher Funktion sind Arbeitnehmer, denen unmittelbar unter der Meisterebene (nicht nur Meisterstellvertreter) die Aufsicht über eine Arbeitsgruppe übertragen worden ist und die in ihrer Funktion vom Arbeitgeber schriftlich bestellt bzw. bestätigt worden sind. Vorarbeiter erhalten eine Zulage von 10 % des Tarifentgelts ihrer Entgeltgruppe, in die sie entsprechend ihrer Tätigkeit gemäß § 3 des Tarifvertrages einzugruppieren sind. Auf die Vorarbeiterzulage sind einschlägige betriebliche Zulagen anrechenbar. Bei Vorarbeitern, die wegen dieser Stellung im Betrieb in eine höhere Entgeltgruppe als nach § 3 eingruppiert sind, wird die Differenz zwischen den Entgeltgruppen auf die Vorarbeiterzulage angerechnet.

11

§ 6 Bundesentgelttarifvertrag Chemie: Erschwerniszulagen 1. Bei Schmutzarbeiten und anderen lästigen Arbeiten, bei denen Arbeitnehmer nachhaltigen Einwirkungen, z.B. von Rauch, Ruß, heißer Asche, Staub, Nässe, hohen Temperaturen, besonders belastendem Lärm oder besonders grellem künstlichen Licht ausgesetzt sind, oder bei Arbeiten in abgedunkelten Räumen ohne Belichtung oder mit lästigem farbigem Licht und bei Arbeiten mit Presslufthämmern erhalten Arbeitnehmer eine Erschwerniszulage.

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Teil 5 (24)

Rz. 12

Zulagen-/Zuschlagsregelungen

Die Höhe dieser Zulage bestimmt sich nach dem Grad der Lästigkeit, darf jedoch nicht unter 3 % des arithmetischen Durchschnitts der Tarifentgeltstundensätze der Entgeltgruppen E 1 bis E 8 (Anfangssätze bei E 5 bis E 8) betragen. 2. Wenn bei der Arbeit zur Vermeidung gesundheitsgefährdender Einwirkungen regelmäßig lästige persönliche Schutzausrüstungen, z.B. Sandstrahlhelme, Gehörschutzhelme, Staub-, Gasmasken und Frischluftgeräte oder andere Atemschutzmittel verwendet werden müssen, so beträgt der Zuschlag nicht unter 5 % des in Ziffer 1 genannten Durchschnittsbetrages. 3. Für Arbeiten, bei denen der Arbeitnehmer besonderen Gefahren ausgesetzt ist, ist von Fall zu Fall für die Dauer der besonderen Gefährdung eine betriebliche Regelung über die Höhe der Sonderzulagen zu treffen. Das gilt insbesondere für Betriebe der Sprengstoffindustrie. 4. Welche Arbeitnehmer Anspruch auf die Zulagen nach Ziffer 1 bis Ziffer 3 haben, für welche Zeit und in welcher Höhe sie zu gewähren sind, wird im Einvernehmen mit dem Betriebsrat festgelegt. 5. In gleicher Weise ist betrieblich festzulegen, für welche Arbeiten auf Kosten des Betriebes Schutzkleidung zu stellen ist. Instandsetzung und Reinigung gehen in diesen Fällen grundsätzlich zu Lasten des Betriebes.

III. Kommentierung 1. § 4 MTV Chemie – Zuschläge und Schichtzulagen (Rz. 8) 12

§ 4 MTV Chemie regelt die Zuschläge für Mehr-, Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit (zur Mehrarbeitsregelung s. bereits fi (15) Mehrarbeitsregelungen) sowie das Thema voll-/teilkontinuierlicher Schichtarbeit und dafür zu gewährender Schichtzulagen.

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Zunächst differenziert der TV zwischen regelmäßiger und nicht regelmäßiger Nachtarbeit und weist hierfür abweichende Zuschläge aus1. Von regelmäßiger Nachtarbeit ist zu sprechen, wenn die Nachtarbeit mit einer gewissen Gleichmäßigkeit, also in gleichen Abständen, wiederkehrt. Hiervon ist stets auszugehen, wenn Nachtarbeit im Rahmen eines Schichtplanes geleistet wird. Aber auch bei beständig auftretenden Wartungs- und Reparaturarbeiten ist mit einem wiederkehrenden Arbeitsanfall zu rechnen, so dass dann regelmäßige Nachtarbeit angenommen werden kann. Regelmäßig ist nicht dauernd. Daraus folgt, dass regelmäßig auch die Nachtarbeit sein kann, die für eine vorübergehende Periode geleistet wird. Unregelmäßige Nachtarbeit liegt dagegen vor, wenn sich der Arbeitnehmer nicht auf sie einstellen kann, weil er ihren Eintritt infolge der vom Arbeitgeber ungleichmäßig anberaumten Arbeitsleistung nicht voraussehen konnte2. 1 Eine solche Differenzierung enthalten bspw. der TVöD oder der EMTV für die M+E-Industrie NRW nicht. 2 LAG Düsseldorf v. 14.7.1961 – 1 Sa 144/61, BB 1961, 1237.

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Zulagen-/Zuschlagsregelungen

Rz. 18 Teil 5 (24)

Das Bundesarbeitsgericht hat am 11.1.2006 bestätigt, dass es einen gesetzlichen Anspruch auf Lohnzuschlag für Sonn- und Feiertagsarbeit nicht gibt1. Für den Bereich der chemischen Industrie ist ein solcher Anspruch allerdings tarifvertraglich vorgesehen. So ist für Sonn- und Feiertagsarbeit ein Zuschlag von 60 % vorgesehen. Als eine solche Arbeit definiert der Manteltarifvertrag in § 3 III die Arbeit an Sonn- und Feiertagen von 6 Uhr bis 6 Uhr des folgenden Tages, wobei unter Beibehaltung der 24-stündigen Zeitspanne ein anderer Zeitraum festgelegt werden kann2. Arbeitnehmer, die aufgrund gesetzlicher Bestimmungen gegen Fortzahlung der Vergütung keine Arbeitsleistung erbringen müssten und dies dennoch machen, gehen infolge dessen ihres Entgeltfortzahlungsanspruchs verlustig. Um dies auszugleichen, sieht der TV für Arbeiten an Wochenfeiertagen, an denen aufgrund gesetzlicher Bestimmungen der Arbeitsausfall zu vergüten ist, einen auf 150 % erhöhten Zuschlag vor. Dieser ist unbeschadet der BAG-Entscheidung vom 17.3.20103 auch für Arbeiten an einem Oster- oder Pfingstsonntag zu zahlen, da der tarifvertragliche Feiertagszuschlag anders als in dem vom BAG entschiedenen Fall nicht voraussetzt, dass es sich um einen „gesetzlichen“ Feiertag handelt.

14

Wird der Arbeitnehmer lediglich stundenweise zur Sonn- und Feiertagsarbeit herangezogen, steht ihm unabhängig vom Umfang der Arbeitsleistung ein auf drei Stunden bemessenes Stundenentgelt zzgl. des Zuschlags für mindestens drei Stunden zu. Diese Regelung soll unbillige Härten im Falle lediglich kurzfristiger Heranziehung zur Arbeit ausgleichen bzw. diese so gering wie möglich halten. Allerdings regelt der TV lediglich die stundenweise Heranziehung. Bzgl. kürzerer Arbeitseinsätze obliegt es der betrieblichen Regelung, wie diese billigerweise vergütet werden.

15

Aus dem Zweck der Regelung über den stundenweisen Arbeitseinsatz folgt zugleich, dass bei mehrfachen stundenweisen Arbeitseinsätzen der auf drei Arbeitsstunden bezogene Zuschlag außerhalb von Rufbereitschaften mehrmalig anfallen kann. Dies gilt jedenfalls, soweit ein zeitlich-sachlicher Zusammenhang zwischen den Arbeitseinsätzen nicht besteht. Ein solcher ist allerdings stets in Fällen der Rufbereitschaft anzunehmen, da es hier gerade zum Wesen der Rufbereitschaft zählt, dass der Arbeitnehmer mit seiner Heranziehung zur Arbeitsleistung zu rechnen hat.

16

Für den Fall des Zusammentreffens mehrerer Zuschläge ist tarifvertraglich vorgesehen, dass jeweils nur der höhere Zuschlag zu zahlen ist (§ 4 II Ziff. 3 MTV Chemie). Lediglich der Nachtarbeitszuschlag ist stets zu zahlen. Damit folgt der TV den Vorgaben des § 6 Abs. 5 ArbZG.

17

Schichtarbeit ist in der chemischen Industrie weit verbreitet. Die im TV vorgesehene Schichtzulage wird nur im Rahmen eines Wechselschichtsystems gewährt. Diese Schichtsysteme sind dadurch geprägt, dass die zur Schichtarbeit eingeteilten Arbeitnehmer an den anfallenden Schichten in einem wechselnden, sich aus Früh-, Spät- und Nachtschichten zusammensetzenden Rhythmus

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1 BAG v. 11.1.2006 – 5 AZR 97/05, NZA 2006, 372. 2 Ebenso § 5 I Ziff. 4 EMTV für die M+E-Industrie NRW. 3 BAG v. 17.3.2010 – 5 AZR 317/09, DB 2010, 1406.

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Teil 5 (24)

Rz. 19

Zulagen-/Zuschlagsregelungen

periodisch abwechseln1. Keine Schichtarbeit leisten Arbeitnehmer, die in 24-Stundendiensten neben Phasen der Arbeit in gleicher Länge Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftsruhezeiten haben. Diese in Arbeitsbereitschaft eingesetzten Arbeitnehmer erbringen also keine durchgehende Arbeitsleistung und unterscheiden sich dadurch von Schichtarbeitnehmern, die in unterschiedlichen Zeiträumen an der gleichen Arbeitsstelle Arbeitsleistung erbringen. 19

Um einen Anspruch auf Schichtzulage zu haben, muss der Arbeitnehmer auf einem Arbeitsplatz eingesetzt sein, der voll- oder teilkontinuierlich eingerichtet ist (arbeitsplatzbezogene Kontinuität). Zudem muss der individuelle Arbeitseinsatz nach dem für den einzelnen Arbeitnehmer maßgebenden Schichtplan kontinuierlich und auch zu Nachtzeiten erfolgen (personenbezogene Kontinuität). An Letzterem fehlt es bspw., wenn in einem kontinuierlich angelegten Schichtbetrieb zwischenzeitlich Schichten am Sonntag mit zusätzlichen Besetzungen eingeschoben werden.

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Maßgeblicher Bemessungszeitraum für die Gewährung der Schichtzulage ist der Schichtenturnus, also der Zeitraum, der eine Regelmäßigkeit im Aufeinanderfolgen von Nachtschichten erkennen lässt. Wird der Schichtrhythmus durch eine zwischenzeitlich einschichtige Beschäftigung unterbrochen, besteht für den Zeitraum der Tätigkeit im Ein-Schicht-Betrieb kein Anspruch auf eine Schichtzulage.

21

Ist der Arbeitnehmer nur zeitweise an einem kontinuierlich eingerichteten Arbeitsplatz eingesetzt, fällt die Zulage bezogen auf den konkreten Arbeitseinsatz an; für die Berechnung der Schichtzulage ist also die konkrete Arbeitsstunde und das dafür zu gewährende Tarifstundenentgelt maßgeblich (§ 4 III Ziff. 2 Abs. 2 MTV Chemie). Gleiches gilt für den Fall, dass die Schichtarbeit im Durchschnitt eines Schichtenturnus die regelmäßige tarifliche wöchentliche Arbeitszeit überschreitet (§ 4 III Ziff. 2 Abs. 3 MTV Chemie).

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Wird ein Arbeitnehmer vertretungsweise auf einem kontinuierlich besetzten Arbeitsplatz eingesetzt, erhält er ebenfalls die Schichtzulage, und zwar für die Dauer des Einsatzes (§ 4 III Ziff. 3 Abs. 3 MTV Chemie). Allerdings muss der Einsatz für die Dauer eines normalen Wechsels zwischen Tag- und Nachtschichten erfolgen, der im Normalfall eines Drei-Schicht-Betriebes mit Früh-, Spät- und Nachtschichten drei Wochen beträgt.

1 S. insoweit auch § 7 TVöD: „(1) Wechselschichtarbeit ist die Arbeit nach einem Schichtplan, der einen regelmäßigen Wechsel der täglichen Arbeitszeit in Wechselschichten vorsieht, bei denen Beschäftigte durchschnittlich längstens nach Ablauf eines Monats erneut zur Nachtschicht herangezogen werden. Wechselschichten sind wechselnde Arbeitsschichten, in denen ununterbrochen bei Tag und Nacht, werktags, sonntags und feiertags gearbeitet wird. … (2) Schichtarbeit ist die Arbeit nach einem Schichtplan, der einen regelmäßigen Wechsel des Beginns der täglichen Arbeitszeit um mindestens zwei Stunden in Zeitabschnitten von längstens einem Monat vorsieht, und die innerhalb einer Zeitspanne von mindestens 13 Stunden geleistet wird. …“

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Zulagen-/Zuschlagsregelungen

Rz. 24 Teil 5 (24)

2. § 3 Bundesentgelttarifvertrag Chemie: Allg. Bestimmungen sowie § 4 IV MTV Chemie (Pauschalierung von Zuschlägen und Zulagen) (Rz. 9, 8) Nach § 3 Ziff. 8 BETV können Zuschläge, Zulagen und sonstige variable Entgeltbestandteile wie Erschwerniszulagen oder Leistungsvergütungen – jede für sich oder insgesamt – pauschaliert werden1. Dies wird auch durch den MTV Chemie (dort: § 4 IV) bestätigt. Die Pauschalierung muss erkennen lassen, welche Zulagen und Zuschläge im Einzelnen abgegolten sein sollen. Es ist damit nach Zuschlägen für Sonn-, Feiertags- und Nachtarbeit sowie Schichtzulagen zu trennen. Dies gilt umso mehr, als es um steuerfrei zu stellende Zuschläge geht2. Zudem muss die Pauschalierung den durchschnittlich im Zeitraum des Jahres tatsächlich anfallenden Einzelleistungen entsprechen. Die Pauschalierung macht damit eine Ermittlung von Einzelleistungen nicht entbehrlich. Die hiermit verbundenen Zulagen und Zuschläge sind jeweils vor der Erstellung der Lohnsteuerbescheinigung zu verrechnen, spätestens somit zum Ende des Kalenderjahres bzw. zusätzlich beim Ausscheiden des Arbeitnehmers aus dem Dienstverhältnis.

23

3. § 3 Bundesentgelttarifvertrag Chemie: Allg. Bestimmungen (Ausübung höherwertiger Tätigkeit) (Rz. 9) Eingruppierungen wirken starr und tragen nicht dem Umstand Rechnung, dass der Arbeitnehmer vorübergehend auch andere Tätigkeiten ausübt, die nicht von dem der Eingruppierung folgenden Entgelt abgedeckt sind. Für diesen Fall sieht § 3 Ziff. 5 BETV eine Vertretungszulage vor3. Dort wird unterschieden zwischen Tätigkeiten von Arbeitnehmern der Entgeltgruppen E 1 bis E 6 sowie der Entgeltgruppen E 7 bis E 12. Im ersten Fall wird mindestens eine volle Schichtvertretung verlangt, im zweiten Fall eine zusammenhängende Tätigkeit von länger als vier Wochen. Auch im Hinblick auf die Rechtsfolge unterscheiden sich die Vertretungsregelungen: Während Arbeitnehmer der Entgeltgruppen E 1 bis E 6 für die Zeit der Vertretung das Tarifentgelt der höheren Entgeltgruppe erhalten, haben Arbeitnehmer der Entgeltgruppen E 7 bis E 12 einen tariflichen Anspruch auf den Differenzbetrag zwischen ihrem Tarifentgelt und dem Tarifentgelt der höheren Entgeltgruppe. Dies kann Auswirkungen auf etwaige Folgebezüge haben.

1 Eine Pauschalierungsklausel, nach der „einzelvertragliche neben dem Tarifentgelt zustehende Entgeltbestandteile (z.B. Zeitzuschläge, Erschwerniszuschläge) pauschaliert werden können“, enthält auch § 24 Abs. 6 TVöD. 2 Dazu BFH v. 27.8.2002 – VI R 64/96, DB 2002, 2519. 3 Der Fall der Ausübung einer höherwertigen Tätigkeit ist auch Gegenstand des § 14 TVöD: Wird dem Beschäftigten vorübergehend eine andere Tätigkeit übertragen, die den Tätigkeitsmerkmalen einer höheren Entgeltgruppe entspricht, erhält er danach für die Dauer der Ausübung der Tätigkeit eine persönliche Zulage, deren Höhe sich entweder aus dem Unterschiedsbetrag zu dem Tabellenentgelt ergibt, das sich für den Beschäftigten bei dauerhafter Übertragung ergeben hätte, oder dessen Höhe 4,5 % des individuellen Tabellenentgelts des Beschäftigten beträgt.

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Teil 5 (24)

Rz. 25

Zulagen-/Zuschlagsregelungen

4. § 5 Bundesentgelttarifvertrag Chemie: Vorarbeiter (Rz. 10) 25

Der Stellung als Vorarbeiter kann in TVen in zweifacher Weise Rechnung getragen werden: Entweder bildet die Stellung als Vorarbeiter ein Eingruppierungsmerkmal oder sie wird mittels einer Vorarbeiterzulage besonders vergütet. Die TV-Parteien der chemischen Industrie haben in § 5 BETV vom letzteren Regelungsmodell Gebrauch gemacht. Vorarbeiter und Arbeitnehmer in gleicher Funktion werden dort als Arbeitnehmer definiert, denen unmittelbar unter der Meisterebene die Aufsicht über eine Arbeitsgruppe übertragen worden ist und die in ihrer Funktion vom Arbeitgeber schriftlich bestellt bzw. bestätigt worden sind.

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Die Vorarbeiterzulage ist eine an die Funktion als Vorarbeiter gebundene Zulage. Sie setzt eine schriftliche Bestellung zum Vorarbeiter oder zumindest eine entsprechende Bestätigung einer Bestellung voraus1. Für eine funktionsgebundene Zulage wie die Vorarbeiterzulage ist es genügend, dass sich der Arbeitnehmer kraft Bestellung in der Vorarbeiterfunktion befindet. Es ist also nicht erforderlich, dass der Arbeitnehmer diese Funktion auch tatsächlich ausübt. Somit ist die Vorarbeiterzulage auch für Zeiten auszuzahlen, in denen die Funktion nicht wahrgenommen wird.

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Die Bestellung zum Vorarbeiter stellt keine im Sinne des § 99 BetrVG mitbestimmungspflichtige Maßnahme dar, da sie nicht mit einer Umgruppierung des Arbeitnehmers verbunden ist. Auch kann nicht von einer Versetzung gesprochen werden, da sich in aller Regel das Tätigkeitsbild als solches mit dem Bestellungsakt nicht wesentlich ändert.

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Die Vorarbeiterzulage beträgt in der chemischen Industrie 10 % des Tarifentgelts der Entgeltgruppe, in die der Arbeitnehmer entsprechend seiner Tätigkeit eingruppiert ist. Auf die Zulage können – soweit vorhanden – einschlägige betriebliche Zulagen angerechnet werden.

5. § 6 Bundesentgelttarifvertrag Chemie: Erschwerniszulagen (Rz. 11) 29

Erschwerniszulagen gehören zum Standard in TVen. So sieht § 19 TVöD Erschwerniszuschläge für Arbeiten vor, die außergewöhnliche Erschwernisse beinhalten, soweit diese nicht mit dem der Eingruppierung zugrunde liegenden Berufs- oder Tätigkeitsbild verbunden sind, wie es bspw. bei einem Feuerwehrmann der Fall ist, der sich typischerweise besonderen Gefahren zu stellen hat.

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Für die chemische Industrie regelt § 6 BETV den Ausgleich für besondere Erschwernisse mittels einer entsprechenden Zulage. Besondere Erschwernisse können die Erschwernis durch Schmutzarbeiten und andere lästige Arbeiten bilden, die Erschwernis durch regelmäßige Verwendung lästiger persönlicher Ausrüstungen oder die durch besondere Gefahren. Erschwernis bedeutet mehr als eine bloße Lästigkeit. Sie muss aus dem betrieblichen Bereich und damit aus der vom Arbeitgeber beeinflussbaren Sphäre stammen. Nicht erfasst werden demzufolge externe, insbesondere temporäre Belästigungen wie die Arbeit bei sommerlicher Hitze. 1 BAG v. 15.2.1989 – 4 AZR 488/88, n.v.

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Zulagen-/Zuschlagsregelungen

Rz. 32 Teil 5 (24)

Die Erschwerniszulage ist unmittelbar mit der Ausübung der Tätigkeit verbunden. Der Arbeitnehmer muss einer Erschwernis also tatsächlich ausgesetzt sein.

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Die TV-Parteien haben die nähere Ausgestaltung der Erschwerniszulage der betrieblichen Regelung überlassen. Den Betriebsparteien obliegt es damit, einen Katalog erschwerniszulagenpflichtiger Arbeiten zu erstellen, die Zuordnung der einzelnen zuschlagspflichtigen Arbeiten zu bestimmten Lästigkeits- bzw. Erschwernisgruppen vorzunehmen und die Festlegung des Verhältnisses der Gruppen untereinander zu bestimmen1. Selbiges ist mitbestimmungspflichtig nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG. Allerdings besteht kein Mitbestimmungsrecht hinsichtlich der Höhe der Erschwerniszulage über die tariflichen Mindestbedingungen hinaus, und zwar unabhängig davon, ob die Höhe der Erschwerniszulage in absoluten Beträgen ausgewiesen oder in bestimmter Weise an eine vorgegebene Größe, etwa den Tariflohn, angebunden ist2.

32

1 BAG v. 22.12.1981 – 1 ABR 38/79, DB 1982, 1274. 2 BAG v. 22.12.1981 – 1 ABR 38/79, DB 1982, 1274.

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Teil 6 Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft Rz. A. Grundsätze der Tarifgebundenheit von Arbeitgeber und Arbeitnehmer I. Begriff und Grundlagen der normativen Tarifgebundenheit . . . . . .

1

II. Legitimation der Tarifgebundenheit 1. Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 2. Tarifgebundenheit kraft hoheitlichen Aktes . . . . . . . . . . . . . 10 3. Tarifgebundenheit kraft Rechtsscheins . . . . . . . . . . . . . . . 11 B. Beginn und Ende der Mitgliedschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 I. Erwerb der Mitgliedschaft . . . . . . . 1. Verbandsbeitritt durch Aufnahmevertrag . . . . . . . . . . . . . . . 2. Aufnahmeanspruch gegen den Verband . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Mängel des Verbandsbeitritts . 4. Umwandlung des Verbandes . .

Rz. 1. 2. 3. 4.

14 15 24 29 32

Verbandsaustritt . . . . . . . . . . . . . Außerordentliche Kündigung . Aufhebungsvertrag . . . . . . . . . . . Sonderfall: Blitzaustritt, Blitzaufhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ausschluss eines Mitglieds . . . 6. Weitere Beendigungsgründe . . .

34 43 44 48 53 60

C. Nachbindung an Tarifverträge gemäß § 3 Abs. 3 TVG . . . . . . . . . . 61 I. Zweck, Legitimation und Verfassungsmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 62 II. Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . 1. Mitgliedschaft im Verband . . . 2. Beendigung der Mitgliedschaft 3. Sonstige Voraussetzungen der Tarifgebundenheit . . . . . . . . . . .

67 68 69 73

III. Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 IV. Ende der Nachbindung . . . . . . . . . . 82 D. Betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Normen gemäß § 3 Abs. 2 TVG . . . . . . . . . . . . . . . . . 90

II. Beendigung der Mitgliedschaft . . . 33

Literatur: Bauer, Flucht aus Tarifverträgen: Königs- oder Irrweg?, in: Festschrift Schaub, 1998, S. 19; Bauer, Informationsobliegenheiten bei „Blitzaustritt“ und „Blitzwechsel“, in: Festschrift Picker, 2010, S. 889; Bauer/Diller, Flucht aus Tarifverträgen – Konsequenzen und Probleme, DB 1993, 1085; Bauer/Haußmann, Blitzaustritt und Blitzwechsel: Wirksam, aber ohne Wirkung?, RdA 2009, 99; Bauer/Haußmann, Tarifwechsel durch Verbandswechsel, DB 1999, 1114; Bauer/Rolf, „Blitzaustritt“ aus dem Arbeitgeberverband, DB 2003, 1519; Bieback, Tarifrechtliche Probleme des Verbandswechsels von Arbeitgebern, DB 1989, 477; Büdenbender, Tarifbindung trotz Austritts aus dem Arbeitgeberverband – eine notwendige oder korrekturbedürftige Regelung?, NZA 2000, 509; Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, 1971; Canaris, Handelsrecht, 24. Aufl. 2006; Däubler, Tarifausstieg – Erscheinungsformen und Rechtsfolgen, NZA 1996, 225; Dieterich, Die betrieblichen Normen nach dem Tarifvertragsgesetz vom 9.4.1949, 1964; Dieterich, Die Grundrechtsbindung von Tarifverträgen, in: Festschrift Schaub, 1998, S. 117; Dieterich/Hanau/Henssler/Oetker/Wank/Wiedemann, Empfehlungen zur Entwicklung des Tarifvertragsrechts, RdA 2004, 65; Franzen, Gesetzesbindung im Tarifvertragsrecht, in: Festschrift Picker, 2010, S. 929; Galperin, Vereinsautonomie und Kontrahierungszwang im Koalitionsrecht, DB 1969, 704; Gaumann, Gewerkschaftsausschluss wegen Betriebsratskandidatur auf konkurrierender Liste, NJW 2002, 2155; Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, 2002; Grunewald, Der Ausschluß aus Gesellschaft und Verein, 1987; H. Hanau, Zur Verfassungsmäßigkeit von tarifvertraglichen Betriebsnormen am Beispiel der qualitativen Besetzungsregeln, RdA

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Teil 6

Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft

1996, 158; P. Hanau, Der Tarifvertrag in der Krise, RdA 1998, 65; P. Hanau/Kania, Stufentarifverträge, DB 1995, 1229; Hartmann/Lobinger, Die Arbeitsvertrags- und Wettbewerbsfreiheit als Grenze tarifvertraglicher Vorteilsregelungen, NZA 2010, 421; Henssler, Nachbindung und Nachwirkung, in: Festschrift Picker, 2010, S. 987; Henssler, Unternehmensumstrukturierung und Tarifrecht, in: Festschrift Schaub, 1998, S. 311; Henssler/Parpart, SAE 2002, 210; Herschel, Zur Entstehung des Tarifvertragsgesetzes, ZfA 1973, 183; Höpfner, Anm. AP TVG § 3 Nr. 36; Höpfner, Blitzaustritt und Blitzwechsel in die OT-Mitgliedschaft, ZfA 2009, 541; Höpfner, Die unbegrenzte Nachbindung an Tarifverträge, NJW 2010, 2173; Höpfner, Normativer und schuldrechtlicher Konzerntarifvertrag – Gestaltungsformen einer konzerneinheitlichen Tarifbindung, in: Rieble/Junker/ Giesen (Hrsg.), Arbeitsrecht im Konzern, 2010, S. 113; Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Wettbewerbsrecht, Band 2: GWB, 4. Aufl. 2007; Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: Festschrift Ehrenberg, 1926, S. 1; Jacobs, Anm. AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 26; Jacobs/Krois, Anm. AP TVG § 3 Nr. 38; Jacobs/Krois, Das Zusammenspiel von Tarif- und Satzungsautonomie bei Blitzaustritt und Blitzwechsel, in: Festschrift Reuter, 2010, S. 555; Kempen, Aktuelles zur Tarifpluralität und zur Tarifkonkurrenz, NZA 2003, 415; Kittner, „Flucht aus dem Tarifvertrag“ durch Austritt aus dem Arbeitgeberverband, AuR 1998, 469; Konzen, Blitzaustritt und Blitzwechsel. Vereins- und koalitionsrechtliche Aspekte der Flucht des Arbeitgebers aus dem Verbandstarif, in: Festschrift Bauer, 2010, S. 559; Konzen, Die Tarifautonomie zwischen Akzeptanz und Kritik, NZA 1995, 913; Konzen, Tarifbindung, Friedenspflicht und Kampfparität beim Verbandswechsel des Arbeitgebers, ZfA 1975, 401; Krause, „Blitzaustritt“ und „Blitzwechsel“ von Arbeitgebern als Herausforderung des Tarifrechts, in: Gedächtnisschrift Zachert, 2010, S. 605; Küttner, Aufnahmezwang für Gewerkschaften?, NJW 1980, 968; Lieb, Begriff, Geltungsweise und Außenseiterproblematik der Solidarnormen, RdA 1967, 441; Lieb, Mehr Flexibilität im Tarifvertragsrecht? „Moderne“ Tendenzen auf dem Prüfstand, NZA 1994, 337; Loewenheim/Meessen/Riesenkampff (Hrsg.), Kartellrecht, 2. Aufl. 2009; Loritz, Tarifautonomie und Gestaltungsfreiheit des Arbeitgebers, 1990; Löwisch, Die Beendigung der Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden als tarifrechtliche Vorfrage, ZfA 1998, 41; Löwisch, Die Kündigung von Tarifverträgen, RdA 1995, 82; Löwisch, Neuabgrenzung von Tarifvertragssystem und Betriebsverfassung, JZ 1996, 812; Melms, Tarifwechsel und ver.di, NZA 2002, 296; Mückl/Krings, Effektive Beendigung der Tarifbindung in der Insolvenz, BB 2012, 769; Oetker, Anm. TVG § 3 Nr. 12; Picker, Tarifmacht und tarifvertragliche Arbeitsmarktpolitik, ZfA 1998, 573; Picker, Ursprungsidee und Wandlungstendenzen des Tarifvertragswesens, in: Gedächtnisschrift Kobbe-Keuk, 1997, S. 879 = ZfA 2009, 215; Plander, Tarifflucht durch kurzfristig vereinbarten Verbandsaustritt?, NZA 2005, 897; Popp, Der Ausschluß von Gewerkschaftsmitgliedern nach Betriebsratswahlen, ZfA 1977, 401; Reichert, Handbuch Vereins- und Verbandsrecht, 12. Aufl. 2010; Reitze, Der Austritt aus Gewerkschaft und Arbeitgeberverband, NZA 1999, 70; Reuter, Grenzen der Verbandsstrafgewalt, ZGR 1980, 101; Reuter, Kündigungsfrist für den Verbandsaustritt von Arbeitgebern, RdA 2006, 117; Reuter, Möglichkeiten und Grenzen einer Auflockerung des Tarifkartells, ZfA 1995, 1; Richardi, Arbeitsvertrag und Tarifgeltung, ZfA 2003, 655; Richardi, Von der Tarifautonomie zur tariflichen Ersatzgesetzgebung, in: Festschrift Konzen, 2006, S. 791; Rieble, „Blitzaustritt“ und tarifliche Vorbindung, RdA 2009, 280; Rieble, Der Tarifvertrag als kollektiv-privatautonomer Vertrag, ZfA 2000, 5; Rieble, Konzerntarifvertrag (Teil I), Der Konzern 2005, 475; Säcker/Rancke, Verbandsgewalt, Vereinsautonomie und richterliche Inhaltskontrolle, AuR 1981, 1; Sagan, Die kollektive Fortgeltung von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen nach § 613a Abs. 1 Sätze 2–4 BGB, RdA 2011, 163; Sauter/Schweyer/Waldner, Der eingetragene Verein, 19. Aufl. 2010; Schäfer, Die Lehre vom fehlerhaften Verband, 2002; Schleusener, Der Begriff der betrieblichen Norm im Lichte der negativen Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) und des Demokratieprinzips (Art. 20 GG), ZTR 1998, 100; Karsten Schmidt, Handelsrecht, 5. Aufl. 1999; Kristina Schmidt, Die normative Tarifbindung am Beispiel des allgemeinen koalitionsrechtlichen Unterlassungsanspruchs, RdA 2004, 152; Stöber/Otto, Handbuch zum Vereinsrecht, 10. Aufl. 2012; Waltermann, Zu den Grundlagen der Rechtsetzung durch Tarifvertrag, in: Festschrift Söllner, 2000, S. 1251; Waltermann, Zu

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Grundsätze der Tarifgebundenheit von Arbeitgeber und Arbeitnehmer

Rz. 3 Teil 6

den Grundlagen der Tarifautonomie, ZfA 2000, 53; Wank, Kündigung und Wegfall der Geschäftsgrundlage bei Tarifverträgen, in: Festschrift Schaub, 1998, S. 761; Wiedemann, Blitzaustritt und Tarifflucht, in: Festschrift Reuter, 2010, S. 889; Willemsen/Mehrens, Ablösung tariflicher Bestimmungen nach einem Verbandsaustritt – Kein Ende in Sicht!, NZA 2010, 307; Willemsen/Mehrens, Die Rechtsprechung des BAG zum „Blitzaustritt“ und ihre Auswirkungen auf die Praxis, NZA 2009, 1916.

A. Grundsätze der Tarifgebundenheit von Arbeitgeber und Arbeitnehmer I. Begriff und Grundlagen der normativen Tarifgebundenheit Unter normativer Tarifgebundenheit1 versteht man die Bindung der Arbeitsvertragsparteien an die unmittelbar und zwingend geltenden Rechtsnormen eines TVes. § 3 Abs. 1 TVG bestimmt den Personenkreis, für den die TV-Parteien mit gesetzesgleicher Wirkung Tarifnormen setzen dürfen2: Tarifgebunden sind die Mitglieder der TV-Parteien und der Arbeitgeber, der selbst Partei des TVes ist. Die normative Tarifgebundenheit der Arbeitsvertragsparteien schränkt deren Recht ein, Abschluss, Inhalt und Form des Arbeitsvertrages frei zu vereinbaren (§ 105 Satz 1 GewO)3. Darin unterscheidet sich die normative Tarifgebundenheit von der nur schuldrechtlichen Tarifbindung kraft arbeitsvertraglicher Inbezugnahme eines TVes. Während erstere die Vertragsfreiheit der Arbeitsvertragsparteien einschränkt, ist letztere gerade Ausfluss ihrer Privatautonomie.

1

Die Tarifgebundenheit bezieht sich allein auf den normativen Teil des TVes, d.h. auf die Rechtsnormen i.S.d. § 1 Abs. 1 TVG, die den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen ordnen. Der schuldrechtliche Teil gilt aufgrund des Grundsatzes der Relativität der Schuldverhältnisse allein zwischen den TV-Parteien (§§ 145 ff. BGB). Bei drittschützenden Vereinbarungen, insb. der Friedenspflicht, kommt eine Erweiterung der vertraglichen Bindung nach den Grundsätzen des Vertrags zugunsten Dritter (§ 328 BGB) in Betracht4.

2

Die Tarifgebundenheit ist eine subjektive, d.h. an die Parteien des Arbeitsvertrages gebundene, Voraussetzung für die Wirkung eines TVes im Arbeitsverhältnis5. Sie beschränkt die tarifvertragliche Regelungsbefugnis der TV-Parteien auf den in § 3 Abs. 1 TVG genannten Personenkreis6. Die Tarifgebundenheit ist nicht zu verwechseln mit dem Geltungsbereich eines TVes. Dieser legt

3

1 Zum Begriff der Tarifgebundenheit vgl. Herschel, ZfA 1973, 183 (190) sowie die Begründung des Gewerkschaftsrates der Vereinten Zonen zum Entwurf des TVG, in: ZfA 1973, 129 (147). 2 Vgl. Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 7; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 1. 3 Staudinger/Richardi/Fischinger, Vorb. zu §§ 611 ff. BGB Rz. 686. 4 Vgl. nur Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 12. 5 Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 6 Rz. 7. 6 Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 8; Staudinger/Richardi/Fischinger, Vorb. zu §§ 611 ff. BGB Rz. 687.

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Teil 6 Rz. 4

Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft

fest, auf welche konkreten Arbeitsverhältnisse ein bestimmter TV Anwendung findet1. Der persönliche Geltungsbereich stellt hierfür entweder auf persönliche Eigenschaften des einzelnen Arbeitnehmers (Lebensalter, Dauer der Betriebszugehörigkeit etc.) ab oder beschränkt den Anwendungsbereich des TVes von vornherein auf bestimmte Arbeitgeber (etwa beim firmenbezogenen VerbandsTV)2. Die TV-Parteien können den Geltungsbereich eines TVes innerhalb ihrer sich deckenden Tarifzuständigkeit grundsätzlich frei bestimmen3. Demgegenüber regelt § 3 Abs. 1 TVG den Umfang der Tarifgebundenheit abschließend und zwingend4. Die Tarifgebundenheit ist der Satzungshoheit der Verbände entzogen. Sie gründet im freien Entschluss des einzelnen Arbeitgebers oder Arbeitnehmers, einem Verband beizutreten, und ist insofern Ausfluss der individuellen Koalitionsfreiheit5. Die TV-Parteien können die Tarifgebundenheit nicht über den Kreis ihrer Mitglieder hinaus ausdehnen6. Umgekehrt können sie auch nicht die Tarifgebundenheit an einen bestimmten TV einschränken. Sie können aber die Rechtswirkungen des TVes durch Einschränkung des Geltungsbereiches auf bestimmte Mitglieder(gruppen) begrenzen7. Unzulässig ist es aber, die Tarifzuständigkeit des Verbandes mitgliedschaftsbezogen an das Merkmal der Tarifgebundenheit zu koppeln, da sonst die zwingende Nachbindung des aus dem Verband ausgetretenen Arbeitgebers gemäß § 3 Abs. 3 TVG sowie die Allgemeinverbindlicherklärung von TVen gemäß § 5 Abs. 4 TVG ohne weiteres unterlaufen werden könnten8. Zulässig ist es dagegen, den Geltungsbereich des TVes auf die (Voll-)Mitglieder des Verbandes zu beschränken9. Hierin liegt keine unzulässige Umgehung der Nachbindung, da der Geltungsbereich des TVes – anders als die Tarifzuständigkeit des Verbandes – nur im Einvernehmen mit dem Sozialpartner festgelegt werden kann und die TVParteien ohnehin jederzeit die Nachbindung durch Aufhebung und Neuabschluss des TVes beenden könnten. 4

Prozessual wird die Tarifgebundenheit von den Arbeitsgerichten inzident im jeweiligen Rechtsstreit geprüft10. Ein eigenständiges Beschlussverfahren kommt nicht in Betracht, da die Tarifgebundenheit keine Eigenschaft des Verbandes, sondern des einzelnen Arbeitgebers oder Arbeitnehmers ist. Auch eine Feststellungsklage nach § 256 ZPO scheidet aus, weil die Tarifgebundenheit kein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis darstellt11. Zulässig ist aber eine 1 HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 15. 2 Vgl. HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 21; zu den terminologischen Unterschieden vgl. Jacobs in Jacobs/Krause/Oetker, § 5 Rz. 14 ff.; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 100 f. 3 Vgl. zu den Grenzen Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 110. 4 Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 9. 5 BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225 (1228). 6 Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 22; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 2. 7 Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 24; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 15. 8 Vgl. BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225 (1229); Höpfner, ZfA 2009, 541 (546). 9 Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 230 ff.; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 22; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 16. 10 BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225 (1228). 11 BAG v. 24.4.2007 – 1 ABR 27/06, NZA 2007, 1011 (1012); Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 345.

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Grundsätze der Tarifgebundenheit von Arbeitgeber und Arbeitnehmer

Rz. 6 Teil 6

Klage auf Feststellung der Anwendbarkeit eines TVes im konkreten Arbeitsverhältnis1. Ein Feststellungsinteresse besteht dann, wenn hiervon die Entscheidung über mehrere Forderungen aus dem Arbeitsverhältnis abhängt2. Demgegenüber sind Streitigkeiten zwischen Verband und Mitglied über das Bestehen der vereinsrechtlichen Mitgliedschaft vor den ordentlichen Gerichten ohne Beteiligung des jeweiligen Arbeits- und Tarifvertragspartners auszutragen3.

II. Legitimation der Tarifgebundenheit 1. Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft Die Legitimation der Tarifautonomie und insb. der Normsetzungsbefugnis der TV-Parteien ist Gegenstand einer seit den Anfängen des Tarifrechts bis heute geführten lebhaften Diskussion4. Sie kann an dieser Stelle nicht fortgeführt werden. Festzustellen ist jedenfalls, dass die Rechtsetzungskompetenz der TVParteien nach dem Regelungsmodell des § 3 Abs. 1 TVG grundsätzlich auf deren Mitglieder beschränkt ist. Damit folgt das TVG sowohl für die Normsetzungsbefugnis der TV-Parteien5 als auch für die Tarifgebundenheit der Arbeitsvertragsparteien im Grundsatz dem Legitimationsmodell kraft Mitgliedschaft im Verband6. Die normative Wirkung des TVes in einem Arbeitsverhältnis setzt danach die durch Mitgliedschaft in den TV-schließendenden Verbänden vermittelte beiderseitige Tarifgebundenheit der Arbeitsvertragsparteien voraus. Die Verbandsmitgliedschaft nur einer Arbeitsvertragspartei begründet auch dann keine Tarifgebundenheit, wenn der TV Pflichten ausschließlich für diese Partei festlegt7.

5

Tarifgebunden sind die Parteien des Arbeitsvertrags, die Mitglied im tarifschließenden Verband sind. Auf Arbeitgeberseite ist dies die juristische Person

6

1 BAG v. 26.7.2001 – 7 AZR 759/00, AP ZPO 1977 § 256 Nr. 63; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 346. 2 BAG v. 28.5.1997 – 4 AZR 663/95, NZA 1997, 1066 (1067); BAG v. 27.11.2002 – 4 AZR 661/01, AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 28; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 46. 3 Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 336 ff. (auch zur Bindungswirkung der Entscheidung für anschließende arbeitsgerichtliche Verfahren). 4 Vgl. aus jüngerer Zeit nur Bayreuther, Tarifautonomie, passim; Dieterich, FS Schaub, S. 117; Picker, GS Knobbe-Keuk, S. 879; Picker, ZfA 1998, 573; Richardi, FS Konzen, S. 791; Richardi, ZfA 2003, 655; Rieble, ZfA 2000, 5; Waltermann, FS Söllner, S. 1251; Waltermann, ZfA 2000, 53. 5 Die unmittelbare und zwingende Wirkung der Tarifnormen setzt darüber hinaus einen staatlichen Anerkennungsakt voraus, der in §§ 1 Abs. 1, 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG zu erblicken ist, vgl. Bayreuther, Tarifautonomie, S. 232; Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 32; Waltermann, ZfA 2000, 53 (82); a.A. Rieble, ZfA 2000, 5 (12 ff., 16 ff.). 6 Vgl. BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, NJW 1977, 2255 (2258); BVerfG v. 14.6.1983 – 2 BvR 488/80, NJW 1984, 1225; BAG v. 14.10.1997 – 7 AZR 811/96, NZA 1998, 778 (779); BAG v. 25.2.1998 – 7 AZR 641/96, NZA 1998, 715 (716); BAG v. 11.3.1998 – 7 AZR 700/96, NZA 1998, 716 (718). 7 Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 7.

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Teil 6 Rz. 7

Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft

oder die Personengesellschaft als Trägerin des Unternehmens bzw. bei einzelkaufmännischen Unternehmen der Kaufmann1. Denn nur der Unternehmensträger kann Arbeitgeber sein2. Das Unternehmen ist eine bloße organisatorische Einheit und als solche nicht rechtsfähig3. Es kann daher nicht die Mitgliedschaft in einem Verband erwerben4. Gleiches gilt für den Betrieb5. Auch der Konzern ist als wirtschaftliche Einheit rechtlich selbständiger Unternehmen nicht rechtsfähig. Die Mitgliedschaft der Konzernobergesellschaft im Arbeitgeberverband begründet keine Tarifgebundenheit der übrigen Konzerngesellschaften. Einen „tarifrechtlichen Durchgriff“ im Konzern gibt es nicht6. 7

Arbeitgeber in der Rechtsform einer Personengesellschaft sind nur dann tarifgebunden, wenn die Gesellschaft selbst Mitglied im Verband ist7. Die Mitgliedschaft der Gesellschafter ist nicht notwendig, aber auch nicht ausreichend, um die fehlende Mitgliedschaft der Gesellschaft zu ersetzen8. Dies gilt selbst dann, wenn alle Gesellschafter oder alle Komplementäre der Kommanditgesellschaft Mitglied im Verband sind. Sofern allerdings sämtliche (persönlich haftenden) Gesellschafter zugleich dem Arbeitgeberverband beitreten, wird man die Beitrittserklärung regelmäßig als Beitritt der Gesellschaft auslegen können9.

8

Bisher noch ungeklärt ist, ob es eine sog. „betriebsbezogene Mitgliedschaft“ des Arbeitgebers im Verband geben kann10. Vereinsrechtlich ist dies nicht möglich. Dies folgt aus dem Doppelcharakter der Mitgliedschaft. Zwar könnte das schuldrechtliche Rechtsverhältnis zwischen Mitglied und Verband aufgrund der Vertragsfreiheit der Parteien grundsätzlich beschränkt werden. Jedoch stellt die Mitgliedschaft zugleich ein subjektives Recht dar (vgl. Teil 2 Rz. 23). Als solches ist sie notwendig mit dem jeweiligen Mitglied als Rechtssubjekt verknüpft und ebenso wenig wie dieses rechtlich „teilbar“. Nicht von vornherein ausgeschlossen ist dagegen eine tarifrechtliche Aufspaltung der Mitgliedschaft. Eine „betriebsbezogene Mitgliedschaft“ wäre nichts anderes als eine Kombination aus Vollmitgliedschaft hinsichtlich des einen und OT-Mitgliedschaft hinsichtlich des anderen Betriebs. Rechtsdogmatisch handelte es sich ebenso wie bei der OT-Mitgliedschaft um eine Form gewillkürter Tarifunwilligkeit des 1 Vgl. HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 7; Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 6 Rz. 18 f. 2 Karsten Schmidt, Handelsrecht, § 4 IV 1 a. 3 Vgl. ErfK/Müller-Glöge, § 611 BGB Rz. 240; Karsten Schmidt, Handelsrecht, § 4 IV 1 a. 4 Insoweit unpräzise HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 7; Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 6 Rz. 17. 5 Grundlegend zu den Begriffen „Betrieb“ und „Unternehmen“ Jacobi, FS Ehrenberg, 1926, S. 1 (9 ff.; 16 ff.). 6 BAG v. 17.10.2007 – 4 AZR 1005/06, NZA 2008, 713 (715); Höpfner, in: Arbeitsrecht im Konzern, S. 113 (117 ff.) m.w.N. 7 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 247/96, NZA 1998, 484 (485); HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 7; Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 6 Rz. 19. 8 Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 6 Rz. 19; Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 16. 9 Großzügiger BAG v. 4.5.1994 – 4 AZR 418/93, NZA 1995, 638 (639); BAG v. 22.2.1957 – 1 AZR 426/56, AP TVG § 2 Nr. 2; Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 6 Rz. 19; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 35. 10 Dazu Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 61 ff.

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Grundsätze der Tarifgebundenheit von Arbeitgeber und Arbeitnehmer

Rz. 10 Teil 6

Verbandes. Die mitgliedschaftliche Legitimation des Verbandes erstreckte sich bei einem solchen tarifrechtlich gespaltenen Verbandsbeitritt von vornherein nur auf den der Vollmitgliedschaft zuzuordnenden Betrieb. Mitglied i.S.d. § 3 Abs. 1 TVG wäre der Arbeitgeber dann nur in Ansehung dieses Betriebs. Lässt man diese Form tarifrechtlich „gespaltener Mitgliedschaft“ zu, so ergeben sich wohl keine Probleme mit dem Gebot der Trennung der Befugnisse von Vollund OT-Mitgliedern (vgl. Teil 2 Rz. 157 ff.). Als (auch) Vollmitglied hat der Arbeitgeber die vollen Teilhaberechte am Verband und uneingeschränktes Stimmrecht auch in tarif- und arbeitskampfpolitischen Angelegenheiten. Für die Tarifgebundenheit ist nicht die Mitgliedschaft im Zeitpunkt des Abschlusses des TVes maßgebend. Die Tarifgebundenheit ist vielmehr „dynamisch“ angelegt, d.h. sie besteht (nur) in dem Zeitraum, in dem beide Arbeitsvertragsparteien bzw. auf Arbeitgeberseite der Rechtsnachfolger1 jeweils Mitglied der tarifschließenden Vereinigung sind2. VerbandsTVe begründen somit ein „Optionsrecht“ für die Nichtorganisierten, das sie durch Eintritt in den tarifschließenden Verband ausüben und mit dem sie die Tarifgebundenheit begründen können3. Umgekehrt wird das „Optionsrecht“ der Verbandsmitglieder, die Tarifgebundenheit durch Austritt zu beenden, durch § 3 Abs. 3 TVG weitgehend eingeschränkt.

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2. Tarifgebundenheit kraft hoheitlichen Aktes Die Lehre von der mitgliedschaftlichen Legitimation kann nicht alle Fälle der Tarifgebundenheit erklären4. So setzen etwa die Allgemeinverbindlicherklärung gemäß § 5 TVG, die Erstreckung von TVen im Anwendungsbereich des AEntG (§ 7 Abs. 1 AEntG) sowie die Anwendung tariflicher Mindeststundenentgelte für Leiharbeitnehmer (§ 3a Abs. 2 AÜG) zwingend einen staatlichen Mitwirkungsakt voraus5. Auch die Geltung von betriebs- und betriebsverfassungsrechtlichen Normen nach § 3 Abs. 2 TVG (vgl. Rz. 90 ff.) bei einseitiger Tarifgebundenheit nur des Arbeitgebers ist privatautonom nicht zu erklären, wenn man die Arbeitnehmer nicht nur reflexartig erfassen wollte6. Schließlich lässt sich jedenfalls eine zeitlich unbegrenzte Nachbindung an TVe nach Verbandsaustritt gemäß § 3 Abs. 3 TVG, wie das BAG sie vertritt7, nicht allein mit der durch die frühere Beitrittserklärung vermittelten mitgliedschaftlichen Legitimation begründen8. In diesen Fällen ist neben der mitgliedschaftlichen Legitimation ein hoheitlicher Akt notwendig, der die Tarifgebundenheit der 1 Vgl. Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 21. 2 Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 10. 3 Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 10 f.; rechtspolitische Kritik an der Tarifbindung später eingetretener Verbandsmitglieder üben Hartmann/Lobinger, NZA 2010, 421 (426 f.). 4 Vgl. ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 1. 5 Vgl. BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, NJW 1977, 2255 (2257 f.); BVerfG v. 14.6.1983 – 2 BvR 488/80, NJW 1984, 1225 (1225 f.); Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 29. 6 So Rieble, ZfA 2000, 5 (16); vgl. auch Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1514 ff.; Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 236 f. 7 BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53. 8 Vgl. Höpfner, NJW 2010, 2173 (2175); Henssler, FS Picker, S. 987 (1004); a.A. Willemsen/Mehrens, NZA 2010, 307 (308).

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Teil 6 Rz. 11

Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft

Arbeitsvertragsparteien rechtfertigt und der wiederum als Eingriff in die Privatautonomie und die Berufsfreiheit seinerseits verfassungsrechtlich einer Rechtfertigung bedarf.

3. Tarifgebundenheit kraft Rechtsscheins 11

Umstritten ist, ob eine Tarifgebundenheit kraft Rechtsscheins möglich ist. Dabei sind zwei Fälle zu unterscheiden: Erstens geht es um das Problem, ob der Abschluss eines TVes im Wege der Rechtsscheinhaftung möglich ist (dazu Teil 3 Rz. 37)1. Zweitens ist zu fragen, ob der zurechenbare Rechtsschein einer Verbandsmitgliedschaft die Bindung an einen VerbandsTV begründen kann. Das BAG ist zunächst in einem obiter dictum davon ausgegangen, dass eine Geltung von Tarifnormen aus Gründen des Vertrauensschutzes dann in Betracht kommt, wenn der Arbeitgeber die tariflichen Bestimmungen schon angewandt hat2. In einer späteren Entscheidung hat es dagegen ausdrücklich offen gelassen, ob es eine Tarifgebundenheit kraft Rechtsscheins einer Mitgliedschaft geben kann3. Das Schrifttum geht überwiegend davon aus, dass der Rechtsschein einer Mitgliedschaft keine Tarifgebundenheit begründen kann4.

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Richtigerweise wird man differenzieren müssen: Möglich ist zunächst eine „Verbandsmitgliedschaft kraft Rechtsscheins“, wenn der Beitrittsvertrag seitens des Verbandes von einem falsus procurator abschlossen wird, aber die Voraussetzungen einer Anscheins- oder Duldungsmacht vorliegen. In diesen Fällen ersetzt die Rechtsscheinvollmacht die fehlende Vertretungsmacht, so dass der Beitretende „echtes“ Verbandsmitglied wird und als solches gemäß § 3 Abs. 1 TVG tarifgebunden ist5. Davon zu unterscheiden ist der Fall, in dem ein Nicht- oder OT-Mitglied bei Abschluss eines Arbeitsvertrags den Anschein erweckt oder auf die Frage des Vertragspartners6 wahrheitswidrig behauptet, (Voll-)Mitglied eines Verbandes zu sein7. Dieser „Rechtsschein der Verbandsmitgliedschaft“ kann eine normative Tarifgebundenheit i.S.d. § 3 Abs. 1 TVG nicht begründen8. Dagegen kommt eine Rechtsscheinhaftung im Individualarbeitsrechtsverhältnis gegenüber dem Vertragspartner nach den allgemeinen 1 Dafür BAG v. 13.12.1994 – 3 AZR 347/94, NZA 1996, 139 (142); BAG v. 29.6.2004 – 1 AZR 143/03, AP TVG § 1 Nr. 36; dagegen Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 188; MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 165 Rz. 23. 2 BAG v. 2.12.1992 – 4 AZR 277/92, NZA 1993, 655 (658). 3 BAG v. 24.2.1999 – 4 AZR 62/98, NZA 1999, 995 (996); ebenso schon die Vorinstanz LAG Hessen v. 6.10.1997 – 16 Sa 585/97, LAGE § 97 ArbGG 1979 Nr. 1. 4 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 5; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 287; Kristina Schmidt, RdA 2004, 152 (156); a.A. Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 10. 5 Vgl. dazu KG v. 26.2.2004 – 1 W 549/01, OLG-NL 2004, 101 (106); MünchKomm/Reuter, § 26 BGB Rz. 18; a.A. Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 290 f. 6 Zum Fragerecht des Arbeitnehmers nach der Verbandszugehörigkeit des Arbeitgebers vgl. BAG v. 19.3.2003 – 4 AZR 331/02, NZA 2003, 1207 (1208); Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 327 f. 7 Vgl. dazu Canaris, S. 262 f. 8 LAG Baden-Württemberg v. 24.10.2000 – 10 TaBV 2/99, AP TVG § 3 Verbandszugehörigkeit Nr. 18; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 20; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 287, 132; unklar Canaris, S. 262: „Scheintarifgebundenheit“.

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Rz. 15 Teil 6

Beginn und Ende der Mitgliedschaft

Grundsätzen in Betracht, sofern und soweit der zurechenbare Rechtsschein für den Vertragsschluss mit dem gutgläubigen Dritten kausal ist1. Insoweit wird nicht der gute Glaube einer Arbeitsvertragspartei an die Tarifgebundenheit seines Vertragspartners geschützt2, sondern das Vertrauen auf die Richtigkeit der bei Vertragsschluss getätigten Aussagen. Darüber hinaus ist (jenseits der Rechtsscheinhaftung) eine Bezugnahme auf einen TV kraft betrieblicher Übung möglich, sofern die Voraussetzungen hierfür vorliegen (dazu Teil 10 Rz. 103 ff.). Keinesfalls können dagegen Handlungen eines Arbeitgebers oder Arbeitnehmers gegenüber dem Verband, die dem Arbeitsvertragspartner nicht bekannt sind (z.B. Zahlung von Beiträgen, Rechtsberatung), eine Rechtsscheinhaftung im Arbeitsverhältnis begründen3.

B. Beginn und Ende der Mitgliedschaft Die normative Gebundenheit an VerbandsTV gemäß § 3 Abs. 1 TVG setzt die Mitgliedschaft in der jeweiligen tarifschließenden Vereinigung voraus. Der tarifrechtliche Mitgliedschaftsbegriff deckt sich jedoch nicht mit der vereinsrechtlichen Verbandszugehörigkeit. So kann ein Verband eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung vorsehen, die vereinsrechtlich eine echte Mitgliedschaft darstellt, aber gleichwohl keine Mitgliedschaft i.S.d. § 3 Abs. 1 TVG begründet (dazu Teil 2 Rz. 148 ff.). Der tarifrechtliche Mitgliedschaftsbegriff ist insofern enger als der vereinsrechtliche. Umgekehrt gilt dies jedoch nicht. Jede tarifrechtliche Mitgliedschaft setzt zwingend die vereinsrechtliche Verbandszugehörigkeit voraus. Ohne Beitritt zum Verband fehlt die mitgliedschaftliche Legitimation zur Normsetzung durch VerbandsTVe.

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I. Erwerb der Mitgliedschaft Die Verbandszugehörigkeit richtet sich allein nach dem allgemeinen Vereinsrecht (vgl. Teil 2 Rz. 1). Sie entsteht durch Beteiligung an der Vereinsgründung (dazu Teil 2 Rz. 9 ff.) oder durch Eintritt in einen bereits existierenden Verein4.

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1. Verbandsbeitritt durch Aufnahmevertrag Der Erwerb der Mitgliedschaft im Wege des Eintritts setzt einen wirksamen Aufnahmevertrag zwischen dem Bewerber und dem Verein voraus5. Der Vertrag 1 Vgl. LAG Baden-Württemberg v. 24.10.2000 – 10 TaBV 2/99, AP TVG § 3 Verbandszugehörigkeit Nr. 18; Kristina Schmidt, RdA 2004, 152 (156); ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 5; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 294 ff. 2 Vgl. dazu Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 6 Rz. 16. 3 A.A. wohl Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 138. 4 Vgl. Palandt/Ellenberger, § 38 BGB Rz. 4; BeckOK-BGB/Schöpflin, § 38 Rz. 9; ErfK/ Franzen, § 3 TVG Rz. 6. 5 BGH v. 29.6.1987 – II ZR 295/86, NJW 1987, 2503; BeckOK-BGB/Schöpflin, § 38 Rz. 10.

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Teil 6 Rz. 16

Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft

kommt regelmäßig durch die Beitrittserklärung des Bewerbers (Angebot) und die anschließende Aufnahmeerklärung des Vorstands im Namen des Vereins (Annahme) zustande1. Ein Verzicht auf den Zugang der Annahmeerklärung gemäß § 151 Satz 1 BGB kommt beim Vereinseintritt den Umständen nach nicht in Frage2. 16

Gemäß §§ 58 Nr. 1, 60 Abs. 1 BGB soll die Satzung Bestimmungen über den Eintritt enthalten. Zu regeln ist insbesondere, ob zum Eintritt die Erklärungen des Bewerbers und des Vereinsvorstands genügen oder ob ein besonderes Aufnahmeverfahren stattfinden soll3. Enthält die Satzung keine ausdrückliche Bestimmung über die Form der Aufnahmeerklärungen, so kann der Aufnahmevertrag auch mündlich oder durch schlüssiges Verhalten zustande kommen4. Eine Satzungsregelung, wonach der Erwerb der Mitgliedschaft von der Entgegennahme eines Mitgliedsausweises abhängig ist, hat konstitutive Wirkung, d.h. die Mitgliedschaft beginnt erst, wenn alle Voraussetzungen (Vertragsschluss und Übergabe des Ausweises) vorliegen5.

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Ein Eintritt durch einseitiges Rechtsgeschäft des Bewerbers ist grundsätzlich nicht zulässig. Möglich ist es aber, dass die Satzung von einem gesonderten Aufnahmeakt seitens des Vereins absieht. In diesem Fall entsteht die Mitgliedschaft bereits mit dem Zugang der Beitrittserklärung6. Rechtsdogmatisch handelt es sich dabei jedoch nicht um ein einseitiges Rechtsgeschäft7, sondern um ein antizipiertes Angebot des Vereins – entweder „ad incertas personas“ oder an einen anhand bestimmter Merkmale begrenzten Personenkreis –, welches der Beitretende durch seine Beitrittserklärung annimmt.

18

Der Aufnahmevertrag setzt voraus, dass der Bewerber im Zeitpunkt des Vertragsschlusses geschäftsfähig ist. Bei Minderjährigen ist die Zustimmung des gesetzlichen Vertreters erforderlich (§§ 107, 108 Abs. 1 BGB). Dies gilt auch dann, wenn der Minderjährige den Mitgliedsbeitrag mit eigenen Mitteln bewirken kann. § 110 BGB ist nicht anwendbar, weil die aus der Mitgliedschaft erwachsenden Pflichten sich nicht in der Beitragszahlung erschöpfen8. Ist der Minderjährige aber zur Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses ermächtigt, so umfasst seine partielle Geschäftsfähigkeit gemäß § 113 Abs. 1 BGB auch den Eintritt in eine Gewerkschaft9. 1 BeckOK-BGB/Schöpflin, § 38 Rz. 10; Reichert, Rz. 1006 ff. 2 BGH v. 29.6.1987 – II ZR 295/86, NJW 1987, 2503; Reichert, Rz. 1009; a.A. Soergel/ Hadding, § 38 BGB Rz. 7a; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 68. 3 Vgl. BeckOK-BGB/Schöpflin, § 58 Rz. 3; BayObLG v. 24.3.1972 – BReg 2 Z 131/71, NJW 1972, 1323. 4 Vgl. BGH v. 24.10.1988 – II ZR 311/87, NJW 1989, 1724 (1725); OLG Hamm v. 6.9.2010 – 8 U 8/10, NZG 2011, 35 (36); MünchKomm/Reuter, § 58 BGB Rz. 2. 5 AG Duisburg v. 22.5.2002 – 3 C 746/02, NZG 2002, 1072. 6 BayObLG v. 24.3.1972 – BReg 2 Z 131/71, NJW 1972, 1323 (1324); Palandt/Ellenberger, § 38 BGB Rz. 4; Erman/Westermann, § 38 BGB Rz. 4. 7 Soergel/Hadding, § 38 BGB Rz. 7a; a.A. Erman/Westermann, § 38 BGB Rz. 4; Jauernig/ Jauernig, § 38 BGB Rz. 2. 8 Reichert, Rz. 1011. 9 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 6; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 8; MünchKomm/Schmitt, § 113 BGB Rz. 24.

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Beginn und Ende der Mitgliedschaft

Rz. 21 Teil 6

Auf Seiten des Verbandes ist grundsätzlich der Vorstand zur Abgabe der Annahmeerklärung ermächtigt (§ 26 Abs. 1 Satz 2 BGB). Bei den bundesweit agierenden Gewerkschaften hat regelmäßig der „Bundesvorstand“ die Stellung des Vorstands i.S.d. § 26 BGB1. Die Satzung kann aber gemäß § 30 BGB einen „besonderen Vertreter“ mit beschränkter organschaftlicher Vertretungsmacht bestimmen, der bei Eintragung der Vertretung im Vereinsregister analog § 64 BGB2 auch für die Annahme von Beitrittserklärungen ermächtigt sein kann3. Darunter fällt etwa der nach der Satzung von ver.di für die Annahme bzw. Ablehnung des Beitritts zuständige „Bezirksvorstand“4. Daneben ist nach den allgemeinen Grundsätzen der §§ 164 ff. BGB auch eine rechtsgeschäftliche Vertretung des Vereins möglich.

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Die Satzung kann den Kreis möglicher Verbandsmitglieder einschränken. So beschränken Gewerkschaften ihren Mitgliederkreis regelmäßig auf Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis in den Organisationsbereich der Gewerkschaft fällt5. Gleiches gilt für Arbeitgeberverbände. Regional tätige Verbände setzen darüber hinaus meist voraus, dass der Arbeitgeber bzw. dessen Unternehmen oder zumindest einzelne Betriebe dem räumlichen Tätigkeitsbereich des Verbandes unterfallen. Ein Verein kann den Kreis seiner Mitglieder auch auf Körperschaften beschränken. Als derartige „Vereinsverbände“ treten üblicherweise die Spitzenorganisationen i.S.d. § 2 Abs. 2 TVG auf6.

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Fraglich ist, ob der zuständige Vertreter des Vereins ein Angebot eines Bewerbers, der die satzungsmäßigen Voraussetzungen an eine Mitgliedschaft nicht erfüllt, rechtswirksam annehmen kann. Ausgangspunkt ist die umfassende und unbeschränkte Vertretungsmacht des Vorstands gemäß § 26 Abs. 1 BGB. Insbesondere ist die Vertretungsmacht nicht durch den Vereinszweck beschränkt (vgl. Teil 2 Rz. 28). Der Umfang der Vertretungsmacht kann aber gemäß § 26 Abs. 1 Satz 3 BGB mit Wirkung gegen Dritte durch die Satzung beschränkt werden. Allerdings ist eine Beschränkung der Vertretungsmacht nur wirksam, wenn sie in der Satzung eindeutig zum Ausdruck kommt7. Die bloße Einschränkung des Kreises potentieller Verbandsmitglieder reicht hierfür nicht aus. Der Aufnahmevertrag ist daher grundsätzlich auch wirksam, wenn der Bewerber die satzungsmäßigen Anforderungen an die Mitgliedschaft nicht erfüllt

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1 Vgl. etwa § 42 Ziff. 3 der Satzung von ver.di v. 29./30.9.2009; § 18 Ziff. 1, 3 der Satzung der IG Metall v. 1.1.2008. 2 Vgl. BayObLG v. 11.3.1981 – BReg 2 Z 12/81, NJW 1981, 2068; BeckOK-BGB/Schöpflin, § 30 Rz. 11. 3 Vgl. dazu Reichert, Rz. 2845 ff. 4 § 7 Ziff. 2 der Satzung von ver.di v. 29./30.9.2009; ähnlich § 3 Ziff. 6 der Satzung der IG Metall v. 1.1.2008: „Ortsvorstand“. 5 Vgl. etwa § 6 Ziff. 1 der Satzung von ver.di v. 29./30.9.2009; § 1 Ziff. 3 der Satzung der IG BCE v. 12.10.2009. 6 Einer Spitzenorganisation steht es jedoch frei, nach ihrer Satzung auch Einzelmitglieder zuzulassen, vgl. BAG v. 6.5.2003 – 1 AZR 241/02, NZA 2004, 562; BAG v. 22.3.2000 – 4 ABR 79/98, NZA 2000, 893; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 27. 7 BGH v. 22.4.1996 – II ZR 65/95, NJW-RR 1996, 866; BayObLG v. 19.8.1999 – 2Z BR 63/99, NJW-RR 2000, 41; MünchKomm/Reuter, § 26 BGB Rz. 15; Staudinger/Weick, § 26 BGB Rz. 11.

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Teil 6 Rz. 22

Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft

oder wenn der Aufnahme ein vereinsinternes Aufnahmeverfahren hätte vorangehen müssen1. 22

Der Aufnahmevertrag kann nach überwiegender Auffassung unter einer Bedingung oder Befristung geschlossen werden2. Die Mitgliedschaft wird dann erst in dem Zeitpunkt erworben, in dem die Bedingung eintritt (aufschiebende Bedingung), bzw. sie endet automatisch zu diesem Termin (auflösende Bedingung).

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Umstritten ist, ob ein rückwirkender Verbandsbeitritt zulässig ist. Die Frage hat für das Tarifrecht keine große Bedeutung. Denn auch wenn man einen rückwirkenden Beitritt mit der überwiegenden Auffassung verbandsrechtlich für zulässig hält3, besteht Einigkeit, dass dieser jedenfalls nicht rückwirkend die Tarifgebundenheit des Verbandsmitglieds begründet. Für die Mitgliedschaft i.S.d. § 3 Abs. 1 TVG kommt es allein auf den „tatsächlichen Beitritt“ an4. So kann etwa auch ein Arbeitnehmer, der unter dem Jahr rückwirkend zum Jahresbeginn in die Gewerkschaft eintritt, nur Zahlung des Tariflohns ab dem Zeitpunkt des Abschlusses des Aufnahmevertrags verlangen. Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob die TV-Parteien im TV eine Rückwirkung der Tarifnormen vorsehen können (dazu Teil 8 Rz. 92).

2. Aufnahmeanspruch gegen den Verband 24

Nach dem Grundsatz der Vertragsfreiheit kann der Verband selbst frei entscheiden, wen er als Mitglied aufnehmen will. Einen Kontrahierungszwang gibt es grundsätzlich nicht, auch wenn der Bewerber die satzungsgemäßen Voraussetzungen an eine Mitgliedschaft erfüllt. Ein Aufnahmeanspruch besteht nur ausnahmsweise, wenn der Verband gesetzlich dazu verpflichtet ist, sich durch die Satzung selbst gebunden hat oder eine Monopol- oder monopolähnliche Stellung besitzt5.

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Der Verband kann sich in der Satzung gegenüber denjenigen Bewerbern, die bestimmte satzungsmäßig vorgegebene Bedingungen für die Mitgliedschaft erfüllen, zur Aufnahme verpflichten. Möglich ist auch ein Anspruch des OT-Mitglieds auf Wechsel in die Vollmitgliedschaft6. Ein Aufnahmeanspruch kraft Selbstbindung des Verbandes ist jedoch so ungewöhnlich, dass sich aus der Sat-

1 Stöber/Otto, Rz. 242; BeckOK-BGB/Schöpflin, § 38 Rz. 11. 2 BAG v. 22.11.2000 – 4 AZR 688/99, NZA 2001, 980 (982); RG v. 24.10.1938 – IV 94/38, JW 1938, 3229 (3230); Palandt/Ellenberger, § 38 BGB Rz. 4; BeckOK-BGB/Schöpflin, § 38 Rz. 11; Reichert, Rz. 1014; differenzierend MünchKomm/Westermann, § 158 BGB Rz. 33; a.A. Staudinger/Weick, § 35 BGB Rz. 26. 3 BAG v. 22.11.2000 – 4 AZR 688/99, NZA 2001, 980 (981); KG v. 19.8.2010 – 1 W 232/10, RPfleger 2011, 90; FG München v. 15.12.2010 – 4 K 2771/07, StE 2011, 347; BeckOK-BGB/Schöpflin, § 38 Rz. 11; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 20; a.A. Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 94; Reichert, Rz. 1014. 4 BAG v. 22.11.2000 – 4 AZR 688/99, NZA 2001, 980 (981 f.); BAG v. 20.12.1988 – 1 ABR 57/87, NZA 1989, 564 (565); HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 38; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 39; Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 8. 5 Vgl. dazu Reichert, Rz. 1048 ff. 6 Vgl. Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 97.

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Beginn und Ende der Mitgliedschaft

Rz. 27 Teil 6

zung gesicherte Anhaltspunkte für einen Individualanspruch des Bewerbers ergeben müssen1. Im Zweifel ist ein Rechtsanspruch auf Aufnahme nicht gewollt2. Das Kartellrecht kennt in § 20 Abs. 6 GWB einen Aufnahmeanspruch gegenüber Wirtschafts- und Berufsvereinigungen. Darunter versteht man freiwillige Verbindungen von Unternehmen, die eine umfassende Förderung der gemeinsamen wirtschaftlichen, berufsständischen und sozialen Interessen ihrer Mitglieder und ihre Vertretung nach außen zum Ziel haben3. Nach dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers findet die Norm jedoch auf Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, deren Zweck sich ausschließlich auf die Wahrnehmung der Interessen ihrer Mitglieder auf arbeitsrechtlichem Gebiet beschränkt, keine Anwendung4.

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Gegenüber Tarifverbänden, die in ihrem Zuständigkeitsbereich eine Monopoloder monopolähnliche Stellung hinsichtlich der Vertretung von Arbeitnehmern oder Unternehmen innehaben, besteht jedoch ein vergleichbarer Aufnahmeanspruch aus § 826 BGB5. Dieser setzt weder die Unternehmenseigenschaft des Bewerbers voraus, noch muss der zur Aufnahme verpflichtete Verband eine Berufs- oder Wirtschaftsvereinigung sein6. Erforderlich ist stets eine umfassende Abwägung der Interessen des Bewerbers und des Verbandes im jeweiligen Einzelfall. Ein Aufnahmeanspruch ist gegeben, wenn der Verband eine überragende Machtstellung und der Bewerber ein wesentliches Interesse am Erwerb der Mitgliedschaft hat und kein berechtigter Grund zur Ablehnung vorliegt7. Bei Gewerkschaften ist dabei insbesondere zu berücksichtigen, ob für den Beitrittswilligen weitere Gewerkschaften tarifzuständig und vergleichbar durchsetzungsstark sind8. Der Aufnahmeanspruch besteht nur in den Grenzen der satzungsmäßigen Voraussetzungen an die Mitgliedschaft. Die Satzung einer Gewerkschaft kann vorsehen, dass ein Beitritt nicht zulässig ist, wenn der Arbeitnehmer bereits Mitglied einer konkurrierenden Gewerkschaft ist9. Entsprechendes gilt für Mitglieder einer gewerkschaftsfeindlichen Partei sowie nach der Rechtsprechung für Arbeitnehmer, die auf einer gewerkschaftsfremden Liste für den Betriebsrat kandidieren10.

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6 7 8

9 10

BGH v. 29.6.1987 – II ZR 295/86, NJW 1987, 2503 (2504); Reichert, Rz. 1049. BGH v. 1.10.1984 – II ZR 292/83, NJW 1985, 1214 (1215). Immenga/Mestmäcker/Markert, § 20 GWB Rz. 330. Vgl. den Bericht des Wirtschaftsausschusses zu BT-Drucks. II/3644, S. 29; Galperin, DB 1969, 704 (705); Immenga/Mestmäcker/Markert, § 20 GWB Rz. 334. BGH v. 10.12.1984 – II ZR 91/84, NJW 1985, 1216; bestätigt durch BGH v. 19.10.1987 – II ZR 43/87, NJW 1988, 552 (555); vgl. auch ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 8; HWK/ Henssler, § 3 TVG Rz. 9; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 239 ff.; a.A. Säcker/Rancke, AuR 1981, 1 (12). Vgl. Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Dorß, § 20 GWB Rz. 214 f. Vgl. Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 98. Weitergehend Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 241, wonach tariffähige Vereinigungen stets zur Aufnahme verpflichtet sind; wie hier wohl Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 23. Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 108 ff.; vgl. auch BGH v. 25.3.1991 – II ZR 170/90, NJW-RR 1992, 246 (zum Ausschluss aus der Gewerkschaft). Vgl. BVerfG v. 24.2.1999 – 1 BvR 123/93, NJW 1999, 2657 (zum Ausschluss); Löwisch/ Rieble, § 3 TVG Rz. 102; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 242 f.; Popp, ZfA 1977, 401; Reuter, ZGR 1980, 101 (124 ff.); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 448 ff.

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Teil 6 Rz. 28 28

Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft

Die Ablehnung eines Aufnahmegesuchs ist zu begründen, um eine gerichtliche Überprüfung zu ermöglichen1. Der abgelehnte Bewerber kann Leistungsklage auf Abschluss des Aufnahmevertrages erheben2. Im Falle des Obsiegens gilt die Aufnahmeerklärung des Vereins gemäß § 894 ZPO als abgegeben3.

3. Mängel des Verbandsbeitritts 29

Wie jeder Vertrag kann auch der Aufnahmevertrag an Mängeln leiden. In Betracht kommen alle Arten von Nichtigkeitstatbeständen für Willenserklärungen (§§ 105, 107 f., 117 f., 134, 138, 142 BGB). Ficht das Verbandsmitglied seine auf den Abschluss des Aufnahmevertrags gerichtete Willenserklärung an (§§ 119, 123 BGB), so werden die Wirkungen des Beitritts gemäß § 142 Abs. 1 BGB grundsätzlich rückwirkend wieder beseitigt. Die überwiegende Auffassung schränkt die gesetzliche Regelung jedoch nach den Grundsätzen des fehlerhaften Verbandsbeitritts ein4. Danach wird die Mitgliedschaft grundsätzlich erst ex nunc, d.h. mit Zugang der Anfechtungserklärung, beendet.

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Bis zur Geltendmachung des Beitrittsmangels ist das (fehlerhafte) Verbandsmitglied gemäß § 3 Abs. 1 TVG tarifgebunden. Verbandsrechtlich hat die Anfechtung der Beitrittserklärung somit die Wirkung einer außerordentlichen fristlosen Kündigung der Mitgliedschaft. Im Gegensatz zu dieser schließt sich an die Anfechtung jedoch keine Nachbindung gemäß § 3 Abs. 3 TVG an5. Dies entspräche zwar der Fiktion der fehlerhaften Mitgliedschaft als eine vollwertige Mitgliedschaft im Innen- und Außenverhältnis6. Entscheidend sind jedoch vorrangig der Normzweck des § 3 Abs. 3 TVG sowie der Zweck des fehlerhaften Beitritts: Die Nachbindung soll eine Tarifflucht des Mitglieds durch Austritt aus dem Verband vermeiden (vgl. Rz. 62). Die Lehre vom fehlerhaften Verbandsbeitritt will Rückabwicklungsschwierigkeiten im Verhältnis von Verband und Mitglied vermeiden und dient darüber hinaus dem Verkehrsschutz7. Beide Zwecke verlangen nicht die Fortgeltung der Tarifnormen für die Zukunft über den Zeitpunkt der Anfechtung hinaus.

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Nicht anwendbar ist die Lehre vom fehlerhaften Verband dagegen, wenn der Verbandszweck unmittelbar gegen die §§ 134, 138 BGB verstößt, wenn der vorrangige Schutz Geschäftsunfähiger und beschränkt Geschäftsfähiger eingreift oder wenn der Beitretende arglistig getäuscht wurde8. In diesem Fall gilt der 1 2 3 4

5 6 7 8

Vgl. Galperin, DB 1969, 704 (707); Küttner, NJW 1980, 968 (970). Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 447. Reichert, Rz. 1078. OLG Hamm v. 6.9.2010 – 8 U 8/10, NZG 2011, 35 (36); MünchKomm/Reuter, § 38 BGB Rz. 60; Staudinger/Weick, § 35 BGB Rz. 26; BeckOK-BGB/Schöpflin, § 38 Rz. 12; ausführlich zur Lehre vom fehlerhaften Beitritt Schäfer, S. 302 ff. Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 87; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 7; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 8; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 17 I 1 d. Vgl. Karsten Schmidt, Handelsrecht, § 6 III 2, V 1 a. Vgl. Karsten Schmidt, Handelsrecht, § 6 I 3 m.w.N. Vgl. Soergel/Hadding, § 705 BGB Rz. 81 f.; Staudinger/Habermeier, § 705 BGB Rz. 70; MünchKommBGB/Ulmer, § 705 BGB Rz. 340 m.w.N.; für § 123 BGB a.A. Karsten Schmidt, Handelsrecht, § 6 V 1 a.

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Beginn und Ende der Mitgliedschaft

Rz. 34 Teil 6

Beitritt als von Anfang an unwirksam. Mangels mitgliedschaftlicher Legitimation besteht dann auch keine Tarifgebundenheit gemäß § 3 Abs. 1 TVG.

4. Umwandlung des Verbandes Die Umwandlung des Verbandes führt zur Sukzession der Mitgliedschaften1. Bei der Verschmelzung durch Aufnahme werden die Mitglieder des übertragenden Vereins gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 3 Satz 1 UmwG Mitglieder des aufnehmenden Vereins2. Bei einer Verschmelzung durch Neugründung werden die Mitglieder der übertragenden Vereine kraft Gesetzes Mitglieder des neuen Vereins, wenn die Eintragung in das Vereinsregister erfolgt (§§ 36 Abs. 1, 20 Abs. 1 Nr. 3 Satz 1 UmwG)3. Zur Umwandlung der Mitgliedsunternehmen vgl. Rz. 60.

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II. Beendigung der Mitgliedschaft Mit der Beendigung der Mitgliedschaft im Verband endet die normative Tarifgebundenheit gemäß § 3 Abs. 1 TVG, und es schließt sich grundsätzlich die Nachbindung gemäß § 3 Abs. 3 TVG an. Ebenso wie der Erwerb bestimmt sich auch die Beendigung der Mitgliedschaft nach dem allgemeinen Verbandsrecht. Als Beendigungsgründe kommen in Betracht: Austritt, Kündigung, Aufhebungsvertrag, Ausschluss, Eintritt einer auflösenden Bedingung oder Befristung, Auflösung des Verbandes, Tod des Mitglieds, Umwandlung oder Vollbeendigung des Mitgliedsunternehmens.

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1. Verbandsaustritt In den meisten Fällen wird die Mitgliedschaft durch Austritt aus dem Verband beendet. Der Austritt ist ein einseitiges Rechtsgeschäft. Er erfolgt durch eine auf Beendigung der Mitgliedschaft gerichtete, empfangsbedürftige Willenserklärung des Mitglieds gegenüber dem Verband4. In der Sache handelt es sich beim Austritt um eine ordentliche Kündigung der Mitgliedschaft durch das Verbandsmitglied5. Das Austrittsverfahren richtet sich in erster Linie nach der Verbandssatzung. Gemäß § 58 Nr. 1 BGB soll bereits die Gründungssatzung Bestimmungen über den Austritt der Mitglieder enthalten. Die Satzungshoheit des Vereins wird jedoch beschränkt durch das in § 39 Abs. 1 BGB garantierte Recht zum Austritt. Darüber hinaus darf die Kündigungsfrist gemäß § 39 Abs. 2 Halbs. 2 BGB höchstens zwei Jahre betragen (vgl. Rz. 37). § 39 BGB ist Ausfluss der negativen Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 1 und 3 GG. Von ihr kann weder durch die Satzung noch durch individuelle Vereinbarung zwischen Verein und Mitglied abgewichen werden (vgl. § 40 BGB). Abreden, die das Recht zum 1 2 3 4

Vgl. Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 171. BeckOK-BGB/Schöpflin, § 38 Rz. 9. BeckOK-BGB/Schöpflin, § 38 Rz. 9. Vgl. BayObLG v. 23.12.1986 – BReg 3 Z 126/86, BayObLGZ 1986, 528 (533); Reichert, Rz. 1085. 5 So spricht etwa § 39 Abs. 2 BGB gleichbedeutend von „Kündigungsfrist“; vgl. auch BeckOK-BGB/Schöpflin, § 39 Rz. 1.

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Teil 6 Rz. 35

Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft

Austritt beschränken (z.B. ein Austrittsverbot für Vorstandsmitglieder), sind gemäß § 134 BGB bzw. Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG nichtig1. 35

Die Erklärung des Austritts ist grundsätzlich formlos möglich2. Sie kann auch konkludent erfolgen3. Die Satzung kann die Einhaltung einer bestimmten Form als Wirksamkeitsvoraussetzung des Austritts verlangen, sofern das Austrittsrecht hierdurch nicht unzulässig erschwert wird4. Zulässig ist ein einfaches Schriftformerfordernis. Trotz des Normcharakters der Satzung handelt es sich dabei um eine gewillkürte Schriftform, die gemäß § 127 Abs. 2 BGB auch durch Telefax oder E-Mail gewahrt wird5. Verlangt die Satzung eine Erklärung in Form des Einschreibens, so genügt die Einhaltung der einfachen Schriftform, wenn die nicht eingeschriebene Sendung ihren bestimmungsgemäßen Empfänger erreicht6. Ein konstitutives Einschreibeerfordernis ist dagegen als unzulässige Erschwerung des Austrittsrechts unwirksam7. Entsprechendes gilt für die Rückgabe eines Mitgliedsausweises oder Mitgliedsbuches. Verlangt eine Satzung neben der schriftlichen Austrittserklärung, dass der Mitgliedsausweis zurückgegeben werden muss8, so handelt es sich nicht um eine konstitutive Wirksamkeitsvoraussetzung des Austritts, sondern lediglich um eine schuldrechtliche Herausgabepflicht9. Zulässig ist aber eine Regelung, wonach die Rückgabe des Mitgliedsausweises als konkludente Austrittserklärung gilt10.

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Im Gegensatz zum Verbandsbeitritt ist der Austritt als Gestaltungsrecht nach überwiegender Auffassung bedingungsfeindlich11. Zulässig sind nur solche (Potestativ-)Bedingungen, deren Eintritt allein vom Willen des Verbandes abhängt12.

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Nach dem Gesetz muss beim Austritt aus einem Verein keine Frist eingehalten werden. Allerdings kann die Satzung bestimmen, dass der Austritt nur am Schluss eines Geschäftsjahres oder erst nach Ablauf einer Austrittsfrist zulässig ist (§ 39 Abs. 2 Halbs. 1 BGB). Als Höchstfrist nennt § 39 Abs. 2 Halbs. 2 1 Vgl. Reichert, Rz. 1084; BeckOK-BGB/Schöpflin, § 39 Rz. 1. 2 Vgl. BayObLG v. 23.12.1986 – BReg 3 Z 126/86, BayObLGZ 1986, 528 (533); BeckOKBGB/Schöpflin, § 39 Rz. 2. 3 Vgl. RG v. 13.12.1911 – 257/11, Das Recht 1912, Nr. 541; BayObLG v. 23.12.1986 – BReg 3 Z 126/86, BayObLGZ 1986, 528 (534). 4 Vgl. MünchKomm/Reuter, § 39 BGB Rz. 4. 5 Vgl. BGH v. 22.4.1996 – II ZR 65/95, NJW-RR 1996, 866 (867); MünchKomm/Reuter, § 39 BGB Rz. 4; BeckOK-BGB/Schöpflin, § 39 Rz. 3. 6 BAG v. 9.11.1956 – 1 AZR 421/54, NJW 1957, 358; BGH v. 22.4.1996 – II ZR 65/95, NJW-RR 1996, 866 (867). 7 Staudinger/Weick, § 39 BGB Rz. 3; Palandt/Ellenberger, § 39 BGB Rz. 2; Löwisch/ Rieble, § 3 TVG Rz. 129; a.A. Reichert, Rz. 1092; BeckOK-BGB/Schöpflin, § 39 Rz. 3. 8 So etwa § 8 Nr. 1 der Satzung der IG Metall v. 4.–10.11.2007. 9 Vgl. Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 129; Staudinger/Weick, § 39 BGB Rz. 3. 10 OLG Hamm v. 14.7.1999 – 8 U 22/98, NJW 2000, 523 (524); Palandt/Ellenberger, § 39 BGB Rz. 2. 11 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 158 BGB Rz. 33; Reichert, Rz. 1086; Waldner/ Wörle-Himmel in Sauter/Schweyer/Waldner, Rz. 81. 12 Vgl. OLG Dresden v. 26.4.1907 – 3 O 1/07, SeuffArch. 62 Nr. 248, S. 436 f.; Reichert, Rz. 1086; MünchKomm/Ulmer/Schäfer, § 723 BGB Rz. 16 (zur GbR).

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Beginn und Ende der Mitgliedschaft

Rz. 39 Teil 6

BGB einen Zeitraum von zwei Jahren. Für den Austritt aus einer Gewerkschaft wird dieser Zeitraum unter Berücksichtigung der negativen Koalitionsfreiheit des Arbeitnehmers allgemein für zu lang gehalten. Nach der Rechtsprechung des BGH, die im Schrifttum weitgehend auf Zustimmung gestoßen ist1, ist eine Kündigungsfrist von drei Monaten mit Art. 9 Abs. 3 GG vereinbar, eine mehr als halbjährige Frist demgegenüber unzulässig2. Dogmatischer Anknüpfungspunkt für die im Vergleich zu § 39 BGB reduzierten Höchstfrist ist Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG: Soweit eine satzungsmäßige Regelung der Austrittsfrist über die der Mitgliedschaft in einer Koalition immanente Beschränkung der Kündigungsfreiheit hinausgeht, ist sie als unzulässige Einschränkung der Koalitionsfreiheit nichtig3. Die ausnahmsweise unmittelbare Wirkung des Grundrechts im Privatrechtsverkehr geht insofern einer verbandsrechtlichen Angemessenheitskontrolle der Satzung vor4. Das BAG hat bisher ausdrücklich offengelassen, welche Höchstfrist für den Austritt aus einem Arbeitgeberverband gilt5. Die überwiegende Auffassung im Schrifttum wendet hierfür dieselben Fristen wie für den Austritt aus einer Gewerkschaft an6. Dem ist zuzustimmen. Zwar sind Arbeitgeberverbände im Gegensatz zu den Gewerkschaften in der Regel keine Massenorganisationen und auch nicht als solche angelegt, so dass ein gesteigertes Interesse am Fortbestand jeder einzelnen Mitgliedschaft bestehen kann7. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Hürden für eine Beendigung der Tarifbindung nach geltendem Tarifrecht (§§ 3 Abs. 3, 4 Abs. 5 TVG) derart hoch liegen, dass der Verbandsaustritt für den Arbeitgeber regelmäßig ohnehin eher unattraktiv sein wird. Wollte man zusätzlich Austrittsfristen von mehr als sechs Monaten zulassen, so würde durch dieses „Gesamtpaket“ ein unzulässiger Zwang auf den Arbeitgeber ausgeübt werden, Mitglied im Verband zu bleiben8.

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Sieht die Verbandssatzung eine zu lange Austrittsfrist vor, wird diese nach überwiegender Auffassung auf das erlaubte Maß reduziert9. Zwar führt die Einschränkung der Koalitionsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG im Ausgangspunkt zur Nichtigkeit der satzungsmäßigen Regelung über die Austritts-

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1 Vgl. HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 11; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 45; MünchKomm/ Reuter, § 39 BGB Rz. 9. 2 BGH v. 4.7.1977 – II ZR 30/76, AP GG Art. 9 Nr. 25; BGH v. 22.9.1980 – II ZR 34/80, NJW 1981, 340. 3 MünchKomm/Reuter, § 39 BGB Rz. 9; Reuter, RdA 2006, 117 (118 f.). 4 A.A. Oetker, ZfA 1998, 41 (59 ff.); Reitze, NZA 1999, 70 (72). 5 BAG v. 1.12.2004 – 4 AZR 55/04, NZA 2005, 645; BAG v. 19.9.2006 – 1 ABR 2/06, NZA 2007, 622; für die Zulässigkeit einer sechsmonatigen Kündigungsfrist LAG Saarland v. 22.10.2003 – 2 Sa 48/03, LAGReport 2004, 123. 6 HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 11; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 123; Thüsing/Braun/ Braun, 6. Kap. Rz. 17; Däubler, NZA 1996, 225 (226); im Grundsatz auch Reitze, NZA 1999, 70 (71); a.A. Oetker, ZfA 1998, 41 (69 ff.); ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 38. 7 Vgl. Oetker, ZfA 1998, 41 (71 f.); Reitze, NZA 1999, 70 (71). 8 Vgl. zu den Anforderungen an einen Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit BVerfG v. 3.7.2000 – 1 BvR 945/00, NZA 2000, 947. 9 RG v. 26.5.1937 – K 76/37, JW 1937, 3236; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 125; HWK/ Henssler, § 3 TVG Rz. 11; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 53; Reuter, RdA 2006, 117 (120).

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Teil 6 Rz. 40

Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft

frist1. Die hierdurch eintretende planwidrige Regelungslücke in der Satzung ist aber nach dem hypothetischen Willen der Satzungsgeber im Wege der Umdeutung gemäß § 140 BGB dahingehend auszufüllen, dass an die Stelle der unwirksamen Austrittsfrist die längste, im konkreten Einzelfall noch erlaubte Frist tritt2. Das Verbot der geltungserhaltenden Reduktion3 steht dem schon deshalb nicht entgegen, weil es sich bei Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG nicht um eine Inhaltskontrolle der Verbandssatzung handelt4. 40

Kündigt das Verbandsmitglied die Mitgliedschaft „zum nächstmöglichen Termin“, so ist die Erklärung nach Auffassung des BAG in der Regel im Sinne einer Beendigung des Mitgliedschaftsverhältnisses zum satzungsgemäß berechneten Termin auszulegen5. Auf die Wirksamkeit der in der Satzung festgelegten Austrittsfrist soll es danach grundsätzlich nicht ankommen. Im Ausgangspunkt ist der Rechtsprechung zu folgen. Für die Auslegung der Erklärung ist gemäß §§ 133, 157 BGB der objektive Empfängerhorizont entscheidend. Der nach dem Wortlaut der Erklärung maßgebende „nächstmögliche“ Termin bestimmt sich primär nach der satzungsrechtlichen Ausgestaltung der Austrittsfrist. Nur wenn diese offenkundig gegen § 39 Abs. 2 Halbs. 2 BGB bzw. gegen die nach der Rechtsprechung für den Austritt aus einer Koalition verkürzte Höchstfrist verstößt, ist dies bei der Auslegung der Erklärung zu berücksichtigen bzw. ist ein Rückgriff auf die satzungsmäßige Frist nach § 242 BGB ausgeschlossen6.

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Will ein Verband die satzungsmäßige Austrittsfrist verkürzen oder ein „Sonderaustrittsrecht“ für bestimmte Fälle einführen, so ist für dessen Wirksamkeit neben dem Beschluss der Mitgliederversammlung die Eintragung in das Vereinsregister gemäß § 71 Abs. 1 Satz 1 BGB erforderlich7. Die vom BGH entwickelten Grundsätze zur sog. „punktuellen Satzungsänderung“, wonach eine einen Einzelfall regelnde Satzungsdurchbrechung auch ohne Einhaltung der formellen Voraussetzungen einer Satzungsänderung wirksam sein kann8, gelten für Regelungen über Austrittsfristen nicht9.

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Über die Wirksamkeit einer in der Satzung festgelegten Austrittsfrist ist als Vorfrage der Tarifgebundenheit des Verbandsmitglieds im arbeitsgerichtlichen 1 Insoweit a.A. Reuter, RdA 2006, 117 (120). 2 Vgl. Höpfner, ZfA 2009, 541 (554); Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 47, der aber für den Austritt aus Arbeitgeberverbänden eine einjährige Frist für zulässig hält. 3 Dafür AG Ettenheim v. 28.9.1984 – C 172/84, NJW 1985, 979 (980); BeckOK-BGB/ Schöpflin, § 39 Rz. 4; im Grundsatz auch Reitze, NZA 1999, 70 (72). 4 Vgl. Reuter, RdA 2006, 117 (120). 5 BAG v. 1.12.2004 – 4 AZR 55/04, NZA 2005, 645; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 9; Reichert, Rz. 1102; a.A. Oetker, Anm. AP TVG § 3 Nr. 12; Reuter, RdA 2006, 117 (117 f.); Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 126. 6 Vgl. MünchKomm/Roth, § 242 BGB Rz. 219 ff. zum Rückgriff auf eine missbräuchlich begründete Rechtsstellung. 7 BAG v. 20.2.2008 – 4 AZR 64/07, NZA 2008, 946 (947). 8 Vgl. BGH v. 7.6.1993 – II ZR 81/92, NJW1993, 2246; MünchKomm/Reuter, § 33 BGB Rz. 10. 9 Vgl. BAG v. 20.2.2008 – 4 AZR 64/07, NZA 2008, 946 (947); Höpfner, ZfA 2009, 541 (555 f.); Konzen, FS Bauer, S. 559 (569); Wiedemann, FS Reuter, S. 889 (891).

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Beginn und Ende der Mitgliedschaft

Rz. 44 Teil 6

Verfahren zu entscheiden. Ein vereinsrechtliches Verfahren vor den ordentlichen Gerichten würde lediglich Rechtskraft zwischen Verband und Mitglied entfalten1.

2. Außerordentliche Kündigung Wie jedes Dauerschuldverhältnis auch ist die Mitgliedschaft in einem Verband aus wichtigem Grund gemäß § 314 BGB außerordentlich fristlos kündbar, selbst wenn die Satzung nur einen befristeten Austritt erlaubt. Ein solcher „fristloser Austritt“ ist möglich, wenn der Verbleib im Verband bis zum nächsten ordentlichen Austrittstermin unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls für das Mitglied nicht zumutbar ist2. Als wichtiger Grund gelten nicht bereits die Erhöhung des Mitgliedsbeitrags3 oder der Neuabschluss eines unliebsamen TVes4. Auch Ursachen aus der Risikosphäre des Mitglieds stellen grundsätzlich keine unerträgliche Belastung dar, die zum fristlosen Austritt berechtigen5. Daher können auch Unternehmen mit prekärer Finanzlage sich nicht ohne weiteres durch außerordentliche Kündigung der Verbandsmitgliedschaft ihrer Tarifbindung entledigen6. Ein fristloser Austritt ist vielmehr nur in den ganz außergewöhnlichen Ausnahmefällen möglich, in denen der Verband selbst den TV gemäß § 314 BGB kündigen darf7, obwohl die Arbeitgeberseite grundsätzlich das Risiko sich verändernder wirtschaftlicher Rahmenbedingungen zu tragen hat8. Unter diesen engen Voraussetzungen muss dann auch die Nachbindung gemäß § 3 Abs. 3 TVG entfallen, da anderenfalls die Wirkung des fristlosen Austritts konterkariert würde9.

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3. Aufhebungsvertrag Neben der einseitigen Beendigung durch Austritt oder Kündigung kann die Mitgliedschaft ohne weiteres auch einvernehmlich durch Abschluss eines Aufhebungsvertrags beendet werden. Eine satzungsmäßige Grundlage hierfür ist nicht erforderlich. Ein Aufhebungsvertrag ist als actus contrarius zum Aufnah1 BAG v. 1.12.2004 – 4 AZR 55/04, NZA 2005, 645; Reuter, RdA 2006, 117 (117). 2 BGH v. 1.4.1953 – II ZR 235/52, NJW 1953, 780; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 11; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 139; MünchKomm/Reuter, § 39 BGB Rz. 10; Oetker, ZfA 1998, 41 (79). 3 AG Essen v. 3.3.1961 – 15 C 51/61, DWW 1961, 119; LG Aurich v. 22.10.1986 – 1 S 279/86, RPfleger 1987, 115 (116); MünchKomm/Reuter, § 39 BGB Rz. 10; a.A. AG Nürnberg v. 4.9.1987 – 20 C 2367/87, RPfleger 1988, 109 (Erhöhung des Mitgliedsbeitrags um 25 % ohne nachvollziehbare Begründung). 4 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 10. 5 OLG Oldenburg v. 18.12.2008 – 8 U 182/08, OLGR 2009, 612 = NZG 2009, 917 (Ls.).; BeckOK-BGB/Schöpflin, § 39 Rz. 7. 6 Insoweit zutreffend ArbG Berlin v. 8.5.2003 – 96 Ca 5296/03, DB 2003, 1518; zu weitgehend Beuthien/Meik, DB 1993, 1518. 7 Vgl. dazu Wank, FS Schaub, S. 761 (764 ff.); Oetker, RdA 1995, 82 (93 ff.). 8 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 10; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 141; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 54. 9 Mückl/Krings, BB 2012, 769 (771 f.); HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 11; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 10; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 284; a.A. Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 54.

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Teil 6 Rz. 45

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Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft

mevertrag stets zulässig1, ohne dass es eines wichtigen Grundes bedarf2. Bei der Beendigung der Mitgliedschaft handelt es sich um eine von der Vereinigungsund Koalitionsfreiheit geschützte interne Angelegenheit des Verbandes und seiner Mitglieder. Es besteht keine Verpflichtung des Verbandes gegenüber dem sozialen Gegenspieler, den eigenen Mitgliederbestand auf einem möglichst hohen Niveau fortbestehen zu lassen. Die einvernehmliche Beendigung der Mitgliedschaft ist mit sofortiger Wirkung möglich, selbst wenn die Satzung eine Austrittsfrist vorsieht und die Voraussetzungen für eine außerordentliche Kündigung nicht vorliegen3. Dagegen wird eine Vereinbarung, wonach die Mitgliedschaft rückwirkend zu einem früheren Termin beendet wird, teilweise für unzulässig erachtet4. Daran ist richtig, dass bereits ausgeübte, in der Mitgliedschaft wurzelnde Teilhaberechte (etwa die Ausübung von Stimmrechten) nicht mehr rückwirkend beseitigt werden können. Es ist jedoch kein Grund ersichtlich, weshalb Verband und Mitglied nicht in Ausübung ihrer Vertragsfreiheit vereinbaren dürften, dass die gegenseitigen schuldrechtlichen Verpflichtungen (etwa die Zahlung des Mitgliedsbeitrages) bereits zu einem bestimmten Zeitpunkt vor Abschluss des Aufhebungsvertrags enden sollen5. Keinesfalls kann jedoch eine bereits bestehende Tarifbindung des Mitglieds durch Aufhebungsvertrag rückwirkend beseitigt werden6. Eine entsprechende Vereinbarung zwischen Verband und Mitglied ist insoweit wegen Umgehung der §§ 3 Abs. 3, 4 Abs. 5 TVG tarifrechtlich unwirksam (vgl. Teil 2 Rz. 7). Auf Seiten des Verbandes ist gemäß § 26 Abs. 1 Satz 2 BGB grundsätzlich der Vorstand zum Abschluss von Aufhebungsverträgen berechtigt7. Darüber hinaus kann die Satzung – wie für den Aufnahmevertrag – gemäß § 30 BGB einen „besonderen Vertreter“ mit organschaftlicher Vertretungsmacht dazu bestimmen. Schließlich ist nach den allgemeinen Grundsätzen der §§ 164 ff. BGB auch eine rechtsgeschäftliche Vertretung des Verbandes möglich. Die Verbandssatzung kann die Vertretungsmacht des Vorstandes gemäß § 26 Abs. 1 Satz 3 BGB dahingehend beschränken, dass dieser Aufhebungsverträge im Namen des Verbandes nicht oder nur unter Einhaltung einer bestimmten Frist abschließen darf. Die Beschränkung ist jedoch nach außen nur wirksam, wenn sie in der Satzung eindeutig zum Ausdruck kommt8. In diesem Fall ist der Auf1 Zutreffend Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 146; Oetker, ZfA 1998, 41 (52); Jacobs/Krois, FS Reuter, S. 555 (560). 2 Thüsing/Braun/Braun, 6. Kap. Rz. 19; Bauer/Rolf, DB 2003, 1519 (1520). 3 BAG v. 18.5.2011 – 4 AZR 457/09, NZA 2011, 1378; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 55; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 146; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 11; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 52; Jacobs/Krois, Anm. AP TVG § 3 Nr. 38; Jacobs/Krois, FS Reuter, S. 555 (561); a.A. ArbG Berlin v. 8.5.2003 – 96 Ca 5296/03, DB 2003, 1518; Plander, NZA 2005, 897 (898 f.); einschränkend auch Konzen, FS Bauer, S. 559 (569). 4 Vgl. Bauer/Haußmann, RdA 2009, 99 (101); Däubler, NZA 1996, 225 (226); Däubler/ Lorenz, § 3 TVG Rz. 52; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 150. 5 Ähnlich Oetker, ZfA 1998, 41 (50 f.). 6 Für die allg. Auffassung vgl. ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 11; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 150; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 55; Oetker, ZfA 1998, 41 (51). 7 Vgl. Oetker, ZfA 1998, 41 (52). 8 Vgl. jüngst BAG v. 18.5.2011 – 4 AZR 457/09, NZA 2011, 1378; Jacobs/Krois, Anm. AP TVG § 3 Nr. 38.

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Beginn und Ende der Mitgliedschaft

Rz. 49 Teil 6

hebungsvertrag gemäß § 177 Abs. 1 BGB schwebend unwirksam. Die Mitgliederversammlung als satzungsgebendes Organ bzw. das nach der Satzung zuständige Organ kann den Vertrag genehmigen. Das hat zur Folge, dass die Mitgliedschaft rückwirkend im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses beendet ist (§ 184 Abs. 1 BGB)1. Eine in der Schwebephase begründete Tarifbindung bleibt davon jedoch unberührt2. Eine unwirksame Austrittserklärung kann gemäß § 140 BGB in ein Angebot zur Aufhebung der Mitgliedschaft umgedeutet werden3. Denn es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass das Verbandsmitglied bei Kenntnis der Unwirksamkeit des Austritts den Abschluss eines Aufhebungsvertrages gewollt hätte, durch den sein Interesse an der Beendigung der Mitgliedschaft gleichermaßen gewahrt wird. Dieses Angebot kann anschließend durch das nach der Satzung vertretungsbefugte Organ des Verbandes angenommen werden. Hierfür ist jedoch grundsätzlich ein Rechtsbindungswille des Annehmenden erforderlich. Dieser ist zweifelhaft, wenn das Verbandsorgan den Austritt des Mitgliedes in der Annahme von dessen Wirksamkeit lediglich zu Dokumentations- und Beweiszwecken „bestätigt“4. Daher wird man von einer Annahmeerklärung grundsätzlich erst dann ausgehen können, wenn von Seiten des Verbandes neben die bloße Empfangsbestätigung eine inhaltliche Zustimmung zur Beendigung der Mitgliedschaft hinzutritt5. Das ist etwa der Fall, wenn der Vorstand erklärt, der Verband habe „die Austrittserklärung erhalten und nimmt sie hiermit an“6.

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4. Sonderfall: Blitzaustritt, Blitzaufhebung Nach den dargelegten Grundsätzen ist eine sofortige Beendigung der Mitgliedschaft durch Aufhebungsvertrag und, sofern die Verbandssatzung keine Austrittsfrist vorsieht, durch einseitige Austrittserklärung ohne weiteres zulässig. Da eine Bindung an TVe, die nach Beendigung der Mitgliedschaft abgeschlossen werden, nach § 3 Abs. 1 TVG nicht in Betracht kommt, kann der Arbeitgeber einen sog. „Blitzaustritt“ strategisch nutzen, wenn der Abschluss eines aus seiner Sicht unliebsamen TVes zu erwarten ist. Entsprechendes gilt für eine „Blitzaufhebung“ der Mitgliedschaft im Einvernehmen mit dem Verband.

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Der 4. Senat des BAG hat die Anforderungen an die Wirksamkeit eines Blitzaustritts jüngst deutlich verschärft7. Die vereinsrechtlich an sich zulässige

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1 A.A. Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 149. 2 Insoweit übereinstimmend Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 149. 3 BAG v. 20.2.2008 – 4 AZR 64/07, NZA 2008, 946 (948); Bauer/Haußmann, RdA 2009, 99 (101). 4 Höpfner, ZfA 2009, 541 (557); vgl. auch BAG v. 13.4.1972 – 2 AZR 243/71, AP BGB § 626 Nr. 6 zum „Akzeptieren“ einer Kündigung des Arbeitnehmers durch den Arbeitgeber. 5 Höpfner, ZfA 2009, 541 (557 f.); großzügiger aber BAG v. 20.2.2008 – 4 AZR 64/07, NZA 2008, 946 (948). 6 So der Sachverhalt von BAG v. 20.2.2008 – 4 AZR 64/07, NZA 2008, 946; insoweit ist die Entscheidung im Ergebnis zutreffend. 7 BAG v. 20.2.2008 – 4 AZR 64/07, NZA 2008, 946; BAG v. 18.5.2011 – 4 AZR 457/09, NZA 2011, 1378; dem folgend BAG v. 17.2.2010 – 5 AZR 191/09, AP TVG § 1 Tarifverträge: Metallindustrie Nr. 209.

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Teil 6 Rz. 50

Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft

fristlose Beendigung der Mitgliedschaft soll gemäß Art. 9 Abs. 3 Satz 2 BGB i.V.m. § 134 BGB tarifrechtlich unwirksam sein, wenn hierdurch die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie gefährdet werde. Das soll zwar nicht bereits durch die kurzfristige Beendigung der Mitgliedschaft an sich, wohl aber durch fehlende Transparenz des Austritts der Fall sein1. Tarifrechtlich unwirksam ist danach ein kurzfristiger und unvorhersehbarer Wechsel in eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung, der nach Beginn der Tarifverhandlungen, aber noch vor Unterzeichnung des TVes erfolgt, wenn er für die an der Verhandlung beteiligte Gewerkschaft vor dem endgültigen Tarifabschluss nicht erkennbar ist und deshalb die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie beeinträchtigt wird2. 50

Dieser Rechtsprechung kann ebenso wenig gefolgt werden wie der entsprechenden tarifrechtlichen Einschränkung des sog. „Blitzwechsels“ in die OTMitgliedschaft durch das BAG (dazu Teil 2 Rz. 173 ff.)3. Es ist nicht einzusehen, weshalb gerade die fehlende Offenlegung des Austritts die Tarifautonomie gefährden soll. Die Reaktionsmöglichkeiten der Gewerkschaft werden hierdurch nicht berührt: Sie kann entscheiden, ob sie Tarifverhandlungen mit dem ausgetretenen Arbeitgeber führen will oder nicht. Vor dieser Entscheidung steht sie aber ebenfalls, wenn sie erst nach Abschluss des VerbandsTVes vom Austritt des Arbeitgebers erfährt. Auf die Mobilisierung der Mitglieder hat die zeitliche Verzögerung keinen Einfluss4. Darüber hinaus besteht stets eine Ungewissheit über den Mitgliederbestand einer Koalition, der aufgrund fristgebundener Austritte jederzeit variabel ist. Entsprechende Informationsdefizite der Sozialpartner sind Tarifverhandlungen immanent. Es gibt keine sachliche Rechtfertigung, dies ausgerechnet beim Blitzaustritt anders zu beurteilen5. Selbst wenn man mit dem BAG eine Informationsobliegenheit annehmen wollte, kann deren Verletzung schließlich mangels Kausalität keine Tarifbindung des wirksam ausgetretenen Mitglieds begründen6.

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Richtigerweise sind Blitzaustritte während laufender Tarifverhandlungen grundsätzlich wirksam. Die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie wird hierdurch nicht beeinträchtigt. Es gilt vielmehr das Gegenteil: Auf der Grundlage des heute herrschenden privatautonomen Verständnisses der Tarifautonomie nimmt gerade derjenige an dem von Art. 9 Abs. 3 GG geschützten „Wettbewerb der Koalitionen“ teil, der einen Verband aufgrund seiner Unzufrieden1 BAG v. 20.2.2008 – 4 AZR 64/07, NZA 2008, 946 (949 f.); nun auch BAG v. 19.6.2012 – 1 AZR 775/10 (PM). 2 BAG v. 18.5.2011 – 4 AZR 457/09, NZA 2011, 1378; BAG v. 17.2.2010 – 5 AZR 191/09, AP TVG § 1 Tarifverträge: Metallindustrie Nr. 209. 3 Ebenso Bauer, FS Picker, S. 889 (895 ff.); Bauer/Haußmann, RdA 2009, 99 (104 ff.); Franzen, FS Picker, S. 929 (936 ff.); Höpfner, ZfA 2009, 541 (561 ff.); Jacobs/Krois, Anm. AP TVG § 3 Nr. 38; Jacobs/Krois, FS Reuter, S. 555 (566 ff.); Konzen, FS Bauer, S. 559 (565 ff.); Willemsen/Mehrens, NJW 2009, 1916 (1917 ff.); Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 239 ff.; dem BAG grds. zustimmend Krause, GS Zachert, S. 605; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 205 Rz. 33 ff.; Kittner/Zwanziger/Deinert/Deinert, § 8 Rz. 5. 4 Vgl. Höpfner, ZfA 2009, 541 (564). 5 Vgl. Bauer, FS Picker, S. 889 (899); Bauer/Haußmann, RdA 2009, 99 (104); Franzen, FS Picker, S. 929 (937 f.); Jacobs/Krois, Anm. AP TVG § 3 Nr. 38; Konzen, FS Bauer, S. 559 (574 ff.); Rieble, RdA 2009, 280 (283 f.); Willemsen/Mehrens, NZA 2009, 1916 (1917 f.). 6 Vgl. Franzen, FS Picker, S. 929 (938 f.); Höpfner, ZfA 2009, 541 (567 ff.).

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Beginn und Ende der Mitgliedschaft

Rz. 54 Teil 6

heit mit den erzielten Tarifabschlüssen verlässt, um anschließend einem konkurrierenden Verband beizutreten oder sich selbst Verhandlungen mit der Gewerkschaft um einen FirmenTV zu stellen. Nur in ganz engen Ausnahmefällen kommt eine tarifrechtliche Unwirksamkeit gemäß Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG i.V.m. § 134 BGB in Betracht, wenn der gesamte Verband oder eine maßgebende Gruppe von Mitgliedern das Instrument des Blitzaustritts rechtsmissbräuchlich zur gezielten Schädigung der Gegenseite nutzt1. Solche Fälle sind bisher nicht bekannt und kaum zu erwarten. Nach den allgemeinen Grundsätzen müsste der Arbeitnehmer, der sich auf die tarifrechtliche Unwirksamkeit eines Blitzaustritts oder Aufhebungsvertrags beruft, im Prozess darlegen und beweisen, dass eine Störung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie vorliegt. Das BAG geht jedoch von einer abgestuften Darlegungs- und Beweislast aus: Der Arbeitnehmer muss zunächst vortragen, dass die TV-Verhandlungen sich im Zeitpunkt des Austritts in einem Stadium befanden, in dem eine Störung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie in Betracht kam. Er muss darüber hinaus darlegen, dass der Austritt des Arbeitgebers für die Gewerkschaft nicht transparent war. Der Arbeitgeber hat anschließend substantiiert darzulegen, aus welchen Umständen sich eine Transparenz des Verhaltens für die Gewerkschaftsseite ergeben habe. Nach einer solchen Darlegung ist es wiederum Aufgabe des Arbeitnehmers, diese Behauptungen im Wege des Beweises zu entkräften2.

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5. Ausschluss eines Mitglieds Die Mitgliedschaft kann nicht nur von Seiten des Mitglieds beendet werden. Auch der Verband kann ein Mitgliedschaftsverhältnis kündigen oder Mitglieder ausschließen. Eine Kündigung durch den Verband ist nur möglich, wenn die Verbandssatzung dies ausdrücklich erlaubt3. Die Satzung darf ein Kündigungsrecht ohne sachlichen Grund nur vorsehen, wenn der Verband keinem Aufnahmezwang unterliegt4. Bei Tarifverbänden, die in ihrem Zuständigkeitsbereich eine Monopol- oder monopolähnliche Stellung hinsichtlich der Vertretung von Arbeitnehmern oder Unternehmen innehaben (vgl. Rz. 27), ist ein Kündigungsrecht daher unzulässig5.

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Auch bei Monopol- oder monopolähnlichen Verbänden zulässig ist dagegen ein grundsätzlich fristloser Ausschluss aus wichtigem Grund6. Nach § 314 BGB

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1 Höpfner, ZfA 2009, 541 (565). 2 BAG v. 18.5.2011 – 4 AZR 457/09, NZA 2011, 1378; ebenso zum Blitzaustritt BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (1373); abweichend Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 238. 3 Vgl. Reichert, Rz. 1124. 4 BGH v. 9.6.1997 – II ZR 303/95, NJW 1997, 3368 (3370); Grunewald, S. 228; BeckOKBGB/Schöpflin, § 25 Rz. 75; Reichert, Rz. 2948. 5 Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 154; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 245; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 448. 6 BGH v. 28.9.1972 – II ZR 5/70, NJW 1973, 35 (36) zum Ausschluss eines NPD-Mitglieds aus der Gewerkschaft.

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Teil 6 Rz. 55

Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft

gilt dies auch dann, wenn die Satzung kein Ausschlussrecht vorsieht1. Der Verbandsausschluss ist ein einseitiges Rechtsgeschäft, das auf die Beendigung der Mitgliedschaft gerichtet ist und mit Zugang der Ausschlusserklärung an das Mitglied wirksam wird. In der Sache handelt es sich dabei um eine außerordentliche fristlose Kündigung der Mitgliedschaft2. Der wirksame Ausschluss hat zur Folge, dass an die Stelle der Tarifbindung des Mitglieds gemäß § 3 Abs. 1 TVG die Nachbindung gemäß § 3 Abs. 3 TVG tritt, bis der TV endet3. 55

Der Ausschluss setzt einen wichtigen Grund voraus, der die Fortsetzung des Mitgliedschaftsverhältnisses nach Abwägung der beiderseitigen Interessen im konkreten Einzelfall für den Verband unzumutbar macht4. Ein Verschulden des Mitglieds ist keine notwendige Voraussetzung für einen Ausschluss5, aber bei der Interessenabwägung zu Lasten des Mitglieds zu berücksichtigen. Die Beendigung der Mitgliedschaft muss das äußerste und letzte Mittel sein6. Aufgrund der verbandsrechtlichen Treuepflicht kommt sie nicht in Betracht, wenn andere gangbare Wege zur Beseitigung des Missstandes (insb. eine Abmahnung)7 vorhanden sind8.

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Der wichtige Grund, auf den der Verband den Ausschluss stützt, muss im Ausschließungsbeschluss bezeichnet werden9. Tatsachen, die im Ausschlussverfahren nicht festgestellt worden sind, können in einem anschließenden gerichtlichen Verfahren nicht nachgeschoben werden10. Zählt die Satzung enumerativ bestimmte Ausschließungstatbestände auf, so ist ein Ausschluss aus einem nicht genannten Grund grundsätzlich nicht möglich11. Als Gründe für den Ausschluss aus einer Gewerkschaft hat die Rechtsprechung anerkannt12: Mitgliedschaft in einer gewerkschaftsfeindlichen Partei13 oder einer undemo1 Reichert, Rz. 2958, 2969; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 156; unzutreffend Däubler/ Lorenz, § 3 TVG Rz. 56. 2 Vgl. auch Säcker/Rancke, AuR 1981, 1 (3). 3 BAG v. 6.10.1994 – 6 AZR 324/94, NZA 1995, 1057 (1058). 4 Vgl. BGH v. 3.3.1971 – KZR 5/70, NJW 1971, 879 (880); OLG Frankfurt v. 19.12.1990 – 7 U 155/90, NJW-RR 1991, 1276; Reichert, Rz. 2970. 5 Vgl. BGH v. 26.2.1959 – II ZR 137/57, NJW 1959, 982 (983); BGH v. 13.7.1972 – II ZR 55/70, NJW 1972, 1892; BeckOK-BGB/Schöpflin, § 25 Rz. 78; anders für den Ausschluss wegen „Schädigung“ des Verbandes, vgl. RG v. 25.6.1935 – II 264/34, RGZ 148, 225 (233 f.); Reichert, Rz. 2964. 6 Reichert, Rz. 2989. 7 LG Leipzig v. 23.20.2001 – 5 (O) 7294/01, NZG 2002, 434. 8 BGH v. 17.2.1955 – II ZR 316/53, NJW 1955, 667; OLG Frankfurt v. 22.8.2001 – 23 U 177/00, NZA-RR 2002, 531 (535); Reichert, Rz. 2989. 9 BGH v. 10.7.1989 – II ZR 30/89, NJW 1990, 40 (41). 10 BGH v. 13.6.1966 – II ZR 130/64, NJW 1966, 1751; BGH v. 19.10.1987 – II ZR 43/87, NJW 1988, 552 (554). 11 Vgl. BayObLG v. 23.12.1986 – BReg 3 Z 126/86, BayObLGZ 1986, 528 (535); Reichert, Rz. 2961. 12 Vgl. BeckOK-BGB/Schöpflin, § 25 Rz. 80; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 249; zu möglichen Ausschlussgründen auf Arbeitgeberseite vgl. Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 156. 13 BGH v. 28.9.1972 – II ZR 5/70, NJW 1973, 35 (36); BGH v. 15.10.1990 – II ZR 255/89, NJW 1991, 485; BGH v. 4.3.1991 – II ZR 90/90, NJW-RR 1991, 888 (889); BGH v. 27.9.1993 – II ZR 25/93, NJW 1994, 43 (44).

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Beginn und Ende der Mitgliedschaft

Rz. 59 Teil 6

kratischen Vereinigung1, grob illoyales Verhalten gegenüber der Gewerkschaft, Streikbrecherarbeit2, Bekämpfung des Wahlvorschlags des zuständigen Gewerkschaftsorgans3, Kandidatur zum Betriebsrat auf einer gewerkschaftsfremden (nicht notwendig gewerkschaftsfeindlichen) konkurrierenden Liste4. Nicht ausreichend ist dagegen bloße innerverbandliche Kritik5. Die gerichtliche Überprüfung des Ausschlusses ist wie bei sonstigen Vereinsstrafen auch nur eingeschränkt möglich. Sie erschöpft sich neben einer unbeschränkten Tatsachenermittlung6 grundsätzlich in einer Willkürkontrolle7. Etwas anderes gilt jedoch für (Tarif-)Verbände mit Monopol- oder monopolähnlicher Stellung. In diesem Fall haben die Gerichte in vollem Maße nachzuprüfen, ob der Ausschluss durch sachliche Gründe gerechtfertigt und somit nicht unbillig ist8. Dabei ist zwar der Vereinigung in Anerkennung ihrer Autonomie zur Wert- und Zielsetzung ein Beurteilungsspielraum zuzubilligen. Das Gericht kann daher nicht ohne weiteres seine eigene Überzeugung und Wertmaßstäbe an die Stelle derjenigen des Verbandes setzen. Da ein Ausschluss aber umso eher unbillig sein wird, je wichtiger für den Betroffenen die Mitgliedschaft ist, sind diesem Beurteilungs- und Ermessensspielraum enge Grenzen gesetzt9.

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Darüber hinaus kann die Satzung vorsehen, dass das „Streichen“ eines Mitglieds aus der Liste der Mitglieder als Beendigung der Mitgliedschaft gilt (sog. „vereinfachtes Ausschließungsverfahren“)10. Dazu ist es erforderlich, dass die Satzung den Grund für die Streichung klar und eindeutig benennt11, so etwa § 8 Nr. 2 Abs. 1 der Satzung der IG Metall: „Mitglieder, die eine Stundung ihrer Beiträge nicht beantragt haben und mit ihren Beiträgen maximal drei Monate nach Fälligkeit im Rückstand sind, können nach erfolgloser Aufforderung … als Mitglied gestrichen werden.“

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Schließlich kann die Satzung Umstände regeln, die zur automatischen Beendigung der Mitgliedschaft führen, ohne dass es dazu einer gesonderten Erklärung bedarf12. Rechtsdogmatisch handelt es sich dabei um eine auflösende Bedin-

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OLG Düsseldorf v. 18.5.1994 – 7 W 14/94, NJW-RR 1994, 1402 (1403). Vgl. BGH v. 19.1.1978 – II ZR 192/76, NJW 1978, 990 (992). BGH v. 25.3.1991 – II ZR 170/90, NJW-RR 1992, 246 (247 f.). Vgl. BVerfG v. 24.2.1999 – 1 BvR 123/93, NJW 1999, 2657; BGH v. 25.3.1991 – II ZR 170/90, NJW-RR 1992, 246 (247); anders noch BGH v. 19.10.1987 – II ZR 43/87, NJW 1988, 552 (555); krit. zur neueren Rechtsprechung Gaumann, NJW 2002, 2155. HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 12. Vgl. OLG Hamm v. 25.4.2001 – 8 U 139/00, NJW-RR 2001, 1480 (1481). BGH v. 30.5.1983 – II ZR 138/82, NJW 1984, 918 (919). BGH v. 19.10.1987 – II ZR 43/87, NJW 1988, 552 (555); OLG Frankfurt v. 22.8.2001 – 23 U 177/00, NZA-RR 2002, 531 (533); Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 245; a.A. Säcker/Rancke, AuR 1981, 1 (11 ff.). BGH v. 19.10.1987 – II ZR 43/87, NJW 1988, 552 (555); OLG Frankfurt v. 22.8.2001 – 23 U 177/00, NZA-RR 2002, 531 (533); ebenso schon BGH v. 10.12.1984, NJW 1985, 1216 (1217) zur Aufnahmeentscheidung des Verbandes. Reichert, Rz. 1127. Vgl. Reichert, Rz. 1128. Vgl. Grunewald, S. 202; BeckOK-BGB/Schöpflin, § 25 Rz. 76; Reichert, Rz. 2953 ff.

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Teil 6 Rz. 60

Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft

gung der Mitgliedschaft1. Die entsprechenden Sachverhalte müssen ebenfalls in der Satzung klar und auch für Nichtjuristen verständlich geregelt sein2, etwa die Nichtzahlung eines Beitrags, der Verzug mit der Beitragszahlung3 oder der „Übertritt in eine andere DGB-Gewerkschaft“4. Fallen bei einem Verbandsmitglied die Voraussetzungen der Mitgliedschaft weg, so führt dies nicht automatisch, sondern nur dann zur Beendigung der Mitgliedschaft, wenn dies in der Satzung ausdrücklich bestimmt ist5. So bleibt etwa ein Arbeitgeber nach einem Branchenwechsel grundsätzlich weiterhin Mitglied im für die bisherige Branche zuständigen Arbeitgeberverband, auch wenn er die Voraussetzungen an eine (Neu-)Mitgliedschaft nicht mehr erfüllt6. Da jedoch die Tarifzuständigkeit des Verbandes regelmäßig mit den satzungsgemäßen Anforderungen an die Mitgliedschaft korrespondiert7, wächst das Mitglied durch den Branchenwechsel aus der Tarifzuständigkeit des Verbandes und damit auch aus dem maximalen Geltungsbereich der VerbandsTVe heraus, so dass die Tarifbindung des Mitglieds ohne Nachbindung endet8.

6. Weitere Beendigungsgründe 60

Weitere Gründe, die zur Beendigung der Verbandsmitgliedschaft führen, sind der Tod des Mitglieds (§ 38 Satz 1 BGB) und die Vollbeendigung der juristischen Person bzw. der rechtsfähigen Personengesellschaft. Die Auflösungsbeschluss oder die Insolvenz des Mitglieds beenden die Mitgliedschaft dagegen grundsätzlich nicht9. Die Satzung kann aber die Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder der Liquidation als auflösende Bedingung der Mitgliedschaft vorsehen10. Gemäß § 38 Satz 1 BGB ist die Mitgliedschaft nicht übertragbar, sofern die Satzung keine anderweitige Regelung trifft. Das gilt für jede Form der Rechtsnachfolge, auch wenn sie im Wege der Umwandlung11 oder kraft Gesetzes12 erfolgt. Die Mitgliedschaft muss vielmehr von der Nachfolgegesellschaft neu erworben werden13. Schließlich führt die Vollbeendigung des Verbandes 1 Vgl. Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 157 ff. 2 Reichert, Rz. 2953; vgl. auch OLG Celle v. 13.6.1988 – 1 U 13/88, NJW-RR 1989, 313 (314 f.). 3 Vgl. BeckOK-BGB/Schöpflin, § 25 Rz. 76 m.w.N. 4 So § 11 Nr. 1 lit. b der Satzung von ver.di v. 29./30.9.2009. Präziser müsste vom „Eintritt“ die Rede sein, da ein „Übertritt“ per definitionem bereits den Austritt aus der bisherigen Gewerkschaft enthält. 5 OLG Oldenburg v. 18.12.2008 – 8 U 182/08, OLGR 2009, 612 = NZG 2009, 917 (Ls.). 6 So wohl auch Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 268. 7 Vgl. HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 44; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 77. 8 Vgl. Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 257; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 43. 9 Vgl. BAG v. 28.1.1987 – 4 AZR 150/86, NZA 1987, 455; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 160. 10 Mückl/Krings, BB 2012, 769 (771); HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 13; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 160. 11 Vgl. BAG v. 4.12.1974 – 5 AZR 75/74, AP TVG § 3 Nr. 2; AG Kaiserslautern v. 3.9.2004 – 3 C 915/04, NZA-RR 2005, 319 (320); Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 164; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 14; Thüsing/Braun/Braun, 6. Kap. Rz. 26. 12 OLG Hamm v. 6.9.2010 – 8 U 8/10, NZG 2033, 35 (36); BeckOK-BGB/Schöpflin, § 38 Rz. 32. 13 BAG v. 10.11.1993 – 4 AZR 375/92, NZA 1994, 948.

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Nachbindung an Tarifverträge gemäß § 3 Abs. 3 TVG

Rz. 63 Teil 6

zur Beendigung sämtlicher Mitgliedschaftsverhältnisse (zur Verbandsauflösung näher Teil 2 Rz. 18 ff.), während bei einer Verschmelzung des Verbandes gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 3 UmwG bzw. § 36 Abs. 1 UmwG eine Sukzession der Mitgliedschaften erfolgt (vgl. Rz. 32)1.

C. Nachbindung an Tarifverträge gemäß § 3 Abs. 3 TVG Im System des deutschen Tarifrechts ist die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers oder Arbeitnehmers grundsätzlich an die Mitgliedschaft in einer TVPartei geknüpft. § 3 Abs. 1 TVG trägt dem Grundsatz Rechnung, „dass der Staat seine Normsetzungsbefugnis nicht in beliebigem Umfang außerstaatlichen Stellen überlassen und den Bürger nicht schrankenlos der normsetzenden Gewalt autonomer Gremien ausliefern darf, die ihm gegenüber nicht demokratisch bzw. mitgliedschaftlich legitimiert sind“2. Eine mitgliedschaftlich legitimierte Tarifbindung endet daher grundsätzlich im Zeitpunkt der Beendigung der Verbandsmitgliedschaft. Zu dieser Grundregel stellt § 3 Abs. 3 TVG jedoch eine wichtige Ausnahme dar. Danach bleibt die Tarifgebundenheit trotz Beendigung der Mitgliedschaft solange fortbestehen, bis der TV endet.

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I. Zweck, Legitimation und Verfassungsmäßigkeit Die sog. „Fortwirkung“ von Tarifnormen oder „Nachbindung“ an TVe hat den Zweck, eine „Flucht aus dem TV“ zu verhindern3. Der Arbeitgeber oder (in seltenen Fällen) der Arbeitnehmer soll sich seiner kraft Verbandsmitgliedschaft erworbenen Tarifbindung nicht ohne weiteres durch Austritt entziehen können. Anderenfalls wäre die ordnende Wirkung von TVen erheblich gefährdet4, und den Verbänden wäre es kaum möglich, dem TV-Partner die Durchsetzung des TVes für dessen Laufzeit zuzusagen5. § 3 Abs. 3 TVG schützt also die Erhaltung der Tariftreue der Verbandsmitglieder, die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie und zugleich den Bestand und die Kontinuität der Verbände6.

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§ 3 Abs. 3 TVG ordnet konstitutiv die Fortwirkung der Tarifnormen an, indem der Fortbestand der Verbandsmitgliedschaft fingiert wird. Dogmatisch handelt es sich bei der Nachbindung um eine spezialgesetzliche Ausprägung des Verbots des Rechtsmissbrauchs, wobei auf subjektive Anforderungen verzichtet wird7. Der Gesetzgeber ging davon aus, dass die Mitglieder der TV-Parteien

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1 BeckOK-BGB/Schöpflin, § 38 Rz. 9; ausführlich Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 171. 2 BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, NJW 1977, 2255 (2258). 3 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 247/96, NZA 1998, 484 (485); BAG v. 17.5.2000 – 4 AZR 363/99, NZA 2001, 453 (456); Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 228; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 41; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 79. 4 Vgl. Lieb, NZA 1994, 337. 5 Vgl. Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 228. 6 Vgl. Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 228; Herschel, ZfA 1973, 183 (192); Höpfner, NJW 2010, 2173 (2174). 7 Höpfner, NJW 2010, 2173 (2174); ähnlich Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 60.

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Teil 6 Rz. 64

Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft

während der Laufzeit des TVes ihre „Tarifvertragstreue“ zu wahren haben1. Der vorzeitige Austritt vor Beendigung des TVes wird zwar nicht unmittelbar sanktioniert. Seine verbandsrechtliche Zulässigkeit bleibt unberührt. Das Gesetz nimmt ihm aber die tarifrechtliche Wirkung und schließt so „alle Manipulationen“2 der Tarifgebundenheit aus. 64

Obwohl § 3 Abs. 3 TVG eine Tarifbindung ohne Mitgliedschaft begründet, lässt sich auch die Nachbindung an TVe im Grundsatz privatautonom erklären3. Die mitgliedschaftliche Legitimation des Verbandes zum Abschluss von TVen mit unmittelbarer und zwingender Wirkung für seine Mitglieder folgt aus der Beitrittserklärung des betreffenden Mitglieds4. Sie umfasst auch die von den TV-Parteien vereinbarten Laufzeiten und Kündigungsfristen der TVe5. Das Mitglied kann dem Verband diese Ermächtigung zwar jederzeit unter Beachtung der satzungsmäßigen Austrittsfristen wieder entziehen. Das gilt jedoch stets erst ab dem Zeitpunkt der Beendigung der Mitgliedschaft. Die durch die bestehende Mitgliedschaft vermittelte Legitimation zum Tarifabschluss kann nicht rückwirkend durch Austritt entzogen werden6.

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Die mitgliedschaftliche Legitimation des Verbandes ist jedoch nicht unbeschränkt. Ihre Grenzen ergeben sich aus der Auslegung der Beitrittserklärung. Es wäre lebensfremd, dem Verbandsmitglied den Willen zu unterstellen, sich bei seinem Beitritt den vom Verband geschlossenen TVen für alle Zeiten unterwerfen zu wollen, ohne selbst eine Beendigungsmöglichkeit zu haben7. Unter diesem Gesichtspunkt ist eine Nachbindung an von vornherein befristete EntgeltTVe in der Regel legitimatorisch nicht zu beanstanden. Eine „Ewigkeitsbindung“ des ausgetretenen Mitglieds an unbefristete MantelTVe lässt sich dagegen mit der früheren Verbandsmitgliedschaft nicht rechtfertigen. Insoweit beruht die Tarifbindung allein auf der gesetzlichen Anordnung des § 3 Abs. 3 TVG.

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Aus verfassungsrechtlicher Sicht bestehen gegen die Nachbindung an sich keine Bedenken8. Sie ist ein notwendiges Instrument, um die Ordnungs- und Gestaltungsfunktion von TVen und somit die Funktionsfähigkeit des Tarifsys1 Vgl. den Bericht des Abg. Richter über die 24. Vollversammlung des Wirtschaftsrats des Vereinigten Wirtschaftsgebietes, in: ZfA 1973, 129 (160). 2 Herschel, ZfA 1973, 183 (192). 3 Vgl. BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53 (58); Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1231 ff.; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 226; Henssler, FS Picker, S. 987 (1003 f.); a.A. Bayreuther, S. 224 ff.; Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 39. 4 Henssler, FS Picker, S. 987 (1003); a.A. Bayreuther, Tarifautonomie, S. 225. 5 BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53 (58); Büdenbender, NZA 2000, 509 (516 f.). 6 Büdenbender, NZA 2000, 509 (516 f.); Höpfner, NJW 2010, 2173 (2174 f.). 7 Henssler, FS Picker, S. 987 (1004); Höpfner, NJW 2010, 2173 (2175). 8 Vgl. BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53 (57 ff.); BAG v. 4.8.1993 – 4 AZR 499/92, NZA 1994, 34 (35); Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 61; Kempen/Zachert/ Kempen, § 3 TVG Rz. 39; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 82; Bayreuther, Tarifautonomie, S. 726 ff.; Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, S. 153; Lieb, NZA 1994, 337; Willemsen/Mehrens, NZA 2010, 307 (308); grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedenken dagegen bei Reuter, ZfA 1995, 1 (40).

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Nachbindung an Tarifverträge gemäß § 3 Abs. 3 TVG

Rz. 68 Teil 6

tems zu gewährleisten. Da die Nachbindung auf der freiwilligen Entscheidung des Arbeitgebers oder Arbeitnehmers beruht, einem Tarifverband beizutreten und sich den von diesem abgeschlossenen TVen zu unterwerfen, liegt kein unzulässiger Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit vor. Etwas anderes gilt jedoch für eine zeitlich unbegrenzte Nachbindung an unbefristete TVe ohne mitgliedschaftliche Legitimationsgrundlage, die als faktische Beitrittshürde gar zu einer Schwächung des Tarifsystems führt1. In seinem Beschluss zur Verfassungsmäßigkeit der Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG hat das BVerfG einen unzulässigen Zwang oder Druck auf den Arbeitgeber, im Verband zu verbleiben, mit dem Argument abgelehnt, dieser habe es selbst in der Hand, die Nachwirkung durch eine andere Abmachung mit dem Arbeitnehmer zu beenden2. Legt man dieses Kriterium zugrunde, so hält eine zeitlich unbegrenzte Nachbindung einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand, da § 3 Abs. 3 TVG gerade keine abweichende arbeitsvertragliche Regelung zulässt. Zu den erforderlichen zeitlichen Einschränkungen der Nachbindung vgl. Rz. 86 ff.

II. Voraussetzungen Voraussetzung der gemäß § 3 Abs. 3 TVG verlängerten Tarifgebundenheit des Arbeitgebers oder Arbeitnehmers ist, dass dieser zu einem beliebigen Zeitpunkt während der Laufzeit, also zwischen Inkrafttreten und Beendigung des TVes, Mitglied im jeweiligen Verband war. Entsprechend dem Zweck, eine Tarifflucht durch Verbandsaustritt zu vermeiden, fingiert § 3 Abs. 3 TVG allein den Fortbestand der Verbandsmitgliedschaft3. Die Nachbindung tritt somit nur ein, wenn alle übrigen Voraussetzungen der Tarifgebundenheit erfüllt sind. Die Voraussetzungen sind im Einzelnen:

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1. Mitgliedschaft im Verband Zunächst muss die Arbeitsvertragspartei, deren Verbandsmitgliedschaft fingiert werden soll, im Zeitpunkt des Inkrafttretens des fortgeltenden TVes oder zu einem beliebigen späteren Zeitpunkt während der Laufzeit des TVes tatsächlich Mitglied im tarifschließenden Verband gewesen sein4. Dies setzt einen wirksamen Beitritt voraus, der den Verband zum Abschluss von TVen legitimiert. Im Fall eines anfechtbaren oder nichtigen Aufnahmevertrags wird die Mitgliedschaft nach der Lehre vom fehlerhaften Verband bis zur Anfechtung oder zur Geltendmachung des Nichtigkeitsgrundes fingiert (vgl. aber Rz. 70).

1 Vgl. Henssler, FS Picker, S. 987 (1004 ff.); Höpfner, NJW 2010, 2173 (2175 f.); Löwisch, JZ 1996, 812 (821). 2 BVerfG v. 3.7.2000 – 1 BvR 945/00, NZA 2000, 947 (948); großzügiger dagegen noch BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, NJW 1977, 2255 zu § 5 TVG. 3 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 247/96, NZA 1998, 484 (486); Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 68. 4 HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 42; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 66.

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Teil 6 Rz. 69

Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft

2. Beendigung der Mitgliedschaft 69

§ 3 Abs. 3 TVG setzt voraus, dass die Mitgliedschaft nach Inkrafttreten des fortgeltenden TVes beendet wird. Auf den Beendigungsgrund kommt es dabei grundsätzlich nicht an. Der in der Praxis wichtigste Fall der Nachbindung ist der Verbandsaustritt. Sie tritt aber auch ein, wenn das Mitglied aus dem Verband ausgeschlossen wird oder wenn die Parteien die Mitgliedschaft durch Aufhebungsvertrag einvernehmlich beenden1. Der Wechsel eines Vollmitglieds in die OT- oder Gast-Mitgliedschaft wird ebenfalls von § 3 Abs. 3 TVG erfasst2, da hierdurch die tarifrechtliche Mitgliedschaft beendet wird (vgl. Teil 2 Rz. 172).

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Demgegenüber kommt eine Nachbindung nicht in Betracht, wenn ein Mitglied einen Beitrittsmangel geltend macht und so die fehlerhafte Mitgliedschaft beendet. Denn weder die Lehre vom fehlerhaften Verbandsbeitritt noch der Normzweck des § 3 Abs. 3 TVG verlangen eine Fortgeltung der Tarifnormen für die Zukunft über den Zeitpunkt der Anfechtung hinaus (vgl. Rz. 30).

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§ 3 Abs. 3 TVG begründet keine neue Tarifgebundenheit, sondern fingiert lediglich den Fortbestand der Verbandsmitgliedschaft3. Die Vorschrift ist daher nicht anwendbar, wenn die Mitgliedschaft im Verband durch Tod der natürlichen Person oder durch Untergang des Rechtsträgers (infolge der Vollbeendigung oder Umwandlung) beendet wird4. Die Auswirkungen einer Umwandlung auf die Tarifbindung des Arbeitgebers richten sich nach § 324 UmwG i.V.m. § 613a Abs. 1 Sätze 2–4 BGB5.

72

Schließlich gilt § 3 Abs. 3 TVG im Fall der Verbandsauflösung entgegen der Auffassung des BAG weder direkt noch analog6. Es ist vielmehr zu differenzieren (vgl. Teil 2 Rz. 18 ff.): Sofern mit dem Auflösungsbeschluss ein Liquidationsverfahren stattfindet, bleibt die Tarifbindung davon unberührt. Der Verband in Liquidation ist weiterhin gemäß § 3 Abs. 1 TVG tarifgebunden. Mit Vollbeendigung erlischt der Verband als Rechtsträger, so dass die Tarifbindung der (ehemaligen) Mitglieder ohne Nachbindung endet. Stattdessen schließt sich direkt die Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG an7.

3. Sonstige Voraussetzungen der Tarifgebundenheit 73

§ 3 Abs. 3 TVG hilft allein über die fehlende Verbandsmitgliedschaft hinweg. Eine Fortwirkung der Tarifnormen setzt voraus, dass daneben die allgemeinen Voraussetzungen der Tarifgebundenheit vorliegen. So kommt eine Nachbindung 1 2 3 4

Vgl. Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 247; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 64. BAG v. 25.2.2009 – 4 AZR 986/07, AP TVG § 3 Nr. 40. Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 65. ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 24; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 249; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 65. 5 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 24; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 48; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 249. 6 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 24; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 251; a.A. und in sich widersprüchlich BAG v. 23.1.2008 – 4 AZR 312/01, NZA 2008, 771 (Rz. 12 einerseits, Rz. 27 andererseits); krit. dazu Höpfner, Anm. AP TVG § 3 Nr. 36. 7 Bergerhoff, S. 183; Höpfner, Anm. AP TVG § 3 Nr. 36.

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Nachbindung an Tarifverträge gemäß § 3 Abs. 3 TVG

Rz. 75 Teil 6

nicht in Betracht, wenn der Arbeitgeber aus dem Geltungsbereich des TVes oder aus der Tarifzuständigkeit des Arbeitgeberverbandes hinauswächst1. In diesen Fällen gilt unmittelbar die allgemeine Auffangregelung des § 4 Abs. 5 TVG. Für die unmittelbare und zwingende Wirkung von Tarifnormen ist gemäß § 4 Abs. 1 TVG die beiderseitige Tarifgebundenheit von Arbeitgeber und Arbeitnehmer erforderlich. Eine Fortwirkung der Tarifnormen gemäß § 3 Abs. 3 TVG findet in der Regel statt, wenn eine der Arbeitsvertragsparteien Mitglied in der entsprechenden Vereinigung und die andere aus dem Verband ausgetreten ist. Sie tritt aber auch dann ein, wenn eine Arbeitsvertragspartei erst während des Fortwirkungszeitraums dem tarifschließenden Verband beitritt2 oder wenn das Arbeitsverhältnis mit einer verbandsangehörigen Partei erst im Fortwirkungszeitraum begründet wird3. § 3 Abs. 3 TVG setzt nicht voraus, dass eine beiderseitige Tarifgebundenheit bereits bei Beendigung der Mitgliedschaft bestand4.

74

Schließlich wirken die Tarifnormen nach dem Wortlaut des § 3 Abs. 3 TVG auch dann unmittelbar und zwingend, wenn beide Parteien während der Laufzeit des TVes aus dem jeweiligen Verband austreten5. Vor dem Hintergrund des Normzwecks erscheint das zweifelhaft. Bei einer beiderseitigen Beendigung der Mitgliedschaft in den tarifschließenden Verbänden kann von einer „Tarifflucht“ keine Rede sein. Der Arbeitnehmer gibt durch seinen freiwilligen Gewerkschaftsaustritt zu erkennen, dass er eines besonderen Schutzes vor Rechtsmissbrauch nicht bedarf. Damit entfällt die Legitimation der zwingenden Normwirkung im Fortwirkungszeitraum. Auch die Ordnungsfunktion des TVes ist durch diesen Ausnahmefall nicht in Frage gestellt. Schließlich verlangt auch die Einordnung der Verbandsmitgliedschaft als „Optionsrecht“ für die Gegenseite, die normative Tarifwirkung durch Verbandsbeitritt zu begründen6, keine Nachbindung beim Verbandsaustritt beider Parteien, da die zuletzt austretende Partei durch die Beendigung der Mitgliedschaft von ihrem Optionsrecht abschließend Gebrauch gemacht hat. Es spricht daher vieles für eine teleologische Reduktion des § 3 Abs. 3 TVG dahingehend, dass die Vorschrift auf den Fall des beiderseitigen Verbandsaustritts nicht anzuwenden ist. Stattdessen tritt unmittelbar die Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG ein mit der Folge, dass eine arbeitsvertragliche Abweichung vom TV zulässig ist.

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1 BAG v. 26.9.1979 – 4 AZR 819/77, NJW 1980, 1591; BAG v. 14.6.1994 – 9 AZR 89/93, NJW 1995, 178 (179); BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 247/96, NZA 1998, 484 (486); HWK/ Henssler, § 3 TVG Rz. 43; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 68, 70 m.w.N. 2 BAG v. 6.7.2011 – 4 AZR 424/09, NZA 2012, 281 (284); BAG v. 4.8.1993 – 4 AZR 499/92, NZA 1994, 34 (35); Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 225; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 84. 3 BAG v. 7.11.2001 – 4 AZR 703/00, NZA 2002, 748 (749); HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 42; Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 6 Rz. 44. 4 Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 67; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 225. 5 HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 42. 6 Vgl. oben Rz. 9 und Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 10 f., 225.

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Teil 6 Rz. 76

Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft

III. Rechtsfolge 76

Rechtsfolge des § 3 Abs. 3 TVG ist die Fortwirkung der Tarifnormen infolge der fingierten Verbandsmitgliedschaft bzw. aus Sicht des ehemaligen Verbandsmitglieds der Fortbestand der Tarifgebundenheit. Da § 3 Abs. 3 TVG lediglich zu einer zeitlichen Verlängerung der ursprünglichen Tarifgebundenheit führt, wirken die Tarifnormen für die beiderseits Tarifgebundenen gemäß § 4 Abs. 1 TVG im Fortwirkungszeitraum unmittelbar und zwingend1.

77

Die Fortwirkung betrifft zunächst den normativen Teil des TVes. Umstritten ist, ob auch der schuldrechtliche Teil von § 3 Abs. 3 TVG erfasst wird2. Praktisch relevant ist dies vor allem bei der Frage, ob die TV-Parteien nach Beendigung des TVes weiterhin der Friedenspflicht aus dem fortwirkenden TV unterliegen3. Nach dem Wortlaut des § 3 Abs. 3 TVG und der systematischen Stellung der Regelung im Anschluss an die Tarifgebundenheit gemäß § 3 Abs. 1 TVG betrifft die Fortwirkung lediglich den normativen Teil des TVes (vgl. Rz. 2). Denn nur insoweit besteht eine Tarifgebundenheit der Arbeitsvertragsparteien. Schuldrechtliche Regelungen in TVen wirken aufgrund der Relativität des Schuldverhältnisses ausschließlich zwischen den TV-Parteien. Eine Außenwirkung drittschützender schuldrechtlicher Abreden gegenüber den Arbeitsvertragsparteien erfolgt nicht nach § 3 Abs. 1 TVG, sondern nach den Grundsätzen des Vertrags zugunsten Dritter4. Eine Nachbindung an den schuldrechtlichen Teil eines TVes kommt daher nicht in Betracht. Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob die Friedenspflicht in ihrer Gestalt als Vertrag zugunsten Dritter notwendig mit Beendigung der Verbandsmitgliedschaft entfällt oder darüber hinaus wirksam ist (dazu Teil 4 Rz. 117 f.).

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In der Praxis betrifft die Nachbindung primär den Arbeitgeber, der aus dem Verband ausgetreten ist. Nach dem Wortlaut des § 3 Abs. 3 TVG wird aber auch der aus der Gewerkschaft ausgetretene Arbeitnehmer erfasst5. Aus den Materialien zum TVG6 ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass die Normset1 Vgl. Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 77. 2 Dafür: ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 28; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 78 f.; Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 6 Rz. 48; Thüsing/Braun/Braun, 6. Kap. Rz. 58; dagegen: LAG Hessen v. 31.1.1991 – 16 Sa 119/91, DB 1991, 1126; LAG Rheinland-Pfalz v. 20.12.1996 – 7 Sa 1247/96, NZA-RR 1998, 131; LAG Hamm v. 17.9.2008 – 9 SaGa 1442/08, NZA-RR 2009, 26 (28 f.) zum Wechsel in die OT-Mitgliedschaft; Konzen, ZfA 1975, 401 (418); Krause in Jacobs/Krause/Oetker, § 4 Rz. 157; Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 66; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 254; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 117; im Grundsatz auch Willemsen/Mehrens, NZA 2009, 169 (171); differenzierend Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 17 I 5 f. 3 Dazu näher Willemsen/Mehrens, NZA 2009, 169; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 260 ff. 4 So auch Konzen, ZfA 1975, 401 (418 ff.); Willemsen/Mehrens, NZA 2009, 169 (170 f.); a.A. Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 261; wohl auch Reuter, RdA 1996, 201 (208). 5 BAG v. 4.4.2001 – 4 AZR 237/00, NZA 2001, 1085 (1086); BAG v. 16.5.2001 – 10 AZR 357/00, SAE 2002, 113; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 80; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 23; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 42; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 246; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 76; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 17 I 5 e; a.A. Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, S. 156; Jacobs, Anm. AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 26. 6 ZfA 1973, 129.

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Nachbindung an Tarifverträge gemäß § 3 Abs. 3 TVG

Rz. 79 Teil 6

zer die Nachbindung auf den Arbeitgeber beschränken wollten. Zwar findet sich bei Herschel ein Hinweis, dass § 3 Abs. 3 TVG „insbesondere … als Maßnahme zum Bestandsschutz der Arbeitgeberverbände gedacht“ war1. Sicherlich liegt der primäre Anwendungsbereich der Norm auf Arbeitgeberseite2. Daraus kann aber nicht der Schluss gezogen werden, dass der Normzweck – der darin besteht, die „Mitglieder der Tarifvertragsparteien [zu verpflichten], auch die Tarifvertragstreue zu wahren“3 – generell auf Arbeitgeber beschränkt ist4. Vielmehr zeigt der Vergleich mit § 3 Abs. 2 TVG, dass der Gesetzgeber in anderen Fällen durchaus zwischen der Tarifgebundenheit von Arbeitgeber und Arbeitnehmer differenziert, diese Unterscheidung aber für die Nachbindung gerade nicht getroffen hat. Der Fortbestand der Tarifgebundenheit hat grundsätzlich nur statische Wirkung5. § 3 Abs. 3 TVG erfasst die VerbandsTVe in ihrer im Zeitpunkt der Beendigung der Mitgliedschaft geltenden Fassung. Spätere Änderungen des TVes werden nicht nur nicht berücksichtigt, sondern führen zum Wegfall der Nachbindung (vgl. Rz. 84). Etwas anderes kann jedoch für fortwirkende StufenTVe gelten. Hier ist zu differenzieren: Enthält bereits der TV selbst eine abschließende Regelung sämtlicher Stufen (sog. „unmittelbarer StufenTV“)6, so bleibt die TV-immanente Aufstiegsdynamik im Fortwirkungszeitraum erhalten7. Der Arbeitgeber kann sich der Automatik der Stufen nicht durch Verbandsaustritt entziehen8. Sind dagegen zur Umsetzung des StufenTVes weitere ausführende TVe erforderlich (sog. „mittelbarer StufenTV“), so beschränkt sich die Nachbindung auf diejenigen TVe, die im Zeitpunkt der Beendigung der Verbandsmitgliedschaft bereits in Kraft getreten waren9. Wird für die Umsetzung der einzelnen Stufen dynamisch auf einen anderen TV verwiesen, so endet mit dessen Änderung die Nachbindung10. Eine Nachbindung an eine schuldrechtliche Regelung zwischen den TV-Parteien, die den Inhalt künftiger AusführungsTVe

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Herschel, ZfA 1973, 183 (192). Vgl. Konzen, ZfA 1975, 401 (411). ZfA 1973, 129 (160). So aber Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, S. 156 sowie Jacobs, Anm. AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 26, der aus diesem Grunde folgerichtig für eine teleologische Reduktion des § 3 Abs. 3 TVG auf den Verbandsaustritt des Arbeitgebers plädiert. Vgl. BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 316/07, AP TVG § 3 Nr. 37; Thüsing/Braun/Braun, 6. Kap. Rz. 53. Zur Terminologie vgl. Hanau/Kania, DB 1995, 1229. Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 125; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 41; Kempen/Zachert/ Kempen, § 3 TVG Rz. 63; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 80; Hanau/Kania, DB 1995, 1229 (1231 f.); a.A. Bauer/Diller, DB 1993, 1085 (1088). Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 6 Rz. 50. Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 125; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 41; Kempen/Zachert/ Kempen, § 3 TVG Rz. 63; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 81; Hanau/Kania, DB 1995, 1229 (1233). BAG v. 17.5.2000 – 4 AZR 363/99, NZA 2001, 453 (456); BAG v. 22.2.2012 – 4 AZR 8/10, ZTR 2012, 436 (437); Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 276; Henssler/Parpart, SAE 2002, 210 (213); a.A. Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 126.

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Teil 6 Rz. 80

Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft

verbindlich festschreibt, kommt nicht in Betracht, da § 3 Abs. 3 TVG nur den normativen Teil des TVes erfasst (vgl. Rz. 77)1. 80

Bei einem Wechsel des Arbeitgebers in einen konkurrierenden Verband, der mit derselben Gewerkschaft TVe abgeschlossen hat, oder beim Abschluss eines FirmenTVes nach Verbandsaustritt mit der Gewerkschaft, die auch Vertragspartnerin des Verbandes ist, tritt neben die Nachbindung nach § 3 Abs. 3 TVG eine Tarifgebundenheit gemäß § 3 Abs. 1 TVG. Entsprechendes gilt, wenn der Arbeitnehmer in eine Gewerkschaft wechselt, die mit dem Arbeitgeber bzw. dessen Verband ebenfalls TVe abgeschlossen hat. In diesen Fällen entsteht eine echte Tarifkonkurrenz, da dasselbe Arbeitsverhältnis von mehreren TVen erfasst wird2.

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Wie dieses Konkurrenzverhältnis aufzulösen ist, ist umstritten. Einige sehen in § 3 Abs. 3 TVG eine abschließende Spezialvorschrift, hinter die eine Geltung anderer TVe stets oder jedenfalls dann, wenn diese für den Arbeitnehmer ungünstiger sind, zurücktreten müsse3. Andere gehen von einem Vorrang des kraft aktueller Verbandsmitgliedschaft geltenden TVes bzw. des FirmenTVes aus, weil dieser eine stärkere Legitimation als der fortwirkende TV aufweisen soll4. Das BAG wendet auch in dieser Situation die von ihm entwickelten allgemeinen Grundsätze zur Auflösung von Tarifkonkurrenzen an5. Danach ist die Kollision primär nach dem Spezialitätsprinzip aufzulösen, was hier zu einem Vorrang des FirmenTVes gegenüber dem fortwirkenden VerbandsTV führt6. Im Verhältnis zwischen mehreren VerbandsTVen spricht das BAG keinem TV einen generellen Vorrang zu. Es stellt auch keinen Günstigkeitsvergleich an. Entscheidend soll vielmehr sein, welcher TV im Einzelfall den besonderen Erfordernissen und Eigenarten des betreffenden Betriebs und der darin beschäftigten Arbeitnehmer am besten gerecht wird7.

1 Im Ergebnis ebenso Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 81; a.A. Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 63; Hanau/Kania, DB 1995, 1229 (1233). 2 Vgl. ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 65; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 269; Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, S. 279; Däubler, NZA 1996, 225 (230); Konzen, ZfA 1975, 401 (429); Melms, NZA 2002, 296 (297). 3 Vgl. (mit Unterschieden in Einzelheiten) Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 109; Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 68; Kempen, NZA 2003, 415; Bieback, DB 1989, 477 (480 f.); Däubler, NZA 1996, 225 (230); Konzen, ZfA 1975, 401 (429); für den Verbandsaustritt Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, S. 282 ff.; i. E. auch Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1814 f. 4 ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 69; Henssler, FS Schaub, S. 311 (325); Bauer/Haußmann, DB 1999, 1114 (1115). 5 BAG v. 26.10.1983 – 4 AZR 219/81, AP TVG § 3 Nr. 3; BAG v. 23.1.2008 – 4 AZR 312/01, NZA 2008,771 (773 f.); ebenso Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 286. 6 Vgl. Reuter, RdA 1996, 201 (208); Höpfner, NJW 2010, 2173 (2175); insoweit auch Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 6 Rz. 69. 7 BAG v. 26.10.1983 – 4 AZR 219/81, AP TVG § 3 Nr. 3; ebenso Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 286; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 17 I 5 c.

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Nachbindung an Tarifverträge gemäß § 3 Abs. 3 TVG

Rz. 84 Teil 6

IV. Ende der Nachbindung § 3 Abs. 3 TVG verlängert die normative Tarifgebundenheit nach Beendigung der Verbandsmitgliedschaft bis zu dem Zeitpunkt, in dem der TV endet. Daran schließt sich nach ständiger Rechtsprechung des BAG1 die Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG an (dazu Teil 9 Rz. 29). Das Gesetz kennt keine generelle Frist, mit deren Ablauf die normative Tarifgebundenheit des ehemaligen Verbandsmitglieds einheitlich endet. Vielmehr ist das „Ende des TVes“ für jeden TV gesondert festzustellen2. Da es in der Praxis durchaus üblich ist, dass für Lohn- und MantelTVe verschiedene Laufzeiten oder Kündigungsfristen vereinbart werden, kann der aus dem Verband ausgetretene Arbeitgeber ein alternatives Regelungssystem der Arbeitsbedingungen ohne die Mitwirkung von Gewerkschaften oftmals nur gestuft einführen3.

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Befristete TVe enden grundsätzlich mit Ablauf des im Vertrag bestimmten Enddatums bzw. Zeitraums. Die Verlängerung eines abgelaufenen TVes4 durch die TV-Parteien stellt rechtsdogmatisch einen Neuabschluss dar, der von § 3 Abs. 3 TVG nicht erfasst wird, weil er sich nicht auf die mitgliedschaftliche Legitimation des ausgetretenen Verbandsmitglieds stützen kann5. Davon zu unterscheiden ist die Situation, dass der TV selbst eine automatische Verlängerung vorsieht, wenn die TV-Parteien nicht (rechtzeitig) von ihrem Kündigungsrecht Gebrauch machen. In diesem Fall ist die Fortdauer bereits im „Normenprogramm“ des TVes angelegt und – vorbehaltlich von Höchstfristen der Nachbindung (dazu Rz. 87 ff.) – durch die frühere Mitgliedschaft legitimiert6.

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Die Nachbindung an unbefristete TVe endet erst, wenn der TV durch Kündigung, einvernehmliche Aufhebung oder in sonstiger Weise (Ablösung durch neuen TV, Anfechtung mit Wirkung ex nunc, Erlöschen einer TV-Partei)7 endet. Eine inhaltliche Änderung des TVes steht der Beendigung gleich8. Die Entstehungsgeschichte des TVG deutet zwar eher gegen eine Gleichsetzung von Änderung und Ende des TVes9. Die Gesetzgebungsmaterialien sind jedoch in

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1 Vgl. nur BAG v. 13.12.1995 – 4 AZR 1062/94, NZA 1996, 769 (771); BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53 (59); BAG v. 6.7.2011 – 4 AZR 424/09, NZA 2012, 281 (285). 2 Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 268; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 84. 3 Berechtigt daher die rechtspolitische Kritik von Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 268; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 84; Dieterich/Hanau/Henssler/Oetker/Wank/Wiedemann, RdA 2004, 65 (76). 4 Entsprechendes gilt für die vorzeitige Verlängerung eines ablaufenden TVes. 5 Vgl. Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 86; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 44; Kempen/ Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 59. 6 Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 116; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 87; Höpfner, NJW 2010, 2173 (2176). 7 Vgl. im Einzelnen HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 22 ff.; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1355 ff. 8 BAG v. 18.3.1992 – 4 AZR 339/91, NZA 1992, 700 (701); BAG v. 7.11.2001 – 4 AZR 703/00, NZA 2002, 748 (749 f.); BAG v. 22.2.2012 – 4 AZR 8/10, ZTR 2012, 436 (437); HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 44; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 272; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 95 f., 102. 9 Vgl. die Stellungnahme des Gewerkschaftsrates der Vereinten Zonen, in: ZfA 1973, 129 (146).

Höpfner

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Teil 6 Rz. 85

Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft

dieser Frage keineswegs eindeutig. Entscheidend für ein Ende der Nachbindung spricht, dass eine inhaltliche Änderung des TVes nicht durch die frühere Verbandsmitgliedschaft legitimiert ist und daher für das ehemalige Mitglied nicht normativ verbindlich sein kann1. Das gilt für jede (auch unerhebliche) Änderung von Inhalts-, Abschluss- oder Beendigungsnormen bzw. von betrieblichen oder betriebsverfassungsrechtlichen Fragen, selbst wenn diese Änderungen nicht den Wortlaut des TVes selbst, sondern nur die „durch den TV normierte Rechtslage“ betreffen2. Nach der Rechtsprechung des BAG entfällt mit einer Änderung des TVes auch die Nachbindung an die Bestimmungen des TVes, die von der Änderung nicht berührt werden3. 85

Von der Änderung des TVes zu unterscheiden ist die Teilkündigung4. Für diesen Fall wird vertreten, dass der verbliebene, nicht gekündigte Teil des TVes gemäß § 3 Abs. 3 TVG weiter fortwirken soll, sofern er eine sinnvolle Regelung darstellt5. Dem ist nur zuzustimmen, sofern und soweit der Wegfall des gekündigten Regelungskomplexes nicht zu einer inhaltlichen Veränderung des fortbestehenden Tarifwerks führt. Denn eine Nachbindung an einen zwar in sich stimmigen (Teil-)TV, der aber infolge der Teilkündigung eine ganz andere inhaltliche Ausrichtung erhält als der ursprünglich vereinbarte TV, ist mitgliedschaftlich nicht legitimiert.

86

Die bloße Kündigungsmöglichkeit beendet die Nachbindung dagegen nicht6. Die Gesetzgebung hat in § 3 Abs. 3 TVG ausdrücklich auf den tatsächlichen Beendigungstermin abgestellt und ist insoweit ganz bewusst von einem früheren Referentenentwurf abgewichen, wonach die Tarifgebundenheit „mit dem Zeitpunkte [erlischt], zu dem die Kündigung des Tarifvertrages bei ihrem Ausscheiden frühestens zulässig ist.“7 Hinzu kommt, dass die Nichtausübung eines Kündigungsrechts wertungsmäßig der automatischen Verlängerung eines

1 Vgl. BAG v. 25.2.2009 – 4 AZR 986/07, AP TVG § 3 Nr. 40; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 272; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 96. 2 BAG v. 25.2.2009 – 4 AZR 986/07, AP TVG § 3 Nr. 40; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 26; Thüsing/Braun/Braun, 6. Kap. Rz. 60. 3 BAG v. 18.3.1992 – 4 AZR 339/91, NZA 1992, 700 (701); BAG v. 7.11.2001 – 4 AZR 703/00, NZA 2002, 748 (749 f.); Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 272; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 102; a.A. Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 122; Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 60. 4 Vgl. zu deren Zulässigkeit Oetker, RdA 1995, 82 (98 f.) m.w.N.; BAG v. 15.4.2008 – 1 AZR 86/07, NZA 2008, 1074 (1076). 5 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 26; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 17 I 5 d; Kittner/Zwanziger/Deinert/Deinert, § 8 Rz. 238; wohl auch Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 112. 6 BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53 (57); HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 44; Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 59; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 266; Hanau/Kania, DB 1995, 1229 (1232); Höpfner, NJW 2010, 2173 (2176); Willemsen/Mehrens, NZA 2010, 307 (308); a.A. ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 27; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 266; Hanau, RdA 1998, 65 (69). 7 § 13 Abs. 2 des Referentenentwurfs zur Angleichung des deutschen und österreichischen Tarifrechts vom Mai 1931, abgedr. bei Wiedemann/Oetker, Geschichte Rz. 14.

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Höpfner

Nachbindung an Tarifverträge gemäß § 3 Abs. 3 TVG

Rz. 88 Teil 6

befristeten TVes entspricht und ebenso wie diese bereits Bestandteil der mitgliedschaftlich legitimierten Einigung der TV-Parteien ist1. Damit besteht jedoch v. a. bei unbefristeten TVen und bei TVen, deren Laufzeit sich automatisch verlängert, die Gefahr einer „Ewigkeitsbindung“ des ehemaligen Verbandsmitglieds. Denn dieses kann weder den TV selbst kündigen noch – aufgrund der Beendigung seiner Mitgliedschaft – verbandsintern auf eine Kündigung hinwirken. Im Schrifttum werden daher verschiedene Ansätze verfolgt, die Dauer der Nachbindung zu begrenzen2. Das BAG hat diese nicht aufgegriffen und erteilte der im Schrifttum fast einhellig geteilten Auffassung jüngst eine Absage3. Dem ist zu widersprechen. Eine unbegrenzte Nachbindung ist nicht erforderlich, um eine „Tarifflucht“ zu vermeiden. Sie kann sich nicht auf eine mitgliedschaftliche Legitimation stützen und verstößt darüber hinaus gegen die negative Koalitionsfreiheit (vgl. Rz. 65 f.)4.

87

Da ein Rückgriff auf den nächstmöglichen Kündigungstermin nicht möglich ist (vgl. Rz. 86), kommt allein eine starre zeitliche Höchstgrenze in Betracht. Diese Lösung hat den Vorteil, dass die maximale Dauer der Nachbindung für sämtliche VerbandsTVe einheitlich geregelt ist. In der Literatur werden verschiedene arbeitsrechtliche Vorschriften genannt, deren Wertungen auf die Bemessung einer zeitlichen Höchstgrenze ausstrahlen sollen. Zum Teil wird eine Übertragung der fünfjährigen Frist des § 624 BGB befürwortet5. Dagegen spricht jedoch, dass dessen Normzweck, der Schutz des Mobilitätsinteresses und der persönlichen Freiheit des Arbeitnehmers, mit der Dauer der Tarifgebundenheit keine Berührungspunkte hat6. Näher liegt eine Anlehnung an die Jahresfrist des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB7. De lege ferenda überzeugt das schon deshalb, weil dadurch die bestehenden Wertungswidersprüche zwischen den vergleichbaren Regelungsmodellen8 des § 613a BGB und der §§ 3 Abs. 3, 4 Abs. 5 TVG beseitigt würden9. Gleichwohl ist eine Übertragung der Jahresfrist

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1 Höpfner, NJW 2010, 2173 (2176). 2 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 27; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 265 ff.; Bauer, FS Schaub, S.19 (24); Däubler, NZA 1996, 225 (226 f.); Hanau, RdA 1998, 65 (69); Kittner, AuR 1998, 469 (471); Henssler, FS Picker, S. 987 (993 ff.); Höpfner, NJW 2010, 2173 (2174 ff.); de lege ferenda Dieterich/Hanau/Henssler/Oetker/Wank/Wiedemann, RdA 2004, 65 (75 f.); Konzen, NZA 1995, 913 (920); Lieb, NZA 1994, 337. 3 BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53 (57 ff.); ebenso AnwK-Arb/Friedrich, § 3 TVG Rz. 57. 4 Henssler, FS Picker, S. 987 (1004 ff.); Höpfner, NJW 2010, 2173 (2175 f.); Löwisch, JZ 1996, 812 (821); a.A. BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53 (57 ff.); Schaub/ Treber, ArbR-Hdb., § 205 Rz. 45. 5 Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 223; Däubler, NZA 1996, 225 (227); Hanau/Kania, DB 1995, 1229 (1233). 6 Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 94. 7 Dafür Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1557; Willemsen/Mehrens, NZA 2010, 307 (309). 8 Vgl. dazu BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (47 f.); dezidiert a.A. Franzen, FS Picker, S. 929 (944 ff.); Sagan, RdA 2011, 163 (166 f.). 9 So auch Dieterich/Hanau/Henssler/Oetker/Wank/Wiedemann, RdA 2004, 65 (75 f.); HWK/Henssler, Einl. TVG Rz. 39; Henssler, FS Picker, S. 987 (1008); Konzen, NZA 1995, 913 (920).

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Teil 6 Rz. 89

Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft

auf die Nachbindung de lege lata nicht möglich1. Die Frist nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB soll dem Betriebserwerber die Anpassung der Arbeitsbedingungen der übernommenen Arbeitnehmer an die in seinem Unternehmen üblichen Arbeitsbedingungen ermöglichen. Dieses Regelungsanliegen lässt sich auf einen Verbandsaustritt und die sonstigen Fälle des § 3 Abs. 3 TVG nicht übertragen. Denn in diesen Fällen bleiben die betriebliche und die unternehmerische Einheit unangetastet. Es entstehen gerade keine divergierenden Arbeitsbedingungen im Betrieb, die es anzupassen gilt. Schließlich kann auch eine Begrenzung der Nachbindung (und Nachwirkung) in Analogie zu § 199 Abs. 4 BGB auf 10 Jahre ab Verbandsaustritt, wie es das ArbG Hannover kürzlich entschieden hat2, nicht überzeugen, da die Verjährung die Entstehung eines Anspruchs voraussetzt und die bloße Tarifbindung damit nicht gleichzusetzen ist. 89

Schon nach geltender Rechtslage zulässig ist dagegen eine Begrenzung der Nachbindung durch Rückgriff auf allgemeine verbandsrechtliche Grundsätze. Dafür bietet sich weniger die Zwei-Jahres-Höchstfrist des § 39 Abs. 2 BGB für die Kündigung der Vereinsmitgliedschaft an3, da die Nachbindung die verbandsrechtliche Wirksamkeit des Austritts nicht berührt. In Betracht kommt aber eine Übertragung der Wertungen über die Nachhaftung des ausgetretenen Gesellschafters einer Personengesellschaft4. Dieser haftet gemäß § 160 HGB (ggf. i.V.m. § 736 Abs. 2 BGB) für die Altverbindlichkeiten der Gesellschaft für fünf Jahre ab Eintragung des Ausscheidens im Handelsregister5. Zwar betreffen die akzessorische Nachhaftung für Gesellschaftsschulden und die Bindung an TVe dogmatisch verschiedene Sachverhalte. Die zugrundeliegenden Wertungen sind jedoch vergleichbar. In beiden Fällen geht es um eine durch den Verband begründete Verpflichtung des Verbandsmitglieds gegenüber Dritten. Der Gesetzgeber hat mit § 160 HGB die bis 1994 geltende, nach seiner Auffassung „unzumutbare“ Rechtslage ändern wollen, wonach ein Gesellschafter für Verbindlichkeiten aus Dauerschuldverhältnissen unter Umständen noch Jahrzehnte nach seinem Ausscheiden in Anspruch genommen werden konnte6. Bereits zuvor hatte der BGH zutreffend die Notwendigkeit einer zeitlichen Einschränkung der Nachhaftung anerkannt und die Haftung auf den Zeitraum bis zum ersten auf das Ausscheiden folgenden Kündigungstermin begrenzt7. Diese Lösung, die auf § 3 Abs. 3 TVG angesichts der Entstehungsgeschichte des TVG nicht übertragbar ist (vgl. Rz. 86), hat der Gesetzgeber durch eine allgemeine Höchstfrist ersetzt. Zwar bezieht sich § 160 HGB nur auf die persönliche Haf1 Höpfner, NJW 2010, 2173 (2177); a.A. Willemsen/Mehrens, NZA 2010, 307 (309). 2 ArbG Hannover v. 17.4.2008 – 10 Ca 436/07, DB 2006, 1050. 3 Dafür Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 94; Thüsing/Braun/Braun, 6. Kap. Rz. 66; Bayreuther, Tarifautonomie, S. 731. 4 Höpfner, NJW 2010, 2173 (2177); Höpfner, Anm. AP TVG § 3 Nr. 36; vgl. dazu schon Kittner, AuR 1998, 469 (471). 5 Für den Austritt aus der GbR ist mangels Eintragungsfähigkeit die Kenntnis des Gläubigers vom Ausscheiden des Gesellschafters maßgebend, vgl. BGH v. 24.9.2007 – II ZR 284/05, NJW 2007, 3784 (3785). 6 BT-Drucks. 12/1868, S. 1. 7 BGH v. 19.12.1977 – II ZR 202/76, NJW 1978, 636 (637); BGH v. 8.10.1984 – II ZR 312/83, NJW 1985, 1899; dazu Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 266; widersprüchlich daher die Abgrenzung von „Nachhaftung“ und „Tarifmacht“ bei § 2 TVG Rz. 171.

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Höpfner

Betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Normen

Rz. 92 Teil 6

tung des Gesellschafters. Aus der Norm und den Wertanschauungen der Gesetzgebung lässt sich jedoch ein allgemeiner Rechtssatz entnehmen, wonach niemand nach Beendigung seiner Mitgliedschaft in einem Verband länger als fünf Jahre für solche Verpflichtungen einzustehen hat, die nicht durch eigenes rechtsgeschäftliches Handeln, sondern allein infolge der Verbandsmitgliedschaft entstanden sind1. Übertragen auf § 3 Abs. 3 TVG bedeutet dies, dass die Nachbindung des ehemaligen Verbandsmitglieds vorbehaltlich sonstiger Beendigungsgründe entgegen der Auffassung des BAG2 spätestens fünf Jahre nach der Beendigung der Mitgliedschaft endet.

D. Betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Normen gemäß § 3 Abs. 2 TVG Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG gelten Tarifnormen unmittelbar und zwingend nur zwischen den beiderseits Tarifgebundenen. Eine Ausnahme vom Prinzip der beiderseitigen Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft gilt jedoch für Tarifnormen über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen. Diese gelten gemäß §§ 3 Abs. 2, 4 Abs. 1 Satz 2 TVG für alle Betriebe, deren Arbeitgeber tarifgebunden ist. Auf eine durch Gewerkschaftszugehörigkeit vermittelte Tarifgebundenheit des Arbeitnehmers kommt es nicht an (vgl. aber Rz. 95).

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Bei einem gemeinsamen Betrieb mehrerer Arbeitgeber müssen alle Arbeitgeber tarifgebunden sein und dem tarifschließenden Verband angehören oder den TV gemeinsam unterzeichnen3. Die Geltung betriebsverfassungsrechtlicher Tarifnormen in unternehmensübergreifenden BetriebsstrukturTVen im Konzern gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 2 und 3 BetrVG setzt einen konzernweit einheitlich geltenden TV4 und damit die Tarifgebundenheit aller beteiligten Arbeitgeber voraus5.

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Betriebsnormen i.S.d. § 3 Abs. 2 TVG sind Regelungen, welche die Organisation und Gestaltung des Betriebs derart unmittelbar betreffen, dass eine individualvertragliche Regelung wegen „evident sachlogischer Unzweckmäßigkeit“ ausscheidet6. Sie betreffen das betriebliche Rechtsverhältnis zwischen dem Arbeitgeber und der Belegschaft als Kollektiv, nicht die Rechtsverhältnisse zwischen dem Arbeitgeber und einzelnen Arbeitnehmern, die von ihnen allenfalls mittelbar betroffen sind (vgl. näher Teil 4 Rz. 86 ff.). Keine Betriebsnormen sind danach tarifliche Regelungen zur absoluten Entgelthöhe, das ihnen zugrunde liegende abstrakte Vergütungsschema oder sonstige Entlohnungsgrundsätze7. Zu den betriebsverfassungsrechtlichen Normen vgl. Teil 4 Rz. 92 ff.

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1 Vgl. Höpfner, NJW 2010, 2173 (2177). 2 BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53 (57 ff.). 3 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 16; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 35; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 102; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 169; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 17 I 2 d. 4 Vgl. dazu Rieble, Der Konzern 2005, 475; Höpfner in Arbeitsrecht im Konzern, S. 113. 5 Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 102. 6 BAG v. 26.4.1990 – 1 ABR 84/87, NZA 1990, 850 (853); BAG v. 17.6.1997 – 1 ABR 3/97, NZA 1998, 213 (214); BAG v. 11.11.2008 – 1 ABR 68/07, NZA 2009, 450 (452). 7 BAG v. 11.11.2008 – 1 ABR 68/07, NZA 2009, 450 (453); HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 36.

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Teil 6 Rz. 93

Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft

93

Die Formulierung des § 3 Abs. 2 TVG entstammt einem Vorschlag Herschels, den der Ausschuss für Arbeit billigte und um eine entsprechende Regelung in § 4 Abs. 1 Satz 2 TVG ergänzte1. Anlass für diese Ergänzungen war die Ausdehnung der Regelungskompetenzen der TV-Parteien in § 1 Abs. 1 TVG über die Inhaltsnormen hinaus u.a. auf betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen (sog. „Solidarnormen“ und „Ordnungsnormen“)2. Da diese regelmäßig nur einheitlich für alle betroffenen Arbeitnehmer geregelt werden könnten, waren sich die Normsetzer unter Einschluss der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände einig, die Wirkung betrieblicher und betriebsverfassungsrechtlicher Normen „ohne Berücksichtigung der Organisationszugehörigkeit der Arbeitnehmer“ anzuordnen3. U.a. sollte damit eine Schlechterstellung der Gewerkschaftsangehörigen gegenüber Unorganisierten, die sonst von der betrieblichen Regelung nicht erfasst würden, vermieden werden4.

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Aus rechtsdogmatischer Sicht handelt es sich bei § 3 Abs. 2 TVG um eine gesetzliche Erweiterung der Tarifgebundenheit auf Arbeitnehmerseite über die Mitglieder der tarifschließenden Gewerkschaft hinaus auf sämtliche Arbeitnehmer der vom TV betroffenen Betriebe des Arbeitgebers5. Das ergibt sich zwar nicht aus dem Wortlaut der Vorschrift. Es folgt jedoch aus dem systematischen Zusammenhang mit § 4 Abs. 1 Satz 2 TVG. Diese Regelung wäre überflüssig, wenn bereits § 3 Abs. 2 TVG die „Geltung“ der Tarifnormen betreffen würde. Dem methodischen Grundsatz folgend, wonach Rechtsnormen wenn möglich nicht so auszulegen sind, dass sie praktisch keinen Anwendungsbereich mehr haben6, ist daher an der dogmatischen Differenzierung zwischen der Regelung über die Tarifgebundenheit in § 3 TVG und derjenigen über die Geltung von Tarifnormen in § 4 Abs. 1 TVG auch hinsichtlich der betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Normen festzuhalten.

95

Nach der wohl h.M., der auch das BAG zuzuneigen scheint7, setzt die Geltung von betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Normen entsprechend dem Wortlaut des § 3 Abs. 2 TVG ausschließlich die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers voraus8. Überzeugender erscheint indes die Gegenauffassung, wo1 Vgl. ZfA 1973, 129 (151, 155); Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung, S. 106 f. 2 Dazu Dieterich, Die betrieblichen Normen, S. 87 f.; Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 25; Loritz in Zöllner/Loritz/Hergenröder, § 36 I 2; vgl. auch Herschel, ZfA 1973, 183 (187). 3 Herschel, ZfA 1973, 183 (191 f.); i. E. auch Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung, S. 118 f. 4 Herschel, ZfA 1973, 183 (192). 5 Vgl. Herschel, ZfA 1973, 183 (190 f.); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 17 I 2 d; ähnlich Nikisch, Arbeitsrecht II, § 73 IV 1; Säcker/Oetker, Tarifautonomie, S. 135; a.A. Nipperdey in Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht II/1, § 23 B II; Dieterich, Die betrieblichen Normen, S. 86; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1524; Wiedemann/ Oetker, § 3 TVG Rz. 165. 6 Vgl. Canaris, Handelsrecht, S. 39 f.; Höpfner, NJW 2010, 2173 (2174). 7 Vgl. BAG v. 5.9.1990 – 4 AZR 59/90, NZA 1991, 202 (204); BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, NZA 1991, 736 (738). 8 Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 168; Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 24; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 69; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 803; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 17 I 2 d; Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung, S. 518 ff.; Dieterich, Die betrieblichen Normen, S. 86.

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Höpfner

Betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Normen

Rz. 96 Teil 6

nach zusätzlich im Betrieb des Arbeitgebers mindestens ein Arbeitnehmer Mitglied der tarifschließenden Gewerkschaft sein muss1. Denn nur in diesem Fall besteht die Gefahr einer Schlechterstellung von Gewerkschaftsangehörigen, der der Gesetzgeber mit § 3 Abs. 2 TVG entgegentreten wollte. Darüber hinaus gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gewerkschaft eine Kompetenz zum Abschluss von TVen über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen ohne jede mitgliedschaftliche Legitimation im Betrieb des Arbeitgebers eingeräumt werden sollte. Weder Art. 9 Abs. 3 GG noch § 3 Abs. 2 TVG verleihen ihr ein Mandat für die Nichtorganisierten2. Folgt man dieser Auffassung, so kommt es zur Fortwirkung der betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Tarifnormen gemäß § 3 Abs. 3 TVG, wenn infolge eines Gewerkschaftsaustritts, der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses oder der Versetzung eines Arbeitnehmers in einen anderen Betrieb während der Laufzeit des TVes kein Gewerkschaftsmitglied mehr im betreffenden Betrieb existiert3. In der Literatur ist die Verfassungsmäßigkeit von § 3 Abs. 2 TVG lebhaft umstritten. Bedenken bestehen v. a. hinsichtlich der Vereinbarkeit der Norm mit der negativen Koalitionsfreiheit der Außenseiter gemäß Art. 9 Abs. 3 GG sowie mit dem Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip4. Eine verbreitete Ansicht hält jedenfalls eine extensive Auslegung des § 3 Abs. 2 TVG für verfassungsrechtlich problematisch und will daher den Anwendungsbereich der Vorschrift auf Solidarnormen beschränken, während Ordnungsnormen, welche die tariflichen Außenseiter belasten, unzulässig seien5. Das BAG bejaht demgegenüber die Verfassungsmäßigkeit des § 3 Abs. 2 TVG6. Der Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit der Außenseiter sei „von der Sache her geboten“, sofern eine einheitliche Regelung auf betrieblicher Ebene erforderlich sei.

1 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 17; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 207; MünchArbR/Rieble/ Klumpp, § 177 Rz. 37; ähnlich schon Lieb, RdA 1967, 441 (446). 2 Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 208. 3 Vgl. MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 177 Rz. 41. 4 Vgl. zum Meinungsstand H. Hanau, RdA 1996, 158 (165 ff.); Schleusener, ZTR 1998, 100; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 172 ff. 5 Vgl. Zöllner, RdA 1962, 453 (458 f.); Lieb, RdA 1967, 441; Loritz, Tarifautonomie, S. 55 ff.; Loritz in Zöllner/Loritz/Hergenröder, § 37 III 2; Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 236 f.; ferner Schleusener, ZTR 1998, 100 (108 f.); HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 35; Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung, S. 143 ff., 176 ff. 6 BAG v. 26.4.1990 – 1 ABR 84/87, NZA 1990, 850 (853); BAG v. 7.11.1995 – 3 AZR 676/94, NZA 1996, 1214 (1216); BAG v. 17.6.1997 – 1 ABR 3/97, NZA 1998, 213 (214).

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Teil 7 Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung Rz. A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Rz. b)

B. Tarifgeltung aufgrund einer Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG I. Einführung und rechtstatsächliche Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . .

2

II. Zweck der Allgemeinverbindlicherklärung 1. Arbeitnehmerschutz . . . . . . . . . 5 2. Wettbewerbsregulierung . . . . . 6 3. Stärkung der Koalitionen . . . . . 9 4. Finanzierung von gemeinsamen Einrichtungen . . . . . . . . 11 5. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 III. Rechtsnatur der Allgemeinverbindlicherklärung . . . . . . . . . . . . . . 15 IV. Voraussetzungen der Allgemeinverbindlicherklärung 1. Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 2. Formelle Voraussetzungen der Allgemeinverbindlicherklärung a) Antrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beteiligungsverfahren . . . . c) Einvernehmen des Tarifausschusses . . . . . . . . . . . . . d) Entscheidung des Ministeriums und Erlass der Allgemeinverbindlicherklärung aa) Staatlicher Erstreckungsakt . . . . . . . . . . . bb) Bekanntmachung . . . . e) Möglichkeit einer Teil-Allgemeinverbindlicherklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Materielle Voraussetzungen der Allgemeinverbindlicherklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeinverbindlicherklärbarer Tarifvertrag . . . aa) Arten von Tarifverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Regelungsgegenstände in Tarifverträgen . . . . .

19

20 25 26

29 31

34

35 36 37

c)

d)

Quorum und öffentliches Interesse (§ 5 Abs. 1 Satz 1 TVG) aa) 50%-Quorum . . . . . . . . (1) Zweck des Quorums . (2) Prüfung des Quorums (3) Berechnung des Quorums (a) Grundsätze der Berechnung . . . . . . . . . . . . (b) Einzelfragen bei der Berechnung . . . . . . . . . (4) Rechtspolitische Überlegungen . . . . . . . . . . . . bb) Öffentliches Interesse (1) Zweck des „öffentlichen Interesses“ . . . . (2) Prüfungsmaßstab . . . . (3) Vorliegen des „öffentlichen Interesses“ . . . . Sozialer Notstand (§ 5 Abs. 1 Satz 2 TVG) aa) Praxisrelevanz und Einordnung . . . . . . . . . . bb) Voraussetzungen . . . . . Rückwirkung der Allgemeinverbindlicherklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

V. Tarifgeltung aufgrund einer Tarifnormerstreckung durch Allgemeinverbindlicherklärung 1. Tarifgebundenheit als Wirkung des § 5 Abs. 4 TVG a) Grundprinzipien der Erstreckungswirkung . . . . . . b) Verzicht, Verwirkung, Ausschlussfristen . . . . . . . . c) Von der Allgemeinverbindlicherklärung erfasste Arbeitsverhältnisse . . . . . . . . . d) Allgemeinverbindlicherklärung und Tarifkonkurrenz . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Erstreckungswirkung bei internationalen Sachverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39 40 41

43 46 49 50 51 52 55

57 58

60

63 67

68

71

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38

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Teil 7

Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung Rz.

2. Beendigung der Wirkungen der Allgemeinverbindlicherklärung a) Ablauf des erstreckten Tarifvertrages . . . . . . . . . . . . . . b) Aufhebung der Allgemeinverbindlicherklärung . . . . . c) Befristung der Allgemeinverbindlicherklärung . . . . . d) Nachwirkung allgemeinverbindlicher Tarifverträge aa) Nachwirkung nach Ende der Allgemeinverbindlicherklärung . bb) Nachwirkung bei Herauswachsen aus dem Geltungsbereich eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrages . VI. Vermeidung allgemeinverbindlicher Tarifverträge . . . . . . . . . . . . . . . 1. Herauswachsen aus dem Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abschluss speziellerer Tarifverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. OT-Mitgliedschaft . . . . . . . . . . . 4. Outsourcing . . . . . . . . . . . . . . . . .

a)

78 80 81

82

86 87 88 90 92 93

VII. Rechtsschutz in Zusammenhang mit Allgemeinverbindlicherklärungen 1. Rechtsschutz unmittelbar für/ gegen die Allgemeinverbindlicherklärung . . . . . . . . . . . . . . . . 94 2. Inzidenter Rechtsschutz . . . . . . 97 VIII. Verfassungsmäßigkeit von § 5 TVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 C. Tarifgeltung aufgrund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes I. Einführung und rechtstatsächliche Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 II. Zweck des AEntG . . . . . . . . . . . . . . 104 III. Voraussetzungen der Tarifnormerstreckung durch das AEntG . . . . 1. Branchenzugehörigkeit . . . . . . . 2. Erfasste Arbeitsbedingungen . . a) Mindestentgeltsätze . . . . . b) Urlaubskassen . . . . . . . . . . . 3. Staatlicher Tarifnormerstreckungsakt . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Rz.

106 107 113 115 117 118

b)

Erstreckung kraft Allgemeinverbindlicherklärung (§ 3 Satz 1 Alt. 1 AEntG) . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Erstreckung kraft Rechtsverordnung (§ 3 Satz 1 Alt. 2, § 7 AEntG) . . . . . . . 121 aa) Dogmatische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . 122 bb) Voraussetzungen für den Erlass der Rechtsverordnung . . . . . . . . . . 125 (1) Gemeinsamer Antrag 126 (2) Beteiligungsverfahren 128 (3) Beteiligung des Tarifausschusses . . . . . . . . . 129 (4) Regelungsgegenstände und Geltungsbereich . 130 (5) Öffentliches Interesse 132 (6) Auswahlentscheidung bei sich überschneidendem Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . 134 (a) Sich überschneidender Geltungsbereich von Tarifverträgen . . . . . . . 135 (b) Kollision mehrerer Anträge . . . . . . . . . . . . . 139

IV. Tarifgeltung aufgrund des AEntG 141 1. Grundprinzipien der Erstreckungswirkung a) Geltung unabhängig vom Vertragsstatut . . . . . . . . . . . 142 b) Verzicht, Verwirkung, Ausschlussfristen, Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 c) Sonderregelung für Leiharbeitnehmer . . . . . . . . . . . . 144 2. Nach dem AEntG erstreckte Tarifverträge bei Tarifkonkurrenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 a) Verdrängungswirkung des AEntG . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 b) Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Verdrängungswirkung . . . . . . . . . . . 152 3. Beendigung der Wirkungen des AEntG a) Beendigung der Wirkungen des AEntG bei Erstreckung kraft Allgemeinverbindlicherklärung . . . . . . . . . . . . 154

Teil 7

Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung Rz. b)

c)

Beendigung der Wirkungen des AEntG bei Erstreckung kraft Rechtsverordnung . . 155 Nachwirkung von nach dem AEntG erstreckten Tarifverträgen aa) Nachwirkung bei Erstreckung kraft Allgemeinverbindlicherklärung . . . . . . . . . . . . . 157 bb) Nachwirkung bei Erstreckung kraft Rechtsverordnung . . . 158

V. Vermeidung der Tarifgeltung nach dem AEntG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 VI. Rechtsschutz in Zusammenhang mit dem AEntG . . . . . . . . . . . . . . . . 162 VII. Verfassungsmäßigkeit des AEntG 163 D. Mit der Tarifnormerstreckung vergleichbare Regelungsinstrumente I. Mindestlohn in der Pflegebranche 1. Anwendungsbereich und Zweck der Regelung . . . . . . . . . 168 2. Mindestarbeitsbedingungen durch Rechtsverordnung . . . . . 170 II. Mindestlohn in der Zeitarbeitsbranche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 1. Zweck der Regelung . . . . . . . . . 173 2. Lohnuntergrenze durch Rechtsverordnung

Rz. a)

b) c)

Voraussetzungen des Rechtsverordnungserlasses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Wirkung der Rechtsverordnung . . . . . . . . . . . . . . 176 Verfassungsrechtliche Zweifel . . . . . . . . . . . . . . . . . 180

III. Staatliche Mindestarbeitsbedingungen durch das MiArbG . . . . . . . 1. Zweck der Regelung . . . . . . . . . 2. Formelle Voraussetzungen des Rechtsverordnungserlasses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Materielle Voraussetzungen des Rechtsverordnungserlasses a) Negatives Quorum . . . . . . . b) Ungeschriebene Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . 4. Wirkungen der Rechtsverordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Überschneidung mit der Allgemeinverbindlicherklärung . . 6. Überschneidungen mit dem AEntG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

181 182

183

185 189 191 192 193

IV. Tariftreueerklärungen 1. Anwendungsbereich und Zweck der Regelungen . . . . . . . 194 2. Tariftreueerklärungen im Lichte der Rechtsprechung des BVerfG und EuGH . . . . . . . . . . . 196 3. Tariftreuegesetze der einzelnen Bundesländer . . . . . . . . . . . . . . . . 198

Literatur: Bayreuther, Einige Anmerkungen zur Verfassungsmäßigkeit des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes und des Mindestarbeitsbedingungengesetzes 2009, NJW 2009, 2006; Besgen, Nachwirkung eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrages, SAE 2002, 224; Bispinck/Schulten, Aktuelle Mindestlohndebatte: Branchenlösungen oder gesetzlicher Mindestlohn?, WSI-Mitteilungen 2008, 151; Bötticher, Die gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, 1966; Deinert, Arbeitnehmerentsendung im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen innerhalb der Europäischen Union – Rechtsprobleme der Sonderanknüpfung eines „harten Kerns“ arbeitsrechtlicher Vorschriften des Arbeitsortes, RdA 1996, 339; Dieterich, Die Grundrechtsbindung von Tarifverträgen, in: Festschrift für Schaub, 1998, S. 117; Fenn, Der Grundsatz der Tarifeinheit, in: Festschrift für Kissel, 1994, S. 213; Fitting, Das Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen, RdA 1952, 5; Giesen, Staatsneutralität bei der Verbindlicherklärung von Tarifverträgen, ZfA 2008, 355; Hanau, Gemeinsame Einrichtungen von Tarifvertragsparteien als Instrument der Verbandspolitik, RdA 1970, 165; Henssler, Flexibilisierung der Arbeitsmarktordnung – Überlegungen zur Weiterentwicklung der tariflichen Regelungsmacht, ZfA 1994, 487; Henssler/Sittard, Flexibler Mindestlohn durch Konkretisierung des Sittenwidrigkeitstatbestandes, RdA 2007, 159; Herschel, Der nachwirkende Tarifvertrag, insbesondere seine Änderung, ZfA 1976, 89; Herschel, Vom Wesen der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen, RdA 1983, 162; Hueck, Allgemeinverbindlichkeit von

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Teil 7

Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung

Tarifverträgen, DB 1949, 431; Jacobs, Entgeltfindung zwischen Markt und Staat – Bemerkungen zur aktuellen Diskussion um einen gesetzlichen Mindestlohn, in: Gedächtnisschrift für Walz, 2007, S. 289; Kempen, Tarifkonkurrenz und Spezialitätsprinzip, in: Festschrift Zusatzversorgungskasse, 2007, S. 77; Kirsch, Die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen – Ein Instrument in der Krise, WSI-Mitteilungen 2003, 405; Kissel, Individuelle Vertragsfreiheit und Arbeitslohn: Eine Zwischenbilanz, in: Festschrift für Otto, 2008, S. 225; Krebs, Nachwirkung eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrages – Wegfall der Tarifbindung infolge Verbandsaustritts, SAE 1993, 132; Kreiling, Tariflohn kraft staatlicher Anordnung?, NZA 2001, 1118; Leinemann, Tariflicher Beitragseinzug in der Bauwirtschaft, in: Festschrift Zusatzversorgungskasse, 2007, S. 89; Lembke, Mindestlohn und die Grenze der Verfassungswidrigkeit, BB 2007, Heft 45, S. I; Löwisch, Die neue Mindestlohngesetzgebung, RdA 2009, 215; Maier, Unterbietung des Mindestlohns durch Tarifverträge, NZA 2009, 351; G. Müller, Das Rangverhältnis zwischen allgemeinverbindlichen und dritten Tarifverträgen, DB 1989, 1970; Nieleblock, Probleme bei Tarifpluralität im Betrieb, in: Festschrift Zusatzversorgungskasse, 2007, S. 107; Ossenbühl, Richterliches Prüfungsrecht und Rechtsverordnungen, in: Festschrift Huber, 1981, S. 283; Picker, Tarifmacht und tarifvertragliche Arbeitsmarktpolitik – Höchstarbeitszeitregeln als Prüfstein für das Verständnis von Koalitionsfunktion und Tarifautonomie, ZfA 1998, 573; Reuter, Die Mitgliedschaft ohne Tarifbindung (OT-Mitgliedschaft) im Arbeitgeberverband, RdA 1996, 201; Reuter, Der Schutz des Außenseiters im Tarifrecht – funktionswidrig oder institutionell notwendig?, in: Festschrift für Birk, 2008, S. 717; Richardi, Von der Tarifautonomie zur tariflichen Ersatzgesetzgebung, in: Festschrift für Konzen, 2006, S. 791; Richardi, Arbeitsvertrag und Tarifgeltung, ZfA 2003, 655; Rieble, Tariftreue vor dem BVerfG, NZA 2007, 1; Sansone/Ulber, Neue Bewegung in der Mindestlohndebatte?, AuR 2008, 125; Schubert, Ist der Außenseiter vor der Normsetzung durch die Tarifvertragsparteien geschützt? – Ein Beitrag zum sachlichen Schutzbereich der negativen Koalitionsfreiheit, RdA 2001, 199; Sittard, Voraussetzungen und Wirkungen der Tarifnormerstreckung nach § 5 TVG und dem AEntG, 2010; Sittard, Staatliche Außenseiterbindung zum Konkurrenzschutz? Zur Rechtmäßigkeit der geplanten Tarifnormerstreckung in der Postbranche, NZA 2007, 1090; Sittard, Deutscher Mindestlohn: Zur Ausdehnung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes und zur Fluchtmöglichkeit für Arbeitgeber, ZIP 2007, 1444; Sittard, Neue Mindestlohngesetze in Deutschland, NZA 2009, 346; Sittard, Keine Nachwirkung von Mindestlohntarifverträgen, NZA 2012, 299; Sodan/Zimmermann, Die Beseitigung des Tarifvorrangs gegenüber staatlich festgelegten Mindestarbeitsentgelten auf dem Prüfstand der Koalitionsfreiheit – Zu den in Regierungsentwürfen vom Juli 2008 vorgesehenen Änderungen des Gesetzes über die Festsetzung von Mindesarbeitsbedingungen und des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes, ZfA 2008, 526; Thüsing, AEntG, MiArbG – Kommentar, 2010; Thüsing, Mindestlohn im Spannungsverhältnis staatlicher und privatautonomer Regelung – Zur notwendigen Tarifdispositivität eines gesetzlichen Mindestlohns, zur Dispositivität durch ausländische Tarifverträge und zur Auswahl des Tarifvertrags zur Branchenerstreckung bei konkurrierenden Regelungen nach einem neu gefassten AEntG, ZfA 2008, 590; Thüsing/v. Hoff, Leistungsbeziehungen und Differenzierungen nach der Gewerkschaftszugehörigkeit bei Gemeinsamen Einrichtungen, ZfA 2008, 77; Thüsing/v. Medem, Tarifeinheit und Koalitionspluralismus – Zur Zulässigkeit konkurrierender Tarifverträge im Betrieb, ZIP 2007, 510; Thüsing/Stelljes, Verbandsmitgliedschaft und Tarifgebundenheit – Mitgliedschaft OT und nicht tariffähige Parallelverbände als Ausfluss grundrechtlich geschützter Gestaltungsfreiheit, ZfA 2005, 527; Wank, Mindestlöhne – Begründung und Instrumente, in: Festschrift für Buchner, 2009, S. 898; Wiedemann, Zur Wirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärung von Vorruhestandstarifverträgen, RdA 1987, 262; Wiedemann, Der nicht organisierte Arbeitnehmer im kollektiven Arbeitsrecht, RdA 2007, 65; Willemsen/Sagan, Mindestlohn und Grundgesetz – Staatliche Lohnfestsetzung versus Tarifautonomie, NZA 2008, 1216; Witteler, Die Allgemeinverbindlichkeitserklärung – Kein geeignetes Mittel zur faktischen Einführung von Mindestlöhnen, BB 2007, 1620; Zachert, „Neue Kleider für die Allgemeinverbindlichkeitserklärung?“, NZA 2003, 132; Zöllner, Tarifmacht und Außenseiter, RdA 1962, 453.

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Sittard

Tarifgeltung aufgrund Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG

Rz. 3 Teil 7

A. Einführung Neben der Bindung an TVe kraft Mitgliedschaft nach §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG enthält das deutsche Tarifrecht insbesondere zwei Grundlagen der Tarifgeltung aufgrund staatlicher Anordnung: Bei der Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG (AVE) handelt es sich um ein klassisches Instrument des Tarifrechts, das bereits in der Tarifvertragsordnung von 1918 enthalten war. Dabei knüpft die AVE akzessorisch an einen bestehenden TV an und erweitert dessen Rechtswirkungen. Auf die immer stärkere Internationalisierung der Arbeitsbeziehungen, die sich spätestens ab Mitte der 1990er Jahre an einer höheren Zahl von nach Deutschland entsandten Arbeitnehmern zeigte, reagierte der Gesetzgeber im Jahr 1996 mit dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG), das nach hier vertretener Ansicht im Ergebnis nur eine stärkere Form der AVE darstellt. Bei beiden Instrumenten handelt es sich um eine staatliche Tarifnormerstreckung auf Arbeitsverhältnisse, die nach §§ 3, 4 TVG nicht an den „erstreckten“ TV gebunden sind1. Das BAG hingegen sieht zumindest bei der Geltungserweiterung von TVen durch eine Rechtsverordnung nach dem AEntG (§ 7 AEntG) größere dogmatische Unterschiede (vgl. unten Rz. 122 ff.).

1

B. Tarifgeltung aufgrund einer Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG I. Einführung und rechtstatsächliche Bedeutung Die AVE nach § 5 TVG führt die Tarifbindung nicht durch Mitgliedschaft der Arbeitsvertragsparteien im Verband (oder Abschluss eines „eigenen“ FirmenTVes), sondern durch einen staatlichen Akt der Tarifnormerstreckung herbei. Die Tarifbindung ist daher nicht privatautonom, sondern staatlich angeordnet2.

2

Streng genommen ist zwischen dem staatlichen Akt der Tarifnormerstreckung und der dadurch verursachten Tarifbindung zu unterscheiden. Hinsichtlich des „Erstreckungsaktes“ hat das BVerfG in seiner Grundsatzentscheidung zu § 5 TVG aus dem Jahr 19773 ausgeführt, die AVE von TVen stelle im Verhältnis zu den ohne sie nicht Tarifgebundenen einen Rechtsetzungsakt eigener Art zwischen autonomer Regelung und staatlicher Rechtsetzung dar. Die AVE sei weder Verwaltungsakt noch Rechtsverordnung. Sie sei ein an sich systemwidriger staatlicher Rechtsetzungsakt, der aber im Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen nach Art. 9 Abs. 3 GG möglich sei. In Art. 9 Abs. 3 GG liege wiederum die Grundlage der AVE. Diese These scheint allerdings vor dem Hintergrund des heute ganz herrschenden Verständnisses der Tarifautonomie als kollektiv ausgeübter Privatautonomie4 kaum noch zu halten. Wenn Art. 9 Abs. 3

3

1 2 3 4

Zum Begriff der Tarifnormerstreckung vgl. Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 1 ff. Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 6 Rz. 70. BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, NJW 1977, 2255. Vgl. grundlegend Zöllner, RdA 1962, 453 (456 ff.); Dieterich, FS Schaub, S. 117 (121); Picker, ZfA 1998, 573 (675 ff.).

Sittard

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Teil 7 Rz. 4

Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung

GG eine privatautonome Entscheidung für eine Tarifbindung voraussetzt, dann kann die AVE, die gerade ohne eine solche privatautonome Entscheidung auskommt, nicht auf die Koalitionsfreiheit gestützt werden. Vielmehr stellt jeder Akt der staatlichen Tarifnormerstreckung einen Eingriff in die Koalitionsfreiheit dar1. 4

Aus rechtstatsächlicher Sicht ist festzustellen, dass Ende 2011 von insgesamt ca. 67 000 TVen nur 495 allgemeinverbindlich waren (239 Ursprungs- und 256 Änderungs- bzw. ErgänzungsTVe)2. Die Anzahl der neu für allgemeinverbindlich erklärten Tarife lag im Jahr 2011 bei 15, wobei die durch Rechtsverordnung nach dem AEntG erstreckten TVe ebenfalls erfasst sind. 1995 betrug die Gesamtzahl dagegen noch 6273. Schätzungen gehen davon aus, dass rund eine Million Arbeitnehmer in Deutschland allein aufgrund der Allgemeinverbindlichkeit (also nicht schon durch kongruente Tarifbindung oder durch individualrechtliche Bezugnahme) unter Rechtsnormen eines TVes fallen4. Die Gesamtzahl der Beschäftigten, für die allgemeinverbindliche TVe gelten, betrug im Jahr 1995 für das Tarifgebiet West schätzungsweise 5,5 Millionen5, wird heute allerdings aufgrund der geringeren Anzahl von AVE darunter liegen. Im Anwendungsbereich des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes arbeiteten nach Schätzungen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales nach der Ausweitung der erfassten Branchen im Jahr 2009 ca. 3 Millionen Menschen.

II. Zweck der Allgemeinverbindlicherklärung 1. Arbeitnehmerschutz 5

Zentraler Normzweck von § 5 TVG ist der Schutz der nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer6. Auch das BVerfG hat den Schutz der Arbeitsbedingungen der Außenseiter zumindest als Teilzweck der AVE bezeichnet7. § 5 TVG komme die Aufgabe zu, in bestimmten Wirtschaftsbereichen Mindestarbeitsbedingungen zu garantieren8. Unzutreffend ist es, den Schutzzweck der Norm allein auf die gewerkschaftsangehörigen, aber wegen der fehlenden Tarifgebundenheit des Arbeitgebers nicht vom TV normativ erfassten Arbeitnehmer zu reduzieren9. Denn ein Schutzbedürfnis besteht nicht nur für Gewerkschaftsmitglieder. 1 Vgl. ausführlich Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 30 ff. 2 BMAS, Verzeichnis der für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge (Stand: 1.1.2012), S. 3. 3 BMAS, Verzeichnis der für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge, S. 6. 4 Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 13 m.w.N.; Bispinck/Schulten, WSI-Mitteilungen 2008, 151 (152) gehen von 570 000 Arbeitnehmern aus, lassen aber die vom AEntG erfassten allgemeinverbindlichen Tarifverträge außen vor. 5 Vgl. die Nachweise bei Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 2 ff. 6 BAG v. 28.3.1990 – 4 AZR 536/89, NZA 1990, 781 (782 f.); BVerwG v. 3.11.1988 – 7 C 115/86, NZA 1989, 364 (367); Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 9; ErfK/Franzen, § 5 TVG Rz. 1; HWK/Henssler, § 5 TVG Rz. 1; Giesen, ZfA 2008, 355 (368); Wiedemann, RdA 1987, 262 (265); Witteler, BB 2007, 1620 (1621). 7 BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, NJW 1977, 2255 (2256). 8 Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 9. 9 So aber Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 19, S. 886.

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Tarifgeltung aufgrund Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG

Rz. 8 Teil 7

Vielmehr kann der Staat, wenn er Mindestarbeitsbedingungen schaffen will, diese nicht von der Gewerkschaftsmitgliedschaft abhängig machen. Allein dieses Verständnis von Sinn und Zweck steht auch mit den Rechtsfolgen von § 5 Abs. 4 TVG in Einklang, bei denen nicht zwischen gewerkschaftsangehörigen und nichtgewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmern differenziert wird. Es ist daher davon auszugehen, dass § 5 TVG insgesamt den Schutz der Außenseiter-Arbeitnehmer bezweckt, womit die Arbeitnehmer gemeint sind, für die – gleichgültig aus welchem Grund – kein TV zwingend und unmittelbar anwendbar ist.

2. Wettbewerbsregulierung Insbesondere in der Rechtsprechung des BVerwG1 wird als weiterer Schutzzweck eine Regulierung des Wettbewerbs genannt. Zum einen soll es dabei um den Schutz der Arbeitnehmer vor „billiger Konkurrenz“ durch nicht tarifgebundene Arbeitnehmer gehen, zum anderen um den Schutz der tarifgebundenen Arbeitgeber vor sog. „Schmutzkonkurrenz“ durch Außenseiter-Arbeitgeber. § 5 TVG schütze die (tarifgebundenen) Arbeitgeber davor, durch tarifungebundene Mitbewerber vom Markt verdrängt zu werden2. § 5 TVG habe die Funktion, solche „Schmutzkonkurrenz“ durch Außenseiter-Arbeitgeber zu unterbinden.

6

Der Schutz anderer Arbeitnehmer vor solchen Arbeitnehmern, die zu untertariflichen Arbeitsbedingungen arbeiten, kann als Schutzzweck indes vernachlässigt werden. Da Arbeitgeber – zumindest bislang – in der Praxis die Arbeitsbedingungen nicht von der Gewerkschaftszugehörigkeit abhängig machen (können), sondern einheitliche Arbeitsbedingungen gewähren, kommt es unter den Arbeitnehmern faktisch nicht zu einer Konkurrenz, die über die Arbeitsbedingungen geklärt wird.

7

Unbestreitbar ist indes die Konkurrenz unter Arbeitgebern, die selbstverständlich auch über die Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter ausgetragen wird. Die AVE verfolgt insoweit aber richtigerweise nicht den Zweck, Außenseiterkonkurrenz zu verhindern. Ein solches Verständnis wäre systemfremd, denn das deutsche Tarifvertragssystem basiert geradezu auf der in den §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG niedergelegten Differenzierung zwischen Tarifgebundenen und Tarifungebundenen. Außenseiter, gleich ob Arbeitgeber oder Arbeitnehmer, müssen sich nicht an TVe halten, dürfen auch untertarifliche Bedingungen gewähren bzw. zu diesen arbeiten3. Es handelt sich dabei nicht um Lohndumping oder „Schmutzkonkurrenz“, sondern um vom Tarifrecht grundsätzlich gestattetes Verhalten am Markt. Das TVG verhindert im Grundsatz den Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt nicht, soweit es um die Außenseiter geht. Insoweit be-

8

1 BVerwG v. 3.11.1988 – 7 C 115/86, NZA 1989, 364 (367); OVG Berlin v. 15.3.1957 – OVG II B 52.56, AP Nr. 3 zu § 5 TVG. 2 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 19, S. 885; Kirsch, WSI-Mitteilungen 2003, 405 (406). 3 S. nur BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887 (893); Kissel, FS Otto, S. 225 (235); Richardi, ZfA 2003, 655 (656).

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Teil 7 Rz. 9

Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung

steht keine Kartellwirkung1. Die Grenzen für den Wettbewerb ergeben sich – neben dem nun novellierten MiArbG bzw. der Lohnuntergrenze im AÜG – insbesondere aus § 138 Abs. 1 und Abs. 2 BGB durch das Verbot sittenwidriger Verträge bzw. des Lohnwuchers2. Verstärkt wird diese Argumentation, wenn man zutreffender Weise von der Tarifautonomie als kollektiv ausgeübter Privatautonomie ausgeht3. Tarifvertragliche Arbeitsbedingungen sind auf dieser Grundlage unzweifelhaft auf die freiwilligen Mitglieder der Koalitionen begrenzt. Außenseiterkonkurrenz ist daher nicht systemfremd, sondern offensichtlich im TVG angelegt und gewollt. In diese Richtung tendiert auch die Rechtsprechung des BAG4 und des BGH5, wonach eine AVE grundsätzlich nicht mit Konkurrenzerwägungen im Verhältnis der Arbeitgeber zueinander begründet werden kann6.

3. Stärkung der Koalitionen 9

Jedenfalls in der Rechtsprechung des BVerfG wird deutlich, dass § 5 TVG auch dazu dient „die Effektivität der tarifvertraglichen Normsetzung gegen die Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklungen“ zu sichern. Die antragsabhängige AVE sei „ein Instrument, das die von Art. 9 Abs. 3 GG intendierte autonome Ordnung des Arbeitslebens durch die Koalitionen abstützen“ solle, indem sie „den Normen der TVe zu größerer Durchsetzungskraft“ verhelfe7. Diesen Ausführungen lässt sich entnehmen, dass es dem BVerfG um den Schutz der Koalitionen selbst geht. Auch das BVerwG will § 5 TVG „im Lichte von Art. 9 Abs. 3 GG dahingehend auslegen, dass die Begünstigung [der TV-Parteien] beabsichtigt ist.“8

10

Diese Auffassung ist kritisch zu hinterfragen: Zwar ist es zweifellos richtig, dass durch die AVE eine effektivere Verwirklichung des Inhalts von TVen erreicht wird9. Wenn gemäß § 5 Abs. 4 TVG die Rechtsnormen eines TVes auch für die bisher nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer gelten, dann wird der Einfluss eines TVes in seinem Tarifgebiet gestärkt. Es ist auch kaum bestreitbar, dass es sich dabei um einen Zweck und nicht nur um eine faktische Folge von § 5 TVG handelt10. Weniger klar ist allerdings, ob § 5 TVG auch die am erstreckten TV als TV-Parteien beteiligten Koalitionen stärken will. Dagegen spricht, dass eine „Staatshilfe“ für die Tarifparteien aufgrund ihrer Unabhän1 2 3 4 5 6

7 8 9 10

MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 179 Rz. 4 f. ErfK/Preis, § 612 BGB Rz. 3; Henssler/Sittard, RdA 2007, 159. Dazu ErfK/Franzen, § 1 TVG Rz. 6. BAG v. 24.1.1979 – 4 AZR 377/77, AP Nr. 16 zu § 5 TVG; BAG v. 12.10.1988 – 4 AZR 244/88, ZTR 1989, 108. BGH v. 3.12.1992 – I ZR 276/90, NJW 1993, 1010. BAG v. 24.1.1979 – 4 AZR 377/77, AP Nr. 16 zu § 5 TVG; in diese Richtung, wettbewerbsrechtliche Gesichtspunkte aber noch nicht gänzlich ausschließend, BAG v. 4.5.1977 – 4 AZR 10/76, AP Nr. 30 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau. BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, NJW 1977, 2255 (2256); BVerfG v. 4.7.1995 – 1 BvF 2/86 u.a., NJW 1996, 185 (187). BVerwG v. 3.11.1988 – 7 C 115/86, NZA 1989, 364 (367). Vgl. nur Hueck/Nipperdey/Nipperdey, § 34, S. 654 f. ErfK/Franzen, § 5 TVG Rz. 2.

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Tarifgeltung aufgrund Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG

Rz. 12 Teil 7

gigkeit vom Staat abzulehnen ist1. Der Staat darf den Tarifparteien keine Erfolge verschaffen, die sie aus eigener Kraft nicht erreichen können. Als Mittel gegen die Untergrabung der Koalitionen steht den Gewerkschaften der Arbeitskampf zur Verfügung. Dies wird durch die Rechtsprechung des BVerfG bestätigt, wonach der Gesetzgeber nicht verpflichtet ist, Disparitäten auszugleichen, die nicht strukturell bedingt sind2, sondern nur auf inneren Schwächen einer Koalition beruhen. Der Organisationsgrad einer Koalition liege außerhalb der Verantwortung des Gesetzgebers3. Die fehlende Durchsetzungskraft von TVen, die das BVerfG im Urteil zu § 5 TVG als Grund für die AVE nennt, basiert aber allein auf inneren Schwächen einer Koalition. Eine starke Gewerkschaft kann auch tarifungebundene Arbeitgeber durch Arbeitskampfmaßnahmen zur Anwendung von TVen zwingen. Kann sie dies – zumeist wegen zu geringer Mitgliederstärke in den Betrieben des Arbeitgebers – nicht, handelt es sich gerade um eine solche vom BVerfG angesprochene „innere Schwäche“. Richtigerweise handelt es sich also bei der faktischen Stärkung der beteiligten TV-Parteien nicht um ein Ziel von § 5 TVG (mit dem Ergebnis, dass eine AVE nicht damit begründet werden kann), sondern nur um eine faktische Folge.

4. Finanzierung von gemeinsamen Einrichtungen Da die AVE die Basis der Beitragszahler von gemeinsamen Einrichtungen nach § 4 Abs. 2 TVG erhöht, ist heute als wesentlicher Zweck von § 5 TVG die sog. Finanzierungsfunktion anerkannt4.

11

Gemeinsame Einrichtungen nach § 4 Abs. 2 TVG funktionieren regelmäßig nur, wenn die gesamte Branche ohne Rücksicht auf die Tarifgebundenheit an die Regelungen gebunden ist5. Die nicht organisierten Arbeitgeber werden verpflichtet, ebenso wie die tarifgebundenen Arbeitgeber Beiträge an die gemeinsame Einrichtung zu zahlen. In der Praxis haben dies die TV-Parteien erkannt und verpflichten sich häufig schon im TV, die AVE zu beantragen. Teilweise wird die Allgemeinverbindlichkeit des TVes für so elementar gehalten, dass das Inkrafttreten des TVes von der aufschiebenden Bedingung der AVE abhängig gemacht wird6.

12

1 Löwisch/Rieble, § 5 TVG Rz. 13; MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 179 Rz. 5; Jacobs, GS Walz, S. 289 (295); Rieble, NZA 2007, 1 (2); auch Schubert, RdA 2001, 199 (207) betont die Staatsunabhängigkeit der Tarifparteien. 2 BVerfG v. 4.7.1995 – 1 BvF 2/86 u.a., BVerfGE 92, 365 = NZA 1995, 754. 3 BVerfG v. 4.7.1995 – 1 BvF 2/86 u.a., NJW 1996, 185 (186); ähnlich schon BVerfG v. 15.7.1980 – 1 BvR 24/74 u.a., NJW 1981, 215 (216); BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, NZA 2007, 987 (994). 4 Vgl. nur ErfK/Franzen, § 5 TVG Rz. 1; HWK/Henssler, § 5 TVG Rz. 2; Löwisch/Rieble, § 5 TVG Rz. 8 ff.; Wiedemann/Wank, § 5 TVG Rz. 3; Hanau, RdA 1970, 165 ff.; Henssler, ZfA 1994, 487 (513 f.); Koch, Zusatzversorgungskasse, 1994, Rz. 26; Zachert, NZA 2003, 132 (136). 5 Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 11; Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 228; Löwisch/Rieble, § 5 TVG Rz. 9 f.; Bötticher, Gemeinsame Einrichtungen, S. 66; Kempen, FS Zusatzversorgungskasse, S. 77 (82). 6 Löwisch/Rieble, § 5 TVG Rz. 9 f.; s. auch Bötticher, Gemeinsame Einrichtungen, S. 68.

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Teil 7 Rz. 13 13

Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung

Das beste Beispiel stellen dabei die Urlaubskassen in der Bauwirtschaft dar. Da die Baubranche durch eine große Mobilität der Arbeitnehmer geprägt ist, erfüllen die Arbeitnehmer bei einem Arbeitgeber häufig nicht die Wartezeit für den Anspruch auf zusammenhängenden Urlaub nach § 4 BUrlG. Die Urlaubskasse lässt die Zugehörigkeit zur Branche ausreichen und ermöglicht auf diese Weise den Arbeitnehmern, bei ihrem Anspruch auf zusammenhängenden Urlaub auf Beschäftigungszeiten bei anderen Arbeitgebern Bezug nehmen zu können. Gleichzeitig erstattet die Urlaubskasse die tarifvertragsgemäß an Arbeitnehmer gezahlte Urlaubsvergütung, auch wenn deren Ansprüche bei anderen Arbeitgebern erworben wurden. Hier zeigt sich, dass gemeinsame Einrichtungen sowohl bei wirtschaftlicher als auch bei sozialpolitischer Betrachtungsweise häufig auf die Allgemeinverbindlichkeit angewiesen sind1. Denn ein entscheidender Zweck der gemeinsamen Einrichtungen liegt in ihrer Ausgleichsfunktion. Ziel ist es, einen Ausgleich der Belastungen zwischen den Arbeitgebern im Geltungsbereich des TVes herzustellen2. Erst die Allgemeinverbindlichkeit ermöglicht durch ihre Erstreckungswirkung auf die gesamte Branche die Erbringung der Leistungen an die Arbeitnehmer. Zudem bezweckt die gleichmäßige Belastung der Arbeitgeber und die Angleichung der Ansprüche auf Arbeitnehmerseite in einzelnen Branchen (insbesondere im Baubereich) die Stabilisierung der Branche (sog. Stabilisierungsfunktion)3.

5. Ergebnis 14

Ein grundlegendes Problem bei der Bestimmung des Zwecks von § 5 TVG liegt in der fehlenden Differenzierung zwischen tatsächlich verfolgtem Zweck der Vorschrift und den bloßen Nebenfolgen, die nur Rechtsreflex der Allgemeinverbindlichkeit sind. Zusammenfassend muss der Schutz der Arbeitnehmer als zentrales Ziel der AVE genannt werden. Dabei geht es neben dem Schutz der organisierten, aber mangels Tarifgebundenheit des Arbeitgebers nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer ganz besonders um den Schutz der Arbeitnehmer, die keiner Gewerkschaft angehören.

III. Rechtsnatur der Allgemeinverbindlicherklärung 15

Bei der Einordnung der Rechtsnatur der AVE handelt es sich – entgegen dem ersten Anschein – nicht um eine rein akademische Frage. Vielmehr hat die dogmatische Einordnung gravierende Auswirkungen auf den Rechtsschutz der durch die AVE Betroffenen.

16

Das BVerfG hat in seiner Grundsatzentscheidung aus dem Jahr 19774 die Detailfragen offen gelassen und festgestellt, die AVE von TVen sei im Verhältnis 1 Bötticher, Gemeinsame Einrichtungen, S. 67; Thüsing/v. Hoff, ZfA 2008, 77 (100 f.); zu den Schwierigkeiten bei fehlender Allgemeinverbindlichkeit vgl. ebenfalls Thüsing/ v. Hoff, ZfA 2008, 77 (80 ff.). 2 Jacobs, Tarifeinheit, S. 294; Leinemann, FS Zusatzversorgungskasse, S. 89 (90 f.). 3 Jacobs, Tarifeinheit, S. 294 f. 4 BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, AP Nr. 15 zu § 5 TVG.

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Tarifgeltung aufgrund Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG

Rz. 18 Teil 7

zu den ohne sie nicht tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ein Rechtsetzungsakt eigener Art zwischen autonomer Regelung und staatlicher Rechtsetzung. Eine früher häufig vertretene Ansicht sah in der AVE einen Verwaltungsakt in Form einer Allgemeinverfügung (vgl. § 35 Satz 2 VwVfG)1. Die Gegenansicht wollte die AVE als Rechtsverordnung qualifizieren2. Eine dritte Ansicht schrieb der AVE eine Doppelnatur zu, wonach diese im Verhältnis zu den TVParteien ein Verwaltungsakt, im Verhältnis zu den nicht Tarifgebundenen ein Rechtsetzungsakt eigener Art auf Grundlage von Art. 9 Abs. 3 GG sei3. Dieser Ansicht hat sich auch das BAG – ausdrücklich allerdings nur bezüglich der Rechtsnatur gegenüber den nicht Tarifgebundenen – angeschlossen4. Eine weitere Auffassung will in der AVE gegenüber allen Betroffenen einen einheitlichen Akt der Rechtsetzung sehen5. Umstritten innerhalb dieser Ansicht ist allerdings, ob von dem einheitlichen Rechtsakt der AVE die negative Entscheidung über den Antrag der TV-Partei(en) abzugrenzen ist6.

17

Überzeugend erscheint es, die Entscheidung des jeweiligen Ministers nach § 5 TVG als Schlusspunkt eines einheitlichen staatlichen Rechtsetzungsverfahrens sui generis anzusehen7. Dass das BVerfG die AVE ausdrücklich nur im Verhältnis zu den nicht Tarifgebundenen als Rechtsetzungsakt sui generis charakterisiert hat, steht einer einheitlichen Einordnung des Aktes nicht entgegen. Ein besonderer Akt der Annahme oder Ablehnung des Antrags der Tarifparteien auf AVE existiert nicht. Es geht bei der AVE nicht um die Regelung von Normsetzungsrechten der TV-Parteien. Zwar sind sie an diesem Verfahren beteiligt, dies hat aber nicht zur Konsequenz, dass der Rechtsetzungsakt ihnen gegenüber eine andere Bedeutung hat als gegenüber den betroffenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Dieselbe staatliche Maßnahme kann niemals gegenüber bestimmten Personen ein Verwaltungsakt, gegenüber anderen aber eine Rechtsnorm sein8.

18

Zu den Folgen für den Rechtsschutz vgl. Rz. 94 ff.

1 OVG Berlin v. 15.3.1957 – OVG II B 52.56, AP Nr. 3 zu § 5 TVG; Herschel, RdA 1983, 162 ff.; Hueck, DB 1949, 431 (432). 2 BVerwG v. 6.6.1958 – VII CB 187.57, AP Nr. 6 zu § 5 TVG; BVerwG v. 1.8.1958 – VII A 35.57, AP Nr. 7 zu § 5 TVG; OVG Münster v. 7.9.1973 – XIV A 778/72, NJW 1974, 253. 3 Schaub/Schaub, ArbRHdb., § 207 Rz. 18 f.; ähnlich Kempen, FS Zusatzversorgungskasse, S. 77 (83 f.). 4 BAG v. 10.10.1973 – 4 AZR 68/73, AP Nr. 13 zu § 5 TVG; BAG v. 19.3.1975 – 4 AZR 270/74, AP Nr. 14 zu § 5 TVG; BAG v. 28.3.1990 – 4 AZR 536/89, NZA 1990, 781. 5 VGH Baden-Württemberg v. 15.7.1986 – 10 S 2310/84, VBl. BW 1987, 181; Löwisch/ Rieble, § 5 TVG Rz. 115; Kopp/Schenke/Schenke, Anh. § 42 VwGO Rz. 63. 6 Dafür Kempen/Zachert/Kempen, § 5 TVG Rz. 51; dagegen Wiedemann/Wank, § 5 TVG Rz. 49. 7 Löwisch/Rieble, § 5 TVG Rz. 115. 8 Kopp/Schenke/Schenke, Anh. § 42 VwGO Rz. 8; a.A. allerdings das BVerwG v. 3.5.1956 – I C 89.55, BVerwGE 3, 258 (264); BVerwG v. 14.5.1964 – VII C 158.60, BVerwGE 16, 83 (84 f.).

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Teil 7 Rz. 19

Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung

IV. Voraussetzungen der Allgemeinverbindlicherklärung 1. Zuständigkeit 19

Zuständig für den Erlass einer AVE ist nach § 5 Abs. 1 TVG grundsätzlich das Bundesarbeitsministerium (derzeit Bundesministerium für Arbeit und Soziales). Gemäß § 5 Abs. 6 TVG kann das Bundesministerium das Recht zur AVE auf eine oberste Landesbehörde eines Landes, also ein Landesministerium, übertragen. Nach § 12 der TVGDV setzt dies voraus, dass der TV einen „regional begrenzten Geltungsbereich“ aufweist. Nach teilweise vertretener Ansicht soll diese Voraussetzung schon erfüllt sein, wenn der Geltungsbereich nicht wesentlich über ein Bundesland hinausgeht, was in der Regel der Fall sei, wenn nur zwei Bundesländer betroffen sind1. Dieser Auffassung muss widersprochen werden: Richtigerweise kann eine Übertragung auf eine Landesbehörde nur erfolgen, wenn der TV nur für das jeweilige Bundesland gilt. Alles andere widerspricht dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG), weil das jeweilige Landesministerium nur hinsichtlich des jeweiligen Landes demokratisch legitimiert ist. Diese Legitimation kann auch nicht über eine Delegation einer Bundesbehörde erreicht werden. Im Übrigen wird es der Landesbehörde auch an den notwendigen Statistiken (z.B. für das Quorum nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG) und den Branchenkenntnissen bezüglich des anderen Bundeslandes fehlen. Der Wortlaut von § 12 TVGDV ist also einschränkend auszulegen.

2. Formelle Voraussetzungen der Allgemeinverbindlicherklärung a) Antrag 20

Erste formelle Voraussetzung einer AVE ist ein Antrag einer am TV-Abschluss beteiligten TV-Partei. Eine AVE ohne Antrag lässt § 5 TVG nicht zu.

21

Als Antragsteller kommen in erster Linie Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in Betracht. Bei einer – faktisch nicht vorkommenden – AVE eines FirmenTVes kann indes auch ein einzelner Arbeitgeber Antragsteller sein. Eine TVPartei kann jeweils nur einen Antrag für die Erstreckung eines TVes stellen, an dem sie selbst als Partei beteiligt ist. Bei mehrgliedrigen TVen kommt es zunächst darauf an, ob es sich tatsächlich um einen gemeinsamen TV vieler TVParteien (echter mehrgliederiger TV) oder um verschiedene TVe handelt. In der letztgenannten Situation ist unzweifelhaft nur der Antrag einer beteiligten Partei erforderlich, wobei dann selbstverständlich nur der jeweilige TV dieser Partei von der AVE erfasst wird. Im Ergebnis spricht aber viel dafür, dass es auch beim echten mehrgliedrigen TV nicht erforderlich ist, dass alle auf einer Vertragspartnerseite zusammengeschlossenen Verbände einen gemeinsamen Antrag stellen. Vielmehr dürfte es ausreichen, wenn bspw. ein Mitglied einer (echten) Tarifgemeinschaft einen Antrag stellt, um das Verfahren nach § 5 TVG einzuleiten. Zwar kann sich diese Auffassung nicht unmittelbar auf den Wortlaut von § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG stützen, es ist aber zu berücksichtigen, dass das Antragserfordernis von der Bedeutung her nicht überstrapaziert werden darf. Legt man die Vo1 Wiedemann/Wank, § 5 TVG Rz. 82.

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Tarifgeltung aufgrund Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG

Rz. 27 Teil 7

raussetzung zu eng aus, verhindert man letztlich eine Prüfung der materiellen Voraussetzungen des § 5 TVG durch das zuständige Ministerium. Regelungen zur Antragstellung im schuldrechtlichen Teil eines TVes sind für das Verfahren nach § 5 TVG bedeutungslos. Weder die Verpflichtung zur (gemeinsamen) Antragstellung noch die Einigung der TV-Parteien darauf, keinen Antrag zu stellen, verhindert die Einleitung des Tarifnormerstreckungsverfahrens.

22

Der Antrag ist nach § 4 Abs. 1 TVGDV vom Bundesarbeitsministerium im Bundesanzeiger bekannt zu machen. Davon darf das Ministerium aber absehen und den Antrag sofort abweisen, wenn die Erstreckungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 TVG offensichtlich nicht erfüllt sind. Arbeitgeber sollten in der Praxis derartige Bekanntmachungen für ihre Branche/Region aufmerksam verfolgen, weil eine AVE u.U. auch rückwirkend erklärt werden kann (vgl. dazu Rz. 62).

23

Der Antrag nach § 5 TVG kann vom Antragsteller bis zum Erlass der AVE jederzeit zurückgenommen werden. Da das Gesetz einen Antrag zwingend voraussetzt, entzieht die Rücknahme dem (laufenden) Verfahren die Grundlage und es ist zu beenden1.

24

b) Beteiligungsverfahren In einem zweiten Schritt muss das zuständige Ministerium das Beteiligungsverfahren (Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme für betroffene Koalitionen etc.) nach § 5 Abs. 2 AEntG durchführen. Nach der Rechtsprechung des BVerwG zur Rechtsverordnung des AEntG führen Fehler im Beteiligungsverfahren zur Rechtswidrigkeit des staatlichen Tarifnormerstreckungsaktes (hier der AVE)2. Dabei ist insbesondere darauf zu achten, dass die Stellungnahmemöglichkeit (sowie die Veröffentlichung des Antrags im Bundesanzeiger nach § 4 Abs. 1 TVGDV) erneut zu gewähren ist, wenn der erstreckte TV im Laufe des Verfahrens geändert wird3.

25

c) Einvernehmen des Tarifausschusses Zudem ist für eine Tarifnormerstreckung nach § 5 TVG das Einvernehmen des sog. Tarifausschusses (§ 5 Abs. 1 Satz 1 TVG) erforderlich. Dem Tarifausschuss gehören je drei Mitglieder der Spitzenverbände der Arbeitgeber und Arbeitnehmer an. Einzelheiten zum Tarifausschluss regelt die Durchführungsverordnung zum TVG (TVGDV). Nach § 1 TVGDV werden die Mitglieder auf Vorschlag der Verbände für die Dauer von vier Jahren bestellt.

26

Die Zustimmung des Tarifausschusses gilt nur dann als erteilt, wenn die Mehrheit seiner Mitglieder einer AVE eines TVes zugestimmt hat. Dem Vertreter des Bundesarbeitsministeriums, der die Sitzungen leitet, steht kein Stimmrecht zu. Daraus folgt, dass sich die beiden „Lager“ gegenseitig blockie-

27

1 Ebenso Wiedemann/Wank, § 5 TVG Rz. 81. 2 BVerwG v. 28.1.2010 – 8 C 19/09, NZA 2010, 718 (724 f.). 3 BVerwG v. 28.1.2010 – 8 C 19/09, NZA 2010, 718 (724 f.).

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Teil 7 Rz. 28

Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung

ren können. Dieser Umstand war Ursache einer Änderung des AEntG im Jahr 1998: Bis zum sog. Korrekturgesetz der rot-grünen Regierung vom 19. Dezember 19981 war auch für die Erstreckung von TVen über das AEntG eine AVE erforderlich. Da aber die Zustimmung des Tarifausschusses als „Hemmschuh“ des Gesetzes2 empfunden wurde, wurde in das AEntG eine Rechtsverordnungsermächtigung aufgenommen, die nicht an die Zustimmung des Tarifausschusses gekoppelt ist. 28

Ohne Zustimmung des Tarifausschusses kann eine AVE nach § 5 TVG also nicht erfolgen. Das zuständige Ministerium ist in diesem Fall gezwungen, den Antrag der TV-Partei abzulehnen.

d) Entscheidung des Ministeriums und Erlass der Allgemeinverbindlicherklärung aa) Staatlicher Erstreckungsakt 29

Im Fall einer Zustimmung des Tarifausschusses ist das jeweilige Ministerium aber nicht gezwungen, die AVE zu erlassen. Vielmehr ist das Ministerium zu weiteren Prüfungen berechtigt und verpflichtet. Insbesondere muss es das Vorliegen der materiellen Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 (50 %-Quorum und öffentliches Interesse) prüfen. Darüber hinaus steht dem Ministerium ein erheblicher Ermessensspielraum bezüglich des „Ob“ einer AVE zu3. Zu den materiellen Voraussetzungen s. unten Rz. 35 ff.

30

Wird das Ermessen dahingehend ausgeübt, dass die Tarifnormerstreckung erfolgen soll, so erlässt das zuständige Ministerium die AVE als staatlichen Akt.

bb) Bekanntmachung 31

Nach § 11 TVGDV bedarf die AVE der Bekanntmachung im Bundesanzeiger. Erst dadurch wird der öffentlich-rechtliche Akt der AVE wirksam.

32

Von der Bekanntmachung nach § 11 TVGDV wird allerdings nur der Akt der AVE, nicht hingegen der allgemeinverbindliche TV erfasst. Kenntnis kann über § 8 TVG (Bekanntmachung durch Arbeitgeber im Betrieb) bzw. § 9 TVGDV (Recht zum Verlangen einer Abschrift von den TV-Parteien gegen Erstattung des Selbstkostenpreises) erlangt werden.

33

Diese restriktive Veröffentlichungspraxis begegnet allerdings durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Schon 1977 hat das BVerfG Kritik an der Veröffentlichungspraxis geübt und ausgeführt, dass die Bestimmungen des TVG zur Bekanntmachung der Allgemeinverbindlichkeit unbefriedigend seien, aber einer verfassungsrechtlichen Nachprüfung unter dem Aspekt des Rechtsstaatsprinzips noch standhielten4. Aufgrund der durch das Internet erheblich 1 2 3 4

BGBl. I 1998, S. 3843. So Kreiling, NZA 2001, 1118 (1118); s. auch Thüsing, Europ. Arbeitsrecht, 2008, S. 266. Vgl. ausführlich zum Ermessen Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 162 ff. BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (350); ebenso noch BVerfG v. 10.9.1991 (Kammer) – 1 BvR 561/89, NZA 1992, 125.

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Tarifgeltung aufgrund Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG

Rz. 35 Teil 7

vereinfachten Publizierungsmöglichkeiten erscheint die fehlende Veröffentlichung des erstreckten TVes heute als verfassungswidrig1. Hier ist dringend eine Gesetzesreform erforderlich, da aufgrund der geäußerten verfassungsrechtlichen Zweifel über jeder AVE das „Damoklesschwert“ der Verfassungswidrigkeit schwebt.

e) Möglichkeit einer Teil-Allgemeinverbindlicherklärung Streitig ist, ob das zuständige Ministerium berechtigt ist, einen TV auch nur teilweise für allgemeinverbindlich zu erklären2. Das BAG geht davon aus, dass im Rahmen einer sog. Einschränkungsklausel eine teilweise AVE möglich ist3, wobei die Einschränkung an Art. 3 Abs. 1 GG zu messen sei und zudem hinreichend bestimmt sein müsse4. Die Gegenauffassung hält eine teilweise AVE nicht für möglich5. Der TV sei als einheitliches Ganzes zu sehen. Die Richtigkeitsgewähr des TVes6 würde entfallen, wenn durch die Herausnahme einzelner Normen das Ergebnis des sorgfältig ausgehandelten Interessenausgleichs verändert würde7. Die überzeugenderen Argumente allerdings sprechen für die Möglichkeit einer teilweisen Tarifnormerstreckung: Aus Sicht des durch die Allgemeinverbindlichkeit belasteten Grundrechtsträgers kann eine teilweise Allgemeinverbindlichkeit ein milderes Mittel sein. Zudem ist zu bedenken, dass ein öffentliches Interesse im Sinne von § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 TVG nicht für den ganzen TV, insbesondere nicht für den gesamten Geltungsbereich, bestehen muss. Insbesondere die Einschränkung des Geltungsbereichs, z.B. um Überschneidungen mit anderen TVen zu verhindern, muss daher zulässig sein8.

34

3. Materielle Voraussetzungen der Allgemeinverbindlicherklärung Hinsichtlich der materiellen Voraussetzungen einer AVE unterscheidet das Gesetz zwischen dem Ausnahmefall eines „sozialen Notstandes“ (§ 5 Abs. 1 Satz 2 TVG), was zur Folge hat, dass keine weiteren Voraussetzungen für eine 1 Vgl. ausführlich Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 310 f. 2 Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 171; Kempen/Zachert/Kempen, § 5 TVG Rz. 24; Löwisch/Rieble, § 5 TVG Rz. 65. 3 BAG v. 26.10.1983 – 4 AZR 219/81, AP Nr. 3 zu § 3 TVG; BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, NZA 1991, 736; BAG v. 25.7.2001 – 10 AZR 599/00, NZA 2002, 1406 (1407); BAG v. 20.6.2007 – 10 AZR 302/06, NZA-RR 2008, 24 (27 f.). 4 BAG v. 26.10.1983 – 4 AZR 219/81, AP Nr. 3 zu § 3 TVG; BAG v. 20.6.2007 – 10 AZR 302/06, NZA-RR 2008, 24 (27 f.); BAG v. 20.6.2007 – 10 AZR 312/06, AP Nr. 34 zu § 5 TVG. 5 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 1271; HWK/Henssler, § 5 TVG Rz. 8; Wiedemann/ Wank, § 5 TVG Rz. 59. 6 BAG v. 31.3.1966 – 5 AZR 516/65, AP Nr. 54 zu § 611 BGB Gratifikation; BAG v. 6.9.1995 – 5 AZR 174/94, NZA 1996, 437 (439); BAG v. 24.3.2004 – 5 AZR 303/03, NZA 2004, 971 (973); Löwisch/Rieble, Grundl. TVG Rz. 194; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 246 m.w.N.; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 7, S. 284 ff.; krit. aber Isensee/Kirchhof/Isensee, HbStR, Bd. IV, § 71 Rz. 122. 7 Wiedemann/Wank, § 5 TVG Rz. 59. 8 BAG v. 26.10.1983 – 4 AZR 219/81, AP Nr. 3 zu § 3 TVG; BAG v. 19.7.2000 – 10 AZR 918/98, NZA-RR 2001, 148.

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Teil 7 Rz. 36

Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung

AVE erforderlich sind, und dem Normalfall, in dem eine AVE die Erfüllung eines Quorums und ein öffentliches Interesse (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 TVG) voraussetzt.

a) Allgemeinverbindlicherklärbarer Tarifvertrag 36

Im Schrifttum wird diskutiert, ob es Arten von TVen bzw. einzelne Regelungsgegenstände gibt, die nicht für allgemeinverbindlich erklärt werden dürfen. Insoweit gilt Folgendes ((+) = AVE möglich; (–) AVE nicht möglich; (str.) = streitig):

aa) Arten von Tarifverträgen: 37

– ausländischer TV: (–); – VerbandsTV: (+); – FirmenTV: (str.); – TV über gemeinsame Einrichtungen: (+); – TV von Berufsgewerkschaften: (+).

bb) Regelungsgegenstände in Tarifverträgen: 38

– TV mit dynamischer Verweisung auf andere TVe: (–); – TV über prozessuale Schiedsgerichte nach § 101 Abs. 2 ArbGG: (str.)1; – TV mit Differenzierungsklauseln: (–)2; – TV mit Kündigungsbeschränkungen oder Rationalisierungsschutzabkommen: grds. (+), aber strenge Verhältnismäßigkeitskontrolle; – TV mit Vertragsstrafen ggü. Außenseitern: (str.)3.

b) Quorum und öffentliches Interesse (§ 5 Abs. 1 Satz 1 TVG) aa) 50%-Quorum 39

Die tarifgebundenen Arbeitgeber dürfen nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG nicht weniger als die Hälfte der unter den Geltungsbereich des TVes fallenden Arbeitnehmer beschäftigen.

1 Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 66; Wiedemann/Wank, § 5 TVG Rz. 156; a.A. Löwisch/ Rieble, § 5 TVG Rz. 48; differenzierend Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 212 ff. 2 Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 214 ff. 3 Vgl. BAG v. 22.10.2003 – 10 AZR 13/03, AP Nr. 16 zu § 1 TVG Tarifverträge: Gebäudereinigung; Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 221 f.

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Tarifgeltung aufgrund Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG

Rz. 42 Teil 7

(1) Zweck des Quorums Zum Teil wird die Funktion des Quorums in der Sicherstellung einer gewissen Repräsentativität gesehen1. Andere Autoren legen den Schwerpunkt hingegen auf den Schutz der nicht tarifgebundenen Arbeitgeber vor Majorisierung durch andere Arbeitgeber, die nur eine Minderheit der Arbeitnehmer im Geltungsbereich des TVes beschäftigen2. Viel spricht dafür, dem Quorum eine Doppelfunktion beizumessen und damit beide Ansätze einzubeziehen3. Das Quorum indiziert wegen der hohen erforderlichen Tarifbindung eine besondere „Richtigkeit“ des TVes, auf den damit vermuteten „fairen Kompromiss“4 vertraut der Staat bei jeder Form der Tarifnormerstreckung. Dadurch wird zugleich die Minderheit der nicht an den erstreckten TV gebundenen Arbeitgeber in einer Branche/Region geschützt.

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(2) Prüfung des Quorums Hinsichtlich der Ermittlung des Quorums gilt der Amtsermittlungsgrundsatz. Da eine völlig exakte Ermittlung des Quorums aber in der Praxis kaum möglich ist, darf das zuständige Ministerium Schätzungen vornehmen5. Auf dieses Mittel darf aber nur nach genauer Auswertung aller Erkenntnismittel zurückgegriffen werden6. Dies setzt voraus, dass das Ministerium – soweit nicht von anderer Stelle aussagekräftiges und aktuelles statistisches Material existiert7 – selbst Statistiken erhebt8. Der Rückgriff auf veraltetes Material ist unzulässig9. Ebenso wenig darf das Ministerium das statistische Material der beteiligten Verbände ungeprüft übernehmen, da auf Seiten der Verbände in der Regel ein erhebliches Eigeninteresse an der AVE besteht. Keinesfalls können auch Schätzungen auf der Basis von Erfahrungswerten ausreichen10. Eine andere Herangehensweise verletzt den Amtsermittlungsgrundsatz11. Es ist also zwingend erforderlich, dass das Ministerium vor jeder AVE (und sei sie auch branchenüblich) die Erfüllung des Quorums möglichst genau prüft. Bei Zweifeln darf die AVE nicht erfolgen.

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Die praktische Handhabung der befassten Ministerien ist diesbezüglich aber häufig sehr großzügig. Vor diesem Hintergrund ist es zu begrüßen, dass die Ge-

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1 ErfK/Franzen, § 5 TVG Rz. 11; Kempen/Zachert/Kempen, § 5 TVG Rz. 29; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 19, S. 892. 2 Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 88. 3 Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 152 f.; Zachert, NZA 2003, 132 (135). 4 Vgl. nur BAG v. 24.3.2004 – 5 AZR 303/03, NZA 2004, 971 (973); Löwisch/Rieble, Grundl. TVG Rz. 194; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 246 m.w.N. 5 BAG v. 11.6.1975 – 4 AZR 395/74, AP Nr. 29 zu § 2 TVG; BAG v. 24.1.1979 – 4 AZR 377/77, AP Nr. 16 zu § 5 TVG; BAG v. 12.10.1988 – 4 AZR 244/88, ZTR 1989, 108; HWK/Henssler, § 5 TVG Rz. 11; Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 156. 6 HWK/Henssler, § 5 TVG Rz. 11; Wiedemann/Wank, § 5 TVG Rz. 65. 7 Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 89. 8 Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 156. 9 VG Düsseldorf v. 16.11.2010 – 3 K 8653/08, ZTR 2011, 87 ff. mit Anm. Sittard, ZTR 2011, 131 ff. 10 Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 89. 11 Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 156.

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Teil 7 Rz. 43

Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung

richte die Rechtmäßigkeit von AVE in jüngerer Zeit kritischer prüfen1. Da die Darlegungs- und Beweislast für die Erfüllung der Erstreckungsvoraussetzungen beim normerlassenden Ministerium liegt, muss (im Rahmen einer verwaltungsgerichtlichen Feststellungsklage) bei Zweifeln am Quorum die AVE für rechtswidrig erklärt werden.

(3) Berechnung des Quorums (a) Grundsätze der Berechnung 43

Voraussetzung einer „regulären“ AVE (§ 5 Abs. 1 Satz 1 TVG) ist, dass mindestens 50 % der unter den Geltungsbereich des zu erstreckenden TVes fallenden Arbeitnehmer bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigt sind. Die Vorschrift stellt also allein auf die Tarifbindung des Arbeitgebers ab und verlangt für den Regelfall der AVE eines VerbandsTVes, dass die tarifgebundenen Arbeitgeber mindestens genauso viele Arbeitnehmer beschäftigen wie die nicht oder anders organisierten Arbeitgeber. Im – soweit bekannt – bisher in der Praxis nie vorgekommenen Fall der AVE eines FirmenTVes ist die Voraussetzung dagegen stets erfüllt.

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Für die Berechnung des Quorums muss zum einen die sog. große Zahl (alle unter den Geltungsbereich fallenden Arbeitnehmer) und zum anderen die kleine Zahl (bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigte Arbeitnehmer) ermittelt werden. Bei der großen Zahl müssen – anders als teilweise von den befassten Ministerien behauptet2 – alle Arbeitsverhältnisse im Geltungsbereich einbezogen werden. Die große Zahl erfasst damit auch anderweitig tarifgebundene Arbeitnehmer. Ist der Geltungsbereich eines TVes so gefasst, dass er auch Arbeitsverhältnisse mit ausländischem Vertragsstatut erfasst (z.B. wegen Anknüpfung an das Arbeitsortprinzip), so müssen richtigerweise auch diese Arbeitsverhältnisse bei der großen Zahl einbezogen werden.

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Bei der kleinen Zahl kommt es nicht auf die tatsächliche kongruente Tarifbindung (also die Mitgliedschaft des Arbeitnehmers in der Gewerkschaft) an, sondern nur auf die Tarifbindung des Arbeitgebers an den zu erstreckenden TV.

(b) Einzelfragen bei der Berechnung 46

Schwierigkeiten bestehen bei der Berechnung des Quorums bei mehrgliedrigen TVen. Die h.M. differenziert zwischen echten mehrgliedrigen TVen (einheitlicher TV) und parallelen inhaltsgleichen TVen (mehrere TVe)3. Nur beim echten mehrgliedrigen TV soll es zu einer Addition aller Beschäftigten der organisierten Arbeitgeber kommen. Bei nur inhaltsgleichen TVen müsse jeder TV einzeln betrachtet werden. Eine Mindermeinung spricht sich mit überzeugen1 Vgl. nur VG Düsseldorf v. 16.11.2010 – 3 K 8653/08, ZTR 2011, 87 mit Anm. Sittard, ZTR 2011, 131 ff. 2 Vgl. nur die Einlassung des nordrhein-westfälischen Arbeitsministeriums im Verfahren des VG Düsseldorf v. 16.11.2010 – 3 K 8653/08, ZTR 2011, 87. 3 BAG v. 8.11.2006 – 4 AZR 590/05, NZA 2007, 576 (577); HWK/Henssler, § 5 TVG Rz. 12; Löwisch/Rieble, § 5 TVG Rz. 125.

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Tarifgeltung aufgrund Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG

Rz. 48 Teil 7

den Argumenten für eine grundsätzlich einheitliche Betrachtung aus1. Der Zweck des Quorums erfordert in diesem Punkt keine enge Auslegung, da auch bei inhaltsgleichen TVen von einer Repräsentativität des TVes auszugehen ist und zugleich eine Majorisierung der nicht tarifgebundenen Arbeitgeber verhindert wird. Vergleichbar stellt sich auch die Situation bei AnerkennungsTVen dar. Auch hier sprechen Sinn und Zweck nicht dagegen, inhaltsgleiche TVe für die Frage des Quorums einheitlich zu betrachten.

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Nicht völlig klar ist auch, ob im Rahmen der kleinen Zahl auch solche Arbeitgeber als „tarifgebunden“ im Sinne von § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG zählen, die zwar nach §§ 3, 4 Abs. 1 TVG tarifgebunden sind, in deren Betrieben der zu erstreckende TV aber de facto nicht zur Anwendung kommt2. Dies kann nach der BAG-Rechtsprechung zur Tarifkonkurrenz der Fall sein, wenn neben dem allgemeinverbindlichen (Branchen-)TV noch ein speziellerer HausTV existiert3. Schließt demnach eine Gewerkschaft sowohl einen Branchen- als auch einen FirmenTV und soll der BranchenTV für allgemeinverbindlich erklärt werden, ist zu klären, ob die bei dem firmentarifvertragsgebundenen Arbeitgeber beschäftigen Arbeitnehmer mitzuzählen sind. Der Wortlaut des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG stellt allein auf die „Tarifgebundenheit“ der Arbeitgeber ab. Die Verdrängung nach dem Spezialitätsprinzip ändert aber nichts an der Tarifbindung des jeweiligen Arbeitgebers. Dennoch ist es aus teleologischer Sicht nicht unbedenklich, die Erfüllung der 50 %-Schwelle ohne weitere Prüfung zu bejahen, weil eine erhebliche Verdrängung einem VerbandsTV die Repräsentativität nehmen kann, die das Quorum aber gerade gewährleisten soll. Dennoch zwingt der Gesetzeswortlaut dazu, im Regelfall auch die Arbeitnehmer zu berücksichtigen, die an verdrängte TVe gebunden sind. Etwas anderes muss aber gelten, wenn es sich bei dem potentiell zu erstreckenden (Verbands-)TV um einen reinen „PhantomTV“ handelt4. Ein solcher „PhantomTV“ liegt vor, wenn die Anzahl der Arbeitnehmer, die bei den tarifgebundenen Arbeitgebern tatsächlich nach dem für allgemeinverbindlich zu erklärenden TV behandelt werden, extrem gering ist. Ein derartiger TV ist schlicht nicht repräsentativ und kann nicht die Richtigkeitsgewähr in Anspruch nehmen, die das 50 %-Quorum garantieren soll.

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1 Kempen/Zachert/Kempen, § 5 TVG Rz. 27; Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 153 f. 2 Die Debatte entzündete sich im Jahr 2007 an einem TV der Postbranche, der von einem neu gegründeten Arbeitgeberverband mit der Gewerkschaft ver.di geschlossen wurde. Wichtigstes Mitglied des Arbeitgeberverbandes war die Deutsche Post AG. Für eine Vielzahl der Arbeitnehmer der Post AG galt aber ein (speziellerer) FirmenTV. Dennoch sollte der TV für allgemeinverbindlich erklärt oder per Rechtsverordnung nach § 1 Abs. 3a AEntG 2007 erstreckt werden (vgl. dazu Sittard, NZA 2007, 1090 ff.). Vgl. dazu auch Schaub/Treber, ArbRHdb., § 205 Rz. 82. 3 Vgl. BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, NZA 1991, 736 (737); ebenso BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (352); BVerfG v. 15.7.1980 – 1 BvR 24/74 u.a., BVerfGE 55, 7 (24); für das Verhältnis eines nach dem Entsendegesetz erstreckten TVes mit spezielleren TVen kann allerdings etwas anderes gelten, vgl. BAG v. 20.7.2004 – 9 AZR 343/03, NZA 2005, 114 (116 ff.). 4 Vgl. ausführlich dazu Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 156 ff.

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Teil 7 Rz. 49

Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung

(4) Rechtspolitische Überlegungen 49

Forderungen nach einer Reform der AVE, insbesondere nach einer Absenkung des Quorums werden seit Jahren im Schrifttum erhoben1. Ende Januar 2012 wurde ein Gesetzgebungsantrag der Fraktion der SPD in den Bundestag eingebracht mit dem Ziel, das 50 %-Quorum zu reformieren2. Im Vergleich zu anderen EU-Mitgliedstaaten seien die Anforderungen an eine AVE in Deutschland unverhältnismäßig hoch. Insbesondere die Quote von 50 % sei nicht mehr zeitgemäß und führe zu einer Bevorzugung der Arbeitgeber. Zudem gefährde die gesunkene Tarifbindung die Finanzierung der Beitragslast der Sozialkassen. Vorgeschlagen wird ein kompletter Verzicht auf das strenge Kriterium und die Ersetzung durch das Erfordernis der „Repräsentativität“ in Anlehnung an § 7 AEntG. Aufgrund der schwarz-gelben Mehrheit im Bundestag ist allerdings zu erwarten, dass die Initiative zumindest in der laufenden Legislaturperiode nicht weiterverfolgt werden wird.

bb) Öffentliches Interesse 50

Weitere Voraussetzung einer AVE ist das Vorliegen eines „öffentlichen Interesses“ nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 TVG. Ausreichend ist es nach dem Wortlaut, dass die AVE im „öffentlichen Interesse geboten erscheint“. Unter dieser Voraussetzung „kann“ das Ministerium den TV erstrecken.

(1) Zweck des „öffentlichen Interesses“ 51

Das Tatbestandsmerkmal des öffentlichen Interesses verlangt zunächst, dass eine AVE nur erfolgen kann, wenn das Interesse an der AVE (insbesondere der bezweckte Arbeitnehmerschutz) die Nachteile (insbesondere den Eingriff in die Rechte der Arbeitgeber) überwiegt. Aufgabe des unbestimmten Rechtsbegriffs des öffentlichen Interesses ist es, die AVE wegen des mit ihr verbundenen Grundrechtseingriffs in die Berufsfreiheit (durch Art. 12 GG geschützte Arbeitsvertragsfreiheit) sowie die Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) auf Fälle zu begrenzen, in denen der durch die AVE erzeugte Arbeitnehmerschutz auch tatsächlich geboten ist. Zugleich wird der Rechtsakt der AVE durch das Merkmal des öffentlichen Interesses gerichtlich kontrollierbar.

(2) Prüfungsmaßstab 52

Schon die Formulierung „geboten erscheint“ in § 5 Abs. 1 TVG verdeutlicht einen gewissen Spielraum des zuständigen Ministeriums bei der Entscheidung über die AVE. Nach ständiger Rechtsprechung des BAG steht der zuständigen Behörde sogar ein „außerordentlich weiter“ Beurteilungsspielraum zu3. Eine gerichtliche Überprüfung der Entscheidung komme nur insoweit in Betracht, 1 Zachert, NZA 2003, 132. 2 BT-Drucks. 17/8459. 3 BAG v. 12.10.1988 – 4 AZR 244/88, ZTR 1989, 108; BAG v. 28.3.1990 – 4 AZR 538/89, NZA 1990, 781; BAG v. 22.10.2003 – 10 AZR 13/03, AP Nr. 16 zu § 1 TVG Tarifverträge: Gebäudereinigung.

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Tarifgeltung aufgrund Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG

Rz. 54 Teil 7

als der Behörde wesentliche Fehler vorzuwerfen seien1. Auch das BVerwG teilt diese Position und hat sich ausführlich zur gerichtlichen Kontrolle des öffentlichen Interesses geäußert: Dem zuständigen Minister stehe ein weites normatives Ermessen zu, dessen rechtliche Grenzen erst überschritten seien, wenn die getroffene Entscheidung in Anbetracht des Zwecks der Ermächtigung und der hiernach zu berücksichtigenden öffentlichen und privaten Interessen schlechthin unvertretbar und unverhältnismäßig sei2. Der Rechtsprechung ist grundsätzlich zuzustimmen: Beim Erlass einer AVE handelt es sich um einen Akt der Normsetzung, sodass dem zuständigen Ministerium ein normatives Ermessen zusteht3. Der Gestaltungsspielraum des administrativen Normgebers ist dabei zwischen dem des Parlaments und dem „schlichten“ Verwaltungsermessen angesiedelt4. Zudem findet bei einem normativen Ermessen keine Differenzierung zwischen Ermessen und Beurteilungsspielraum statt5. Der weite Gestaltungsspielraum führt aber nicht dazu, dass die Behörde keinen Begrenzungen unterworfen ist. Obwohl sich das BAG (fälschlicherweise) in einer Entscheidung aus den 1980er Jahren auf den Standpunkt gestellt hat, bei der AVE handele es sich nicht um staatliche Rechtsetzung gegenüber Außenseitern, die wie ein Gesetz an den Grundrechten zu messen sei, sondern um die Erstreckung der Tarifbindung auf Außenseiter6, unterliegt der zuständige Minister bei einer AVE einer uneingeschränkten Grundrechtsbindung, was sich auf die Kontrolldichte der Gerichte bei der Frage des öffentlichen Interesses auswirkt. Daher gelten die allgemeinen rechtsstaatlichen Grenzen für normatives Handeln, also insbesondere der Verhältnismäßigkeits- und der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz. Da die AVE in Grundrechtspositionen insbesondere der bislang tarifungebundenen Arbeitgeber eingreift, muss dieser Prüfungsmaßstab uneingeschränkt gelten.

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Einer Rechtmäßigkeitskontrolle insbesondere am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsprinzips kann keinesfalls das Verbot der Tarifzensur7 entgegen gehalten werden8. Bei dem überstrapazierten Verbot der Tarifzensur geht es allein

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1 BAG v. 22.10.2003 – 10 AZR 13/03, AP Nr. 16 zu § 1 TVG Tarifverträge: Gebäudereinigung. 2 BVerwG v. 3.11.1988 – 7 C 115/86, NZA 1989, 364 (368), wobei das BVerwG auf eine Entscheidung des BVerfG [v. 8.6.1977 – 2 BvR 499/74 u.a., BVerfGE 45, 142 (162)] Bezug nimmt. Dort hat das BVerfG ausgeführt, die Gerichte könnten nur kontrollieren, ob der Verordnungsgeber die Zweckbindung der gesetzlichen Ermächtigung überschreitet, ob sie schlechterdings ungeeignet ist, diesen Zweck zu erreichen, oder ob sie unverhältnismäßig ist. 3 Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 153; Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 165 f. 4 Maunz/Dürig/Schmidt-Aßmann, Art. 19 GG Rz. 217a; Birk, JuS 1978, 168 (169); krit. zu einer derartigen Einordnung Herdegen, AöR (114) 1989, S. 607 (609); Ossenbühl, FS Huber, S. 283 (287 f.). 5 Vgl. BVerfG v. 14.5.1969 – 1 BvR 615/67, BVerfGE 26, 16 (30); BVerfG v. 20.10.1981 – 2 BVR 201/80, NJW 1982, 373 (374); Weitzel, Rechtsetzungsermessen, 1998, S. 109 m.w.N. 6 BAG v. 23.11.1988 – 4 AZR 419/88, AP Nr. 100 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau. 7 Zum Verbot der Tarifzensur vgl. BAG v. 6.9.1995 – 5 AZR 174/94, NZA 1996, 437 (439); ErfK/Dieterich, Einl. GG Rz. 48; Dieterich, FS Schaub, S. 117 (122 f.). 8 So aber wohl die Rechtsauffassung des BMAS, vgl. Urteilsgründe des VG Berlin v. 7.3.2008 – 4 A 439/07, NZA 2008, 482 (487).

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Teil 7 Rz. 55

Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung

darum, dass der Staat (grundsätzlich) nicht die Angemessenheit von TVen für die mitgliedschaftlich Tarifgebundenen kontrollieren darf. Sein Prüfungsrecht bei der Frage, ob bislang Tarifungebundene aufgrund eines staatlichen Akts von einem TV erfasst werden sollen, wird dadurch aber in keiner Form eingeschränkt.

(3) Vorliegen des „öffentlichen Interesses“ 55

Das öffentliche Interesse im Sinne von § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 TVG ist durch eine Abwägung zu ermitteln1. Dabei bietet sich folgende Vorgehensweise an2: 1. Stufe:

Grundsätzliches Bestehen eines öffentlichen Interesses an der Allgemeinverbindlichkeit, d.h. Ermittlung aller Interessen für die Allgemeinverbindlichkeit Als zulässiger Zweck zur Begründung des öffentlichen Interesses kommt wegen des Zwecks von § 5 TVG regelmäßig nur der Arbeitnehmerschutz (einschließlich der Finanzierung gemeinsamer Einrichtungen nach § 4 Abs. 2 TVG) in Betracht. Wettbewerbsaspekte, sei es zwischen Arbeitgebern oder zwischen Gewerkschaften, können kein öffentliches Interesse begründen.

2. Stufe:

Ermittlung der gegen die Allgemeinverbindlicherklärung stehenden Interessen Gegen die AVE können insbesondere die Interessen der betroffenen Arbeitgeber (Erhöhung der Lohnkosten), die Gefahr des Arbeitsplatzverlusts sowie die Benachteiligung unbeteiligter Koalitionen (keine Staatshilfe für einzelne Koalitionen) sprechen.

3. Stufe:

Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips und des Gleichheitssatzes Auf der dritten Stufe sind dann insbesondere die Geeignet- und Erforderlichkeit der AVE zur Zweckerreichung sowie die Angemessenheit zu prüfen. Im Rahmen der Geeignetheit ist z.B. in einem ersten Schritt zu prüfen, ob die AVE des konkreten TVes überhaupt in der Lage ist, die Defizite beim Arbeitnehmerschutz im Geltungsbereich des TVes zu beheben. Bei der Angemessenheitskontrolle muss insbesondere überprüft werden, welche Folgewirkungen mit einer AVE einhergingen.

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Dieses Prüfungsraster zeigt, dass eine AVE nicht schon deshalb erfolgen darf, weil dies für den betroffenen TV in der Vergangenheit regelmäßig so gehandhabt wurde („bekannt und bewährt“)3. Eine solche Erwägung ist ermessensfehlerhaft und führt zur Rechtswidrigkeit der AVE. Ebenso wäre es ermessensfeh1 Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 93; ErfK/Franzen, § 5 TVG Rz. 12; HWK/Henssler, § 5 TVG Rz. 13; Löwisch/Rieble, § 5 TVG Rz. 180. 2 Schema nach Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 170 ff. 3 So aber Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 102.

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Sittard

Tarifgeltung aufgrund Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG

Rz. 59 Teil 7

lerhaft, das öffentliche Interesse nur deshalb zu bejahen, weil bestimmte Regelungsmaterien (z.B. Entgelt oder betriebliche Altersversorgung) betroffen sind. Vielmehr muss immer eine einzelfallbezogene Prüfung stattfinden, ob der Erlass der konkreten AVE geeignet, erforderlich und angemessen ist. Dabei ist zu beachten, dass die Anforderungen an die AVE strenger werden je stärker sich die Regelungsmaterien von den „Kernarbeitsbedingungen“ (insbesondere Entgelt, Urlaub etc.) entfernen. TVe über den Vorruhestand oder die Altersteilzeit können daher nur unter äußerst strengen Kriterien für allgemeinverbindlich erklärt werden1.

c) Sozialer Notstand (§ 5 Abs. 1 Satz 2 TVG) aa) Praxisrelevanz und Einordnung Die Praxisrelevanz von § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG ist äußerst gering. Soweit ersichtlich, ist seit Bestehen des TVG noch keine AVE auf das Vorliegen eines sozialen Notstandes gestützt worden2. Ein solcher Notstand erlaubt dem zuständigen Minister die AVE ohne Vorliegen des 50 %-Quorums und des öffentlichen Interesses. Letztlich relevant ist allerdings nur der Verzicht auf das Merkmal der Repräsentativität des TVes nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG, da ein sozialer Notstand nach einhelliger Ansicht in der Literatur immer ein öffentliches Interesse begründet, also ein „Mehr“ gegenüber diesem Erfordernis ist3. Auf den Antrag einer beteiligten TV-Partei und das Votum des Tarifausschusses kann indes nach dem klaren Wortlaut nicht verzichtet werden4.

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bb) Voraussetzungen Der Begriff des sozialen Notstandes ist, wie auch der des öffentlichen Interesses, unbestimmt und eröffnet dem zuständigen Minister normatives Ermessen5. Daraus folgt sogleich, dass auch beim Vorliegen eines sozialen Notstandes keine Pflicht des Ministers zum Erlass einer AVE besteht6.

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Mindestvoraussetzung eines sozialen Notstandes ist eine Situation, in der die bisher nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer nicht in der Lage sind, ihre notwendigen sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnisse zu befriedigen7 und damit das Existenzminimum nicht mehr gewährleistet ist. Ergänzend wird im Schrifttum auf eine Gefährdung des Arbeitsfriedens oder gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen als Ursache für einen sozialen Notstand hingewiesen8.

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1 A.A. BAG v. 15.2.1989 – 4 AZR 499/88, n.v.; Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 102. 2 Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 105; ErfK/Franzen, § 5 TVG Rz. 14. 3 ErfK/Franzen, § 5 TVG Rz. 14; Löwisch/Rieble, § 5 TVG Rz. 136; Wiedemann/Wank, § 5 TVG Rz. 75. 4 Vgl. nur Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 104. 5 Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 107; Witteler, BB 2007, 1620 (1622). 6 Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 224 f.; a.A. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 19, S. 897; ebenso ErfK/Franzen, § 5 TVG Rz. 14. 7 ErfK/Franzen, § 5 TVG Rz. 14; HWK/Henssler, § 5 TVG Rz. 15; Wiedemann/Wank, § 5 TVG Rz. 77. 8 ErfK/Franzen, § 5 TVG Rz. 14.

Sittard

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Teil 7 Rz. 60

Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung

d) Rückwirkung der Allgemeinverbindlicherklärung 60

Häufig stellen sich bei einer AVE Fragen der Rückwirkung. Dabei muss zwischen der AVE rückwirkender TVe und der rückwirkenden AVE differenziert werden.

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Die Rückwirkung von TVen wird von der Rechtsprechung gebilligt1. Wird ein in wirksamer Weise rückwirkender TV gemäß § 5 TVG erstreckt, handelt es sich um die AVE eines rückwirkenden TVes.

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Wird ein TV für die Vergangenheit für allgemeinverbindlich erklärt, liegt eine rückwirkende AVE vor. Auch diese wird von der h.M. für zulässig gehalten2. Dabei werden die Begrenzungen der Rückwirkung von Gesetzen (bzw. Verordnungen) auf die AVE übertragen3. Äußerste Grenze der Rückwirkung der AVE ist der Beginn der Normenwirkung des TVes selbst4, da ansonsten der Geltungsbereich des TVes durch § 5 TVG erweitert würde, was per se ausgeschlossen ist (vgl. unten Rz. 65). Nach § 7 Satz 3 TVGDV bestimmt das BMAS im Benehmen mit dem Tarifausschuss den Zeitpunkt der Allgemeinverbindlichkeit. § 7 Satz 3 TVGDV sieht dabei vor, dass der Beginn der Erstreckungswirkung grundsätzlich nicht vor der Bekanntmachung des Antrags auf AVE liegt. D. h. aber auch, dass die AVE auch vor ihrer Veröffentlichung nach § 5 Abs. 7 TVG, also rückwirkend, wirksam werden kann. Die Einschränkung des § 7 Satz 3 TVGDV auf den Zeitraum ab der Bekanntmachung des Antrags gilt nur „in aller Regel“ und nur, wenn es sich nicht um die Erneuerung oder Änderung eines bereits allgemeinverbindlich erklärten TVes handelt. Bei einer Erneuerung einer AVE ist die Rückwirkung nach der TVGDV also nicht auf den Zeitpunkt ab der Bekanntmachung des Antrags beschränkt. Es ist allerdings zweifelhaft, ob die TVGDV insoweit rechtmäßig ist: Aus rechtsstaatlichen Gesichtspunkten dürfen nachteilige staatliche Akte (wie aus Arbeitgebersicht die AVE) grundsätzlich nicht rückwirkend ergehen5. Daher muss die Veröffentlichung und damit das Wirksamwerden der AVE nach § 5 Abs. 7 TVG den maßgeblichen Zeitpunkt bilden, ab dem die Tarifnormen allgemeinverbindlich wirken6. Dies gilt jedenfalls dann, wenn ansonsten ein Fall echter Rückwirkung gegeben wäre7. 1 BAG v. 20.6.1958 – 1 AZR 245/57, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Rückwirkung; BAG v. 23.11.1994 – 4 AZR 879/93, NZA 1995, 844 (845 ff.); BAG v. 17.5.2000 – 4 AZR 216/99, NZA 2000, 1297 (1298). 2 BAG v. 3.11.1982 – 4 AZR 1255/79, AP Nr. 18 zu § 5 TVG; BAG v. 25.9.1996 – 4 AZR 209/95, NZA 1997, 495 (496 f.); HWK/Henssler, § 5 TVG Rz. 28; Wiedemann/Wank, § 5 TVG Rz. 104 f.; krit. Löwisch/Rieble, § 5 TVG Rz. 82 ff. 3 BAG v. 3.11.1982 – 4 AZR 1255/79, AP Nr. 18 zu § 5 TVG; BAG v. 25.9.1996 – 4 AZR 209/95, NZA 1997, 495 (496 f.); ErfK/Franzen, § 5 TVG Rz. 16; HWK/Henssler, § 5 TVG Rz. 28. 4 ErfK/Franzen, § 5 TVG Rz. 10; HWK/Henssler, § 5 TVG Rz. 27; Oetker in Jacobs/ Krause/Oetker, § 6 Rz. 92 f.; Kempen/Zachert/Kempen, § 5 TVG Rz. 42; Wiedemann/ Wank, § 5 TVG Rz. 106; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 19, S. 897; Houben, Rückwirkung von Tarifverträgen, 2006, S. 307. 5 Maunz/Dürig/Herzog, Art. 20 GG VII Rz. 65, 69. 6 Ebenso Löwisch/Rieble, § 5 TVG Rz. 82. 7 Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 206 ff.

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Tarifgeltung aufgrund Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG

Rz. 67 Teil 7

V. Tarifgeltung aufgrund einer Tarifnormerstreckung durch Allgemeinverbindlicherklärung 1. Tarifgebundenheit als Wirkung des § 5 Abs. 4 TVG a) Grundprinzipien der Erstreckungswirkung Nach § 5 Abs. 4 TVG erfassen die Rechtsnormen des TVes in seinem Geltungsbereich mit der AVE auch die bisher nicht tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Schon der Wortlaut stellt klar, dass allein die Rechtsnormen eines TVes auf bisher nicht Tarifgebundene erstreckt werden. § 5 Abs. 4 TVG statuiert damit neben der nach § 3 Abs. 1, 2, § 4 Abs. 1 TVG mitgliedschaftlich legitimierten eine weitere Art der Tarifgebundenheit1. Zwischen der Geltung des TVes kraft mitgliedschaftlicher Legitimation und der kraft staatlicher Normerstreckung nach § 5 TVG besteht grundsätzlich kein Unterschied. Die Tarifnormen sind unmittelbar und zwingend im gesamten Geltungsbereich des TVes anwendbar2. Wurde allerdings – was zumindest theoretisch denkbar ist – ein nur nachwirkender TV für allgemeinverbindlich erklärt, so entfaltet auch der allgemeinverbindliche TV nur die unmittelbare, aber nicht zwingende Wirkung, die einem „normalen“ nachwirkenden TV zukommt.

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Der Inhalt des TVes bleibt durch die AVE unverändert3. Einschränkungen bestehen sowohl hinsichtlich des Geltungsbereichs als auch hinsichtlich einzelner Normen nur, wenn der zuständige Minister vom Recht zur teilweisen AVE Gebrauch gemacht hat. Dann wird der TV insoweit für allgemeinverbindlich erklärt wie der zuständige Minister dies anordnet.

64

Missverständnisse im Hinblick auf die Wirkungen der AVE entstehen teilweise durch die Formulierung, die AVE ändere den „persönlichen Anwendungsbereich“ des erfassten TVes4. Damit kann richtigerweise nicht der Geltungsbereich des TVes gemeint sein. Denn letzterer wird durch die AVE nie erweitert, § 5 Abs. 4 TVG setzt nicht beim Geltungsbereich, sondern bei der Tarifgebundenheit (§ 3 Abs. 1 TVG) an und verändert deren Voraussetzungen.

65

Da es sich bei allgemeinverbindlichen Tarifnormen um Rechtsnormen handelt, tritt die Wirkung ab dem Zeitpunkt der öffentlichen Bekanntmachung gemäß § 5 Abs. 7 TVG auch unabhängig von der Kenntnis der Betroffenen ein5.

66

b) Verzicht, Verwirkung, Ausschlussfristen Für Verzicht, Verwirkung und Ausschlussfristen gelten die Regelungen in § 4 Abs. 4 TVG. 1 Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 164; Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 6 Rz. 97. 2 ErfK/Franzen, § 5 TVG Rz. 5; HWK/Henssler, § 5 TVG Rz. 31; Kempen/Zachert/Kempen, § 5 TVG Rz. 41; Löwisch/Rieble, § 5 TVG Rz. 25; Wiedemann/Wank, § 5 TVG Rz. 127. 3 Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 165. 4 BVerwG v. 6.6.1958 – VII CB 187.57, BVerwGE 7, 82 (84 f.). 5 BAG v. 16.8.1983 – 3 AZR 206/82, AP Nr. 131 zu § 1 TVG Auslegung.

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Teil 7 Rz. 68

Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung

c) Von der Allgemeinverbindlicherklärung erfasste Arbeitsverhältnisse 68

Adressaten einer AVE sind in erster Linie die bisher nicht tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, d.h. Arbeitsverhältnisse, für die bislang keine Tarifbindung qua Mitgliedschaft (gemäß § 3 Abs. 1, 2 TVG) besteht.

69

Nach Rechtsprechung1 und h.M. im Schrifttum2 erfasst die AVE auch Arbeitsverhältnisse, für die bereits eine kongruente Tarifbindung besteht. Folge dieser Auffassung ist, dass es im Fall einer AVE bei kollidierenden TVen regelmäßig zu einer Tarifkonkurrenz kommt. § 5 Abs. 4 TVG dehnt demnach den TV auf alle Arbeitsverhältnisse in seinem Geltungsbereich aus, ohne auf eine anderweitige kongruente Tarifbindung Rücksicht zu nehmen. Das bedeute jedoch nicht, dass der erstreckte TV zwingend Anwendung finden müsse, vielmehr handele es sich um ein Problem der Tarifkonkurrenz3.

70

Die vom Verfasser vertretene Mindermeinung will hingegen einen allgemeinverbindlichen TV nur auf solche Arbeitsverhältnisse anwenden, für die es an einer (kongruenten) Tarifbindung fehlt4. Allerdings muss es sich um einen zwingend wirkenden TV handeln, der auf das Arbeitsverhältnis Anwendung findet. Ein nur nachwirkender TV reicht nicht aus. Für diese „enge Auslegung“ von § 5 Abs. 4 TVG spricht neben dem Wortlaut der Norm, der ausdrücklich nur von einer Erstreckung auf „bisher nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer“ spricht, auch der Normzweck. Für kongruent tarifgebundene Arbeitsverhältnisse ist bereits ein – die Richtigkeitsgewähr in Anspruch nehmender – TV anwendbar, weshalb es nicht geboten ist, einen weiteren TV staatlich aufzuoktroyieren. Eine Ausnahme von dieser „engen Auslegung“ wird man allerdings wegen der angesprochenen Finanzierungsfunktion (vgl. oben Rz. 11 ff.) von gemeinsamen Einrichtungen der TV-Parteien für TVe nach § 4 Abs. 2 TVG machen müssen.

d) Allgemeinverbindlicherklärung und Tarifkonkurrenz 71

Folgt man, was der Praxis dringend zu raten ist, bei der Frage der Wirkungen der AVE der Rechtsprechung und h.M., kommt es aufgrund einer AVE zu einer Tarifkonkurrenz, wenn bereits kraft Mitgliedschaft kongruent tarifgebundene Arbeitsverhältnisse (§ 3 Abs. 1, 2 TVG) zusätzlich noch von einem allgemeinverbindlichen TV erfasst werden.

72

Allerdings wird eine Tarifkonkurrenz durch eine AVE von den zuständigen Ministerien häufig durch eine sog. Einschränkungsklausel bei der AVE verhindert5. Dabei beschränkt das Ministerium den Geltungsbereich der AVE so, dass eine Überschneidung mit einem anderen TV vermieden wird. 1 BAG v. 19.1.1962 – 1 AZR 147/61, AP Nr. 11 zu § 5 TVG; BAG v. 24.9.1975 – 4 AZR 471/74, AP Nr. 11 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; BAG v. 14.6.1989 – 4 AZR 200/89, NZA 1990, 325; BAG v. 25.7.2001 – 10 AZR 599/00, NZA 2002, 1406 (1407 ff.). 2 Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 164 ff.; HWK/Henssler, § 5 TVG Rz. 31; Kempen/Zachert/Kempen, § 5 TVG Rz. 41; Wiedemann/Wank, § 5 TVG Rz. 146. 3 BAG v. 25.7.2001 – 10 AZR 599/00, NZA 2002, 1406 (1407 ff.). 4 Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 234 ff. 5 Vgl. nur BAG v. 20.6.2007 – 10 AZR 302/06, NZA-RR 2008, 24 (27 f.).

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Tarifgeltung aufgrund Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG

Rz. 75 Teil 7

Fehlt es aber an einer solchen Einschränkungsklausel, finden nach h.M. die allgemeinen Regelungen zur Auflösung von Tarifkonkurrenzen (vgl. dazu Teil 9 Rz. 89 ff.) auch auf die Tarifkonkurrenz mit einem allgemeinverbindlichen TV Anwendung. Nach der Rechtsprechung des BAG gilt damit das Spezialitätsprinzip auch bei einer Konkurrenz zwischen einem allgemeinverbindlichen und einem mitgliedschaftlich legitimierten TV bzw. FirmenTV1. In der Konsequenz folgt daraus, dass allgemeinverbindliche TVe durch speziellere FirmenTVe verdrängt werden können. Da es sich bei allgemeinverbindlichen TVen in der Praxis immer um VerbandsTVe handelt, werden diese regelmäßig durch spezielle FirmenTVe verdrängt.

73

Die Anwendung des Spezialitätsprinzips ist aber nicht unumstritten: Eine – heute allerdings kaum noch vertretene – Auffassung will den allgemeinverbindlichen TV gegenüber konkurrierenden TVen vorrangig anwenden2. Das genaue Gegenteil vertritt eine im Vordringen befindliche Auffassung, wonach mitgliedschaftlich legitimierte TVe grundsätzlich dem allgemeinverbindlichen TV vorgehen3. Letztgenannte Ansicht erscheint überzeugend, verhindert sie doch, dass der TV, für den sich beide Arbeitsvertragsparteien privatautonom entschieden haben, durch einen staatlicherseits erstreckten TV verdrängt wird. Für eine solche Verdrängung gibt es – nimmt man die Richtigkeitsgewähr von TVen ernst – keinen Grund. Dieser subsidiäre Charakter der AVE kann richtigerweise aber vor dem Hintergrund der Finanzierungsfunktion nicht für allgemeinverbindliche TVe über gemeinsame Einrichtungen nach § 4 Abs. 2 TVG gelten4. Hier wird man im Gegenteil sogar überlegen müssen, ob diesen TVen Vorrang im Rahmen einer Tarifkonkurrenz zukommt.

74

e) Erstreckungswirkung bei internationalen Sachverhalten Nicht abschließend geklärt ist, ob Arbeitsverhältnisse zwischen einem ausländischen Arbeitgeber und einem ausländischen Arbeitnehmer dem erstreckten TV unterfallen, wenn der Arbeitsvertrag sich nach einem ausländischen Vertragsstatut (vgl. Art. 8 Abs. 1 bis 4 Rom-I-Verordnung) richtet. Das kommt insbesondere in Fällen der Arbeitnehmerentsendung häufig vor. Liegt in diesem Fall nur ein nach § 5 TVG erstreckter TV und kein vom AEntG (dazu unten Rz. 100 ff.) erfasster TV vor, stellt sich die Frage, ob die AVE auch Wirkungen für nicht dem deutschen Arbeitsvertragsrecht unterliegende Arbeitsverhältnisse entfaltet.

1 BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, NZA 1991, 736 (738 f.); BAG v. 25.7.2001 – 10 AZR 599/00, NZA 2002, 1406 (1407 ff.); BAG v. 18.10.2006 – 10 AZR 576/05, NZA 2007, 1111 (1115 f.). 2 Kempen, FS Zusatzversorgungskasse, S. 77 (87); G. Müller, DB 1989, 1970 ff. 3 Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 287 ff.; Fenn, FS Kissel, S. 213 (238); B. Müller, NZA 1989, 449 (452); Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 270 ff.; Thüsing/v. Medem, ZIP 2007, 510 (516) zu Tarifpluralität; Lembke, BB 2007, Heft 45, S. I; die Auffassung geht auf Löwisch in der ersten Auflage des Münchener Handbuchs zum Arbeitsrecht zurück (dort § 269 Rz. 24 ff.). 4 Vgl. ausführlich Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 274, 245 ff.

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Teil 7 Rz. 76

Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung

76

Insoweit ist zunächst zu prüfen, ob der ausländische Arbeitnehmer überhaupt vom Geltungsbereich des erstreckten TVes erfasst wird, weil die AVE nur dann Wirkung entfalten kann1. Damit werden Arbeitsverhältnisse ausländischer Arbeitnehmer nicht erfasst, wenn die jeweiligen Arbeitgeber ihren Betriebssitz im Ausland haben und der TV mit seinem räumlichen Geltungsbereich an den Betriebssitz und nicht den Arbeitsort anknüpft2. Virulent wird die Frage nach der Wirkung der AVE, wenn der TV das sog. Arbeitsortprinzip aufweist, d.h. an den Ort der Tätigkeit des Arbeitnehmers anknüpft. Dafür muss er grundsätzlich auf jedes Arbeitsverhältnis anwendbar sein, bei dem die Arbeit im (räumlichen) Geltungsbereich verrichtet wird3. Nur wenn dem so ist, kann der TV das Arbeitsverhältnis mit ausländischem Vertragsstatut überhaupt erfassen.

77

Selbst wenn dies der Fall ist, ist die AVE nach der Rechtsprechung des 10. Senats des BAG auf Arbeitsverhältnisse mit ausländischem Vertragsstatut nicht anwendbar. Danach können TVe – seien sie allgemeinverbindlich oder nicht – nur Arbeitsbedingungen für solche Arbeitverhältnisse regeln, die dem deutschen Recht unterliegen4. Da die AVE diesen Geltungsbereich nicht erweitern könne, erreiche eine allgemeinverbindliche Tarifnorm die dem ausländischen Recht unterfallenden Arbeitsverhältnisse nicht. Ob diese Begründung trägt, muss indes bezweifelt werden. Überzeugender erscheint es, die Frage der Geltung von allgemeinverbindlichen Tarifnormen über die Einordnung als international zwingende Eingriffsnorm im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Rom-I-Verordnung (früher Art. 34 EGBGB) zu lösen. Denn das BAG kann nicht überzeugend begründen, warum deutsche TVe für ausländische Arbeitsverhältnisse generell unanwendbar sein sollen. Bei Tarifnormen handelt es sich um Rechtsnormen, deren Anwendung sich auf internationale Sachverhalte nach Art. 3, 8 und 9 Rom-I-Verordnung richtet. Im Ergebnis gelangt man so indes zum gleichen Resultat wie das BAG, da allgemeinverbindliche TVe nach h.M. keine Eingriffsnormen nach Art. 9 Rom-I-Verordnung darstellen5, sodass sich der allgemeinverbindliche TV nicht gegen das abweichende ausländische Vertragsstatut durchzusetzen vermag. Gegen die Einordnung als Eingriffsnormen spricht neben der Existenz des AEntG (das zumindest teilweise überflüssig wäre, wenn schon § 5 TVG die Erstreckung auf ausländische Arbeitsverhältnisse anordnen würde) insbesondere die Möglichkeit der Verdrängung von allgemeinverbindlichen TVen über das Spezialitätsprinzip im Fall der Tarifkonkurrenz. Wenn allgemeinverbindliche TVe schon nach deutschem Recht durch speziellere TVe verdrängt werden können, so können sie nicht die zwingende Wirkung des Art. 9 Rom-I-Verordnung beanspruchen, die nur Vorschriften zukommt, deren Zweck sich nicht im Ausgleich widerstreitender Interessen erschöpft, sondern (auch) auf öffentliche Interessen gerichtet ist6. 1 So schon BAG v. 4.5.1977 – 4 AZR 10/76, AP Nr. 30 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau. 2 MünchKommBGB/Martiny, Art. 30 EGBGB Rz. 142; Wiedemann/Wank, § 5 TVG Rz. 141; Deinert, RdA 1996, 339 (345). 3 Deinert, RdA 1996, 339 (345). 4 BAG v. 9.7.2003 – 10 AZR 593/02, NZA 2003, 1424. 5 Vgl. BAG v. 4.5.1977, AP Nr. 30 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG v. 12.1.2005 – 5 AZR 617/01, NZA 2005, 627 (629). 6 Palandt/Thorn, Art. 34 EGBGB Rz. 3; Staudinger/Magnus, Art. 34 EGBGB Rz. 57, 68.

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Tarifgeltung aufgrund Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG

Rz. 80 Teil 7

2. Beendigung der Wirkungen der Allgemeinverbindlicherklärung a) Ablauf des erstreckten Tarifvertrages Nach § 5 Abs. 5 Satz 3 TVG endet die – insoweit akzessorische – AVE mit dem Ablauf des erstreckten TVes. Verliert der TV seine unmittelbare und zwingende Wirkung für die mitgliedschaftlich gebundenen Arbeitsverhältnisse, gilt dies auch für die nur kraft § 5 TVG Tarifgebundenen. Ein Ablauf des TVes nach § 5 Abs. 5 Satz 3 TVG besteht neben dem Verstreichen der Laufzeit1 in jeder Form der Beendigung des TVes. Deshalb beendet z.B. auch eine einvernehmliche Aufhebung des TVes oder eine Kündigung die AVE2.

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Bei einem mehrgliedrigen TV mit mehreren selbständigen TVen bewirkt eine Kündigung eines TVes aus dem TV-Verbund nur den Ablauf des konkret gekündigten TVes3. Damit endet nur insoweit die Allgemeinverbindlichkeit nach § 5 Abs. 5 Satz 3 TVG. Bei einem echten mehrgliederigen TV führt die (zulässige) Kündigung einer Partei hingegen insgesamt zum Ablauf im Sinne von § 5 Abs. 5 Satz 3 TVG.

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b) Aufhebung der Allgemeinverbindlicherklärung Zudem ist das zuständige Ministerium zur Aufhebung der AVE nach § 5 Abs. 5 Satz 1 TVG berechtigt. Erforderlich ist hierfür ein öffentliches Interesse an der Aufhebung. Zudem muss für die Aufhebung nach § 5 Abs. 5 Satz 1 TVG das Einvernehmen des Tarifausschusses vorliegen. Ohne Zustimmung dieses Gremiums kann eine Aufhebung also nicht erfolgen, selbst wenn das Ministerium ein öffentliches Interesse an der Aufhebung bejaht. Wegen der fehlenden demokratischen Legitimation des Tarifausschusses ist diese Bindung der Aufhebung an dessen Zustimmung verfassungsrechtlich allerdings äußert zweifelhaft. Gute Argumente sprechen dafür, dass dieser Zustimmungsvorbehalt wegen Verstoßes gegen das Demokratieprinzip verfassungswidrig ist4. Denn es ist mit dem Demokratieprinzip unvereinbar, einem demokratisch nicht legitimierten Gremium wie dem Tarifausschuss ein Vetorecht gegen die Beendigung eines Grundrechtseingriffs zuzubilligen. Einzig verfassungsgemäß wäre ein Anhörungsrecht, an dessen Ergebnis der zuständige Minister aber nicht gebunden sein darf. Für die Praxis ist aber darauf hinzuweisen, dass die Aufhebung einer AVE praktisch kaum vorkommt.

1 Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 185; ErfK/Franzen, § 5 TVG Rz. 26; HWK/Henssler, § 5 TVG Rz. 29. 2 BAG v. 8.11.2006 – 4 AZR 590/05, NZA 2007, 576 (577); ErfK/Franzen, § 5 TVG Rz. 26; HWK/Henssler, § 5 TVG Rz. 29. 3 BAG v. 8.11.2006 – 4 AZR 590/05, NZA 2007, 576 ff. 4 Löwisch/Rieble, § 5 TVG Rz. 202; Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 284; in diese Richtung auch HWK/Henssler, § 5 TVG Rz. 30.

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Teil 7 Rz. 81

Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung

c) Befristung der Allgemeinverbindlicherklärung 81

Weitere Beendigungstatbestände ergeben sich daraus, dass das Ministerium eine AVE zeitlich befristen1 oder theoretisch sogar auflösend bedingen kann.

d) Nachwirkung allgemeinverbindlicher Tarifverträge aa) Nachwirkung nach Ende der Allgemeinverbindlicherklärung 82

Nach Rechtsprechung des BAG und herrschender Auffassung im Schrifttum2 gelten in Bezug auf die Nachwirkung (§ 4 Abs. 5 TVG) allgemeinverbindlicher TVe keine Besonderheiten3. Die Nachwirkung allgemeinverbindlicher TVe trete auch gegenüber nur durch die AVE Tarifgebundenen ein. Die Nachwirkung soll – in analoger Anwendung von § 4 Abs. 5 TVG – selbst dann eintreten, wenn die AVE nach § 5 Abs. 5 Satz 1 TVG aufgehoben wird4. Dafür soll die Überbrückungsfunktion des § 4 Abs. 5 TVG sprechen, da ein solches Bedürfnis auch nach einer AVE bestehe5. Zudem sei die Tarifbindung nach § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG mit der Bindung nach § 5 Abs. 4 TVG vergleichbar6.

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Aus systematischer Hinsicht ist allerdings zweifelhaft, ob § 4 Abs. 5 TVG überhaupt von § 5 Abs. 4 TVG in Bezug genommen wird. Zudem greift der primäre Zweck der Nachwirkung (Überbrückungsfunktion und Verhinderung inhaltsleerer Arbeitsverhältnisse) allenfalls dann, wenn in einer Branche und Region die AVE schon so typisch war, dass die Arbeitsvertragsparteien darauf vertraut haben, auf detaillierte vertragliche Regelungen verzichten zu können. Ist die AVE allerdings erst nach Arbeitsvertragsschluss erfolgt, ist nicht ersichtlich, warum die Gefahr inhaltsleerer Arbeitsverhältnisse bestehen soll. Da es in Hinblick auf eine AVE aber ohnehin keinen Vertrauensschutz gibt, können sich die Arbeitsvertragsparteien nicht darauf verlassen, dass für sie in aller Zukunft ein allgemeinverbindlicher TV gilt, weshalb man insgesamt daran zweifeln kann, ob bei fehlender mitgliedschaftlicher Tarifgebundenheit überhaupt ein Grund besteht, die Arbeitsvertragsparteien vor inhaltsleeren Arbeitsverhältnissen zu schützen.

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Vereinzelt wird die Nachwirkung allgemeinverbindlicher TVe daher bestritten7. Dafür spricht, dass jede Art der Tarifnormerstreckung und der damit ein1 S. Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 184. 2 Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 193; ErfK/Franzen, § 5 TVG Rz. 26; HWK/Henssler, § 5 TVG Rz. 33; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 684 sowie § 5 TVG Rz. 33; Wiedemann/ Wank, § 5 TVG Rz. 125. 3 BAG v. 19.1.1962 – 1 AZR 147/61, AP Nr. 11 zu § 5 TVG; BAG v. 18.6.1980 – 4 AZR 463/78, AP Nr. 68 zu § 4 TVG Ausschlussfristen; BAG v. 27.11.1991 – 4 AZR 211/91, NZA 1992, 800 (801 ff.); BAG v. 25.10.2000 – 4 AZR 212/00, NZA 2001, 1146 ff. 4 BAG v. 19.1.1962 – 1 AZR 147/61, AP Nr. 11 zu § 5 TVG; Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 193; Kempen/Zachert/Kempen, § 5 TVG Rz. 46; Wiedemann/Wank, § 5 TVG Rz. 125. 5 BAG v. 25.10.2000 – 4 AZR 212/00, NZA 2001, 1146 (1147). 6 BAG v. 27.11.1991 – 4 AZR 211/91, NZA 1992, 800 (801 f.); BAG v. 25.10.2000 – 4 AZR 212/00, NZA 2001, 1146. 7 Ausführlich jüngst Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 289; vgl. auch Besgen, SAE 2002, 224 ff.; Hohenstatt, Anm. zu AP Nr. 38 zu § 4 TVG Nachwirkung; Krebs, SAE 1993, 132 (133 ff.); Oetker, Gem. Anm. zu EzA Nr. 14, 15 zu § 4 TVG Nachwirkung, S. 24 ff.

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Tarifgeltung aufgrund Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG

Rz. 86 Teil 7

hergehende Eingriff in die Grundrechte (insbesondere der betroffenen Arbeitgeber) nur über den staatlichen Geltungsbefehl des Ministerakts zu rechtfertigen ist. Diese endet aber mit dem Ablauf eines TVes, weil die AVE auf den zeitlichen Geltungsbereich des TVes beschränkt ist. Auch der Wortlaut von § 5 Abs. 5 Satz 3 TVG lässt Zweifel aufkommen, ob allgemeinverbindliche Tarifnormen nachwirken, weil danach die Allgemeinverbindlichkeit eines TVes mit dessen Ablauf „endet“. Würde ein allgemeinverbindlicher TV aber nachwirken, so würde die Wirkung nicht völlig enden. Unabhängig von der generellen Frage der Nachwirkung allgemeinverbindlicher TVe ist richtigerweise aber jedenfalls eine Nachwirkung nach Aufhebung der AVE abzulehnen1. In einer derartigen Situation sieht sich das zuständige Ministerium gezwungen, die AVE aufzuheben, weil dies – so verlangt es § 5 Abs. 5 Satz 1 TVG – im öffentlichen Interesse geboten erscheint, also erhebliche Gründe gegen den Fortbestand der AVE sprechen. Es ist aber kaum nachvollziehbar, dass dann dennoch der allgemeinverbindliche TV nachwirkend weiterhin gilt. Dagegen kann nicht angebracht werden, der nachwirkende TV sei ja durch eine andere Abmachung abdingbar. Eine solche ist nämlich durch den (durch die AVE in grundrechtlich relevanter Weise belasteten) Arbeitgeber kaum ohne Zustimmung des Arbeitnehmers oder ggf. des Betriebsrats erreichbar. Wenn die AVE aber nicht mehr fortbestehen kann, ist jegliche Bindung an den TV, die auf die staatliche Erstreckung zurückgeht, nicht mehr zu rechtfertigen.

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bb) Nachwirkung bei Herauswachsen aus dem Geltungsbereich eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrages Im Grundsatz herrscht Einigkeit, dass das Herauswachsen aus dem Geltungsbereich eines TVes zur Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG führt2. Indes hat der 9. Senat des BAG die Nachwirkung allgemeinverbindlicher Tarifnormen bei einer Änderung des Betriebszwecks verneint3. Es fehle an einer Beendigung im Sinne von § 4 Abs. 5 TVG. Zusätzlich stützt der Senat seine Entscheidung auf den Umstand, dass der allgemeinverbindliche TV Normen über gemeinsame Einrichtungen gemäß § 4 Abs. 2 TVG enthielt. Im Anschluss an den 3. BAG-Senat4 hielt der 9. Senat § 4 Abs. 5 TVG bei TVen über gemeinsame Einrichtungen für nicht anwendbar. Durch das Herauswachsen aus dem Geltungsbereich ende die Beitragspflicht des Arbeitgebers. Wegen des unlösbaren Branchenbezugs der gemeinsamen Einrichtung käme eine Nachwirkung außerhalb des Geltungsbereichs des TVes nicht in Betracht5. Insgesamt, d.h. unabhängig vom Vorliegen des TVes nach § 4 Abs. 2 TVG, kann gegen die Nachwirkung 1 Krit. dazu Herschel, ZfA 1976, 89 (98); Jacobs, Tarifeinheit, S. 143; Krebs, SAE 1993, 132 (138); Löwisch/Rieble, Anm. zu AP Nr. 22 zu § 4 TVG Nachwirkung. 2 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 247/96, NZA 1998, 484 ff.; Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 886 ff.; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 6. 3 BAG v. 14.6.1994 – 9 AZR 89/93, NZA 1995, 178 (180). 4 BAG v. 5.10.1993 – 3 AZR 586/92, NZA 1994, 848 (850). 5 BAG v. 5.10.1993 – 3 AZR 586/92, NZA 1994, 848 (850); BAG v. 14.6.1994 – 9 AZR 89/93, NZA 1995, 178 (180); BAG v. 9.11.1999 – 3 AZR 690/98, NZA 2000, 730 (731).

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Teil 7 Rz. 87

Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung

allgemeinverbindlicher TVe bei Herauswachsen aus dem Geltungsbereich vorgebracht werden, dass die branchenbezogenen Erwägungen des für die Tarifnormerstreckung zuständigen Ministers die AVE auch jeweils nur für die konkrete Branche rechtfertigen. Scheidet der Arbeitgeber hingegen aus der Branche aus, so tragen die die AVE rechtfertigenden Gründe nicht mehr, insbesondere hat der Minister das öffentliche Interesse für die neue Branche nicht geprüft.

VI. Vermeidung allgemeinverbindlicher Tarifverträge 87

Arbeitgeber im Geltungsbereich eines allgemeinverbindlichen TVes, die nicht bereits selbst mitgliedschaftlich tarifgebunden sind, haben regelmäßig ein großes Interesse daran, nicht dem allgemeinverbindlichen TV zu unterfallen. Im Folgenden werden Vermeidungsstrategien speziell in Bezug auf allgemeinverbindliche TVe dargestellt. Im Übrigen sei auf Teil 15 verwiesen.

1. Herauswachsen aus dem Geltungsbereich 88

Schwierig, aber erfolgversprechend ist das Herauswachsen aus dem Geltungsbereich eines allgemeinverbindlichen TVes. Wird der Betrieb (bzw. die Einheit, an die der jeweilige TV für seinen Geltungsbereich anknüpft, z.B. eine Betriebsabteilung) so umstrukturiert, dass er nicht oder nicht mehr im Anwendungsbereich des allgemeinverbindlichen TVes liegt, findet dieser auf den Betrieb keine Anwendung mehr. Bestand allerdings vor dem Herauswachsen aus dem Geltungsbereich eine Bindung an den allgemeinverbindlichen TV, so kommt es auf die umstrittene Frage der Nachwirkung allgemeinverbindlicher Tarifnormen beim Herauswachsen aus dem Geltungsbereich an (vgl. dazu oben Rz. 86).

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Das BAG geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass ein Herauswachsen aus dem Geltungsbereich möglich ist, wenn im Betrieb bzw. der Betriebsabteilung nicht mehr arbeitszeitlich überwiegend die vom TV erfassten Tätigkeiten erbracht werden. Wirtschaftliche Gesichtspunkte wie Umsatz oder Verdienst seien dagegen unerheblich1. Aus Arbeitgebersicht muss das Ziel einer Umstrukturierung also sein, entweder die Tätigkeiten in dem Betrieb bzw. den Betrieben derart aufzuteilen, dass die überwiegende Tätigkeit nicht in den Geltungsbereich der allgemeinverbindlichen TVe fällt, oder die Betriebe in einer Weise einzurichten, dass nur in möglichst wenigen Betrieben die vom allgemeinverbindlichen TV erfassten Tätigkeiten überwiegen. Dies kann auch durch eine Zusammenlegung von Betrieben gelingen, wenn dadurch eine neue Gesamtbetriebsstruktur entsteht, in der schwerpunktmäßig nicht vom Geltungsbereich erfasste Tätigkeiten erbracht werden. Die Folge einer solchen Maßnahme ist die Änderung des arbeitstechnischen Zwecks in den jeweiligen Einheiten. Allerdings muss bei der Zusammenlegung von Betrieben darauf geachtet werden, dass in dem neuen Betrieb keine selbständigen Betriebsabtei1 BAG v. 25.1.2005 – 9 AZR 258/04, AP Nr. 20 zu § 1 AEntG; BAG v. 23.2.2005 – 10 AZR 382/04, AP Nr. 270 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; ebenso HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 16; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 150; Sittard, RdA 2009, 259 (260).

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Tarifgeltung aufgrund Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG

Rz. 91 Teil 7

lungen entstehen, da viele TVe diese als Anknüpfungspunkt ausreichen lassen1.

2. Abschluss speziellerer Tarifverträge Nach der Rechtsprechung des BAG kann ein allgemeinverbindlicher TV durch einen spezielleren TV verdrängt werden. Aus Sicht des Arbeitgebers kommt daher – insbesondere in Sanierungssituationen – der Abschluss eines spezielleren HausTVes in Betracht. Aufgrund der neuen Rechtsprechung des BAG zur (nun nicht mehr aufzulösenden) Tarifpluralität im Betrieb2 verdrängt der speziellere TV aber nur für die Gewerkschaftsmitglieder den allgemeinverbindlichen TV. Für die nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer bleibt es zumindest hinsichtlich der tarifvertraglichen Individualnormen bei der Anwendbarkeit des allgemeinverbindlichen TVes. Dieses Ergebnis der neuen Rechtsprechung erschwert den Abschluss von SanierungsTVen erheblich, da ein solcher TV die Gewerkschaftsmitglieder veranlassen könnte, aus der Gewerkschaft auszutreten. Damit einher geht die Gefahr, dass die Gewerkschaften den Abschluss von SanierungsTVen häufiger verweigern könnten, obwohl dies zur Rettung und/oder Sanierung des Unternehmens erforderlich ist. In der Praxis müssen hier – mit Unterstützung des Betriebsrates – im Einzelfall praktikable Lösungen gefunden werden, um den Kompromiss eines SanierungsTVes auf eine für die gesamte Belegschaft tragfähige Basis zu stellen. Ein weiterer Ansatz zum Erhalt der Flexibilisierungsmöglichkeiten besteht in einem weiten Verständnis der Betriebsnormen nach § 3 Abs. 2 TVG. Betriebsnormen gelten für die gesamte Belegschaft eines tarifgebundenen Arbeitgebers, erfassen also auch Außenseiter3. Es existieren entsprechende Ansätze im Schrifttum, wonach Tarifnormen zur Standortsicherung unter § 3 Abs. 2 TVG zu subsumieren sind4. Auf Grundlage eines solchen Verständnisses kommt es im gesamten Betrieb zu einer – unstreitig aufzulösenden – Tarifkonkurrenz5, bei der dem SanierungsTV jedenfalls aufgrund des Spezialitätsprinzips der Vorrang zukäme.

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Ein Lösungsansatz aus Perspektive des zuständigen Ministeriums kann darin bestehen, in der AVE Einschränkungsklauseln für SanierungsTVe vorzusehen. Eine solche Einschränkungsklausel könnte die Wirkung des erstreckten TVes auf einen Betrieb oder ein Unternehmen davon abhängig machen, dass kein SanierungsTV geschlossen wurde. Hierin läge eine zulässige Beschränkung des Geltungsbereichs der Allgemeinverbindlichkeit. Die Schwierigkeit liegt hier in der präzisen Fassung der Einschränkungsklausel, die insbesondere dem Bestimmtheitsgebot genügen muss. Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG läge in einer solchen Einschränkungsklausel nicht, da ein Sanierungsfall die durch die Einschränkungsklausel entstehende Ungleichbehandlung rechtfertigen kann.

91

1 Vgl. Sittard, RdA 2009, 259 (260). 2 BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068 ff. 3 HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 52; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 712 ff. u. Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 163. Vgl. auch Wiedemann, RdA 2007, 65 (67 f.). 4 Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 743; Nielebock, FS Zusatzversorgungskasse, S. 107 (116 f.). 5 Jacobs, Tarifeinheit, S. 313.

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Teil 7 Rz. 92

Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung

3. OT-Mitgliedschaft 92

Die OT-Mitgliedschaft in einem Arbeitgeberverband „schützt“ den Arbeitgeber nach der Rechtsprechung des BAG nicht vor der Anwendung allgemeinverbindlicher TVe. Nach der (richtigen) Auffassung des BAG knüpft die OT-Mitgliedschaft an die Tarifgebundenheit und nicht – wie teilweise im Schrifttum vertreten1 – an den Geltungsbereich des TVes an2. Die fehlende Tarifbindung wird aber gerade durch § 5 Abs. 4 TVG überwunden, sodass auch OT-Mitglieder vom allgemeinverbindlichen TV erfasst werden.

4. Outsourcing 93

Auch in der Umstrukturierungspraxis übliche Gestaltungselemente wie ein Betriebsübergang nach § 613a BGB auf einen nicht tarifgebundenen Arbeitgeber führen – ebenso wie eine Umwandlung nach dem UmwG – im Anwendungsbereich eines allgemeinverbindlichen TVes nicht zum Abstreifen der Tarifbindung. Da diese beim allgemeinverbindlichen TV unabhängig von einer privatautonom begründeten Tarifbindung ist, hat ein Arbeitgeberwechsel auf die Tarifbindung keine Auswirkungen. Eine Ausgliederung einer speziellen Tätigkeit (z.B. in Form eines Betriebsteilübergangs) aus dem über § 5 Abs. 4 TVG tarifgebundenen Betrieb auf andere Rechtsträger führt nur dann zu einer Lösung vom allgemeinverbindlichen TV, wenn sie mit einem Herauswachsen des Betriebs aus dem Geltungsbereich eines allgemeinverbindlichen TVes verbunden ist3. Stellt der TV auf den Betrieb als Anknüpfungspunkt ab, so hat ein Betriebsübergang regelmäßig kein Herauswachsen aus dem Geltungsbereich zur Folge. Bei fehlerhafter Tarifbindung des Erwerbers gilt dann § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB. Wenn der TV als Anknüpfungspunkt auf das Unternehmen als Betriebsinhaber abstellt, reicht allein eine organisatorische Änderung des Betriebs nicht. Das Herauswachsen aus dem Geltungsbereich muss dann mit einer Änderung der Betriebsinhaberstellung auf ein anderes Unternehmen einhergehen, was durch einen Betriebsübergang aber gerade geschieht.

VII. Rechtsschutz in Zusammenhang mit Allgemeinverbindlicherklärungen 1. Rechtsschutz unmittelbar für/gegen die Allgemeinverbindlicherklärung 94

Der unmittelbare Rechtsschutz in Bezug auf die AVE fällt in die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte, da es sich sowohl beim Erlass der AVE als auch bei ihrer Ablehnung um einen Akt der öffentlichen Gewalt (§ 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO) durch den zuständigen Minister handelt.

1 Vgl. nur Reuter, RdA 1996, 201 (202); Thüsing/Stelljes, ZfA 2005, 527 (561 ff.). 2 BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225 ff.; a.A. noch BAG v. 23.2.2005 – 4 AZR 186/04, NZA 2005, 1320. 3 Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 251.

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Sittard

Tarifgeltung aufgrund Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG

Rz. 96 Teil 7

Wenig praktische Relevanz hat der Rechtsschutz gegen die Ablehnung einer AVE. Denkbar wäre eine Klage der antragstellenden TV-Partei gegen die Ablehnung der AVE. Da es sich nach richtiger Auffassung weder bei der AVE noch bei der Ablehnung um einen Verwaltungsakt handelt, kommt allein eine verwaltungsgerichtliche Feststellungsklage in Betracht. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht in älteren Entscheidungen Rechtsschutz in Zusammenhang mit einer AVE abgelehnt1, diese Rechtsprechung ist aber überholt. Inzwischen ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts anerkannt, dass schon allein aufgrund der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG auch eine Klage auf Normerlass in Betracht kommt2, wobei wegen des Ermessens des Normgebers regelmäßig nicht die Leistungsklage, sondern allein die Feststellungsklage die richtige Klageart darstellt. Im Schrifttum ist anerkannt, dass eine solche Klage jedenfalls von einer TV-Partei gestellt werden kann, deren Antrag auf Erlass der AVE abgelehnt worden ist3. Eine Klage eines einzelnen Arbeitnehmers oder Arbeitgebers auf Erlass einer AVE ist hingegen unzulässig, weil es an einem konkreten Rechtsverhältnis zu dem zuständigen Ministerium fehlt.

95

Praktisch wichtiger ist der Rechtsschutz gegen eine vom zuständigen Ministerium ausgesprochene AVE. Als Kläger kommen hier sowohl die durch die AVE betroffenen Koalitionen als auch alle betroffenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Betracht, da in ihren Rechtskreis unmittelbar durch die AVE eingegriffen wird. Nach aktueller Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und einzelner Instanzgerichte ist richtige Klageart auch in dieser Konstellation die allgemeine verwaltungsgerichtliche Feststellungsklage4. Ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis besteht hinsichtlich der betroffenen Arbeitsvertragsparteien und der betroffenen Koalitionen. Betroffen sind alle Arbeitsvertragsparteien, deren Arbeitsverhältnisse von der AVE erfasst werden. Das feststellungsfähige Rechtsverhältnis wird schon allein durch die angeordnete Tarifnormgeltung hergestellt, weil die AVE unmittelbar Rechte und Pflichten der Arbeitsvertragsparteien begründet und kein weiterer Vollzug der AVE mehr erforderlich ist5. Als betroffene Koalitionen kommen insbesondere solche TV-Parteien in Betracht, die einen konkurrierenden TV im Geltungsbereich des allgemeinverbindlichen TVes geschlossen haben. Aber auch die TV-Partei des allgemeinverbindlichen TVes, die die AVE nicht beantragt hat, kann mit der Feststellungsklage gegen die AVE vorgehen. Denn die AVE des eigenen TVes gegen den Willen der Koalition vermindert die Attraktivität der betroffenen Koalition, weshalb sie von der AVE ihres eigenen TVes unmittelbar betroffen ist. Zudem ist die Feststellungsklage auch nicht subsidiär. Die von der AVE betroffenen Arbeitgeber müssen sich bei einer Klage gegen die AVE nicht entgegen halten lassen, die Rechtmäßigkeit könne inzident im Streit mit den Arbeitnehmern vor den Arbeitsgerichten ge-

96

1 2 3 4

Vgl. insb. BVerwG v. 6.6.1958 – VII CB 187.57, AP Nr. 6 zu § 5 TVG. Vgl. nur BVerwG v. 4.7.2002 – 2 C 13/01, NVwZ 2002, 1505. Wiedemann/Wank, § 5 TVG Rz. 171. BVerwG v. 28.1.2010 – 8 C 19/09, NZA 2010, 718 ff. (zum AEntG); VG Düsseldorf v. 16.11.2010 – 3 K 8653/08, ZTR 2011, 87 ff. (mit Anm. Sittard, ZTR 2011, 131 ff.). 5 BVerwG v. 28.1.2010 – 8 C 19/09, NZA 2010, 718 ff. (zum AEntG); a.A. Wiedemann/ Wank, § 5 TVG Rz. 179 ff.

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Teil 7 Rz. 97

Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung

klärt werden, da effektiver Rechtsschutz über den Einzelfall hinaus auf diese Weise nicht zu erreichen wäre.

2. Inzidenter Rechtsschutz 97

Die Rechtmäßigkeit einer AVE kann aber auch inzident im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten vor den Arbeitsgerichten geklärt werden. Stützt ein Arbeitnehmer einen Anspruch auf einen TV, an den eine Tarifbindung nur über eine AVE bestehen kann (z.B. mangels Mitgliedschaft des Arbeitgebers im Arbeitgeberverband), so muss das Arbeitsgericht inzident über die Rechtmäßigkeit der AVE entscheiden. Dem Arbeitgeber ist es also unbenommen, im arbeitsgerichtlichen Verfahren die Rechtswidrigkeit der AVE zu rügen. Eine (vorherige oder parallele) unmittelbare Klage gegen die AVE vor den Verwaltungsgerichten ist nicht Voraussetzung für eine Inzidentprüfung.

VIII. Verfassungsmäßigkeit von § 5 TVG 98

Die Verfassungsmäßigkeit der AVE ist seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 19771 im positiven Sinne geklärt. Bedenken bestehen allerdings – wie oben ausgeführt (vgl. Rz. 33) – gegen die restriktive Veröffentlichungspraxis2. Aufgrund der Möglichkeit der Veröffentlichung im Internet ist es schlicht nicht mehr zu rechtfertigen, warum allgemeinverbindliche TVe nicht im Volltext allgemein zugänglich veröffentlicht werden. § 5 Abs. 7 AEntG bestimmt hingegen nur die Bekanntmachung des Akts der AVE ohne Veröffentlichung des Volltextes.

99

Die – abgesehen von den Zweifeln an der Veröffentlichungspraxis – grundsätzliche Verfassungsmäßigkeit von § 5 TVG schließt aber nicht aus, dass eine einzelne AVE bspw. wegen Verstoßes gegen Grundrechte der betroffenen Arbeitgeber (z.B. wegen eines Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip) rechtswidrig sein kann.

C. Tarifgeltung aufgrund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes I. Einführung und rechtstatsächliche Bedeutung 100

Das AEntG wurde im Jahr 1996 eingeführt. Hintergrund war ein verstärkter Einsatz ausländischer Arbeitnehmer in der Bundesrepublik. Die damalige Bundesregierung ging davon aus, dass dies zu erheblichen Arbeitsplatzverlusten für deutsche Arbeitnehmer insbesondere in der Baubranche führen würde. Ziel des am 1. März 1996 in Kraft getretenen Gesetzes3 sollte die Unterbindung des 1 BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322. 2 Kritisch schon BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (350); ebenso noch BVerfG v. 10.9.1991 (Kammer) – 1 BvR 561/89, NZA 1992, 125. 3 BGBl. I 1996, S. 227.

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Tarifgeltung aufgrund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes

Rz. 103 Teil 7

„Sozialdumpings“ im Baugewerbe sein, um die Wettbewerbssituation der Bauunternehmer zu verbessern und die im Baubereich beschäftigten Arbeitnehmer vor „Lohndumping“ zu schützen1. § 1 AEntG in der damaligen Fassung verpflichtete (erstmals) auch ausländische Arbeitgeber in der Baubranche (und der Seeschifffahrtsassistenz2), den Arbeitnehmern in den Bereichen Mindestentgelt, Mindesturlaub und Urlaubsentgelt sowie zusätzliche Urlaubsgelder gewisse Mindeststandards zu gewährleisten. Dabei knüpfte das Gesetz an bereits nach § 5 TVG für allgemeinverbindlich erklärte TVe an, die über das AEntG auch für Arbeitsverhältnisse verbindlich wurden, für die ein ausländisches Arbeitsvertragsstatut gilt. Diese Tarifnormen wurden durch das AEntG zu Eingriffsnormen im Sinne des internationalen Privatrechts (damals Art. 34 EGBGB, heute Art. 9 Rom-I-Verordnung). 1998 wurde das AEntG – jetzt unter rot-grüner Regierung – um einen neuen § 1 Abs. 3a ergänzt. Die Vorschrift beinhaltete eine Rechtsverordnungsermächtigung zugunsten des Bundesarbeitsministeriums, durch die ein TV auf bisher nicht Tarifgebundene erstreckt werden kann. Das Bundesarbeitsministerium erhielt dadurch eine neue Rechtsnormerstreckungsalternative3, die nicht mehr von der AVE nach § 5 TVG abhängig ist4. Insbesondere sollte durch diese Gesetzesänderung das Verfahren der Tarifnormerstreckung vereinfacht werden. Die Rechtsverordnung bedurfte nämlich nicht der Zustimmung des Tarifausschusses nach § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG, in dem die Arbeitgeberseite stets ein Blockaderecht hat, es genügte vielmehr ein „Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung“ einer beteiligten TV-Partei.

101

Ab dem Jahr 2007 wurde das AEntG über die Baubranche hinaus ausgedehnt. Neben dem Gebäudereinigerhandwerk5 wurde nach einer heftig geführten politischen Diskussion der Bereich der Postdienstleistungen6 in den Anwendungsbereich des Gesetzes aufgenommen7. Anschließend folgten im Rahmen der AEntG-Novelle vom 24. April 20098 darüber hinaus fünf weitere Branchen (dazu unten Rz. 107).

102

Die Gesetzesnovelle von 2009 beschränkte sich nicht auf die Erweiterung des Anwendungsbereichs, sondern strukturierte das gesamte Gesetz um. Neben einer veränderten Systematik, die den alten und völlig unübersichtlich gewordenen § 1 AEntG auf acht Paragraphen aufteilte, wurde das AEntG auch materiell geändert. So wird u.a. ausdrücklich geregelt, dass nach dem AEntG erstreckte TVe Vorrang vor konkurrierenden TVen haben (§ 8 Abs. 2 AEntG

103

1 BT-Drucks. 13/2414, S. 6 f. 2 Vgl. § 1 Abs. 2 AEntG 1996. Im Jahr 2007 wurde die Seeschifffahrtsassistenz wieder aus dem Anwendungsbereich des Gesetzes herausgenommen, vgl. BGBl. I 2007, S. 576. Im Bereich der Seeschifffahrtsassistenz sollen nur ca. 100 Arbeitsverhältnisse betroffen gewesen sein (vgl. BT-Plenarprotokoll 13/86 v. 8.2.1996, S. 7569). 3 Däubler/Lakies, § 1 AEntG Rz. 98. 4 Krit. dazu statt vieler jüngst Richardi, FS Konzen, S. 791 (802). 5 BGBl. I 2007, S. 576 ff.; vgl. dazu Sittard, ZIP 2007, 1444 ff. 6 Dazu nur Sittard, NZA 2007, 1090 ff. 7 BGBl. I 2007, S. 3140. 8 BGBl. I 2009, S. 799 ff.

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Teil 7 Rz. 104

Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung

n.F.). Ferner werden dem Arbeitsministerium für den Erlass der Rechtsverordnung Auswahlkriterien vorgegeben, wenn mehrere TVe existieren, die erstreckt werden könnten.

II. Zweck des AEntG 104

Das AEntG in seiner Fassung aus dem Jahr 2009 nennt in § 1 ausdrücklich die Ziele des Gesetzes. Danach soll das AEntG dazu dienen, – angemessene Mindestarbeitsbedingungen zu schaffen und durchzusetzen, und zwar für grenzüberschreitend entsandte als auch für regelmäßig in Deutschland beschäftigte Arbeitnehmer, – einen fairen und funktionierenden Wettbewerb zu gewährleisten, – sozialversicherungsrechtliche Beschäftigung zu erhalten und – die Ordnungs- und Befriedungsfunktion der Tarifautonomie zu wahren.

105

Dieser „Zweckkatalog“ ist durchaus kritisch zu hinterfragen: So ist zweifelhaft, ob das AEntG tatsächlich dazu dient, sozialversicherungsrechtliche Beschäftigung zu erhalten, weil Mindestlöhne immer mit der Gefahr der Arbeitsplatzreduzierung einhergehen. Ebenso ist fraglich, ob man davon sprechen kann, dass das AEntG der Tarifautonomie dient. Jede staatliche Erstreckung von TVen steht in Widerspruch zur Tarifautonomie. Die Förderung von Autonomie kann an sich nicht darin bestehen, die Arbeitsvertragsparteien zur Anwendung von Tarifnormen zu zwingen. Im Kern geht es dem AEntG trotz dieser umfangreichen gesetzgeberischen Erklärung um den Arbeitnehmerschutz. Im Unterschied zur AVE nach § 5 TVG ist Zweck – schon aus europarechtlichen Gründen – auch der Schutz ausländischer Arbeitnehmer, die nur im Rahmen einer Entsendung in der Bundesrepublik eingesetzt werden.

III. Voraussetzungen der Tarifnormerstreckung durch das AEntG 106

Das AEntG enthält Regelungen für zwei Arten von Normen: § 2 AEntG erklärt gewisse gesetzlich bzw. durch eine Verordnung geregelte Arbeitsbedingungen für international-zwingend im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Rom-I-Verordnung, sodass diese auch in Arbeitsverhältnissen mit ausländischem Vertragsstatut einzuhalten sind (bspw. die Höchstarbeits- und Mindestruhezeiten des ArbZG). Die §§ 3 bis 9 AEntG befassen sich dagegen mit der Erstreckung tarifvertraglicher Rechtsnormen. Eine Sonderstellung kommt der Pflegebranche zu (§§ 10 bis 13 AEntG), in der ohne Anknüpfung an TVe durch eine Kommission Mindestarbeitsbedingungen festgesetzt werden können. Im Folgenden werden die Voraussetzungen und Rechtsfolgen der Erstreckung von tariflichen Normen durch das AEntG dargestellt.

1. Branchenzugehörigkeit 107

Der tarifrechtliche Teil des AEntG gilt nur für die durch § 4 AEntG in den Geltungsbereich des Gesetzes einbezogenen Branchen. Dies sind derzeit 630

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Tarifgeltung aufgrund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes

Rz. 109 Teil 7

– das Bauhaupt- und Baunebengewerbe, – die Gebäudereinigung, – die Briefdienstleistungen, – die Sicherheitsdienstleistungen, – die Bergbauspezialarbeiten auf Steinkohlebergwerken, – die Wäschereidienstleistungen im Objektkundengeschäft, – die Abfallwirtschaft (einschließlich Straßenreinigung und Winterdienst) sowie – die Aus- und Weiterbildungsbranche (nach SGB II und III). Die Zugehörigkeit eines Unternehmens, Betriebs oder Betriebsteils zu einer bestimmten Branche ist für die Anwendbarkeit des AEntG daher von entscheidender Bedeutung. Auf welche Einheit es als Anknüpfungspunkt (Unternehmen, Betrieb, Betriebsteil, Betriebsabteilung) für die Branchenzugehörigkeit ankommt, regelt § 6 Abs. 2 bis 9 AEntG. Entscheidend ist danach, ob in einem Betrieb oder einer selbständigen Betriebsabteilung überwiegend branchenbezogene Tätigkeiten erbracht werden. Das vom BAG entwickelte und nun für das AEntG kodifizierte sog. Überwiegensprinzip fragt danach, ob in der entsprechenden Einheit von den dort tätigen Mitarbeitern zeitlich überwiegend Leistungen aus dem Spektrum der vom AEntG erfassten Branche erbracht werden1. Nach richtiger Auffassung kann von einem Überwiegen nur gesprochen werden, wenn mehr als die Hälfte der Arbeitszeit auf vom TV erfasste Tätigkeiten verwendet wird. Das ergibt sich schon aus der grammatikalischen Auslegung des Begriffs2. Liegt ein solches Überwiegen vor, so wird die gesamte Einheit (Betrieb oder Betriebsabteilung) und nicht nur die Bereiche, in denen die überwiegende Tätigkeit erbracht wird, vom erstreckten TV erfasst. Bezugspunkt soll dabei grundsätzlich das Kalenderjahr sein3. Das ändert aber nichts daran, dass ein Unternehmen/Betrieb etc. durch Änderung des arbeitstechnischen Zwecks sofort aus dem Anwendungsbereich des AEntG herauswachsen kann. Die Jahresbetrachtung bietet insoweit nur einen Anhaltspunkt, damit sich der Schwerpunkt der Tätigkeit nicht z.B. durch kurzfristige Auftragseinbrüche oder- zunahmen verschiebt, obwohl es sich dabei nur um einen Kurzzeiteffekt handelt.

108

Der Sinn des Anknüpfens an kleinere Einheiten, wie die Betriebsabteilung, liegt darin, den Anwendungsbereich des AEntG zu vergrößern. Denn bei Mischbetrieben genügt dann für die Geltung des AEntG (in der jeweiligen Abteilung) schon das Überwiegen in einer selbstständigen Betriebsabteilung. Allerdings setzt die Selbstständigkeit eine gewisse Eigenorganisation voraus, die eine bloß spezialisierte Arbeitsgruppe nicht erfüllt4. Werden ausländische Arbeitnehmer in Deutschland durch eine Niederlassung eines ausländischen Un-

109

1 Vgl. nur BAG v. 24.8.1994 – 10 AZR 980/93, NZA 1995, 1116 (1117). 2 A.A. Thüsing/Braun/Braun, 6. Kap. Rz. 137. 3 BAG v. 25.1.2005 – 9 AZR 146/04, AP Nr. 21 zu § 1 AEntG; HWK/Tillmanns, § 6 AEntG Rz. 3. 4 HWK/Tillmanns, § 6 AEntG Rz. 3.

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Teil 7 Rz. 110

Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung

ternehmens koordiniert eingesetzt, so erfüllt dies regelmäßig die Anforderungen an eine selbstständige Abteilung1. 110

Auffällig ist, dass nur bei § 6 Abs. 2 AEntG für die Baubranche davon die Rede ist, dass Anknüpfungspunkt der Betrieb oder die selbstständige Betriebsabteilung im Sinne des fachlichen Geltungsbereichs des TVes sind. Für die anderen Branchen fehlt eine solche Einschränkung. Man muss davon ausgehen, dass es sich dabei um eine bewusste Differenzierung des Gesetzesgebers handelt. Virulent wird diese Frage, wenn der vom AEntG erstreckte TV in seinem Geltungsbereich nur auf den Betrieb und eben nicht auf eine Betriebsabteilung abstellt. Nach den allgemeinen Prinzipien der Tarifnormerstreckung kann eine solche aber nie weiter gehen als der jeweilige TV2. Daher sprechen gute Argumente dafür, dass in einer Situation, in der der TV nur auf die Betriebsabteilung abstellt, diese Anordnung des TVes gilt und es allein bei dem tariflichen Anknüpfungspunkt bleibt. Überwiegt dann nur in einer Betriebsabteilung die vom AEntG erfasste Tätigkeit, so ist der TV dennoch nicht über das AEntG anwendbar.

111

Dass ein Betrieb/eine Betriebsabteilung zu einer bestimmten Branche gehört, muss ein bspw. auf die Gewährung der Mindestarbeitsbedingung klagender Arbeitnehmer darlegen und beweisen. Allerdings dürfen insoweit an den prozessualen Vortrag keine zu hohen Anforderungen gestellt werden. Da allein dem Arbeitgeber das erforderliche Zahlenmaterial zur Verfügung steht, muss er auf einen substantiierten Vortrag des Arbeitnehmers3 im Wege einer abgestuften Darlegungs- und Beweislast darlegen, dass die vom AEntG erfassten Tätigkeiten im Betrieb/der Betriebsabteilung nicht überwiegen.

112

§ 6 Abs. 1 AEntG enthält eine Beschränkung des Anwendungsbereichs des AEntG, wonach die erstreckten TVe außerhalb der Baubranche (vgl. § 6 Abs. 1 Satz 2 AEntG) nicht auf kurzfristige Erstmontage- und Einbauarbeiten im Rahmen von Lieferverträgen anwendbar sind, wenn die Montagezeit acht Tage nicht übersteigt. Tarifnormen über die Inhalte nach § 2 Nr. 3 bis 7 AEntG werden von der Ausnahme aber nicht erfasst, diese bezieht sich mithin nur auf Mindestlohn- und Urlaubsbestimmungen (§ 6 Abs. 1 Satz 2 AEntG). Hintergrund der Vorschrift wäre eine zu starke Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit, wenn schon der kurze Einsatz zur Montage etc. von den Mindestlohnbestimmungen des Arbeitsortes bestimmt würde. Da in den derzeit vom AEntG erfassten Branchen (außerhalb der Baubranche) Montagearbeiten kaum anfallen dürften, hat die auf die Entsenderichtlinie 96/71/EG (dort Art. 3 Abs. 2) zurückgehende Regelung faktisch kaum einen Anwendungsbereich.

2. Erfasste Arbeitsbedingungen 113

Anders als bei der AVE nach § 5 TVG kann die Tarifnormerstreckung des AEntG nur für einzelne gesetzlich festgelegte Mindestarbeitsbedingungen greifen. Dabei handelt es sich gemäß § 5 (i.V.m. § 2 Nr. 3 bis 7 AEntG) AEntG um 1 BAG v. 28.9.2005 – 10 AZR 28/05, NZA 2006, 379. 2 Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 12 ff. 3 Die reine Behauptung dürfte hingegen nicht ausreichen, a.A. aber HWK/Tillmanns, § 6 AEntG Rz. 3.

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Tarifgeltung aufgrund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes

Rz. 116 Teil 7

– Mindestentgeltsätze (mit Differenzierungen nach der Tätigkeit und Qualifikation sowie der Region) einschließlich der Überstundensätze, – Regelungen zur Dauer des Erholungsurlaubs, des Urlaubsentgelts oder eines zusätzlichen Urlaubsgelds und – Beiträge und die Gewährung von Leistungen im Zusammenhang mit Urlaubsansprüchen durch eine gemeinsame Einrichtung der TV-Parteien. Erfolgt die Tarifnormerstreckung des AEntG nicht über eine Rechtsverordnung, sondern knüpft sie an eine bestehende AVE nach § 5 TVG an, so können gemäß § 5 Nr. 4 AEntG auch noch folgende Regelungsgegenstände erfasst werden:

114

– Höchstarbeitszeiten und Mindestruhezeiten, – Bedingungen für die Überlassung von Arbeitskräften, insbesondere durch Leiharbeitsunternehmen, – Sicherheit, den Gesundheitsschutz und die Hygiene am Arbeitsplatz, – Schutzmaßnahmen im Zusammenhang mit den Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Schwangeren und Wöchnerinnen, Kindern und Jugendlichen und – Gleichbehandlung von Männern und Frauen sowie andere Nichtdiskriminierungsbestimmungen. Dass für diese Arbeitsbedingungen die Rechtsverordnungsermächtigung nicht greift, ergibt sich aus § 7 Abs. 1 Satz 3 AEntG.

a) Mindestentgeltsätze Praxisrelevant sind dabei insbesondere die Mindestentgeltsätze (§ 5 Nr. 1 AEntG), denn in allen vom AEntG erfassten Branchen gelten derzeit1 erstreckte TVe zum Mindestlohn.

115

Hinsichtlich der Mindestentgeltsätze stellt sich die Frage, ob in einem vom AEntG erfassten TV nur ein einheitlicher Mindestentgeltsatz festgelegt werden darf oder ob auch ein sog. Tarifgitter möglich ist. Unter einem Tarifgitter versteht man ein System verschiedener Entgeltgruppen, in die eine Eingruppierung erfolgen muss. Das Gesetz lässt Differenzierungen nach Art der Tätigkeit, Qualifikation und Region ausdrücklich zu. Nach der Gesetzesbegründung ist die Erstreckung eines gesamten Lohngitters unzulässig2 – im Wortlaut der Norm schlägt sich dies aber nur ansatzweise darin nieder, dass von Mindestentgeltsätzen die Rede ist. Nach der Gesetzesbegründung soll in Bezug auf die ausgeübte Tätigkeit z.B. eine Differenzierung nach gelernt/ungelernt zulässig sein. In der Praxis enthalten die AEntG-Rechtsverordnungen des BMAS teilweise zwei unterschiedliche Mindestlöhne. So differenziert z.B. die 8. AEntGRechtsverordnung zum Baugewerbe zwischen einfachen Bau- und Monatagearbeiten, für die der „Mindestlohn 1“ gilt (derzeit 11,05 Euro) und „fachlichen

116

1 Stand: Verzeichnis allgemeinverbindlicher Tarifverträge des BMAS v. 1.7.2012 (abrufbar auf bmas.de). 2 BT-Drucks. 16/10486, S. 12.

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Teil 7 Rz. 117

Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung

begrenzten Arbeiten“, für die der „Mindestlohn 2“ mit immerhin 13,40 Euro gilt1. Unabhängig vom gesetzgeberischen Willen begrenzen jedenfalls Art. 12 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 3 GG die Gestaltungsfreiheit des Verordnungsgebers. Würden gesamte Tarifgitter vom AEntG erstreckt, so bestünde keinerlei Regelungsspielraum mehr für die Tarif- sowie die Arbeitsvertragsparteien. Das stellt nach richtiger Ansicht einen unverhältnismäßigen Grundrechtseingriff dar. Zudem dürfte eine solch weitgehende Regelung auch nicht mehr von der Entsenderichtlinie 96/71/EG gedeckt sein, die nur einen „harten Kern“ von Mindestarbeitsbedingungen (vgl. Erwägungsgrund 14) schützen will und damit auf unterste Lohngruppen abzielt. Damit bestehen bereits gegen die Differenzierung „gelernt/ungelernt“ europarechtliche Bedenken, da die Entsenderichtlinie hierfür keinen Anhaltspunkt liefert. Eine darüber hinausgehende Differenzierung dürfte aber in jedem Fall unzulässig sein.

b) Urlaubskassen 117

§ 5 Nr. 3 AEntG zielt auf das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe ab (vgl. TV über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe). In Anlehnung an die EuGH-Rechtsprechung2 wird das sog. Doppelbelastungsverbot normiert, wonach Leistungen ausländischer Arbeitgeber mit gleicher Zwecksetzung im Heimatland durch Ausnahmen oder Anrechnungen berücksichtigt werden müssen3. Hierzu sind mit verschiedenen Staaten (z.B. Belgien, Frankreich, Niederlande, Dänemark und Österreich) Rahmenvereinbarungen zur Verfahrensvereinfachung geschlossen worden4.

3. Staatlicher Tarifnormerstreckungsakt 118

Wie auch die AVE nach § 5 TVG bedarf die Tarifnormerstreckung des AEntG eines staatlichen Aktes. § 3 AEntG lässt hierbei zwei Alternativen zu: – Entweder liegt eine AVE nach § 5 TVG (§ 3 Satz 1 Alt. 1 AEntG) vor oder – ein TV wird per Rechtsverordnung nach § 7 AEntG (§ 3 Satz 1 Alt. 2 AEntG) erstreckt.

a) Erstreckung kraft Allgemeinverbindlicherklärung (§ 3 Satz 1 Alt. 1 AEntG) 119

Ist ein TV in den in § 4 AEntG genannten Branchen gemäß § 5 TVG für allgemeinverbindlich erklärt, dann entfaltet er automatisch die in § 8 AEntG genannten besonderen Rechtsfolgen des AEntG, wenn und soweit er Arbeitsbedingungen im Sinne von § 5 AEntG zum Gegenstand hat (§ 3 Satz 1 Alt. 1 AEntG). Die Allgemeinverbindlicherklärung wird dann durch § 3 Satz 1 Alt. 1 i.V.m. §§ 8 ff. AEntG von den Rechtsfolgen her verstärkt. 1 Stand 1.7.2011 für den Geltungsbereich West und Berlin. 2 EuGH v. 28.3.1996 – Rs. C-272/94, AP Nr. 2 zu Art. 59 EWG-Vertrag – Guiot; EuGH v. 23.11.1999 – Rs. C-369/96, AP Nr. 1 zu Art. 59 EG-Vertrag – Arblade. 3 Vgl. dazu näher ErfK/Schlachter, § 6 AEntG Rz. 6. 4 Ausführlich Preis/Temming, Die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse im Kontext des Gemeinschaftsrechts, 2006, S. 25 ff.

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Sittard

Tarifgeltung aufgrund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes

Rz. 124 Teil 7

Voraussetzung ist, dass ein wirksam für allgemeinverbindlich erklärter TV gegeben ist. Dies setzt voraus, dass die formellen und materiellen Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 TVG gegeben sind. Insoweit kann auf die Ausführungen zur AVE Bezug genommen werden (vgl. oben Rz. 19 ff.). Darüber hinaus muss es sich im Grundsatz um einen bundesweit geltenden TV handeln (vgl. § 3 Satz 1 AEntG). Dieses Erfordernis besteht indes nicht bei TVen über Urlaubsregelungen und gemeinsame Einrichtungen nach § 5 Nr. 2 und 3 AEntG, wenn die regionalen TVe zusammen das gesamte Bundesgebiet erfassen und sämtlich erstreckt werden (vgl. § 3 Satz 2 AEntG). Auch hier muss also sichergestellt sein, dass letztlich eine bundesweite Regelung besteht, die aber regional unterschiedlich sein darf.

120

b) Erstreckung kraft Rechtsverordnung (§ 3 Satz 1 Alt. 2, § 7 AEntG) Alternativ kommt statt der Anknüpfung an die AVE eine Tarifnormerstreckung durch Rechtsverordnung nach § 7 Abs. 1 AEntG in Betracht. Wegen der geringeren Voraussetzungen erfolgt die Tarifnormerstreckung des AEntG in der Praxis regelmäßig über eine Rechtsverordnung. Die Rechtsverordnung ist dabei von einer AVE gemäß § 5 TVG unabhängig.

121

aa) Dogmatische Einordnung Anders als die AVE ergeht gemäß § 7 Abs. 1 AEntG als staatlicher Akt kein Rechtsakt sui generis, sondern eine Rechtsverordnung im Sinne von Art. 80 Abs. 1 GG.

122

Bei der klassischen AVE sowie § 3 Satz 1 Alt. 1 AEntG ist unstreitig, dass aufgrund der Tarifnormerstreckung der (erstreckte) TV zwischen den bislang nicht Tarifgebundenen zur Anwendung gelangt. Zwar wird die Tarifgeltung staatlich legitimiert, es gilt aber der TV selbst in Form einer Tarifbindung kraft staatlichen Rechts. Anders wird dies für die Rechtsverordnung nach § 3 Satz 1 Alt. 2, § 7 AEntG gesehen. Das BAG geht hier im Einklang mit Teilen der Literatur1 davon aus, dass die Rechtsnormen des von der Verordnung erfassten TVes nicht selbst als Tarifnormen gelten, sondern unmittelbar zu staatlichem Recht werden2 und damit – jedenfalls im Verhältnis zu den bisher nicht Tarifgebundenen – ihren Charakter als Tarifnormen verlieren. Dem BAG nach finden die Regelungen der Rechtsverordnung und nicht etwa die Tarifnormen selbst auf die bislang nicht tarifgebundenen Arbeitsverhältnisse Anwendung. Damit sieht das BAG in § 3 Satz 1 Alt. 2, § 7 AEntG gar keine „Tarifnormerstreckung“ kraft staatlichen Rechts, sondern eine „Tarifnormtransformation“ in staatliches Recht3.

123

Überzeugender ist jedoch der Ansatz, auch in der Rechtsverordnungsvariante des AEntG eine Tarifnormerstreckung zu sehen, sodass es der TV selbst bleibt, der für die bisher nicht Tarifgebundenen verbindlich wird. Dies zeigt sich u.a.

124

1 Thüsing/Bayreuther, § 8 AEntG Rz. 19. 2 BAG v. 20.4.2011 – 4 AZR 467/09, NZA 2011, 1105; krit. dazu Sittard, NZA 2012, 299 ff. 3 Vgl. Sittard, NZA 2012, 299 (301).

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Teil 7 Rz. 125

Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung

am Wortlaut des § 7 Abs. 1 Satz 1 AEntG, wonach es – wie bei § 5 TVG – die Rechtsnormen des TVes sind, die auf alle unter den Geltungsbereich fallenden und nicht tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Anwendung finden. Hierfür spricht auch, dass die Tarifnormen in der Praxis des BMAS nur in einen Anhang zur Rechtsverordnung aufgenommen werden und nicht unmittelbar Bestandteil der Verordnung sind. Zudem sollte die Rechtsverordnungsermächtigung nach dem Willen des Gesetzgebers nur die Wirkungen des § 1 Abs. 1 AEntG a.F. auf vereinfachtem Wege erreichen und diente in erster Linie dazu, den Einfluss des Tarifausschusses (vgl. § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG) zu schmälern, der aufgrund der Blockade der Arbeitgeberverbände in den ersten Jahren seit Inkrafttreten des AEntG die Erstreckung von TVen verhinderte1. Eine Abkehr vom bis dahin etablierten System der Tarifnormerstreckung war durch die Einführung der Rechtsverordnungsvariante nicht beabsichtigt. Allein die Wahl eines anderen Verfahrens lässt nicht den Schluss zu, dass der Gesetzgeber eine gänzlich neue Basis für die Anwendung von TVen auf Außenseiter schaffen wollte. Eine Bestätigung dieses Verständnisses enthält § 8 Abs. 2 AEntG. Dort findet sich die Formulierung, dass ein TV, „durch … Rechtsverordnung … erstreckt wird“. Zudem heißt es in der gleichen Norm, dass der Arbeitgeber zur Einhaltung des TVes (und nicht der Rechtsverordnung!) verpflichtet ist2. Es handelt sich somit bei der Rechtsverordnung richtigerweise um einen Akt der Tarifnormerstreckung, der an die Stelle des Aktes der AVE nach § 5 TVG tritt. Es bleiben aber die Tarifnormen selbst, denen durch den Erstreckungsakt zu besonderen Rechtswirkungen verholfen wird3.

bb) Voraussetzungen für den Erlass der Rechtsverordnung 125

Das AEntG stellt in den §§ 3 und 7 AEntG an den Erlass einer solchen Rechtsverordnung verschiedene formelle wie materielle Voraussetzungen:

(1) Gemeinsamer Antrag 126

Anders als bei der AVE, wo ein Antrag einer TV-Partei genügt, bedarf es für eine Rechtsverordnung gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 AEntG eines gemeinsamen Antrags der Parteien des zu erstreckenden TVes. Im Regelfall müssen also Arbeitgeberverband (im theoretischen Ausnahmefall des FirmenTVes der einzelne Arbeitgeber) und Gewerkschaft einen gemeinsamen Antrag stellen, wobei es nach Sinn und Zweck nicht darauf ankommt, dass dieser Antrag auf einem „gemeinsamen“ Dokument eingereicht oder zwei Anträge eingereicht werden. Handelt es sich um einen mehrgliedrigen TV, so ist ein Antrag aller TV-Parteien erforderlich, denn § 7 Abs. 1 Satz 1 AEntG will verhindern, dass ein TV gegen den Willen einer TV-Partei erstreckt wird. Der Gesetzgeber hat bei der Reform des AEntG im Jahr 2009 bewusst einen gemeinsamen Antrag zur Voraussetzung gemacht, sodass dieses Kriterium streng zu handhaben ist4. 1 2 3 4

BT-Drucks. 14/45, S. 25 f. Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 30. Sittard, NZA 2012, 299 (301 f.). BR-Drucks. 542/08.

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Tarifgeltung aufgrund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes

Rz. 129 Teil 7

Nach dem Wortlaut ist ein „Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung“ notwendig, obwohl in den vom AEntG erfassten Branchen regelmäßig gar keine AVE, sondern eben eine Rechtsverordnung nach § 7 AEntG angestrebt wird. Aus dieser inkonsequenten Gesetzesfassung folgt aber, dass dem Ministerium die Kompetenz zusteht, darüber zu entscheiden, ob es die Tarifnormerstreckung im Wege der AVE oder über eine Rechtsverordnung herbeiführen will.

127

(2) Beteiligungsverfahren Das Verfahren zur Beteiligung möglicherweise von der Tarifnormerstreckung Betroffener (in den Geltungsbereich der Rechtsverordnung fallende Arbeitgeber, die TV-Parteien sowie etwaige konkurrierende Koalitionen) richtet sich nach § 7 Abs. 4 AEntG. Die Vorschrift ist zwingend. Dabei ist darauf zu achten, dass eine Veränderung des TVes nach Durchführung des Beteiligungsverfahrens (aber vor Rechtsverordnungserlass) zur Folge hat, dass das Verfahren neu eingeleitet werden muss, wenn der geänderte TV erstreckt werden soll. Wird dies nicht beachtet, ist die Rechtsverordnung rechtswidrig1.

128

(3) Beteiligung des Tarifausschusses Bei der Novellierung des AEntG im Jahr 2009 wurde erstmals eine Beteiligung des Tarifausschusses nach § 5 Abs. 1 TVG (vgl. dazu oben Rz. 25 ff.) im Tarifnormerstreckungsverfahren qua AEntG-Rechtsverordnung vorgesehen. Danach muss bei einem erstmaligen Antrag in einer Branche auf Erstreckung durch Rechtsverordnung zunächst der Tarifausschuss beteiligt werden (§ 7 Abs. 5 AEntG). Dies dient nach der Begründung zum Regierungsentwurf dazu, gesamtwirtschaftliche Erwägungen in den Entscheidungsprozess einfließen zu lassen2. Allerdings ist die Stellung des Tarifausschusses im AEntG gegenüber § 5 TVG aus zwei Gründen geschwächt. Zum einen wurde das Mehrheitserfordernis abgeschwächt. Stimmen zwei Drittel der Mitglieder des Tarifausschusses der Rechtsverordnung zu oder gibt der Ausschuss innerhalb von drei Monaten keine Stellungnahme ab, so kann die Tarifnormerstreckung durch eine Verordnung des Bundesarbeitsministeriums erfolgen. Für eine Verordnung der Bundesregierung genügt hingegen die Zustimmung eines Drittels der Mitglieder des Tarifausschusses. Das aus je drei Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern bestehende Gremium muss also – anders als bei § 5 TVG, wo eine Mehrheit der Stimmen erforderlich ist – keinen Konsens erzielen. Zum anderen ist der Tarifausschuss nicht bei jeder Tarifnormerstreckung zu beteiligen, sondern nur, wenn erstmalig ein Antrag auf Tarifnormerstreckung für eine Branche gestellt wird. Faktisch spielt der Tarifausschuss damit bislang nur bei den im Rahmen der AEntG-Novelle im Jahr 2009 neu in das Gesetz aufgenommenen Branchen eine Rolle (Branchen des § 4 Nr. 4 bis 8 AEntG). Der Wortlaut des Gesetzes macht dabei die Beteiligung nicht davon abhängig, ob der erstmalige Antrag erfolgreich war. Nach Sinn und Zweck ist dies aber zu verlangen. Kam eine Tarifnormerstreckung nach einer erfolgten Beteiligung des Tarifausschus1 BVerwG v. 28.1.2010 – 8 C 19/09, NZA 2010, 718 (724 f.). 2 BR-Drucks. 542/08, S. 18.

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Teil 7 Rz. 130

Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung

ses nicht zustande und wird später erneut ein Antrag gestellt, so muss auch der Tarifausschuss erneut beteiligt werden. Die vom Gesetz bezweckte Berücksichtigung gesamtwirtschaftlicher Erwägungen kann allenfalls dann weniger wichtig sein, wenn bereits eine Tarifnormerstreckung nach dem AEntG erfolgt ist und anhand der praktischen Erfahrungen beurteilt werden kann, wie sich dies gesamtwirtschaftlich ausgewirkt hat.

(4) Regelungsgegenstände und Geltungsbereich 130

Qua Rechtsverordnung erstreckungsfähig sind nur die in § 5 Nr. 1 bis 3 AEntG genannten Regelungsgegenstände, d.h. Mindestentgelte (Nr. 1), Urlaubs- und Urlaubsentgelt- sowie Urlaubsgeldregelungen (Nr. 2) und Beiträge zu Urlaubskassen (gemeinsame Einrichtungen), wenn und soweit das sog. Doppelbelastungsverbot eingehalten ist (Nr. 3). Entgegen einer teilweise vertretenen Ansicht1 hat diese Beschränkung aber nicht zur Folge, dass in dem zu erstreckenden TV allein diese Arbeitsbedingungen geregelt werden dürfen. Vielmehr beziehen sich die Rechtsfolgen des AEntG nur auf diese2. Es ist aber unschädlich, wenn in dem TV noch andere Arbeitsbedingungen geregelt sind.

131

Auch für die Erstreckung durch Rechtsverordnung bedarf es gemäß § 3 Satz 1 AEntG eines bundesweit geltenden TVes, wobei § 3 Satz 2 AEntG Ausnahmen für TVe bezüglich der Beitragspflicht zu Urlaubskassen sowie für Urlaubsregelungen vorsieht (§ 3 Satz 2 AEntG). Diese Ausnahme verfolgt insbesondere den Zweck, das Urlaubskassenverfahren der Baubranche einzubeziehen. Allerdings müssen dann die regionalen TVe zusammen das gesamte Bundesgebiet erfassen und müssen sämtlich erstreckt werden, sodass auch faktisch eine Gesamtregelung für die Bundesrepublik ohne „weiße Flecken“ gilt.

(5) Öffentliches Interesse 132

§ 7 Abs. 1 Satz 2 AEntG ordnet an, dass § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 TVG entsprechend Anwendung findet. Damit wird das Tatbestandsmerkmal des öffentlichen Interesses in Bezug genommen. Daraus folgt, dass – wie bei § 5 TVG – eine Erstreckung des TVes nur in Betracht kommt, wenn das Interesse an der Tarifnormerstreckung (insbesondere der mit ihr verbundene Arbeitnehmerschutz) die Nachteile (insbesondere den Eingriff in die Rechte der Arbeitgeber) überwiegt. Letztlich lassen sich die oben bereits zum Merkmal des öffentlichen Interesses herausgearbeiteten Prüfungsschritte (siehe Rz. 55 ff.) auf § 7 AEntG übertragen. Wegen der stärkeren Wirkung des AEntG insbesondere auf länderübergreifende Sachverhalte (und den damit verbundenen Eingriff in die europäische Dienstleistungsfreiheit) sowie auf der Ebene der Tarifkonkurrenz muss im Rahmen der erforderlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung ein noch strengerer Maßstab herangezogen werden. So kommt richtigerweise eine Erstreckung über das Entsendegesetz im Regelfall nicht in Betracht, wenn es keinen Bedarf 1 Thüsing/Bayreuther, § 7 AEntG Rz. 3. 2 Vgl. ausführlich Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 342 f.

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Tarifgeltung aufgrund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes

Rz. 136 Teil 7

an der besonderen Wirkung des AEntG gibt, weil bspw. die betroffene Branche faktisch kaum von der Entsendung ausländischer Arbeitnehmer in die Bundesrepublik betroffen ist. Eine Ausweitung des AEntG auf Branchen ohne eine erhebliche Zahl von Entsendesachverhalten wäre daher bedenklich, weil dann ohne Not nur noch der rechtsfolgenintensivere Akt des AEntG zur Verfügung stünde, denn bei Einbeziehung einer Branche in das AEntG erhalten die AVE-TVe automatisch die Wirkung des AEntG (vgl. § 3 Satz 1 Alt. 1 AEntG). Da § 7 Abs. 1 Satz 2 AEntG ausdrücklich nur das öffentliche Interesse aus § 6 Abs. 1 TVG, nicht aber das Quorum des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG in Bezug nimmt, ist klar normiert, dass dieses keine Voraussetzung für eine Rechtsverordnung nach § 7 AEntG sein soll. Dies überzeugt zwar rechtspolitisch kaum, ist aber als gesetzgeberische Entscheidung zu respektieren, wenn man die Tarifnormerstreckung des AEntG ohne ein solches Quorum nicht wegen der Gefahr der Majorisierung von anders oder nicht tarifgebundenen Arbeitgebern für verfassungswidrig hält (vgl. dazu unten Rz. 136).

133

(6) Auswahlentscheidung bei sich überschneidendem Geltungsbereich § 7 Abs. 2 und 3 AEntG enthalten Regelungen für den Fall, dass mehr als ein TV zur Erstreckung durch das AEntG in Frage kommt. Dann muss das zuständige Ministerium eine Auswahlentscheidung treffen. Für die AVE gemäß § 5 TVG ist eine solche Auswahlentscheidung meist (wegen teilweise überlappender Geltungsbereiche nicht immer) entbehrlich, weil das 50 %-Quorum des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG entscheidet, welcher TV erstreckungsfähig ist.

134

(a) Sich überschneidender Geltungsbereich von Tarifverträgen § 7 Abs. 2 Satz 1 AEntG regelt den Fall, dass ein TV über das AEntG erstreckt werden soll und sich dessen Geltungsbereich zumindest teilweise mit anderen TVen überschneidet. Die Norm ordnet an, dass das zuständige Ministerium neben den Gesetzeszwecken des § 1 AEntG (Gewährung von Mindestarbeitsbedingungen, Gewährleistung eines fairen und funktionierenden Wettbewerbs, Erhalt von sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung und Wahrung der Tarifautonomie) auch die Repräsentativität des zu erstreckenden TVes berücksichtigen muss. Diesbezüglich ist vorrangig auf die Zahl der von den jeweils tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigten, unter den Geltungsbereich fallenden Arbeitnehmer sowie die Zahl der jeweils unter den Geltungsbereich fallenden Mitglieder der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft abzustellen (§ 7 Abs. 2 Satz 2 AEntG).

135

Nach dem Gesetzeswortlaut ist die Repräsentativität allerdings nur „ergänzend“ heranzuziehen. Daraus folgt, dass der Gesetzgeber es grundsätzlich für denkbar hält, dass unter Umständen auch ein weniger repräsentativer TV erstreckt werden kann1. Hiergegen sprechen indes verfassungsrechtliche Erwä-

136

1 Hierfür auch Wank, FS Buchner, S. 898 (903).

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Teil 7 Rz. 137

Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung

gungen: Bei einer nur ergänzenden Heranziehung der Repräsentativität wäre es wegen der Verdrängungswirkung des AEntG möglich, dass eine Minderheit einer anderweitig tarifgebundenen Mehrheit ihren TV aufzwingt. Dies ist weder mit der negativen Koalitionsfreiheit der anders Tarifgebundenen noch mit der kollektiven Koalitionsfreiheit der konkurrierenden Koalitionen vereinbar1. Die Repräsentativität des TVes und die sich aus ihr ergebende höhere Richtigkeitsgewähr verringern den Rechtfertigungsdruck des Grundrechtseingriffs. Fehlt dem TV die Repräsentativität, kann die Verdrängung der anderen TVe verfassungsrechtlich kaum gerechtfertigt werden. § 7 Abs. 2 AEntG sollte daher so ausgelegt werden, dass bei einer Geltungsbereichsüberschneidung immer nur der repräsentativere Tarif erstreckt werden kann2. Ist der repräsentative TV aus anderen Gründen nicht erstreckungsfähig (z.B. weil für diesen TV kein Antrag auf Erstreckung gestellt ist), scheidet eine Tarifnormerstreckung insgesamt aus. Dieses Ergebnis ist auch deshalb sinnvoll, weil die in § 7 Abs. 2 AEntG vorgesehene Abwägung des Merkmals der Repräsentativität mit den Gesetzeszielen kaum möglich ist. Eine Abwägung von zu erreichenden Zielen mit einer Erlassvoraussetzung lässt sich nicht strukturiert durchführen. Thüsing spricht insoweit zu Recht von einer Vermengung inkommensurabler Größen3. Der Vorschrift ist – wie auch § 7 Abs. 3 AEntG – ihr politischer Kompromisscharakter aus der Zeit der großen Koalition der 16. Legislaturperiode anzumerken, der allerdings auf Kosten der juristischen Klarheit und Subsumierbarkeit geht. 137

Zur Ermittlung der nach § 7 Abs. 2 AEntG erforderlichen Repräsentativität ist richtigerweise auf die höchste mitgliedschaftliche Legitimation abzustellen. Repräsentativ ist daher im Grundsatz der TV, an den die meisten Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemäß § 3 TVG gebunden sind. § 7 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AEntG stellt dabei auf die Repräsentativität bei den Arbeitgebern ab und ähnelt – nur ohne festes Quorum – § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG, wohingegen § 7 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AEntG darüber hinaus zur Prüfung zwingt, ob die Gewerkschaft des zu erstreckenden TVes repräsentativ ist. Beide Kriterien sind geltungsbereichsgebunden, sodass nicht abstrakt die Stärke der Verbände ermittelt wird, sondern konkret zu prüfen ist, welcher Verband im Geltungsbereich repräsentativer ist. Weisen beide Kriterien des § 7 Abs. 2 Satz 2 AEntG auf verschiedene TVe, kommt dem Verordnungsgeber ein Auswahlermessen zu. In der Regel dürfte dann aber der TV zu erstrecken sein, an den insgesamt mehr Arbeitsverhältnisse mitgliedschaftlich tarifgebunden sind.

138

Die begrüßenswerte Anordnung des § 7 Abs. 2 AEntG wird dadurch „verwässert“, dass die Kriterien zur Ermittlung der Repräsentativität nach § 7 Abs. 2 Satz 2 AEntG nur „vorrangig“ heranzuziehen sind. Wenn es in der Begründung zum Regierungsentwurf heißt, dass auch eine „größere Repräsentantengruppe weniger repräsentativ sein kann“4, dann wird das Merkmal der Repräsentativität ausgehöhlt. Will man system- und verfassungskonforme Ergebnisse erzie-

1 2 3 4

Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 431 f. Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 431 f.; Sittard, NZA 2009, 346 (348). Thüsing, ZfA 2008, 590 (633 f.) BR-Drucks. 542/08, S. 16.

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Tarifgeltung aufgrund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes

Rz. 141 Teil 7

len, sollte die Ermittlung der Repräsentativität deshalb nur anhand der Kriterien des § 7 Abs. 2 Satz 2 AEntG erfolgen1.

(b) Kollision mehrerer Anträge § 7 Abs. 3 AEntG bezieht sich auf die Situation, in der mehrere (kollidierende) Anträge auf Tarifnormerstreckung gestellt wurden und somit das Prinzip „nur einer kann gewinnen“ gilt. Die Vorschrift kann nur als misslungen bezeichnet werden: Zum einen ist der Wortlaut uneindeutig. Die Vorschrift ergibt nur Sinn, wenn sich die Geltungsbereiche der TVe, für die Anträge gestellt wurden, zumindest teilweise überschneiden. Eine entsprechende Einschränkung fehlt – anders als in Abs. 2 – in § 7 Abs. 3 AEntG. Zum anderen ist die Rechtsfolgenanordnung wenig sinnvoll: Nach Abs. 3 hat „der Verordnungsgeber mit besonderer Sorgfalt die von der Auswahlentscheidung betroffenen Güter von Verfassungsrang abzuwägen und die widerstreitenden Grundrechtsinteressen zu einem schonenden Ausgleich zu bringen“. Die Vorschrift ordnet Selbstverständliches an, da eine sorgfältige Gesamtabwägung im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsprinzips immer erforderlich ist. Darüber hinaus bringt sie aber kaum Nutzen, weil ein schonender Ausgleich bei einer Entscheidung über eine Tarifnormerstreckung kaum möglich ist, denn der Verordnungsgeber kann sich regelmäßig nur für einen der TVe entscheiden. Ein schonender Ausgleich könnte allenfalls durch Einschränkungsklauseln erfolgen, sodass Tarifkonkurrenzen durch die Tarifnormerstreckung vermieden werden.

139

Letztlich entscheidend für die Frage, welcher von zwei konkurrierenden TVen zu erstrecken ist, muss daher wohl § 7 Abs. 2 AEntG sein, womit richtigerweise die Repräsentativität entscheidend sein wird. In jedem Fall dürfte bei der Erstreckung des nicht repräsentativen TVes der erste Anschein für eine ermessensfehlerhafte Entscheidung des Verordnungsgebers sprechen. In diesem Fall muss der Verordnungsgeber anhand des Schutzzwecks des AEntG (vgl. § 1 AEntG) widerlegen, warum es erforderlich war, den weniger repräsentativen TV zu erstrecken. Dies ist wohl nur denkbar, wenn der weniger repräsentative TV aus Arbeitnehmersicht ungünstigere TV-Bedingungen enthält als der repräsentativere TV. Dann kann sich nämlich die Erstreckung des bspw. vom Entgeltniveau niedrigeren TVes als milderes Mittel im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprinzips darstellen, was das Abweichen von der Repräsentativität rechtfertigt.

140

IV. Tarifgeltung aufgrund des AEntG Die §§ 8 und 9 AEntG enthalten Vorschriften zu den Rechtsfolgen der Tarifnormerstreckung.

1 Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 431 f.

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Teil 7 Rz. 142

Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung

1. Grundprinzipien der Erstreckungswirkung a) Geltung unabhängig vom Vertragsstatut 142

Nach § 8 Abs. 1 AEntG gelten die erstreckten TV-Bedingungen unabhängig vom anwendbaren Vertragsstatut für Arbeitgeber, wenn deren Arbeitnehmer im Geltungsbereich des jeweiligen TVes eingesetzt werden. Die TVe des AEntG gelten daher unabhängig davon, ob auf das Arbeitsverhältnis deutsches Recht anwendbar ist. Dies ist insbesondere in Entsendefällen von Relevanz, in denen oftmals das nationale Recht des Entsendestaates gilt (vgl. Art. 8 RomI-Verordnung). § 8 AEntG führt dann in Hinblick auf die Arbeitsbedingungen des AEntG-TVes über Art. 9 Abs. 1 Rom-I-Verordnung (Eingriffsnormen) zu einer teilweisen Anwendbarkeit des deutschen Rechts in Form des TVes. Die Arbeitgeber sind insoweit verpflichtet, den erfassten Arbeitnehmern mindestens die tariflich geregelten Arbeitsbedingungen zu gewähren bzw. die entsprechenden Beiträge an die gemeinsame Einrichtung nach § 4 Abs. 2 TVG (Urlaubskassen) zu zahlen. Es gilt das sog. Arbeitsortprinzip, d.h. es ist immer die jeweils am tatsächlichen Beschäftigungsort geltende TV-Arbeitsbedingung zu gewähren (vgl. § 8 Abs. 1 Satz 1 AEntG).

b) Verzicht, Verwirkung, Ausschlussfristen, Verjährung 143

Für Verzicht, Verwirkung und Ausschlussfristen enthält § 9 AEntG einen von § 4 Abs. 4 TVG leicht abweichenden Schutzgehalt. Gemäß § 9 AEntG ist die Verwirkung des Anspruchs auf das Mindestentgelt ausgeschlossen und ein Verzicht nur durch gerichtlichen Vergleich möglich. Im Unterschied zu § 4 Abs. 4 TVG müssen jedoch die TV-Parteien im Anwendungsbereich des AEntG einen Vergleich nicht billigen. Die tariflich vereinbarten Ausschlussfristen greifen nach § 9 AEntG nur, wenn sie ebenfalls in dem erstreckten TV enthalten sind und mindestens sechs Monate betragen. Hinsichtlich der Verjährung gelten die allgemeinen Regeln der §§ 194 ff. BGB.

c) Sonderregelung für Leiharbeitnehmer 144

Für den Einsatz von Leiharbeitnehmern enthält § 8 Abs. 3 AEntG eine Regelung, wonach Verleiher, unabhängig davon ob ihr Sitz in der Bundesrepublik oder im Ausland ist, verpflichtet sind, die nach §§ 4, 5 Nr. 1 bis 3, §§ 6, 7 AEntG zwingenden Arbeitsbedingungen des AEntG auch den Leiharbeitnehmern zu gewähren. Dies gilt wegen des Verweises auf § 5 Nr. 3 AEntG auch hinsichtlich der Abführung von Beiträgen an Urlaubskassen. Bei § 8 Abs. 3 AEntG handelt es sich dogmatisch nicht um einen Fall der Tarifnormerstreckung, denn eine Tarifnormerstreckung kann den Geltungsbereich eines TVes nie erweitern. Dies wäre bei einer Ausdehnung auf Leiharbeitnehmer aber der Fall.

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Die Regelung des § 8 Abs. 3 AEntG verhindert, dass Arbeitgeber in den Branchen des AEntG auf Leiharbeit ausweichen, um die Mindestarbeitsbedingun642

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Tarifgeltung aufgrund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes

Rz. 148 Teil 7

gen nicht gewähren zu müssen. Ein Unterschreiten des AEntG-Niveaus ist auch durch Geltung oder Inbezugnahme eines anderen TVes (§ 3 Abs. 1 Nr. 3, 4, § 9 Nr. 2 AÜG) nicht möglich. Im Verhältnis zum Mindestlohn für die Zeitarbeitsbranche nach § 3a AÜG, der durch Rechtsverordnung erlassen wird, dürfte man bei reiner Gesetzesanwendung zur Geltung des Günstigkeitsprinzips gelangen, womit in der Praxis der wohl meist höhere tarifliche Anspruch nach dem AEntG zu gewähren ist. Ob dies jedoch europarechtlich zulässig ist, erscheint fraglich. Denn die Entsenderichtlinie 96/71/EG lässt nach richtiger Auffassung nicht mehrere parallel geltende Mindestlöhne zu. Aus ihr folgt, dass eine doppelte Regelung des international zwingenden Charakters von Arbeitsbedingungen nicht zulässig ist1. Mindestbedingungen kann es schon von der Begrifflichkeit her nur einmal geben. Daher bestehen Zweifel, ob eine allgemeine Lohnuntergrenze in der Leiharbeit (§ 3a AÜG) mit (ggf. höheren) branchenspezifischen Mindestlöhnen des AEntG kombiniert werden darf. Es spricht viel dafür, dass Arbeitgeber aus dem EU-Ausland aufgrund der unzulässigen Doppelregelung nicht verpflichtet sind, in Entsendungsfällen den höheren Branchenmindestlohn zu zahlen. § 8 Abs. 3 AEntG läuft auf Grundlage dieser Auffassung zumindest für Arbeitgeber mit Sitz im EU-Ausland leer.

2. Nach dem AEntG erstreckte Tarifverträge bei Tarifkonkurrenz § 8 Abs. 2 und § 7 Abs. 1 AEntG stellen zunächst einmal klar, dass sich die Wirkungen der Tarifnormerstreckung auf alle Arbeitsverhältnisse beziehen, die nicht an ihn, also den erstreckten TV, gebunden sind. Die Bindung an einen konkurrierenden TV ändert damit nichts an den zwingenden Wirkungen des AEntG.

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a) Verdrängungswirkung des AEntG aa) § 8 Abs. 2 AEntG enthält eine spezielle Regelung zur Auflösung von Tarifkonkurrenzen unter Beteiligung eines nach dem AEntG erstreckten TVes. Diese ist danach zu Gunsten des AEntG-TVes aufzulösen2, soweit nicht der konkurrierende TV aus Arbeitnehmersicht günstigere Regelungen enthält3. Damit gilt im Anwendungsbereich des AEntG eine Verdrängungswirkung der AEntG-TVe gegenüber allen konkurrierenden ungünstigeren TVen. Im Anwendungsbereich des AEntG gilt daher auf Ebene konkurrierender Tarifregelungen das Günstigkeitsprinzip4. Das allgemein bei Tarifkonkurrenzen geltende Spezialitätsprinzip gilt hingegen nicht. Damit ist es Arbeitgebern nicht möglich, durch speziellere TVe die Wirkungen des AEntG auszuschließen.

147

Zu einer derartigen Verdrängungswirkung des AEntG gelangte das BAG im Wege der europarechtskonformen Auslegung bereits zum AEntG a.F.5 Eine ent-

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1 2 3 4 5

In diese Richtung EuGH v. 3.4.2008 – Rs. C-346/06, NZA 2008, 537 (539 ff.) – Rüffert. S. dazu auch Maier, NZA 2009, 351 (352). Ebenso Bayreuther, NJW 2009, 2006. Hanau, RdA 2008, 98 (101); Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 389. BAG v. 25.6.2002 – 9 AZR 405/00, NZA 2003, 275 (281); BAG v. 20.7.2004 – 9 AZR 343/03, NZA 2005, 114 (117).

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Teil 7 Rz. 149

Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung

sprechende Regelung enthielt das AEntG a.F. allerdings nicht. Vor diesem Hintergrund wurden gegen die Rechtsprechung vom OVG Berlin-Brandenburg Bedenken hinsichtlich des Parlamentsvorbehalts und der Bestimmung des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG1 erhoben. Diese sind durch die gesetzgeberische Klarstellung ausgeräumt. 149

Zur Ermittlung der günstigeren Regelung ist ein Sachgruppenvergleich heranzuziehen, der ermittelt, welche Regelung für die jeweilige Sachgruppe aus Arbeitnehmersicht günstiger ist2. Für die Sachgruppenbildung dürfte es sich anbieten, diese entsprechend der Aufzählung der Regelungsmaterien in § 5 AEntG zu bilden (modifizierter Sachgruppenvergleich), weil das Gesetz hier – anders als im TVG – die Sachgruppen vorgegeben hat. Daraus folgt auch, dass innerhalb der Sachgruppe ein gewisser Gesamtvergleich vorzunehmen ist.

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bb) Zumindest theoretisch ist eine Konkurrenz mehrerer erstreckter TVe mit sich überschneidenden Geltungsbereichen denkbar. Dabei kann es sowohl zur Konkurrenz eines nach § 5 Abs. 4 TVG und eines nach dem AEntG erstreckten Tarifs als auch zur Konkurrenz zweier AEntG-TVe kommen.

151

Bei der Konkurrenz eines nach AEntG und eines nach § 5 TVG erstreckten TVes setzt sich gemäß § 8 Abs. 2 a.E. AEntG der TV des AEntG durch, soweit er die aus Arbeitnehmersicht günstigeren Regelungen enthält. Konkurrieren zwei nach dem AEntG erstreckte TVe, kann es nur darum gehen, eine für eine Branche bzw. Region einheitliche Lösung zu finden. Das BMAS ist daher verpflichtet, die Konkurrenzfrage durch Einschränkungsklauseln zu lösen. Dabei muss das Ministerium sein normatives Ermessen derart ausüben, dass der Gedanke der Repräsentativität zur Geltung kommt3.

b) Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Verdrängungswirkung 152

aa) Nicht abschließend geklärt ist, ob der mit der Verdrängungswirkung einhergehende Grundrechtseingriff in die Berufsfreiheit des betroffenen Arbeitsgebers (Art. 12 Abs. 1 GG), dessen (individuelle) negative Koalitionsfreiheit sowie die (kollektive) Koalitionsfreiheit der Koalition des verdrängten TVes (Art. 9 Abs. 3 GG) verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist4. Dies wird mit erheblichen Gründen in Frage gestellt. Insbesondere wird darauf hingewiesen, dass TVe im Bereich der Lohnfindung den Kernbereich der Koalitionsausübungsfreiheit bilden und besonders intensiv geschützt sind5. An die Rechtfertigung ihrer Verdrängung sind deshalb besonders strenge Anforderungen zu stellen. Diese könne nur gelingen, um „Hungerlöhne“ zu verhindern6. Da das AEntG darauf nicht zugeschnitten ist, wäre die Verdrängungsregelung in § 8 Abs. 2 AEntG bei Zugrundelegung dieser Auffassung verfassungswidrig.

1 2 3 4 5 6

OVG Berlin-Brandenburg v. 18.12.2008 – 1 B 13/08, ZTR 2009, 207 f. In diese Richtung auch BAG v. 18.10.2006 – 10 AZR 576/05, NZA 2007, 1111 (1116). Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 397 f. Zur Einschlägigkeit der Grundrechte s. Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 38 ff. Sodan/Zimmermann, ZfA 2008, 526 ff.; Willemsen/Sagan, NZA 2008, 1216 (1219). Willemsen/Sagan, NZA 2008, 1216 (1219).

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Tarifgeltung aufgrund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes

Rz. 153 Teil 7

bb) Berücksichtigt man jedoch das weite Ermessen des Gesetzgebers, welches das BVerfG diesem im Bereich der Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zubilligt1, so erscheint es möglich, den in der Tat erheblichen Grundrechtseingriff durch § 8 Abs. 2/§ 7 Abs. 1 AEntG zu rechtfertigen. Denn selbst im Bereich der Lohnfindung besteht kein absoluter Schutz der Tarifautonomie. Für die im AEntG angeordnete Verdrängungswirkung sprechen aber zwei wesentliche Gründe: Zum einen dient die Gewährleistung eines Mindestarbeitsentgelts der Verwirklichung des Sozialstaatsprinzips nach Art. 20 Abs. 1 GG. Zum anderen verlangt nach richtiger Auffassung das Europarecht eine entsprechende Verdrängungswirkung. Nach der EuGH-Rechtsprechung in der Rechtssache Portugaia Construc¸ões ist es eine mit der Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV) nicht zu vereinbarende Ungleichbehandlung, wenn sich ein in einem anderen Mitgliedstaat ansässiger Arbeitgeber, anders als ein Arbeitgeber aus dem Aufnahmestaat, nicht der Pflicht zur Zahlung des Mindestlohns entziehen kann, der in dem TV der jeweiligen Branche vorgesehen ist2. Es sei nicht zu rechtfertigen, wenn inländische Arbeitgeber durch den Abschluss eines anderen TVes (insbesondere eines FirmenTVes) den tariflichen Mindestlohn unterschreiten könnten, während dies einem ausländischen Arbeitgeber nicht möglich sei3. Hinzu kommt ein weiterer europarechtlicher Ansatzpunkt: Der EuGH hat in der Laval-Entscheidung hervorgehoben, dass er allein schon die fehlende Berücksichtigung von TVen aus dem Heimatstaat der entsandten Arbeitnehmer im Grundsatz für eine Diskriminierung hält4. Das Ignorieren eines TVes aus dem Heimatstaat sei unzulässig, wenn dadurch der ausländische Arbeitgeber genauso behandelt werde wie ein nationaler Arbeitgeber, der keinen TV abgeschlossen habe. Zwanziger hat daraus abgeleitet, dass der EuGH im Anwendungsbereich der Grundfreiheiten eine strikte Gleichbehandlung von ausländischen TVen verlange5. Dies kann zwar bezweifelt werden, es lässt sich der Entscheidung aber entnehmen, dass ein Verständnis, wonach deutsche TVe durch den AEntG-TV nicht verdrängt würden, ausländische TVe hingegen schon, vom EuGH als nicht zu rechtfertigende Diskriminierung eingeordnet würde6. Dabei ist es unbeachtlich, ob ein (Firmen-)TV nach Maßgabe des TVG auch von ausländischen Arbeitgebern mit einer deutschen Gewerkschaft geschlossen werden kann. Denn keinesfalls kann das AEntG den Vorrang rein ausländischer TVe (also ein TV mit zwei ausländischen Tarifparteien) akzeptieren. Denn dadurch würde der Zweck des AEntG völlig konterkariert, da jeder TV aus einem Mitgliedstaat der EU dann in der Lage wäre, eine Unterschreitung des AEntG-Niveaus zu legitimieren. Das häufig vorgebrachte Argu1 S. BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 202 ff. 2 EuGH v. 24.1.2002 – Rs. C-164/99, AP Nr. 4 zu Art. 49 EG – Portugaia Construc¸ões. 3 EuGH v. 24.1.2002 – Rs. C-164/99, AP Nr. 4 zu Art. 49 EG – Portugaia Construc¸ões; zustimmend Thüsing/Bayreuther, § 8 AEntG Rz. 20; Singer/Büsing, SAE 2003, 35 (39); a.A. Thüsing, ZfA 2008, 591 (621). 4 EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05, NZA 2008, 159, 167 f. – Laval; a.A. aber Thüsing, ZfA 2008, 590 (621 ff.). 5 Zwanziger, DB 2008, 294 (298); ähnlich Temming, ZESAR 2008, 231 (236); a.A. Thüsing, ZfA 2008, 590 (624 ff.). 6 S. auch Sittard, NZA 2009, 346 (349); ebenso Maier, NZA 2009, 351 (353); ähnlich Bayreuther, NJW 2009, 2006 (2010); a.A. Thüsing, ZfA 2008, 590 (619 ff.).

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Teil 7 Rz. 154

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ment1 gegen die EuGH-Rechtsprechung, dass auch ausländische Arbeitgeber TVe mit einer deutschen Gewerkschaft vereinbaren könnten, geht damit am Kern des Problems vorbei und ändert nichts am Vorliegen einer Diskriminierung. Eine Rechtfertigung von Diskriminierungen kann nur über den Vorbehalt der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit nach Art. 62 i.V.m. Art. 52 AEUV gelingen2. Diese – vom EuGH äußerst restriktiv ausgelegte Vorschrift3 – bietet keine Möglichkeit, die hier vorliegende Diskriminierung zu rechtfertigen. Ein drittes Argument für den europarechtlichen Zwang einer Verdrängungswirkung ergibt sich aus der Entsenderichtlinie 96/71/EG. Zum einen soll der Mitgliedstaat nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie Mindestarbeitsbedingungen sicherstellen, was sich u.a. aus den Begriffen „Höchstarbeitszeiten“, „Mindestruhezeiten“ und „Mindestlohnsätze“ ergibt. Eine Möglichkeit zur Unterschreitung ist mit dieser Intention des europäischen Gesetzgebers nicht vereinbar. Zum anderen stellt die Richtlinie in Art. 3 Abs. 8 an einen allgemeinverbindlichen TV besondere Anforderungen. Danach muss der „für allgemein verbindlich erklärte“ TV „von allen in den jeweiligen geographischen Bereich fallenden und die betreffende Tätigkeit oder das Gewerbe ausübenden Unternehmen einzuhalten“ sein. Diese Voraussetzung erfüllt nur ein „nicht unterschreitbarer“ TV4. Damit hatte der deutsche Gesetzgeber letztlich gar keine andere Möglichkeit, als eine Verdrängungswirkung des AEntG gegenüber konkurrierenden (ungünstigeren) TVen anzuordnen. Insbesondere vor dem Hintergrund dieses europarechtlichen Zwangs, der gemäß Art. 23 Abs. 1 GG verfassungsrechtliche Relevanz hat, erscheint der Eingriff in die Grundrechte der Arbeitgeber jedenfalls bei restriktiver Handhabung des AEntG noch verfassungsgemäß.

3. Beendigung der Wirkungen des AEntG a) Beendigung der Wirkungen des AEntG bei Erstreckung kraft Allgemeinverbindlicherklärung 154

Die Wirkung eines kraft AVE im Anwendungsbereich des AEntG erstreckten TVes (§ 3 Satz 1 Alt. 1 AEntG) ist akzessorisch zum Fortbestehen der AVE. Nur die Rechtsnormen eines für allgemeinverbindlich erklärten TVes können gemäß § 3 Satz 1 Alt. 1 AEntG zwingende Anwendung im Sinne des AEntG finden. Wenn demnach der allgemeinverbindliche TV abläuft, gekündigt wird oder auf sonstige Weise endet, kommt es nach § 5 Abs. 5 Satz 3 TVG zum Ende der Allgemeinverbindlichkeit, womit auch die Wirkung nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AEntG endet. Gleiches gilt für die Aufhebung der AVE nach § 5 Abs. 5 Satz 1 TVG. Die zwingende Wirkung nach § 3 Satz 1 Alt. 1 AEntG wird zudem durch eine Befristung der Allgemeinverbindlichkeit (nicht des TVes) durch das zuständige Ministerium begrenzt.

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Jacobs in Jacobs/Krause/Oetker, § 7 Rz. 225; Klebeck, NZA 2008, 446 (450). EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05, NZA 2008, 159 (167 f.) – Laval. EuGH v. 9.3.2000 – Rs. C-355/98, NZA-RR 2000, 431 (433). Ausführlich Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 377 ff.

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Tarifgeltung aufgrund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes

Rz. 157 Teil 7

b) Beendigung der Wirkungen des AEntG bei Erstreckung kraft Rechtsverordnung Im Gegensatz zu der an die Allgemeinverbindlichkeit des TVes und damit an § 5 Abs. 5 TVG anknüpfenden Erstreckungsvariante des § 3 Satz 1 Alt. 1 AEntG enthalten § 3 Satz 1 Alt. 2 und § 7 AEntG für die Tarifnormerstreckung qua Rechtsverordnung keine Regelung zum automatischen Ende der Tarifnormerstreckung bei Ablauf oder sonstiger Beendigung des (erstreckten) TVes. Dementsprechend ist die Akzessorietät zwischen Tarifnormerstreckung durch Rechtsverordnung und dem TV durchbrochen oder zumindest gelockert. In Anlehnung an die Gesetzesbegründung1 ist davon auszugehen, dass die Rechtsverordnung bis zum Zeitpunkt ihrer förmlichen Aufhebung fortgilt und nicht vom Fortbestand des ihr zugrunde liegenden TVes abhängig ist2. Dieses Ergebnis steht zwar in Widerspruch zum Wesen einer Tarifnormerstreckung (die denklogisch immer akzessorisch sein muss)3, ist aber wegen des eindeutigen gesetzgeberischen Willens hinzunehmen.

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Nach überzeugender Auffassung zwingen inhaltliche Änderungen oder die Beendigung des TVes das BMAS aber im Wege einer Ermessensreduzierung auf Null zu einer zeitnahen Anpassung bzw. Aufhebung der Rechtsverordnung4. Denn die Weitergeltung der Erstreckungswirkungen lässt sich ohne Geltung des erstreckten TVes kaum rechtfertigen. Mit Ablauf des TVes kann sich der Gesetzgeber nicht mehr auf die Richtigkeitsgewähr des TVes berufen, die aber Grundlage jeder Tarifnormerstreckung ist. Zusätzlich sollte – was in der Praxis durch das Bundesarbeitsministerium auch geschieht – die Rechtsverordnung befristet werden, wobei es sich anbietet, die Rechtsverordnung parallel zum Ablauf des TVes enden zu lassen.

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c) Nachwirkung von nach dem AEntG erstreckten Tarifverträgen aa) Nachwirkung bei Erstreckung kraft Allgemeinverbindlicherklärung Hinsichtlich derjenigen TVe, die gemäß § 3 Satz 1 Alt. 1 AEntG, also aufgrund einer AVE erstreckt worden sind, können die Ausführungen zur Nachwirkung allgemeinverbindlicher TVe übertragen werden. Nach Auffassung des BAG und der h.M. wirken die erstreckten TVe auch für nur aufgrund der Tarifnormerstreckung Verpflichtete entsprechend § 4 Abs. 5 TVG nach5. Dies gilt konsequenterweise dann auch im Anwendungsbereich des AEntG. Gegen die Nachwirkung allgemeinverbindlicher TVe werden jedoch überzeugende Ein-

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BT-Drucks. 14/45, S. 26. ErfK/Schlachter, § 1 AEntG Rz. 16; Ritgen, NZA 2005, 673 (675). Ausführlich Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 401. BT-Drucks. 14/45, S. 26; Ritgen, NZA 2005, 673; Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 400 ff. 5 BAG v. 19.1.1962 – 1 AZR 147/61, AP Nr. 11 zu § 5 TVG; Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 193; Kempen/Zachert/Kempen, § 5 TVG Rz. 46; Wiedemann/Wank, § 5 TVG Rz. 125.

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Teil 7 Rz. 158

Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung

wände erhoben1, die bereits im Zuge der Darstellung zur AVE ausführlich erörtert wurden und auf die hier verwiesen wird (vgl. Rz. 83 ff.).

bb) Nachwirkung bei Erstreckung kraft Rechtsverordnung 158

Die Nachwirkungsproblematik für nur aufgrund des AEntG verpflichtete Arbeitsvertragsparteien ist bei der Tarifnormerstreckung durch Rechtsverordnung (§ 3 Satz 1 Alt. 2, § 7 AEntG) wegen der fehlenden Akzessorietät des TVes zur Tarifnormerstreckung nur von Bedeutung, wenn entweder die Rechtsverordnung aufgehoben wird oder ihre Befristung abgelaufen ist. Die Beendigung des TVes selbst beendet die Wirkungen der Verordnung nicht, sodass sich (noch) kein Nachwirkungsproblem stellt, sondern es bei der zwingenden Wirkung des erstreckten TVes bleibt.

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Zur Nachwirkung in der Rechtsverordnungsvariante hat sich das BAG kürzlich erstmals geäußert. Dabei hat der 4. Senat des BAG eine Nachwirkung im Fall der Rechtsverordnungsvariante abgelehnt2. Hintergrund dieser Auffassung ist das andere dogmatische Verständnis des 4. Senats von der dogmatischen Grundlage des § 3 Satz 1 Alt. 2, § 7 AEntG. Nach Auffassung des BAG liegt – wie dargestellt (vgl. Rz. 123) – gar keine echte Tarifnormerstreckung vor, sondern die Rechtsverordnung ordnet die Einhaltung der Mindestarbeitsbedingungen selbst an. Nur die Rechtsverordnung selbst wirke damit zwischen den nicht tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien. Auf eine Rechtsverordnung sei § 4 Abs. 5 TVG aber weder unmittelbar noch analog anwendbar. Eine unmittelbare Anwendung der Nachwirkung käme laut BAG nur in Betracht, wenn die Tarifnormerstreckung über eine AVE nach § 5 TVG erreicht worden sei. Es läge auch keine Regelungslücke vor, die durch eine analoge Anwendung der Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG auf die Rechtsverordnung bzw. den erstreckten TV auszufüllen wäre. Das Instrument des AEntG sei mit der AVE nicht zu vergleichen. Anders als die AVE als Rechtsakt sui generis zwischen staatlichem Recht und Tarifrecht, handele es sich bei der Verordnung nach § 7 AEntG um eine „normale“ Rechtsverordnung, d.h. um rein staatliches Recht. § 4 Abs. 5 TVG könne nicht dazu herangezogen werden, außer Kraft getretenes staatliches Recht wieder „in Geltung“ zu setzen3. Die Rechtsnormen eines TVes, die qua Rechtsverordnung über das AEntG erstreckt werden, seien deshalb unabhängig vom Fortbestand des betreffenden TVes und damit nur von der Geltung der Verordnung abhängig. Das Ende der Geltungsdauer ergebe sich allein aus der Verordnung selbst, d.h. einer Befristung oder aufgrund einer Aufhebung der Verordnung durch das zuständige Arbeitsministerium.

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Teilt man das dogmatische Verständnis des BAG zu § 7 AEntG, so ist diese Auffassung folgerichtig. Aber selbst wenn man aufgrund des vom Verfasser be1 Ausführlich jüngst Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 289; vgl. auch Besgen, SAE 2002, 224 ff.; Hohenstatt, Anm. zu AP Nr. 38 zu § 4 TVG Nachwirkung; Krebs, SAE 1993, 132 (133 ff.); Oetker, Gem. Anm. zu EzA Nr. 14, 15 zu § 4 TVG Nachwirkung, S. 24 ff. 2 BAG v. 20.4.2011 – 4 AZR 467/09, NZA 2011, 1105 ff. 3 BAG v. 20.4.2011 – 4 AZR 467/09, NZA 2011, 1105 ff.; vgl. auch Sittard, NZA 2012, 299 ff.

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Tarifgeltung aufgrund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes

Rz. 161 Teil 7

vorzugten Verständnisses der AEntG-Rechtsverordnung als Akt der Tarifnormerstreckung ausgeht (vgl. oben Rz. 124), sprechen die besseren Argumente gegen eine Nachwirkung von kraft Rechtsverordnung erstreckten TVen. Insoweit kann auf die Argumente gegen die Nachwirkung von TVen nach § 5 TVG zurückgegriffen werden. Wie auch bei der AVE fehlt es im Hinblick auf Arbeitsverhältnisse, die nur kraft der erstreckenden Rechtsverordnung tarifgebunden sind, an einer rechtlichen Grundlage für die Nachwirkung. Erforderlich wäre vielmehr ein zusätzlicher staatlicher, die Nachwirkung anordnender Akt. Selbst wenn dieser aber durch das zuständige Ministerium erfolgte, sei es in der ursprünglichen Rechtsverordnung oder nachträglich durch eine eigene „Nachwirkungs-Verordnung“, käme es im Anwendungsbereich des AEntG für Arbeitsverhältnisse mit ausländischem Vertragsstatut eines EU-Mitgliedstaates zu einem Widerspruch zu der Entsenderichtlinie 96/71/EG1. Da die Richtlinie für die international-zwingende Anwendung von nationalen Rechtsvorschriften und allgemeinverbindlichen TVen verlangt, dass diese nicht unterbietbare Mindestarbeitsbedingungen enthalten, können nachwirkende Mindestlohnsätze nicht von der Entsenderichtlinie gerechtfertigt werden2. Dies wäre wegen des mit dem AEntG verbundenen Eingriffs in die Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 AEUV aber erforderlich3. Der Zwang zu nicht unterbietbaren Mindestarbeitsbedingungen ergibt sich für allgemeinverbindliche TVe aus § 3 Abs. 8 der Richtlinie, wonach diese von „allen in den jeweiligen geographischen Bereich fallenden und die betreffende Tätigkeit […] ausübenden Unternehmen einzuhalten sind“. Nachwirkende TVe gelten aber nur unmittelbar und nicht mehr zwingend. „Dispositive Mindestlöhne“ lässt die Richtlinie nicht zu. Ein über das von der Entsenderichtlinie für zulässig erklärtes Schutzniveau ist mit der EuGH-Rechtsprechung nicht zu vereinbaren, da danach Art. 3 der Richtlinie den Grad an Arbeitnehmerschutz festlegt, den der Aufnahmestaat berechtigt ist, Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten abzuverlangen4.

V. Vermeidung der Tarifgeltung nach dem AEntG Die Anwendung von nach dem AEntG erstreckten TVen kann durch den Arbeitgeber erfolgreich nur dadurch vermieden werden, dass er durch organisatorische Maßnahmen verhindert, dass seine Betriebe und Betriebsabteilungen in den branchenmäßigen Geltungsbereich des AEntG (§ 6 AEntG) bzw. der erstreckten TVe fallen (vgl. dazu oben Rz. 107 ff.). Für Arbeitgeber mit Sitz im Ausland besteht eine in der Praxis häufig anzutreffende Vermeidungsstrategie darin, auf einen Betrieb und eine Betriebsabteilung in der Bundesrepublik ganz zu verzichten. Einzelne TVe versuchen auf diese Strategie jedoch wieder zu reagieren, indem für Arbeitgeber mit Sitz im Ausland eine „Gesamtheit von Ar1 2 3 4

ABl. L 18 v. 21.1.1997, S. 1. Vgl. auch Sittard, NZA 2012, 299 ff. Sittard, NZA 2012, 299 (303). EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05, NZA 2008, 159 (167 f.) – Laval; EuGH v. 3.4.2008 – Rs. C-346/06, NZA 2008, 537 (540) – Rüffert; EuGH v. 19.6.2008 – Rs. C-319/06, NZA 2008, 865 (867 f.).

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Teil 7 Rz. 162

Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung

beitnehmern, die außerhalb der stationären Betriebsstätte baugewerbliche Tätigkeiten ausführt“, als Betriebabteilung gelten soll (so z.B. § 1 Abschn. VI des BundesrahmenTV Bau). Ob dies europarechtlich zulässig ist, wird jedoch zum Teil bestritten1. Der Abschluss spezieller TVe, insbesondere von FirmenTVen, kann wegen des in § 8 Abs. 2 AEntG ausdrücklich angeordneten Vorrangs der AEntG-TVe gegenüber aus Arbeitnehmersicht ungünstigeren TVen die Anwendung der erstreckten TVe nicht verhindern. Wegen der mittelbaren Einbeziehung von Leiharbeitnehmern über § 8 Abs. 3 AEntG kann auch über das Instrument der Zeitarbeit die Einhaltung der branchenbezogenen Mindestarbeitsbedingungen des AEntG nicht vermieden werden.

VI. Rechtsschutz in Zusammenhang mit dem AEntG 162

Hinsichtlich des Rechtsschutzes in Zusammenhang mit dem AEntG kann auf die Ausführungen zum Rechtsschutz bei der AVE verwiesen werden (vgl. oben Rz. 94 ff.). Insbesondere ist aufgrund aktueller Rechtsprechung des BVerwG geklärt, dass sowohl die von der Tarifnormerstreckung erfassten Arbeitsvertragsparteien als auch die betroffenen Koalitionen unmittelbar Rechtsschutz vor den Verwaltungsgerichten in Form der Feststellungsklage geltend machen können2. Auch für die inzidente Normenkontrolle durch die Arbeitsgerichte kann auf die Ausführungen zur AVE verwiesen werden (vgl. Rz. 94 ff.).

VII. Verfassungsmäßigkeit des AEntG 163

Im Schrifttum werden teilweise Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des AEntG geäußert3. Soweit sich das Bundesverfassungsgericht bislang mit dem AEntG auseinander gesetzt hat, hat es keinen Verfassungsverstoß angenommen4. Allerdings geht die Entscheidung vom 18.7.2000 zur AEntG-Rechtsverordnung noch davon aus, dass durch § 1 Abs. 3a AEntG a.F. (heute § 7 AEntG) die gleichen Rechtsfolgen erzeugt werden, wie über § 5 TVG. Dies trifft jedoch jedenfalls seit der Neufassung des AEntG und der normierten Verdrängungswirkung des AEntG nicht mehr zu. Insoweit steht eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts mithin noch aus.

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Zentrale Frage ist dabei die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Verdrängung konkurrierender (aus Arbeitnehmersicht ungünstigerer) TVe durch die qua Rechtsverordnung erstreckten TVe. Hierin liegt unzweifelhaft ein Eingriff in 1 2 3 4

Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 405 ff. BVerwG v. 28.1.2010 – 8 C 19/09, NZA 2010, 718 ff. Vgl. Moll, RdA 2010, 321 (325); Willemsen/Sagan, NZA 2008, 1216 (1218 ff.). Zum Mindestlohn im Baugewerbe durch Rechtsverordnung nach § 1 Abs. 3 AEntG a.F. BVerfG v. 18.7.2000 – 1 BvR 948/00, NZA 2000, 948 ff.; zur Bürgenhaftung BVerfG v. 20.3.2007 – 1 BvR 1047/05, NZA 2007, 609 ff.

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Tarifgeltung aufgrund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes

Rz. 166 Teil 7

die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Arbeitsvertragsfreiheit, weil der Arbeitgeber staatlicherseits zur Gewährung eines Mindestlohns verpflichtet wird. Ferner wird die kollektive Koalitionsfreiheit der Verbände (Art. 9 Abs. 3 GG) tangiert. Denn die Verdrängungswirkung schränkt die Betätigungsfreiheit der Koalitionen ein, deren TVe verdrängt werden1. Umstritten ist allein, ob auch ein Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit vorliegt2. Wie bereits bei der Darstellung der Rechtsfolgen des AEntG (vgl. oben Rz. 152 f.) erörtert, können – wie in der Literatur geschehen3 – durchaus Zweifel an der Rechtfertigung dieser Grundrechtseingriffe angemeldet werden. Vor dem Hintergrund des weiten Einschätzungsspielraums, der dem Gesetzgeber bei der Regelung arbeitsrechtlicher Fragen vom Bundesverfassungsgericht zugestanden wird4, erscheint es jedoch unwahrscheinlich, dass das Bundesverfassungsgericht die Neufassung des AEntG beanstanden wird. Denn unter Berücksichtigung dieses gesetzgeberischen Spielraums spricht viel dafür, dass man die Grundseingriffe in Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 9 Abs. 3 GG als gerechtfertigt ansehen wird. Mit der Tarifnormerstreckung aufgrund des AEntG sollen Mindestarbeitsbedingungen zum Schutze der Arbeitnehmer geschaffen werden. Dieses Ziel hat jedenfalls in Form des Sozialstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 1 GG) seinerseits verfassungsrechtlichen Niederschlag gefunden und kann daher im Wege der praktischen Konkordanz den Grundrechtseingriffen entgegengehalten werden5. Dies gilt zumindest dann uneingeschränkt, wenn man die Voraussetzungen für den Erlass einer Tarifnormerstreckung nach dem AEntG streng handhabt, d.h. ein tatsächliches und nicht unerhebliches Defizit beim Arbeitnehmerschutz im Geltungsbereich des jeweiligen TVes verlangt.

165

Weiterhin ist im Rahmen der verfassungsrechtlichen Bewertung der Tarifnormerstreckung nach dem AEntG zu berücksichtigen, dass europarechtliche Vorgaben eine erhebliche Rolle spielen. Das AEntG dient auch der Umsetzung der europarechtlichen Entsenderichtlinie 96/71/EG, was zwar nicht dazu führt, dass die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Grundgesetzes außer Betracht bleiben können6. Es wäre aus europarechtlicher Sicht aber nicht zu vertreten, wenn aufgrund des AEntG erstreckte TVe für deutsche Arbeitgeber keine Wirkung entfalten würden, da diese sich auf deutsche, den erstreckten TVen verdrängende TVe berufen könnten, ausländische Arbeitgeber jedoch an die erstreckten TVe gebunden wären, da für sie keine konkurrierenden deutschen TVe gälten. Ein solches Verständnis wäre, wie bereits dargestellt (Rz. 153), mit der europäischen Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV) nicht zu vereinbaren,

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1 Vgl. dazu auch BVerfG v. 24.4.1996 – 1 BvR 712/86, AP Nr. 2 zu § 57a HRG; Willemsen/Sagan, NZA 2008, 1216 (1218). 2 Umfassend Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 39 ff. 3 Vgl. Moll, RdA 2010, 321 (325); Willemsen/Sagan, NZA 2008, 1216 (1218 ff.). 4 BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, AP Nr. 1 zu § 1 MitbestG; BVerfG v. 3.4.2001 – 1 BvL 32/97, AP Nr. 2 zu § 10 BUrlG Kur; BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, AP Nr. 129 zu Art. 9 GG. 5 Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 415. 6 BVerfG v. 18.7.2000 – 1 BvR 948/00, NZA 2000, 948 ff.; Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 413 f.; a.A. Preis/Temming, Die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse im Kontext des Gemeinschaftsrechts, 2006, S. 203.

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Teil 7 Rz. 167

Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung

da dies eine Diskriminierung ausländischer Arbeitgeber bedeuten würde1. Eine Tarifnormerstreckung per AEntG mit einem möglichen Vorrang vor anderen, verdrängten TVen ist somit bereits aus europarechtlicher Sicht zwingend geboten. 167

Unabhängig von europarechtlichen Erwägungen und einer möglichen Rechtfertigung von Eingriffen in verfassungsrechtliche Positionen der Arbeitvertragsund TV-Parteien, erscheint es höchst zweifelhaft, ob eine Verfassungswidrigkeit des AEntG in diesem Punkt überhaupt vorstellbar ist. Selbst wenn man nämlich davon ausgehen wollte, dass ein Eingriff in die genannten verfassungsrechtlichen Positionen im Einzelfall nicht gerechtfertigt wäre, würde dies nicht zur Verfassungswidrigkeit des AEntG als solchem führen. Dieses Ergebnis beruht auf dem Regelungsmechanismus, der zur Erstreckung eines TVes nach dem AEntG führt. Die durch die Erstreckung eines TVes herbeigeführte Verdrängung eines anderen TVes basiert nämlich nicht unmittelbar auf dem AEntG selbst, sondern geht auf die konkrete Rechtsverordnung bzw. AVE zurück. Nicht das AEntG, sondern die anhand des AEntG erlassene Rechtsverordnung bzw. AVE führt zur verfassungsrechtlich kritisierten Verdrängung von TVen. Legt man die Voraussetzungen des AEntG für eine zulässige Tarifnormerstreckung – wie hier vorgeschlagen – eng aus, sodass demnach eine Erstreckung von Tarifnormen aufgrund einer zu erlassenen Rechtsverordnung nur bei einem tatsächlichen und erheblichen Arbeitnehmerschutzbedarf in Betracht kommt, so ist die Rechtsverordnung bzw. AVE, nicht aber das AEntG verfassungswidrig. Denn aufgrund des erforderlichen Zwischenaktes des zuständigen Ministers spricht viel dafür, dass die verfassungsrechtlichen Zweifel nur zu einer verfassungskonformen Auslegung des AEntG zwingen und allein die konkrete Rechtsverordnung als verfassungswidrig und damit nichtig einzustufen wäre.

D. Mit der Tarifnormerstreckung vergleichbare Regelungsinstrumente I. Mindestlohn in der Pflegebranche 1. Anwendungsbereich und Zweck der Regelung 168

Die §§ 10 bis 13 AEntG enthalten Sonderregelungen für die Festlegung von Mindestarbeitsbedingungen in der Pflegebranche. Die Branche (ambulante, teilstationäre oder stationäre Pflegeleistungen sowie ambulante Krankenpflegeleistungen) wird in § 10 AEntG umschrieben. Eine wichtige Negativabgrenzung findet sich in § 10 Satz 4 AEntG, wonach u.a. Krankenhäuser nicht zur Pflegebranche gehören.

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Die Sonderregelung geht auf die Besonderheiten der Pflegebranche zurück, in der die beiden großen christlichen Kirchen eine zentrale Rolle spielen. Da diese 1 Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 379 f.; a.A. Thüsing, ZfA 2008, 590 (623 ff.).

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Mit der Tarifnormerstreckung vergleichbare Regelungsinstrumente

Rz. 173 Teil 7

(in der Regel) keine TVe abschließen1, wurde das Instrument der Tarifnormerstreckung für diese Branche als untauglich erachtet. Durch die Beratungen der Kommission, in der jeweils die kirchliche und nicht-kirchliche Arbeitgeberund Arbeitnehmerseite gleichberechtigt vertreten sind, sollen Tarifverhandlungen „simuliert“ werden, wobei hinsichtlich der Richtigkeitsgewähr nicht davon auszugehen ist, dass diese ebenso weitgehend ist wie die von echten TVen.

2. Mindestarbeitsbedingungen durch Rechtsverordnung Mindestlöhne sowie Regelungen aus dem Bereich Erholungsurlaub, Urlaubsentgelt und zusätzliches Urlaubsgeld können gemäß § 11 AEntG in der Pflegebranche durch Rechtsverordnung des Bundesarbeitsministeriums festgelegt werden. Wie auch bei § 3a AÜG (Mindestlohn in der Zeitarbeit, s. dazu Rz. 172 ff.) handelt es sich nicht um eine Tarifnormerstreckung. Die Rechtsverordnung mit Mindestarbeitsbedingungen basiert nicht auf einem TV, sondern auf einem Vorschlag einer Kommission zur Erarbeitung von Arbeitsbedingungen (vgl. § 12 AEntG). Nach § 13 AEntG steht eine solche Rechtsverordnung den erstreckten TVen nach den §§ 3 ff. AEntG gleich.

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Bei den durch Rechtsverordnung nach § 11 AEntG festgelegten Arbeitsbedingungen handelt es sich um Rechtsvorschriften im Sinne von § 2 Nr. 1 bzw. 2 AEntG, die mithin auch auf Arbeitsverhältnisse mit ausländischem Vertragsstatut anwendbar sind. Als solche sind sie auch mit Art. 3 Abs. 1 der Entsenderichtlinie vereinbar2. Die Entsenderichtlinie enthält keine Regelungen, die dem speziellen Verfahren der §§ 10 ff. AEntG entgegenstehen.

171

II. Mindestlohn in der Zeitarbeitsbranche Neben der AVE von TVen, dem AEntG sowie dem MiArbG besteht seit dem 30.4.2011 durch § 3a AÜG eine weitere Möglichkeit, Mindestlöhne in einem staatlich geregelten Verfahren festzulegen. § 3a AÜG schafft die Möglichkeit eines Mindestlohns für die Zeitarbeitsbranche und greift dafür – wie § 7 AEntG – auf das Mittel einer Rechtsverordnung zurück. Am 28.12.2011 ist die erste Verordnung zu einer Lohnuntergrenze in der Leiharbeit in Kraft getreten. Diese sieht seit dem 1.1.2012 einen Mindestlohn von 7,89 Euro in den westdeutschen Bundesländern und von 7,01 Euro in den ostdeutschen Ländern (einschließlich Berlin) vor.

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1. Zweck der Regelung Die Regelung in § 3a AÜG muss einerseits vor dem Hintergrund der vollumfänglichen Arbeitnehmerfreizügigkeit u.a. für Arbeitnehmer aus Polen, Tschechien und Ungarn zum 1.5.2011 sowie andererseits als Folge der in der Vergangenheit in der Zeitarbeitsbranche vereinbarten – vom Entgeltniveau 1 Vgl. nur Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche, 6. Aufl. 2012, S. 210 ff. 2 Sittard, NZA 2009, 346 (349).

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Teil 7 Rz. 174

Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung

sehr niedrigen – TVe gesehen werden1. Insbesondere die Gewerkschaften fürchteten einen erheblichen Anstieg von Leiharbeitnehmern aus den osteuropäischen Beitrittsstaaten und setzten sich massiv für einen Mindestlohn in der Zeitarbeit ein. § 3a AÜG verfolgt somit auch den Zweck, ins Inland entsandten ausländischen Arbeitnehmern einen Mindestlohn zu garantieren und damit zu verhindern, dass das Lohnniveau auf dem deutschen Arbeitsmarkt durch ausländische Konkurrenz gesenkt wird2. Zudem soll die Lohnuntergrenze auch den Entwicklungen extrem niedriger tariflicher Löhne in der Zeitarbeit3, die über §§ 3 Abs. 1 Nr. 3, 9 Nr. 2 AÜG zur Unterschreitung des Equal-Pay-Gebots auch arbeitsvertraglich in Bezug genommen werden dürfen, entgegen wirken.

2. Lohnuntergrenze durch Rechtsverordnung a) Voraussetzungen des Rechtsverordnungserlasses 174

Nach § 3a Abs. 1 AÜG, der sich jedenfalls auf den ersten Blick an § 7 AEntG orientiert, kann das Bundesministerium für Arbeit und Soziales durch Rechtsverordnung verbindlich eine Lohnuntergrenze im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung festsetzen. Der Festsetzung vorangehen muss allerdings ein gemeinsamer Vorschlag von Gewerkschaften und Vereinigungen von Arbeitgebern, die zumindest auch für ihre jeweiligen in der Arbeitnehmerüberlassung tätigen Arbeitnehmer tarifzuständig sind und gemeinsam bundesweit tarifliche Mindeststundenentgelte im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung vereinbart haben (§ 3a Abs. 1 AÜG). Voraussetzung ist damit letztlich ein bundesweiter TV der vorschlagenden Koalitionen für die Leiharbeitsbranche. Materielle Voraussetzung ist gemäß § 3a Abs. 3 Satz 1 AÜG insbesondere das Vorliegen eines öffentlichen Interesses. Insoweit kann auf die Ausführungen zu § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 TVG Bezug genommen werden (vgl. oben Rz. 50 ff.).

175

Durch die Formulierung „kann“ in § 3a Abs. 2 AÜG wird deutlich, dass dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales – wie auch bei § 5 TVG und dem AEntG – ein normatives Ermessen dahingehend zusteht, ob es dem Vorschlag der Tarifparteien folgt und eine entsprechende Rechtsverordnung erlässt. Dem Ministerium ist dabei allerdings nach § 3a Abs. 2 Satz 2 AÜG lediglich eine unveränderte Übernahme des Vorschlags der Tarifparteien erlaubt, d.h. das Ministerium kann dem Vorschlag nicht teilweise entsprechen oder bspw. ein niedrigeres oder höheres Mindestentgelt per Rechtsverordnung durchsetzen. Bei der Ausübung des Ermessens hat sich das Ministerium für Arbeit und Soziales an den gesetzgeberischen Zielen zu orientieren. Nach § 3a Abs. 3 AÜG hat es im Rahmen einer vorzunehmenden Gesamtabwägung zu prüfen, ob die Rechtsverordnung geeignet ist, die finanzielle Stabilität der sozialen Sicherungssysteme zu gewährleisten. Zudem ordnet § 3a Abs. 3 Satz 3 AÜG an, dass der Verordnungsgeber bestehende bundesweite TVe in der Leiharbeits1 In diese Richtung auch Ulber, § 3a AÜG Rz. 1. 2 Ulber, § 3a AÜG Rz. 5. 3 Vgl. dazu nur Ulber, § 3a AÜG Rz. 1; Schüren, RdA 2011, 368 (368).

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Mit der Tarifnormerstreckung vergleichbare Regelungsinstrumente

Rz. 179 Teil 7

branche sowie die Repräsentativität der vorschlagenden Tarifparteien berücksichtigen soll. Insoweit hat das Ministerium auch zu prüfen, ob der Erlass der Rechtsverordnung (und damit die Verdrängung anderer TVe) tatsächlich erforderlich ist oder ob auch andere bestehende TVe in der Branche ein hinnehmbares Entgeltniveau sichern.

b) Wirkung der Rechtsverordnung Anders als § 7 AEntG (und erst recht als § 5 TVG) enthält § 3a AÜG keine Form der Tarifnormerstreckung1. Vielmehr wird eine einzelne tarifliche Arbeitsbedingung (das Entgelt) als Muster genommen, um durch Rechtsverordnung staatliche Geltungskraft zu erhalten. Dies zeigt sich eindeutig am unterschiedlichen Wortlaut von § 3a AÜG zu § 5 Abs. 4 TVG und § 7 Abs. 1 Satz 1 AEntG. Die letztgenannten Normen ordnen die Geltung der Rechtsnormen des TVes an, wohingegen § 3a Abs. 2 AÜG vorsieht, dass die „vorgeschlagenen tariflichen Mindeststundenentgelte als verbindliche […] Lohnuntergrenze […] Anwendung“ finden sollen.

176

Die staatliche Lohnuntergrenze gilt für alle in der Bundesrepublik beschäftigten Leiharbeitnehmer einschließlich solcher mit ausländischem Vertragsstatut (vgl. § 2 Nr. 1 bzw. 4 AEntG). Durch den Verweis in § 9 Nr. 2 AÜG auf § 3a Abs. 2 AÜG steht eine für verbindlich festgesetzte Rechtsverordnung abweichenden TVen entgegen, soweit diese ein geringeres Mindeststundenentgelt vorsehen. Die Rechtsverordnung entfaltet damit Verdrängungswirkung gegenüber aus Arbeitnehmersicht ungünstigeren TVen.

177

Im Falle einer solchen Abweichung sieht sich der Verleiher gemäß § 10 Abs. 4 AÜG Arbeitsentgeltansprüchen des Leiharbeitnehmers ausgesetzt. Aufgrund des einschränkenden Wortlautes („Mindeststundenentgelt“) des § 3a AÜG sperren die auf ihm beruhenden Rechtsverordnungen jedoch keine sonstigen schlechteren Arbeitsbedingungen, die im Sinne des § 9 Nr. 2 AÜG abweichend durch die TV-Parteien in TVen vereinbart wurden2.

178

Ungeklärt ist bislang das Verhältnis der Lohnuntergrenze nach § 3a AÜG zur Verpflichtung nach § 8 Abs. 3 AEntG, wonach Leiharbeitnehmer, die vom Entleiher mit Tätigkeiten im Anwendungsbereich des AEntG beschäftigt werden, Anspruch auf die Gewährung der tariflichen Mindestarbeitsbedingungen haben. Regelmäßig dürfte hier das Entgeltniveau des AEntG-TVes höher als die Lohnuntergrenze nach § 3a AÜG sein. Bei reiner Gesetzesanwendung gelangt man bei der Kollision zweier Mindestlöhne wohl zur Geltung des höheren Mindestlohns, da die Geltung der AÜG-Lohnuntergrenze nach dem Normtext den Anspruch des Leiharbeitnehmers auf den tariflichen Lohn nach § 8 Abs. 3 AEntG nicht suspendiert. Aus europarechtlicher Sicht ist dies jedoch zweifelhaft (vgl. schon oben Rz. 153).

179

1 Ebenso auch ErfK/Wank, § 3a AÜG Rz. 8. 2 Ulber, § 3a AÜG Rz. 10.

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Teil 7 Rz. 180

Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung

c) Verfassungsrechtliche Zweifel 180

§ 3a AÜG wird überwiegend als verfassungsgemäß angesehen1. Eine Lohnuntergrenze durch Rechtsverordnung stellt zwar einen Eingriff in die kollektive Koalitionsfreiheit der konkurrierenden Koalitionen nach Art. 9 Abs. 3 GG sowie in die Berufsfreiheit insbesondere der betroffenen Arbeitgeber nach Art. 12 Abs. 1 GG dar, sei jedoch durch legitime Zwecke gerechtfertigt. Gerade vor dem Hintergrund der in der Vergangenheit teils sehr niedrigen Löhne in der Zeitarbeitsbranche kann ein Bedarf an zusätzlichem Arbeitnehmerschutz nicht völlig in Abrede gestellt werden. Im Schrifttum wird allerdings teilweise die Entscheidung, die Lohnuntergrenze durch Rechtsverordnung zu bestimmen und insoweit der Entscheidung der TV-Parteien zu entziehen, kritisiert2. Aufgrund der geringen Repräsentativität der Gewerkschaften in der Zeitarbeit erscheint es jedoch vertretbar, nicht den gesamten TV im Wege einer Tarifnormerstreckung für die gesamte Branche verbindlich zu machen, sondern über eine Rechtsverordnung nur eine einzelne Arbeitsbedingung (das Entgelt) verbindlich auszugestalten. Aus dogmatischer Sicht ist allerdings zu beklagen, dass dem Gesetzgeber ganz offensichtlich ein einheitliches Mindestlohnkonzept fehlt, weil er je nach Branche im Detail unterschiedliche Mindestlohnvarianten vorsieht, die zwar vom Ergebnis her (Rechtsverordnungen) ähnlich sind, sich aber dogmatisch völlig unterscheiden.

III. Staatliche Mindestarbeitsbedingungen durch das MiArbG 181

Für Branchen, in denen die an TVe gebundenen Arbeitgeber bundesweit weniger als 50 % der unter den Geltungsbereich dieser TVe fallenden Arbeitnehmer beschäftigen, besteht die (bislang theoretische) Möglichkeit, Mindestarbeitsentgelte nach dem MiArbG zu erlassen (vgl. § 1 Abs. 2 MiArbG).

1. Zweck der Regelung 182

Am 28.4.2009 trat das Erste Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen in Kraft3. Seit dieser Neufassung ist das – bislang nicht angewandte – Gesetz aus dem Jahre 1952 allein auf Mindestlöhne zugeschnitten. Ziel dieser Gesetzesreform war es, die Voraussetzungen, die von der Ursprungsfassung an die Festlegung von Mindestarbeitsbedingungen gestellt werden, abzuschwächen. Durch die Reform des MiArbG sollte ein Weg der staatlichen Festlegung von Mindestlöhnen geschaffen werden, der nicht von einem TV abhängig ist. Damit sollten „weiße Flecken“ in der Tariflandschaft überwunden werden, sodass unabhängig von der Existenz erstreckbarer TVe flächendeckend staatlich legitimierte Mindestlöhne erlassen werden können.

1 ErfK/Wank, § 3a AÜG Rz. 10; Ulber, § 3a AÜG Rz. 6. 2 Vgl. u.a. Böhm, NZA 2010, 1218 über die damals noch in Diskussion stehende Einführung des § 3a AÜG. 3 BGBl. I 2009, S. 818 ff.

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Mit der Tarifnormerstreckung vergleichbare Regelungsinstrumente

Rz. 188 Teil 7

2. Formelle Voraussetzungen des Rechtsverordnungserlasses Das MiArbG, das nicht ganz zu Unrecht auch „Gremiengesetz“ genannt wird, enthält ein mehrstufiges Verfahren, an dessen Ende eine Rechtsverordnung der Bundesregierung steht (§ 4 Abs. 3 MiArbG), die zwingende Mindestentgelte vorsieht.

183

Der dauerhaft eingerichtete Hauptausschuss muss in einem ersten Schritt feststellen, ob Mindestarbeitsentgelte in einer Branche festgesetzt werden sollen (§ 3 Abs. 1 MiArbG). Den branchenspezifischen Fachausschüssen obliegt sodann in einem zweiten Schritt die Entscheidung über das „Wie“, d.h. über die Ausgestaltung der konkreten Mindestarbeitsentgelte für die Wirtschaftszweige, in denen der Hauptausschuss Mindestarbeitsentgelte fordert (Entscheidung über das „Ob“). Erst nach einem solchen Beschluss kann das Bundesarbeitsministerium der Bundesregierung den Beschluss einer entsprechenden Verordnung vorschlagen.

184

3. Materielle Voraussetzungen des Rechtsverordnungserlasses a) Negatives Quorum § 1 Abs. 2 MiArbG lässt es ausreichen, wenn in einem Wirtschaftszweig bundesweit die an TVe gebundenen Arbeitgeber weniger als 50 % der unter den Geltungsbereich dieser TVe fallenden Arbeitnehmer beschäftigen. Damit wird ein negatives 50 %-Quorum zur Voraussetzung des Rechtsverordnungserlasses. Der Begriff des Wirtschaftszweigs ist nach der Begründung der Bundesregierung weit zu verstehen. Er soll Gewerbe und Tätigkeiten erfassen1. Letztlich dürfte er inhaltlich mit dem Begriff der Branche übereinstimmen.

185

Der Anwendungsbereich des MiArbG wurde damit im Rahmen der Reform 2009 nicht unerheblich erweitert, da die h.M. zur Vorgängerfassung im MiArbG 1952 davon ausging, dass eine „Minderheit“ im Sinne von § 1 Abs. 2 lit. a MiArbG 1952 eine Tarifbindung von weit unter 50 % voraussetzt2.

186

Für das negative Quorum ist – wie bei § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG – die Anzahl der bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigten Arbeitnehmer zu ermitteln. Einzubeziehen sind die Arbeitnehmer aller tariflich gebundenen Arbeitgeber. Unerheblich ist – anders als bei der AVE –, ob die Arbeitgeber an denselben TV gebunden sind. Existieren also in einer Branche mehrere TVe, so sind die Arbeitnehmer aller an irgendeinen TV gebundenen Arbeitgeber mitzurechnen3.

187

Nach dem Wortlaut des § 1 Abs. 2 MiArbG kommt es nicht darauf an, ob die existierenden TVe Regelungen zum Entgelt aufweisen. Mindestarbeitsbedingungen dürfen danach nicht erlassen werden, wenn die 50 %-Grenze nur durch Tarife überschritten wird, die keine Entgeltregelungen enthalten. Dieses Ergeb-

188

1 BR-Drucks. 541/08, S. 6; krit. dazu Willemsen/Sagan, NZA 2008, 1216 (1220). 2 Vgl. Fitting, RdA 1952, 5 (6). 3 Vgl. ausführlich Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 438 ff.

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Teil 7 Rz. 189

Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung

nis steht auch mit Sinn und Zweck des MiArbG in Einklang. Staatliche Mindestentgelte sollen nur subsidiär greifen, wenn in einem Wirtschaftszweig keine TV-Parteien existieren oder sie völlig unbedeutend sind. Existieren aber TVe, an die insgesamt so viele Arbeitgeber gebunden sind, dass 50 % oder mehr der Arbeitnehmer tarifgebunden sein könnten, bestehen funktionierende Tarifvertragsstrukturen. Staatliche Entgeltvorgaben sind dann nicht erforderlich, da die TV-Parteien die Möglichkeit haben, selbst angemessene Entgeltregelungen zu schaffen1.

b) Ungeschriebene Voraussetzungen 189

Eine weitere Normerlassvoraussetzung für eine Rechtsverordnung nach dem MiArbG lässt sich aus § 3 Abs. 1 MiArbG ablesen. Bei dem Erfordernis der „sozialen Verwerfung“ handelt es sich nach dem Wortlaut des § 3 Abs. 1 Satz 1 MiArbG zwar nur um eine Voraussetzung für ein positives Votum des Hauptausschusses, eine soziale Verwerfung muss jedoch zugleich als Tatbestandsvoraussetzung für den Erlass von Mindestarbeitsbedingungen angesehen werden2. Es wäre widersprüchlich, wenn nur der demokratisch weniger legitimierte Hauptausschuss das Vorliegen sozialer Verwerfungen zu prüfen hat, das Ministerium und die Bundesregierung hingegen nicht. Zur Konkretisierung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs bietet sich ein Rückgriff auf den sozialen Notstand nach § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG an, wobei die Voraussetzungen des MiArbG eher noch höher anzusetzen sind. Damit reduziert sich der Anwendungsbereich auf Fälle, in denen die üblichen Branchenlöhne nicht zur Deckung des Existenzminimums ausreichen.

190

Darüber hinaus darf auch die Rechtsverordnung nach dem MiArbG nur erlassen werden, wenn dies dem Verhältnismäßigkeitsprinzip entspricht.

4. Wirkungen der Rechtsverordnung 191

Nach § 8 MiArbG bildet eine Mindestentgeltverordnung eine nicht unterschreitbare Mindestarbeitsbedingung. Aus § 8 Abs. 2 MiArbG ergibt sich, dass auch TVe kein niedrigeres Lohnniveau vorsehen dürfen. Eine sehr zweifelhafte Ausnahmeregelung gilt jedoch für vor dem 16.7.2008 abgeschlossene TVe sowie deren FolgeTVe3.

5. Überschneidung mit der Allgemeinverbindlicherklärung 192

Damit besteht für Branchen mit geringer Tarifbindung ein zur Tarifnormerstreckung alternatives Regelungsinstrument. Wegen des Quorums nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG kommt eine Überschneidung mit der AVE regelmäßig nicht in Betracht. Im Einzelfall ist eine Überschneidung möglich, wenn das Quorum des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG für einen räumlich begrenzten TV erfüllt ist, 1 Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 438 ff. 2 Vgl. ausführlich Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 443 f. 3 Kritisch Löwisch, RdA 2009, 215 (221); Sodan/Zimmermann, ZfA 2008, 526 (539); Sittard, NZA 2009, 346 (351); Thüsing, ZfA 2008, 590 (610).

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Mit der Tarifnormerstreckung vergleichbare Regelungsinstrumente

Rz. 195 Teil 7

bundesweit aber weniger als 50 % der Arbeitnehmer bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigt sind. Nach dem in § 1 Abs. 1 MiArbG aufgestellten (und sich nach h.M. im Übrigen auch aus Art. 9 Abs. 3 GG ergebenden) Grundsatz, wonach die Regelung von Arbeitsbedingungen grundsätzlich durch TVe erfolgt, muss in diesem Fall konsequenterweise ein Erlass von Mindestarbeitsbedingungen unterbleiben. Jedenfalls muss der räumliche Geltungsbereich der Mindestarbeitsbedingung so eingegrenzt werden, dass kein repräsentativer TV mit der Verordnung nach dem MiArbG kollidiert.

6. Überschneidungen mit dem AEntG Denkbar sind hingegen Überschneidungen mit einer Rechtsverordnung nach § 7 Abs. 1 AEntG, da deren Erlass nicht an das 50 %-Quorum gebunden ist. Auch insoweit dürfte das AEntG aber vorrangig sein, d.h. in Bereichen, in denen eine Tarifnormerstreckung über das AEntG in Betracht kommt, scheidet eine Verordnung nach dem MiArbG aus. Da das AEntG bundesweite TVe verlangt (vgl. § 3 Satz 1 AEntG), sind insoweit auch regionale Differenzierungen nicht vorstellbar.

193

IV. Tariftreueerklärungen 1. Anwendungsbereich und Zweck der Regelungen Sog. Tariftreuegesetze, die es in der Bundesrepublik bislang nur auf Länderebene gibt, sollen Arbeitgeber unabhängig von eigener Tarifgebundenheit bei der Vergabe öffentlicher Aufträge verpflichten, ihren Mitarbeitern den für die jeweilige Branche maßgeblichen Tariflohn zu zahlen. Abgesichert wird diese Beschränkung dadurch, dass Unternehmer bei der Vergabe öffentlicher Aufträge entsprechende Tariftreueerklärungen abgeben müssen. Solche Tariftreueerklärungen stellen neben den dargestellten Instrumenten (§ 5 TVG, AEntG, MiArbG, § 3a AÜG) ein weiteres Instrument dar, durch das ein gewisses Lohnniveau gesichert werden soll1. Ihre Grundlage sollen solche Tariftreuegesetze in § 97 Abs. 4, 5 GWB, wonach öffentliche Aufträge an fachkundige, zuverlässige und leistungsfähige Unternehmen vergeben werden, finden. Die Tariftreuegesetze der Länder sollen diese Vorgaben konkretisieren.

194

Praktische Relevanz haben derartige Regelungen insbesondere bei der Vergabe öffentlicher Bauaufträge sowie im Rahmen von Verkehrsleistungen im öffentlichen Personennahverkehr. Kritisch zu sehen ist, dass gerade in diesen beiden Bereichen öffentliche Aufträge dominieren und somit ein faktischer Zwang aller Unternehmer zur Einhaltung der Tariftreuegesetze existiert, obwohl eine besondere Prüfung der TVe – wie nach § 5 TVG oder § 7 AEntG – nicht vorgenommen wurde2.

195

1 ErfK/Schlachter, § 21 AEntG Rz. 2. 2 Vgl. auch ErfK/Franzen, § 5 TVG Rz. 30; HWK/Henssler, § 5 TVG Rz. 41; Thüsing/ Braun/Thüsing, 1. Kap. Rz. 84.

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Teil 7 Rz. 196

Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung

Beispielsweise heißt es in § 10 Abs. 1 des Bremischen Tariftreue- und Vergabegesetzes, dass „öffentliche Aufträge für Dienstleistungen im Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs auf Straße und Schiene nur an Unternehmen vergeben werden, die sich bei der Angebotsabgabe schriftlich verpflichten, ihren Beschäftigten bei der Ausführung der Leistungen mindestens das am Ort der Ausführung tarifvertraglich vorgesehene Entgelt, einschließlich der Überstundenzuschläge, zum tarifvertraglich vorgesehenen Zeitpunkt zu bezahlen.“ In ihrer ersten Fassung regelten die Tariftreuegesetze, dass die Vergabe von öffentlichen Aufträgen nur an die Unternehmer möglich sein sollte, die sich verpflichten, ihren Arbeitnehmern Tariflohn zu zahlen. Als Rechtsfolge für einen Verstoß gegen diese Regelungen sehen die Landesgesetze Vertragsstrafen sowie teilweise Sperren von der Vergabe öffentlicher Aufträge für eine bestimmte Dauer vor.

2. Tariftreueerklärungen im Lichte der Rechtsprechung des BVerfG und EuGH 196

Während der Bundesgerichtshof Tariftreueerklärungen bereits im Jahre 2000 für verfassungswidrig hielt und die Frage dem Bundesverfassungsgericht vorlegte1, erklärte dieses mit Beschluss vom 11.7.2006 die Tariftreueregelung des § 1 Abs. 1 Satz 2 des Berliner Vergabegesetzes (BerlVgG) für verfassungsmäßig. Insbesondere sah es in derartigen Regelungen keinen Verstoß gegen das Grundrecht der Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG sowie das Grundrecht der Berufsfreiheit aus Art. 12 GG2. Weder die negative Koalitionsfreiheit, wonach jeder Einzelne das Recht habe, einer Koalition fernzubleiben, noch die aus Art. 9 Abs. 3 GG abgeleitete Bestandsgarantie bestehender Koalitionen werde durch Tariftreuegesetze berührt3. Zwar liege ein Eingriff in die Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG vor, der jedoch gerechtfertigt sei. Die Ziele dieser Regelungen, nämlich die Verhinderung eines Verdrängungswettbewerbes über die Lohnkosten sowie die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, würden Eingriffe in die Berufsfreiheit rechtfertigen4.

197

Dagegen sieht der EuGH seit „Rüffert“5 in Tariftreueregelungen einen Verstoß gegen europäisches Recht. Zum einen stünden Tariftreuegesetze in Widerspruch zur Entsenderichtlinie 96/71/EG, da diese enumerativ festlege, mit welchen Mitteln international-zwingende Mindestlöhne festgelegt werden dürften6. Tariftreuegesetze enthielten aber weder einen gesetzlichen Mindestlohn noch seien die in Bezug genommenen TVe (zwingend) allgemeinverbindlich. Dies verlange die Richtlinie aber für international-zwingende Arbeitsbedingungen. Daher seien die Regelungen nicht von der Richtlinie legitimiert. Zum 1 BGH v. 18.1.2000 – KVR 23/98, NJW 2000, 327. 2 BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, NJW 2007, 51; vgl. ausführlich Höfling/Rixen, RdA 2007, 360 ff. m.w.N. 3 BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, NJW 2007, 51 (53). 4 BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, NJW 2007, 51 (54 f.). 5 EuGH v. 3.4.2008 – Rs. C-346/06, NZA 2008, 537 – Rüffert; ErfK/Schlachter, § 21 AEntG Rz. 2. 6 Vgl. auch Frenz, NZS 2011, 321 (323).

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Mit der Tarifnormerstreckung vergleichbare Regelungsinstrumente

Rz. 198 Teil 7

anderen verstieße die Tariftreueregelung gegen die Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 AEUV. In dieser seien ausländische Unternehmer unzulässig beschränkt, wenn sie verpflichtet werden, denjenigen Arbeitnehmern ortsübliche Entgelte zu zahlen, die zur Durchführung eines öffentlichen Bauauftrages nach Deutschland entsandt werden. Insbesondere aus Arbeitnehmerschutzgesichtspunkten lasse sich keine Rechtfertigung der beschränkenden Wirkung der gesetzlichen Regelungen erkennen, da nicht ersichtlich sei, warum Arbeitnehmer im öffentlichen Bereich (für den die Vergabegesetz wegen der Bindung an Aufträge öffentlicher Stellen nur gelten) schutzwürdiger seien als im privaten Bereich, für den die Tariftreuegesetze gerade nicht gelten1.

3. Tariftreuegesetze der einzelnen Bundesländer Trotz der Rüffert-Entscheidung des EuGH existieren in einigen Bundesländern immer noch Regelungen zu Tariftreueerklärungen2. Entsprechende Regelungen gelten in Berlin, Bremen, Hamburg, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Thüringen und seit dem 1.5.2012 auch in Nordrhein-Westfalen3. Vor dem Hintergrund der Rüffert-Rechtsprechung versuchen die Bundesländer jedoch, ihre Tariftreuegesetze an die EuGH-Vorgaben anzupassen. Ein Weg besteht in der Verpflichtung zur Einhaltung allgemeinverbindlicher und vom AEntG erfasster TVe, was – jedenfalls für AEntG-TVe – mit der Entsenderichtlinie vereinbar sein dürfte4, soweit der TV auch im Bereich des jeweiligen öffentlichen Auftrags normativ anwendbar ist. Weiterhin finden sich teilweise gesetzlich normierte Vergabe-Mindestlöhne von beispielsweise 7,50 Euro in Berlin5 und 8,62 Euro in Nordrhein-Westfalen. Die Idee besteht hier darin, kraft Gesetz Mindestlöhne festzulegen, um damit die Voraussetzungen der Entsenderichtlinie zu erfüllen. Dies ist allerdings äußerst zweifelhaft, weil das Arbeitsortprinzip der Entsenderichtlinie so nicht einzuhalten ist, da nicht alle im jeweiligen Bundesland in der Branche tätigen Arbeitgeber gebunden werden, sondern nur solche, die öffentliche Aufträge annehmen. Ein dritter Ansatz liegt in der Verpflichtung zur Einhaltung der Kernarbeitszeiten der ILO6. Inwieweit die Neuregelungen der Tariftreuegesetze den Vorgaben der Rechtsprechung des EuGH standhalten können, ist bislang nicht abschließend geklärt7. Diesbezüglich ist ein aktuelles EuGH-Verfahren zur Zulässigkeit der Berücksichtigung sozialer Belange im Zuge von Vergabeverfahren von Interesse. Laut den 1 Thüsing/Granetzny, NZA 2009, 183. 2 Hofmann, RdA 2010, 351 (352); Thüsing/Granetzny, NZA 2009, 183 (186). Ausführlich hierzu außerdem Greiner, ZIP 2011, 2129. 3 Einen aktuellen Überblick über die jeweiligen Regelungen findet sich u.a. auf dem Internetauftritt der Hans-Böckler-Stiftung unter http://www.boeckler.de/index_tarif treue.htm#cont_37407. 4 Vgl. bspw. § 1 Abs. 2 des Berliner Ausschreibungs- und Vergabegesetzes. 5 Vgl. § 1 Abs. 4 des Berliner Ausschreibungs- und Vergabegesetzes. 6 Vgl. ausführlich Greiner, ZIP 2011, 2129. 7 Greiner, ZIP 2011, 2129; s. außerdem Thüsing/Granetzny, NZA 2009, 183 (184), wonach auch ergangene Nichtanwendungserlasse höchstens als allgemeine Verwaltungsvorschriften anzusehen seien, die nicht zur Rechtmäßigkeit der Normen führen könnten.

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Teil 7 Rz. 198

Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung

Schlussanträgen der Generalanwältin Kokott soll es zulässig sein, wenn bei der öffentlich-rechtlichen Auftragsvergabe Gesichtspunkte wie die soziale Verträglichkeit der Auftragserfüllung zum Vergabekriterium gemacht werden1. Der EuGH hat sich dieser Auffassung in seiner Entscheidung vom 10.5.2012 aber nicht angeschlossen2. Damit bestehen gegen die Tariftreuegesetze der Länder weiter erhebliche Bedenken. Zu prüfen ist zudem im Einzelfall ein Verstoß gegen die Entsenderichtlinie.

1 Schlussanträge der Generalanwältin Kokott v. 15.12.2011 im Verfahren C-368/10. 2 EuGH v. 10.5.2012 – Rs. C-368/10, noch n.v.

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Teil 8 Geltungsbereich Rz.

Rz.

A. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

I. Begriffe und Abgrenzung 1. Geltungsbereich des Tarifvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Tarifgebundenheit . . . . . . . . . . . 3. Tarifzuständigkeit . . . . . . . . . . .

2 4 6

III. Ausscheiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

II. Anknüpfungspunkte . . . . . . . . . . . .

7

IV. Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . 61

III. Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeinverbindlicherklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Tarifkonkurrenzen . . . . . . . . . . . 3. Tarifvorrang . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Tarifvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . 5. Tariföffnungsklauseln . . . . . . . . 6. Friedenspflicht . . . . . . . . . . . . . . 7. Unterstützungsstreik . . . . . . . . 8. Aussperrung . . . . . . . . . . . . . . . .

11 12 13 14 15 16 17 18 19

IV. Tarifautonome Bestimmung des Geltungsbereichs 1. Pflicht zur Festlegung des Geltungsbereichs . . . . . . . . . . . . . . . 20 2. Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 3. Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 V. Gerichtliche Überprüfung . . . . . . . 28 B. Räumlicher Geltungsbereich I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 II. Anknüpfungspunkte . . . . . . . . . . . . 33 III. Tarifverträge mit Auslandsberührung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 IV. Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 V. Normen über gemeinsame Einrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 VI. Ausscheiden aus dem räumlichen Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . 42 C. Sektoraler Geltungsbereich (Branche) I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 1. Abgrenzung zum fachlichen Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . 46 2. Abgrenzung zum persönlichen Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . 47

II. Anknüpfungspunkte . . . . . . . . . . . . 1. Betrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gemeinschaftsunternehmen, Gemeinschaftsbetrieb . . . . . . . .

48 50 54 55

D. Fachlicher Geltungsbereich I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 1. Abgrenzung zum persönlichen Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . 64 2. Abgrenzung zum sektoralen Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . 65 II. Anknüpfungspunkte . . . . . . . . . . . . 66 III. Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 IV. Vergütungsgruppen 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . 70 2. Zuordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 E. Persönlicher Geltungsbereich I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 1. Abgrenzung zum fachlichen Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . 75 2. Abgrenzung zur Tarifgebundenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 II. Anknüpfungspunkte 1. Arbeitnehmerbezogene Anknüpfungspunkte . . . . . . . . . . . . 77 2. Arbeitgeberbezogene Anknüpfungspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . 79 III. Grenzen 1. Diskriminierungsverbote . . . . . 82 2. Gleichheitssatz . . . . . . . . . . . . . . 86 IV. Veränderung persönlicher Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 F. Zeitlicher Geltungsbereich I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 II. Inkrafttreten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 II. Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 G. Normen über gemeinsame Einrichtungen I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

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Teil 8 Rz. 1

Geltungsbereich Rz.

Rz.

II. Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 1. Organisatorische Selbständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 2. Gemeinsamkeitspostulat . . . . . 100

IV. Allgemeinverbindlicherklärung . . 106

III. Normative Wirkung . . . . . . . . . . . . 101 V. Ausscheiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

Literatur: Assenmacher, Funktionen und Befugnisse der gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, 2003; Bayreuther, Die Novellen des Arbeitnehmerentsendeund des Mindestarbeitsbedingungsgesetzes, DB 2009, 678; Bepler, Tarifverträge im Betriebsübergang, RdA 2009, 65; Bepler, Die Rechtsprechung des BAG zur Tarifeinheit und Gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, NZA-Beilage 2/2011, 73; Boemke, Bindung der Tarifvertragsparteien an die Grundrechte, in: Oetker/Preis/Rieble (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, 2004, S. 613; Braner, Die Geltung von Tarifverträgen im gemeinsamen Betrieb, NZA 2007, 596; Buchner, Der Geltungsbereich des Tarifvertrages, Arbeitsrechts-Blattei, Systematische Darstellung 1550.4; Daeschler, Die sozialpolitische Bedeutung der gemeinsamen Einrichtungen im Baugewerbe, NZA-Beilage 1/2010, 6; Dunker, Unternehmensbezogene Tarifverträge, 2007; Frölich, Eintritt und Beendigung der Nachwirkung von Tarifnormen, NZA 1992, 1105; Hanau, Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität bei gemeinsamen Einrichtungen, NZA-Beilage 1/2010, 1; Hergenröder, Europäisches und Internationales Tarifvertragsrecht, AR-Blattei, Systematische Darstellung 1550.15; Hohenstatt/Schramm, Tarifliche Mindestlöhne: Ihre Wirkungsweise und ihre Vermeidung am Beispiel des Tarifvertrags zum Post-Mindestlohn, NZA 2008, 433; v. Hoyningen-Huene, Die Anwendung des branchenfremden Tarifvertrages, NZA 1996, 617; Klebeck, Organisatorischer Geltungsbereich, SAE 2007, 271; Kretz, Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 Absatz 4 TVG als „gesetzliche Gleichstellungsregelung“?, RdA 2011, 294; Mayer, Zur Öffnung des persönlichen Geltungsbereichs von Tarifverträgen für Heimarbeiter und Handelsvertreter, BB 1993, 1513; Müller, Differenzierungen im personellen Anwendungsbereich des § 30 TvÖD/TV-L/TV-H, öAT 2011, 51; Oetker, Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität bei Tarifverträgen über Gemeinsame Einrichtungen, NZA-Beilage 1/2010, 13; Oetker, Die Binnenorganisation Gemeinsamer Einrichtungen der Tarifvertragsparteien zwischen Paritätsgebot und Unternehmensmitbestimmung, in: Söllner/Gitter/Waltermann/Giesen/Ricken (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Meinhard Heinze, 2005, S. 597; Sahl, Leistung und Verfahren der gemeinsamen Einrichtungen ULAK und ZVK, NZA-Beilage 1/2010, 8; Thüsing/v. Hoff, Leistungsbeziehungen und Differenzierungen nach der Gewerkschaftszugehörigkeit bei Gemeinsamen Einrichtungen, ZfA 2008, 77; Waas, Probleme der Tarifgebundenheit bei Normen über Gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, RdA 2000, 81; Zachert, Firmentarifvertrag als Alternative?, NZA-Beilage 1/2000, 17.

A. Allgemeines 1

Der Geltungsbereich eines TVes hat entscheidende Bedeutung für die Wirkungsentfaltung tariflicher Bestimmungen. Die in § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG angeordnete unmittelbare und zwingende Wirkung der Rechtsnormen eines TVes ist auf seinen Geltungsbereich begrenzt. Für die Anwendbarkeit von Inhaltsnormen auf ein Arbeitsverhältnis muss grds. beiderseitige Tarifgebundenheit hinzukommen. Auch Betriebsnormen und betriebsverfassungsrechtliche Normen können ihre normative Wirkung nach § 4 Abs. 1 Satz 2 TVG nur im Geltungsbereich des TVes entfalten. Insoweit genügt aber die Tarifbindung des Ar-

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Allgemeines

Rz. 5 Teil 8

beitgebers1. Schließlich zeitigen Regelungen über gemeinsame Einrichtungen nach § 4 Abs. 2 TVG nur im Geltungsbereich des TVes ihre unmittelbare und zwingende Wirkung.

I. Begriffe und Abgrenzung 1. Geltungsbereich des Tarifvertrages Der Geltungsbereich eines TVes bestimmt den Kreis derjenigen, die seinen Regelungen überhaupt unterworfen sein können. Dabei ist zu differenzieren zwischen dem schuldrechtlichen Teil eines TVes auf der einen Seite, der lediglich die tarifschließenden Parteien bindet und dessen Bestimmung in der Regel wenig Probleme bereitet2, und dem normativen Teil auf der anderen Seite. Der Geltungsbereich nach § 4 TVG betrifft den normativen Teil. Er ist ein dem TV immanenter Bestandteil. Dies gilt selbst dann, wenn der Geltungsbereich im TV nicht festgeschrieben ist. Der Kreis der Normunterworfenen ist in keinem Fall unbeschränkt. Ist der Geltungsbereich im TV nicht ausdrücklich normiert, ist er durch Auslegung zu ermitteln (dazu ausführlich Rz. 22).

2

Anhand des Geltungsbereichs des TVes bestimmt sich, ob dessen Rechtsnormen, vorbehaltlich einer notwendigen Tarifbindung, auf ein Arbeitsverhältnis grds. Anwendung finden oder nicht. Den Geltungsbereich legen die tarifschließenden Parteien fest. Diese bestimmen, wo, für wen und in welchem zeitlichen Rahmen der TV gelten soll. Arbeitsverhältnisse außerhalb des Geltungsbereiches eines TVes werden von dessen normativer Wirkung nicht erfasst.

3

2. Tarifgebundenheit Vom Geltungsbereich strikt zu trennen ist das Kriterium der Tarifgebundenheit nach § 3 TVG (näher dazu Teil 6). Bereits aus dem Wortlaut der Bestimmungen in § 3 Abs. 2 und § 4 Abs. 1 TVG folgt, dass Geltungsbereich eines TVes auf der einen und Tarifgebundenheit auf der anderen Seite jeweils Voraussetzung für die normative Wirkung der Rechtsnormen eines TVes sind. Unterfällt ein Arbeitsverhältnis dem Geltungsbereich eines TVes, bedeutet dies nicht in jedem Fall, dass der TV für das Arbeitsverhältnis zur Anwendung gelangt. Umgekehrt folgt aus einer beiderseitigen Tarifgebundenheit nicht ohne weiteres, dass das Arbeitsverhältnis zwangsläufig einem bestimmten TV unterworfen ist. Für die unmittelbare und zwingende Wirkung eines TVes müssen beide Voraussetzungen vielmehr grds. kumulativ erfüllt sein (zur Allgemeinverbindlichkeit vgl. Rz. 12).

4

§ 3 TVG legt zwingend die Reichweite der Tarifgebundenheit fest und ist Spiegelbild der negativen Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG. Abweichungen von § 3 TVG sind weder durch TV noch durch Satzungen der tarifschließenden

5

1 ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 22. 2 Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 183.

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Teil 8 Rz. 6

Geltungsbereich

Parteien möglich1. Nur für die nach § 3 Abs. 1 TVG Tarifgebundenen können Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände überhaupt Regelungen vereinbaren, die normativ gelten. Eine Erstreckung der normativen Wirkung auf sog. Außenseiter oder andersorganisierte Arbeitnehmer und Arbeitgeber ist dagegen nicht möglich. Diese ist vielmehr einer Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG vorbehalten. Im Übrigen können die TV-Parteien grundsätzlich autonom entscheiden, für welche ihrer Mitglieder sie Regelungen treffen wollen. Dies erfolgt durch die Festlegung des Geltungsbereichs des TVes.

3. Tarifzuständigkeit 6

Auch die Tarifzuständigkeit ist vom Geltungsbereich eines TVes abzugrenzen. Ihre Tarifzuständigkeit legen die Koalitionen als Kernelement der Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG grds. eigenverantwortlich und autonom in ihren Satzungen fest (zur Tarifzuständigkeit im Einzelnen vgl. Teil 2 Rz. 204 ff.). Die Tarifzuständigkeit betrifft dabei nicht die Frage, für welche Arbeitsverhältnisse die Rechtsnormen eines TVes normative Wirkung zeitigen. Sie ist vielmehr Wirksamkeitsvoraussetzung des TVes. Nur in den Grenzen ihres Zuständigkeitsbereichs kann eine Koalition überhaupt wirksame TVe schließen2. TVe außerhalb der Zuständigkeit einer oder gar beider TV-Parteien sind unwirksam. Aus der Tarifzuständigkeit folgen damit zugleich Schranken für die Festlegung des Geltungsbereichs. Nur innerhalb ihrer festgelegten Tarifzuständigkeit können die Koalitionen den Geltungsbereich eines TVes autonom festsetzen3.

II. Anknüpfungspunkte 7

Für die Festlegung des Geltungsbereichs eines TVes durch die TV-Parteien bestehen unterschiedliche Anknüpfungspunkte, wobei zunächst die Terminologie zu klären ist. In TVen selbst wird begrifflich meist nach räumlichem, fachlichem, persönlichem und zeitlichem Geltungsbereich unterschieden. Dabei bestimmt der räumliche Geltungsbereich die geographischen Grenzen eines TVes. Beginn und Ende eines TVes folgen dem zeitlichen Geltungsbereich. Unklar ist dagegen, was unter dem „fachlichen“ sowie dem „persönlichen“ Geltungsbereich zu verstehen ist. Die insoweit in Wissenschaft und Rechtsprechung verwendete Terminologie ist uneinheitlich. Da Gewerkschaften weiterhin überwiegend nach dem Industrieverbandsprinzip organisiert sind, ist ein Anknüpfungspunkt für den Geltungsbereich die Branche, also der Wirtschaftssektor, dem ein Betrieb oder Unternehmen zugehörig ist. Folglich wird vielfach

1 Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 2; Jacobs/Krause/Oetker, § 6 Rz. 8; Kempen/Zachert/ Kempen, § 3 TVG Rz. 7; vgl. zur damit verbundenen Problematik einer OT-Mitgliedschaft Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 107 m.w.N. 2 Zur Überschreitung der Tarifzuständigkeit durch die CGZP siehe BAG v. 25.5.2012 – 1 ABN 27/12; BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289. 3 Vgl. HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 15 m.w.N.; Staudinger/Richardi/Fischinger, Vorbem. zu §§ 611 ff. BGB Rz 681 f., 696.

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Allgemeines

Rz. 9 Teil 8

vom „branchenmäßigen“ bzw. „betrieblich-branchenmäßigen“1 Geltungsbereich gesprochen, aber auch die Begriffe des „fachlichen“2 oder „betrieblichfachlichen“3 Geltungsbereichs sind üblich. Teilweise werden die Begriffe synonym verwendet4. In seinem Urteil vom 21. März 19735 hatte das BAG ausgeführt, dass derjenige Teil im TV, der die der Geltung unterworfenen Betriebe festlegt, entgegen der dortigen Ansicht der TV-Parteien nicht als fachlicher, sondern vielmehr als betrieblicher Geltungsbereich zu bezeichnen sei. Allerdings verwendete das BAG in der Folge die Terminologie selbst zuweilen uneinheitlich, indem es einmal vom fachlichen, einmal vom betrieblichen Geltungsbereich sprach6. Aus den unterschiedlichen Bezeichnungen folgen keine relevanten Auswirkungen. Ihr Hintergrund ist vielmehr dogmatischer Natur. Knüpft der Geltungsbereich eines TVes nämlich nicht an einen Betrieb, sondern an das Unternehmen an, ist die Verwendung des Begriffs „betrieblich“ jedenfalls ungenau. Der „fachliche“ Geltungsbereich betrifft wiederum nicht ausschließlich den Arbeitgeber. Vielmehr werden hier häufig auch Tätigkeitsmerkmale von Arbeitnehmern genannt. Die Anknüpfungspunkte eines festgelegten Geltungsbereichs an Betriebe oder Unternehmen innerhalb eines bestimmten Wirtschaftssektors werden daher nachfolgend unter dem Begriff des sektoralen Geltungsbereichs zusammengefasst.

8

Auch soweit ein TV unterschiedliche Regelungen für bestimmte Beschäftigtengruppen enthält oder sein Geltungsbereich von vornherein auf bestimmte Beschäftigtengruppen festgelegt ist, ist die Terminologie nicht einheitlich. So wird die Anknüpfung an fachliche und tätigkeitsbeschreibende Merkmale der Beschäftigten teilweise unter dem fachlichen Geltungsbereich7, teilweise unter dem persönlichen Geltungsbereich zusammengefasst8. Sinnvoll ist es, insoweit vom fachlichen Geltungsbereich als dem persönlichen Geltungsbereich im weiteren Sinne sowie dem persönlichen Geltungsbereich im engeren Sinne zu sprechen9. Anknüpfungen an fachliche und tätigkeitsbeschreibende Merkmale der Beschäftigten werden daher nachfolgend unter dem fachlichen Geltungsbereich zusammengefasst. Unter dem persönlichen Geltungsbereich im engeren Sinne werden demgegenüber Anknüpfungen an individuelle Merkmale der Beschäftigten, wie Alter, Betriebszugehörigkeit und Geschlecht, dargestellt10.

9

1 Dütz/Thüsing, Arbeitsrecht, Rz. 592 f.; MünchArbR/Hamacher, § 65 Rz. 122; v. Hoyningen-Huene, NZA 1996, 617; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 100. 2 So im „Streikparagraph“, vgl. § 160 SGB III. 3 Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 185. 4 Vgl. z. B. ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 12; KassHdb/Dörner, 8.1 Rz. 142. 5 BAG v. 21.3.1973 – 4 AZR 225/72, DB 1973, 1506. 6 Vgl. BAG v. 29.5.1991 – 4 AZR 524/90, AP Nr. 142 zu § 1 TVG Tarifverträge; BAG v. 11.9.1991 – 4 AZR 40/91, NZA 1992, 422. 7 Däubler/Deinert ‚ § 4 TVG Rz. 305; Jacobs/Krause/Oetker, § 5 Rz. 65. 8 ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 16; Hromadka/Maschmann, § 13 Rz. 234; Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 98. 9 So auch HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 20; Schaub, ArbR-Hdb., § 204 Rz. 23 f. 10 So auch HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 21.

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Teil 8 Rz. 10 10

Geltungsbereich

Festzuhalten bleibt noch, dass die genannten Anknüpfungen im Geltungsbereich nicht stets kumulativ erfolgen. Regelmäßig sind vielmehr lediglich einzelne Kriterien, wie z.B. die geographische Lage und die Branche, maßgeblich. Welche Anknüpfungen erfolgen, bestimmt sich häufig bereits nach der Art des TVes.

III. Relevanz 11

Der Geltungsbereich eines TVes ist nicht nur relevant für die Beantwortung der Frage, ob die Rechtsnormen des TVes auf ein Arbeitsverhältnis Anwendung finden oder nicht. Auch für weitere Fragen des kollektiven Arbeitsrechts kommt dem Geltungsbereich eines TVes entscheidende Bedeutung zu.

1. Allgemeinverbindlicherklärung 12

Grundsätzlich entfalten TVe normative Wirkung nur für tarifgebundene Arbeitnehmer und Arbeitgeber nach § 3 Abs. 1 TVG, wobei u.U. einseitige Tarifgebundenheit des Arbeitgebers genügt, vgl. § 3 Abs. 2 TVG. Eine Erstreckung auf anders- und nichtorganisierte Arbeitnehmer kann allerdings im Wege der Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG erfolgen. Voraussetzung ist nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 TVG, dass die tarifgebundenen Arbeitgeber nicht weniger als 50 % der unter den Geltungsbereich des TVes fallenden Arbeitnehmer beschäftigen (dazu näher Teil 6). § 5 TVG ersetzt dann lediglich die Tarifgebundenheit auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite. Die Erstreckung auf nicht tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien erfolgt nur, wenn diese wiederum dem Geltungsbereich des TVes unterfallen. Eine Besonderheit ergibt sich aus dem Arbeitnehmerentsendegesetz. Demnach finden die Rechtsnormen eines TVes im Falle der Allgemeinverbindlicherklärung unter bestimmten weiteren Voraussetzungen selbst auf Arbeitsverhältnisse zwischen einem Arbeitgeber mit Sitz im Ausland und seinen im räumlichen Geltungsbereich des TVes beschäftigten Arbeitnehmern zwingend Anwendung (dazu näher Rz. 40).

2. Tarifkonkurrenzen 13

Der Geltungsbereich eines TVes führt nicht stets dazu, dass auf ein Arbeitsverhältnis für die jeweiligen Regelungsbereiche jeweils nur ein bestimmter TV überhaupt Anwendung finden kann. Vielmehr kommt für ein Arbeitsverhältnis häufig die Anwendung unterschiedlicher TVe mit einander überschneidenden Regelungsbereichen in Betracht (vgl. dazu eingehend Teil 9 Rz 73 ff.). Das Verhältnis solcher TVe mit überschneidenden Regelungsbereichen zu einander ist gesetzlich nicht geregelt. Nach h.M. werden Tarifkonkurrenzen nach dem Spezialitätsprinzip aufgelöst. Anwendung findet demnach der speziellere Tarifvertrag. Welcher TV wiederum als der speziellere anzusehen ist, ergibt sich aus einem Vergleich der TVe anhand ihrer Geltungsbereiche. Anwendung findet derjenige TV, der dem Arbeitsverhältnis räumlich, sektoral, persönlich und zeitlich am nächsten steht und den Erfordernissen und Eigenarten des Betriebs

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Allgemeines

Rz. 15 Teil 8

am ehesten gerecht wird1. Der TV mit einem engeren räumlichen Geltungsbereich ist demnach spezieller als beispielsweise ein TV, der bundesweit räumliche Geltung beansprucht; ein FirmenTV ist spezieller als ein Verbands- oder FlächenTV. Der Geltungsbereich von TVen löst also Tarifkonkurrenzen nicht nur aus. Er trägt vielmehr auch wesentlich zu ihrer Auflösung bei.

3. Tarifvorrang Auch im Betriebsverfassungsrecht ist der Geltungsbereich eines TVes bedeutsam. Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 BetrVG bestehen nach § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG nur, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht. Der gesetzlich festgeschriebene Tarifvorrang dient dem Schutz der Tarifautonomie. Die Sperrwirkung im Falle tariflicher Regelungen tritt ein, soweit der TV die an sich mitbestimmungspflichtige Angelegenheit regelt. Dies setzt wiederum voraus, dass die fragliche Regelung im Betrieb überhaupt gilt. Eine bloße Tarifüblichkeit genügt nicht. Wenn und soweit ein TV indessen die mitbestimmungspflichtige Angelegenheit regelt und jedenfalls der Arbeitgeber tarifgebunden ist2, greift der Tarifvorrang. Das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates nach § 87 Abs. 1 BetrVG ist in diesem Fall, je nach Inhalt der tariflichen Regelung, beschränkt oder gar ausgeschlossen3.

14

4. Tarifvorbehalt Eine Begrenzung der betrieblichen Mitbestimmung ergibt sich überdies aus dem Tarifvorbehalt nach § 77 Abs. 3 BetrVG. Jene Vorschrift beschränkt zur Gewährleistung der Funktionstüchtigkeit der Tarifautonomie den möglichen Gegenstand von Betriebsvereinbarungen. Die Betriebsparteien sollen weder abweichende noch ergänzende Betriebsvereinbarungen, die in Konkurrenz zu Regelungen der TV-Parteien treten könnten, abschließen dürfen. Anders als im Falle der Sperrwirkung nach § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG ist eine Tarifgebundenheit des Arbeitgebers dabei nicht erforderlich4. Notwendig ist allerdings, dass der Betrieb unter den räumlichen und sektoralen Geltungsbereich des TVes, der Sperrwirkung entfalten soll, fällt5.

1 St. Rspr. des BAG seit BAG v. 29.3.1957 – 1 AZR 208/55, AP Nr. 4 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; vgl. BAG v. 23.3.2005 – 4 AZR 203/04, NZA 2005, 1003; BAG v. 9.12.2009 – 4 AZR 190/08, NZA 2010, 712; BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068. 2 Vgl. zu den dazu vertretenen Auffassung Richardi/Richardi, § 87 BetrVG Rz. 153 ff. m.w.N. 3 BAG v. 22.1.1980 – 1 ABR 48/77, NJW 1981, 75; ErfK/Kania, § 87 BetrVG Rz. 15; Werner in Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, § 87 BetrVG Rz. 22 ff. 4 BAG v. 20.11.2001 – 1 AZR 12/01, NZA 2002, 872; BAG v. 24.1.1996 – 1 AZR 597/95, NZA 1996, 948. 5 BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 268/09, NZA 2012, 231; BAG v. 22.3.2005 – 1 ABR 64/03, AP Nr. 26 zu § 4 TVG Geltungsbereich; Richardi/Richardi, § 77 BetrVG Rz. 264 m.w.N.

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Teil 8 Rz. 16

Geltungsbereich

5. Tariföffnungsklauseln 16

Eine weitere Regelung des Verhältnisses tariflicher zu anderen, abweichenden Vorschriften ist in § 4 Abs. 3 TVG festgeschrieben. Jene Bestimmung schafft die gesetzliche Grundlage für ungünstige Abweichungen von tarifvertraglichen Regelungen und verleiht auf diese Weise der Tarifautonomie Ausdruck. Daneben besteht eine ganze Reihe gesetzlicher Tariföffnungsklauseln, die eine Abweichung vom Gesetzesrecht aufgrund eines TVes gestatten. Beispielhaft genannt seien §§ 3 Abs. 1 Nr. 3, 9 Nr. 2 Halbs. 3 AÜG, § 622 Abs. 4 BGB, §§ 13 Abs. 1 Satz 1, 21 BUrlG oder §§ 7, 12 ArbZG. Die TV-Parteien können solche abweichende Regelungen im TV unmittelbar festlegen. Soweit die Arbeitsvertragsparteien nicht tarifgebunden sind, können sie „im Geltungsbereich“ eines TVes die Anwendung der tariflichen Regelung individualvertraglich durch Bezugnahmeklauseln vereinbaren. Voraussetzung ist also wiederum, dass der TV überhaupt Geltung beanspruchen könnte, wären die Arbeitsvertragsparteien tarifgebunden. Grund hierfür ist, dass dem TV nur innerhalb seines Geltungsbereichs die Vermutung einer sachgerechten und gleichgewichtigen Regelung zukommt. Bei gesetzlichen Tariföffnungsklauseln ist folglich auch bei nicht tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien der Geltungsbereich eines TVes maßgeblich. Dabei sind die tarifschließenden Parteien hinsichtlich der Festlegung des Geltungsbereichs für aufgrund von Tariföffnungsklauseln vereinbarte TVe grds. frei. Allerdings dürfen die TV-Parteien dabei nicht den gesetzgeberischen Intentionen zuwider handeln. Folglich wäre es unzulässig, den Geltungsbereich eines TVes im Rahmen der Öffnungsklauseln des § 9 Nr. 2 AÜG auf die „tarifgebundenen Mitglieder“ des tarifschließenden Arbeitgeberverbands zu beschränken1.

6. Friedenspflicht 17

Auch Arbeitskampfmaßnahmen sind aus dem Blickwinkel des Geltungsbereichs eines TVes zu betrachten. Auf Grundlage der sog. relativen Friedenspflicht ist nämlich nur die kampfweise Durchsetzung solcher Tarifforderungen zulässig, die nicht bereits Gegenstand einer wirksamen Tarifvereinbarung sind. Die Reichweite der relativen Friedenspflicht bestimmt sich notwendigerweise auch nach dem Geltungsbereich eines TVes. Allein der Umstand, dass eine Tarifforderung Gegenstand einer bestehenden Tarifvereinbarung ist, führt nicht ohne weiteres zur Unzulässigkeit hierauf gerichteter Arbeitskampfmaßnahmen. Hinzukommen muss, dass die geforderte tarifliche Neuregelung jedenfalls teilweise im Geltungsbereich eines bestehenden TVes liegt2. Erstreckt sich der TV nach seinem Geltungsbereich also beispielsweise nicht auf sämtliche in einem Betrieb beschäftigten Arbeitnehmergruppen, besteht für die vom Geltungsbereich nicht erfassten Arbeitnehmer keine vorrangige Regelung der Arbeitsbeziehungen, die eine befriedende Wirkung entfalten könnte. Jene nicht erfassten Arbeitnehmergruppen wären mithin nicht gehindert, eigene tarifliche Forderungen zu formulieren und diese mit Hilfe von Arbeitskämpfen durch1 Schüren, § 9 AÜG Rz. 152; nach Wiedemann, Einl. Rz. 392 widerspräche eine solche Regelung bereits dem Institut des tarifdispositiven Gesetzesrechts. 2 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1046.

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Allgemeines

Rz. 19 Teil 8

zusetzen1. Entsprechendes gilt hinsichtlich des zeitlichen Geltungsbereichs. Nach Beendigung eines TVes endet die Friedenspflicht2.

7. Unterstützungsstreik Der Geltungsbereich eines TVes war in der Vergangenheit überdies ausschlaggebend, soweit es um Arbeitskampfmaßnahmen zur Unterstützung eines in einem anderen Bereich geführten „Hauptarbeitskampfs“ ging, sog. Unterstützungsstreiks, auch als „Solidaritätsstreiks“ oder „Sympathiestreiks“ bezeichnet. Solche unterstützenden Streikmaßnahmen finden außerhalb des möglichen Geltungsbereichs der kampfweise durchzusetzenden tariflichen Regelung statt. Ursprünglich hatte das BAG unterstützenden Arbeitskampfmaßnahmen in der Regel für unzulässig erachtet3. Mit Urteil vom 19. Juni 2007 hat das BAG das Regel-Ausnahmeverhältnis indessen umgekehrt und festgestellt, dass sich auch die Zulässigkeit eines Unterstützungsstreiks nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit richte. Rechtswidrig sei ein Unterstützungsstreik, wenn er zur Unterstützung des Hauptarbeitskampfs offensichtlich ungeeignet, offensichtlich nicht erforderlich oder unangemessen ist4. Die Unzulässigkeit von Unterstützungsstreiks ergibt sich mithin nicht mehr bereits und generell aus der Überschreitung der für den Hauptarbeitskampf maßgeblichen Grenzen des Tarifgebiets. Der Geltungsbereich eines TVes ist damit zwar weiterhin für die begriffliche Unterscheidung zwischen Haupt- und Unterstützungsarbeitskampf relevant. Für die Bewertung der Zulässigkeit unterstützender Streikmaßnahmen ist er indessen nicht mehr ausschlaggebend.

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8. Aussperrung Für die Bewertung von Arbeitskampfmaßnahmen des Arbeitgebers ist der Geltungsbereich des TVes dagegen weiterhin maßgeblich. Nach der geltenden – und zum Teil heftig kritisierten5 – Rechtsprechung des BAG wird die Zulässigkeit von Abwehraussperrungen durch das Tarifgebiet bestimmt. Zur Verhinderung einer Eskalation des Arbeitskampfs sowie zur Gewährleistung der Kampfparität sei eine solche Begrenzung des Kampfgebiets geboten6. Eine „über den räumlichen und betrieblich-fachlichen Geltungsbereich“ des angestrebten TVes hinausgehende Abwehraussperrung des Arbeitgebers sei unzulässig7. Ob diese Rechtssätze nach dem Paradigmenwechsel des BAG bei der Bewertung der Zulässigkeit von Unterstützungsstreiks ohne weiteres fortgelten, ist fraglich. 1 Vgl. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 21 III 7 b (S. 1046); siehe dazu auch BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, NZA 2003, 734. 2 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 22 II 4 b (S. 1082); Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, § 4 TVG Rz. 10. 3 BAG v. 5.3.1985 – 1 AZR 468/83, NZA 1985, 504; BAG v. 12.1.1988 – 1 AZR 219/86, NZA 1988, 474. 4 BAG v. 19.6.2007 – 1 AZR 396/06, NZA 2007, 1055. 5 Vgl. etwa Hanau, AfP 1980, 126; Konzen/Scholz, DB 1980, 1593; Seiter, RdA 1981, 65; Otto, RdA 1981, 285. 6 BAG v. 10.6.1980 – 1 AZR 168/79, NJW 1980, 1653; vgl. auch BAG v. 7.6.1988 – 1 AZR 597/86, NZA 1988, 890. 7 Vgl. Kissel, § 55 Rz. 3.

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Teil 8 Rz. 20

Geltungsbereich

Gleichwohl hat das BAG in seinem Urteil zur Zulässigkeit solcher Sympathiestreiks1 diese Grundsätze wiederholt und betont, dass eine Beschränkung der Abwehraussperrung auf das Tarifgebiet notwendig sei, um eine gleichgewichtige Verhandlungsposition für die Arbeitnehmer herzustellen und zu wahren.

IV. Tarifautonome Bestimmung des Geltungsbereichs 1. Pflicht zur Festlegung des Geltungsbereichs 20

Durch den Tarifabschluss werden die tarifschließenden Parteien normsetzend tätig. Wie jeder Normsetzungsgeber dürfen sie dabei den Geltungsbereich im Rahmen ihrer Zuständigkeit und innerhalb der Grenzen höherrangigen Rechts eigenmächtig festlegen. Die Bestimmung des Geltungsbereiches erfolgt tarifautonom. Hierin besteht der wesentliche Unterschied zur Tarifgebundenheit. Jene steht nach Maßgabe der negativen Koalitionsfreiheit nicht zur Disposition der TV-Parteien.

21

Aufgrund des rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebots für Rechtsnormen muss der Kreis der Normunterworfenen ermittelbar sein. Regelmäßig erfolgt die Festlegung des Geltungsbereichs in den Eingangsnormen des TVes2. Der Geltungsbereich kann sich indessen auch aus den materiell-rechtlichen tariflichen Regelungen ergeben. Zur ausdrücklichen Regelung des Geltungsbereiches sind die TV-Parteien gleichwohl nicht verpflichtet3. Möglich ist daher, dass ein TV keine ausdrückliche Regelung zum Geltungsbereich enthält. In diesem Fall sind die Normunterworfenen durch Auslegung zu ermitteln. Lässt sich allerdings auch mit Hilfe von Auslegung kein eindeutiger Geltungsbereich bestimmen, ist der TV wegen Verstoßes gegen das Bestimmtheitsgebot unwirksam4.

2. Auslegung 22

Fehlt es an einer expliziten Regelung des Geltungsbereichs, ist dieser im Wege der Auslegung zu ermitteln. Zur Auslegung von TVen werden unterschiedliche Theorien vertreten (vgl. dazu im Einzelnen Teil 3)5. Jedenfalls ist auch bei der Auslegung des Geltungsbereiches eines TVes über den reinen Tarifwortlaut hinaus der wirkliche Wille der TV-Parteien zu berücksichtigen, wie dieser in den tariflichen Normen Niederschlag gefunden hat6.

23

Erste Anhaltspunkte für die Auslegung ergeben sich aus der Tarifzuständigkeit. Die Befugnis zur autonomen Festlegung des Geltungsbereichs besteht wie dar1 BAG v. 19.6.2007 – 1 AZR 396/06, NZA 2007, 1055. 2 Vgl. z.B. § 1 TVöD-AT; § 1 MTV Metall- und Elektroindustrie Südbaden v. 14.6.2005; Rahmen-TV Gebäudereinigerhandwerk Bundesrepublik i.d.F. v. 3.8.2006; § 1 Bundesrahmen-TV Baugewerbe Bundesrepublik i.d.F. v. 20.8.2007. 3 Jacobs/Krause/Oetker, § 5 Rz. 17; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 122; Wiedemann/ Wank, § 4 TVG Rz. 106. 4 Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 20; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 106. 5 Vgl. hierzu nur ErfK/Franzen, § 1 TVG Rz. 92 ff. m.w.N. 6 BAG v. 18.11.2010 – 6 AZR 454/09, öAT 2011, 64.

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Allgemeines

Rz. 24 Teil 8

gelegt nur in den Grenzen der Tarifzuständigkeit (vgl. dazu Rz. 6). Enthält ein TV also keine Bestimmungen zum Geltungsbereich, ist im Zweifel davon ausgehen, dass die tarifschließenden Parteien diesen nicht einschränken wollten und der Geltungsbereich mithin ihrer Tarifzuständigkeit entspricht1. Auch aus der Natur des TVes kann auf seinen Geltungsbereich geschlossen werden. Wurde ein FirmenTV geschlossen, sind diesem qua seiner Natur allenfalls sämtliche Betriebe des tarifschließenden Arbeitgebers, nicht aber der entsprechenden Branche unterworfen. Weitere mögliche Auslegungskriterien sind die Tarif- und Entstehungsgeschichte des TVes sowie die praktische Tarifausübung2. Überdies kann der Zusammenhang, in dem ein TV steht, bei der Auslegung helfen. Konkretisiert der fragliche TV beispielsweise einen MantelTV, kann für die Auslegung des Geltungsbereichs auf die Festlegung im MantelTV zurückgegriffen werden3. Nicht möglich ist ein solcher Rückgriff allerdings, wenn der TV gerade die Anwendbarkeit des TVes voraussetzt, dessen Geltungsbereich auszulegen ist4. Weiter kann sich der Geltungsbereich aus einem durch den späteren TV abgelösten TV ergeben5. Ggf. kann ergänzend der Spezialitätsgrundsatz im Falle der Tarifkollision herangezogen werden6. Bei Fehlen zeitlicher Bestimmungen tritt der TV im Zweifel mit seinem Abschluss in Kraft. Gesetzliche Bestimmungen über die Dauer der Tarifbindung sowie die Fortgeltung der Rechtsnormen nach Ablauf eines TVes enthalten § 3 Abs. 3 TVG bzw. § 4 Abs. 5 TVG. Mit ihrer Hilfe lässt sich der gesamte zeitliche Geltungsbereich ebenfalls durch Auslegung ermitteln.

3. Grenzen Nach Art. 9 Abs. 3 GG erfolgt die Regelung zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen vorrangig durch die Koalitionen. Der Abschluss von TVen ist wesentlicher Bestandteil der koalitionsspezifischen Betätigung. Beim Abschluss eines TVes üben die TV-Parteien ihre verfassungsrechtlich geschützte Tarifautonomie aus. Dies schließt die Befugnis zur Festlegung der Reichweite der tariflichen Geltung ein. Gleichwohl bedeutet dies nicht, dass die TV-Parteien bei der Bestimmung des Geltungsbereichs keinen Beschränkungen unterliegen. Zunächst folgt eine Beschränkung wie dargelegt aus der Tarifzuständigkeit (dazu Rz. 6). Überdies sind die TV-Parteien an zwingendes, höherrangiges Recht gebunden. Dies umfasst nicht nur die Bindung an europäisches Primärrecht, insbesondere an Art. 157 AEUV (dazu Rz. 85), sowie an deutsches zwingendes Arbeitnehmerschutzrecht, sondern gerade auch die Bindung an die Grundrechte. Dabei besteht die Bindung unabhängig davon, ob die TV-Parteien materielle Arbeitsbedingungen in einem TV regeln oder bestimmte Arbeitnehmergruppen nicht in den Geltungsbereich des TVes einbeziehen. 1 BAG v. 13.6.1957 – 2 AZR 402/54, AP Nr. 6 zu § 4 TVG Geltungsbereich. 2 Vgl. zur Auslegung BAG v. 12.9.1984 – 4 AZR 336/82, NZA 1985, 160. 3 BAG v. 13.6.1957 – 2 AZR 402/54, AP Nr. 6 zu § 4 TVG Geltungsbereich; HWK/ Henssler, § 4 TVG Rz. 15. 4 BAG v. 10.6.2009 – 4 AZR 77/08, NZA 2010, 248 zur Auslegung des TVöD unter Rückgriff auf den TVÜ-VKA. 5 So im Ergebnis auch Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 189. 6 Vgl. Jacobs/Krause/Oetker, § 5 Rz. 18.

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Teil 8 Rz. 25 25

Geltungsbereich

Fraglich ist, ob die TV-Parteien in gleicher Weise wie der Gesetzgeber – also unmittelbar – an die Grundrechte gebunden sind. In Literatur und Rechtsprechung wird dies unterschiedlich bewertet (dazu ausführlich Teil 1 Rz. 33 ff.)1. So hat der 3. Senat des BAG mehrfach entschieden, dass die TV-Parteien bei ihrer Rechtsetzung an die „zentrale Gerechtigkeitsnorm des Art. 3 Abs. 1 GG“ gebunden seien. Infolgedessen misst der 3. Senat Tarifregelungen unmittelbar an Art. 3 Abs. 1 GG und stellt darauf ab, ob die TV-Parteien im Wesentlichen gleich liegende Sachverhalte ohne sachlichen Grund unterschiedlich behandeln2. Dieser Rechtsansicht ist der 4. Senat des BAG wiederholt entgegengetreten3. Demnach sind die TV-Parteien „bis zur Grenze der Willkür“ berechtigt, in eigener Selbstbestimmung den Geltungsbereich ihrer Tarifregelungen festzulegen. Diese Grenze sei erst überschritten, wenn die Differenzierung auch im persönlichen Geltungsbereich unter keinem Gesichtspunkt, auch koalitionspolitischer Art, plausibel erklärbar sei. Auch nach Ansicht des 6. Senats sind die TV-Parteien bei der tariflichen Normsetzung nicht unmittelbar grundrechtsgebunden4. Allerdings verpflichte die Schutzpflichtfunktion der Grundrechte die Arbeitsgerichte dazu, solchen Tarifregelungen die Durchsetzung zu verweigern, die zu gleichheits- und sachwidrigen Differenzierungen führen und deshalb Art. 3 GG verletzen. Dabei soll den TV-Parteien als selbstständigen Grundrechtsträgern indessen aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zukommen. Im Ergebnis kamen die Senate auch bei hilfsweiser Zugrundelegung der jeweils anderen Auffassung zu entsprechenden Ergebnissen, weshalb eine Anrufung des Großen Senats bislang nicht erfolgt ist. Auch das BVerfG konnte die Frage nach der Reichweite der Bindung der TV-Parteien an den Gleichheitssatz bislang offenlassen5. In der Sache ist dem 6. Senat beizupflichten. Zwar gewährleistet Art. 3 Abs. 1 GG die Rechtssetzungs- und Rechtsanwendungsgleichheit6. Insofern ist zu berücksichtigen, dass die TV-Parteien normsetzend tätig werden. Andererseits sind die TV-Parteien aber selbst Grundrechtsträger und üben bei der Normsetzung ihre verfassungsrechtlich geschützte Tarifautonomie aus. Gleich welcher Auffassung man folgen mag, bleibt jedenfalls festzuhalten, dass die TV-Parteien bei der Festlegung des Geltungsbereichs u.a. den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz zu beachten haben, und zwar unabhängig davon, wie diese Verpflichtung begründet wird7.

1 Vgl. dazu Boemke, FS 50 Jahre BAG, S. 613. 2 BAG v. 7.3.1995 – 3 AZR 282/94, NZA 1996, 48; BAG v. 4.4.2000 – 3 AZR 729/98, NZA 2002, 917; BAG v. 19.3.2002 – 3 AZR 121/01, AP Nr. 53 zu § 1 BetrAVG Gleichbehandlung. 3 Bereits BAG v. 24.4.1985 – 4 AZR 457/83, NZA 1985, 602; BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 563/99, NZA 2001, 613; BAG v. 4.4.2001 – 4 AZR 232/00, NZA-RR 2002, 331; offen gelassen in BAG v. 25.6.2003 – 4 AZR 405/02, NZA 2004, 215. 4 BAG v. 18.3.2010 – 6 AZR 156/09, NZA 2010, 824; BAG v. 22.4.2010 – 6 AZR 966/08, NZA 2010, 947. 5 BVerfG v. 9.8.2000 – 1 BvR 514/00, NZA 2000, 1113. 6 Grundlegend BVerfG v. 23.10.1951 – 2 BvG 1/51, BVerfGE 1, 14; vgl. Wiedemann, Anm. zu BAG v. 17. 11. 1998 – 1 AZR 147/98, RdA 2000, 94 (97). 7 Thüsing/Braun/Thüsing, 1. Kap. Rz. 35 ff.

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Rz. 28 Teil 8

Unklar ist, ob Regelungen unterschiedlicher TVe, deren Geltungsbereichen jeweils nur eine bestimmte Arbeitnehmergruppe unterliegen, nach Maßgabe des Gleichheitssatzes zu prüfen sind. Abzulehnen ist dies jedenfalls, wenn es sich um Tarifwerke unterschiedlicher TV-Parteien handelt1. Aus dem Gleichheitssatz lässt sich ein Gebot, ähnliche Sachverhalte in verschiedenen Ordnungsund Regelungsbereichen unterschiedlicher TV-Parteien gleich zu regeln, nicht ableiten. Vielmehr setzt ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz gerade eine Differenzierung voraus, die ein- und dieselbe TV-Partei zu verantworten hat. Nur diese wäre überhaupt in der Lage, eine Gleichbehandlung verschiedener Gruppen innerhalb eines TVes herzustellen. Handelt es sich indessen um dieselben TV-Parteien, ist eine Überprüfung der Gesamtheit der tariflichen Regelung nicht schon deshalb abzulehnen, weil die entsprechenden tariflichen Vorschriften Gegenstand unabhängig geführter Tarifverhandlungen waren2.

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Neben dem allgemeinen Gleichheitssatz setzen weitere spezialgesetzliche Diskriminierungsverbote der Tarifautonomie Grenzen. So bindet § 18 Abs. 1 AGG ausdrücklich auch die TV-Parteien. Entsprechendes gilt für das Benachteiligungsverbot nach § 4 TzBfG3, das ebenfalls nicht zur Disposition der TVParteien steht4. Solche gesetzlichen Beschränkungen der Tarifautonomie sind auch für die Festlegung des Geltungsbereichs maßgeblich. Relevant werden diese Vorschriften insbesondere bei der Festlegung des persönlichen Geltungsbereichs (dazu Rz. 82 ff.).

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V. Gerichtliche Überprüfung Der Geltungsbereich eines TVes kann Gegenstand einer gerichtlichen Überprüfung sein. Unzulässig wäre allerdings eine Feststellungsklage einer Gewerkschaft nach § 256 ZPO über den Geltungsbereich eines TVes gegenüber einem einzelnen Arbeitgeber. Insoweit fehlt es an einem feststellungsfähigen Rechtsverhältnis5. Die Anwendbarkeit eines TVes im Arbeitsverhältnis kann hingegen Gegenstand einer Feststellungsklage sein, wenn zwischen den Arbeitsvertragsparteien Streit über den Geltungsbereich des TVes besteht6. Gegenstand eines Beschlussverfahrens nach § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG i.V.m. § 97 ArbGG ist die Feststellung der Tariffähigkeit sowie der Tarifzuständigkeit, nicht hingegen die des davon zu unterscheidenden Geltungsbereichs. Allerdings zeitigt die Entscheidung des Gerichts über die Tarifzuständigkeit ggf. nach § 9 TVG Bindungswirkung u.a. für gerichtliche Auseinandersetzungen zwischen tarifgebundenen Parteien. Die Feststellung, dass ein bestimmter Ar1 BAG v. 18.9.2002 – 2 AZR 537/02, ZTR 2004, 535; BAG v. 16.12.2003 – 3 AZR 668/02, NZA-RR 2004, 595. 2 EuGH v. 27.10.1993 – Rs. C-127/92, NZA 1994, 797; BAG v. 17.10.1995 – 3 AZR 882/94, NZA 1996, 656; BAG v. 4.4.2000 – 3 AZR 729/98, NZA 2002, 917. 3 Vgl. zur Unvereinbarkeit von § 1 Abs. 2 lit. i) TV-L Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 154. 4 Bei AltersteilzeitTVen ist eine Herausnahme geringfügig Beschäftigter möglich, vgl. BAG v. 22.2.2000 – 3 AZR 845/98, NZA 2000, 659. 5 BAG v. 10.5.1989 – 4 AZR 80/89, NZA 1989, 687. 6 BAG v. 26.7.2001 – 8 AZR 759/00, BB 2002, 49; BAG v. 28.5.1997 – 4 AZR 663/95, NZA 1997, 1066.

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Teil 8 Rz. 29

Geltungsbereich

beitgeber dem Geltungsbereich eines TVes unterworfen ist, ist daher letztlich durch das Beschlussverfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG i.V.m. § 97 ArbGG mit der erweiterten Rechtskrafterstreckung nach § 9 TVG zu erreichen1. Inzident wird der Geltungsbereich u.a. im Falle von Leistungsklagen sowie bei Einwirkungsklagen gegen einen Arbeitgeberverband, gerichtet auf die Einwirkung auf einen Arbeitgeber zur Durchführung eines VerbandsTVes, geprüft.

B. Räumlicher Geltungsbereich I. Begriff 29

Der räumliche Geltungsbereich bestimmt die geographischen Grenzen, innerhalb derer der TV überhaupt nur gelten soll. Die Festlegung des räumlichen Geltungsbereichs kann das Bundesgebiet, ein Bundesland oder eine bestimmte Region, wie Bezirke, Kreise oder Orte, umfassen. Notwendig ist stets die Bestimmbarkeit des festgelegten Tarifgebiets.

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Die räumlichen Grenzen des Geltungsbereichs können die tarifschließenden Parteien im Rahmen ihrer Tarifzuständigkeit autonom festlegen. Insbesondere können sie einzelne Orte oder Gebiete durch Nichtaufnahme in ein Orts- bzw. Gebietsverzeichnis aus dem Geltungsbereich herausnehmen. Aus dem Wirksamkeitspostulat der Tarifzuständigkeit folgt wiederum, dass ein sich auf das gesamte Bundesgebiet erstreckender TV nur zwischen bundesweit organisierten Verbänden oder Spitzenverbänden oder als mehrgliedriger TV mit einzelnen Verbänden geschlossen werden kann, die zuständigkeitshalber das gesamte Bundesgebiet erfassen2.

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Die Tarifgebiete variieren von TV zu TV. TVe des öffentlichen Dienstes für Angestellte des Bundes (TVöD) gelten bundesweit, während TVe für die Angestellten der Länder (TV-L) und Kommunen naturgemäß jedenfalls auf Länderebene begrenzt sind. In der Privatwirtschaft sind die Usancen in den jeweiligen Branchen unterschiedlich. So sind regionale Grenzen in der Metall- und Elektroindustrie üblich3, während die TVe im Baugewerbe generell auf Bundesebene abgeschlossen werden4. In anderen Branchen werden wiederum je nach Art des TVes unterschiedliche Grenzen festgelegt. So werden in der chemischen Industrie MantelTVe auf Bundesebene geschlossen, während die EntgeltTVe räumlich auf Länderebene begrenzt werden. Häufig finden sich auch Unterscheidungen hinsichtlich „Ost“ („neue“ Bundesländer) und „West“ („alte“ Bundesländer)5. 1 BAG v. 10.5.1989 – 4 AZR 80/89, NZA 1989, 687. 2 Vgl. hierzu jüngst BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289. 3 So z.B. der MTV zum ERA-TV für Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie in Nordwürttemberg/Nordbaden, der räumlich „für die Regierungsbezirke Nordwürttemberg/Nordbaden des Landes Baden-Württemberg, nach dem Stand vom 31. Dezember 1969“ gilt. 4 So z.B. der Bundesrahmen-TV für das Baugewerbe. 5 Zur Zulässigkeit der Differenzierung vgl. BVerfG v. 9.8.2000 – 1 BvR 514/00, NZA 2000, 1113; zu Unterscheidungen im TVöD vgl. Müller, öAT 2011, 51.

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Räumlicher Geltungsbereich

Rz. 35 Teil 8

Dem räumlichen Geltungsbereich kommt nicht stets eigenständige Bedeutung zu. Insbesondere im Falle eines FirmenTVes entspricht der räumliche Geltungsbereich in aller Regel dem sektoralen Geltungsbereich. Firmenbezogene VerbandsTVe können wiederum nur solche Unternehmen oder Betriebe erfassen, die überhaupt in der räumlichen Tarifzuständigkeit des Verbandes liegen.

32

II. Anknüpfungspunkte Die TV-Parteien können tarifautonom unterschiedliche Anknüpfungspunkte für die Bestimmung des Objekts im räumlichen Geltungsbereich wählen. In Betracht kommen Unternehmenssitz, Ort des Betriebs oder Arbeitsort. Dabei erschwert eine Anknüpfung an den Unternehmenssitz unternehmerische Gestaltungen zur Verlegung bestimmter Einheiten aus dem räumlichen Geltungsbereich eines TVes (dazu nachfolgend Rz. 42 ff.).

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Grundsätzlich erfolgt die Anknüpfung für Inhalts-, Abschluss- und Beendigungsnormen eines TVes sowie seine betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Normen einheitlich. Ist z.B. als Anknüpfungspunkt der Sitz des Unternehmens gewählt, gilt dies regelmäßig auch für die betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Normen. Führt die einheitliche Anknüpfung indessen zu keiner sinnvollen Anwendung des TVes, ist ergänzend der Sitz des Betriebs heranzuziehen1.

34

Für die Zuordnung eines Arbeitsverhältnisses zum räumlichen Geltungsbereich eines TVes ist überdies nach allgemeinen Grundsätzen der Schwerpunkt des Arbeitsverhältnisses maßgeblich. Dieser befindet sich am Erfüllungsort, d.h. an dem Ort, an dem die Leistung zu erbringen ist (vgl. § 269 BGB). Allerdings erbringen nicht sämtliche Arbeitnehmer ihre Arbeitsleistung stets an ein- und demselben Ort. Vielmehr wechseln die jeweiligen Arbeitsorte beispielsweise im Montagebereich oder bei Handlungsreisenden regelmäßig2. Denkbar ist weiter, dass ein Arbeitnehmer vorübergehend oder dauerhaft an einen anderen Arbeitsort entsendet wird. In all diesen Fällen ist der Schwerpunkt eines Arbeitsverhältnisses im Einzelfall zu prüfen. Bei dauerhafter Entsendung verlagert sich der Schwerpunkt des Arbeitsverhältnisses in aller Regel. Im Falle vorübergehender Ortsveränderungen, wie im Falle von Außenarbeiten, verbleibt der Schwerpunkt des Arbeitsverhältnisses dagegen am Sitz des Betriebes, vom dem aus der Arbeitnehmer eingesetzt wird3. Der Betrieb, von dem aus der Einsatz eines Arbeitnehmers erfolgt, ist wiederum der Betrieb oder Betriebsteil, dem der Arbeitnehmer arbeitsorganisatorisch zugeordnet ist, in dem seine Arbeitseinsätze geplant und koordiniert werden, von dem aus er tätig wird und von dem er Weisungen für seine tägliche Arbeit erhält4. Diese Koordination kann aus dem Hauptbetrieb oder aber aus einer Zweigorganisation, beispielsweise einem Nebenbetrieb, heraus erfolgen. Welche Anforderungen eine solche Zweigorganisation erfüllen muss, um Anknüpfungspunkt für die Bestimmung

35

1 2 3 4

Vgl. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 134. Zu den Besonderheiten im AEntG vgl. Rz. 40. Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 163; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 117. BAG v. 25.6.1998 – 6 AZR 475/96, NZA 1999, 274.

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Teil 8 Rz. 36

Geltungsbereich

des räumlichen Geltungsbereichs zu sein, wird unterschiedlich beurteilt1. Das BAG stellt insoweit auf die „organisatorische Steuerung“ des Arbeitseinsatzes ab. Hierfür bedarf es eines Mindestmaßes an organisatorischer Selbstständigkeit der Zweigstelle, wobei die Zweigstelle das Direktionsrecht des Arbeitgebers ausüben muss. Stellt die Zweigstelle dagegen lediglich eine untergeordnete, unselbstständige Arbeitsstätte dar und erhält der Arbeitnehmer Weisungen weiterhin vom „Hauptbetrieb“, liegt der Schwerpunkt des Arbeitsverhältnisses an der Hauptbetriebsstätte, mit der Folge, dass das Arbeitsverhältnis dem räumlichen Geltungsbereich des dort geltenden TVes unterfällt2. Diese Grundsätze gelten dabei allgemein. Soweit es sich also bei Zweigorganisationen oder Betriebsstätten um selbstständige organisatorische Einheiten handelt, die Arbeitgeberfunktionen ausüben, sind solche Zweigniederlassungen und Betriebsstätten nicht vom räumlichen Geltungsbereich des Stammbetriebs erfasst3. 36

Fraglich ist die räumliche Geltung im Falle von Veränderungen des Arbeitsorts bei „Ost-“ und „West-TVen“. Nach § 38 Abs. 1 lit a) TVöD gelten die Regelungen für das Tarifgebiet Ost für die Beschäftigten, deren Arbeitsverhältnis im Beitrittgebiet „begründet worden ist und bei denen der Bezug des Arbeitsverhältnisses zu diesem Gebiet fortbesteht“4. Wird ein Arbeitnehmer, der grundsätzlich in den „neuen“ Bundesländern unter dem Geltungsbereich eines OstTVes beschäftigt ist, vorübergehend in eine Betriebsstätte im Tarifgebiet West entsendet, wird unterschiedlich beurteilt, welchem räumlichen Geltungsbereich das Arbeitsverhältnis zuzuordnen ist. Nach soweit ersichtlich überwiegender Auffassung ist auch dies eine Frage interlokalen Tarifrechts, mit der Folge, dass der Schwerpunkt des Arbeitsverhältnisses ebenfalls ausschlaggebend ist5. Zur Weitergeltung der Vorgängerregelung des TVöD war nach Ansicht des BAG bei einer vorübergehenden Entsendung eines Angestellten, dessen Arbeitsverhältnis im Beitrittsgebiet (BAT-O) begründet war, in das Tarifgebiet West (BAT) auf den Zweck der Tätigkleit im Geltungsbereich des BAT abzustellen6. Diese Grundsätze sind auf einen Wechsel vom Tarifgebiet Ost zum Tarifgebiet West im TVöD bzw. TV-L entsprechend anwendbar7.

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Entsendet ein Bauunternehmen einen Bauarbeiter vorübergehend zum Arbeitseinsatz ins Ausland und treffen die Parteien für diesen Einsatz keine Vergütungsregelung, beurteilt sich nach Ansicht des BAG die Frage, ob als übliche Vergütung nach § 612 BGB der Mindestlohn Ost oder der Mindestlohn West zu zahlen ist, nach dem Einstellungsort8. 1 Vgl. LAG Düsseldorf v. 23.8.1956 – 3 Sa 275/56, n.v.; LAG Niedersachsen v. 3.4.1981 – 9 Sa 134/80, n.v. 2 BAG v. 25.6.1998 – 6 AZR 475/96, NZA 1999, 274; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 17 III 3 a (S. 744); Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 23. 3 Vgl. Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 163; Thüsing/Braun/Wißmann, 4. Kap. Rz. 177; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 129. 4 Vgl. dazu auch die frühere Regelung in § 1 Abs. 1 BAT-O. 5 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 127. 6 BAG v. 20.3.1997 – 6 AZR 10/96, NZA 1998, 108. 7 Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 226. 8 BAG v. 20.4.2011 – 5 AZR 171/10, NZA 2011, 1173.

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Räumlicher Geltungsbereich

Rz. 39 Teil 8

III. Tarifverträge mit Auslandsberührung Für arbeitsvertragliche Sachverhalte außerhalb der Bundesrepublik Deutschland stellt sich regelmäßig die Frage nach der Geltung inländischer TVe im Ausland und nach der Zulässigkeit der Erstreckung des Geltungsbereiches auf Sachverhalte mit Auslandsbezug. Einige Gewerkschaften haben auf den Trend zur Internationalisierung von Arbeitsverhältnissen reagiert und ihre satzungsgemäße Tarifzuständigkeit ausdrücklich auf Arbeitsverhältnisse mit Auslandsbezug erweitert1. Im Zweifel ist durch Auslegung zu ermitteln, ob die tariflichen Regelungen auch für im Ausland tätige Arbeitnehmer gelten. Die Anwendung inländischer TVe ist jedenfalls dann möglich, wenn ein inländischer Arbeitnehmer nur vorübergehend ins Ausland entsandt wurde2. Fraglich ist dagegen, ob eine Erstreckung über die Bundesgrenzen hinaus auch dann möglich ist, wenn auf das Arbeitsverhältnis deutsches Recht keine Anwendung findet. Dies ist abzulehnen3, vielmehr hat zwingendes ausländisches Recht Vorrang vor inländischen tariflichen Regelungen (zu den Besonderheiten im Anwendungsbereich des AEntG vgl. Rz. 40)4.

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Eine Besonderheit besteht im Seearbeitsrecht. Fährt ein Schiff unter Bundesflagge, folgt hieraus nicht zwingend die Anwendbarkeit deutschen Rechts und insbesondere inländischer TVe für sämtliche Heuerverhältnisse. Nach § 21 Abs. 4 Satz 1 FlRG unterliegen vielmehr Heuerverhältnisse von Besatzungsmitgliedern eines im Internationalen Seeschifffahrtsregister eingetragenen Kauffahrteischiffes, die im Inland keinen Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt haben, bei der Anwendung von Art. 8 Rom-I-VO5 vorbehaltlich anderer Rechtsvorschriften der Europäischen Union nicht schon aufgrund der Tatsache, dass das Schiff unter Bundesflagge fährt, dem deutschen Recht. Infolgedessen finden auch geltende inländische TVe auf diese Heuerverhältnisse nicht ohne weiteres Anwendung. Werden für solche Heuerverhältnisse von ausländischen Gewerkschaften TVe abgeschlossen, haben diese nach § 21 Abs. 4 Satz 2 FlRG nur dann die im TVG genannten Wirkungen, wenn für sie die Anwendung des im Geltungsbereich des Grundgesetzes geltenden Tarifrechts sowie die Zuständigkeit der deutschen Gerichte vereinbart worden ist.

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1 Vgl. beispielweise § 3 Nr. 2 ver.di-Satzung i.d.F. v. 17./24.9.2011. 2 BAG v. 20.4.2011 – 5 AZR 171/10, NZA 2011, 1173; BAG v. 20.6.2007 – 10 AZR 302/06, NZA-RR 2008, 24. 3 BAG v. 20.8.2003 – 5 AZR 362/02, NZA 2004, 1295; BAG v. 9.7.2003 – 10 AZR 593/02, NZA 2003, 1424; a.A. Däubler/Deinert, Einl. Rz. 621 ff.; Hergenröder, AR-Blattei SD. 1550.5 Rz. 111 m.w.N. 4 Vgl. BAG v. 11.9.1991 – 4 AZR 71/91, NZA 1992, 321; ErfK/Schlachter, Art. 9 RomI-VO Rz. 33; Hergenröder, AR-Blattei SD. 1550.15 Rz. 115; Rolfs/Giesen/Kreikebohm/ Udsching, VO (EG) 593/2008, Art. 8 Rz. 49. 5 Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.6.2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht.

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Teil 8 Rz. 40

Geltungsbereich

IV. Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG) 40

Die Wirkung von Rechtsnormen eines TVes ist nicht notwendig auf Arbeitsverhältnisse mit inländischen Arbeitgebern beschränkt. Ihre Geltung kann vielmehr unter bestimmten Voraussetzungen auf Arbeitsverhältnisse mit Arbeitgebern, die ihren Sitz im Ausland haben, erstreckt werden. Eine solche Erstreckung erfolgt unter den Voraussetzungen des AEntG zur „Schaffung und Durchsetzung angemessener Mindestarbeitsbedingungen“ (§ 1 AEntG). Voraussetzung für die Anwendbarkeit inländischer TVe auf Arbeitsverhältnisse mit Arbeitgebern mit Sitz im Ausland ist zunächst, dass der räumliche Geltungsbereich des fraglichen TVes das gesamte Bundesgebiet umfasst, § 3 Satz 1 Halbs. 1 AEntG. Der räumliche Geltungsbereich darf also nicht auf einzelne Regionen, Bezirke o. ä. beschränkt sein. Eine Abweichung hiervon schreibt § 3 Satz 2 AEntG für bestimmte tarifvertragliche Regelungen fest, wenn insgesamt das Bundesgebiet abgedeckt wird. Schließlich muss der TV nach § 5 TVG für allgemeinverbindlich erklärt worden sein, § 3 Satz 1 Halbs. 2 AEntG. Da § 3 AEntG eine Erweiterung zu § 5 TVG darstellt, gelten hinsichtlich der Erstreckung auf Arbeitsverhältnisse mit Arbeitgebern mit Sitz im Ausland die Grundsätze zu § 5 TVG1. Mithin muss über den Wortlaut des § 3 AEntG hinaus auch der Geltungsbereich des allgemeinverbindlichen TVes eröffnet sein. Der im Inland beschäftigte Arbeitnehmer muss insbesondere dem persönlichen und sektoralen Geltungsbereich unterfallen. Nur wenn der Arbeitnehmer in einer der in § 4 AEntG genannten Branchen tätig ist, kommt eine Erstreckung der tariflichen Arbeitsbedingungen nach dem AEntG in Betracht2.

V. Normen über gemeinsame Einrichtungen 41

Keine unmittelbare Bedeutung hat der räumliche Geltungsbereich eines TVes für gemeinsame Einrichtungen. Auf ihren Sitz kommt es folglich nicht an. Für die Wirkung eines TVes ist vielmehr ausreichend, wenn durch ihn eine gemeinsame Einrichtung geschaffen wird oder aber die Rechtsbeziehungen einer gemeinsamen Einrichtung geregelt werden. Der räumliche Geltungsbereich eines TVes ist bei gemeinsamen Einrichtungen allerdings indirekt relevant, weil normunterworfen nur diejenigen sein können, die unter den räumlichen Geltungsbereich des entsprechenden TVes fallen3.

VI. Ausscheiden aus dem räumlichen Geltungsbereich 42

Verändern sich nach einer Anknüpfung des räumlichen Geltungsbereiches an Regionen oder Bezirke die Grenzen des Tarifgebiets, hat dies auf den räumlichen Geltungsbereich während der Laufzeit des TVes grundsätzlich keine Auswirkung. Maßgeblich sind vielmehr die Grenzen zum Zeitpunkt des Abschlusses des TVes. Die Anknüpfung an eine bestimmte Region oder dergleichen 1 Zur Besonderheit der fehlenden Nachwirkung BAG v. 20.4.2011 – 4 AZR 467/09, NZA 2011, 1105. 2 Bayreuther, DB 2009, 678; Oetker, NZA-Beilage 1/2010, 13. 3 Vgl. Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 216; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 134.

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Rz. 45 Teil 8

Sektoraler Geltungsbereich

stellt damit eine statische Verweisung im TV dar1. Anderes gilt nur, wenn die TV-Parteien eine anderweitige ausdrückliche Regelung vereinbart haben. Von den Änderungen der für den räumlichen Geltungsbereich maßgeblichen Gebietsgrenzen ist die Fallkonstellation des „Herauswachsens“ eines Unternehmens oder einzelner Betriebsstätten aus dem räumlichen Geltungsbereich eines TVes infolge von Sitzverlegung und Standortschließung zu unterscheiden. Die Folgen solcher Vorgänge sind umstritten. Teilweise wird eine Analogie zur zeitlichen Geltung der Tarifgebundenheit nach § 3 Abs. 3 TVG befürwortet, mithin, dass der TV bis zu seiner Beendigung weiterhin normative Anwendung findet2. Nach zutreffender Ansicht kommt lediglich Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG in Betracht (vgl. zur Nachwirkung im Einzelnen Teil 9 Rz. 21 ff.; zu den Besonderheiten bei arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln vgl. Teil 10)3. § 3 Abs. 3 TVG vermag lediglich, für einen bestimmten Zeitraum über eine fehlende Verbandsmitgliedschaft des Arbeitgebers hinwegzuhelfen. Für den Fall des Ausscheidens eines Unternehmens oder Betriebs aus dem räumlichen Geltungsbereich ist § 3 Abs. 3 TVG indessen mangels Regelungslücke nicht anwendbar4.

43

Ist mit einer Standortverlagerung zugleich ein Überwechseln in den räumlichen Geltungsbereich eines anderen TVes verbunden, müssen für die Anwendung dieses neuen TVes neben der Eröffnung seines räumlichen Geltungsbereichs die weiteren Voraussetzungen, insbesondere beiderseitige Tarifgebundenheit oder Allgemeinverbindlicherklärung, erfüllt sein (zu den Besonderheiten bei arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln vgl. Teil 10).

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C. Sektoraler Geltungsbereich (Branche) I. Begriff Die Anknüpfung an die Branche für den sektoralen Geltungsbereich hat ihren Grund in der bislang vorherrschenden Organisation von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden nach Wirtschaftszweigen und Branchen (Industrieverbandsprinzip), also nicht nach Berufsfeldern (Berufsverbandsprinzip). In letzter Zeit haben indessen Anzahl und Bedeutung von Gewerkschaften, deren Mitglieder einer bestimmten Berufsgruppe angehören, zugenommen5. 1 Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 160; Kittner/Zwanziger/Deinert, § 8 Rz. 326. Vgl. auch den MTV zum ERA-TV für Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie in Nordwürttemberg/Nordbaden, der räumlich für die Regierungsbezirke Nordwürttemberg/Nordbaden des Landes Baden-Württemberg „nach dem Stand vom 31. Dezember 1969“ gilt. 2 Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 219. 3 ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 60; Frölich, NZA 1992, 1105 (1108); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 17 III 2 (S. 745); Schaub, ArbR-Hdb., § 204 Rz. 12; Wiedemann/ Wank, § 4 TVG Rz. 133; vgl. dazu auch BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225. 4 So ausdrücklich BAG v. 13.7.1994 – 4 AZR 555/93, NZA 1995, 479; BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 193/97, NZA 1998, 488. 5 Z.B. Unabhängige Flugbegleiter Organisation e.V. (UFO), Vereinigung Cockpit e.V., Gewerkschaft der Lokführer (GdL), Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF).

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Teil 8 Rz. 46

Geltungsbereich

1. Abgrenzung zum fachlichen Geltungsbereich 46

In Abgrenzung zum fachlichen Geltungsbereich legt der sektorale Geltungsbereich die Branche bzw. den Wirtschaftssektor fest, dessen Betriebe oder Unternehmen dem Geltungsbereich des TVes unterworfen sein sollen. Die Anknüpfung betrifft also – untechnisch gesprochen – den Arbeitgeber. Auf die Art der von den einzelnen Arbeitnehmern konkret verrichteten Arbeiten kommt es dagegen an dieser Stelle nicht an. Erst im Rahmen der Beurteilung des fachlichen Geltungsbereichs sind Merkmale relevant, die an die Tätigkeit der Arbeitnehmer anknüpfen, und innerhalb eines Betriebes zu Differenzierungen zwischen einzelnen Beschäftigtengruppen führen können.

2. Abgrenzung zum persönlichen Geltungsbereich 47

Häufig knüpft der Geltungsbereich eines TVes an die Mitgliedschaft in einem bestimmten Arbeitgeberverband an (dazu nachfolgend Rz. 79)1. Diese Beschränkung betrifft indessen eher den persönlichen als den sektoralen Geltungsbereich. Entsprechendes gilt für die explizite Herausnahme einzelner Betriebe oder Unternehmen eines verbandsangehörigen Arbeitgebers aus dem Geltungsbereich eines TVes oder einzelner tariflicher Regelungen, beispielsweise durch „Kleinbetriebs- oder Mittelstandsklauseln“ oder ErgänzungsTVe2.

II. Anknüpfungspunkte 48

Der sektorale Geltungsbereich kann an verschiedene Zuordnungsobjekte anknüpfen. Typischerweise erfolgt eine Anknüpfung an eine Einheit, und zwar in aller Regel den Betrieb. Gleichwohl können die TV-Parteien im Rahmen ihrer Tarifautonomie auch das Unternehmen oder gar einen Konzern als maßgeblichen Bezugspunkt wählen. Nach Auffassung des BAG ist selbst die Erstreckung des sektoralen Geltungsbereichs auf branchenfremde Betriebe zulässig3. Die TV-Parteien können auf eine sektorale Beschränkung der Tarifgeltung auch ganz verzichten, indem sie etwa auf sämtliche Mitgliedsunternehmen des tarifschließenden Arbeitgeberverbands abstellen4. Haben die TV-Parteien keinen Anknüpfungspunkt ausdrücklich gewählt, ist im Zweifel der Betrieb das maßgebliche Zuordnungsobjekt.

1 So z.B. der MTV zum ERA-TV für Beschäftigte in der Metall- und Elektroindustrie in Nordwürttemberg/Nordbaden, der „fachlich und sachlich“ „für alle Betriebe gilt, die selbst oder deren Inhaber Mitglied des Verbands der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg e.V., Stuttgart, sind (und den ERA-TV eingeführt haben)“. 2 Zur Zulässigkeit vgl. BAG v. 14.3.2001 – 4 AZR 161/00, BB 2001, 2654; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 199; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 17 III 3 a (S. 745); Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 828 f. 3 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 193/97, NZA 1998, 488; allerdings ist auch insoweit die Tarifzuständigkeit zu beachten; dazu auch BAG v. 15.11.2006 – 10 AZR 665/05, NZA 2007, 448. 4 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 193/97, NZA 1998, 488.

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Sektoraler Geltungsbereich

Rz. 52 Teil 8

Den tarifschließenden Parteien ist es unbenommen, einen von den Begrifflichkeiten des KSchG sowie des BetrVG abweichenden Betriebsbegriff zu wählen und beispielsweise Betriebsabteilungen als selbstständige Betriebe im Sinne des TVes anzusehen. Gleichermaßen können die TV-Parteien einzelne Tätigkeitsfelder von Einheiten explizit aus vom Geltungsbereich herausnehmen oder an diese anknüpfen1.

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1. Betrieb Knüpft der Geltungsbereich an den Betriebsbegriff an, ohne diesen eigenständig zu definieren, ist auf den arbeitsrechtlichen Betriebsbegriff zurückzugreifen. Danach ist ein Betrieb eine organisatorische Einheit, innerhalb derer ein Unternehmer allein oder mit seinen Beschäftigten mit Hilfe technischer und immaterieller Mittel bestimmte arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt verfolgt2. Für die Beurteilung des sektoralen Geltungsbereichs ist der arbeitstechnische Zweck des Betriebs maßgeblich. Ob eigens geschaffene betriebsverfassungsrechtliche Organisationseinheiten, die nach § 3 Abs. 5 BetrVG als Betriebe im Sinne des BetrVG gelten, auch bei der Beurteilung des sektoralen Geltungsbereichs eines TVes als Betrieb anzusehen sind, ist ggf. durch Auslegung zu ermitteln. In jedem Fall ist die Frage der Geltung von TVen bei der Schaffung solcher Organisationseinheiten stets sorgfältig zu berücksichtigen.

50

Knüpft der Geltungsbereich des TVes an den Betrieb an, sind damit grds. auch unselbständige Betriebsabteilungen und Hilfsbetriebe dem tarifvertraglichen Geltungsbereich unterworfen. Mangels ausdrücklicher anderweitiger Regelung im TV ergibt sich dies aus einer Auslegung regelmäßig selbst für branchenfremde selbstständige Betriebsabteilungen, Hilfs- oder Nebenbetriebe, wobei die satzungsmäßige Tarifzuständigkeit zu berücksichtigen ist3. Infolgedessen sind dem Geltungsbereich des für den Hauptbetrieb maßgeblichen TVes häufig auch die berufsfremden Arbeitnehmer unterworfen, die in einem Hilfsbetrieb oder Nebenbetrieb beschäftigt sind4. Allerdings bleibt den TV-Parteien die Vereinbarung ausdrücklicher abweichender Regelungen unbenommen. Wenn beispielsweise selbständige Betriebsabteilungen nach dem TV als eigenständige Betriebe anzusehen sind, sind solche Betriebsabteilungen dann nicht dem Geltungsbereich eines TVes unterworfen, wenn dort fachfremde Tätigkeiten verrichtet werden. Wiederum sind dem Geltungsbereich des TVes u.U. selbständige Betriebsabteilungen an sich fachfremder Betriebe unterworfen, wenn die entsprechenden Tätigkeiten in der Betriebsabteilung verrichtet werden.

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Probleme bereitet die Bestimmung des sektoralen Geltungsbereiches u.U. im Falle von Betrieben, in denen unterschiedliche Arbeiten ausgeführt werden. Werden in solchen Betrieben voneinander abweichende arbeitstechnische Zwe-

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1 Z.B. Tarifbereiche des Glas- und Gebäudereinigungshandwerks; vgl. dazu näher Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 140. 2 Richardi/Richardi, § 1 BetrVG Rz. 16 ff. 3 BAG v. 15.11.2006 – 10 AZR 665/05, NZA 2007, 448; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 17; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 187. 4 So bereits BAG v. 31.3.1955 – 2 AZR 84/53, AP Nr. 1 zu § 4 TVG Geltungsbereich.

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Teil 8 Rz. 53

Geltungsbereich

cke verfolgt, die unterschiedlichen Branchen zuzuordnen sind, handelt es sich um sog. Mischbetriebe. Dabei ist ohne Belang, ob diese verschiedenen Zwecke durch ein- und dieselbe oder durch voneinander getrennte Tätigkeiten verfolgt werden. Für die Beurteilung des sektoralen Geltungsbereichs solcher Mischbetriebe ist der Zweck, der dem Betrieb überwiegend das Gepräge gibt, ausschlaggebend1. Überschneidet sich der Geltungsbereich mehrerer TVe, ist in Mischbetrieben, in denen Tätigkeiten verschiedener Fachrichtung verrichtet werden, derjenige TV maßgebend, der der überwiegenden Arbeitszeit der Arbeitnehmer entspricht. Wirtschaftliche Kriterien wie Umsatz oder Gewinn sind bei der Bestimmung des überwiegenden Betriebszwecks dagegen irrelevant2. Wiederum ist unter Berücksichtigung der Auffassung der TV-Parteien auch maßgebend, von welcher Branche bzw. von welchem Gewerbe die in Frage stehenden Tätigkeiten üblicherweise, d.h. nach dem allgemeinen Sprachgebrauch und der allgemeinen Verkehrsauffassung, verrichtet werden3. 53

Nach der früheren, bisweilen heftig kritisierten Rechtsprechung des BAG war der Grundsatz der Tarifeinheit maßgeblich, wonach in einem Betrieb, in dem mehrere TVe Geltung beanspruchen konnten, nur ein TV, und zwar regelmäßig der speziellere TV, gelten sollte. Nunmehr hat das BAG entschieden, dass die Verdrängung eines TVes nach dem Grundsatz der Tarifeinheit einen nicht gerechtfertigten Eingriff sowohl in die kollektive Koalitionsfreiheit der tarifschließenden Gewerkschaft als auch in die individuelle Koalitionsfreiheit des an diesen TV gebundenen Gewerkschaftsmitglieds darstellt. Die Tarifautonomie der TV-Parteien umfasse nicht das Recht zur Verdrängung bestehender anderer TVe. Vielmehr sei in solchen Fällen von Tarifpluralität auszugehen4. Diese Tarifpluralität tritt ein, wenn nur der Arbeitgeber an mehrere TVe tarifgebunden ist, die Tarifbindung des Arbeitnehmers hingegen nur einen TV erfasst (Teil 9 Rz. 98 ff.). Der Paradigmenwechsel des BAG dürfte für die Anwendung der Grundsätze, wonach für die Beurteilung des sektoralen Geltungsbereichs der Hauptzweck des Betriebs maßgeblich und folglich eine Ausdehnung des sektoralen Geltungsbereichs auf branchenfremde Nebenbetriebe anzunehmen ist, keine Relevanz haben. Das Abstellen auf den betrieblichen Hauptzweck ist Ausdruck des Selbstverständnisses der Koalitionen in Deutschland. So ist das Prinzip „Ein Betrieb, eine Gewerkschaft“ beispielsweise in der Satzung des DGB verankert5. Die Festlegung eines solchen Prinzips ist wiederum eine zulässige Form der Ausübung der Tarifautonomie. Die Tarifpartner können folglich weiterhin tarifautonom festlegen, ob Arbeitsstätten, die einen anderen als den Zweck des Hauptbetriebs verfolgen, unter den sektoralen Geltungsbereich eines TVes fallen oder nicht. Freilich kann es im

1 Vgl. grundlegend BAG v. 5.9.1990 – 4 AZR 59/90, NZA 1991, 202. 2 St. Rspr., vgl. nur BAG v. 14.12.2011 – 10 AZR 570/10, NJOZ 2012, 775; BAG v. 1.9.2009 – 10 AZR 593/08, AP Nr. 310 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG v. 15.11.2006 – 10 AZR 637/05, NZA-RR 2007, 280. 3 Vgl. etwa die in Anlage 1 Punkt 2 der Satzung des DGB, Stand Juni 2010, niedergelegten Kriterien zur Organisationsabgrenzung. 4 BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068. 5 Satzung des DGB, Stand Juni 2010.

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Sektoraler Geltungsbereich

Rz. 56 Teil 8

Anschluss an eine solche Festlegung des Geltungsbereichs gleichwohl zu einer Tarifpluralität kommen.

2. Unternehmen Der sektorale Geltungsbereich kann nicht nur an den Betrieb anknüpfen, sondern auch das Unternehmen als Ganzes als Zuordnungsobjekt wählen. Wie bei der Anknüpfung an den Betrieb ist auch insoweit der hauptsächliche Zweck maßgeblich für die Beurteilung des Geltungsbereichs. Begrifflich kommt es hierbei auf den durch das Unternehmen verfolgten wirtschaftlichen Zweck an, der arbeitstechnische Zweck wird in den Betrieben verfolgt. Insoweit kann auf die vorstehenden Ausführungen verwiesen werden (siehe Rz. 52).

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3. Gemeinschaftsunternehmen, Gemeinschaftsbetrieb Besonderheiten können bei der Beurteilung des sektoralen Geltungsbereichs im Falle von Gemeinschaftsunternehmen und Gemeinschaftsbetrieben bestehen. Ein Gemeinschaftsunternehmen wird von mehreren Rechtsträgern gehalten1. Für die Beurteilung des Geltungsbereichs eines TVes im Gemeinschaftsunternehmen gelten die dargestellten Grundsätze, wonach auf den Hauptzweck des Betriebs bzw. Unternehmens abzustellen ist. Dabei erfolgt eine von den Unternehmenszwecken der Rechtsträger unabhängige Beurteilung.

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Ein Gemeinschaftsbetrieb wird von mehreren Rechtsträgern geführt. Nach ständiger Rechtsprechung des BAG liegt ein solcher gemeinsamer Betrieb mehrerer Unternehmen vor, wenn die in einer Betriebsstätte vorhandenen materiellen und immateriellen Betriebsmittel für den oder die verfolgten arbeitstechnischen Zwecke zusammengefasst geordnet und gezielt eingesetzt werden und der Einsatz der menschlichen Arbeitskraft von einem einheitlichen Leitungsapparat gesteuert wird2. Beim Gemeinschaftsbetrieb ist die Beurteilung des Geltungsbereichs eines TVes komplexer. Insbesondere sind die für Mischbetriebe heranzuziehenden Grundsätze zur Tarifeinheit nicht ohne weiteres übertragbar. Dies folgt bereits daraus, dass in einem Gemeinschaftsbetrieb nicht notwendigerweise unterschiedliche arbeitstechnische Zwecke verfolgt werden. Zudem sind an dem Gemeinschaftsbetrieb unterschiedliche Rechtsträger beteiligt, die unter Umständen an unterschiedliche TVe tarifgebunden nach § 3 TVG sind. Auch dies entspricht nicht der Situation bei Mischbetrieben eines Arbeitgebers3. Wenn aber im Falle unterschiedlicher Tarifbindung im Gemeinschaftsbetrieb zweier Arbeitgeber nur derjenige TV zur Anwendung käme, dessen sektoraler Geltungsbereich dem Gepräge des Betriebes entspricht, führte dies dazu, dass dem Geltungsbereich nach nur ein TV verbleibt, an den indessen nicht beide Arbeitgeber tarifgebunden wären. Mangels Tarifbindung des Arbeitgebers könnte dieser „speziellere“ TV für die Arbeitnehmer des anderen Arbeitgebers grds. keine normative Wirkung entfalten. Infolgedes-

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1 Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 270; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 158. 2 BAG v. 11.2.2004 – 7 ABR 27/03, NZA 2004, 618. 3 Braner, NZA 2007, 596; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 263; a.A. Thüsing/Braun/Wißmann, 4. Kap. Rz. 194.

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Teil 8 Rz. 57

Geltungsbereich

sen kommen im Gemeinschaftsbetrieb ggf. unterschiedliche TVe zur Anwendung. Allerdings stellt sich die Frage, wie dabei mit betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Normen zu verfahren ist. Dies ist umstritten. So wird ein Fall der Tarifkonkurrenz angenommen, der nach den geltenden Prinzipien aufzulösen sei1. Teilweise wird ein Fall der „alternativen Normenhäufung“ angenommen, mit der Folge, dass jeder der am Gemeinschaftsbetrieb beteiligten Arbeitgeber die Betriebsnormen des TVes einzuhalten hat, dessen Geltungsbereich er unterworfen und an den er tarifgebunden ist2. Aufgrund der sich ergebenden Abgrenzungsfragen empfiehlt sich u.U. der Abschluss eines FirmenTVes mit den beteiligten Arbeitgebern.

III. Ausscheiden 57

Der Umstand, dass ein Betrieb oder Unternehmen zu einem bestimmten Zeitpunkt dem sektoralen Geltungsbereich eines bestimmten TVes unterworfen ist, bedeutet nicht, dass dies notwendig bis zum zeitlichen Ablauf des TVes der Fall bleiben muss. Vielmehr beeinflussen Änderungen innerhalb des Betriebes oder des Unternehmens die Beurteilung der Unterwerfung unter den sektoralen Geltungsbereichs eines bestimmten TVes3. So können Umstrukturierungen und Betriebsveräußerungen dazu führen, dass Betriebe oder ganze Unternehmen aus dem Geltungsbereich eines TVes ausscheiden (vgl. dazu im Einzelnen Teil 15). Die Gestaltungsmöglichkeiten von Arbeitgebern haben allerdings durch die geänderte Rechtsprechung zu arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln auf TVe4 erhebliche Einschränkungen erfahren.

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Ändert sich der Zweck, den die Anknüpfungseinheit, in der Regel also der Betrieb, verfolgt, in einer Weise, dass der Betrieb nunmehr einer anderen Branche zuzuordnen ist, liegt ein Fall des Branchenwechsels vor. Nach Ansicht des BAG verbleibt ein Betrieb, dessen Zweck sich ändert, nur dann im sektoralen Geltungsbereich des TVes, wenn dieser auch für an sich branchenfremde Betriebe gelten soll. Fehlt es an einer entsprechenden Anknüpfung, führt eine Änderung des Betriebszwecks dazu, dass der Betrieb dem sektoralen Geltungsbereich des TVes nicht länger unterworfen ist5. Ist der Betrieb aber aus dem Geltungsbereich eines TVes „herausgewachsen“, wirkt der TV nicht nach § 3 Abs. 3 TVG fort. § 3 Abs. 3 TVG hilft lediglich über fehlende Tarifbindung hinweg, setzt aber gerade voraus, dass der Betrieb dem Geltungsbereich des TVes unterworfen ist. Allerdings wirken die fraglichen TVe analog § 4 Abs. 5 TVG nach6. Mithin hat ein Branchenwechsel das Ende der normativen Wirkung zur Folge. Die nachwirkenden TV-Normen können jederzeit durch an-

1 2 3 4 5

Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 273b. So auch Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 263. Vgl. hierzu Hohenstatt/Schramm, NZA 2008, 433. BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965. Zu den Besonderheiten in der Insolvenz vgl. BAG v. 28.1.1987 – 4 AZR 150/86, NZA 1987, 455. 6 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 193/97, NZA 1998, 488.

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Sektoraler Geltungsbereich

Rz. 61 Teil 8

dere Abmachungen ersetzt werden (zu den Besonderheiten bei arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln vgl. Teil 10)1. Werden einzelne Betriebsteile verselbstständigt oder vormals selbstständige Betriebe einem Betrieb angegliedert, können neue Einheiten entstehen, für die der sektorale Geltungsbereich nach Maßgabe der hergebrachten Grundsätze – neu – zu beurteilen ist. Entscheidend für die weitere Geltung eines bestimmten TVes ist also, ob die neuen Einheiten weiterhin denselben arbeitstechnischen – bzw. bei Anknüpfung an das Unternehmen denselben wirtschaftlichen – Zweck verfolgen oder aber ob die Umstrukturierung mit einem Branchenwechsel für die neuen Einheiten verbunden war. Ist Zuordnungsobjekt des TVes der einzelne Betrieb, scheidet die neue Einheit bei einem Branchenwechsel aus dem Geltungsbereich aus. Entsteht infolge Umstrukturierung ein Mischbetrieb, kommen die diesbezüglichen Grundsätze zum Tragen (dazu Rz. 42). Ist das Unternehmen Anknüpfungspunkt für den Geltungsbereich, ist für eine Zuordnung der überwiegende Unternehmenszweck maßgeblich.

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Spezielle gesetzliche Regelungen für die Weitergeltung von tariflichen Regelungen bestehen nach § 613a BGB (hierzu ausführlich Teil 15), der nach § 324 UmwG bei Umwandlungen nach dem Umwandlungsgesetz ebenfalls zum Tragen kommt2. Allerdings ist auch insoweit die geänderte Rechtsprechung des BAG zu arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln auf TVe maßgeblich3, wobei die konstitutive Wirkung einer arbeitsvertraglichen Bezugnahme selbst dann bestehen bleibt, wenn ein TV für das Arbeitsverhältnis normative Geltung erlangt4.

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IV. Rechtsprechung Mit der Frage, ob ein bestimmter Betrieb oder ein bestimmtes Unternehmen dem sektoralen Geltungsbereich eines TVes unterworfen ist oder nicht, haben sich die Gerichte immer wieder zu befassen. Die Rechtsprechung betrifft dabei sowohl Fragen, ob ein Unternehmen oder Betrieb einer bestimmten Branche angehört5. Eine Vielzahl von Entscheidungen besteht zum sektoralen Gel-

1 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 247/96, NZA 1998, 484; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 15; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 19; Jacobs/Krause/Oetker, § 5 Rz. 58; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 259; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 143; a.A.: Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 252, 288 ff. Anders für gemeinsame Einrichtungen BAG v. 5.10.1993 – 3 AZR 586/92, NZA 1994, 848. 2 Vgl. zur Anwendung eines FirmenTVes bei Verschmelzung durch Aufnahme LAG Baden-Württemberg v. 27.9.2010 – 4 TaBV 2/10 sowie zur kollektivrechtlichen Fortgeltung von Tarifverträgen bei Umwandlung durch Ausgliederung LAG Baden-Württemberg v. 21.12.2010 – 6 Sa 90/10 (n. rkr., Az. BAG 4 AZR 85/11). 3 BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965; vgl. dazu auch Bepler, RdA 2009, 65. 4 Eine so entstehende „Konkurrenz eines Arbeitsvertrags mit einem TV“ ist nach Ansicht des BAG nach Maßgabe des Günstigkeitsprinzips gemäß § 4 Abs. 3 TVG zu lösen (BAG v. 22.2.2012 – 4 AZR 24/10; BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, NZA 2008, 364). 5 Vgl. dazu BAG v. 9.4.2008 – 4 AZR 164/07, ZTR 2009, 95.

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Teil 8 Rz. 62

Geltungsbereich

tungsbereich der TVe im Baugewerbe1. Weiter haben sich die Gerichte mit der Frage zu beschäftigen, ob eine Einheit als Betrieb oder Nebenbetrieb im Sinne einer tariflichen Regelung zum sektoralen Geltungsbereich qualifiziert. Insoweit kann auf die einschlägige Kommentierung verwiesen werden.

D. Fachlicher Geltungsbereich I. Begriff 62

Soweit ein TV unterschiedliche Regelungen für bestimmte Beschäftigtengruppen enthält oder sein Geltungsbereich von vornherein auf bestimmte Beschäftigtengruppen festlegt ist, ist die Terminologie uneinheitlich (dazu Rz. 7). Unter dem fachlichen Geltungsbereich werden im Folgenden Anknüpfungen an fachliche und tätigkeitsbeschreibende Merkmale der Beschäftigten zusammengefasst. Für die Anknüpfung ist zwischen allgemeinen fachlichen Merkmalen, wie dem Beruf der Beschäftigten, und speziellen, tätigkeitsabhängigen Kriterien zu unterscheiden.

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Der fachliche Geltungsbereich ergänzt den sektoralen Geltungsbereich um die Gruppen von Arbeitnehmern, für die der TV in der jeweils in Bezug genommenen Einheit gelten soll. Notwendig ist eine solche Einschränkung gleichwohl nicht. Ist die tarifschließende Gewerkschaft nach dem Industrieverbandsprinzip organisiert und enthält der TV weder ausdrücklich noch im Wege der Auslegung ermittelbare Beschränkungen auf Arbeitnehmergruppen, gilt der TV für sämtliche Arbeitnehmer der in Bezug genommenen Einheit. Ist die tarifschließende Gewerkschaft als Fachverband organisiert, findet der TV von vornherein nur für die von ihr vertretene Arbeitnehmergruppe Anwendung2.

1. Abgrenzung zum persönlichen Geltungsbereich 64

Nach der hier verwendeten Terminologie ist der fachliche Geltungsbereich als der persönliche Geltungsbereich im weiteren Sinne zu begreifen und folglich vom nachfolgend noch zu erörternden persönlichen Geltungsbereich im engeren Sinne zu unterscheiden. Anknüpfungspunkte des fachlichen Geltungsbereichs sind fachliche und tätigkeitsbeschreibende Merkmale der Beschäftigten. Für den persönlichen Geltungsbereich im engeren Sinne sind dagegen persönliche Eigenschaften wie Alter, Geschlecht, Arbeitszeit oder Mitgliedschaft in einer Organisation relevant.

1 Vgl. nur zum VTV-Bau BAG v. 18.5.2011 – 10 AZR 190/10, AP Nr. 332 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG v. 8.12.2010 – 10 AZR 710/09, NJOZ 2011, 694; BAG v. 17.11.2010 – 10 AZR 215/10, NJOZ 2011, 665; BAG v. 27.10.2010 – 10 AZR 362/09, NJOZ 2011, 699; BAG v. 29.9.2010 – 10 AZR 523/09, NZA-RR 2011, 89; BAG v. 16.6.2010 – 4 AZR 934/08, NJOZ 2011, 167. 2 Z.B. Piloten, Ärzte, Lokomotivführer.

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Fachlicher Geltungsbereich

Rz. 68 Teil 8

2. Abgrenzung zum sektoralen Geltungsbereich Der sektorale Geltungsbereich legt die Branche bzw. den Wirtschaftssektor fest, dessen Einheiten dem Geltungsbereich des TVes unterworfen sein sollen. Dies betrifft untechnisch gesprochen den Arbeitgeber. Der fachliche Geltungsbereich konkretisiert dagegen den sektoralen Geltungsbereich durch eine weitere Einschränkung des Geltungsbereiches nach Berufsgruppen und Art der verrichteten Tätigkeiten der Arbeitnehmer.

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II. Anknüpfungspunkte Für den Geltungsbereich können die TV-Parteien im Rahmen ihrer Tarifautonomie zwischen verschiedenen Beschäftigtengruppen und verschiedenen Tätigkeiten differenzieren. Denkbar ist eine Anknüpfung an die Art der geleisteten Tätigkeit oder an die Art der Ausbildung und Qualifikation. Die früher gängige Differenzierung zwischen Arbeitern und Angestellten1 verliert infolge der Rechtsprechung des BVerfG zur Gleichbehandlung von Arbeitnehmern und Angestellten2 zunehmend an Bedeutung. An den Status der Beschäftigten wird gleichwohl auch weiterhin angeknüpft. So gibt es unterschiedliche tarifliche Regelungen für Arbeitnehmer, Auszubildende, arbeitnehmerähnliche Personen und Heimarbeiter3. Auch Werkstudenten können aus dem Geltungsbereich herausgenommen werden4.

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Sind dem Geltungsbereich eines TVes „Arbeitnehmer“ unterworfen, kommt eine Anwendung für Organe von Gesellschaften nicht in Betracht. Diese sind grundsätzlich keine Arbeitnehmer5. Gleichwohl sind Organe in den tariflichen Festlegungen des Geltungsbereichs häufig explizit aus dem Geltungsbereich herausgenommen. Leitende Angestellte nach § 5 Abs. 3 BetrVG sind meist ebenfalls aus dem Geltungsbereich eines TVes herausgenommen6. Solche Festlegungen sind konstitutiv, da auch leitende Angestellte Arbeitnehmer sind.

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Sieht der fachliche Geltungsbereich vor, dass der TV für alle Arbeitnehmer gilt, sind hiervon grundsätzlich auch Arbeitnehmer, die sich in der Freistellungsphase der Altersteilzeit befinden, erfasst. Die Regelungsmacht der TV-Parteien erfasst darüber hinaus grundsätzlich auch Betriebsrentner7.

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1 Vgl. Bundesrahmen-TV für das Baugewerbe; Rahmen-TV für die Hafenarbeiter der deutschen Seehafenbetriebe; Mindestlohn-TV Dachdeckerhandwerk i.d.F. v. 28.9.2009. 2 Vgl. bereits BVerfG v. 30.5.1990 – 1 BvL 2/83, NZA 1990, 721; BVerfG v. 1.9.1997 – 1 BvR 1929/95, NZA 1997, 1339. 3 Dazu Mayer, BB 1993, 1513. 4 BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 563/99, NZA 2001, 613; zur Unzulässigkeit der Herausnahme von Studierenden aus dem Geltungsbereich eines TVes, die nebenberuflich dieselben Tätigkeiten verrichten wie andere Teilzeitkräfte vgl. BAG v. 28.3.1996 – 6 AZR 501/95, NZA 1996, 1280. 5 BAG v. 20.8.2003 – 5 AZB 79/02, NZA 2003, 1108; abweichend für den europäischen Arbeitnehmerbegriff EuGH v. 11.11.2010 – Rs. C-232/09, NZA 2011, 143. 6 So z.B. der MTV zum ERA-TV für Beschäftigte in der Metall- und Elektroindustrie in Nordwürttemberg/Nordbaden. 7 BAG v. 27.2.2007 – 3 AZR 734/05, NZA 2007, 1371; siehe auch § 17 Abs. 3 BetrAVG, der eine Abweichung durch TV vorsieht.

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Teil 8 Rz. 69

Geltungsbereich

III. Grenzen 69

Bei der Regelung des fachlichen Geltungsbereichs üben die TV-Parteien ihre Tarifautonomie aus, die indessen nicht grenzenlos gilt. Vielmehr haben die TV-Parteien höherrangiges Recht, insbesondere Art. 3 GG sowie spezielle Diskriminierungsverbote, zu beachten (dazu im Einzelnen Rz. 82 ff.).

IV. Vergütungsgruppen 1. Allgemeines 70

Ist ein Arbeitnehmer dem fachlichen Geltungsbereich eines TVes insgesamt grds. unterworfen, weil der TV insoweit keine Beschränkung festschreibt, sind die einzelnen tariflichen Regelungen gesondert auf ihre Anwendbarkeit für das Arbeitsverhältnis zu überprüfen. Im engeren Sinne betrifft dies insbesondere Vergütungs- oder Entgeltgruppen. Mittels der Abgrenzung einzelner Berufsgruppen und der innerhalb einer Berufsgruppe erfolgenden Unterscheidung nach objektiven, meist tätigkeitsbeschreibenden Merkmalen statuieren die TV-Parteien Lohnsystem und Lohngefüge.

71

Erstrecken sich die Vergütungsgruppen nicht auf sämtliche Arbeitnehmergruppen, ist die tarifliche Regelung regelmäßig dahingehend auszulegen, dass das Vergütungsgruppensystem abschließend sämtliche erfassten Arbeitsverhältnisse aufzählt. Ein solcher Ausschluss bestimmter Arbeitnehmergruppen vom Vergütungssystem führt indessen in aller Regel nicht zu einer Beschränkung des fachlichen Geltungsbereichs des TVes. Übt ein Arbeitnehmer im Geltungsbereich eines TVes, der eine Vergütungsordnung enthält, eine Tätigkeit aus, die nicht von den in dieser Vergütungsordnung enthaltenen Tätigkeitsmerkmalen erfasst wird, handelt es sich vielmehr um eine Tariflücke. Handelt es sich dabei um eine bewusste Regelungslücke, kommt eine Ausfüllung der Lücke durch die Arbeitsgerichte nicht in Betracht1. Anderes kann im Falle einer unbewussten Regelungslücke gelten, also beispielsweise im Falle neu entwickelter Berufsbilder, die den TV-Parteien zum Zeitpunkt des Abschlusses des TVes noch nicht bekannt waren. In einem solchen Fall können die Arbeitsgerichte die Lücke schließen, wenn sich aus dem TV selbst hinreichende Anhaltspunkte ergeben, dass die TV-Parteien eine vollständige Regelung für alle im Geltungsbereich des TVes ausgeübten Tätigkeiten beabsichtigten und der TV selbst eindeutige Hinweise enthält, wie die TV-Parteien die nicht berücksichtigte Tätigkeit bewertet hätten. Kommen dagegen mehrere Lösungsmöglichkeiten in Betracht, muss die Wahl den TV-Parteien überlassen bleiben2.

1 BAG v. 25.2.2009 – 4 AZR 964/07, NZA 2010, 471; BAG v. 24. 9. 2008 – 4 AZR 642/07, AP Nr. 57 zu § 1 TVG. 2 BAG v. 25.8.2010 – 4 ABR 104/08, DB 2011, 660.

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Persönlicher Geltungsbereich

Rz. 74 Teil 8

2. Zuordnung Die Frage, ob ein Arbeitsverhältnis von einer bestimmten Vergütungsgruppe erfasst ist, ist anhand der Merkmale der Vergütungsgruppen zu prüfen1. Die entsprechende Zuordnung durch den Arbeitgeber erfolgt durch Eingruppierung. Dabei ist die Eingruppierung nur in wenigen Ausnahmefällen konstitutive Voraussetzung für den Vergütungsanspruch des Arbeitnehmers2. Die Zuordnung kann durch Beispielsfall- und Tätigkeitsbeschreibungen, konkrete Berufszeichnungen sowie aufgrund weiterer Kriterien wie Berufserfahrung, Alter, Qualifikation, Ausbildung und dgl. erfolgen. Erfolgt eine Anknüpfung an die ausgeübte Tätigkeit, ist im Zweifel auf den Schwerpunkt der Tätigkeit, d.h. auf diejenige Tätigkeit, die überwiegend ausgeübt wird, abzustellen3.

72

Enthalten tarifliche Vergütungsgruppen neben allgemein gefassten Tätigkeitsmerkmalen bestimmte Beispielstätigkeiten, sind nach der ständigen Rechtsprechung des BAG die Voraussetzungen für die Eingruppierung in die Vergütungsgruppe grundsätzlich gegeben, wenn der Arbeitnehmer eine den Beispielen entsprechende Tätigkeit ausübt4. Verrichtet der Arbeitnehmer keine der Beispielstätigkeiten, ist die Zuordnung anhand der allgemein gefassten Tätigkeitsmerkmale durchzuführen.

73

E. Persönlicher Geltungsbereich I. Begriff Ein TV gilt grundsätzlich für alle Arbeitgeber und deren Beschäftigte, die dem räumlichen, sektoralen und fachlichen Geltungsbereich unterworfen sind. Den TV-Parteien ist es im Rahmen ihrer Tarifautonomie indessen unbenommen, den Geltungsbereich weiter einzuschränken. Sie können bei der Festlegung des persönlichen Geltungsbereichs eine Differenzierung auf Ebene der Beschäftigten nach persönlichen Eigenschaften wie Alter und Geschlecht vornehmen. Dies kann durch explizite Herausnahme solcher Beschäftigten aus dem Geltungsbereich oder durch explizite Beschränkung des Geltungsbereichs auf Beschäftigte mit entsprechenden persönlichen Merkmalen erfolgen. Dabei erlangen die Benachteiligungsverbote besondere Bedeutung. Gleichermaßen können im persönlichen Geltungsbereich Einschränkungen auf Unternehmens- bzw. Betriebsseite erfolgen.

1 Vgl. dazu BAG v. 24.3.2010 – 4 AZR 727/08, NZA-RR 2010, 527. 2 Dazu sowie zum Grundsatz der Tarifautomatik Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 186. 3 BAG v. 7.11.1990 – 4 AZR 67/90, NZA 1991, 394; BAG v. 29.7.1992 – 4 AZR 502/91, NZA 1993, 181; BAG v. 4.8.1993 – 4 AZR 511/92, DB 1994, 2654; BAG v. 23.4.1997 – 10 AZR 903/95, n.v. 4 Vgl. nur BAG v. 19.5.2010 – 4 AZR 903/08, AP Nr. 46 zu § 1 TVG Tarifverträge: Lufthansa; BAG v. 23.9.2009 – 4 AZR 333/08, AP Nr. 95 zu § 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel.

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Teil 8 Rz. 75

Geltungsbereich

1. Abgrenzung zum fachlichen Geltungsbereich 75

Nach der hier verwendeten Terminologie ist der fachliche Geltungsbereich als persönlicher Geltungsbereichs im weiteren Sinne zu begreifen und vom hier erörterten persönlichen Geltungsbereich im engeren Sinne zu unterscheiden. Anknüpfungspunkte des fachlichen Geltungsbereichs sind fachliche und tätigkeitsbeschreibende Merkmale der Beschäftigten, für den persönlichen Geltungsbereich sind persönliche Eigenschaften der Arbeitnehmer wie beispielsweise Alter, Geschlecht oder Arbeitszeit relevant. Enthält ein TV keine Beschränkung auf persönliche Merkmale der Beschäftigten, entsprechen persönlicher und fachlicher Geltungsbereich einander.

2. Abgrenzung zur Tarifgebundenheit 76

Auch der persönliche Geltungsbereich ist von der Tarifgebundenheit nach § 3 TVG abzugrenzen. Während die Tarifgebundenheit die Regelungsmacht der TV-Parteien beschränkt, bezeichnet der persönliche Geltungsbereich innerhalb der so gezogenen Grenzen die konkreten Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse, die dem Geltungsbereich des TVes unterworfen sein können.

II. Anknüpfungspunkte 1. Arbeitnehmerbezogene Anknüpfungspunkte 77

Prinzipiell können die TV-Parteien in der Festlegung des Geltungsbereichs eine Differenzierung hinsichtlich aller persönlichen Merkmale der Beschäftigten vornehmen. In Betracht kommt eine Anknüpfung an Alter, Geschlecht, Arbeitszeit, Dauer der Betriebszugehörigkeit, Grad der Behinderung, Familienstand, Abstammung, Staatsangehörigkeit oder Zugehörigkeit zu einer Vereinigung oder Gewerkschaft. Allerdings sind die TV-Parteien bei der Ausübung ihrer Tarifautonomie an höherrangiges Recht gebunden (dazu Rz. 24 ff.). Die denkbaren Anknüpfungen unterliegen folglich einer strengen Überprüfung hinsichtlich der Vereinbarkeit mit besonderen Benachteiligungsverboten sowie dem allgemeinen Gleichheitssatz.

78

Im Geltungsbereich einiger TVe finden sich Anknüpfungen an die Mitgliedschaft des Beschäftigten in einer Gewerkschaft1. Auch eine Differenzierung hinsichtlich des Mitgliederstatus ist grundsätzlich möglich2. Insoweit wird häufig vom „organisatorischen Geltungsbereich“ gesprochen3, der allerdings ebenfalls an persönliche Merkmale der Beschäftigten anknüpft. Beinhaltet ein TV eine entsprechende Beschränkung, ist zunächst durch Auslegung zu ermit1 Zur Zulässigkeit tariflicher Differenzierungsklauseln, wonach die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft zum Tatbestandsmerkmal eines Anspruchs gemacht wird, vgl. BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028; zur Unzulässigkeit sog. qualifizierter tariflicher Differenzierungsklauseln vgl. BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920. 2 BAG v. 24.2.1999 – 4 AZR 62/98, NZA 1999, 995. 3 So z.B. HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 22; dazu ausführlich Klebeck, SAE 2007, 271.

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Persönlicher Geltungsbereich

Rz. 79 Teil 8

teln, ob der Geltungsbereich des TVes nicht nur aktuelle, sondern auch potentielle Mitglieder erfassen soll1. Ferner ist stets zu prüfen, ob die Regelung überhaupt konstitutive oder aber lediglich klarstellende Bedeutung im Hinblick auf die Tarifgebundenheit haben soll2. Ist von einer konstitutiven Wirkung auszugehen, schließt sich die Frage an, ob dies Auswirkungen auf die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG hat und damit die Erstreckung eines TVes auf nicht-organisierte Arbeitnehmer erschwert. Wie dargestellt kann eine Allgemeinverbindlicherklärung nur in den Grenzen des Geltungsbereiches erfolgen (dazu Rz. 12)3. Entsprechende Fragen stellen sich für die Entfaltung der Sperrwirkung nach § 77 Abs. 3 BetrVG4.

2. Arbeitgeberbezogene Anknüpfungspunkte Die TV-Parteien können auf die Festlegung eines sektoralen Geltungsbereichs verzichten und für den Geltungsbereich ausschließlich auf sämtliche Mitgliedsunternehmen des tarifschließenden Arbeitgeberverbands abstellen5. Auf diese Weise kann das gezielte Herauswachsen aus dem Geltungsbereich eines TVes durch Änderung des Betriebszwecks erschwert werden. Stets zu prüfen ist in solchen Fällen, ob es sich um eine konstitutive Festlegung mit der Folge handelt, dass nur Mitglieder des Arbeitgeberverbands dem Geltungsbereich unterworfen sind oder ob gemäß der Tarifzuständigkeit des tarifschließenden Arbeitgeberverbands sämtliche Betriebe bzw. Unternehmen, die potentiell Mitglieder des betreffenden Arbeitgeberverbands werden können, dem Geltungsbereich des TVes unterfallen sollen. 6 Letztere Frage ist wiederum insbesondere im Falle einer Allgemeinverbindlicherklärung sowie der Frage einer Sperrwirkung nach § 77 Abs. 3 BetrVG relevant (vgl. dazu die vorherige Rz. 78). Gleichermaßen ist die Erstreckung solcher TVe auf Arbeitnehmer eines ausländischen Arbeitgebers nach § 3 AEntG dann nicht ohne Weiteres möglich. Weiter kann eine solche Festlegung des Geltungsbereichs Auswirkung auf die Anwendbarkeit von § 3 Abs. 3 TVG im Falle des Verbandsaustritts haben. Im Falle einer konstitutiven Regelung ist nämlich mit dem Verbandsaustritt zugleich ein Ausscheiden aus dem Geltungsbereich verbunden, auf welches nach überwiegenden Ansicht nicht § 3 Abs. 3 TVG, sondern § 4 Abs. 5 TVG Anwendung findet (vgl. dazu Rz. 43).

1 Vgl. BAG v. 22.3.2005 – 1 ABR 64/03, NZA 2006, 383; vgl. dazu auch BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 268/09, NZA 2012, 231; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 235 ff. 2 BAG v. 22.3.2005 – 1 ABR 64/03, NZA 2006, 383. 3 Nach Ansicht des 4. Senats des BAG (v. 23.3.2005 – 4 AZR 203/04, NZA 2005, 1003) ist nicht davon auszugehen, dass die TV-Parteien die Erstreckung des TVes auf Außenseiter kraft Allgemeinverbindlicherklärung verhindern wollten. Hierzu seien sie auch rechtlich nicht in der Lage, § 5 TVG sei ggü. dem TV höherrangiges Recht; so auch HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 22. 4 Offengelassen von BAG v. 22.3.2005 – 1 ABR 63/03, NZA 2006, 383; vgl. dazu auch BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 268/09, NZA 2012, 231; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 243, 254 m.w.N. 5 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 193/97, NZA 1998, 488. 6 BAG v. 22.3.2005 – 1 ABR 64/03, NZA 2006, 383.

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79

Teil 8 Rz. 80

Geltungsbereich

80

Andererseits ist ein Arbeitgeberverband auch nicht am Abschluss von TVen gehindert, deren persönlicher Geltungsbereich auf eines oder wenige seiner Mitgliedsunternehmen beschränkt ist, sog. firmenbezogener VerbandsTV. Dem stehen nach Auffassung des BAG weder Art. 3 Abs. 1 GG noch der vereinsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz entgegen. Andernfalls würden vereinsrechtliche Binnenschranken der Koalitionsbetätigung eines Arbeitgeberverbands in das Außenverhältnis zum Tarifpartner übertragen. Für eine solche Außenwirkung gibt es indessen keine tragfähige Begründung. Weder die Tariffähigkeit noch die Tarifzuständigkeit des Arbeitgeberverbands werden durch eine vereinsinterne Ungleichbehandlung beeinträchtigt1.

81

Gleichermaßen können einzelne Betriebe oder Unternehmen eines verbandsangehörigen Arbeitgebers aus dem persönlichen Geltungsbereich eines TVes oder einzelner tariflicher Regelungen herausgenommen werden, beispielsweise durch „Kleinbetriebs- oder Mittelstandsklauseln“ oder ErgänzungsTVe2.

III. Grenzen 1. Diskriminierungsverbote 82

Die Tarifautonomie wird bei der Festlegung des Geltungsbereichs durch spezielle Diskriminierungsverbote begrenzt. So verbietet § 4 TzBfG jede sachgrundlose Schlechterstellung von Teilzeitbeschäftigten. Das Benachteilungsverbot steht nach § 22 TzBfG auch nicht zur Disposition der TV-Parteien. Dies betrifft indessen nicht lediglich individuelle Tarifregelungen. Vielmehr greift das Benachteilungsverbot auch, wenn tarifliche Bestimmungen zum persönlichen Geltungsbereich eines TVes zwischen Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigten differenzieren und eine Gruppe vom Geltungsbereich eines TVes ausgenommen wird3. Bei einer Differenzierung nach dem Umfang der Beschäftigung kann überdies zugleich eine mittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechts vorliegen4.

83

Nach § 81 Abs. 2 SGB IX dürfen Arbeitgeber schwerbehinderte Beschäftigte nicht wegen ihrer Behinderung benachteiligen. Über den Wortlaut der Bestimmung hinaus sind auch die Tarifparteien bei Abschluss eines TVes an § 81 SGB IX gebunden5.

84

Eine weitere Beschränkung erfährt die tarifautonome Festlegung des persönlichen Geltungsbereichs nach Maßgabe der Bestimmungen des AGG. Nach § 7 Abs. 1 AGG sind Benachteilungen von Beschäftigten wegen eines in § 1 AGG 1 BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, NZA 2007, 987 für Tarifsozialpläne; vgl. dazu auch Dunker, S. 352 ff. 2 BAG v. 14.3.2001 – 4 AZR 161/00, BB 2001, 2654; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 199; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 17 III 3 a (S. 745); Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 828. 3 BAG v. 5.8.2009 – 10 AZR 634/08, NZA-RR 2010, 336; vgl. auch BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 563/99, NZA 2001, 613; BAG v. 15.10.2003 – 4 AZR 606/02, NZA 2004, 551. 4 EuGH v. 27.6.1990 – Rs. C-33/89, NZA 1990, 771; EuGH v. 9.9.1999 – Rs. C-281/97, NZA 1999, 1151. 5 BAG v. 18.11.2003 – 9 AZR 122/03, NZA 2004, 545.

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Persönlicher Geltungsbereich

Rz. 86 Teil 8

genannten Grunds verboten. Dem Benachteilungsverbot sind nach § 18 AGG auch die TV-Parteien unterworfen. Eine unterschiedliche Behandlung kann allerdings nach Maßgabe der §§ 8 ff. AGG zulässig sein1. Diskriminierungsverbote enthält auch das europäische Primärrecht. So gewährleistet Art. 157 AUEV die Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich der Vergütung. Die Grundfreiheiten in Art. 45 und Art. 56 AEUV verbieten eine diskriminierende Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit von Beschäftigten2. Diesen Diskriminierungsverboten sind auch die Tarifparteien unterworfen3. Entsprechendes soll nach Ansicht des EuGH für Diskriminierungsverbote gelten, die sich aus der Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/78/EG ergeben. Die Richtlinienvorgaben haben die TV-Parteien zu berücksichtigen, wenngleich ihnen ein weiter Entscheidungsraum offensteht4. Inwiefern darüber hinaus eine allgemeine unmittelbare Bindung von TV-Parteien an Richtlinien besteht, ist indessen unklar5. Unmittelbare Adressaten von Richtlinien sind die Mitgliedstaaten, Verpflichtungen einzelner werden durch Richtlinien nicht begründet6. Entsprechendes muss für TV-Parteien gelten7. Ausnahmen gelten im Bereich des öffentlichen Dienstes8.

85

2. Gleichheitssatz Neben diesen speziellen Diskriminierungsverboten ist auch für den persönlichen Geltungsbereich der allgemeine Gleichheitssatz zu beachten. Dabei bestehen unterschiedliche Auffassungen der Senate des BAG über den Maßstab für eine Überprüfung tariflicher Bestimmungen anhand des Geltungsbereichs, die sich im Ergebnis indessen nicht grundlegend auswirken (dazu Rz. 25). Wenngleich sich der 6. Senat des BAG insoweit an den Rechtssätzen des BVerfG zu personenbezogenen Ungleichbehandlungen orientiert, räumt er den TV-Parteien gleichwohl im Hinblick auf Art. 9 Abs. 3 GG eine weite Einschätzungsprärogative ein9. Der 4. Senat des BAG vertrat hingegen jedenfalls in früherer

1 Solche Fragen stellten sich zuletzt insbesondere bei der Frage der Zulässigkeit tariflicher Altersgrenzen für Piloten. 2 Vgl. dazu BAG v. 23.6.2010 – 7 AZR 1021/08, NZA 2010, 1248; BAG v. 18.1.2010 – 7 AZR 112/08, NZA 2012, 575; LAG Rheinland-Pfalz v. 12.8.2010 – 2 Sa 149/10 (n. rkr., Az. beim BAG 6 AZR 676/10). 3 EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-438/05, NZA 2008, 124; BAG v. 10.11.2011 – 6 AZR 481/09, NZA 2012, 100. 4 EuGH v. 8.9.2011 – Rs. C-297/10, NZA 2011, 1100. 5 Die EuGH-Entscheidung bezog sich auf die Gleichbehandlungsrichtlinie 200/78/EG und den dortigen Grundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung (EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04, NZA 2005, 1345). 6 EuGH v. 12.5.1987 – Rs. C-372/85. 7 Calliess/Ruffert, Art. 249 AEUV Rz. 83 ff. 8 Grundlegend EuGH v. 26.2.1986 – Rs. C-152/84; MünchKomm/Thüsing, Einl. zum AGG, Rz. 29 ff. 9 BAG v. 27.5.2004 – 6 AZR 129/03, NZA 2004, 1399; BAG v. 25.10.2007 – 6 AZR 95/07, NZA-RR 2008, 386; BAG v. 18.12.2008 – 6 AZR 287/07, NZA 2009, 391; BAG v. 22.4.2010 – 6 AZR 966/08, NZA 2010, 947.

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Teil 8 Rz. 87

Geltungsbereich

Rechtsprechung die Ansicht, die TV-Parteien könnten bis zur Grenze der Willkür autonom den persönlichen Geltungsbereich eines TVes festlegen1. 87

Besondere Bedeutung kommt dem Gleichheitssatz im Falle der Herausnahme bestimmter Beschäftigtengruppen aus dem Geltungsbereich eines TVes zu. Dies kann sowohl explizit erfolgen wie auch durch schlichte „Nichtregelung“. Die Herausnahme einzelner Beschäftigtengruppen aus dem Geltungsbereich eines TVes wird grds. für zulässig erachtet. So hat das BAG eine Bereichsausnahme für Lektoren aus dem Geltungsbereich des BAT unter Verweis auf Art. 5 Abs. 3 GG für zulässig befunden2. Nach Ansicht des LAG München ist die Herausnahme von Altersteilzeitarbeitnehmern aus dem persönlichen Geltungsbereich eines SanierungsTVes nicht zu beanstanden3.

IV. Veränderung persönlicher Merkmale 88

Der persönliche Geltungsbereich des TVes ist nicht mehr eröffnet, wenn die Anknüpfungspunkte infolge einer Änderung persönlicher Merkmale für den Arbeitnehmer nicht mehr gegeben sind. Soweit der Arbeitnehmer nicht ohnehin in den persönlichen Geltungsbereich eines anderen TVes „überwechselt“, beispielsweise nach Abschluss der Berufsausbildung und Übernahme in ein reguläres Arbeitsverhältnis, soll § 4 Abs. 5 TVG analog gelten4.

F. Zeitlicher Geltungsbereich I. Begriff 89

Der zeitliche Geltungsbereich legt den zeitlichen Rahmen fest, innerhalb dessen die tariflichen Wirkungen normative Wirkung erzeugen (zu Beginn und Beendigung des TVes vgl. näher Teil 3). Endet die normative Wirkung, wirkt der TV gemäß § 4 Abs. 5 TVG nach (hierzu Teil 9 Rz. 21 ff.). Angesiedelt sind Regelungen zum zeitlichen Geltungsbereich meist am Ende des TVes, wobei für den schuldrechtlichen Teil eine abweichende zeitliche Geltung festgelegt werden kann. Die Laufzeiten von TVen sind je nach Art des TVes unterschiedlich. MantelTVe haben regelmäßig längerer Laufzeiten. Ihrem Regelungsinhalt nach sind sie Veränderungen, insbesondere wirtschaftlicher Rahmenbedingungen, nicht im gleichen Maße unterworfen wie EntgeltTVe, die kurze Laufzeiten haben5.

1 BAG v. 29.8.2001 – 4 AZR 352/00, NZA 2002, 863; BAG v. 4.4.2001 – 4 AZR 232/00, NZA-RR 2002, 331; BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 563/99, NZA 2001, 613. 2 BAG v. 27.5.2004 – 6 AZR 129/03, NZA 2004, 1399; vgl. dazu auch LAG RheinlandPfalz v. 12.8.2010 – 2 Sa 149/10 (n. rkr., Az. beim BAG 6 AZR 676/10). 3 LAG München v. 14.7.2010 –10 Sa 1143/09; in diese Richtung gehend auch BAG v. 18.1.2012 – 6 AZR 496/10. 4 Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 445 m.w.N. 5 Üblicherweise 12 bis 13 Monate.

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Zeitlicher Geltungsbereich

Rz. 92 Teil 8

II. Inkrafttreten Die TV-Parteien können grundsätzlich autonom den zeitlichen Geltungsbereich des TVes festlegen. Ihnen steht es insbesondere frei, den Zeitpunkt des Inkrafttretens eines TVes zu bestimmen. Haben die TV-Parteien keine Bestimmung zum Inkrafttreten des TVes getroffen, tritt der TV mit seinem Abschluss in Kraft1. Die schuldrechtlichen Wirkungen entfalten sich stets bereits mit dem Zeitpunkt des Abschlusses des TVes, auch wenn der Zeitpunkt des Inkrafttretens erst in der Zukunft liegt.

90

Vom Zeitpunkt des Inkrafttretens zu unterscheiden ist der Zeitpunkt des Eintritts der Rechtsfolgen. Sieht ein TV etwa gestaffelte Entgelterhöhungen vor, bewirken diese Regelungen nicht auch ein gestaffeltes Inkrafttreten des TVes. Vielmehr tritt der TV zu dem im TV benannten Zeitpunkt vollständig in Kraft. Lediglich seine Rechtsfolgen kommen zu unterschiedlichen Zeitpunkten zum Tragen2. Der Zeitpunkt der Wirkung der Rechtsfolgen ist im Falle eines Verbandsaustritts u.U. für die Tarifbindung des Arbeitgebers nach § 3 Abs. 3 TVG sowie die Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG maßgeblich3.

91

Unter Umständen kann die Festlegung des Inkrafttretens zu einer zeitlichen Rückwirkung des TVes führen. Dabei ist im Einzelfall stets zu ermitteln, ob die TV-Parteien eine Rückwirkung beabsichtigt haben oder nicht. Insbesondere betrifft dies Abschlussnormen für Arbeitsverträge und die Frage einer Pflicht des Arbeitgebers zur Anpassung bereits abgeschlossener Arbeitsverträge4. Weiter ist für die Beurteilung zwischen echter und unechter Rückwirkung zu differenzieren. Eine echte Rückwirkung liegt im Falle einer Rückbewirkung von Rechtsfolgen vor, wenn also die Rechtsfolgen für einen bereits abgeschlossenen Sachverhalt geändert werden. Unechte Rückwirkung liegt dagegen vor, wenn der Sachverhalt, für den die Rechtsfolgen geändert werden, noch nicht abgeschlossen ist, sog. tatbestandliche Rückanknüpfung. Das BAG legt für die Bewertung der Wirksamkeit einer Rückwirkung einen großzügigen Maßstab an. Demnach tragen tarifvertragliche Regelungen auch während der Laufzeit des TVes den immanenten Vorbehalt ihrer rückwirkenden Abänderbarkeit durch TV in sich. Dies gilt auch für bereits entstandene und fällig gewordene, noch nicht abgewickelte Ansprüche, die aus einer Tarifnorm folgen, sog. wohlerworbene Rechte. Der Vertrauensschutz in den Fortbestand einer tariflichen Regelung entfällt demnach, wenn und sobald der Normunterworfene mit einer Änderung zu rechnen hatte, wobei positive Kenntnis des Einzelnen nicht notwendig ist (näher zur Rückwirkung Teil 3)5.

92

1 ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 18; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 5; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 17 IV 1 (S. 759); HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 24. 2 ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 18; Hromadka/Maschmann, § 13 Rz. 236; Jacobs/Krause/ Oetker, § 4 Rz. 80; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 226; a.A.: Buchner, AR-Blattei SD. 1550.4 Rz. 148. 3 BAG v. 17.5.2000 – 4 AZR 363/99, NZA 2001, 453 für Stufenangleichungen der Lohnhöhe Ost-West. 4 Dazu eingehend Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 232 ff. 5 BAG v. 24.10.2007 – 10 AZR 878/06, NZA 2008, 131.

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Teil 8 Rz. 93

Geltungsbereich

III. Ende 93

TVe haben häufig eine Mindestlaufzeit, nach deren Ablauf sie bis zum Eintritt eines Beendigungstatbestands unbefristet weitergelten. Denkbar sind unterdessen auch Befristungen, denen zufolge der TV nach ihrem Ablauf automatisch außer Kraft tritt. Die Laufzeit eines TVes steht dabei grundsätzlich zur Disposition der TV-Parteien. Zur Gewährleistung der Funktionstüchtigkeit der Tarifautonomie nach Art. 9 Abs. 3 GG ist indessen eine unverhältnismäßig lange Bindung der TV-Parteien an einen TVes unzulässig1.

94

Neben der Beendigung des TVes infolge Zeitablaufs kann auch der Eintritt einer auflösenden Bedingung das für die Beendigung der normativen tariflichen Wirkung maßgebende Ereignis sein. So ist die Geltung von SanierungsTVen häufig auflösend durch den Eintritt bestimmter Parameter der wirtschaftlichen Lage eines Unternehmens bedingt.

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Fehlen ausdrückliche Regelungen zum Zeitablauf oder zum Eintritt einer auflösenden Bedingung, kann der TV durch (ordentliche oder außerordentliche) Kündigung oder durch Aufhebungsvertrag beendet werden. Schließlich besteht die Möglichkeit der Ablösung eines TVes durch einen neuen TV. Nach der Zeitkollisionsregel werden die älteren tariflichen Regelungen durch die des neu abgeschlossenen TVes abgelöst (dazu Teil 9 Rz. 74).

G. Normen über gemeinsame Einrichtungen I. Begriff 96

§ 4 Abs. 2 TVG regelt für gemeinsame Einrichtungen der TV-Parteien die normative Wirkung tariflicher Regelungen im Hinblick auf deren Satzung sowie das Verhältnis der Einrichtung zu den tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Gemeinsame Einrichtungen sind von den TV-Parteien geschaffene und von ihnen abhängige Organisationen, deren Zweck und Organisationsstruktur durch TV festgelegt wird2. Sie verschaffen Arbeitnehmern Ansprüche, beispielsweise im Zusammenhang mit Saison-Kurzarbeitergeld, Urlaub, Berufsausbildung und Qualifizierung, Vermögensbildung, Arbeitsgestaltung, Beschäftigungssicherung und betrieblicher Altersversorgung. Anerkanntermaßen kann eine gemeinsame Einrichtung dabei als Träger zur Erfüllung bestimmter Arbeitgeberpflichten an die Stelle der einzelnen Arbeitgeber treten3.

97

Meist werden gemeinsame Einrichtungen zur Erbringung von Sozialleistungen während der Dauer eines Arbeitsverhältnisses erbracht. Gleichwohl können gemeinsame Einrichtungen auch den nachvertraglichen Zeitraum umfassen, 1 Vgl. Jacobs/Krause/Oetker, § 5 Rz. 81. 2 BAG v. 25.1.1989 – 5 AZR 43/88, AP Nr. 5 zu § 1 GesamthafenbetriebsG; HWK/ Henssler, § 4 TVG Rz. 25. 3 BAG v. 25.1.1989 – 5 AZR 43/88, AP Nr. 5 zu § 1 GesamthafenbetriebsG für den GHB Lübeck.

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Normen über gemeinsame Einrichtungen

Rz. 100 Teil 8

beispielsweise im Falle von Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften bei betriebsbedingten Kündigungen.

II. Organisation Für das Vorliegen einer gemeinsamen Einrichtung im Sinne des § 4 Abs. 2 TVG müssen bestimmte Mindestanforderungen erfüllt sein.

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1. Organisatorische Selbständigkeit Das Tatbestandsmerkmal der Einrichtung setzt ein Mindestmaß an organisatorischer Selbständigkeit voraus. Die Gründung der gemeinsamen Einrichtung als juristische Person ist indessen nicht zwingend1. Die organisatorische Selbständigkeit erfordert eine institutionelle Basis und mithin eine eigene Verwaltung. Gleichwohl ist nicht notwendig, dass der gemeinsamen Einrichtung eigene immaterielle und materielle Mittel zur Verfügung stehen2. Vielmehr können auch treuhänderische Einzelpersonen3, ein Schiedsgericht nach § 101 Abs. 2 ArbGG4 oder eine Schlichtungsstelle nach § 76 Abs. 8 BetrVG5 eine gemeinsame Einrichtung im Sinne des Gesetzes bilden. Meist sind gemeinsame Einrichtungen aber in Form eines wirtschaftlichen Vereins (§ 22 BGB), einer GmbH oder einer AG organisiert. Auch können die TV-Parteien sich einer bestehenden juristischen Person des öffentlichen Rechts als ihrer gemeinsamen Einrichtung bedienen6.

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2. Gemeinsamkeitspostulat Wenngleich der Begriff der gemeinsamen Einrichtung anderes nahelegt, ist eine Überbetrieblichkeit der Einrichtung nicht erforderlich7. Gemeinsame Einrichtungen können folglich auch durch FirmenTVe errichtet werden8, wobei dies freilich der mit gemeinsamen Einrichtungen angestrebten Lasten- und Risikoverteilung nicht stets gerecht würde. Allerdings muss die geschaffene Einrichtung eine gemeinsame Angelegenheit der TV-Parteien sein. Die gemeinsame Einrichtung muss folglich durch oder aufgrund eines TVes eingerichtet worden sein und von den TV-Parteien gemeinsam getragen werden. Weiter ist erforderlich, dass die von den TV-Parteien geschaffene Einrichtung von diesen beeinflusst wird, wobei unterschiedliche Auffassungen über den Grad des Einflusses bestehen. Jedenfalls muss eine paritätische Aufsicht und Kontrolle der beteiligten TV-Parteien bestehen, wobei auch „unparteiische“ Dritte berufen 1 2 3 4 5 6 7 8

HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 29 m.w.N. ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 24; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 328. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 15 IX 3 (S. 621). BAG v. 3.9.1986 – 5 AZR 319/85, NZA 1987, 178; BAG v. 10.4.1996 – 10 AZR 722/95, NZA 1996, 942. Buchner, AR-Blattei SD 1550.5 Rz. 288; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 786. BAG v. 28.4.1981 – 3 AZR 255/80, AP Nr. 3 zu § 4 TVG Gemeinsame Einrichtungen. Vgl. Däubler/Hensche/Heuschmid, § 1 TVG Rz. 1051; Jacobs/Krause/Oetker, § 3 Rz. 90; Löwisch/Rieble, § 4 Rz. 399. Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 239.

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Teil 8 Rz. 101

Geltungsbereich

werden können1. Nicht zulässig ist die Beteiligung eines Dritten an der gemeinsamen Einrichtung. Keine gemeinsame Einrichtung ist die Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder. Die Leistungsansprüche der Arbeitnehmer sind nicht tariflich begründet, sondern schuldrechtlich kraft Vertrages zugunsten Dritter2.

III. Normative Wirkung 101

Erfüllt eine Einrichtung die Voraussetzungen einer gemeinsamen Einrichtung, bestimmt sich die normative Wirkung der diesbezüglichen Tarifregelungen nach § 4 Abs. 2 TVG. Die normative Wirkung betrifft nach dem Gesetzeswortlaut die Satzung der Einrichtung sowie das Verhältnis der Einrichtung zu den tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.

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Für die Satzung der Einrichtung gilt, dass diese den tariflichen Bestimmungen genügen muss. Ist dies nicht der Fall oder enthält die Satzung Lücken, wird die Satzung nicht durch den TV „verdrängt“. Vielmehr gelten insoweit die für die gewählte Einrichtungsform maßgeblichen Statusvorschriften. Allerdings sind die TV-Parteien in solch einem Falle verpflichtet, die Satzung entsprechend anzupassen3.

103

Hinsichtlich der Erstreckung der normativen Wirkung nach § 4 Abs. 2 TVG auf das Verhältnis zu Arbeitgebern und Arbeitnehmern ist zwischen der sog. Beitragsbeziehung zwischen verpflichtetem Arbeitgeber und Einrichtung einerseits und der Leistungsbeziehung zwischen Einrichtung und berechtigten Arbeitnehmern andererseits zu unterscheiden4. Dabei ordnet § 4 Abs. 2 TVG die „Geltung“ tariflicher Regelungen über gemeinsame Einrichtungen für das Verhältnis der Einrichtung „zu den tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern“ an. Streitig ist, ob für die normative Wirkung beiderseitige Tarifgebundenheit erforderlich ist oder die zwingende Wirkung bereits dann eintritt, wenn nur eine der Arbeitsvertragsparteien tarifgebunden ist5. Aufgrund der systematischen Einordnung in § 4 sowie der Regelung nach § 4 Abs. 1 Satz 2 TVG bedarf es in jedem Fall einer Tarifgebundenheit des Arbeitgebers6. Da entsprechende TVe überdies meist für allgemeinverbindlich erklärt werden (dazu Rz. 12 und Rz. 106), ist die Streitfrage ohnehin zu vernachlässigen.

1 BAG v. 25.1.1989 – 5 AZR 43/88, AP Nr. 5 zu § 1 GesamthafenbetriebsG; zum Streitstand hinsichtlich der Parität ausführlich Assenmacher, Funktionen und Befugnisse der Gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, 2003, S. 48 ff. 2 BGH v. 20.7.2011 – IV ZR 76/09, NVwZ-RR 2011, 997; auch Pensionskassen sind keine gemeinsamen Einrichtungen, vgl. LAG Hessen v. 15.2.2008 – 8 Ta 259/07. 3 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 318. 4 Offen gelassen von BAG v. 9.12.2009 – 4 AZR 190/08, NZA 2010, 712; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 25; vgl. dazu auch Thüsing/v.Hoff, ZfA 2008, 77. 5 HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 27. 6 BAG v. 5.10.1993 – 3 AZR 586/92, NZA 1994, 848; dazu auch Waas, RdA 2000, 81; zu Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität bei gemeinsamen Einrichtungen vgl. Bepler, NZA-Beilage 2/2011, 73; Zachert, NZA-Beilage Nr. 1/2010, 17.

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Normen über gemeinsame Einrichtungen

Rz. 106 Teil 8

Die normative Wirkung tariflicher Regelungen über gemeinsame Einrichtungen ist auf den Geltungsbereich des TVes begrenzt. So kann für einen Arbeitgeber eine Beitragspflicht zu einer Zusatzversorgungskasse nur entstehen, wenn er dem Geltungsbereich des TVes über die gemeinsame Einrichtung überhaupt unterworfen ist. Insofern kann auf die Ausführungen zum Geltungsbereich eines TVes verwiesen werden (vgl. insbesondere Rz. 52)1.

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Ist der Arbeitgeber tarifgebunden oder der TV für allgemeinverbindlich erklärt, kann die gemeinsame Einrichtung Beiträge des Arbeitgebers beanspruchen. Hinsichtlich des Verhältnisses der gemeinsamen Einrichtung zum Arbeitnehmer ist hingegen zu beachten, dass dieser nicht zwingend „spiegelbildlich“ die gemeinsame Einrichtung in Anspruch nehmen kann. Vielmehr kann die gemeinsame Einrichtung auch einen Fonds aus den Arbeitgeberbeiträgen bilden und aus diesem im Leistungsfall des Arbeitgebers Erstattungen an den Arbeitgeber vornehmen. Beispielsweise betrifft dies die Urlaubskassen im Baugewerbe. Deren Zweck besteht darin, die Lasten der Freizeitgewährung und Bezahlung gleichmäßig auf alle Arbeitgeber der Branche zu verteilen, zumal der Bauarbeiter wegen des branchenüblichen häufigen Arbeitsplatzwechsels oft nur durch eine tarifliche Sonderregelung einen zusammenhängenden Jahresurlaub erlangen kann2. Für diesen Zweck sammelt die Kasse die von den Arbeitgebern zu zahlenden Beträge an und verwaltet diese treuhänderisch. Der Arbeitgeber kann dann im Wege des Erstattungsverfahrens die an die Arbeitnehmer ausgezahlten Beträge abrufen. Eine Insolvenzsicherung bildet die Kasse damit nicht3.

105

IV. Allgemeinverbindlicherklärung Auch Tarifnormen über gemeinsame Einrichtungen können im Wege der Allgemeinverbindlicherklärung in ihrem Geltungsbereich nach § 5 TVG auf alle Arbeitgeber und Arbeitnehmer einer Branche erstreckt werden (näher zur Allgemeinverbindlicherklärung Teil 7). Die Allgemeinverbindlicherklärung erfolgt in aller Regel, und zwar aufgrund der sozialpolitischen Aufgaben der gemeinsamen Einrichtungen, die regelmäßig flächen- und branchenübergreifend bzw. verbandsunabhängig anfallen4. Sie hat zur Folge, dass auch nicht tarifgebundene Arbeitgeber Beiträge zur gemeinsamen Einrichtung entrichten müssen. Eine Zwangsmitgliedschaft wird hingegen nicht begründet5. Kollisionen mit anderen TVen – deren Auflösung sich seit der Aufgabe des Grundsat-

1 Zu einzelnen Beispielsfällen, auch zu Fällen eines Mischbetriebs, vgl. BAG v. 14.11.2001 – 10 AZR 76/01, NZA 2002, 1049; BAG v. 24.9.2003 – 10 AZR 14/03, NJOZ 2005, 349; BAG v. 14.7.2010 – 10 AZR 164/09, AP Nr. 322 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG v. 17.11.2010 – 10 AZR 845/09, AP Nr. 326 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG v. 8.12.2010 – 10 AZR 710/09, AP Nr. 329 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau. 2 Vgl. dazu Daeschler, NZA-Beilage 1/2010, 6; Sahl, NZA-Beilage 1/2010, 8. 3 Vgl. BAG v. 25.10.1985 – 6 AZR 35/82, NZA 1985, 365 zur damaligen Konkursordnung. 4 Dazu Hanau, NZA-Beilage 1/2010, 1. 5 Wiedemann/Oetker, § 1 TVG Rz. 850.

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Teil 8 Rz. 107

Geltungsbereich

zes der Tarifeinheit durch das BAG mitunter schwierig gestaltet – können durch sog. Einschränkungsklauseln vermindert werden1. 107

Die Erstreckung allgemeinverbindlicher TVe über gemeinsame Einrichtungen auf ausländische Arbeitsverhältnisse nach dem Arbeitnehmerentsendegesetz hat nach § 8 Abs. 1 Satz 1 AEntG zur Folge, dass ein ausländischer Arbeitgeber im gleichen Maße wie ein inländischer Arbeitgeber zur Beitragsleistung verpflichtet ist2.

V. Ausscheiden 108

Im Falle des Herauswachsens des Arbeitgebers aus dem Geltungsbereich tritt nach Auffassung des BAG entgegen den allgemeinen Grundsätzen zum Geltungsbereich (vgl. Rz. 58) keine Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG ein3. Vielmehr endet bei einem Ausscheiden aus dem Geltungsbereich, beispielweise infolge eines Branchenwechsels, die Wirksamkeit des TVes. Dies hat wiederum zur Folge, dass auch die Rechtsbeziehungen der gemeinsamen Einrichtung zu den Arbeitgebern und Arbeitnehmern enden. Die Beitragspflichten der Arbeitgeber sowie die entsprechenden Leistungsansprüche der Arbeitnehmer aufgrund des Versicherungsverhältnisses erlöschen. Unter Umständen ist der Arbeitgeber aber verpflichtet, dem Arbeitnehmer eine gleichwertige Leistung zu verschaffen4. Wird eine gemeinsame Einrichtung durch TV aufgelöst, scheidet nach ihrer Liquidation eine Nachwirkung ebenfalls aus5.

1 Vgl. BAG v. 13.4.2011 – 10 AZR 838/09, NZA 2011, 999; BAG v. 16.6.2010 – 4 AZR 934/08, NZA 2011, 656; Kretz, RdA 2011, 294; Schaub, ArbR-Hdb., § 205 Rz. 94. 2 BAG v. 15.2.2012 – 10 AZR 71/10, NZA 2012, 76; vgl. zu der sich daraus ergebenden Problematik der Tarifkonkurrenz bei Gemeinsamen Einrichtungen ausführlich Oetker, NZA-Beilage 1/2010, 13; Däubler/Hensche/Heuschmid, § 1 TVG Rz. 1060; ErfK/ Franzen, § 4 TVG Rz. 60; GMPM/Germelmann, § 101 ArbGG Rz. 26. 3 BAG v. 5.10.1993 – 3 AZR 586/92, NZA 1994, 848; a.A.: Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 260, wonach § 4 Abs. 5 TVG auf gemeinsame Einrichtungen analog anwendbar ist; ebenso MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 170 Rz. 33. 4 Für den Fall der Verschmelzung BAG v. 5.10.1993 – 3 AZR 586/92, NZA 1994, 848; für den Fall der Betriebsveräußerung BAG v. 18.9.2001 – 3 AZR 689/00, NZA 2002, 1391; BAG v. 13.11.2007 – 3 AZR 191/06, NZA 2008, 600, wobei der TV nicht nur kraft beiderseitiger Tarifbindung beim Veräußerer galt, sondern zusätzlich eine arbeitsvertragliche Bezugnahmeklausel vereinbart worden war. 5 Däubler/Hensche/Heuschmid, § 4 TVG Rz. 878.

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Teil 9 Wirkung der Tarifnormen

A. Normwirkung (§ 4 Abs. 1 TVG) . . I. Unmittelbare Wirkung 1. Grundprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Normative Weitergeltung nach Betriebsübergang? . . . . . . . . . . . 3. Quasi-normative Wirkung von Bezugnahmeklauseln? . . . . . . . II. Zwingende Wirkung 1. Grundprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verdrängende Wirkung . . . . . . . 3. Wiederaufleben . . . . . . . . . . . . . . 4. Ende der zwingenden Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Rechtsfolgen bei tarifwidriger Direktionsrechtsausübung . . . .

Rz.

Rz.

1

III. Verjährung tarifvertraglicher Rechte, Ausschluss-/Verfallfristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

2 6 8 10 14 17 19 20

B. Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG I. Zweck, Legitimation und Verfassungsmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 21 II. Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . 27 III. Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 IV. Ablösung nachwirkender Tarifverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ablösung durch Tarifvertrag . . 2. Ablösung durch Betriebsvereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ablösung durch Individualvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zeitpunkt der Ablösung . . . . . . 5. Höchstdauer der Nachwirkung

39 40 44 45 48 51

C. Rechtsverlust und Tarifvertragsrecht I. Verzichtsverbot, § 4 Abs. 4 TVG 1. Regelungszweck, Rechtsfolgen und Grundlagen . . . . . . . . . . . . . 2. Anwendungsbereich . . . . . . . . . 3. Ausnahmen a) Gebilligter Vergleich . . . . . b) Nicht gebilligter Prozessvergleich über Tatsachenfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53 55 61

64

II. Verwirkung, § 4 Abs. 4 Satz 2 TVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

D. Verhältnis zu anderen Regelungen I. Mehrheit von Tarifverträgen 1. Mehrheit von TVen derselben TV-Parteien a) Tarifwerke . . . . . . . . . . . . . . 73 b) Ablösungsprinzip, Zeitkollisionsregel . . . . . . . . . . . 74 c) Spezialitätsprinzip . . . . . . . 75 2. Mehrheit von TVen mit partiell gleicher Normurheberschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 3. Mehrheit von TVen konkurrierender TV-Parteien . . . . . . . . . . . 85 a) Tarifkonkurrenz . . . . . . . . . 86 aa) Tatbestand der Tarifkonkurrenz . . . . . . . . . . 87 bb) Rechtsfolge der Tarifkonkurrenz . . . . . . . . . . 89 cc) Ausblick auf künftige Rechtsentwicklung . . 94 dd) Divergenz von normativer Wirkung und arbeitsvertraglicher Bezugnahme . . . . . . . . . . . 96 b) Tarifpluralität . . . . . . . . . . . 98 aa) Tatbestand der Tarifpluralität . . . . . . . . . . . . 99 bb) Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb . . . . 100 cc) Rechtsfolge: Tarifverdrängung, Spezialitätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . 103 dd) Wirkungen der Tarifeinheit im Betrieb . . . . 106 ee) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . 110 ff) Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit 116 gg) Folgeprobleme . . . . . . . 119 hh) Rechtspolitische Initiativen zur Wiederherstellung der Tarifeinheit . . . . . . . . . . . . . . 137

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Teil 9

Wirkung der Tarifnormen Rz.

Rz.

II. Verhältnis des Tarifvertrages zu rangniederen Regelungen 1. Günstigkeitsprinzip a) Modifikation des Grundprinzips Normenhierarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 b) Anwendungsbereich aa) TV im Verhältnis zum Arbeitsvertrag . . . . . . . 143 bb) TV und Betriebsvereinbarung? . . . . . . . . . . 146 cc) Einzubeziehende Tarifnormen . . . . . . . . . . . 149 dd) Einbeziehung schuldrechtlicher Koalitionsvereinbarungen? . . . . . 152 ee) Entsprechende Anwendung . . . . . . . . . . . . 155 c) Regelungszweck, Auslegungsgrundsätze aa) Mindestarbeitsbedingungen, Entfaltung der individuellen Privatautonomie . . . . . 157 bb) Grundproblem: individuelle Privatautonomie im Arbeitsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 d) Durchführung des Günstigkeitsvergleichs . . . . . . . . 165 aa) Individueller Günstigkeitsvergleich . . . . . . . 166 bb) Vergleich von konkreten Rechtspositionen . 170 cc) Sachgruppenvergleich 171 dd) Wirkungen des Sachgruppenvergleichs . . . . 175 ee) Zweifelsregelung . . . . 178 ff) Maßgeblicher Zeitpunkt der Günstigkeitsbetrachtung . . . . . 179 e) Grenzfragen des Günstigkeitsprinzips . . . . . . . . . . . . 180 aa) Beschäftigungspolitisches Mandat der TV-Parteien . . . . . . . . . 181 bb) Betriebliche Bündnisse für Arbeit

(1) Grundkonstellation und rechtliche Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . 189 (2) SanierungsTV, dreiseitige Standortvereinbarung . . . . . . . . . . . . . . 194 (3) Arbeitszeitverlängerung im SanierungsTV 195 2. Öffnungsklauseln . . . . . . . . . . . . 197 3. Anrechnungs-/ Aufsaugungsprinzip a) Einführung . . . . . . . . . . . . . . 201 b) Anrechnungsvorbehalt . . . 208 c) Anrechnung ohne Vorbehalt aa) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . 211 bb) Grenzen . . . . . . . . . . . . 214 d) Mitbestimmung . . . . . . . . . 217

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III. Verhältnis des Tarivertrages zu betrieblichen Regelungen (Tarifvorrang, Tarifvorbehalt) . . . . . . . . . . . . 218 1. Tarifvorbehalt (§ 77 Abs. 3 BetrVG) a) Schutzzweck und Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . 221 b) „Durch Tarifvertrag geregelt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 c) Tarifüblichkeit . . . . . . . . . . 235 d) Beendigung der Sperrwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 e) Prozessuale Geltendmachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 f) Öffnungsklauseln (§ 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG) . . . . 240 g) Sonderregelung: § 3 BetrVG . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 h) Rechtsfolge: Verdrängung der Betriebsvereinbarung . 243 i) Umdeutung . . . . . . . . . . . . . 244 2. Tarifvorrang gemäß § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG a) Schutzzweck . . . . . . . . . . . . 245 b) Anwendungsbereich . . . . . 248 c) Anwendungsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 252

Teil 9

Wirkung der Tarifnormen

Literatur: Baumann, Die Delegation tariflicher Rechtssetzungsbefugnisse, 1992; Belling, Günstigkeitsprinzip im Arbeitsrecht, 1984; Bieback/Dieterich et al. (Hrsg.), Tarifgestützte Mindestlöhne, 2007; Bürger, Das Kollisionsverhältnis von Fachtarifvertrag und Branchentarifvertrag, 2005; Däubler/Hege, Tarifvertragsrecht, 2. Aufl. 1981; Dieterich, Die betrieblichen Normen nach dem Tarifvertragsgesetz vom 9.4.1949, 1964; Dreier, Grundgesetz, 5. Aufl. 2010; Harwart, Tarifkollision, 2007; Henssler/Braun, Arbeitsrecht in Europa, 3. Aufl. 2011; Jahnke, Tarifautonomie und Mitbestimmung, 1984; Krauss, Günstigkeitsprinzip und Autonomiebestreben am Beispiel der Arbeitszeit, 1995; Kreutz, Grenzen der Betriebsautonomie, 1979; Moll, Tarifvorrang im Betriebsverfassungsgesetz, 1980; Rudkowski, Der Streik in der Daseinsvorsorge, 2010; Säcker, Gruppenautonomie und Übermachtkontrolle im Arbeitsrecht, 1972; Schmidt, Das Günstigkeitsprinzip im Tarifvertrags- und Betriebsverfassungsrecht, 1994; Tech, Günstigkeitsprinzip und Günstigkeitsbeurteilung im Arbeitsrecht, 1987; Thomas, Der Verzicht auf tarifliche Ansprüche, 1961; Witzig, Der Grundsatz der Tarifeinheit und die Lösung von Tarifkonkurrenzen, 1992; Wlotzke, Das Günstigkeitsprinzip im Verhältnis des Tarifvertrages zum Einzelarbeitsvertrag und zur Betriebsvereinbarung, 1957; Zachert, Tarifvertrag – eine problemorientierte Einführung, 1979. Aufsätze: Adomeit, Das Günstigkeitsprinzip – neu verstanden, NJW 1984, 26; Bauer/Arnold, Tarifliche Differenzierungsklauseln – Gewerkschaften auf Abwegen!, NZA 2005, 1209; Bauer/Diller, Flucht aus Tarifverträgen, DB 1993, 1085; Bauer/Meinel, Vereinheitlichung der Arbeitsbedingungen im Betrieb – Individualrechtliche Lösung statt Grundsatz der Tarifeinheit, NZA 2000, 181; Bayreuther, Bezugnahmeklauseln und Tarifpluralität am Beispiel der Tarifmehrheit in Kliniken und Krankenhäusern, NZA 2009, 935; Bayreuther, Gesetzlich angeordnete Tarifeinheit: Verfassungsrechtliche Diskussion, DB 2010, 2223; Bayreuther, Gewerkschaftspluralismus im Spiegel der aktuellen Rechtsprechung – Abschied vom „Einheitstarifvertrag“?, BB 2005, 2633; Bayreuther, Gewerkschaftspluralität im amerikanischen Tarifrecht: Warnung oder Vorbild für das deutsche Arbeitsrecht?, ZfA 2009, 747; Bayreuther, Tarif- und Arbeitskampfrecht in der Neuorientierung, NZA 2008, 12; Bayreuther, Tarifpluralitäten und -konkurrenzen im Betrieb, NZA 2007, 184; Bengelsdorf, Tarifliche Arbeitszeitbestimmungen und Günstigkeitsprinzip, ZfA 1990, 563; Bepler, Aktuelle tarifrechtliche Fragen aus Anlass eines BAG-Urteils vom 23. März 2005, in: Festschrift ARGE Arbeitsrecht im DAV, 2006, S. 791; Bepler, Tarifeinheit im Betrieb – Eine Skizze der bisherigen Rechtsprechung, NZA-Beil. 2010, 99; Bieback, Staatliches Besoldungsanpassungsrecht und die Arbeitsvertragsfreiheit öffentlich Bediensteter, ZfA 1979, 453; Boemke, Folgen der Tarifpluralität für das Streikrecht, ZfA 2009, 131; Brugger/v. Steinau-Steinrück, Arbeitskampfrecht quo vadis?, NZA-Beil. 2010, 127; Buchner, Betriebsverfassungs-Novelle auf dem Prüfstand, NZA 2001, 633; Buchner, Der „Funktionseliten“-Streik – Zu den Grenzen der Durchsetzbarkeit von Spartentarifverträgen, BB 2003, 2121; Buchner, Der Bahnstreik – und welche Lehren daraus zu ziehen sind, BB 2007, 2520; Buchner, Der Unterlassungsanspruch der Gewerkschaft – Stabilisierung oder Ende des Verbandstarifvertrages?, NZA 1999, 897; Buchner, Die Reichweite der Regelungssperre aus § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG, DB 1997, 573; Buchner, Die Umsetzung der Tarifverträge im Betrieb, RdA 1990, 1; Buchner, Tarifliche Arbeitszeitbestimmungen und Günstigkeitsprinzip, DB 1990, 1715; Buchner, Tarifpluralität und Tarifeinheit – einige Überlegungen zur Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, in: Festschrift 50 Jahre BAG, 2004, S. 631; Buschmann, Die Günstigkeit der Nachtarbeit, NZA 1990, 387; Danne, Arbeitsvertragliche Verweisung auf Tarifvertrag, SAE 1998, 111; Däubler, Der gebremste Sozialabbau, AuR 1987, 349; Deinert, Arbeitsrechtliche Herausforderungen einer veränderten Gewerkschaftslandschaft, NZA 2009, 1176; Deinert, Das Synallagma, AuR 2003, 173; Deinert, Folgen der Tarifpluralität für das Arbeitskampfrecht, RdA 2011, 12; Dieterich, Flexibilisiertes Tarifrecht und Grundgesetz, RdA 2002, 1; Dieterich/Hanau/Henssler u.a., Empfehlungen zur Entwicklung des Tarifvertragsrechts, RdA 2004, 65; Dietz, Die Betriebsvereinbarung im heutigen Arbeitsrecht, RdA 1949, 160; Ehmann/Schmidt, Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge, NZA 1995, 193; Etzel, Zur Zulässigkeit tariflicher Effektivklauseln, AuR 1969, 265; Etzel, Tarifordnung und Ar-

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Teil 9

Wirkung der Tarifnormen

beitsvertrag, NZA-Beil. 1987, 19; Farthmann, Die Mitbestimmung des Betriebsrats bei der Regelung der Arbeitszeit, RdA 1974, 65; Franzen, Das Ende der Tarifeinheit und die Folgen, RdA 2008, 193; Franzen, Tarifeinheit – Element der Tarifautonomie oder Grundrechtsverletzung?, ZfA 2009, 297; Franzen, Tarifrechtssystem und Gewerkschaftswettbewerb – Überlegungen zur Flexibilisierung des Flächentarifvertrags, RdA 2001, 1; Gamillscheg, 50 Jahre deutsches Arbeitsrecht im Spiegel einer Festschrift, RdA 2005, 79; Gaul, Bezugnahmeklauseln – zwischen Inhaltskontrolle und Nachweisgesetz, ZfA 2003, 75; Giesen, Tarifeinheit im Betrieb, NZA 2009, 11; Gitter, Zum Maßstab des Günstigkeitsvergleichs, in: Festschrift für Otfried Wlotzke, 1996, S. 297; Gotthardt, Grenzen von Tarifverträgen zur Beschäftigungssicherung durch Arbeitszeitverkürzung, DB 2000, 1462; Grau/Döring, Unwirksamkeit dreigliedriger Standortsicherungsvereinbarungen bei unklarem Normcharakter als Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung, NZA 2008, 1335; Greiner, Atypische Arbeitskampfmittel und Kampfpluralität, NJW 2010, 2977; Greiner, Der Arbeitskampf der GDL, NZA 2007, 1023; Greiner, Der Regelungsvorschlag von DGB und BDA zur Tarifeinheit, NZA 2010, 743; Greiner/Suhre, Tarifvertragliche Exklusivleistungen für Gewerkschaftsmitglieder nach der Rechtsprechungsänderung des BAG, NJW 2010, 131; Hanau, Denkschrift zu dem Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Reform des Betriebsverfassungsgesetzes, RdA 2001, 65; Hanau, Der Kampf um die Tarifeinheit, DB 2010, 2107; Hanau, Die Deregulierung von Tarifverträgen durch Betriebsvereinbarungen als Problem der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG), RdA 1993, 1; Hanau, Die Rechtsprechung des BAG zur arbeitsvertraglichen Bezugnahme auf Tarifverträge, NZA 2005, 489; Hanau, Ordnung und Vielfalt von Tarifverträgen und Arbeitskämpfen im Betrieb, RdA 2008, 98; Hanau/Kania, Die Bezugnahme auf Tarifverträge durch Arbeitsvertrag und betriebliche Übung, in: Tarifautonomie für ein neues Jahrhundert (Festschrift für Günter Schaub zum 65. Geburtstag), 1998, S. 239; Hansen, Ist die begrenzte Effektivklausel wirklich eine unmögliche Konstruktion?, RdA 1985, 78; Hartmann/Lobinger, Die Arbeits- und Wettbewerbsfreiheit als Grenze tarifvertraglicher Vorteilsregelungen, NZA 2010, 421; Heinze, Betriebsvereinbarung versus Tarifvertrag?, NZA 1989, 41; Heinze, Tarifautonomie und sogenanntes Günstigkeitsprinzip, NZA 1991, 329; Herschel, Der nachwirkende Tarifvertrag, insbesondere seine Änderung, ZfA 1976, 89; v. HoyningenHuene, Die Bezugnahme auf einen Firmentarifvertrag durch Betriebsvereinbarung, DB 1994, 2026; Hromadka, Bündnisse für Arbeit – Angriff auf die Tarifautonomie?, DB 2003, 42; Hromadka, Die Novellierung des Arbeitsgerichtsgesetzes und des § 5 KSchG durch das SGGArbGG-Änderungsgesetz, NZA 2008, 377; Hromadka, Privat – versus Tarifautonomie, DB 1992, 1042; Hromadka, Tarifeinheit bei Tarifpluralität, in: Gedächtnisschrift für Meinhard Heinze, 2005, S. 383; Jacobs, Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit einer Spitzenorganisation im Sinne des § 2 Abs. 3 TVG, ZfA 2010, 27; Jacobs, Tarifpluralität statt Tarifeinheit, NZA 2008, 325; Joost, Lohnverluste und Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich, JuS 1989, 274; Joost, Tarifliche Grenzen der Verkürzung der Wochenarbeitszeit, ZfA 1984, 173; Kamanabrou, Der Streik durch Spartengewerkschaften – Zulässigkeit und Grenzen, ZfA 2008, 241; Kania, Tarifpluralität und Industrieverbandsprinzip, DB 1996, 1921; Kempen, Aktuelles zur Tarifpluralität und zur Tarifkonkurrenz, NZA 2003, 415; Kempen, Die beschäftigungspolitische Zuständigkeit der Tarifvertragsparteien, in: Arbeitsrecht und Sozialpartnerschaft (Festschrift für Peter Hanau), 1999, S. 529; Kempen, Die Effektivklausel als Instrument tariflicher Sozialpolitik, AuR 1982, 50; Kerwer, Von Lokführern, solidarischen Druckern und Nürnberger Haushaltsgeräten: Neue Tendenzen im Arbeitskampfrecht, EuZA 2008, 335; Kissel, Die aktuelle Situation im Arbeitsrecht, NZA 1994, 586; Kittner, Öffnung des Flächentarifvertrags, in: Tarifautonomie für ein neues Jahrhundert (Festschrift für Günter Schaub zum 65. Geburtstag), 1998, S. 389; Konzen, Die Kodifikation der Tarifeinheit im Betrieb, JZ 2010, 1036; Konzen, Die Tarifeinheit im Betrieb, RdA 1978, 146; Konzen, Fünfzig Jahre richterliches Arbeitskampfrecht – Grundlagen, Bilanz, Weiterentwicklung, in: Festschrift 50 Jahre BAG, 2004, S. 515; Konzen, Tarifbindung, Friedenspflicht und Kampfparität beim Verbandswechsel des Arbeitgebers, ZfA 1975, 401; Kort, Reformbedarf bei der betriebsverfassungsrechtlichen Mitbestimmung in Fällen von Strukturveränderungen in

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Teil 9

Wirkung der Tarifnormen

Betrieb und Unternehmen?, ZfA 2000, 329; Kraft, Tarifkonkurrenz, Tarifpluralität und das Prinzip der Tarifeinheit, RdA 1992, 161; Krebber, Tarifrechtliche Probleme unter der Herrschaft der Tarifpluralität, RdA 2011, 23; Lehmann, Schaffung eines Gesetzes über die Tarifeinheit, BB 2010, 2237; Lindemann/Simon, Tarifpluralität – Abschied vom Grundsatz der Tarifeinheit?, BB 2006, 1852; Linnenkohl, Lean law – die „ingeniöse“ Nichtanwendung von Arbeitsrecht, BB 1994, 2077; Linnenkohl/Rauschenberg/Reh, Abschied vom „Leber-Kompromiß“ durch das Günstigkeitsprinzip?, BB 1990, 628; Loritz, Rechtsprobleme der tarifvertraglichen Regelung des „freien Wochenendes“, ZfA 1990, 133; Löwisch, Die Freiheit zu arbeiten – nach dem Günstigkeitsprinzip, BB 1991, 59; Löwisch, Die Voraussetzungen der Tariffähigkeit, ZfA 1970, 295; Löwisch, Neuabgrenzung von Tarifvertragssystem und Betriebsverfassung, JZ 1996, 812; Merten, Das Prinzip der Tarifeinheit als arbeitsrechtliche Kollisionsnorm, BB 1993, 572; Meyer, Aktuelle Fragen zum Grundsatz der Tarifeinheit, DB 2006, 1271; Meyer, Rechtliche wie praktische Unzuträglichkeiten einer Tarifpluralität, NZA 2006, 1387; Moll, Kollektivvertragliche Arbeitsbedingungen nach einem Betriebsübergang, RdA 1996, 275; Nebeling/Gründel, Die Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit und die daraus folgenden Konsequenzen, NZA 2009, 1003; Niebler/Schmiedl, Sind Abweichungen vom Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung zulässig?, BB 2001, 1631; Nikisch, Inhalt und Grenzen des tariflichen Günstigkeitsprinzips, DB 1963, 1254; Nipperdey, Das deutsche Privatrecht in der Mitte des 20. Jahrhunderts, in: Festschrift für Heinrich Lehmann, 1956, S. 257; Oetker, Die Auswirkungen tariflicher Entgelterhöhungen für den Effektivverdienst im Zielkonflikt von individueller Gestaltungsfreiheit und kollektivrechtlicher Gewährleistung innerbetrieblicher Verteilungsgerechtigkeit, RdA 1991, 16; Otto, Tarifzensur und Arbeitskampf, in: Festschrift für Horst Konzen, 2006, S. 663; Papier, BDA und DGB in einem Boot – Der Ruf nach dem Gesetzgeber, DB 2010, Beil. Heft 44, 75; Picker, Tarifautonomie – Betriebsautonomie – Privatautonomie, NZA 2002, 761; Picker, Tarifmacht und tarifvertragliche Arbeitsmarktpolitik, ZfA 1998, 573; Picker, Ursprungsidee und Wandlungstendenzen des Tarifvertragswesens – Ein Lehrstück zur Privatautonomie am Beispiel Otto v. Gierkes, in: Gedächtnisschrift für Brigitte Knobbe-Keuk, 1997, S. 879; Preis, Anrechnung und Widerruf über- und außertariflicher Entgelte – vertragsrechtliche betrachtet, in: Festschrift für Otto Kissel, 1994, S. 879; Preis, Das erneuerte BGB und das Bundesarbeitsgericht, in: Festschrift 50 Jahre BAG, 2004, S. 123; Preis/Genenger, Betriebliche Übung, freiwillige Leistungen und rechtsgeschäftliche Bindung, JbArbR 47 (2010), 93; Preis/Greiner, Vertragsgestaltung bei Bezugnahmeklauseln nach der Rechtsprechungsänderung des BAG, NZA 2007, 1073; Reichold, Abschied von der Tarifeinheit im Betrieb und die Folgen, RdA 2007, 321; Reichold, Die reformierte Betriebsverfassung 2001, NZA 2001, 857; Reinecke, Vertragskontrolle im Arbeitsverhältnis, NZA-Beil. 3/2000, 23; Reuter, Betriebsverfassung und Tarifvertrag, RdA 1994, 152; Richardi, Arbeitszeitverlängerung nach der Tarifvertragsregelung in der Metallindustrie, DB 1990, 1613; Richardi, Der Beschluß des Großen Senats des Bundesarbeitsgerichts zur ablösenden Betriebsvereinbarung, NZA 1987, 185; Richardi, Der Große Senat des BAG zur Mitbestimmung bei der Anrechnung einer Tariflohnerhöhung auf über- und außertariflichen Zulagen, NZA 1992, 961; Richardi, Die begrenzte Effektivklausel im Tarifvertrag, DB 1969, 1986; Richardi, Gewerkschaftszugehörigkeit als Maßstab für die Verteilungsgerechtigkeit im Betrieb, NZA 2010, 417; Richardi, Kollektivvertragliche Arbeitszeitregelung, ZfA 1990, 211; Richardi, Tarifautonomie und Betriebsautonomie als Formen wesensverschiedener Gruppenautonomie im Arbeitsrecht, DB 2000, 42; Richardi, Tarifeinheit im tarifpluralen Betrieb, in: Festschrift für Herbert Buchner, 2009, S. 731; Rieble, Arbeitgeberfrage nach der Gewerkschaftsmitgliedschaft, in: Gedächtnisschrift für Meinhard Heinze, 2005, S. 687; Rieble, Der Tarifvertrag als kollektiv-privatautonomer Vertrag, ZfA 2000, 5; Rieble, Tarifvertrag und Beschäftigung, ZfA 2004, 1; Rieble, Zulässigkeit des Lokführer-„Funktionseliten“-Streiks, BB 2003, 1227; Rolfs/Clemens, Entwicklungen und Fehlentwicklungen im Arbeitskampfrecht, NZA 2004, 410; Säcker/Oetker, Tarifeinheit im Betrieb – ein Akt unzulässiger richterlicher Rechtsfortbildung?, ZfA 1993, 1; Sagan, Die kollektive Fortgeltung von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen gemäß § 613a Abs. 1 Sätze 2–4

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Teil 9 Rz. 1

Wirkung der Tarifnormen

BGB, RdA 2011, 163; Scheele, Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität bei gemeinsamen Einrichtungen, NZA-Beil. 2010, 3; Schliemann, Tarifliches Günstigkeitsprinzip und Bindung der Rechtsprechung, NZA 2003, 122; Schlüter, Wer Sozialpläne verzögert, wird bestraft! – „punitive damages“ im Betriebsverfassungsrecht?, in: Festschrift für Walter Stree und Johannes Wessels, 1993, S. 1061; Schmidt, Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes und die Sozialgerichtsbarkeit, RdA 1952, 301; Scholz, Bahnstreik und Verfassung, in: Festschrift für Herbert Buchner, 2009, S. 827; Seiter, Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen beim Betriebsinhaberwechsel, DB 1980, 877; Sutschet, Firmenstreik und Abwehrmaßnahmen, ZfA 2005, 581; Thüsing, Dreigliedrige Standortvereinbarungen, NZA 2008, 201; Thüsing, Vom verfassungsrechtlichen Schutz des Günstigkeitsprinzips – Eine Skizze zu neueren Thesen im Lichte der Rechtsprechung des BVerfG, in: Gedächtnisschrift für Meinhard Heinze, 2005, S. 901; Thüsing/Lambrich, Arbeitsvertragliche Bezugnahme auf Tarifnormen, RdA 2002, 193; Thüsing/v. Medem, Tarifeinheit und Koalitionspluralismus: Zur Zulässigkeit konkurrierender Tarifverträge im Betrieb, ZIP 2007, 510; D. Ulber/Strauß, Differenzierungsklauseln im Licht der neuen Rechtsprechung zur Koalitionsfreiheit, DB 2008, 1970; Waas, Die Tariflandschaft im Umbruch – eine Betrachtung aus der Perspektive des Arbeitsrechts, Sozialer Fortschritt 2008, 137; Waas, Der Regelungsentwurf von DGB und BDA zur Tarifeinheit, ArbuR 2011, 93; Wank, Die Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems, in: Soziale Sicherheit durch Sozialpartnerschaft, Festschrift zum 50jährigen Bestehen der Zusatzversorgungskasse des Baugewerbes, 2007, S. 141; Wank, Aktuelle Probleme des Arbeitskampfrechts, RdA 2009, 1; Wank, Der kollektive Tatbestand als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des § 87 Abs. 1 BetrVG, in: Festschrift für Günther Wiese, 1998, S. 617; Wank, Tarifautonomie oder betriebliche Mitbestimmung?, RdA 1991, 129; Wiedemann, Individueller und kollektiver Günstigkeitsvergleich, in: Festschrift für Hellmut Wißmann, 2005, S. 185; Wiedemann/Arnold, Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, ZTR 1994, 399; Wiese, Zum Gesetzes- und Tarifvorbehalt nach § 87 Abs. 1 BetrVG, in: Festschrift 25 Jahre Bundesarbeitsgericht, 1979, S. 661; Willemsen/Mehrens, Das Ende der Tarifeinheit – Folgen und Lösungsansätze, NZA 2010, 1313; Witting, Die Tarifkonkurrenz, BArBl 1957, 544; Zachert, Rechtsfragen zu den aktuellen Tarifverträgen über Arbeitszeitverkürzung und Beschäftigungssicherung, AuR 1995, 1; Zeuner, Günstigkeitsprinzip und Verbandsbeschluß zur Verhinderung übertariflicher Arbeitsbedingungen, DB 1965, 630; Zöllner, Die Zulässigkeit neuer Arbeitskampfformen, in: Festschrift für Eduard Bötticher, 1969, S. 427; Zöllner, Die Zulässigkeit einzelvertraglicher Verlängerung der tariflichen Wochenarbeitszeit, DB 1989, 2121; Zöllner, Veränderung und Angleichung tarifvertraglich geregelter Arbeitsbedingungen nach Betriebsübergang, DB 1995, 1401. Siehe auch die Nachweise vor Rz. 21.

A. Normwirkung (§ 4 Abs. 1 TVG) 1

Gemäß § 4 Abs. 1 TVG wirken die Normen eines TVes unmittelbar und zwingend auf die beiderseits tarifgebundenen Arbeitsverhältnisse ein. Diese Wirkung zeichnet den normativen Teil des TVes aus und hebt ihn von anderen privatrechtlichen Vereinbarungen ab. Bei der Normsetzung durch TV-Partei handelt es sich nach der Rechtsprechung des BVerfG „um Gesetzgebung im materiellen Sinne, die Normen im rechtstechnischen Sinne erzeugt“1.

1 BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, DB 1977, 1510.

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Normwirkung (§ 4 Abs. 1 TVG)

Rz. 6 Teil 9

I. Unmittelbare Wirkung 1. Grundprinzip Die „unmittelbare“ Normwirkung besagt, dass die Geltung der Tarifnormen weder von einer einzelvertraglichen Vereinbarung noch von der Kenntnis der Arbeitsvertragsparteien abhängt1. Eines individualvertraglichen Anwendungsbefehls bedarf es zur Tarifgeltung nicht2. Bezugnahmeklauseln im Arbeitsvertrag kommt bei zugleich bestehender normativer Bindung an den in Bezug genommenen TV nur eine deklaratorische Wirkung zu.

2

Konsequenz der in § 4 Abs. 1 TVG angeordneten unmittelbaren Wirkung ist, dass Tarifnormen eigenständige Anspruchsgrundlagen darstellen. Insofern wird gerade durch die unmittelbare Wirkung der Tarifnormen eine Gleichstellung mit dem staatlich gesetzten Recht auf dem Gebiet der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen erzielt3. Mit der unmittelbaren Wirkung ist zugleich geklärt, dass TV-Normen nicht Bestandteil des Arbeitsverhältnisses werden, sondern wie ein staatliches Gesetz von außen auf dieses einwirken4. Diese – in früherer Zeit dogmatisch umstrittene5 – quasi-gesetzliche Einwirkung auf das Arbeitsverhältnis ist heute einhellig anerkannt.

3

Gleichfalls eine Folge der unmittelbaren Geltung der Tarifnormen ist, dass ein Irrtum der Arbeitsvertragsparteien in dem Sinne, dass sie von der Nichtgeltung von Tarifnormen ausgehen oder irrtümlich einen nicht anwendbaren TV für anwendbar halten, an der Geltung des anwendbaren TV nichts ändert.

4

Die unmittelbare Geltung führt zur sog. „Tarifautomatik“. Die Rechtsfolgen einer Tarifnorm treten ipso iure ein, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen der Tarifnorm erfüllt sind. Infolgedessen hat etwa die Eingruppierung eines Arbeitnehmers durch den Arbeitgeber lediglich eine klarstellende, deklaratorische Wirkung. Im Falle einer irrtümlichen Eingruppierung hat der Arbeitnehmer – in den Grenzen der Ausschlussfristen, der Verjährung oder Verwirkung (s. Rz. 66 ff.) – auch rückwirkend Anspruch auf die Gewährung der Arbeitsbedingungen nach der zutreffenden Vergütungsgruppe.

5

2. Normative Weitergeltung nach Betriebsübergang? Nach wie vor nicht abschließend geklärt ist die Wirkung der Tarifnormen in Grenzfällen. Exemplarisch gilt dies für die Weitergeltung von Tarifnormen nach einem Betriebsübergang bei Wegfall der kongruenten Tarifbindung 1 BAG v. 21.9.1989 – 1 AZR 454/88, NZA 1990, 351; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 300; Bayreuther, Tarifautonomie, S. 208 ff. 2 Anders z.B. in England, wo TVen lediglich die Wirkung eines „gentleman's agreement“ zukommt, dessen verbindliche Wirkung im Arbeitsvertrag vereinbart werden muss; vgl. Hyman, The Historical Evolution of British Industrial Relations, 2003, S. 37 (39). 3 Vgl. dazu Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 300; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 29; Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 12; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 180. 4 BAG v. 15.1.1987 – 6 AZR 589/84, BB 1987, 2092; BAG v. 1.12.1992 – 1 AZR 234/92, NZA 1993, 613; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 304. 5 Vgl. Herschel, ZfA 1976, 89 (92 ff.).

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Teil 9 Rz. 7

Wirkung der Tarifnormen

(§ 613a Abs. 1 Satz 2 BGB; ausf. Teil 15 Rz. 40 ff.): Insofern statuiert das Gesetz, dass die bis dahin unmittelbar normativ einwirkenden tarifvertraglichen Regelungen „Inhalt des Arbeitsverhältnisses zwischen dem neuen Inhaber und dem Arbeitnehmer“ werden; dies wurde bislang gemeinhin dahingehend interpretiert, dass die Tarifnormen ihre normative Wirkung verlieren und auf die Rechtsnatur arbeitsvertraglicher Vereinbarungen herabgestuft werden1. In jüngerer Zeit nimmt das BAG eine Mischform zwischen normativer und arbeitsvertraglicher Wirkung sui generis an2: Der kollektivrechtliche Charakter bleibe beim Betriebsübernehmer erhalten. Er sei an die – gleichwohl „transformierten“ – Regelungen „in einer Weise gebunden, die der Nachbindung des aus einem tarifschließenden Arbeitgeberverband ausgetretenen Arbeitgebers gemäß § 3 Abs. 3 TVG weitgehend entspricht, allerdings zeitlich begrenzt auf eine Dauer von einem Jahr“. Diese normative Bindung ohne jegliche mitgliedschaftliche Legitimation ist mit einer rein kollektiv-privatautonomen Herleitung der Tarifmacht nicht vereinbar und mit dem Wortlaut des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB auf den ersten Blick nur schwer in Einklang zu bringen3. 7

Dem ersten Argument lässt sich entgegenhalten, dass ohnehin nur eine auch delegatorische Herleitung der Tarifmacht den Realitäten des Tarifrechts gerecht wird4. Für die Position des BAG spricht außerdem, dass eine strenge Auslegung von Art. 3 Abs. 3 RL 2001/23/EG die normative Fortgeltung erforderlich machen könnte; demnach erhält der Erwerber die in einem Kollektivvertrag vereinbarten Arbeitsbedingungen bis zur Kündigung oder zum Ablauf des Kollektivvertrags bzw. bis zum Inkrafttreten oder bis zur Anwendung eines anderen Kollektivvertrags in dem gleichen Maße aufrecht, wie sie in dem Kollektivvertrag für den Veräußerer vorgesehen waren5. Dies könnte gegen die Richtlinienkonformität einer vollen Transformation sprechen. Dennoch wäre eine richtlinienkonforme Auslegung contra legem nicht möglich6. Der eindeutig für eine Transformation sprechende Befund der Gesetzesmaterialien7 ist dabei nur ein Gesichtspunkt, keine unumstößliche Auslegungsleitlinie8. Das Gesetz enthält auf den zweiten Blick durchaus Anhaltspunkte für das heute vom BAG präferierte Modell einer „Mischform“, insbesondere stützt die in § 613a Abs. 1 Satz 4 Halbs. 1 BGB vorgesehene Relevanz normativer Änderungen für die „transformierten“ Tarifnormen die Annahme einer kollektivrechtlichen Fortgeltung, während Halbs. 2 eher für einen individualrechtlichen Charakter spricht. Für die Position des BAG sprechen auch die bei vollständiger Transformation eintretenden Wertungswidersprüche, z.B. bei mehrfachem Betriebs1 Etwa BAG v. 29.8.2001 – 4 AZR 332/00, NZA 2002, 513; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 229 m.w.N. 2 BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 unter Aufgabe der früheren Rspr.; BAG v. 26.8.2009 – 5 AZR 969/08, NZA 2010, 173; so bereits früher grundlegend Zöllner, DB 1995, 1401 (1402 f.); zust. HWK/Willemsen, § 613a BGB Rz. 250 m.w.N.; Sagan, RdA 2011, 163. 3 Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 229 m.w.N. 4 Vgl. Greiner, Rechtsfragen, S. 99 ff. m.w.N.; Waas, ArbuR 2011, 93 (96). 5 Bereits Seiter, DB 1980, 877 (881) zu RL 77/187/EWG. 6 Vgl. nur EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04, NJW 2006, 2465. 7 BT-Drucks. 8/3317, S. 11 („individualrechtliche Verpflichtung“). 8 Deutlich – in anderem Kontext – MünchKommStGB/Schmitz, § 1 Rz. 73.

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Normwirkung (§ 4 Abs. 1 TVG)

Rz. 9 Teil 9

übergang1. Die verbleibende zwingende Wirkung wird jedoch durch die in § 613a Abs. 1 Satz 2, 4 BGB vorgesehenen individualvertraglichen Änderungsmöglichkeiten (nach Satz 4 durch Bezugnahme auch schon innerhalb des Jahreszeitraums) gegenüber der zwingenden Wirkung der Tarifnormen nach § 4 Abs. 1 TVG deutlich aufgeweicht.

3. Quasi-normative Wirkung von Bezugnahmeklauseln? Gleichfalls nicht im Letzten geklärt sind die Wirkungen einer arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklausel auf einen TV. Nachdem das BAG in der Vergangenheit auch bei Fehlen einer normativen Tarifbindung (s. Teil 6, 7) zunächst in Einzelfragen eine quasi-normative Wirkung des arbeitsvertraglich in Bezug genommenen TVes befürwortete, was z.B. dazu führte, dass die Kollisionsprinzipien für TVe auch auf diesen Fall Anwendung fanden2 und etwa die Geltung allgemeiner Auslegungsgrundsätze sowie des AGB-Rechts stark eingeschränkt war3, hat sich in letzter Zeit überwiegend eine rein indiviualvertragliche Deutung der Bezugnahmeklausel durchgesetzt4.

8

Dieser Tendenz ist zuzustimmen: Die Bezugnahmeklausel führt nicht dazu, dass ein (zusätzlicher) Geltungsgrund für die Einwirkung der Tarifnormen auf das Arbeitsverhältnis „von außen“ geschaffen wird, sondern vielmehr zur arbeitsvertraglichen Inkorporierung des TVes (s. Teil 10 Rz. 7)5. Die Tarifnormen wirken infolge einer Bezugnahmeklausel wie schlichte arbeitsvertragliche Regelungen. Sie unterliegen damit nicht den Besonderheiten der normativen Wirkung von TV-Normen. Insbesondere finden die Kollisionsregeln für Tarifkollisionen (s. Rz. 73 ff.) auf diesen Fall keine Anwendung; es gilt das Günstigkeitsprinzip (§ 4 Abs. 3 TVG; s. Rz. 96 f.)6. Das BAG führt diese zutreffende individualvertragliche Deutung der Bezugnahmeklausel jedoch bislang nicht konsequent durch. Erneut ergebnisorientiert lässt es die individualvertragliche Deutung etwa bei der Inbezugnahme von einfachen Differenzierungsklauseln in TVen schnell an Grenzen stoßen7. Die Rechtsprechungspraxis sollte dies überdenken und künftig die dogmatisch einzig begründbare individualvertragliche Deutung der Bezugnahmeklausel konsequent praktizieren (s. noch Rz. 153).

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1 Moll, RdA 1996, 275 (279). 2 BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, NZA 1991, 736: Die einzelarbeitsvertragliche Inbezugnahme eines Tarifvertrages sei nur „eine von mehreren Arten, die Bindung an einen Tarifvertrag zu bewirken“; dagegen überzeugend HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 27; Jacobs, Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität, S. 181 ff. 3 Krit. z.B. Preis, FS 50 Jahre BAG, S. 123 (128 ff.); Hanau, NZA 2005, 489; Thüsing/Lambrich, RdA 2002, 193 (198 f.). 4 Ausf. Greiner, Rechtsfragen, S. 503 ff. m.w.N. 5 Z.B. BAG v. 22.9.1993 – 10 AZR 207/92, NZA 1994, 667. 6 BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, NZA 2008, 364; ebenso BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 784/07, NZA 2009, 151. 7 Vgl. BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028; BAG v. 22.9.2010 – 4 AZR 117/09; dazu krit. Greiner/Suhre, NJW 2010, 131 (132 f. m.w.N.).

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Teil 9 Rz. 10

Wirkung der Tarifnormen

II. Zwingende Wirkung 1. Grundprinzip 10

Die zwingende Wirkung der Tarifnormen beinhaltet, dass Tarifnormen im Grundsatz dieselbe Wirkung zukommt wie einseitig zwingenden staatlichen Gesetzen. Die durch Tarifnormen gewährleisteten Arbeitsbedingungen sind somit arbeitsvertraglich (oder durch Betriebsvereinbarung) nicht abdingbar. Erst die zwingende Tarifwirkung stellt die Geltung des TVes auch angesichts des im Arbeitsverhältnis häufig bestehenden Machtungleichgewichts zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer wirksam sicher. Da bei einem Verzicht auf eine zwingende Tarifnormwirkung vielfach die Abbedingung des einschlägigen TVes durch (standardisierte) Arbeitsvertragsklauseln drohen würde, stellt die zwingende Wirkung eine Funktionsvoraussetzung des TV-Systems dar; sie ist vom institutionellen Schutzgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG umfasst1.

11

In den Worten des BAG2 besagt die zwingende Wirkung eines TVes, „dass die Parteien des Arbeitsvertrages nichts vereinbaren können, was gegen den Tarifvertrag (…) verstößt. Inhaltsnormen (…) eines Tarifvertrags müssen sich gegenüber allen vertraglichen Abreden durchsetzen (…)“. Durch die zwingende Wirkung des TVes wird die dem TV innewohnende Schutzfunktion realisiert. Sämtliche ungünstigere Arbeitsbedingungen, die in einer rangniederen Abrede vereinbart werden, bleiben infolge der einseitig zwingenden Wirkung der TVNormen wirkungslos.

12

Auf die Rechtsnatur der rangniederen Regelung kommt es dabei nicht an. Erfasst werden gleichermaßen arbeitsvertragliche Regelungen und Regelungen durch Betriebsvereinbarung. Ebenso wenig entscheidend ist die Art des auf arbeitsvertraglicher Ebene gewählten Gestaltungsinstruments. Erfasst werden also Abweichungen durch echte individualvertragliche Vereinbarung ebenso wie durch AGB, Gesamtzusage oder betriebliche Übung3.

13

Der grundsätzlich nur einseitig zwingende Charakter der Tarifnormen zeigt sich an gesetzlich normierten Ausnahmen (s. Rz. 140 ff., Rz. 197 ff.). Nach § 4 Abs. 3 TVG sind abweichende Abmachungen zulässig, soweit sie durch den TV gestattet sind oder eine Änderung der Regelungen zugunsten des Arbeitnehmers enthalten. Angesprochen sind damit zum einen tarifvertragliche Öffnungsklauseln, zum anderen das Günstigkeitsprinzip.

2. Verdrängende Wirkung 14

Die zwingende Wirkung des TVes führt dazu, dass ungünstigere rangniedere Regelungen ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des TVes verdrängt werden4. 1 Vgl. auch Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 532 m.w.N.; Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 14. 2 BAG v. 21.9.1989 – 1 AZR 454/88, NZA 1990, 351. 3 Zutr. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 369; Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 14; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 533. 4 BAG v. 21.9.1989 – 1 AZR 454/88, NZA 1990, 351; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 460, 484.

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Normwirkung (§ 4 Abs. 1 TVG)

Rz. 18 Teil 9

Sie werden jedoch nicht nichtig1. Von der verdrängenden Wirkung sind nach zutreffender Sichtweise ungünstigere Vereinbarungen unabhängig davon erfasst, zu welchem Zeitpunkt sie getroffen wurden. Ebenso wie bereits vor Abschluss des TV oder vor Eintritt seiner Geltungsvoraussetzungen getroffene Abreden werden auch Abreden erfasst, die erst während der Laufzeit des TVes getroffen werden. Insofern zu differenzieren und in letzterem Fall eine vernichtende Wirkung der Tarifnorm anzunehmen, scheint dogmatisch nicht begründbar. Nicht betroffen von der Verdrängungswirkung sind gleich günstige, also den TV lediglich wiederholende rangniedere Vereinbarungen. Insofern entsteht kein lösungsbedürftiger Konflikt, der den in der verdrängenden Wirkung liegenden Eingriff rechtfertigen könnte2.

15

Kommt es infolge der verdrängenden Wirkung der Tarifnormen zu Regelungslücken im Arbeitsvertrag – was angesichts der nur punktuellen Verdrängungswirkung einer inhaltlich gleichgerichteten TV-Norm schwer vorstellbar ist – finden allgemeine Grundsätze der ergänzenden Vertragsauslegung Anwendung3.

16

3. Wiederaufleben Ein Wiederaufleben der verdrängten Regelung ist nach zutreffender Ansicht möglich, wenn der TV ohne Nachwirkung endet4. Diese Annahme hat jedoch dadurch entscheidend an Relevanz verloren, dass nach jüngerer Rechtsprechung des BAG das Wiederaufleben zwischenzeitlich verdrängter ungünstigerer Vereinbarungen von niederem Rang nicht als „andere Abmachung“ i.S.v. § 4 Abs. 5 TVG interpretiert werden kann, so dass dem Wiederaufleben eine die Nachwirkung (s. Rz. 21 ff.) beendende Wirkung nicht zukommt5. Vielmehr kann eine „andere Abmachung“ nur im Nachwirkungszeitraum oder kurz davor mit Blick auf den eintretenden Nachwirkungszeitraum geschlossen werden6. Die gegenteilige Auffassung würde dazu führen, dass eine ungünstigere arbeitsvertragliche Vereinbarung die Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG gewissermaßen vorab abbedingen würde. Dies ist rechtlich nicht möglich, da § 4 Abs. 5 TVG zwingendes Recht darstellt (a.A. Höpfner, unten Rz. 50)7.

17

Zum Wiederaufleben einer verdrängten rangniederen Vereinbarung kommt es somit regelmäßig erst mit Ende der Nachwirkung (s. Rz. 39 ff.)8. Darüber hi-

18

1 Dafür aber Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S. 792. Vermittelnd – für eine einzelfallbezogene Auslegung der konfligierenden Regelungen: Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 370 ff.; unentschieden jetzt Löwisch/Rieble, § 4 Rz. 35 ff. 2 A.A. Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 15. 3 BAG v. 28.2.1990 – 7 AZR 143/89, NZA 1990, 746. 4 Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 15. 5 Vgl. BAG v. 20.5.2009 – 4 AZR 230/08, NZA-RR 2010, 591; BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53; BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 250/08, NZA-RR 2010, 30. 6 BAG v. 20.5.2009 – 4 AZR 230/08, NZA-RR 2010, 591. 7 Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 16; vgl. weiterhin Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 488. 8 Zutr. BAG v. 14.2.1991 – 8 AZR 166/90, NZA 1991, 779.

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Teil 9 Rz. 19

Wirkung der Tarifnormen

naus behält der Umstand, dass die zwingende Wirkung des TVes nur verdrängende, nicht vernichtende Wirkung hat, besondere Relevanz in Fällen, in denen die TV-Parteien die Nachwirkung ausgeschlossen haben. Dann bestimmt sich nach Ablauf des TVes die Rechtslage nach der zwischenzeitlich verdrängten Vereinbarung. Dem Wiederaufleben der verdrängten arbeitsvertraglichen Abrede kommt auch dann praktische Bedeutung zu, wenn die tarifliche Regelung sich verschlechtert und es zu einem Wiederaufleben der bislang verdrängten Vereinbarung somit deswegen kommt, weil sie nunmehr günstiger als die weiterhin geltende tarifvertragliche Regelung ist.

4. Ende der zwingenden Wirkung 19

Die zwingende Wirkung endet mit Ablauf des TVes (s. Teil 8 Rz. 93 ff.), während die unmittelbare Wirkung auch während des Nachwirkungsstadiums (§ 4 Abs. 5 TVG) fortbesteht (s. Rz. 33). Während des Nachbindungszeitraums (§ 3 Abs. 3 TVG, s. Teil 6 Rz. 61 ff.) besteht die zwingende Wirkung der Tarifnorm dagegen unproblematisch fort. Die Nachbindung ist nur eine andere Form der Tarifbindung. Daher entfalten die Tarifnormen zwingende Wirkung selbst dann, wenn die erstmalige beiderseitige Tarifbindung durch Gewerkschaftsbeitritt des Arbeitnehmers erst im Nachbindungszeitraum hergestellt wird1.

5. Rechtsfolgen bei tarifwidriger Direktionsrechtsausübung 20

Eine tarifwidrige Direktionsrechtsausübung des Arbeitgebers entspricht nicht billigem Ermessen i.S.d. § 106 Satz 1 GewO und ist daher für den Arbeitnehmer unverbindlich. Widersetzt sich der Arbeitnehmer einer Direktionsrechtsausübung durch den Arbeitgeber, weil diese im Widerspruch zu tarifvertraglichen Regelungen steht, liegt infolge der unmittelbaren und zwingenden Wirkung der Tarifnormen in dieser Widersetzung keine Verletzung der arbeitsvertraglichen Hauptpflicht (Arbeitsverweigerung). Arbeitsrechtliche Sanktionen (Abmahnung, Kündigung), die an dieses Verhalten anknüpfen, sind mangels Pflichtverletzung unwirksam. Hingegen ergibt sich keine Nichtigkeit aus § 134 BGB; der TV ist nicht Verbotsgesetz2. Gleichfalls scheint ein Rückgriff auf § 612a BGB nur in Ausnahmefällen einer auch subjektiv gegebenen Evidenz und daraus folgenden Sittenwidrigkeit angebracht, da § 612a BGB ein spezialgesetzlich geregelter Fall der Sittenwidrigkeit ist3.

B. Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG Literatur: Bauer, Flucht aus Tarifverträgen: Königs- oder Irrweg?, in: Festschrift Schaub, 1998, S. 19; Bauer/Günther, Änderung der betrieblichen Lohnstruktur – rechtliche und personalpolitische Probleme, DB 2009, 620; Bayreuther, Die Rolle des Tarifvertrags bei der AGB-Kontrolle von Arbeitsverträgen, RdA 2002, 81; Behrendt/Gaumann/Liebermann, Zulässigkeit arbeitsvertraglicher Verweisungen auf das Beamtenrecht, ZTR 2007, 1 BAG v. 4.8.1993 – 4 AZR 499/92, NZA 1994, 34; Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 14; Bauer/Diller, DB 1993, 1085. 2 A.A. Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 14; zutr. aber Rz. 15. 3 MünchKomm/Müller-Glöge, § 612a BGB Rz. 2.

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Höpfner

Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG

Rz. 21 Teil 9

522; Belling/Hartmann, Die Unzumutbarkeit als Begrenzung der Bindung an den Tarifvertrag, ZfA 1997, 87; Bepler, Tarifvertragliche Vergütungssysteme als Grundsätze der betrieblichen Lohngestaltung – Ansprüche ohne Anspruchsgrundlage? –, in: Festschrift Bauer, 2010, S. 161; Buchner, Kündigung der Tarifregelungen über die Entgeltanpassung in der Metallindustrie der östlichen Bundesländer, NZA 1993, 289; Caspers, Teilnachwirkung des Tarifvertrags durch § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG – zur Ablösung tariflicher Vergütungssysteme, in: Festschrift Löwisch, 2007, S. 45; Däubler, Die Auswirkungen der Schuldrechtsmodernisierung auf das Arbeitsrecht, NZA 2001, 1329; Ehmann/Lambrich, Vorrang der Betriebs- vor der Tarifautonomie kraft des Subsidiaritätsprinzips? Betriebsvereinbarungen als „andere Abmachungen“, NZA 1996, 346; Fischer, Nachwirkung von Tarifnormen (§ 4 Abs. 5 TVG), 2009; Franzen, AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 36; Frölich, Eintritt und Beendigung der Nachwirkung von Tarifnormen, NZA 1992, 1105; Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, 2002; Heinze/Ricken, Verbandsaustritt und Verbandsauflösung im Spannungsfeld von Tarifeinheit und Tarifpluralität, ZfA 2001, 159; Henssler, Arbeitsrecht und Schuldrechtsreform, RdA 2002, 129; Henssler, Nachbindung und Nachwirkung, in: Festschrift Picker, 2010, S. 987; Herschel, Der nachwirkende Tarifvertrag, insbesondere seine Änderung, ZfA 1976, 89; Herschel, Zur Entstehung des Tarifvertragsgesetzes, ZfA 1973, 183; Jacobs, Anm. AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 34; Kocher, Nachwirkung im Bereich tarifdispositiven Rechts am Beispiel von Tarifverträgen zu § 9 Nr. 2 AÜG, DB 2010, 900; Kreft, Tarifliche Vergütungsordnung und betriebliche Entlohnungsgrundsätze, in: Festschrift Kreutz, 2010, S. 263; Lehmann, Richterrecht: Zermentierung [sic!] gekündigter tariflicher bzw. betrieblicher Vergütungsordnungen, ZTR 2011, 523; Leitmeier, Funktionen und Unterschiede der Nachwirkung von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen, 2010; Lieb, Mehr Flexibilität im Tarifvertragsrecht? „Moderne“ Tendenzen auf dem Prüfstand, NZA 1994, 337; Lobinger, Systemdenken im Betriebsverfassungsrecht, RdA 2011, 76; Löwisch, Tariföffnung bei Unternehmens- und Arbeitsplatzgefährdung, NZA 1997, 905; Löwisch/Rieble, Tarifvertragliche und arbeitskampfrechtliche Folgen des Übergangs vom Haustarif zum Verbandstarif, in: Festschrift Schaub, 1998, S. 457; Oetker, Die Kündigung von Tarifverträgen, RdA 1995, 82; Oetker, EzA § 4 TVG Nachwirkung Nr. 14 und 15; Oetker, Nachwirkende Tarifnormen und Betriebsverfassung, in: Festschrift Schaub, 1998, S. 535; Reichold, AP TVG § 3 Nr. 31; Reichold, Entgeltmitbestimmung und „betriebliche Vergütungsordnung“, in: Festschrift Picker, 2010, S. 1079; Reichold, Notwendige Mitbestimmung als neue „Anspruchsgrundlage“?, in: Festschrift Konzen, 2006, S. 763; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, 1996; Roßmann, Grenzen der Nachwirkung betriebsverfassungsrechtlicher Normen, NZA 1999, 1252; Rotter, Nachwirkung der Normen eines Tarifvertrags, 1992; Rüthers, Nachwirkungsprobleme bei Firmentarifen desselben Arbeitgebers mit verschiedenen Gewerkschaften, in: Festschrift Gerhard Müller, 1981, S. 445; Sittard, Keine Nachwirkung von Mindeslohntarifverträgen, NZA 2012, 299; Stoffels/Bieder, AGB-rechtliche Probleme der arbeitsvertraglichen Bezugnahme auf mehrgliedrige Zeitarbeitstarifverträge, RdA 2012, 27; Thüsing, Equal pay bei Leiharbeit, DB 2003, 446; Ulber, Zur Nachwirkung von Tarifverträgen für die Leiharbeit, ZTR 2010, 287; Wank, Empfiehlt es sich, die Regelungsbefugnisse der Tarifparteien im Verhältnis zu den Betriebsparteien neu zu ordnen?, NJW 1996, 2273; Wank, Kündigung und Wegfall der Geschäftsgrundlage bei Tarifverträgen, in: Festschrift Schaub, 1998, S. 761; Wiedemann, AP MTV Ang-DFVLR § 2 Nr. 1; Wiedemann, AP TVG § 3 Nr. 2; Wiedemann, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 6; Wiedemann, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 8; Willemsen/Mehrens, Ablösung tariflicher Bestimmungen nach einem Verbandsaustritt – Kein Ende in Sicht!, NZA 2010, 307.

I. Zweck, Legitimation und Verfassungsmäßigkeit Tarifnormen gelten gemäß § 4 Abs. 1 TVG unmittelbar und zwingend zwischen den beiderseits Tarifgebundenen. Das Gesetz knüpft die Tarifgeltung an die Tarifgebundenheit und damit an die Mitgliedschaft im Verband, die gemäß § 3 Höpfner

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Teil 9 Rz. 22

Wirkung der Tarifnormen

Abs. 3 TVG bis zum Ende des TVes verlängert wird. Spätestens zu diesem Zeitpunkt verlieren die Tarifnormen nach der Grundregel des § 4 Abs. 1 TVG ihre Wirkung für das dem TV unterliegende Arbeitsverhältnis1. Ohne die Vorschrift des § 4 Abs. 5 TVG richteten sich die rechtlichen Grundlagen für das Arbeitsverhältnis ab diesem Zeitpunkt nach den gesetzlichen und arbeitsvertraglichen Vorgaben. Das ist aus mehreren Gründen misslich. Zum einen sind die gesetzlichen Vorgaben im Arbeitsrecht oft nur sehr unbestimmt oder gar unvollständig und darüber hinaus nicht auf die individuellen Bedürfnisse der jeweiligen Branche abgestimmt. Zum anderen besteht von Seiten der tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien regelmäßig kein Anlass, die ohnehin unmittelbar und zwingend geltenden tariflichen Regelungen im Arbeitsvertrag zu wiederholen. Schließlich ist umstritten, ob arbeitsvertragliche Regelungen, die dem geltenden TV widersprechen, nach dessen Beendigung wiederaufleben (vgl. auch Rz. 50)2. 22

Vor diesem Hintergrund soll die sog. „Nachwirkung“ der Tarifnormen verhindern, dass die Arbeitsverhältnisse nach Beendigung des TVes durch unpassendes dispositives Gesetzesrecht ergänzt werden müssen oder dass die rechtliche Grundlage in Einzelfragen mangels gesetzlicher Regelung gänzlich wegfällt3. Der von § 4 Abs. 5 TVG bezweckte „Inhaltsschutz“4 geht von der Prämisse aus, dass die TV-Parteien die Arbeitsbedingungen in ihrem Zuständigkeitsbereich sachkundig und sachnäher als der Gesetzgeber regeln können und dass also dem TV – auch im Nachwirkungszeitraum – eine höhere Richtigkeitsgewähr zukommt als dem dispositiven Gesetzesrecht5.

23

Zugleich hat die Nachwirkung eine Überbrückungsfunktion:6 Sie soll den Arbeits- oder Tarifvertragsparteien die Möglichkeit geben, ein neues Regelungsmodell zu entwickeln, ohne dass aufgrund unpassender gesetzlicher Vorgaben ein besonderer Zeitdruck dafür besteht.

24

Damit unterscheidet sich die Nachwirkung ganz erheblich von der Fortwirkung gemäß § 3 Abs. 3 TVG. Während jene eine „Flucht aus dem TV“ verhindern und somit die Tariftreue erhalten und stärken will (vgl. Teil 6 Rz. 62), lie1 Vgl. ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 50. 2 Vgl. BAG v. 12.12.2007 – 4 AZR 998/06, NZA 2008, 649 (652); BAG v. 23.2.2005 – 4 AZR 186/04, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 42; BAG v. 21.9.1989 – 4 AZR 454/88, NZA 1990, 351 (354 f.); Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 35 ff.; Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 15. 3 Insoweit kann man auch von einem „inhaltsleeren“ Arbeitsverhältnis sprechen; vgl. aber zur Kritik an diesem Begriff Jacobs/Krois, ZTR 2011, 643 (645 f.). 4 Vgl. BAG v. 18.3.1992 – 4 AZR 339/91, NZA 1992, 700 (701); ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 50; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 659 f.; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 327; Oetker, EzA § 4 TVG Nachwirkung Nr. 14 und 15; a.A. Heinze/Ricken, ZfA 2001, 159 (165 f.), die nur eine Überbrückungsfunktion des § 4 Abs. 5 TVG anerkennen. 5 Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 846; insoweit auch Kocher, DB 2010, 900 (902); a.A. Ulber, ZTR 2010, 287 (289). 6 Vgl. BAG v. 25.10.2000 – 4 AZR 212/00, NZA 2001, 1146 (1147); HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 5; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 50; Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 533; Oetker in Jacobs/Krause/Oettker, § 8 TVG Rz. 23; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1224; Herschel, ZfA 1976, 89 (95); Rüthers, FS Müller, S. 445 (450); a.A. Fischer, Nachwirkung, S. 109 ff.

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Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG

Rz. 25 Teil 9

gen die Funktionen der Nachwirkung im Interesse aller Parteien1. Den TV-Parteien wird der Zeitdruck für TV-Verhandlungen genommen. Für den Arbeitnehmer bleibt das bisherige Schutzniveau erhalten, ohne dass der Arbeitgeber einseitig davon abweichen kann. Aus Sicht des Arbeitgebers schließlich kann die Nachwirkung jedenfalls hinsichtlich der Vergütung vorteilhafter sein als der Rückgriff auf das dispositive Gesetzesrecht2, der gemäß § 612 Abs. 2 BGB zur üblichen und damit regelmäßig zur jeweils aktuellen tariflichen Vergütung führt3. Darüber hinaus ermöglicht sie ein einheitliches System der Arbeitsbedingungen im Betrieb oder Unternehmen des Arbeitgebers über die Beendigung des TVes hinaus. Umstritten ist der rechtsdogmatische und legitimatorische Geltungsgrund der Nachwirkung. Das BAG geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die Nachwirkung allein auf der gesetzlichen Anordnung in § 4 Abs. 5 TVG beruht4. Es handelt sich danach um eine ausschließlich durch staatlichen Hoheitsakt legitimierte Tarifgeltung. Nach der überwiegenden Auffassung im Schrifttum soll dagegen auch im Nachwirkungszeitraum der TV selbst Grundlage der Tarifgeltung sein, die lediglich einen anderen, nämlich dispositiven Charakter erhalte5. Der TV ändert danach „nicht seine Gültigkeit, sondern lediglich die Qualität seiner Rechtsgeltung.“6 Beide Auffassungen gehen insoweit übereinstimmend von der zutreffenden Vorstellung aus, dass die Nachwirkung zumindest auch7 auf einem staatlichen Akt beruht und nicht vollständig privatautonom zu erklären ist. Denn anders als unter Geltung der TVVO8 gestaltet der TV das Arbeitsverhältnis von außen, ohne aber direkt auf den Inhalt des Arbeitsvertrags einzuwirken. Ohne die gesetzliche Anordnung in § 4 Abs. 5 TVG würden die Tarifnormen mit Ende des TVes nicht – auch nicht als Inhalt des Arbeitsvertrags – nachwirken9.

1 Vgl. dazu Henssler, FS Picker, S. 987 (995); Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 329; Kittner/Zwanziger/Deinert/Deinert, § 8 Rz. 242; das praktische Bedürfnis nach einer Nachwirkung wurde schon im sog. „Lemgoer Entwurf“ anerkannt, vgl. ZfA 1973, 129 (134); dazu Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 805 f. 2 Vgl. Lieb, NZA 1994, 337 (338); Henssler, FS Picker, S. 987 (996); Kempen/Zachert/ Kempen, § 4 TVG Rz. 533. 3 Vgl. ErfK/Preis, § 612 BGB Rz. 38 m.w.N. 4 BAG v. 14.2.1973 – 4 AZR 176/72, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 6; BAG v. 29.1.1975 – 4 AZR 218/74, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 8; zustimmend Jacobs, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 34. 5 Vgl. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 18 VII 1b; Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 819; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 325; Wiedemann, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 8; ausf. Rotter, S. 46 ff. 6 Wiedemann, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 6. 7 Vgl. nur Wiedemann, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 8. 8 Dazu Herschel, ZfA 1976, 89 (92 ff.). 9 Herschel, ZfA 1976, 89 (94 ff.); Herschel, ZfA 1973, 183 (193); Jacobs/Krois, ZTR 2011, 643 (647); a.A. Leitmeier, Nachwirkung, S. 110 ff., 137 ff.; Fischer, Nachwirkung, S. 106 f.; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 666.

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Teil 9 Rz. 26 26

Wirkung der Tarifnormen

Das BVerfG hat Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit des § 4 Abs. 5 TVG zu Recht zurückgewiesen1. Einen unzulässigen Zwang oder Druck im Hinblick auf ein Unterlassen des Verbandsaustritts bzw. des Wiedereintritts in den Verband hat es mit dem Hinweis auf den bloß dispositiven Charakter der Nachwirkung verneint. Der Arbeitgeber könne seine Vorstellungen vom richtigen Inhalt der Arbeitsverhältnisse durch einzelvertragliche Vereinbarungen mit den bei ihm beschäftigten Arbeitnehmern durchsetzen und damit die Nachwirkung selbst, d.h. ohne Mitwirkung des Verbandes und ohne Abschluss eines FirmenTVes mit einer Gewerkschaft, beseitigen. Denkt man diese zutreffende Argumentation konsequent zu Ende, so drängen sich Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der zwingenden Nachbindung gemäß § 3 Abs. 3 TVG geradezu auf (dazu Teil 6 Rz. 66).

II. Voraussetzungen 27

Als Voraussetzung der Nachwirkung nennt § 4 Abs. 5 TVG den „Ablauf des TVes“. Darunter fällt jede Beendigung des TVes durch Kündigung, Aufhebung, Befristung oder Wegfall einer TV-Partei. Nach ganz überwiegender Auffassung gilt die Norm darüber hinaus analog für alle sonstigen Fälle, in denen der TV seine Wirkung für ein konkretes Arbeitsverhältnis verliert2. Dazu zählt insb. das Herauswachsen des Arbeitgebers aus dem Geltungsbereich des TVes oder der Tarifzuständigkeit des Verbandes3. Auch wenn außerhalb der Tarifzuständigkeit der TV-Parteien die Richtigkeitsgewähr des TVes entfällt, spricht doch jedenfalls die Überbrückungsfunktion der Nachwirkung für eine entsprechende Anwendung des § 4 Abs. 5 TVG.

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Vor seinem „Ablauf“ muss der TV unmittelbar und zwingend gegolten haben. Dabei ist es unerheblich, worauf die Normwirkung beruht. § 4 Abs. 5 TVG erfasst sowohl VerbandsTVe auf Grundlage beiderseitiger mitgliedschaftlicher Legitimation als auch FirmenTVe und TVe, die aufgrund einer Allgemeinverbindlicherklärung gemäß § 5 Abs. 4 TVG (vgl. näher Teil 7 Rz. 82 ff.) auf ein Arbeitsverhältnis anzuwenden sind4. Demgegenüber hat der 4. Senat jüngst entschieden, dass § 4 Abs. 5 TVG auf Tarifnormen, die durch Rechtsverordnung im Wege des § 1 Abs. 3a Satz 1 AEntG a.F. (= §§ 3, 7 AEntG n.F.) auf nicht tarifgebundene Arbeitsverhältnisse erstreckt wurden, keine Anwendung

1 BVerfG v. 3.7.2000 – 1 BvR 945/00, NZA 2000, 947 (948); vgl. auch Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 881; Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 534; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 671. 2 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 193/97, NZA 1998, 488 (490 f.); BAG v. 18.3.1992 – 4 AZR 339/91, NZA 1992, 700 (701); BAG v. 2.12.1992 – 4 AZR 277/92, NZA 1993, 655 (658); ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 60; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 6; Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 545; Kittner/Zwanziger/Deinert/Deinert, § 8 Rz. 243; einschränkend Fischer, Nachwirkung, S. 146 ff. 3 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 193/97, NZA 1998, 488 (490 f.). 4 BAG v. 19.1.1962 – 1 AZR 147/61, AP TVG § 5 Nr. 11; BAG v. 18.6.1980 – 4 AZR 463/78, AP TVG § 4 Ausschlussfristen Nr. 68; BAG v. 25.10.2000 – 4 AZR 212/00, NZA 2001, 1146 (1146 f.); ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 54; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 5; a.A. Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 289 ff.; Sittard, NZA 2012, 299 (302 f.).

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Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG

Rz. 30 Teil 9

findet (vgl. näher Teil 7 Rz. 157 ff.)1. Im Hinblick auf die Überbrückungsfunktion der Nachwirkung, die auch nach Beendigung der Tarifnormerstreckung einschlägig ist, ist das Ergebnis zweifelhaft2. Für den Betriebsübergang schließen die spezielleren Regelungen des § 613a Abs. 1 Sätze 2–4 BGB einen Rückgriff auf § 4 Abs. 5 TVG aus. Entsprechendes gilt, sofern sich an die Beendigung der Verbandsmitgliedschaft eine Fortwirkung der Tarifnormen anschließt (dazu Teil 6 Rz. 69 ff.). In diesem Fall verdrängt § 3 Abs. 3 TVG die Nachwirkung bis zur Beendigung des TVes. Nach herrschender Meinung tritt jedoch die Nachwirkung im Anschluss an die Nachbindung ein3. Die Entstehungsschichte des TVG steht dieser Kombination von Nachbindung und Nachwirkung nicht entgegen, im Gegenteil: Bei § 4 Abs. 5 TVG handelt es sich um den Kompromiss einer „Umwandlung der zwingenden Tarifvertragsnormen bei Beendigung des Tarifvertrages in eine besondere Art dispositiven Rechts“4, mit dem der Gesetzgeber die Weitergeltung der Tarifnormen im Ergebnis sicherstellen wollte, ohne in den Theorienstreit um die Tarifwirkung einzugreifen. Da sich die Problematik des Wegfalls von Tarifnormen aber in den praktisch allermeisten Fällen erst nach Beendigung des Fortwirkungszeitraums stellt und sich in den Gesetzesmaterialien keine Einschränkung des § 4 Abs. 5 TVG auf die seltenen Fälle findet, in denen der TV ohne Nachbindung „abläuft“, wird man davon ausgehen müssen, dass die Kombination von Nachbindung und Nachwirkung den Regelungsabsichten der Normsetzer entspricht.

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Umstritten ist die Anwendbarkeit des § 4 Abs. 5 TVG im Fall der außerordentlichen Kündigung des TVes5. Das BAG hat dazu bisher nicht Stellung nehmen müssen, scheint aber dazu zu tendieren, dass die Nachwirkung bei Beendigung des TVes durch außerordentliche Kündigung entfallen kann6. Geht man davon aus, dass eine Kündigung des TVes oder der Verbandsmitgliedschaft nur in außergewöhnlichen Ausnahmefällen bei existenzbedrohender wirtschaftlicher Lage des Arbeitgebers zulässig ist7, sprechen die besseren Gründe für den Eintritt der

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1 BAG v. 20.4.2011 – 4 AZR 467/09, NZA 2011, 1105 (1107); i.E. ebenso Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 399 f.; Sittard, NZA 2012, 299 (300 ff.). 2 Ebenso Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 685. 3 Vgl. nur BAG v. 14.2.1991 – 8 AZR 166/90, NZA 1991, 779; BAG v. 13.12.1995 – 4 AZR 1062/94, NZA 1996, 769 (771); BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53 (59); BAG v. 22.2.2012 – 4 AZR 8/10, ZTR 2012, 436 (437); ebenso Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 880; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 60; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 691; Wiedemann/ Wank, § 4 TVG Rz. 339; Wank, NJW 1996, 2273 (2278 f.); a.A. Heinze/Ricken, ZfA 2001, 159 (162 ff.); Ehmann/Lambrich, NZA 1996, 346 (356); Oetker, EzA § 4 TVG Nachwirkung Nr. 14 und 15; Loritz in Zöllner/Loritz/Hergenröder, § 38 I 5c; tendenziell krit. auch Lieb, NZA 1994, 337 (338 f.). 4 Herschel, ZfA 1973, 183 (193), Hervorhebung hinzugefügt; vgl. auch Herschel, ZfA 1976, 89 (95). 5 Dazu ausf. Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 854 ff.; vgl. ferner Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 54; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 6; Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 8 TVG Rz. 23; Oetker, RdA 1995, 82 (95); Buchner, NZA 1993, 289 (299); Löwisch, NZA 1997, 905 (908). 6 BAG v. 18.6.1997 – 4 AZR 710/95, NZA 1997, 1234 (1237); recht ergebnisoffen auch Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 854 einerseits, Rz. 855 andererseits. 7 Vgl. ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 10; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 141.

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Teil 9 Rz. 31

Wirkung der Tarifnormen

Nachwirkung, da hinsichtlich der Vergütung die nur statische Fortwirkung gegenüber der dynamischen tarifüblichen Vergütung des § 612 Abs. 2 BGB den „kostengünstigeren“ Weg darstellt1. 31

§ 4 Abs. 5 TVG stellt nach ganz herrschender Meinung eine tarifdispositive Regelung dar2. Eine Nachwirkung kommt nicht in Betracht, wenn die TV-Parteien sie bereits bei Abschluss des Vertrags im TV selbst ausdrücklich oder konkludent ausschließen, befristen oder auf Teile des TVes beschränken3. Die Aufhebungsbefugnis der TV-Parteien ergibt sich als actus contrarius zu ihrer Rechtsetzungskompetenz4. Umgekehrt können die TV-Parteien jedoch der nach § 4 Abs. 5 TVG dispositiv ausgestalteten Nachwirkung keine zwingende Geltung verschaffen, da dies mit dem Überbrückungszweck des § 4 Abs. 5 TVG nicht vereinbar ist5. Insoweit ist die Tarifnormwirkung in § 4 Abs. 5 TVG abschließend geregelt und die Rechtsetzungskompetenz der Verbände auf den Zeitraum bis zum Ende des TVes beschränkt.

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Umstritten ist, ob die TV-Parteien einen von vornherein lediglich nachwirkenden TV abschließen dürfen. Das BAG lehnt dies mit der Begründung ab, es könne keine TVe ohne Friedenspflicht geben6. Der TV müsse daher zumindest kurzzeitig gemäß § 4 Abs. 1 TVG unmittelbar und zwingend gelten, bevor er seine zwingende Wirkung verlieren könne. Zulässig sei es aber, einen TV mit möglichst kurzer Laufzeit oder mit sofortiger Kündigungsmöglichkeit zu vereinbaren, nach dessen Ende sich dann die Nachwirkung anschließe7. In der Praxis erweist sich die Fragestellung als Scheinproblem, da die TV-Parteien ohne weiteres abweichend von § 4 Abs. 3 TVG einen TV mit von vornherein ledig-

1 Ebenso Löwisch, NZA 1997, 905 (908); Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 688 f.; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 56; Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 855; Kittner/Zwanziger/Deinert/ Deinert, § 8 Rz. 250; Wank, FS Schaub, S. 761 (776 f.); i.E. auch Buchner, NZA 1993, 289 (299); Fischer, Nachwirkung, S. 174 ff.; a.A. HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 6; Oetker, RdA 1995, 82 (95); Belling/Hartmann, ZfA 1997, 87 (130). 2 Vgl. Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 828 ff.; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 58; Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 548; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 362; a.A. Herschel, ZfA 1976, 89 (97); differenzierend Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 747 ff.: kein Ausschlussrecht für die essentialia negotii des Arbeitsvertrags. 3 BAG v. 3.9.1986 – 5 AZR 319/85, NZA 1987, 178 (179); BAG v. 16.8.1990 – 8 AZR 439/89, NZA 1991, 353; BAG v. 8.10.1997 – 4 AZR 87/96, NZA 1998, 492 (493); BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 789/07, NZA 2009, 265 (266); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 18 VII 3; a.A. Herschel, ZfA 1976, 89 (97). 4 BAG v. 8.10.1997 – 4 AZR 87/96, NZA 1998, 492 (493); Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 362; vgl. auch Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 829. 5 Im Ergebnis ebenso Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 751; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 339; Wiedemann, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 8; a.A. Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 540; AnwK-ArbR/Besgen, § 4 TVG Rz. 42; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 1468. 6 BAG v. 14.2.1973 – 4 AZR 176/72, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 6; BAG v. 29.1.1975 – 4 AZR 218/74, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 8; zustimmend Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 752; a.A. Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 895; Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 549; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 365 ff. 7 BAG v. 14.2.1973 – 4 AZR 176/72, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 6; Frölich, NZA 1992, 1105 (1109); ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 59; Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 549.

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Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG

Rz. 34 Teil 9

lich dispositiver Wirkung abschließen können1, der im Ergebnis einem bloß nachwirkenden TV entspricht2.

III. Rechtsfolge § 4 Abs. 5 TVG sieht eine „Weitergeltung“ der Tarifnormen nach Ablauf des TVes vor. Im Gegensatz zu § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB werden die Tarifnormen nicht zum „Inhalt des Arbeitsverhältnisses“. Vielmehr erhält das Gesetz die normative Wirkung der Tarifnormen aufrecht3. Demzufolge beschränkt sich die Nachwirkung auf den normativen Teil des TVes.

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Schuldrechtliche Abreden zwischen den TV-Parteien sind von § 4 Abs. 5 TVG nicht erfasst4. Insb. entfällt mit dem Ende des TVes die Friedenspflicht5. Das entspricht dem Überbrückungszweck der Nachwirkung während des Zeitraums der Tarifverhandlungen und der Funktion des Arbeitskampfs als Hilfsmittel für die Tarifautonomie. Nach der Rechtsprechung des BAG gilt § 4 Abs. 5 TVG nicht nur für Inhaltsnormen, sondern für alle Rechtsnormen des TVes i.S.d. § 1 Abs. 1 TVG einschließlich der betrieblichen Normen6. Letztere können wegen der notwendig einheitlichen Regelung nicht durch einzelvertragliche Abrede, sondern nur durch einen TV oder eine Betriebsvereinbarung abgelöst werden7. Entsprechendes gilt nach h.M. für betriebsverfassungsrechtliche Normen8. Für Abschlussnormen hat die Nachwirkung praktisch keine Bedeutung, weil ein tarifwidriger Vertragsschluss eine die Nachwirkung beendende „andere Abmachung“ darstellt9. Lediglich für tarifliche Regelungen über gemeinsame Einrichtungen gemäß § 4 Abs. 2 TVG lehnt das BAG eine Nachwirkung ab, wenn der Arbeitgeber durch Änderung des Betriebszwecks aus dem betrieblichen Geltungs-

1 Herschel, ZfA 1976, 89 (102); Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 752; Wiedemann, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 6. 2 A.A. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 368. 3 Vgl. Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 812; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 7. 4 Vgl. Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 863; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 55; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 7; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 702. 5 BAG v. 14.2.1973 – 4 AZR 176/72, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 6; Herschel, ZfA 1976, 89 (104); Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 8 TVG Rz. 35 f.; Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 842; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 351; Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 560; das verkennt die Kritik von Leitmeier, Nachwirkung, S. 130. 6 BAG v. 26.4.1990 – 1 ABR 84/87, NZA 1990, 850 (853); HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 10; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 344; Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 873 ff.; Oetker, FS Schaub, S. 535 (537 ff.); Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 1453 f.; Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung, S. 521 ff. 7 BAG v. 26.4.1990 – 1 ABR 84/87, NZA 1990, 850 (854); Rüthers, FS Müller, S. 445 (456); Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 344. 8 Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 698; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 10; Wiedemann/ Wank, § 4 TVG Rz. 344; Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 554; Fischer, Nachwirkung, S. 201 ff.; a.A. Jacobs/Krois, ZTR 2011, 643 (648 f.). 9 BAG v. 18.5.1977 – 4 AZR 47/76, AP BAT § 4 Nr. 4; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 55; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 10; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 345.

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Teil 9 Rz. 35

Wirkung der Tarifnormen

bereich des TVes hinauswächst und keine Beiträge an die gemeinsame Einrichtung mehr zu erbringen hat1. 35

§ 4 Abs. 5 TVG sieht – entsprechend dem Überbrückungszweck der Norm – eine lediglich statische Nachwirkung der Tarifnormen vor. Die normative Weitergeltung betrifft die Tarifnormen in dem Zustand, wie sie sich im Zeitpunkt des Ablaufs des TVes darstellen2. Spätere Änderungen des TVes bleiben unberücksichtigt. Enthält ein TV eine dynamische Verweisung auf eine fremde Regelung, so bleiben Änderungen der Bezugsnorm im Nachwirkungszeitraum grundsätzlich außer Betracht3. Sofern jedoch ein StufenTV selbst sämtliche Stufen abschließend regelt, bleibt die TV-immanente Aufstiegsdynamik im Nachwirkungszeitraum erhalten4.

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Nach ständiger Rechtsprechung des BAG werden im Nachwirkungszeitraum begründete Arbeitsverhältnisse von § 4 Abs. 5 TVG nicht erfasst5. Entsprechendes gilt für den Fall, dass die Voraussetzungen der beiderseitigen Tarifgebundenheit erst im Nachwirkungszeitraum begründet werden6. Die Gegenauffassung plädiert unter Hinweis auf die Ordnungsfunktion des TVes für eine Erstreckung des § 4 Abs. 5 TVG auf Neuverträge7. Für die Ansicht des BAG spricht, dass der von der Nachwirkung bezweckte „Inhaltsschutz“ nur bei bestehenden tarifgebundenen Arbeitsverhältnissen eingreift und die Überbrückungsfunktion durch eine Ausklammerung von Neuverträgen nicht grundlegend in Frage gestellt wird8. Die praktische Relevanz des Meinungsstreits ist gering, da das BAG arbeitsver-

1 BAG v. 5.10.1993 – 3 AZR 586/92, NZA 1994, 848 (850); a.A. Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 260, 699; Thüsing/Braun/Wißmann, 4. Kap. Rz. 140. 2 BAG v. 4.4.2001 – 4 AZR 215/00, NZA 2002, 104 (106); ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 51; Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 821; Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 8 TVG Rz. 40. 3 BAG v. 29.1.2008 – 3 AZR 426/06, NZA 2008, 541 (542); BAG v. 17.5.2000 – 4 AZR 363/99, NZA 2001, 453 (456 f.); BAG v. 24.11.1999 – 4 AZR 666/98, NZA 2000, 435 (436 f.); BAG v. 10.11.1982 – 4 AZR 1203/79, AP TVG § 1 Form Nr. 8; Wiedemann/ Wank, § 4 TVG Rz. 340; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 704; Oetker in Jacobs/Krause/ Oetker, § 8 TVG Rz. 41; Jacobs, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 34; a.A. Wiedemann, AP MTV Ang-DFVLR § 2 Nr. 1; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 18 VII 1 a. 4 BAG v. 17.5.2000 – 4 AZR 363/99, NZA 2001, 453 (457); BAG v. 16.8.1990 – 8 AZR 439/89, NZA 1991, 353 (354); Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 706. 5 Vgl. nur BAG v. 6.6.1958 – 1 AZR 515/57, NJW 1958, 1843 (1844); BAG v. 2.3.2004 – 1 AZR 271/03, NZA 2004, 852 (854); BAG v. 15.11.2006 – 10 AZR 665/05, NZA 2007, 448 (452); BAG v. 7.5.2008 – 4 AZR 288/07, NZA 2008, 886 (887); BAG v. 5.8.2009 – 10 AZR 1006/08, AP TVG § 4 Nr. 32. 6 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 247/96, NZA 1998, 484 (487); ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 53; Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 8 TVG Rz. 26; a.A. Kittner/Zwanziger/Deinert/Deinert, § 8 Rz. 251 mit unzutreffendem Hinweis auf BAG v. 4.8.1993 – 4 AZR 499/92, AP TVG § 3 Nr. 15. 7 Wiedemann, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 6; Wiedemann, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 8; Herschel, ZfA 1976, 89 (98 f.); Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 330 ff.; Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 814 ff.; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 1464. 8 Vgl. Rüthers, FS Müller, S. 445 (450); ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 53; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 708 f.; wenig überzeugend die Kritik von Leitmeier, Nachwirkung, S. 118 ff.

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Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG

Rz. 38 Teil 9

tragliche Bezugnahmeklauseln auf die geltenden TVe im Zweifel dahingehend auslegt, dass sie auch nachwirkende TVe erfassen1. Nachwirkende Tarifnormen gehen dem tarifdispositiven Gesetzesrecht vor2. Das folgt aus der grundsätzlich auch im Nachwirkungszeitraum fortbestehenden Richtigkeitsgewähr des TVes und aus der Inhaltsschutzfunktion der Nachwirkung, welcher die im Vergleich zum dispositiven Gesetzesrecht höhere Sachnähe des TVes zugrunde liegt3. Sofern das tarifdispositive Gesetz eine Abweichung durch einzelvertragliche Bezugnahme erlaubt, was regelmäßig der Fall ist, geht aus diesem Grunde auch eine individualvertragliche Verweisung auf einen nachwirkenden TV dem Gesetz vor, sofern der gesamte TV unverändert nachwirkt4. In der Praxis ist dies vor allem für die Frage bedeutsam, ob im Rahmen des § 9 Nr. 2 AÜG vom „Equal Pay/Treatment“-Prinzip durch einen nachwirkenden TV oder durch arbeitsvertragliche Verweisung auf einen solchen abgewichen werden kann. Nach der hier vertretenen Auffassung sind beide Fragen zu bejahen5.

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Auch im Nachwirkungszeitraum kann es zu Tarifkonkurrenzen kommen6. Das gilt vor allem für den Fall, dass der von einem verbandsangehörigen Arbeitgeber abgeschlossene FirmenTV endet. Eine Ablösung des nachwirkenden FirmenTVes durch den VerbandsTV kommt hier nicht in Betracht, da letzterer mangels Ablösungswillens der TV-Parteien keine „andere Abmachung“ i.S.d. § 4 Abs. 5 TVG darstellt (vgl. Rz. 28 ff.)7. Umstritten ist, ob der FirmenTV den VerbandsTV auch im Nachwirkungszeitraum verdrängt. Die (noch) h.M. lehnt dies ab. Bei der Kollision eines nach § 4 Abs. 1 TVG unmittelbar und zwingend geltenden und eines lediglich nachwirkenden TVes soll stets der kraft aktueller Verbandsmitgliedschaft legitimierte TV Vorrang haben8. Die Gegenauffassung

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1 BAG v. 20.9.2006 – 10 AZR 33/06, NZA 2007, 164 (165 f.); BAG v. 29.1.1975 – 4 AZR 218/74, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 8; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 8; Wiedemann/ Wank, § 4 TVG Rz. 333; Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 8 TVG Rz. 27; Roßmann, NZA 1999, 1252. 2 BAG v. 27.6.1978 – 6 AZR 59/77, AP BUrlG § 13 Nr. 12; Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 845; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 51; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 9; Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 550; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 334; Wiedemann, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 6; a.A. Herschel, ZfA 1976, 89 (99 f.); Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 1461. 3 Zutr. Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 846. 4 Vgl. BAG v. 27.6.1978 – 6 AZR 59/77, AP BUrlG § 13 Nr. 12; Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 851; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 335. 5 Ebenso Thüsing, DB 2003, 446 (449); Stoffels/Bieder, RdA 2012, 27 (35 f.); Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 551; a.A. Ulber, ZTR 2010, 287; Kocher, DB 2010, 900; differenzierend Bayreuther, BB 2010, 309. 6 Vgl. Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 860; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 50; Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, S. 301. 7 Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, S. 302. 8 Vgl. BAG v. 19.1.1962 – 1 AZR 147/61, AP TVG § 5 Nr. 11; BAG v. 4.12.1974 – 5 AZR 75/74, AP TVG § 3 Nr. 2; LAG Schleswig-Holstein v. 6.2.2007 – 5 Sa 328/06, NZA-RR 2007, 482 (483); Wiedemann, AP TVG § 3 Nr. 2; Löwisch/Rieble, FS Schaub, S. 457 (462 f.); Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 1496; Bayreuther, Tarifautonomie, S. 367 f.; Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, § 4 TVG Rz. 174.

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Teil 9 Rz. 39

Wirkung der Tarifnormen

wendet demgegenüber das Spezialitätsprinzip auch im Nachwirkungszeitraum an, so dass grundsätzlich der FirmenTV vorrangig ist. Davon sei lediglich für den Fall eine Ausnahme zu machen, dass eine Nachfolgeregelung für den FirmenTV, etwa wegen Verschmelzung des Arbeitgebers, nicht in Betracht kommt1. Der 4. Senat des BAG hat zuletzt wiederholt ausdrücklich offen gelassen, welcher Ansicht er künftig folgen wird2.

IV. Ablösung nachwirkender Tarifverträge 39

Gemäß § 4 Abs. 5 TVG endet die Nachwirkung, wenn die Tarifnormen durch eine andere Abmachung ersetzt werden. Im Gegensatz zur Fortwirkung gemäß § 3 Abs. 3 TVG entfällt im Nachwirkungszeitraum die zwingende Wirkung der Tarifnormen3. Eine Ablösung der Tarifnormen ist daher nicht nur durch TV, sondern auch durch Betriebsvereinbarung oder individualvertragliche Vereinbarung möglich4. Bei § 4 Abs. 5 TVG handelt es sich um eine Spezialvorschrift, die einen Rückgriff auf das allgemeine Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG ausschließt5. Das hat zur Folge, dass nachwirkende TVe auch durch für den Arbeitnehmer nachteilige Abmachungen ersetzt werden können.

1. Ablösung durch Tarifvertrag 40

Nachwirkende Tarifnormen können zunächst durch einen Verbands- oder FirmenTV abgelöst werden. Ablösende Wirkung hat ein TV jedoch nur für die Arbeitsverhältnisse, auf die er kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der Arbeitsvertragsparteien oder durch Allgemeinverbindlichkeitserklärung oder Tarifnormerstreckung nach §§ 3, 7 AEntG anwendbar ist6. Insoweit folgt § 4 Abs. 5 TVG dem Prinzip der Einzelablösung7. Liegen die Voraussetzung der Tarifgeltung nicht vor, etwa infolge eines Verbandsaustritts oder Herauswachsens aus 1 Jacobs in Jacobs/Krause/Oetker, § 9 TVG Rz. 219; Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, S. 304 f.; Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 861; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 50; Franzen, AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 36. 2 BAG v. 4.7.2007 – 4 AZR 491/06, NZA 2008, 307 (314); BAG v. 20.4.2005 – 4 AZR 288/04, NZA 2005, 1360 (1361). 3 BAG v. 29.1.1975 – 4 AZR 218/74, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 8; Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 897; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 50; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 5; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 384; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 323; zweifelnd nur Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 532. 4 BAG v. 21.10.2009 – 4 AZR 477/08, NZA-RR 2010, 477; BAG v. 18.5.2011 – 10 AZR 206/10, NZA 2011, 1289 (1290). Ein auf TVe beschränkter Änderungsantrag der KPDFraktion wurde im Gesetzgebungsverfahren nicht aufgegriffen, vgl. ZfA 1973, 129 (159, 165). 5 Vgl. BAG v. 17.1.2006 – 9 AZR 41/05, NZA 2006, 923 (925); Bauer, FS Schaub, S. 19 (25); AnwK-ArbR/Besgen, § 4 TVG Rz. 41. 6 BAG v. 20.4.2005 – 4 AZR 288/04, NZA 2005, 1360 (1361); BAG v. 28.5.1997 – 4 AZR 545/95, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 27; BAG v. 18.3.1992 – 4 AZR 339/91, NZA 1992, 700 (701); BAG v. 27.11.1991 – 4 AZR 211/91, NZA 1992, 800 (802); Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 898; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 61; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 12; Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 563. 7 Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 725, 731; Leitmeier, Nachwirkung, S. 185 f.

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Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG

Rz. 43 Teil 9

dem Geltungsbereich, so ist auf das Arbeitsverhältnis weiterhin der nachwirkende TV anzuwenden. Für allgemeinverbindlich erklärte TVe können im Nachwirkungszeitraum nach herrschender Meinung nur durch einen ebenfalls allgemeinverbindlichen TV abgelöst werden1. Haben die TV-Parteien mehrere TVe abgeschlossen, so sind die Nachwirkung und die Ablösung des TVes für jeden einzelnen TV gesondert festzustellen. So steht etwa der Ablösung eines nachwirkenden EntgeltTVes nicht entgegen, dass der (ungekündigte) MantelTV des gleichen Tarifwerks weiterhin fortbesteht2. Etwas anderes gilt nur, wenn die TVe nach dem erkennbaren Willen der TV-Parteien eine einheitliche Regelung darstellen. Davon ist jedenfalls nicht auszugehen, wenn die TVe selbständig abgeschlossen, getrennt ausformuliert und mit unterschiedlichen Laufzeiten und Kündigungsmöglichkeiten versehen sind3.

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Inwieweit ein neuer TV nachwirkende Tarifnormen ersetzt, ist durch Auslegung des TVes zu ermitteln. Eine Ablösung findet unproblematisch statt, wenn der TV die ursprüngliche Regelung aufgreift und bestätigt, abändert oder ausdrücklich für beendet erklärt4. Möglich ist aber auch, dass die „andere Abmachung“ i.S.d. § 4 Abs. 5 TVG stillschweigend erfolgt, z.B. wenn eine bestimmte bisher gewährte Leistung künftig entfallen soll5 oder wenn ein TV einen bestimmten Komplex von Arbeitsbedingungen insgesamt neu regelt, der bislang Gegenstand des abzulösenden TVes war6. In diesem Fall ergeben sich in der Praxis häufig Abgrenzungsprobleme zur nur teilweisen Ablösung des TVes, bei der die Nachwirkung der unveränderten Tarifnormen unberührt bleibt7. Entsprechende Hinweise der TV-Parteien in Protokollnotizen sind bei der Auslegung zu berücksichtigen8.

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Von der Ablösung eines nachwirkenden TVes durch einen neuen TV zu unterscheiden ist die Frage, ob die TV-Parteien einen nachwirkenden TV ändern oder ergänzen dürfen. Das BAG verneint dies mit der Begründung, die Nachwirkung beruhe allein auf der gesetzlichen Anordnung des § 4 Abs. 5 TVG und sei daher der Regelungsbefugnis der TV-Parteien entzogen9. Dem ist im Ergeb-

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1 BAG v. 27.11.1991 – 4 AZR 211/91, NZA 1992, 800 (802); Wiedemann/Wank, § 5 TVG Rz. 126; HWK/Henssler, § 5 TVG Rz. 33; Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 898; Kittner/ Zwanziger/Deinert/Deinert, § 8 Rz. 254; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 205 Rz. 104; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 1456; a.A. mit beachtlichen Gründen Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 289 ff. 2 BAG v. 20.4.2005 – 4 AZR 288/04, NZA 2005, 1360 (1362); Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 355. 3 BAG v. 20.4.2005 – 4 AZR 288/04, NZA 2005, 1360 (1361). 4 Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 900. 5 Vgl. Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 564. 6 BAG v. 21.10.2009 – 4 AZR 477/08, NZA-RR 2010, 477 (479). 7 Vgl. dazu BAG v. 21.10.2009 – 4 AZR 477/08, NZA-RR 2010, 477 (479 ff.); Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 900; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 355; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 61. 8 Vgl. Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 564. 9 BAG v. 29.1.1975 – 4 AZR 218/74, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 8; a.A. Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 895; Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 566; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 365; Däubler, Rz. 1466; Loritz in Zöllner/Loritz/Hergenröder, § 37 V 3.

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Teil 9 Rz. 44

Wirkung der Tarifnormen

nis zuzustimmen. Eine Änderung nachwirkender TVe würde auch diejenigen Arbeitsverhältnisse betreffen, die von einem ablösenden neuen TV mangels beiderseitiger Tarifgebundenheit nicht erfasst würden. Hierfür fehlt den TVParteien aber die mitgliedschaftliche Legitimation.

2. Ablösung durch Betriebsvereinbarung 44

Grundsätzlich ist auch eine Ablösung durch Betriebsvereinbarung möglich. Dabei sind jedoch die Grenzen der betrieblichen Regelungskompetenz zu beachten. Die weitreichende Sperrwirkung des TVes gemäß § 77 Abs. 3 BetrVG hinsichtlich des Arbeitsentgeltes und sonstiger Arbeitsbedingungen gilt auch im Nachwirkungszeitraum und schließt damit – vorbehaltlich genereller1 oder auf den Nachwirkungszeitraum begrenzter2 tariflicher Öffnungsklauseln – entsprechende ablösende Betriebsvereinbarungen aus3. Demgegenüber endet der Tarifvorrang im Rahmen der Mitbestimmung in sozialen Fragen gemäß § 87 Abs. 1 BetrVG mit dem Wegfall der zwingenden Tarifwirkung, so dass eine ablösende Betriebsvereinbarung insoweit zulässig ist4. Eine bloße Regelungsabrede i.S.d. § 77 Abs. 1 BetrVG kann dagegen den nachwirkenden TV nicht beenden, da sie lediglich schuldrechtliche Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat begründet und nicht normativ die Arbeitsverhältnisse im Betrieb gestaltet5.

3. Ablösung durch Individualvertrag 45

Schließlich lässt § 4 Abs. 5 TVG eine Ablösung nachwirkender TVe durch Individualvereinbarung zu. Darunter fällt zunächst der einvernehmliche Abschluss eines Änderungsvertrags durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Eine Ablösung findet aber auch statt, wenn der Arbeitnehmer das mit einer Änderungskündigung des Arbeitgebers verbundene Änderungsangebot vorbehaltlos annimmt oder wenn sich das Änderungsangebot im Fall einer Vorbehaltsannahme vor Gericht im Kündigungsschutzprozess als sozial gerechtfertigt erweist6. Schließlich kann auch eine arbeitsvertragliche Bezugnahmeklausel

1 Vgl. BAG v. 25.8.1983 – 6 ABR 40/82, AP BetrVG 1972 § 77 Nr. 7; ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 59. 2 Vgl. Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 567. 3 Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 902; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 61; ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 40; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 736; Oetker, FS Schaub, S. 535 (551); einschränkend Ehmann/Lambrich, NZA 1996, 346 (356); a.A. Leitmeier, Nachwirkung, S. 187 ff.: lediglich bei „Tarifüblichkeit“. 4 BAG GS v. 3.12.1991 – GS 2/90, NZA 1992, 749 (754); BAG v. 15.12.1961 – 1 AZR 207/59, AP BGB § 615 Kurzarbeit Nr. 1; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 61; ErfK/Kania, § 87 BetrVG Rz. 15; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 737; einschränkend Oetker, FS Schaub, S. 535 (545 ff.). 5 LAG Schleswig-Holstein v. 12.5.2005 – 3 Sa 105/05, NZA-RR 2005, 426 (427 f.); HWK/ Henssler, § 4 TVG Rz. 11. 6 BAG v. 27.9.2001 – 2 AZR 236/00, NZA 2002, 750 (753); BAG v. 28.1.1987 – 5 AZR 323/86, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 16; Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 910; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 63; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 719; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 11; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 356; a.A. Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 570.

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Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG

Rz. 47 Teil 9

eine „andere Abmachung“ i.S.d. § 4 Abs. 5 TVG darstellen1. Eine Ablösung durch Individualvereinbarung ist jedoch unzulässig, soweit es sich um betriebliche oder betriebsverfassungsrechtliche Normen handelt2. In diesem Fall kann eine Ablösung nur durch TV, durch Betriebsvereinbarung oder durch arbeitsvertragliche Einheitsregelung3 erfolgen. Obwohl mit dem Ende des TVes die zwingende Wirkung der Tarifnormen entfällt, schränkt das BAG die Ablösung nachwirkender tariflicher Vergütungsordnungen im Ergebnis stark ein. Nach ständiger Rechtsprechung des 1. Senats und des 7. Senats sollen tarifliche Vergütungsordnungen während der Dauer der Tarifbindung des Arbeitgebers die im Betrieb geltenden Entlohnungsgrundsätze i.S.d. § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG darstellen. Nach Wegfall der Tarifbindung soll entgegen § 4 Abs. 5 TVG eine Änderung nur mit Zustimmung des Betriebsrats möglich sein4. Nach der sog. „Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung“ soll der Arbeitnehmer bei einer unter Verstoß gegen § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG vorgenommenen, durch Änderungsvertrag oder Neueinstellung begründeten individualvertraglichen Änderung der Entlohnungsgrundsätze eine Vergütung auf der Grundlage der bisher geltenden Grundsätze fordern können5. Im Schrifttum ist diese Rechtsprechung zu Recht kritisiert worden. Sie schafft einen Vergütungsanspruch ohne Anspruchsgrundlage, widerspricht der Überbrückungsfunktion des § 4 Abs. 5 TVG und verstößt gegen die Privatautonomie der Arbeitsvertragsparteien6. Darüber hinaus begründet sie einen untragbaren Wertungswiderspruch, indem sie die während der Laufzeit des TVes unbegrenzte Vertragsfreiheit des nicht tarifgebundenen Arbeitnehmers nach Beendigung des TVes einschränkt7.

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Nach Auffassung des BAG unterliegt eine andere Abmachung in Form Allgemeiner Geschäftsbedingungen keiner Inhaltskontrolle gemäß § 307 Abs. 1 und 2 BGB, da einem nachwirkenden TV nicht mehr die gesetzliche Leitfunk-

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1 Vgl. BAG v. 17.1.2006 – 9 AZR 41/05, NZA 2006, 923 (924 f.); BAG v. 23.2.2005 – 4 AZR 186/04, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 42; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 63; HWK/ Henssler, § 4 TVG Rz. 11. 2 Rüthers, FS Müller, S. 445 (456); ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 63; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 738; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 358; Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 8 TVG Rz. 46. 3 Vgl. dazu Rüthers, FS Müller, S. 445 (456); Henssler, FS Picker, S. 987 (999); Däubler/ Bepler, § 4 TVG Rz. 907. 4 Vgl. zuletzt BAG v. 15.4.2008 – 1 AZR 65/07, NZA 2008, 888 (890 f.); BAG v. 14.4.2010 – 7 ABR 91/08, NZA-RR 2011, 83 (84 f.); ebenso für beendete Betriebsvereinbarung (trotz fehlender Nachwirkung gemäß § 77 Abs. 6 BetrVG!) BAG v. 22.6.2010 – 1 AZR 853/08, NZA 2010, 1243 (1245). 5 Vgl. BAG v. 22.6.2010 – 1 AZR 853/08, NZA 2010, 1243 (1247); BAG v. 8.12.2009 – 1 ABR 66/08, NZA 2010, 404 (406); BAG v. 15.4.2008 – 1 AZR 65/07, NZA 2008, 888 (892). 6 Reichold, AP TVG § 3 Nr. 31; Reichold, FS Picker, S. 1079; Reichold, FS Konzen, S. 763; Bauer/Günther, DB 2009, 620; Caspers, FS Löwisch, S. 45; Henssler, FS Picker, S. 987 (998 f.); Lehmann, ZTR 2011, 523 (530 ff.); Lobinger, RdA 2011, 76 (87 f.); a.A. Kreft, FS Kreutz, S. 263; differenzierend Bepler, FS Bauer, S. 161 (175 ff.). 7 Vgl. Lehmann, ZTR 2011, 523 (525, 533).

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Teil 9 Rz. 48

Wirkung der Tarifnormen

tion i.S.d. § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB zukommt1. Richtigerweise wird man differenzieren müssen2: Zwar hatte der Gesetzgeber der Schuldrechtsreform bei der Bereichsausnahme für TVe in § 310 Abs. 4 Satz 3 BGB in erster Linie unmittelbar und zwingend geltende TVe im Blick3. Gleichwohl nehmen auch nachwirkende TVe Vorrang gegenüber dispositivem Gesetzesrecht ein (vgl. Rz. 37) und üben insoweit eine „normersetzende“ Wirkung aus, mit der der Gesetzgeber die Privilegierung von TVen bei der AGB-Kontrolle maßgeblich begründet hatte4. Daher sind auch nachwirkende TVe als „Rechtsvorschriften“ i.S.d. § 310 Abs. 3 Satz 1 BGB anzusehen5. Davon zu unterscheiden ist die Inhaltskontrolle der arbeitsvertraglichen Klauseln, die als andere Abmachung nachwirkende Tarifnormen verdrängen. Dem BAG ist insoweit zuzustimmen, als eine Inhaltskontrolle gemäß § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB wegen Abweichens vom TV ausscheidet, da die Vorschrift nur die Abweichung von einer „gesetzlichen Regelungen“ betrifft. Stattdessen findet, wie bei jedem Änderungsvertrag, eine Inhaltskontrolle statt, deren Bezugspunkt nicht der nachwirkende TV, sondern das Gesetz ist6. Davon ausgenommen ist nach den allgemeinen Grundsätzen des AGB-Rechts lediglich die Änderung der arbeitsvertraglichen Hauptleistungspflichten7.

4. Zeitpunkt der Ablösung 48

Gemäß § 4 Abs. 5 TVG gelten die Tarifnormen weiter, „bis“ sie durch eine andere Abmachung „ersetzt“ werden. Der Gesetzeswortlaut legt ein Verständnis nahe, wonach eine Ablösung nur durch eine nach Ablauf des TVes vereinbarte „andere Abmachung“ möglich ist8. Gleichwohl hatte das BAG arbeitsvertragliche Vereinbarungen, die vor dem Beginn der Nachwirkung abgeschlossen wurden, als andere Abmachung akzeptiert, wenn diese „zumindest auch“ darauf gerichtet sind, den Nachwirkungszeitraum abweichend zu regeln9. Es sei kein rechtlich tragfähiger Grund dafür erkennbar, dass eine die Nachwirkung been1 BAG v. 3.4.2007 – 9 AZR 867/06, NZA 2007, 1045 (1047); vgl. nun auch BAG v. 18.5.2011 – 10 AZR 206/10, NZA 2011, 1289 (1291): „Es spricht vieles dafür, dass die vereinbarte auflösende Bedingung keiner Inhaltskontrolle unterliegt, da es am Abweichen von einer gesetzlichen Regelung i.S.d. § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB fehlt“; a.A. Kittner/Zwanziger/Deinert/Deinert, § 8 Rz. 256. 2 Ähnlich Behrendt/Gaumann/Liebermann, ZTR 2007, 522 (526 f.). 3 BT-Drucks. 14/6857, S. 54. 4 BT-Drucks. 14/6857, S. 54. 5 Kittner/Zwanziger/Deinert/Deinert, § 8 Rz. 256. 6 Vgl. Bayreuther, RdA 2002, 81 (81 f.); Henssler, RdA 2002, 129 (136); a.A. Däubler, NZA 2001, 1329 (1334 f.). 7 Vgl. nur BAG v. 8.5.2008 – 6 AZR 517/07, NJW 2008, 3372 (3373) zum Aufhebungsvertrag. 8 Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 908; Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 565; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 18 VII 4 b; vgl. auch ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 64. 9 BAG v. 23.2.2005 – 4 AZR 186/04, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 42; BAG v. 17.1.2006 – 9 AZR 41/05, NZA 2006, 923 (925); ebenso HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 11; Henssler, FS Picker, S. 987 (997); Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 359; Lieb, NZA 1994, 337 (341); vgl. auch ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 64 sowie Franzen, AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 36 (für den Fall eines „funktionalen Zusammenhangs“).

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Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG

Rz. 50 Teil 9

dende arbeitsvertragliche Vereinbarung erst nach Eintritt der Nachwirkung getroffen werden könne. In seiner jüngeren Rechtsprechung hat der 4. Senat des BAG diese Anforderungen deutlich verschärft. War es bisher für eine ablösende Wirkung ausreichend, dass die Vereinbarung dahingehend ausgelegt werden kann, dass sie zumindest auch die Nachwirkung beseitigen soll1, wird nun zusätzlich ein zeitlicher Zusammenhang zwischen der bevorstehenden Nachwirkung und der Vereinbarung verlangt. Voraussetzung für eine „andere Abmachung“ i.S.d. § 4 Abs. 5 TVG ist, dass der Regelungswille der Arbeitsvertragsparteien erkennbar darauf gerichtet ist, eine bestimmte Tarifregelung in Anbetracht ihrer absehbar bevorstehenden Beendigung und des darauf folgenden Eintritts der Nachwirkung abzuändern2.

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Dem BAG ist im Ausgangspunkt zuzustimmen. Arbeitsvertragliche Vereinbarungen leben nach dem Ende des TVes nicht ohne weiteres automatisch wieder auf. Das entspricht dem von § 4 Abs. 5 TVG bezweckten Inhaltsschutz. Zugleich ist jedoch zu beachten, dass die Nachwirkung von vornherein auf die Überbrückung eines zeitlich begrenzten, an sich regelungslosen Zustandes gerichtet ist und wegen ihres dispositiven Charakters die Regelungskompetenz der Arbeitsvertragsparteien nicht einschränkt. Aus diesem Grunde überzeugt es, dass die Arbeitsvertragsparteien bereits vor Eintritt der Nachwirkung eine ablösende Vereinbarung treffen können. Voraussetzung hierfür ist ein entsprechender Regelungswille der Parteien, der einen „funktionalen Zusammenhang“ zwischen der Abmachung und der Nachwirkung begründet3. Im Gegensatz zur Rechtsprechung des BAG ist darüber hinaus kein unmittelbarer zeitlicher Zusammenhang zwischen der Abmachung und der bevorstehenden Nachwirkung zu verlangen4. Weder die Überbrückungs- noch die Inhaltsschutzfunktion der Nachwirkung verlangen einen derartigen Eingriff in die Vertragsfreiheit. Es ist kein sachlicher Grund ersichtlich, weshalb die Arbeitsvertragsparteien nicht bereits bei Abschluss des Arbeitsvertrags für den Fall der Beendigung der (ggf. über § 3 Abs. 3 TVG verlängerten) Tarifgebundenheit ein vom TV abweichendes Regelungsmodell der Arbeitsbedingungen vereinbaren dürfen, sofern sie die Anforderungen des AGB-rechtlichen Transparenzgebotes5 beachten6.

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1 BAG v. 23.2.2005 – 4 AZR 186/04, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 42; BAG v. 17.1.2006 – 9 AZR 41/05, NZA 2006, 923 (925); vgl. auch Willemsen/Mehrens, NZA 2010, 307 (310). 2 BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 250/08, NZA-RR 2010, 30 (32); BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53 (60); zuvor bereits ähnlich BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 789/07, NZA 2009, 265 (267); zustimmend ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 64; Franzen, AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 36; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 208 Rz. 36; a.A. Henssler, FS Picker, S. 987 (997). 3 Vgl. Franzen, AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 36. 4 Henssler, FS Picker, S. 987 (997); insoweit a.A. Franzen, AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 36. 5 Vgl. dazu BAG v. 3.4.2007 – 9 AZR 867/06, NZA 2007, 1045 (1047 f.). 6 Henssler, FS Picker, S. 987 (997).

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Teil 9 Rz. 51

Wirkung der Tarifnormen

5. Höchstdauer der Nachwirkung 51

Sofern keine andere Abmachung getroffen wird, gelten nachwirkende Tarifnormen für eine unbegrenzte Zeit weiter. § 4 Abs. 5 TVG kennt keine zeitliche Höchstgrenze der Nachwirkung. Mit den Zielsetzungen der Gesetzesverfasser ist eine derartige „Endlosbindung“ nur schwer zu vereinbaren. Die Nachwirkung soll der Überbrückung eines vorübergehend nicht oder nur unbefriedigend geregelten Zustands dienen, aber nicht zu einer dauerhaften Gestaltung der dem TV unterworfenen Arbeitsverhältnisse führen. Der erstrebte Inhaltsschutz kann nur insoweit verwirklicht werden, als dem nachwirkenden TV eine Richtigkeitsgewähr zukommt. Aufgrund der Statik der Nachwirkung kann davon aber vor allem bei EntgeltTVen nach einem Zeitraum von mehreren Jahren nicht ohne weiteres ausgegangen werden.

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Gleichwohl ist für eine zeitliche Begrenzung der Nachwirkung de lege lata kein Raum. Aus der Entstehungsgeschichte des TVG ergeben sich keine tragfähigen Anhaltspunkte für eine teleologische Reduktion des Gesetzes, die sowohl dem Wortlaut des § 4 Abs. 5 TVG als auch dem systematischen Vergleich zu § 613a Abs. 1 Sätze 2 und 4 BGB widerspricht1. Darüber hinaus ist jedenfalls eine starre Höchstgrenze ein zweischneidiges Schwert: Nimmt man die Inhaltsschutzfunktion ernst, so müsste auf der einen Seite der Zeitraum der Nachwirkung von Inhaltsnormen recht knapp bemessen sein. Das wiederum kann jedoch auf der anderen Seite zu Konflikten mit der Überbrückungsfunktion führen2. Die Lösung ist daher eher darin zu suchen, die übertriebenen Anforderungen, die das BAG an die Zulässigkeit einer betriebsbedingten Änderungskündigung stellt, auf ein vernünftiges Maß zurückzufahren3. Nur für betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Normen, deren Änderung individualvertraglich nicht möglich ist, empfiehlt sich de lege ferenda eine zeitliche Höchstgrenze der Nachwirkung4.

C. Rechtsverlust und Tarifvertragsrecht I. Verzichtsverbot, § 4 Abs. 4 TVG 1. Regelungszweck, Rechtsfolgen und Grundlagen 53

Ebenfalls der Absicherung der zwingenden Wirkung nach § 4 Abs. 1 TVG dient das Verzichtsverbot des § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG, das in dieser strikten Form erst seit Inkrafttreten des TVG bekannt ist; unter Geltung der TVVO wurde ein 1 BAG v. 15.10.2003 – 4 AZR 573/02, NZA 2004, 387 (389); Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 575; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1559; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 208 Rz. 27; a.A. Oetker, FS Schaub, S. 535 (554); Oetker, EzA § 4 TVG Nachwirkung Nr. 14 und 15; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 50. 2 Vgl. Oetker, FS Schaub, S. 535 (552); Henssler, FS Picker, S. 987 (1010). 3 So auch Henssler, FS Picker, S. 987 (1010). 4 Vgl. den Regelungsvorschlag von Henssler, FS Picker, S. 987 (1011); ebenso – aber wohl schon de lege lata – Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 674.

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Rechtsverlust und Tarifvertragsrecht

Rz. 55 Teil 9

Verzicht im nachvertraglichen Stadium weitgehend zugelassen1. Die zwingende Wirkung des TVes könnte angesichts des im Arbeitsverhältnis häufig bestehenden Machtungleichgewichts (vgl. Rz. 160 ff.) leicht umgangen werden, wenn ein einzelvertraglicher Verzicht des Arbeitnehmers auf tariflich geregelte Ansprüche möglich wäre. Zu diesem Zweck schränkt § 4 Abs. 4 TVG die Individualvertragsfreiheit ein; dem ähnelt § 77 Abs. 4 Satz 2 BetrVG für Betriebsvereinbarungen. Es handelt sich um eine zweifellos vertretbare Ausgestaltung des Tarifrechts durch den Gesetzgeber2. Die Einschränkung der Privatautonomie ist durch das Anliegen gerechtfertigt, die Funktionsfähigkeit des TV-Systems zu fördern3. Ein gegen § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG verstoßender Verzicht ist nichtig (§ 134 BGB i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG)4. Der Arbeitnehmer kann mithin seine tariflichen Ansprüche trotz Verzichts uneingeschränkt geltend machen. Auch die prozessualen Wirkungen eines demnach nichtigen Vergleichs treten nicht ein. Entsprechend dem Regelungszweck ist dagegen ein Verzicht des Arbeitgebers auf eigene tarifliche Rechte wirksam, da es sich um eine arbeitnehmergünstige Regelung (§ 4 Abs. 3 TVG, Rz. 140 ff.) handelt, die (einseitig) zwingende Wirkung also durch den Verzicht nicht betroffen wird5.

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2. Anwendungsbereich Die Funktion des Verzichtsverbots spiegelt sich in seinem Anwendungsbereich wider: Es bezieht sich ausschließlich auf solche tariflichen Regelungen, von denen eine zwingende, normative Wirkung ausgeht, namentlich Inhalts-, Abschluss- und Beendigungsnormen sowie Betriebsnormen, aus denen individuelle Ansprüche resultieren. Erfasst werden gleichermaßen auch Tarifnormen, die infolge Allgemeinverbindlicherklärung normativ gelten6. Möglich bleibt dagegen der Verzicht auf Rechte aus lediglich nachwirkenden TVen, da es ihnen an zwingender Wirkung mangelt (vgl. Rz. 39)7. Ebenso ist ein Verzicht auf tarifvertragliche Ansprüche möglich, wenn diese nicht auf einer kongruenten Tarifbindung, sondern ausschließlich auf einer arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklausel beruhen8. Dementsprechend kann der Arbeitnehmer als begünstigter Dritter auch auf Ansprüche verzichten, die sich aus einem nur schuldrechtlich wirkenden Koalitionsvertrag ergeben, auch wenn es sich um einen echten 1 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 652 f. 2 Ausf. zur Verfassungskonformität Thomas, Der Verzicht auf tarifliche Ansprüche, 1961, passim. 3 Sogar für grundrechtlichen Rang des Verzichtsverbots Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 443. 4 Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 447. 5 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 668. 6 Exemplarisch BAG v. 18.11.1999 – 2 AZR 147/99, NZA 2000, 605. 7 Zutr. Thomas, Der Verzicht auf tarifliche Ansprüche, 1961, S. 72; Kempen/Zachert/ Stein, § 4 TVG Rz. 445. 8 Dies hängt von der dogmatischen Einordnung der Bezugnahmeklausel ab, vgl. Rz. 8 f.; wie hier LAG Schleswig-Holstein v. 26.2.1981 – 3 Sa 438/80, DB 1981, 900; Löwisch/ Rieble, § 4 TVG Rz. 595; Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 445; a.A. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 802; v. Hoyningen-Huene, RdA 1974, 138 (150) m.w.N.

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Teil 9 Rz. 56

Wirkung der Tarifnormen

Vertrag zu Gunsten Dritter (§ 328 BGB) handelt1. In beiden Fällen handelt es sich nicht um „tarifliche Rechte“ im Sinne von § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG. 56

Das Verzichtsverbot erfasst über den ausdrücklich – untechnisch – genannten Fall des Verzichts auch Erlassvertrag, negatives Schuldanerkenntnis (§ 397 BGB) und Ausgleichsquittung2. Erfasst werden auch Vereinbarungen, die nur die Durchsetzbarkeit der Forderung ausschließen wie Klageverzichtsvereinbarungen (pacta de non petendo), Klagerücknahmevereinbarungen3 und Vergleiche, durch welche die Geltendmachung tariflicher Rechte ausgeschlossen wird. Auch die Stundung tariflicher Ansprüche unterfällt § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG, da sie insofern zu einem Rechtsverlust des Arbeitnehmers führt, als er zum tarifvertraglich vorgesehenen Zeitpunkt seinen Leistungsanspruch nicht geltend machen kann4. Für Prozessvergleiche ist angesichts ihrer durch die Mitwirkung des Richters erhöhten inhaltlichen Richtigkeitschance und Besonderheiten der Prozesssituation eine differenzierte Betrachtungsweise angebracht (unten Rz. 64 f.).

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Umstritten ist, ob aus der Teilnichtigkeit einer tarifliche Rechte nicht ausklammernden generelleren Disposition des Arbeitnehmers – etwa in einer Ausgleichsquittung – gemäß § 139 BGB die Gesamtnichtigkeit der Vereinbarung folgt5. Gesamtnichtigkeit ist angesichts ihrer gesetzlich in den geschlossenen Vertrag intensiv eingreifenden Wirkung nur ausnahmsweise anzunehmen, wenn dies dem (beiderseitigen) hypothetisch-typisierbaren Parteiwillen entspricht6. Der durch den jeweiligen Anspruchsausschluss begünstigten Vertragspartei wird jedoch stets daran gelegen sein, den Restbestand des Vertrages aufrechtzuerhalten; der anderen Vertragspartei geschieht dadurch kein Unrecht, da sie insofern – außerhalb § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG – in zulässiger Weise von ihrer Privatautonomie Gebrauch gemacht hat.

58

Aus § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG ergibt sich kein Gebot an den Arbeitnehmer, seine tariflichen Ansprüche geltend zu machen. Unberührt vom Verbot des § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG bleiben mithin die schlichte Nichterhebung einer Leistungsklage, Klagerücknahme oder Unterlassung der Zwangsvollstreckung7. Der vertragliche Klageverzicht unterfällt dagegen § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG (oben Rz. 56)8. Während die Klagerücknahme (§ 271 ZPO) nur prozessuale Wirkungen hat und damit ebenso wie die bloße Nichterhebung der Klage § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG nicht unterfällt, schlägt der Anspruchsverzicht gemäß § 306 ZPO auf die materiellrechtliche Situation durch; ein Verzichtsurteil bezüglich tarif1 2 3 4 5

6 7 8

Zutr. BAG v. 14.4.2004 – 4 AZR 232/03, NZA 2005, 178. Zum Begriff BAG v. 28.7.2004 – 10 AZR 661/03, NZA 2004, 1097. BAG v. 19.11.1996 – 3 AZR 461/95, NZA 1997, 1117. Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 615; Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 444: Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 655. Dafür Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 448; Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1064; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 1305; mit Recht verneinend: Wiedemann/ Wank, § 4 TVG Rz. 660; Etzel, NZA-Beil. 1/1987, 25. Vgl. MünchKomm/Busche, § 139 BGB Rz. 2, 30 ff. Zutr. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 656; Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 447. Vgl. BAG v. 19.11.1996 – 3 AZR 461/95, NZA 1997, 1117.

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Rechtsverlust und Tarifvertragsrecht

Rz. 61 Teil 9

licher Rechte ist damit nach § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG unzulässig1. Vertragsstrafenabreden und wirkungsgleiche Klauseln, die für den Fall des Vertragsbruchs des Arbeitnehmers getroffen werden, sind auch bei Auswirkungen auf die tariflichen Rechte nicht an § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG zu messen2, sondern – bei einseitiger Vorformulierung – an §§ 305 ff. BGB3. Nicht einzubeziehen sind Rechtsgeschäfte zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber außerhalb des Arbeitsverhältnisses, z.B. eine Schuldübernahme (§§ 414 f. BGB) durch den Arbeitnehmer zugunsten des Arbeitgebers oder die Gewährung eines Darlehens an den Arbeitgeber. Bei einem solchen eigenständigen Rechtsgeschäft lässt sich mit der Absicherung der zwingenden Tarifwirkung nicht argumentieren. Es ist nicht begründbar, jegliches Rechtsgeschäft mit dem Arbeitgeber, das potentiell zu einer wirtschaftlichen Belastung des Arbeitnehmers führt, an § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG zu messen4. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Arbeitnehmer beim Abschluss eines solchen Geschäfts eigenverantwortlich von seiner Vertragsfreiheit Gebrauch machen kann und muss. Inadäquaten Drucksituationen wird dabei z.B. durch die Möglichkeit einer Anfechtung gemäß § 123 BGB Rechnung getragen.

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Das Verzichtsverbot soll auch dann nicht greifen, wenn sich der Verzicht im Sinne von § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG (oben Rz. 56) wirtschaftlich zu Gunsten des Arbeitnehmers auswirkt, etwa im Fall einer Entgeltreduktion zur Herbeiführung einer geringfügigen Beschäftigung nach § 8 SGB IV, die sich in einem höheren Nettoentgelt des Arbeitnehmers niederschlägt5.

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3. Ausnahmen a) Gebilligter Vergleich Zulässig ist gemäß § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG ein Verzicht auf tarifvertragliche Rechte lediglich in einem von den TV-Parteien gebilligten Vergleich. Vergleich ist gemäß § 779 BGB ein Vertrag, durch den der Streit oder die – subjektive – Ungewissheit der Parteien über ein Rechtsverhältnis im Wege gegenseitigen Nachgebens beseitigt wird. Dieser kann vor Gericht (Prozessvergleich) oder außergerichtlich geschlossen werden. Sofern mit dem „gegenseitigen Nachgeben“ in tarifliche Ansprüche des Arbeitnehmers eingeschnitten wird oder deren Durchsetzbarkeit erschwert wird, unterfallen Vergleiche grundsätzlich § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG.

1 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 658; a.A. Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 620. 2 BAG v. 18.11.1960 – 1 AZR 238/59, NJW 1961, 698. 3 Zur AGB-rechtlichen Behandlung vgl. BAG v. 4.3.2004 – 8 AZR 196/03, NZA 2004, 727; Thüsing, in Graf v. Westphalen, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, 30. Erg.Lfg. 2012, Arbeitsverträge Rz. 427 ff. 4 Zutr. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 655; a.A. Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1066; Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 444. 5 So BSG v. 28.2.1990 – 10 RKg 15/89, NZA 1990, 995; BSG v. 27.4.1988 – 5 AZR 358/87, NZA 1988, 655; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 803; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 664; nicht unbedenklich.

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Teil 9 Rz. 62

Wirkung der Tarifnormen

62

Ausnahme ist die Billigung des Vergleichs durch die Tarifparteien. Diese kommt – trotz des dann öffentlich-rechtlichen Geltungsgrundes des TVes (Teil 7 Rz. 17) – auch dann in Betracht, wenn es sich um Ansprüche aus einem allgemeinverbindlichen TV handelt. § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG schließt diesen Fall nicht aus, auch ist Wirkung der Allgemeinverbindlicherklärung lediglich die Ausweitung der Tarifgeltung, während die TV-Parteien die inhaltliche Tarifhoheit behalten, deren Schutz § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG absichert. In Betracht kommt die Billigung sowohl bei einem sog. Tatsachenvergleich, mit dem Unsicherheiten über tatsächliche Anspruchsvoraussetzungen ausgeräumt werden, als auch bei einem Rechtsvergleich, der Unsicherheiten in der rechtlichen Behandlung – insbesondere die Auslegung von Tarifnormen – behebt1.

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Mit dem untechnischen Begriff der „Billigung“ sind beide Formen der bürgerlich-rechtlichen Zustimmung – Einwilligung und Genehmigung (§§ 182 ff. BGB) – gemeint2. Es handelt sich um eine Willenserklärung der TV-Parteien, auf welche die §§ 116 ff. BGB Anwendung finden. Die Zustimmungserklärung muss aus Gründen der Rechtssicherheit ausdrücklich erklärt werden3 und zu ihrer Wirksamkeit beiden Parteien des Vergleichs zugehen (§ 130 Abs. 1 Satz 1 BGB); ein Formerfordernis besteht nicht. Bei FirmenTVen liegt die Billigung bereits in der den Vergleich herbeiführenden Willenserklärung des Arbeitgebers4. Handeln als Prozessvertreter auf beiden Seiten Verbandsvertreter (vgl. § 11 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 ArbGG), können diese bei entsprechender Bevollmächtigung durch den Verband selbst einen Vergleich billigen. Die umfassende Bevollmächtigung verbandsexterner Prozessvertreter zur Billigung jeglichen Vergleichs ist dagegen unwirksam, da vor der Billigung der Vergleich einer inhaltlichen Prüfung durch die tarifschließende Koalition unterzogen werden soll; eine Vollmacht zur Billigung kann dann nur in Anbetracht eines konkreten, inhaltlich ausverhandelten Vergleichs wirksam erteilt werden5. Hiervon zu trennen ist eine Öffnungsklausel im TV, durch welche bereits die zwingende Wirkung entfällt6.

b) Nicht gebilligter Prozessvergleich über Tatsachenfragen 64

In teleologischer Reduktion7 des Gesetzeswortlauts soll ein prozessualer Tatsachenvergleich auch ohne Billigung der TV-Parteien zulässig sein8. Dabei handelt es sich um einen Vergleich, der lediglich eine bestehende Unsicherheit hinsichtlich streitiger Tatsachenfragen ausräumt und den Verlust eines an1 2 3 4 5 6 7 8

Zur Problematik des Rechtsvergleichs Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 679 m.w.N. BAG v. 25.7.1962 – 4 AZR 535/61, AP Nr. 114 zu § 1 TVG Auslegung. BAG v. 25.7.1962 – 4 AZR 535/61, AP Nr. 114 zu § 1 TVG Auslegung. Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 625 ff. Zutr. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 685; Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1069. Unzulässige Vermischung beider Fragen bei Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 631. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 683. So BAG v. 5.11.1997 – 4 AZR 682/95, NZA 1998, 434; BAG v. 30.11.1994 – 5 AZR 702/93, NZA 1995, 695; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 680; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 803; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 623; kritisch Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 449; Zachert, Anm. AP Nr. 17 zu § 4 TVG.

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Rechtsverlust und Tarifvertragsrecht

Rz. 68 Teil 9

dernfalls ggf. bestehenden (aber infolge unsicherer Tatsachenlage in seiner Realisierbarkeit zweifelhaften) tariflichen Anspruch zur Folge hat. Davon abzugrenzen ist der Rechtsvergleich, der bei insoweit unstreitiger Tatsachengrundlage eine Unsicherheit in der rechtlichen Wertung ausräumt; dieser unterfällt in jedem Fall § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG. Für die Zulassung des Tatsachenvergleichs ohne Billigung spricht neben prozessökonomischen Erwägungen – eine Erledigung von Verfahren durch Vergleich wäre andernfalls deutlich erschwert, streitige Tatsachenfragen lassen sich häufig nur sehr aufwändig oder gar nicht klären1 – durchgreifend der Umstand, dass es infolge des zivilprozessualen Beibringungsgrundsatzes (vgl. §§ 128, 284 ZPO) dem Arbeitnehmer ohnehin freisteht, welche Tatsachen er vorträgt. Unterfällt der Nichtvortrag einer Tatsache nicht § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG, kann auch eine vergleichsweise Einigung über Tatsachen nicht erfasst sein. Ferner kann auf die infolge Mitwirkung des Gerichts erhöhte Richtigkeitsgewähr des Prozessvergleichs verwiesen werden.

65

II. Verwirkung, § 4 Abs. 4 Satz 2 TVG § 4 Abs. 4 Satz 2 TVG schließt die Verwirkung von tariflichen Rechten gemäß § 242 BGB aus. „Verwirkung“ meint Fälle der treuwidrigen, für den Vertragspartner unzumutbaren Rechtsausübung nach Zeitablauf (Zeitmoment) und Eintritt besonderer, ein schutzwürdiges Vertrauen des Vertragspartners in die Nichtausübung begründender Umstände (Umstandsmoment)2. Der Vertragspartner muss berechtigt davon ausgehen können, dass der Anspruch nicht mehr geltend gemacht wird.

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Der Ausschluss der Verwirkung in § 4 Abs. 4 Satz 2 TVG soll die zwingende Wirkung der Tarifnormen absichern. Dies verdeutlicht, dass Raum für die Anwendung von § 4 Abs. 4 Satz 2 TVG nur ist, sofern tariflichen Rechten zwingende Wirkung zukommt. Wie bei § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG (oben Rz. 55) werden Rechte aus nachwirkendem TV (§ 4 Abs. 5 TVG)3 deshalb ebenso wenig erfasst wie tarifliche Ansprüche des Arbeitgebers4, denen es wegen § 4 Abs. 3 TVG an zwingender Wirkung fehlt. Nicht erfasst werden tarifliche Regelungen, die lediglich infolge arbeitsvertraglicher Bezugnahme gelten (oben Rz. 55). Im Übrigen ist der Geltungsgrund der zwingenden Wirkung jedoch unerheblich, so dass auch Tarifnormen erfasst werden, die erst infolge Allgemeinverbindlicherklärung oder sonstiger staatlicher Geltungserstreckung (etwa § 8 AEntG) zwingend im Arbeitsverhältnis gelten.

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Keine Aussage beinhaltet die Vorschrift hinsichtlich arbeitsvertraglicher Rechte ohne tarifvertragliche Grundlage. So sind außer- und übertarifliche Vergütungsbestandteile von § 4 Abs. 4 Satz 2 TVG nicht erfasst. Da die Vorschrift

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1 Darauf hinweisend Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 1311. 2 Allg. Staudinger/Looschelders/Olzen, Neubearb. 2009, § 242 BGB Rz. 302 ff. 3 Zutr. Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1073, 1061; a.A. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 700; Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 451. 4 Zutr. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 701; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 639.

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Teil 9 Rz. 69

Wirkung der Tarifnormen

eine – eng zu fassende – Ausnahme vom allgemeinen Rechtsinstitut der Verwirkung beinhaltet, ist auch eine Differenzierung zwischen tariflichen und diese – bei gleichen Tatbestandsvoraussetzungen – lediglich quantitativ aufstockenden übertariflichen Vergütungsbestandteilen geboten; letztere können nach allgemeinen Grundsätzen verwirkt werden1. 69

Nach überwiegender und zutreffender Auffassung2 soll bei § 4 Abs. 4 Satz 2 TVG der Verwirkungsbegriff allerdings eng zu fassen sein. Liegt dem Umstandsmoment (oben Rz. 66) ein aktives Verhalten des Arbeitnehmers zugrunde, so dass es sich um eine Verwirkung wegen (aktiven) widersprüchlichen Verhaltens (venire contra factum proprium) handelt, soll sich der Arbeitgeber trotz § 4 Abs. 4 Satz 2 TVG auf den Verwirkungseinwand berufen können. Erfasst werden davon jedenfalls Fälle, in denen der Arbeitnehmer arglistig dem Arbeitgeber vorspiegelt, den Anspruch nicht geltend zu machen, um diesem die Verteidigung gegen den Anspruch gezielt zu erschweren oder ihn von möglichen Dispositionen abzuhalten. Hier dominiert das Umstandsmoment deutlich gegenüber dem bloßen Zeitablauf. Diese qualifizierte Verwirkungskonstellation wahrt ein rechtsethisches Minimum3 – das „betrügerische“ Taktieren soll auch durch § 4 Abs. 4 Satz 2 TVG nicht honoriert werden.

III. Verjährung tarifvertraglicher Rechte, Ausschluss-/Verfallfristen 70

Rechte aus TVen verjähren grundsätzlich gemäß §§ 195, 199 BGB innerhalb von drei Jahren, gerechnet vom Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Gläubiger von den anspruchsbegründenden Umständen sowie der Person des Schuldners Kenntnis erlangt hat oder ohne Fahrlässigkeit erlangen musste (Regelverjährung). Ohne dass es auf das subjektive Element (Kenntnis, Kennenmüssen) ankäme, greift eine Verjährungshöchstfrist von zehn Jahren, gerechnet vom Entstehungszeitpunkt, § 199 Abs. 4 BGB. Die Rechtsfolge der Verjährung besteht nach § 214 BGB darin, dass der Schuldner berechtigt ist, die Leistung zu verweigern. Es handelt sich damit um eine rechtshemmende Einwendung (Einrede), die der Durchsetzbarkeit der Forderung entgegensteht. Gehemmt wird der Lauf der Verjährung u.a. durch Klageerhebung (§ 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB); dies gilt jedoch nur für die Erhebung der Leistungs-/Zahlungsklage aus dem jeweiligen Anspruch; die bloße Erhebung einer Kündigungsschutzklage hemmt dagegen nicht die Verjährung von Arbeitnehmeransprüchen aus dem gekündigten Arbeitsverhältnis4. 1 Vgl. Etzel, NZA Beil. 1987, S. 25. 2 BAG v. 22.6.1956 – 1 AZR 296/54, AP Nr. 9 zu § 611 BGB Urlaubsrecht; BAG v. 16. 4.1958 – 4 AZR 288/56, AP Nr. 35 zu § 3 TOA; BAG v. 11.12.1957 – 4 AZR 407/55, AP Nr. 7 zu § 9 TVG; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 696 f., 703 ff.; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 637; a.A. Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 450 (argumentum a maiore ad minus aus § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG bei Ausklammerung von Ansprüchen aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB, § 826 BGB); Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1187 f., 1193. 3 Ähnlich Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 703 („Innenschranken jeder Rechtsausübung“). 4 Str., zutr. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 689 m.w.N.

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Rechtsverlust und Tarifvertragsrecht

Rz. 72 Teil 9

Während Verjährungsfristen grundsätzlich vertragsdispositiv sind (§ 202 BGB), wird aus dem Verzichtsverbot des § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG abgeleitet, dass eine arbeitsvertragliche Verkürzung der Verjährungsfristen für tarifvertragliche begründete Ansprüche unwirksam ist1. Auch dies dient der Absicherung der zwingenden Wirkung (oben Rz. 53). Teilweise wird dies ganz allgemein auf (auch über/außertarifliche) Ansprüche aus einem tarifgebundenen Arbeitsvertrag erweitert2; diese Weiterung ist jedoch vom Schutzzweck des § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG nicht gedeckt (vgl. oben Rz. 55). Möglich bleibt aber eine tarifvertragliche Verkürzung der Verjährung3, da dann die TV-Parteien selbst die Durchsetzung der von ihnen vereinbarten Ansprüche begrenzen. Auch im Arbeitsvertrag möglich ist hingegen eine Verlängerung der Verjährungsfrist bis maximal 30 Jahre4.

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Die Relevanz der Verjährung wird dadurch praktisch relativiert, dass TVe in aller Regel kürzere Ausschluss-/Verfallfristen – in der Regel von wenigen Monaten – vorsehen, innerhalb derer Ansprüche geltend gemacht werden müssen. Derartige Regelungen haben in der TV-Gestaltung eine hohe Bedeutung und Verbreitung5. Gemäß § 4 Abs. 4 Satz 3 TVG können Ausschlussfristen im Hinblick auf tarifliche Rechte nur in einem TV selbst vereinbart werden. Wie § 4 Abs. 4 Satz 1, 2 TVG dient auch dies der Absicherung der zwingenden Wirkung. Rechtsfolge des Ablaufs einer Ausschlussfrist ist, dass der Anspruch nicht lediglich – wie infolge Verjährung – in seiner Durchsetzbarkeit gehemmt wird, sondern dass er erlischt. Letztlich bewirkt die Vereinbarung einer Ausschlussfrist die Zeitbefristung der tarifvertraglichen Ansprüche6. Eine praktische Konsequenz dieser gegenüber der Verjährung abweichenden Konstruktion liegt darin, dass eine Erfüllungshandlung nach Ablauf der Abschlussfrist rechtsgrundlos erfolgt und die beim Gläubiger eingetretene Vermögensmehrung daher kondizierbar ist (§ 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB)7, während der dem Grunde nach fortbestehende Anspruch im Falle einer Leistung trotz Verjährung einen Behaltensgrund darstellt (§ 214 Abs. 2 Satz 1 BGB), so dass der leistende Schuldner dann nicht kondizieren kann. Auch kommt – anders als mit einer verjährten Forderung (vgl. § 215 BGB) – nach Ablauf der Ausschlussfrist eine Aufrechnung mit der Forderung nicht in Betracht8. Vgl. im Einzelnen zu Ausschluss-/Verfallfristen Teil 5 (22).

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1 Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 643; Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 455; a.A. Koberski/Clasen/Menzel, § 4 TVG Rz. 133 (Umkehrschluss aus § 77 Abs. 4 BetrVG). 2 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 688. 3 Vgl. Wiedemann/Wank § 4 TVG Rz. 688 m.w.N. 4 Vgl. Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 455. 5 Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 457. 6 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 719. 7 A.A. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 833: § 214 Abs. 2 BGB analog anwendbar. 8 BAG v. 30.3.1973 – 4 AZR 259/72, DB 1974, 585; BGH v. 7.11.1973 – VIII ZR 228/72, NJW 1974, 602.

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Teil 9 Rz. 73

Wirkung der Tarifnormen

D. Verhältnis zu anderen Regelungen I. Mehrheit von Tarifverträgen 1. Mehrheit von TVen derselben TV-Parteien a) Tarifwerke 73

Schließen identische TV-Parteien mehrere TVe nebeneinander, die – zumindest teilweise – auf denselben Geltungsbereich bezogen sind, werden die einzelnen TVe vielfach aufeinander bezogen und inhaltlich widerspruchsfrei sein. Nach dem einheitlichen Gestaltungswillen ergänzen sie einander. In diesem Fall finden die Tarifnormen der einzelnen TVe unproblematisch nebeneinander Anwendung. Sie stellen ein aufeinander abgestimmtes tarifvertragliches Regelungssystem, ein „Tarifwerk“ dar1. Derartiges gilt regelmäßig etwa für das Verhältnis von MantelTV, EntgeltrahmenTV und EntgeltTV.

b) Ablösungsprinzip, Zeitkollisionsregel 74

Treffen hingegen identische TV-Parteien eine Neuregelung zu Regelungsgegenständen, die bisher schon eine tarifvertragliche Regelung erfahren hatten, liegt in den neu abgeschlossenen TV-Normen eine implizite Aufhebung der früheren Normen, sofern die Tarifparteien den bislang bestehenden TV nicht ohnehin ausdrücklich aufheben. Es greift das Ablösungsprinzip (Zeitkollisionsregel): Der jüngere TV verdrängt den älteren2. Es ist Bestandteil der Tarifautonomie, dass die TV-Parteien es in der Hand haben, ihren Normsetzungswillen neu zu betätigen. Dem erneut betätigten Normsetzungswillen ist durch das Ablösungsprinzip Rechnung getragen. Insofern ergibt sich kein Unterschied zum staatlichen Recht. Auch hier kann der Gesetzgeber mit Wirkung für die Zukunft eine Neuregelung schaffen. Grenzen bestehen lediglich insofern, als eine rückwirkende Neuregelung bereits geregelter Fragen oder auch eine rückwirkende Regelung bislang ungeregelter Fragen getroffen wird. In diesem Fall gelten die allgemeinen Grenzen des Rückwirkungsverbots.

c) Spezialitätsprinzip 75

Auch ein anderer Fall ist vorstellbar: Insbesondere bei einer nur teilweisen Überschneidung der Geltungsbereiche der von identischen TV-Parteien abgeschlossenen TVe (z.B. BranchenTV und unternehmensbezogener VerbandsTV) ergibt die Auslegung des Normsetzungswillens, dass jedenfalls ein umfassend regelnder älterer TV regelmäßig nicht vollständig abgelöst werden soll. Angesichts des engeren Regelungsbereichs ist der Wille der Vertragsparteien vielmehr ersichtlich auf ein Fortbestehen der älteren Tarifregelung neben der neuen gerichtet, da der neue TV keine umfassend auf denselben Geltungsbereich bezogene Neuregelung enthält. 1 Dazu exemplarisch BAG v. 24.3.2010 – 4 AZR 713/08, ZTR 2010, 462. 2 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 261 ff. m.w.N.; Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 922; Koberski/Clasen/Menzel, § 1 TVG Rz. 177.

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Verhältnis zu anderen Regelungen

Rz. 79 Teil 9

In derartigen Fällen greift bei identischen TV-Parteien das Spezialitätsprinzip: Der speziellere TV setzt sich gegenüber dem allgemeineren durch1. Dies entspricht der zum staatlichen Recht entwickelten Auslegungsregel „lex specialis derogat legi generali“. TV-Parteien schaffen eine gegenüber der fortbestehenden allgemeineren Regelung speziellere Regelung gerade mit dem Ziel, diese in ihrem speziellen Geltungsbereich zur vorrangigen Anwendung zu bringen, z.B. weil die Regelungsbedürfnisse im davon erfassten Unternehmen andere sind als in den anderen Unternehmen der Branche. Außerhalb des Überschneidungsbereichs beider TV-Normen findet die generellere Norm dann weiterhin Anwendung.

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Spezieller in diesem Sinne ist nach ständiger Rechtsprechung des BAG der TV, der dem Betrieb inhaltlich am nächsten steht, der den Regelungsbedürfnissen im Betrieb also am besten gerecht wird2. Diese Definition trägt der dargestellten Intention des Spezialitätsprinzips im Ausgangspunkt zutreffend Rechnung. Problematisch scheint allein der starr an den Betrieb anknüpfende Definitionsansatz. Richtigerweise sollte man auch hier (s. noch Rz. 95, 139) dynamisch auf die überschneidenden Geltungsbereiche abstellen3: Dem Willen der TVParteien entspricht es stets, den TV mit engerem Geltungsbereich in seinem Geltungsbereich Wirkung entfalten zu lassen. So müsste sich auch ein nur in einem Betriebsteil oder nur für eine im Betrieb vertretene Berufsgruppe geltender TV nach dem einheitlichen Tarifnormsetzungswillen gegenüber dem generelleren TV durchsetzen.

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Konsequenz des Spezialitätsprinzips ist etwa, dass ein firmenbezogener VerbandsTV, der ausschließlich für die Betriebe eines Unternehmens Geltung beansprucht, in diesem Geltungsbereich einen BranchenTV, den dieselbe Gewerkschaft und derselbe Arbeitgeberverband geschlossen haben, im Wege der Spezialität verdrängt. Außerhalb dieses Unternehmens findet der VerbandsTV weiterhin Anwendung. Dieses Ergebnis ist angemessen, da der firmenbezogene VerbandsTV ja mit Blick auf besondere Regelungsbedürfnisse in dem betroffenen Unternehmen abgeschlossen wurde und somit eine verdrängende Wirkung dem Normsetzungswillen der TV-Parteien und den Bedürfnissen der Praxis entspricht.

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Unangemessen wäre demgegenüber eine früher diskutierte4 Anwendung des Günstigkeitsprinzips, da der tarifgebundene Arbeitnehmer auf diese Weise in den Genuss eines nur die günstigsten Regelungen beider TVe enthaltenden „Idealtarifvertrags“ gelänge (sog. „Rosinentheorie“). Dies entspricht nicht dem

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1 BAG v. 23.3.2005 – 4 AZR 203/04, NZA 2005, 1003. 2 Vgl. BAG v. 24.9.1975 – 4 AZR 471/74, AP Nr. 11 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; BAG v. 29.11.1978 – 4 AZR 304/77, AP Nr. 12 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; BAG v. 14.6.1989 – 4 AZR 200/89, DB 1990, 129; BAG v. 5.9.1990 – 4 AZR 59/90, NZA 1991, 202; BAG v. 24.1.1990 – 4 AZR 561/89, AP Nr. 126 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG v. 15.11.2006 – 10 AZR 665/05, NZA 2007, 448; LAG Sachsen v. 2.11.2007 – 7 SaGa 19/07, NZA 2008, 59. 3 Vgl. Greiner, Rechtsfragen, S. 348 f. 4 Dafür noch Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 1493 f.; ähnlich auch Konzen, ZfA 1975, 401 (429); vgl. ferner Witting, BArBl 1957, 544 (545).

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Teil 9 Rz. 80

Wirkung der Tarifnormen

Normsetzungswillen der TV-Parteien, der stets auf die Geltung des abgeschlossenen TVes als Ganzes gerichtet ist und eine Aufbrechung des gefundenen Regelungskompromisses durch Anwendung von Regelungen aus anderen TVen prinzipiell vermeiden will1.

2. Mehrheit von TVen mit partiell gleicher Normurheberschaft 80

Der Anwendungsbereich der bisher beleuchteten Kollisionsprinzipien (Ablösungs- und Spezialitätsprinzip) wird von Fällen der identischen Normurheberschaft auf Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite in zweierlei Hinsicht auf andere Konstellationen ausgedehnt.

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Erstens ist allgemein anerkannt, dass auch der von einem verbandsangehörigen Arbeitgeber eigenständig als TV-Partei (vgl. § 2 Abs. 1 TVG; s. Teil 2 Rz. 96 ff.) abgeschlossene FirmenTV einen mit derselben Gewerkschaft abgeschlossenen VerbandsTV im Wege der Spezialität verdrängt2. Auf Arbeitgeberseite wird also auf das Erfordernis der identischen Normurheberschaft bei Anwendung des Spezialitätsprinzips verzichtet: Der allgemeinere TV wurde ja nicht von dem Arbeitgeber selbst, sondern von dem Arbeitgeberverband abgeschlossen.

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Diese Ausnahme von dem dargestellten Grundsatz, dass eine Verdrängungswirkung grundsätzlich einen einheitlichen Regelungswillen und damit die identische Normurheberschaft auf beiden Seiten voraussetzt, erklärt sich daraus, dass die Normsetzungslegitimation des Arbeitgeberverbandes3 durch das Mitgliedsunternehmen regelmäßig unter dem stillschweigenden Vorbehalt erteilt wird, dass sich das Mitgliedsunternehmen den Rückweg zu einer eigenständigen Tarifpolitik durch Abschluss von FirmenTVen offen hält. Grund für diese Annahme ist, dass es aus Sicht sowohl des Arbeitgeberverbandes als auch seiner Mitgliedsunternehmen interessengerecht scheint, sich – etwa mit Blick auf wirtschaftliche Krisenzeiten – den Weg zu einer sach- und unternehmensnahen Tarifpolitik durch Abschluss von FirmenTVen nicht zu verschließen. Ein Ausschluss sich gegenüber dem VerbandsTV durchsetzender FirmenTVe wäre auch mit § 2 Abs. 1 TVG nicht zu vereinbaren, der explizit auch dem einzelnen Arbeitgeber die Tariffähigkeit zuspricht, ohne dass es auf seine „Tarifwilligkeit“ ankommt (s. Teil 2 Rz. 109). Dementsprechend beinhaltet der Normsetzungswille eines Arbeitgeberverbandes beim Abschluss eines VerbandsTVes regelmäßig den Vorbehalt, dass der Verbands- hinter einen von einem verbandsangehörigen Unternehmen abgeschlossenen FirmenTV im Wege der Spezialität zurückweichen soll. Diese Interessenlage ist aus Sicht des Vertragspartners, der Gewerkschaft, auch erkennbar und wird von dieser als 1 Zutr. BAG v. 5.9.1990 – 4 AZR 59/90, NZA 1991, 202; ebenso Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 275 ff. m.w.N.; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 291; Kraft, RdA 1992, 161 (165); Säcker/Oetker, ZfA 1993, 1 (4 f.); Merten, BB 1993, 572 (573). 2 Etwa BAG v. 24.1.2001 – 4 AZR 655/99, NZA 2001, 788; BAG v. 4.4.2001 – 4 AZR 237/00, NZA 2001, 1085. 3 Diese liegt in der Beitrittserklärung; zur sog. Legitimationstheorie; vgl. HWK/Henssler, Einl. TVG Rz. 15 f.; Rieble, ZfA 2000, 5; Dieterich, RdA 2002, 1; jeweils m.w.N.

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Verhältnis zu anderen Regelungen

Rz. 84 Teil 9

gleichfalls interessengerecht gebilligt: Schließlich ist die Möglichkeit einer unternehmensnahen Tarifpolitik auch im Gewerkschaftsinteresse, und dieses Interesse aktualisiert sich, wenn die Gewerkschaft einen FirmenTV abschließt. Zweitens wird erwogen, vom Identitätserfordernis bei Anwendung des Spezialitätsprinzips abzusehen, wenn mehrere DGB-Gewerkschaften TVe mit einem sich überschneidenden Geltungsbereich abgeschlossen haben1. Auch in diesem Fall soll der im dargestellten Sinne speziellere TV im Überlappungsbereich eine verdrängende Wirkung entfalten. Auf das Erfordernis der Parteiidentität wird erneut – und zwar diesmal auf Gewerkschaftsseite – verzichtet. Derartige Konstellationen ergeben sich vor allem in sog. Mischbetrieben, die nicht eindeutig einer Branche zugeordnet werden können. Als Grund lässt sich insofern § 16 DGB-Satzung anführen, wonach die DGB-Gewerkschaften sich mit ihrem Beitritt zur Spitzenorganisation ein wechselseitiges Konkurrenzverbot auferlegen. Der Ansatz, die Anwendung des Spezialitätsprinzips trotz fehlender Parteiidentität auf Gewerkschaftsseite zu begründen, liegt erneut in der Auslegung des Normsetzungswillens beim Abschluss des TVes: Dieser soll den unausgesprochenen Vorbehalt enthalten, sich in Konformität zur DGB-Satzung verhalten zu wollen und den abgeschlossenen TV zurücktreten zu lassen, wenn in einem Betrieb ein anderer, speziellerer TV einer anderen DGB-Gewerkschaft gilt.

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Andererseits zeigen die beteiligten DGB-Gewerkschaften in derartigen Konstellationen durch den Abschluss konkurrierender TVe aber geradezu, dass sie von der Wirkung ihres TVes auch im Verhältnis zu konkurrierenden DGBTVen überzeugt sind. Die dargestellte Auffassung scheint mithin im Kontrast zum tatsächlichen Willen der Gewerkschaft beim Abschluss ihres TVes zu stehen. Die Möglichkeit eines derartigen, im Verhältnis zum DGB möglicherweise satzungswidrigen Verhaltens wird durch die Mitgliedschaft im DGB nicht ausgeschlossen. Vielmehr kann der DGB selbst durch geeignete verbandsinterne Maßnahmen und Sanktionen die Einhaltung seiner Satzung durchsetzen. Die im Fall einer durch staatliches Recht erzwungenen Tarifverdrängung zweifellos zu konstatierende Beeinträchtigung der Gewerkschaft, die den „unterlegenen“ TV abgeschlossen hat, lässt sich somit in weitaus systemkonformerer Weise vermeiden, indem man auf die autonome Regulierung derartiger Konflikte durch das DGB-Schiedsgerichtsverfahren (§ 16 DGB-Satzung) vertraut, diesem Verfahren Außenwirkung beimisst und somit bereits durch Auslegung der Tarifzuständigkeiten zur Beilegung des Konflikts gelangt (s. näher Teil 2 Rz. 247 ff.)2. Die in jeder Tarifverdrängung liegende Beeinträchtigung der Koalitionsbetätigung wird auf diese Weise entbehrlich und durch einen autonomen Selbstverwaltungsmechanismus ersetzt.

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1 So Hanau/Kania, FS Schaub, S. 239 (252); Kania, Anm. AP Nr. 26 zu § 4 TVG Nachwirkung; Kania, DB 1996, 1921 (1923). 2 Vgl. BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 4/96, NZA 1997, 613.

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Teil 9 Rz. 85

Wirkung der Tarifnormen

3. Mehrheit von TVen konkurrierender TV-Parteien 85

A priori ungeeignet ist das Spezialitätsprinzip, wenn TVe aufeinander treffen, die nicht von identischen TV-Parteien auf beiden Seiten abgeschlossen sind und bei denen auch nicht die beiden genannten Ausnahmen vom Postulat der Parteiidentität gegeben sind. Dies betrifft insbesondere den Fall, dass zwei miteinander konkurrierende Gewerkschaften TVe mit demselben Arbeitgeberverband oder Arbeitgeber abgeschlossen haben. Kommt es insofern zu Geltungsbereichsüberschneidungen innerhalb einzelner Betriebe, ist die Rechtslage nach wie vor nicht abschließend geklärt. Hier, beim Phänomen der sog. Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität, hat in jüngster Zeit die wohl umwälzendste Neuentwicklung im TV-Recht stattgefunden. Die rechtspolitischen Diskussionen um Tarifeinheit und Tarifpluralität sind nach wie vor nicht abgeschlossen.

a) Tarifkonkurrenz 86

Ausgangspunkt muss dabei die Betrachtung der Tarifkonkurrenz sein.

aa) Tatbestand der Tarifkonkurrenz 87

Eine Tarifkonkurrenz liegt vor, wenn mindestens zwei TVe, die in einem Konkurrenzverhältnis stehen, deren Kollision also nicht schon nach den oben (s. Rz. 74 ff.) dargestellten Prinzipien der Zeitkollision und Spezialität aufzulösen ist, in gleicher Weise innerhalb eines Arbeitsverhältnisses normative Wirkung gemäß § 4 Abs. 1 TVG beanspruchen.

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Voraussetzung ist, dass sowohl der Arbeitgeber als auch der Arbeitnehmer an beide TVe gleichermaßen gebunden sind (§§ 3, 5 TVG, s. Teil 6, 7) und somit die Voraussetzungen der Normwirkung im Arbeitsverhältnis (§ 4 Abs. 1 TVG, s. Rz. 1 ff.) hinsichtlich beider TVe bejaht werden können. Anwendungsfälle sind z.B.: – Doppelmitgliedschaften des Arbeitnehmers in beiden tarifschließenden Gewerkschaften, – Situationen des Verbandswechsels auf Arbeitgeber- oder Arbeitnehmerseite, durch den die mitgliedschaftliche Bindung (§ 3 Abs. 1 TVG) an den „neuen“ TV neben die Nachbindung (§ 3 Abs. 3 TVG) an den „alten“ TV tritt, – das Aufeinandertreffen eines allgemeinverbindlichen TVes (§ 5 TVG, s. Teil 7) und eines abweichenden TVes, an den Arbeitgeber und Arbeitnehmer mitgliedschaftlich gebunden (§ 3 Abs. 1, 3 TVG) sind, – das Aufeinandertreffen mehrerer allgemeinverbindlicher TVe, – das Aufeinandertreffen mehrerer TVe, die betriebliche oder betriebsverfassungsrechtliche Regelungen i.S.v. § 3 Abs. 2 TVG enthalten, an die der Arbeitgeber jeweils gebunden ist. Da in derartigen Fällen Tarifnormen mit gleichem Regelungsgegenstand, häufig aber einem unterschiedlichen, einander widersprechenden Regelungsinhalt 742

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Verhältnis zu anderen Regelungen

Rz. 92 Teil 9

Geltung innerhalb eines Arbeitsverhältnisses beanspruchen, handelt es sich um den Fall einer echten Normenkonkurrenz ranggleicher Rechtsnormen. Der Inhalt des Arbeitsverhältnisses kann sich nicht gleichzeitig nach zwei einander widersprechenden Regelungen richten. Zweifellos ist in diesem Fall ein Vorrang der einen gegenüber der anderen Tarifnorm zu ermitteln.

bb) Rechtsfolge der Tarifkonkurrenz Nahezu einhelliger Auffassung entspricht, dass die Konfliktlösung nicht nach dem Günstigkeitsprinzip (§ 4 Abs. 3 TVG) erfolgen kann (s.o. Rz. 79)1. Eine derartige Lösung widerspräche dem Normsetzungswillen der Parteien beider TVe, da der Normsetzungswille auf die einheitliche Geltung des gefundenen Regelungskompromisses abzielt und eine Durchbrechung durch die Anwendung der Normen anderer, konkurrierender TVe dem Normsetzungswillen entgegenläuft. Die sich bei Anwendung des Günstigkeitsprinzips ergebende Meistbegünstigung des Arbeitnehmers würde zur gezielten Herbeiführung von Tarifkonkurrenzen durch Doppelmitgliedschaften geradezu einladen und die Funktionsfähigkeit des Tarifsystems gefährden.

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Gleichfalls scheidet eine Anwendung des Ablösungsprinzips (Zeitkollisionsregel) aus, nach dem sich der jüngere TV durchsetzen würde: Ein Normsetzungswille, den eigenen TV durch die von einer konkurrierenden Organisationen ausgehandelten Tarifnormen verdrängen zu lassen, ist beim Abschluss des älteren TVes nicht ersichtlich2.

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Bislang einhelliger Auffassung entspricht es daher, die Fälle der Tarifkonkurrenz nach dem Prinzip der Tarifeinheit im Arbeitsverhältnis und dem Spezialitätsprinzip aufzulösen. Nach dem erstgenannten Grundsatz soll stets nur ein TV auf das Arbeitsverhältnis einwirken3. Eine Lösung nach dem Günstigkeitsprinzip und die damit einhergehende Sprengung des tariflichen Regelungskompromisses werden somit sachgerecht vermieden. Nach dem Spezialitätsprinzip soll dabei der sachnähere TV Anwendung finden, der den Regelungsfragen am ehesten gerecht wird. Das Kernproblem ist dabei die Ermittlung des sachnäheren TVes. Anknüpfend an die Regelung zur Konkurrenz mehrerer allgemeinverbindlicher TVe in der historischen Norm des § 2 Abs. 2 TVVO zur Zeit der Weimarer Republik wird nach bisheriger Sichtweise die Sachnähe der beiden TVe betriebsbezogen ermittelt: Bezugspunkt der Entscheidung, welcher TV sich bei Auflösung der Tarifkonkurrenz durchsetzt, soll demnach nicht die Sachnähe im Hinblick auf das konkret betroffene Arbeitsverhältnis sein, sondern vielmehr die Sachnähe bezogen auf den Betrieb als Ganzen.

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Maßgeblich ist damit auch bei der Auflösung der Tarifkonkurrenz derjenige TV, der am besten zum Betrieb „passt“, der den Regelungsbedürfnissen im Be-

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1 A.A. insb. Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 1493 f. 2 Gleichwohl läge darin – wie das französische Tarifrecht zeigt (dazu Greiner, Rechtsfragen, S. 322 ff.) – ein vorstellbares Lösungsmodell, freilich wohl nur in Verbindung mit einer Erga-omnes-Wirkung der Tarifnormen. 3 Schliemann, NZA-Beil. 2000, 24 (29).

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Teil 9 Rz. 93

Wirkung der Tarifnormen

trieb also am ehesten gerecht wird1. Die Ermittlung des spezielleren TVes wird häufig nicht eindeutig sein und belässt dann dem erkennenden Richter einen bedenklichen Wertungsspielraum: Vorrangig spezieller soll – ebenso wie in den schon dargestellten Fällen der legitimen Anwendung des Spezialitätsprinzips (s. Rz. 75 ff.) – der TV mit dem engsten räumlichen Geltungsbereich sein. Der FirmenTV setzt sich somit gegenüber dem BranchenTV2, der nur für ein Bundesland geltende BranchenTV gegenüber dem bundesweit geltenden BranchenTV durch. 93

Liegen mehrere TVe mit gleichem räumlichem Geltungsbereich vor, soll auch hier maßgeblich sein, in den Geltungsbereich welchen TVes das größte Arbeitszeitvolumen im Betrieb fällt. Werden in einem Betrieb also etwa zu 40 % Dienstleistungen erbracht, für die ein von der Gewerkschaft ver.di abgeschlossener TV Anwendung beansprucht, und werden daneben zu 60 % Arbeiten erbracht, die dem Metall- und Elektrohandwerk zuzuordnen sind, müsste sich der insofern einschlägige TV der IG Metall durchsetzen3. Die Feststellung, welche Arbeit in welcher Weise einzuordnen ist, bedarf dabei vielfach einer Einzelfallbetrachtung und unterliegt Wertungsspielräumen. Letztlich spiegelt das dargestellte Kriterium wider, welche Gewerkschaft für die Tarifnormsetzung in dem jeweiligen Betrieb „kompetenter“ ist, also mit den Regelungsfragen des Betriebes eher vertraut ist4.

cc) Ausblick auf künftige Rechtsentwicklung 94

Mit dieser Anwendung eines betriebsbezogenen Spezialitätsprinzips als Rechtsfolge einer aufzulösenden Tarifkonkurrenz wird der Grundsatz der Tarifeinheit im Arbeitsverhältnis unversehens zum Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb: Denn wenn sämtliche (potentiellen) Tarifkonkurrenzen im Betrieb einheitlich dahingehend aufgelöst werden, dass der bezogen auf den Betrieb „speziellste“, den Regelungsbedürfnissen des Betriebes am ehesten gerecht werdende TV Anwendung findet, ergibt sich eine starke Tendenz zur betriebsbezogenen Vereinheitlichung. Wendet man die dargestellten Lösungsmuster zudem nicht nur auf akute, sondern bereits auf „potentielle“ Tarifkonkurrenzen an (s. Rz. 101), ergibt sich aus der betriebsbezogenen Auflösung der Tarifkonkurrenzen die betriebseinheitliche Geltung nur eines TVes. Insofern bedin1 Vgl. BAG v. 24.9.1975 – 4 AZR 471/74, AP Nr. 11 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; BAG v. 29.11.1978 – 4 AZR 304/77, AP Nr. 12 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; BAG v. 14.6.1989 – 4 AZR 200/89, DB 1990, 129; BAG v. 5.9.1990 – 4 AZR 59/90, NZA 1991, 202; BAG v. 24.1.1990 – 4 AZR 561/89, AP Nr. 126 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG v. 15.11.2006 – 10 AZR 665/05, NZA 2007, 448; LAG Sachsen v. 2.11.2007 – 7 SaGa 19/07, NZA 2008, 59. 2 BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, NZA 1991, 736; bestätigt durch BAG v. 24.1.2001 – 4 AZR 655/99, NZA 2001, 788; ähnlich BAG v. 20.4.1999 – 1 AZR 631/98, NZA 1999, 1059; zustimmend Säcker/Oetker, ZfA 1993, 1 (19); vgl. auch (kritisch) Däubler/Hege, Tarifvertragsrecht, Rz. 620. 3 Vgl. BAG v. 22.3.1994 – 1 ABR 47/93, EzA § 4 TVG Tarifkonkurrenz Nr. 10; BAG v. 19.2.2003 – 4 AZR 118/02, NZA 2003, 1295. 4 Vgl. Dieterich, Die betrieblichen Normen, S. 104; Kempen, NZA 2003, 415 (416) („verbandliches Subsidiaritätsprinzip“).

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Verhältnis zu anderen Regelungen

Rz. 96 Teil 9

gen sich die Rechtsfolgen von Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität wechselseitig1. Da das BAG in seiner Entscheidung vom 7.7.20102 den Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb zu Recht aufgegeben hat (s. ausf. Rz. 116 ff.), entfällt auch die gedankliche Grundlage für die einheitliche Auflösung von Tarifkonkurrenzen nach dem betriebsbezogen speziellsten TV. Wird die Tarifpluralität im Betrieb akzeptiert, kann auch eine entstehende Tarifkonkurrenz nicht mehr einfach dahingehend aufgelöst werden, dass der betriebseinheitlich sich durchsetzende TV Geltung beansprucht. Man mag erwägen, zwar am Spezialitätsprinzip festzuhalten, den Bezugspunkt der Spezialitätsbetrachtung jedoch vom Betrieb auf das einzelne Arbeitsverhältnis zu verlagern. Diese Lösung versagt jedoch, wenn mehrere TVe im Arbeitsverhältnis Geltung beanspruchen, die inhaltlich gleichermaßen „speziell“ sind3. Die zur Feststellung von „Spezialität“ erforderliche inhaltliche Bewertung der TVe spricht ebenfalls dagegen. Ungeeignet scheint gleichfalls ein Ablösungs- oder Posterioritätsprinzip, nach dem derjenige TV Anwendung findet, an den zuletzt die (kongruente) Tarifbindung hergestellt wurde4. Auch hier bietet sich eine Lösung nach dem Mehrheitsprinzip an5, das von zwei normativ bindenden TVen denjenigen zur Anwendung bringt, an den im Überschneidungsbereich die größere Zahl von Gewerkschaftsmitgliedern gebunden ist. Dies gilt angesichts des kollektiven Regelungsgegenstandes insbesondere bei der Kollision von Tarifnormen zu betrieblichen oder betriebsverfassungsrechtlichen Fragen i.S.v. § 3 Abs. 2 TVG6. Der Normenkonflikt wird auf diese Weise „demokratisch“ gelöst, indem auf die mehrheitliche Legitimation des jeweiligen TVes abgestellt wird. Maßgeblich sind dann die Mitgliederzahlen der konkurrierenden Gewerkschaften (s. weiterhin u. Rz. 139).

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dd) Divergenz von normativer Wirkung und arbeitsvertraglicher Bezugnahme Kein Fall der Tarifkonkurrenz ist das Aufeinandertreffen einer normativen Tarifbindung (§ 4 Abs. 1, 5 TVG) mit einer arbeitsvertraglichen Bezugnahme auf einen anderen, konkurrierenden TV. Nachdem das BAG in der Vergangenheit diesen Fall ebenfalls nach den Grundsätzen der Tarifkonkurrenz behandelte7, hat es diese Rechtsprechung mittlerweile explizit aufgegeben8. 1 Näher Greiner, Rechtsfragen, S. 361 f. 2 BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068. 3 Vgl. Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, S. 273 ff. m.w.N.; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 41. 4 Dafür in Fällen des Gewerkschaftswechsels Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 78. 5 Näher Greiner, Rechtsfragen, S. 362 f. 6 Dafür u.a. Bayreuther, Tarifautonomie, S. 396 f.; Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, S. 309; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 295; Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 935; Witzig, Tarifeinheit, S. 107; Hanau, RdA 2008, 98 (102); Franzen, RdA 2008, 193 (199). 7 So noch BAG v. 23.3.2005 – 4 AZR 203/04, NZA 2005, 1003. 8 BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, NZA 2008, 364; zuletzt BAG v. 24.2.2010 – 4 AZR 691/08, NZA-RR 2010, 530.

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Teil 9 Rz. 97 97

Wirkung der Tarifnormen

Dem liegt das dogmatische Grundverständnis zugrunde, die Bezugnahmeklausel nicht mehr als alternativen Weg zur Herstellung einer De-facto-Tarifbindung zu interpretieren, sondern ihr – zutreffend – eine rein arbeitsvertragliche Bedeutung beizumessen (s. bereits Rz. 9)1. Durch die Bezugnahmeklausel werden die Regelungen des in Bezug genommenen TVes dem Arbeitsvertrag inkorporiert. Sie werden Inhalt des Arbeitsvertrages. Somit finden auf das Verhältnis von in Bezug genommenem und normativ bindendem TV die Kollisionsregeln Anwendung, die im Verhältnis von arbeitsvertraglicher Vereinbarung und tarifvertraglicher Regelung gelten: Es konkurriert ein Arbeitsvertrag mit einem TV. Dieses Verhältnis ist nach Maßgabe von § 4 Abs. 1, 3 TVG zu lösen2: Soweit die in Bezug genommenen Tarifinhalte für den Arbeitnehmer ungünstiger sind als die normativ geltenden und der normativ geltende TV diesbezüglich keine Öffnungsklausel i.S.v. § 4 Abs. 3 Alt. 1 TVG enthält, gilt gemäß § 4 Abs. 1 TVG die zwingende tarifvertragliche Regelung. Der in Bezug genommene TV kann sich als Arbeitsvertragsinhalt nur dann durchsetzen, soweit er günstiger ist als der normativ geltende Tarifvertragsinhalt (§ 4 Abs. 3 Alt. 2 TVG) oder der normativ geltende TV eine Öffnungsklausel für ungünstigere arbeitsvertragliche Regelungen enthält, § 4 Abs. 3 Alt. 1 TVG.

b) Tarifpluralität 98

Von der betriebseinheitlichen Auflösung der Tarifkonkurrenzen war es nur ein kleiner Schritt zum Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb. Nach diesem Grundsatz soll in einem Betrieb nur ein TV gelten können. Dieses Rechtsprinzip nimmt somit nicht nur Fälle der Tarifkonkurrenz in den Blick, sondern erfasst insbesondere auch Fälle der reinen Tarifpluralität.

aa) Tatbestand der Tarifpluralität 99

Ein Zustand der Tarifpluralität ist dadurch gekennzeichnet, dass innerhalb der einzelnen Arbeitsverhältnisse im Betrieb zwar jeweils nur ein TV Anwendung findet, jedoch in verschiedenen Arbeitsverhältnissen innerhalb eines Betriebes unterschiedliche TVe gelten3. Das BAG vertritt in ständiger Rechtsprechung eine komplexere, aber nahezu inhaltsgleiche Definition: Tarifpluralität liege vor, „wenn der Betrieb des Arbeitgebers vom Geltungsbereich zweier von verschiedenen Gewerkschaften geschlossenen Tarifverträge für Arbeitsverhältnisse derselben Art erfasst wird, an die der Arbeitgeber gebunden ist, während für den jeweiligen Arbeitnehmer je nach Tarifgebundenheit nur einer der beiden Tarifverträge Anwendung findet.“4 Wird ein Betrieb, beispielsweise ein Krankenhaus, sowohl von dem BranchenTV TVöD erfasst, der Regelungen für alle Berufsgruppen im Krankenhaus enthält, als auch von einem TV des Mar1 Preis/Greiner, NZA 2007, 1073 ff. 2 Zutr. BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, NZA 2008, 364; zuletzt BAG v. 24.2.2010 – 4 AZR 691/08, NZA-RR 2010, 530. 3 ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 70. 4 BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068, Rz. 14; so bereits BAG v. 24.1.1990 – 4 AZR 561/89, AP Nr. 126 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG v. 5.9.1990 – 4 AZR 59/90, NZA 1991, 202; BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, NZA 1991, 736.

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Verhältnis zu anderen Regelungen

Rz. 103 Teil 9

burger Bundes, der Regelungen ausschließlich für Krankenhausärzte enthält, liegt ein Fall der Tarifpluralität bereits dann vor, wenn der Arbeitgeber an beide TVe gebunden ist, einzelne Arbeitnehmer aufgrund Mitgliedschaft im Marburger Bund an den von diesem abgeschlossenen TV und andere Arbeitnehmer kraft Mitgliedschaft bei ver.di an den TVöD gebunden sind.

bb) Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb Ohne dass es sich dabei um einen echten Fall der Normenkonkurrenz handelt – in jedem Arbeitsverhältnis findet ja jeweils nur ein TV Anwendung –, sollte nach früherer Rechtsprechung des BAG1 auch hier ausschließlich der betriebsbezogen speziellere TV Anwendung finden, also derjenige TV, der – bezogen auf den Betrieb als Ganzen – die sachnächsten Regelungen enthielt und damit den Regelungsbedürfnissen des Betriebes und der in ihm Beschäftigten am besten gerecht wurde (s. Rz. 92). Der damit anerkannte Grundsatz „ein Betrieb – ein TV“ verallgemeinerte das dargestellte Organisationsprinzip der DGB-Gewerkschaften (s. Rz. 83 f.) zum allgemeingültigen Rechtsprinzip.

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Die Grundsätze zur Auflösung von Tarifkonkurrenzen fanden folglich Anwendung, ohne dass eine erwiesene Tarifkonkurrenz vorliegen musste; ausreichend war das Vorliegen „potentieller Tarifkonkurrenzen“2, die allein infolge der Existenz zweier konkurrierender einschlägiger TVe im Betrieb nie ausgeschlossen werden konnten, da der Arbeitgeber typischerweise keine Kenntnis darüber hat, ob bei einem einzelnen Arbeitnehmer etwa ein Fall der Doppelmitgliedschaft in beiden konkurrierenden Gewerkschaften – im skizzierten Beispiel ver.di und Marburger Bund – gegeben ist3.

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Den Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb wandte das BAG überwiegend auf Kollisionslagen zwischen einem mitgliedschaftlich legitimierten und einem allgemeinverbindlichen TV an4. Die uneingeschränkte Formulierung dieses Rechtsgrundsatzes legte jedoch den Schluss nahe, dass das BAG die Tarifverdrängung auch bei gleichermaßen mitgliedschaftlich legitimierten TVen konkurrierender Gewerkschaften bejaht hätte5.

102

cc) Rechtsfolge: Tarifverdrängung, Spezialitätsprinzip Rechtsfolge des Grundsatzes der Tarifeinheit im Betrieb war die Verdrängung des weniger speziellen TVes6. In obigem Beispiel (s. Rz. 99) wäre mithin der 1 BAG v. 14.6.1989 – 4 AZR 200/89, DB 1990, 129; BAG v. 24.1.1990 – 4 AZR 561/89, AP Nr. 126 zu § 1 Tarifverträge: Bau; s. auch BAG v. 24.9.1975 – 4 AZR 471/74, AP Nr. 11 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; BAG v. 29.11.1978 – 4 AZR 304/77, AP Nr. 12 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz. 2 Ausdrücklich noch BAG v. 24.1.1990 – 4 AZR 561/89, AP Nr. 126 zu § 1 Tarifverträge: Bau; vgl. auch Kraft RdA 1992, 161 (162). 3 BAG v. 14.6.1989 – 4 AZR 200/89, DB 1990, 129; BAG v. 5.9.1990 – 4 AZR 59/90, NZA 1991, 202. 4 Vgl. Bayreuther, NZA 2007, 184 (187). 5 Näher Greiner, Rechtsfragen, S. 281. 6 Vgl. nur BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, NZA 1991, 736.

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Teil 9 Rz. 104

Wirkung der Tarifnormen

ÄrzteTV des Marburger Bundes verdrängt worden, da ein BerufsgruppenTV den Regelungsbedürfnissen des ganzen Betriebes niemals so gut gerecht werden kann wie ein TV, der Regelungen für alle im Betrieb tätigen Berufsgruppen enthält1. 104

Entsprechend den zur Tarifkonkurrenz dargestellten Grundsätzen (s. Rz. 89 ff.) sollte zunächst der räumlich engere TV als „spezieller TV“ betrachtet werden: So etwa war der FirmenTV als gegenüber einem BranchenTV spezieller anzusehen2. Bei gleich speziellem räumlichem Geltungsbereich sollte auch hier das Kriterium maßgeblich sein, welcher TV für das größere Arbeitszeitvolumen im Betrieb Regelungen enthält3. Auf den Geltungsgrund des TVes – insbesondere die Frage, ob ein mitgliedschaftlich legitimierter oder für allgemeinverbindlich erklärter TV vorliegt – sollte es für die Konfliktlösung nicht ankommen4, so dass auch ein für allgemeinverbindlich erklärter TV durch einen spezielleren FirmenTV einer konkurrierenden Gewerkschaft hätte verdrängt werden können. Ebenso sollten für die Verdrängungswirkung die Mehrheitsverhältnisse der die jeweiligen TVe legitimierenden Gewerkschaftsmitglieder allenfalls als nachrangiges Hilfskriterium von Bedeutung sein, so dass auch ein von einer Minderheitsgewerkschaft abgeschlossener TV den von einer weit überwiegenden Mehrheit der Belegschaft legitimierten – aber inhaltlich weniger speziellen – TV hätte verdrängen können.

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Infolge der Anwendung des Grundsatzes der Tarifeinheit im Betrieb erfolgte keine automatische Tariferstreckung5. Diejenigen Gewerkschaftsmitglieder, deren mitgliedschaftlich legitimierter TV verdrängt wurde, wurden somit auf den Status nicht organisierter Arbeitnehmer zurückgeworfen6. Eine faktische Gleichstellung mit den Arbeitnehmern, deren TV sich durchgesetzt hat, wurde erst über arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln erreicht7, die zu diesem Zweck lange Zeit großzügig als „Gleichstellungsabreden“ ausgelegt wurden8.

1 Vgl. insb. BAG v. 5.9.1990 – 4 AZR 59/09, NZA 1991, 202; Buchner, BB 2003, 2121 (2124 f.); Buchner, BB 2007, 2520 (2521): Die ausgleichende Wirkung des Industrietarifs werde „honoriert“; krit. Thüsing/v. Medem, ZIP 2007, 510 (512). 2 BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, NZA 1991, 736. 3 BAG v. 22.3.1994 – 1 ABR 47/93, EzA § 4 TVG Tarifkonkurrenz Nr. 10. 4 Dezidiert dagegen und für Vorrang des mitgliedschaftlich legitimierten TVes Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1804 ff. m.w.N.; MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 186 Rz. 25 ff.; i.Erg. ähnlich mit verfassungsrechtlicher Begründung Waas, Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität, S. 68 ff. 5 BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, NZA 1991, 736. 6 Kritisch u.a. Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 305 ff.; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1796; Franzen, RdA 2001, 1 (7). 7 Eine Pflicht zur einzelvertraglichen Gleichstellung leitet daraus Buchner, BB 2003, 2121 (2125); Buchner, FS 50 Jahre BAG, S. 631 (635) ab; zustimmend Bayreuther, NZA 2007, 184 (189); kritisch Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1798. 8 Vgl. nur BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, NZA 2002, 634; dazu Gaul, ZfA 2003, 75 (92); vgl. ferner die Rechtsprechungsänderung durch BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, NZA 2006, 607; BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965.

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Verhältnis zu anderen Regelungen

Rz. 108 Teil 9

dd) Wirkungen der Tarifeinheit im Betrieb Die Begründung des BAG für diesen richterrechtlich entwickelten Grundsatz stellte Erwägungen der praktischen Einfachheit und Administrationseffizienz in den Vordergrund1. Die Durchführung der Arbeitsverhältnisse, z.B. die Entgeltabrechnung, wird zweifellos erleichtert, wenn der Arbeitgeber betriebseinheitlich nur einen TV anwenden muss. Es wird ein Nebeneinander unterschiedlicher Arbeitszeitsysteme vermieden, was der effizienten Durchführung der Betriebsabläufe dienlich ist. Der Arbeitgeber muss die Gewerkschaftszugehörigkeit seiner Arbeitnehmer nicht in Erfahrung bringen, sondern kann bei Verwendung von arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln (Gleichstellungsabreden) den einzigen verbleibenden TV einheitlich auf alle Arbeitsverhältnisse im Betrieb anwenden. Die Tarifanwendung wird von einem etwaigen Gewerkschaftswechsel der Arbeitnehmer unabhängig. Die Abgrenzung von tarifvertraglichen Individual- und Kollektivnormen wird entbehrlich (s. Teil 4 Rz. 86).

106

Mittelbar führte der Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb und seine Rechtsfolge eines betriebsbezogenen Spezialitätsprinzips dazu, dass Berufs- und SpartenTVe über viele Jahrzehnte hinweg kaum abgeschlossen wurden. Berufs- und Spartengewerkschaften bildeten sich nicht, betätigten sich ausschließlich in Tarifgemeinschaften oder stimmten ihre Tarifpolitik mit den Branchengewerkschaften ab. Insofern schützte der Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb das Industrieverbandsprinzip (s. Teil 2 Rz. 221) vor einer „Aushöhlung“ durch den Abschluss von Berufs- und SpartenTVen2. Vielfach sicherte er auf diese Weise im Zusammenspiel mit einer restriktiven Judikatur zur Tariffähigkeit (s. Teil 2 Rz. 60) ein Vertretungsmonopol der nach dem Industrieverbandsprinzip organisierten DGB-Gewerkschaften3.

107

Die Arbeitgeberseite schützte der Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb höchst effizient vor gehäuften Arbeitskämpfen: Wenn die Arbeitgeberseite sich stets nur mit einer Branchengewerkschaft bzw. einer Tarifgemeinschaft mit abgestimmter Tarifpolitik auseinandersetzen muss, ergibt sich für den Arbeitgeber eine weitaus berechenbarere Verhandlungsposition als bei Akzeptanz einer freien Tarifpluralität. Insbesondere das Aufeinanderfolgen unabgestimmter Arbeitskämpfe und eine daraus resultierende dauerhafte Betriebsstörung wurden vermieden, zumal wenn man die – richtige – Schlussfolgerung zog, dass die Verdrängung des angestrebten TVes durch das Prinzip der Tarifeinheit im Betrieb dazu führe, dass bereits der Arbeitskampf um einen verdrängten TV wegen Unverhältnismäßigkeit unzulässig sei4. Auf diese Weise stärkte der Grund-

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1 Insb. BAG v. 14.6.1989 – 4 AZR 200/89, NZA 1990, 325. 2 Konzen, RdA 1978, 146 (154) („mittelbarer Zwang“ zum Industrieverbandsprinzip). 3 Vgl. insb. Salje, SAE 1993, 79 (81 m.w.N.); auch Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1797. 4 Dieser Konnex ist explizit offen gelassen in BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068, Rz. 50; freilich ausschließlich unter Auswertung der ablehnenden Literatur. Dafür LAG Rheinland-Pfalz v. 22.6.2004 – 11 Sa 2096/03, AP Nr. 169 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; Otto, Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, § 8 Rz. 8 m. Fn. 25; Bürger, S. 196 ff.; Harwart, S. 270 f.; Buchner, BB 2003, 2121 (2125 f.); Buchner, Anm. AP Nr. 1

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Teil 9 Rz. 109

Wirkung der Tarifnormen

satz der Tarifeinheit im Betrieb zweifellos wirksam die Friedensfunktion des TVes1. 109

Vielfach wird als ein Vorteil des Grundsatzes der Tarifeinheit auch betrachtet, dass er der Verteilungsgerechtigkeit dient, indem die Entgeltpolitik in den Händen einer Branchengewerkschaft liegt, die die Belange aller Berufsgruppen im Blick haben muss. Eine „gruppenegoistische“ Tarifpolitik einzelner Berufsund Spartengewerkschaften wurde auf diese Weise verhindert2.

ee) Kritik 110

Zu Recht mehrte sich jedoch die Kritik der Literatur. Der Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb als verbindliches Rechtsprinzip wurde als verfassungswidrig und unvereinbar mit Art. 9 Abs. 3 GG bewertet3. Mag man die bloße Tarifverdrängung auch als einen bei verhältnismäßiger Ausgestaltung zu legitimierenden Ausgestaltungsakt4 des staatlichen Rechts begreifen5, so sind doch die massiven Auswirkungen auf den Gewerkschaftswettbewerb unverkennbar: Der Grundsatz der Tarifeinheit bisheriger Prägung führte zu einer massiven Diskriminierung von Berufs- und Spartengewerkschaften. Eine strukturelle Schlechterstellung so organisierter Verbände tritt durch den aufgezeigten Effekt ein, dass Berufs- und SpartenTVe stets von TVen mit Regelungen für alle Berufsgruppen verdrängt werden, da sie angesichts ihres strukturell „unterbe-

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5

zu § 2 TVG Tariffähigkeit, Bl. 12 f.; Rolfs/Clemens, NZA 2004, 410 (414); Sutschet, ZfA 2005, 581 (598); Kamanabrou, ZfA 2008, 241 (253 ff.); Kerwer, EuZA 2008, 335 (338); Giesen, NZA 2009, 11 (12); plastisch Bayreuther, ZfA 2009, 747 (755) (der Streik sei keine „akademische Trockenübung“); tendenziell auch schon Bayreuther, NZA 2008, 12; Waas, Sozialer Fortschritt 2008, 137 (143); a.A. LAG Hessen v. 22.7.2004 – 9 SaGa 593/04, NZA-RR 2005, 262; LAG Rheinland-Pfalz v. 14.6.2007 – 11 Sa 208/07, DB 2007, 2432; HWK/Hergenröder, Art. 9 GG Rz. 283; Jacobs in Jacobs/Krause/Oetker, § 7 Rz. 236; Däubler, Anm. AP Nr. 168, 169 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; Reichold, RdA 2007, 321 (327); Boemke, ZfA 2009, 131 (141 f.); Wank, RdA 2009, 1 (11); Deinert, NZA 2009, 1176 (1180 f., 1182); Franzen, ZfA 2009, 297 (311 m.w.N.); Jacobs, NZA 2008, 325 (329). HWK/Henssler, Einl. TVG Rz. 10 („wahrhaftige Befriedung des Arbeitslebens“); vgl. aber auch die zunehmenden Relativierungen der Friedensfunktion in anderem Kontext, BAG v. 19.6.2007 – 1 AZR 396/06, NZA 2007, 1055; BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, NZA 2007, 987. Vgl. Bayreuther, BB 2005, 2633 (2637); deutlich auch Bepler, NZA-Beil. 2010, 99 (100). Etwa Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, S. 448 ff.; Konzen, RdA 1978, 146 (149, 153 f.); ausführlicher Kraft, RdA 1992, 161 (166); Wiedemann/Arnold, ZTR 1994, 399 (443); Hanau/Kania, Anm. AP Nr. 20 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; Wank, Anm. EzA § 4 TVG Tarifkonkurrenz Nr. 9, S. 17; Rieble, BB 2003, 1227 („Skandal“); Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1796; Rieble, Anm. EzA § 4 TVG Geltungsbereich Nr. 10, S. 14. Eine Ausgestaltungsterminologie gebraucht bemerkenswerterweise auch BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068, Rz. 59, hält freilich gleichwohl a.a.O. eine „einschränkende“ Ausgestaltung „allenfalls (!) zum Schutz von gleichermaßen verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechtsgütern und Gemeinwohlbelangen“ für vorstellbar (Hervorhebung durch den Verf). Greiner, Rechtsfragen, S. 337.

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Verhältnis zu anderen Regelungen

Rz. 113 Teil 9

trieblichen“ Geltungsbereichs die Regelungsbedürfnisse des Betriebes in seiner Gesamtheit nie vergleichbar gut erfüllen können. Gewährleistet Art. 9 Abs. 3 GG die Koalitionsfreiheit und damit insbesondere auch die Satzungsautonomie vorbehaltlos (s. Teil 2 Rz. 12)1, so ist es mit dieser Grundentscheidung der Verfassung unvereinbar, wenn nach dem Berufsverbandsprinzip organisierte Koalitionen generell schlechter gestellt werden als nach dem Industrieverbandsprinzip organisierte. Auch eine Rechtfertigung dieser Differenzierung mit Blick auf die anzuerkennenden Effizienzvorteile eines BranchenTVes scheidet angesichts der in Art. 9 Abs. 3 GG getroffenen Entscheidung für die vorbehaltlose Anerkennung der Satzungsautonomie aus2. Nicht umsonst identifiziert das BVerfG das Prinzip der freien sozialen Gruppenbildung als konstituierend für die demokratische, rechtsstaatliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland3.

111

Kritikwürdig war in methodischer Hinsicht, dass es sich um eine richterliche Rechtsfortbildung handelte, die geradezu in Widerspruch zu den gesetzgeberischen Wertungen der §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG stand, nach denen die normative Wirkung durch die Koalitionszugehörigkeit vermittelt wird, die zudem nicht auf fundierte Vorbilder im Gesetzesrecht zurückgreifen konnte und somit die Grenzen der richterlichen Kompetenz zur Rechtsfortbildung überschritt4.

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Neben diese verfassungsrechtlichen Erwägungen traten zahlreiche einfachrechtliche Kritikpunkte: So überzeugt der Hinweis, dass das Spezialitätsprinzip im Verhältnis konkurrierender Normengeber schon im Ansatz methodisch verfehlt ist5. Das Spezialitätsprinzip führt ferner zu einer weiteren kontraproduktiven Erosion des FlächenTVes6. Indem die Mitgliederstärke der tarifschließenden Gewerkschaft ausgeblendet wird, setzt der Grundsatz der Tarifeinheit im Zusammenwirken mit dem Spezialitätsprinzip insofern einen „Korruptionsanreiz“, als es für den Arbeitgeber attraktiv werden kann, gezielt mit einer mitgliederschwachen oder mitgliederlosen Gewerkschaft einen ihm günstigen TV abzuschließen, der bei inhaltlich speziellerer Ausgestaltung einen weit überwiegend mitgliedschaftlich legitimierten TV verdrängen würde7. Auf diese Weise ist das Spezialitätsprinzip ein Anreiz zur Gründung arbeitgeberabhängi-

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1 Zutr. BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 90 („Autonomie bei der Festlegung von verbandsinternen Organisationsstrukturen“); ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 40. 2 Vgl. Maunz/Dürig/Scholz, Art. 9 GG Rz. 204, 340. 3 BVerfG v. 24.2.1999 – 1 BvR 123/93, NJW 1999, 2657 (2658); vgl. auch BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, NJW 1979, 593. 4 Hanau/Kania, Anm. AP Nr. 20 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; ebenso Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, S. 351 ff.; Wank, Anm. EzA § 4 TVG Tarifkonkurrenz Nr. 9, S. 17; Franzen, RdA 2008, 193 (194); a.A. Säcker/Oetker, ZfA 1993, 1 (8 f.); Hromadka, NZA 2008, 377 (385 f.) („sekundäre Gesetzeslücke“). 5 Ebenso LAG Sachsen v. 13.11.2001 – 7 Sa 118/01, ArbuR 2002, 310 (312) m. zust. Anm. Jacobs; Löwisch/Rieble, § 4 Rz. 142; Waas, Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität, S. 44 ff.; a.A. wohl Kraft, RdA 1992, 161 (164). 6 Vgl. schon Molitor, TVVO Anh. § 2 Rz. 7 („Tarifzersplitterung“). 7 Vgl. Greiner, Rechtsfragen, S. 300 ff.

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Teil 9 Rz. 114

Wirkung der Tarifnormen

ger Scheingewerkschaften, der die Funktionsfähigkeit des TV-Systems infrage stellt. 114

Zutreffend ist auch der Hinweis, dass die mit der Zeit zunehmenden Durchbrechungen des Tarifeinheitsmodells1 in der Rechtsprechung mehr und mehr zu massiven Wertungswidersprüchen führten2.

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Schließlich erwies sich spätestens seit dem Jahr 2000 das Prinzip der Tarifeinheit im Betrieb als von der Tarifwirklichkeit überholt3. Insbesondere in Reaktion auf den Zusammenschluss verschiedener Gewerkschaften zur Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di etablierten sich zunehmend Berufs- und Spartengewerkschaften. Bereits bestehende, nach dem Berufsverbandprinzip organisierte Koalitionen – z.B. der Marburger Bund – lösten sich aus Tarifgemeinschaften mit DGB-Gewerkschaften und betrieben fortan eine eigenständige Tarifpolitik. Insofern geriet das richterrechtlich entwickelte Postulat der Tarifeinheit in ein zunehmendes Spannungsverhältnis mit den tarifpolitischen Realitäten.

ff) Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit 116

Unter dem Eindruck der rechtswissenschaftlichen Kritik sowie der „normativen Kraft des Faktischen“, insbesondere aber mit Blick auf die Aufgabe der Kernbereichstheorie seitens des BVerfG (s. Teil 1 Rz. 5)4, setzte sich das BAG zunehmend kritisch mit dem Prinzip der Tarifeinheit im Betrieb auseinander. So wies es 2004 darauf hin, die Tarifeinheit im Betrieb sei „im TVG nicht ausdrücklich normiert“, und die bisherige Rechtsprechung dazu sei unter der Ägide der „vom BVerfG mittlerweile nicht mehr vertretene(n) Kernbereichstheorie“ ergangen5. In einer Entscheidung von 2006 sprach das BAG vom „bislang vertretenen“, „verfassungsrechtlich umstrittenen“ Prinzip der Tarifeinheit6.

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Diese Distanzierungen erreichten ihren Höhepunkt, indem das BAG am 7.7.2010 den Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb explizit aufgegeben hat7. Nunmehr verweist es auf die gesetzgeberische Entscheidung, dass die Individualnormen eines TVes gemäß §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG in den beiderseits tarifgebundenen Arbeitsverhältnissen unmittelbar gelten. Diese durch das Tarifvertragsgesetz vorgesehene Geltung werde „nicht dadurch verdrängt, dass für den Betrieb kraft Tarifgebundenheit des Arbeitgebers nach § 3 Abs. 1 TVG mehr als ein Tarifvertrag gilt, für die jeweiligen Arbeitsverhältnisse derselben

1 Z.B. BAG v. 22.9.1993 – 10 AZR 207/92, NZA 1994, 667; BAG v. 26.1.1994 – 10 AZR 611/92, NZA 1994, 1038. 2 Bauer/Meinel, NZA 2000, 181 (183); Thüsing/v. Medem, ZIP 2007, 510; Bayreuther, BB 2005, 2633 (2639) („Erosion“). 3 Vgl. Greiner, NZA 2007, 1023. 4 BVerfG v. 14.11.1995 – 1 BvR 601/92, NZA 1996, 381. 5 BAG v. 14.12.2004 – 1 ABR 51/03, NZA 2005, 697. 6 BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112. 7 BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068.

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Verhältnis zu anderen Regelungen

Rz. 120 Teil 9

Art im Falle der Tarifbindung eines oder mehrerer Arbeitnehmer allerdings jeweils nur ein Tarifvertrag“1. Eine Verdrängung der nach § 4 Abs. 1 TVG in den jeweiligen Arbeitsverhältnissen geltenden tariflichen Normen sei weder aufgrund praktischer Schwierigkeiten noch wegen einer sonst erforderlichen Abgrenzung von Inhalts- und Betriebsnormen geboten. Die Voraussetzungen einer – gesetzesimmanenten oder gesetzesübersteigenden – Rechtsfortbildung lägen nicht vor2. Eher entspreche sogar die Existenz mehrerer TVe im Betrieb dem gesetzlichen Leitbild; dies zeigten insbesondere die Regelungen zum Betriebsübergang3. Die Verdrängung eines TVes sei generell mit dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG nicht zu vereinbaren4; die Geltung der Tarifnormen des jeweils mitgliedschaftlich legitimierten TVes sei zwingende Konsequenz der Legtimationstheorie (Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie)5. Auch das Anliegen der im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Prinzipien der Rechtssicherheit, Rechtsklarheit und Bestimmtheit sei nicht geeignet, die Tarifeinheit im Betrieb zu rechtfertigen6. Die Frage, welcher TV der speziellere sei, werfe ihrerseits erhebliche Unsicherheiten auf und konterkariere damit geradezu Anliegen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit7.

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gg) Folgeprobleme Mag man auch der Einschätzung des BAG folgen, dass gegenwärtig keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Akzeptanz der Tarifpluralität zu einer Funktionsgefährdung des TV-Systems führt und die Tarifeinheit im Betrieb mithin keine Funktionsbedingung der Tarifautonomie ist8, zwingt das nunmehr akzeptierte Nebeneinander der Individualnormen konkurrierender TVe innerhalb eines Betriebes dazu, das Tarifvertragsrecht an einigen Stellen neu auszutarieren. Es stellt sich eine Mehrzahl an Folgeproblemen der akzeptierten Tarifpluralität.

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(1) Das Nebeneinander unterschiedlicher Vergütungs- und Arbeitszeitsysteme innerhalb eines Betriebes scheint dabei handhabbar9. Insbesondere die zunehmende Verbreitung von Teilzeitarbeit und die gesetzgeberische Anerkennung eines Teilzeitanspruchs (§ 8 TzBfG) ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass die

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1 BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068, Rz. 21. 2 BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068, Rz. 28 ff. 3 BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068, Rz. 36; so bereits Kohte, SAE 1996, 14 (17): Koexistenz als „gesetzliches Leitbild“. 4 BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068, Rz. 52 ff. 5 BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068, Rz. 22; dazu ausf. Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, passim. 6 BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068, Rz. 26. 7 BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068, Rz. 27. 8 BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068, Rz. 51; vgl. auch ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 68a; Reichold, RdA 2007, 321 (324); Richardi, FS Buchner, S. 731 (740); a.A. insb. Scholz, FS Buchner, S. 827 (829). 9 Vgl. Salje, SAE 1993, 79 (80); Kohte, SAE 1996, 14 (16); Kempen/Zachert/WendelingSchröder, § 4 TVG Rz. 161; Jacobs in Jacobs/Krause/Oetker, § 7 Rz. 233; Thüsing/ v. Medem, ZIP 2007, 510 (515).

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Teil 9 Rz. 121

Wirkung der Tarifnormen

Arbeitgeber auch unterschiedliche Arbeitszeitvolumina in einzelnen Arbeitsverhältnissen sinnvoll einsetzen können. Dies ist eine Frage effizienter Planung der Betriebsabläufe und etwa der Aufstellung von Schichtplänen. Möglicherweise kann der Arbeitgeber auch durch Arbeitsvertragsgestaltung eine Angleichung erreichen, indem er den Arbeitnehmern, die an einen TV gebunden sind, der eine kürzere Arbeitszeit vorsieht, eine moderat verlängerte Arbeitszeit gegen überproportionale Entgeltzuschläge anbietet (zum Problem des Günstigkeitsvergleichs in derartigen Fällen s. Rz. 188). 121

(2) Bei der Bezugnahme auf TVe wird künftig die Arbeitsvertragsgestaltung ein erhebliches Augenmerk darauf richten müssen, dass das Bezugnahmeziel auch dann noch eindeutig bestimmbar bleibt, wenn im Betrieb mehrere einschlägige TVe konkurrierender Gewerkschaften vorhanden sind1. Zu entsprechenden Regelungsvorschlägen s. Teil 10 Rz. 132.

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(3) Essentiell für die Funktionsfähigkeit eines pluralen TV-Systems ist die Anerkennung von Informationsquellen des Arbeitgebers hinsichtlich der Gewerkschaftsmitgliedschaft seiner Arbeitnehmer2. Im laufenden Arbeitsverhältnis muss der Arbeitgeber ebenso nach der Gewerkschaftszugehörigkeit fragen dürfen, wie er nach der Konfessionszugehörigkeit zum Zweck der Abführung von Kirchensteuern fragen darf3. Welche TV-Normen auf das Arbeitsverhältnis anwendbar sind, ist eine zentrale Frage zur Durchführung des Arbeitsverhältnisses. Ein legitimeres Interesse4 als das Interesse, die für das Arbeitsverhältnis einschlägigen Rechtsgrundlagen in Erfahrung zu bringen, ist für kaum eine andere Arbeitgeberfrage erkennbar.

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Den zweifellos bestehenden Diskriminierungsgefahren bei Offenlegung der Gewerkschaftszugehörigkeit ist nicht durch ein Frageverbot zu begegnen, sondern dadurch, dass den Arbeitnehmer nach erfolgter Offenlegung ein besonderes Maßregelungsverbot schützt. Ihm sind dabei Beweiserleichterungen analog § 22 AGG zuzugestehen5. Ist keine überzeugende andere Erklärung für eine Benachteiligung des Arbeitnehmers ersichtlich als die offenbarte Gewerkschaftszugehörigkeit oder ist lediglich ein auffälliger zeitlicher Zusammenhang zwischen Benachteiligung und Offenlegung der Gewerkschaftszugehörigkeit gegeben, liegt es somit beim Arbeitgeber, sich vom Vorwurf einer unzulässigen Maßregelung (§ 612a BGB) zu entlasten6.

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Der verbreitet vorgeschlagene Alternativansatz, auf ein Fragerecht des Arbeitgebers und eine korrespondierende Offenbarungspflicht des Arbeitnehmers zu 1 Dazu Willemsen/Mehrens, NZA 2010, 1313; Bayreuther, NZA 2009, 935; Preis/Greiner, NZA 2007, 1073. 2 Dazu Greiner, Rechtsfragen, S. 481 ff. 3 MünchArbR/Buchner, 2. Aufl. 2000, § 41 Rz. 121. 4 Der Arbeitgeber braucht generell ein berechtigtes, billigenswertes und schutzwürdiges Interesse an der Beantwortung seiner Frage für das Arbeitsverhältnis, so z.B. BAG v. 7.6.1984 – 2 AZR 270/83, NZA 1985, 57; Staudinger/Richardi, § 611 BGB Rz. 139. 5 Greiner, Rechtsfragen, S. 492 f. 6 Verweis auf § 612a BGB bereits bei Hanau/Kania, Anm. AP Nr. 20 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; weiterhin Thüsing/v. Medem, ZIP 2007, 510 (512); Rieble, GS Heinze, S. 687 (693); Hanau, RdA 2008, 98 (103); Jacobs, NZA 2008, 325 (328).

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Verhältnis zu anderen Regelungen

Rz. 127 Teil 9

verzichten und lediglich eine Offenbarungsobliegenheit des Arbeitnehmers anzuerkennen, wenn dieser Ansprüche aus dem fraglichen TV geltend machen möchte1, ist abzulehnen: Nach dieser Auffassung ist für den Arbeitgeber die Rechtsverletzung Voraussetzung der Rechtserkenntnis: Er muss den Arbeitnehmer zunächst schlechter behandeln als es der TV ihm unmittelbar und zwingend vorschreibt, um die Anwendbarkeit des jeweiligen TVes überhaupt erkennen zu können. Dies ist mit der zwingenden Wirkung, die dem TV in § 4 Abs. 1 TVG anvertraut ist, schwerlich zu vereinbaren. Ein Arbeitsrecht, das die Verletzung von tariflichen Rechtsnormen zur Voraussetzung der Erkennbarkeit der Rechtslage macht, dürfte rechtsstaatlichen Standards kaum genügen. (4) Besondere Relevanz erlangt in einem pluralen TV-System die Abgrenzung von Kollektiv- und Individualnormen (vgl. Teil 4 Rz. 86). Dies ergibt sich daraus, dass Betriebsnormen i.S.v. § 3 Abs. 2 BetrVG stets nur betriebseinheitlich gelten können2. Im Fall eines Konfliktes mehrerer konkurrierender Kollektivnormen entstehen somit betriebsweite Tarifkonkurrenzen in allen erfassten Arbeitsverhältnissen. Zur Kollisionslösung in diesen Fällen nach dem Mehrheitsprinzip s.o. Rz. 95.

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(5) Ein besonderes Detailproblem liegt darin, wie ZuordnungsTVe gemäß § 3 BetrVG und andere tarifliche Regelungen über die Ausgestaltung der betriebsverfassungsrechtlichen Repräsentationsorgane rechtlich zu behandeln sind. Bereits entschieden hat das BAG, dass Tarifnormen nach § 3 Abs. 1 Nr. 1–3 BetrVG von einer tarifzuständigen und im Betrieb vertretenen Gewerkschaft auch ohne Beteiligung von anderen, gleichfalls tarifzuständigen Gewerkschaften abgeschlossen werden können3. Eine „Zwangstarifgemeinschaft“ im Sinne einer koordinierten Tarifpolitik ist somit auch im Hinblick auf die Ausgestaltung der betriebsverfassungsrechtlichen Repräsentationsstrukturen nicht anzuerkennen. In diesem Kontext hat das BAG ebenfalls entschieden, dass zur Durchsetzung eines TVes nach § 3 Abs. 1 Nr. 1–3 BetrVG auch Arbeitskampfmittel eingesetzt werden dürfen.

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Sind insofern konkurrierende Regelungen ersichtlich, liegt eine modifizierte Anwendung des Mehrheitsprinzips nahe4: Um die Funktionsfähigkeit der Betriebsverfassung sicherzustellen, sollte das bei Kollektivnormen generell zum Zuge kommende Mehrheitsprinzip (s. Rz. 95, Rz. 125) hier in der Weise angewandt werden, dass die Mehrheitsfeststellung jeweils nur zum Stichtag einer

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1 BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068, Rz. 46; Rieble, GS Heinze, S. 687 (694); in diese Richtung auch Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 277; Kempen/Zachert/ Wendeling-Schröder, § 4 TVG Rz. 162; Franzen, RdA 2008, 193 (195 f.); Bayreuther, BB 2005, 2633 (2640); Danne, SAE 1998, 111 (115); Nebeling/Gründel, NZA 2009, 1003 (1004). 2 Für Betriebsnormen für einzelne Arbeitnehmergruppen aber Hanau, RdA 2008, 98 (102) unter Hinweis auf eine Andeutung bei BAG v. 7.11.1995 – 3 AZR 676/94, NZA 1996, 1214; ebenso Bürger, S. 40 ff., 75 f. für Betriebs-, nicht aber für betriebsverfassungsrechtliche Normen. 3 BAG v. 29.7.2009 – 7 ABR 27/08, NZA 2009, 1424. 4 Ausf. zu denkbaren Lösungsansätzen Krebber, RdA 2011, 23 (25 ff.).

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Teil 9 Rz. 128

Wirkung der Tarifnormen

bevorstehenden Betriebsratswahl stattfindet und somit eine Veränderung der mehrheitlichen mitgliedschaftlichen Legitimation eines TVes mit betriebsverfassungsrechtlichem Inhalt erst zum Beginn der nächsten Wahlperiode des Betriebsrats Wirkungen entfaltet. In jedem Fall muss die Funktionserhaltung der betriebsverfassungsrechtlichen Repräsentationsstrukturen Leitlinie einer im Detail durch den Gesetzgeber oder hilfsweise durch die Rechtsprechung vorzunehmenden Ausgestaltung sein. 128

(6) Vereinzelt wird der in einem tarifpluralen System ermöglichte unkontrollierbare Gewerkschaftswechsel sowie die Doppelmitgliedschaft eines Arbeitnehmers in mehreren konkurrierenden Gewerkschaften als ein Problem angesehen1. Das befürchtete „Gewerkschaftshopping“2 soll darauf abzielen, dem Arbeitnehmer situationsabhängig die für ihn jeweils günstigste tarifvertragliche Regelung zu sichern. Bei näherer Betrachtung erweist sich dies als nicht stichhaltig: Streift der Arbeitnehmer seine Tarifbindung ab, kommt es insofern zur Nachbindung (§ 3 Abs. 3 TVG). Stellt er bei einem Gewerkschaftswechsel zugleich eine neue Tarifbindung her, ergibt sich eine in jedem Fall aufzulösende Tarifkonkurrenz (s. Rz. 88) in seinem Arbeitsverhältnis, denn sowohl der „neue“, nach § 3 Abs. 1 TVG bindende als auch der gemäß § 3 Abs. 3 TVG nachbindende TV beanspruchen gleichermaßen normative Geltung. Insofern kann auf die obigen Ausführungen zur Auflösung der Tarifkonkurrenz verwiesen werden (s. Rz. 89 ff.; insb. Rz. 94 f.).

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(7) Neu gedacht werden müssen auch die Auswirkungen der Allgemeinverbindlicherklärung. Wurde bisher das Verhältnis von allgemeinverbindlichem und mitgliedschaftlich legitimiertem TV nach der allgemeinen Maßgabe des Spezialitätsprinzips aufgelöst3, entfällt diese Möglichkeit in einem tarifpluralen System. Viel spricht dafür, dass bei Akzeptanz der Tarifpluralität die Allgemeinverbindlicherklärung ganzer TVe kein geeignetes Mittel zur Vereinheitlichung der Arbeitsbedingungen mehr darstellt4.

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Vielmehr entspricht es den Strukturen eines tarifpluralen Systems, den allgemeinverbindlich erklärten TV ausschließlich in Arbeitsverhältnissen zur Anwendung zu bringen, in denen keinerlei anderweitige mitgliedschaftliche Tarifbindung vorliegt. § 5 Abs. 4 TVG wäre dann im Wortsinne so zu verstehen, dass die Allgemeinverbindlicherklärung alleine dazu führt, dass die Rechtsnormen des für allgemeinverbindlich erklärten TVes in seinem Geltungsbereich die bisher gar nicht tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer erfassen. Eine abweichende konkurrierende Tarifbindung würde hingegen nicht von einer Allgemeinverbindlicherklärung tangiert.

131

Ein Kernproblem eines tarifpluralen Regelungsmodells ist damit, dass die funktionsnotwendige Einbeziehung aller Arbeitnehmer und Arbeitsverhältnisse einer Branche5 in gemeinsame Einrichtungen der TV-Parteien (vgl. § 4 Abs. 2 1 Etwa Meyer, DB 2006, 1271; Meyer, NZA 2006, 1387 (1389). 2 Lindemann/Simon, BB 2006, 1852 (1855); Franzen, RdA 2008, 193 (198); krit. Thüsing/v. Medem, ZIP 2007, 510 (514) („Kampfbegriff von hoher Polemik“). 3 BAG v. 14.6.1989 – 4 AZR 200/89, NZA 1990, 325. 4 Ausf. Greiner, Rechtsfragen, S. 419 ff., 424 f. 5 Zutr. Scheele, NZA-Beil. 2010, 3.

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Verhältnis zu anderen Regelungen

Rz. 134 Teil 9

TVG; s. Teil 4 Rz. 104 ff.), etwa durch einen SozialkassenTV, nicht mehr wie bisher über das Mittel der Allgemeinverbindlicherklärung bewirkt werden kann. Hier ist ein anderer gesetzgeberischer Regelungsansatz zu wählen. Will man die Funktionsfähigkeit der bewährten Sozialkassen auch weiterhin gewährleisten, ist de lege ferenda über eine spezialgesetzliche Geltungserstreckung derartiger TVe im Sinne eines allgemeinen Mindestschutzstandards nachzudenken. Regelungsvorbild könnte insofern das Rechtsverordnungsverfahren nach § 7 AEntG sein (s. Teil 7 Rz. 121 ff.). Gleichfalls erhebliche Folgeprobleme ergeben sich im tarifpluralen System hinsichtlich der Auswahl von TVen zum Zweck der Allgemeinverbindlicherklärung (§ 5 TVG) bzw. staatlichen Geltungserstreckung (§ 7 AEntG; s. dazu ausf. Teil 7 Rz. 134 ff.). (8) Gravierende Auswirkungen von höchster rechtspolitischer Brisanz hat die Anerkennung der Tarifpluralität für das Arbeitskampfrecht1. Gegenüber dem Arbeitskampfsystem in einem „monistischen“ Tarifvertragsrecht ergeben sich mehrere Änderungen: Der Arbeitgeber sieht sich nicht mehr nur einer Gewerkschaft, sondern mehreren Gewerkschaften gegenüber. Die Friedensfunktion eines abgeschlossenen TVes wird dadurch entwertet, dass der Arbeitgeber während der Laufzeit des TVes mit Arbeitskämpfen konkurrierender Gewerkschaften rechnen muss. Es droht ein Zustand des „Dauerarbeitskampfs“2.

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Besondere Probleme werden auch durch die – infolge Anerkennung der Tarifpluralität erst ermöglichte – Tätigkeit von Berufs- und Spartengewerkschaften befürchtet. Insbesondere durchsetzungsstarke Berufsgruppen, „Spezialisten“ (s. Teil 2 Rz. 78 f.), neigen zur eigenständigen Tarifpolitik. Die Durchsetzungsstärke der Berufs- und Spartengewerkschaften resultiert insbesondere aus ihren Schlüsselfunktionen im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge (besonders deutlich z.B. bei Lokomotivführern, Piloten, Kabinenpersonal, Flughafenmitarbeitern). Ferner entfallen verbandsimmanente Korrektive: Eine Gewerkschaft, die lediglich eine Berufsgruppe oder Sparte organisiert, muss auf die Belange der Angehörigen anderer Berufsgruppen keine Rücksicht nehmen. Daraus speist sich der zu undifferenzierte Vorwurf einer „gruppenegoistischen“ Tarifpolitik3.

133

In Reaktion darauf werden verschiedene Ansätze stärkerer arbeitskampfrechtlicher Regulierung vorgeschlagen. Im Fokus stehen dabei insbesondere die durchsetzungsstarken Berufs- und Spartengewerkschaften in Schlüsselfunktionen der Daseinsvorsorge. Insofern sei auf die bereits vorhandenen Darstellungen verwiesen4. Hier soll lediglich angemerkt werden, dass die Einführung zu-

134

1 Insb. Hromadka, NZA 2008, 377 (387) („ständige kaum sinnvoll handhabbare Tarifauseinandersetzungen und ständige Streiks mit verheerenden Auswirkungen“); Hromadka, GS Heinze, S. 383 (388); ähnlich Meyer, DB 2006, 1271 (1272 f.); Meyer, NZA 2006, 1387 (1390); Otto, FS Konzen, S. 663 ff.; Giesen, NZA 2009, 11 (15 f.); dazu weiterhin Deinert, RdA 2011, 12; Willemsen/Mehrens, NZA 2010, 1313; Greiner, NJW 2010, 2977; Brugger/v. Steinau-Steinrück, NZA-Beil. 2010, 127. Das BAG (Urt. v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068, Rz. 48 ff.) sieht auch das Problem, mahnt aber zu Recht eine arbeitskampfrechtliche, keine tarifrechtliche Lösung an. 2 Vgl. Hromadka, GS Heinze, S. 383 (388). 3 Etwa Bayreuther, NZA 2008, 12 (15); Bayreuther, BB 2005, 2633 (2640 f.). 4 Deinert, RdA 2011, 12; Greiner, NJW 2010, 2977; monographisch insb. Rudkowski, Der Streik in der Daseinsvorsorge, 2010.

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Teil 9 Rz. 135

Wirkung der Tarifnormen

sätzlicher Rechtmäßigkeitsanforderungen im Arbeitskampfrecht der Deregulierungstendenz der arbeitskampfrechtlichen Rechtsprechung in den letzten Jahren geradezu diametral zuwiderläuft: Sie gibt der Arbeitskampffreiheit immer weiteren Raum und reduziert sukzessive die richterrechtliche Kontrollintensität1. Insofern ist nicht zu erwarten, dass das BAG in Reaktion auf die Tarifpluralität neue Kampfgrenzen kreieren wird. 135

Auch eine Schärfung bereits anerkannter Rechtsprinzipien, etwa des Verhältnismäßigkeitsprinzips2, ist mit Blick auf die Rechtsentwicklung im Arbeitskampfrecht nicht zu erwarten. Vielmehr betont das BAG das freie Spiel der Kräfte, wenn es programmatisch ausführt, es sei „grundsätzlich den Tarifvertragsparteien selbst überlassen, ihre Kampfmittel an sich wandelnde Umstände anzupassen, um dem Gegner gewachsen zu bleiben und ausgewogene Tarifabschlüsse zu erzielen“3. In der Konsequenz dieser Rechtsprechungsentwicklung läge es daher, auf gesteigerte Angriffsmöglichkeiten seitens der Gewerkschaften durch eine erweiterte Freigabe von Arbeitskampfmitteln auch auf Arbeitgeberseite zu reagieren, etwa die Anerkennung der lösenden Aussperrung4, der Entgeltabsenkung5 im Wege der Änderungs-Kampfkündigung (vgl. § 25 KSchG) oder der Stärkung von gegebenen Möglichkeiten auf Arbeitgeberseite, den Betrieb trotz Arbeitskampfs aufrechtzuerhalten6.

136

Ob die daraus resultierende Verschärfung der Arbeitskampfmittel beider Seiten tatsächlich gesellschaftspolitisch verantwortbar und praktikabel ist, ist eine andere Frage. Verneint man dies, ist der politisch verantwortliche Gesetzgeber zum Handeln aufgerufen. Er könnte etwa besondere Arbeitskampfgrenzen für den Bereich der Daseinsvorsorge einführen, Schlichtungsverfahren statuieren oder Anreize zur Synchronisierung der konkurrierenden Arbeitskämpfe setzen. Diese gesetzgeberische Ausgestaltung wäre freilich ein Balanceakt zwischen den aus Art. 9 Abs. 3 GG resultierenden Freiheitsrechten und den kollidierenden Verfassungsgütern. Diese diffizile Aufgabe bleibt dem Gesetzgeber vorbehalten und ist durch die Judikative nicht im Wege der Rechtsfortbildung zu leisten.

hh) Rechtspolitische Initiativen zur Wiederherstellung der Tarifeinheit 137

Infolge einer gemeinsamen Initiative von BDA und DGB7 wird rechtspolitisch über die Möglichkeit einer Wiederbelebung der überkommenen Tarifeinheit 1 Beispiele: BAG v. 19.6.2007 – 1 AZR 396/06, NZA 2007, 1055; BAG v. 22.9.2009 – 1 AZR 972/08, NJW 2010, 631. 2 Für kumulative Verhältnismäßigkeitsbetrachtung Kamanabrou, ZfA 2008, 241 (262 ff., 273 ff.); ähnlich Jacobs in Jacobs/Krause/Oetker, § 7 Rz. 236; für strengere Prüfung der Verhältnismäßigkeit auch Jacobs, NZA 2008, 325 (331); ähnlich schon Konzen, FS 50 Jahre BAG, S. 515 (548). 3 BAG v. 19.6.2007 – 1 AZR 396/06, NZA 2007, 1055. 4 Greiner, Rechtsfragen, S. 477 ff. 5 Zöllner/Loritz/Hergenröder, § 42 VI 5a; vgl. auch schon Zöllner, FS Bötticher, S. 427 (437 f.); jüngst aufgegriffen von Jacobs, ZfA 2010, 27. 6 Z.B. durch Anerkennung von selektiver Aussperrung, Streikbruchprämien u.Ä. 7 Der bislang nicht veröffentlichte DGB/BDA-Entwurf wird u.a. in dem – sehr lesenswerten – Gutachten von Däubler, Die gemeinsame Initiative von DGB und BDA zur Schaffung einer neuen Form von „Tarifeinheit“, S. 53 wiedergegeben (abrufbar unter http://mbintern.info/intern/info/2738; zuletzt abgerufen am 1.10.2012).

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Rz. 140 Teil 9

im Betrieb diskutiert1. BDA und DGB haben einen Regelungsvorschlag dahingehend vorgelegt, dass die mehrheitliche Tariflegitimation im Betrieb über die exklusive Anwendung eines TVes entscheiden soll. Die Friedenspflicht aus dem verdrängenden TV soll sich demnach auch auf konkurrierende TVe erstrecken. Der DGB hat sich mittlerweile aus der Initiative zurückgezogen, so dass die Realisierungschancen gering scheinen. Die vorgeschlagene Regelung führt erneut zu einer strukturellen Diskriminierung von Gewerkschaften, die nach dem Berufsverbandprinzip organisiert sind. Diese werden, bezogen auf den Betrieb, vielfach keine Möglichkeit haben, die Mehrheit zu stellen. Der Umstand, dass ein in seinem Geltungsbereich weit überwiegend mehrheitlich legitimierter BerufsTV durch einen dort viel schwächer (oder gar nicht) legitimierten BranchenTV verdrängt würde, nur weil dieser in anderen im Betrieb vertretenen Berufsgruppen über eine stärkere Legitimationsbasis verfügt, ist mit der kollektiv-privatautonomen Grundlage der Tarifnormwirkung schwerlich vereinbar2. Das Konzept gerät somit in einen Konflikt zu der Art. 9 Abs. 3 GG immanenten Anerkennung des Berufsverbandsprinzips als gleichwertiger koalitionärer Organisationsform. Will man mit BDA und DGB das Industrieverbandsprinzip nachhaltig stärken oder gar als verpflichtende Organisationsform vorschreiben, bedürfte dies einer Änderung des Grundgesetzes. Der Verfassungsgesetzgeber müsste dazu, z.B. durch Änderung von Art. 9 Abs. 3 GG, zu Gunsten des Industrieverbandsprinzips votieren.

138

Den geltenden verfassungsrechtlichen Vorgaben gerecht wird hingegen ein Alternativentwurf einer Professorengruppe3, der in enger Anlehnung an die tatsächliche mitgliedschaftliche Legitimation der TVe eine Tarifeinheit im Überschneidungsbereich herstellen will. Demnach setzen sich die Individualnormen jenes TVes durch, der von der im Überschneidungsbereich mehrheitlich legitimierten Gewerkschaft geschlossen wurde. Der Entwurf sieht außerdem arbeitskampfrechtliche Regelungen vor, die einem Zustand des „Dauerarbeitskampfs“ entgegenwirken sollen.

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II. Verhältnis des Tarifvertrages zu rangniederen Regelungen 1. Günstigkeitsprinzip a) Modifikation des Grundprinzips Normenhierarchie Bereits aus der zwingenden Wirkung der Tarifnormen (§ 4 Abs. 1 TVG, s. Rz. 10 ff.) folgt, dass Normen eines TVes rangniederen Regelungen im Grundsatz vorgehen. Insofern kommt eine Abbedingung des Tarifinhalts durch Ar1 Dazu im Überblick Hanau, DB 2010, 2107. 2 Krit. u.a. Konzen, JZ 2010, 1036; Lehmann, BB 2010, 2237; Greiner, NZA 2010, 743; ohne Bedenken dagegen Papier, DB 2010 Beil. Heft 44, 75; instruktiv abwägend Bayreuther, DB 2010, 2223. 3 Bayreuther/Franzen/Greiner/Krause/Oetker/Preis/Rehhahn/Thüsing/Waltermann, Tarifpluralität als Aufgabe des Gesetzgebers, 2011.

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Teil 9 Rz. 141

Wirkung der Tarifnormen

beitsvertrag oder Betriebsvereinbarung nicht in Betracht. Andererseits soll der TV aber lediglich Mindestarbeitsbedingungen, nicht hingegen Höchstarbeitsbedingungen begründen. Daher regelt § 4 Abs. 3 TVG, dass Abweichungen vom TV insoweit zulässig sind, als sie für den Arbeitnehmer eine günstigere Regelung enthalten als tarifvertraglich vorgesehen. § 4 Abs. 3 TVG präzisiert das in § 4 Abs. 1 TVG geregelte Prinzip der zwingenden Tarifwirkung dahingehend, dass dem TV lediglich eine einseitig zwingende Wirkung zukommt, die Abweichungen zu Gunsten des Arbeitnehmers zulässt. 141

Erst infolge des Günstigkeitsprinzips werden übertarifliche Leistungen in Arbeitsverträgen tarifgebundener Arbeitnehmer ermöglicht1. Faktisch dient das Günstigkeitsprinzip auch dazu, vor einer innerverbandlichen Bevormundung zu schützen, indem individuell besonders marktstarke Arbeitnehmer trotz der zwingenden Wirkung der Tarifnormen ihre Individualfreiheit auch über die Begünstigung in einem TV hinaus entfalten können2.

142

Die ungünstigere Regelung wird infolge des Günstigkeitsvergleichs verdrängt. Sie bleibt gleichwohl als wirksame Regelung bestehen und ist z.B. Teil des bei einem Betriebsübergang mit übergehenden Regelungsbestands3.

b) Anwendungsbereich aa) TV im Verhältnis zum Arbeitsvertrag 143

§ 4 Abs. 3 TVG ist ausschließlich anwendbar im Verhältnis von TV-Normen zu rangniederen Regelungen, während im Hinblick auf ranggleiche Regelungen (konfligierende TVe) die bereits dargestellten Kollisionsprinzipien (Zeitkollisionsregel, Spezialitätsprinzip, Mehrheitsprinzip, s. Rz. 73 ff.) Anwendung finden. Somit findet § 4 Abs. 3 TVG auf sämtliche Vereinbarungen arbeitsvertraglicher Ebene Anwendung4. Die Geltung des Günstigkeitsprinzips im Verhältnis von TV und Arbeitsvertrag setzt grundsätzlich ein bestehendes Arbeitsverhältnis voraus5. Entgegen einer früher vertretenen Auffassung ist heute anerkannt, dass das Günstigkeitsprinzip auf arbeitsvertragliche Vereinbarungen unabhängig davon Anwendung findet, ob sie vor oder nach Abschluss des TVes getroffen wurden6.

144

Regelungen auf arbeitsvertraglicher Ebene und somit gleichfalls einem Günstigkeitsvergleich zugänglich, sind auch vertragliche Einheitsregelungen bzw. 1 Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 250. 2 Vgl. Picker, GS Knobbe-Keuk, S. 879 ff.; Picker, Tarifautonomie, S. 39 ff.; zust. Löwisch/Rieble, Grundlagen Rz. 40, § 4 Rz. 255; a.A. Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 261. 3 So BAG v. 24.2.2010 – 4 AZR 691/08, NZA-RR 2010, 530, Rz. 44. 4 Vgl. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 381 ff.; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 474; Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 278. 5 Zu Erweiterungen bei Abschlussgeboten und -verboten vgl. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 405. 6 Zutr. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 421; Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 285; vgl. auch Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 837; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 266; a.A. Schmidt, RdA 1952, 301 (305).

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Verhältnis zu anderen Regelungen

Rz. 145 Teil 9

allgemeine Arbeitsbedingungen1. Unterfälle sind die vom Arbeitgeber ausformulierten und einseitig gestellten Vertragsbedingungen2 sowie Ansprüche aus betrieblicher Übung3. Im Gegensatz dazu unterwerfen ältere Entscheidungen des BAG und Teile der Literatur4 die angesprochenen quasi-kollektiven Abreden auf arbeitsvertraglicher Ebene Sonderregeln: Regelungen in allgemeinen Arbeitsbedingungen und Einheitsregelungen sollen demnach als weitere Formen einer „kollektiven Ordnung“ zu Ungunsten des Arbeitnehmers abgelöst werden können, wenn später ein TV die Sachmaterien in ungünstigerer Weise regelt. Derartige Erwägungen, die letztlich auf das Ordnungsprinzip zurückzuführen sind5, verkennen die dogmatische Grundlage der genannten Rechtsinstitute. Diesen liegt ein – mitunter konkludenter – Vertragsschluss auf individualvertraglicher Ebene zu Grunde6. Der individualvertragliche Charakter wird zu Recht immer stärker betont7. Bereits deshalb findet das lediglich auf ranggleiche Regelungen anwendbare Ablösungs- bzw. Zeitkollisionsprinzip hier keine Anwendung. Es handelt sich um Kollisionen von TV und Einzelarbeitsvertrag, für die § 4 Abs. 3 TVG das Günstigkeitsprinzip vorsieht. Das BAG hat daher zu Recht bereits 1986 die Anwendung des Ordnungsprinzips auf das Verhältnis zwischen vertraglicher Einheitsregelung und Betriebsvereinbarung verneint8. Eine Ablösung derartiger arbeitsvertraglicher Vereinbarungen durch (ungünstigere) TV-Normen ist mithin konsequenterweise abzulehnen9. Die Gegenauffassung verwischt in unzulässiger Weise die Grenzen zwischen Individualarbeitsvertrag und kollektiven Regelungsinstrumenten. Hat der Arbeitgeber zunächst die arbeitsvertragsrechtlichen Gestaltungsformen gewählt und deren Vorteile genutzt, muss er sich schon nach dem Grundsatz der Vertragstreue (pacta sunt servanda) daran auch festhalten lassen, wenn hierdurch sein wirtschaftlicher Spielraum für spätere Kollektivvereinbarungen geschmälert wird. Er ist also auf die individualvertraglichen Mittel des Änderungsvertrags bzw. der Änderungskündigung zu verweisen, wenn er von einer arbeitsvertraglichen Zusage mit Blick auf eine kollektive Neuverteilung des zugesagten Finanz-

1 BAG v. 16.9.1986 – GS 1/82, NZA 1987, 168; BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887. 2 Vgl. BAG v. 11.10.1967 – 4 AZR 451/66, DB 1968, 133. 3 BAG v. 10.12.1965 – 4 AZR 411/64, BB 1966, 450. 4 Insb. BAG v. 4.2.1960 – 5 AZR 72/58, AP Nr. 7 zu § 4 TVG Günstigkeitsprinzip; Säcker, Gruppenautonomie, S. 294, 308 ff.; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 861 f. 5 Grundlegend Nipperdey, FS Lehmann, S. 257; Siebert, FS Nipperdey, S. 199; vgl. weiterhin Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts Bd. 2/1, S. 593; mit Recht krit. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 628 ff.; Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 286. 6 So z.B. für die betriebliche Übung BAG v. 29.9.2004 – 5 AZR 528/03, NZA-RR 2005, 501 m.w.N.; zum Meinungsstand MünchArbR/Richardi, § 8 Rz. 5 ff. 7 Vgl. Preis/Genenger, JbArbR 47 (2010), 93 m.w.N. 8 BAG v. 16.9.1986 – GS 1/82, NZA 1987, 168; zustimmend etwa Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 627 ff.; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 490. 9 Zutr. Staudinger/Richardi, Vorbemerkungen zu §§ 611 BGB ff. Rz. 711; Wiedemann/ Wank, § 4 TVG Rz. 630; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 489; Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1051; a.A. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 861 f.

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Teil 9 Rz. 146

Wirkung der Tarifnormen

volumens Abstand nehmen will1. Gleichfalls wegen Überschreitung der Tarifmacht abzulehnen ist eine Erschwerung übertariflicher Abreden durch ein ausschließlich auf diese bezogenes tarifvertragliches Formgebot2.

bb) TV und Betriebsvereinbarung? 146

Einer Günstigkeitsbetrachtung nach § 4 Abs. 3 TVG grundsätzlich zugänglich sind auch Betriebsvereinbarungen, denn auch dabei handelt es sich um im Verhältnis zum TV rangniedere Abreden. Der sich aus § 4 Abs. 3 TVG ergebende Vorrang einer günstigeren Regelung in einer Betriebsvereinbarung wird jedoch praktisch dadurch marginalisiert, dass auch eine arbeitnehmergünstige Betriebsvereinbarung nach den Kollisionsprinzipien der §§ 77 Abs. 3, 87 Abs. 1 Einls. BetrVG (s. ausf. Rz. 218 ff.) hinter eine tarifvertragliche Regelung mit gleichem Regelungsgegenstand zurücktritt. Aus diesen speziellen, § 4 Abs. 3 TVG verdrängenden3 Normen, namentlich aus § 77 Abs. 3 BetrVG, ergibt sich, dass der Gesetzgeber den TV in besonderer Weise institutionell schützen und absichern möchte. Insbesondere soll verhindert werden, dass die Regelungsautorität der TV-Parteien durch (arbeitnehmergünstigere) betriebsverfassungsrechtliche Regelungen untergraben wird. Verhindert werden soll, dass die Betriebsräte gewissermaßen in Konkurrenz zu den TV-Parteien tätig werden und sich als die „besseren“ Normgeber gerieren (s. ausf. Rz. 219, Rz. 221 ff., Rz. 245 ff.). Diese bereits durch institutionelle Gewährleistungsgehalte des Art. 9 Abs. 3 GG4 nahe gelegte Schutzintention ist aber nur im Verhältnis von TV und Betriebsvereinbarung sinnvoll und trägt keine prinzipiell enge Auslegung des Günstigkeitsprinzips im Verhältnis zu arbeitsvertraglichen Abreden5.

147

Teile der Literatur fordern im Interesse einer betriebsnäheren Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen eine Aufwertung des Günstigkeitsprinzips. Derartige Bestrebungen wurden in der jüngeren Vergangenheit unter dem Stichwort „betriebliche Bündnisse für Arbeit“ diskutiert (s. ausf. Rz. 189 ff.; Teil 13).

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Voraussetzung für eine Günstigkeitsbetrachtung im Verhältnis von TV und Betriebsvereinbarung ist folglich, dass der Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 BetrVG durch eine darauf bezogene Öffnungsklausel (s. Rz. 240) beseitigt wird. Zur Günstigkeitsbetrachtung kommt es freilich auch in diesem Fall nur, wenn der 1 Zutr. Kritik an der Rspr. bei Hromadka, NZA-Beil. 1987, 2; zustimmend jedoch u.a. Richardi, NZA 1987, 185; Däubler, AuR 1987, 349; für Begrenzung der Rechtsprechungsgrundsätze auf den Bereich der betrieblichen Altersversorgung Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 291. 2 Zutr. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 425; a.A. Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 625. 3 Zum Meinungsstand Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 556 ff. m.w.N. 4 Vgl. BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, NJW 1979, 593; vgl. dazu Dreier/Bauer, Grundgesetz, Art. 9 GG Rz. 101 f.; Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 60; Schmidt-Bleibtreu/Kannengießer, Art. 9 GG Rz. 20. 5 Mit dieser Tendenz aber z.B. BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887; BAG v. 28.6.2001 – 6 AZR 114/00, NZA 2002, 331; BAG v. 7.11.2002 – 2 AZR 742/00, NZA 2003, 1139.

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Verhältnis zu anderen Regelungen

Rz. 150 Teil 9

TV eine Öffnung zu Gunsten der betriebsverfassungsrechtlichen Regelungsebene ausschließlich für den Fall einer günstigeren Regelung durch Betriebsvereinbarung vorsieht. Durch die Ausgestaltung der verwendeten Öffnungsklauseln haben es die Tarifparteien somit gewissermaßen in der Hand, den Anwendungsbereich des Günstigkeitsvergleichs zu steuern1 und der betrieblichen Regelung mehr oder weniger Raum zu gewähren.

cc) Einzubeziehende Tarifnormen Das Günstigkeitsprinzip erstreckt sich insbesondere auf (positive und auch negative2) Inhaltsnormen eines TVes (zur Definition und Abgrenzung s. Teil 4 Rz. 11 ff.)3. Vorsicht ist geboten bei der Anwendung auf Abschlussverbote. Diesen wird eine zweiseitig zwingende Wirkung beigemessen; daraus wird abgeleitet, dass eine Anwendung des Günstigkeitsprinzips nicht in Betracht kommt4. Ist etwa die Schichtarbeit tarifvertraglich ausgeschlossen, kommt die individualvertragliche Vereinbarung einer Pflicht zur Schicht- oder Akkordarbeit nach h.M. nicht in Betracht, selbst wenn diese mit arbeitnehmergünstigen Zuschlägen honoriert wird5. Freilich erlangt die Tarifnorm infolge ihrer zweiseitig zwingenden Wirkung dann eine den tarifgebundenen Arbeitnehmer gewissermaßen paternalistisch bevormundende Wirkung. Man kann daher erwägen, das Günstigkeitsprinzip auch in diesem Fall jedenfalls dann anzuwenden, wenn der Arbeitnehmer infolge einer für ihn evident günstigen Arbeitsmarktsituation von echter individueller Privatautonomie Gebrauch machen konnte (s. dazu allgemein Rz. 160 ff.). Anwendbar ist das Günstigkeitsprinzip hingegen auf Abschlussgebote6 – in dem Sinne, dass etwa eine quantitative Vorgabe für die in ein Altersteilzeitprogramm einzubeziehenden Arbeitnehmer überschritten wird – und Beendigungsnormen7, so dass z.B. eine einzelvertragliche Verlängerung von Kündigungsfristen Wirkung entfaltet.

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Schon mangels einer feststellbaren Günstigkeit scheidet eine Anwendung hingegen bei Kollektivnormen i.S.v. § 3 Abs. 2 TVG, also betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Normen, aus. Die von Betriebsnormen erfassten Regelungsfragen sind allerdings häufig einer einzelvertraglichen Regelung nicht zugänglich; das BAG bejaht das Vorliegen einer Betriebsnorm, wenn eine individualvertragliche Regelung wegen „evident sachlogischer Unzweckmäßigkeit“ ausscheidet8. Schon deswegen bedarf es hier in vielen Fällen keiner speziellen Einschränkung des Günstigkeitsprinzips. Mangels einer arbeitsver-

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1 Vgl. Bieback, ZfA 1979, 453 (477). 2 Ausf. Joost, ZfA 1984, 173 (189 f.). 3 MünchArbR/Matthes, § 238 Rz. 76; Linnenkohl/Rauschenberg/Reh, BB 1990, 628 (630). 4 Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 306; Krauss, Günstigkeitsprinzip, S. 74 f.; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 190. 5 So Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 409, 412; Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 260; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 602; Stein, Tarifvertragsrecht, Rz. 594. 6 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 190 ff.; Tech, Günstigkeitsprinzip, S. 75 ff. 7 ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 33. Zur Anwendung auf eine tarifvertragliche Altersgrenze BAG v. 7.11.1989 – GS 3/85, NZA 1990, 816. 8 BAG v. 26.4.1990 – 1 ABR 84/87, NZA 1990, 850.

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Teil 9 Rz. 151

Wirkung der Tarifnormen

traglichen Regelbarkeit ist der Anwendungsbereich des § 4 Abs. 3 TVG nicht eröffnet. Gleiches gilt für betriebsverfassungsrechtliche Struktur- und Organisationsfragen. Soweit die Möglichkeit einer Betriebsnorm auch für arbeitsvertraglich regelbare Materien zu bejahen ist, z.B. bei der Frage eines Zuschusses zum Kantinenessen, ist dagegen auch das Günstigkeitsprinzip anwendbar1. Dient eine arbeitsvertragliche Regelung dazu, den Arbeitnehmer individuell betriebsverfassungsrechtlich besser zu stellen, indem etwa eine personelle Einzelmaßnahme (z.B. Kündigung, Abmahnung) konstitutiv von der Zustimmung des Betriebsrats abhängig gemacht wird, spricht viel dafür, dass auch insofern das Günstigkeitsprinzip Anwendung findet2. 151

Bei Normen über gemeinsame Einrichtungen (§ 4 Abs. 2 TVG) gilt: Ein Sachgruppenvergleich (s. Rz. 171 ff.) anderer, individuell begünstigender Regelungskomplexe mit Regelungen über gemeinsame Einrichtungen scheidet mangels echten Sachzusammenhangs aus, da der Sinn und Zweck einer gemeinsamen Einrichtung gerade im überindividuellen Lasten- und Risikoausgleich liegt. Eine individuelle Begünstigung im Arbeitsvertrag, auch zu einer verwandten Materie, tritt daher neben die tarifvertraglichen Regelungen zu einer gemeinsamen Einrichtung, vermag die Beitragspflicht jedoch nicht zu verdrängen3.

dd) Einbeziehung schuldrechtlicher Koalitionsvereinbarungen? 152

Gegenstand einer Kontroverse in der Literatur war die Frage, inwieweit schuldrechtliche Koalitionsvereinbarungen Gegenstand einer Günstigkeitsbetrachtung sein können4. Insofern vermag schon die Fragestellung dogmatisch nicht zu überzeugen. Sie verkennt den Zusammenhang zwischen Normwirkung und Günstigkeitsprinzip. Eine schuldrechtliche Koalitionsvereinbarung wirkt allein im Verhältnis der TV-Parteien zueinander und entfaltet keine normative Wirkung i.S.v. § 4 Abs. 1 TVG. Das einzelne Arbeitsverhältnis bleibt somit von einer schuldrechtlichen Koalitionsvereinbarung zunächst unberührt. Erst wenn eine Arbeitsvertragspartei infolge der schuldrechtlichen Koalitionsvereinbarung eine bestimmte Arbeitsvertragsgestaltung wählt, kommt es zu einer inhaltlichen Einwirkung auf das Arbeitsverhältnis. Mangels normativer Wirkung derartiger Abreden ist mithin der Anwendungsbereich des § 4 Abs. 3 TVG als Präzisierung von § 4 Abs. 1 TVG (s. Rz. 13) nicht eröffnet.

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Eine andere Frage ist, ob sich die TV-Partei, insbesondere der einzelne Arbeitgeber als Partei eines FirmenTVes, wirksam schuldrechtlich dahingehend verpflichten kann, die Arbeitsverträge „nicht zu günstig“ auszugestalten. Diese Frage bezieht sich unter anderem auf sog. Differenzierungsklauseln (s. Teil 5 1 Differenzierend auch Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 509; Löwisch, BB 1991, 59 (61); tendenziell gegen Anwendung des Günstigkeitsprinzips Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 415. 2 Offen gelassen in BAG v. 18.12.1997 – 2 AZR 709/96, NZA 1998, 304. 3 Zutr. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 417; Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 272; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 605; Stein, Tarifvertragsrecht, Rz. 598; a.A. Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 283 ff. 4 Vgl. dazu etwa Biedenkopf, S. 75; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 396 ff. versus Richardi, Kollektivgewalt, S. 373 ff.; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 551 f.

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Rz. 155 Teil 9

(8) Rz. 8). Insofern ist festzuhalten, dass es zwar keine Regelung des zwingenden Gesetzesrechtes gibt, die es einer Vertragspartei verbietet, sich vertraglich zu verpflichten, von der eigenen Vertragsfreiheit im Verhältnis zu einem Dritten nur in bestimmter Weise Gebrauch zu machen1. Bejaht man aber mit der neueren Rechtsprechung die Zulässigkeit und Wirksamkeit von einfachen Differenzierungsklauseln2, ist für eine Anwendung des Günstigkeitsprinzips auf schuldrechtliche Koalitionsabreden denknotwendig kein Raum. Freilich ist diese Rechtsprechung äußerst zweifelhaft3. Die Zweifel beruhen allerdings nicht auf der hier dargelegten dogmatischen Grundfrage, sondern vielmehr auf der quasi-normativen Wirkung, die das BAG auch der schuldrechtlichen Differenzierungsklausel zugesteht, indem diese die Rechtslage im Arbeitsverhältnis des Außenseiter-Arbeitnehmers zu seinen Ungunsten verändern soll, etwa durch Ausschaltung der Unklarheitenregel (§ 305c Abs. 2 BGB)4 sowie des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes. Die schuldrechtliche Koalitionsvereinbarung ist keineswegs so zu deuten, dass damit das Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG selbst eingeschränkt würde5, was wegen seiner Einordnung als zwingender gesetzlicher Regelung unwirksam wäre. Vielmehr bleibt trotz einer derartigen schuldrechtlichen Vereinbarung das Günstigkeitsprinzip uneingeschränkt im Verhältnis der Tarifnormen zu rangniederen Abreden anwendbar. Die schuldrechtliche Regelung zielt nur auf die Verhinderung bestimmter individualvertraglicher Vereinbarungen ab, nimmt diesen aber nicht die Wirksamkeit. Ebenso wie durch eine schuldrechtliche Koalitionsvereinbarung kann die Vereinbarung günstigerer Bedingungen im Arbeitsvertrag faktisch auch durch einen einseitigen Beschluss des Arbeitgeberverbandes verhindert werden, mit dem dieser seine Mitglieder vereinsrechtlich verpflichtet, nur eine bestimmte Arbeitsvertragsgestaltung zu wählen, etwa die tarifvertraglichen Arbeitsbedingungen als Höchstbedingungen anzuwenden (sog. Höchstnormbeschluss)6. Zwischen beiden Konstellationen bestehen keine rechtlich greifbaren Unterschiede, so dass Differenzierungen nicht geboten scheinen7.

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ee) Entsprechende Anwendung Besondere Bedeutung erlangt § 4 Abs. 3 TVG dadurch, dass die Rechtsprechung den hier geregelten Rechtsgedanken, nach dem die ranghöhere Regelung 1 Vgl. D. Ulber/Strauß, DB 2008, 1970 (1973). 2 BAG v. 18.03.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028; BAG v. 22.9.2010 – 4 AZR 117/09, n.v.; dagegen die Wirksamkeit von qualifizierten Diffenzierungsklauseln zu Recht ablehnend BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09. 3 Hartmann/Lobinger, NZA 2010, 421; Richardi, NZA 2010, 417; Bauer/Arnold, NZA 2005, 1209; Greiner/Suhre, NJW 2010, 131. 4 Greiner/Suhre, NJW 2010, 131 (133). 5 So Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 276. 6 Näher Jacobs in Jacobs/Krause/Oetker, § 7 Rz. 28; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 845; ablehnend insb. Belling, Das Günstigkeitsprinzip im Arbeitsrecht, 1984, S. 102. 7 Dafür aber Richardi, Kollektivgewalt, S. 373; ebenfalls differenzierend – aber genau umgekehrt – Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 276.

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Teil 9 Rz. 156

Wirkung der Tarifnormen

nur Mindestarbeitsbedingungen garantieren soll und eine arbeitnehmergünstigere Abweichung grundsätzlich zulässig ist, verallgemeinert und etwa auf das Verhältnis von Betriebsvereinbarung und Arbeitsvertrag erstreckt1. Insofern lässt sich § 4 Abs. 3 TVG als exemplarische Regelung eines umfassenderen Kollisionsprinzips deuten, nach dem ranghöhere Regelungen auf dem Gebiet des Arbeitsrechts regelmäßig nur einseitig zwingendes Recht darstellen sollen2. 156

In einem Spannungsverhältnis dazu steht es, wenn nach einer verbreiteten Ansicht in der Literatur der Anwendungsbereich des § 4 Abs. 3 TVG per se auf das Verhältnis von TV und Arbeitsvertrag verengt wird3. Richtig scheint, § 4 Abs. 3 TVG einen auch seinem Wortlaut entsprechenden umfassenden Anwendungsbereich zu geben. Der prinzipielle Vorrang tarifvertraglicher Normen vor Betriebsvereinbarungen ergibt sich dann erst aus §§ 77 Abs. 3, 87 Abs. 1 Einls. BetrVG, die demnach eine speziellere und mithin vorrangige Sonderregelung zu § 4 Abs. 3 TVG treffen (s. Rz. 222)4.

c) Regelungszweck, Auslegungsgrundsätze aa) Mindestarbeitsbedingungen, Entfaltung der individuellen Privatautonomie 157

Grundlage des Günstigkeitsprinzips ist die Erwägung, der individuellen Privatautonomie im Arbeitsverhältnis Raum zu geben, sofern ein ihrer Entfaltung entgegenstehendes Schutzbedürfnis des Arbeitnehmers nicht ersichtlich ist. Würde der TV Höchstarbeitsbedingungen setzen, läge darin eine nicht begründbare Bevormundung der Arbeitsvertragsparteien. Einem legitimen Schutzbedürfnis wird nur Rechnung getragen, wenn ausschließlich Mindestbedingungen definiert sind5.

158

In diesem Spannungsverhältnis von individueller und kollektivierter Privatautonomie kommt dem Günstigkeitsprinzip die Aufgabe eines verfassungsrechtlich gebotenen6 Ausgleichs zu. Die Details der Ausgestaltung, also z.B. die Frage, wie das Verhältnis des TVes zum Einzelarbeitsvertrag oder zu ande1 Vgl BAG v. 16.9.1986 – GS 1/82, NZA 1987, 168; BAG v. 7.11.1989 – GS 3/85, NZA 1990, 816; Richardi, § 77 BetrVG Rz. 141 ff.; Staudinger/Richardi, Vorbemerkungen zu §§ 611 BGB ff Rz. 1131 m.w.N. 2 Vgl. grundlegend BAG GS v. 16.9.1986 – GS 1/82, NZA 1987, 168. 3 So etwa Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 609, 613; Fitting, § 77 BetrVG Rz. 86 m.w.N.; a.A. Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 480 ff. m.w.N.; im älteren Schrifttum etwa Dietz, RdA 1949, 160 (162, 164 f.). 4 Zutr. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 418 ff.; Bayreuther, Tarifautonomie, S. 631 ff. 5 Zutr. Jacobs in Jacobs/Krause/Oetker, § 7 Rz. 15. 6 Zutr. BAG v. 15.12.1960 – 5 AZR 374/58, BB 1961, 251; BAG v. 15.12.1960 – 5 AZR 417/58, AP Nr. 3 zu § 4 TVG Angleichungsrecht; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 393 ff.; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 475; Belling, Günstigkeitsprinzip, S. 64 f.; a.A. BVerwG v. 13.3.1964 – VII C 87.60, NJW 1964, 1537; Koberski/Clasen/Menzel, § 4 TVG Rz. 107a; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 343 f., 844; Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 263; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 585; Zeuner, DB 1965, 630 (632); Nikisch, DB 1963, 1254 (1255).

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Rz. 160 Teil 9

ren rangniederen Regelungsinstrumenten ausgestattet wird, sind freilich einfachrechtlich gestaltbar. Eine Gewährleistung etwa des Sachgruppenvergleichs in seiner aktuell praktizierten Form durch Art. 9 Abs. 3 GG ist nicht ersichtlich1. Ein vollständiger Verzicht auf das Günstigkeitsprinzip wäre dagegen ein evident unverhältnismäßiger Eingriff des Gesetzgebers in die Privatautonomie (Art. 12 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG), indem die Selbstbestimmung der Arbeitsvertragsparteien auch dort ausgeschlossen würde, wo kein legitimes Ziel ersichtlich ist2. Das Bestehen einer Tarifbindung stellt mit anderen Worten keinerlei Grund dar, dem Arbeitgeber die Gewährung besserer Bedingungen und spiegelbildlich dem Arbeitnehmer die Durchsetzung besserer individueller Marktchancen zu verwehren. Angesichts der dogmatischen Verwurzelung im Schutz der Privatautonomie ist der Rückgriff auf dogmatisch unabgesicherte Begründungsansätze wie eine Begrenzung der Kartellwirkung3 oder ein „Leistungsprinzip“4, wonach § 4 Abs. 3 TVG die Möglichkeit zusätzlicher Inzentivierungen im Arbeitsverhältnis eröffnen soll, nicht erforderlich. Ebenso wie das Günstigkeitsprinzip faktisch die Kartellwirkung des TVes begrenzt, stärkt es faktisch auch die Möglichkeit, individuelle Leistungsanreize zur Honorierung besonderer Leistungen zu regeln. Darin liegt sicherlich ein Regelungsmotiv des Gesetzgebers, jedoch keine dogmatische Grundlage für § 4 Abs. 3 TVG, aus der sich rechtliche Argumente gewinnen ließen5.

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bb) Grundproblem: individuelle Privatautonomie im Arbeitsverhältnis Die Tatsache, dass das Anliegen des Günstigkeitsprinzips demnach die Realisierung der individuellen Privatautonomie im Arbeitsverhältnis ist, schlägt eine Brücke zu der dogmatischen Grundfrage, inwieweit die individuelle Privatautonomie im Arbeitsverhältnis überhaupt verwirklicht oder eher Fiktion ist: Geht man davon aus, dass „echte“ Privatautonomie auch im individuellen Rechtsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer praktiziert werden kann, spricht dies a priori für eine weite Auslegung des Günstigkeitsprinzips zugunsten der einzelvertraglichen Regelung, verneint man diese These, spricht dies für eine enge Auslegung des Günstigkeitsprinzips mit einem starken Akzent auf der Effektuierung der Tarifwirkungen auch im Verhältnis zum Einzelarbeitsvertrag.

1 Zutr. BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 393; Jacobs in Jacobs/Krause/Oetker, § 7 Rz. 16; Thüsing, GS Heinze, S. 901 (908 ff.). 2 Vgl. Dieterich/Hanau/Henssler u.a., RdA 2004, 65 (69); Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 393 ff.; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 478; Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 256, 265 (aber widersprüchlich Rz. 263); Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 586. 3 Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 479; dagegen Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 255. 4 So noch Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts Bd. 2/1, S. 572; Nikisch, Arbeitsrecht Bd. 2, S. 421. 5 Zutr. Jacobs in Jacobs/Krause/Oetker, § 7 Rz. 17 (bloßer „Rechtsreflex“).

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Teil 9 Rz. 161

Wirkung der Tarifnormen

161

Diese grundlegende Systemfrage des Arbeitsrechts ist nach wie vor stark umstritten1. Zutreffender überwiegender Ansicht entspricht, dass die individuelle Privatautonomie im Arbeitsverhältnis regelmäßig nur unvollkommen realisiert ist2. Diese Position einer strukturellen Ungleichheit im Arbeitsverhältnis hat auch Anerkennung durch das BVerfG gefunden: Ein Schutz durch die Privatautonomie alleine sei nur dann in hinreichender Weise verwirklicht, wenn freie Selbstbestimmung der Vertragsparteien ersichtlich sei. Ein näherungsweises Verhandlungsgleichgewicht zwischen den Vertragsparteien sei Funktionsvoraussetzung für eine autonom funktionierende Privatautonomie im Sinne eines „freien Spiels der Kräfte“. Außerhalb paritätischer Verhandlungsverhältnisse müsse regulierend durch das staatliche Recht eingegriffen werden. Ausdrücklich weist das BVerfG darauf hin, dass beim Abschluss eines Arbeitsvertrages regelmäßig von einem kompensationsbedürftigen Machtungleichgewicht auszugehen sei3. Insofern bezieht die durch den TV bewirkte Eingriffswirkung in Rechte des Arbeitgebers ihre Legitimation gerade daraus, dass die Kollektivierung der Arbeitnehmerinteressen auf eine Kompensation der strukturellen Ungleichgewichte im Einzelarbeitsverhältnis abzielt4.

162

Freilich ist darauf hinzuweisen, dass das Ausmaß des Machtungleichgewichts im Arbeitsverhältnis entscheidend von den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen abhängt: Bei einem Unterangebot an Arbeitskräften – das insbesondere mit Blick auf die demographische Entwicklung zunehmend erkennbar wird – scheint die These von der strukturellen Unterlegenheit des Arbeitnehmers fraglich zu werden. Insofern könnte sich das Machtungleichgewicht künftig lediglich im Direktionsrecht des Arbeitgebers oder der einseitigen Vorformulierung von Vertragsbedingungen niederschlagen; dieser verbleibenden Disparität wird aber durch die Kontrollmechanismen der §§ 106 Satz 1 GewO, 305 ff. BGB zielgenau und angemessen Rechnung getragen5. Außerhalb dieser Materien könnten nachhaltig geänderte wirtschaftliche und demographische Rahmenbedingungen es notwendig machen, das Verhältnis von Arbeits- und Tarifvertrag, von Individual- und Kollektivautonomie, neu auszutarieren6. Allerdings wird wohl niemals die Situation eintreten, dass in sämtlichen Branchen 1 Für eine stärkere Betonung der Individualfreiheit insb. Picker, Tarifautonomie, S. 39 ff.; Picker, ZfA 1998, 573 (673 ff.). 2 Vgl. zum Arbeitsvertragsrecht die grundlegende empirische Untersuchung bei Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung, S. 51 ff.; weiterhin Reinecke, NZA-Beil. 2000, 23 (25 ff.); Gamillscheg, RdA 2005, 79 (81). 3 BVerfG v. 28.1.1992 – 1 BvR 1025/82, 1 BvL 16/83, 1 BvL 10/91, NZA 1992, 270. 4 Vgl. BVerfG v. 26.6.1991 – 1 BvR 779/85, NZA 1991, 809; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 3 ff. m. zahlr. Nachw.; Bepler, FS ARGE Arbeitsrecht im DAV, S. 791 (807 f.); Picker, GS Knobbe-Keuk, S. 879 (883 f., 949); sehr plastisch auch Löwisch, ZfA 1970, 295 (308): Nur die Zusammenfassung der einzelnen Arbeitnehmer in einer Koalition mache aus der „Scheinfreiheit des Arbeitsvertrages die Tarifvertragsfreiheit, in der das Gegengewichtsprinzip wirken kann“; ähnlich Bayreuther, Tarifautonomie, S. 55 ff., 157 (Schutzgut der Koalitionsfreiheit sei – allein – die Privatautonomie der Koalierten; sie diene dem Ausgleich des „Funktionsdefizits des Arbeitsvertrages“); Rieble, ZfA 2000, 5 (17) m.w.N. 5 Vgl. etwa BAG v. 7.6.2006 – 4 AZR 316/05, NZA 2007, 343. 6 Grundlegend zu diesem Spannungsverhältnis bereits Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille bei der Gestaltung des Arbeitsverhältnisses, 1967.

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Rz. 165 Teil 9

und Berufen Arbeitskräftemangel herrscht, so dass vieles dafür spricht, die Gewichtung von Kollektiv- und Individualautonomie einzelfallbezogen unter Berücksichtigung der arbeitsmarktpolitischen Rahmenbedingungen des konkreten Arbeitsverhältnisses zu justieren. Bei zutreffender Interpretation des TVes besteht kein grundlegender Konflikt zwischen Einzelarbeitsvertrag und TV. Der TV ist das Mittel, die Privatautonomie des einzelnen Arbeitnehmers, sofern diese im Verhältnis zum Arbeitgeber nur unvollkommen ausgeprägt ist, durch Kollektivierung zu echter Entfaltung zu bringen. Bei dieser Sichtweise1 ergeben sich freilich auch Grenzen der tarifvertraglichen Regelungsmacht: So ist eine Regelung wie eine Differenzierungsklausel, die den Arbeitnehmer in der Entfaltung seiner individuellen Privatautonomie gezielt hindert, der Wirkungsintention des TVes genau entgegengesetzt2. Das Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG ergibt sich insofern bereits aus der Rechtsnatur des TVes, denn dieser dient der Entfaltung individueller Privatautonomie durch Kollektivierung, nicht dagegen ihrer Hinderung.

163

Freilich geht dieser Wirkungszusammenhang zwischen Individualvertrag und TV nicht so weit, dass man daraus auf eine Gleichrangigkeit beider Gestaltungsinstrumente schließen könnte3. Sofern ein Überangebot an Arbeitskräften zu konstatieren ist, schafft die Kollektivierung der Verhandlungsmacht nach wie vor erst die Voraussetzungen dafür, dass im übertariflichen Bereich echte Individualabreden getroffen werden können. Um dies sicherzustellen, ist die einseitig zwingende Wirkung des TVes (§ 4 Abs. 1 TVG) auch weiterhin unerlässlich. Ein bei derartigen Arbeitsmarktsituationen bestehendes individuelles Verhandlungsungleichgewicht muss effektiv ausgeglichen werden. Das Zusammenspiel von § 4 Abs. 1 und 3 TVG stellt sich damit als eine insgesamt verhältnismäßige Ausgestaltung des TVrechts dar, mit der der Gesetzgeber das Verhältnis von individueller und kollektivierter Privatautonomie in ein angemessenes, zweckgerechtes Verhältnis gesetzt hat und zugleich hinreichende Flexibilität belässt, unterschiedlichen und sich wandelnden Rahmenbedingungen durch „dynamische“ Interpretation des Günstigkeitsprinzips angemessen Rechnung zu tragen.

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d) Durchführung des Günstigkeitsvergleichs Ein praktisches Kernproblem des Günstigkeitsprinzips ist die beim Günstigkeitsvergleich anzuwendende Perspektive. Die Ermittlung, ob eine arbeitsvertragliche oder eine tarifvertragliche Regelung günstiger ist, kann im Einzelfall erhebliche Schwierigkeiten aufwerfen. In mehrfacher Hinsicht ergeben sich hier methodische Fragen: Welche Regelungen sind in einen Vergleich einzubeziehen? Auf wessen Perspektive ist abzustellen – die individuelle Sichtweise des betroffenen Arbeitnehmers, eine objektive Sichtweise oder eine kollektive 1 Wie hier etwa ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 62; Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 258; a.A. insb. Belling, Günstigkeitsprinzip, S. 60 ff. 2 Näher Greiner, Rechtsfragen, S. 374. 3 In diese Richtung aber Rieble, ZfA 2004, 1 (40 f.).

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Teil 9 Rz. 166

Wirkung der Tarifnormen

Sichtweise der Gesamtbelegschaft? Und welche Interessen sind schließlich in die Günstigkeitsbetrachtung einzubeziehen – nur die unmittelbar in den vertraglichen Regelungen erfassten Arbeitsbedingungen oder auch das ganz elementare Interesse des Arbeitnehmers, nicht arbeitslos zu werden?

aa) Individueller Günstigkeitsvergleich 166

Anknüpfend an den überwiegenden Meinungsstand in der Weimarer Republik entspricht es nach wie vor allgemeiner Ansicht, dass – bei Individualnormen (s. Teil 4 Rz. 9, 11 ff.) – eine individuelle, nicht hingegen eine kollektive Günstigkeitsbetrachtung anzustellen ist1: Eine günstige Individualposition kann nicht mit Blick auf eine kollektive Besserstellung der Belegschaft entzogen werden2. Es kommt somit stets darauf an, welche Regelung im konkret betroffenen Arbeitsverhältnis günstigere Wirkungen zeitigt. Dabei ist jedoch nicht etwa auf die subjektive Perspektive, den subjektiven Willen, des betroffenen Arbeitnehmers3 abzustellen, sondern die objektive Sichtweise eines vernünftig abwägenden Arbeitnehmers zu Grunde zu legen4. Die subjektive Sichtweise des Arbeitnehmers dürfte allenfalls als Indiz zu berücksichtigen sein5. Maßgeblich ist, welche Regelung ein vernünftig abwägender „Normal-Arbeitnehmer“ für günstiger erachten würde. In die objektive Betrachtung einzubeziehen sind die jeweilige Situation, in der die Günstigkeitsbetrachtung stattfindet, sowie die besonderen Verhältnisse der Branche und des Betriebes6. Entgegen einer von Teilen der Literatur vertretenen Auffassung7 ist der Wille der TV-Parteien in den Günstigkeitsvergleich nicht einzubeziehen, da auch er auf eine Subjektivierung des Günstigkeitsprinzips hinausliefe.

167

Soweit abweichend in Betracht gezogen wird, dass ein Wahlrecht des Arbeitnehmers stets die günstigste aller Regelungen sei8, verkennt dies die Manipulationsanfälligkeit eines derartigen Wahlrechts und die häufig gegebenen Funktionsdefizite des Arbeitsvertrages, die durch die zwingende Wirkung des TVes 1 Unstreitig, vgl. nur Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 446; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 523 m.w.N.; Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 256, 305; Belling, Günstigkeitsprinzip, S. 174 f.; Schmidt, Günstigkeitsprinzip, S. 116. 2 Zutr. Wiedemann, FS Wißmann, S. 185 (196 f.). 3 Dafür aber etwa Adomeit, NJW 1984, 26 (27); Gitter, FS Wlotzke, S. 297 (300 ff.); Krauss, Günstigkeitsprinzip, S. 110 ff.; Picker, Tarifautonomie, S. 61 ff.; Heinze, NZA 1991, 329 (332 ff.). 4 So etwa Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 553; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 686 ff.; Belling, Günstigkeitsprinzip, S. 175; Joost, ZfA 1984, 173 (178); Bengelsdorf, ZfA 1990, 563 (595); Tech, Günstigkeitsprinzip, S. 124 ff. 5 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 451 (wichtiges Indiz); Koberski/Clasen/Menzel, § 4 TVG Rz. 112e; Belling, Günstigkeitsprinzip, S. 176. 6 Vgl. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 451; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 553 f.; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 855 ff.; Wlotzke, Günstigkeitsprinzip, S. 78 f.; Belling, Günstigkeitsprinzip, S. 175. 7 Käppler NZA 1991, 745 (752 f.); zust. Stein, Tarifvertragsrecht, Rz. 603; Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 308; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 673 f. 8 Dafür insb. Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 565 ff.; Löwisch, BB 1991, 59 (62 f.); Hromadka, DB 1992, 1042 (1043); zu Recht dagegen Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 466; Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 301 ff.; Bengelsdorf, ZfA 1990, 563 (599 f.).

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Verhältnis zu anderen Regelungen

Rz. 169 Teil 9

gerade kompensiert werden sollen1. Auch steht die Position in deutlichem Kontrast zu § 4 Abs. 4 TVG2. Allenfalls kann ein Wahlrecht den Ausschlag geben, wenn andernfalls ein günstigkeitsneutrales Ergebnis zu konstatieren wäre, etwa im Fall einer Arbeitszeitverlängerung bei proportional erhöhtem Entgelt3. Abgesehen von diesem Sonderfall wird durch jede Subjektivierung das Günstigkeitsprinzip letztlich entwertet: Die Günstigkeitsbetrachtung kann nur objektiv durch den erkennenden Richter geschehen. Andernfalls würde sie in die eine oder in die andere Richtung dispositiv. Da ihr gerade ein Konflikt zwischen der individualvertraglichen Ebene und dem TV zugrunde liegt, kann die Entscheidungskompetenz weder den TV- noch den Arbeitsvertragsparteien anvertraut werden. Eine Bestimmung der Günstigkeit durch die TV-Parteien würde regelmäßig darauf hinauslaufen, dass diese ihre Regelung als günstiger bewerten, um ihr zur sachlich für richtig erachteten Durchsetzung zu verhelfen; die zwingende Wirkung würde erheblich verstärkt. Folgt man der Gegenauffassung, wird die zwingende Wirkung hingegen massiv abgeschwächt, indem der TV auf breiter Front für arbeitsvertragliche Abweichungen geöffnet wird. Ein Wahlrecht oder die Zugrundelegung des subjektiven Willens der betroffenen Arbeitnehmer (s. Rz. 166 f.) verkennt, dass die Ausübung eines Wahlrechts oder der subjektive Wille des Arbeitnehmers vielfach Beeinflussungen ausgesetzt ist. Gerade infolge des häufig bestehenden Machtungleichgewichts im Arbeitsverhältnis (s. aber Rz. 160 ff.) wäre die Abbedingung des TVes vielfach eine bloße Formalie. In der gelebten Wirklichkeit träte Fremdbestimmung an die Stelle der vermeintlichen Selbstbestimmung. Ein Wahlrecht des Arbeitnehmers hinsichtlich der Günstigkeit lässt sich auch aus der Entscheidung des Großen Senats zum Verhältnis tarifvertraglicher Altersgrenzen zu Befristungsabreden4 nicht ableiten5.

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Hält man – entgegen hier vertretener Auffassung (s. Rz. 150) – eine Günstigkeitsbetrachtung auch bei nicht individuell begünstigenden Kollektivnormen (Betriebs- und Betriebsverfassungsnormen i.S.v. § 3 Abs. 2 TVG) für vorstellbar, muss abweichend auf das kollektive Interesse der Belegschaft bzw. der von einer Betriebsnorm betroffenen Teile der Belegschaft6 abgestellt werden. Insofern erfolgt eine partielle Kollektivierung des Günstigkeitsvergleichs7.

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1 Vgl. auch Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 710 ff.; Buschmann, NZA 1990, 387 (388); Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 221. 2 Stein, Tarifvertragsrecht, Rz. 603. 3 Jacobs in Jacobs/Krause/Oetker, § 7 Rz. 41 m.w.N. 4 BAG v. 7.11.1989 – GS 3/85, NZA 1990, 816. 5 Zutr. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 492; Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 126; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 18 V 4c; a.A. Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 562 ff. 6 Zum Meinungsstreit, ob es auch Betriebsnormen für Teile der Belegschaft geben kann, vgl. Hanau, RdA 2008, 98 (102); Bürger, S. 40 ff., 75 f.; Greiner, Rechtsfragen, S. 393. 7 Vgl. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 447; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 670.

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Teil 9 Rz. 170

Wirkung der Tarifnormen

bb) Vergleich von konkreten Rechtspositionen 170

Hinsichtlich der einzubeziehenden Interessen entspricht es herrschender Meinung, dass es immer nur um einen Vergleich von konkreten vertraglich geregelten Rechtspositionen, nicht hingegen von individuellen Lebensumständen geht. Das nicht vertraglich geregelte Interesse des Arbeitnehmers, seinen Arbeitsplatz auch künftig zu behalten, kann somit nicht Gegenstand der Günstigkeitsbetrachtung werden1, wohl aber das Bestandsschutzinteresse, sofern es vertraglichen Niederschlag in einer Bestandsschutzregelung erfahren hat.

cc) Sachgruppenvergleich 171

Hinsichtlich der Frage, welche tariflichen Regelungen konkret zu vergleichen sind, hat sich als vorherrschende Meinung herausgebildet, dass ein Sachgruppenvergleich anzustellen ist2, nicht hingegen ein Einzelvergleich einzelner vertraglicher Regelungen oder ein Gesamtvergleich3 des gesamten Vertragswerks: Methodisch ist zunächst zu ermitteln, welche vertraglichen Regelungen in einem Sachzusammenhang stehen. Diese bilden dann eine Sachgruppe. Entsprechende Sachgruppen in den zu vergleichenden Vertragswerken sind einander gegenüberzustellen. Welche Regelungen eine Sachgruppe bilden, stellt in der Praxis die wohl schwierigste Frage des Günstigkeitsvergleichs dar.

172

Zwischen den beiden denkbaren Extrempositionen eines Einzel- oder Gesamtvergleichs wird damit ein sinnvoller Mittelweg gewählt. Sachgruppenbildung und Bewertung der Günstigkeit eröffnen freilich erhebliche Wertungsspielräume für die Rechtsprechung. Gegen die damit entstehende Kontrollkompetenz der Gerichte hinsichtlich des Günstigkeitsmaßstabs spricht sich deutlich Zachert aus4. Eine andere Entscheidungsinstanz als der objektiv urteilende, neutrale Richter lässt sich jedoch im Konflikt zwischen TV und Individualvertrag nicht finden. Insbesondere die Tarif- oder Arbeitsvertragsparteien selbst können – als notwendig parteiische Akteure – den Konflikt zwischen Individual- und Kollektivautonomie sicherlich nicht besser lösen (s. auch Rz. 168). 1 BAG v. 7.11.1989 – GS 3/85, NZA 1990, 816; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 837 ff.; a.A. etwa Niebler/Schmiedl, BB 2001, 1631. 2 Vgl. BAG v. 8.10.1958 – 4 AZR 34/55, AP Nr. 1 zu Art. 7 Urlaubsgesetz Bayern; BAG v. 23.5.1984 – 4 AZR 129/82, NZA 1984, 255; BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 470 ff.; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 532; Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 310 ff.; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 30 ff.; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 852 ff. 3 Vgl. BAG v. 8.10.1958 – 4 AZR 34/55, AP Nr. 1 zu Art. 7 Urlaubsgesetz Bayern; BAG v. 23.5.1984 – 4 AZR 129/82, NZA 1984, 255; BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 467 ff.; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 530 f.; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 852 ff.; Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 310; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 36. Für einen Gesamtvergleich sprechen sich – mitunter im Interesse einer Ermöglichung betrieblicher Bündnisse für Arbeit – etwa aus: Krauss, Günstigkeitsprinzip, S. 85; Kort, ZfA 2000, 329 (364); vgl. weiterhin Schliemann, NZA 2003, 122 (124); auch – für eine Sonderkonstellation (Aufeinandertreffen von mitgliedschaftlicher Tarifbindung und divergentem Bezugnahmeziel) – Franzen, RdA 2008, 193 (197); ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 37; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 291; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 487. 4 Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 302.

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Verhältnis zu anderen Regelungen

Rz. 176 Teil 9

Der Rückgriff auf einen Sachgruppenvergleich ist trotz seiner Unschärfe die vorzugswürdige Lösung: Der Einzelvergleich1 würde dazu führen, dass eine punktuelle Betrachtung Platz griffe, so dass der Arbeitnehmer etwa in den Genuss einer im TV vorgesehenen kürzeren Arbeitszeit käme, jedoch Anspruch auf eine höhere Vergütung nach dem Einzelarbeitsvertrag hätte, die nach dem Arbeitsvertragsinhalt gerade eine höhere Arbeitszeit honorieren soll. Es ergäbe sich ein ironisierend so genanntes „Rosinenprinzip“:2 Der Arbeitnehmer würde sich gewissermaßen die günstigsten Regelungen aus beiden Vertragswerken „als Rosinen herauspicken“. Gegen einen Einzelvergleich spricht damit entscheidend der Parteiwille: Weder die Arbeitsvertragsparteien noch die TV-Parteien wollen eine derartige Idealregelung zu Gunsten des Arbeitnehmers3.

173

Ein Gesamtvergleich4 scheidet demgegenüber bereits deshalb aus, weil er praktisch angesichts der Regelungsfülle der zu vergleichenden Regelungswerke nicht durchführbar ist5. Die zu vergleichenden Vertragswerke enthalten regelmäßig höchst vielgestaltige Regelungen, so dass ein Gesamtvergleich, welcher TV in seiner Gesamtheit günstiger ist, schlechthin nicht möglich ist. Auch würde ein Gesamtvergleich dem Parteiwillen zuwiderlaufen6.

174

dd) Wirkungen des Sachgruppenvergleichs Wird zwischen zwei Regelungsfragen das Bestehen eines hinreichenden Regelungszusammenhangs verneint, so dass diese keine einheitliche Sachgruppe bilden, sind beide Regelungsfragen getrennt voneinander zu beurteilen. Es setzt sich jeweils die günstigere Regelung durch. Je restriktiver bei der Anerkennung von einheitlichen Sachgruppen verfahren wird, desto stärker ergibt sich eine Tendenz zum Einzelvergleich, durch die zugleich die zwingende Normwirkung (§ 4 Abs. 1 TVG) stärker abgesichert wird. Je großzügiger ein Sachgruppenzusammenhang bejaht wird, desto größer ist die Gefährdung für die zwingende Wirkung des TVes, da der TV dann umfassender zur Disposition gestellt wird.

175

In Anbetracht dessen ist bei der Bejahung des Sachzusammenhangs mit Blick auf das Regel-Ausnahme-Verhältnis von zwingender Wirkung und Günstigkeitsbetrachtung Zurückhaltung geboten7. Maßgeblich muss sein, ob die jewei-

176

1 Dafür Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 663; Linnenkohl/Rauschenberg/Reh, BB 1990, 628 (629). 2 S. nur ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 36; Jacobs in Jacobs/Krause/Oetker, § 7 Rz. 35. 3 Gegen den Einzelvergleich Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 470; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 853; Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 310. 4 Dafür Krauss, Günstigkeitsprinzip, S. 85; Kort, ZfA 2000, 364; Mäckler, FS Arbeitsgerichtsbarkeit Rheinland-Pfalz, 2000, S. 381 (389 ff.); vgl. weiterhin Schliemann, NZA 2003, 124; auch – für eine Sonderkonstellation (Aufeinandertreffen von mitgliedschaftlicher Tarifbindung und divergentem Bezugnahmeziel) – Franzen, RdA 2008, 193 (197); ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 37; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 291; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 487. 5 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 470 m.w.N. 6 Vgl. etwa Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 470; Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 310 m.w.N. 7 Etwa Jacobs in Jacobs/Krause/Oetker, § 7 Rz. 39 (strenge Anforderungen); Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 312.

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Teil 9 Rz. 177

Wirkung der Tarifnormen

ligen Regelungen nach dem Parteiwillen voneinander abhängen, miteinander stehen oder fallen sollen1. Dieser Regelungszusammenhang muss sich unmissverständlich und eindeutig aus dem Vertrag ergeben, damit ein Sachgruppenzusammenhang bejaht werden kann. Jedenfalls ein Sachzusammenhang ist ersichtlich zwischen dem vereinbarten Arbeitszeitvolumen und dem vereinbarten Arbeitsentgelt. Dies betrifft die synallagmatische Kernfrage des Arbeitsverhältnisses, das „do ut des“2. Wenn im Übrigen die Dauer des Urlaubs, die Länge der Wartezeit für den Urlaubsanspruch und die Höhe des Urlaubsgeldes als einheitliche Sachgruppe benannt werden3, ist dies nicht zweifelsfrei4. Zutreffend ist, dass die Vereinbarung einer Befristung des Arbeitsverhältnisses auf einen Zeitpunkt nach Bestehen einer tarifvertraglichen Altersgrenze oder der vollständig entfristete Abschluss eines Arbeitsverhältnisses sich im Vergleich zu der tariflichen Altersgrenze als günstiger erweist und damit gem. § 4 Abs. 3 TVG Geltung erlangt5. Konsequent müsste man vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung freilich auch ein beschäftigungspolitisches Mandat der Tarifvertragsparteien ablehnen (s. Rz. 181 ff.), da auch die Vereinbarung einer tarifvertraglichen Altersgrenze zweifellos von beschäftigungs- und arbeitsmarktpolitischen Erwägungen getragen ist6 und mit der Statuierung wöchentlicher Höchstarbeitszeiten somit durchaus vergleichbar scheint. 177

Hinsichtlich der Anerkennung eines Sachzusammenhangs ist ein objektiver Maßstab anzulegen; ein Wille der TV-Parteien zu einer einheitlichen Regelung kann allenfalls ein Auslegungskriterium sein7. Ebenso wenig aussagekräftig ist die Bewertung der Parteien des Arbeitsvertrages8.

ee) Zweifelsregelung 178

Angesichts der bestehenden Anwendungs- und Auslegungsprobleme bei der Durchführung eines Sachgruppenvergleichs ist das Bestehen einer Zweifelsregelung von hoher praktischer Bedeutung: Ergibt der Günstigkeitsvergleich nicht eindeutig die Günstigkeit der arbeitsvertraglichen Regelung einer Sachgruppe, handelt es sich etwa um eine ambivalente oder günstigkeitsneutrale Regelung, die freilich über eine inhaltsgleiche Wiederholung der Tarifnorm hinausgeht (zu diesem Fall o. Rz. 15), ergibt sich bereits aus dem systematischen Zusammenspiel von § 4 Abs. 1 und Abs. 3 TVG ein Vorrang der tarifvertraglichen Regelung. Ein Beispiel sind Regelungen zur Lage der Arbeitszeit, bei denen sich aus dargelegter objektiver Perspektive mitunter eine klare Günstig1 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 471 ff.; Robert, NZA 2004, 633 (635); Schliemann, NZA 2003, 122 (126). 2 Für weitergehende Nutzbarmachung des Synallagmas in der Günstigkeitsbetrachtung Schliemann, NZA 2003, 122 ff.; dagegen Deinert, AuR 2003, 173 ff. 3 So Wlotzke, Günstigkeitsprinzip, S. 85 f. 4 Zutr. Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 312. 5 BAG v. 7.11.1989 – GS 3/85, NZA 1990, 816; Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 326. 6 Vgl. nur ErfK/Müller-Glöge, § 14 TzBfG Rz. 56 m.w.N. 7 Entgegen Stein, Tarifvertragsrecht, Rz. 603 m.w.N. 8 Zutr. Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 312; a.A. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 471.

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Verhältnis zu anderen Regelungen

Rz. 180 Teil 9

keit nicht ermitteln lässt1. Im Zweifel muss zu Gunsten der zwingenden Wirkung des TVes entschieden werden, da dies die Grundregel ist, von der § 4 Abs. 3 TVG nur in Fällen einer belegbaren Günstigkeit eine Abweichung zulässt.

ff) Maßgeblicher Zeitpunkt der Günstigkeitsbetrachtung Der für die Günstigkeitsbetrachtung relevante Zeitpunkt ist grundsätzlich derjenige, in dem die beiden Regelungen erstmals konkurrierend nebeneinander bestehen, also der Zeitpunkt des Abschlusses der zeitlich nachgehenden Regelung2. Häufig ist dies der Zeitpunkt, zu dem die vom TV abweichende arbeitsvertragliche Regelung getroffen wurde. Im Sinne einer prognostischen Ex-ante-Entscheidung von diesem Zeitpunkt aus ist zu entscheiden, ob die arbeitnehmerungünstigen Abweichungen durch die arbeitnehmergünstigen Abweichungen derselben Sachgruppe mehr als eine Kompensation erfahren. Nicht erforderlich ist, dass die arbeitsvertragliche Regelung den Arbeitnehmer in jedem einzelnen Zeitpunkt im Zeitablauf besser stellt3. Dies legt es nahe, auch insofern den Gruppenzusammenhang eng dahingehend zu interpretieren, dass er nur hinsichtlich solcher Arbeitsbedingungen bestehen kann, die einer sicheren Prognose zugänglich sind. Insofern scheidet eine Kompensation einer sich sofort ergebenden arbeitnehmerungünstigen Abweichung durch eine erst nach geraumer Zeit in Zukunft eintretende arbeitnehmergünstige Abweichung regelmäßig aus. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn die Begünstigung in der Zukunft auf einer unsicheren Tatsachengrundlage beruht, so dass nicht klar ist, ob sie überhaupt eintreten wird. Mit Recht wird vertreten, dass die Günstigkeitsbetrachtung erneut anzustellen ist, wenn die zu vergleichenden Regelungen neu gefasst wurden4 oder eine tatsächliche Änderung eingetreten ist, die zur Anwendbarkeit anderer Tarifnormen führt5.

179

e) Grenzfragen des Günstigkeitsprinzips In den 1980er Jahren entstanden neue Diskussionen um das Günstigkeitsprinzip. Diese knüpften zum einen an die von den Gewerkschaften propagierte Tarifpolitik der Arbeitszeitverkürzung auf 35 Stunden an, zum anderen an wirtschaftliche Krisenphänomene und ihre Bewältigung. Beide Facetten lassen sich prägnant unter den Stichworten des „beschäftigungspolitischen Mandats“ der Tarifparteien sowie der „betrieblichen Bündnisse für Arbeit“ zusammenfassen. 1 Arbeitszeiten außerhalb der „üblichen“ sind regelmäßig schon ungünstiger, Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 465 entgegen Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 564. 2 BAG v. 20.7.1961 – 5 AZR 343/60, DB 1961, 1427; BAG v. 12.4.1972 – 4 AZR 211/71, DB 1972, 1242; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 475; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 558; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 856 f. 3 So aber Richardi, Kollektivgewalt, S. 381; wie hier Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 475. 4 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 475; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 561; Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 316; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 693. 5 Beispiele bei Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 561.

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Teil 9 Rz. 181

Wirkung der Tarifnormen

aa) Beschäftigungspolitisches Mandat der TV-Parteien 181

Die erste Problematik nimmt die Frage in den Blick, ob den TV-Parteien hinsichtlich des vereinbarten Wochenarbeitszeitvolumens und korrespondierend auch der Entgelthöhe die Kompetenz zusteht, Höchstarbeitsbedingungen zu setzen. Sieht also beispielsweise der TV eine wöchentliche Arbeitszeit von 38 Stunden vor und vereinbaren die Arbeitsvertragsparteien einzelvertraglich eine Wochenarbeitszeit von 40 Stunden und eine entsprechend oder gar überproportional erhöhte Vergütung, stellt sich die Frage, welche Regelung in der Gesamtheit für den Arbeitnehmer günstiger ist.

182

Vielfach wird es subjektiv aus Sicht des Arbeitnehmers günstiger sein, etwas mehr zu arbeiten und dafür ein höheres Arbeitsentgelt zu erhalten. Die subjektive Perspektive des Arbeitnehmers scheint insbesondere dann für diese Annahme zu sprechen, wenn er für das zugesagte Mehrarbeitsvolumen eine überproportional erhöhte Vergütung erhält. Stellt man im Falle einer nur proportionalen Entgelt- und Arbeitszeiterhöhung auf die generell zugrunde zu legende Sichtweise eines objektiven, vernünftig abwägenden „Normal-Arbeitnehmers“ ab (s. Rz. 166), ergibt sich kein klares Bild: Der eine Arbeitnehmer mag eine kürzere Arbeitszeit präferieren, der andere Arbeitnehmer ein höheres Arbeitsentgelt bei erhöhtem Arbeitszeitvolumen. Es scheint sich also um eine ambivalente Regelung zu halten.

183

Die Kontroverse um das „beschäftigungspolitische Mandat“ der Tarifparteien knüpft genau bei dieser Fragestellung an. Haben es die TV-Parteien in der Hand, verbindliche, durch den Arbeitsvertrag in keinem Fall zu erhöhende Arbeitszeitgrenzen zu setzen? Bejaht man diese Frage, gesteht man den Tarifparteien die Kompetenz zu, durch die Setzung von Höchstarbeitsbedingungen beschäftigungspolitische Ziele umzusetzen, insbesondere die Arbeitskräftenachfrage auf dem Arbeitsmarkt zu steuern, indem das vorhandene Arbeitszeitvolumen auf viele Schultern verteilt werden muss.

184

Nach einer Ansicht verfügen die Tarifparteien über keine derartigen arbeitsmarktpolitischen Kompetenzen. Vielmehr falle dies in die ausschließliche Kompetenz des parlamentarischen Gesetzgebers1. Ähnlich meint Richardi, die Frage der wöchentlichen Arbeitszeit könne durch die TV-Parteien nicht entgegen dem Willen der Arbeitsvertragsparteien geregelt werden2; sie sei Kern des rechtsgeschäftlichen Leistungsversprechens. Die Frage des Günstigkeitsvergleichs stelle sich daher gar nicht. Dieser Position lässt sich entgegenhalten3, dass Art. 9 Abs. 3 GG explizit die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen der Regelungskompetenz der Koalitionen anvertraut. Gerade mit Blick auf das heute vorherrschende weite Schutzbereichsverständnis zu Art. 9 Abs. 3 GG (s. Teil 1 Rz. 6 f.) lässt sich eine Ausklammerung arbeitsmarktpolitischer Erwä1 So etwa Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1133; Zöllner, DB 1989, 2121 ff.; Bengelsdorf, ZfA 1990, 563 ff.; Buchner, DB 1990, 1715 (1718 f.); Joost, ZfA 1984, 173 (181 f.); Loritz, ZfA 1990, 133 (154 ff.). 2 Richardi, DB 1990, 1613 (1615 f.); Richardi, ZfA 1990, 211 (232). 3 Zu Recht anders auch Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 480 f.; Hanau/Thüsing, ZTR 2001, 1 (6); Zachert, DB 2001, 1198 (1199).

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Verhältnis zu anderen Regelungen

Rz. 187 Teil 9

gungen schwerlich begründen. Insbesondere die Benennung der Wirtschaftsbedingungen deutet auf eine über Regelungen für das einzelne Arbeitsverhältnis hinausgehende Kompetenz der TV-Parteien hin. Insofern ist der TV nicht nur auf individuelle Positionen im einzelnen Arbeitsverhältnis gerichtet und somit „privatnützig“, sondern kann auch gesamtgesellschaftliche Belange in den Blick nehmen und sich damit als „sozialnützig“ erweisen1. Die Sicherung der Beschäftigung ist somit ebenso wie die Förderung des Arbeitsmarktes unzweifelhaft ein legitimes Betätigungsfeld der TV-Parteien. Einem A-priori-Ausschluss der Beschäftigungspolitik hat daher auch die Rechtsprechung des BAG eine Absage erteilt2. So sehr derartige Belange von den Kompetenzen der TV-Parteien prinzipiell umfasst sind, so deutlich wird jedoch gerade in dem genannten Beispielsfall der Konflikt mit Grundrechtspositionen der Arbeitsvertragsparteien. Mit der prinzipiellen Anerkennung arbeitsmarktpolitischer Kompetenzen ist dieser Konflikt im Binnenverhältnis von Koalition und Koalitionsmitglied noch nicht beantwortet. Letztlich geht es um das grundlegende Verhältnis zwischen kollektiv und individuell ausgeübter Privatautonomie (s. schon Rz. 160 ff.).

185

Insofern ist der dogmatische Ausgangspunkt des § 4 Abs. 1 TVG in den Blick zu nehmen, wonach der TV lediglich einseitig zwingende Mindestarbeitsbedingungen, ein Mindestschutzniveau zu Gunsten des Arbeitnehmers, schaffen möchte (s. Rz. 10, 13). Er will hingegen nicht in bevormundender und leistungsfeindlicher Weise den Arbeitnehmer an der Wahrnehmung gesteigerter individueller Marktchancen hindern. Mit diesem dogmatischen Ausgangspunkt der zwingenden Wirkung des TVes und des Günstigkeitsprinzips wäre es kaum vereinbar, dem Arbeitnehmer, der infolge besonderer Kompetenzen für seinen Arbeitgeber von besonders hohem Wert ist und der deswegen das Angebot einer Arbeitszeiterhöhung bei überproportional gesteigertem Arbeitsentgelt erhält, diese Möglichkeit zu versagen. Letztlich würden die individuellen Arbeitnehmerinteressen zu Gunsten – an sich legitimer – sozialpolitischer Anliegen seiner Gewerkschaft geopfert. Die Kompetenz, Höchstarbeitszeiten zu setzen, beinhaltet damit eine verfassungswidrige Beeinträchtigung der individuellen Vertragsfreiheit (Art. 12 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG)3 beider Vertragsparteien, deren Entfaltung der TV gerade dient.

186

Die vorrangige und die verfassungsrechtliche Stellung der Gewerkschaften erst legitimierende Aufgabe, die Ungleichgewichte im Arbeitsverhältnis zu Gunsten des Arbeitnehmers auszugleichen, würde hinter die genannten beschäftigungspolitischen Zielsetzungen zurücktreten. Letztlich wäre auch der Gewerkschaft damit nicht gedient, da die Handlungsempfehlung an den betreffenden Arbeitnehmer lauten müsste, die Tarifbindung durch Gewerkschaftsaustritt abzustreifen. Insofern scheint viel dafür zu sprechen, es bei dem dargestellten Grundprinzip zu belassen, dass Tarifnormen keine Höchstarbeits-

187

1 Zutr. Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 319; Kempen, FS Hanau, S. 529 ff. 2 BAG v. 28.6.2001 – 6 AZR 114/00, NZA 2002, 331. 3 Vgl. die ausf. verfassungsrechtlichen Darlegungen bei Bengelsdorf, ZfA 1990, 563 (573 ff.); Buchner, DB 1990, 1715 ff.; Hromadka, DB 1992, 1042 (1045); Zöllner, DB 1989, 2121 (2122); Schlüter, FS Stree und Wessels, S. 1061 (1082 f.).

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Teil 9 Rz. 188

Wirkung der Tarifnormen

bedingungen setzen; § 4 Abs. 3 TVG tritt als „gesetzliche Öffnungsklausel“1 neben die tarifliche Höchstarbeitszeitregelung und ermöglicht eine einzelvertragliche Arbeitszeitverlängerung, soweit diese objektiv und eindeutig arbeitnehmergünstiger ist. 188

Erweist sich demnach die einzelvertragliche Arbeitszeitverlängerung aufgrund einer überproportionalen Entgeltsteigerung als insgesamt arbeitnehmergünstig, ist sie geeignet, die tarifvertragliche Arbeitszeit- und Entgeltregelung nach § 4 Abs. 3 TVG zu verdrängen2. Bei einer ambivalenten Günstigkeit, also in Fällen, in denen der Arbeitszeiterhöhung keine überproportionale, sondern nur eine proportionale Entgeltsteigerung gegenübersteht, kann es hingegen bei dem Grundprinzip (s. Rz. 178) bleiben, dass bei einer nicht klar ersichtlichen Günstigkeit der einzelvertraglichen Regelung im Zweifel die tarifliche Regelung Vorrang behält.

bb) Betriebliche Bündnisse für Arbeit (1) Grundkonstellation und rechtliche Bewertung 189

Grundgedanke der in der Debatte um betriebliche Bündnisse für Arbeit angestrebten Aufweichung der zwingenden Wirkung von Tarifnormen ist, dass tarifvertragliche Vorgaben vielfach den betrieblichen Bedürfnissen vor Ort nicht hinreichend gerecht würden und sich in Unternehmenskrisen beschäftigungsfeindlich auswirkten3. Dahinter steht die Sorge, dass die TV-Parteien auch in Krisensituationen eines Unternehmens abstrakte Ideale wie den FlächenTV verteidigen und die Interessen der konkret betroffenen Belegschaft an der Beschäftigungssicherung demgegenüber in den Hintergrund treten lassen. Notwendige Zugeständnisse bei Arbeitszeit und Arbeitsentgelt könnten auf diese Weise unterbleiben und mit Rücksicht auf abstrakte organisationspolitische Erwägungen der Verlust von Arbeitsplätzen hingenommen werden. In der Unternehmenskrise müsse daher den Betriebsräten, gegebenenfalls in Verbindung mit einer Urabstimmung in der Belegschaft, bzw. den Arbeitsvertragsparteien die Kompetenz eingeräumt werden, mit der Arbeitgeberseite beschäftigungssichernde Zugeständnisse bei den Arbeitsbedingungen zu vereinbaren und zu diesem Zweck – in Verbindung mit Beschäftigungsgarantien – arbeitnehmerungünstigere Beschäftigungsbedingungen vorzusehen als im TV statuiert. Teilweise wird die Zulassung derartiger Tarifunterbietungen unter Hinweis auf Art. 12 Abs. 1 GG sogar für verfassungsrechtlich geboten gehalten4. Unter dem Stichwort der „betrieblichen Bündnisse für Arbeit“ wird somit die Möglichkeit eines Günstigkeitsvergleichs (s. Rz. 165 ff.) zwischen den Regelungskomplexen Arbeitszeitvolumen und Arbeitsentgelt einerseits und Beschäftigungssicherung andererseits diskutiert. Derartige Vereinbarungen finden sich vielfach in SanierungsTVen. Insofern sind sie unproblematisch zu vereinbaren, da der spe1 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 491. 2 In diese Richtung insb. Heinze, NZA 1991, 329 (395); Schmidt, Günstigkeitsprinzip, S. 138. 3 Rieble, ZfA 2004, 1 (31). 4 So etwa Schliemann, NZA 2003, 122 (128); Hromadka, DB 2003, 42 (43).

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Verhältnis zu anderen Regelungen

Rz. 192 Teil 9

zielle SanierungsTV einem von derselben Gewerkschaft abgeschlossenen VorläuferTV im Wege der Zeitkollisionsregel oder Spezialität vorgeht (s. Rz. 74 ff.). Unter dem genannten Stichwort der betrieblichen Bündnisse für Arbeit wird hingegen diskutiert, ob derartige Vereinbarungen auch ohne Beteiligung der tarifschließenden Gewerkschaft auf arbeitsvertraglicher oder betrieblicher Ebene geschlossen werden können. Zutreffend weist das BAG darauf hin, dass die praktische Notwendigkeit dieses Weges dadurch reduziert wird, dass die TV-Parteien idealtypisch einem Konkurrenz- und damit Rechtfertigungsdruck ausgesetzt sind1: Berücksichtigen sie die Günstigkeitsvorstellungen ihrer Mitglieder nicht ausreichend, etwa durch Versagung eines beschäftigungssichernden SanierungsTVes, laufen sie Gefahr, ihre Mitglieder an eine konkurrierende Gewerkschaft zu verlieren2. Voraussetzung für dieses Argument ist freilich das Vorhandensein mehrerer konkurrierender Koalitionen. Dieser Zustand ist bei weitem noch nicht flächendeckend realisiert. Durch die Aufgabe des Prinzips der Tarifeinheit im Betrieb (s. Rz. 116 ff.)3 ist eine weitere Entwicklung in Richtung auf ein wettbewerbs- und konkurrenzorientiertes TV-System zu erwarten.

190

De lege lata scheitert ein in Form einer Betriebsvereinbarung vereinbartes „betriebliches Bündnis“ an § 77 Abs. 3 BetrVG (s. Rz. 221 ff.). Auch de lege ferenda sehen sich derartige Überlegungen dem Einwand ausgesetzt, dass durch die entstehende Regelungskonkurrenz zwischen tarifvertraglicher und betriebsverfassungsrechtlicher Ebene die verfassungsrechtlich durch Art. 9 Abs. 3 GG institutionell gesicherte Funktionsfähigkeit des TV-Systems4 in Gefahr geraten könnte. Zwar ist bei der Ausgestaltung der Tarifautonomie ein erheblicher Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers anzuerkennen. Die entstehende Konkurrenzsituation zwischen Gewerkschaften und Betriebsräten als „Regelungsanbietern“ könnte jedoch zu einer verfassungsrechtlich problematischen Marginalisierung des TV-Systems führen5. Vergleichbare Entwicklungen lassen sich etwa im spanischen Tarifvertragsrecht beobachten.

191

Soweit § 77 Abs. 3 BetrVG nicht eingreift – also bei Einführung eines „betrieblichen Bündnisses“ auf einzelvertraglicher Ebene, ggf. im Zusammenspiel mit einer Regelungsabrede6 zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat, muss die Wirksamkeit angesichts der einseitig zwingenden Wirkung der Tarifnormen (§ 4 Abs. 1 TVG) in Form einer Günstigkeitsbetrachtung nach § 4 Abs. 3 TVG diskutiert werden. Mit Recht verneint das BAG in der grundlegenden Burda-Entscheidung7 die Möglichkeit eines Sachgruppenvergleichs zwischen den genannten Rege-

192

1 2 3 4 5 6 7

BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887. Vgl. Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 268. BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068. Zu diesem Topos Wank, FS SOKA Bau 2007, S. 141. Dazu auch Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 262. Zum Begriff ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 127. BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887; krit. dazu u.a. Buchner, NZA 1999, 897 (901 f.); Picker, NZA 2002, 761 (767); zust. u.a. Franzen, RdA 2001, 1 (2 f.); Richardi, DB 2000, 42 (44, 47); vgl. weiterhin auch ArbG Marburg v. 7.8.1996 – 1 Bv 6/96, NZA 1996, 1331; ArbG Frankfurt v. 28.10.1996 – 1 Ca 6331/96, NZA 1996, 1340.

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Teil 9 Rz. 193

Wirkung der Tarifnormen

lungskomplexen. Zwischen Beschäftigungssicherung einerseits und Arbeitszeit/ Arbeitsentgelt andererseits besteht kein hinreichender Sachzusammenhang. Die Regelungskomplexe Beschäftigungssicherung und Arbeitszeit/Arbeitsentgelt sind jeweils für sich genommen einer Günstigkeitsbetrachtung zuzuführen (s. Rz. 171 ff.). Käme man zu einer entgegengesetzten Betrachtungsweise, würde die zwingende Wirkung des TVes (§ 4 Abs. 1 TVG) auf weiter Front aufgeweicht: Der Arbeitgeber hätte es in der Hand, auf arbeitsvertraglicher Ebene die tariflichen Kernregelungen zum Synallagma durch Zugeständnisse an anderer Stelle auszuhebeln1. 193

Sofern von Teilen der Literatur2 eingewandt wird, dass das „Ob“ des Bestehens eines Arbeitsverhältnisses, also der Erhalt des Arbeitsplatzes, logische Grundlage aller Arbeitsbedingungen wie Arbeitszeit und Arbeitsentgelt ist, ist dies zwar zutreffend. Ein Günstigkeitsvergleich zwischen Beschäftigungsgarantie, Arbeitszeit und Arbeitsentgelt lässt sich damit jedoch nicht begründen, da die Beschäftigungsgarantie zwar den Bestandsschutz verbessert, der Arbeitsplatzverlust jedoch nicht die unmittelbar drohende Alternative darstellt, sondern vielmehr regelmäßig von anderen Fragen, insbesondere kündigungsrechtlicher Natur, abhängig ist.

(2) SanierungsTV, dreiseitige Standortvereinbarung 194

Mit der zwingenden Wirkung des TVes und den Grundsätzen des Günstigkeitsvergleichs ist ausschließlich vereinbar, den Arbeitgeber in der Unternehmenskrise auf den unbequemen, aber gangbaren Weg von Tarifverhandlungen über einen SanierungsTV zu verweisen. In der Praxis hat sich hier die Möglichkeit „dreiseitiger Standortvereinbarungen“ unter Beteiligung von Arbeitgeber, Gewerkschaft und Betriebsrat herausgebildet3. Dies ist eine sinnvolle Alternative, die die betriebsbezogene, sachnahe Kompetenz des Betriebsrats ebenso einbindet wie übergreifende Erwägungen auf Gewerkschaftsseite4. Dreiseitige Standortvereinbarungen sollten von der Rechtsprechung geschützt und gefördert werden5; unverständlich scheint, wenn in der jüngeren Rechtsprechung6 erhebliche neue formale Hürden für derartige wünschenswerte Abreden geschaffen werden, ohne dass dafür eine echte Regelungsnotwendigkeit ersichtlich ist.

1 Zutr. BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887; BAG v. 7.11.2002 – 2 AZR 742/00, NZA 2003, 1139; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 443 ff.; Kempen/Zachert/ Zachert, § 4 TVG Rz. 322; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 636 ff.; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 88 f.; a.A. insbesondere Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 574 ff. m.w.N. 2 Grundlegend Adomeit, NJW 1984, 26 f.; vgl. auch etwa Niebler/Schmiedl, BB 2001, 1631. 3 Dazu Thüsing, NZA 2008, 201. 4 Vgl. auch Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 546. 5 So noch die Tendenz in BAG v. 7.11.2000 – 1 AZR 175/00, NZA 2001, 727. 6 BAG v. 15.4.2008 – 1 AZR 86/07, NZA 2008, 1074; dazu Grau/Döring, NZA 2008, 1335; plastisch Thüsing NZA-Editorial 13/2011.

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Verhältnis zu anderen Regelungen

Rz. 198 Teil 9

(3) Arbeitszeitverlängerung im SanierungsTV Verneint man einen Sachzusammenhang zwischen Beschäftigungssicherung einerseits und Arbeitszeit/Arbeitsentgelt andererseits, ist es logisch zwingend, auch den umgekehrten Fall einer tarifvertraglichen Verlängerung der im Einzelarbeitsvertrag vereinbarten Arbeitszeit bei Zusage einer Beschäftigungssicherung, etwa in einem SanierungsTV, entsprechend zu beurteilen: Auch hier scheidet ein übergreifender Sachgruppenvergleich aus. Dogmatisch nicht begründbar ist es, wenn gerade die Rechtsprechung, die in der umgekehrten Konstellation die zwingende Wirkung des TVes zu Recht hochhält, insofern die Möglichkeit eines kollektiven Günstigkeitsvergleichs bejaht1.

195

Will der Arbeitgeber bei dieser Sachlage von einer arbeitsvertraglichen Zusage abrücken, bleibt ihm nur die Möglichkeit einer individualrechtlichen Änderungskündigung oder eines Änderungsvertrages; er kann freilich auch bei der ursprünglichen Arbeitsvertragsgestaltung bereits für derartige Konstellationen Sorge tragen, indem Änderungsvorbehalte in den Vertrag aufgenommen werden2. Auch kann durch geeignete Bezugnahmeklauseln auf den TV (s. Teil 10) und den Verzicht auf eine abweichende einzelvertragliche Ausgestaltung die Divergenz zwischen tarifvertraglicher Regelungssituation und Einzelarbeitsvertrag vermieden werden. Ist hingegen eine uneingeschränkte und vorbehaltlose einzelvertragliche Ausgestaltung von Arbeitszeit und Arbeitsentgelt erfolgt, kann diese durch eine ungünstigere tarifvertragliche Regelung in einem SanierungsTV auch in Kombination mit einer tarifvertraglichen Beschäftigungsgarantie nicht beseitigt werden.

196

2. Öffnungsklauseln Die in § 4 Abs. 3 TVG vorgesehenen Öffnungsklauseln erklären die davon erfassten Tarifnormen für vertragsdispositiv. Sie ermöglichen mithin die Unterschreitung des tarifvertraglichen Niveaus durch eine rangniedere Regelung. Für die praxisrelevante Abweichung durch Betriebsvereinbarung ist eine explizite Öffnung für die betriebsverfassungsrechtliche Ebene erforderlich (vgl. § 77 Abs. 3 BetrVG; s. Rz. 240). Die praktische Bedeutung einer allgemeinen und damit nur zu Gunsten der individualvertraglichen Ebene wirkenden Öffnungsklausel nach § 4 Abs. 3 TVG ist demgegenüber gering3.

197

Als Abweichung von der gesetzlich vorgesehenen einseitig zwingenden Wirkung der Tarifnormen werden Öffnungsklauseln regelmäßig ausdrücklich vereinbart. Jedoch ist nicht ersichtlich, weshalb eine nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen ermittelte, z.B. konkludente, Öffnung nicht in Betracht kommen sollte4. Eine durch Auslegung zu ermittelnde Öffnung kann sich ins-

198

1 BAG v. 25.10.2000 – 4 AZR 438/99, NZA 2001, 328; BAG v. 28.6.2001 – 6 AZR 114/00, NZA 2002, 331; Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 323; Zachert, AuR 1995, 1 (11 f.); Gotthardt, DB 2000, 1462. 2 Vgl. Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 70. 3 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 376; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 553. 4 Zutr. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 379; Koberski/Clasen/Menzel, § 4 TVG Rz. 96; strenger Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 421.

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Teil 9 Rz. 199

Wirkung der Tarifnormen

besondere aus der Verwendung von Soll- oder Kann-Vorschriften im TV ergeben. 199

Die Öffnungsklausel kann generell oder nur unter eingegrenzten Voraussetzungen Abweichungen zulassen. Eine Grenze liegt darin, dass die Tarifvertragsparteien ihre Regelungsmacht nicht vollständig oder auch nur im Kern auf rangniedere Ebenen delegieren dürfen1. Eine derart weite Ausgestaltung liefe auf eine Abbedingung des zwingenden gesetzlichen Günstigkeitsprinzips hinaus. Durch eine enge oder weite Ausgestaltung der Öffnungsklausel haben es die Tarifparteien gleichwohl gewissermaßen in der Hand, den Günstigkeitsvergleich partiell zu steuern2. Die Öffnungsklausel unterliegt wie andere Tarifnormen keiner Inhaltskontrolle (§ 310 Abs. 4 Satz 1 BGB), ist jedoch an den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) gebunden. Liegen sachliche Differenzierungsgründe vor, kann die Unterschreitung des tariflichen Niveaus für einzelne Arbeitnehmergruppen gerechtfertigt sein, etwa wenn in diesen Arbeitnehmergruppen ein statistisch nachweisbarer Überhang an Arbeitskräften besteht3.

200

Häufiger als eine echte, Abweichungen zulassende Öffnungsklausel ist die Öffnung für ergänzende einzelvertragliche Regelungen. Derartige Formulierungen haben letztlich nur deklaratorischen Charakter, da einzelvertragliche Regelungen zur Ergänzung einer Tarifnorm, also zur Regelung tarifvertraglich nicht geregelter Fragen, stets zulässig sind.

3. Anrechnungs-/Aufsaugungsprinzip a) Einführung 201

Wie bereits festgestellt, enthalten TV-Normen nur einseitig zwingende Arbeitsbedingungen. Der TV will lediglich Mindestarbeitsbedingungen, keine Höchstarbeitsbedingungen festlegen. Dieses Verständnis ist nach dem Gesagten bereits verfassungsrechtlich geboten (s. Rz. 158); auf diese Weise wird ein sachangemessener Ausgleich zwischen kollektivierter Privatautonomie (Tarifautonomie) und individueller Privatautonomie im Arbeitsverhältnis erzielt.

202

Diese Überlegungen müssen auch Leitlinie sein für die Behandlung der Anrechnung von Tariflohnerhöhungen auf arbeitsvertraglich gewährte außer- und übertarifliche Arbeitgeberleistungen. Zweifellos haben es die Arbeitsvertragsparteien in der Hand, durch eine angemessene Ausgestaltung des Arbeitsvertrages das Schicksal derartiger Zulagen zum Tariflohn zu regeln4. So kann der Arbeitgeber darauf hinwirken, dass ein Anrechnungsvorbehalt, ein Freiwilligkeits- oder Widerrufsvorbehalt in den Arbeitsvertrag Eingang findet5. Insbesondere kann der Arbeitsvertrag transparent vorsehen, dass künftige Erhöhungen des Tarifentgelts auf die übertariflich gewährte Zulage angerechnet werden. 1 2 3 4 5

Vgl. Wank, NJW 1996, 2273 (2280). Vgl. Bieback, ZfA 1979, 453 (477); Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 267. Zutr. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 377; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 412. Zutr. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 508. Zur Klauselgestaltung Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 70.

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Verhältnis zu anderen Regelungen

Rz. 204 Teil 9

Auch das BAG teilt den Ansatz, zunächst den Arbeitsvertragsinhalt auszuwerten: Ob eine Tariflohnerhöhung individualrechtlich auf eine übertarifliche Vergütung angerechnet werden könne, hänge von der zugrunde liegenden Vergütungsabrede ab. Haben die Arbeitsvertragsparteien dazu eine ausdrückliche Vereinbarung getroffen, gelte diese1. Problematisch ist die Rechtslage, wenn keine derartige Vereinbarung zum Schicksal einer übertariflichen Zulage im Falle künftiger Tariflohnerhöhungen vorhanden ist. In diesem Fall liegt der zutreffende Ansatz in einer Auslegung der übertariflichen Zulage2. Ergibt die Auslegung kein klares Bild, wäre es aus individualarbeitsrechtlicher Sicht einzig konsequent, den Arbeitgeber im Anwendungsbereich der §§ 305 ff. BGB angesichts seiner Möglichkeiten zur transparenten Vertragsgestaltung „im Zweifel“ an dem unbedingt abgegebenen Leistungsversprechen festzuhalten. Dies gebietet bereits die Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB. Doch auch bei der Gewährung eines übertariflichen Entgeltbestandteils im Wege einer echten Individualabrede ist nach dem objektivierten Empfängerhorizont des Arbeitnehmers, auf den es für die Auslegung ankommt (§§ 133, 157 BGB), nicht ersichtlich, dass das Angebot des Arbeitgebers unter einem stillschweigenden Anrechnungsvorbehalt stehen soll3. Die Rückbesinnung auf die vertragsrechtlichen Auslegungsgrundsätze sollte auch hier4 an die Stelle einer rein tarifrechtsfunktionalen Handhabung individualvertraglicher Abreden treten.

203

In deutlichem Kontrast zu dieser eigentlich klaren individualrechtlichen Situation steht, dass nach h.M. eine Anrechnung von Tariflohnerhöhungen auf unbenannte außertarifliche Zulagen möglich sein soll, wenn diese keinen eigenständigen Zweck verfolgen, sondern tarifliche Entgeltbestandteile lediglich erhöhen – auch wenn es an einer arbeitsvertraglichen Anrechnungsregelung fehlt. Es kommt also auf die Zweckidentität5 an; Oetker bezeichnet dies als „Einheitsprinzip“6. Aus Sicht des BAG ist „aus den Umständen zu ermitteln, ob eine Befugnis zur Anrechnung besteht“. Diese Auslegung ergebe, dass die Anrechnung „grundsätzlich möglich“ sein soll, sofern dem Arbeitnehmer nicht explizit ein selbständiger Entgeltbestandteil neben dem jeweiligen Tarifentgelt zugesagt worden ist7. Die Eigenständigkeit gegenüber der tariflichen

204

1 BAG v. 27.8.2008 – 5 AZR 821/07, AP Nr. 206 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie. 2 Allg. Ansicht, vgl. nur BAG v. 6.3.1958 – 2 AZR 457/55, AP Nr. 6 zu § 4 TVG Übertarifliche Lohn- und Tariflohnerhöhung; Oetker, RdA 1991, 16 (21 ff.); Richardi, NZA 1992, 961 (964). 3 Großzügiger ErfK/Preis, § 611 BGB Rz. 420, der die Auslegung des BAG in dieser Konstellation für vertretbar hält. 4 Vgl. die an eine ähnliche Begründung anknüpfende Rechtsprechungsänderung zur Auslegung kleiner dynamischer Bezugnahmeklauseln als „Gleichstellungsabreden“, BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965, insb. Rz. 30 ff. 5 Oetker, RdA 1991, 16 (22 ff.). 6 Oetker, RdA 1991, 16 (22). 7 BAG v. 27.8.2008 – 5 AZR 821/07, AP Nr. 206 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; s.a. BAG v. 1.3.2006 – 5 AZR 540/05, NZA 2006, 688 m.w.N.; BAG v. 30.5.2006 – 1 AZR 111/05, NZA 2006, 1170; mit Recht gegen eine derartige Zweifelsregel plädieren Joost, JuS 1989, 274 (277); Meyer, DB 1990, 1086 (1087).

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Teil 9 Rz. 205

Wirkung der Tarifnormen

Grundvergütung wird z.B. bejaht bei Zulagen, die besondere Leistungen des Arbeitnehmers oder Erschwernisse bei der Arbeitsleistung honorieren bzw. eigenständigen sozialen Zwecken dienen (näher dazu u. Rz. 214)1. 205

Bei „unbenannten“ Zulagen liegt aus Sicht des BAG in der tatsächlichen Zahlung keine konkludente vertragliche Abrede, dass die Zulage auch nach einer Tariflohnerhöhung als selbständiger Lohnbestandteil neben dem jeweiligen Tariflohn gezahlt werden solle. Vielmehr bedürfe es dafür entweder einer ausdrücklichen Regelung der Nicht-Anrechenbarkeit oder zumindest einer besonderen Zweckbestimmung. Das soll selbst dann gelten, wenn die Zulage über einen längeren Zeitraum vorbehaltlos gezahlt und nicht mit der Tariflohnerhöhung verrechnet worden ist2. Das Rechtsinstitut der betrieblichen Übung steht einer Anrechnung somit nur bei Zulagen mit eigenständiger Zwecksetzung entgegen, wenn bei Tariflohnerhöhungen in der Vergangenheit eine Anrechnung unterblieben ist3. Bei „unbenannten“ Zulagen soll anderes gelten: Hier hält das BAG die Grundsätze der betrieblichen Übung nur in Ausnahmefällen für einschlägig4.

206

Das BAG begründet diese Auslegung mit dem Parteiwillen: Die Zulage werde gewährt, weil den Arbeitsvertragsparteien das Tarifentgelt nicht ausreichend erscheine. Es werde gewissermaßen künftigen Tariflohnerhöhungen vorgegriffen. Für den Arbeitgeber sei „regelmäßig nicht absehbar, ob er bei künftigen Tariflohnerhöhungen weiter in der Lage sein wird, eine bisher gewährte Zulage in unveränderter Höhe fortzuzahlen“. Dies sei für den Arbeitnehmer erkennbar. Erhöhe sich dann die Tarifvergütung, entspreche die Anrechnung „regelmäßig dem Parteiwillen, weil sich die Gesamtvergütung nicht verringert“5. Dem Arbeitnehmer geschehe kein Unrecht, da sich „lediglich das Verhältnis von übertariflichen zu tariflichen Entgeltbestandteilen“ verschiebe6.

207

Die Anrechnung dient dabei ersichtlich dem Interesse des Arbeitgebers an Flexibilisierung und Überforderungsschutz. Daneben wird mittelbar jedoch auch dem Interesse der Tarifparteien genutzt, indem durch die Anrechnung übertariflicher Entgeltbestandteile die Verhandlungsmasse erhöht wird. Übertarifliche Entgeltbestandteile können auf diese Weise abgeschmolzen und in die Verhandlungsmasse für den tariflichen Bereich einbezogen werden. Letztlich wird mit der Anerkennung eines Anrechnungsprinzips die Individualautonomie der Arbeitsvertragsparteien zugunsten der Kollektivautonomie der Tarifparteien 1 BAG v. 19.5.2004 – 5 AZR 354/03, NZA 2005, 599; BAG v. 21.1.2003 – 9 AZR 546/01, NZA 2003, 879; näher Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 512. 2 BAG v. 31.10.1995 – 1 AZR 276/95, NZA 1996, 613, Rz. 21; BAG v. 27.8.2008 – 5 AZR 821/07, AP Nr. 206 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; ebenso Koberski/Clasen/Menzel, § 4 TVG Rz. 32; Etzel, NZA-Beil. 1987, 19 (30). 3 So BAG v. 31.3.1955 – 2 AZR 49/53, AP Nr. 4 zu § 4 TVG. 4 BAG v. 4.9.1985 – 7 AZR 262/83, NZA 1986, 521; BAG v. 26.5.1993 – 4 AZR 149/92, NZA 1994, 513; BAG v. 4.6.1980 – 4 AZR 530/78, BB 1980, 1583. 5 BAG v. 27.8.2008 – 5 AZR 821/07, AP Nr. 206 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG v. 21.1.2003 – 1 AZR 125/02, NZA 2003, 1056; BAG v. 14.8.2001 – 1 AZR 744/00, NZA 2002, 342, Rz. 40. 6 BAG v. 27.8.2008 – 5 AZR 821/07, AP Nr. 206 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie, Rz. 26.

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Verhältnis zu anderen Regelungen

Rz. 210 Teil 9

geschmälert; individualvertraglich ausgehandelte Rechtspositionen, die der einzelne Arbeitnehmer kraft individueller Privatautonomie ausgehandelt hat, werden entgegen den Prinzipien des Arbeitsvertragsrechts für eine kollektive Neuverteilung verfügbar gemacht.

b) Anrechnungsvorbehalt Liegen die Voraussetzungen für eine AGB-Kontrolle (§§ 305 ff. BGB) vor, erfolgt eine Prüfung des Anrechnungsvorbehalts am Maßstab der §§ 308 Nr. 4, 307 Abs. 1, 2 BGB. Insofern ist von hoher Bedeutung, dass auch ein einzelvertraglicher ausdrücklicher Anrechnungsvorbehalt nur dann ohne weiteres angemessen scheint, wenn er sich auf eine sog. unbenannte übertarifliche Zulage bezieht, die lediglich tarifvertraglich vorgesehene Vergütungsbestandteile quantitativ erhöht. Werden arbeitsvertragliche Zulagen mit einer eigenständigen Zwecksetzung gewährt, die in tariflich geregelten Entgeltbestandteilen keine Berücksichtigung gefunden hat, ist die Wirksamkeit einer Anrechnungsklausel im Lichte der §§ 305 ff. BGB fragwürdig, da die spätere Erhöhung der Tarifvergütung den Zweck der einzelvertraglich vereinbarten Zulage in keiner Weise berührt.

208

Bei der AGB-rechtlichen Beurteilung von ausdrücklich vereinbarten Anrechnungsvorbehalten im Individualvertrag ist jedoch zu beachten, dass gegenüber den Prüfungsmaßstäben für Freiwilligkeits- und Widerrufsvorbehalte1 die Angemessenheit prinzipiell großzügiger zu bewerten ist. Infolge der bloßen Anrechenbarkeit tritt eine Reduktion des verfügbaren und für den Lebensunterhalt des Arbeitnehmers notwendigen Einkommens nicht ein2. Auch liegen Anrechnungsvorbehalten rechtliche Besonderheiten des Arbeitsrechts zugrunde, die gemäß § 310 Abs. 4 Satz 2 BGB angemessen zu berücksichtigen sind3: Der Arbeitgeber hat angesichts der Dynamisierung der Vergütung durch künftige Tarifabschlüsse ein berechtigtes Interesse daran, übertarifliche Entgeltbestandteile nicht fest zuzusagen. Dieses Interesse wirkt sich deutlich zugunsten der Klauselangemessenheit aus. Gleichwohl wird man auch in diesen Fällen, da es sich um eine Preisnebenabrede handelt, zu einer vollen Angemessenheitskontrolle gelangen müssen und es nicht bei einer Transparenzkontrolle (§ 307 Abs. 3, Abs. 1 Satz 2 BGB) bewenden lassen können4.

209

Zur Ausübung des individualvertraglichen Anrechnungsvorbehalts ist entgegen der h.M. eine Ausübungserklärung des Arbeitgebers schon aus Gründen der individualrechtlichen Wirksamkeit und Transparenz erforderlich. Die darüber hinaus für möglich gehaltene Anrechnung ipso iure auch ohne Erklärung des Arbeitgebers5 ist nur auf Grundlage der verfehlten (s. Rz. 203) Geltung des

210

1 Vgl. insb. BAG v. 12.1.2005 – 5 AZR 364/04, NZA 2005, 465; BAG v. 11.10.2006 – 5 AZR 721/05, NZA 2007, 87; ausf. ErfK/Preis, §§ 305 – 310 BGB Rz. 51 ff. m.w.N. 2 Zutr. Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 355. 3 BAG v. 1.3.2006 – 5 AZR 363/05, NZA 2006, 746. 4 So aber BAG v. 1.3.2006 – 5 AZR 363/05, NZA 2006, 746; BAG v. 1.3.2006 – 5 AZR 540/05, NZA 2006, 688, Rz. 15. 5 Dafür BAG v. 25.6.2002 – 3 AZR 167/01, NZA 2002, 1216; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 866 m.w.N.

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Teil 9 Rz. 211

Wirkung der Tarifnormen

Anrechnungsprinzips erklärbar. Zutreffend ist freilich der Hinweis, dass die Anrechnungserklärung häufig der Entgeltabrechnung konkludent zu entnehmen sein wird1; dies genügt. Die bisher vorherrschende Sichtweise, wonach ein unwirksamer Widerrufsvorbehalt als Anrechnungsvorbehalt gedeutet werden und Wirksamkeit entfalten kann2, dürfte bei konsequenter Anwendung des AGB-Rechts und des dort anerkannten Verbots der geltungserhaltenden Reduktion regelmäßig keinen Bestand mehr haben. Möglich bleibt freilich auch eine partielle Anrechnung. Insofern ist in einer uneingeschränkt vorbehaltenen Anrechenbarkeit auch die Möglichkeit einer Teilanrechnung enthalten. Sie stellt ein milderes Mittel, ein Minus, zur vollständigen Anrechnung dar.

c) Anrechnung ohne Vorbehalt aa) Kritik 211

Wie bereits dargelegt (s. Rz. 203) unterliegt es Bedenken, wenn das BAG in ständiger Rechtsprechung3 und mit Zustimmung großer Teile der Literatur4 darüber hinaus die Anrechnung auch dann zulässt, wenn kein entsprechender Vorbehalt im Arbeitsvertrag enthalten ist. Das BAG statuiert die Zweifelsregel, dass die Anrechnung der arbeitsvertraglich gewährten übertariflichen Entgeltbestandteile dem Parteiwillen entspricht, wenn dieser Auslegung im Einzelfall keine anderen Aspekte entgegenstehen5. Diese Zweifelsregel, der letztlich eine ergänzende Vertragsauslegung zu Grunde liegt6, kehrt die gesetzlich normierte Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB geradezu um7. Dies damit zu rechtfertigen, dass der Arbeitgeber den Zweck der Zulage ohnehin faktisch einseitig bestimme und ihm daher auch die Anrechnungskompetenz zustehe8, greift zu kurz.

212

Das Auslegungsergebnis kann eigentlich nur gegenteilig ausfallen: Will der Arbeitgeber sich die Anrechnung vorbehalten, muss und kann er dies im Arbeitsvertrag klarstellen. Hat er dies bei der Arbeitsvertragsgestaltung versäumt oder nicht durchsetzen können, wirkt die Nichtregelung im Zweifel zu seinen Las1 Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 355. 2 So BAG v. 22.4.1997 – 1 ABR 77/96, NZA 1997, 1059. 3 BAG v. 16.6.1993 – 4 AZR 380/92, EzA § 4 TVG Tariflohnerhöhung Nr. 29; BAG v. 13.11.1963 – 4 AZR 25/63, BB 1964, 220; BAG v. 10.3.1982 – 4 AZR 540/79, NJW 1982, 2575; BAG v. 25.6.2002 – 3 AZR 167/01, NZA 2002, 1216; BAG v. 27.8.2008 – 5 AZR 821/07, AP Nr. 206 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG v. 21.1.2003 – 1 AZR 125/02, NZA 2003, 1056; BAG v. 14.8.2001 – 1 AZR 744/00, NZA 2002, 342. 4 Statt vieler Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 510 ff. m.w.N. 5 So BAG v. 15.3.2000 – 5 AZR 557/98, NZA 2001, 105; BAG v. 8.6.2004 – 1 AZR 308/03, NZA 2005, 66; BAG v. 27.1.2004 – 1 AZR 105/03, NZA 2004, 1239. 6 Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 357. 7 Zu Recht kritisch auch ErfK/Preis, § 611 BGB Rz. 420, §§ 305 – 310 BGB Rz. 65; Preis, FS Kissel, S. 879 (890 f.); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 875; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 770. Dagegen aber mit bemerkenswerter Selbstverständlichkeit BAG v. 27.8.2008 – 5 AZR 821/07, AP Nr. 206 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie, Rz. 22: Die Auslegung als „ohne weiteres anrechenbarer Lohnbestandteil“ unterliege keinen Zweifeln. 8 So Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 515.

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Verhältnis zu anderen Regelungen

Rz. 214 Teil 9

ten. Es scheint schon mit den Prinzipien der Auslegung von Willenserklärungen nach dem Empfängerhorizont (§§ 133, 157 BGB) schwer vereinbar, im Falle einer vorbehaltlos gewährten Leistung einen stillschweigenden Vorbehalt in den Arbeitsvertrag hinein zu lesen: Der dazu erforderliche rechtsgeschäftliche Annahmewille des Arbeitnehmers hinsichtlich der stillschweigenden Vereinbarung eines Anrechnungsvorbehalts ist nicht mehr als eine Fiktion. Preis weist zu Recht darauf hin, dass das BAG nur die Zwecksetzung des Arbeitgebers im Blick zu haben scheint, den Parteiwillen des Arbeitnehmers dagegen nicht hinreichend beachtet1. Das Fehlen einer Anrechnungsregel im Arbeitsvertrag kann für den Arbeitgeber nicht günstiger sein als die Statuierung einer intransparenten und damit unwirksamen Anrechnungsklausel. Das BAG macht es sich zu einfach, wenn es ausführt, das Transparenzgebot verlange „von dem Verwender nicht, alle gesetzlichen Folgen einer Vereinbarung ausdrücklich zu regeln“2. Es handelt sich beim Anrechnungsprinzip nicht um eine gesetzlich normierte Rechtsfolge, sondern um eine richterrechtliche Auslegung eines vermeintlich typisierbaren Parteiwillens. Der Wertungswiderspruch ist evident: Würde der Arbeitgeber eine ausdrückliche Anrechnungsklausel in den Vertrag aufnehmen, unterläge diese der vollen AGB-Kontrolle und liefe Gefahr, infolge einer defizitären Klauselgestaltung unwirksam zu sein. Regelt der Arbeitgeber gar nichts, nimmt ihm der Richter jedes Risiko der Vertragsgestaltung ab und liest zu seinen Gunsten eine in jedem Fall wirksame Anrechnungsklausel in den Vertrag hinein. Auch sonst überzeugt die rudimentäre AGB-rechtliche Prüfung durch das BAG nicht: Wäre eine Anrechnungsklausel vorhanden, wäre diese eine unter den Voraussetzungen des § 305 Abs. 1 BGB vollständig kontrollfähige Preisnebenabrede, nicht hingegen eine nur auf Transparenz kontrollierbare Hauptabrede3. Die fehlende, erst durch den Richter in den Vertrag hineininterpretierte Anrechnungsklausel kann dann richtigerweise keinem milderen Prüfungsmaßstab unterliegen.

213

bb) Grenzen Das Anrechnungsprinzip bezieht sich auch aus Sicht des BAG nur auf solche Vergütungsbestandteile, für die kein eigenständiger Zweck ersichtlich ist. Man muss für die Anwendung des Anrechnungsprinzips daher immer die Frage stellen, ob die arbeitsvertragliche Zulage einen eigenständigen Zweck verfolgt oder ob sie die tarifvertragliche Grundvergütung bzw. im TV vorgesehene Zulagen, Gratifikationen und andere Sonderzahlungen lediglich quantitativ erhöht. Eine Anrechnung kommt ohne Anrechnungsvorbehalt nur in letzterem Fall in Betracht. Hinsichtlich anrechenbarer Tariflohnerhöhung und einzelvertraglicher übertariflicher Zulage muss eine identische Zwecksetzung bestehen: Auch in dem Fall, dass durch den Arbeitsvertrag eine tarifvertraglich gewährte 1 Preis, FS Kissel, S. 879 (896). 2 BAG v. 27.8.2008 – 5 AZR 821/07, AP Nr. 206 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie, Rz. 26. 3 So aber BAG v. 1.3.2006 – 5 AZR 363/05, NZA 2006, 746; BAG v. 1.3.2006 – 5 AZR 540/05, NZA 2006, 688, Rz. 15.

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214

Teil 9 Rz. 215

Wirkung der Tarifnormen

Zulage lediglich quantitativ erhöht wird, scheidet eine Anrechnung aus, sofern nicht die zweckentsprechende Zulage im TV eine Erhöhung erfährt, sondern lediglich die tarifvertragliche Grundvergütung oder eine andere Zulage1. Ist ein Zweck der Zulage nicht näher bezeichnet, handelt es sich also um eine sog. allgemeine Zulage, kann die Anrechnung nach Meinung des BAG stattfinden2. Dies soll auch rückwirkend in Betracht kommen3. Zur Abgrenzung von allgemeinen und benannten Zulagen kann auf Auslegungskriterien wie insbesondere die getrennte Ausweisung von Zulagen auf der Vergütungsmitteilung rekurriert werden4. 215

Eine weitere Grenze der Anrechenbarkeit liegt auch aus Sicht des BAG darin, dass diese ausscheidet, wenn die tarifliche Entgelterhöhung lediglich als Kompensation für eine Arbeitszeitverlängerung erfolgt: Wird etwa die Stundenvergütung heraufgesetzt, das Arbeitszeitvolumen jedoch reduziert, so dass im Ergebnis gar keine Erhöhung der tariflichen Gesamtvergütung eintritt, soll die Anrechnung unterbleiben5.

216

Zu der Möglichkeit der TV-Parteien, die Anrechnung durch sog. Effektivklauseln oder Verdienstsicherungsklauseln zu verhindern, vgl. Teil 5 (10).

d) Mitbestimmung 217

Nach Rechtsprechung des BAG besteht bei der Anrechnung auf übertarifliche Zulagen ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG nur, wenn sich durch die Anrechnung die bisherigen Verteilungsrelationen ändern6, etwa indem bei unterschiedlichen Arbeitnehmergruppen in unterschiedlichem Ausmaß angerechnet wird7. Der Dotierungsrahmen, also die Höhe der übertariflichen Vergütungsbestandteile insgesamt, wird vom Arbeitgeber mitbestimmungsfrei vorgegeben. Die Anrechnung ist mitbestimmungsfrei, wenn die Tariferhöhung im Rahmen des rechtlich und tatsächlich Möglichen vollständig und gleichmäßig auf die übertarifliche Vergütung sämtlicher Arbeitnehmer angerechnet wird8. Eine zwar gleichmäßige, aber nur partielle Anrechnung soll dagegen ein Mitbestimmungsrecht auslösen können9. Dies ist zu kritisieren10, da es bei dieser Fallgestaltung nur zu einer Reduktion des Dotierungsrahmens bei Fortschreibung der Verteilungsrelationen kommt. Grundvoraussetzung für 1 Zutr. Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 365. 2 Etwa BAG v. 3.6.2003 – 1 AZR 314/02, FA 2004, 151; BAG v. 21.1.2003 – 1 AZR 125/02, AP Nr. 118 zu § 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung m.w.N. 3 BAG v. 3.6.2003 – 1 AZR 314/02, FA 2004, 151. 4 BAG v. 1.11.1956 – 2 AZR 194/54, AP Nr. 5 zu § 4 TVG Übertariflicher Lohn und Tariflohnerhöhung. 5 BAG v. 15.3.2000 – 5 AZR 557/98, NZA 2001, 105; BAG v. 3.6.1998 – 5 AZR 616/97, NZA 1999, 208; zust. Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 775; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 866 f.; a.A. etwa Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 523 m.w.N. 6 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 517 m.w.N. 7 BAG v. 3.12.1991 – GS 2/90, NZA 1992, 749. 8 BAG v. 3.12.1991 – GS 2/90, NZA 1992, 749; zuletzt bestätigt in BAG v. 27.8.2008 – 5 AZR 821/07, AP Nr. 206 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie, Rz. 29. 9 BAG v. 3.12.1991 – GS 2/90, NZA 1992, 749. 10 Zutr. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 517.

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Verhältnis zu anderen Regelungen

Rz. 220 Teil 9

ein Mitbestimmungsrecht ist der kollektive Charakter der Anrechnung1, so dass es ausscheidet, wenn nur individuell von einem Anrechnungsvorbehalt Gebrauch gemacht wird.

III. Verhältnis des Tarifvertrages zu betrieblichen Regelungen (Tarifvorrang, Tarifvorbehalt) Spannungsreich ist das Verhältnis von TV und Betriebsvereinbarung. Der Problematik liegt das sog. duale System der Interessenvertretung zu Grunde, das im deutschen Arbeitsrecht realisiert ist. Die Arbeitnehmerinteressen werden einerseits, gewissermaßen von außen auf die Unternehmen einwirkend, durch die Gewerkschaften mit dem Regelungsinstrument des TVes gewahrt, daneben aber auch innerhalb von Betrieb, Unternehmen und Konzern durch Betriebsräte mit den Mitteln der Betriebsvereinbarung und Regelungsabrede. Beide Formen der Arbeitnehmerrepräsentation haben ihre Vorzüge: So genießt der TV eine besondere Richtigkeitsgewähr2, da er idealtypisch durch gleichgewichtige Verhandlungspartner mit dem Mittel des Arbeitskampfs bzw. einer Arbeitskampfdrohung ausgehandelt wird. Ein Wirkungsdefizit des TVes gegenüber der Betriebsvereinbarung liegt jedoch darin, dass die normative Wirkung des TVes die beiderseitige Tarifgebundenheit voraussetzt (§ 4 Abs. 1 TVG), während die Betriebsvereinbarung unmittelbar und zwingend für den gesamten Betrieb gilt (§ 77 Abs. 1 BetrVG).

218

Dieses Nebeneinander zweier normativer Regelungsinstrumente mit unterschiedlichen Voraussetzungen und Wirkungen macht Abgrenzungen notwendig. Nach der im deutschen TV-Recht gefunden Ausgestaltung sollen die Betriebsräte den Gewerkschaften keine Regelungskonkurrenz machen dürfen. Sie sollen nicht als beitragsfreie „Ersatzgewerkschaften“ tätig werden3. Vielmehr wird das Verhältnis zwischen Betriebspartnern und Tarifpartnern konkurrenzfrei ausgestaltet und dem TV ein prinzipieller Geltungsvorrang eingeräumt.

219

In diesem Sinne stellt § 2 Abs. 3 BetrVG klar, dass die Aufgaben von Gewerkschaften und Arbeitgeberkoalitionen durch das BetrVG unberührt bleiben. § 77 Abs. 3 BetrVG statuiert, dass Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch TV geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein können (sog. Tarifvorbehalt); es sei denn, der TV sieht eine Öffnungsklausel (§ 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG) vor. Ergänzend statuiert § 87 Abs. 1 Einls. BetrVG, dass der Betriebsrat in den dort aufgeführten sozialen Angelegenheiten nur mitzubestimmen hat, „soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht“ (sog. Tarifvorrang). Problematisch sind Auslegung und Abgrenzung beider Bestimmungen.

220

1 BAG v. 3.12.1991 – GS 2/90, NZA 1992, 749; dazu Wank, FS Wiese, S. 617 ff. 2 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 284 ff. 3 BAG v. 3.12.1991 – GS 2/90, NZA 1992, 749; Fitting, § 77 BetrVG Rz. 67.

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Teil 9 Rz. 221

Wirkung der Tarifnormen

1. Tarifvorbehalt (§ 77 Abs. 3 BetrVG) a) Schutzzweck und Anwendungsbereich 221

Regelungszweck des § 77 Abs. 3 BetrVG ist, das TV-System in seiner Funktionsfähigkeit zu schützen und eine Aushöhlung durch konkurrierende betriebsverfassungsrechtliche Regelungen zu unterbinden. Dass rechtspolitisch auch ein anderes Konzept vorstellbar wäre, nämlich eine freie Konkurrenz zwischen tarifvertraglichen und betriebsverfassungsrechtlichen Normgebern, zeigt exemplarisch das spanische Tarifrecht1 – freilich auch mit allen Problemen, die damit einhergehen, insbesondere einem stark reduzierten Organisationsgrad der Gewerkschaften. Leitlinie bei der Auslegung und Anwendung des § 77 Abs. 3 BetrVG muss sein, den angestrebten Schutz der Tarifautonomie zu effektuieren.

222

Das in § 77 Abs. 3 BetrVG normierte Prinzip des Tarifvorrangs überlagert das Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG (s. Rz. 140 ff.): Als speziellere Regelung für das Verhältnis von TV und Betriebsvereinbarung geht es diesem vor. Auch eine arbeitnehmergünstigere Regelung in einer Betriebsvereinbarung wird mithin von einem ungünstigeren TV verdrängt.

223

Seine Grundlage hat diese Kollisionsregelung darin, dass die Tarifautonomie durch Art. 9 Abs. 3 GG eine starke verfassungsrechtliche Absicherung erfahren hat, die ein Handlungsgebot an den Gesetzgeber beinhaltet, die Funktionsfähigkeit des TV-Systems gesetzlich abzusichern2. Die Betriebsverfassung kennt keine dementsprechende Garantie3. Grundlage der Betriebsverfassung ist letztlich das Direktionsrecht des Arbeitgebers, das in seiner Unternehmerfreiheit wurzelt (Art. 12 Abs. 1 GG). Die Mitbestimmung dient als einfachgesetzliche Begrenzung der Unternehmerfreiheit der Realisierung des Sozialstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 1 GG), das freilich sehr wertungsoffen ist, sowie der Sicherung der Persönlichkeitsrechte des Arbeitnehmers. Die unterschiedliche verfassungsrechtliche Absicherung begründet einen Rangunterschied zwischen tariflicher und betriebsverfassungsrechtlicher Arbeitnehmerrepräsentanz4. Rechtspolitisch wurde unter dem Stichwort der „betrieblichen Bündnisse für Arbeit“ über eine Aufwertung der betrieblichen Ebene diskutiert (s. Rz. 189 ff.); dabei wurden Flexibilität und Zielgenauigkeit betrieblicher Regelungen als Vorteile insbesondere gegenüber dem FlächenTV ausgemacht5.

224

Nach geltendem Recht sollen insbesondere Kernfragen des Synallagmas der tarifvertraglichen Regelungsebene vorbehalten bleiben, da es der Betriebsvereinbarung an einer vergleichbaren Richtigkeitsgewähr fehlt. Hier verhandeln nicht zwangsläufig Partner mit gleichen Verhandlungs- und Gestaltungschan-

1 2 3 4

Vgl. Greiner, Rechtsfragen, S. 30. ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 86; Cornils, S. 650 ff. Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, Grundlagen, Rz. 321. Zutr. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 547; Hanau, RdA 1993, 1 (4); Kittner, FS Schaub, S. 389 (405 f.); Löwisch, JZ 1996, 812 (817 f.). 5 Z.B. Buchner, RdA 1990, 1 (4); Kissel, NZA 1994, 586 (591); Reuter, RdA 1994, 152 (154); Linnenkohl, BB 1994, 2077 (2078).

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Verhältnis zu anderen Regelungen

Rz. 226 Teil 9

cen. Zu beachten ist insofern auch das Arbeitskampfverbot der Betriebsverfassung1. Auch ist das grundsätzlich freie Spiel der Kräfte, das auf dem Gebiet der Tarifautonomie gewährleistet ist, ein marktkonformeres Regelungsinstrument als die durch Einigungsstellen und Einigungszwang gekennzeichnete betriebliche Mitbestimmung. Kernfragen des arbeitsvertraglichen Synallagmas können damit als „Hausgut“ der Tarifparteien2 bzw. – noch präziser – als „Hausgut“ der Parteien des Einzelarbeitsvertrages betrachtet werden, das diese im Fall ihrer Koalitionsmitgliedschaft mit Blick auf die gesteigerte Richtigkeitsgewähr partiell den TV-Parteien anvertraut haben. Das durch ein geringeres Maß an Autonomie gekennzeichnete betriebsverfassungsrechtliche Mitbestimmungsregime, aus dem ein Arbeitnehmer etwa nicht durch „Austritt“ ausscheren kann, ist demgegenüber auf andere Fragen beschränkt, die den Kern des arbeitsvertraglichen Synallagmas nicht berühren. Insofern dient § 77 Abs. 3 BetrVG auch dem Schutz des Arbeitnehmers vor Fremdbestimmung3. Entscheidet er sich gegen die kollektive Interessenvertretung durch eine Gewerkschaft, ist das Ausweichinstrument, auf das er zur Regelung des Synallagmas zurückfällt, die Individualfreiheit, der Individualarbeitsvertrag, nicht hingegen das gleichfalls kollektive Regelungsmodell der Betriebsverfassung.

225

Entsprechend diesem Regelungszweck bezieht sich § 77 Abs. 3 BetrVG auf Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen. Im Fokus stehen damit Leistung und Gegenleistung im Arbeitsverhältnis. Der Begriff der sonstigen Arbeitsbedingungen beinhaltet demgegenüber nach h.M. umfassend materielle wie formelle Arbeitsbedingungen4. Dafür werden der weite Wortlaut, die Entstehungsgeschichte sowie der Regelungszweck angeführt5. Eine beachtliche Literaturansicht verengt den Anwendungsbereich dagegen auf materielle Arbeitsbedingungen6 und argumentiert systematisch mit der Vergleichbarkeit zu dem ausdrücklich genannten Arbeitsentgelt sowie teleologisch mit dem Zweck des § 77 Abs. 3 BetrVG, die Betriebsvereinbarung lediglich als Mittel der Entgeltpolitik auszuschließen7. Ähnlich wollen andere jede durch tarifliche Inhaltsnormen regelbare Frage für erfasst halten8, was freilich die Unsicherheiten in der Abgrenzung von Betriebs- und Inhaltsnormen auf diese Frage durchschlagen ließe. Für die Beschränkung auf materielle Arbeitsbedingungen spricht in der Tat, dass die formellen Arbeitsbedingungen klassische Fragen betrieblicher Regelungspraxis sind, für deren sinnvolle Regelung die dezentralen Kenntnisse und Kompetenzen des Betriebsrats von eminenter Bedeutung sind. Um die Trennlinie zwischen for-

226

1 Zutr. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 325. 2 Dieterich in Bieback/Dieterich et al., Tarifgestützte Mindestlöhne, S. 117 m.w.N. 3 Zur Unterscheidung von formellen und materiellen Arbeitsbedingungen noch Franzen, RdA 2001, 1 (4) m.w.N. 4 BAG v. 9.4.1991 – 1 AZR 406/90, NZA 1991, 734; Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 973; Fitting, § 77 BetrVG Rz. 71. 5 BAG v. 9.4.1991 – 1 AZR 406/90, NZA 1991, 734. 6 Richardi, § 77 BetrVG Rz. 256; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 572; Wank, RdA 1991, 129 (133). 7 Wank, RdA 1991, 129. 8 DKKW/Berg, § 77 BetrVG Rz. 129; Heinze, NZA 1989, 41 (45).

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Teil 9 Rz. 227

Wirkung der Tarifnormen

mellen und materiellen Arbeitsbedingungen klarer zu ziehen, sollte § 77 Abs. 3 BetrVG auf die das Synallagma betreffenden Fragen beschränkt werden1. 227

Nicht in den Anwendungsbereich des § 77 Abs. 3 BetrVG einbezogen sind lediglich schuldrechtlich verbindliche Regelungsabreden zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat2. Da es Regelungsabreden an normativer Wirkung fehlt, entsteht kein Konkurrenzverhältnis zwischen zwei in ihrer Wirkung ähnlichen, nämlich normativen Regelungsinstrumenten. Eine Regelungsabrede bedarf, wenn sie Inhalte des Arbeitsverhältnisses betrifft, stets der Umsetzung auf individualvertraglicher Ebene, um Wirksamkeit im einzelnen Arbeitsverhältnis zu entfalten; das insofern anwendbare Kollisionsprinzip ist das Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG. Der Fall ist folglich mit dem Konkurrenzverhältnis zwischen TV und Betriebsvereinbarung nicht vergleichbar. Inkonsequent wirkt, dass bereits eine tarifwidrige Regelungsabrede, obwohl ihr keine unmittelbaren Rechtswirkungen im einzelnen Arbeitsverhältnis zukommen, gleichwohl nach der Rechtsprechung des BAG3 einen Unterlassungsanspruch der Gewerkschaft gemäß §§ 1004, 823 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 9 Abs. 3 GG auslösen soll; mangels unmittelbarer Rechtswirkungen einer Regelungsabrede kann man daran zweifeln. Nicht erfasst werden mangels normativer Wirkung gleichfalls „quasi-kollektive“ Gestaltungsformen auf individualvertraglicher Ebene, also Gesamtzusagen oder betriebliche Übungen4.

228

Aus § 77 Abs. 3 BetrVG folgt insbesondere auch, dass eine Erstreckung der Wirkung des TVes auf Außenseiter-Arbeitnehmer, die keiner Gewerkschaft angehören, durch Betriebsvereinbarung nicht möglich ist – anders als durch einzelvertragliche Bezugnahmeklausel (s. Teil 10). § 77 Abs. 3 BetrVG erfasst mithin auch eine Regelung in Betriebsvereinbarungen, die den TV lediglich wiederholt5. Darin läge nicht nur eine Umgehung des Verfahrens der Allgemeinverbindlicherklärung (§ 5 TVG, s. Teil 7 Rz. 20 ff.). Vielmehr bezöge sich eine derartige Regelung in einer Betriebsvereinbarung klar auf eine tarifvertraglich geregelte Materie. Betroffen sind die synallagmatischen Arbeitsbedingungen, die ausschließlich einer Regelung durch TV und Individualvertrag, nicht hingegen durch Betriebsvereinbarung anvertraut sein sollen, so dass ein derartiges Verfahren schon nach dem Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 BetrVG ausgeschlossen ist6.

1 Vgl. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 573. 2 BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887; BAG v. 21.1.2003 – 1 ABR 9/02, NZA 2003, 1099; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 560; Fitting, § 77 BetrVG Rz. 102; Moll, Tarifvorrang, S. 54 ff.; Kreutz, S. 220 ff.; Wiese, FS BAG, 1979, S. 661 (664 f.). 3 BAG v. 20.4.1999 – 1 AZR 631/98, NZA 1999, 887. 4 BAG v. 13.8.1980 – 5 AZR 325/78, DB 1981, 274; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 585 m.w.N. 5 Zutr. Fitting, § 77 BetrVG Rz. 98; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 581 ff.; differenzierend v. Hoyningen-Huene, DB 1994, 2026 (2027 m.w.N.). 6 Zutr. DKKW/Berg, § 77 BetrVG Rz. 136 m.w.N.

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Verhältnis zu anderen Regelungen

Rz. 232 Teil 9

b) „Durch Tarifvertrag geregelt“ „Durch Tarifvertrag geregelt“ sind die erfassten Gegenstände, wenn ein TV abgeschlossen ist, in dessen Geltungsbereich (s. Teil 8) der Betrieb fällt1. Vorausgesetzt wird eine tatsächlich erfolgte Regelung. Der bloße Wille etwa der Gewerkschaft, eine Sachfrage regeln zu wollen, genügt nicht, wenn sie eine derartige Regelung nicht durchsetzen konnte.

229

Ob eine Frage eine Regelung erfahren hat, ist durch Auslegung zu ermitteln. Da Tarifnormen nur höchst selten jede Detailregelung treffen, ist zu ermitteln, ob die TV-Parteien eine bestimmte Sachmaterie abschließend regeln wollten2; die zur Reichweite der relativen Friedenspflicht entwickelten Grundsätze können übertragen werden (dazu Teil 4 Rz. 117 f.)3. Insofern ist freilich nicht auf den subjektiven Willen der TV-Parteien abzustellen. Maßgeblich ist vielmehr der Regelungsinhalt des TVes, wie er sich bei objektiver Auslegung darstellt4.

230

Die grundsätzliche Tendenz in der Rechtsprechung geht zu Recht dahin, § 77 Abs. 3 BetrVG einen eher weiten Anwendungsbereich einzuräumen5. Entscheidende Auslegungsleitlinie sollte sein, welche objektiv erkennbare Zwecksetzung mit einer tariflichen und einer betriebsverfassungsrechtlichen Regelung verfolgt wird. Divergieren diese, dürfte eine Betriebsvereinbarung zulässig sein. Decken sich die Regelungsziele und wird eine tarifvertragliche Regelung bei gleichen Tatbestandsvoraussetzungen lediglich inhaltlich ergänzt, dürfte die Tarifsperre des § 77 Abs. 3 BetrVG regelmäßig eingreifen. Als Faustformel zur Ermittlung der Zwecksetzung wird man darauf abstellen können, ob die Betriebsvereinbarung an gleiche Tatbestandsmerkmale anknüpft wie die tarifvertragliche Regelung oder gänzlich andere Tatbestandsmerkmale voraussetzt. Der Tarifvorbehalt greift etwa ein, wenn eine tarifliche Sonderzahlung gewährt wird und in der Betriebsvereinbarung lediglich eine zusätzliche Sondervergütung bei gleichen Tatbestandsvoraussetzungen vorgesehen ist. Knüpft die Sondervergütung hingegen an gänzlich andere Tatbestandsmerkmale an, gelten die betriebsverfassungsrechtliche Regelung und die tarifliche Regelung nebeneinander, da sie objektiv erkennbar unterschiedlichen Regelungszwecken dienen.

231

Entsprechend dem intendierten institutionellen Schutz des TV-Systems ist es nicht erforderlich, dass Arbeitgeber oder Arbeitnehmer tarifgebunden sind (§ 3 Abs. 1 TVG)6. Ausreichend ist, dass die Möglichkeit zur Herstellung einer kongruenten Tarifbindung besteht, weil das Arbeitsverhältnis in den Geltungsbereich eines einschlägigen TVes fällt. Will der Arbeitgeber demnach auf kol-

232

1 BAG v. 9.12.1997 – 1 AZR 319/97, NZA 1998, 661; Fitting, § 77 BetrVG Rz. 75; Buchner, DB 1997, 573. 2 BAG v. 3.12.1991 – GS 2/90, NZA 1992, 749. 3 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 579. 4 Zutr. Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, Grundlagen, Rz. 331. 5 Vgl. BAG v. 9.12.1997 – 1 AZR 319/97, NZA 1998, 661. 6 BAG v. 24.1.1996 – 1 AZR 597/95, NZA 1996, 948; WPK/Preis, § 77 BetrVG Rz. 66 m.w.N.; a.A. (Tarifbindung des Arbeitgebers erforderlich): GK-BetrVG/Kreutz, § 77 BetrVG Rz. 100; Ehmann/Schmidt, NZA 1995, 193 (196).

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Teil 9 Rz. 233

Wirkung der Tarifnormen

lektivrechtliche Regelungsinstrumentarien zurückgreifen, wird ihm vom Gesetz die Herstellung einer Tarifbindung abverlangt, entweder durch Beitritt zum Arbeitgeberverband oder durch Abschluss eines FirmenTV. Gleiches gilt auf Arbeitnehmerseite: Hier wird ein starker Anreiz zum Gewerkschaftsbeitritt gesetzt, wenn der Arbeitnehmer nicht auf die Regelungsinstrumentarien des Individualvertrages vertrauen möchte. Ein Ausweichen auf die betriebsverfassungsrechtliche Ebene mit dem dort vorhandenen normativ wirkenden Instrument der Betriebsvereinbarung ist nicht möglich. Genau darin liegt die institutionell die Tarifautonomie stärkende Wirkung des Tarifvorbehalts. 233

In einem pluralen Koalitions- und Tarifsystem (s. Rz. 116 ff.) ändert sich die Wirkungsweise des § 77 Abs. 3 BetrVG nicht grundlegend: Sobald ein TV besteht, dessen Geltungsbereich (s. Teil 8) ein Arbeitsverhältnis erfasst und der mithin potentiell anwendbar wäre, ist für dieses Arbeitsverhältnis die Regelung tariflich geregelter Materien durch Betriebsvereinbarung gesperrt1. Auf die Tarifbindung von Arbeitgeber oder Arbeitnehmer kommt es dafür nicht an.

234

Trifft nur ein Berufs- oder SpartenTV zu einer Regelungsfrage eine Regelung, bleibt für andere Berufsgruppen bzw. Sparten die Regelung durch Betriebsvereinbarung möglich, weil diese Arbeitsverhältnisse nicht in den (persönlich-fachlichen) Geltungsbereich des TVes fallen2. Insofern löst der Berufs- oder SpartenTV die Sperrwirkung nicht aus, so dass eine Regelung der Frage durch Betriebsvereinbarung für andere Berufsgruppen möglich bleibt. Die Alternative, eine Tarifbindung herzustellen, besteht dann gar nicht, da der Geltungsbereich für derartige Arbeitsverhältnisse nicht eröffnet ist. Der Schutzzweck des § 77 Abs. 3 BetrVG ist mithin nicht einschlägig. Dem Arbeitgeber fehlt es möglicherweise sogar für die anderen Berufsgruppen an einem gewerkschaftlichen Gegenüber zum Abschluss eines TVes. Eine umfassend sperrende Wirkung für die Regelungskompetenzen des Betriebsrats geht somit lediglich von TVen aus, die am Industrieverbandsprinzip orientiert sind und mithin alle Berufsgruppen im Betrieb erfassen. BerufsTVe erfassen nicht den Betrieb als Ganzes und lassen somit einen Spielraum für betriebliche Regelungen ansonsten üblicherweise tarifvertraglich geregelter Sachmaterien. Konkurrieren mehrere TVe mit überlappendem Geltungsbereich, ändert sich nichts: Die Regelungssperre, die schon durch einen TV ausgelöst wird, entsteht ebenso in Fällen der Tarifpluralität.

c) Tarifüblichkeit 235

Die gleichfalls erfassten Fälle der Tarifüblichkeit nehmen die Konstellation in den Blick, dass in dem jeweiligen Geltungsbereich eine einschlägige tarifliche Regelung in der Vergangenheit existierte, deren Geltung freilich, z.B. wegen Ablaufs oder Kündigung des TVes (zur Beendigung des TVes s. Teil 3) geendet hat. Erfasst wird damit insbesondere das Nachwirkungsstadium (§ 4 Abs. 5 TVG; s. dazu Rz. 21 ff.). Auch im Nachwirkungsstadium sollen keine konkurrierenden Betriebsvereinbarungen über bislang tarifvertraglich geregelte Materien abgeschlossen werden können. 1 Ebenso Bayreuther, NZA 2007, 184 (187); Franzen, RdA 2008, 193 (200). 2 BAG v. 22.1.1980 – 1 ABR 48/77, NJW 1981, 75.

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Verhältnis zu anderen Regelungen

Rz. 239 Teil 9

Auch der einmalige Abschluss einer Tarifnorm im jeweiligen Geltungsbereich kann zur Begründung von Tarifüblichkeit genügen, wenn die Regelung eine zeitlich ausgedehnte Wirkung hatte1. Der Abschluss von TVen mit anderem Geltungsbereich, also ohne Geltungsanspruch für den jeweiligen Betrieb, begründet noch keine Tarifüblichkeit. Maßstab für die Tarifüblichkeit sind daher ausschließlich abgelaufene tarifvertragliche Regelungen im jeweiligen Geltungsbereich2. Auch dasjenige, was in anderen Branchen oder Unternehmen selbstverständlich durch TV geregelt ist, ist nicht „tarifüblich“ i.S.v. § 77 Abs. 3 BetrVG. Dementsprechend begründen auch FirmenTVe zwischen Gewerkschaft und anderen Arbeitgebern derselben Branche keine Tarifüblichkeit der dort geregelten Materien. Dies folgt bereits daraus, dass der räumliche bzw. persönliche Geltungsbereich auf Arbeitgeberseite durch derartige TVe nicht eröffnet ist3. Es handelt sich um fremde TVe. Auf die „Repräsentativität“ des TVes kommt es auch in Fällen bloßer Tarifüblichkeit nicht an4.

236

d) Beendigung der Sperrwirkung Ein Ende der Sperrwirkung tarifüblicher Regelungen wird erst dann erreicht, wenn prognostisch feststeht, dass zu diesen Fragen keine tarifliche Regelung für den Geltungsbereich mehr getroffen werden wird oder sich ein tarifloser Zustand von gewisser Dauer abzeichnet5.

237

e) Prozessuale Geltendmachung Die Verdrängungswirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG kann einerseits im Individualprozess eine Rolle spielen, wenn der Arbeitnehmer, dem aufgrund einer Betriebsvereinbarung untertarifliche Arbeitsbedingungen gewährt wurden, die tarifvertraglich geregelten Arbeitsbedingungen einklagt. Die Betriebsvereinbarung bleibt dann wirkungslos, so dass der Arbeitnehmer die tariflich zugesagten Bedingungen einfordern kann. Unrichtig ist die Auffassung, dass auch hier eine Art Günstigkeitsbetrachtung Platz zu greifen habe, etwa eine – nicht tarifliche oder tarifübliche – Gegenleistung für die Unterschreitung des Tarifniveaus einzubeziehen sei und an der verdrängenden Wirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG teilhabe6.

238

Auch kollektive Rechtsbehelfe können den Tarifvorrang zur Geltung bringen: Die Gewerkschaft hat den jedem TV innewohnenden, auf Vertragserfüllung gerichteten Durchführungsanspruch, der in Form eines Einwirkungsanspruchs

239

1 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 567 m.w.N. 2 Zutr. BAG v. 27.1.1987 – 1 ABR 66/85, NZA 1987, 489. 3 Großzügiger aber BAG v. 16.9.1960 – 1 ABR 5/59, BB 1960, 1329; BAG v. 6.12.1963 – 1 ABR 7/63, DB 1964, 411. 4 So aber früher BAG v. 6.12.1963 – 1 ABR 7/63, DB 1964, 411; dem folgend Löwisch/Kaiser, § 77 BetrVG Rz. 65; wie hier BAG v. 13.8.1980 – 5 AZR 325/78, DB 1981, 274; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 565 m.w.N. 5 Zutr. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 568; Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, Grundlagen, Rz. 338; Fitting, § 77 BetrVG Rz. 91. 6 LAG Nürnberg v. 23.11.2000 – 6 TaBV 13/01, NZA-RR 2002, 524; zustimmend wohl Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, Grundlagen, Rz. 317.

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Teil 9 Rz. 240

Wirkung der Tarifnormen

auch beinhaltet, dass der Arbeitgeberverband auf den eine tarifwidrige Betriebsvereinbarung abschließenden Arbeitgeber, der Mitglied im Arbeitgeberverband ist, mit vereinsrechtlichen Sanktionen einwirkt. In Betracht kommt ein betriebsverfassungsrechtlicher Unterlassungsanspruch (§ 23 Abs. 3 BetrVG) sowie ein Unterlassungsanspruch auf Grundlage der §§ 1004, 823 Abs. 1 BGB, Art. 9 Abs. 3 GG1.

f) Öffnungsklauseln (§ 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG) 240

Gemäß § 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG können die TV-Parteien Öffnungsklauseln zu Gunsten der betriebsverfassungsrechtlichen Ebene vorsehen. Hierdurch wird bezüglich tarifvertraglich geregelter Fragen die Regelung durch Betriebsvereinbarung ermöglicht. Mit Blick darauf, dass § 77 Abs. 3 BetrVG lediglich ergänzende Betriebsvereinbarungen zulässt, wird teilweise eine nur beschränkte Befugnis zur Delegation von Regelungskompetenzen auf die Betriebsparteien anerkannt. Demnach muss der Schwerpunkt der Regelung im TV selbst liegen2. Mit ähnlicher Tendenz hat auch das BAG entschieden, indem es einen im TV vorgesehenen Spielraum für eine Regelung der Wochenarbeitszeit durch Betriebsvereinbarung von 37–40 Stunden anerkannt hat, zugleich jedoch angedeutet hat, dass die vollständige Delegation der Regelungskompetenz die Grenzen einer zulässigen Öffnungsklausel verletzen könnte3. Verbreiteter und richtiger Ansicht entspricht, dass der Übertragungsbefugnis nur großzügige Grenzen zu setzen sind4. Lediglich ein substantieller Kernbestand an Regelungsbefugnissen muss bei den TV-Parteien verbleiben. Auch darf die Kompetenzdelegation nicht unwiderruflich ausgestaltet werden. Bei gebotenem weiten Verständnis der Tarifautonomie ist dagegen auch der Verzicht auf eine eigene Regelung einzelner Sachfragen und die Delegation die Betriebsparteien eine legitime, durch das staatliche Recht grundsätzlich hinzunehmende Entscheidung5. Gibt man insoweit der tarifautonomen Freiheit Raum, besteht für die Einführung zusätzlicher gesetzlicher Öffnungsklauseln zu Gunsten der Regelung durch Betriebsvereinbarung, etwa für Fälle der Unternehmenskrise, kaum Bedarf: Es ist Aufgabe der Tarifparteien, zu vernünftigen Öffnungen zu Gunsten der Betriebsparteien zu gelangen, wenn die betrieblichen Bedürfnisse dies erfordern (s. auch Rz. 194).

g) Sonderregelung: § 3 BetrVG 241

Eine Sonderregelung stellt § 3 BetrVG dar. Hier ist vorgesehen, dass die TVParteien die Strukturen der Betriebsverfassung durch TV abweichend vom Ge1 Grundlegend BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887; zur Rechtsprechungsentwicklung und zum Meinungsstand Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 595 ff. 2 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 591; Baumann, Die Delegation tariflicher Rechtsetzungsbefugnisse, 1992, S. 54, 60; Waltermann, RdA 1996, 129 (136); Kittner, FS Schaub, S. 389 (408 ff.). 3 BAG v. 18.8.1987 – 1 ABR 30/86, NZA 1987, 779. 4 Schwarze, Der Betriebsrat im Dienst der Tarifparteien, S. 203 ff.; v. Hoyningen-Huene/ Meier-Krenz, ZfA 1988, 293 (305 f.). 5 GK-BetrVG/Kreutz, § 77 BetrVG Rz. 156.

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Verhältnis zu anderen Regelungen

Rz. 244 Teil 9

setz regeln können. Der Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 BetrVG wird insofern spezialgesetzlich dahingehend erweitert, dass überhaupt kein TV im jeweiligen Geltungsbereich bestehen darf, die punktuelle Betrachtung, ob die konkrete Sachmaterie (s. Rz. 230 f.) eine tarifliche Regelung erfahren hat oder üblicherweise erfährt (s. Rz. 235 f.), weicht damit einer globalen Betrachtung. Sinn und Zweck ist, die Tarifautonomie in derart fundamentalen Regelungsfragen weiter zu stärken: Nur dann, wenn überhaupt keine Gewerkschaft als Ansprechpartner vorhanden ist, soll der Arbeitgeber auf den Betriebsrat als Ansprechpartner zurückgreifen können, um die Strukturen der Betriebsverfassung abweichend vom Gesetz zu regeln. Ist eine Gewerkschaft vorhanden, muss der Arbeitgeber zur Regelung der Strukturen der Betriebsverfassung auf diese zugehen und mit ihr eine Verständigung erzielen. Dies kann man auch kritisieren, da der sachnahe Ansprechpartner für derartige Fragen letztlich derjenige ist, der davon am stärksten betroffen ist, nämlich der Betriebsrat1. De lege lata ist jedoch der Rückgriff auf eine Betriebsvereinbarung über derartige Fragen die nachrangige Notlösung2.

242

h) Rechtsfolge: Verdrängung der Betriebsvereinbarung Nach zutreffender herrschender Meinung sind tarifwidrige Betriebsvereinbarungen, bei denen der Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 BetrVG eingreift, nicht nichtig, sondern werden lediglich verdrängt. Sie können während der Geltungsdauer des TVes keinerlei Rechtswirkung herbeiführen3. § 77 Abs. 3 BetrVG ist damit nicht als Verbotsnorm zu interpretieren, sondern lediglich als kompetenzbegrenzende Norm4. Dies hat zur Folge, dass die TV-Parteien eine vom TV abweichende Betriebsvereinbarung zum Anlass nehmen können, diese gewissermaßen rückwirkend zu genehmigen, indem sie eine Öffnungsklausel i.S.d. § 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG (s. Rz. 240) statuieren5. Dieser Position ist beizupflichten, da sie die Tarifautonomie respektiert und ein – auch koalitionspolitisch – problematisches Auseinanderklaffen von tarifvertraglicher und betriebsverfassungsrechtlicher Regelungssituation zu heilen hilft.

243

i) Umdeutung Hinsichtlich der Umdeutung einer durch den Tarifvorbehalt verdrängten Betriebsvereinbarung in ein individualvertragliches Angebot auf Abschluss eines Änderungsvertrages ist Zurückhaltung geboten. Davon wird man nur ausgehen können, wenn der Arbeitgeber deutlich macht, dass er die zugesagte Leistung in jedem Fall erbringen möchte, unabhängig von ihrer rechtlichen Grundlage und den damit verbundenen Änderungsmöglichkeiten. Insbesondere wird man davon ausgehen können, wenn der Arbeitgeber in Kenntnis des Eingreifens des 1 Kritisch Buchner, NZA 2001, 633 (635); Hanau, RdA 2001, 65 (66); Reichold, NZA 2001, 857 (859). 2 Plastisch Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, Grundlagen, Rz. 342. 3 BAG v. 20.4.1999 – 1 AZR 631/98, NZA 1999, 1059; Fitting, § 77 BetrVG Rz. 97. 4 Zutr. Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, Grundlagen, Rz. 343. 5 Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, Grundlagen, Rz. 343.

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244

Teil 9 Rz. 245

Wirkung der Tarifnormen

Tarifvorbehalts die Leistung weiter erbringt; der Änderungsvertrag kommt dann durch konkludente Annahmeerklärung seitens der Arbeitnehmer durch bloße Entgegennahme der sie begünstigenden Leistung zustande1.

2. Tarifvorrang gemäß § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG a) Schutzzweck 245

§ 87 BetrVG enthält die zentralen Regelungen zu Mitbestimmungsrechten des Betriebsrats in sozialen Angelegenheiten. Anders als § 77 Abs. 3 BetrVG nimmt die Vorschrift damit nicht Regelungsgegenstände in den Blick, die gewissermaßen von Natur aus dem Individualarbeitsvertrag und dem TV anvertraut sind und somit als „Hausgut“ der Arbeits- bzw. Tarifvertragsparteien bezeichnet werden können (s. Rz. 225). Vielmehr kann man die hier geregelten Fragen durchaus als „Hausgut“ der Betriebspartner interpretieren, da ein besonderes Interesse an einer betriebsnahen Regelungsfindung besteht. Gleichwohl kann es auch bei derartigen Fragen zu Kompetenzkonflikten zwischen Betriebsverfassung und TV kommen, wenn nämlich ein TV sich derartiger Fragen annimmt. Dies ist von der aus Art. 9 Abs. 3 GG folgenden inhaltlichen Ausgestaltungsfreiheit, der Tarifautonomie, zweifellos umfasst (s. Teil 1).

246

Auch diesen Regelungskonflikt entscheidet § 87 Abs. 1 Einls. BetrVG zu Gunsten des TVes. Von zentraler Bedeutung ist jedoch, sich zu vergegenwärtigen, dass der Sinn und Zweck dieser Kollisionsregelung ein ganz anderer als im Falle des § 77 Abs. 3 BetrVG ist. Hier geht es nicht um die Abgrenzung einer Kompetenzsphäre vor beeinträchtigenden, illegitimen Regelungen durch die Betriebspartner, sondern um die schlichte Lösung einer Kompetenzkollision, wenn zwei Akteure mit insofern vergleichbarer Legitimität widersprechende Regelungen zu derselben Regelungsfrage treffen. Mit Blick auf den verfassungsrechtlich gesicherten Rang der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG) gewährt § 87 Abs. 1 Einls. BetrVG dem TV auch hier den Vorrang. Angesichts des anderen Regelungszwecks genügt hier jedoch – abweichend von § 77 Abs. 3 BetrVG – die bloße Tarifüblichkeit nicht, um eine betriebsverfassungsrechtliche Kompetenz auszuschließen2. Die Kollisionsregel wird nur dann zur Anwendung gebracht, wenn es zu einem akuten Kompetenzkonflikt kommt.

247

Neben dem dargestellten Regelungszweck wird zugleich sichergestellt, dass einseitige Entscheidungsmöglichkeiten des Arbeitgebers kraft Direktionsrechts in den von § 87 Abs. 1 BetrVG erfassten Regelungsfragen ausgeschlossen werden3. Die hier gefundene Regelung zielt also nicht darauf ab, die betriebsverfassungsrechtliche Ebene zugunsten TV (und Einzelarbeitsvertrag) zurückzudrängen, sondern es soll ein möglichst nahtloses Ineinandergreifen der kollektiven Regelungsinstrumente TV und Betriebsvereinbarung erreicht wer1 Vgl. BAG v. 24.1.1996 – 1 AZR 597/95, NZA 1996, 948; BAG v. 5.3.1997 – 4 AZR 532/95, NZA 1997, 951. 2 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 603. 3 Vgl. BAG v. 24.2.1987 – 1 ABR 18/85, NZA 1987, 639; BAG v. 3.12.1991 – GS 1/90, DB 1991, 2593; Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, Grundlagen, Rz. 346.

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Verhältnis zu anderen Regelungen

Rz. 251 Teil 9

den. Anders als durch § 77 Abs. 3 BetrVG soll gerade die einzelarbeitsvertragliche Regelungsebene zurückgeschnitten werden, auf der das arbeitgeberseitige Direktionsrecht verortet werden kann1.

b) Anwendungsbereich Angesichts des vollständig unterschiedlichen Regelungsansatzes bei § 77 Abs. 3 BetrVG und § 87 Abs. 1 Einls. BetrVG sind nach überwiegender Ansicht die Anwendungsbereiche beider Vorschriften klar zu trennen; sie überschneiden sich nicht. Im Verhältnis beider Normen wird § 87 Abs. 1 Einls. BetrVG die Funktion einer speziellen Sonderregelung für die dort normierten Regelungsfragen zugewiesen. Dieser Vorschrift kommt der Vorrang im Verhältnis zu der allgemeineren Regelung des § 77 Abs. 3 BetrVG zu (sog. Vorrangtheorie)2.

248

Nach der von einer Minderheit vertretenen Zwei-Schranken-Theorie3 soll demgegenüber auch hinsichtlich der in § 87 BetrVG geregelten Regelungsmaterien der Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 BetrVG Anwendung finden. Folge dieser Sichtweise wäre jedoch, dass die Regelungskompetenz der Betriebsparteien bereits im Falle bloßer Tarifüblichkeit und beim Fehlen einer Tarifbindung (des Arbeitgebers) gesperrt wäre, so dass es im Ergebnis zu einem Wiederaufleben des arbeitgeberseitigen Direktionsrechts käme. Eine plausible Begründung für diese Auffassung lässt sich nicht finden: Der andere Schutzzweck des § 87 Abs. 1 Einls. BetrVG gebietet keine Anwendung der die Tarifautonomie institutionell absichernden Vorschrift des § 77 Abs. 3 BetrVG, da ein speziell der Tarifautonomie vorbehaltener und somit vor einer Regelungskonkurrenz durch die Betriebsparteien unbedingt zu schützender Bereich nicht betroffen ist. Es geht gerade um besonders betriebsnahe Fragen, in denen der Betriebsrat eine eigenständige Sachkompetenz vorweisen kann. Insofern unterscheidet sich der in § 87 BetrVG umrissene Kompetenzbereich sehr deutlich von den mit § 77 Abs. 3 BetrVG in den Blick genommenen Fragen des arbeitsvertraglichen Synallagmas.

249

Auch mit Blick auf den Regelungszweck des § 87 Abs. 1 Einls. BetrVG, das einseitige Direktionsrecht des Arbeitgebers zurückzudrängen und in sozialen Fragen eine nahtlose Arbeitnehmerbeteiligung durch Ineinandergreifen von TV und Betriebsvereinbarung zu erzielen, würde durch Anwendung der ZweiSchranken-Theorie konterkariert. Schließlich sprechen auch systematische Argumente für die Vorrangtheorie4.

250

Umstritten ist die Frage, ob die Regelung lediglich – ihrem Wortlaut entsprechend – die erzwingbare Mitbestimmung nach § 87 BetrVG ausschließt und da-

251

1 Vgl. ErfK/Preis, § 106 GewO Rz. 1. 2 Mittlerweile ständige Rechtsprechung seit BAG v. 3.12.1991 – GS 1/90, DB 1991, 2593; vgl. bereits BAG v. 24.2.1987 – 1 ABR 18/85, NZA 1987, 639; vgl. weiterhin Kempen/ Zachert/Wendeling-Schröder, Grundlagen, Rz. 347; Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 998; Farthmann, RdA 1974, 65 (72). 3 Dafür etwa Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 611 ff.; Fitting, § 77 BetrVG Rz. 109 ff. 4 Vgl. ausführlich BAG v. 24.2.1987 – 1 ABR 18/85, NZA 1987, 639; dagegen aber Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 617 ff.

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Teil 9 Rz. 252

Wirkung der Tarifnormen

mit den Weg zur Einigungsstelle verschließt oder auch die Möglichkeit einer freiwilligen Betriebsvereinbarung (§ 88 BetrVG) bei einer bestehenden tarifvertraglichen Regelung ausgeschlossen sein soll. Entsprechend Wortlaut und Systematik ist im Einklang mit der überwiegenden Meinung der Anwendungsbereich auf die erzwingbare Mitbestimmung zu beschränken, so dass trotz bestehender Tarifnorm der Abschluss einer freiwilligen Betriebsvereinbarung mit gleichem Gegenstand möglich bleibt1. Im Verhältnis von freiwilliger Betriebsvereinbarung und TV stellt sich in diesen Fällen jedoch ein lösungsbedürftiges Kollisionsproblem. § 77 Abs. 3 BetrVG greift auch hier ein, sofern materielle Arbeitsbedingungen betroffen sind2. Im Übrigen wird man in Gesetzesanalogie zu den beiden statuierten Kollisionsregeln und mit Blick auf den unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Rang von Tarifautonomie und Betriebsverfassung einen ungeschriebenen Vorrang der Tarifnorm gegenüber einer freiwilligen Betriebsvereinbarung annehmen müssen.

c) Anwendungsvoraussetzungen 252

Aus dem dargestellten Regelungszweck folgt auch die Antwort auf die umstrittene Frage nach den Anwendungsvoraussetzungen des § 87 Abs. 1 Einls. BetrVG. Genügt auch hier – wie bei § 77 Abs. 3 BetrVG (s. Rz. 229) – die bloße Einschlägigkeit eines TVes, also die Tatsache, dass der Betrieb in den Geltungsbereich eines TVes fällt, für das Eingreifen der Kollisionsregel oder kommt es auf die tatsächliche normative Tarifgeltung (§ 4 Abs. 1 TVG) an? Für letzteres wäre grundsätzlich die beiderseitige Tarifbindung Voraussetzung (s. Rz. 1).

253

Bejaht man die hier vertretene Auffassung, dass es sich bei § 87 Abs. 1 Einls. BetrVG um eine bloße Kollisionsregel handelt (s. Rz. 246), ist die tatsächliche Geltung einer tarifvertraglichen Regelung vorauszusetzen, da es andernfalls zu keinerlei lösungsbedürftigem Kompetenzkonflikt kommt. Auch der Schutzzweck, das einseitige Direktionsrecht des Arbeitgebers möglichst wirkungsvoll zurückzudrängen, wird nur dann erreicht, wenn dem Bereich der betrieblichen Mitbestimmung dort Raum gegeben wird, wo eine tatsächlich anwendbare tarifvertragliche Regelung nicht existiert.

254

Für die Anwendbarkeit des § 87 Abs. 1 Einls. BetrVG kommt es demnach grundsätzlich auf die beiderseitige Tarifgebundenheit an3. Unabhängig auch von der einseitigen Tarifbindung des Arbeitgebers ist die Anwendung der Kollisionsregel nur in Fällen der Allgemeinverbindlicherklärung des jeweiligen TVes (§ 5 Abs. 1 TVG; s. Teil 7). In den meisten Fällen wird im Übrigen, da es sich bei den von § 87 BetrVG in den Blick genommenen Regelungsgegenständen typischerweise um nur betriebseinheitlich regelbare Fragen handelt, die einseitige Tarifbindung des Arbeitgebers genügen (§ 3 Abs. 2 TVG), denn es handelt sich um betriebliche Tarifnormen (s. Teil 4 Rz. 86 ff.). 1 Fitting, § 87 BetrVG Rz. 40; GK-BetrVG/Wiese, § 87 BetrVG Rz. 65; Richardi, § 87 BetrVG Rz. 169. 2 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 609; Fitting, § 88 BetrVG Rz. 4. 3 Zutr. GK-BetrVG/Wiese, § 87 BetrVG Rz. 68; Wiese, FS 25 Jahre BAG, 1979, S. 661 (670 ff.); Jahnke, Tarifautonomie, S. 163 f.

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Verhältnis zu anderen Regelungen

Rz. 256 Teil 9

Die h.M. überträgt dies auf Individualnormen; auch dort soll die einseitige Tarifbindung des Arbeitgebers genügen1. Ein Teil der Literatur will die Regelungssperre hingegen erst dann eingreifen lassen, wenn die tarifschließende Gewerkschaft im Betrieb „repräsentativ“ ist oder jedenfalls eine „Mindestrepräsentativität“ aufweist2. Ähnlich wollen Teile der Literatur darauf abstellen, ob der TV kraft normativer Tarifbindung oder Bezugnahmeklausel im Wesentlichen auf alle Arbeitnehmer im Betrieb angewandt wird3. Wiese schließlich fordert die beiderseitige Tarifbindung4. Die h.M. überzeugt ebenso wie die nur Repräsentativität voraussetzende Meinung nach den dargestellten Grundsätzen, insbesondere mit Blick auf den beschränkten Regelungszweck des Tarifvorrangs, nicht. Hintergrund dieser Auffassung scheint die pragmatische Überlegung zu sein, dass nach traditionellem Vorstellungsbild der Arbeitgeber ohnehin keine Möglichkeiten hat, die Gewerkschaftszugehörigkeit seiner Arbeitnehmer in Erfahrung zu bringen, so dass bei einseitiger Tarifbindung des Arbeitgebers immer davon auszugehen ist, dass in einzelnen Arbeitsverhältnissen eine kongruente Tarifbindung infolge Gewerkschaftszugehörigkeit des Arbeitnehmers gegeben ist. Für tatsächlich nicht tarifgebundene Arbeitnehmer wird ein Anreiz gesetzt, der Gewerkschaft beizutreten; das andernfalls eintretende Schutzdefizit durch Rückfall auf das arbeitgeberseitige Direktionsrecht kann (nur) auf diesem Wege abgewendet werden.

255

Die skizzierte herrschende Meinung gerät freilich ins Wanken, wenn die Tarifpluralität im Betrieb akzeptiert wird (s. Rz. 116 ff.)5. Dann kann nämlich der einzelne Arbeitnehmer nicht ohne weiteres tariflichen Schutz erlangen, wenn etwa die einzige im Betrieb vertretene Gewerkschaft als Berufsgewerkschaft für ihn überhaupt nicht tarifzuständig ist. Da Funktionsvoraussetzung für die akzeptierte Tarifpluralität ohnehin ist, dass dem Arbeitgeber Erkenntnismöglichkeiten hinsichtlich der Gewerkschaftszugehörigkeit seiner Arbeitnehmer an die Hand gegeben werden (s. Rz. 122 ff.), ist eine differenzierte Anwendung der Kollisionsregel des § 87 Abs. 1 Einls. BetrVG auch ohne weiteres möglich. Die Tendenz zur Tarifpluralität entkräftet auch das Gegenargument6, dass es andernfalls zu einer „nicht akzeptablen Ungleichheit im Betrieb“ käme, wenn bei Anwendung der Kollisionsregel nach der Tarifbindung des einzelnen Arbeitnehmers differenziert würde. Tatsächlich tritt diese Ungleichheit bereits infolge der akzeptierten Tarifpluralität ein.

256

1 Etwa BAG v. 24.2.1987 – 1 ABR 18/85, NZA 1987, 639; BAG v. 10.8.1993 – 1 ABR 21/93, NZA 1994, 326; BAG v. 24.11.1987 – 1 ABR 12/86, NZA 1988, 320; Wiedemann/ Wank, § 4 TVG Rz. 606; Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 990; Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, Grundlagen, Rz. 348; DKKW/Klebe, § 87 BetrVG Rz. 37 ff.; Fitting, § 87 BetrVG Rz. 42; WPK/Bender, § 87 BetrVG Rz. 27 m.w.N. 2 DKKW/Klebe, § 87 BetrVG Rz. 37 ff.; Richardi, § 87 BetrVG Rz. 156. 3 Richardi, § 87 BetrVG Rz. 155 m.w.N. 4 GK-BetrVG/Wiese, § 87 BetrVG Rz. 68; Wiese, FS 25 Jahre BAG, 1979, S. 661 (670 ff.); ebenso auch Hueck/Nipperdey/Säcker, Lehrbuch des Arbeitsrechts Bd. II/2, 7. Aufl. 1970, S. 1395. 5 A.A. Franzen, RdA 2008, 193 (200). 6 Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, Grundlagen, Rz. 348.

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Teil 9 Rz. 257

Wirkung der Tarifnormen

257

Es scheint daher auch im Kontext von § 87 Abs. 1 Einls. BetrVG geboten, die Kollisionsregel nur dann anzuwenden, wenn im jeweiligen Arbeitsverhältnis eine beidseitige kongruente Tarifbindung besteht. Es muss auf die normative Wirkung eines TVes im jeweiligen Arbeitsverhältnis abgestellt werden. Dies hat zur Folge, dass im tarifpluralen Betrieb für die Arbeitsverhältnisse nicht organisierter Arbeitnehmer die Kollisionsregel nicht greift, so dass für durch tarifliche Individualnormen geregelte Fragen insofern eine etwa nach § 87 BetrVG gegebene Regelungskompetenz des Betriebsrats besteht. Die akzeptierte Tarifpluralität weitet sich damit zur Regelungspluralität1, die auch ein Nebeneinander unterschiedlicher tarifvertraglicher und betriebsverfassungsrechtlicher Regelungen (für nicht tarifgebundene Arbeitnehmer) zu denselben Regelungsfragen zulässt. Der Mitbestimmung kommt eine „Ergänzungsfunktion“ für nicht tarifgebundene Arbeitnehmer zu2.

258

Unabhängig von diesen Fragen kann die Kollisionsregel nur dann greifen, wenn es sich um eine abschließende tarifvertragliche Regelung handelt, die dem Arbeitgeber keinen Umsetzungsspielraum mehr belässt. Besteht bei der Anwendung einer tarifvertraglichen (Rahmen)Vorschrift ein einseitiger, direktionsrechtlicher Entscheidungsspielraum des Arbeitgebers, kann dieser durch Mitbestimmungsrechte nach § 87 BetrVG flankiert werden3. Erst recht gilt dies für Fälle, in denen die Tarifnorm dem Arbeitgeber das alleinige Entscheidungsrecht in einer Frage zuweist4. Voraussetzung für ein Eingreifen der Sperrwirkung ist somit, dass der TV eine vollständige, als abschließend gewollte und anwendbare Regelung enthält5. Auch insoweit kann es auf die Auslegung im Einzelfall ankommen (s. Rz. 230).

259

Der nur nachwirkende TV (§ 4 Abs. 5 TVG; s. Rz. 21 ff.) löst die Kollisionsregel des § 87 Abs. 1 Einls. BetrVG nicht aus6. Auch dafür spricht der dargestellte Regelungszweck, ein möglichst nahtloses Ineinandergreifen von (zwingender) tarifvertraglicher Regelung und betriebverfassungsrechtlichen Mitbestimmungskompetenzen zu ermöglichen und auf diese Weise das einseitige Gestaltungsrecht des Arbeitgebers möglichst zurückzudrängen. Auch die Zwecksetzung des § 4 Abs. 5 TVG spricht dafür: Regelungszweck ist die Verhinderung einer normativen Regelungslücke. Diese Lücke kann gerade in den Fällen des § 87 BetrVG durch eine Betriebsvereinbarung sinnvoll geschlossen werden7.

1 Greiner, Rechtsfragen, S. 377. 2 So Wiese, FS 25 Jahre BAG, 1979, S. 661 (672). 3 Vgl. dazu BAG v. 3.12.1991 – GS 1/90, DB 1991, 2593; Fitting, § 87 BetrVG Rz. 46 ff.; Richardi, § 87 BetrVG Rz. 161 ff. 4 BAG v. 17.12.1985 – 1 ABR 6/84, NZA 1986, 364; BAG v. 4.7.1989 – 1 ABR 40/88, NZA 1990, 29. 5 BAG v. 31.8.1982 – 1 ABR 8/81, BB 1983, 60; BAG v. 4.7.1989 – 1 ABR 40/88, NZA 1990, 29; Fitting, § 87 BetrVG Rz. 46 ff. 6 So zutr. BAG v. 24.2.1987 – 1 ABR 18/85, NZA 1987, 639; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 605; Fitting, § 87 BetrVG Rz. 41 m.w.N. 7 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 605.

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Greiner

Teil 10 Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme Rz. A. Arbeitsvertragliche Geltung von Tarifverträgen I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Wirkung der vertraglichen Inbezugnahme 1. Keine normative Wirkung der Bezugnahme . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rein schuldrechtlicher Charakter der Bezugnahme . . . . . . . 3. Bezugnahmeklauseln bei beidseitiger Tarifbindung . . . . . . . . .

1

C. Erscheinungsformen . . . . . . . . . . . . 47

7

I. Deklaratorische und konstitutive Inbezugnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

8

9

II. Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 III. AGB-rechtliche Kontrolle und Auslegung arbeitsvertraglicher Bezugnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Einbeziehung der Bezugnahmeklausel in den Vertrag a) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . b) Schutz vor überraschenden Klauseln . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Auslegung von Bezugnahmeklauseln a) Vermutung dynamischer Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . b) Keine Geltung der Unklarheitenregelung des § 305c Abs. 2 BGB . . . . . . . . . . . . . . c) Wirkungen bei tarifvertraglichen Differenzierungsklauseln . . . . . . . . . . . d) Auslegung bei Tarifpluralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Verweisung auf den BAT . 3. Die Inhaltskontrolle von Bezugnahmeklauseln . . . . . . . . . . . 4. Die Inhaltskontrolle der in Bezug genommenen TV-Normen a) Grundsätzliches . . . . . . . . . b) Globalverweisungen auf den sachlich und örtlich einschlägigen TV . . . . . . . .

d)

Einzel- und Teilverweisungen auf den sachlich und örtlich einschlägigen TV . . 43 Verweisungen auf branchenfremde oder nichtige TVe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

6

B. Die vertragliche Vereinbarung und ihre Wirksamkeit I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Rz. c)

16

18 20

24

26

27 32 34 36

40

42

II. Statische oder dynamische Inbezugnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Statische Inbezugnahme a) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . b) Wirkungen bei Verbandsaustritt, Verbandswechsel und Umstrukturierung . . . 2. Kleine dynamische Bezugnahmeklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ältere Rechtsprechung: Auslegung als Gleichstellungsabrede . . . . . . . . . . . . . b) Aktuelle Rechtsprechung: Konstitutive Ewigkeitsbindung bei Neuklauseln . . . . c) Abgrenzung von Altklauseln und Neuklauseln . . . . d) Folgen bei Verbandsaustritt, Verbandswechsel und Umstrukturierung aa) Auslegung von Altklauseln . . . . . . . . . . . . bb) Wirkung von Neuklauseln . . . . . . . . . . . . e) Tarifsukzession . . . . . . . . . . f) Konkurrenz von (allgemeinverbindlichem) VerbandsTV und FirmenTV? . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Große dynamische Bezugnahmeklausel a) Grundlagen . . . . . . . . . . . . . b) Ausgestaltung als Gleichstellungsabrede . . . . . . . . . . c) Wirkung bei Verbandsaustritt, Herauswachsen und Betriebsübergang . . . . . . . .

Henssler

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52 53

55 58

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62 67

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83 89

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Teil 10

Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme Rz.

III. Teil- und Einzelverweisung . . . . . . 99 D. Bezugnahme kraft betrieblicher Übung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

Rz. E. Sonstige Rechtsgrundlagen für eine nicht tarifrechtlich begründete Anwendbarkeit von Tarifverträgen

I. Dogmatische Grundlagen der betrieblichen Übung . . . . . . . . . . . . . . 104

I. Bezugnahme durch Betriebsvereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

II. Entstehung der Tarifbindung durch betriebliche Übung 1. Regelmäßig wiederkehrendes, gleichförmiges Arbeitgeberverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 2. Entgegenstehende Absprachen 111

II. Tarifvertragliche Außenseiterklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

III. Inhalt der Bezugnahme durch betriebliche Übung . . . . . . . . . . . . . . . 114

III. Arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 F. Formulierungsvorschläge . . . . . . . . 131 I. Tarifgebundene Arbeitgeber . . . . . 132 II. Nicht tarifgebundene Arbeitgeber 133

IV. Die Beendigung der Tarifbindung durch betriebliche Übung . . . . . . . . 119

A. Arbeitsvertragliche Geltung von Tarifverträgen Literatur: Bauer/Günther, Bezugnahmeklauseln bei Verbandswechsel und Betriebsübergang – Ein Irrgarten?, NZA 2008, 6; Bauer/Haußmann, Schöne Bescherung: Abschied von der Gleichstellungsabrede!, DB 2005, 2815; Clemenz, Arbeitsvertragliche Bezugnahme auf Tarifverträge – ein Paradigmenwechsel mit offenen Fragen, NZA 2007, 769; Giesen, Bezugnahmeklauseln – Auslegung, Formulierung und Änderung, NZA 2006, 625; Giesen, Die Auslegung von Bezugnahmeklauseln in Konflikt um Tarifanwendung und Tarifvermeidung, ZfA 2010, 657; Haußmann, Tarifwechsel und Bezugnahmeklauseln, in: Festschrift Schwerdtner, 2003, S. 89; Henssler, Schuldrechtliche Tarifgeltung bei Verbandsaustritt, Verbandswechsel und Unternehmensumstrukturierung, in: Festschrift Wißmann, 2005, S. 133; Henssler/Heiden, Wirkung kleiner dynamischer Bezugnahmeklauseln bei Verbandsaustritt des Arbeitgebers – Besprechung des Urteils BAG v. 19.3.2003 – 4 AZR 331/02, RdA 2004, 241; Hohenstatt/Kuhnke, Die arbeitsvertragliche Bezugnahme auf Tarifverträge beim Betriebs(teil)übergang – Zugleich Besprechung der Urteile BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 765/06, – 4 AZR 766/06 und – 4 AZR 767/06, RdA 2009, 107; Höpfner, Vertrauensschutz bei Änderung der Rechtsprechung zu arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln, NZA 2008, 91; Höpfner, Nochmals: Vertrauensschutz bei Änderung der Rechtsprechung zu arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln, NZA 2009, 420; Houben, Wie dynamisch sind dynamische Verweisungsklauseln?, SAE 2007, 109; Jordan/Bissels, Gilt „der jeweils anwendbare Tarifvertrag in der jeweils gültigen Fassung“ noch? – Wirksamkeit von großen dynamischen Bezugnahmeklauseln, NZA 2010, 71; Lingemann, Kleine dynamische Bezugnahmeklausel bei Änderung der Tarifbindung, in: Festschrift Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht zum 25jährigen Bestehen, 2006, S. 71; Meinel/Herms, Änderung der BAG-Rechtsprechung zu Bezugnahmeklauseln in Arbeitsverträgen, DB 2006, 1429; Moll, Fortgeltung von Tarifverträgen bei Betriebsübergang – Besprechung des Urteils BAG v. 11.5.2005 – 4 AZR 315/04, RdA 2007, 48; Möller, Gleichstellungsrechtsprechung „Der Anfang vom Ende?“, NZA 2006, 579; Oetker, Arbeitsvertragliche Bezugnahme auf Tarifverträge und AGB-Kontrolle, in: Festschrift Wiedemann, 2002, S. 383; Preis/Greiner, Vertragsgestaltung bei Bezugnahmeklauseln nach der Rechtsprechungsänderung des BAG, NZA 2007, 1073; Rinck, Kollision von fortwirkenden Tarifnormen und Bezugnahmeklauseln und Betriebsübergang, RdA 2010, 216; Schwarz,

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Henssler

Arbeitsvertragliche Geltung von Tarifverträgen

Rz. 2 Teil 10

Kleine dynamische Bezugnahmeklauseln – Abschied vom Tarifwechsel, BB 2010, 1021; Sittard/Ulbrich, Zur Rechtsprechungsänderung bei der Auslegung von Bezugnahmeklauseln – zugleich Besprechung des Urteils BAG vom 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, ZTR 2006, 458; Thüsing, Europarechtliche Bezüge der Bezugnahmeklausel, NZA 2006, 473.

I. Allgemeines TVe gelten normativ grundsätzlich nur bei einer kongruenten Tarifbindung beider Parteien des Arbeitsvertrages (§ 3 Abs. 1 TVG). Fehlt bei einem der Vertragspartner diese Tarifgebundenheit bzw. sind die Tarifbindungen jedenfalls nicht kongruent1 und ist auch keine Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG erfolgt, gelten die fachlich und örtlich einschlägigen tariflichen Rechtsnormen nicht gemäß § 4 Abs. 1 TVG unmittelbar und zwingend. In diesen Fällen können Tarifnormen gleichwohl durch Bezugnahmeklauseln auf individualarbeitsvertraglicher Ebene zum Bestandteil des Arbeitsverhältnisses gemacht werden. An die Stelle einer normativen Bindung an den TV tritt in diesem Fall eine lediglich schuldrechtliche Bindung an die Tarifnormen.

1

In Deutschland enthält seit jeher die große Mehrzahl aller Arbeitsverträge2 eine entsprechende Klausel. Die Klauseln werden von den Arbeitgebern typischerweise unterschiedslos in alle Arbeitsverträge, also auch in diejenigen der organisierten Arbeitnehmer, aufgenommen, da die Arbeitgeber regelmäßig keine Kenntnis von einer Gewerkschaftsmitgliedschaft ihrer Mitglieder haben3. Zwar ist die Frage nach der Gewerkschaftszugehörigkeit nur im Zeitraum vor der Einstellung unzulässig4, nach der Einstellung ist sie dagegen – wie schon die Anerkennung von Differenzierungsklauseln durch das BAG5 zeigt – nicht zu beanstanden6. Da die Arbeitgeber aber an einheitlichen Arbeitsbedingungen für alle Arbeitnehmer interessiert sind7, wird die Gewerkschaftszugehörigkeit regelmäßig auch nach der positiven Entscheidung über die Einstellung nicht abgefragt. Ohnehin wird der die Bezugnahmeklausel enthaltende Vertrag dem Arbeitnehmer unterschriftsreif vorgelegt. Ist der Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert, spiegelt die Bezugnahmeklausel grundsätzlich nur schuldrechtlich dasjenige wider, das bereits normativ aufgrund der Tarifgebundenheit gilt. Allerdings wirken die Klauseln auch in diesem Fall konstitutiv,

2

1 Eine kongruente Tarifbindung liegt nur vor, wenn der Arbeitnehmer derjenigen Gewerkschaft angehört, die entweder mit dem Arbeitgeber einen FirmenTV geschlossen hat oder aber einen VerbandsTV mit jenem Arbeitgeberverband vereinbart hat, dem der Arbeitgeber als tarifgebundenes Mitglied angehört. 2 Bereits im Jahr 1989 enthielten rund 90 % aller untersuchten Arbeitsverträge Bezugnahmen auf TVe, vgl. Preis, Der Arbeitsvertrag, I B Rz. 25. 3 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 29. 4 ErfK/Preis, § 611 BGB Rz. 278. 5 BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028; BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920. 6 Richardi/Thüsing, § 94 BetrVG Rz. 20; Staudinger/Richardi/Fischinger, § 611 BGB Rz. 208. 7 BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, NZA 1991, 736; BAG v. 21.1.1997 – 1 AZR 572/96, NZA 1997, 1009.

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Teil 10

Rz. 3

Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme

begründen also einen eigenständigen Anspruch auf die tariflichen Arbeitsbedingungen (Rz. 7). 3

Bedingt durch den Mitgliederschwund bei den Gewerkschaften1 und den gleichzeitig auf Arbeitgeberseite zu beobachtenden Trend zur Mitgliedschaft OT2 gewinnen Bezugnahmeklauseln aber kontinuierlich eine eigenständige Bedeutung. Ihnen ist es zu verdanken, dass sich weiterhin in über 80 % aller Arbeitsverhältnisse in Deutschland die Arbeitsbedingungen nach tariflichen Regelungen richten3. Nicht nur tarifgebundene Arbeitgeber verwenden sie, auch nicht tarifgebundene Arbeitgeber nutzen über sie die Vorteile der Anbindung an ein kollektives Regelungssystem. Stellt man auf die Betriebe ab, so orientieren sich rund 40 % aller nicht an einen TV gebundenen Betriebe an den einschlägigen BranchenTVen4. Die arbeitsvertragliche Inbezugnahme von TVen ist heute im Arbeitsleben als Gestaltungsinstrument derart verbreitet, dass ihre Aufnahme in Formularverträge regelmäßig nicht überraschend i.S.d. § 305c BGB ist5.

4

Die Verwendung von Bezugnahmeklauseln bietet aus Sicht der Arbeitgeber verschiedene Vorteile. Tarifgebundene Arbeitgeber werden sich in erster Linie den mit einer Differenzierung verbundenen Verwaltungs- und Vertragsgestaltungsaufwand ersparen und soziale Spannungen im Betrieb vermeiden wollen. Zudem soll durch die Gleichstellung den nichtorganisierten Arbeitnehmern der Anreiz genommen werden, der Gewerkschaft beizutreten6. Nicht tarifgebundene Arbeitgeber schätzen den Vorteil der Transaktionskostenersparnis, da durch die Anbindung an ein von den Arbeitnehmern akzeptiertes, sich dynamisch entwickelndes kollektives System die aufwändige Entwicklung und laufende Anpassung eines eigenen betrieblichen Systems der Arbeitsbedingungen entbehrlich wird.

5

Ob mit der Bezugnahmeklausel im Einzelfall tatsächlich eine vollständige Gleichstellung mit Gewerkschaftsmitgliedern bezweckt wird, ist stets durch Auslegung zu ermitteln (vgl. hierzu Rz. 40 f.). Nach der älteren Rechtsprechung des BAG war eine dynamische Verweisung von tarifgebundenen Arbeitgebern auf einen konkreten TV im Zweifel als Gleichstellungsabrede zu verstehen mit der Konsequenz, dass die arbeitsvertragliche Verweisung lediglich die feh1 Im Jahr 2010 zählten die Gewerkschaften des Deutschen Gewerkschaftsbundes 6 193 252 Mitglieder, verglichen mit 7 772 795 Mitgliedern im Jahr 2000 und 7 937 923 Mitgliedern im Jahr 1990, www.dgb.de/uber-uns/dgb-heute/mitgliederzahlen. 19,3 % aller Arbeitnehmer in Deutschland waren im Jahr 2008 gewerkschaftlich organisiert, verglichen mit 28,8 % im Jahr 2001 und 40,6 % im Jahr 1991, Institut der deutschen Wirtschaft Köln (www.iwkoeln.de). 2 Vgl. v. Joest, FS Buchner, 2009, S. 358, 367 f.; WSI-Tarifhandbuch 2010, S. 40. 3 Nach Angaben des Bundesministeriums für Arbeit und Wirtschaft (BMAS) sind in Deutschland TVe für etwa 84 % aller Arbeitsverhältnisse unmittelbar oder mittelbar maßgebend, Tarifvertragliche Arbeitsbedingungen im Jahr 2004, abrufbar unter www.bmas.de. Vgl. auch die Daten im WSI-Tarifhandbuch 2010, S. 115. 4 Ellguth/Kohaut, IAB-Betriebspanel 2010, WSI Mitteilungen 2011, 242 (Heft 5). 5 BAG v. 24.9.2008 – 6 AZR 76/07, NZA 2009, 154. 6 Staudinger/Richardi/Fischinger, § 611 BGB Rz. 362; Thüsing/Braun/Reufels, 8. Kap. Rz. 3 f.

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Arbeitsvertragliche Geltung von Tarifverträgen

Rz. 7 Teil 10

lende Tarifbindung des Arbeitnehmers ersetzte1. Nunmehr legt der zuständige 4. Senat des BAG entsprechende Klauseln, die nach dem 1.1.2002 vereinbart wurden, im Hinblick auf die Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB regelmäßig dahingehend aus, dass der Arbeitnehmer so gestellt werden soll, als seien beide Arbeitsvertragsparteien tarifgebunden2 (ausführlich hierzu Rz. 46 f.).

II. Wirkung der vertraglichen Inbezugnahme 1. Keine normative Wirkung der Bezugnahme Vereinzelt wird im Schrifttum die Ansicht vertreten, die arbeitsvertragliche Bezugnahme auf einen TV bewirke eine zwingende normative Wirkung der TVNormen i.S.d. § 3 Abs. 1 TVG3. Die Tarifvertragsverordnung von 1918 nannte in ihrem § 1 Abs. 14 die „Berufung auf den Tarifvertrag“ gleichrangig neben der Tarifbindung kraft Mitgliedschaft in der tarifschließenden Vereinigung als einen die „Tarifbeteiligung“ auslösenden Tatbestand und ließ damit ein solches Verständnis zu5. Der Gesetzgeber des TVG 1949 hat diese Vorschrift allerdings nicht übernommen und die Rechtswirkungen der allgemeinen Bezugnahme auf TVe nicht ausdrücklich geregelt.

6

2. Rein schuldrechtlicher Charakter der Bezugnahme Nach zutreffender, absolut h.M. hat die Bezugnahme einen rein schuldrechtlichen Charakter6. Die Normen des TVes werden aufgrund der Bezugnahme Inhalt des Arbeitsvertrages und wirken damit nicht anders, als hätten die Parteien die Regelungen als Vertragsklauseln direkt in den Vertrag aufgenommen. Sie gelten also nicht zwingend und unmittelbar, sondern kraft vertraglicher Abrede als individualvertraglich abänderbarer Bestandteil des Arbeitsvertrages. Findet ein TV auf ein Arbeitsverhältnis kraft beidseitiger Tarifbindung oder Allgemeinverbindlichkeit zwingende Anwendung, so kann die Verweisung auf 1 Vgl. nur BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, NZA 1991, 736; BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, NZA 2006, 634; BAG v. 19.3.2003 – 4 AZR 331/02, NZA 2003, 1207; BAG v. 24.11.2004 – 10 AZR 202/04, NZA 2005, 349. 2 BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, NZA 2006, 607; BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965; BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 653/05, DB 2007, 2598. 3 v. Hoyningen-Huene, RdA 1978, 138 ff.; in Richtung einer normativen Tarifgeltung kraft Bezugnahme tendierend auch BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, NZA 1991, 736. 4 § 1 Abs. 1 TVVO 1918: „[…] Beteiligte Personen im Sinne des Abs. 1 sind Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die Vertragsparteien des Tarifvertrages oder Mitglieder der vertragsschließenden Vereinigungen sind oder bei Abschluss des Arbeitsvertrages gewesen sind oder die den Arbeitsvertrag unter Berufung auf den Tarifvertrag abgeschlossen haben.“ 5 Vgl. zu den divergierenden Auffassungen zu § 1 Abs. 1 TVVO Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 272 f. 6 HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 27; MüKo/Müller-Glöge, § 611 BGB Rz. 346; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 285; Thüsing/Braun/Reufels, 8. Kap. Rz. 2; Staudinger/Richardi/Fischinger, § 611 BGB Rz. 362; Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, 2012, S. 162 m.w.N.

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Rz. 8

Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme

den TV im Arbeitsvertrag folglich nicht zu einer echten Tarifkonkurrenz führen. Vielmehr „konkurriert“ ein Arbeitsvertrag mit einem TV1. Derartige Kollisionen sind nach der zutreffenden Rechtsprechung des BAG über das Günstigkeitsprinzip i.S.d. § 4 Abs. 3 TVG zu lösen. Eine Abweichung von normativ geltenden Tarifnormen mittels Bezugnahme auf einen nicht normativ geltenden TV ist somit nur zugunsten des Arbeitnehmers möglich.

3. Bezugnahmeklauseln bei beidseitiger Tarifbindung 8

Im Falle beidseitiger Tarifbindung wurde insbesondere im älteren Schrifttum vertreten, dass einer arbeitsvertraglichen Bezugnahme lediglich deklaratorische Wirkung zukomme2. Ein eigener arbeitsvertraglicher Anspruch erwachse dem Arbeitnehmer in diesen Fällen nicht. Die normative oder konstitutive Wirkung von Verweisungsklauseln ist gesetzlich nicht vorgegeben, sondern im Wege der Vertragsauslegung nach §§ 133, 157 BGB zu ermitteln. Da es sich um Allgemeine Geschäftsbedingungen handelt, gehen Unklarheiten zu Lasten des Verwenders, also des Arbeitgebers. Aus der maßgeblichen Sicht eines objektivierten Erklärungsempfängers ist davon auszugehen, dass die Parteien auch für den Fall einer beiderseitigen Tarifgebundenheit in der Regel eine konstitutive Wirkung erzielen wollten3. Der Arbeitgeber hat bei Vertragsschluss regelmäßig keine Kenntnis von der Gewerkschaftszugehörigkeit des Arbeitnehmers4, sodass es lebensfremd wäre, von einem unterschiedlichen Bindungswillen in Abhängigkeit von der Tarifgebundenheit des einzustellenden Arbeitnehmers auszugehen. Aus Arbeitnehmersicht ist eine Auslegung als konstitutiv wirkende Klausel eindeutig vorzugswürdig, weil nur sie eine sichere Anspruchsgrundlage bietet. Schon die aktuelle Tarifbindung ist bei Verbandstarifen dem Arbeitnehmer meist unbekannt, vor allem aber ist die künftige Tarifbindung des Arbeitgebers für den Arbeitnehmer ungewiss. Nur eine konstitutive Verweisung und die entsprechende Gestaltung des Arbeitsverhältnisses kann damit zuverlässig Rechtspositionen begründen und Rechtssicherheit schaffen.

B. Die vertragliche Vereinbarung und ihre Wirksamkeit Literatur: Bayreuther, Die Rolle des Tarifvertrags bei der AGB-Kontrolle von Arbeitsverträgen, RdA 2003, 129; Bayreuther, Die AGB-Kontrolle der Tarifwechselklausel, in: Festschrift Kreutz, 2010, S. 29; Bepler, Der Nachweis von Ausschlussfristen, ZTR 2001, 241; Diehn, AGB-Kontrolle von arbeitsrechtlichen Verweisungsklauseln, NZA 2004, 129; Gaul, Bezugnahmeklauseln – zwischen Inhaltskontrolle und Nachweisgesetz, ZfA 2003, 75; Greiner/Suhre, Tarifvertagliche Exklusivleistungen für Gewerkschaftsmitglieder 1 BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, NZA 2008, 364, unter ausdr. Aufg. von BAG v. 23.3.2005 – 4 AZR 203/04, NZA 2005, 1003; BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, NZA 1991, 736. 2 Schwab, BB 1994, 781 (783); Hanau, NZA 2005, 489 (490). 3 So auch BAG v. 19.3.2003 – 4 AZR 331/02, NZA 2003, 1207; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 33; Thüsing/Lambrich, RdA 2002, 192 (201 f.). 4 Eine entsprechende Frage im Einstellungsgespräch ist nach der Rspr. des BAG unzulässig, vgl. BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, NZA 2002, 634; BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41.

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Die vertragliche Vereinbarung und ihre Wirksamkeit

Rz. 11 Teil 10

nach der Rechtsprechungsänderung des BAG, NJW 2010, 131; Klebeck, Unklarheiten bei arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklausel – Zur angekündigten Anwendbarkeit des § 305c II BGB auf arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln, NZA 2006, 15; Leydecker, Das Urheberrecht am Tarifvertrag, GRUR 2007, 1030; Linde/Lindemann, Der Nachweis tarifvertraglicher Ausschlussfristen, NZA 2003, 649; Oetker, Dynamische Verweisungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen als Rechtsproblem, JZ 2002, 337; Thüsing/Lambrich, AGB-Kontrolle arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklauseln – Vertragsgestaltung nach der Schuldrechtsreform, NZA 2002, 1361.

I. Allgemeines Die privatautonome Verweisung auf TVe ist allgemein zulässig. Teilweise sieht das Gesetz die Möglichkeit einer arbeitsvertraglichen Inbezugnahme von TVen ausdrücklich vor, vgl. etwa § 622 Abs. 4 Satz 2 BGB, § 4 Abs. 3 Satz 2 EFZG, §§ 12 Abs. 3 Satz 2, 13 Abs. 4 Satz 2, 14 Abs. 2 Satz 4, 22 Abs. 2 TzBfG oder § 13 Abs. 1 Satz 2 BUrlG. Diese Normen sollen aber die arbeitsvertragliche Bezugnahme von TVen nicht abschließend regeln, sodass auch außerhalb ihres Anwendungsbereiches allgemeine Bezugnahmen problemlos vereinbart werden können.

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Ein entsprechender Urheberrechtsschutz zugunsten der TV-Parteien besteht nach § 5 Abs. 1 UrhG nicht1. Auch im Hinblick auf die kollektive Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG) bestehen keine Bedenken. Zwar führt die Vereinbarung von Bezugnahmeklauseln und die damit verbundene Gleichstellung von nichtorganisierten Arbeitnehmern mit Gewerkschaftsmitgliedern dazu, dass eine Mitgliedschaft in der tarifschließenden Gewerkschaft weniger attraktiv erscheint. Sie schwächt somit indirekt die Durchschlagskraft der Gewerkschaften2. Es kommt zu einem aus Sicht der Gewerkschaften problematischen „Trittbrettfahrereffekt“. Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG verpflichtet den Gesetzgeber jedoch nicht, die Attraktivität und Aktionsfähigkeit der Koalitionen zu optimieren3. Zu bedenken ist zudem, dass auch die Vertragsfreiheit der den Arbeitsvertrag abschließenden Parteien nach Art. 2 Abs. 1 GG Grundrechtsschutz genießt4.

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Den TV-Parteien fehlt von vornherein die Zuständigkeit, den Arbeitsvertragsparteien im Wege einer negativen Inhaltsnorm zu verbieten, in Arbeitsverträgen auf den TV Bezug zu nehmen oder seinen Inhalt in ein individuelles Arbeitsverhältnis zu übernehmen. Zur Regelung von Sachverhalten außerhalb der Geltungskraft des TVes kommt den Tarifparteien keine Normsetzungsbefugnis zu. Sie sind auch nicht befugt, eine schuldrechtliche Vereinbarung abzuschließen, nach der die Koalitionen sich verpflichten, ihre Mitglieder dazu anzuhalten, keine Bezugnahmeklauseln in Arbeitsverträge aufzunehmen. Eine solche Abrede im schuldrechtlichen Teil des TVes verstieße gegen die negative Koalitionsfreiheit. Eine Differenzierung zwischen organisierten und nichtorganisierten Arbeitnehmern kann von den Tarifpartnern nicht erzwungen wer-

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1 2 3 4

BAG v. 11.11.1968 – 1 AZR 16/68, NJW 1969, 861. Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 287. BVerfG v. 4.7.1995 – 1 BvF 2/86, NZA 1995, 754. Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 287.

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Teil 10

Rz. 12

Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme

den1, wie auch das vom BAG2 bejahte Verbot qualifizierter Differenzierungsklauseln bestätigt.

II. Form 12

Bei der Bezugnahme auf einen TV handelt es sich um eine individualrechtliche Regelung, die wie jede andere arbeitsvertragliche Vereinbarung formlos wirksam ist3 und auch konkludent erfolgen kann4. Die allgemeinen bürgerlichrechtlichen Grundsätze der §§ 145 ff. BGB über den Vertragsschluss finden Anwendung. Bei tarifgebundenen Arbeitgebern kann nach der Rechtsprechung des BAG aus der Anwendung wesentlicher Tarifbedingungen, insbesondere aus der Gewährung des Tariflohns, geschlossen werden, dass das Arbeitsverhältnis insgesamt dem einschlägigen TV unterliegen soll, wenn nicht besondere Umstände des Einzelfalls, wie etwa die tatsächliche Nichtgewährung bestimmter tariflicher Leistungen an Nichtorganisierte, dagegen sprechen5. Eine umfassende Bezugnahme auf ein ganzes Tarifwerk ist aber nicht bereits dann anzunehmen, wenn der Arbeitgeber einzelne Tarifregelungen punktuell anwendet. Vielmehr muss sein Verhalten erkennen lassen, dass er die Anwendung des TVes als Ganzes möchte6. Der Bestimmtheitsgrundsatz verlangt, dass aus der Bezugnahme eindeutig hervorgeht, auf welchen TV verwiesen wird und ob ein ganzes Tarifwerk, ein einzelner TV oder auch lediglich einzelne Tarifbestimmungen in Bezug genommen werden7. Möglich ist auch die Bezugnahme auf einen TV durch eine betriebliche Übung, vgl. hierzu Rz. 47 ff.

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Soll in einem Unternehmen ein TV angewendet werden, sind die Vorgaben des Nachweisgesetzes zu beachten. Die in diesem Gesetz normierten Nachweispflichten sind zwar rein deklaratorischer Art und haben auf die Wirksamkeit der Bezugnahmeklausel keinen Einfluss8. Die Nachweispflichten aus §§ 2 und 3 NachwG sind aber selbständig einklagbare Nebenpflichten des Arbeitgebers, deren Verletzung Schadensersatzansprüche aus § 280 Abs. 1 BGB begründen kann9. Nach § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 10 NachwG hat der Arbeitgeber die Pflicht, spätestens einen Monat nach dem vereinbarten Beginn des Arbeitsverhältnisses die wesentlichen Vertragsbedingungen, zu denen auch die anwendbaren TVe, Betriebs- oder Dienstvereinbarungen zählen, schriftlich niederzulegen und dem Arbeitnehmer auszuhändigen. Zum Teil wird die Norm restriktiv dahingehend verstanden, dass mit den „anzuwendenden“ Kollektivvereinbarungen nur diejenigen gemeint sind, die unmittelbar und zwingend gelten10. Diese 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 518; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 289. BAG v. 23.3.11 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920. BAG v. 19.1.1999 – 1 AZR 606/98, NZA 1999, 879. Gaul, ZfA 2003, 75 (77); Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 295. BAG v. 19.1.1999 – 1 AZR 606/98, NZA 1999, 879 m. zust. Anm. Oetker. Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 529; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 297; vgl. auch BAG v. 26.9.1990 – 5 AZR 112/90, NZA 1991, 247. BAG v. 27.10.2004 – 10 AZR 138/04, NZA 2005, 439. Thüsing/Braun/Reufels, 8. Kap. Rz. 7; Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 42. ErfK/Preis, Einf. zum NachwG Rz. 13. ErfK/Preis, § 2 NachwG Rz. 23; Thüsing/Lambrich, NZA 2002, 1361 (1369); a.A. BAG v. 23.1.2002 – 4 AZR 56/01, BB 2002, 2606.

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Die vertragliche Vereinbarung und ihre Wirksamkeit

Rz. 16 Teil 10

Frage hat keine große praktische Bedeutung, da die einzelvertragliche Bezugnahme auf einen TV jedenfalls der Nachweispflicht aus der Generalklausel des § 2 Abs. 1 Satz 1 NachwG unterliegt. Die Aufzählung in § 2 Abs. 1 Satz 2 NachwG hat keinen abschließenden Charakter, zudem stellt die Anwendbarkeit des TVes kraft Bezugnahme eine wesentliche Vertragsbedingung dar1. Die Nachweispflicht erfordert in jedem Fall die eindeutige Bezeichnung des in Bezug genommenen TVes unter Nennung seines betrieblich-branchenmäßigen und räumlichen Geltungsbereichs sowie der tarifschließenden Parteien. Bei der Verwendung „großer dynamischer Klauseln“, die lediglich allgemein auf den jeweils im Betrieb geltenden TV verweisen, bedarf es daher im Rahmen des Nachweises der konkreten Benennung des jeweils einschlägigen TVes. Ändert sich der einschlägige TV, auf den die dynamische Klausel verweist, muss auch der Nachweis entsprechend angepasst werden. Ob und inwieweit über die eindeutige Bezeichnung des konkret angewendeten TVes hinaus auch der Inhalt dieses TVes nachweispflichtig ist, ist streitig2. Teilweise wird vertreten, dass insbesondere für den Arbeitnehmer nachteilhafte Vertragsbedingungen wie tarifliche Ausschlussfristen ausdrücklich genannt3 werden oder sogar inhaltlich wiedergegeben werden müssen4. Nach der überzeugenden Rechtsprechung des BAG reicht es dagegen aus, wenn auf die Anwendbarkeit des einschlägigen TVes hingewiesen wird. Der Arbeitnehmer sei verpflichtet, sich selbst darüber zu informieren, welche Rechte und Pflichten sich aus dem angewendeten TV im Einzelnen ergeben5.

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Die Auslagepflicht nach § 8 TVG greift nach h.M. nicht ein, wenn tarifungebundene Arbeitgeber arbeitsvertraglich auf TVe Bezug nehmen6. Da es sich nach der noch geltenden Rechtsprechung des BAG7 bei § 8 TVG um eine reine Ordnungsvorschrift handelt, lassen sich aus einer Verletzung der Auslagepflicht ohnehin keine Ansprüche des Arbeitnehmers herleiten.

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III. AGB-rechtliche Kontrolle und Auslegung arbeitsvertraglicher Bezugnahmen Die gesetzlichen Regelungen zu Allgemeinen Geschäftsbedingungen in §§ 305 ff. BGB finden bis auf die Einbeziehungsvorschriften des § 305 Abs. 2, 3 BGB unter angemessener Berücksichtigung der arbeitsrechtlichen Besonderheiten (§ 310 Abs. 4 Satz 2 Halbs. 1 BGB) auch auf Arbeitsverträge Anwendung. Der Kontrolle nach §§ 305 ff. BGB unterliegen alle für eine Vielzahl von Verträ1 2 3 4 5 6

Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 301. Vgl. zu den vertretenen Ansichten Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 44. Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 45; Linde/Lindemann, NZA 2003, 649 (655). Thüsing/Lambrich, NZA 2002, 1361 (1370). BAG v. 23.1.2002 – 4 AZR 56/01, NZA 2001, 800. ErfK/Franzen, § 8 TVG Rz. 2; HWK/Henssler, § 8 TVG Rz. 4 m.w.N.; Wiedemann/ Oetker, § 8 TVG Rz. 16; offen gelassen von BAG v. 5.11.1963 – 5 AZR 136/63, NJW 1964, 470; BAG v. 23.1.2002 – 4 AZR 56/01, NZA 2002, 800. 7 BAG v. 30.9.1970 – 1 AZR 535/69, NJW 1971, 480; BAG v. 23.1.2002 – 4 AZR 56/01, NZA 2002, 800; BAG v. 27.1.2004 – 1 AZR 148/03, NZA 2004, 667.

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Teil 10

Rz. 17

Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme

gen vorformulierten Vertragsbedingungen, die der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer bei Abschluss des Arbeitsvertrags stellt. Nach der Rechtsprechung und der h.M. in der Literatur sind Arbeitnehmer beim Abschluss des Arbeitsvertrags regelmäßig als Verbraucher anzusehen1. Die Vertragsbedingungen gelten damit nach § 310 Abs. 3 Nr. 1 BGB als vom Arbeitgeber gestellt, sofern sie nicht ausnahmsweise durch den Arbeitnehmer in den Vertrag eingeführt wurden. Zudem ist nach § 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB eine Inhaltskontrolle auch dann durchzuführen, wenn die vorformulierten Vertragsbedingungen nur zur einmaligen Verwendung bestimmt waren, soweit der Arbeitnehmer auf ihren Inhalt keinen Einfluss nehmen konnte. 17

Arbeitsvertragliche Verweisungen auf TVe sind zunächst auf ihre wirksame Einbeziehung in den Vertrag hin zu überprüfen (§§ 305–306 BGB). Bei der eigentlichen Inhaltskontrolle ist zu differenzieren zwischen der AGB-rechtlichen Prüfung der arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklausel selbst und der Kontrolle der in Bezug genommenen TV-Normen.

1. Die Einbeziehung der Bezugnahmeklausel in den Vertrag a) Grundsatz 18

Die Einbeziehung der Verweisungsklausel in den Arbeitsvertrag richtet sich nach den Vorschriften der §§ 305–305c BGB. § 305 Abs. 2 BGB findet bei der Kontrolle vorformulierter Vertragsbedingungen im Arbeitsrecht nach § 310 Abs. 4 Satz 2 BGB keine Anwendung. Anders als im allgemeinen Zivilrecht muss der Arbeitgeber zur Wirksamkeit der AGB also weder erkennbar auf diese hinweisen noch dem Arbeitnehmer eine zumutbare Kenntnisnahmemöglichkeit verschaffen. Nach Auffassung des Gesetzgebers wird im Arbeitsrecht der notwendige Schutz des Vertragspartners bereits durch die Anforderungen des Nachweisgesetzes gewährleistet2.

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Die Einbeziehung von AGB richtet sich somit nach den allgemeinen Grundsätzen des Vertragsrechts. Auf die Möglichkeit des Arbeitnehmers, bei Vertragsschluss von dem in Bezug genommenen TV inhaltlich Kenntnis zu nehmen, kommt es für die wirksame Einbeziehung des TVes durch die arbeitsvertragliche Verweisungsklausel demnach nicht an3. Mit § 305 Abs. 2 und 3 BGB unvereinbar sind im allgemeinen Zivilrecht sog. Jeweiligkeitsklauseln, die auf ein Regelwerk in der jeweiligen Fassung verweisen. Diese Klauseln führen bei einer Änderung des Bezugsobjektes automatisch zu geänderten AGB, auf die der Verwender den Vertragspartner nach § 305 Abs. 2 BGB hinweisen und ihm die geänderte Fassung zugänglich machen muss. Die Unanwendbarkeit des § 305 Abs. 2 und 3 BGB führt im Arbeitsrecht zu einer eigenständigen Beurtei1 BAG v. 18.3.2008 – 9 AZR 186/07, NZA 2008, 1004; BAG v. 13.7.2006 – 8 AZR 303/05, NZA 2006, 1273; BAG v. 25.5.2005 – 5 AZR 572/04, NZA 2005, 1111; Boemke, BB 2002, 96; Däubler, NZA 2001, 1329 (1333); Henssler, RdA 2002, 129 (133 ff.); Hunold, NZA-RR 2008, 449 (450); HWK/Gotthardt, § 310 BGB Rz. 2; ErfK/Preis, § 611 Rz. 183; a.A. Annuß, NJW 2002, 2844 ff.; Staudinger/Weick, § 13 BGB Rz. 53. 2 BT-Drucks. 14/6857, S. 54. 3 BAG v. 24.9.2008 – 6 AZR 76/07, NZA 2009, 154.

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Die vertragliche Vereinbarung und ihre Wirksamkeit

Rz. 21 Teil 10

lung. Obwohl der Arbeitnehmer bei Vertragsschluss nicht absehen kann, welchen Änderungen das Bezugsobjekt in der Zukunft unterliegt und er faktisch vom geänderten Inhalt der in Bezug genommenen TV-Normen häufig keine Kenntnis erlangt, werden auf TV verweisende Jeweiligkeitsklauseln (dynamische Bezugnahmeklauseln) wirksamer Vertragsbestandteil (zur Vereinbarkeit mit dem Transparenzgebot vgl. Rz. 38)1. Die dynamische Wirkung lässt sich vor dem Hintergrund der Richtigkeitsgewähr der TVe rechtfertigen. Verwiesen wird stets nur auf diejenigen Arbeitsbedingungen, die von den fachkundigen Tarifpartnern aktuell für die konkrete Tätigkeit des Arbeitnehmers als angemessen eingestuft werden. Zudem führen Änderungen des TVes regelmäßig zu einer Verbesserung der Rechtsposition des Arbeitnehmers (vgl. aber Rz. 22).

b) Schutz vor überraschenden Klauseln Der Schutz vor überraschenden Vertragsklauseln nach § 305c Abs. 1 BGB gilt hingegen auch im Arbeitsrecht, sodass Bezugnahmeklauseln an dieser Norm zu messen sind2. Voraussetzung für das Eingreifen des Verbots ist, dass die fragliche Klausel objektiv betrachtet so ungewöhnlich ist, dass ein durchschnittlicher Arbeitnehmer mit ihr den Umständen nach vernünftigerweise nicht zu rechnen braucht. Angesichts des weiten Verbreitungsgrades von statischen und dynamischen Bezugnahmeklauseln als Gestaltungselementen in Formulararbeitsverträgen sind sie regelmäßig nicht als überraschend im Sinne des § 305c Abs. 1 BGB anzusehen3. Mit einer Bezugnahme auf die für den Betrieb fachlich und räumlich einschlägigen TVe hat der Arbeitnehmer stets zu rechnen4.

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Umstritten ist, ob dies auch für eine Verweisung auf branchen- oder ortsfremde TVe gilt. Teils wird dies unter Verweis auf die Üblichkeit derartiger Klauseln bejaht5, teils pauschal verneint6. Eine schematische Betrachtung verbietet sich hier; vielmehr hängt es von einer Einzelfallbetrachtung ab, ob die Bezugnahme auf einen fremden TV als überraschend mit der Folge des Anwendbarkeit des § 305c Abs. 1 BGB anzusehen ist7. In der Regel wird der branchen- oder orts-

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1 ErfK/Preis, § 310 BGB Rz. 80a; HWK/Gotthardt, § 305 BGB Rz. 11; Diehn, NZA 2004, 129 (132); vgl. zur abweichenden Beurteilung bei Verweisungen auf Allgemeine Arbeitsbedingungen Preis, NZA 2010, 361. 2 ErfK/Preis, § 310 BGB Rz. 29; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 303. 3 BAG v. 3.4.2007 – 9 AZR 283/06, NZA-RR 2008, 504; BAG v. 24.9.2008 – 6 AZR 76/07, NZA 2009, 154. 4 Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 304; grds. zust. auch Gaul, ZfA 2003, 75 (86). 5 Staudinger/Richardi/Fischinger, § 611 BGB Rz. 413; Gaul, ZfA 2003, 75 (86); Reichel, Die arbeitsvertragliche Bezugnahme auf den TV, S. 44. 6 DBD/Däubler, § 305c BGB Rz. 22; Graf v. Westphalen/Thüsing, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, Rz. 194; Thüsing/Lambrich, NZA 2002, 1361 (1365); wohl auch Seibert, NZA 1985, 730 (732); differenzierend Diehn, NZA 2004, 129 (133). 7 Ebenso Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 305; Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, 2012, S. 200; ebenfalls für eine Einzelfallbetrachtung Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 73; ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 30; Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching/Jacobs, § 305c BGB Rz. 16, die allerdings in der Regel einen Überraschungseffekt annehmen.

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Teil 10

Rz. 22

Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme

fremde TV allerdings gerade nicht die Richtigkeitsgewähr für das betroffene Arbeitsverhältnis bieten können. 22

Problematisch ist die Frage des Überraschungsschutzes bei dynamischen Verweisungen auf TVe, die alle zukünftigen – also möglicherweise auch überraschenden – Änderungen des TVes einbeziehen. Es wird vorgeschlagen, dynamische Bezugnahmeklauseln bei jeder Änderung der kollektiven Regelung, auf die verwiesen wird, am Maßstab des § 305c Abs. 2 BGB zu überprüfen1. Eine Verringerung der Vergütung um mehr als ein Viertel etwa sei als Verstoß gegen § 305c Abs. 2 BGB nicht hinzunehmen2. Die Einbeziehungskontrolle der Bezugnahmeklausel selbst bleibe unberührt3. Der darin liegende Widerspruch zu dem in den §§ 307 Abs. 2, 310 Abs. 4 Satz 3 BGB zum Ausdruck gelangenden Ausschluss einer mittelbaren Tarifzensur sei im Interesse des Arbeitnehmerschutzes hinzunehmen4. Nach anderer Ansicht sollen schlechterdings unvorhersehbare Änderungen des in Bezug genommenen TVes von vornherein nicht von der dynamischen Bezugnahmeklausel erfasst werden5. Bezogen auf solche Änderungen fehle es bei Vertragsschluss am rechtsgeschäftlichen Bindungswillen der Parteien6.

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Dieser Ansicht ist entgegenzuhalten, dass der Regelungswille der Parteien zumindest bei Vereinbarung einer Bezugnahmeklausel in Form einer Gleichstellungsabrede gerade dahin geht, dem Arbeitsverhältnis alle Regelungen zugrunde zu legen, die auch die tarifgebundenen Arbeitnehmer hinzunehmen haben7. Schließlich wird die Meinung vertreten, dass § 305c Abs. 2 BGB bei Verweisungen auf TVe grundsätzlich keinen Anwendungsraum habe, da selbst erhebliche nachträgliche Änderungen eines global bezogenen einschlägigen TVes keinen Überraschungseffekt hätten. Der einschlägige TV gelte gerade als Indiz für das Übliche, so dass eine Unangemessenheit der darin enthaltenen Klauseln ausgeschlossen sei8. Tatsächlich ergibt sich für den sachlich und räumlich einschlägigen TV aus dem arbeitskampf- und tarifvertragsrechtlichen Verhandlungsgleichgewicht der TV-Parteien (Paritätsprinzip) eine Angemessenheitsvermutung, nach der zum einen davon ausgegangen werden kann, dass für die tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien ein ausgewogener Interessenausgleich gefunden wurde9. Zum anderen ergibt sich hieraus, dass die Regelungen des arbeitsvertraglich in Bezug genommenen einschlägigen TVes im Normalfall auch für den nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer nicht objektiv ungewöhnlich sein können. Dies gilt jedenfalls insoweit, als es sich bei den in 1 Annuß, ZfA 2005, 405 (438); Däubler/Bonin/Deinert/Däubler, § 305c BGB Rz. 22; Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching/Jacobs, § 305c BGB Rz. 17. 2 Thüsing/Lambrich, NZA 2002, 1361 (1365); a.A. Annuß, ZfA 2005, 405 (438), nach dem sich ein Überraschungseffekt nur aus qualitativen Veränderungen des Regelungskonzeptes ergeben kann, nicht aber aus lediglich quantitativen Änderungen. 3 Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching/Jacobs, § 305c BGB Rz. 17. 4 Thüsing/Lambrich, NZA 2002, 1361 (1365). 5 Seibert, NZA 1985, 730 (732 f.). 6 Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 80. 7 So zutreffend Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 307. 8 Diehn, NZA 2004, 129 (133). 9 Vgl. BAG v. 10.6.1980 – 1 AZR 822/79, NJW 1980, 1642.

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Die vertragliche Vereinbarung und ihre Wirksamkeit

Rz. 25 Teil 10

Bezug genommenen TVen jeweils um solche handelt, die von Gewerkschaften innerhalb des Dachverbandes des DGB geschlossen wurden.

2. Die Auslegung von Bezugnahmeklauseln a) Vermutung dynamischer Wirkung Die Auslegung der Bezugnahmeklausel bestimmt sich zunächst nach den allgemeinen für Willenserklärungen geltenden Auslegungsregeln der §§ 133, 157 BGB. Ergänzend ist die Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB zu beachten, die für Bezugnahmeklauseln nach der Rechtsprechung allerdings nur von begrenzter Bedeutung ist (Rz. 26). Für eine Anwendung des § 305c Abs. 2 BGB bleibt nur dann Raum, wenn nach Ausschöpfung der in Betracht kommenden Auslegungsmethoden Zweifel verbleiben, wie die Parteien die Regelung verstanden wissen wollten (objektive Mehrdeutigkeit)1. Hinter der Regelung steckt der Gedanke, dass es Sache der die Vertragsgestaltungsfreiheit nutzenden Partei ist, sich unmissverständlich auszudrücken. Verbleibende Unklarheiten gehen daher zu ihren Lasten2. Diese Auslegungsregel gilt auch für den Fall, dass die Tragweite einer Verweisung auf Tarifnormen zweifelhaft ist.

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Unabhängig von der Geltung der Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB (dazu Rz. 26) geht das BAG davon aus, dass der TV nach dem Willen der Arbeitsvertragsparteien im Zweifel in seiner jeweiligen Fassung gelten soll, wenn sich aus der Vereinbarung nicht mit hinreichender Deutlichkeit ergibt, ob die Bezugnahme in zeitlicher Hinsicht statisch oder dynamisch erfolgen soll. Der Arbeitnehmer erhält also im Zweifel einen Anspruch auf Teilhabe an zukünftigen Tarifentwicklungen (vgl. zur Entwicklung der Rechtsprechung zur Auslegung dynamischer Bezugnahmeklauseln Rz. 44 ff.)3. Zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses – und nur auf diesen kommt es an – kann man in der Regel davon ausgehen, dass eine dynamische Bezugnahme für den Arbeitnehmer günstiger ist, weil die Vergütungserhöhung durch spätere (Vergütungs-)TVe die Regel ist, eine Vergütungsabsenkung dagegen die seltene Ausnahme. Dass sich im Einzelfall nachträglich herausstellen kann, dass die statische Verweisung für den Arbeitnehmer günstiger gewesen wäre, spielt für die Auslegung der Vereinbarung keine Rolle4. Dem BAG genügen bei VergütungsTVen bereits geringfügige Hinweise, wie die Benennung einer Lohngruppe5, um eine dynamische Wirkung zu bejahen.

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1 Gaul, ZfA 2003, 75 (87). 2 Henssler/Moll, AGB-Kontrolle vorformulierter Arbeitsbedingungen, S. 118. 3 BAG v. 9.11.2005 – 5 AZR 128/05, NZA 2006, 202; BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, NZA 2006, 607; BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965; BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 653/05, DB 2007, 2598. 4 BAG v. 24.9.2008 – 6 AZR 76/07, NZA 2009, 154; ebenso ErfK/Preis, § 310 BGB Rz. 32; Graf v. Westphalen/Thüsing, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, Rz. 198; a.A. DBD/Däubler, § 305c BGB Rz. 43. 5 BAG v. 9.11.2005 – 5 AZR 128/05, NZA 2006, 202.

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Rz. 26

Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme

b) Keine Geltung der Unklarheitenregelung des § 305c Abs. 2 BGB 26

Dagegen lehnt der 6. Senat des BAG die Anwendbarkeit der Unklarheitenregelung des § 305c Abs. 2 BGB auf arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln jedenfalls „in der Regel“ ab1. Sie scheitere daran, dass die Frage der Günstigkeit für den Arbeitnehmer nicht abstrakt und unabhängig von der jeweiligen Fallkonstellation beantwortet werden könne. Mantel-TVe enthielten zumeist nicht nur für den Arbeitnehmer günstige, sondern auch ungünstige Regelungen, so dass man je nach der vom Arbeitnehmer erstrebten Rechtsfolge zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen müsste. Einer je nach der Art des streitigen Anspruchs und des Zeitpunkts der Geltendmachung unterschiedlichen Beurteilung der Günstigkeit stehe jedoch entgegen, dass die Reichweite der Bezugnahme und die Anwendbarkeit des TVes gemäß § 256 ZPO zum Gegenstand einer Feststellungsklage gemacht werden und die entsprechende Feststellung dann in Rechtskraft erwachsen könne. Anders seien möglicherweise Verweisungen auf VergütungsTVe zu beurteilen. Hier müsse die dynamische Verweisung für den Arbeitnehmer bezogen auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses aufgrund der zu erwartenden Tariflohnerhöhungen stets als günstiger angesehen werden2.

c) Wirkungen bei tarifvertraglichen Differenzierungsklauseln 27

Im Hinblick auf die Unklarheitenregel wird häufig zutreffend argumentiert, dass eine arbeitsvertragliche Verweisung auf einen TV, der eine einfache Differenzierungsklausel enthält, dahingehend auszulegen ist, dass dem Arbeitnehmer ein voller Anspruch auf alle tariflichen Leistungen, also auch die in der Differenzierungsklausel genannten „Exklusivleistungen“, zustehen soll3.

28

Nach der Rechtsprechung des BAG hingegen soll ein nicht organisierter Arbeitnehmer selbst dann keinen Anspruch aus einer solchen einfachen Differenzierungsklausel geltend machen können, wenn sein Arbeitsvertrag eine als Gleichstellungsabrede auszulegende Bezugnahmeklausel enthält4. Der 4. Senat5 erachtet in seiner jüngeren Rechtsprechung einfache Differenzierungsklauseln grundsätzlich für zulässig, soweit sie nicht an das Austauschverhältnis von Leistung und Gegenleistung anknüpfen. Die damit bewirkte Ungleichbehandlung zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und Außenseitern sei rechtswirksam. Die Differenzierung verletze, sofern es dem Arbeitgeber möglich bleibe, die Leistungen gleichwohl den Außenseitern zu gewähren, insbesondere nicht die negative Koalitionsfreiheit. Ergänzt wird dieses Bekenntnis zur Wirksamkeit einfacher Differenzierungsklauseln durch eine arbeitgeberfreundliche Auslegung der Bezugnahme. Eine arbeitsvertragliche Bezugnahme1 BAG v. 24.9.2008 – 6 AZR 76/07, NZA 2009, 154. 2 BAG v. 24.9.2008 – 6 AZR 76/07, NZA 2009, 154, unter III 1a) ee). 3 Bauer/Arnold, NZA 2009, 1169 (1171); Greiner/Suhre, NJW 2010, 131 (133); ErfK/Franzen, § 1 TVG Rz. 62. 4 BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028, Rz. 54. 5 BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028, Rz. 54; anders dagegen seine Rspr. zu qualifizierten Differenzierungsklauseln, BAG v. 23. 3.11 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920.

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Die vertragliche Vereinbarung und ihre Wirksamkeit

Rz. 31 Teil 10

klausel, die auf einen TV verweist, der eine solche Differenzierungsklausel enthält, ersetze nicht die in der Klausel enthaltene konstitutive Anspruchsvoraussetzung der Gewerkschaftsmitgliedschaft. Stattdessen bewirke sie lediglich die Anwendbarkeit des TVes. Zwar könne die Gewerkschaftsmitgliedschaft des Außenseiters durch eine Bezugnahmeklausel fingiert und die Differenzierungsklausel damit de facto unterlaufen werden, dies müsse aber durch eine ausdrückliche Vereinbarung im Arbeitsvertrag geschehen1. Bepler, seinerzeit Richter am BAG, verteidigte – anlässlich der 11. NZA-Jahrestagung im Oktober 2011 – diese Rechtsprechung. Bei einer solchen arbeitsvertraglichen Bezugnahme gehe es nicht um einen deklaratorischen Hinweis auf den Geltungsbereich des TVes, sondern um ein echtes Tatbestandsmerkmal der betreffenden Tarifnorm. Die Notwendigkeit einer durch ausdrückliche Vereinbarung fingierten Gewerkschaftszugehörigkeit ergebe sich schon aus dem systematischen Vergleich mit § 613a Abs. 1 Satz 2, 3 BGB2. Tatsächlich ist eine Verweisungsklausel, die eine Differenzierungsklausel des in Bezug genommenen TVes nicht explizit berücksichtigt, im Hinblick auf ihre Rechtsfolgen nicht eindeutig. Für den Außenseiter-Arbeitnehmer ist nicht klar ersichtlich, ob der Arbeitgeber ihm einzelne Leistungen aus dem TV vorenthalten oder ihn in jeder Hinsicht wie ein Gewerkschaftsmitglied behandeln will. Die unklare Klauselgestaltung durch den Arbeitgeber als Klauselverwender darf aber nach § 305c Abs. 2 BGB nicht dazu führen, dass Zweifel bei der Auslegung sich im Ergebnis zuungunsten des Arbeitnehmers auswirken.3 Im Zweifel wird der nichtorganisierte Arbeitnehmer eine als Gleichstellungsabrede auszulegende Bezugnahmeklausel dahin verstehen, dass über sie auch im Hinblick auf eine Differenzierungsklausel die fehlende Tarifbindung ersetzt werden soll.

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Angesichts der entgegengesetzten Tendenz in der Rechtsprechung empfiehlt es sich aus Arbeitnehmersicht, auf einen Zusatz in den Gleichstellungsklauseln zu drängen. In dem Zusatz sollte klargestellt werden, dass der Arbeitnehmer im Hinblick auf die tariflichen Leistungen so behandelt wird, als sei er Mitglied der tarifschließenden Gewerkschaft4. Arbeitgeber, die sich die Möglichkeit offen halten möchten, auf Gewerkschaftsmitglieder beschränkte tarifliche Rechte nicht an alle Belegschaftsmitglieder weiterzugeben, werden dagegen die üblichen großen dynamischen Bezugnahmeklauseln verwenden.

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Im Schrifttum wird auf einen weiteren Weg verwiesen, um zu einem ähnlichen Ergebnis zu kommen: Eine Bezugnahmeklausel, die bei einer im TV enthaltenen rechtswirksamen Differenzierungsklausel dazu führe, dass wegen der fehlenden Gewerkschaftsmitgliedschaft kein Anspruch aus dem Arbeitsvertrag besteht, sei überraschend i.S.d. § 305c Abs. 1 BGB. Mit dieser Rechtsfolge brauche der betroffene Arbeitnehmer bei der Festlegung der dynamischen Verweisung auf einschlägige TVe nicht zu rechnen. Die Beschränkung auf die Ge-

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1 BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028. 2 Höpfner, NZA 2012, 370 (371). 3 Bauer/Arnold, NZA 2009, 1169 (1171); Greiner/Suhre, NJW 2010, 131 (133); ErfK/Franzen, § 1 TVG Rz. 62. 4 Vgl. Bauer/Arnold, NZA 2009, 1169 (1171).

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Rz. 32

Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme

werkschaftszugehörigkeit bei der Erbringung der Sonderleistung werde daher nach § 305c Abs. 1 BGB kein Vertragsbestandteil1. Da die Bezugnahmeklausel indes in den problematischen Fällen gerade keine voneinander trennbaren Bestandteile aufweist, so dass eine partielle Streichung von Klauselteilen nicht in Betracht kommt, erscheint die Lösung über die Auslegung der Bezugnahmeklausel stimmiger, zumal sie zu überzeugenden Ergebnissen führt.

d) Auslegung bei Tarifpluralität 32

Seit der Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit durch die Entscheidungen des 42. und 103. Senats stellen sich aufgrund der nun möglichen Tarifpluralität neue Auslegungsfragen. Sie betreffen vor allem große dynamische Klauseln, die auf den „im Betrieb normativ geltenden“ oder „im Betrieb fachlich einschlägigen“ TV verweisen. Nach der geltenden Rechtslage kann es unklar sein, welcher von mehreren TVen gemeint ist. Bei der Auslegung ist zu beachten, dass sich die Unklarheit der bei Vereinbarung zunächst eindeutigen Klausel erst nachträglich durch die einer Gesetzesänderung gleichkommende Rechtsprechungskorrektur ergeben hat. Der Vertrag ist damit erst nachträglich lückenhaft geworden. Für solche erst nachträglich entstandenen Vertragslücken bietet die Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB (vgl. dazu bereits Rz. 26) keine passende Lösung. Vielmehr ist im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung4 zu fragen, was die Parteien redlicherweise vereinbart hätten, wenn ihnen das Problem der Tarifpluralität schon zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses bekannt gewesen wäre.

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Bei der entsprechenden Lückenfüllung bietet es sich an, zwischen der Kollision mehrerer dem Industrieverbandsprinzip folgender TVe und einer Konkurrenz von Industrieverbands- und BerufsverbandsTV zu differenzieren. Treffen mehrere TVe aufeinander, die jeweils die Gesamtbelegschaft des Betriebs erfassen, also mit nach dem Industrieverbandsprinzip organisierten Gewerkschaften abgeschlossen wurden, so drängt es sich geradezu auf, jenen TV für maßgeblich zu erklären, an den im Sinne des Repräsentationsprinzips die meisten Arbeitnehmer normativ gebunden sind. Dieser TV ist für den Betrieb am stärksten legitimiert, so dass es nahe liegt, auch die Außenseiter an eben diesen TV zu binden. Bei einer Konkurrenz zwischen einem Spartentarif eines Berufsverbands und einem mit einem Industrieverband abgeschlossen TV erweist sich der letztgenannte TV in Bezug auf die Gesamtbelegschaft des Betriebs als stärker legitimiert. Er allein ist durch das Ziel motiviert, eine solidarische, die innerbetriebliche Lohngerechtigkeit achtende Regelung zu treffen5. Bei einer Konkurrenz mehrerer SpartenTVe, wie sie etwa im Fall der Lufthansa gegeben 1 Richardi, NZA 2010, 417 (419). 2 Vgl. die Divergenzanfrage des 4. Senats (BAG v. 27.1.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 645) sowie das nahezu wortgleiche abschließende Urteil v. 7.7.2010 (4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068). 3 BAG v. 23.6.2010 – 10 AS 2/10, NZA 2010, 778. 4 Zum aktuellen Streitstand: Uffmann, Das Verbot der geltungserhaltenden Reduktion, 2010, S. 175 ff.; Bader, NZA-Beil. 3/2011, 142 ff.; Schlewing, NZA-Beil. 3/2012, 33 (36 ff.). 5 Dazu Henssler RdA 2011, 65 (73 ff.).

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Die vertragliche Vereinbarung und ihre Wirksamkeit

Rz. 36 Teil 10

ist, wird die Geltung desjenigen TV nach Redlichkeitserwägungen gewollt sein, der nach seinem personellen Anwendungsbereich (Bodenpersonal, Flugbegleiter, Techniker) auf das konkrete Arbeitsverhältnis am besten zugeschnitten ist.

e) Verweisung auf den BAT Dynamische Bezugnahmen auf den BAT/BMT-G o.ä. sind nach der Rechtsprechung des BAG im Zweifel als dynamische Bezugnahmen auf das Tarifrecht für den öffentlichen Dienst zu verstehen. Eine Versteinerung des in Bezug genommenen Tarifrechts auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens von TVöD/TV-L wird nur ganz ausnahmsweise gewollt sein. Dies gilt auch dann, wenn die „ersetzenden“ TVe nicht ausdrücklich ebenfalls in Bezug genommen sind1.

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Im Bereich des öffentlichen Dienstes führen dynamische Verweisungen nach diesen Grundsätzen zu der Neuregelung, die in ihrem Geltungsbereich dem bisher angewendeten TV entspricht. Schwieriger ist die Beurteilung bei sonstigen Vertragsverhältnissen, die an das Tarifrecht des öffentlichen Dienstes nur angelehnt waren. Soweit sich bei außerhalb des Geltungsbereichs des in Bezug genommenen Tarifrechts angesiedelten Arbeitsverhältnissen aus der Bezugnahme kein Hinweis auf einen konkreten Fortsetzungswillen ergibt (z.B. „BAT in der Bund/Länder-Fassung“ o.ä.), gilt bei Drittmittelempfängern das für den Drittmittelgeber maßgebliche Tarifrecht als in Bezug genommen2. Ansonsten soll nach der Rechtsprechung des BAG das Tarifrecht gelten, das Anwendung fände, wenn die betreffende Aufgabe durch die öffentliche Hand erledigt würde3.

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3. Die Inhaltskontrolle von Bezugnahmeklauseln Bezugnahmeklauseln unterliegen, sofern sie – wie in aller Regel – vorformulierte Vertragsbedingungen i.S.d. §§ 305 Abs. 1, 310 Abs. 3 BGB darstellen, grundsätzlich der AGB-Kontrolle4. Einschränkungen der Inhaltskontrolle ergeben sich aus § 310 Abs. 4 Satz 3 i.V.m. § 307 Abs. 3 BGB. § 307 Abs. 3 BGB nimmt deklaratorische Vertragsklauseln, die in jeder Hinsicht mit einer bestehenden gesetzlichen Regelung übereinstimmen, von der Inhaltskontrolle nach §§ 307 ff. BGB aus. Aufgrund der Gleichstellung von TVen durch § 310 Abs. 4 Satz 3 TVG bleiben auch solche Vertragsklauseln kontrollfrei, die einen TV lediglich inhaltlich wiedergeben. Außerdem unterliegen Abreden, die ihrer Art nach nicht durch Gesetz oder andere Rechtsvorschriften geregelt werden, sondern von den Vertragsparteien festgelegt werden müssen, nur einer eingeschränkten Kontrolle5. Dies gilt insbesondere für Bestimmungen in AGB, mit 1 BAG v. 16.6.2010 – 4 AZR 924/08, NZA 2010, 1376 (Annahme einer vertraglichen Lücke und Lückenfüllung durch ergänzende Vertragsauslegung). 2 Vgl. Böhle/Meerkamp/Stöhr/Bepler, TVöD Anh. § 1 Exkurs Rz. 40. 3 BAG v. 19.5.2010 – 4 AZR 796/08, NZA 2010, 1183. 4 BAG v. 9.11.2005 – 5 AZR 128/05, NZA 2006, 202; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 18; Thüsing/Braun/Reufels, 8. Kap. Rz. 19; Gaul, ZfA 2003, 75 (86); vgl. auch BT-Drucks. 14/6857, S. 54. 5 BAG v. 27.7.2005 – 7 AZR 486/04, NZA 2006, 40.

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Teil 10

Rz. 37

Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme

denen die Vertragsparteien die Hauptleistungspflichten (Arbeitsentgelt) regeln, ohne von Rechtsvorschriften abzuweichen1. 37

Die Bezugnahme auf tarifvertragliche Regelungen von Arbeitsleistung und Arbeitsentgelt ist danach lediglich einer eingeschränkten Inhaltskontrolle zugänglich2. § 310 Abs. 4 Satz 3 i.V.m. § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB stehen allerdings nur einer Inhaltskontrolle des in Bezug genommenen TV im Sinne einer Tarifzensur entgegen. Ausgeschlossen ist also nur die Kontrolle der in Bezug genommenen TVe. Die Bezugnahmeklausel selbst bleibt dagegen kontrollfähig3. Sie muss sich insbesondere an dem in § 307 Abs. 2 Satz 2 BGB verankerten Transparenzgebot messen lassen. Die §§ 308, 309 BGB finden hingegen keine Anwendung (§ 307 Abs. 3 Satz 1 BGB).

38

Nach § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB kann sich eine unangemessene Benachteiligung daraus ergeben, dass eine Vertragsklausel nicht eindeutig und verständlich ist. Sinn des Transparenzgebotes ist es, der Gefahr vorzubeugen, dass der Vertragspartner von der Durchsetzung bestehender Rechte abgehalten wird4. Der Verwender von AGB ist verpflichtet, die Rechte und Pflichten seines Vertragspartners möglichst klar und durchschaubar zu gestalten5. Eine Verweisung auf Vorschriften eines Regelwerks Dritter führt nicht zur Intransparenz, da derartige Klauseln nicht ungewöhnlich sind6. Auch dynamische Verweisungen auf Normen Dritter, insbesondere auf TVe (dazu bereits Rz. 18), schließt das Transparenzgebot nicht aus7. Zwar ist zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses noch unklar, welche Entwicklung ein in Bezug genommener TV in Zukunft durchlaufen wird und welche Tarifnormen künftig kraft Bezugnahme auf das Arbeitsverhältnis anwendbar sein werden. § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB verlangt jedoch nicht notwendigerweise die Bestimmtheit der jetzigen und zukünftigen Ausgestaltung des Vertragsverhältnisses bereits bei Vertragsschluss, sondern lässt es genügen, wenn die das Arbeitsverhältnis regelnden Normen bestimmbar sind.

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Dynamische Verweisungsklauseln genügen daher dem Bestimmtheitsgebot, wenn sie bei Vertragsschluss den jeweils anzuwendenden TV bestimmbar festlegen8. Sie entsprechen einer üblichen und weithin akzeptierten Regelungs-

1 BAG v. 15.4.2008 – 9 AZR 159/07, NZA-RR 2008, 586. 2 BAG v. 15.4.2008 – 9 AZR 159/07, NZA-RR 2008, 586; BAG v. 14.3.2007 – 5 AZR 630/06, NZA 2008, 45. 3 BAG v. 9.5.2007 – 4 AZR 319/06, NJOZ 2010, 178. 4 BAG v. 10.12.2008 – 4 AZR 801/07, NZA 2009, 1423. 5 BGH v. 24.11.1988 – III ZR 188/87, NJW 1989, 222; BGH v. 14.11.2003 – V ZR 144/03, NJW-RR 2004, 263; Oetker, JZ 2002, 337 m.w.N. 6 BAG v. 24.9.2004 – 6 AZR 76/07, NZA 2009, 154. 7 So auch BAG v. 16.2.2010 – 3 AZR 181/08, NZA 2011, 42; BAG v. 18.11.2009 – 4 AZR 493/08, NZA 2010, 595; BAG v. 10.12.2008 – 4 AZR 801/07, NZA 2009, 1423; ErfK/ Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 80a; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 293; Thüsing, AGBKontrolle im Arbeitsrecht, Rz. 193; Diehn, NZA 2004, 129 (134); Däubler, NZA 2001, 1329 (1336); Thüsing/Lambrich, NZA 2002, 1361 (1364). 8 BAG v. 16.2.2010 – 3 AZR 181/08, NZA 2011, 42; BAG v. 18.11.2009 – 4 AZR 493/08, NZA 2010, 595; BAG v. 10.12.2008 – 4 AZR 801/07, NZA 2009, 1423.

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Die vertragliche Vereinbarung und ihre Wirksamkeit

Rz. 41 Teil 10

technik und dienen den Interessen beider Parteien1. Dies ergibt sich aus der generellen Zukunftsgerichtetheit von Arbeitsverhältnissen. Diese verlangt eine ständige Anpassung der Vertragsbedingungen an die allgemeine lohn- und sozialpolitische Entwicklung. Die dynamische Ausgestaltung des Arbeitsvertrages stellt eine interessengerechte Alternative zu sukzessiven Vertragsanpassungen dar2. Ein Verstoß gegen das Transparenzgebot liegt nur dann vor, wenn sich aus der Bezugnahmeklausel nicht eindeutig bestimmbar ergibt, welche Tarifnormen jeweils auf das Arbeitsverhältnis anwendbar sind. Intransparent kann daher etwa eine gestaffelte Verweisung auf mehrere einschlägige TVe mit einer unübersichtlichen oder unbestimmten Kollisionsregelung sein3.

4. Die Inhaltskontrolle der in Bezug genommenen TV-Normen a) Grundsätzliches Von der Kontrolle der Bezugnahmeklausel zu unterscheiden ist die Inhaltskontrolle der einbezogenen TV-Normen. § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB enthält eine Bereichsausnahme für TVe sowie für Betriebs- und Dienstvereinbarungen. Diese stehen nach § 310 Abs. 4 Satz 3 BGB Rechtsvorschriften i.S.d. § 307 Abs. 3 BGB gleich. Grund für diese Bereichsausnahme ist die Tatsache, dass die genannten Rechtsverhältnisse nicht nur ausgehandelte Verträge zwischen den beteiligten Kollektivparteien darstellen, sondern zugleich Rechtsnormen enthalten, die unmittelbar und zwingend für die Arbeitsverhältnisse der betriebsangehörigen bzw. tarifgebundenen Arbeitnehmer gelten. In diesem gewissermaßen „normsetzenden“ Bereich könne und dürfe eine AGB-Kontrolle nicht eingreifen, da anderenfalls das System der Tarifautonomie konterkariert werde4. Die Ausklammerung tarifvertraglicher Regelungen aus der Inhaltskontrolle ist auch deshalb gerechtfertigt, weil TVe aufgrund der verfassungsrechtlich garantierten Parität der Sozialpartner eine Vermutung der Angemessenheit der ausgehandelten Arbeitsbedingungen in sich tragen5. Eine gerichtliche Billigkeitskontrolle der Tarifinhalte wäre ein verfassungsrechtlich unzulässiger Eingriff in die Tarifautonomie. Das rechtspolitisch überzeugende Anliegen des § 310 Abs. 4 Satz 3 BGB liegt darin, eine mittelbare Tarifzensur auszuschließen.

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Das Verbot der Tarifzensur führt allerdings nicht dazu, dass jede Vertragsbestimmung, die auf irgendeine Klausel in irgendeinem, sei es auch branchenfremden, TV verweist, von der Inhaltskontrolle ausgenommen ist. Inwieweit eine Inhaltskontrolle der in Bezug genommenen Tarifnormen zu erfolgen hat, richtet sich nach der Art der Verweisung (Global-, Einzel- oder Teilverweisung) und danach, ob der in Bezug genommene TV räumlich und fachlich einschlägig ist6.

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1 BAG v. 16.2.2010 – 3 AZR 181/08, NZA 2011, 42. 2 BAG v. 10.12.2008 – 4 AZR 801/07, NZA 2009, 1423; Thüsing/Lambrich, NZA 2002, 1361 (1364). 3 DBD/Däubler, § 305c BGB Rz. 156c. 4 Vgl. die Gegenäußerung der BReg zur Stellungnahme des BR v. 13.7.2001, BT-Drucks. 14/6857, S. 54. 5 Sog. Richtigkeitsgewähr, vgl. BAG v. 12.2.1992 – 7 AZR 100/91, NZA 1993, 998. 6 Dauner-Lieb/Konzen/Schmidt/Henssler, Das neue Schuldrecht in der Praxis, 2003, S. 615, 639; Preis, FS Wiedemann, 2002, S. 425, 429 ff.

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Teil 10

Rz. 42

Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme

b) Globalverweisungen auf den sachlich und örtlich einschlägigen TV 42

Übernimmt eine Bezugnahmeklausel den gesamten Inhalt eines räumlich und fachlich einschlägigen TVes in einen Arbeitsvertrag, entfällt nach fast einhelliger Ansicht eine Inhaltskontrolle nach §§ 307 ff. BGB1. Aus der Sachnähe der TV-Parteien zum Regelungsgegenstand ergibt sich eine Angemessenheits- und Richtigkeitsvermutung für die TV-Normen, unabhängig davon, ob diese normativ gelten oder kraft Bezugnahme auf das Arbeitsverhältnis anwendbar sind2. Die Globalverweisung nimmt den TV in seinem Gesamtzusammenhang in Bezug, so dass der sachgerechte Interessenausgleich, den die Tarifparteien gefunden haben und der in der Gesamtheit aller tarifvertraglichen Normen seinen Ausdruck findet, im Arbeitsverhältnis zur Anwendung kommt.

c) Einzel- und Teilverweisungen auf den sachlich und örtlich einschlägigen TV 43

Beschränkt sich die Inbezugnahme auf einzelne Vorschriften eines TVes, entfällt die Rechtfertigung für die von § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB angeordnete Privilegierung. Für beide Tarifpartner gilt: Begünstigungen und Vorteile bei einzelnen Regelungen im TV lassen sich in den Verhandlungen in aller Regel nur um den Preis von Nachteilen in anderen Bereichen des tariflichen Regelungssystems durchsetzen. Erst die Gesamtheit der Regelungen eines TVes im Sinne eines Gesamtpakets trägt die Vermutung eines angemessenen Interessenausgleichs in sich. Bei Einzelverweisungen kann diese Angemessenheitsvermutung hingegen naturgemäß nicht greifen3.

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Teilverweisungen nehmen zwar nicht den gesamten TV in Bezug, verweisen aber auch nicht lediglich auf einzelne Passagen, sondern auf ganze Regelungskomplexe. Zum Teil wird auch in diesen Fällen eine Inhaltskontrolle für erforderlich gehalten, da andernfalls die Gefahr bestünde, dass der Verwender der AGB lediglich auf für ihn vorteilhafte Regelungskomplexe verweise4. Die Gesetzesmaterialien enthalten keine eindeutige Stellungnahme, nehmen allerding ausdrücklich nur die Bezugnahme auf einen TV (nicht auf tarifliche Regelungen) oder die Wiedergabe des gesamten Inhalts einer Kollektivvereinbarung von der Inhaltskontrolle aus5. Im Schrifttum wird außerdem auf die Schwierigkeiten bei der Abgrenzung geschlossener Teilkomplexe hingewiesen6.

1 DBD/Däubler, § 307 BGB Rz. 164a; ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 13 f.; HWK/ Henssler, § 3 TVG Rz. 18; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 341 m.w.N.; a.A. Annuß, ZfA 2005, 405 (436 f.). 2 ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 13; Thüsing/Braun/Reufels, 8. Kap. Rz. 21. 3 BAG v. 6.5.2009 – 10 AZR 390/08, NZA-RR 2009, 593; Däubler, NZA 2001, 1329 (1335); Diehn, NZA 2004, 129 (130); Preis, Der Arbeitsvertrag, I V 40 Rz. 84; Thüsing/ Braun/Reufels, 8. Kap. Rz. 23; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 342. 4 Däubler, NZA 2001, 1329 (1335 f.); einschr. ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 17 f. 5 Thüsing/Lambrich, NZA 2002, 1361 (1363); ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 17; vgl. BT-Drucks. 14/6857, S. 54. 6 ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 18.

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Die vertragliche Vereinbarung und ihre Wirksamkeit

Rz. 46 Teil 10

Ausschlaggebend sind systematische Überlegungen, die recht deutlich für die Anerkennung von Teilverweisungen sprechen. Das Arbeitsrecht ermöglicht an zahlreichen Stellen durch Teilverweisungen auf Tarifnormkomplexe die Abweichung von gesetzlichen Mindestnormen zuungunsten des Arbeitnehmers, vgl. § 622 Abs. 4 Satz 2 BGB, § 13 Abs. 1 Satz 2 BUrlG, § 7 Abs. 3 ArbZG, § 4 Abs. 4 Satz 2 EFZG1. Nach der maßgeblichen Vorstellung des Gesetzgebers erstreckt sich die Angemessenheitsvermutung des TVes somit auf geschlossene Teilkomplexe. Ausreichend, aber auch notwendig, erscheint danach die Übernahme in sich geschlossener und ausgewogener Teile von TVen, um eine Klausel gemäß § 307 Abs. 3 BGB von der Inhaltskontrolle freizustellen2. Die Selbstständigkeit und isolierte Ausgewogenheit solcher tarifvertraglicher Teilkomplexe bedarf im Einzelfall einer besonderen Prüfung. Der 10. Senat des BAG hat sich der hier vertretenen Auffassung für einen Sachverhalt angeschlossen, in dem „ein geschlossenes Regelungssystem“ für Angestellte des Außendienstes in Rede stand, „in dem die Besonderheiten dieses Tätigkeitsbereichs umfassend berücksichtigt werden“3. Auch die Gegenansicht wird im Rahmen der von ihr vorgenommenen Inhaltskontrolle in aller Regel zu dem Ergebnis kommen, dass die Inbezugnahme eines in sich geschlossenen Teils eines TVes nicht zu beanstanden ist. Die Kontrolle des tariflichen Normenkomplexes kann allenfalls in atypischen Ausnahmefällen zu einer Beanstandung der tariflichen Regelung führen.

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d) Verweisungen auf branchenfremde oder nichtige TVe Die vorstehenden Ausführungen beziehen sich auf Bezugnahmeklauseln, die auf den jeweils einschlägigen TV verweisen. Einschlägig ist ein TV, wenn das Arbeitsverhältnis in seinen fachlichen, zeitlichen und örtlichen Geltungsbereich fällt. Bedenken begegnet hingegen ein Ausweichen in branchenfremde TVe, die für den Unternehmer günstigere Arbeitsbedingungen enthalten4. Der tarifgebundene Arbeitgeber kann sich nach dem Regelungskonzept des Tarifrechts – selbstverständlich! – nicht durch freie Wahl eines ihm genehmen Arbeitgeberverbandes die für ihn günstigen Arbeitsbedingungen „erschleichen“. Für eine Besserstellung des Außenseiter-Arbeitgebers gibt es keine Rechtfertigung, ein Sachgrund für die Freistellung von entsprechenden Bezugnahmeklauseln von der Inhaltskontrolle ist nicht ersichtlich5. Da die wirtschaftlichen und betrieblichen Bedingungen in den verschiedenen Branchen zum Teil erheblich voneinander abweichen, kann die Vermutung der Angemessenheit der tariflichen Vereinbarungen stets nur im näheren Umfeld der Branche gelten. Nur insoweit greift auch die „Richtigkeitsgewähr“ des TVes. Zutreffend wird 1 Bayreuther, RdA 2003, 129 (131); Diehn, NZA 2004, 129 (131); Gaul, ZTR 1991, 188 (190); Henssler, RdA 2002, 129 (136); MüKo/Müller-Glöge, § 611 BGB Rz. 70; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 343. 2 HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 18 m.w.N.; a.A. DBD/Däubler, § 310 BGB Rz. 52; Staudinger/Schlosser, § 310 BGB Rz. 113; Staudinger/Coester, § 307 BGB Rz. 300. 3 BAG v. 6.5.2009 – 10 AZR 390/08, NZA-RR 2009, 593. 4 So auch BAG v. 25.4.2007 – 10 AZR 634/06, NZA 2007, 875. 5 So auch Däubler, NZA 2001, 1329 (1335); Gotthardt, ZIP 2002, 277 (281); Gaul, ZfA 2003, 74 (89); vgl. auch Reinicke, DB 2002, 583; ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 14.

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Teil 10

Rz. 46

Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme

die Durchführung einer Inhaltskontrolle auch dann für erforderlich gehalten, wenn der in Bezug genommene TV zwar fachlich und geographisch einschlägig ist, nicht aber in zeitlicher Hinsicht1. Eine von Rechtsvorschriften abweichende Regelung i.S.d. § 307 Abs. 3 BGB ist auch dann anzunehmen, wenn auf nicht mehr in Kraft befindliche Vorgängervorschriften verwiesen wird. Dasselbe gilt, wenn der ausdrücklich in Bezug genommene TV aus formalen Gründen – etwa mangels Tariffähigkeit einer Vertragspartei – nichtig ist2.

C. Erscheinungsformen Literatur: Bauer/Günther, Bezugnahmeklauseln bei Verbandswechsel und Betriebsübergang – Ein Irrgarten?, NZA 2008, 6; Bepler, Probleme um den Sanierungstarifvertrag, AuR 2010, 234; Clemenz, Arbeitsvertragliche Bezugnahme auf Tarifverträge – ein Paradigmenwechsel mit offenen Fragen, NZA 2007, 769; Fieberg, TVöD – ohne Tarifwechselklausel ade – oder doch nicht?, NZA 2005, 1226; Frieges, Wegfall der Tarifbindung und einzelvertragliche Inbezugnahme von Tarifverträgen, DB 1996, 1281; Gaul, Bezugnahmeklauseln – Zwischen Inhaltskontrolle und Nachweisgesetz, ZfA 2003, 75; Giesen, Bezugnahmeklauseln – Auslegung, Formulierung und Änderung, NZA 2006, 625; Greiner, Der „unechte Tarifwechsel“ – Zu den Wirkungen kleiner dynamischer Bezugnahmeklauseln bei Tarifwechsel, Tarifsukzession und Tarifrestrukturierung, NZA 2009, 877; Hanau, Die Rechtsprechung des BAG zur arbeitsvertraglichen Bezugnahme auf Tarifverträge, NZA 2005, 489; Henssler, Schuldrechtliche Tarifgeltung bei Verbandsaustritt und Unternehmensumstrukturierung, in: Festschrift für Hellmut Wißmann zum 65. Geburtstag, 2005, S. 133; Henssler/Heiden, Wirkung kleiner dynamischer Bezugnahmeklauseln bei Verbandsaustritt des Arbeitgebers, RdA 2004, 241; Henssler/Seidensticker, Ergänzende Auslegung einer arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklausel auf den BAT, RdA 2011, 247; Höpfner, Vertrauensschutz bei Änderung der Rechtsprechung zu arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln, NZA 2008, 91; Höpfner, Nochmals: Vertrauensschutz bei Änderung der Rechtsprechung zu arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln, NZA 2009, 420; Holthausen, Hinweise zur Gestaltung arbeitsvertraglicher Bezugnahmen, ArbRAktuell 2011, 29; Hümmerich/Mäßen, TVöD – ohne Tarifwechsel ade!, NZA 2005, 961; Jacobs, Bezugnahmeklauseln als Stolpersteine beim Betriebsübergang, BB 2011, 2037; Jordan/Bissels, Gilt „der jeweils anwendbare Tarifvertrag in seiner jeweils gültigen Fassung“ noch? – Wirksamkeit von großen dynamischen Bezugnahmeklauseln, NZA 2010, 71; Klebeck, Unklarheiten bei arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln, NZA 2006, 15; Meinel/ Herms, Änderung der BAG-Rechtsprechung zu Bezugnahmeklauseln in Arbeitsverträgen, DB 2006, 1429; Meyer, Bezugnahme-Klauseln und neues Tarifwechselkonzept des BAG, NZA 2003, 1126; Möller, Gleichstellungsrechtsprechung „Der Anfang vom Ende?“, NZA 2006, 579; Möller/Welkoborsky, Bezugnahmeklauseln unter Berücksichtigung des Wechsels vom BAT zum TVöD, NZA 2006, 1382; Preis/Greiner, Vertragsgestaltung bei Bezugnahmeklauseln nach der Rechtsprechungsänderung des BAG, NZA 2007, 1073; Reinecke, Vertragliche Bezugnahme auf Tarifverträge in der neueren Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, BB 2006, 2637; Schliemann, Arbeitsvertragliche Verweisung auf Tarifverträge, Sonderbeilage zu NZA 16/2003, 3; Schwarz, Kleine dynamische Bezugnahmeklauseln – Abschied vom Tarifwechsel, BB 2010, 1021; Seitz/Werner, Arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln bei Unternehmensumstrukturierungen, NZA 2000, 1257; Simon/Kock/Halbsguth, Auslegung von arbeitsvertraglichen dynamischen Verweisungsklauseln nach einem Tarifausstieg im Lichte der aktuellen EuGH-Rechtsprechung – Werhof, EWS 2006, 400; Sittard/Ulbrich, Zur Rechtsprechungsänderung bei der Aus1 Diehn, NZA 2004, 129 (131); Thüsing/Lambrich, NZA 2002, 1361 (1363). 2 Vgl. LAG Düsseldorf v. 8.12.2011 – 11 Sa 852/11, BB 2012, 1671.

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Erscheinungsformen

Rz. 48 Teil 10

legung von Bezugnahmeklauseln – zugleich Besprechung des Urteils BAG vom 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, ZTR 2006, 458; Spielberger, Vertrauensschutz light: Das Urteil des BAG vom 18.4.2007 zur Gleichstellungsabrede, NZA 2007, 1086; Stein, Verweisungen auf Tarifverträge – Ein kritischer Blick auf die BAG-Rechtsprechung, AuR 2003, 361; Thüsing, Europarechtliche Bezüge der Bezugnahmeklausel, NZA 2006, 473; Thüsing/Lambrich, Arbeitsvertragliche Bezugnahme auf Tarifnormen – Verbandsaustritt, Verbandswechsel, Betriebsübergang, RdA 2002, 193; Vogel/Oelkers, Tarifliche Bezugnahmeklauseln in der Praxis, NJW-Spezial 2006, 369; Zerres, Fortgeltung tarifvertraglicher Regelungen beim Betriebsübergang im Falle arbeitsvertraglicher Bezugnahme, NJW 2006, 3533.

Wird auf individualvertraglicher Ebene auf einen TV Bezug genommen, kann dies verschiedene Konsequenzen haben, je nachdem, um welche Erscheinungsform der Bezugnahmeklausel es sich handelt. Abhängig hiervon können die Verweisungen nicht nur einen unterschiedlichen Gegenstand, sondern auch eine unterschiedliche Reichweite haben. Zudem können diese Klauseln sowohl deklaratorischen als auch konstitutiven Charakter haben.

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I. Deklaratorische und konstitutive Inbezugnahme Bei Bezugnahmeklauseln wird zwischen deklaratorischen und konstitutiven Klauseln unterschieden1. Deklaratorisch ist eine Bezugnahmeklausel grundsätzlich dann, wenn sie nur das wiederholt, was ohnehin der Rechtslage entspricht2. Konstitutiv ist sie hingegen, wenn der TV erst durch die Inbezugnahme auf individualvertraglicher Ebene gilt3. Ausgehend von dieser Differenzierung wird die ohnehin geltende Rechtslage durch eine Verweisungsklausel dann wiedergegeben, wenn sowohl der Arbeitgeber als auch der Arbeitnehmer kongruent tarifgebunden sind4 oder der in Bezug genommene TV für allgemeinverbindlich erklärt worden ist5. In diesen Fällen müsste der Klausel nach der genannten Definition somit allein deklaratorische Wirkung zukommen, wie dies auch im – vorwiegend älteren – Schrifttum vertreten wurde6. Überzeugender ist es, auch im Fall kongruenter Tarifbindung jedenfalls in der Regel den Klauseln konstitutive Wirkung zuzusprechen7. Der Arbeitgeber hat, da ihm vor der Einstellung die Frage nach der Gewerkschaftszugehörigkeit verwehrt ist, grundsätzlich keine Kenntnis von der gewerkschaftlichen Organisation des Arbeitnehmers. Dementsprechend kann sein rechtsgeschäftlicher Wille nicht

1 Vgl. Hümmerich/Reufels/Reufels, Rz. 1308 f.; Thüsing/Braun/Reufels, 8. Kap. Rz. 28 ff.; Schaub/Schaub, ArbR-Hdb., § 208 Rz. 3; zweifelnd: Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 347; Jacobs/Oetker/Krause/Oetker, § 6 Rz. 196. 2 Thüsing/Braun/Reufels, 8. Kap. Rz. 29. 3 Kempen/Zachert/Stein, § 3 TVG Rz. 150. 4 Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 206. 5 Hümmerich/Reufels/Reufels, Rz. 1308; Kempen/Zachert/Stein, § 3 TVG Rz. 150. 6 Schaub/Schaub, ArbR-Hdb., § 208 Rz. 3; Hanau, NZA 2005, 489 (490); so auch noch Wiedemann/Oetker, 6. Aufl., § 3 TVG Rz. 346. 7 Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 7; Thüsing/Braun/Reufels, 8. Kap. Rz. 30; ErfK/ Franzen, § 3 TVG Rz. 33; Hümmerich/Reufels/Reufels, Rz. 1309; Thüsing, RdA 2002, 193 (201).

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Teil 10

Rz. 49

Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme

auf eine nur deklaratorische Wirkung gerichtet sein1. Auf der anderen Seite verfügt auch der Arbeitnehmer nur selten über Informationen zu einer möglichen Verbandsmitgliedschaft des Arbeitgebers2. Beide Parteien wollen sich über die Verweisungsklausel regelmäßig fest an das in Bezug genommene Tarifsystem binden.3 49

Die Annahme einer mit Bedingungen verknüpften Willenserklärung erscheint gekünstelt, zumal sich die Tarifgebundenheit im Laufe der Zeit ändern kann4. Wollte man den Klauseln allein deklaratorische Wirkung beimessen, so würde sich die Frage stellen, ob die Klausel nach Wegfall der beidseitigen Tarifgebundenheit, beispielsweise durch Verbandsaustritt, automatisch konstitutive Wirkungen entfalten soll5. Dies wäre jedoch schwer begründbar, da der Regelung allein aufgrund des Endes der Tarifbindung inhaltlich eine völlig andere Qualität zugemessen werden müsste6. Allein eine von der Frage der Tarifbindung gelöste konstitutive Wirkung von Bezugnahmeklauseln wird damit dem beiderseitigen Parteiwillen gerecht: eine Auffassung, die auch vom BAG geteilt wird7.

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Bei kongruent tarifgebundenen Vertragspartnern kommt es damit zu einem „doppelten Rechtsgrund der Tarifgeltung“:8 Zum einen findet der TV aufgrund seiner unmittelbaren und zwingenden Geltung gemäß § 4 Abs. 1 TVG normative Anwendung, zum anderen gelten seine Regelungen auch schuldrechtlich aufgrund der individualvertraglichen Bezugnahme. Wird einzelvertraglich auf einen anderen als den normativ geltenden TV verwiesen und ist dieser günstiger, gilt nach dem Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG dieser günstigere TV9. Es steht den Parteien allerdings frei, durch eindeutige Absprachen eine bloß deklaratorische Wirkung zu vereinbaren10.

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Relevant wird der „doppelte Rechtsgrund der Tarifgeltung“ insbesondere dann, wenn die Tarifbindung, aus welchen Gründen auch immer, wegfällt. Dann ist zu beachten, dass der TV aufgrund der individualvertraglichen Inbezugnahme auch bei den ehemals kongruent tarifgebundenen Arbeitnehmern je nach Klauseltyp statisch oder dynamisch schuldrechtlich fortgelten kann.

1 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 33; Thüsing/Lambrich, RdA 2002, 193 (201). 2 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 33; Thüsing/Braun/Reufels, 8. Kap. Rz. 30; Hümmerich/ Reufels/Reufels, Rz. 1309. 3 Thüsing/Lambrich, RdA 2002, 193 (202). 4 Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 7. 5 Thüsing/Braun/Reufels, 8. Kap. Rz. 29; Kempen/Zachert/Stein, § 3 TVG Rz. 150. 6 BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 253/06, NZA 2007, 1455; Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 7. 7 Vgl. BAG v. 19.3.2003 – 4 AZR 331/02, NZA 2003, 1207 (1207 f.). 8 Thüsing/Braun/Reufels, Kap. 8 Rz. 30; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 226; Hümmerich/Reufels/Reufels, Rz. 1309; a.A.: Thüsing/Lambrich, RdA 2002, 193 (202). 9 BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, NZA 2008, 364 (368). 10 Hanau/Kania, FS Schaub, 1998, S. 239 (248 f.).

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Erscheinungsformen

Rz. 54 Teil 10

II. Statische oder dynamische Inbezugnahme In der arbeitsvertraglichen Kautelarpraxis haben sich verschiedene Formen von Bezugnahmeklauseln entwickelt. Üblicherweise wird zwischen statischen, kleinen dynamischen und großen dynamischen Verweisungsklauseln unterschieden. Bedeutung entfaltet diese Unterscheidung, wenn der individualvertraglich in Bezug genommene TV im Laufe der Zeit abgeändert wird oder aber die Tarifbindung des Arbeitgebers Änderungen unterworfen ist.

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1. Statische Inbezugnahme a) Grundsatz Eine statische Bezugnahmeklausel liegt dann vor, wenn ein bestimmter TV in einer bestimmten zeitlichen Ausgestaltung auf ein Arbeitsverhältnis Anwendung finden soll1. Dabei kann auf einen gegenwärtig oder auch früher geltenden TV Bezug genommen werden2. Die statische Inbezugnahme wirkt so, als hätten die Arbeitsvertragsparteien den Inhalt des TVes wortwörtlich in den Arbeitsvertrag geschrieben3. Diese Form der Inbezugnahme hat für den Arbeitgeber den Vorteil, dass die Beschäftigungsbedingungen konstant bleiben. Auf der anderen Seite kann sie in dem Betrieb des Arbeitgebers dazu führen, dass nach einer Tarifänderung die Bedingungen für tarif- und nicht-tarifgebundene Arbeitnehmer auseinanderfallen. Regelmäßig sind Arbeitgeber jedoch an einheitlichen Arbeitsbedingungen interessiert. Der Arbeitnehmer hat zwar einen sicheren Mindestschutz, der nicht abgesenkt werden kann, zugleich ist aber seine Teilhabe an der Tarifentwicklung ausgeschlossen4. Aufgrund dieser Nachteile sind statische Bezugnahmen in Arbeitsverträgen eher selten5. Sie kommen bei temporär begrenzter Besitzstandswahrung, ansonsten aber nur für solche Tarifbestimmungen in Betracht, die keiner Anpassung an die sich ändernden Wirtschaftsbedingungen bedürfen6.

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Gleichwohl ist nicht auszuschließen, dass einer Bezugnahmeklausel im Einzelfall statische Wirkung zukommen soll. Der maßgebliche Parteiwille ist durch Auslegung der Klausel gemäß §§ 133, 157 BGB zu ermitteln7. Wie unter Rz. 24 dargelegt, ist allerdings im Zweifel davon auszugehen, dass keine statische, sondern eine dynamische Inbezugnahme des TVes gewollt ist8. Eine dynamische Klausel liegt auch dann vor, wenn nicht ausdrücklich die „jeweils

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1 Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 207; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 36; Schaub/Schaub, ArbR-Hdb., § 208 Rz. 4. 2 Thüsing/Braun/Reufels, 8. Kap. Rz. 31; Kempen/Zachert/Stein, § 3 TVG Rz. 176. 3 Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 284. 4 Schaub/Schaub, ArbR-Hdb., § 204 Rz. 4; Thüsing/Braun/Reufels, 8. Kap. Rz. 31; Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 9. 5 HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 17. 6 Henssler, FS Wißmann, 2005, S. 133 (136). 7 Thüsing/Braun/Reufels, 8. Kap. Rz. 32; MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 178 Rz. 28. 8 BAG v. 9.11.2005 – 5 AZR 128/05, NZA 2006, 202 (204); BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 486/05, NZA 2007, 634 (635); BAG v. 26.9.2007 – 5 AZR 808/06, NZA 2008, 179 (180); MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 178 Rz. 28.

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Teil 10

Rz. 55

Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme

gültige Fassung“ (sog. „Jeweiligkeitsklausel“)1 eines TVes in Bezug genommen wird2. Dies folgert das BAG allein aus der Zukunftsgerichtetheit des Arbeitsverhältnisses. Nur wenn der Klauselinhalt eindeutig zum Ausdruck bringt, dass allein eine statische Geltung der Tarifnormen gewollt ist – etwa durch Aufnahme eines bestimmten Geltungsdatums eines TVes –, bleibt die Geltung der Klausel von künftigen Änderungen des TVes unberührt3. Statische Bezugnahmeklauseln sind dementsprechend i.d.R. nur dann anzunehmen, wenn ein TV „in seiner/der Fassung vom …“ in Bezug genommen wird4.

b) Wirkungen bei Verbandsaustritt, Verbandswechsel und Umstrukturierung 55

Der durch die Globalisierung gestiegene Wettbewerbsdruck zwingt gerade die exportorientierten deutschen Unternehmen zu einer ständigen Anpassung ihrer Personalkosten an internationale Standards. Lässt sich die Wettbewerbsfähigkeit nicht durch Änderung der vertraglichen Arbeitsbedingungen bzw. durch Anpassung der TVe erreichen, suchen die Unternehmen durch schlichten Verbandsaustritt, z.B. nach Kündigung der Verbandsmitgliedschaft, durch einen Verbandswechsel – u.U. auch nach Herauswachsen aus einem TV – oder durch Unternehmensumstrukturierungen ein wettbewerbsfähiges Personalkostenniveau außerhalb des bislang geltenden Tarifsystems zu erreichen. In all diesen Fallkonstellationen stellt sich jeweils die Frage, welche Wirkung das Ende der Tarifbindung auf die arbeitsvertragliche Inbezugnahme von TVen hat5.

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Statische Bezugnahmeklauseln erweisen sich insoweit als relativ unproblematisch. Da die Vertragsparteien statt der Bezugnahme auch den Text des betreffenden TVes hätten abschreiben können6, werden statische Bezugnahmeklauseln im Fall der Änderung der Tarifbindung sowie Änderungen des TVes selbst genauso behandelt wie sonstige individualvertragliche Vereinbarungen. So wirkt die Klausel bei einem Verbandsaustritt weiter fort7. Ob der TV für den Arbeitgeber in der Phase der Nachbindung nach § 3 Abs. 3 TVG oder der Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG noch Wirkungen entfaltet, spielt keine Rolle. Das Gleiche gilt, wenn der Arbeitgeber aufgrund einer Veränderung seines Tätigkeitsschwerpunktes aus dem TV herausgewachsen ist. In diesem Fall endet die Tarifbindung nach § 3 Abs. 1 TVG sofort, es kommt aber zur Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG (dazu Rz 21 ff.). Davon ganz unabhängig bleibt der Arbeit-

1 HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 24. 2 BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, NZA 1991, 736 (738); BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, NZA 2002, 634 (635); BAG v. 13.11.2002 – 4 AZR 64/02, NZA-RR 2003, 329. 3 Henssler/Moll, AGB-Kontrolle vorformulierter Arbeitsbedingungen, B XXI 1c). 4 Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 8, 10; Thüsing, AGB-Kontrolle im Arbeitsrecht, Rz. 178. 5 Henssler, FS Wißmann, 2005, S.133 (133 f.); Schwab, Auslegung und Inhaltskontrolle arbeitsvertraglicher Bezugnahmen auf Tarifverträge, S. 163. 6 Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 596. 7 Henssler, FS Wißmann, 2005, S. 130 (136).

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Erscheinungsformen

Rz. 59 Teil 10

geber aufgrund der statischen Klausel schuldrechtlich an den konkreten TV gebunden. Im Fall eines Verbandswechsels greift für den Arbeitgeber eine neue normative Bindung an den nunmehr fachlich einschlägigen TV. Seine schuldrechtliche Bindung aufgrund der statischen Bezugnahmeklausel bleibt hiervon unberührt. Kommt es zu einer kongruenten Bindung beider Vertragspartner an den neuen TV, so kann der Arbeitnehmer gleichwohl eventuelle für ihn günstigere Arbeitsbedingungen des statisch in Bezug genommenen TVes für sich beanspruchen. Es gilt das Günstigkeitsprinzip1. Kommt es aufgrund einer Unternehmensumstrukturierung zu einem Betriebsübergang, gilt § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB: Der Erwerber tritt in die zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs bestehenden Arbeitsverhältnisse ein. Somit gilt die statische Bezugnahmeklausel auch nach dem Betriebsübergang fort2. Eine Änderung des Inhalts der statischen Bezugnahmeklausel kommt nur dann in Betracht, wenn es aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalles einer ergänzenden Auslegung bedarf oder eine Anpassung aufgrund der Regeln des Wegfalls der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 BGB erforderlich ist3. Eine Anpassung ist ferner durch einvernehmliche Vertragsänderungen oder aufgrund von Änderungskündigungen möglich4.

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2. Kleine dynamische Bezugnahmeklauseln Die den statischen Verweisungsklauseln gegenüberstehenden dynamischen Bezugnahmeklauseln wurden in der Kautelarpraxis bislang in zwei Erscheinungsformen als kleine dynamische Klausel und als große dynamische Bezugnahmeklauseln bzw. Tarifwechselklauseln verwendet5. Dynamische Klauseln lassen sich auch als „Jeweiligkeitsklauseln“ bezeichnen6, da sie auf einen TV in seiner „jeweils gültigen Fassung“ bzw. auf den „jeweils einschlägigen TV in seiner jeweils gültigen Fassung“7 verweisen.

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a) Ältere Rechtsprechung: Auslegung als Gleichstellungsabrede Die lange Zeit üblichen, heute aber aufgrund einer Rechtsprechungskorrektur überholten kleinen dynamischen Bezugnahmeklauseln unterscheiden sich von der statischen Bezugnahmeklausel dadurch, dass sie zwar einen bestimmten TV für auf das Arbeitsverhältnis anwendbar erklären, jedoch auf die jeweils zeitlich aktuell geltende Fassung abstellen8. Das Arbeitsverhältnis nimmt damit an den Anpassungen des TVes an die geänderten Rahmenbedingungen 1 2 3 4 5

Zum Ganzen Henssler, FS Wißmann, 2005, S. 130 (141). Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 265; Henssler, FS Wißmann, 2005, S. 130 (150). Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 354; Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 6 Rz. 201. Holthausen, ArbRAktuell 2011, 29. Vgl. hierzu Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 600; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 36; MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 178 Rz. 6. 6 Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 11; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 24; Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 6 Rz. 176. 7 Vgl. hierzu die Formulierungsvorschläge bei Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 1, 18; Thüsing, AGB-Kontrolle im Arbeitsrecht, Rz. 179 f. 8 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 36; MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 178 Rz. 6.

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Teil 10

Rz. 60

Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme

teil1. Ob eine kleine dynamische Bezugnahmeklausel oder eine noch weiter gehende Dynamik im Sinne einer Tarifwechselklausel gewollt ist, muss wiederum durch Auslegung der Abrede geklärt werden2. Dabei ist im Zweifel anzunehmen, dass nur eine kleine dynamische Klausel gewollt ist, wenn nicht besondere Umstände auf eine große dynamische Klausel (vgl. dazu unten Rz. 83) hindeuten3. 60

Das BAG ging in seiner älteren Rechtsprechung davon aus, dass die Parteien mit kleinen dynamischen Bezugnahmeklauseln den Zweck verfolgten, die nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer den tarifgebundenen Arbeitnehmern gleichzustellen4. Die Klauseln wurden dementsprechend bei Tarifbindung des Arbeitgebers im Zweifel als Gleichstellungsabrede verstanden5. Die Bezugnahmeklausel sollte die fehlende Tarifgebundenheit der nicht-tarifgebundenen Arbeitnehmer überwinden, für die der einschlägige TV nicht bereits gemäß § 4 Abs. 1 TVG unmittelbar und zwingend galt6, um so einheitliche Arbeitsbedingungen zu schaffen. Da die Klauseln unabhängig von der Gewerkschaftsmitgliedschaft der Arbeitnehmer eingesetzt wurden, war es genauer, von einer „Widerspiegelung“ der bei kongruenter Tarifbindung bestehenden Arbeitsbedingungen zu sprechen. Die Klausel sollte schuldrechtlich dasjenige widerspiegeln, was im Falle einer unterstellten kongruenten Tarifbindung normativ gelten würde. Folge dieser Auslegung als Gleichstellungs- bzw. Widerspiegelungsklausel war, dass die in Bezug genommenen TVe nur so lange auf das Arbeitsverhältnis Anwendung fanden, wie der Arbeitgeber auch tarifgebunden war7. Im Falle einer Beendigung der Tarifbindung durch Verbandsaustritt oder Herauswachsen aus dem TV endete damit die dynamische Bindung an den TV. Die bis dato geltenden tariflichen Arbeitsbedingungen galten nur noch statisch fort.

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Die Auslegung als Gleichstellungsabrede war jedoch nur dann möglich, wenn der Arbeitgeber auch tarifgebunden war8. Verwendete dagegen ein weder verbandlich organisierter noch an einen Firmentarif gebundener Arbeitgeber kleine dynamische Klauseln, so führte der Gedanke der beabsichtigten Gleichstellung der Arbeitnehmer ins Leere.

b) Aktuelle Rechtsprechung: Konstitutive Ewigkeitsbindung bei Neuklauseln 62

Die im Ergebnis sehr arbeitgeberfreundliche Rechtsprechung des BAG wurde im Schrifttum schon vor Inkrafttreten der Schuldrechtsreform, erst recht aber 1 2 3 4

5 6 7 8

HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 17. MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 178 Rz. 29. MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 178 Rz. 29; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 24. BAG v. 4.9.1996 – 4 AZR 135/96, BB 1996, 2628; BAG v. 4.8.1999 – 5 AZR 642/98, NZA 2000, 154; BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, NZA 2002, 634; BAG v. 27.11.2002 – 4 AZR 540/01, NZA 2003, 1278. ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 37. BAG v. 27.11.2002 – 4 AZR 663/01, NZA 2003, 805 (806); BAG v. 1.12.2004 – 4 AZR 50/04, NZA 2005, 478 (479) m.w.N. BAG v. 27.11.2002 – 4 AZR 663/01, NZA 2003, 805 (806). Dies gilt auch für sog. Altklauseln: BAG v. 21.10.2009 – 4 AZR 396/08, BB 2010, 2245.

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Erscheinungsformen

Rz. 63 Teil 10

nach der Öffnung des Arbeitsvertragsrechts für das AGB-Recht durch § 310 Abs. 4 BGB, kritisiert1. Hauptkritikpunkte waren zum einen die Missachtung des Wortlauts der Klausel und die Grundsätze der Vertragsauslegung2. Zum anderen wurde auch die Unvereinbarkeit mit §§ 305c Abs. 2, 307 Abs. 1 Satz 2 BGB angenommen3. Ungeachtet dieser Kritik hatte das BAG seine Rechtsprechung zunächst lange Zeit beibehalten und verteidigt4. Dem 4. Senat waren die anderen Senate des BAG gefolgt5 – im Gegensatz zu einigen Landesarbeitsgerichten6. Erst nach einem Wechsel in der personellen Besetzung des 4. Senats kam es zu einer mit Urteil vom 14.12.20057 vorab angekündigten Änderung der Rechtsprechung. Die neuen Auslegungsgrundsätze wurden in zwei Urteilen vom 18.4.20078 vorgestellt und in der Folgezeit weiter präzisiert. Grundlage der neuen Rechtsprechung ist eine Trennung zwischen Altklauseln, die vor dem 1.1.2002 vereinbart wurden, und Neuklauseln, die auf ab diesem Stichtag geschlossenen Abreden beruhen. Neuklauseln sind nicht mehr als Gleichstellungsabreden zu verstehen. Das Ende der Tarifgebundenheit des Arbeitnehmers führt somit nicht zu einer Beendigung der Dynamik, vielmehr muss der Arbeitgeber auch künftig Tariferhöhungen an seine Arbeitnehmer weiterreichen. Es kommt somit zu einer „konstitutiven Ewigkeitsbindung“ des Arbeitgebers an die sich dynamisch entwickelnden Arbeitsbedingungen des in Bezug genommenen TVes. Der Arbeitgeber muss diese Arbeitsbedingungen aufgrund seiner schuldrechtlichen Zusage auch dann gewähren, wenn sie längst nicht mehr auf sein unternehmerisches Tätigkeitsfeld und damit auch nicht mehr auf das Arbeitsverhältnis zugeschnitten sind. Ausnahmen gelten nur dann, wenn die Klausel Anhaltspunkte für einen Gleichstellungswillen der Vertragspartner bietet. Die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers müsse in erkennbarer Weise zur auflösenden Bedingung für die dynamische Wirkung der Klausel gemacht werden9. In seinem Urteil vom 14.12.2005 setzt sich das BAG dabei mit der geäußerten Kritik aufgrund des Verstoßes gegen die Unklarheitenregel gemäß § 305c Abs. 2 BGB und der mangelnden Wortlautorientierung auseinander und trägt dieser durch die Ankündigung einer Rechtsprechungsänderung Rechnung. 1 Kempen/Zachert/Stein, § 3 TVG Rz. 186 ff.; Hanau, NZA 2005, 489 (490 ff.). 2 Lambrich, FS Ehmann, 2005, S. 169 (227); Annuß, RdA 2000, 179 (180); Annuß, AuR 2002, 361 (362 f.). 3 Kempen/Zachert/Stein, § 3 TVG Rz. 187; Hanau, NZA 2005, 489 (491); Wiedemann, RdA 2007, 65 (66). 4 Vgl. BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, NZA 2002, 634; BAG v. 19.3.2003 – 4 AZR 331/02, NZA 2003, 1207; BAG v. 27.11.2002 – 4 AZR 540/01, NZA 2003, 1278. 5 BAG v. 19.1.1999 – 1 AZR 606/98; NZA 1999, 879; BAG v. 4.8.1999 – 5 AZR 642/98, NZA 2000, 154; BAG v. 24.11.2004 – 10 AZR 202/04, NZA 2005, 349. 6 Vgl. hierzu LAG Hamburg v. 15.11.2000, NZA 2001, 562 (566); LAG Hessen v. 23.3.1999 – NZA-RR 2000, 93 (94). 7 BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, NZA 2006, 607. 8 BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965; BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 653/05, DB 2007, 2598. 9 BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965 (967); BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 793/07, NZA 2009, 323 (326).

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Teil 10

Rz. 64

Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme

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Für die sog. Altklauseln, die bis zum 31.12.2001 in Arbeitsverträgen vereinbart wurden, gewährt das BAG Vertrauensschutz1. Der Stichtag knüpft an das Inkrafttreten des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes am 1.1.2002 an, mit dem die Klauselkontrolle gemäß §§ 305 ff. BGB auf Arbeitsverträge erstreckt wurde. Diese Stichtagswahl wurde jedoch teilweise stark kritisiert2 und dies zu Recht. Anstelle des vom BAG gewählten Stichtages hätte aus Vertrauensschutzgründen an den Tag des die Rechtsprechungsänderung ankündigenden Urteils angeknüpft werden müssen.

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Die Rechtsprechungsänderung war ihrerseits Kritik ausgesetzt, insbesondere wurden europarechtliche Bedenken geäußert3. In seiner Entscheidung4 hatte der EuGH die bisherige Rechtsprechung zur Gleichstellungsabrede als europarechtskonform erachtet und zugleich einen Verstoß gegen das europäische Grundrecht der negativen Koalitionsfreiheit für möglich gehalten, wenn der Erwerber nach einem Betriebsübergang künftige TVe anwenden müsse, ohne dass dies durch seine eigene Tarifbindung oder privatautonome Entscheidung legitimiert sei. Die Pflicht zur Anwendung der TVe folgt jedoch aus der privatautonomen Entscheidung des Erwerbers, den Betrieb zu übernehmen; die Koalitionsfreiheit ist nicht betroffen. Die Unzulässigkeit einer dynamischen Tarifbindung kann daher aus dem Urteil nicht gefolgert werden5.

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Über diesen europarechtlichen Aspekt hinaus wurde in der Literatur zudem angezweifelt, ob der am 14.12.2005 vom 4. Senat des BAG angekündigte Rechtsprechungswechsel allein von diesem entschieden werden durfte oder ob es einer Divergenzvorlage nach § 45 Abs. 2 ArbGG bzw. einer Vorlage an den Großen Senat nach § 45 Abs. 4 ArbGG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache bedurft hätte. Der 4. Senat des BAG führt hierzu in seinem Urteil vom 18.4.20076 aus, die Rechtsprechungsänderung sei nur hinsichtlich der Auslegung von Verweisungsklauseln, die nach dem 31.12.2001 vereinbart worden sind, entscheidungserheblich. Hinsichtlich der Auslegung einer solchen Klausel liege keine der jetzigen Rechtsprechung des Senats entgegenstehende Rechtsprechung eines anderen Senats oder des Großen Senats des BAG vor. Auch diese Auffassung des BAG trifft in der Literatur auf Ablehnung7.

1 BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, NZA 2006, 607 (609 f.); BAG v. 17.11.2010 – 4 AZR 391/09, NZA 2011, 356 (357). 2 Hierzu kritisch u.a. Gaul/Naumann, DB 2007, 2594 (2596); Giesen, NZA 2006, 625 (628); Hanau, RdA 2007, 180 (182); Höpfner, NZA 2008, 91 (92); Höpfner, NZA 2009, 420 (421); Spelberger, NZA 2007, 1086 (1087 f.); Zerres, NJW 2006, 3533 (3535). 3 Nicolai, DB 2006, 670 (671 f.); Simon/Kock/Halbsguth, ZIP 2006, 723 (727 f.). 4 EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04, NZA 2006, 376. 5 BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NJW 2008, 102 (105); BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 765/06 und 4 AZR 767/06, SAE 2008, 365 und NZA 2008, 364 (366); BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 793/07, NZA 2009, 323 (325); E. M. Willemsen, Arbeitsvertragliche Bezugnahme, 2009, S. 185 ff.; Reinecke, BB 2006, 2637 (2641); Sittard/Ulbrich, ZTR 2006, 458 (461); a.A. Meinel/Herms, DB 2006, 1429 (1430). 6 BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965 (969). 7 Vgl. Höpfner, NZA 2008, 91 (94); Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 463.

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Erscheinungsformen

Rz. 68 Teil 10

c) Abgrenzung von Altklauseln und Neuklauseln Nach der aktuellen Rechtsprechung kommt der Unterscheidung zwischen sog. Neu- und Altklauseln zentrale Bedeutung zu. Für die Einordnung ist nicht entscheidend, wann der Arbeitsvertrag, der einen TV in Bezug nimmt, erstmalig abgeschlossen wurde. Eine Neuklausel liegt vielmehr schon dann vor, wenn der Arbeitsvertrag überarbeitet oder neugefasst worden ist. Ausschlaggebend ist, ob auch die Klausel Gegenstand der rechtsgeschäftlichen Willensbildung war, wobei dies schon bei bloß geringfügigen Änderungen anzunehmen ist1. Der 4. Senat2 löst die anstehenden Fälle mit einer Faustformel: Eine „Neuvertragsklausel“ liegt vor, wenn dem Änderungsvertrag zu entnehmen ist, dass die Bezugnahme Gegenstand der (änderungs-)vertraglichen Willensbildung war. Dies ist insbesondere dann zweifelsfrei der Fall, wenn die Bezugnahmeklausel selbst durch die Vertragsänderung im Wortlaut leicht verändert wird3. Nach der Rechtsprechung des BAG gilt dasselbe, wenn die Parteien vereinbart haben, dass „alle anderen Vereinbarungen aus diesem Anstellungsvertrag [von der Vertragsänderung] unberührt bleiben“, da damit zum Ausdruck gebracht werde, dass auch diese unmittelbar nicht geänderten Klauseln Gegenstand des Willensbildungsprozesses der Parteien im Rahmen der Vertragsänderung gewesen sind4.

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d) Folgen bei Verbandsaustritt, Verbandswechsel und Umstrukturierung aa) Auslegung von Altklauseln Die große Tragweite der Rechtsprechungsänderung erschließt sich erst, wenn man die Auswirkungen auf individualvertraglicher Ebene beim Ende der Tarifbindung des Arbeitgebers oder bei Änderung der TVe betrachtet. Endet die Tarifbindung etwa aufgrund eines Verbandsaustritts des Arbeitgebers (vgl. Rz. 55), mussten auf der Grundlage des von der älteren Rechtsprechung präferierten Gleichstellungsgedankens die nicht-tarifgebundenen Arbeitnehmer genauso behandelt werden wie die tarifgebundenen. Dieses für Altklauseln weiterhin maßgebliche Verständnis führt in aller Regel zu einer rein statischen Weitergeltung des in Bezug genommenen TV: Beim Verbandsaustritt des Arbeitgebers kommt es auf der normativen Ebene zu einer (zwingenden) Fortgeltung des TVes gemäß § 3 Abs. 3 TVG. Endet dieser TV durch Zeitablauf, Kündigung oder Änderung, so hat er dennoch gemäß § 4 Abs. 5 TVG noch eine unmittelbare Wirkung, bis er durch eine andere Abmachung ersetzt wird. Für die Gleichstellungsabrede galt in diesem Fall, dass es nicht zu einer Teilhabe an der weiteren Tarifentwicklung kam, vielmehr wirkte der TV in seiner bei Verbandsaustritt geltenden Fassung statisch fort5. Wächst ein Unternehmen aus einem TV heraus, verliert dieser seine normative Wirkung und wirkt lediglich 1 2 3 4 5

BAG v. 24.2.2010 – 4 AZR 691/08, NZA-RR 2010, 530 (532). BAG v. 24.2.2010 – 4 AZR 691/08, NZA-RR 2010, 530 (532). So in BAG 24.2.2010 – 4 AZR 691/08, NZA-RR 2010, 530 (532). So in BAG 18.11.2009 – 4 AZR 514/08, NZA 2010, 170 (172). BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, NZA 2002, 634 f.; BAG v. 19.3.2003 – 4 AZR 331/02, NZA 2003, 1207 ff.; Frieges, DB 1996, 1281 (1282); so i.E. auch Kania, RdA 2000, 173 (177), der jedoch diese Konsequenz als nicht mehr zeitgemäß ansieht.

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Teil 10

Rz. 69

Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme

unmittelbar, jedoch nicht zwingend gemäß § 4 Abs. 5 TVG (analog) nach (vgl. Teil 9 Rz. 27)1. Dies gilt sodann auch, wenn der TV individualvertraglich in Bezug genommen wurde. 69

Tritt der Arbeitgeber einem anderen Arbeitgeberverband bei, so gilt auf normativer Ebene der anwendbare TV gemäß § 3 Abs. 1 TVG. Bei einem solchen Verbandswechsel hatte das BAG noch 1996 angenommen, ein Tarifwechsel könne durch eine „korrigierende Auslegung“ der kleinen dynamischen Bezugnahmeklausel zumindest dann erfolgen, wenn der neue sowie der alte TV mit derselben Gewerkschaft geschlossen worden seien2. Diese dem Wortlaut zuwider laufende Auslegung hatte das BAG zu Recht schon vor dem Inkrafttreten der Schuldrechtsreform aufgegeben und nur dann für möglich erachtet, wenn die Klausel nicht nur als Gleichstellungsabrede gewollt war, sondern darüber hinaus besondere Umstände auf ein Verständnis als Tarifwechselklausel hindeuteten3. Schon vor der 2005 eingeleiteten Rechtsprechungsänderung konnte folglich eine kleine dynamische Bezugnahmeklausel nicht ohne Weiteres zu einem Tarifwechsel führen. Vielmehr verwies eine als Gleichstellungsabrede auszulegende Klausel grundsätzlich statisch auf den gemäß § 4 Abs. 5 TVG nachwirkenden TV4.

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Nach einem Betriebs(teil)übergang gilt der TV grundsätzlich nach der von § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB angeordneten Transformation mit einer einjährigen Veränderungssperre fort, sofern er nicht gemäß § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB durch einen beim Erwerber geltenden TV verdrängt wird. Die Verdrängung setzt allerdings beiderseitige Tarifbindung voraus. Damit kann es zu einer Diskrepanz zwischen der gesetzlich angeordneten Rechtslage und dem schuldrechtlich aufgrund der Bezugnahmeklausel geltenden Recht kommen. Die kleine dynamische Altklausel führt in ihrer Funktion als Gleichstellungsabrede zu einer statischen Fortwirkung des beim Veräußerer geltenden Tarifniveaus5. Die Klausel spiegelt also schuldrechtlich dasjenige wider, das für einen beim Veräußerer ehemals kongruent tarifgebundenen Arbeitnehmer gelten würde. Auf diejenigen – eventuell ungünstigeren – Ansprüche, die ein beim Erwerber kongruent gebundener Arbeitnehmer erhalten würde, der sich nunmehr der für den Erwerber tarifzuständigen Gewerkschaft anschließt, kommt es nicht an, obwohl diese nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB normativ maßgeblich sind. Das von § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB geschützte Interesse des Erwerbers an einheitlichen Arbeitsbedingungen in seinen Betrieben bleibt damit nach der Rechtsprechung des BAG bei der Auslegung der Bezugnahmeklausel unberücksichtigt.

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Etwas anderes muss allerdings dann gelten, wenn beim Erwerber zwar ein anderer TV als beim Veräußerer gilt, dieser aber mit derselben Gewerkschaft ge1 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 247/96, NZA 1998, 484 (analoge Anwendung); Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 337; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 19. 2 BAG v. 4.9.1996 – 4 AZR 135/95, NZA 1997, 271 (273). 3 BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 581/99, NZA 2001, 510 (511); BAG v. 25.10.2000 – 4 AZR 506/99, NZA 2002, 100 (103). 4 BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 581/99, NZA 2001, 510 (511). 5 Vgl. BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 581/99, NZA 2001, 510 (511); BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, NZA 2006, 607 (610 f.).

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Erscheinungsformen

Rz. 73 Teil 10

schlossen wurde, die auch für den beim Veräußerer geltenden TV zuständig war. Hier greift nämlich auch für die beim Veräußerer kongruent tarifgebundenen Arbeitnehmer nach dem Betriebsübergang sofort gemäß § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB das neue Tarifniveau1. Diese Rechtslage soll die Gleichstellungsabrede widerspiegeln. Ist das Tarifniveau beim Erwerber niedriger, so werden damit die Arbeitsbedingungen über die Bezugnahmeklausel sofort auf dieses niedrigere Niveau abgesenkt. Auch für Altklauseln gelten dann Besonderheiten, wenn sie einen normativ nicht geltenden TV in Bezug nehmen2. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die Klausel von einem selbst nicht tarifgebundenen Arbeitgeber verwendet wurde. Da in diesem Fall kein Raum für eine Funktion als Gleichstellungsabrede ist, muss die Verweisung grundsätzlich so verstanden werden, dass von den Parteien eine dauerhafte Partizipation an der Dynamik des entsprechenden TV gewollt war, sodass ebenso wie bei einer Neuklausel (Rz. 74 ff.; dort auch zu weiteren Einzelheiten) von einer „konstitutiven Ewigkeitsklausel“ gesprochen werden kann3. Das Arbeitsverhältnis nimmt folglich an den Entwicklungen des in Bezug genommen TVes stetig teil, die Klausel wirkt dauerhaft dynamisch und führt im Ergebnis zu einer stärkeren Bindung als die Verbandsmitgliedschaft.

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In der Praxis ist die Verwendung solcher Klauseln durch nicht tarifgebundene Arbeitgeber keine Seltenheit (vgl. schon Rz. 3 f.). Sie dienen nicht nur der Anbindung an ein Kollektivsystem, sondern auch der Vereinheitlichung von Arbeitsbedingungen, insbesondere der Einheitlichkeit innerhalb eines Konzerns bei einer verbandsangehörigen Muttergesellschaft4. Das Verständnis als Ewigkeitsklausel steht zwar in einem gewissen Spannungsverhältnis zu der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten negativen Koalitionsfreiheit des Arbeitgebers. Im Ergebnis greifen hierauf gestützte Bedenken5 allerdings nicht durch, da die Ewigkeitsbindung nicht gegen den Willen des Arbeitsgebers eintritt, sondern eine Folge konsequenter Anwendung der Vertragsauslegungsregeln ist6. Der Arbeitgeber kann durch sachgerechte Formulierung der Klausel verhindern, dass es zu einer dauerhaft dynamischen Bindung kommt7. Eine denkbare Gestaltung ist die Verbindung der Klausel mit einem Widerrufvorbehalt8. Bei der Anwendung der von der Rechtsprechung zu solchen Änderungsvorbehalten gemäß § 308 Nr. 4 BGB entwickelten Grundsätzen9 ist zu berücksichtigen, dass

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1 BAG v. 11.5.2005 – 4 AZR 315/04, NZA 2005, 1362 (Fall: ver.di-Gründung). 2 BAG v. 25.9.2002 – 4 AZR 294/01, NZA 2003, 807 (809); BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, NZA 2002, 634. 3 Henssler, FS Wißmann, 2005, S. 133 (137); Vogel/Oelkers, NJW-Spezial 2006, 369; Klebeck, NZA 200615 (18 f.). 4 Henssler, FS Wißmann, 2005, S. 133 (138). 5 Möller, NZA 2006, 579 (583). 6 Vgl. Sittard/Ulbrich, ZTR 2006, 458 (460). 7 BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965 (968). 8 Müller-Bonanni/Mehrens, NZA 2012, 195, 197. 9 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 44; Preis/Greiner, NZA 2007, 1073 (1078); a.A. Klebeck, NZA 2006, 15 (19), der den entscheidenden Unterschied darin sieht, dass die Arbeitnehmer behalten, was sie haben, und nur die Chance auf künftige Verbesserungen verlieren.

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Teil 10

Rz. 74

Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme

der Widerruf nicht mit einem Eingriff in den Bestandsschutz der Arbeitnehmer verbunden ist1. Ohne entsprechenden Vorbehalt lässt sich die vereinbarte Dynamik nur durch eine einvernehmliche Änderung der Bezugnahmeklausel sowie in Ausnahmefällen durch Änderungskündigung2 oder über die Grundsätze der Störung der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 BGB3 beenden.

bb) Wirkung von Neuklauseln 74

Nach der geänderten Rechtsprechung des BAG hat das Ende der Tarifbindung keinen Einfluss mehr auf die Dynamik der Verweisung (vgl. Rz. 62). Diese Konsequenz hat das BAG in einer seiner ersten Entscheidungen für den Fall des Verbandsaustritts gezogen4 und in der Folgezeit bestätigt5. Da der in Bezug genommene TV auch für die tarifgebundenen Arbeitnehmer konstitutiv wirkt, profitieren auch sie von der nach dem Verbandsaustritt fortbestehenden dynamischen Bindung. Im Verhältnis zwischen gesetzlichen und schuldrechtlichen Ansprüchen gilt das Günstigkeitsprinzip gemäß § 4 Abs. 3 TVG6. Als Folge der neuen Rechtsprechungslinie bleibt somit auch für die ehemals tarifgebundenen Arbeitnehmer trotz des Wegfalls der Tarifbindung beim Arbeitgeber die Dynamik aufrecht erhalten7. Entsprechendes gilt bei einem Verbandswechsel8 und im Falle eines Betriebsübergangs9. Unabhängig davon, welche gesetzlich abgesicherten Ansprüche dem Arbeitnehmer aufgrund der Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG oder aufgrund der Bestandssicherung durch § 613a Abs. 1 Satz 2 und 3 BGB zustehen, hat er in jedem Fall einen schuldrechtlichen Anspruch auf die sich dynamisch entwickelnden Arbeitsbedingungen des in Bezug genommenen TVes.

75

Neu vereinbarte kleine dynamische Bezugnahmeklauseln führen aufgrund der auch bei Wegfall der Tarifbindung weiterbestehenden Dynamik nun in der Regel zu einer „Ewigkeitsbindung“ an den in Bezug genommenen TV10. Das gilt auch für den unter Rz. 71 geschilderten Fall, in dem nach einem Betriebsübergang beim Erwerber zwar ein anderer TV gilt als beim Veräußerer, dieser aber mit derselben Gewerkschaft abgeschlossen wurde, die auch Vertragspartnerin des beim Veräußerer geltenden TV war. Während hier normativ nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB der neue – für die Arbeitnehmer möglicherweise ungüns1 Vgl. Henssler/Moll, AGB-Kontrolle vorformulierter Arbeitsbedingungen, B XXI 3d). 2 BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965 (968). 3 Thüsing, AGB-Kontrolle im Arbeitsrecht, Rz. 205 ff.; die Lösung über § 313 BGB wird teilweise (insbesondere für den Verbandswechsel und -austritt des Arbeitgebers) abgelehnt: Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 247; Giesen, NZA 2006, 625 (631). 4 BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965 (967). 5 BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 793/07, NZA 2009, 323 (326). 6 Vgl. hierzu BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, NZA 2008, 364. 7 Bauer/Günther, NZA 2008, 6 (8). 8 HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 30c; Bauer/Günther, NZA 2008, 6 (9). 9 Vgl. BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 793/07, NZA 2009, 323; BAG v. 21.10.2009 – 4 AZR 396/08, NZA-RR 2010, 361 und BAG v. 24.2.2010 – 4 AZR 691/08, NZA-RR 2010, 530; Bepler, RdA 2009, 65 ff. 10 So u.a. Henssler/Moll, AGB-Kontrolle vorformulierter Arbeitsbedingungen, B XXI 1c) bb) (1); Klebeck, NZA 2006, 15 (18).

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Erscheinungsformen

Rz. 78 Teil 10

tigere – TV greift, behalten die übergeleiteten und durch „Neuklauseln“ geschützten Arbeitnehmer nicht nur ihre bisherigen Ansprüche, sondern können sogar deren Dynamisierung verlangen. Für den Erwerber, der anlässlich einer im Vorfeld eines Unternehmenskaufes durchgeführten „due diligence“ entsprechende Klauseln in den Arbeitsverträgen der Belegschaft feststellt, kann das Kaufobjekt damit allein aufgrund der arbeitsvertraglichen Gestaltung deutlich an Attraktivität verlieren. Er muss damit rechnen, dass eine Anpassung an das bei ihm geltende Tarifniveau nur mit erheblichen Schwierigkeiten erreichbar ist. Die potentiellen strategischen Maßnahmen, die ein Arbeitgeber zur Anpassung seines Tarifniveaus ergreifen kann, laufen damit bei einer Bindung durch kleine dynamische Neuklauseln weitgehend leer. Für die Beratungspraxis gilt: Bevor strategische Überlegungen (Verbandsaustritt, Verbandswechsel oder Umstrukturierung) angestellt werden, müssen zunächst die Bezugnahmeklauseln einer sorgfältigen Analyse unterzogen werden. Gegebenenfalls muss erst die Bezugnahmeklausel angepasst werden, bevor die genannten strategischen Überlegungen weiterverfolgt werden.

76

Eine Bezugnahmeklausel kann als „andere Abmachung“ i.S.d. § 4 Abs. 5 TVG bei den Gewerkschaftsmitgliedern die auf tariflicher Ebene vorliegende Nachwirkung des bisherigen TVes beenden1. Andere Abmachungen im Sinne dieser Vorschrift können nach der Rechtsprechung des BAG unter engen Voraussetzungen auch vor dem Eintritt der Nachwirkung abgeschlossen werden (Einzelheiten bei Rz. 98)2.

77

e) Tarifsukzession Kleine dynamische Bezugnahmeklauseln, die auf einen bestimmten TV (in der jeweils gültigen Fassung) Bezug nehmen, können nach den dargelegten Grundsätzen (Rz. 69) prinzipiell nicht in eine Tarifwechselklausel umgedeutet werden3. Von einem Tarifwechsel aufgrund einer Änderung des unternehmerischen Schwerpunktes oder einem Verbandswechsel sind die Fälle der Tarifsukzession zu unterscheiden. Hierunter sind Konstellationen zu verstehen, in denen ein TV, auf den Bezug genommen wurde, nicht mehr weiter geführt und von den TV-Parteien durch einen anderen ersetzt wird4. Dies war insbesondere in den Jahren 2005/2006 der Fall, als der BundesangestelltenTV für den öffentlichen Dienst (BAT) auf Bundesebene durch den TV für den öffentlichen Dienst (TVöD) sowie auf Länderebene durch den TV für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) ersetzt wurde. Handelte es sich bei der vereinbarten Klausel um eine einfache kleine dynamische Bezugnahmeklausel, schied hier aufgrund des 1 BAG v. 17.1.2006 – 9 AZR 41/05, NZA 2006, 923 (924); ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 63. 2 BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 789/07, NZA 2009, 265 (267); BAG v. 20.5.2009 – 4 AZR 230/08, NZA-RR 2010, 591 (595); BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53 (60); s. hierzu Henssler, FS Picker, 2010, S. 987 (997). 3 BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 581/99, NZA 2001, 510 (511); BAG v. 16.2.2002 – 4 AZR 467/01, NZA 2003, 390 (392); Thüsing, AGB-Kontrolle im Arbeitsrecht, Rz. 205. 4 Vgl. Möller/Welkoborsky, NZA 2009, 1382 (1384).

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Teil 10

Rz. 79

Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme

Wortlauts eine Auslegung als große dynamische Bezugnahmeklausel aus. Die entstandene Lücke kann im Sonderfall der Tarifsukzession durch ergänzende Vertragsauslegung geschlossen werden. Aufgrund der Dynamik der Klausel ist der Wille der Parteien dahin gehend zu verstehen, dass die Arbeitsbedingungen dynamisch an der Tarifentwicklung auszurichten sind1. Unproblematisch war und ist ein ersetzender TV auch dann in Bezug genommen, wenn es sich um eine sog. erweiterte kleine dynamische Bezugnahmeklausel2 handelt, wie dies vielfach in den Arbeitsverträgen des öffentlichen Dienstes der Fall war, d.h. wenn auch auf einen den TV ersetzenden TV Bezug genommen wurde3. Einer großen dynamischen Bezugnahmeklausel (Tarifwechselklausel) bedurfte es somit in diesen Fällen nicht4.

f) Konkurrenz von (allgemeinverbindlichem) VerbandsTV und FirmenTV? 79

Verweist eine kleine dynamische Bezugnahmeklausel allein auf einen VerbandsTV, so stellt sich in Sanierungsfällen das Problem, inwieweit durch solche Klauseln eine Änderung der Arbeitsbedingungen durch einen SanierungsTV in der Form eines FirmenTVes oder eines firmenbezogenen VerbandsTVes im Ergebnis unterlaufen werden kann. Bei streng wortlautgetreuer Auslegung behalten die Arbeitnehmer aufgrund der Inbezugnahme des VerbandsTVes ihre entsprechenden Ansprüche, so dass der FirmenTV entweder überhaupt nicht zu Anwendung kommt (Außenseiter) oder aber nach dem Günstigkeitsprinzip durch den schuldrechtlichen Anspruch verdrängt wird (kongruent gebundene Gewerkschaftsmitglieder). Die Rettung eines Unternehmens über einen SanierungsTV wäre nicht möglich5. Ein mit dem Arbeitgeber geschlossener HausTV wäre nur dann anwendbar, wenn die Klausel auch diesen in Bezug nimmt6.

80

Geklärt hat das BAG bislang nur die Sanierung aufgrund eines firmenbezogenen VerbandsTVes7. Das Gericht begründet die von ihm bejahte Einbeziehung auch dieses TVes mit dem Wortlaut der Klausel und stellt darüber hinaus auf den erkennbaren Sinn und Zweck der arbeitsvertraglichen Bezugnahme ab. Dieser liege darin, dass der Arbeitgeber die Anwendbarkeit der einschlägigen für ihn geltenden TVe auf die Arbeitsverhältnisse aller Beschäftigten erreichen wolle. 1 BAG v. 19.5.2010 – 4 AZR 796/08, NZA 2010, 1183; BAG v. 25.8.2010 – 4 AZR 14/09, NZA-RR 2011, 248 (251); BAG v. 10.11.2010 – 5 AZR 633/09, NZA 2011, 655; BAG v. 6.7.2011 – 4 AZR 706/09, NZA 2012, 100; Greiner, NZA 2009, 877 (879); zustimmend Henssler/Seidensticker, RdA 2011, 247 (248 ff.). 2 Greiner, NZA 2009, 877 (878). 3 BAG v. 22.4.2009 – 4 ABR 14/08, NZA 2009, 1286 (1289); Thüsing, AGB-Kontrolle im Arbeitsrecht, Rz. 209; Hümmerich/Reufels/Reufels, Rz. 1311; Fieberg, NZA 2005, 1226 (1227). 4 A.A. Hümmerich/Mäßen, NZA 2005, 962 (965). 5 Thüsing, AGB-Kontrolle im Arbeitsrecht, Rz. 207. 6 Bepler, AuR 2010, 234 (235). 7 BAG v. 14.12.2005 – 10 AZR 296/05, NZA 2006, 744 (745); so auch Oetker in Jacobs/ Krause/Oetker, § 6 Rz. 174; Hanau, NZA 2005, 489 (491 f.).

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Erscheinungsformen

Rz. 82 Teil 10

Die Einbeziehung von reinen FirmenTV ist dagegen höchstrichterlich bislang nicht geklärt. Bei Altklauseln kommt es gemäß der Gleichstellungsfunktion aufgrund der Verdrängung des Verbandstarifs für die organisierten Arbeitnehmer auch für die Außenseiter zur Geltung des FirmenTVes. Bei Neuklauseln lässt sich die Einschätzung durch das BAG nur schwer prognostizieren. Überzeugend erscheint es, darauf abzustellen, wer Partner des TVes auf Gewerkschaftsseite ist. Ist der FirmenTV mit derselben Gewerkschaft geschlossen worden, so tritt er nach dem Willen der Gewerkschaft für den betreffenden Betrieb an die Stelle des VerbandsTVes. Haben die Parteien eine einfache kleine dynamische Klausel verwendet, die nur einen VerbandsTV in Bezug nimmt, so liegt ersichtlich eine Vertragslücke für den Fall der Sanierungsbedürftigkeit vor. Diese Lücke ist im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung durch Einbeziehung des FirmenTVes zu schließen. Denkt man die Vorstellungen der Parteien für den nicht bedachten Fall der Sanierung zu Ende, so kommt unter Redlichkeitsaspekten allein eine entsprechende Regelung in Betracht. Der Arbeitnehmer hätte sich nach Treu und Glauben auf eine entsprechende Ergänzung einlassen müssen. In allen übrigen Konstellationen, insbesondere bei Abschluss des SanierungsTVes mit einer anderen Gewerkschaft, ist im konkreten Einzelfall durch ergänzende Auslegung der Klausel zu klären, ob auch ein HausTV erfasst ist1. Für die Praxis ist dringend zu empfehlen, neben den durch die beteiligten Verbände und die Branche leicht zu kennzeichnenden FlächenTVen auch etwa abgeschlossene und abzuschließende HausTVe in Bezug zu nehmen, sofern nicht ohnehin der vorzugswürdige Weg über eine große dynamische Klausel gewählt wird.

81

Selbst wenn die kleine dynamische Klausel HausTVe ausdrücklich mit einbezieht, stellen sich dann Auslegungsschwierigkeiten, wenn ein allgemeinverbindlicher TV – tarifrechtlich zulässig – auf Zeit durch einen Haus-SanierungsTV abgelöst wird2. Im Schrifttum wird überzeugend erwogen, § 5 Abs. 4 TVG im Wege einer teleologisch reduzierenden Auslegung als „gesetzliche Gleichstellungsregelung“ zu verstehen mit der Folge, dass die Anwendbarkeit des allgemeinverbindlichen TV für alle Arbeitnehmer einheitlich endet. Nach Auffassung von Bepler ist es Sinn und Zweck des § 5 Abs. 4 TVG, Außenseiter vor Beschäftigungen zu untertariflichen Bedingungen zu schützen und ihren sozialen Schutz auf das Niveau der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer anzuheben. Eine Besserstellung der nicht organisierten Arbeitnehmer bezwecke die Vorschrift dagegen nicht, vielmehr sei die Allgemeinverbindlicherklärung eine „gesetzliche Gleichstellungsregelung“3. Nach der Gegenansicht widerspricht die teleologische Reduktion des § 5 Abs. 4 TVG dem Gesetzeszweck des Arbeitnehmerschutzes. Die Norm verbiete gerade eine Schlechterstellung der Außenseiter gegenüber Gewerkschaftsmitgliedern. Ohne Bezug-

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1 Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 206 Rz. 39. 2 Vgl. BAG v. 23.3.2005 – 4 AZR 203/04, BAGE 114, 186 = NZA 2005, 1003; Bepler, FS 25 Jahre Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht, 2006, S. 791 (795 ff.); Krets, RdA 2011, 294. 3 Bepler, AuR 2010, 234 (237); Bepler, FS 25 Jahre Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht, 2006, S. 791 (796).

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Teil 10

Rz. 83

Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme

nahmeklausel würde aber anstelle des allgemeinverbindlichen TV für die nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer überhaupt kein TV gelten1.

3. Große dynamische Bezugnahmeklausel a) Grundlagen 83

Die dritte Erscheinungsform ist diejenige der großen dynamischen Bezugnahmeklausel. Sie nimmt im Unterschied zu der kleinen dynamischen Bezugnahmeklausel nicht nur einen bestimmten TV in seiner jeweils aktuellen Fassung in Bezug, sondern verweist auf den jeweils sachlich einschlägigen oder normativ gültigen TV in seiner jeweils geltenden Fassung2. Sie wirkt also doppelt, nämlich sowohl in inhaltlicher als auch in zeitlicher Hinsicht, dynamisch3. Die Bezugnahme auf den jeweils gültigen TV in seiner jeweils gültigen Fassung führt grundsätzlich zur Anwendung jedes neu berufenen TVes4. Aufgrund dieser Dynamik ermöglicht sie als einzige Klausel den Tarifwechsel, wenn ein Betrieb – aus welchem Grund auch immer – aus dem Anwendungsbereich eines TVes herausfällt5. Sie wird aus diesem Grund mitunter auch als Tarifwechselklausel bezeichnet6 und ermöglicht dem Arbeitgeber die „Flucht“ aus einem TV7. Der Wille zur Vereinbarung einer großen dynamischen Bezugnahme muss sich eindeutig aus dem Wortlaut der Klausel oder aus besonderen, bei Vertragsschluss vorliegenden Umständen ergeben8.

84

Statische und insbesondere kleine dynamische Bezugnahmeklauseln, die auf einen bestimmten TV (in der jeweils gültigen Fassung) Bezug nehmen, können grundsätzlich nicht in eine Tarifwechselklausel umgedeutet werden und so zu einem Tarifwechsel führen (vgl. hierzu Rz. 69).

85

Zur Wirksamkeit großer dynamischer Bezugnahmeklauseln hat sich das BAG in seiner die Rechtsprechungskorrektur einleitenden Entscheidung vom 14.12.2005 nicht geäußert9. Nach der älteren Rechtsprechung des BAG war auch die große dynamische Bezugnahmeklausel grundsätzlich als Gleichstellungsabrede auszulegen10. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Klauseltypen besteht vor dem Hintergrund der Rechtsprechungsänderung darin, dass der Gleichstellungszweck von dieser Klausel schon durch ihre Formu-

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7 8 9 10

Krets, RdA 2011, 294 (297 ff.). ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 36. Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 18. Henssler/Moll, AGB-Kontrolle vorformulierter Arbeitsbedingungen, B XXI 1d). Zerres, NJW 2006, 3533 m.w.N. BAG v. 4.9.1996 – 4 AZR 135/95, NZA 1997, 271; BAG v. 25.10.2000 – 4 AZR 506/99, NZA 2002, 100; BAG v. 16.10.2002 – 4 AZR467/01; NZA 2003, 390 (391); Hümmerich/Reufels/Reufels, Rz. 1310 f.; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 206 Rz. 30 f.; Thüsing/ Braun/Thüsing, 8. Kap. Rz. 36; Jordan/Bissels, NZA 2010, 71. MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 178 Rz. 27; Thüsing/Braun/Thüsing, 8. Kap. Rz. 36. BAG v. 17.11.2010 – 4 AZR 391/09, NZA 2011, 356 (358). Sittard/Ulbrich, ZTR 2006, 458 (463); Jordan/Bissels, NZA 2010, 71 (72); a.A. Giesen, NZA 2006, 625 (626). Vgl. BAG v. 4.8.1999 – 5 AZR 642/98, NZA 2000, 154 (155).

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Erscheinungsformen

Rz. 88 Teil 10

lierung stärker betont wird, als es bei der kleinen dynamischen Klausel der Fall ist1. Probleme ergeben sich bei großen dynamischen Klauseln insoweit, als sie aufgrund ihrer Wirkung als Tarifwechselklausel auch zu einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen führen können. Ob sich vor diesem Hintergrund AGBrechtliche Schranken ergeben, ist bislang höchstrichterlich nicht geklärt. Allerdings lässt sich bei den Richtern des 4. Senats eine deutliche Zurückhaltung gegenüber Tarifwechselklauseln beobachten. An die Transparenz (§ 307 Abs. 1 BGB) der Klausel sind hohe Anforderungen zu stellen2. Das darf allerdings nicht so weit gehen, dass nun all jene Konstellationen (Branchenwechsel, Verbandswechsel, Gewerkschaftswechsel, Betriebsübergang, Umwandlung) aufgeführt werden müssten, in denen es zu einem Tarifwechsel kommen kann. Grundsätzlich können Tarifwechselklauseln auch nicht als Änderungsvorbehalte i.S.v. § 308 Nr. 4 BGB qualifiziert werden.

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Generell wird man davon ausgehen können, dass Tarifwechselklauseln jedenfalls insoweit unbedenklich sind, als mit ihnen lediglich die Folgen eines Branchenwechsels des regelungsbetroffenen Betriebes nachgezeichnet werden. Die Bezugnahmeklausel verweist ja in diesem Fall nur auf den TV, der nach der Veränderung des Tätigkeitsschwerpunktes gerade für den konkreten Betrieb die Richtigkeitsgewähr für sich in Anspruch nehmen kann. Die Geltung des „passenden“ TVes ist für den Arbeitnehmer weder überraschend noch inhaltlich unangemessen. Das gilt selbst dann, wenn der Branchenwechsel auf einer Ausgliederung des Betriebes beruht, da auch in diesem Fall lediglich die Arbeitsbedingungen an die aus Sicht der Tarifpartner angemessenen Arbeitsbedingungen angepasst werden.

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Ob über eine Tarifwechselklausel auch bei gleichbleibender Branche ein Wechsel zu einem TV mit einer anderen Gewerkschaft angeordnet werden kann, lässt sich nicht vergleichbar eindeutig beantworten. Mit einem derartigen Wechsel musste ein Arbeitnehmer, so könnte argumentiert werden, jedenfalls bislang nicht ohne Weiteres rechnen. Mit der Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit und dem vermehrten Auftreten von nicht unter dem Dach des DGB vereinten Gewerkschaften geht allerdings auch eine veränderte Erwartungshaltung der Arbeitnehmer einher. Tarifpluralitäten sind heute nichts Ungewöhnliches mehr. Der Arbeitnehmer muss damit rechnen, dass sein Arbeitgeber bzw. dessen Verband nicht nur mit DGB-Gewerkschaften kontrahiert. Berücksichtigt man, dass jede Gewerkschaft die strengen, vom BAG3 aufgestellten Anforderungen an die Tariffähigkeit erfüllen muss, wird man eine unterschiedliche Behandlung einzelner Gewerkschaften schwerlich rechtfertigen können.

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1 Henssler, FS Wißmann, 2005, S. 133 (138 f.). 2 Vgl. BAG v. 19.12.2005 – 4 AZR 536/04, NZA 2006, 607. 3 Vgl. u.a. BAG v. 14.12.2004 – 1 ABR 51/03, NZA 2005, 697 (700 f.); BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112 (1114); BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300 (302).

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Rz. 89

Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme

b) Ausgestaltung als Gleichstellungsabrede 89

Die kleine dynamische Klausel wird als Neuklausel von der aktuellen Rechtsprechung nicht mehr als Gleichstellungsabrede interpretiert, so dass der Anwendungsbereich solcher Abreden erheblich eingeschränkt worden ist1. Gleichwohl lässt sich eine große dynamische Klausel auch nach der Rechtsprechungskorrektur ohne Weiteres als derartige Abrede ausgestalten2. Voraussetzung ist lediglich, dass sich der Zweck der Gleichstellung aus dem Wortlaut der Klausel und/oder den Begleitumständen bei Vertragsschluss3 mit hinreichender Deutlichkeit ergibt4. Aus der Klausel muss folglich unmissverständlich hervorgehen, dass die Dynamik nur so lange nachvollzogen werden soll, wie eine Tarifgebundenheit des Arbeitgebers besteht5, und dass es dem die Klausel verwendenden Arbeitgeber vorrangig darum geht, einheitliche Arbeitsbedingungen für tarifgebundene und nicht tarifgebundene Arbeitnehmer herzustellen (vgl. hierzu auch Rz. 60). Ist der Arbeitgeber nicht tarifgebunden, dürfte – ganz unabhängig vom Wortlaut – das Vorliegen einer Gleichstellungsabrede auch nach der Rechtsprechungsänderung des BAG von vornherein ausscheiden. Je nach Tarifgebundenheit des Arbeitgebers ist daher auf eine optimale Gestaltung der Bezugnahmeklausel zu achten.

c) Wirkung bei Verbandsaustritt, Herauswachsen und Betriebsübergang 90

Ändert sich die Tarifbindung des Arbeitgebers, so zeichnet die große dynamische Klausel diese Veränderung grundsätzlich nach. Die Wirkungen hängen im Einzelfall von der konkreten Ausgestaltung der Klausel ab. So ist denkbar, dass in der Klausel auf den „jeweils normativ bindenden TV“ verwiesen wird. Eine andere Klauselvariante verweist auf den bzw. die jeweils für den Betrieb „fachlich einschlägigen“ TVe. In der Kautelarpraxis sind vielfältige weitere Gestaltungen zu beobachten, deren Wirkung jeweils gesondert durch Auslegung zu ermitteln ist.

91

Wird auf den „jeweils normativ bindenden TV“ verwiesen und fällt die Tarifbindung des Arbeitgebers (ersatzlos) weg, wie es insbesondere beim Verbandsaustritt nach Beendigung der Nachbindung gemäß § 3 Abs. 3 TVG der Fall ist, so sollte nach der alten Rechtsprechung die künftige Tarifentwicklung auch schuldrechtlich nicht mehr nachvollzogen werden6. Die normative Geltung setzt ersichtlich die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers voraus, sodass der Wortlaut eindeutig ist. Nur bei besonderen Umständen kann etwas anderes gelten. Im Falle eines Verbands- oder Branchenwechsels oder eines Betriebsübergangs auf einen tarifgebundenen Arbeitgeber ist für Altklauseln davon aus-

1 Hümmerich/Reufels/Reufels, Rz. 1313. 2 Thüsing/Braun/Reufels, 8. Kap. Rz. 38; Hamacher, in: Moll, Münchener Anwaltshandbuch Arbeitsrecht, § 65 Rz. 87b m.w.N. 3 BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007 965 (967). 4 Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 21; Hümmerich/Reufels/Reufels, Rz. 1351. 5 BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965; so auch Hümmerich/Reufels/Reufels, Rz. 1331. 6 BAG v. 16.10.2002 – 4 AZR 467/01, NZA 2003, 390.

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Henssler

Erscheinungsformen

Rz. 94 Teil 10

zugehen, dass die große dynamische Bezugnahmeklausel zu einem Tarifwechsel führt1. Vor dem Hintergrund des Urteils des BAG vom 14.12.2005 ist noch nicht abschließend geklärt, ob auch die großen dynamischen Bezugnahmeklauseln nunmehr zu einer konstitutiven Ewigkeitsbindung des Arbeitgebers führen können2. Allerdings ist die Problematik angesichts des von kleinen dynamischen Klauseln abweichenden Wortlauts nicht gleichzusetzen. Im Einzelfall ist auf die konkrete Formulierung abzustellen. Verweist die Klausel auf die „im Betrieb jeweils normativ geltenden Tarifbestimmungen in der jeweils gültigen Fassung“, so ist das Auslegungsergebnis eindeutig. Die Klausel begründet auch nach der geänderten Rechtsprechung bei Verbandsaustritt des Arbeitgebers keinen Anspruch auf die Teilhabe an den sich nach dem Ende der Nachwirkung gemäß § 3 Abs. 3 TVG ändernden TVen, da die Tarifbindung des Arbeitgebers von dem Wortlaut der Klausel unmissverständlich vorausgesetzt wird. Verweist die Klausel hingegen auf den „jeweils fachlich einschlägigen TV in seiner jeweils gültigen Fassung“, kommt zwar eine solche dauerhafte dynamische Bindung an den einschlägigen TV über § 3 Abs. 3 TVG hinaus in Betracht3. Anders als bei den kleinen dynamischen Klauseln besteht aber nicht die Gefahr der dauerhaften Bindung an ein nicht mehr auf den Betrieb zugeschnittenes Tarifsystem. Einschlägig ist immer nur dasjenige Tarifrecht, das dem Tätigkeitsschwerpunkt des Betriebes entspricht. Aus Sicht der Arbeitgeber ist die große dynamische Klausel daher uneingeschränkt vorzugswürdig.

92

Ebenso verhält es sich bei einem Betriebs(teil)übergang. Über § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB findet sowohl für tarifgebundene als auch für nicht tarifgebundene Arbeitnehmer der bei dem Erwerber anwendbare TV Anwendung4. Ähnlich wie beim Verbandsaustritt ist auch insoweit der genaue Wortlaut der Klausel zu beachten5. Die individualvertraglich vereinbarte Bezugnahmeklauseln geht gemäß § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB in das Arbeitsverhältnis zum Erwerber über. Stellt die Klausel auf den normativ geltenden TV ab, so greift der TV nur, wenn der Erwerber selbst tarifgebunden ist. Bei einer Bezugnahme auf den fachlich einschlägigen TV greift dagegen dasjenige Tarifniveau, das dem Tätigkeitsschwerpunkt des Erwerberbetriebs bzw. bei unternehmensbezogenen TVen dem Schwerpunkt des Unternehmens entspricht.

93

Im Übrigen ist zwischen der Rechtslage bei gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern und Außenseitern zu differenzieren. Für Außenseiter bleibt es bei den geschilderten Grundsätzen, da sie von vornherein nur einen schuldrechtlichen Anspruch hatten, so dass für sie auch nur § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB greift. Für Gewerkschaftsmitglieder gilt dagegen der VeräußererTV bei fehlender Tarifbindung des Erwerbers (zusätzlich) gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fort6. Ist dieses Niveau günstiger, verdrängt es insoweit das schuldrechtlich in

94

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Jordan/Bissels, NZA 2010, 71 (72). Vgl. zur Problematik Sittard/Ulbrich, ZTR 2006, 458 (463). Henssler/Moll, AGB-Kontrolle vorformulierter Arbeitsbedingungen, B XXI 1d). Thüsing/Braun/Reufels, 8. Kap. Rz. 70. Vgl. Jacobs, BB 2011, 2037 (2040). Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 255.

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Teil 10

Rz. 95

Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme

Bezug genommene Tarifrecht. Ist jedoch auch der Erwerber seinerseits tarifgebunden, so greift nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB der bei ihm geltende TV und zwar selbst dann, wenn dessen Regelungen für den Arbeitnehmer ungünstiger sind als die Regelungen des beim Veräußerer geltenden TVes. § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB schützt den Vorrang des Vereinheitlichungsinteresses des Erwerbers1. Die Vorschrift eröffnet damit erhebliche Gestaltungsspielräume im Rahmen von Unternehmensumstrukturierungen, weil das Tarifniveau als Folge des Betriebsübergangs sofort abgesenkt werden kann, ohne dass ein Bestandsschutz zugunsten der Arbeitnehmer zum Tragen kommt. Ihre Rechtfertigung hat diese Regelung in dem Umstand, dass der Erwerber diesen TV ja nicht beliebig nach seinen Wünschen gestalten kann, sondern dass es sich um jenen TV handelt, der eben für den Betrieb bzw. das Unternehmen des Erwerbers die tarifliche Richtigkeitsgewähr für sich in Anspruch nehmen kann und der aus der Sicht der tarifzuständigen Gewerkschaft angemessene Arbeitsbedingungen für den Erwerberbetrieb enthält. 95

Die Verdrängung des beim Veräußerer geltenden und gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB transformierten TVes durch den Erwerbertarif setzt allerdings eine kongruente Tarifbindung voraus2. Sie greift also nur dann, wenn der beim Erwerber einschlägige TV mit derselben Gewerkschaft geschlossen wurde, die auch den beim Veräußerer geltenden TV vereinbart hat. Die normative Geltung des Erwerbertarifs kann bei großen dynamischen Klauseln typischerweise nicht nach dem Günstigkeitsprinzip durch den in Bezug genommenen TV verdrängt werden. Denn diese Klausel verweist ja auf eben jenen TV, der normativ beim Erwerber aufgrund dessen Tarifbindung gilt. Dabei spielt es im Ergebnis keine Rolle, ob die Verweisungsklausel den „normativ geltenden“ oder den „für den Betrieb einschlägigen“ TV in Bezug nimmt. Die Klausel richtet sich in jedem Fall nicht auf den Veräußerertarif, sondern auf den Erwerbertarif.

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Umstritten ist, ob die große dynamische Bezugnahmeklausel im Fall der Geltung von § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB, also bei fehlender kongruenter Bindung an den Erwerbertarif, als „Vereinbarung“ im Sinne des § 613a Abs. 1 Satz 4 BGB qualifiziert werden kann, die geeignet ist, die Weitergeltung des transformierten Tarifrechts zu beseitigen3. Grundsätzlich wird man davon ausgehen müssen, dass eine Vereinbarung im Sinne des § 613a Abs. 1 Satz 4 BGB auch schon vor dem Betriebsübergang vereinbart werden kann4, wie dies auch bei einer Abmachung im Sinne von § 4 Abs. 5 TVG der Fall ist5. Die Formulierung „vereinbart wird“ ist nicht zwingend in zeitlicher Hinsicht als Futur zu verstehen6, 1 Vgl. BAG v. 20.4.1994 – 4 AZR 342/93, NZA 1994, 1140 (1142). 2 BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 581/99, NZA 2001, 510 (511). 3 Für die Anwendbarkeit der § 613a Abs. 1 Satz 4 BGB: Annuß, ZfA 2005, 405 (456); Bauer/Günther, NZA 2008, 6 (11); Hanau, NZA 2005, 489 (492); HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 30b; HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 279; Jacobs, NZABeilage 2009, 45 (51); Meyer, NZA 2003, 1126 (1129); Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 287; Thüsing/Braun/Reufels, 8. Kap. Rz. 71; gegen die Anwendbarkeit: Fuchs/Reichold, Tarifvertragsrecht, § 3 TVG, Rz. 210; Schliemann, NZA-Beilage 2003, 3 (11). 4 Ebenso HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 279. 5 HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 30b; ebenso Thüsing/Braun/Reufels, 8. Kap. Rz. 71. 6 Vgl. zum parallel gelagerten Problem bei § 4 Abs. 5 TVG: BAG v. 23.2.2005 – 4 AZR 186/04, DB 2005, 2305 (2307).

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Erscheinungsformen

Rz. 98 Teil 10

sondern als Passiv in dem Sinne, dass irgendwann eine entsprechende Vereinbarung getroffen „wird“. Nach dem maßgeblichen Normzweck des § 613a Abs. 2 Satz 4 BGB ist ausschlaggebend, dass die Klausel die schutzbedürftigen Interessen des Arbeitnehmers dadurch wahrt, dass sie nur auf jenen TV (in seiner Gesamtheit) verweist, der gerade für den betreffenden Betrieb, in dem der Arbeitnehmer tätig ist, die Richtigkeitsgewähr für sich in Anspruch nehmen kann1. Dem Arbeitnehmer wird damit in vollem Umfang der tarifliche Schutz gewährt, so dass das Interesse des Erwerbers an einheitlichen Arbeitsbedingungen Vorrang genießt. Über die große dynamische Klausel gelangen danach auch für die gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer abweichend von § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB sofort nach dem Betriebsübergang die beim Erwerber geltenden Tarifbedingungen zur Anwendung, wenn dieser selbst tarifgebunden ist. Bei fehlender Tarifbindung des Arbeitgebers kommt es auf den Klauselwortlaut an. Verlangt dieser die normative Geltung des TVes, so läuft die Klausel ins Leere. Es bleibt dann für die gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer bei der Geltung des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB. Eine unbedingt zeitdynamische Wirkung kann der Klausel nur zugesprochen werden, wenn sie auf den fachlich einschlägigen TV verweist2. Auch für diesen Fall liegt freilich bislang keine abschließende Klärung durch das BAG vor. Legt das Gericht auch bei der Auslegung des § 613a Abs. 1 Satz 4 BGB die gleichen strengen Maßstäbe an, die es zu der parallel gelagerten Problematik des § 4 Abs. 5 TVG entwickelt hat (dazu Rz. 98; Teil 9 Rz. 48 ff.), dürfte die Verdrängung nur ausnahmsweise, nämlich nur dann in Betracht kommen, wenn die Bezugnahmeklausel unmittelbar vor dem Betriebsübergang speziell mit Blick auf die dann geltende Situation vereinbart wurde.

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Der Verbandswechsel des Arbeitgebers bereitet bei großen dynamischen Bezugnahmeklauseln in der Regel keine Probleme, da die Verweisung in diesem Fall den neuen TV erfasst3. Weil die individualvertragliche Verweisung regelmäßig in allen Arbeitsverträgen, also auch in denen der tarifgebundenen Arbeitnehmer enthalten ist, bleibt allein problematisch, ob diese Vertragsklausel aufgrund ihres neuen Inhalts als ablösende Abmachung i.S.d. § 4 Abs. 5 TVG die Nachwirkung der bisherigen Tarifbestimmungen bei jenen Arbeitnehmern verhindern kann, die zwar der bislang zuständigen Gewerkschaft angehörten, nicht jedoch derjenigen, die den nunmehr einschlägigen TV abgeschlossen hat. Die so organisierten Arbeitnehmer sind ja nunmehr zu Außenseitern geworden. Brisant ist dies, weil es dadurch zu einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen kommen könnte. Mittlerweile bejaht das BAG zwar die Möglichkeit der Vereinbarung einer „anderen Abmachung“ vor Ablauf des TVes4. Die Absprache muss aber die Nachwirkung eindeutig ausschließen und spezifisch

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1 Vgl. HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 283; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 122; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 235. 2 Unklar Thüsing/Braun/Reufels, 8. Kap. Rz. 72. 3 HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 30c; Thüsing/Braun/Reufels, 8. Kap. Rz. 66. 4 BAG v. 23.2.2005 – 4 AZR 186/04, NZA 2005, 1320; BAG v. 17.1.2006 – 9 AZR 41/05, NZA 2006, 923 (925); BAG v. 3.4.2007 – 9 AZR 867/06, NZA 2007, 1045 (1047); BAG v. 22.10.2008 – 4 ABR 789/07, NZA 2009, 265 (267).

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Teil 10

Rz. 99

Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme

auf den Nachwirkungszeitraum gerichtet sein. Außerdem muss das Ende der Tarifbindung nicht nur absehbar sein, sondern sogar „unmittelbar bevorstehen“1. Diese Voraussetzungen werden bei Bezugnahmeklauseln nicht erfüllt sein.

III. Teil- und Einzelverweisung 99

Der Darstellung der bisherigen Erscheinungsformen der Bezugnahmeklausel lag die Annahme zugrunde, dass ein TV in seiner Gesamtheit in Bezug genommen wird, es sich also um eine Globalverweisung handelt2. Eine vertragliche Verweisung kann sich jedoch auch auf Teile, also auf bestimmte Normenkomplexe eines TVes (etwa die Urlaubsregelung) oder auf einzelne Vorschriften eines TVes, beschränken3. Grundsätzlich besteht insoweit Vertragsfreiheit4. Zwar lässt sich die Gefahr nicht leugnen, dass der Klauselverwender, also der Arbeitgeber, sich die für ihn günstigen Regeln aus einem Gesamtwerk „herauspickt“, sodass der in sich abgewogene TV auseinander gerissen wird5. Das schließt aber nicht die Bezugnahmemöglichkeit als solche aus. Der Gefahr kann angemessen dadurch begegnet werden, dass solche Teilverweisungen, wenn sie nicht in sich abgeschlossene Teile eines TVes in Bezug nehmen, nicht an der Privilegierung durch § 310 Abs. 4 Satz 3 BGB partizipieren. Sie sind vielmehr uneingeschränkt der AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle unterworfen (dazu Rz. 37).

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Auch bei der Teil- und Einzelverweisung ist das von den Parteien Gewollte durch Auslegung gemäß §§ 133, 157 BGB zu ermitteln6. Lautet die Bezugnahmeklausel „Der Jahresurlaub richtet sich nach den Bestimmungen des (einschlägigen) Tarifvertrages“7 oder „Der Urlaub richtet sich nach den einschlägigen tariflichen Regelungen“8, so muss folglich durch Auslegung ermittelt werden, welche Vorschriften des TVes konkret in Bezug genommen werden. Nach der Rechtsprechung des BAG muss der Arbeitnehmer eine solche Formulierung regelmäßig als Inbezugnahme des gesamten Regelungskomplexes „Urlaub“ verstehen. Dies gilt auch dann, wenn die entsprechenden tarifvertraglichen Regelungen, bspw. bezüglich Urlaubsdauer, Urlaubsentgelt oder zusätzli1 BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 789/07, NZA 2009, 265 (267). 2 Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 58. 3 BAG v. 17.11.1998 – 9 AZR 584/97, NZA 1999, 938 (939); Preis, Der Arbeitsvertrag, II V Rz. 21 ff.; BAG v. 29.7.1986 – 3 AZR 71/85, AP Nr. 16 zu § 1 BetrAVG – Zusatzversorgungskassen; BAG v. 19.1.1999 – 1 AZR 606/98, NZA 1999, 879 (881). Krit. zur Einzelverweisung jedoch Kempen/Zachert/Stein, § 3 TVG Rz. 173 ff.; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 236. 4 BAG v. 19.1.1999 – 1 AZR 606/98, NZA 1999, 879 (881); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 739; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 523; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 314; Jakobs/Krause/Oetker/Oetker, § 6 Rz. 169. 5 Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 236 f.; ähnlich auch Kempen/Zachert/Stein, § 3 TVG Rz. 173. 6 BAG v. 17.1.2006 – 9 AZR 41/05, NZA 2006, 923 (926). 7 BAG v. 17.11.1998 – 9 AZR 584/97, NZA 1999, 938 (939). 8 BAG v. 17.1.2006 – 9 AZR 41/05, NZA 2006, 923.

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Bezugnahme kraft betrieblicher Übung

Rz. 103 Teil 10

chem Urlaubsgeld, auf mehrere tarifvertragliche Bestimmungen verteilt sind, denn Anknüpfungspunkt ist für alle diese Regelungen die Gewährung von Urlaub1. Die Unklarheitenregel gemäß § 305c Abs. 2 BGB ist nach dieser Rechtsprechung auf solche Bezugnahmeklauseln nicht anwendbar, da sie hinreichend klar sind. Dem steht nicht entgegen, dass eine Bezugnahmeklausel auch die Begrenzung einzelner Regelungen, wie z.B. die Begrenzung der Urlaubsdauer, beinhalten kann2. Bezieht sich die Klausel allein auf bestimmte tarifliche Regelungen, so müssen besondere Umstände hinzutreten, um die Anwendung eines gesamten TVes (oder auch nur mehrerer Vorschriften) zu rechtfertigen3. Es ist also hier regelmäßig davon auszugehen, dass nur die einzelnen Regelungen gelten sollen4. Dies kann bspw. bei betrieblicher Übung der Fall sein5.

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Aus AGB-rechtlicher Sicht besteht bei Einzelverweisungen auf einen TV die Besonderheit, dass in diesem Fall § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB hier nicht eingreift6. Keiner Angemessenheitskontrolle unterliegen jedoch Bezugnahmeklauseln, die auf einzelne, in sich geschlossene Komplexe eines TVes verweisen7 (hierzu ausführlich Rz. 31 ff.).

102

D. Bezugnahme kraft betrieblicher Übung Literatur: Betz, Die Inbezugnahme tarifvertraglicher Regelungen im Wege der betrieblichen Übung, BB 2010, 2045; Hanau, Objektive Elemente im Tatbestand der Willenserklärung, AcP 165 (1965), 220; Hanau/Kania, Die Bezugnahme auf Tarifverträge durch Arbeitsvertrag und betriebliche Übung, in: Festschrift Schaub, 1998, S. 239; Henssler, Tarifbindung durch betriebliche Übung, in: Festschrift 50 Jahre BAG, 2004, S. 683; Hromadka, Die betriebliche Übung: Vertrauensschutz im Gewande eines Vertrags – Widerrufsrecht statt Anfechtung, NZA 2011, 165; Sutschet, Bezugnahmeklausel kraft betrieblicher Übung, NZA 2008, 679.

Nach gefestigter Rechtsprechung des BAG kann die Anwendung tariflicher Regelungen Gegenstand einer betrieblichen Übung sein. In der Praxis sind aufgrund des gewachsenen Problembewusstseins der Arbeitgeber solche Fälle zwar nicht häufig. Sie bilden aber ein durchaus bekanntes arbeitsrechtliches Phänomen. So kommt es weiterhin vor, dass Arbeitgeber in die vertraglichen Absprachen keine ausdrückliche Bezugnahme auf TVe aufnehmen, sondern schlicht „nach Tarif“ bezahlen8. Praktisch bedeutsam sind ferner Konstellatio1 2 3 4 5 6 7

BAG v. 17.1.2006 – 9 AZR 41/05, NZA 2006, 923 (926). BAG v. 17.11.1998 – 9 AZR 584/97, NZA 1999, 938 (939). BAG v. 23.2.1988 – 3 AZR 300/86, NZA 1988, 614 (615). Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 6 Rz. 170. Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 321. BAG v. 6.5.2009 – 10 AZR 390/08, NZA-RR 2009, 593 (594). HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 18; Henssler/Moll, AGB-Kontrolle vorformulierter Arbeitsbedingungen, A II 3b). 8 Vgl. auch Hanau/Kania, FS Schaub, 1998, S. 239 (258); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 17 II 2; § 17 II 6.

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Teil 10

Rz. 104

Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme

nen, in denen zwar der Arbeitsvertrag ausdrücklich auf einen bestimmten TV Bezug nimmt, die tatsächliche Handhabung aber von dieser Vereinbarung abweicht. So kann etwa der Arbeitgeber nur eine statische Bezugnahme auf einen bestimmten TV vereinbart, gleichwohl aber in der Folgezeit auch nachträgliche Tariflohnerhöhungen an seine Mitarbeiter weitergegeben haben. Da die arbeitsvertragliche Bezugnahme auf einen TV formlos möglich ist (vgl. oben Rz. 12 ff.) und auch konkludent erfolgen kann, ist heute allgemein anerkannt, dass die Anwendung von Tarifnormen auf ein Individualarbeitsverhältnis mittels einer Bezugnahme kraft betrieblicher Übung möglich ist1.

I. Dogmatische Grundlagen der betrieblichen Übung 104

Die dogmatische Grundlage der betrieblichen Übung ist bis heute umstritten. Das BAG leitet die anspruchsbegründende Wirkung der betrieblichen Übung aus dem allgemeinen Vertragsrecht des BGB ab2. Aus der regelmäßigen Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers könne der Arbeitnehmer schließen, dass ihm eine Leistung oder Vergünstigung auf Dauer eingeräumt werden solle. Das als Vertragsangebot zu wertende Verhalten des Arbeitgebers werde von den Arbeitnehmern i.d.R. stillschweigend angenommen (§ 151 BGB). Maßgeblich sei nicht der subjektive Verpflichtungswille des Arbeitgebers, sondern wie der Erklärungsempfänger das Verhalten des Arbeitgebers nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung aller Begleitumstände (§§ 133, 157 BGB) verstehen musste und durfte3. Die aktuelle Rechtsprechung verzichtet vollständig auf das Erfordernis eines Verpflichtungswillens4.

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Ob eine für den Arbeitgeber bindende betriebliche Übung aufgrund der Gewährung von Leistungen an seine Arbeitnehmer entstanden ist, wird allein danach beurteilt, „inwieweit die Arbeitnehmer aus dem Verhalten des Arbeitgebers unter Berücksichtigung von Treu und Glauben sowie der Verkehrssitte (§ 242 BGB) und der Begleitumstände auf einen Bindungswillen des Arbeitgebers schließen durften (…)“5. Damit stellt sich das BAG in Widerspruch zur allgemeinen zivilrechtlichen Doktrin, nach der bei fehlendem Verpflichtungs1 BAG v. 11.8.1988 – 2 AZR 53/88, NZA 1989, 595; BAG v. 19.1.1999 – 1 AZR 606/98, RdA 2000, 173; Hanau/Kania, FS Schaub, 1998, S. 239 (258 ff.); Sutschet, NZA 2008, 679 (683); Thüsing/Braun/Reufels, 8. Kap. Rz. 11; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 296. 2 Vgl. zur Entwicklung der Vertragstheorie in der Rechtsprechung des BAG Picker, Die betriebliche Übung, 2011, S. 35 ff.; zu aktuellen Tendenzen Schneider, DB 2011, 2718 ff. 3 Ständige Rechtsprechung, vgl. BAG v. 16.1.2002 – 5 AZR 715/00, NZA 2002, 632; BAG v. 16.9.1998 – 5 AZR 598/97, NZA 1999, 203; BAG v. 13.12.2000 – 5 AZR 381/99, BeckRS 2000, 30810870; BAG v. 4.5.1999 – 10 AZR 290/98, NZA 1999, 1162; BAG v. 19.6.2001 – 1 AZR 597/00, BeckRS 2001, 31009553. 4 Vgl. nur die Entwicklung in BAG v. 5.2.1971 – 3 AZR 28/70, NJW 1971, 1422 bis hin zu BAG v. 16.9.1998 – 5 AZR 598/97, NZA 1999, 203; BAG v. 4.5.1999 – 10 AZR 290/98, NZA 1999, 1162; BAG v. 16.1.2002 – 5 AZR 715/00, NZA 2002, 632; vgl. auch Hromadka, NZA 2011, 65, (67). 5 BAG v. 4.5.1999 – 10 AZR 290/98, NZA 1999, 1162; BAG v. 16.9.1998 – 5 AZR 598/97, NZA 1999, 203.

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Bezugnahme kraft betrieblicher Übung

Rz. 107 Teil 10

bzw. Rechtsbindungswillen zwar eine wirksame Willenserklärung angenommen, diese aber stets der Anfechtung nach § 119 Abs. 1 BGB ausgesetzt wird1. Die zur Wahrung der Privatautonomie des Erklärenden unverzichtbare Anfechtung erlauben Arbeitsrechtswissenschaft2 und Rechtsprechung3 indes bei der betrieblichen Übung nicht. Die im Schrifttum vertretenen Gegenansichten gehen teilweise entweder davon aus, dass in den Fällen der betrieblichen Übung ein Vertrauenstatbestand des Arbeitnehmers entstehe und dass ein einseitiger Bruch mit der entstandenen Übung als § 242 BGB verletzendes, widersprüchliches Verhalten qualifiziert werden müsse4. Andere Stimmen ordnen die betriebliche Übung als durch richterliche Rechtsfortbildung geschaffenes, eigenständiges arbeitsrechtliches Rechtsinstitut ein, dessen Ursprung in der Rechtsgeschäftslehre liege5. Bei allen Kontroversen um ihre dogmatische Konstruktion sind allerdings die Rechtsfolgen der betrieblichen Übung in Rechtsprechung und Schrifttum im Wesentlichen unbestritten, sodass sie heute als anerkannt gelten kann.

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II. Entstehung der Tarifbindung durch betriebliche Übung 1. Regelmäßig wiederkehrendes, gleichförmiges Arbeitgeberverhalten Der Sonderfall der Tarifbindung durch betriebliche Übung dürfte einer der Bereiche dieses Rechtsinstitutes sein, bei dem die größten Unklarheiten bestehen. Sie betreffen sowohl die Entstehung als auch die Rechtsfolgen des wiederkehrenden Verhaltens. Die anfängliche Zurückhaltung, die das BAG gegenüber einer Einbeziehung tariflicher Inhalte über eine betriebliche Übung gezeigt hatte6, ist in jüngeren Entscheidungen aufgegeben worden7. Für die aktuelle Rechtsprechung des BAG stellt die Tarifbindung kraft betrieblicher Übung einen unselbständigen Unterfall der Anwendbarkeit von tarifvertraglichen Regelungen aufgrund stillschweigender Bezugnahme dar8. Die Bezugnahme auf TVe könne entweder ausdrücklich oder aber durch betriebliche Übung erfolgen9. Die Zu-

1 BGH v. 7.6.1984 – IX ZR 66/83, NJW 1984, 2279 (2280); Soergel/Hefermehl, Vor § 116 BGB Rz. 14. 2 Backhaus, AuR 1983, 65 (71 f.); Hromadka, Anm. zu BAG 30.10.1984, AP Nr. 1 zu § 1 BetrAVG – Betriebliche Übung. 3 Vgl. etwa BAG v. 3.4.1957 – 4 AZR 270/54, AP Nr. 6 zu § 611 BGB – Gratifikation. 4 Canaris, Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, 1971, S. 387 ff.; Hanau, AcP 165 (1965), 221 (260 f.); Hromadka, NZA 1984, 241 (244 f.); Singer, ZfA 1993, 487 (497). 5 Henssler, FS 50 Jahre BAG, S. 683 (691). 6 BAG v. 6.6.1958 – 1 AZR 515/57, NJW 1958, 1843; BAG v. 1.3.1972 – 4 AZR 200/71, NJW 1978, 1248; BAG v. 31.5.1972 – 4 AZR 309/71, AP Nr. 16 zu § 611 BGB – Bergbau. 7 BAG v. 11.8.1988 – 2 AZR 53/88, NZA 1989, 595, unter II 3 c) cc) der Gründe. 8 Oetker sieht den Unterschied allein im quantitativen Bereich: Anm. zu BAG AP Nr. 9 zu § 1 TVG – Bezugnahme auf TV. 9 BAG v. 17.4.2002 – 5 AZR 89/01, NZA 2002, 1096; BAG v. 19.1.1999 1 – AZR 606/98, NZA 1999, 879.

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Teil 10

Rz. 108

Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme

lässigkeit einer schuldrechtlichen Tarifbindung durch betriebliche Übung wird auch im Schrifttum nahezu einhellig bejaht1. 108

Im Falle der Einbeziehung eines TVes mittels betrieblicher Übung liegt das die Bindung auslösende regelmäßig wiederkehrende, gleichförmige Verhalten2 darin, dass der Arbeitgeber die Bestimmungen des TVes ganz oder teilweise – etwa beschränkt auf die Regelungen von Lohn und Arbeitszeit – anwendet. Eine feste Regel, ab welcher Anzahl von Wiederholungen ein Arbeitnehmer auf die Fortgewährung der Leistungen schließen darf, wurde bislang nicht einmal ansatzweise entwickelt. Die Faustregel, die das BAG für jährliche Sonderzuwendungen, wie etwa Weihnachtsgratifikationen, entwickelt hat, bei denen eine dreimalige vorbehaltlose Gewährung zu einer betrieblichen Übung führt3, ist auf tarifliche Leistungen nicht übertragbar4. Unverzichtbar ist eine Einzelfallbewertung, die unter anderem auf die Art, Dauer und Intensität der Leistungen abstellt5. Dass der Arbeitgeber drei Monate lang einzelne tarifliche Ansprüche gewährt, ohne dies näher zu erläutern, genügt nicht, da hieraus nicht auf einen künftigen Bindungswillen geschlossen werden kann. Sachgerecht erscheint es, frühestens ab einem Zeitraum von sechs Monaten kontinuierlicher Anwendung eines TVes eine für die Zukunft bindende Übung zu bejahen. Das BAG legt eine zurückhaltende Betrachtungsweise an den Tag. Die nicht vorhersehbare Dynamik der Lohnentwicklung und die hierdurch verursachten Personalkosten sprächen grundsätzlich gegen einen rechtsgeschäftlichen Willen des Arbeitgebers für eine dauerhafte Entgeltanhebung entsprechend der Tarifentwicklung. Regelmäßigen, der Tarifentwicklung entsprechende Lohnerhöhungen in der Vergangenheit allein könnte kein Erklärungswert beigemessen werden, der zum Entstehen einer betrieblichen Übung führen könnte. Soweit keine weiteren, deutlichen Anhaltspunkte für eine betriebliche Übung auf zukünftige Lohnerhöhungen entsprechend der Tariflohnentwicklung vorlägen, könne davon ausgegangen werden, dass die einzelnen Lohnerhöhungen sich jeweils nur auf den konkreten Einzelfall bezogen6. Die Fälle, in denen der Arbeitgeber sein auf Übernahme eines TVes zielendes Verhalten nicht näher begründet, dürften allerdings sehr selten sein. In den von der Rechtsprechung entschiedenen Fällen war es meist unstreitig, dass der Arbeitgeber seit längerem TVe beachtet hatte. Die Problematik der Bindung auch eines bestimmten Arbeitsverhältnisses an diese Übung stellte sich aufgrund atypischer Besonder-

1 Etzel, NZA Beilage 1/1987, 19; Gaul, ZTR 1991, 188; Hanau/Kania, FS Schaub, 1998, S. 239 (258 ff.); Sutschet, NZA 2008, 679 (683); Thüsing/Lambrich, NZA 2002, 1361 (1367); Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 345; ErfK/Preis, § 611 BGB Rz. 228; HWK/ Henssler, § 3 TVG Rz. 19; Kempen/Zachert/Stein, § 3 TVG Rz. 222; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 528; Thüsing/Braun/Reufels, 8. Kap. Rz. 80; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 296; Stein, Tarifvertragsrecht, Rz. 257; a.A. unter Verweis auf das Schriftformerfordernis des § 1 Abs. 2 TVG noch Kempen/Zachert, 3. Aufl., § 3 TVG Rz. 73. 2 BAG v. 28.7.2004 – 10 AZR 19/04, NZA 2004, 1152. 3 BAG v. 28.2.1996 – 10 AZR 516/95, NZA 1996, 758. 4 Sutschet, NZA 2008, 682; Thüsing/Braun/Reufels, 8. Kap. Rz. 81. 5 BAG v. 28.7.2004 – 10 AZR 19/04, NZA 2004, 1152. 6 BAG v. 19.10.2011 – 5 AZR 359/10, NZA-RR 2012, 344.

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Henssler

Bezugnahme kraft betrieblicher Übung

Rz. 111 Teil 10

heiten, etwa weil ein als freie Mitarbeit gewolltes Vertragsverhältnis nachträglich als Arbeitsverhältnis qualifiziert wurde1. Eine betriebliche Übung im Hinblick auf die Anwendung eines TVes wird nicht begründet, wenn der Arbeitgeber mit seiner Leistung vermeintliche (tatsächlich aber nicht bestehende) tarifvertragliche Verpflichtungen erfüllen will und dies für den Arbeitnehmer erkennbar ist2. Das gilt etwa, wenn ein TV mangels Tariffähigkeit oder Tarifzuständigkeit der Gewerkschaft unwirksam ist. Hier kann über die Lehre vom fehlerhaften TV3 für die Vergangenheit Rechtssicherheit und Vertrauensschutz gewährt werden. Für die Zukunft lassen sich indes aus der tatsächlichen Anwendung des TVes keine Rechte herleiten.

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Eine betriebliche Übung kann – wie schon ihr Name verdeutlicht – nicht durch ein rein individualrechtliches Verhalten entstehen, sondern nur bei kollektiven Sachverhalten. Es bedarf der (schlüssigen) Aufstellung und Befolgung einer Regel durch den Arbeitgeber, und zwar entweder für alle Belegschaftsmitglieder oder aber zumindest für eine kollektiv abgrenzbare Gruppe, der auch der betreffende Arbeitnehmer angehört4. Neu in den Betrieb eintretende Arbeitnehmer partizipieren an bereits bestehenden betrieblichen Übungen. Sie dürfen das Vertragsangebot des Arbeitgebers in der Regel so verstehen, dass er sie zu den im Betrieb üblichen Bedingungen einstellen will. Im Bereich der schuldrechtlichen Tarifbindung wird man einen Anspruch eines neu eingestellten Arbeitnehmers bejahen können, wenn alle Belegschaftsmitglieder oder jedenfalls eine bestimmte Gruppe, der auch der neu Eingestellte angehört, bislang „nach Tarif“ bezahlt wurden. Der Arbeitgeber kann zwar seine Übung jederzeit schlicht dadurch beenden, dass er dem Arbeitnehmer eine untertarifliche Vergütung anbietet und es zu einem entsprechenden Vertragsschluss kommt. Er muss eine solche Abweichung gegenüber der bisherigen Übung allerdings unmissverständlich zum Ausdruck bringen. Dies kann sowohl mittels einer individuellen Bekanntgabe als auch mittels einer zum Zeitpunkt der Neueinstellung aushängenden Betriebsmitteilung geschehen5. Ändert der Arbeitgeber mit der Aufgabe der betrieblichen Übung die betriebliche Vergütungsstruktur, kann es sich um einen gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG mitbestimmungspflichtigen Vorgang handeln6.

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2. Entgegenstehende Absprachen Bezieht sich eine betriebliche Übung auf Sonderzuwendungen, so kann ihr Entstehen durch einen Freiwilligkeitsvorbehalt verhindert werden7. Bei einer Tarifbindung durch betriebliche Übung scheidet dieser Weg regelmäßig aus, da es 1 2 3 4 5 6 7

Vgl. BAG v. 17.4.2002 – 5 AZR 89/01, NZA 2002, 1096. BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 653/05, AP Nr. 54 zu § 1 TVG – Bezugnahme auf TV. Dazu HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 21a. Dazu MünchKomm/Müller-Glöge, § 611 BGB Rz. 416. LAG Baden-Württemberg v. 25.11.2010 – 11 Sa 70/10, BeckRS 2011, 68819. BAG v. 15.4.2008 – 1 AZR 65/07, NZA 2008, 888. BAG v. 5.6.1996 – 10 AZR 883/95, NZA 1996, 1028; BAG v. 30.7.2008 – 10 AZR 606/07, NZA 2008, 1173; BAG v. 18.3.2009 – 10 AZR 289/08, NZA 2009, 535. Vgl. jedoch das insoweit sehr zurückhaltende Urteil des BAG v. 14.9.2011 – 10 AZR 526/10,

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Teil 10

Rz. 112

Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme

sich bei den tariflichen Arbeitsbedingungen um das laufende Entgelt handelt, bei dem nach Auffassung des 5. Senats des BAG ein Freiwilligkeitsvorbehalt nicht vereinbart werden kann1. 112

Ein probates Mittel zur Verhinderung einer betrieblichen Übung bieten – unter engen Voraussetzungen – Schriftformklauseln, allerdings nur, wenn sie als doppelte Schriftformklauseln ausgestaltet sind. Einfache Schriftformklauseln2 („Änderungen und Ergänzungen dieses Vertrages bedürfen der Schriftform“) können die Entstehung einer betrieblichen Übung nicht verhindern. Die Vertragsparteien können das für eine Vertragsänderung vereinbarte Schriftformerfordernis jederzeit schlüssig und formlos aufheben3.

113

Dagegen hat das BAG schon 2003 hervorgehoben, dass die Entstehung einer betrieblichen Übung durch doppelte Schriftformklausel4 („Änderungen und Ergänzungen dieses Vertrages bedürfen zu ihrer Wirksamkeit der Schriftform. Dieses Formerfordernis kann durch mündliche oder schlüssige Vereinbarung nicht aufgehoben werden.“) verhindert wird5. In seiner jüngeren Rechtsprechung hat das BAG an diesem Grundsatz festgehalten, allerdings zusätzliche Anforderungen für den Regelfall der Vereinbarung in AGBs aufgestellt6. Die Schriftformklausel müsse nach Maßgabe des Transparenzgebots (§ 307 Abs. 1 Satz 1 BGB) klar und verständlich formuliert sein. Sie dürfe nicht den Eindruck erwecken, dass auch eine mündliche individuelle Abrede entgegen der Schutzvorschrift des § 305b BGB wegen Nichteinhaltung der Schriftform gemäß § 125 Satz 2 BGB unwirksam sei. Dann sei sie nämlich geeignet, den Arbeitnehmer von der Durchsetzung der ihm zustehenden Rechte abzuhalten. Es ist daher zu empfehlen, die Schriftformklausel wie folgt zu gestalten7: Schriftformklausel: (1) Änderungen und Ergänzungen dieses Vertrages bedürfen der Schriftform. Das gilt auch für die Aufhebung der Schriftformabrede selbst. Ausgenommen hiervon sind Individualabreden i.S.v. § 305b BGB. (2) Durch die bloße mehrfache Gewährung von Leistungen, auf die weder ein individualvertraglicher noch ein kollektivvertraglicher (Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung) Anspruch besteht, kann ein Anspruch auf künftige Gewährung dieser Leistungen nicht begründet werden.

1 2 3 4 5 6 7

NZA 2012, 91, in dem das Gericht Zweifel darüber äußerte, ob ein solcher vertraglicher Vorbehalt dauerhaft den Erklärungswert einer ohne den Hinweis auf die vertragliche Regelung erfolgten Zahlung so erschüttern kann, dass der Arbeitnehmer das spätere konkludente Verhalten des Arbeitgebers nicht als Angebot zur dauerhaften Leistungserbringung verstehen kann, die Frage aber letztlich offen lassen konnte. BAG v. 25.4.2007 – 5 AZR 627/06, NZA 2007, 853. Dazu Henssler/Moll, AGB-Kontrolle vorformulierter Arbeitsbedingungen, S. 88. BAG v. 20.5.2008 – 9 AZR 382/07, AP Nr. 35 zu § 307 BGB; BAG v. 17.7.2007 – 9 AZR 819/06, NZA 2008, 118. Dazu Henssler/Moll, AGB-Kontrolle vorformulierter Arbeitsbedingungen, S. 89. BAG v. 24.6.2003 – 9 AZR 302/02, NZA 2003, 1143. BAG v. 20.5.2008 – 9 AZR 382/07, NZA 2008, 1233. Dazu und zu weiteren Gestaltungsmöglichkeiten: Henssler/Moll, AGB-Kontrolle vorformulierter Arbeitsbedingungen, S. 90.

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Rz. 116 Teil 10

Bezugnahme kraft betrieblicher Übung

III. Inhalt der Bezugnahme durch betriebliche Übung Die betriebliche Übung kann nur schuldrechtliche Ansprüche gewähren; die normative Geltung von TVen oder Betriebsvereinbarungen kann über sie nicht erweitert werden1. Nicht nur den Arbeitnehmer begünstigende Tarifregelungen können von der Bezugnahme durch betriebliche Übung erfasst werden, sondern auch belastende Tarifbestimmungen wie z.B. Ausschlussfristen. Kommt der Arbeitgeber allerdings seiner Verpflichtung aus § 2 Abs. 1 NachwG zur Aushändigung einer Niederschrift mit den wesentlichen Vertragsbedingungen nicht nach – wie es beim Entstehen der Bezugnahme durch betriebliche Übung regelmäßig der Fall ist –, können dem Arbeitnehmer nach §§ 286 Abs. 1, 284, Abs. 2, 249 BGB Schadensersatzansprüche zustehen (vgl. Rz. 13)2.

114

Die Einbeziehung von Tarifinhalten über die betriebliche Übung kann sich auf den ganzen TV erstrecken, aber auch nur einzelne Tarifklauseln umfassen3. Die gegen die Übernahme einzelner Klauseln mit Blick auf eine angebliche Schwächung der Gewerkschaften vorgebrachte Kritik vernachlässigt die hinter dem Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG stehende Wertung4. Auch dieses Prinzip schwächt zwar die Gestaltungsmacht der Koalitionen, die Durchbrechung der Tarifbindung ist aber mit Rücksicht auf die Privatautonomie zwingend.

115

Ob sich die Übung auf den ganzen TV oder nur auf einzelne Klauseln bezieht, ist wiederum durch Auslegung zu ermitteln. Meist wird sich die tatsächliche Anwendung jedenfalls zunächst nur auf einzelne Tarifinhalte, etwa auf die Vorschriften über die Vergütungsbemessung beziehen. Nach der Rechtsprechung des 5. Senates5 soll die Bezugnahme auf ein Tarifwerk durch betriebliche Übung generellen Charakter haben. Überzeugend ist eine differenzierende Betrachtung. Bei einem tarifgebundenen Arbeitgeber ist die faktische Vergütung der Außenseiter „nach Tarif“ in der Tat regelmäßig dahin zu verstehen, dass eine Gleichstellung der Außenseiter erfolgen und daher der gesamte Tarifinhalt auf sie erstreckt werden soll, einschließlich der den Arbeitnehmer belastenden Tarifnormen wie Ausschlussfristen6. Bei einem nicht tarifgebundenen Arbeitgeber ist demgegenüber gerade umgekehrt zunächst davon auszugehen, dass er nur einzelne Tarifinhalte aufgreifen will. Erst wenn hier Regelungen aus unterschiedlichen Teilkomplexen des Gesamtwerkes übernommen werden, kann ein Wille zu einer generellen Einbeziehung des TVes in die Arbeitsverträge unterstellt werden7.

116

1 Vgl. BAG v. 19.2.2002 – 1 ABR 26/01, NZA 2002, 1300. 2 BAG v. 17.4.2002 – 5 AZR 89/01, NZA 2002, 1096. 3 BAG v. 19.1.1999 – 1 AZR 606/98, AP Nr. 9 zu § 1 TVG – Bezugnahme auf TV m. zust. Anm. Oetker. 4 Hanau/Kania, FS Schaub, 1998, S. 240 (241) lehnen die Zulässigkeit ab, weil entsprechende Klauseln zu einer Schlechterstellung der Gewerkschaftsmitglieder führen und einen erheblichen Austrittsdruck erzeugen würden; sie seien deshalb als Abreden zu werten, die die Koalitionsfreiheit i.S.v. Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG behindern. 5 BAG v. 17.4.2002 – 5 AZR 89/01, NZA 2002, 1096. 6 A.A. Betz, BB 2010, 2045 (2047). 7 Ähnlich Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 297.

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Teil 10 117

Rz. 117

Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme

Auch bei der Frage, ob der Bezugnahme kraft betrieblicher Übung eine statische oder dynamische Wirkung zukommt, bedarf es einer Einzelfallbeurteilung. Bei der gebotenen Gesamtwürdigung des Verhaltens des Arbeitgebers ist wiederum dessen Tarifbindung entscheidend zu berücksichtigen1. Wer als Arbeitgeber dem zuständigen Arbeitgeberverband nicht beitritt oder sogar bewusst nur eine OT-Mitgliedschaft eingeht, bringt damit hinreichend deutlich zum Ausdruck, dass er die strikte Bindung an den TV gerade nicht will. Die in die Zukunft gerichtete, dynamische Bindung an künftige TVe entspricht ersichtlich nicht seinem Willen. Er möchte lediglich die Vorteile für sich in Anspruch nehmen, die eine Anbindung an ein kollektives Regelwerk in puncto Rechtssicherheit und Transaktionskostenersparnis aufweist. Die sich über einen längeren Zeitraum und mehrere Arbeitnehmer erstreckende Übung muss daher nach ihrem objektiven Erklärungsgehalt so verstanden werden, dass die aufgegriffenen Tarifinhalte mit statischer Wirkung zum Inhalt des Arbeitsvertrages erhoben werden. Nur ganz ausnahmsweise kann eine betriebliche Übung eines nicht organisierten Arbeitgebers dynamisch wirken. Allein der Umstand, dass der Arbeitgeber in der Vergangenheit verschiedene Tariferhöhungen übernommen hat, begründet noch keinen entsprechenden Erklärungswillen2. Das konkrete Ausmaß der künftigen dynamischen Lohnentwicklung ist für ihn nicht vorhersehbar. Der nicht tarifgebundene Arbeitgeber will für jedermann erkennbar seine Entscheidungsfreiheit über die Lohn- und Gehaltsentwicklung in seinen Betrieben behalten. Insoweit wirkt der Verzicht auf eine Mitgliedschaft mit Tarifbindung wie ein ständig parallel erklärter Vorbehalt3. Bei einem tarifgebundenen Arbeitgeber bringt die wiederholte Erstreckung eines TVes auf Außenseiter hingegen in der Regel den Willen zur Gleichstellung der nicht organisierten Arbeitnehmer zum Ausdruck. Die betriebliche Übung wirkt damit wie eine kleine dynamische Altklausel bzw. wie eine große dynamische (Neu- oder Alt-)Klausel, die auf den jeweils normativ geltenden TV verweist. Ersichtlich wünscht der Arbeitgeber keine Bindung, die über diejenige hinausgeht, die er gegenüber den gewerkschaftlich organisierten und kongruent tarifgebundenen Belegschaftsmitgliedern eingegangen ist4.

118

Gewährt ein tarifgebundener Arbeitgeber aufgrund einer betrieblichen Übung auch den Außenseitern tarifliche Leistungen, so stehen diese Leistungen in einem engen Abhängigkeitsverhältnis zum Schicksal der beiderseits tarifgebundenen Arbeitsverhältnisse. Wächst etwa ein Arbeitgeber durch Änderung des Unternehmensgegenstandes aus einem TV heraus, dann findet auch die Tarif1 Vgl. BAG v. 19.10.2011 – 5 AZR 359/10, NZA-RR 2012, 344; a.A. Betz, BB 2010, 2045 (2048), nach dem die Tarifbindung des Arbeitgebers bei der Auslegung seines Verhaltens keine Berücksichtigung finden kann, da sie für den Arbeitnehmer nicht erkennbar ist. 2 BAG v. 9.2.2005 – 5 AZR 284/04, BeckRS 2005 30350626; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 529; ebenso für die zeitliche Dynamik, aber a.A. in Bezug auf die sachliche Dynamik des TVes Sutschet, NZA 2008, 679 (685). 3 Vgl. auch BAG v. 20.6.2001 – 4 AZR 290/00, NJOZ 2002, 669. 4 So auch Hanau/Kania, FS Schaub, S. 260; Däubler, NZA 1996, 225 (228).

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Bezugnahme kraft betrieblicher Übung

Rz. 120 Teil 10

bindung kraft betrieblicher Übung ihr Ende. Endet nach einem Verbandsaustritt die Tarifbindung mit Ablauf der Nachbindungsfrist des § 3 Abs. 3 TVG, gilt das Gleiche. Die von einem tarifgebundenen Arbeitgeber gegenüber Außenseitern praktizierte betriebliche Übung bezieht sich nach ihrem Erklärungswert immer nur auf die konkrete Tarifbindung. Die Rechtsprechung des BAG, wonach kleine dynamische Neuklauseln in Allgemeinen Geschäftsbedingungen im Zweifel keine bloße Gleichstellung der nichtorganisierten mit den tarifgebundenen Arbeitnehmern bewirken sollen, steht dem nicht entgegen, da sie sich auf die Auslegung des Arbeitgeberwillens bei der Entstehung der betrieblichen Übung nicht übertragen lässt1. Bei Wegfall der Tarifbindung des Arbeitgebers wandelt sich daher die dynamische Wirkung einer betrieblichen Übung in eine statische Weitergeltung der Tarifnormen.

IV. Die Beendigung der Tarifbindung durch betriebliche Übung Die Möglichkeiten des Arbeitgebers, sich von einer betrieblichen Übung wieder zu lösen, sind stark begrenzt. Gestaltungsfreiheit hat er – unter Beachtung des Mitbestimmungsrechts aus § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG sowie des Gleichbehandlungsgrundsatzes – gegenüber neu eintretenden Arbeitnehmern. Hier kann er Ansprüche für die Zukunft durch eindeutige individuelle Vereinbarung oder durch eine betriebsöffentliche Mitteilung zum Einstellungszeitpunkt ausschließen2. Gegenüber den anspruchsberechtigten Arbeitnehmern können Änderungen dagegen nur mittels einer einvernehmlichen Vertragsänderung und über die Änderungskündigung3 herbeigeführt werden. Die durch eine betriebliche Übung erworbenen Ansprüche sind vertragliche Ansprüche mit voller Rechtsbeständigkeit. Der Arbeitgeber kann sie daher nicht durch einseitige Erklärung beseitigen4.

119

Verschlossen ist auch der Weg über eine sog. negative betriebliche Übung. Das BAG hat im Jahr 2009 seine Rechtsprechung zur gegenläufigen betrieblichen Übung aufgegeben, nach der der Arbeitgeber die Möglichkeit hatte, sich von einer entstandenen betrieblichen Übung wieder zu lösen, indem er sein Verhalten änderte und der betroffene Arbeitnehmer über einen bestimmten Zeitraum nicht widersprach (Beispiel: dreimalige Nichtleistung einer zuvor gewährten Weihnachtsgratifikation)5. Eine Abänderung der betrieblichen Übung zuungunsten des Arbeitnehmers durch eine Betriebsvereinbarung scheidet wegen des Günstigkeitsprinzips ebenfalls aus6.

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1 So auch Thüsing/Braun/Reufels, 8. Kap. Rz. 87. 2 BAG v. 5.2.1971 – 3 AZR 28/70, NJW 1971, 1422; LAG Baden-Württemberg v. 25.11.2010 – 11 Sa 70/10, BeckRS, 2011, 68819. 3 Vgl. zur Beendigung mittels individualvertraglicher Gestaltungsmittel Picker, Die betriebliche Übung, 2011, S. 392 ff. 4 BAG v. 25.11.2009 – 10 AZR 779/08, NZA 2010, 283; vgl. bereits zuvor kritisch zur negativen betrieblichen Übung Henssler, FS 50 Jahre BAG, S. 683 (704 ff.). 5 BAG v. 18.3.2009 – 10 AZR 281/08, NZA 2009, 601. 6 Sutschet, NZA 2008, 679 (684).

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Teil 10

Rz. 121

Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme

E. Sonstige Rechtsgrundlagen für eine nicht tarifrechtlich begründete Anwendbarkeit von Tarifverträgen Literatur: v. Hoyningen-Huene, Die Bezugnahme auf einen Firmentarifvertrag durch Betriebsvereinbarung, DB 1994, 2026; Vetter, Zur Zulässigkeit tarifvertragsübernehmender Betriebsvereinbarungen, DB 1991, 1833; Wiedemann, Der nicht organisierte Arbeitnehmer im kollektiven Arbeitsrecht, RdA 2007, 65.

I. Bezugnahme durch Betriebsvereinbarung 121

Aus den Arbeitszeitvorschriften der §§ 7, 12 ArbZG ergibt sich, dass grundsätzlich auch Betriebsvereinbarungen auf TVe Bezug nehmen können. Voraussetzung ist allerdings, dass der Betriebsrat im Hinblick auf den Tarifinhalt eine Regelungskompetenz innehat. Der Tarifinhalt muss also tauglicher Regelungsgegenstand einer Betriebsvereinbarung sein.

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Nach § 77 Abs. 3 BetrVG können Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch TV geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Diese Norm schützt die Tarifautonomie nach Art. 9 Abs. 3 GG vor der Betriebsautonomie, indem sie den TV-Parteien den Vorrang vor den Betriebsparteien bei der Regelung von Arbeitsbedingungen einräumt1 und verhindert, dass der Betriebsrat zur beitragsfreien Ersatzgewerkschaft wird. Der Tarifvorbehalt gilt nach der Rechtsprechung und der herrschenden Lehre als Zuständigkeitsregelung unabhängig von der Tarifbindung des Arbeitgebers2. Es genügt die Üblichkeit der tariflichen Regelung. Arbeitsbedingungen, für die eine tarifvertragliche Regelung besteht oder die üblicherweise durch TV geregelt werden, dürfen grundsätzlich nur dann Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein, wenn der TV den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen ausdrücklich zulässt.

123

Aus dem Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 BetrVG folgt, dass Betriebsvereinbarungen unwirksam sind, soweit sie tarifliche Regelungen von Arbeitsbedingungen übernehmen, um sie auch auf die nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer eines Betriebes zu erstrecken. Der Geltungsbereich von TVen soll allein auf dem dafür vorgesehenen Weg der Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG ausgedehnt werden können3. Der Schutz der Tarifautonomie steht deshalb der Möglichkeit entgegen, durch Betriebsvereinbarung den Inhalt eines TVes unverändert zu übernehmen4. Das Gleiche gilt, wenn die betreffenden tarifvertraglichen Regelungen in Bezug genommen werden5. Soweit allerdings 1 BAG v. 21.1.2003 – 1 ABR 9/02, NZA 2003, 1097. 2 BAG v. 10.10.2006 – 1 ABR 59/05, NZA 2007, 523; BAG v. 26.8.2008 – 1 AZR 354/07, NZA 2008, 1426; ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 40; HWK/Gaul, § 77 BetrVG Rz. 49; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 562; a.A. Richardi, § 77 BetrVG Rz. 259. 3 Vgl. die Begründung zum Regierungsentwurf BetrVG 1972, BT-Drucks. 6/1786, S. 47. 4 BAG v. 3.12.1991 – GS 2/90, NZA 1992, 749; BAG v. 20.11.2001 – 1 AZR 12/01, NJOZ 2002, 1944; v. Hoyningen-Huene, DB 1994, 2026 ff; HWK/Gaul, § 77 BetrVG Rz. 53; Richardi, § 77 BetrVG Rz. 288. 5 HWK/Gaul, § 77 BetrVG Rz. 53; Kempen/Zachert/Stein, § 3 TVG Rz. 215; Thüsing/ Braun/Reufels, 8. Kap. Rz. 76.

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Sonstige Rechtsgrundlagen

Rz. 126 Teil 10

eine tarifvertragliche Zulassungsnorm Betriebsvereinbarungen gestattet, können diese wiederum auf den TV Bezug nehmen1. Vereinzelt wird vertreten, dass eine Bezugnahme auf einzelne Tarifbestimmungen oder einzelne Regelungsbereiche des TVes im Gegensatz zur vollständigen Inbezugnahme eines Tarifwerks nicht an § 77 Abs. 3 BetrVG scheitere. Ihr Zweck liege lediglich in der Anknüpfung an vom TV festgelegte Tatbestandsmerkmale, um sie im Interesse einer einheitlichen Ordnung zu übernehmen. Eine Ausdehnung des personellen Geltungsbereiches des TVes auf die nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer im Sinne einer „betrieblichen Allgemeinverbindlicherklärung“ sei damit nicht beabsichtigt2. Auch wenn diese Argumente durchaus bedenkenswert erscheinen, so ist diese Ansicht im Ergebnis doch mit der im Schrifttum überwiegenden Auffassung3 abzulehnen. Eine „betriebliche Allgemeinverbindlichkeit“ für nicht tarifgebundene Arbeitnehmer lässt sich auch bei einer Beschränkung auf Teilbereiche eines TVes nicht mit der Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG vereinbaren.

124

Sollte die Bezugnahme auf einen TV mittels Betriebsvereinbarung ausnahmsweise zulässig sein, weil sich entweder der betreffende Betrieb außerhalb jedes potentiellen tariflichen Geltungsbereichs bewegt oder aber eine tarifvertragliche Öffnungsklausel eine Regelung durch Betriebsvereinbarung gestattet oder weil im Bereich der erzwingbaren Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 BetrVG die Schutzfunktion des Mitbestimmungsrechts eine betriebliche Regelung erfordert4, so handelt es sich nicht um eine tarifliche Normgeltung. Der Inhalt des TVes gilt als Teil der Betriebsvereinbarung. Die unmittelbare und zwingende Wirkung folgt somit aus § 77 Abs. 4 Satz 1 BetrVG5. Allerdings soll nach der vom Schrifttum6 geteilten Rechtsprechung des 1. Senats7 selbst in diesen Sonderfällen nur eine statische, nicht dagegen eine dynamische Bezugnahme auf den TV zulässig sein. In der Tat lässt sich der mit einer dynamischen Blankettverweisung verbundene dauerhafte Regelungsverzicht kaum mit der Aufgabenstellung und der koalitionspolitischen Neutralität des Betriebsrats vereinbaren.

125

II. Tarifvertragliche Außenseiterklauseln Außenseiterklauseln sind Vereinbarungen der TV-Parteien, die den Arbeitgeber verpflichten, auch nicht tarifgebundene Arbeitnehmer zu den Tarifbedingungen zu beschäftigen. Sie haben, anders als für allgemeinverbindlich erklärte TVe, keine normative Wirkung, sondern lassen lediglich eine schuldrechtliche 1 BAG v. 30.11.1973 – 3 AZR 96/73, AP Nr. 164 zu § 242 BGB – Ruhegehalt. 2 Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 407 f. 3 Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 268; Kempen/Zachert/Stein, § 3 TVG Rz. 217; Thüsing/ Braun/Reufels, 8. Kap. Rz. 78. 4 BAG v. 5.3.1997 – 4 AZR 532/95, NZA 1997, 951. 5 Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 562. 6 Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 557; Kauffmann-Lauven, in: Moll, Münchener Anwaltshandbuch Arbeitsrecht, § 60 Rz. 17. 7 BAG v. 23.6.1992 – 1 ABR 9/92, NZA 1993, 229.

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Teil 10

Rz. 127

Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme

Verpflichtung entstehen1. Derartige Klauseln werden in der Regel als Vertrag zugunsten Dritter angesehen und sind nach überwiegender Auffassung zulässig2. Die Außenseiterklausel verschafft den nichtorganisierten Arbeitnehmern als Vertrag zugunsten Dritter einen eigenen unmittelbaren Anspruch auf Gewährung der im TV festgelegten Arbeitsbedingungen gegenüber der tarifvertragsschließenden Partei. Ein Verstoß gegen die negative Koalitionsfreiheit liegt nicht vor, da die nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer das ihnen zugewendete Recht nach § 333 BGB zurückweisen können und auf individualvertraglichem Weg andere Arbeitsbedingungen vereinbaren können3. 127

Außenseiterklauseln laufen in der Regel dem Interesse der Gewerkschaften zuwider, den Gewerkschaftsbeitritt möglichst attraktiv zu gestalten. Sie haben daher eine geringe praktische Bedeutung. Die Bemühungen der Gewerkschaften, in verstärktem Umfang Differenzierungsklauseln4 durchzusetzen, verdeutlichen den gegenläufigen Trend in aktuellen Tarifverhandlungen.

III. Arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz 128

Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz verbietet eine willkürliche bzw. sachfremde Schlechterstellung einzelner Arbeitnehmer gegenüber anderen Arbeitnehmern in vergleichbarer Lage5. Gewährt der Arbeitgeber aufgrund einer abstrakten Regelung eine freiwillige Leistung nach einem erkennbar generalisierenden Prinzip und legt er gemäß dem mit der Leistung verfolgten Zweck die Anspruchsvoraussetzungen für die Leistung fest, darf er einzelne Arbeitnehmer von der Leistung nur ausnehmen, wenn dies sachlichen Kriterien entspricht6. Unstreitig ist der Arbeitgeber dazu verpflichtet, Gewerkschaftsmitglieder und nichtorganisierte Arbeitnehmer gleich zu behandeln, soweit es um Leistungen geht, die nicht auf einem TV beruhen7.

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Nach der heute einhelligen Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum widerspricht es dem Gleichbehandlungsgrundsatz jedoch nicht, wenn bei Leistungen aus einem TV zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und Außenseitern

1 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 328; Kempen/Zachert/Stein, § 3 TVG Rz. 236. 2 BAG v. 21.2.1967 – 1 AZR 495/65, AP Nr. 12 zu Art. 9 GG; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 328; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 33; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 615; Kempen/Zachert/Stein, § 3 TVG Rz. 236; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 414; a.A. Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht II 1, S. 330. 3 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 887. 4 Dazu BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028; BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920. 5 St. Rspr. des BAG, vgl. BAG v. 3.4.1957 – 4 AZR 644/54, AP Nr. 4 zu § 242 BGB – Gleichbehandlung; BAG v. 28.2.1962 – 4 AZR 352/60, AP Nr. 31 zu § 242 BGB – Gleichbehandlung; BAG v. 30.9.1970 – 4 AZR 343/69, AP Nr. 34 zu § 242 BGB – Gleichbehandlung; BAG v. 28.3.2007 – 10 AZR 261/06 NZA 2007, 687. 6 BAG v. 28.3.2007 – 10 AZR 261/06, NZA 2007, 687. St. Rspr., vgl. BAG v. 17.12.2009 – 6 AZR 242/09, NZA 2010, 273 m.w.N.; ErfK/Preis, § 611 BGB Rz. 575. 7 Kempen/Zachert/Stein, § 3 TVG Rz. 232; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 415.

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Formulierungsvorschläge

Rz. 131 Teil 10

unterschieden wird1. Die Konzeption des TV-Rechts geht von einer Differenzierung zwischen tarifgebundenen und nicht tarifgebundenen Arbeitnehmern bei der Teilhabe an tariflichen Leistungen aus. Dies ergibt sich sowohl aus dem in § 3 Abs. 1 TVG angelegten Konzept der kongruenten Tarifbindung als auch aus dem in § 5 TVG gesetzlich speziell geregelten Sonderfall der Allgemeinverbindlicherklärung, dem ersichtlich die Prämisse zugrunde liegt, dass Außenseiter nicht bereits durch den Gleichbehandlungsgrundsatz Leistungen aus einem TV in Anspruch nehmen können2. Zur Anwendung kommt der Gleichbehandlungsgrundsatz im Verhältnis von nichtorganisierten Arbeitnehmern untereinander. Der Arbeitgeber darf nicht grundsätzlich Nichtorganisierten die gleichen Arbeitsbedingungen wie den Gewerkschaftsmitgliedern gewähren und ohne sachliche Rechtfertigung lediglich einzelne Außenseiter von diesen Vorteilen ausnehmen. Für die willkürlich benachteiligten Außenseiter ergibt sich in diesem Fall ein Anspruch auf Gleichbehandlung mit den anderen nichtorganisierten Arbeitnehmern3. In der Praxis stellt sich dieses Problem allerdings nicht, da ein entsprechend inkonsequentes Verhalten auch aus Arbeitgebersicht ersichtlich unvernünftig ist und die benachteiligten Arbeitnehmer geradezu zum Gewerkschaftsbeitritt zwingt.

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F. Formulierungsvorschläge Literatur: Bauer/Günther, Bezugnahmeklauseln bei Verbandswechsel und Betriebsübergang – Ein Irrgarten?, NZA 2008, 6; Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge am Beispiel der Bezugnahme und Öffnungsklausel, S. 637 ff.; Giesen, Bezugnahmeklauseln – Auslegung, Formulierung und Änderung, NZA 2006, 625; Preis/Greiner, Vertragsgestaltung bei Bezugnahmeklauseln nach der Rechtsprechungsänderung des BAG, NZA 2007, 1073; Thüsing/Lambrich, AGB-Kontrolle arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklauseln – Vertragsgestaltung nach der Schuldrechtsreform, NZA 2002, 1361.

Bezugnahmeklauseln sind für Arbeitgeber mit klaren Vorteilen verbunden. Sie erleichtern eine Vereinheitlichung der betrieblichen Arbeitsbedingungen und die notwendige Anpassung der Arbeitsbedingungen durch die Orientierung an einem Kollektivsystem. Für tarifgebundene Arbeitgeber sind sie zudem ein probates Mittel, um die Attraktivität des Gewerkschaftsbeitritts für nichtorganisierte Arbeitnehmer zu vermindern. Nicht tarifgebundene Arbeitgeber (OTMitglieder) werden im Einzelfall abzuwägen haben, ob eine Bezugnahmeklausel für sie sinnvoll ist. Die optimale Gestaltung der Klausel lässt sich nicht abstrakt, sondern nur unter Berücksichtigung der konkreten Interessenlage festlegen. Diese wird je nach der wirtschaftlichen Situation und den Marktbedingungen von Arbeitgeber zu Arbeitgeber durchaus unterschiedlich sein. Entscheidend ist im Einzelfall, ob für den Arbeitgeber im Vordergrund steht, 1 Annuß, ZfA 2005, 405 (409); Wiedemann, RdA 2007, 65 (68); Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht II 1 Rz. 479; Kempen/Zachert/Stein, § 3 TVG Rz. 232; Thüsing/Braun/Reufels, 8. Kap. Rz. 89; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 420. 2 Kempen/Zachert/Stein, § 3 TVG Rz. 232; Thüsing/Braun/Reufels, 8. Kap. Rz. 89. 3 Kempen/Zachert/Stein, § 3 TVG Rz. 234.

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Teil 10

Rz. 132

Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme

eine dauerhafte zeitdynamische Bindung zu vermeiden, ob er bereit ist, eine dauerhafte statische Bindung an das aktuelle Tarifniveau zu akzeptieren oder ob er Wert auf die Möglichkeit legt, das aktuelle Tarifniveau künftig auch einmal nach unten abzusenken. Für den Kautelarjuristen stellt sich zudem die Frage, ob der Arbeitgeber eine konstitutive Wirkung der Bezugnahmeklausel für kongruent tarifgebundene Arbeitnehmer vermeiden will1.

I. Tarifgebundene Arbeitgeber 132

Für tarifgebundene Arbeitgeber bietet sich die folgende Formulierung an, um mit der arbeitsvertraglichen Bezugnahme die jeweilige tarifrechtliche Bindung des Arbeitgebers widerzuspiegeln: Auf das Arbeitsverhältnis sind die jeweils für den Betrieb normativ geltenden Tarifverträge in ihrer jeweils gültigen Fassung anzuwenden. Zur Klarstellung empfiehlt es sich, in einem gesonderten Satz den aktuell in Bezug genommenen TV konkret zu benennen: Dies sind zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses die von der X-Gewerkschaft mit dem Y-Arbeitgeberverband für das Tarifgebiet Z abgeschlossenen Tarifverträge für die A-Branche. Die auf das Arbeitsverhältnis anzuwendenden Tarifverträge können im Personalbüro eingesehen werden. Die Folgen bei Beendigung der Tarifbindung durch Verbandsaustritt oder bei Betriebsübergang sollten vertraglich geregelt werden. Dies kann mit den folgenden Formulierungen geschehen: Im Falle des Verbandsaustritts des Arbeitgebers gelten die Tarifverträge in der zu diesem Zeitpunkt geltenden Fassung statisch fort, es sei denn, sie werden nach tarifrechtlichen Grundsätzen durch andere Tarifnormen abgelöst. Bei einem Betriebs(teil)übergang auf einen nicht verbandlich organisierten Erwerber gelten die Tarifnormen ebenfalls nur statisch fort. Wird der Betrieb(steil) auf einen anderweitig tariflich gebundenen Erwerber übertragen, so sind die für diesen normativ geltenden Tarifbedingungen anzuwenden. Dabei kann es zu einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen kommen. Verfolgt der Arbeitgeber das Ziel, mit der Bezugnahmeklausel lediglich das widerzuspiegeln, was sich aus tarifrechtlichen Grundsätzen bzw. § 613a BGB ergibt, so bietet sich alternativ folgende Formulierung an, um Probleme, die sich aus der konstitutiven Wirkung der Bezugnahmeklauseln für Gewerkschaftsmitglieder ergeben könnten, zu vermeiden und außerdem die Gleichstellungsfunktion für die Außenseiter unzweifelhaft klarzustellen: Sollte der Arbeitnehmer tarifgebunden sein, gelten für ihn diejenigen Regelungen, die sich aus seiner Tarifgebundenheit/Gewerkschaftsmitgliedschaft ergeben. 1 Vgl. zum Ganzen auch Henssler/Moll, AGB-Kontrolle vorformulierter Arbeitsbedingungen, S. 128 ff.

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Henssler

Formulierungsvorschläge

Rz. 133 Teil 10

Dies sind zurzeit … Sollte der Arbeitnehmer nicht tarifgebunden sein, gelten für ihn ebenfalls diejenigen Regelungen, die jeweils gelten würden, wenn er tarifgebunden, insbesondere Gewerkschaftsmitglied, wäre. Nach der neueren Rechtsprechung des BAG gibt es keinen übergeordneten Grundsatz, wonach für verschiedene Arbeitsverhältnisse derselben Art in einem Betrieb nur einheitliche Tarifregelungen zur Anwendung kommen können1. Mit der Zulassung von Tarifpluralitäten im Betrieb wird es künftig zu Unklarheiten darüber kommen, welcher TV in Bezug genommen werden soll. Dies könnte durch folgende Formulierung geregelt werden: Kommen nach dieser Regelung unterschiedliche Tarifverträge in Betracht, so ist bei einem Nebeneinander von Verbands- und Firmentarifvertrag der Firmentarif und im Übrigen derjenige Tarifvertrag anzuwenden, an den die meisten Belegschaftsmitglieder normativ gebunden sind.

II. Nicht tarifgebundene Arbeitgeber Bei nicht tarifgebundenen Arbeitgebern oder wenn sichergestellt werden soll, dass über die Bezugnahmeklausel keine weiterreichende Tarifbindung erreicht werden soll, als sie für die Gewerkschaftsmitglieder besteht, kann sich folgende Gestaltungsvariante anbieten: (Regelungen des Arbeitsvertrages) Im Übrigen gilt der X-Tarifvertrag in seiner Fassung vom … Änderungen dieses Tarifvertrages gelten dann für das Arbeitsverhältnis, wenn der Arbeitgeber ihrer Geltung nicht innerhalb einer Frist von vier Wochen nach ihrem Inkrafttreten aus wirtschaftlichen Gründen widerspricht. Im Fall eines Betriebs(teil)übergangs gilt der Tarifvertrag in der im Zeitpunkt des Betriebsübergangs geltenden Fassung weiter. Die Geltung des Tarifvertrages endet mit einer Tarifbindung des Arbeitgebers durch Beitritt zu einem Arbeitgeberverband. In diesem Fall ist der nunmehr kraft Tarifbindung geltende Tarifvertrag anzuwenden. Mit dieser Variante wird sichergestellt, dass der Arbeitgeber jeweils im Einzelfall entscheiden kann, ob er eine künftige Tariferhöhung übernehmen will. Entsprechend den vom 5. Senat des BAG für Widerrufsvorbehalte entwickelten Grundsätzen2 ist es erforderlich, auch den einseitigen Widerspruch des Arbeitgebers an einen spezifizierten Sachgrund zu koppeln. 1 BAG v. 23.6.2010 – 10 AS 2/10, NZA 2010, 778; BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068; vgl. zur Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit Rz. 44 ff. 2 BAG v. 12.1.2005 – 5 AZR 364/04, NZA 2005, 465; noch strenger für den Fall des Widerrufs einer Dienstwagennutzung BAG v. 13.4.2010 – 9 AZR 113/09, NZA-RR 2010, 457; zum Ganzen Henssler/Moll, AGB-Kontrolle vorformulierter Arbeitsbedingungen, S. 21 ff.

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Teil 11 Haustarif1 Rz.

Rz.

1

IV. Herauswachsen aus dem Geltungsbereich eines Flächentarifvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

A. Begriff, Arten und Bedeutung in der Praxis I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Wesentliche Chancen und Risiken von Haustarifverträgen im Verhältnis zu Verbandstarifverträgen aus Unternehmenssicht . . . 1. Chancen/Vorteile von HausTVen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Risiken/Nachteile von HausTVen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bedeutung gewerkschaftsinterner Richtlinien . . . . . . . . . . . . . .

V. Wettbewerber hat tarifliche Vorteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 VI. Standortfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2 3 4 5

III. Arten von Haustarifverträgen . . . . 6 1. AnerkennungsTV . . . . . . . . . . . . 7 2. AnerkennungsTV mit Abweichungen von den FlächenTVen 8 3. Selbständige TVe ohne Bezugnahme auf FlächenTVe . . . . . . . 9 4. Unternehmensbezogener VerbandsTV (firmenbezogener VerbandsTV) . . . . . . . . . . . . . . . . 10 5. HausTV als StrukturTV gemäß § 3 BetrVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 B. Der Arbeitgeber als Tarifvertragspartei I. Haustariffähigkeit des Arbeitgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 II. Begriff des Arbeitgebers . . . . . . . . . 14 III. Besonderheiten im Konzern . . . . . 15 IV. Beginn und Ende der Tariffähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 C. Typische Ausgangssituationen für Haustarifverträge . . . . . . . . . . . . 17 I. Post Merger Situation . . . . . . . . . . . 18 II. Outsourcing/Joint VentureSituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 III. Austritt aus dem Arbeitgeberverband . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

VII. Umstrukturierung . . . . . . . . . . . . . . 24 VIII. Unternehmen in der Krise . . . . . . . 25 D. Wirkung/Geltung des Haustarifvertrages I. Normative Geltung des Haustarifvertrages kraft beiderseitiger Tarifbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 II. Schuldrechtliche Geltung kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahme . 27 III. Tarifzuständigkeit der Gewerkschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 IV. Beginn und Ende der zwingenden Tarifgeltung, insb. Auswirkungen des Verbandsaustritts bzw. des Wechsels zur OT-Mitgliedschaft . 29 1. Auswirkungen des Verbandsaustritts bzw. des Wechsels zur OT-Mitgliedschaft . . . . . . . . . . . 29 2. Beendigung im Sinne des § 3 Abs. 3 TVG . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 E. Verhältnis zum Verbandstarifvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 I. Arbeitgeber kein Verbandsmitglied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 II. Verbandsangehöriger Arbeitgeber 1. Abschluss mit Gewerkschaft des FlächenTVes . . . . . . . . . . . . . a) Während der zwingenden Geltung des FlächenTVes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Nach Ablauf des FlächenTVes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abschluss mit anderer Gewerkschaft . . . . . . . . . . . . . . .

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34 35 36

1 Der Autor dankt seiner Kollegin Frau Rechtsanwältin Heinke von Netzer für die maßgebliche Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts.

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Teil 11

Haustarif Rz. a) b)

Während der Laufzeit des FlächenTVes . . . . . . . . . . . . 37 Nach Ablauf des FlächenTVes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

F. Verhältnis zu anderen Haustarifverträgen I. Abschluss eines anderen Haustarifvertrages mit derselben Gewerkschaft 1. Während der Laufzeit des anderen HausTVes . . . . . . . . . . . 39 2. Nach Ablauf des anderen HausTVes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

Rz. 1. Nachwirkung des AnerkennungsTVes a) Beendigung des AnerkennungsTVes . . . . . . . . . . . . . . b) Nachwirkung aller in Bezug genommenen Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Auswirkungen in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Abgrenzung zu Stufenregelungen in TVen . . . . . . 2. Nachwirkung des anerkannten TVes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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65 68 69 70

V. Friedenspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

II. Abschluss eines anderen Haustarifvertrages mit einer anderen Gewerkschaft 1. Während der Laufzeit des anderen HausTVes . . . . . . . . . . . 41 2. Nach Ablauf des anderen HausTVes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

VI. Tarifliche Differenzierungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 1. Qualifizierte Differenzierungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 2. Einfache Differenzierungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

G. Verhältnis zu Betriebsvereinbarungen

M. Rechtliche und taktische Vorbereitung und Durchführung von Haustarifvertrags-Verhandlungen I. Typische Fragen vor der Einführung von Haustarifverträgen . . . . . 1. Klärung der Gewerkschaftszuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Festlegung des Geltungsbereichs a) Räumlicher Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Persönlicher Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Definition der ATMitarbeiter . . . . . . . . . . bb) Schuldrechtliche Verpflichtungen hinsichtlich des AT-Bereichs . cc) Herausnahme von Arbeitnehmergruppen aus dem Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . dd) Erstreckung der Tarifgeltung auf Außenseiter? . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zeitlicher Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Nachwirkung . . . . . . . . bb) Rückkehr zum FlächenTV . . . . . . . . . . . . .

I. Grundsatz: Tarifvorrang und Tarifvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 II. Öffnungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . 44 H. Verhältnis zum Arbeitsvertrag I. Arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 II. Sonstige einzelvertragliche Zusagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 J. Streikrecht I. Erstreikbarkeit von Haustarifverträgen 1. Rechtsprechung des BAG . . . . . 52 2. Gegenauffassungen . . . . . . . . . . 54 3. Unzulässige Streikziele . . . . . . 56 II. Friedenspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 K. Praxisrelevante Fragestellungen bei Anerkennungstarifverträgen I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 II. Umfang der Anerkennung . . . . . . . 60 III. Status der Tarifgeltung . . . . . . . . . . 61 IV. Nachwirkung bei Anerkennungstarifverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

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L. Überleitungstarifverträge . . . . . . . . 76

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Rz. 1 Teil 11

Begriff, Arten und Bedeutung Rz. d)

Risiken aus arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln aa) Risiko: Leerlaufen des HausTVes . . . . . . . . . . . bb) Mögliche Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . Günstigere Regelungen in den Arbeitsverträgen . . . . . Überschneidungen mit Betriebsvereinbarungen . . . . . Überschneidungen mit anderen anzuwendenden TVen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

e) f) g)

II. Vorbereitung von Haustarifvertrags-Verhandlungen . . . . . . . . . . . . 1. Definition des Status Quo und der Zielstruktur . . . . . . . . . . . . . 2. Wesentliche Verhandlungspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Arbeitszeit . . . . . . . . . . . . . .

Rz. b) c) d)

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99 100 101 102 103

Arbeitsentgelt/Zuschläge . Investitionszusagen . . . . . . Beschäftigungssicherungszusagen . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Nachwirkung . . . . . . . . . . . 3. Wirtschaftliche Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zeitpunkt der Verhandlungen . 5. Alternativkonzept . . . . . . . . . . .

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III. Ablauf der Verhandlungsphase . . . 111 1. Kontaktaufnahme mit dem Tarifpartner und Sondierungsgespräche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 2. Kick-off-Veranstaltung . . . . . . . 113 3. Erster Verhandlungstermin und weitere Verhandlungen . . . 114 4. Arbeitskämpfe . . . . . . . . . . . . . . 115 5. Informationspolitik im Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 N. Haustarifverträge bei Betriebsübergang und Umwandlung . . . . . 117

Literatur: Boecken, Unternehmensumwandlung und Arbeitsrecht, 1996; Buchner, Die tarifrechtliche Situation bei Verbandsaustritt und bei Auflösung eines Arbeitgeberverbandes, RdA 1997, 259; Buchner, Möglichkeiten und Grenzen betriebsnaher Tarifpolitik, DB 1970, 2025; Däubler, Das Arbeitsrecht im neuen Umwandlungsgesetz, RdA 1995, 136; Gaul, Das Schicksal von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen bei der Umwandlung von Unternehmen, NZA 1995, 717; Hanau, Arbeitsrecht und Mitbestimmung in Umwandlung und Fusion, ZGR 1990, 548; Hanau/Thüsing, Streik um Anschlusstarifverträge, ZTR 2002, 506; Hensche, Zur Zulässigkeit von Firmentarifverträgen mit verbandsangehörigen Unternehmen, RdA 1971, 9; Henssler, Firmentarifverträge und unternehmensbezogene Verbandstarifverträge als Instrumente einer „flexiblen“ betriebsnahen Tarifpolitik, ZfA 1998, 517; v. Hoyningen-Huene, Die Rolle der Verbände bei Firmenarbeitskämpfen, ZfA 1980, 453; Jacobs, Die Erkämpfbarkeit von firmenbezogenen Tarifverträgen mit verbandsangehörigen Arbeitgebern, ZTR 2001, 249; Krichel, Ist der Firmentarifvertrag mit einem verbandsangehörigen Arbeitgeber erstreikbar?, NZA 1986, 731; Lieb, Erkämpfbarkeit von Firmentarifverträgen mit verbandsangehörigen Arbeitgebern, DB 1999, 2058; Mengel, Umwandlungen im Arbeitsrecht, 1997; Reuter, Können verbandsangehörige Arbeitgeber zum Abschluss von Haustarifverträgen gezwungen werden?, NZA 2001, 1097; Rieble, Der Fall Holzmann und seine Lehren, NZA 2000, 225; Schleusener, Rechtmäßigkeit kampfweiser Durchsetzung von Firmentarifverträgen gegenüber verbandsangehörigen Arbeitgebern, NZA 1998, 239.

A. Begriff, Arten und Bedeutung in der Praxis I. Begriff Bei einem HausTV (auch FirmenTV genannt) schließt nicht wie bei einem VerbandsTV der Arbeitgeberverband mit der Gewerkschaft einen TV, sondern der Seitz

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1

Teil 11

Rz. 2

Haustarif

einzelne Arbeitgeber selbst wird Partei des TVes. TV-Parteien bei einem HausTV sind also der Arbeitgeber und die Gewerkschaft. Der Geltungsbereich kann sich auf einzelne Betriebe des Unternehmens beziehen, aber auch das Unternehmen insgesamt erfassen.

II. Wesentliche Chancen und Risiken von Haustarifverträgen im Verhältnis zu Verbandstarifverträgen aus Unternehmenssicht 2

Die pauschale Benennung von Vorteilen und Nachteilen eines HausTVes im Verhältnis zu VerbandsTVen bereitet Schwierigkeiten. Sie hängt maßgeblich von dem jeweiligen Betrachter ab. Der Vorteil des Einen ist der Nachteil des Anderen. In der anwaltlichen Beratungspraxis hat die Abwägung von VerbandsTVen im Vergleich zu FlächenTVen erhebliche Bedeutung. Die folgenden Überlegungen werden typischerweise auf Arbeitgeberseite angestellt.

1. Chancen/Vorteile von HausTVen 3

HausTVen wird aus Unternehmenssicht gegenüber VerbandsTVen insbesondere der Vorteil beigemessen, dass sie „maßgeschneiderte Lösungen“, zugeschnitten auf die spezielle Situation des jeweiligen Unternehmens ermöglichen. VerbandsTVe dagegen müssen der wirtschaftlichen Situation aller dem Arbeitgeberverband angehörenden Unternehmen Rechnung tragen. Es wird daher von Unternehmensseite oftmals beanstandet, dass die Bedingungen eines VerbandsTVes auf das jeweilige Unternehmen nicht passen bzw. zu pauschal seien. VerbandsTVe werden von Unternehmen zudem häufig als zu „teuer“ kritisiert. HausTVe bieten zudem die Chance einer größeren Flexibilität. Häufig dienen HausTVe Unternehmen in der Krise als SanierungsTV zur Sicherung des Standortes durch die Unterschreitung des FlächenTVes. Durch den Abschluss eines HausTVes können im Gegensatz zu VerbandsTVen ggf. schnellere Regelungen als auf Ebene des Verbandes getroffen werden, da bei HausTVen die Abstimmung auf Verbandsebene entfällt.

2. Risiken/Nachteile von HausTVen 4

Die Aufnahme von HausTV-Verhandlungen ist mit Unwägbarkeiten verbunden. Zunächst muss die zuständige Gewerkschaft überhaupt zur Verhandlung eines HausTVes bereit sein. Die Flexibilität von HausTVen realisiert sich somit erst, wenn die Gewerkschaft bereit ist, diese Flexibilität mitzutragen (s. hierzu auch Rz. 5). Das Unternehmen verfügt auch nicht immer über das erforderliche Know-how, um HausTV-Verhandlungen professionell vorzubereiten und durchzuführen. Zudem sind HausTV-Verhandlungen oft aufwendig und personalintensiv. Gleichzeitig lässt sich bei Beginn der Verhandlungen nicht absehen, ob sich für das Unternehmen die Investition lohnt und ob das gewünschte Verhandlungsergebnis erzielt werden wird. Bei der Mitgliedschaft in einem Arbeitgeberverband dagegen muss sich das Unternehmen nicht mit dem Aushandeln von Arbeitsbedingungen belasten, sondern es gelten kraft Verbandsmitgliedschaft die von dem Arbeitgeberverband mit der Gewerkschaft ausgehandelten Arbeitsbedingungen. 866

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Begriff, Arten und Bedeutung

Rz. 8 Teil 11

3. Bedeutung gewerkschaftsinterner Richtlinien Ob und unter welchen Voraussetzungen eine Gewerkschaft zum Abschluss von HausTVen bereit ist, hängt oftmals von gewerkschaftsinternen Richtlinien ab. Dies gilt insbesondere für SanierungsTVe, in denen das Flächentarifniveau unterschritten wird. So hat z.B. der Gewerkschaftsrat von ver.di Grundsätze für Notfall- und Härtefallvereinbarungen aufgestellt1. Nach diesen Grundsätzen ist ver.di nur unter genau definierten wirtschaftlichen und sonstigen Voraussetzungen überhaupt bereit, von den jeweiligen FlächenTVen abzuweichen. Ferner werden Mindestanforderungen festgelegt, die auf keinen Fall unterschritten werden dürfen. Ver.di hält dies für insbesondere zum Schutz des TV-Systems und zur Wahrung tariflicher Standards für zwingend erforderlich. Denn die FlächenTVe würden entwertet, würde die Gewerkschaft auf jede Anfrage der Arbeitgeberseite jederzeit Abweichungen von den jeweils gültigen FlächenTVen zulassen. In den internen Grundsätzen werden zudem bestimmte Positionen in den FlächenTVen als nicht verhandelbar definiert. Die Kenntnis solcher gewerkschaftsinterner Grundsätze bzw. die Bereitschaft der Arbeitgeberseite, auf diese internen Vorgaben flexibel zu reagieren, ist unerlässlich für den Erfolg von HausTV-Projekten.

5

III. Arten von Haustarifverträgen Es gibt keine konkreten gesetzlichen Vorgaben über die inhaltliche Gestaltung von HausTVen. Der Inhalt eines HausTVes unterliegt im Rahmen der geltenden Gesetze der Vertragsfreiheit. In der Praxis haben sich bezogen auf ihren Inhalt im Wesentlichen drei Gestaltungsmöglichkeiten für HausTVe durchgesetzt2:

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1. AnerkennungsTV AnerkennungsTVe sind HausTVe, die den Inhalt des FlächenTVes grundsätzlich nicht verdrängen und kein eigenständiges Regelungswerk beinhalten. Es wird zumeist die Geltung des einschlägigen Flächentarifwerks (z.B. TVe des Einzelhandels, TVe der Metall- und Elektroindustrie, TVe der chemischen Industrie etc.) vereinbart. Die Geltung der FlächenTVe wird „anerkannt“. Denkbar sind aber auch eine Anerkennung nur einzelner TVe sowie die Anerkennung branchenfremder TVe. Ausführlich zum AnerkennungsTV s. Rz. 58 ff.

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2. AnerkennungsTV mit Abweichungen von den FlächenTVen AnerkennungsTVe enthalten häufig zugleich Abweichungen von den anerkannten TVen. Häufig werden in Restrukturierungs- bzw. Sanierungssituatio1 Grundsätze für Notfall- und Härtefallvereinbarungen, beschlossen durch den Gewerkschaftsrat in seiner Sitzung vom 15. und 16.7.2003. 2 Die Bezeichnungen sind uneinheitlich. Abweichend von der hier vorgenommenen Unterteilung unterscheidet Däubler AnerkennungsTVe mit der unmodifizierten Übernahme des einschlägigen Flächentarifwerks, im Gegensatz zu HausTVen mit speziellen Regelungen für das jeweilige Unternehmen, vgl. Däubler, § 1 TVG Rz. 71.

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Teil 11

Rz. 9

Haustarif

nen AnerkennungsTVe abgeschlossen, die Verschlechterungen von den in Bezug genommenen FlächenTVen in einzelnen Punkten enthalten, um Personalkosteneinsparungen zu bewirken. Beispiele: eine höhere Arbeitszeit als in den FlächenTVen, eine geringere Vergütung als in den FlächenTVen. Solche HausTVe werden als „SanierungsTV“ oder „RestrukturierungsTV“ bezeichnet (ausführlich zum SanierungsTV s. Teil 12 Rz 1 ff.). Die Gewerkschaft ist in der Regel nur zu verschlechternden Abweichungen von den FlächenTVen bereit, wenn das Unternehmen belegen kann, dass eine Sanierungssituation vorliegt. Ansonsten ist es für die Gewerkschaft politisch nicht vertretbar, einzelne Unternehmen besser zu stellen. Es gibt aber auch AnerkennungsTVe mit Verbesserungen gegenüber den einschlägigen FlächenTVen. Dies ist z.B. bei großen Unternehmen mit langer Historie der Fall, die traditionell HausTVe abschließen.

3. Selbständige TVe ohne Bezugnahme auf FlächenTVe 9

Bei dieser Gestaltungsvariante wird in einem HausTV ohne Anlehnung an FlächenTVe eine eigene Arbeitsrechtsordnung vereinbart. Dies findet sich in der Praxis seltener, da die Gewerkschaften aus nachvollziehbaren Gründen eine Anwendung der jeweils mit dem Arbeitgeberverband verhandelten FlächenTVe anstreben.

4. Unternehmensbezogener VerbandsTV (firmenbezogener VerbandsTV) 10

Der unternehmensbezogene VerbandsTV ist im strengen Sinn kein HausTV, weil Vertragspartner der zuständigen Gewerkschaft der Arbeitgeberverband ist. In der Rechtswirkung ist der unternehmensbezogene VerbandsTV jedoch dem HausTV vergleichbar, da sich sein personeller Geltungsbereich auf ein oder mehrere Unternehmen bzw. auf einen oder mehrere Betriebe eines Unternehmens beschränkt1. Oft tritt der unternehmensbezogene VerbandsTV neben den „klassischen“ TV als sogenannter betriebsbezogener ErgänzungsTV. Unternehmensbezogene VerbandsTVe sind häufig zugleich SanierungsTVe.

5. HausTV als StrukturTV gemäß § 3 BetrVG 11

Grundsätzlich ist der Betrieb nach dem Betriebsverfassungsgesetz Anknüpfungspunkt der Betriebsratsstrukturen. Seit der Neuregelung des § 3 BetrVG zum 28.7.2001 kann jedoch von der im BetrVG vorgesehenen Normalstruktur einer Arbeitnehmervertretung abgewichen werden. Ziel des Gesetzgebers durch die Neuregelung ist es, in erster Linie den TV-Parteien flexible und weitreichende Möglichkeiten zu eröffnen, durch Vereinbarungen von der betriebsverfassungsrechtlichen Normalstruktur abzuweichen2. Die bisherigen Möglichkeiten zur Schaffung alternativer Strukturen wurden als nicht mehr ausreichend angesehen. Mögliche Strukturen sind z.B. ein unternehmenseinheitlicher Betriebsrat, die Zusammenfassung mehrerer Betriebe, die Gründung von Spartenbetriebsräten oder anderweitiger Arbeitnehmervertretungen. Der 1 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 184 ff. 2 ErfK/Koch, § 3 BetrVG Rz. 1.

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Der Arbeitgeber als Tarifvertragspartei

Rz. 13 Teil 11

TV ist regelmäßig Rechtsgrundlage für die vom Gesetz abweichende Gestaltung. Als Gestaltungsmittel nennt § 3 BetrVG ausdrücklich den TV. Im Regelfall wird ein HausTV aufgrund der größeren Sachnähe die abweichenden Regelungen beinhalten. Der Abschluss eines firmenbezogenen VerbandsTVes ist zwar möglich, doch in der Praxis eher die Ausnahme. Bei HausTVen gemäß § 3 BetrVG genügt die Tarifbindung des Arbeitgebers gemäß § 3 Abs. 2 TVG, wenn der Betrieb in den fachlichen, räumlichen und betrieblichen Geltungsbereich des TVes fällt. Die tariflichen Regelungen gelten dann auch für Außenseiter.

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B. Der Arbeitgeber als Tarifvertragspartei I. Haustariffähigkeit des Arbeitgebers Gemäß § 2 Abs. 1 TVG ist neben den Arbeitgeberverbänden auch der einzelne Arbeitgeber tariffähig. Hierdurch soll gewährleistet werden, dass die Gewerkschaften stets einen TV-Partner zur Verfügung haben1. Auch soll sich der Arbeitgeber nicht durch Nichtbeitritt zu einem Arbeitgeberverband dem TV-System entziehen können2. Die Haustariffähigkeit des einzelnen Arbeitgebers ist Teil der individuellen Privatautonomie des Art. 12 Abs. 1 GG. Die Haustariffähigkeit beruht auf gesetzlicher Anordnung und tritt kraft Gesetzes ein. Der Arbeitgeber muss weder tarifwillig sein3 noch eine soziale Mächtigkeit besitzen4 oder eine Mindestanzahl an Arbeitnehmern beschäftigen5. Durch einen Beitritt zum Arbeitgeberverband verliert der Arbeitgeber nach dem BAG nicht seine Haustariffähigkeit6. Eine Gegenauffassung plädiert in diesem Fall für einen Entzug der Tariffähigkeit7. Andere halten in diesem Fall die auf den Abschluss eines HausTVes gerichteten Arbeitskämpfe für unzulässig. Diese Auffassungen lassen sich jedoch nach dem BAG weder mit Art. 9 Abs. 3 GG noch mit § 2 Abs. 1 TVG vereinbaren8. Für die Praxis dürfte dies aufgrund der BAGRechtsprechung ohnehin nur geringe Bedeutung haben. Ist der Arbeitgeber zugleich Mitglied in einem Arbeitgeberverband, kann auch ein Verbot in der Verbandssatzung den Abschluss eines FirmenTVes nicht hindern. Der FirmenTV ist wirksam9. Der Unternehmer verstößt lediglich gegen seine Mitgliedschaftspflichten im Innenverhältnis und muss die daraus folgenden Konsequenzen, ggf. sogar den Ausschluss aus dem Verband tragen. 1 ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 20. 2 Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 78, unter Hinweis auf BVerfG v. 20.10.1980 – 1 BvR 404/78, DB 1982, 231. 3 Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 340. 4 BAG v. 20.11.1990 – 1 ABR 62/89, NZA 1991, 428. 5 BAG v. 20.11.1990 – 1 ABR 62/89, NZA 1991, 428. 6 BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, NZA 2003, 334; BAG v. 24.1.2001 – 4 AZR 655/99, NZA 2001, 788. 7 Matthes, FS Schaub, 1998, S. 483. 8 Zustimmend Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 80. 9 BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, NZA 2003, 334.

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Teil 11

Rz. 14

Haustarif

II. Begriff des Arbeitgebers 14

Als Arbeitgeber i.S.v. § 2 Abs. 1 TVG kommt jede natürliche oder juristische Person des Privatrechts sowie des öffentlichen Rechts in Betracht1. Aufgrund der neueren Rechtsprechung des BGH zur Rechtsfähigkeit von Personengesellschaften ist von der Tariffähigkeit von oHG, KG, GbR, EWIV sowie von Partnerschaftsgesellschaften auszugehen2. Auch Trägerunternehmen eines gemeinsamen Unternehmens sind als GbR tariffähig3. Hinsichtlich der BGB-Gesellschaft gilt dies jedenfalls, wenn es sich um eine Außengesellschaft handelt. Kirchen und ihre rechtlich selbständigen Gliederungen sind als Körperschaften des öffentlichen Rechts tariffähig4. Die Staatsangehörigkeit spielt keine Rolle für die Tariffähigkeit; maßgeblich ist die Beschäftigung von Arbeitnehmern im Inland5. Aufgrund ihrer Doppelstellung als Arbeitgeber und Gewerkschaft werden Bedenken gegen die Tariffähigkeit von Gewerkschaften geäußert. Dies beseitigt aber nicht deren grundsätzliche Tariffähigkeit6. Weiterhin existieren Sonderregelungen für TV-Abschlüsse, die im Zusammenhang mit der Privatisierung der Post und der Bahn erlassen wurden7.

III. Besonderheiten im Konzern 15

Ein Konzern wird überwiegend als nicht tariffähig betrachtet8. Trotzdem kann in der Praxis im Ergebnis über verschiedene rechtliche Konstruktionen eine einheitliche Tarifgeltung im Konzern erreicht werden. Zum einen kann jedes Konzernunternehmen Mitglied in demselben Arbeitgeberverband sein. Weiterhin besteht die Möglichkeit, dass alle Konzernunternehmen denselben VerbandsTV anerkennen. Schließlich können die Konzernunternehmen die Konzernobergesellschaft oder einen anderen Verhandlungsführer mit dem Abschluss eines Konzerntarifs beauftragen9.

IV. Beginn und Ende der Tariffähigkeit 16

Die Tariffähigkeit beginnt, wenn die Einstellung von Arbeitnehmern vorgesehen ist. Sie endet, wenn der Arbeitgeber als TV-Partei ersatzlos wegfällt10. Die Tariffähigkeit bleibt bestehen, wenn ein Insolvenzverfahren bei Bestehen eines 1 Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 349; ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 23; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 125 ff. 2 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 129, 130; ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 23; Däubler/ Peter, § 2 TVG Rz. 85. 3 ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 23. 4 Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 56; Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 86. 5 ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 23. 6 BAG v. 17.2.1998 – 1 AZR 364/97, NZA 1998, 754. 7 Näher Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 87. 8 ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 23; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 147; Wieland, Firmentarifverträge, Rz. 80. 9 Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 94. 10 Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 99 f.; ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 25.

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Typische Ausgangssituationen

Rz. 19 Teil 11

HausTVes eröffnet wurde. Auch der Insolvenzverwalter bleibt an bestehende HausTVe gebunden. Zudem besitzt er die Möglichkeit, mit den Gewerkschaften neue TVe abzuschließen1.

C. Typische Ausgangssituationen für Haustarifverträge Die nachfolgende Aufzählung beschreibt typische Ausgangssituationen für HausTV-Abschlüsse und zeigt auf, welche Ziele ein Unternehmen in der jeweiligen Situation verfolgt.

17

I. Post Merger Situation Als Post Merger Situation wird die Integrationsphase nach einer rechtlichen Zusammenlegung mindestens zweier Unternehmen bezeichnet. Ziel ist innerhalb dieser Phase aus Unternehmenssicht meist eine Vereinheitlichung von Prozessen und Strukturen. Denn ansonsten läuft das erwerbende Unternehmen gerade bei wiederholten Unternehmenskäufen Gefahr, mit jeder Transaktion ein neues „Arbeitsrechtsregime“ mit zu erwerben. Dies kann im Laufe der Zeit eine völlige Zersplitterung der Arbeitsvertragslandschaft zur Folge haben. Unterschiedliche Arbeitsbedingungen für unterschiedliche Mitarbeitergruppen bedeuten einen hohen Verwaltungsaufwand und sind kostenintensiv. Zudem sind einheitliche Veränderungen für alle Mitarbeiter bei einer Vielzahl unterschiedlicher Einzelregelungen schwer umsetzbar. Gerade wenn das erworbene Unternehmen tarifgebunden war, wird oftmals versucht, die bislang bestehenden tariflichen Arbeitsbedingungen im Wege eines HausTVes auf die Bedingungen des Erwerberunternehmens überzuleiten. Dann wird ein sog. ÜberleitungsTV geschlossen (zum ÜberleitungsTV s. Rz. 76 ff.).

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Fallbeispiel: Ein mittelständisches Logistikunternehmen erwirbt den zuvor in eine eigene Gesellschaft ausgegliederten Logistikbereich eines Blue-Chip-Konzerns. Zur Anpassung der Arbeitsbedingungen an die eigene Unternehmensstruktur und zur Ablösung der VerbandsTVe bzw. von HausTVen des Veräußerers soll ein HausTV geschlossen werden.

II. Outsourcing/Joint Venture-Situation In der typischen Joint Venture-Situation wird ein Teil des Unternehmens auf eine Joint Venture-Gesellschaft ausgegliedert (Outsourcing). Ziel innerhalb der Joint Venture-Situation ist häufig, die Arbeitsbedingungen in der neuen Gesellschaft zu vereinheitlichen und die Tarifstrukturen zu optimieren. Fallbeispiel: Ein Einzelhandelskonzern gliedert bundesweit seine Lebensmittelabteilungen in den Kaufhäusern auf eine Joint Venture-Gesellschaft aus. In den einzelnen Bundesländern 1 ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 26.

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Teil 11

Rz. 20

Haustarif

existieren zum Teil allgemeinverbindliche TVe. Zur Vereinheitlichung der Arbeitsbedingungen in der neuen Gesellschaft und zur Optimierung der Tarifstrukturen strebt die Konzernleitung den Abschluss eines HausTVes mit der zuständigen Gewerkschaft an.

III. Austritt aus dem Arbeitgeberverband 20

Durch den Austritt aus dem Arbeitgeberverband bezweckt ein Unternehmen es häufig, dass zukünftig weiterhin tarifvertragliche Regelungen gelten, diese allerdings vom VerbandsTV abweichen und speziell an die Bedürfnisse des Unternehmens angepasst sind. Der Arbeitgeber nutzt seine eigene Tariffähigkeit, um einen HausTV zu schließen, der unternehmensspezifische Regelungen enthält. Zwar könnte der Arbeitgeber auch bei fortbestehender Verbandsmitgliedschaft einen HausTV abschließen. Er befürchtet aber, dass er die zuständige Gewerkschaft nur mit dem Austritt aus dem Verband dazu bewegen kann, in HausTV-Verhandlungen mit ihm einzutreten. Er spekuliert darauf, dass der Abschluss eines HausTVes angesichts des Austritts aus dem Arbeitgeberverband für die Gewerkschaft das geringere Übel im Vergleich zu einem vollständigen Verlust der Tarifbindung ist. Fallbeispiel: Ein Unternehmen der Erdölindustrie tritt aus dem Arbeitgeberverband aus. Das Unternehmen hält einige Regelungen der FlächenTVe nicht für interessengerecht. Es möchte zwar weiterhin tarifliche Regelungen anwenden, bestimmte Regelungen der FlächenTVe aber abändern. Insbesondere strebt das Unternehmen eine höhere Wochenarbeitszeit an, da auch bei der Konkurrenz länger gearbeitet wird. Außerdem möchte es das Weihnachtsgeld künftig abhängig vom Unternehmenserfolg zahlen.

IV. Herauswachsen aus dem Geltungsbereich eines Flächentarifvertrages 21

Insbesondere bei Traditionsunternehmen mit langer Tarifhistorie kann das Unternehmen aufgrund der Änderung des Unternehmensgegenstandes im Laufe der Jahre aus dem fachlichen Geltungsbereich der angewendeten FlächenTVe herauswachsen. Nach ständiger Rechtsprechung des BAG gilt der Inhalt der TVe in diesem Fall in entsprechender Anwendung des § 4 Abs. 5 TVG kraft Nachwirkung für die Arbeitsverhältnisse weiter1. Allerdings ist zu beachten, dass das Herauswachsen aus dem fachlichen Geltungsbereich der FlächenTVe nicht zwangsläufig eine Tarifunzuständigkeit der Gewerkschaft zur Folge haben muss. Dies richtet sich allein nach der Satzung der jeweiligen Gewerkschaft. Die Satzung ist regelmäßig weiter als der fachliche Geltungsbereich der FlächenTVe. Fallbeispiel: Ein Unternehmen hatte früher überwiegend Produkte hergestellt, die dem Metallbereich zugeordnet sind. Über die Mitgliedschaft im Metall-Arbeitgeberverband wendet das Unternehmen die MetallTVe an. Über die Jahre ändern sich der Markt und die Produkte. 1 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 247/96, NZA 1998, 484; BAG v. 28.5.1997 – 4 AZR 546/95, NZA 1998, 40; BAG v. 18.3.1992 – 4 AZR 339/91, NZA 1992, 700.

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Typische Ausgangssituationen

Rz. 24 Teil 11

Das Unternehmen stellt die früher aus Metall gefertigten Produkte nunmehr überwiegend aus Kunststoffen her. Auch das Marktumfeld wendet nicht die MetallTVe an, sondern andere TVe. Die anderen TVe sehen insbesondere eine höhere Wochenarbeitszeit vor. Ziel des Unternehmens ist es zunächst, einen ÜberleitungsTV abzuschließen, und später die Ablösung des bisherigen VerbandsTV zu erreichen.

V. Wettbewerber hat tarifliche Vorteile Wenn ein konkurrierendes Unternehmen aufgrund fehlender Tarifbindung unter – aus Arbeitgebersicht – wesentlich günstigeren Bedingungen arbeiten kann (z.B. 40-Stunden-Woche im Vergleich zu einer 35-Stunden-Woche), hält sich möglicherweise das tarifgebundene Unternehmen für nicht mehr konkurrenzfähig. Durch den Abschluss eines HausTVes, der die Senkung der Personalkosten beinhaltet, soll die Wettbewerbsfähigkeit gesichert werden.

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Fallbeispiel: Die tarifgebundene X-AG stellt Spritzgussmaschinen her und fällt unter den Geltungsbereich der Metall-VerbandsTVe. Der unmittelbare Hauptwettbewerber, die W-GmbH, ist nicht tarifgebunden und beschäftigt ihre Belegschaft zu untertariflichen Bedingungen. Die X-AG strebt einen HausTV an, um die Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen.

VI. Standortfrage Eine weitere typische Ausgangslage für HausTV-Verhandlungen liegt vor, wenn der Unternehmer vor der Entscheidung steht, entweder den Betrieb aufgrund hoher Produktionskosten teilweise zu schließen und künftig im Ausland zu produzieren oder, um am bisherigen Standort festzuhalten, die Arbeitnehmer zu untertariflichen Konditionen (gegenüber dem VerbandsTV) weiter zu beschäftigen. Er strebt dann den Abschluss eines HausTVes zur Kostensenkung und zur Sicherung der Arbeitsplätze am Standort an.

23

Fallbeispiel: Die W-AG (1 200 Arbeitnehmer) hat Berechnungen angestellt, wonach die Produktion in China um 60 % kostengünstiger erfolgen könnte. Die deutsche Geschäftsleitung will den Standort durch ein Kosteneinsparungsprogramm halten und eine Betriebsschließung verhindern. Zur Senkung der Personalkosten und zur Verhinderung der Standortschließung strebt die Geschäftsleitung einen HausTV an.

VII. Umstrukturierung Bei Umstrukturierungen innerhalb von Konzernen oder Unternehmensgruppen kann es z.B. infolge der Zusammenlegung von Standorten zu uneinheitlichen Arbeitsbedingungen innerhalb der Gesellschaft kommen. Dann können HausTVe dazu dienen, die Arbeitsbedingungen zu vereinheitlichen. Fallbeispiel: Eine Unternehmensgruppe der Automobilzulieferindustrie legt in Deutschland mehrere Werke zusammen und fusioniert die ehemals eigenständigen Gesellschaften auf eine ein-

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Teil 11

Rz. 25

Haustarif

heitliche Gesellschaft. Für alle Mitarbeiter der deutschen Gesellschaft sollen einheitliche Arbeitsbedingungen gelten.

VIII. Unternehmen in der Krise 25

Steht ein Unternehmen kurz vor der Zahlungsunfähigkeit, dient der Abschluss eines HausTVes vor allem der kurzfristigen Kostensenkung und Liquiditätssicherung. Der HausTV dient in dieser Situation als SanierungsTV. Fallbeispiel: Die L-GmbH, ein bundesweit tätiger Tiefkühllieferant, steht kurz vor der Zahlungsunfähigkeit. Die Banken drohen mit einer Fälligstellung der Kredite, wenn nicht innerhalb kurzer Zeit ein bestimmtes Einsparungsvolumen erreicht werden kann. Einen wesentlichen Teil stellen Einsparungen von Personalkosten dar. Ein HausTV ist Teil eines Gesamtsanierungskonzepts. Der HausTV wird unter Einbeziehung der Banken konzipiert und umgesetzt. Weiterhin werden Gesamt- und Konsolidierungsvereinbarungen unter Beteiligung der Betriebsräte geschlossen. Mit dem HausTV sollen kurzfristige Kostensenkungen erzielt werden, um das Unternehmen zu retten.

D. Wirkung/Geltung des Haustarifvertrages I. Normative Geltung des Haustarifvertrages kraft beiderseitiger Tarifbindung 26

Die Rechtsnormen des TVes entfalten grundsätzlich – mit Ausnahme der Betriebsnormen und Betriebsverfassungsnormen – nur bei beiderseitiger Tarifbindung unmittelbare und zwingende Wirkung, d.h. wenn der Arbeitgeber tarifgebunden und der Arbeitnehmer Mitglied in der tarifschließenden Gewerkschaft ist (§ 3 Abs. 1 TVG). Die alleinige Tarifbindung des Arbeitgebers ist nicht ausreichend. Ausnahmsweise tritt im Falle der Allgemeinverbindlicherklärung gemäß § 5 TVG eine Tarifbindung für den Arbeitnehmer auch ohne Gewerkschaftszugehörigkeit ein. Die Allgemeinverbindlichkeit ist im Grundsatz auch für HausTVe möglich. Eine Allgemeinverbindlichkeit bei HausTVen kommt in der Praxis aber aufgrund der Voraussetzungen von § 5 TVG soweit ersichtlich nicht vor1.

II. Schuldrechtliche Geltung kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahme 27

Bei fehlender beiderseitiger Tarifbindung kann der TV durch eine Bezugnahmeklausel Geltung für das jeweilige Arbeitsverhältnis erlangen. Bei einer arbeitsvertraglicher Bezugnahme wirken die tariflichen Regelungen schuldrechtlich. Ihnen kommt keine normative Wirkung zu. Umfang und Wirkung der Bezugnahmeklausel ist jeweils durch Auslegung der gewählten Formulierung zu er1 Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 198.

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Wirkung/Geltung des Haustarifvertrages

Rz. 30 Teil 11

mitteln (dazu ausführlich Teil 10 Rz. 24 ff.). Die Formulierung von Bezugnahmeklauseln hat erhebliche praktische Bedeutung (s. Rz. 94 ff.).

III. Tarifzuständigkeit der Gewerkschaft Die Wirksamkeit eines HausTVes setzt – wie beim VerbandsTV – die Tarifzuständigkeit der tarifschließenden Gewerkschaft gemäß § 2 Abs. 1 TVG voraus. Die Tarifzuständigkeit bestimmt den Geschäftsbereich, innerhalb dessen die Gewerkschaft TVe abschließen kann. Die Tarifzuständigkeit einer Gewerkschaft richtet sich nach der Satzung der jeweiligen Gewerkschaft1. Schließt ein Arbeitgeber einen HausTV mit einer unzuständigen Gewerkschaft ab, so ist dieser TV unwirksam. Zu praxisrelevanten Fragestellungen bei der Vorbereitung von HausTV-Verhandlungen im Zusammenhang mit der Tarifzuständigkeit s. Rz. 81 ff.

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IV. Beginn und Ende der zwingenden Tarifgeltung, insb. Auswirkungen des Verbandsaustritts bzw. des Wechsels zur OT-Mitgliedschaft 1. Auswirkungen des Verbandsaustritts bzw. des Wechsels zur OT-Mitgliedschaft Auch bei HausTVen endet die Tarifbindung des Arbeitgebers grundsätzlich nicht mit dem Austritt aus dem Arbeitgeberverband. Gemäß § 3 Abs. 3 TVG bleibt die Tarifgebundenheit im Falle des Verbandsaustritts bzw. des Wechsels zur OT-Mitgliedschaft zunächst bestehen (sog. Nachbindungsphase, s. ausführlich Teil 6 Rz. 61 ff.). Erst mit Ende des TVes beginnt die Nachwirkung des HausTV gemäß § 4 Abs. 5 TVG, d.h. die Rechtsnormen wirken nicht mehr unmittelbar und zwingend und können durch eine andere Abmachung ersetzt werden.

29

2. Beendigung im Sinne des § 3 Abs. 3 TVG2 In Betracht kommen unterschiedliche Beendigungstatbestände. Dies sind insbesondere: Befristung, Bedingung, Aufhebungsvertrag sowie ordentliche und außerordentliche Kündigung. Auch der Verlust der Tariffähigkeit einer TV-Partei kann zur Beendigung des TVes führen3. Zu praxisrelevanten Fragestellungen im Zusammenhang mit der Beendigung s. Rz. 91 ff., zur Frage der Nachwirkung bei AnerkennungsTVen s. Rz. 64 ff.

1 BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 4/96, NZA 1997, 613; BAG v. 12.11.1996 – 1 ABR 33/96, NZA 1997, 609. 2 S. ausführlich Teil 3: Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages. 3 Vgl. BAG v. 28.5.1997 – 4 AZR 546/95, NZA 1998, 40; kritisch: Buchner, RdA 1997, 259 (264).

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Teil 11

Rz. 31

Haustarif

E. Verhältnis zum Verbandstarifvertrag 31

Das Verhältnis eines HausTVes zu anderen TVen ist gesetzlich nicht geregelt. Maßgeblich für die Praxis sind die vom BAG entwickelten Grundsätze.

I. Arbeitgeber kein Verbandsmitglied 32

Ist der haustarifvertragsschließende Arbeitgeber kein Mitglied in einem Arbeitgeberverband, besteht keine Konkurrenz zwischen dem FlächenTV und dem HausTV, da es an einer Tarifbindung des Unternehmens fehlt. Hier kann sich die Frage einer Konkurrenz nur im Verhältnis des HausTVes zu Betriebsvereinbarungen und einzelvertraglichen Regelungen stellen.

II. Verbandsangehöriger Arbeitgeber 1. Abschluss mit Gewerkschaft des FlächenTVes 33

Ist der Arbeitgeber Mitglied in einem Arbeitgeberverband und schließt er mit der Gewerkschaft des FlächenTVes einen HausTV, muss unterschieden werden, ob der HausTV im zeitlichen Geltungsbereich des VerbandsTVes geschlossen wurde oder ob der VerbandsTV bereits geendet hat und nur noch i.S.v. § 4 Abs. 5 TVG nachwirkt.

a) Während der zwingenden Geltung des FlächenTVes 34

Wird ein HausTV während der Laufzeit des FlächenTVes abgeschlossen, kommt es hinsichtlich der tarifgebundenen Arbeitnehmer zu einer Tarifkonkurrenz. Tarifkonkurrenz bedeutet, dass ein Arbeitsverhältnis gleichzeitig durch mehrere TVe mit sich überschneidenden Regelungsbereichen normativ geregelt wird1. Bei der Auflösung der Tarifkonkurrenz gilt im Verhältnis von HausTVen und VerbandsTVen bei Beteiligung derselben Gewerkschaft der Spezialitätsgrundsatz (s. hierzu Teil 9 Rz. 75). Der HausTV geht dem FlächenTV als die speziellere Regelung stets vor2. Weitere Fälle der Tarifkonkurrenz, die über den Spezialitätsgrundsatz gelöst werden, sind: Verbandswechsel des Arbeitgebers bei Zuständigkeit der gleichen Gewerkschaft, Konkurrenz eines für allgemeinverbindlich erklärten FlächenTVes mit einem HausTV bei Zuständigkeit der gleichen Gewerkschaft. Kein Fall der Tarifkonkurrenz liegt vor, wenn ein normativ geltender TV mit einer schuldrechtlichen Geltung von Tarifnormen aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahme kollidiert3.

1 BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, NZA 1991, 736; BAG v. 14.9.1989 – 4 AZR 200/89, DB 1990, 129. 2 BAG v. 4.4.2001 – 4 AZR 237/00, NZA 2001, 1085. 3 BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 784/07, NZA 2009, 151; unter Aufgabe der dem widersprechenden Entscheidung des BAG v. 23.3.2005 – 4 AZR 203/04, NZA 2005, 1003.

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Verhältnis zum Verbandstarifvertrag

Rz. 37 Teil 11

b) Nach Ablauf des FlächenTVes Gemäß § 4 Abs. 5 TVG gelten die Rechtsnormen eines TVes nach dessen Ablauf solange weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden1. Schließt der Arbeitgeber im Nachwirkungszeitraum eines VerbandsTVes einen HausTV mit der Gewerkschaft, die mit dem Arbeitgeberverband den abgelaufenen VerbandsTV abgeschlossen hat, so ersetzt der HausTV als andere Abmachung die nachwirkenden Normen des FlächenTVes2.

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2. Abschluss mit anderer Gewerkschaft Ist der Arbeitgeber Mitglied in einem Arbeitgeberverband und schließt er mit einer Gewerkschaft einen HausTV, die nicht zugleich Partei des einschlägigen FlächenTVes ist, muss ebenfalls unterschieden werden, ob der FlächenTV noch zwingend gilt oder ob der HausTV erst nach Ablauf des FlächenTVes zustande gekommen ist.

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a) Während der Laufzeit des FlächenTVes Anders als bei dem Abschluss des HausTVes mit der gleichen Gewerkschaft besteht hier eine sog. Tarifpluralität, die im Regelfall keine Tarifkonkurrenz für das einzelne Arbeitsverhältnis zur Folge hat. Eine Tarifpluralität liegt vor, wenn ein Arbeitgeber an mehrere TVe gebunden ist, sei es aufgrund von Verbandsmitgliedschaft oder Gesetz. Zu einer Tarifkonkurrenz wird die Tarifpluralität erst, wenn ein Arbeitsverhältnis gleichzeitig durch mehrere TVe geregelt wird, was bei Abschluss des HausTVes mit einer anderen Gewerkschaft unwahrscheinlich ist – dann müsste ein Arbeitnehmer Mitglied in beiden Gewerkschaften sein. Bislang löste das BAG auch die Tarifpluralität nach den Grundsätzen der Spezialität. Nur der speziellere TV sollte zur Anwendung kommen. Demnach würde der HausTV dem FlächenTV vorgehen3. Mit der Rechtsprechungsänderung vom 7.7.2010 vollzog das BAG jedoch die Abkehr vom Grundsatz der Tarifeinheit, sodass eine Tarifpluralität in einem Unternehmen grundsätzlich möglich sein soll4. Damit löst das BAG eine Tarifpluralität, die nicht gleichzeitig eine Tarifkonkurrenz begründet, grundsätzlich nicht mehr auf. Unter Anwendung dieser Grundsätze ergibt sich für die Praxis Folgendes: Schließt ein an einen VerbandsTV gebundener Arbeitgeber mit einer anderen Gewerkschaft einen HausTV ab, gilt dieser normativ für alle Arbeitnehmer, die Mitglied in der tarifschließenden Gewerkschaft sind. Neben dem HausTV gilt jedoch der VerbandsTV für die Arbeitnehmer weiter, die Mitglieder in der verbandstarifvertragsabschließenden Gewerkschaft sind. HausTV und FlächenTV gelten somit nebeneinander.

1 BAG v. 4.4.2001 – 4 AZR 237/00, NZA 2001, 1085; s. hierzu näher Teil 9: Wirkungen der Tarifnormen. 2 BAG v. 20.4.2005 – 4 AZR 288/04, NZA 2005, 1360. 3 BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, NZA 1991, 736. 4 BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068; s. hierzu Teil 9: Wirkungen der Tarifnormen.

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Teil 11

Rz. 38

Haustarif

b) Nach Ablauf des FlächenTVes 38

Auch hier gilt der FlächenTV solange weiter, bis die tariflichen Regelungen durch eine andere Abmachung ersetzt werden. Das BAG stellte mit Urteil vom 28.5.19971 fest, dass ein HausTV, der mit einer anderen Gewerkschaft abgeschlossen wurde, keine „andere Abmachung“ im Sinne des § 4 Abs. 5 TVG sei und somit die bestehenden tariflichen Regelungen nicht ersetzen könne. Auch hier gelten HausTV und FlächenTV somit nebeneinander für die jeweils unterschiedlich gebundenen Arbeitnehmer.

F. Verhältnis zu anderen Haustarifverträgen I. Abschluss eines anderen Haustarifvertrages mit derselben Gewerkschaft 1. Während der Laufzeit des anderen Haustarifvertrages 39

Schließt der Arbeitgeber mit der Gewerkschaft, mit der er bereits einen HausTV abgeschlossen hat, einen neuen HausTV mit sich überschneidenden Regelungsbereichen, gilt die sogenannte Zeitkollisionsregel (s. hierzu Teil 9 Rz. 74). Der neuere TV geht dem älteren TV vor. Er löst den älteren HausTV ab.

2. Nach Ablauf des anderen HausTVes 40

Der neue HausTV ersetzt bei sich überschneidenden Regelungsgegenständen gemäß § 4 Abs. 5 TVG den alten HausTV und beendet die Nachwirkung.

II. Abschluss eines anderen Haustarifvertrages mit einer anderen Gewerkschaft 1. Während der Laufzeit des anderen HausTVes 41

Schließt der Arbeitgeber bei einem bereits bestehenden HausTV einen anderen HausTV mit einer anderen Gewerkschaft, besteht zwischen den beiden HausTVen Tarifpluralität, sodass sie grundsätzlich beide nebeneinander gelten. Im unwahrscheinlichen Fall einer Doppelmitgliedschaft eines Arbeitnehmers in beiden tarifschließenden Gewerkschaften liegt kommt es zu einer Tarifkonkurrenz. Es ist dann zu entscheiden, welcher TV das Arbeitsverhältnis spezieller regelt. Es setzt sich der TV durch, der dem Betrieb räumlich, betrieblich, fachlich und persönlich am nächsten steht und deshalb den Erfordernissen und Eigenarten des Betriebs am ehesten gerecht wird2.

1 BAG v. 28.5.1997 – 4 AZR 546/95, NZA 1998, 40. 2 St. Rspr., BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, NZA 1991, 736.

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Verhältnis zu Betriebsvereinbarungen

Rz. 44 Teil 11

2. Nach Ablauf des anderen HausTVes Der neue TV kann den alten TV nicht ersetzen, da es an einer „anderen Abmachung“ im Sinne des § 4 Abs. 5 TVG fehlt. Beide HausTVe gelten nebeneinander.

42

G. Verhältnis zu Betriebsvereinbarungen I. Grundsatz: Tarifvorrang und Tarifvorbehalt Im Verhältnis von HausTVen und Betriebsvereinbarungen gilt grundsätzlich nichts anderes als auch für das Verhältnis von VerbandsTVen zu Betriebsvereinbarungen (s. hierzu Teil 9 Rz. 218 ff.). Es gilt gemäß § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG der Tarifvorbehalt, ferner der Tarifvorrang des § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG. Das BAG hat die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG ausdrücklich auch bei Tarifbindung des Arbeitgebers an einen HausTV anerkannt1. Die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie werde auch dann beeinträchtigt, wenn der selbst tarifschließende Arbeitgeber nunmehr mit dem betrieblichen Vertragspartner andere oder ergänzende Regelungen treffen will. Zweck des § 77 Abs. 3 BetrVG sei die Sicherung des Vorrangs der aktualisierten Tarifautonomie2. (Übliche) Regelungen eines HausTVes können daher grundsätzlich nicht gleichzeitig in einer Betriebsvereinbarung getroffen werden, außer bei Vorliegen einer betrieblichen Öffnungsklausel oder bei fehlender Tarifbindung des Arbeitgebers nach der Vorrangtheorie im Geltungsbereich der zwingenden Mitbestimmung nach § 87 BetrVG. Das Günstigkeitsprinzip gemäß § 4 Abs. 3 TVG gilt im Verhältnis TV und Betriebsvereinbarung nicht3. Erfolgt eine Regelung im HausTV, wird die Betriebsvereinbarung grundsätzlich unwirksam. Im Verhältnis HausTV und Betriebsvereinbarung ist weiter zu beachten, dass sich die Sperre für die Betriebsvereinbarung aufgrund von Tarifbindung oder Tarifüblichkeit durch VerbandsTVe erweitern kann. Unwirksam sind Betriebsvereinbarungen über einen tariflich (üblicherweise) geregelten Gegenstand nicht nur, wenn bei ihrem Zustandekommen entsprechende TVe bereits bestanden. Die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 BetrVG wirkt auch dann, wenn entsprechende Tarifbestimmungen erst später in Kraft treten.

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II. Öffnungsklauseln Durch Öffnungsklauseln im HausTV ist es dem Arbeitgeber und dem Betriebsrat gemäß § 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG trotz bestehender Regelungen im HausTV möglich, ergänzende Regelungen in einer Betriebsvereinbarung aufzustellen. Der Begriff der Ergänzung ist weit auszulegen, sodass auch vom TV abweichende Betriebsvereinbarungen und auch untertarifliche Regelungen zugelassen werden können4. 1 2 3 4

BAG v. 21.1.2003 – 1 ABR 9/02, NZA 2003, 1097. BAG v. 21.1.2003 – 1 ABR 9/02, NZA 2003, 1097. BAG v. 21.1.2003 – 1 ABR 9/02, NZA 2003, 1097. ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 60 m.w.N.

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Teil 11 45

Rz. 45

Haustarif

Öffnungsklauseln haben oftmals einen strategischen Hintergrund. Bei gewerkschaftspolitisch brisanten Themen können es die TV-Parteien als vorzugswürdig betrachten, das Thema auf die betriebliche Ebene zu verlagern und somit die politische Situation zu entschärfen. Ferner können Öffnungsklauseln auch vereinbart werden, weil Regelungen auf betrieblicher Ebene flexibler und schneller geändert werden können als ein HausTV. Dies kann je nach Thematik im Interesse aller Parteien gewünscht sein. Schließlich ist der Betriebsrat bei bestimmten Themen häufig sachnäher. Auch wenn eine Thematik sehr komplex ist, z.B. Arbeitszeitsysteme, würde eine abschließende tarifliche Regelung den zeitlichen Rahmen von Tarifverhandlungen oftmals sprengen. Dann kann es sich anbieten, Eckpfeiler im HausTV festzulegen und die weitere Ausgestaltung der Regelung auf die betriebliche Ebene zu verlagern. Aus Arbeitgebersicht ist bei Öffnungsklauseln dennoch Vorsicht geboten. Wenn die Arbeitgeberseite anstrebt, mit dem HausTV die Befriedung einer Streitsituation zu erreichen, besteht das Risiko, dass der Konflikt später auf betrieblicher Ebene wieder aufbricht.

H. Verhältnis zum Arbeitsvertrag I. Arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln 46

Vielfach verweisen Arbeitsverträge auf tarifliche Regelungen. Dann stellt sich die Frage der Rechtswirksamkeit solcher Bezugnahmen und deren Verhältnis zum Tarifrecht. Insoweit wird auf die ausführliche Darstellung in Teil 10 verwiesen. Nachfolgend sind die wesentlichen für die Praxis relevanten Grundsätze zusammengefasst: Terminologisch wird zunächst zwischen statischen und dynamischen Bezugnahmeklauseln unterschieden. Bezieht sich die Klausel auf einen bestimmten TV in einer genauen Fassung, handelt es sich um eine statische Bezugnahmeklausel. Wird dagegen auf einen bestimmten TV oder ein näher bezeichnetes Tarifwerk in seiner jeweils geltenden Fassung hingewiesen, spricht man von einer sogenannten kleinen dynamischen Bezugnahmeklausel. Eine große dynamische Klausel liegt vor, wenn auf den jeweils für den Betrieb oder das Unternehmen geltenden TV verwiesen wird.

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Bis zum Jahr 2005 interpretierte das BAG1 die dynamischen Bezugnahmeklauseln als sogenannte Gleichstellungsabrede. Dies bedeutet, dass der tarifgebundene Arbeitgeber regelmäßig den Arbeitnehmer ungeachtet seiner Gewerkschaftszugehörigkeit so stellen will, als sei dieser tarifgebunden. Dies führte in der Praxis insbesondere dazu, dass nach einem Verbandsaustritt die FlächenTVe auch für Nicht-Gewerkschaftsmitglieder mit einer kleinen dynamischen Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag „eingefroren“ wurde.

48

Mit dem Urteil vom 14.12.20052 änderte das BAG seine Rechtsprechung für ab dem 1.1.2002 abgeschlossene Arbeitsverträge. Die Auslegungsregel der Gleichstellungsabrede sei nicht mehr anzuwenden, stattdessen wendet das BAG bei 1 Vgl. BAG v. 4.8.1999 – 5 AZR 642/98, NZA 2000, 154; BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, NZA 2002, 634. 2 Vgl. BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, NZA 2006, 607.

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Verhältnis zum Arbeitsvertrag

Rz. 51 Teil 11

Auslegungszweifeln die Unklarheitsregel des § 305c Abs. 2 BGB an. Für vor dem 1.1.2002 abgeschlossene Arbeitsverträge gewährt das BAG einen Vertrauensschutz und wendet die früheren Rechtsprechungsgrundsätze weiterhin an. Zur Auslegung von Bezugnahmeklauseln vgl. ausführlich Teil 10. Aufgrund der geänderten Rechtsprechung ist eine der meistgestellten Frage in der Praxis, ob kleine dynamische Bezugnahmeklauseln, die auf einen konkret bezeichneten VerbandsTV verweisen, automatisch einen für den Arbeitgeber geltenden HausTV mit in Bezug nehmen, der sodann tarifrechtlich dem VerbandsTV vorgeht. Insbesondere bei SanierungsTVen stellt sich die Frage, ob ein SanierungsTV rechtsverbindlich für die Arbeitnehmer ist, oder ob die arbeitsvertragliche Bezugnahmeklausel den SanierungsTV bei Neuklauseln ins Leere laufen lässt.

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Die ältere Rechtsprechung des BAG legt dynamische Altklauseln (= vor dem 1.1.2002 vereinbarte Klauseln) so aus, dass eine Verweisung auf den einschlägigen VerbandsTV eines tarifgebundenen Arbeitgebers einen später abgeschlossenen HausTV mit umfasst. Angesichts der strengen Anforderung der neuen Rechtsprechung erscheint eine solche Auslegung fraglich. Henssler1 vertritt die Auffassung, dass zumindest dann, wenn der FirmenTV von der Gewerkschaft der einschlägigen VerbandsTVe abgeschlossen wird, auch bei Neuklauseln der Vorrang des FirmenTVes gelte. Dieses Ergebnis lasse sich zwanglos durch Auslegung der Klausel gewinnen. Nach dem Parteiwillen sei es selbstredend, dass auch die Außenseiter von dem SanierungsTV erfasst werden sollen. Dem Arbeitnehmer sei klar, dass sich der Arbeitgeber an die von der zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses zuständigen Gewerkschaft gestalteten Arbeitsbedingungen halten möchte. Schließt der Arbeitgeber hingegen einen HausTV mit einer anderen Gewerkschaft, dann wird eine Auslegung im Sinne einer Gültigkeit des HausTVes nur dann möglich sein, wenn die Neuklausel entsprechend eindeutig gestaltet ist, sodass deutlich wird, dass dem FirmenTV Vorrang vor einem VerbandsTV gebühren soll.

50

Für die Praxis empfiehlt sich aufgrund der geänderten Rechtsprechung eine Formulierung, die die Inbezugnahme eines potentiellen HausTVes ausreichend klar berücksichtigt.

II. Sonstige einzelvertragliche Zusagen Neben Bezugnahmeklauseln können im Arbeitsvertrag weitere vorteilhafte Regelungen enthalten sein, die einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen durch einen HausTV, der z.B. als SanierungsTV das Unternehmen vor der Zahlungsunfähigkeit schützen soll, entgegenstehen. Dem Arbeitnehmer kann zum einen einzelvertraglich eine übertarifliche Vergütungszusage gewährt werden, die aufgrund des Günstigkeitsprinzips gemäß § 4 Abs. 3 TVG (näher dazu Teil 9 Rz. 140 ff.) auch eingehalten werden muss, zum anderen können z.B. qua betrieblicher Übung dem Arbeitnehmer Weihnachts- und Urlaubsgeldansprüche zustehen. 1 S. Teil 10 Rz. 81.

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Teil 11

Rz. 52

Haustarif

J. Streikrecht I. Erstreikbarkeit von Haustarifverträgen 1. Rechtsprechung des BAG 52

Nach der Rechtsprechung des BAG ist es den Gewerkschaften grundsätzlich gestattet, für den Abschluss eines HausTVes zu streiken. Hier gilt zunächst nichts anderes als bei Arbeitskampfmaßnahmen für den Abschluss eines VerbandsTVes. Das BAG stellt in seinem Urteil vom 10.12.20021 fest, dass allein der Umstand, dass die Gewerkschaft den Abschluss eines HausTVes erstreiken will, nicht zur Rechtswidrigkeit eines Streiks führe. Maßgeblich seien allein die Maßstäbe, die für jeden Arbeitskampf gelten2. Die Rechtmäßigkeit eines Streiks um einen FirmenTV ist daher nach den allgemein geltenden Grundsätzen zu beurteilen. Das BAG3 geht weiterhin davon aus, dass nicht schon allein das Gebot der Arbeitskampfparität der Zulässigkeit eines Streiks um einen HausTV entgegensteht.

53

Der Streik um den Abschluss eines HausTVes ist auch nicht bereits deshalb rechtswidrig, weil der Arbeitgeber aufgrund der Satzung seines Arbeitgeberverbandes dazu verpflichtet ist, keine HausTVe abzuschließen. Dieses Verbot gilt lediglich im Innenverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitgeberverband und hat auf das Außenverhältnis zu Dritten keine Auswirkungen. Die Tariffähigkeit des Arbeitgebers ist nicht disponibel.

2. Gegenauffassungen 54

Die Auffassung des BAG ist umstritten. Das LAG Schleswig-Holstein4 und ein Teil der Literatur5 verneinen grundsätzlich die Zulässigkeit eines gegenüber dem Vollmitglied eines Arbeitgeberverbands zur Erzwingung eines FirmenTVes geführten Streiks. Begründet wird diese Auffassung unter anderem damit, dass es zur Schutzfunktion einer Arbeitgeberkoalition gehöre, ihre Mitglieder vor gezielten Streiks um UnternehmensTVe bewahren zu können. Zwar bestimme § 2 Abs. 1 TVG die Tariffähigkeit des einzelnen Arbeitgebers, daraus folge jedoch nicht, dass die Tariffähigkeit des Arbeitgebers mit dem Beitritt in den Arbeitgeberverband erhalten bliebe6. Matthes vertritt, dass mit dem Eintritt in den Arbeitgeberverband die Tariffähigkeit des Arbeitgebers entbehrlich werde und nur noch der Abschluss firmenbezogener TVe möglich sei7. Des Weiteren wird auf die Entstehungsgeschichte des § 2 Abs. 1 TVG verwiesen. 1 BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, RdA 2003, 356. 2 So auch: LAG Düsseldorf v. 31.7.1985 – 13 Sa 1082/85, BB 1986, 807; LAG Köln v. 14.6.1996 – 4 Sa 127/96, NZA 1997, 327; Hensche, RdA 1971, 9 (9 ff.); Jacobs, ZTR 2001, 249 (252 f.). 3 BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, RdA 2003, 356. 4 Vgl. LAG Schleswig-Holstein v. 25.11.1999 – 4 Sa 584/99, NZA-RR 2000, 143. 5 Vgl. Buchner, DB 1970, 2025; Krichel, NZA 1986, 731; Lieb, DB 1999, 2058; Reuter, NZA 2001, 1097; Schleusener, NZA 1998, 239. 6 Vgl. LAG Schleswig-Holstein v. 25.11.1999 – 4 Sa 584/99, NZA-RR 2000, 143. 7 Vgl. Matthes, FS Schaub, 1998, S. 477 ff.

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Streikrecht

Rz. 57 Teil 11

Auch wenn das TV-System den Arbeitgebern und den Arbeitgeberverbänden die Tariffähigkeit verliehen habe, wollte der Gesetzgeber damit nicht zum Ausdruck bringen, dass ihm es als Ideal vorschwebe, wenn jeder einzelne Arbeitgeber sich als Tarifkontrahent betätige. Die Tariffähigkeit sei lediglich eine Ausnahme für diejenigen Arbeitgeber, die aus irgendwelchen Gründen in keinen Arbeitgeberverband eingetreten seien. Nur um den besonderen Bedürfnissen dieser Arbeitgeber gerecht zu werden, sehe das Gesetz die Tariffähigkeit auch des einzelnen Arbeitgebers vor. Das BAG wendet in seiner Entscheidung vom 10.12.20021 dagegen ein: Eine Differenzierung nach der Verbandszugehörigkeit des Arbeitgebers sehe der Wortlaut des § 2 Abs. 1 TVG gerade nicht vor. Ebenfalls spreche die Gesetzessystematik gegen eine differenzierende Annahme. In § 54 Abs. 3 Nr. 1 HandwO sei die Tariffähigkeit der Handwerksinnungen ausdrücklich auf die Fälle beschränkt, in denen der Innungsverband nach § 82 Abs. 2 Nr. 3 HandwO keinen einschlägigen TV abgeschlossen habe. Eine solche subsidiäre Regelung sehe das TVG hingegen gerade nicht vor2. Zudem verbiete der Sinn und Zweck des § 2 Abs. 1 TVG eine Differenzierung. Zutreffend sei zwar, dass dieser der effektiven Verwirklichung der Tarifautonomie diene, indem verhindert werde, dass sich der Arbeitgeber der Tarifbindung entziehe. Auch entfiele dieser Zweck, wenn der Arbeitgeber Mitglied eines Arbeitgeberverbands sei, doch rechtfertige dies keinen Ausschluss der Tariffähigkeit des einzelnen Arbeitgebers. Die Tariffähigkeit des einzelnen Arbeitgebers gehöre vielmehr zu dessen durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützter Betätigungsfreiheit3. Durch den Ausschluss der Tariffähigkeit bei Beitritt zu einem Arbeitgeberverband sei diese Freiheit eingeschränkt. Ein Arbeitgeber könne nicht mehr selbstständig TVe abschließen, auch wenn er es wollte.

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3. Unzulässige Streikziele Sowohl der Streik gegen einen Arbeitgeber mit dem Ziel, ihn zum Austritt aus dem Arbeitgeberverband zu zwingen, als auch der Streik mit dem Ziel, ihn aus der Tarifgemeinschaft der Verbandsmitglieder „herauszubrechen“4, verstoßen gegen Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG. Könnte die Gewerkschaft solche Ziele verfolgen, liefe der Schutz der Verbandsmitgliedschaft leer, wenn die Teilnahme an der Koalitionsbetätigung nicht geschützt wird5.

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II. Friedenspflicht Der verbandsangehörige Arbeitgeber ist nach dem BAG durch die sich aus den VerbandsTVen ergebende Friedenspflicht gegen einen Streik geschützt, der auf den Abschluss von FirmenTVen über dieselbe Regelungsmaterie gerichtet ist. Der TV sei in seinem schuldrechtlichen Teil, zu dem die Friedenspflicht gehöre, zugleich ein Vertrag zugunsten Dritter und schütze die Mitglieder der TV1 2 3 4 5

BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, RdA 2003, 356. Jacobs, ZTR 2001, 249 (250); Rieble, NZA 2000, 225 (229). BAG v. 20.11.1990 – 1 ABR 62/89, NJW 1991, 1699. Reuter, NZA 2001, 1097 (1102). Buchner, DB 1970, 2074 (2078 f.).

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Teil 11

Rz. 58

Haustarif

Parteien davor, hinsichtlich der tariflich geregelten Materie mit Arbeitskampfmaßnahmen überzogen zu werden1. Dies gelte auch, wenn gegenüber einem verbandsangehörigen Arbeitgeber ein FirmenTV erstreikt werden soll2. Auch wenn der Arbeitgeber über Jahre hinweg nur HausTVe abgeschlossen hat, kann er sich weiterhin auf die Friedenspflicht des VerbandsTVes berufen. Dies folgt aus dem Recht der positiven Koalitionsfreiheit. Das Mitglied einer Koalition darf auch am Schutz derselben teilhaben. Eine Verwirkung dieses Rechts ist ausgeschlossen. Außerhalb der Regelungsgegenstände des VerbandsTVes gilt die Friedenspflicht nicht. Praktische Bedeutung hat dies insbesondere für das Recht der Gewerkschaft zur Erstreikung eines Tarifsozialplans bei bestehender Tarifbindung an einen VerbandsTV; zum Tarifsozialplan s. Teil 12 Rz. 120 ff.

K. Praxisrelevante Fragestellungen bei Anerkennungstarifverträgen I. Begriff 58

Mit einem AnerkennungsTV vereinbart ein in der Regel nicht tarifgebundener Arbeitgeber mit der zuständigen Gewerkschaft kein eigenes Tarifwerk, sondern vereinbart die Geltung eines oder mehrerer anderer TVe. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts schließt die Tarifautonomie die Möglichkeit ein, in einem TV auf jeweils andere Tarifnormen zu verweisen3. Grenzen hinsichtlich der Verweisung sieht das BAG bei einer Aufgabe des Kernbereichs der Normsetzungsbefugnis. Diese liegt etwa bei Vereinbarung einer Unkündbarkeit der Verweisungsnorm oder einer besonders langen Laufdauer oder Kündigungsfrist vor4.

59

AnerkennungsTVe sind in der Praxis sehr verbreitet. Im Zusammenhang mit dem Abschluss von AnerkennungsTVen sind in der Praxis insbesondere die nachfolgenden Fragestellungen von Bedeutung.

II. Umfang der Anerkennung 60

Der Umfang der Anerkennung ist unterschiedlich: Denkbar ist die Verweisung auf das fachlich einschlägige TV-Werk. Zulässig ist aber auch die Anerkennung nur einzelner der einschlägigen FlächenTVe, die Anerkennung der einschlägigen TVe mit bestimmten unternehmensspezifischen Abweichungen oder die Anerkennung eines branchenfremden Tarifwerks bzw. einzelner branchenfremder TVe. Um den Umfang der Anerkennung klarzustellen, ist es in der Praxis üblich, in der Anlage zum AnerkennungsTV eine Auflistung der TVe zu vereinbaren. Dieses Vorgehen bietet sich ferner an, wenn bei der Übernahme eines Flächentarifwerks einer Branche bestehend aus einer Vielzahl von TVen einzelne TVe von der Geltung ausgenommen werden sollen. 1 2 3 4

BAG v. 31.10.1958 – 1 AZR 632/57. So auch v. Hoyningen-Huene, ZfA 1980, 453 (466); Jacobs, ZTR 2001, 249 (254). BAG v. 16.6.2010 – 4 AZR 944/08, NZA 2011, 480. BAG v. 10.11.1982 – 4 AZR 1203/79, DB 1983, 717.

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Praxisrelevante Fragestellungen bei AnerkennungsTVen

Rz. 65 Teil 11

III. Status der Tarifgeltung Für die Praxis erhebliche Bedeutung hat der im AnerkennungsTV vereinbarte Rechtsstatus der TVe. Dies betrifft insbesondere die Frage, ob die anerkannten TVe dynamisch, d.h. in der jeweils gültigen Fassung anerkannt werden, oder lediglich statisch, d.h. in der bei Abschluss des AnerkennungsTVs gültigen Fassung. Bei statischer Anerkennung werden insbesondere spätere Tariflohnerhöhungen in der Fläche nicht von dem Anerkenntnis umfasst. Trotz der wesentlichen Bedeutung dieser Frage für beide TV-Parteien zeigen sich in der Tarifpraxis erhebliche Formulierungsschwächen. Nicht selten führt das erkennbare Bemühen der Tarifparteien, hinsichtlich des Rechtsstatus eine eindeutige Regelung zu treffen, zum Gegenteil mit der Folge von gerichtlichen Auslegungsstreitigkeiten.

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Häufiger Fall ist in der Praxis weiterhin eine Abkoppelung von der Vergütungsautomatik in der Fläche. Die Lohn- und GehaltsTVe in der Fläche werden bewusst nicht automatisch von der Anerkennung umfasst. Deren Wirksamwerden für das Unternehmen wird an Voraussetzungen geknüpft, z.B. an die Zustimmung der Geschäftsführung anhand bestimmter wirtschaftlicher Kennzahlen.

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Die Rechtssetzungsbefugnis der TV-Parteien umfasst nach dem BAG auch die Möglichkeit, in AnerkennungsTVen die Übernahme fremder Tarifregelungen im jeweiligen Geltungszustand vereinbaren zu können1. Dies schließt auch die Möglichkeit ein, den Geltungszustand der Nachwirkung im Sinne von § 4 Abs. 5 TVG zu vereinbaren2.

63

IV. Nachwirkung bei Anerkennungstarifverträgen Hinsichtlich der Nachwirkung der Rechtsnormen eines AnerkennungsTVs gemäß § 4 Abs. 5 TVG ist zwischen der Nachwirkung des AnerkennungsTVes und der Nachwirkung des anerkannten TVes zu unterscheiden:

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1. Nachwirkung des AnerkennungsTVes a) Beendigung des AnerkennungsTVes Auch für AnerkennungsTVe gilt, dass die Nachwirkungsphase nach § 4 Abs. 5 TVG eintritt, wenn der TV endet. Der AnerkennungsTV endet mit Ablauf der vereinbarten Geltungsdauer, im Übrigen wie sonstige HausTVe im Falle der Kündigung mit Ablauf der Kündigungsfrist. Enthält der AnerkennungsTV keine Kündigungsregelung, gelten für seine Laufzeit bzw. seine Kündbarkeit die Bestimmungen des umfassend in Bezug genommenen fremden TVes entsprechend3. Es gibt allerdings keine gesetzliche Vorgabe, wonach der Anerken1 BAG v. 16.6.2010 – 4 AZR 944/08, NZA 2011, 480; BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 561/06, NZA-RR 2008, 249; BAG v. 18.2.2003 – 1 AZR 142/02, NZA 2003, 866; BAG v. 13.8.1986 – 4 ABR 2/86, EzA § 1 TVG Auslegung Nr. 15. 2 BAG v. 16.6.2010 – 4 AZR 944/08, NZA 2011, 480. 3 BAG v. 18.7.1997 – 4 AZR 710/95, NZA 1997, 1234.

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Teil 11

Rz. 66

Haustarif

nungsTV an die Laufzeit des in Bezug genommenen TVes gekoppelt werden müsste.

b) Nachwirkung aller in Bezug genommenen Regelungen 66

Wesentlich ist, dass die Nachwirkung des AnerkennungsTVes zur Nachwirkung aller in Bezug genommenen Tarifnormen führt. Die Nachwirkung für die in Bezug genommenen Tarifnormen tritt unabhängig davon ein, ob das in Bezug genommene Tarifwerk weiterhin zwingend gilt oder ebenfalls in die Nachwirkung eingetreten ist. Denn die Normen des BezugsTVes werden von dem BAG richtigerweise als Inhalt des VerweisungsTVes verstanden1.

c) Auswirkungen in der Praxis 67

Verweist der AnerkennungsTV dynamisch auf andere TVe, so endet nach den vorstehend beschriebenen Grundsätzen die Dynamik mit Eintritt der Nachwirkung des AnerkennungsTVes. Aus der dynamischen wird eine statische Verweisung auf den anderen TV in der Fassung, die er bei Ablauf des verweisenden TVes hat2.

68

Das hat zur Folge, dass die Bindung an ein Flächentarifwerk über einen AnerkennungsTV deutlich schneller durch Kündigung des AnerkennungsTVes wieder beseitigt werden kann als dies bei Bindung an die FlächenTVe über eine Verbandsmitgliedschaft der Fall ist. Denn im Falle des Austritts aus dem Arbeitgeberverband enden die FlächenTVe erst mit deren Ablauf. Dies kann insbesondere bei MantelTVen zu einer jahrelangen Nachbindung führen. Ist ein Arbeitgeber dagegen kraft AnerkennungsTV an das gleiche Flächentarifwerk gebunden, so tritt Nachwirkung für alle in Bezug genommenen FlächenTVe einschließlich des MantelTVes mit Ablauf der Kündigungsfrist des AnerkennungsTVes ein3. Befindet sich der TV, der anerkannt ist, ebenfalls in der Nachwirkung, ändert dies an der Nachwirkung ebenfalls nichts. Änderungen der anerkannten FlächenTVe nach Ablauf der Kündigungsfrist des AnerkennungsTVes werden für den verweisenden TV nicht mehr wirksam4.

d) Abgrenzung zu Stufenregelungen in TVen 69

Vorsicht ist bei sogenannten Stufenregelungen in TVen geboten. Dies meint Tarifregelungen, die eine stufenweise Steigerung von Leistungen über mehrere Jahre hinweg vorsehen, z.B. Lohnerhöhungen in den nächsten drei Jahren. Die Nachwirkung des TVes lässt die Stufensteigerungen grundsätzlich unberührt, wenn es sich um eine in sich geschlossene Tarifregelung handelt. Es werden daher auch die Stufen wirksam, die erst im Nachwirkungszeitraum wirksam werden. Die Stufensteigerungen sind als Inhalt der nachwirkenden Tarifnorm 1 BAG v. 9.7.1980 – 4 AZR 564/78, DB 1981, 374. 2 BAG v. 29.1.2008 – 3 AZR 426/06, NZA 2008, 541; BAG v. 10.3.2004 – 4 AZR 140/03, EzA § 4 TVG Nachwirkung Nr. 36. 3 BAG v. 10.11.1982 – 4 AZR 1203/79, DB 1983, 717. 4 BAG v. 10.11.1982 – 4 AZR 1203/79, DB 1983, 717.

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Praxisrelevante Fragestellungen bei AnerkennungsTVen

Rz. 72 Teil 11

zu beachten1. Denn die Nachwirkung bewirkt nur, dass neue Tarifabschlüsse keine Wirksamkeit mehr entfalten, die Stufenregelung ist aber Bestandteil der ehemals zwingend geltenden TVe.

2. Nachwirkung des anerkannten TVes Nach der Rechtsprechung des BAG ist bei einer Verweisung eines TVes auf die Tarifnormen eines anderen TVes bei Fehlen einer ausdrücklichen Regelung durch Auslegung zu ermitteln, ob die in Bezug genommenen Tarifnormen in ihrem jeweiligen Geltungszustand Anwendung finden sollen oder ob die zwingende Wirkung der in Bezug genommenen Tarifnormen durch deren Kündigung nicht berührt wird2. Maßgeblich ist nach dem BAG, ob mit der Verweisung eine Gleichstellung mit der Entwicklung der in Bezug genommenen Tarifnormen gewollt ist. Bei einem AnerkennungsTV spreche das „in der Regel“ dafür, dass auch der Geltungszustand der in Bezug genommenen Tarifnormen auf den VerweisungsTV durchschlagen soll3.

70

Da das BAG die Normen des BezugsTVes als Inhalt des VerweisungsTVes versteht, stellt sich im Ergebnis die neue Fassung des BezugsTVes als Änderung der als Einheit verstandenen tariflichen Regelungen von Verweisungs- und BezugsTV dar4.

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Ü Hinweis für die Beratungspraxis: Praxisrelevant ist die neue Rechtsprechung des 4. Senats des BAG zur Nachwirkung der FlächenTVe der Metall- und Elektroindustrie durch die ERA-TVe. Nach jahrelangen Unsicherheiten über den Tarifstatus im Zusammenhang mit ERA hat der 4. Senat in zwei Entscheidungen geurteilt, dass für Arbeitgeber, die während der sogenannten Freiwilligkeitsphase der ERA-Einführung ihre Tarifbindung beendet haben, die ERA-TVe nicht wirksam geworden sind. Arbeitgeber, die das ERA bis zur Beendigung der Tarifbindung nicht betrieblich eingeführt haben, waren weiterhin ausschließlich an die „alten“ MetallTVe gebunden. Die Rechtsnormen dieser TVe sind mit Ablauf der Freiwilligkeitsphase und dem zwingenden Inkrafttreten des ERA-Tarifwerks in die Nachwirkung eingetreten5.

V. Friedenspflicht Praxisrelevant ist weiterhin die Frage, inwieweit Arbeitnehmer im Geltungsbereich eines ungekündigten AnerkennungsTVes sich rechtmäßig an einem Flächenstreik zum Neuabschluss des gekündigten FlächenTVes beteiligen 1 BAG v. 16.8.1990 – 8 AZR 439/89, NZA 1991, 353. 2 BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 561/06, NZA-RR 2008, 249. 3 BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 561/06, NZA-RR 2008, 249; BAG v. 7.5.2008 – 4 AZR 229/07, BB 2008, 2148; BAG v. 17.5.2000 – 4 AZR 363/99, NZA 2001, 453 mit zust. Anm. Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 96. 4 BAG v. 17.5.2000 – 4 AZR 363/99, NZA 2001, 453. 5 BAG v. 19.10.2011 – 4 ABR 116/09, BB 2011, 2739; BAG v. 6.7.2011, 4 AZR 424/09, NZA 2012, 281.

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Teil 11

Rz. 73

Haustarif

können. Das BAG bejaht dies1. In der Praxis wird diese Fragestellung meist durch eine ausdrückliche Regelung im AnerkennungsTV gelöst. Die StandardAnerkennungsTV-Entwürfe der großen Gewerkschaften enthalten in der Regel eine Klausel, wonach die Friedenspflicht so zu behandeln ist, als sei der Arbeitgeber Mitglied des Arbeitgeberverbandes. Eine so oder ähnlich in Standardentwürfen der Gewerkschaften verwendete Formulierung lautet: Werden diese Tarifverträge oder Teile von ihnen gekündigt, gelten sie auch zwischen den Parteien dieses Haustarifvertrages als gekündigt. Forderungen, die zu den in Bezug genommenen Tarifverträgen gestellt werden, gelten auch gegenüber der Partei dieses Tarifvertrages als gestellt. Arbeitskampffreiheit und Friedenspflicht regeln sich so, als wäre die Firma Mitglied des Arbeitgeberverbandes, der die in Bezug genommenen Tarifverträge abgeschlossen hat.

VI. Tarifliche Differenzierungsklauseln 73

In HausTV-Verhandlungen streben die tarifschließenden Gewerkschaften zum Teil eine „Besserstellung“ ihrer Mitglieder mittels sogenannter Differenzierungsklauseln an. So fordern manche Gewerkschaften als Gegenleistungen für Abweichungen von den FlächenTVen Bonuszahlungen für ihre Mitglieder. Die Gewerkschaften möchten durch solche Klauseln die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft attraktiv machen und „unsolidarischen Nutznießern gewerkschaftlicher Leistungen“ das Trittbrettfahren erschweren. Je nach Inhalt der Klausel hält das BAG diese für unzulässig:

1. Qualifizierte Differenzierungsklauseln 74

Unter qualifizierten Differenzierungsklauseln versteht der Tarifsenat Klauseln, die auf die Vertragspraxis oder die Vereinbarungen des tarifgebundenen Arbeitgebers mit nicht organisierten Arbeitnehmern Einfluss nehmen wollen. Qualifizierte Differenzierungsklauseln sind unter verschiedenen Bezeichnungen bekannt und werden vom BAG als unzulässig erachtet: Unzulässig sind nach einer Entscheidung des Großen Senats und der Entscheidung des BAG vom 23.3.20112 zum Einen sogenannte „Spannensicherungsklauseln“ bzw. Abstandsklauseln. Spannensicherungsklauseln sollen sicherstellen, dass die Gewerkschaftsmitglieder bei jeder zusätzlichen Leistung an nicht-organisierte Arbeitnehmer entsprechend mehr erhalten3. Nach dem BAG verstoßen solche Klauseln gegen Art. 9 Abs. 3 GG aufgrund einer gezielten Diskriminierung nicht- bzw. anders organisierter Arbeitnehmer. Ebenfalls unzulässig sind sogenannte Tarifausschlussklauseln, die dem Arbeitgeber verbieten wollen, tarifliche Leistungen auch Nichtgewerkschaftsmitgliedern zu gewähren.

1 BAG v. 18.2.2003 – 1 AZR 142/02, NZA 2003, 866. 2 BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920. 3 BAG GS v. 29.11.1967 – GS 1/67, DB 1968, 1539.

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Überleitungstarifverträge

Rz. 79 Teil 11

2. Einfache Differenzierungsklauseln Sogenannte einfache Differenzierungsklauseln, die die Gewerkschaftszugehörigkeit als Anspruchsvoraussetzung definieren, hält das BAG je nach Ausgestaltung im Einzelfall je nach dem Grad der Beeinträchtigung der negativen Koalitionsfreiheit für zulässig bzw. unzulässig. Eine Differenzierungsklausel, wonach die Tariferhöhung nur für Arbeitnehmer gelten soll, die an einem Stichtag Mitglied der zuständigen Gewerkschaft sind und bleiben, hat das BAG für unwirksam befunden1. Dagegen hält das BAG die Verknüpfung einer Sonderzahlung mit der Gewerkschaftsmitgliedschaft unter bestimmten Voraussetzungen für zulässig2. In der Praxis ist daher auch bei einfachen Differenzierungsklauseln jeweils zu prüfen, ob von ihnen ein unverhältnismäßiger Druck zum Gewerkschaftsbeitritt ausgeht.

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L. Überleitungstarifverträge Der Begriff des ÜberleitungsTVes ist ebenfalls nicht gesetzlich definiert. Damit sind HausTVe gemeint, die meist im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Umstrukturierungen Überführungen von einem Tarifwerk auf ein anderes Tarifwerk regeln. Ein ÜberleitungsTV muss nicht zwingend als HausTV abgeschlossen werden. Die HausTV-Lösung ist aber in der Praxis häufiger.

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Ein häufiger Anwendungsfall in der Praxis sind große Umstrukturierungsmaßnahmen in Unternehmensgruppen oder Konzernen. Ein Beispiel hierfür sind Umstrukturierungen bei der Deutschen Telekom AG. Hier wurden in den vergangenen Jahren eine erhebliche Anzahl von Arbeitsverhältnissen in Servicegesellschaften mit niedrigerem Tarifniveau überführt. Im Zusammenhang mit der Überführung wurden ÜberleitungsTVe mit der zuständigen Gewerkschaft ver.di abgeschlossen. Diese beinhalteten insbesondere Besitzstands- und Überleitungsschutz für die Stammbelegschaft.

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Ein weiteres Beispiel ist die Fusion von Arbeitgebern mit unterschiedlicher Tarifgeltung. So wurden beispielsweise bei der Fusion der Gewerkschaft Holz und Kunststoff (GHK) mit der IG Metall für die Flächen- und FirmenTVe ÜberleitungsTVe zwischen den jeweiligen Arbeitgeberverbänden bzw. Firmen einerseits und der GHK sowie der IG Metall andererseits abgeschlossen. Zweck war die Fortsetzung von sämtlichen zwischen den TV-Parteien abgeschlossenen TVen.

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Ein weiterer Anwendungsfall eines ÜberleitungsTVes ist das Herauswachsen aus dem fachlichen Geltungsbereich, z.B. aus dem Geltungsbereich der FlächenTVe für die Metall- und Elektroindustrie in die der chemischen Industrie. Dann kann ein ÜberleitungsTV festlegen, dass nach einer Übergangsfrist, und ggf. mit Besitzstandswahrung, die neuen TVe gelten.

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1 BAG v. 9.5.2007 – 4 AZR 275/06, NZA 2007, 1439. 2 BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028.

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Teil 11

Rz. 80

Haustarif

M. Rechtliche und taktische Vorbereitung und Durchführung von Haustarifvertrags-Verhandlungen I. Typische Fragen vor der Einführung von Haustarifverträgen 80

Für die strategische Vorbereitung von TV-Verhandlungen gibt es kein Patentrezept. Einzelne Vorgehensweisen hängen stets von den beteiligten Unternehmen und Gewerkschaften ab, wobei zum Teil sogar regional große Unterschiede zu erkennen sind. Die in diesem Kapitel sehr kompakt aufgeführten Praxistipps stellen weitestgehend Erfahrungen aus einzelnen Tarifprojekten der letzten Jahre dar und sind daher nicht vorbehaltslos verallgemeinerungsfähig. Unabhängig von der strategischen Vorbereitung sollten vor der Einführung von HausTVen aber insbesondere die folgenden Rechtsfragen geklärt bzw. beachtet werden, um typische Risiken und Fallstricke möglichst zu vermeiden:

1. Klärung der Gewerkschaftszuständigkeit 81

Es ist festzustellen, welche Gewerkschaft für das Unternehmen tarifzuständig ist (s. hierzu Teil 2 Rz. 209 ff.). Die Tarifzuständigkeit richtet sich grundsätzlich nach der Satzung der jeweiligen Gewerkschaft1. Ein mit der unzuständigen Gewerkschaft abgeschlossener TV ist unwirksam2. Bei der anwaltlichen Beratung liegt die Herausforderung meist darin, Zugang zu der Satzung der möglicherweise zuständigen Gewerkschaften zu erhalten. Einige Gewerkschaften stellen die jeweils gültige Fassung in das Internet ein; dies gilt aber bei Weitem nicht für alle Gewerkschaften. Zu beachten ist, dass die Satzungen der Gewerkschaften grundsätzlich weiter sind als der Geltungsbereich der gängigen VerbandsTVe. Um z.B. die Tarifzuständigkeit der IG Metall zu ermitteln, ist es daher nicht ausreichend, den Geltungsbereich der TVe der Metall- und Elektroindustrie zu überprüfen.

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Es können auch mehrere Gewerkschaften tarifzuständig sein. Die Gewerkschaften gestalten ihre satzungsmäßige Zuständigkeit in der Regel sehr weit, um möglichst für viele potentielle Unternehmen zuständig zu sein. Gerade in den letzten Jahren haben sie auch auf Veränderungen der Unternehmensstrukturen reagiert. So hat z.B. die IG Metall durch eine Satzungsergänzung ihre Zuständigkeit auf ausgegliederte Bereiche von Unternehmen (z.B. Logistikbereiche) erweitert, die rein nach ihrem Unternehmensgegenstand möglicherweise nicht mehr unter die Zuständigkeit der IG Metall fallen würden. Für die Praxis bleibt festzuhalten, dass im Vorfeld von HausTV-Verhandlungen die Gewerkschaftszuständigkeit geprüft werden sollte. Möglicherweise bietet sich ein HausTV-Abschluss mit einer anderen Gewerkschaft als der bisherigen an und

1 BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 4/96, NZA 1997, 613; BAG v. 12.11.1996 – 1 ABR 33/96, NZA 1997, 609; BAG v. 14.12.1999 – 1 ABR 74/98, NZA 2000, 949. 2 BAG v. 27.11.1964 – 1 ABR 13/63, DB 1965, 479; BAG v. 24.7.1990 – 1 ABR 46/89, NZA 1991, 21.

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Recht und Taktik bei Verhandlungen

Rz. 86 Teil 11

diese Gewerkschaft hat auch ein Interesse daran, das jeweilige Unternehmen als neuen Tarifpartner zu gewinnen. Zu beachten ist aber, dass sich die DGB-Mitgliedsgewerkschaften satzungsmäßig (§ 15 der DGB-Satzung) auf den Grundsatz „Ein Betrieb – eine Gewerkschaft“ festgelegt haben1. Damit ist innerhalb des DGB trotz einer satzungsmäßigen Doppelzuständigkeit der Einzelgewerkschaften stets nur eine Gewerkschaft für ein Unternehmen zuständig. In Überschneidungsfällen entscheidet nach einem Vermittlungsverfahren das DGB-Schiedsgericht (§ 16 der DGB-Satzung). Die Entscheidung des DGB-Schiedsgerichts bindet nach dem BAG auch den tariflichen Gegenspieler2. Nach dem BAG bleibt es bis zu einer Entscheidung des DGB-Schiedsgerichts bei der Tarifzuständigkeit der Gewerkschaft, die vor Entstehung der Konkurrenzsituation als zuständig angesehen worden war3. Daher kann sich der Arbeitgeber bei DGB-Gewerkschaften nicht einfach an eine nach ihrer Satzung ebenfalls zuständige andere DGB-Gewerkschaft wenden. Der Arbeitgeber ist auch selbst nicht befugt, ein Vermittlungsverfahren bzw. ein Schiedsverfahren einzuleiten. Er kann allenfalls durch Kontaktaufnahme mit dem gewünschten Tarifpartner diesen dazu motivieren, die Tarifzuständigkeit klären zu lassen.

83

Weiterhin kann auch die Festlegung der Tarifzuständigkeit bei Mischbetrieben (s. Teil 2 Rz. 217) bzw. Mischunternehmen Schwierigkeiten bereiten und bedarf einer genauen Prüfung.

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2. Festlegung des Geltungsbereichs a) Räumlicher Geltungsbereich Der räumliche Geltungsbereich eines HausTVes kann sich sowohl auf das ganze Unternehmen als auch auf einen Betrieb oder mehrere Betriebe bzw. Betriebsteile des Unternehmens beziehen. Es kommen demnach entweder unternehmensbezogene HausTVe oder betriebsbezogene HausTVe in Frage. Innerhalb eines Unternehmens sind auch unterschiedliche FirmenTVe für einzelne Betriebe möglich, auch mit unterschiedlichen Gewerkschaften.

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b) Persönlicher Geltungsbereich In persönlicher Hinsicht ist festzulegen, welche Arbeitnehmergruppen von dem HausTV erfasst werden sollen. Hier sind in der Praxis insbesondere die folgenden Problemstellungen relevant:

1 DGB-Schiedsgericht v. 4.4.2002 – III ZR 62/01, AP Nr. 16 zu § 2 TVG Tarifzuständigkeit. 2 BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 4/96, NZA 1997, 613; BAG v. 12.11.1996 – 1 ABR 33/96, NZA 1997, 609. 3 BAG v. 27.9.2005 – 1 ABR 41/04, NZA 2006, 273; BAG v. 12.11.1996 – 1 ABR 33/96, NZA 1997, 609.

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Teil 11

Rz. 87

Haustarif

aa) Definition der AT-Mitarbeiter 87

Es stellt sich regelmäßig die Frage nach der Definition der außertariflichen Mitarbeiter („AT-Mitarbeiter“) in Abgrenzung zum Tarifbereich. Möglich ist, die AT-Mitarbeiter durch Festlegung einer bestimmten Jahreseinkommensgrenze, ggf. zuzüglich einer Abstandsklausel zum Tarifbereich, zu bestimmen. Dann stellt sich die Folgefrage, ob das festgelegte Jahreseinkommen bei späteren Tariferhöhungen entsprechend angehoben wird. Eine Abgrenzung kann auch über die Festlegung einer bestimmten Qualifikation und/oder Berufserfahrung erfolgen.

bb) Schuldrechtliche Verpflichtungen hinsichtlich des AT-Bereichs 88

Insbesondere in SanierungsTVen kann es vorkommen, dass aus Gründen der Gleichbehandlung auch Maßnahmen für den AT-Bereich im TV festgelegt werden, z.B. bestimmte Einsparziele. Auch wenn diese Regelungen nicht unmittelbar für den AT-Bereich wirken, sondern lediglich eine schuldrechtliche Verpflichtung des Arbeitgebers darstellen, kommt solchen Klauseln betriebspolitische Bedeutung zu. Teilweise werden diese Einsparvorgaben auch an ein Sonderkündigungsrecht der Gewerkschaft geknüpft: Weist der Arbeitgeber nicht innerhalb einer bestimmten Frist die Umsetzung der Einsparvorgaben im AT-Bereich gegenüber der Gewerkschaft nach, so steht der Gewerkschaft ein Sonderkündigungsrecht zu.

cc) Herausnahme von Arbeitnehmergruppen aus dem Geltungsbereich 89

Insbesondere bei SanierungsTVen werden bestimmte Arbeitnehmergruppen, z.B. Altersteilzeitler in der Freistellungsphase und Auszubildende, in der Regel aus dem Geltungsbereich herausgenommen.

dd) Erstreckung der Tarifgeltung auf Außenseiter? 90

Nur bei beidseitiger Tarifbindung kommt den Rechtsnormen des HausTVes normative Wirkung zu (§§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG). Nach dem BAG ist es aber grundsätzlich möglich, den Arbeitgeber zur Anwendung des HausTVes auch auf Außenseiter zu verpflichten1. Den Arbeitgeber trifft dann eine schuldrechtliche Verpflichtung, die die Gewerkschaft einklagen kann. Mit der Verpflichtung des Arbeitgebers ist für den Außenseiterarbeitnehmer jedoch keine normative Wirkung des TVes verbunden. Denn eine Rechtsetzung für Außenseiter ist den Tarifpartnern – von § 3 Abs. 2 TVG abgesehen – verwehrt. Hierzu mangelt es an einer staatlichen Ermächtigung. Dies würde einen Verstoß gegen die negative Koalitionsfreiheit des Arbeitnehmers darstellen (Art. 9 Abs. 3 GG)2. Die Regelungen eines HausTVes können bei Außenseitern durch Bezugnahmeklauseln in den Arbeitsverträgen Wirkung entfalten.

1 BAG GS v. 29.11.1967 – GS 1/67, DB 1968, 1539. 2 BAG GS v. 29.11.1967 – GS 1/67, DB 1968, 1539.

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Recht und Taktik bei Verhandlungen

Rz. 94 Teil 11

c) Zeitlicher Geltungsbereich In zeitlicher Hinsicht stellt sich insbesondere die Frage der Laufzeit des HausTV und was gilt, wenn der HausTV endet.

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aa) Nachwirkung Auch die Rechtsnormen eines HausTVes wirken gesetzlich gemäß § 4 Abs. 5 TVG nach, wenn die Nachwirkung nicht ausdrücklich ausgeschlossen ist. Insbesondere SanierungsTVe werden von den Gewerkschaften in der Regel nur mit einer zeitlichen Befristung und einem Ausschluss der Nachwirkung akzeptiert.

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bb) Rückkehr zum FlächenTV Praktisch von erheblicher Bedeutung ist die Frage der Nachwirkung und etwaiger Folgeregelungen nach Beendigung des HausTVes. Insbesondere wenn HausTVe in Sanierungssituationen Abweichungen von den für den Arbeitgeber bindenden FlächenTVen vorsehen, fordert die Gewerkschaft in der Regel eine zeitliche Begrenzung des HausTVes mit anschließender Rückkehr zur Fläche. Für die Arbeitgeber sind solche Klauseln problematisch. Denn während der Laufzeit des HausTVes entsteht eine „Schere“ zwischen dem FlächenTV und dem HausTV. Ein sofortiges „Zurückschnellen“ auf das FlächenTV-Niveau im Beendigungszeitpunkt des HausTVes kann zur Existenzbedrohung führen. Daher ist bei der Gestaltung der Beendigungsnormen aus Arbeitgebersicht möglichst ein entsprechendes risikoverringerndes Prozedere sicherzustellen. Dies kann z.B. die Vereinbarung einer Fortsetzung des HausTVes unter bestimmten Voraussetzungen sein oder eine stufenweise Rückführung auf die Fläche. Bei tarifgebundenen Arbeitgebern kommt ggf. auch der Austritt aus dem Arbeitgeberverband während der Laufzeit des SanierungsTVes in Betracht, mit dem Ziel eines Einfrierens der FlächenTVe im Austrittszeitpunkt. Damit kann der Arbeitgeber ggf. erreichen, dass sich die Schere zwischen Flächentarifniveau und HausTV-Niveau nicht zu sehr öffnet. Eine Verpflichtung zum Nichtaustritt aus dem Arbeitgeberverband im HausTV ist nach dem BAG wegen Verstoßes gegen die negative Koalitionsfreiheit unzulässig1. Allerdings wird das Einfrieren der VerbandsTVe ggf. durch arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln verhindert (s. Teil 10 Rz. 55 ff.).

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d) Risiken aus arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln aa) Risiko: Leerlaufen des HausTVes Eine der wichtigsten Maßnahmen vor der Verhandlung eines HausTVes ist die Prüfung der Arbeitsverträge im Hinblick auf tarifliche Bezugnahmeklauseln. Die Prüfung sämtlicher Arbeitsverträge in der Vorbereitungsphase von HausTV-Verhandlungen ist auch bei der Beratung großer Unternehmen unerlässlich. Bezugnahmeklauseln in den Arbeitsverträgen können dazu führen, dass der HausTV vollständig ins Leere läuft. 1 BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, NZA 2003, 734.

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Teil 11 95

Rz. 95

Haustarif

Problemfälle können sich insbesondere ergeben bei Tarifgarantieklauseln (Bezugnahmeklauseln bei fehlender Tarifbindung), bei Bezugnahmeklauseln im Falle wechselnder Tarifbindung („Zwei-Klassen-Betrieb1), bei der Bezugnahme von nicht einschlägigen TVen und Bezugnahmen nach weggefallener Allgemeinverbindlichkeit, und schließlich auch, wenn die Bezugnahmeklausel bei Verträgen nach dem 1.1.2002 unzureichend im Sinne der BAG-Rechtsprechung formuliert ist. In diesen Fällen kann sich als Rechtsfolge ergeben, dass die Regelungen des HausTVes für die Arbeitnehmer nicht ohne weiteres wirksam werden und für die Arbeitnehmer über die Bezugnahme im Arbeitsvertrag weiterhin dynamisch die in Bezug genommen bisher geltenden FlächenTVe gelten.

bb) Mögliche Lösungsansätze 96

Mögliche Lösungsszenarien bei problematischen Arbeitsverträgen können beispielsweise sein: die einzelvertragliche Zustimmung der Mitarbeiter zum HausTV, die nachträgliche Vereinbarung einer Tarifwechselklausel oder eine Geltung des HausTVes über die Grundsätze der betrieblichen Übung, nach einem gewissen Zeitablauf. In der Praxis kommt teilweise auch eine Umsetzung des HausTVes unter Inkaufnahme des Risikos (Akzeptanzlösung) in Betracht.

e) Günstigere Regelungen in den Arbeitsverträgen 97

Neben Tarifbezugnahmeklauseln können im Arbeitsvertrag weitere vorteilhafte Regelungen enthalten sein, die einer Geltung des HausTVes entgegenstehen. Diese können insbesondere sein: einzelvertragliche (übertarifliche) Vergütungszusagen, zugesicherte Eingruppierungen, Weihnachts- und Urlaubsgeld in einer bestimmten Höhe, Zulagen etc. Dabei ist zu prüfen, ob nach der Formulierung im Arbeitsvertrag tatsächlich ein individueller Anspruch des Arbeitnehmers begründet werden sollte. Nach dem BAG ist jeweils abzugrenzen, ob nicht lediglich ein bloß deklaratorischer Hinweis auf die bei Einstellung im Betrieb geltenden Regelungen erfolgen sollte2. Dies ist insbesondere bei der Bezugnahme auf Tarifnormen der Fall.

f) Überschneidungen mit Betriebsvereinbarungen 98

Wie oben (Rz. 43 ff.) erläutert, gelten im Verhältnis eines HausTVes zu Betriebsvereinbarungen die tariflichen Regelungssperren, insbesondere der Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 BetrVG (s. Rz. 43). Im Rahmen von HausTV-Verhandlungen können tarifliche Regelungssperren ggf. strategisch genutzt werden. So können durch entsprechende Formulierungen im HausTV Betriebsvereinbarungen außer Kraft gesetzt werden. Weiterhin sind HausTV und Betriebsvereinbarungen inhaltlich aufeinander abzustimmen. Es sollte festgelegt werden, welche Inhalte Gegenstand des HausTVes werden sollen 1 Vgl. BAG v. 1.12.2004 – 4 AZR 50/04, NZA 2005, 478. 2 BAG v. 7.12.2000 – 6 AZR 444/99, NZA 2001, 780; BAG v. 23.6.1992 – 1 AZR 57/92, NZA 1993, 89.

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Recht und Taktik bei Verhandlungen

Rz. 103 Teil 11

und welche Themen auf die betriebliche Ebene verlagert werden sollen. Insoweit kommt auch der Gestaltung von Öffnungsklauseln strategische Bedeutung zu (s. Rz. 45).

g) Überschneidungen mit anderen anzuwendenden TVen Weiterhin sollte geprüft werden, ob das Unternehmen durch andere TVe anderweitig gebunden ist oder ob durch den HausTV alle anderen TVe verdrängt werden (s. oben Rz. 31 ff.). Zusammenfassend gilt im Verhältnis zu VerbandsTVen und unternehmensbezogenen VerbandsTVen der Spezialitätsgrundsatz, während im Verhältnis zu weiteren HausTVen im Grundsatz die Zeitkollisionsregel zur Anwendung kommt (s. oben Rz. 31 ff.).

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II. Vorbereitung von Haustarifvertrags-Verhandlungen In der Vorbereitungsphase von Verhandlungen über einen HausTV sollten insbesondere folgende Aspekte beachtet werden:

100

1. Definition des Status quo und der Zielstruktur Zunächst sollte der arbeitsvertragliche, betriebsverfassungsrechtliche und tarifliche status quo ermittelt werden. Anschließend ist die Zielstruktur zu definieren. Dabei ist im Einzelnen zu benennen, welche Änderungen auf der tariflichen, betrieblichen und ggf. auf der arbeitsvertraglichen Ebene angestrebt werden. Dabei ist zu prüfen, ob überhaupt eine tarifliche Regelung erforderlich ist, oder ob bestimmte Fragen auch in Betriebsvereinbarungen bzw. in Regelungsabreden vereinbart werden können. Eine weitere Frage ist, ob für bestimmte Themen Öffnungsklauseln angestrebt werden. Zudem sollte definiert werden, ob der HausTV eine Modifizierung des VerbandsTVes (AnerkennungsTVes, ErgänzungsTVes) oder ein neues Tarifwerk darstellen soll.

101

2. Wesentliche Verhandlungspunkte In der Praxis sind häufig folgende Verhandlungspunkte wesentlicher Gegenstand von HausTVen, wobei dies je nach Situation und Art des Unternehmens unterschiedlich sein kann:

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a) Arbeitszeit Bei Regelungen zur Arbeitszeit strebt die Arbeitgeberseite meist eine Flexibilisierung im Verhältnis zum status quo an. Dies betrifft insbesondere die Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit („40-Stunden-Woche“, Regelung für Teilzeitarbeitnehmer), ferner Regelungen zur Flexibilisierung der Lage der Arbeitszeit (Arbeitszeitkonten, Jahresarbeitszeit, Öffnungsklauseln für Betriebsparteien, Aufhebung tarifvertraglicher Beschränkungen).

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Teil 11

Rz. 104

Haustarif

b) Arbeitsentgelt/Zuschläge 104

Insbesondere wenn der HausTV anlässlich einer wirtschaftlichen Krise abgeschlossen wird, enthält er typischerweise Regelungen zum Arbeitsentgelt, die die FlächenTVe modifizieren. Häufig wird die Aussetzung von Tarifrunden („Einfrierung der TVe“) bzw. eine Abkoppelung von den Entwicklungen der VerbandsTVe für die nächsten Jahre beabsichtigt, um weitere Personalkostensteigerungen zu vermeiden. Eine Variante ist die zeitlich verzögerte Weitergabe von Tariflohnerhöhungen in der Fläche oder eine im Vergleich zur Fläche reduzierte Tariferhöhung, die z.B. nur eine Mindestabsicherung in Form eines Inflationsausgleichs vorsieht. In einer echten Sanierungssituation sehen HausTVe häufig sogar eine Absenkung der Vergütung oder eine Reduzierung des Weihnachts- und/oder Urlaubsgeldes vor bzw. eine Koppelung von Sonderzahlungen an das Unternehmensergebnis oder die persönliche Leistung. Auch eine Absenkung von Zuschlägen wie z.B. für Sonn- und Feiertagsarbeit oder die Kürzung von Urlaubstagen sind typische Kosteneinsparmaßnahmen in Sanierungssituationen.

c) Investitionszusagen 105

Bei Verschlechterungen der FlächenTVe in HausTVen verpflichtet sich der Arbeitgeber meist dazu, im Gegenzug einen bestimmten Betrag am Standort zu investieren bzw. bestimmte Güter anzuschaffen. Je nach Ausgestaltung kann die Investitionszusage eine bloße Absichtserklärung oder eine bindende schuldrechtliche Vereinbarung mit der Gewerkschaft sein. Bei langfristigen Investitionszusagen ist Vorsicht angebracht, da bei einem etwaigen Unternehmensverkauf der Kaufpreis ggf. herabgesetzt wird. Das Unternehmen sollte aus diesem Grund möglichst Öffnungsklauseln verhandeln.

d) Beschäftigungssicherungszusagen 106

Typische Beschäftigungszusagen im HausTV sind: umfassender Ausschluss von betriebsbedingten Kündigungen während der Laufzeit, eingeschränkte Beschäftigungszusagen, Ausschluss von Outsourcing-Maßnahmen und Standortsicherungszusagen; s. zu typischen Formulierungen Teil 13 Rz. 82 ff.

e) Nachwirkung 107

Ein HausTV wirkt grundsätzlich gemäß § 4 Abs. 5 TVG gesetzlich nach. Die Nachwirkung muss für jede einzelne Regelung im HausTV gesondert geprüft und ggf. ausdrücklich ausgeschlossen werden. Typischer Fallstrick der Nachwirkung ist die „ewige“ Wirkung von Kündigungsverboten, Standortzusagen oder zusätzlichen Leistungen durch eine nicht hinreichend klare zeitliche Begrenzung auf den Zeitraum der zwingenden Geltung des HausTVes. Dies kann durch eine entsprechende Gestaltung der jeweiligen Klausel vermieden werden.

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Recht und Taktik bei Verhandlungen

Rz. 113 Teil 11

3. Wirtschaftliche Rahmenbedingungen Gewerkschaften verlangen von Unternehmen häufig eine vollständige Aufdeckung der Unternehmenskennzahlen, z.B.: Gewinn- und Verlustrechnung (GuV), Bilanzen, Kreditlinien bei Banken oder Ergebnisprognosen. Unternehmen dagegen verfolgen in der Regel das Ziel, möglichst wenig Geschäftszahlen preiszugeben, hauptsächlich aufgrund der Gefahr, dass die Informationen unkontrolliert verbreitet werden. Hier gilt es, im Verhandlungswege eine Verständigung auf bestimmte Kennzahlen zu erreichen. Ferner kann eine Geheimhaltungsvereinbarung getroffen werden.

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4. Zeitpunkt der Verhandlungen In vielen Fällen steht der Zeitpunkt der Verhandlungen von vornherein fest, z.B. bei SanierungsTVen. In anderen Fällen kann der Verhandlungseinstieg frei bestimmt werden. Hierbei sollten insbesondere die innerbetrieblichen und wirtschaftlichen Umstände berücksichtigt werden, z.B. rückläufige Erträge, Preisverfall der Produkte oder ein starker Anstieg der Rohstoffpreise.

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5. Alternativkonzept Ferner sollten von vornherein Alternativkonzepte für den Fall entwickelt werden, dass die HausTV-Verhandlungen scheitern.

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III. Ablauf der Verhandlungsphase Eine HausTV-Verhandlung durchläuft häufig die nachfolgenden Phasen. Allerdings ist jedes Haustarifprojekt individuell. Beide Tarifparteien müssen jederzeit flexibel auf die unterschiedlichen Gegebenheiten und Entwicklungen reagieren.

111

1. Kontaktaufnahme mit dem Tarifpartner und Sondierungsgespräche Oftmals finden im Vorfeld von HausTV-Verhandlungen zunächst Sondierungsgespräche statt, bei denen die Tarifparteien die gegenseitigen Verhandlungspositionen ausloten. Sondierungsgespräche haben insbesondere den Zweck, dass die Parteien unverbindlich prüfen können, ob HausTV-Verhandlungen überhaupt erfolgversprechend sind.

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2. Kick-off-Veranstaltung Vor dem ersten Verhandlungstermin findet in der Regel eine sogenannte Kickoff-Veranstaltung statt. In dieser stellt das Unternehmen seine Ziele gegenüber der Gewerkschaft und dem Betriebsrat vor. Die Präsentation sollte die Ausgangssituation darstellen und Ziele formulieren. Des Weiteren sollte ein gemeinsamer Weg zur Zielerreichung vorgeschlagen werden.

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Teil 11

Rz. 114

Haustarif

3. Erster Verhandlungstermin und weitere Verhandlungen 114

Beim ersten Verhandlungstermin hat die Arbeitnehmerseite die Möglichkeit, zur Zielvorstellung der Arbeitgeberseite Stellung zu nehmen. Die Gewerkschaft kann ihrerseits Gegenforderungen stellen und bestimmte Arbeitgeberforderungen ablehnen. Anschließend hat die Arbeitgeberseite Zeit, auf die Stellungnahme der Arbeitnehmerseite zu reagieren.

4. Arbeitskämpfe 115

Es muss immer damit gerechnet werden, dass die Gewerkschaft die HausTVVerhandlungen mit Streiks flankiert. Allerdings stellen Streiks bei HausTVVerhandlungen eher eine untergeordnete Rolle dar. Zudem ist die Streikbereitschaft regional und von Branche zu Branche sowie von Unternehmen zu Unternehmen sehr unterschiedlich.

5. Informationspolitik im Unternehmen 116

Eine tragende Säule der Verhandlungen ist die Kommunikation gegenüber den Mitarbeitern. Eine zwischen den TV-Parteien abgestimmte Kommunikation beugt der Verunsicherung bei den Mitarbeitern vor. Wenn die Gewerkschaft eine abgestimmte Kommunikation ablehnt, sollte man sich dennoch möglichst auf eine sachliche Kommunikation verständigen (kein Schlag-und-Gegenschlag-Prinzip). Im Extremfall kommt bei unwahrer Kommunikation ein Unterlassungsanspruch in Betracht (einstweilige Verfügung).

N. Haustarifverträge bei Betriebsübergang und Umwandlung 117

Im Zusammenhang mit Betriebs(teil-)übergängen und Umwandlungen stellt sich in der Praxis insbesondere die Frage nach der kollektivrechtlichen oder individualrechtlichen Fortgeltung bestehender HausTVe, weiterhin die Frage der Ablösung bestehender Haus- oder VerbandsTVe durch HausTVe des Erwerbers. Hierzu wird auf die ausführliche Darstellung in Teil 15 Rz. 16 ff. verwiesen.

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Teil 12 Der Sanierungstarifvertrag Rz. A. Einleitung; Begriff . . . . . . . . . . . . . .

1

B. Gestaltungsoptionen . . . . . . . . . . . . I. Haustarifvertrag . . . . . . . . . . . . . . . .

3 4

II. Firmenbezogener Verbandstarifvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Gebot der Rechtsquellenklarheit . D. Inhaltliche Gestaltung und Formulierungshinweise . . . . . . . . . . . . I. Geltungsbereich 1. Betrieblicher/Räumlicher Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Persönlicher Geltungsbereich . 3. Zeitlicher Geltungsbereich . . . II. Sanierungsbeiträge . . . . . . . . . . . . . . 1. Sanierungsbeiträge der Arbeitnehmer a) Arbeitszeiterhöhung ohne Entgeltausgleich . . . . . . . . . b) Vergütungsabsenkung . . . . c) Reduzierung/Wegfall von Sonderzahlungen . . . . . . . . d) Aussetzung/Reduzierung von geplanten Tariflohnerhöhungen . . . . . . . . . . . . . 2. Sanierungsbeiträge des Arbeitgebers/Beschäftigungssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Standortsicherung . . . . . . . b) Ausschluss/Zahlenmäßige Beschränkung betriebsbedingter Kündigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vereinbarung von Voraussetzungen für betriebsbedingte Kündigungen . . . . III. Sonstige Klauseln 1. Änderung der Geschäftsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausgleichsregelungen . . . . . . . . 3. Differenzierungsklauseln . . . . . 4. Sanierungsrisiko . . . . . . . . . . . . .

9 13 19

20 21 25 28

29 30 31

33

34 35

39

42

43 44 46 49

E. Wirkungen I. Verhältnis zwischen Verbandstarifvertrag und Sanierungstarifvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

Rz. 1. Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind verbandsangehörig . . . . . . . 2. Lediglich der Arbeitgeber ist verbandsangehörig . . . . . . . . . . . a) Statische Bezugnahmeklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Dynamische Bezugnahmeklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Allgemeinverbindlicher VerbandsTV trifft auf individualvertraglich geltenden SanierungsTV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53 68 71 72

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II. Verhältnis zu günstigeren Vertragsabreden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 III. Rückwirkende Änderung von Arbeitsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundsätzliche Möglichkeit der rückwirkenden Änderung durch TV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grenze: Vertrauensschutz . . . . 3. Information der betroffenen Kreise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rückwirkender Eingriff in ein beendetes Arbeitsverhältnis . .

83

84 85 88 89

F. Sanierungstarifvertrag und Betriebsübergang . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 I. Auswirkungen eines Betriebsübergangs auf die Geltung des Sanierungstarifvertrages 1. Normativ wirkender SanierungsTV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 a) Kollektivrechtliche Weitergeltung . . . . . . . . . . . . . . . 92 b) Transformation in das Arbeitsverhältnis . . . . . . . . . . 94 c) Ausschluss der Weitergeltung gemäß § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB . . . . . . . . . . . . . . 100 2. Geltung des SanierungsTVes aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahme . . . . . . . . . . . . . . . . 103 a) Kleine dynamische Bezugnahmeklausel . . . . . . . . . . . 105 b) Große dynamische Bezugnahmeklausel . . . . . . . . . . . 106

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Teil 12

Der Sanierungstarifvertrag Rz.

II. Wegfall der Geschäftsgrundlage des Sanierungstarifvertrages durch den Betriebsübergang auf einen nicht tarifgebundenen Betriebserwerber? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 III. Kündigung des Sanierungstarifvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 G. Sanierungsbetriebsvereinbarung . . 111 I. Bedeutung des Tarifvorrangs; Reichweite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 II. Tarifvertragliche Öffnungsklausel 116 III. Betriebsvereinbarungsoffene Klausel im Arbeitsvertrag . . . . . . . . . . . . 119

Rz. V. Arbeitskampf um einen Tarifsozialplan 1. Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Koalitionsfreiheit . . . . . . . . . . . . 4. Grundsatz der Kampfparität . . 5. Unternehmerische Freiheit . . . 6. Relative Friedenspflicht . . . . . .

126 127 131 134 140

VI. Kollision von betrieblichen und tariflichen Sozialplänen . . . . . . . . . 148 VII. Betriebliche Beteiligungsrechte beim Arbeitskampf . . . . . . . . . . . . . 149

VIII. Handlungsmöglichkeiten des Arbeitgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einleitung; Begriff; Gestaltungs1. Präventivmaßnahmen . . . . . . . . optionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 2. Maßnahmen bei RechtswidrigII. Gebot der Rechtsquellenklarheit . 122 keit des Streiks . . . . . . . . . . . . . . 3. Maßnahmen bei rechtmäßiIII. Tarifliche Regelbarkeit, § 1 Abs. 1 gem Streik . . . . . . . . . . . . . . . . . . TVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 H. Tarifsozialplan

125

151 152 155 158

IV. Sperrwirkung der §§ 111 ff. BetrVG? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

Literatur: Adomeit, Das Günstigkeitsprinzip – neu verstanden, NJW 1984, 26; Ahrendt, Firmentarifvertrag und firmenbezogener Verbandstarifvertrag, RdA 2012, 129; Annuß, Tarifbindung durch arbeitsvertragliche Bezugnahme?, ZfA 2005, 405; Annuß/Lembke, Umstrukturierung in der Insolvenz, 2005; Bauer/Günther, Bezugnahmeklauseln bei Verbandswechsel und Betriebsübergang, NZA 2008, 6; Bauer/Krieger, „Firmentarifsozialplan“ als zulässiges Ziel eines Arbeitskampfes?, NZA 2004, 1019; Bayreuther, Sanierungs- und Insolvenzklauseln im Arbeitsverhältnis, ZIP 2008, 573; Bayreuther, Der Streik um einen Tarifsozialplan, NZA 2007, 1017; Bayreuther, Tarifbindung und „Tarifflucht“: Eine Skizze der jüngeren Rechtsprechung des BAG, DZWIR 2010, 353; Bayreuther, Konsolidierungstarifvertrag und freiwilliger Tarifsozialplan als Regelungsinstrumente in der Unternehmenskrise, NZA 2010, 378; Bepler, Probleme um den Sanierungstarifvertrag, AuR 2010, 234; Brecht-Heitzmann, Verhinderung von Betriebsstilllegungen durch Sozialtarifvertrag?, NJW 2007, 3617; Buchner, Tarifpluralität und Tarifeinheit – einige Überlegungen zur Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, in: Festschrift 50 Jahre BAG, 2004, S. 631; Buchner, Unternehmensbezogene Tarifverträge – tarif-, verbands-, und arbeitskampfrechtlicher Spielraum, DB Beilage 9/2001, 1; Buchner, Der Unterlassungsanspruch der Gewerkschaft – Stabilisierung oder Ende des Verbandstarifvertrages?, NZA 1999, 897; Dieterich, Gleichheitsgrundsätze im Tarifvertragsrecht, RdA 2005, 177; Federlin, Die Zukunft der betrieblichen Bündnisse für Arbeit, in: Festschrift 50 Jahre BAG, 2004, S. 645; Fischinger, Streik um Tarifsozialpläne?, NZA 2007, 310; Franzen, Tarifrechtssystem und Gewerkschaftswettbewerb – Überlegungen zur Flexibilisierung des Flächentarifvertrags, RdA 2001, 1; Franzen, Standortverlagerung und Arbeitskampf, ZfA 2005, 315; Fröhlich, Dreigliedrige Standortsicherungsvereinbarung, ArbRB 2009, 208; Gaul, Neue Felder des Arbeitskampfs: Streikmaßnahmen zur Erzwingung eines Tarifsozialplans, RdA 2008, 13; Gaul/Janz, Chancen und Risiken tariflicher Lösungen, NZABeilage 2010, 60; Gaul/Mückl, „Flashmob-Aktionen“, Unterstützungsstreiks und Streiks um Tarifsozialpläne, ArbRB 2009, 330; Gaul/Süßbrich/Kulejewski, Verschlechterung einzelvertraglicher Ansprüche durch Betriebsvereinbarung, ArbRB 2004, 346; Giesen, Be-

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Teil 12

Der Sanierungstarifvertrag

zugnahmeklauseln – Auslegung, Formulierung und Änderung, NZA 2006, 625; Grau/Döring, Unwirksamkeit dreigliedriger Standortsicherungsvereinbarungen bei unklarem Normcharakter als Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung, NZA 2008, 1335; Grau/Sittard, Sanierungstarifvertrag gilt grundsätzlich auch nach einem Betriebsübergang weiter, BB 2010, 1093; Greiner, Der „unechte Tarifwechsel“ – Zu den Wirkungen kleiner dynamischer Bezugnahmeklauseln bei Tarifwechsel, Tarifsukzession und Tarifrestrukturierung, NZA 2009, 877; Greiner, „Tarifsozialplan“ bei Betriebsübergang?, NZA 2008, 1274; Grimm/Pelzer, Tarifsozialpläne im Tendenzunternehmen?, NZA 2008, 1321; Hanau/ Strauß, Die neue Rechtsprechung zur Kündigung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang, in: Festschrift Bepler, 2012, S. 199; Heise, Günstigkeitsprinzip und betriebliche Bündnisse für Arbeit, in Festschrift 50 Jahre BAG, 2004, S. 657; Henssler, Der „Arbeitgeber in der Zange“ – Rechtsfragen der Firmentarifsozialpläne –, in: Festschrift Richardi, 2007, S. 553; Hohenstatt, Die Fortgeltung von Tarifnormen nach § 613a I 2 BGB, NZA 2010, 23; Hohenstatt/Schramm, Erstreikbarkeit von „tariflichen Sozialplänen“?, DB 2004, 2214; Kaiser, Standortsicherungs- und Tarifsozialpläne zwischen Tarif- und Betriebsverfassungsrecht, in: Festschrift Buchner, 2009, S. 385; Kast/Stuhlmann, Sind betriebliche Bündnisse für Arbeit noch durchführbar?, BB 2000, 614; Kleinebrink, Sanierende Ablösung von Verbandstarifverträgen durch Firmentarifverträge und firmenbezogene Verbandstarifverträge, ArbRB 2006, 119; Kleinebrink, Grundsätze der Gestaltung von Tarifverträgen zur Sanierung eines Unternehmens, ArbRB 2008, 279; Kort, Kündigungserschwerungen gegen Lohnverzicht in „Bündnisse für Arbeit“ – Vergleich von Äpfel und Birnen?, in Festschrift 50 Jahre BAG, 2004, S. 753; Krieger/Wiese, Neue Spielregeln für Streiks um Tarifsozialpläne, BB 2010, 568; Kühling/Bertelsmann, Tarifautonomie und Unternehmerfreiheit, NZA 2005, 1017; Kuhn/Willemsen, Gestaltungsspielräume bei Tarifsozialplänen, NZA 2012, 593; Lelley, Zu den tariflich regelbaren Zielen, EWiR 2003, 1035; Lesch, Dezentralisierung der Tarifpolitik und Reform des Tarifrechts, DB 2000, 322; Lieb, Erkämpfbarkeit von Firmentarifverträgen mit verbandsangehörigen Arbeitgebern, DB 1999, 2058; Lindemann/Dannhorn, Erstreikung von Tarifsozialplänen – Friedenspflicht bei Rationalisierungsschutzabkommen?, BB 2008, 1226; Lipinski/Ferme, Erstreikbarkeit von Tarifsozialplänen zulässig – Erste Gedanken zu Gegenmaßnahmen der Arbeitgeberseite, DB 2007, 1250; Löwisch, Beschäftigungssicherung als Gegenstand betrieblicher und tariflicher Regelungen und von Arbeitskämpfen, DB 2005, 554; Löwisch, Tariflicher Sozialplan – Abfindungsausschluss, RdA 2009, 253; Matthes, Der Arbeitgeber als Tarifvertragspartei, in: Festschrift Schaub, 1998, S. 477; Meyer, Gestaltungsfragen von Sanierungstarifverträgen, SAE 2008, 55; Meyer, Der Firmentarif-Sozialplan als Kombinationsvertrag, DB 2005, 830; Meyer, Betriebsübergang: Neues zur Transformation gem. § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB, DB 2010, 1404; Moll, Kollektivvertragliche Arbeitsbedingungen nach einem Betriebsübergang, RdA 1996, 275; Moll, Unkündbarkeitsregelungen im Kündigungsschutzsystem, in: Festschrift Wiedemann, 2002, S. 333; Moll, Fortgeltung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang, RdA 2007, 47; Moll, Betriebliche Bündnisse, in: Festschrift Bepler, 2012, S. 425; Nicolai, Zur Zulässigkeit tariflicher Sozialpläne, RdA 2006, 33; Niebler/Schmiedl, Sind Abweichungen vom Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung zulässig?, BB 2001, 1631; Olbertz/Reinartz, Die erweiterten Kampfrechte der Gewerkschaften – Was Arbeitgeber künftig beachten müssen, ArbRB 2008, 310; Picker, Tarifautonomie – Betriebsautonomie – Privatautonomie, NZA 2002, 761; Preis/Greiner, Vertragsgestaltung bei Bezugnahmeklauseln nach der Rechtsprechungsänderung des BAG, NZA 2007, 1073; Reichold, Zulässigkeitsgrenzen eines Arbeitskampfs zur Standortsicherung, BB 2004, 2814; Reuter, Können verbandsangehörige Arbeitgeber zum Abschluss von Haustarifverträgen gezwungen werden?, NZA 2001, 1097; Richardi, Tarifautonomie und Betriebsautonomie als Formen wesensverschiedener Gruppenautonomie im Arbeitsrecht, DB 2000, 42; Ricken, Der Sozialplantarifvertrag als zulässiges Arbeitskampfziel?, ZfA 2008, 283; Rieble, Arbeitsniederlegung zur Standorterhaltung, RdA 2005, 200; Rolfs/Clemens, Entwicklungen und Fehlentwicklungen im Arbeitskampfrecht, NZA 2004, 410; Rüthers, Mehr Beschäftigung durch Entrümpelung des Arbeitsrechts?, NJW 2003, 546; Schiefer/Worzalla, Unzulässige Streiks

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Teil 12

Rz. 1

Der Sanierungstarifvertrag

um Tarifsozialpläne, DB 2006, 46; Schwarz, Kleine dynamische Bezugnahmeklauseln – Abschied vom Tarifwechsel, BB 2010, 1021; Seel, Umstrukturierung von Unternehmen – Auswirkungen auf Kollektivvereinbarungen, MDR 2008, 657; Stück, Interessenausgleich, Sozialplan und tarifliche Sozialpläne – Handlungsoptionen des Arbeitgebers, MDR 2008, 127; Thüsing, Tarifkonkurrenz durch arbeitsvertragliche Bezugnahme, NZA 2005, 1280; Thüsing, Dreigliedrige Standortvereinbarungen, NZA 2008, 201; Trappehl/ Lambrich, Unterlassungsanspruch der Gewerkschaft – das Ende für betriebliche „Bündnisse für Arbeit“?, NJW 1999, 3217; Wank, Aktuelle Probleme des Arbeitskampfrechts, RdA 2009, 1; Weller, Streiks gegen Unternehmerentscheidungen?, GmbHR 2007, R241; Wendeling-Schröder, Betriebliche Ergänzungstarifverträge, NZA 1998, 624; Wiedemann, Neuere Rechtsprechung zur Verteilungsgerechtigkeit und zu den Benachteiligungsverboten, RdA 2005, 193; Wiedemann, Anm. in BAG AP Nr. 2 zu § 3 TVG; Willemsen/Stamer, Erstreikbarkeit tariflicher Sozialpläne: Die Wiederherstellung der Arbeitskampfparität, NZA 2007, 413.

A. Einleitung; Begriff 1

Sieht sich ein Unternehmen mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten konfrontiert, besteht das Bedürfnis nach Einsparungsmaßnahmen, insbesondere im Personalbereich. Für das Unternehmen wirft dies eine Reihe von Problemen auf. Die Beendigung von Arbeitsverhältnissen ist oftmals zu zeitaufwendig, da eine finanzielle Entlastung erst mit dem Ablauf ggf. langer Kündigungsfristen der Arbeitnehmer eintritt. Zudem ist das Unternehmen unter Umständen zur Zahlung von ggf. hohen (Sozialplan-)Abfindungen verpflichtet. Falls das Unternehmen an einen VerbandsTV gebunden ist, scheitert die Vereinbarung von einzelvertraglichen Regelungen mit gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmern in der Regel an dem in § 4 Abs. 3 TVG verankerten Günstigkeitsprinzip, das besagt, dass vom TV abweichende Abmachungen nur zulässig sind, soweit sie eine Änderung der Regelungen zugunsten des Arbeitnehmers enthalten. Anders verhält es sich nur, soweit der VerbandsTV eine sog. Öffnungsklausel enthält, d.h. die Vereinbarung von für den Arbeitnehmer ungünstigen abweichenden Abmachungen durch den TV selber gestattet ist. Einer Abweichung von Tarifregelungen mittels Betriebsvereinbarung steht die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG entgegen; danach können Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch TV geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein (Einzelheiten unter Rz. 111 ff.).

2

Eine Lösung kann der Abschluss eines SanierungsTVes in Form eines firmenbezogenen VerbandsTVes oder eines HausTVes sein. Ziel des SanierungsTVes ist es in aller Regel, einen geltenden VerbandsTV abzulösen und für das Unternehmen günstigere Arbeitsbedingungen zu ermöglichen. Das Unternehmen soll dadurch saniert und wieder wettbewerbsfähig gemacht werden.

B. Gestaltungsoptionen 3

Da ein SanierungsTV speziell auf die Krisensituation eines ganz bestimmten Unternehmens reagieren und diese entschärfen soll, mithin also nur für ein be902

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Gestaltungsoptionen

Rz. 6 Teil 12

stimmtes Unternehmen Geltung beanspruchen soll, ist er sowohl als HausTV als auch als firmenbezogener VerbandsTV denkbar. Bei der Entscheidung darüber, einen SanierungsTV als HausTV oder als firmenbezogenen VerbandsTV abzuschließen, ist ein Blick auf die Bezugnahmeklauseln der Arbeitsverträge von erheblicher Bedeutung. Dies deshalb, weil nur dann, wenn die Verweisungsklauseln auch den SanierungsTV umfassen, eine umfassende Geltung auch in Bezug auf die nicht verbandsangehörigen Arbeitnehmer gewährleistet werden kann.

I. Haustarifvertrag Ein SanierungsTV in der Form eines HausTVes wird zwischen dem Unternehmen und der Gewerkschaft abgeschlossen. Der einzelne Arbeitgeber ist gemäß § 2 Abs. 1 TVG tariffähig. Arbeitgeber ist jede natürliche oder juristische Person, die den Arbeitnehmern als Vertragspartner gegenübersteht1. Ein Unternehmen kann daher grundsätzlich als einzelner Arbeitgeber mit der Gewerkschaft einen HausTV abschließen.

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Der Konzern ist als solcher weder rechtsfähig noch rechtsgeschäftsfähig und damit auch nicht tariffähig2. Die Konzernobergesellschaft ist nicht Arbeitgeber der bei den Konzernunternehmen Beschäftigten3. Falls eine Konzernobergesellschaft einen HausTV abschließt, bindet dieser nur die bei ihr beschäftigten Arbeitnehmer, nicht auch die bei den übrigen Konzernunternehmen Beschäftigten. Dem Bedürfnis nach der Herbeiführung konzernweiter Tarifbestimmungen kann auf unterschiedliche Weise Rechnung getragen werden:

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– Jedes einzelne Konzernunternehmen kann den TV abschließen. – Die Konzernobergesellschaft kann in Stellvertretung für die einzelnen Konzernunternehmen handeln; die Stellvertretung muss hinreichend zum Ausdruck gebracht werden (§ 164 Abs. 2 BGB). – Die einzelnen Konzernunternehmen können AnschlussTVe schließen. – Die Konzernunternehmen können einen auf den Konzern bezogenen Arbeitgeberverband gebildet haben, und dieser schließt dann für seine Mitglieder (Verbands-)TVe (Bsp.: RWE Konzern, Telekom Konzern). Die Tariffähigkeit des einzelnen Arbeitgebers wird nach herrschender Auffassung nicht durch die Mitgliedschaft in einem Arbeitgeberverband beendet4. § 2 Abs. 1 TVG verleiht dem Arbeitgeber die Tariffähigkeit unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer Arbeitgebervereinigung. Über diese Tariffähigkeit kann 1 2 3 4

Vgl. MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 164 Rz. 51. Vgl. ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 24; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 147. Vgl. MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 164 Rz. 57. Vgl. BAG v. 4.4.2001 – 4 AZR 237/00, AP Nr. 26 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, AP Nr. 162 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; Bepler, AuR 2010, 234; Kleinebrink, ArbRB 2008, 279; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 340; Wiedemann/ Oetker, § 2 TVG Rz. 171 ff.; MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 164 Rz. 73. Siehe aber demgegenüber: LAG Schleswig-Holstein v. 25.11.1999 – 4 Sa 584/99, NZA-RR 2000, 143; Matthes, FS Schaub, S. 477 (481 ff.).

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Teil 12

Rz. 7

Der Sanierungstarifvertrag

der einzelne Arbeitgeber nicht durch schuldrechtliche Vereinbarungen mit einem Arbeitgeberverband disponieren. Die Tariffähigkeit ist nicht nur ein Recht, sondern zugleich eine dem Arbeitgeber auch im Interesse des sozialen Gegenspielers gesetzlich verliehene, unverzichtbare Eigenschaft. Der Arbeitgeber kann trotz Verbandszugehörigkeit und trotz eines für ihn gültigen VerbandsTVes einen konkurrierenden oder ergänzenden HausTV abschließen. Die Satzung des Arbeitgeberverbandes kann zwar den Abschluss eines HausTVes untersagen. Der Arbeitgeber verstößt dann durch den Abschluss eines verbandswidrigen HausTVes im Innenverhältnis gegen seine Verbandspflichten und setzt sich dadurch ggf. Verbandsstrafen aus, ein verbandswidriger HausTV ist dennoch wirksam1. Es bleibt ungeachtet der Verbandsmitgliedschaft des Arbeitgebers bei seiner Tariffähigkeit nach § 2 Abs. 1 TVG. Der Abschluss eines FirmenTVes durch den Arbeitgeber ist trotz der Verbandsmitgliedschaft möglich. Die Satzungen von Arbeitgeberverbänden sehen zwar regelmäßig vor, dass es den Mitgliedern nicht gestattet ist, ohne die Erlaubnis des Verbandes FirmenTVe abzuschließen. Dies ändert aber weder an der Tariffähigkeit etwas noch an der Wirksamkeit eines von einem Verbandsmitglied abgeschlossenen FirmenTVes. Der FirmenTV ist im Außenverhältnis wirksam. Das Verbandsmitglied verstößt lediglich gegen seine Verbandspflichten. 7

Dies ist Ausgangspunkt und Grundlage dafür, dass Arbeitskämpfe zur Erzwingung von HausTVen gegen einzelne, verbandsangehörige Arbeitgeber grundsätzlich zulässig sind2. Das Bundesarbeitsgericht hat bereits 1955 (!) ausgeführt3: „Weiter ist ein Streit auch nicht deshalb rechtswidrig, weil der bestreikte Arbeitgeber, der einem Arbeitgeberverband angehört, diesem gegenüber satzungsmäßig verpflichtet ist, keinen Firmentarif abzuschließen. Verpflichtungen, die ein Arbeitgeberverband tariflich einem Tarifpartner der Arbeitnehmerseite gegenüber eingegangen ist, oder Verpflichtungen, die einem einzelnen Arbeitgeber satzungsgemäß gegenüber seinem Arbeitgeberverband obliegen, berühren nicht die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit eines Streiks, zu dem eine Gewerkschaft aufruft, die in keinem Vertragsverhältnis zu dem Arbeitgeberverband oder dem Arbeitgeber steht. Wenn es einer Gewerkschaft erlaubt ist, ihre gewerkschaftlichen Aufgaben und Ziele durch einen TV zu verwirklichen, zu dessen Abschluss der Arbeitgeber notfalls durch Streik veranlasst werden soll, dann kann der Arbeitgeber einem solchen Streik die Legitimität nicht dadurch nehmen, dass er sich anderweitig Dritten gegenüber 1 Vgl. BAG v. 4.5.1955 – 1 AZR 493/54, AP Nr. 2 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; BAG v. 4.4.2001 – 4 AZR 237/00, AP Nr. 26 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, AP Nr. 162 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; Ahrendt, RdA 2012, 129; Kuhn/ Willemsen, NZA 2012, 593 (594); Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 171. 2 Vgl. BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, AP Nr. 162 zu Art 9 GG Arbeitskampf; ErfK/ Dieterich, Art. 9 GG Rz. 168; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 21 II 5c; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 131; MünchArbR/Otto, § 285 Rz. 66; MünchArbR/Ricken, § 200 Rz. 25; Wendeling-Schröder, NZA 1998, 624 (628). Siehe aber demgegenüber: LAG Schleswig-Holstein v. 25.11.1999 – 4 Sa 584/99, NZA-RR 2000, 143; Bauer/Krieger, NZA 2004, 1019 (1021); Buchner, DB Beilage 9/2001, 1 (12 ff.); Lieb, DB 1999, 2058 (2062); Reuter, NZA 2001, 1097 (1104); Rolfs/Clemens, NZA 2004, 410 (411). 3 Vgl. BAG v. 4.5.1955 – 1 AZR 493/54, AP Nr. 2 zu Art. 9 GG Arbeitskampf.

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Gestaltungsoptionen

Rz. 12 Teil 12

verpflichtet oder verpflichtet hat, einen solchen TV nicht abzuschließen.“ Der 1. Senat hat dies zuletzt in der Entscheidung vom 10. Dezember 2002 unter Auseinandersetzung mit den Gegenstimmen im Schrifttum ausführlich begründet1. Bei der Entscheidung, einen SanierungsTV als HausTV abzuschließen, ist es wichtig, vorab zu prüfen, ob die Arbeitsverträge insbesondere der nicht gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmer Bezugnahmeklauseln enthalten, die einen HausTV umfassen, um die umfassende Wirkung des SanierungsTVes zu gewährleisten.

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II. Firmenbezogener Verbandstarifvertrag Wird der SanierungsTV als firmenbezogener VerbandsTV abgeschlossen, sind TV-Parteien die Gewerkschaft und der Arbeitgeberverband, dem das Unternehmen angehört. Dieser Arbeitgeberverband schließt den SanierungsTV speziell für das Unternehmen ab, der betriebliche, personelle, räumliche Geltungsbereich des VerbandsTVes wird eingeschränkt. TV-Partei ist der Arbeitgeberverband und nicht das einzelne Unternehmen. Dies hat zur Konsequenz, dass der SanierungsTV auf Arbeitgeberseite auch nur durch den Arbeitgeberverband gekündigt werden kann2.

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Arbeitskämpfe zur Erzwingung eines firmenbezogenen VerbandsTVes sind nach Auffassung des BAG zulässig3.

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Der Abschluss eines firmenbezogenen VerbandsTVes kann für das betroffene Unternehmen unter anderem die Vorteile haben, dass es die Sachkunde seines Arbeitgeberverbandes nutzen kann, dass die Kosten für interne oder externe Berater in der Regel entfallen, da die Kosten für die Verbandsvertreter mit dem Verbandsbeitrag bereits abgegolten sind, und dass es sich nicht der Gefahr der Verletzung von Verbandspflichten durch den Abschluss eines HausTVes aussetzt.

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Ebenso ist zu berücksichtigen, dass die Bezugnahmeklauseln der Arbeitsverträge möglicherweise keine HausTVe, sondern allenfalls firmenbezogene VerbandsTVe erfassen. Das BAG hat eine Bezugnahmeklausel, die auf die TVe der Metallindustrie Nordrhein-Westfalen verweist, derart ausgelegt, dass auch firmenbezogene VerbandsTVe und im entschiedenen Fall ein firmenbezogener VerbandssanierungsTV erfasst seien. Durch eine Verweisung auf Verbandstarifverträge werden auch solche TVe in Bezug genommen, die Einschränkungen im Hinblick auf den sachlichen, personellen oder örtlichen Geltungsbereich beinhalten4. Bezugnahmeklauseln, die auf die jeweils einschlägigen FlächenTVe verweisen, umfassen nach Ansicht des BAG in der Regel auch firmenbezogene VerbandsTVe. Die Auslegung von Bezugnahmeklauseln hängt dabei allerdings immer vom Einzelfall ab.

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Vgl. BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, AP Nr. 162 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. Vgl. Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 160. Vgl. BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Sozialplan. Vgl. BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 486/05, AP Nr. 24 zu § 1 TVG Rückwirkung.

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Rz. 13

Der Sanierungstarifvertrag

C. Gebot der Rechtsquellenklarheit 13

Normative Regelungen, durch welche der Inhalt von Arbeitsverhältnissen unmittelbar und zwingend gestaltet werden soll, müssen dem Gebot der Rechtsquellenklarheit im Sinne einer Eindeutigkeit der Normurheberschaft genügen. Dies folgt aus dem Erfordernis der Rechtssicherheit, das in den Schriftformgeboten insbesondere des § 1 Abs. 2 TVG und des § 77 Abs. 2 Satz 1 und 2 BetrVG seinen gesetzlichen Niederschlag gefunden hat. Zu den dem Gebot der Rechtssicherheit unterliegenden Rechtsnormen gehören neben den Gesetzen insbesondere TVe und Betriebsvereinbarungen1. Da zwischen TVen und Betriebsvereinbarungen in vielfacher Hinsicht wesentliche Unterschiede bestehen, folgt daraus, dass der Rechtscharakter einer Sanierungsvereinbarung als TV oder als Betriebsvereinbarung zweifelsfrei bestimmbar sein muss.

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Werden Vereinbarungen nur von den TV-Parteien oder nur von den Betriebsparteien unterzeichnet, entstehen hinsichtlich der Urheberschaft dieser Vereinbarungen in der Regel keine Unklarheiten. Probleme hinsichtlich der Zuordnung der Urheberschaft können in den in der Praxis nicht selten vorkommenden Fällen auftreten, in denen Sanierungsvereinbarungen von den TV-Parteien und auch vom Betriebsrat unterzeichnet werden (drei- oder mehrseitige Vereinbarungen). In diesen Fällen kann es sein, dass die Vereinbarung auch von Personen/Stellen unterzeichnet wird, deren Regelungskompetenz sich nicht auf sämtliche Regelungsgegenstände erstreckt. Die Mitunterzeichnung eines arbeitsrechtlichen kollektiven Normenvertrages durch eine hierfür unzuständige Person oder Stelle führt zwar alleine nicht zur Gesamt- oder Teilnichtigkeit der Vereinbarung. Dies gilt aber bei gemischten Vereinbarungen nur, wenn sich für die Normadressaten aus der Vereinbarung selbst ohne Weiteres und zweifelsfrei ergibt, um welche Rechtsquelle es sich bei den jeweiligen Regelungskomplexen handelt2. Bei von Arbeitgeber, Gewerkschaft und Betriebsrat unterzeichneten Vereinbarungen, die sich nicht zweifelsfrei insgesamt entweder als TV oder als Betriebsvereinbarung qualifizieren lassen, sind daher aus Gründen der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit sowie wegen des betriebsverfassungs- und tarifrechtlichen Schriftformgebots allenfalls diejenigen Regelungskomplexe wirksam, die sich selbständig von den übrigen abgrenzen lassen und deren Urheber ohne Weiteres erkennbar sind3. Es ist also grundsätzlich möglich, Sanierungsvereinbarungen durch die TV-Parteien und den Betriebsrat unterschreiben zu lassen, solange sich jede einzelne Regelung zweifelsfrei entweder als tarifvertragliche oder als betriebsverfassungsrechtliche Regelung qualifizieren und sich deutlich von den anders zu qualifizierenden Regelungen trennen lässt. Es ist nicht erforderlich, dass stets getrennte Vereinbarungen abgeschlossen werden müssen. Drei- bzw. mehrseitige Vereinbarungen sind grundsätzlich möglich4.

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Vgl. BAG v. 15.4.2008 – 1 AZR 86/07, AP Nr. 96 zu § 77 BetrVG 1972. Vgl. BAG v. 15.4.2008 – 1 AZR 86/07, AP Nr. 96 zu § 77 BetrVG 1972. Vgl. BAG v. 15.4.2008 – 1 AZR 86/07, AP Nr. 96 zu § 77 BetrVG 1972. Vgl. Fröhlich, ArbRB 2009, 208 (210).

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Gebot der Rechtsquellenklarheit

Rz. 15 Teil 12

Das Bundesarbeitsgericht hat sich mit der Problematik insbesondere in zwei Entscheidungen befasst1. In einem Fall war ein mit „Betriebsvereinbarung über einen Konsolidierungsvertrag“ überschriebenes Papier unterzeichnet worden2, das zur Realisierung eines Sanierungskonzepts Verzichte auf Arbeitsentgelt vorsah. Die Vereinbarung war von dem Arbeitgeber, dem Betriebsrat und der Gewerkschaft unterschrieben worden. Ein Arbeitnehmer griff die Kürzungen aufgrund dieser Vereinbarung auf und machte ihre Unwirksamkeit geltend. Das Bundesarbeitsgericht würdigte diese Vereinbarung trotz der Überschrift und trotz der Mitunterzeichnung durch den Betriebsrat als TV und hielt deshalb die Entgeltkürzungen für tarifvertraglich wirksam vereinbart. Ausgangspunkt und Grundlage der Entscheidung ist, dass derartige Vereinbarungen im Zweifel TVe sind, weil ansonsten Betriebsvereinbarungsregelungen mit entsprechenden Inhalten unwirksam wären. Die Tendenz des Bundesarbeitsgerichts, derartige Vereinbarungen aufrecht zu erhalten, ist zu begrüßen. Umso problematischer erscheint die Nachfolgeentscheidung, die derzeit das letzte Wort zu Vereinbarungen, die von Arbeitgeber, Betriebsrat und Gewerkschaft gemeinsam unterzeichnet sind, darstellt3. Ein „Standortsicherungsvertrag“ war zwischen dem Arbeitgeber, dem Betriebsrat, dem Konzernbetriebsrat und der Gewerkschaft abgeschlossen worden. Er enthielt fünf Abschnitte. Der 1. Abschnitte änderte TVe ab und sah vor, dass für bestimmte Zeiträume tarifliche Leistungen entfielen. Der 2. Abschnitt regelte, dass Betriebsvereinbarungen dahingehend geändert wurden, dass im Rahmen von Zeitkonten auf Gleitzeitguthaben in Höhe von 200 Stunden verzichtet wurde. Der 3. Abschnitt bestimmte, dass im Hinblick auf einen Personalabbau eine Bestimmung des bereits bestehenden Interessenausgleichs ersatzlos gestrichen und eine Sozialplanregelung getroffen wurde. Der 4. Abschnitt enthielt eine Standortsicherungsgarantie durch den Arbeitgeber. Es wurde 5. schließlich die Laufzeit ohne Nachwirkung festgelegt. Ein Arbeitnehmer machte geltend, dass der Arbeitgeber zum Abzug von 200 Guthabenstunden auf dem Gleitzeitkonto nicht berechtigt gewesen sei, und klagte. Das Bundesarbeitsgericht hat die Regelung über den Abzug des Gleitzeitguthabens von 200 Stunden für unwirksam gehalten, „weil sich die Urheberschaft für die Regelung nicht mit der erforderlichen Eindeutigkeit feststellen lässt.“ Es erklärt, dass die Rechtsqualität der Regelung nicht hinreichend eindeutig sei und dass dies dem für kollektive arbeitsrechtliche Normenverträge geltenden Gebot der Rechtsquellenklarheit widerspreche. Die Normurheberschaft und der Normsetzungswille der jeweiligen Normgeber müssten im Interesse der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit deutlich und überprüfbar hervortreten. Eine von Arbeitgeber, Betriebsrat und Gewerkschaft unterzeichnete Vereinbarung sei zwar nicht bereits wegen der gemeinsamen Unterzeichnung unwirksam. Es müsse sich jedoch feststellen

1 Siehe dazu näher Ahrendt, RdA 2012, 129 (130–131); Grau/Döring, NZA 2008, 1335 ff.; Moll, FS Bepler, S. 425 (434 ff.); Thüsing, NZA 2008, 201 ff. 2 Vgl. BAG v. 7.11.2000 – 1 AZR 175/00, AP Nr. 14 zu § 77 BetrVG 1972 Tarifvorbehalt. 3 Vgl. BAG v. 15.4.2008 – 1 AZR 86/07, AP Nr. 96 zu § 77 BetrVG 1972.

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Rz. 16

Der Sanierungstarifvertrag

lassen, wer Urheber der jeweiligen Regelung sei. Wenn dies mit hinreichender Deutlichkeit nicht geschehe, sei die Vereinbarung unwirksam. 16

Auch wenn der 1. Senat einen Widerspruch mit seiner Entscheidung vom 7. November 2000 zurückweist, ist doch unübersehbar, dass er sich bei der Würdigung der mehrseitigen Vereinbarung nicht von dem Bestreben und dem Grundsatz leiten lässt, die der Senat in der Entscheidung vom 7. November 2000 als maßgeblich angesehen hat, nämlich Regelungen möglichst so zu verstehen, dass sie wirksam sind. Das (jüngere) Prinzip des Bundesarbeitsgerichts und die Anwendung auf den Einzelfall sind erheblichen Bedenken ausgesetzt. Hatte der Senat in der Entscheidung vom 7. November 2000 noch durch Auslegung festgestellt, dass die Regelungen TV-Qualität hatten, scheint der Senat in der Entscheidung vom 15. April 2000 zu verlangen, dass ohne weiteres und von vornherein klar und ausdrücklich bestimmt sein müsse, wer welche Normen verantwortet, ohne auf eine Auslegung in unklaren Fällen abzustellen. Eine Auslegung hätte in dem entschiedenen Fall aus sehr guten Gründen eine Zuordnung der Normen vornehmen und die Regelungen als wirksam ansehen können. Abschnitt 1 hatte ausdrücklich die „Abänderung des TVs“ zum Gegenstand. Es lag daher nichts näher, als diesbezüglich eine TV-Regelung anzunehmen. Abschnitt 2 betraf die Abänderung von Betriebsvereinbarungen, Abschnitt 3 die Kündigung von Arbeitnehmern, Personalabbau, Interessenausgleich und Sozialplan. Es hätte insoweit nichts näher gelegen, als diesen Regelungen Betriebsvereinbarungscharakter zuzubilligen. Es hätte sich dann die Frage gestellt, ob in dieser Weise TV-Regelungen und Betriebsvereinbarungsregelungen in einer von allen zuständigen Parteien unterschriebenen Urkunde zusammengefasst werden können. Warum nicht? Das Bundesarbeitsgericht hat demgegenüber im Unterschied zu der Vorläufer-Entscheidung vom 7. November 2000 den Auslegungsweg nicht beschritten, angeblich weil mangels Deutlichkeit die Normgeber nicht erkennbar gewesen seien. Überzeugend erscheint weder der Rechtsgrundsatz noch die Anwendung im Einzelfall. Dass sich aus der Regelung „selbst ohne weiteres und zweifelsfrei“ ergibt, wer Urheber der einzelnen Regelungskomplexe ist, lässt sich nicht postulieren. Es ist vielmehr Aufgabe der Rechtsprechung, im Einzelfall festzustellen, welche Rechtsnorm und welcher Rechtscharakter vorliegen1. Nicht minder zweifelhaft erscheint, dass der 1. Senat die Normzuordnung – legt man die Auslegungsbemühungen und Maßstäbe in der Entscheidung vom 7. November 2000 an – verweigert.

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Wem diese abermalige Verkomplizierung der Rechtslage dient, ist nicht wirklich auszumachen. Für die Praxis bleibt die Erkenntnis: Es ist selbstverständlich uneingeschränkt zu empfehlen, Betriebsräte und Gewerkschaften gemeinsam ins Boot zu nehmen, wenn Vereinbarungen abgeschlossen werden, mit denen unter Abänderung von betrieblichen und tariflichen Regelungen insgesamt ein abgestimmtes Maßnahmensystem aufgestellt wird. Diesbezüglich ist aber zu beachten, dass klargestellt wird, welche Bestimmungen als Betriebsvereinbarung und welche als TV gelten. Bei von Arbeitgeber, Gewerkschaft und Be1 Siehe aber dem BAG zustimmend Ahrendt, RdA 2012, 129 (130); Thüsing/Braun/Oberwinter, Kap. 9 Rz. 34.

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Inhaltliche Gestaltung und Formulierungshinweise

Rz. 19 Teil 12

triebsrat unterzeichneten Vereinbarungen, die sich nicht zweifelsfrei entweder insgesamt als TV oder insgesamt als Betriebsvereinbarung qualifizieren lassen, sind danach nur diejenigen Regelungskomplexe wirksam, die sich selbständig von den übrigen abgrenzen lassen und deren Urheber ohne Weiteres erkennbar sind. Der Arbeitgeber wird in besonderer Weise auf die Einhaltung der Wirksamkeitsbedingungen achten müssen, weil anderenfalls die Sanierungsbeiträge der Arbeitnehmer nicht verbindlich vereinbart sind und für die Verschlechterung von Arbeitsbedingungen keine Rechtsgrundlage bestünde. Dieses Risiko kann auch im Rahmen der arbeitsrechtlichen due diligence von Bedeutung sein, so dass bei Transaktionen eine sorgfältige Prüfung von drei- bzw. mehrseitigen Sanierungsvereinbarungen geboten ist1. Letztlich bleibt bei drei- oder mehrseitigen Vereinbarungen Vorsicht geboten, weil sich für den Arbeitgeber im Falle der Unwirksamkeit einer Sanierungsvereinbarung erhebliche Risiken ergeben, da für die Sanierungsbeiträge der Arbeitnehmer wie beispielsweise die Absenkung von Vergütungen oder die Streichung von Tariflohnerhöhungen keine Rechtsgrundlage mehr bestünde. Wenn man, um Risiken zu vermeiden, zwei Urkunden fertigt, für die Betriebsvereinbarungsebene einerseits und die TV-Ebene andererseits, würden Risiken aus der Normzurechnung zwar vermieden. Es müssten dann allerdings, soweit dies in dem Regelungsgeflecht von betrieblichen und tariflichen Regelungen erforderlich ist, ggf. entsprechende Abstimmungs- und Koordinierungsregelungen in den getrennten Vereinbarungen aufgenommen werden. Um Risiken zu vermeiden, kann je nach Einzelfall erwogen werden, die entsprechenden Regelungen zwar gemeinsam auszuhandeln, jedoch in zwei getrennten Urkunden mit der eindeutigen Bezeichnung als TV und Betriebsvereinbarung und der Unterschrift der jeweils zuständigen Vertragspartei niederzulegen2. In diese Vereinbarungen können und müssen, soweit erforderlich, Anrechnungs- oder Verweisungsklauseln aufgenommen werden. Die Problematik wird sich oft auch dadurch bewältigen lassen, dass durch TV eine Öffnungsklausel zugunsten der Betriebsvereinbarung vereinbart wird3.

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D. Inhaltliche Gestaltung und Formulierungshinweise Die inhaltliche Gestaltung eines SanierungsTVes ist abhängig von der konkreten Situation des Unternehmens und den sich daraus ergebenden Regelungsbedürfnissen. In der Präambel ist sinnvollerweise der Grund für die Notwendigkeit eines SanierungsTVes kurz darzustellen, z.B. aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten zur Vermeidung einer Insolvenz.

1 Vgl. Grau/Döring, NZA 2008, 1335 (1337). 2 Vgl. Fröhlich, ArbRB 2009, 208 (210). 3 Vgl. Bayreuther, NZA 2010, 378 (381).

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Teil 12

Rz. 20

Der Sanierungstarifvertrag

I. Geltungsbereich 1. Betrieblicher/Räumlicher Geltungsbereich 20

Der räumliche Geltungsbereich kann auf bestimmte Betriebe des Unternehmens beschränkt werden1. Dieser Tarifvertrag gilt räumlich für den Betrieb … (Bezeichnung) … in … (Adresse) …. Falls sich diesbezüglich keine Regelung findet, fallen im Zweifel alle Betriebe des Unternehmens unter den räumlichen Geltungsbereich2. Erwirbt das Unternehmen in der Folgezeit weitere Betriebe, so fallen auch diese darunter3.

2. Persönlicher Geltungsbereich 21

Der persönliche Geltungsbereich des SanierungsTVes ist in der Regel identisch mit dem des abzulösenden VerbandsTVes. Der Tarifvertrag gilt für alle Arbeitnehmer/innen, einschließlich der Auszubildenden, des Unternehmens …, soweit sie unter den Geltungsbereich des Verbandsvertrages … fallen.

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Die Parteien können den persönlichen Geltungsbereich einschränken und bestimmte Arbeitnehmergruppen aus dem Geltungsbereich herausnehmen bzw. bestimmen, dass der SanierungsTV nur für bestimmte Arbeitnehmergruppen gilt (z.B. nur für die in den letzten fünf Jahren vor Tarifabschluss eingestellten Mitarbeiter). Für diejenigen Arbeitnehmer, die danach nicht unter den persönlichen Geltungsbereich des SanierungsTVes fallen, gilt dann der VerbandsTV weiter.

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Die Differenzierung beim persönlichen Geltungsbereich berührt die Frage der Bindung der TV-Parteien an den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG)4. Die TVParteien sind als Vereinigungen privaten Rechts zwar nicht unmittelbar grundrechtsgebunden5. Ihre Grundrechtsbindung beruht nicht unmittelbar auf der Abwehrfunktion der Grundrechte, sondern mittelbar auf deren Schutzfunktion. Der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG begrenzt zwar die Normset1 Vgl. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 123. 2 Vgl. Kleinebrink, ArbRB 2008, 279 (280). 3 Vgl. BAG v. 24.1.2001 – 4 AZR 4/00, AP Nr. 1 zu § 3 BetrVG 1972; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 123. 4 Siehe dazu Däubler/Schiek, TVG, Einl. Rz. 295 ff; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 218a; Wiedemann, RdA 2005, 193 (194 ff.); Wiedemann/Wiedemann, TVG, Einl. Rz. 203 ff., 214. 5 Vgl. BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 563/99, AP Nr. 25 zu § 4 TVG; BAG v. 29.8.2001 – 4 AZR 352/00, AP Nr. 291 zu § Art. 3 GG; BAG v. 27.5.2004 – 6 AZR 129/03, AP Nr. 5 zu § 1 TVG Gleichbehandlung; BAG v. 24.6.2004 – 6 AZR 389/03, AP Nr. 10 zu § 34 BAT; BAG v. 27.4.2006 – 6 AZR 437/05, AP Nr. 19 zu § 29 BAT; BAG v. 25.10.2007 – 6 AZR 95/07, AP Nr. 12 zu § 34 BAT; BAG v. 27.1.2011 – 6 AZR 578/09, ZTR 2011, 365. Offen gelassen bei BAG v. 21.9.2010 – 9 AZR 442/09, ZTR 2011, 304. Siehe zur Entwicklung dieser heute stark überwiegenden Auffassung Dieterich, RdA 2005, 177 (178 ff.); Däubler/Schiek, TVG, Einl. Rz. 168 ff.

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Inhaltliche Gestaltung und Formulierungshinweise

Rz. 26 Teil 12

zungsautonomie der Koalitionen, ihnen steht jedoch ein weiter Gestaltungsspielraum zu1. In der Festlegung des Geltungsbereichs eines TVes sind die TVParteien grundsätzlich autonom, solange sie die Arbeitnehmer nicht willkürlich ungleich behandeln. Diese Grenze der Willkür ist überschritten, wenn die Differenzierung im persönlichen Geltungsbereich unter keinem Gesichtspunkt plausibel erklärbar ist2. In der Beschränkung des persönlichen Geltungsbereichs auf diejenigen Mitarbeiter, die in den letzten fünf Jahren vor Tarifabschluss eingestellt worden sind3, liegt nach Ansicht des BAG kein Verstoß gegen den Gleichheitssatz, wenn nach der Einschätzung der TV-Parteien ansonsten betriebsbedingte Kündigungen drohen, die zahlenmäßig der betroffenen Gruppe entsprechen und im Rahmen der Sozialauswahl vorrangig diese treffen würden. Es kam in dem vom BAG entschiedenen Fall dazu, dass den von den Einschränkungen betroffenen Mitarbeitern „Abfindungen“ gezahlt wurden. Das BAG hielt die Differenzierung insgesamt für nicht sachwidrig4.

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3. Zeitlicher Geltungsbereich Der zeitliche Geltungsbereich bestimmt den Beginn und das Ende der Wirkung der tariflichen Rechtsnormen. In der Regel tritt der TV mit dem Abschluss, d.h. mit seiner Unterzeichnung in Kraft. Die TV-Parteien können vereinbaren, dass der TV erst zu einem späteren Zeitpunkt in Kraft treten soll. In diesem Falle ergreift der TV grundsätzlich mit einigen Ausnahmen die Rechtsverhältnisse, die bei Wirksamkeitsbeginn bestehen oder nachher begründet werden5. Innerhalb der Grenzen des Vertrauensschutzes können die TV-Parteien einen SanierungsTV auch rückwirkend abschließen.

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Der SanierungsTV wird in der Regel befristet abgeschlossen und endet mit dem vereinbarten Fristablauf. Die Vereinbarung ordentlicher Kündigungsmöglichkeiten bleibt den TV-Parteien auch bei einer Befristung überlassen6. Sie können bestimmte Kündigungsgründe (z.B. Wegfall des Sanierungsbedarfs), -fristen oder -termine vereinbaren. Dabei ist auch die Vereinbarung ordentlicher fristloser Kündigungen ohne die Bestimmung eines Kündigungstermins grundsätzlich möglich7. Vereinbaren die TV-Parteien ordentliche Kündigungsmöglich-

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1 Vgl. BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 563/99, AP Nr. 25 zu § 4 TVG; BAG v. 29.8.2001 – 4 AZR 352/00, AP Nr. 291 zu Art. 3 GG; BAG v. 24.6.2004 – 6 AZR 389/03, AP Nr. 10 zu § 34 BAT; BAG v. 27.4.2006 – 6 AZR 437/05, AP Nr. 19 zu § 29 BAT; BAG v. 25.10.2007 – 6 AZR 95/07, AP Nr. 12 zu § 34 BAT; BAG v. 30.10.2008 – 6 AZR 682/07, AP Nr. 1 zu § 5 TVÜ; BAG v. 21.9.2010 – 9 AZR 442/09, ZTR 2011, 304; BAG v. 27.1.2011 – 6 AZR 578/09, ZTR 2011, 365. 2 Vgl. BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 563/99, AP Nr. 25 zu § 4 TVG; BAG v. 29.8.2001 – 4 AZR 352/00, AP Nr. 291 zu § Art. 3 GG; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 15; Däubler/ Schiek, TVG, Einl. Rz. 298. 3 Vgl. BAG v. 25.6.2003 – 4 AZR 405/02, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Beschäftigungssicherung. 4 BAG v. 25.6.2003 – 4 AZR 405/02, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Beschäftigungssicherung. 5 Siehe dazu näher Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 230 ff. 6 Vgl. Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 107a. 7 Vgl. Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 106.

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Teil 12

Rz. 27

Der Sanierungstarifvertrag

keiten, sind die Auswirkungen zu bedenken. Im Falle eines Betriebsübergangs beispielsweise ist es oftmals von erheblicher Bedeutung für den Erwerber, den SanierungsTV weiter anwenden zu können, um die Sanierung weiter voranzutreiben. Eine Möglichkeit ist es daher, die Kündigung auf den Fall des Wegfalls der Sanierungssituation zu beschränken, unabhängig von einem möglichen Betriebsübergang. 27

Ist in dem befristeten SanierungsTV keine ordentliche Kündigungsmöglichkeit geregelt, scheidet eine ordentliche Kündigung vor Fristablauf aus1. Eine außerordentliche Kündigung bei Vorliegen eines wichtigen Grundes und Beachtung des Ultima-ratio-Grundsatzes bleibt immer möglich2. Zur Kündigung im Falle eines Betriebsübergangs siehe unten Rz. 108 ff.

II. Sanierungsbeiträge 28

Um eine finanzielle Entlastung, insbesondere im Hinblick auf die Personalkosten, und damit eine Sanierung des betroffenen Unternehmens zu erreichen, werden in SanierungsTVen üblicherweise folgende Gegenstände geregelt, die der Sanierung des Betriebs oder Unternehmens dienen. Die Auslegung von Bestimmungen des SanierungsTVes wird von diesem Sanierungsziel aus die Sicherung der Arbeitsplätze als Tarifzweck zugrunde legen3.

1. Sanierungsbeiträge der Arbeitnehmer a) Arbeitszeiterhöhung ohne Entgeltausgleich 29

Ein Sanierungsbeitrag der Arbeitnehmer kann sein, mehr Arbeit ohne zusätzliche Vergütung zu leisten. So kann beispielsweise vereinbart werden, dass die regelmäßige Arbeitszeit erhöht wird, ohne dass sich das Gehalt entsprechend erhöht. In diesem Falle verringert sich das Entgelt pro Arbeitsstunde4. Zur Vermeidung von Streitigkeiten kann der Beginn der Mehrarbeit konkret definiert werden. (1) Abweichend von § … des Tarifvertrages vom … wird die regelmäßige tarifliche Wochenarbeitszeit auf … Stunden, ausschließlich der Pausen, ab dem … erhöht. Ein Entgeltausgleich findet nicht statt. Es verbleibt bei der tariflichen Vergütung gemäß § … des Tarifvertrag vom … auch unter Berücksichtigung der erhöhten Wochenarbeitszeit. (2) Die vorgenannte Regelung gilt für Teilzeitbeschäftigte entsprechend. (3) Mehrarbeit nach § … des Tarifvertrages vom … liegt daher erst mit dem Beginn der … Wochenarbeitsstunde vor. Ebenso bekannt geworden sind Gestaltungen, wonach Mehrarbeit geleistet wird, die auf einem Mehrarbeitskonto gutgeschrieben und nach einem be1 2 3 4

Vgl. Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 74. Vgl. Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 74, 118 ff. Vgl. BAG v. 11.11.2010 – 8 AZR 392/09, NZA 2011, 763. Vgl. Kleinebrink, ArbRB 2008, 279 (281).

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Inhaltliche Gestaltung und Formulierungshinweise

Rz. 32 Teil 12

stimmten Verhältnisschlüssel nur insoweit bezahlt wird, wie bestimmte betriebliche, wirtschaftliche Erfolgsparameter erreicht werden1.

b) Vergütungsabsenkung Finanzielle Entlastung bringt darüber hinaus die Verringerung der Vergütung der Arbeitnehmer.

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Das monatliche Bruttoentgelt der Beschäftigten verringert sich ab dem … um … %.

c) Reduzierung/Wegfall von Sonderzahlungen Hinsichtlich der tariflichen Sonderzahlungen kann der komplette Verzicht, aber auch eine Staffelung zur Senkung der Höhe der Sonderzahlungen vereinbart werden. Enthält der VerbandsTV Berechnungsmethoden zur Bestimmung der individuellen Höhe der Sonderzahlung, sollte diese Methode im Falle der Senkung der Sonderzahlungen beibehalten werden, um Probleme durch die Abrechnungsprogramme zu vermeiden2.

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Die Jahressonderzahlung gemäß Tarifvertrg vom … entfällt für die Jahre … Die Jahressonderzahlung gemäß Tarifvertrag vom … wird im Jahre … auf … %, im Jahre … auf … % und im Jahre … auf … % eines Monatsverdienstes gesenkt. Die Berechnung und Voraussetzungen dieser Jahressonderzahlung bestimmen sich im Übrigen nach dem Tarifvertrag …. In den Jahren … entstehen keine Ansprüche auf Urlaubsgeld. Das gemäß § … des Tarifvertrages vom … zu zahlende Urlaubsgeld wird im Jahre … auf … %, im Jahre … auf … % und im Jahre … auf … % eines Monatsverdienstes gesenkt. Die Berechnung und Voraussetzungen dieses Urlaubsgeldes bestimmen sich im Übrigen nach dem Tarifvertrag vom … Bestimmt der SanierungsTV die Reduzierung freiwilliger Sozialleistungen wie z.B. Zahlung eines Sterbegeldes und lässt die Auslegung der Regelung die vollständige Streichung nicht zu, ist die vom Arbeitgeber auf den Freiwilligkeitsvorbehalt gestützte völlige Streichung der Sozialleistung unwirksam3. Die Regelung des SanierungsTVes ist verbindlich. Die Regelungsmacht der TV-Parteien umfasst auch die Absicherung freiwilliger Sozialleistungen. Ergibt die Auslegung der Regelung daher nicht, dass auch eine vollständige Streichung erlaubt sein soll (etwa weil die TV-Parteien zwischen den Wörtern „reduzieren“ und „streichen“ bewusst unterschieden haben), bleibt es bei der Reduzierung, eine Streichung ist dann trotz des vormals freiwilligen Charakters der Leistung nicht möglich. Möchte sich der Arbeitgeber die Möglichkeit der vollständigen Streichung der (freiwilligen) Sozialleistung offenlassen, ist dies daher ausdrücklich zu vereinbaren. 1 Vgl. z.B. BAG v. 11.11.2010 – 8 AZR 392/09, NZA 2011, 763. 2 Vgl. Kleinebrink, ArbRB 2008, 279 (282). 3 Vgl. LAG Düsseldorf v. 29.8.2007 – 12 Sa 921/07.

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Teil 12

Rz. 33

Der Sanierungstarifvertrag

d) Aussetzung/Reduzierung von geplanten Tariflohnerhöhungen 33

Vorgesehene Tariflohnerhöhungen können vollständig gestrichen, sie können aber auch auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden. Auch ist es möglich, die geplanten Tariflohnerhöhungen abzusenken (ggf. gestaffelt). Die gemäß Tarifvertrag vom … geplante Tariflohnerhöhung entfällt für die Jahre … Die gemäß Tarifvertrag vom … geplante Tariflohnerhöhung tritt abweichend von § … des Tarifvertrages vom … erst am … in Kraft. Die gemäß Tarifvertrag vom … geplante Tariflohnerhöhung wird in den Jahren … auf … % gesenkt. Die gemäß Tarifvertrag vom … geplante Tariflohnerhöhung wird im Jahre … auf … %, im Jahre … auf … % und im Jahre … auf … % gesenkt.

1. Sanierungsbeiträge des Arbeitgebers/Beschäftigungssicherung 34

Im Gegenzug zu den Beiträgen der Arbeitnehmer werden von den Gewerkschaften als Beitrag des Arbeitgebers Beschäftigungssicherungs- oder Standortsicherungsklauseln gefordert.

a) Standortsicherung 35

Zur Vermeidung von Standortschließungen mit der Konsequenz zahlreicher Entlassungen wird eine Standortsicherung für die Laufzeit des SanierungsTVes oder bis zu einem bestimmten Zeitpunkt vereinbart. So findet sich in einigen TVen beispielsweise folgende Formulierung: Der Standort … des Unternehmens wird bis zum … abgesichert.

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Eine solche Regelung könnte in die durch Art. 12 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich garantierte Unternehmerfreiheit des Arbeitgebers eingreifen, wonach die Geschäftsführung des Unternehmens dem Arbeitgeber obliegt, verbunden mit den Entscheidungen darüber, ob, was und wo etwas hergestellt wird. Die Entscheidung darüber, ob ein Standort verlegt oder gar geschlossen wird, liegt grundsätzlich beim Unternehmen1. Allerdings ist zu beachten, dass es in der hier behandelten Konstellation nicht darum geht, eine vom Unternehmen geplante Standortverlegung/Standortschließung streikweise zu verhindern und dadurch die unternehmerische Entscheidung unmöglich zu machen, sondern es geht darum, einvernehmlich einen Ausgleich für die sanierungsbedingten Einschränkungen der Arbeitnehmer herbeizuführen. Indem der Arbeitgeber die Vereinbarung einer Standortsicherung trifft (ohne dazu streikweise gezwungen worden zu sein), beinhaltet seine – „freie“ – unternehmerische Entscheidung die Standorterhaltung. Dies ist grundsätzlich zulässig. Ein Verband kann eine solche Entscheidung nicht eigenmächtig treffen und in den SanierungsTV aufnehmen. Dies ist nur mit der ausdrücklichen Zustimmung des betroffenen Un1 Vgl. LAG Hamm v. 31.5.2000 – 18 Sa 858/00, NZA-RR 2000, 535 hinsichtlich des Streiks um einen Standortsicherungsvertrag.

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Inhaltliche Gestaltung und Formulierungshinweise

Rz. 39 Teil 12

ternehmens denkbar. Im Rahmen eines HausTVes entscheidet der Arbeitgeber selbst darüber, auch Regelungen, die seine unternehmerischen Entscheidungen betreffen, in den TV aufzunehmen. Ein Streik um einen Standortsicherungsvertrag würde dagegen in die geschützte Unternehmerfreiheit des Arbeitgebers eingreifen und wäre rechtswidrig. Ein Streik um einen Standortsicherungsvertrag wäre nicht nur unzulässig, weil die Druckausübung die freie, geschützte unternehmerische Entscheidung vereitelt, sondern auch deshalb, weil eine Standortsicherungsklausel nicht (normativ) tariflich regelbar im Sinne des § 1 Abs. 1 TVG ist. Nach § 1 Abs. 1 TVG können Gegenstand tariflicher Regelungen Rechtsnormen sein, die den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen ordnen. Dies zeigt, dass tarifvertraglich über die Entscheidungen der Geschäftsleitung eines Unternehmens selbst nicht bestimmt werden kann und soll. Fragen der Unternehmenspolitik können grundsätzlich nicht normativ tariflich geregelt werden1. Die Standortsicherung eines Betriebes kann daher nicht Gegenstand des normativen Teils eines TVes gemäß § 1 Abs. 1 TVG sein kann2. Eine solche Standortsicherung kann lediglich im Rahmen des schuldrechtlichen Teils vereinbart werden3. Arbeitskämpfe dürfen jedoch nur zur Durchsetzung (normativ) tariflich regelbarer Ziele im Sinne des § 1 Abs. 1 TVG geführt werden4, so dass die Standortsicherung nicht streikweise erkämpft weden kann.

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Das BAG hat zuletzt offen gelassen, ob die Tarifparteien durch eine Betriebsnorm i.S.d. § 3 Abs. 2 TVG Outsourcingmaßnahmen einem Zustimmungsvorbehalt zu Gunsten der Gewerkschaft unterwerfen können5. Es sieht derartige Regelungen allerdings regelmäßig nicht als solche mit normativer und zwingender Wirkung für das Arbeitsverhältnis an, sondern als schuldrechtliche Abrede zwischen den Tarifparteien.

38

b) Ausschluss/Zahlenmäßige Beschränkung betriebsbedingter Kündigungen Regelmäßig zu finden sind Vereinbarungen hinsichtlich bestimmter Kündigungsbeschränkungen oder vollständiger Kündigungsverzichte für die Laufzeit des SanierungsTVes oder einen bestimmten Zeitraum. Als Beendigungsnormen sind solche Regelungen gemäß § 1 Abs. 1 TVG tariflich regelbar6. Diesbezüglich sollte man zur Vermeidung von Auslegungsstreitigkeiten regeln, auf welchen Zeitpunkt (Zugang der Kündigung oder Ablauf der Kündigungsfrist) es 1 Vgl. MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 171 Rz. 14. Siehe rechtsvergleichend dazu auch Moll, Künstliche Beschäftigung im Kollektivvertragsrecht der USA und der Bundesrepublik Deutschland, 1982, S. 123 ff. 2 Vgl. Gaul, RdA 2008, 13 (18); Kaiser, FS Buchner, S. 385 (387). 3 Vgl. Buchner, DB-Beilage 9/2001, 1 (8); Franzen, ZfA 2005, 315 (329). 4 Vgl. Buchner, DB Beilage 9/2001, 1 (8); Franzen, ZfA 2005, 315 (329); Gaul, RdA 2008, 13 (18); Henssler, FS Buchner, 2009, S. 553 (555); Hohenstatt/Schramm, DB 2004, 2214 (2217); Kaiser, FS Buchner, 2009, S. 385 (387). 5 Vgl. BAG v. 26.1.2011 – 4 AZR 159/09, AP Nr. 7 zu § 3 TVG Betriebsnormen. 6 Vgl. Kempen/Zachert/Zachert, § 1 TVG Rz. 386.

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Teil 12

Rz. 40

Der Sanierungstarifvertrag

ankommt. Regelt man, dass es auf den Zeitpunkt des Ablaufs der Kündigungsfrist ankommt, wäre ein Ausspruch der Kündigung noch während der Laufzeit des SanierungsTVes möglich, wenn der Ablauf der Kündigungsfrist nach dessen Beendigung liegt. Während der Laufzeit dieses Vertrages sind betriebsbedingte Kündigungen ausgeschlossen. Der maßgebliche Zeitpunkt ist dabei der … (Ablauf der Kündigungsfrist) … (Zugang der Kündigung) … Während der Laufzeit dieser Vereinbarung dürfen insgesamt maximal … betriebsbedingte Kündigungen ausgesprochen werden. 40

Oftmals befindet sich ein Unternehmen bereits so tief in wirtschaftlichen Schwierigkeiten, dass eine Betriebsänderung im Sinne des § 111 BetrVG (z.B. die Einschränkung oder Stilllegung einzelner Betriebsteile mit der Konsequenz der Entlassung von Arbeitnehmern etc.) unumgänglich ist (Einzelheiten zum Tarifsozialplan unten Rz. 120 ff.). Die davon betroffenen Arbeitnehmer können im Rahmen eines Interessenausgleichs nach § 112 BetrVG beispielsweise die Möglichkeit erhalten, in eine Transfergesellschaft zu wechseln. Der SanierungsTV kann dann den Zweck haben, die übrigen noch im Unternehmen verbliebenen Arbeitnehmer zu Sanierungsbeiträgen zu verpflichten und diesen im Gegenzug Beschäftigungssicherung zu gewähren. Im SanierungsTV kann dann geregelt werden, dass betriebsbedingte personelle Maßnahmen ausschließlich im Rahmen eines Interessenausgleichs gemäß § 112 BetrVG erfolgen und darüber hinausgehende betriebsbedingte Kündigungen entweder ganz ausgeschlossen oder auf eine bestimmte Anzahl beschränkt werden. (1) Die Umsetzung von betriebsbedingten personellen Maßnahmen aufgrund der geplanten Betriebsänderung (Anlage … dieses Vertrages) erfolgt nach Vereinbarung der Betriebsparteien im Rahmen eines Interessenausgleichs gemäß § 112 BetrVG. (2) Über Abs. 1 hinausgehende betriebsbedingte Kündigungen werden für die Laufzeit dieser Vereinbarung ausgeschlossen/auf insgesamt maximal … beschränkt.

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Das „Ob“ der Beendigung des Arbeitsverhältnisses ist als Beendigungsnorm im Sinne des § 1 Abs. 1 TVG grundsätzlich tariflich regelbar1. Die Vereinbarung des Ausschlusses ordentlicher betriebsbedingter Kündigungen ist richtigerweise als möglich und wirksam anzusehen. Ihre Grenze findet diese Regelung darin, dass das Recht zur außerordentlichen Kündigung auch aus betriebsbedingten Gründen nicht ausgeschlossen werden kann2: Unzumutbares kann nicht erzwungen werden. Es stellt sich allerdings hinsichtlich des vollständigen Ausschlusses betriebsbedingter Kündigungen über einen längeren Zeitraum u.U. die Frage nach einem Eingriff in die durch Art. 12 Abs. 1 GG ge1 Vgl. MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 171 Rz. 44 (die den generellen Ausschluss des Kündigungsrechts als unverhältnismäßig ansehen). Siehe aber demgegenüber Gaul, RdA 2008, 13 (19) (der den Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen schon als nicht tariflich regelbar ansieht). 2 Vgl. Moll, FS Wiedemann, S. 333 (336) m.w.N.

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Inhaltliche Gestaltung und Formulierungshinweise

Rz. 42 Teil 12

schützte Unternehmerfreiheit des Arbeitgebers. Denn es wird das Recht des Unternehmers tangiert, autonom über die Größe seines Unternehmens und damit auch darüber zu entscheiden, in welchem Umfang er das Unternehmerrisiko zu tragen bereit ist1. Es ist auch hier zu beachten, dass es um die einvernehmliche Regelung dieser Kündigungsverzichte geht, der Arbeitgeber daher im Rahmen seiner Unternehmensautonomie frei entschieden hat, für die Laufzeit des TVes auf betriebsbedingte Kündigungen zu verzichten. Möchte er dies nicht und ruft deswegen die Gewerkschaft zum Streik auf, könnte dies einen Eingriff in die Unternehmerfreiheit darstellen2. Die Frage nach einem Eingriff in die Unternehmerfreiheit wird daher erst relevant, wenn die Gewerkschaft versucht, dem Unternehmer streikweise die unternehmerische Entscheidung über das „Ob“ des Ausspruchs betriebsbedingter Kündigungen aufzuzwingen.

c) Vereinbarung von Voraussetzungen für betriebsbedingte Kündigungen Möglich und „weicher“ für den Arbeitgeber ist es, den Ausspruch betriebsbedingter Kündigungen nicht generell auszuschließen, sondern von bestimmten Voraussetzungen wie beispielsweise Zustimmungserfordernissen abhängig zu machen. Dies ist grundsätzlich zulässig3. Die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung kann in TVen von der vorherigen Zustimmung des Betriebsrats oder der Gewerkschaft abhängig gemacht werden4. Eine derartige Regelung gehört zum normativen Teil des TVes. Es ist seit langem anerkannt, dass das Recht des Arbeitgebers, aus betrieblichen Gründen ordentlich zu kündigen, von der (vorherigen) Zustimmung des Betriebsrats oder der Gewerkschaft abhängig gemacht werden kann5. Eine solche erforderliche Zustimmung muss vor Ausspruch der Kündigung vorliegen. Eine nach Zugang der Kündigung erteilte Zustimmung wirkt nicht gemäß § 184 BGB auf den Zeitpunkt der Kündigung zurück. Die ohne die erforderliche Zustimmung ausgesprochene Kündigung ist nach allgemeinen zivilrechtlichen Grundsätzen nicht genehmigungsfähig, sondern nichtig, da es sich um ein einseitiges, empfangsbedürftiges Rechtsgeschäft handelt6. Zulässig und sinnvoll ist es aber zu regeln, dass die Zustimmung als erteilt gilt, wenn sich der Betriebsrat/die Gewerkschaft nicht innerhalb einer Stellungnahmefrist – Länge mindestens nach § 102 Abs. 2 BetrVG – äußert7. (1) Sollte das Ziel der Tarifvertragsparteien, volle Beschäftigungssicherung zu gewährleisten, in Einzelfällen nicht umsetzbar sein, sind betriebsbedingte Kündigungen während der Laufzeit dieser Vereinbarung nur mit Zustimmung 1 Vgl. Franzen, ZfA 2005, 315 (335). 2 Vgl. Löwisch, RdA 2009, 253 (254); Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 711. Siehe aber auch LAG Köln v. 26.6.2000 – 7 Ta 160/00, NZA-RR 2001, 41 (Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen als zulässiges Streikziel). 3 Vgl. BAG v. 21.6.2000 – 4 AZR 379/99, AP Nr. 117 zu Art. 12 GG. 4 Vgl. BAG v. 24.2.2011 – 2 AZR 830/09, NZA 2011, 708. 5 Vgl. mit ausf. Nachw. aus der Rspr. etwa MünchArbR/Wank, § 100 Rz. 63 ff.; APS/ Preis, Grundlagen J Rz. 10 ff.; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1954 ff. 6 Vgl. LAG Brandenburg v. 1.12.2005 – 3 Sa 161/05; LAG Hamm v. 17.9.2009 – 11 Sa 20/09. 7 Vgl. BAG v. 21.6.2000 – 4 AZR 379/99, AP Nr. 117 zu Art. 12 GG.

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Teil 12

Rz. 43

Der Sanierungstarifvertrag

des Betriebsrates möglich. Die Zustimmung muss vor Ausspruch der Kündigung eingeholt worden sein. (2) Der Betriebsrat hat bei Verweigerung der Zustimmung dies dem Arbeitgeber schriftlich und unter Angabe der Gründe innerhalb einer Woche nach Unterrichtung durch den Arbeitgeber mitzuteilen. Teilt der Betriebsrat dem Arbeitgeber die Verweigerung seiner Zustimmung nicht innerhalb dieser Frist schriftlich mit, so gilt seine Zustimmung als erteilt.

III. Sonstige Klauseln 1. Änderung der Geschäftsgrundlage 43

Sinnvoll ist es, Regelungen für den Fall der Änderung der Geschäftsgrundlage zu vereinbaren. Der Begriff der Änderung der Geschäftsgrundlage sollte definiert werden. Im Interesse insbesondere eines möglichen Betriebserwerbers, der die Sanierung des Betriebs weiter betreiben möchte, sollte eine eventuelle Kündigungsmöglichkeit bei Änderung der Geschäftsgrundlage auf den Fall des Wegfalls des Sanierungsbedarfs beschränkt werden. Ist dies nicht der Fall und wird der Gewerkschaft ein Kündigungsrecht im Falle der Änderung der Geschäftsgrundlage eingeräumt, kann die Gewerkschaft auch nach einem Betriebsübergang den SanierungsTV gegenüber der anderen TV-Partei (Veräußerer oder Arbeitgeberverband) kündigen, mit der Konsequenz, dass dem SanierungsTV jedenfalls bei den übergegangenen Arbeitsverhältnissen keine Wirkung mehr zukommt. (1) Für den Fall der Änderung der Geschäftsgrundlage vereinbaren die Parteien, dass sie unverzüglich nach Kenntniserlangung der maßgeblichen Umstände in Verhandlungen über eine mögliche Anpassung dieser Vereinbarung eintreten. (2) Eine Änderung der Geschäftsgrundlage liegt beispielsweise vor, wenn – das Unternehmen veräußert wird und kein Sanierungsbedarf mehr besteht – ein Betriebsinhaberwechsel stattfindet und kein Sanierungsbedarf mehr besteht – eine Umwandlung des Unternehmens oder von Teilen des Unternehmens vorgenommen wird und kein Sanierungsbedarf mehr besteht – der Betrieb oder wesentliche Betriebsteile verlegt werden und kein Sanierungsbedarf mehr besteht – die Sanierung des Unternehmens als gescheitert angesehen werden muss, spätestens mit Stellung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens. (3) Bleiben die Verhandlungen ohne Ergebnis, sind beide Parteien berechtigt, diese Vereinbarung ganz oder teilweise schriftlich mit sofortiger Wirkung zu kündigen.

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Inhaltliche Gestaltung und Formulierungshinweise

Rz. 45 Teil 12

2. Ausgleichsregelungen Oftmals fordern die Gewerkschaften, für den Fall der Verbesserung der wirtschaftlichen Lage des Unternehmens Ausgleichsregelungen für die geleisteten Sanierungsbeiträge der Arbeitnehmer in den Sanierungsvertrag aufzunehmen („Besserungsschein“). Bestimmt der SanierungsTV etwa, dass eine Arbeitszeiterhöhung ohne Entgeltausgleich stattfindet, können entsprechende Arbeitszeitkonten geführt werden, die bei Erreichung bestimmter betriebswirtschaftlicher Kennzahlen durch bezahlte Freizeit ausgeglichen werden. Auch ist es möglich, einen Ausgleich durch die Gewährung einer (einmaligen/monatlichen/jährlichen) Ausgleichszahlung in bestimmter oder ergebnisabhängiger Höhe vorzusehen.

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Insbesondere für den Fall des Scheiterns der geplanten Sanierung nach Abschluss des SanierungsTVes ist es zur Vermeidung von Streitigkeiten sinnvoll, bereits im SanierungsTV zu regeln, ob und ggf. wie die (im Ergebnis fehlgeschlagenen) Sanierungsbeiträge der Arbeitnehmer ausgeglichen werden. Die Arbeitnehmer müssen wissen, ob und ggf. welche Ansprüche sie ggf. in der Insolvenz haben. Ist beispielsweise der Ausgleich für geleistete Sanierungsstunden umfassend für den Fall der Erreichung bestimmter betriebswirtschaftlicher Kennzahlen geregelt, fehlt jedoch eine Ausgleichsregelung für den Fall des Scheiterns der Sanierung, so ergibt eine Auslegung der Klausel regelmäßig, dass ein Wille der Parteien zu einem solchen Ausgleich nicht erkennbar ist1. Allein das Fehlen einer ausdrücklichen Klausel zur Rückgewähr von Beiträgen der Arbeitnehmer bei Fehlschlagen der Sanierungsbemühungen bedeutet zwar nicht zwingend, dass solche Rückgewähransprüche nicht bestehen; es müssen sich jedoch anderweitige Anhaltspunkte im SanierungsTV finden lassen, die regelmäßig jedenfalls dann nicht vorliegen, wenn der Fall des Scheiterns im SanierungsTV angesprochen wird, ohne eine Rückgewähr zu regeln2. Die Tarifparteien wollen regelmäßig eine abschließende Regelung schaffen. Ebenso wenig lässt sich ein Rückgewähranspruch bei Scheitern der Sanierungsbemühungen aus den Grundsätzen über den Wegfall der Geschäftsgrundlage herleiten, insbesondere dann nicht, wenn die Tarifparteien eine Verhandlungspflicht für bestimmte Fälle geregelt haben. Ein Ausgleich der geleisteten Sanierungsstunden und somit eine Feststellung zur Insolvenztabelle scheidet dann aus. Es ist möglich und letztlich auch empfehlenswert, entweder einen Ausgleich bei Scheitern der Sanierung oder für die sonstigen Fälle des Wegfalls der Geschäftsgrundlage entweder von vorneherein im SanierungsTV auszuschließen oder eine entsprechende Ausgleichsregelung konkret zu vereinbaren.

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Für den Fall des Scheiterns der geplanten Sanierung und insbesondere im Fall des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens scheiden Ausgleichsansprüche der Arbeitnehmer bezüglich der von ihnen geleisteten Sanierungsbeiträge aus.

1 Vgl. BAG v. 8.10.2008 – 5 AZR 8/08, NZA 2009, 98 (Fall der Philipp Holzmann AG). 2 Vgl. LAG Hamm v. 14.7.2010 – 3 Sa 602/10, AE 2011, 133.

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Teil 12

Rz. 46

Der Sanierungstarifvertrag

3. Differenzierungsklauseln 46

Nicht selten werden in SanierungsTVen Klauseln vereinbart, nach denen die Mitgliedschaft in der tarifschließenden Gewerkschaft zum Tatbestandsmerkmal eines Anspruchs auf eine Sonderzahlung gemacht wird, die den Arbeitgeber aber nicht generell daran hindern, vergleichbare Leistungen auch Außenseitern zu gewähren, sog. einfache Differenzierungsklauseln. Haben die TVParteien die Gewährung von Sonderzahlungen nicht gänzlich gestrichen, findet sich beispielsweise folgende Formulierung: Die (reduzierte) Jahressonderzahlung gemäß § … dieser Vereinbarung wird für die Mitarbeiter, die dem Geltungsbereich dieses Tarifvertrages unterliegen und ihre Zugehörigkeit zur Tarifvertragspartei … in den Jahren … nachweisen können, um … Euro erhöht.

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Der Grund dafür, dass sich solche Klauseln in Sanierungstarifverträgen finden, ist der, dass der Arbeitgeber in Sanierungssituationen zu mehr Entgegenkommen bereit ist als sonst; denn grundsätzlich möchte der Arbeitgeber die Differenzierung zwischen organisierten und nicht organisierten Arbeitnehmern vermeiden. Die Zulässigkeit von Differenzierungsklauseln ist umstritten. Der 4. Senat des BAG hat (einfache) Differenzierungsklauseln für grundsätzlich zulässig erachtet1. Der Senat stellt zudem klar, dass eine Bezugnahmeklausel, auch wenn sie als Gleichstellungsabrede auszulegen ist, nicht die Wirkung hat, dem betroffenen Außenseiter-Arbeitnehmer einen Anspruch darauf zu gewähren, in jeder Hinsicht wie ein Gewerkschaftsmitglied behandelt zu werden. Eine Gleichstellungsabrede ersetzt nicht die Gewerkschaftszugehörigkeit im Sinne der Differenzierungsklausel.

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Ob eine Differenzierungsklausel zulässig ist, hängt von ihrer konkreten Ausgestaltung und den besonderen Einzelfallumständen ab. Maßstab bei der Überprüfung ist im Wesentlichen das Grundrecht der negativen Koalitionsfreiheit der Außenseiter-Arbeitnehmer. Sie dürfen nicht unter unzulässigen Druck zum Gewerkschaftsbeitritt gesetzt werden. Qualifizierte Differenzierungsklauseln in Form von Tarifausschlussklauseln, die dem Arbeitgeber verbieten wollen, die Außenseiter-Arbeitnehmer über einzelvertragliche Regelungen in den Genuss der tarifvertraglichen Vergünstigung kommen zu lassen, sind unzulässig. Sie schränken sowohl die negative Koalitionsfreiheit der Außenseiter-Arbeitnehmer als auch die Vertragsfreiheit des Arbeitgebers ein2. Differenzierungsklauseln in Form von Spannenklauseln, nach denen eine den Gewerkschaftsmitgliedern vorbehaltene Leistung dadurch abgesichert wird, dass sie für den Fall einer Kompensationsleistung des Arbeitgebers an nicht oder anders organisierte Arbeitnehmer das Entstehen eines entsprechend erhöhten Anspruchs für die Gewerkschaftsmitglieder vorsehen, sind wegen Überschreitung der Tarifmacht unwirksam. Denn durch diese Klausel „wird ein tariflicher Anspruch normativ begründet, der in Bestand und Höhe von vertraglichen Bedingungen zwischen dem tarifgebundenen Arbeitgeber und nicht tarifgebundenen 1 Vgl. BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, AP Nr. 41 zu § 3 TVG; BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920. 2 Vgl. HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 111.

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Inhaltliche Gestaltung und Formulierungshinweise

Rz. 50 Teil 12

Arbeitnehmern abhängig ist“1. Dies ist nicht zulässig. Die TV-Parteien sind nicht befugt, die einzelvertraglichen Gestaltungsmöglichkeiten der Arbeitsvertragsparteien mit zwingender Wirkung in diese Arbeitsverhältnisse hinein einzuschränken. Die Spannenklausel würde es dem Arbeitgeber rechtlich-logisch unmöglich machen, die vertraglichen Arbeitsbedingungen der nicht/anders organisierten Arbeitnehmer den tariflich normierten Arbeitsbedingungen der verbandsangehörigen Arbeitnehmer anzugleichen. Bei (zulässigen) einfachen Differenzierungsklauseln ist bei der Festlegung der Höhe der Sonderzahlung zu bedenken, dass durch ihre Gewährung nicht die vorher auferlegten Sanierungsopfer wieder (nahezu) vollständig ausgeglichen werden. Dies könnte als unzulässig angesehen werden.

4. Sanierungsrisiko Ein Problem im Wesentlichen aus Arbeitnehmersicht stellt das Sanierungsrisiko dar. Die BAG-Entscheidung vom 25. April 2007 bietet dazu ein anschauliches Beispiel2. Das Flugunternehmen AeroLloyd hatte 1998 mit der Gewerkschaft einen FirmenTV geschlossen, der Personalkostensenkungen gegen einen Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen vorsah. Dem folgte, weil das Unternehmen nicht auf die Beine kam, im Jahre 2002 ein FirmenTV mit ähnlichem Inhalt. Seitens des Unternehmens wurde eine Beschäftigungsgarantie gegeben. Seitens der Gewerkschaft wurde auf Entgeltleistungen verzichtet. Die Sanierungsbemühungen blieben erfolglos, und das Unternehmen ging in die Insolvenz. Ergebnis: Die Arbeitnehmer hatten zwar auf Bezüge verzichtet. Die Beschäftigungssicherung wurde jdeoch in der Insolvenz wertlos. § 113 InsO ermöglicht die Kündigung der Arbeitsverhältnisse mit einer Frist von drei Monaten auch bei tariflichem Ausschluss des Kündigungsrechts. Die Gewerkschaften bringen nach derartigen Erfahrungen mittlerweile als Bestandteil von SanierungsTVen Klauselvorschläge in die Verhandlungen ein, die – da die Beschäftigungssicherung nicht aufrecht zu erhalten ist – die Vergütungszugeständnisse zurücknehmen. Dies ist arbeitsrechtlich möglich und insolvenzrechtlich nicht zu beanstanden.

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Regelungsmöglichkeiten und Regelungsproblematik werden in der Entscheidung des BAG vom 19. Januar 2006 deutlich3. Eine Arbeitnehmerin hatte in einer Änderungsvereinbarung zum Arbeitsvertrag zu Sanierungszwecken auf Entgelt verzichtet. Die Änderungsvereinbarung war u.a. durch die Insolvenzeröffnung auflösend bedingt. Der Arbeitnehmerin sollte dann für die letzten zwölf Monate vor ihrem Ausscheiden die volle Vergütung zustehen. Das BAG hat den (auflösend bedingten) Anspruch der Arbeitnehmerin auf volles Arbeitsentgelt nicht nur für den Zeitraum ab Insolvenzeröffnung als Masseschuld angesehen, sondern auch im Hinblick auf den in die Zeit vor Insolvenzeröffnung entfallenden Teil des Zwölf-Monats-Zeitraums den Masseschuldcharakter bejaht (§ 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO). Es habe sich nicht nur um einen aufschiebend bedingten Anspruch gehandelt. Die Vertragsänderung (Vergütungsherab-

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1 Vgl. BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920. 2 Vgl. BAG v. 25.4.2007 – 6 AZR 622/06, AP Nr. 23 zu § 113 InsO. 3 Vgl. BAG v. 19.1.2006 – 6 AZR 529/04, AP Nr. 13 zu § 55 InsO.

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Teil 12

Rz. 51

Der Sanierungstarifvertrag

setzung) habe vielmehr unter einer auflösenden Bedingung gestanden. Entscheidend sei, ob der geltend gemachte Anspruch vor oder nach der Verfahrenseröffnung entstanden sei. Dieser Entstehungszeitpunkt sei – erst – mit der Insolvenzeröffnung gegeben gewesen. Der Verzicht sollte bis zu dem Zeitpunkt wirksam sein, in dem die Sanierungsbemühungen scheiterten. Die auflösende Bedingung sei mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens eingetreten. Das BAG stellt abschließend klar, dass eine derartige Vereinbarung weder der Insolvenzanfechtung unterliege noch sittenwidrig sei1. 51

Eine bekannt gewordene Klausel lautet z.B.2: Diese Sonderregelung ist für den Fall, dass von berechtigter Seite Insolvenzantrag gestellt oder dass der Betrieb stillgelegt wird, von Anfang an gegenstandslos. In diesem Fall sind unverzüglich die Ansprüche auf volle Leistungen zu berechnen und an die betroffenen Arbeitnehmer zu zahlen. Diese Formulierung konnte allerdings den Anforderungen nicht gerecht werden, die das BAG für die Begründung einer Masseschuld herausgearbeit hat.

E. Wirkungen I. Verhältnis zwischen Verbandstarifvertrag und Sanierungstarifvertrag 52

Ob der SanierungsTV einen bisher geltenden VerbandsTV verdrängt, hängt zunächst einmal davon ab, ob Arbeitgeber und Arbeitnehmer beide verbandsangehörig sind oder nicht.

1. Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind verbandsangehörig 53

Die beiderseits Tarifgebundenen sind gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG unmittelbar und zwingend an die Tarifnormen des VerbandsTVes gebunden. Dementsprechend sind an die Tarifnormen des SanierungsTVes die beiderseits Tarifgebundenen gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG gebunden.

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Wird ein SanierungsTV mit derselben Gewerkschaft während der Geltung eines VerbandsTVes geschlossen, ist Tarifkonkurrenz die Folge3. Diese Konkurrenz wird überwiegend im Wege des Spezialitätsgrundsatzes aufgelöst4. Der speziellere TV verdrängt danach den generellen TV, soweit es sich um die gleichen Regelungsbereiche handelt5. Es kommt dabei nicht darauf an, ob die Tarifbindung an den VerbandsTV nach § 3 Abs. 1 TVG oder § 3 Abs. 3 TVG besteht. Demnach verdrängt der speziellere SanierungsTV sowohl als HausTV als 1 2 3 4

Vgl. BAG v. 19.1.2006 – 6 AZR 529/04, AP Nr. 13 zu § 55 InsO. Vgl. BAG v. 11.11.2010 – 8 AZR 392/09, NZA 2011, 763. Vgl. HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 46 ff. Siehe dazu näher Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 275 ff.; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 298 ff. 5 Vgl. HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 47.

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Wirkungen

Rz. 58 Teil 12

auch als firmenbezogener VerbandsTV den geltenden VerbandsTV. Er steht dem Betrieb betrieblich, fachlich, räumlich am nächsten und wird deshalb den Erfordernissen und Eigenarten des Betriebes und der darin tätigen Arbeitnehmer am besten gerecht1. Da das Günstigkeitsprinzip bei zwei aufeinander treffenden TVen nicht anwendbar ist, kann der speziellere HausTV oder firmenbezogene VerbandsTV die Regelungen des VerbandsTVes auch zu Lasten der Arbeitnehmer verdrängen; es ist unerheblich, ob der VerbandsTV eine Öffnungsklausel für HausTVe enthält oder nicht2. Auf ein schützwürdiges Vertrauen auf den Bestand des VerbandsTVes können sich die Arbeitnehmer nicht berufen. Eine Tarifnorm steht stets unter dem Vorbehalt, durch eine nachfolgende tarifliche Regelung verschlechtert oder gar gestrichen zu werden3. Zweifelsfragen treten auf, wenn der SanierungsTV abläuft und weiterhin eine Tarifbindung an den VerbandsTV besteht, sei es nach § 3 Abs. 1 TVG, sei es aufgrund der Nachbindung nach § 3 Abs. 3 TVG, sei es aufgrund einer Allgemeinverbindlicherklärung.

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Unstreitig ist, dass der VerbandsTV jedenfalls dann wieder an die Stelle des SanierungsTVes tritt, wenn die Nachwirkung des SanierungsTVes ausgeschlossen ist. Es kommt daher bei Ablauf des SanierungsTVes darauf an, durch Auslegung zu ermitteln, ob er nachwirkt oder ob die Nachwirkung ausgeschlossen wird bzw. ob sich ansonsten irgendwelche Anhaltspunkte aus dem Inhalt des SanierungsTVes dafür ergeben, welche Bedeutung/Wirkung er sich nach seinem Ablauf gegenüber einem in Kraft befindlichen VerbandsTV beimisst.

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Meinungsverschiedenheiten treten auf, wenn der SanierungsTV nach § 4 Abs. 5 TVG nachwirkt.

57

Es ist dann erstens zu fragen, ob mit dem VerbandsTV eine andere Abmachung i.S.d. § 4 Abs. 5 TVG vorliegt, die ausweislich der ausdrücklichen gesetzlichen Regelung dazu führen würde, dass der VerbandsTV gilt. Unproblematisch ist dies bei einem später, d.h. nach Ablauf des SanierungsTVes abgeschlossenen VerbandsTV. Ob ein früherer, verdrängter VerbandsTV eine andere Abmachung i.S.v. § 4 Abs. 5 TVG enthält, ist demgegenüber zweifelhaft. Der 4. Senat lässt zwar zu, dass die andere Abmachung i.S.d. § 4 Abs. 5 TVG auch schon vor Beginn der Nachwirkung abgeschlossen wird. Die entsprechende Regelung muss aber im Zuge der Auslegung einen Regelungswillen ergeben, dass sie darauf gerichtet ist, eine bestimmte bestehende Tarifregelung in Anbetracht ihrer absehbaren bevorstehenden Beendigung und des darauf folgenden Eintritts der Nachwirkung abzuändern4. Allein der Tarifabschluss über einen entsprechenden Regelungsgegenstand reicht nach Ansicht des 4. Senats nicht aus5.

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1 Vgl. BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90; BAG v. 20.4.1999 – 1 AZR 631/98; BAG v. 24.1.2001 – 4 AZR 655/99, AP Nr. 173 zu § 1 TVG; BAG v. 4.4.2001 – 4 AZR 237/00, AP Nr. 26 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; BAG v. 20.1.2009 – 9 AZR 146/08; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 68. 2 Vgl. BAG v. 24.1.2001 – 4 AZR 655/99, AP Nr. 173 zu § 1 TVG. 3 Vgl. BAG v. 20.3.2002 – 10 AZR 501/01, AP Nr. 12 zu § 1 TVG Tarifverträge: Gebäudereinigung. 4 Vgl. HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 11. 5 Vgl. BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 250/08, AP Nr. 51 zu § 4 TVG Nachwirkung.

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Teil 12 59

Rz. 59

Der Sanierungstarifvertrag

Erst wenn die Frage beantwortet ist, ob eine andere Abmachung i.S.d. § 4 Abs. 5 TVG vorliegt, ist die Frage der Tarifkonkurrenz zwischen dem speziellen nachwirkenden SanierungsTV und dem allgemein geltenden VerbandsTV zu beantworten. Das Meinungsspektrum hierzu ist im Wandel. Das BAG hat herkömmlich quasi selbstverständlich einen Vorrang des allgemeinen, aber in Kraft befindlichen VerbandsTVes gegenüber dem speziellen, nachwirkenden TV angenommen, ohne allerdings zwischen der Anwendung des § 4 Abs. 5 TVG unter Berücksichtigung einer anderen Abmachung und den Grundsätzen der Tarifkonkurrenz zu unterscheiden1. Dem sind insbesondere die Landesarbeitsgerichte Baden-Württemberg, München und Schleswig-Holstein gefolgt2. Eine Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Nürnberg verhält sich allein zu dem Fall fehlender Nachwirkung3. Das Bundesarbeitsgericht hat in einer Entscheidung vom 4. Juli 2007 die Problematik ausdrücklich aufgegriffen, ist aber einer Entscheidung ausgewichen4: Komme der Abschluss eines FolgeTVes aufgrund der konkreten Umstände nicht in Betracht – im konkreten Fall war eine Verschmelzung des Arbeitgebers vorausgegangen – gelte der bisher verdrängte, nach wie vor vollwirksame VerbandsTV für die ihm unterworfenen Arbeitsverhältnisse wieder unmittelbar und zwingend. Ob eine derartige Abgrenzung glücklich ist, darf bezweifelt werden. Man gibt den Parteien, die auf Rechtssicherheit angewiesen sind, Steine statt Brot, wenn man die Frage für relevant erklärt, ob der Abschluss eines FolgeTVes aufgrund der konkreten Umstände in Betracht kommt oder nicht. Selbst bei Verschmelzung des Arbeitgebers ist doch gar nicht von vornherein klar, ob nicht dem aufnehmenden oder neuen Rechtsträger früher oder später an dem Abschluss eines nachfolgenden SonderTVes gelegen ist. Was ist im Übrigen, wenn längere Zeit keinerlei Aktivitäten stattfinden, um einen NachfolgeTV abzuschließen? Man wird mit einer derartigen Einzelfallbetrachtung der Grundsatzfrage nicht ausweichen können. Einige neuere Stimmen im Schrifttum machen geltend, dass es bei dem Vorrang der Sachnähe und der Spezialität durch den FirmenTV auch im Nachwirkungsstadium bleibe5; denn zum einen seien die Konkurrenzregeln im Verhältnis zwischen dem nachwirkenden und dem vollwirkenden TV dieselben wie zwischen zwei vollwirksamen TVen und zum anderen müsse dem Prinzip der Sachnähe und Spezialität auch im Nachwirkungsstadium Geltung verschafft werden.

1 Vgl. BAG v. 10.1.1962 – 1 AZR 147/61, AP Nr. 11 zu § 5 TVG; BAG v. 4.12.1974 – 5 AZR 75/74, AP Nr. 2 zu § 3 TVG; BAG v. 4.9.1996 – 4 AZR 135/95, AP Nr. 5 zu § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag. 2 Vgl. LAG Schleswig-Holstein v. 6.2.2007 – 5 Sa 328/06, NZA-RR 2007, 482; LAG München v. 5.4.2006 – 9 Sa 1068/05; LAG Baden-Württemberg v. 15.2.2005 – 2 Sa 10/05. Ebenso Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 1496. 3 Vgl. LAG Nürnberg v. 21.11.2006 – 6 Sa 470/06, NZA-RR 2007, 421. 4 Vgl. BAG v. 4.7.2007 – 4 AZR 491/06, AP Nr. 35 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz. 5 Vgl. Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 861; Gaul/Janz, NZA-Beilage 2010, 60 (66); HWK/ Henssler, § 4 TVG Rz. 50; Kleinebrink, ArbRB 2008, 279 (281); Jacobs/Krause/Oetker, Tarifvertragsrecht, § 7 Rz. 219.

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Wirkungen

Rz. 61 Teil 12

Ob dem zu folgen ist, erscheint zweifelhaft, weil sich eine derartige Auffassung mit mehreren Grundwertungen stößt. Zum einen lässt § 4 Abs. 5 TVG – unabhängig davon, welche Anforderungen man an die andere Abmachung bzw. die Regelung stellt – erkennen, dass der nachwirkende TV grundsätzlich zurücktritt. Der Sinn und Zweck der Nachwirkung liegt in einer Ausfüllungsfunktion: Die Arbeitsverhältnisse sollen nicht „inhaltsleer“ werden. Dieser Zweck trifft nicht zu, wenn eine vollfunktionsfähige und sogar zwingende Tarifrechtsordnung bereitsteht. Zum anderen erscheint es alles andere als naheliegend, dass nichtzwingendes Recht des nachwirkenden SonderTVes das zwingende Recht des allgemeinen VerbandsTVes verdrängt. Dies überstrapaziert den Gedanken der Sachnähe und Spezialität. Die Ergebnisse eines Vorrangs des nachwirkenden SonderTVes gegenüber dem gültigen VerbandsTV mögen im Einzelfall je nach Interessenlage wünschenswert erscheinen, leuchten aber nicht schon deshalb ein: Der – aus welchen Gründen auch immer – ordnungsgemäß gekündigte SanierungsTV mit Nachwirkung, der eine abgesenkte Vergütung vorsieht, würde dazu führen, dass eine kraft zwingenden Tarifrechts höhere Vergütung nicht gezahlt wird. Dieses Ergebnis ist fragwürdig. Die relevante Wertung würde dahin gehen, dass – einschlägiges – unmittelbar und zwingend wirkendes Tarifrecht nicht durch dispositives Tarifrecht verdrängt werden kann. Schließlich stellt die feine Differenzierung zwischen der Anwendung von § 4 Abs. 5 TVG und den Grundsätzen der Tarifkonkurrenz eine Komplizierung dar, die verzichtbar erscheint. Die „einfache“ und „undifferenzierte“ Lösung der früheren Rechtsprechung, wonach im Nachwirkungsstadium jedwede andere einschlägige Regelung gilt, hat jedenfalls die Wertung des § 4 Abs. 5 TVG und den Gesichtspunkt der Durchsetzung zwingenden Rechts für sich1. Die Parteien des SanierungsTVes können regeln, was gilt, wenn der SanierungsTV abläuft. Der SanierungsTV wird sinnvollerweise eine Regelung enthalten dazu, wie sich das Verhältnis zum Verbandstarif bei Ablauf darstellt, um die erörterten Probleme im Zusammenhang mit der Bestimmung einer anderen Abmachung i.S.v. § 4 Abs. 5 TVG oder im Hinblick auf die Anwendung der Grundsätze der Tarifkonkurrenz zu vermeiden. Ein derartiges Interesse an Klarheit haben letztlich beide Tarifparteien. Die Parteien des SanierungsTVes können z.B. von ihrer Möglichkeit Gebrauch machen, die Nachwirkung einvernehmlich auszuschließen: Diese Vereinbarung endet am …, ohne dass es einer Kündigung bedarf. Die Nachwirkung wird ausgeschlossen. In diesem Falle gelten dann mit der Beendigung der Wirkung der Normen des SanierungsTVes die Normen des VerbandsTVes weiter, sofern dieser noch Geltung beansprucht. Wirken beide TVe nur noch nach, hat es mit der Sachnähe und Spezialität des SanierungsTVes sein Bewenden (Vorrang).

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Die Situation stellt sich anders dar, wenn (auch) der Arbeitsvertrag der organisierten Arbeitnehmer eine Bezugnahmeklausel enthält, die auf einen konkreten VerbandsTV verweist und den SanierungsTV nicht erfasst. Diese Ar-

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1 Vgl. Buchner, FS 50 Jahre BAG, S. 631 (639); Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 1496; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 266; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 290; Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, § 4 TVG Rz. 144; Wiedemann, Anm. zu AP Nr. 2 zu § 3 TVG.

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Teil 12

Rz. 62

Der Sanierungstarifvertrag

beitnehmer können sich dann auf die günstigeren Regelungen des VerbandsTVes berufen. Grund dafür ist, dass nach der Rechtsprechung des BAG einer Bezugnahmeklausel auch für organisierte Arbeitnehmer konstitutive Wirkung zukommt1. Anders könnte es nur sein, wenn im Arbeitsvertrag die konstitutive Wirkung der Bezugnahmeklausel ausdrücklich auf die nicht organisierten Arbeitnehmer beschränkt worden ist2. Fehlt eine solche Beschränkung, konkurrieren die durch die Bezugnahmeklausel individualvertraglich geltenden Regelungen des VerbandsTVes mit denen des normativ geltenden SanierungsTVes. In dieser Konstellation findet das Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG Anwendung. Es handelt sich nicht um einen Fall der Tarifkonkurrenz3. Einzelvertragliche Inbezugnahmen werden durch einen (Sanierungs-)TV nicht abgelöst4, unabhängig davon, ob sie auf TVe oder Allgemeine Arbeitsbedingungen verweisen. Das Günstigkeitsprinzip gilt typischerweise bei dem Aufeinandertreffen eines TVes mit einem rangniedrigeren Arbeitsvertrag. 62

Der Günstigkeitsvergleich wird nach überwiegender Auffassung grundsätzlich mit Hilfe eines Sachgruppenvergleichs vorgenommen5. Danach werden Regelungen, die nach der Verkehrsanschauung denselben Regelungsgegenstand betreffen, miteinander verglichen. In der hier vorliegenden Konstellation besteht die Besonderheit, dass inhaltlich nicht die Regelungen des Arbeitsvertrages mit denen des TVes verglichen werden müssen, sondern im Ergebnis materiell die Regelungen zweier TVe miteinander zu vergleichen sind. Das Günstigkeitsprinzip ist auf diese Situation nicht unmittelbar zugeschnitten. Man kann möglicherweise argumentieren, dass die Auslegung der Bezugnahmeklausel in der Regel zu dem Ergebnis kommen wird, dass der in Bezug genommene TV in seiner Gesamtheit angewendet werden soll. Ein Sachgruppenvergleich ist damit nicht vereinbar. Es müsste folgerichtig ein Gesamtvergleich mit der Konsequenz angestellt werden, dass eine günstigere Regelung nicht festgemacht werden kann, so dass der normativ wirkende TV Anwendung finden muss6. Die Rechtsprechung bleibt allerdings auch in diesen Fällen bei dem Sachgrup-

1 Vgl. BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, AP Nr. 21 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 19.3.2003 – 4 AZR 331/02, NZA 2003, 1207; HWK/Henssler,§ 3 TVG Rz. 28; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 225. 2 Vgl. Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 59. 3 Vgl. BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, AP Nr. 61 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 784/07, AP Nr. 66 zu § 1 TVG; BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 1023/08, AP Nr. 388 zu § 613a BGB; LAG Düsseldorf v. 2.9.2010 – 5 Sa 720/10, ZTR 2011, 90. Anders noch BAG v. 23.3.2005 – 4 AZR 203/04, AP Nr. 29 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz. 4 Vgl. BAG v. 22.2.2012 – 4 AZR 24/10: Ein HausTV kann die einzelvertraglich begründete Anwendbarkeit der AVR nicht ablösen. 5 Vgl. BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, AP Nr. 89 zu Art. 9 GG; BAG v. 1.7.1999 – 4 AZR 261/08, AP Nr. 14 zu § 3 TVG Verbandsaustritt; LAG Berlin-Brandenburg v. 2.12.2010 – 5 Sa 1763/10 nv.; Federlin, FS 50 Jahre BAG, S. 645 (650 ff.); ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 36; Heise, FS 50 Jahre BAG, S: 657 (665 ff.); HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 36; Kort, FS 50 Jahre BAG, S. 753 (761); Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 471; Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 310. Siehe aber demgegenüber Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 653 ff, 663 m.w.N. 6 Vgl. ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 37.

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Wirkungen

Rz. 64 Teil 12

penvergleich1. Der Sachgruppenvergleich führt zu dem Ergebnis, dass die Regelungsbereiche des VerbandsTVes im Vergleich zu den Regelungsbereichen des SanierungsTVes günstiger sind, da durch den SanierungsTV die Leistungen des VerbandsTVes abgesenkt werden, beispielsweise eine Arbeitszeiterhöhung ohne Entgeltausgleich stattfindet, Sonderzahlungen gestrichen oder reduziert werden, die Vergütung reduziert wird oder geplante Tariflohnerhöhungen wegfallen. Es ist allerdings zu fragen, wie zu berücksichtigen ist, dass sich im Gegenzug zu den Sanierungsbeiträgen der Arbeitnehmer regelmäßig Regelungen zur Standortsicherung oder Beschäftigungssicherung finden, die für die Arbeitnehmer positiv sind. Es könnte daher nahe liegen, dass beim Vergleich der Regelungen des VerbandsTVes mit denen des SanierungsTVes auch zu berücksichtigten ist, dass den Arbeitnehmern im Gegenzug zu den Leistungsabsenkungen Beschäftigungssicherung zugesagt wird, was für sie günstiger ist als die tarifliche Entlohnung mit der zu erwartenden Konsequenz des Arbeitsplatzverlustes2. Eine solche Ausweitung des Günstigkeitsvergleichs lehnt das BAG ab3. Ein derartiger Vergleich von Regelungen, deren Gegenstände sich thematisch nicht berühren, sei methodisch nicht möglich („Äpfel mit Birnen“) und mit § 4 Abs. 3 TVG nicht vereinbar. Arbeitszeit oder Arbeitsentgelt einerseits und eine Beschäftigungsgarantie andererseits seien völlig unterschiedlich geartete Regelungsgegenstände, für deren Bewertung es keinen gemeinsamen Maßstab gäbe. Sie könnten daher nicht miteinander verglichen werden. Eine Beschäftigungssicherung sei nicht geeignet, Verschlechterungen beim Arbeitsentgelt oder bei der Arbeitszeit im Rahmen des Günstigkeitsvergleichs aufzuwiegen4.

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Die Formulierung von Bezugnahmeklauseln hat daher gerade auch in Sanierungssituationen erhebliche Bedeutung. Es ist anzustreben, dass alle im Betrieb tarifrechtlich anzuwendenden TVe und damit auch SanierungsTVe erfasst werden. Andernfalls bleibt es dabei, dass sich trotz der Sanierungssituation die günstigeren Arbeitsbedingungen der VerbandsTVe statt der abgesenkten Arbeitsbedingungen der SanierungsTVe durchsetzen.

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1 Vgl. BAG v. 22.9.1993 – 10 AZR 207)2, AP Nr. 21 zu § 4 TVG; BAG v. 17.4.2002 – 5 AZR 644/00, AP Nr. 40 zu § 611 BGB Mehrarbeitsvergütung. 2 Vgl. grundlegend Adomeit, NJW 1984, 26. 3 Vgl. BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, AP Nr. 89 zu Art. 9 GG („Burda“); BAG v. 7.11.2002 – 2 AZR 742/00, AP Nr. 100 zu § 615 BGB; BAG v. 6.11.2007 – 1 AZR 862/06, AP Nr. 337 zu § 613a BGB; BAG v. 24.9.2008 – 6 AZR 657/07, NZA-RR 2009, 22; BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, AP Nr. 14 zu § 3 TVG Verbandsaustritt. 4 Zustimmend Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 651; Franzen, RdA 2001, 1 (3); Kort, FS 50 Jahre BAG, S. 753 (765); Richardi, DB 2000, 42 (47); Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 437a ff. Ablehnend Buchner, NZA 1999, 897 (901); Federlin, FS 50 Jahre BAG, S. 645 (654); Heise, FS 50 Jahre BAG, S. 657 (673); Kast/Stuhlmann, BB 2000, 614 (615); Lesch, DB 2000, 322 (324 f.); Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 326 ff.; Niebler/Schmiedl, BB 2001, 1631 ff.; Picker, NZA 2002, 761 (766 ff.); Rüthers, NJW 2003, 546 (551 f.); Trappehl/Lambrich, NJW 1999, 3217 (3220 f.).

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Teil 12

Rz. 65

Der Sanierungstarifvertrag

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Die Konkurrenz zwischen einem allgemeinverbindlichen VerbandsTV und einem (normativ geltenden) SanierungsTV wird grundsätzlich auch nach dem Spezialitätsprinzip gelöst1.

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TVe nach § 3 AEntG haben nach § 8 Abs. 2 AEntG Vorrang vor (anderen) TVen, an die der Arbeitgeber gebunden ist2. Ist ein Unternehmen also von einem nach dem AEntG erstreckten TV erfasst, kann es von diesem TV nicht durch HausTV oder firmenbezogenen VerbandsTV zuungunsten der Arbeitnehmer abweichen, auch nicht durch einen SanierungsTV. Eine andere Frage ist, ob § 8 Abs. 2 AEntG überhaupt wirksam ist; es ist umstritten, ob die Norm wegen unverhältnismäßigen Eingriffs in die Tarifautonomie verfassungswidrig ist3. Der Vorrang des TVes nach dem AEntG kann allerdings nur insoweit gelten, wie die betroffenen Regelungen im konkurrierenden SanierungsTV für die Arbeitnehmer ungünstiger sind als die des TVes nach dem AEntG. Soweit der TV nach dem AEntG Sachgruppen nicht regelt, die der SanierungsTV enthält, geht der Günstigkeitsvergleich ins Leere.

67

Arbeitsentgelte nach dem MiArbG unterliegen ebenfalls nicht der Disposition durch TVe (§ 8 MiArbG). Die Frage nach der Verfassungswidrigkeit einer Verdrängung von TVen stellt sich auch im Hinblick auf § 8 MiArbG4. § 8 Abs. 2 MiArbG gewährt Bestandsschutz für diejenigen TVe, die vor dem 16.7.2008 geschlossen wurden sowie für deren NachfolgeTVe. Diese TVe werden nicht verdrängt5.

2. Lediglich der Arbeitgeber ist verbandsangehörig 68

Ist lediglich der Arbeitgeber verbandsangehörig, kann mangels beiderseitiger Tarifgebundenheit keine unmittelbare und zwingende Geltung der Tarifnormen des TVes gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG in Frage kommen. In diesem Falle beansprucht der VerbandsTV dann Geltung auch für den Außenseiter-Arbeitnehmer, wenn er entweder allgemeinverbindlich ist (§ 5 Abs. 4 TVG) oder kraft entsprechender Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag individualvertraglich gilt. Vom Inhalt dieser Bezugnahmeklausel hängt es dann ab, ob auch ein HausTV oder firmenbezogener VerbandsTV als SanierungsTV davon erfasst ist und der Außenseiter-Arbeitnehmer diesen SanierungsTV gegen sich gelten lassen muss oder nicht.

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Der Arbeitnehmer kann nicht durch einen Vertrag, an dem er nicht beteiligt ist (Beispiel: Personalüberleitungsvertrag bei einem Betriebsübergang zwischen Veräußerer und Erwerber), an eine dynamische Anwendbarkeit von TVen ohne seine Zustimmung gebunden werden. Dies gilt sowohl für den Fall der erstmaligen Vereinbarung einer Bezugnahme als auch bei der Sicherung einer bisher geltenden dynamischen Inbezugnahme6. Da TVe auch zulasten der Arbeit1 2 3 4 5 6

Vgl. ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 65, 67; Ahrendt, RdA 2012, 129 (133). Vgl. ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 68; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 52. Siehe dazu ausf. Moll, RdA 2010, 321 ff. m.w.N. Siehe dazu ausf. Moll, RdA 2010, 321 ff. m.w.N. Vgl. HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 53. Vgl. BAG v. 23.2.2011 – 4 AZR 439/09, AP Nr. 60 zu § 133 BGB.

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Rz. 71 Teil 12

nehmer geändert werden können, würde dadurch die Möglichkeit einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen eröffnet, die arbeitsvertraglich nicht ohne Weiteres gegeben ist. Die Bezugnahmeklauseln in Formulararbeitsverträgen unterliegen im Gegensatz zu den in Bezug genommenen Normen des TVes der AGB-Kontrolle. Gemäß § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB findet bei TVen keine AGB-Inhaltskontrolle statt. Dies gilt auch bei der individualvertraglichen Einbeziehung einer (gesamten) kollektiven Regelung. Die Bezugnahmeklausel selbst unterliegt dagegen der AGB-Kontrolle1. Diesbezüglich ist insbesondere das Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB zu beachten. Die Bezugnahmeklausel muss eindeutig erkennen lassen, welcher TV in welcher Fassung in den Arbeitsvertrag einbezogen werden soll2. Dynamische Verweisungen werden dem jedenfalls dadurch gerecht, dass durch die Angabe eines bestimmten TVes mitsamt Nachfolgefassungen sichergestellt ist, dass zukünftig zu jedem Zeitpunkt der Vertragsdurchführung bestimmbar ist, welche Tarifvorschriften anwendbar sind3. Die mit der Bezugnahmeklausel einhergehende Dynamik verletzt das Transparenzgebot nicht4. Bei knapp formulierten „großen dynamischen“ Bezugnahmeklauseln ist die Gefahr der Unwirksamkeit wegen Intransparenz nicht von vornherein auszuschließen; eine knappe Formulierung lässt u.U. nicht erkennen, welche Konsequenzen Ereignisse wie Betriebsübergänge oder Entfallen der Tarifgebundenheit des Arbeitgebers haben5. Die Unklarheitenregelung des § 305c Abs. 2 BGB ist in der Regel nicht anwendbar, da sich die Frage der Günstigkeit für den Arbeitnehmer nicht eindeutig beantworten lässt. Es kann nicht generell davon ausgegangen werden, dass eine dynamische Verweisung für den Arbeitnehmer günstiger ist als eine statische Verweisung6. Dies zeigt gerade das Beispiel von SanierungsTVen. Die darin enthaltenen Arbeitsplatzsicherungen sind für die Arbeitnehmer zwar günstiger, die Entgeltreduzierungen dagegen ungünstiger.

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a) Statische Bezugnahmeklausel Eine statische Bezugnahmeklausel nimmt auf den Inhalt eines bestimmten TVes in einer bestimmten Fassung Bezug. Auf das Arbeitsverhältnis findet der Tarifvertrag … in der Fassung vom … Anwendung.

1 Vgl. BAG v. 9.5.2007 – 4 AZR 319/06, AP Nr. 8 zu § 305c BGB; BAG v. 15.4.2008 – 9 AZR 159/07, AP Nr. 38 zu § 1 TVG Altersteilzeit; BAG v. 24.9.2008 – 6 AZR 76/07, AP Nr. 11 zu § 305c BGB; Schaub/Schaub, ArbR-Hdb., § 206 Rz. 14. 2 Vgl. HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 19; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 235; Wiedemann/ Oetker, § 3 TVG Rz. 293; Kempen/Zachert/Stein, § 3 TVG Rz. 160. 3 Vgl. BAG v. 14.3.2007 – 5 AZR 630/06, AP Nr. 45 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 15.4.2008 – 9 AZR 159/07, AP Nr. 38 zu § 1 TVG Altersteilzeit. 4 Vgl. Henssler/Moll, AGB-Kontrolle vorformulierter Arbeitsbedingungen, 2011, S. 123. 5 Vgl. Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 18. 6 Vgl. BAG v. 24.9.2008 – 6 AZR 76/07, AP Nr. 11 zu § 305c BGB.

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Teil 12

Rz. 72

Der Sanierungstarifvertrag

Künftige Änderungen des in Bezug genommenen TVes werden nicht Bestandteil des Arbeitsvertrages. Die Bedingungen des TVes in der konkret benannten Fassung werden „eingefroren“. Aufgrund dessen kommt es infolge einer nachfolgenden Tarifänderung zum Auseinanderfallen der tariflichen und der vertraglich in Bezug genommenen Arbeitsbedingungen. Verweist demnach eine statische Bezugnahmeklausel auf einen bestimmten VerbandsTV, nimmt der Arbeitnehmer aufgrund der Bezugnahmeklausel zwar nicht an günstigen Entwicklungen dieses VerbandsTVes teil, jedoch auch nicht an den schlechteren Bedingungen des SanierungsTVes. Es verbleibt bei den Regelungen des vertraglich einbezogenen VerbandsTVes. Da der Wortlaut einer solchen Klausel eindeutig ist, bleibt kein Raum für weitergehende Auslegungen1.

b) Dynamische Bezugnahmeklauseln 72

Dynamische Bezugnahmeklauseln kommen in unterschiedlichen Formulierungen vor. Regelmäßig wird unterschieden zwischen „kleinen dynamischen“ Bezugnahmeklauseln und „großen dynamischen“ Bezugnahmeklauseln. Aus dem Wort „dynamisch“ ergibt sich, dass sie eine gewisse Entwicklung der in Bezug genommenen TVe mitberücksichtigen und die Arbeitsbedingungen dementsprechend anpassen. Wie weit diese Dynamisierung reicht und welche TVe davon erfasst sind, ist durch Auslegung zu ermitteln2.

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Die „kleine dynamische“ Bezugnahmeklausel beinhaltet die Dynamisierung in zeitlicher Hinsicht unter Bezugnahme auf einen bestimmten, sachlich einschlägigen TV. Auf das Arbeitsverhältnis findet der Tarifvertrag … in seiner jeweils gültigen Fassung Anwendung. Bei einer solchen Formulierung bezieht sich der Wortlaut der Klausel eindeutig auf ein bestimmtes Tarifwerk. Änderungen dieses TVes im Laufe der Zeit sollen danach ebenfalls Bestandteil des Arbeitsvertrages werden.

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Das BAG legt diese Klauseln für „Altverträge“ regelmäßig als Gleichstellungsabrede aus, wodurch eine Gleichstellung hinsichtlich der Arbeitsbedingungen der nicht oder anders organisierten mit denjenigen Arbeitnehmern bezweckt wird, für die die in Bezug genommenen Tarifbestimmungen durch beiderseitige Tarifgebundenheit gelten3. Zweck einer solchen Gleichstellungsklausel sei es, dass das Arbeitsverhältnis (nur) während der Dauer der Tarifgebundenheit des Arbeitgebers an den dynamischen Entwicklungen des in Bezug genommenen TVes teilnehme. Entsprechend dem Gleichstellungsgedanken hat das BAG die 1 Vgl. Ahrendt, RdA 2012, 129 (132). 2 Vgl. Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 33. 3 Vgl. BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 581/99, AP Nr. 12 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, AP Nr. 21 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 21.8.2002 – 4 AZR 263/01, AP Nr. 21 zu § 157 BGB; BAG v. 25.9.2002 – 4 AZR 294/01, AP Nr. 26 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 1.12.2004 – 4 AZR 50/04, AP Nr. 34 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; zuletzt BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, AP Nr. 39 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag (Ankündigung der Rechtsprechungsänderung).

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Wirkungen

Rz. 75 Teil 12

Bezugnahme auch auf speziellere TVe im Unternehmen erstreckt. Eine allgemein gefasste Gleichstellungsabrede kann daher neben einem firmenbezogenen VerbandsTV auch einen von einem einzelnen Arbeitgeber zur Abänderung des VerbandsTVes abgeschlossenen HausTV erfassen, sofern dieser von derselben Gewerkschaft abgeschlossen worden ist wie der VerbandsTV1. Die Auslegung der Bezugnahmeklausel als Gleichstellungsabrede in „Altverträgen“ setzt allerdings voraus, dass der TV für das Arbeitsverhältnis auch bei Tarifgebundenheit des Arbeitnehmers gelten würde; daran fehlt es bei mangelnder Tarifgebundenheit des Arbeitgebers oder mangelnder Einschlägigkeit des in Bezug genommen TVes (Bsp.: Fach- oder Ortsfremdheit)2. Das BAG legt Bezugnahmeklauseln in „Neuverträgen“ (Abschluss seit dem 1.1.2002) nicht mehr als Gleichstellungsabrede aus3. Bei Vertragsänderungen nach dem 1.1.2002 hinsichtlich solcher Arbeitsverträge, die vor dem 1.1.2002 abgeschlossen worden sind, ist für die Beurteilung, ob eine Verweisungsklausel hinsichtlich ihrer Auslegung als „Neuvertrag“ oder als „Altvertrag“ behandelt werden muss, maßgeblich, ob die Klausel bei Vereinbarung der Änderung zum Gegenstand der rechtsgeschäftlichen Willensbildung der Vertragsparteien gemacht worden ist4. Dies ist etwa dann der Fall, wenn die Verweisungsklausel im geänderten Vertrag einen anderen Wortlaut hat als die Vorgängerregelung. Das BAG greift nunmehr auf allgemeine Auslegungsgrundsätze zurück. Der Bedeutungsinhalt einer Bezugnahmeklausel ist danach in erster Linie anhand ihres Wortlauts zu ermitteln. Verfolgt ein Vertragspartner vom Wortlaut abweichende Regelungsziele, können diese bei der Auslegung nur dann berücksichtigt werden, wenn sie für den anderen Vertragspartner mit hinreichender Deutlichkeit zum Ausdruck kommen. Bei der Inbezugnahme eines bestimmten TVes in seiner jeweils gültigen Fassung ohne den Zusatz der Erfassung auch der den TV ändernden, ergänzenden oder ersetzenden TVe ist der Wortlaut eindeutig, und es bedarf im Grundsatz keiner weiteren Heranziehung von Auslegungsfaktoren5. Eine Auslegung dergestalt, dass auch andere TVe, an die der Arbeitgeber erst später gebunden ist, erfasst sind, scheidet grundsätzlich aus6. Für „Neuverträge“ bedeutet das demnach, dass eine Bezugnahmeklausel nur noch dann als Gleichstellungsabrede auszulegen sein wird, wenn sich der Gleichstellungszweck eindeutig aus dem Wortlaut ergibt. Ist dies nicht der Fall, handelt sich um eine unbedingte zeitdynamische Verweisung. In dem Fall, dass die Bezugnahmeklausel auf einen bestimmten VerbandsTV verweist, 1 Vgl. BAG v. 23.1.2008 – 4 AZR 602/06, AP Nr. 63 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; LAG Nürnberg v. 12.11.2008 – 4 Sa 760/08, ZTR 2009, 142. 2 Vgl. BAG v. 21.10.2009 – 4 AZR 396/08, AP Nr. 72 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag. 3 Vgl. BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, AP Nr. 39 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag. 4 Vgl. BAG v. 24.2.2010 – 4 AZR 691/08, AP Nr. 75 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag. 5 Vgl. BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, AP Nr. 53 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag. 6 Vgl. Greiner, NZA 2009, 877; Henssler/Moll, AGB-Kontrolle vorformulierter Arbeitsbedingungen, 2011, S. 116 ff.; Hümmerich/Reufels/Reufels, Gestaltung von Arbeitsverträgen, § 20 Rz. 1311.

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Teil 12

Rz. 76

Der Sanierungstarifvertrag

ohne den Zusatz zu enthalten, dass auch die diesen TV ergänzenden, ändernden oder ersetzenden TVe einbezogen sind, wird die Auslegung daher regelmäßig ergeben, dass ändernde/ergänzende/ersetzende (Sanierungs-)TVe von der Bezugnahme nicht erfasst sind. 76

Anders verhält es sich bei der folgenden Formulierung: Auf das Arbeitsverhältnis finden der Tarifvertrag … sowie die diesen ändernden, ergänzenden oder ersetzenden Tarifverträge in der jeweils gültigen Fassung Anwendung. Ein SanierungsTV wird bei dieser Formulierung als ein den geltenden, in Bezug genommenen VerbandsTV ändernder TV erfasst1.

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Das BAG hat bislang ohne Rückgriff auf die Gleichstellungsproblematik die Einbeziehung von SanierungsTVen großzügig gehandhabt und durch ergänzende oder weite Auslegung dem SanierungsTV zum Anwendungsvorrang verholfen2. Jedem Arbeitnehmer muss klar sein, dass die Gewerkschaft, die die bei Abschluss des Arbeitsvertrags geltenden Arbeitsbedingungen gestaltet hat, diese auch ändern kann, insbesondere wenn dies zu Sanierungszwecken geboten erscheint. Ein mit einer anderen Gewerkschaft abgeschlossener SanierungsTV dürfte dagegen mit weniger Großzügigkeit bei der Auslegung von Bezugnahmeklauseln zu rechnen haben. Eine Klausel, nach der auf das Arbeitsverhältnis „die jeweils gültigen TVe für den Groß- und Außenhandel des Landes Hessen“ Anwendung finden, hat das BAG als Bezugnahme auch auf HausTVe ausgelegt, die mit derselben Gewerkschaft geschlossen werden; im Zweifel wollten die Vertragsparteien „die fachlich und betrieblich einschlägigen TVe in Bezug nehmen“3. Ebenfalls anhand des Wortlauts hat das BAG eine Bezugnahmeklausel, die auf die „TVe der Metallindustrie Nordrhein-Westfalen“ verweist, so ausgelegt, dass auch ein firmenbezogener VerbandssanierungsTV erfasst ist; es seien auch solche TVe erfasst, die Einschränkungen im Hinblick auf den sachlichen, personellen oder örtlichen Geltungsbereich beinhalten4. Bezugnahmeklauseln, die auf die jeweils einschlägigen FlächenTVe verweisen, umfassen nach Ansicht des BAG daher mangels abweichender Einzelfallumstände in der Regel auch firmenbezogene VerbandsTVe oder zur Sanierung abgeschlossenen HausTVe.

1 Vgl. Ahrendt, RdA 2012, 129 (132). 2 Vgl. BAG v. 14.12.2005 – 10 AZR 296/05, NZA 2006, 744; BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 486/05, NZA 2007, 634; BAG v. 23.1.2008 – 4 AZR 602/06, AP Nr. 63 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08; LAG Düsseldorf v. 14.2.20008 – 11 Sa 1922/07, LAGE § 613a BGB Nr. 18; LAG Hamm v. 22.4.2008 – 9 Sa 2230/07, NZA-RR 2008, 478; Henssler/Moll, AGB-Kontrolle vorformulierter Arbeitsbedingungen, 2011, S. 125. Siehe aber kritisch dazu Ahrendt, RdA 2012, 127 (133). 3 Vgl. BAG v. 23.3.2005 – 4 AZR 203/04, AP Nr. 29 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz. Ähnlich auch BAG v. 23.1.2008 – 4 AZR 602/06, AP Nr. 63 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag („Tarifverträge für Angestellte der Bayerischen Metall- und Elektroindustrie … in der jeweils gültigen Fassung“). Zustimmend Bayreuther, NZA 2007, 1017 (1021); Thüsing, NZA 2005, 1280 (1282). 4 Vgl. BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 486/05, AP Nr. 24 zu § 1 TVG Rückwirkung.

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Wirkungen

Rz. 81 Teil 12

Der SanierungsTV setzt sich allerdings dann nicht durch, wenn (konstitutive) Bezugnahmeklauseln ausdrücklich nur auf einen bestimmten VerbandsTV verweisen und die Mittel der ergänzenden oder weiten Auslegung versagen. Eine „Gleichstellung“ wäre nicht möglich, unabhängig davon, ob es sich um Altoder Neuklauseln handelt.

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Die „große dynamische“ Bezugnahmeklausel besagt, dass die jeweils für den Arbeitgeber einschlägigen TVe in ihrer jeweils geltenden Fassung in Bezug genommen werden. Sie finden sich nicht selten in der folgenden sehr knappen Formulierung1:

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Auf das Arbeitsverhältnis sind die für den Arbeitgeber betrieblich und fachlich jeweils einschlägigen Tarifverträge in ihrer jeweils gültigen Fassung anwendbar. Dies sind zurzeit die Tarifverträge … Diese Klauseln werden regelmäßig als Tarifwechselklauseln ausgelegt2. Bei einem Tarifwechsel des Arbeitgebers beispielsweise können so auch TVe anderer Branchen und anderer TV-Parteien zum Inhalt des Arbeitsverhältnisses werden3. Bei einem Betriebsübergang werden durch diese Klausel die beim Betriebserwerber als neuem Arbeitgeber geltenden TVe erfasst. Ist eine solche Klausel vereinbart worden, findet ein den bisherigen VerbandsTV ablösender SanierungsTV ohne Weiteres Anwendung, da der SanierungsTV der nunmehr für den Arbeitgeber einschlägige TV ist4. Zum Teil wird in Sanierungstarifverträgen formuliert, dass der persönliche Geltungsbereich des SanierungsTVes auf die Mitglieder der tarifschließenden Gewerkschaft beschränkt ist. Dies wirft die Frage auf, was gilt, wenn im Arbeitsvertrag eine dynamische Bezugnahme nur auf die persönlich und fachlich einschlägigen TVe vereinbart ist. Es bleibt auch dann bei der dynamischen Bezugnahme auf den SanierungsTV5. Durch die entsprechende Bestimmung im SanierungsTV soll lediglich die gesetzliche Regelung des § 3 Abs. 1 TVG ausgedrückt werden, wonach die normative Wirkung eines TVes gegenüber einem Arbeitnehmer nur bei dessen Mitgliedschaft in der tarifschließenden Gewerkschaft eintritt. Der persönliche Geltungsbereich des SanierungsTVes soll nicht tatbestandlich auf Gewerkschaftsmitglieder beschränkt werden6.

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3. Allgemeinverbindlicher VerbandsTV trifft auf individualvertraglich geltenden SanierungsTV Einen Sonderfall stellt die Konstellation dar, dass ein allgemeinverbindlicher VerbandsTV auf einen kraft Bezugnahme individualvertraglich geltenden Sa1 Siehe zu Klauselbeispielen auch Henssler/Moll, AGB-Kontrolle vorformulierter Arbeitsbedingungen, 2011, S. 128 ff. 2 Vgl. Schaub/Schaub, ArbR-Hdb., § 206 Rz. 30. 3 Vgl. Hamacher in: Moll (Hrsg), Münchener Anwaltshandbuch Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2012, § 65 Rz. 64. 4 Vgl. BAG v. 16.10.2002 – 4 AZR 467/01, AP Nr. 22 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag. 5 Vgl. Kleinebrink, ArbRB 2006, 119 (121). 6 Vgl. BAG v. 23.3.2005 – 4 AZR 203/04, AP Nr. 29 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz.

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Teil 12

Rz. 82

Der Sanierungstarifvertrag

nierungsTV trifft. Der allgemeinverbindliche VerbandsTV gilt gemäß § 5 Abs. 4 TVG normativ, der SanierungsTV dagegen nur individualvertraglich. Das BAG hat zunächst in seiner Entscheidung vom 23.3.2005 angenommen1, dass in diesem Falle der kraft individualvertraglicher Bezugnahme geltende SanierungsTV nach den Regeln der Tarifkonkurrenz als speziellere Regelung den kraft Allgemeinverbindlichkeit normativ geltenden VerbandsTV verdränge. Das Günstigkeitsprinzip sei nicht anwendbar. Diese Rechtsprechung hat das BAG mittlerweile aufgegeben2. Es geht nunmehr davon aus, dass es sich nicht um einen Fall der Tarifkonkurrenz handele. Vielmehr „konkurriere“ eine arbeitsvertragliche Regelung mit einem kraft Allgemeinverbindlichkeit normativ geltenden TV. Dieses Verhältnis sei nach Maßgabe des § 4 Abs. 3 TVG (Günstigkeitsprinzip) zu lösen. Dies bringt die Gefahr mit sich, dass die Außenseiter-Arbeitnehmer besser gestellt werden als die Gewerkschaftsmitglieder. Erstere kommen in den Genuss der günstigeren Tarifbedingungen. Dies könnte bei Letzteren fraglich sein, wenn die in ihrem Arbeitsverhältnis geltende (konstitutive) Bezugnahmeklausel – lediglich – die kollektivrechtliche Situation nachvollzieht; d.h. für sie würde aufgrund des Spezialitätsprinzips der SanierungsTV gelten, es sei denn, ihre Bezugnahmeklausel erfasst allein den (allgemeinverbindlich) erklärten VerbandsTV. Dies würde zu mit dem Sinn und Zweck der Allgemeinverbindlicherklärung nicht zu vereinbarenden Ergebnissen führen. Ziel der Allgemeinverbindlicherklärung ist es, eine „Lohndrückerei“ von nicht organisierten Arbeitnehmern durch Ausdehnung der Kartellwirkung des TVes zu erreichen. Diese soziale Schutzfunktion soll dadurch verwirklicht werden, dass organisierte und nicht organisierte Arbeitnehmer bei tariflich geregelten Arbeitsbedingungen gleichgestellt werden3. Die Anwendung des Günstigkeitsprinzips allein zu Gunsten der nicht organisierten Arbeitnehmer auf der Grundlage einer Allgemeinverbindlicherklärung verfehlt bei einem Vergleich mit den organisierten Arbeitnehmer dieses Anliegen. Der Allgemeinverbindlichkeit muss richtigerweise im Verhältnis zu beiden Arbeitnehmergruppen die gleiche Wirkung zukommen: Wenn beide Arbeitnehmergruppen übereinstimmende Bezugnahmeregelungen haben (was regelmäßig der Fall sein wird), dann gilt diese Bezugnahme im Verhältnis zur Allgemeinverbindlichkeit für beide Arbeitnehmergruppen in gleicher Weise. Der Maßstab der Allgemeinverbindlichkeit ist richtigerweise in beiden Fällen Gegenstand des Günstigkeitsvergleichs. Dass der Arbeitnehmer auch kraft Gewerkschaftsmitgliedschaft tarifgebunden ist, schiebt dies nicht beiseite.

II. Verhältnis zu günstigeren Vertragsabreden 82

Die ablösende Wirkung des SanierungsTVes wird im Falle von für den Arbeitnehmer günstigeren arbeitsvertraglichen Regelungen problematisch. Dies gilt im Hinblick auf alle außer- oder übertariflichen Leistungen bzw. Zusagen. Der1 Vgl. BAG v. 23.3.2005 – 4 AZR 203/04, AP Nr. 29 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz. 2 Vgl. BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, AP Nr. 61 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 1023/08, AP Nr. 388 zu § 613a BGB; LAG Düsseldorf v. 2.9.2010 – 5 Sa 720/10, ZTR 2011, 90. 3 Vgl. Bepler, AuR 2010, 234 (235 f.); Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 7, 9.

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Rz. 83 Teil 12

artige Vereinbarungen werden aufgrund des Günstigkeitsprinzips (§ 4 Abs. 3 TVG) durch die Normwirkung des SanierungsTVes nicht berührt. Bezugnahmeklauseln sind regelmäßig nicht geeignet, zur Anwendung der SanierungsTVRegeln an Stelle der Vertragsabreden zu führen, weil Bezugnahmeklauseln normalerweise nur „im Übrigen“ die Arbeitsbedingungen durch Tarifverweisung regeln, nicht aber Leistungszusagen bzw. Vertragsabreden unter den Vorbehalt tariflicher Regelung stellen. Etwas anders gilt, wenn die Bezugnahmeklausel so konzipiert ist, dass sie auch – bestimmte – Leistungszusagen bzw. Vertragsabreden erfasst. Derartige Klauseln sind im Betriebsverfassungsrecht allgemein anerkannt (Betriebsvereinbarungsoffenheit/Betriebsvereinbarungsvorbehalt)1. Gegen die Zulässigkeit vorgreiflicher Öffnungsklauseln zugunsten von Tarifregelungen bestehen grundsätzlich keine Bedenken. Das Günstigkeitsprinzip sichert die günstigere arbeitsvertragliche Gestaltung der Arbeitsbedingungen. Deren Geltung und Inhalt gestalten die Arbeitsvertragsparteien: Diese bestimmen, ob und wie sie „günstiger“ als Tarifregelungen sein wollen. Vorgreifliche Öffnungsklauseln unterliegen der AGB-Kontrolle. Dies gilt auch dann, wenn man vorgreiflich Öffnungsklauseln als Befristung einzelner Arbeitsbedingungen ansieht2. Ein Verstoß gegen § 308 Nr. 4 BGB liegt nicht vor. Vorgreifliche Öffnungsklauseln ermöglichen dem Arbeitgeber keine einseitige Änderung des Arbeitsvertrages, es bedarf der Mitwirkung der Gewerkschaft3. Einer Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 1 BGB hält die vorgreifliche Öffnungsklausel Stand. Sie ist weder intransparent noch inhaltlich unangemessen. Letzteres gilt auch dann, wenn man berücksichtigt, dass daraus erhebliche Verschlechterungen der Rechtsposition des Arbeitnehmers resultieren können. Der Arbeitnehmer lässt sich lediglich darauf ein, dass seine Arbeitsbedingungen einem Normwerk mit Richtigkeitsgewähr (Art. 9 Abs. 3 GG) unterworfen werden. Dies ist weder benachteiligend noch unangemessen4. Erst recht gilt dies, wenn die vorgreifliche Öffnungsklausel auf SanierungsTVe beschränkt wird. Sollte sich die wirtschaftliche Lage des Unternehmens derart verschlechtern, dass Sanierungsvereinbarungen getroffen werden müssen, können durch Tarifverträge Regelungen dieses Vertrages auch zulasten des Arbeitnehmers/der Arbeitnehmerin abgeändert werden. In diesem Falle ist ihm/ihr der abändernde Tarifvertrag bekannt zu geben.

III. Rückwirkende Änderung von Arbeitsbedingungen Das BAG hält es grundsätzlich für zulässig, durch einen SanierungsTV in Rechte aus einem VerbandsTV während dessen Laufzeit rückwirkend einzugreifen, sofern und soweit dadurch schutzwürdiges Vertrauen der – kollek1 Vgl. BAG v. 16.9.1986 – GS 1/82, AP Nr. 17 zu § 77 BetrVG1972; BAG v. 21.9.1989 – 1 AZR 454/88, AP Nr. 43 zu § 77 BetrVG 1972; BAG v. 5.8.2009 – 10 AZR 483/08, AP Nr. 85 zu § 242 BGB Betriebliche Übung; LAG München v. 19.3.2008 – 11 Sa 828/07; LAG Hessen v. 24.2.2010 – 6 Sa 304/09; Bayreuther, ZIP 2008, 573 (575); Gaul/Süßbrich/Kulejewski, ArbRB 2004, 346. 2 Vgl. Bayreuther, ZIP 2008, 573 (575). 3 Vgl. Bayreuther, NZA 2010, 378 (379). 4 Vgl. Bayreuther, ZIP 2008, 573 (575).

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Teil 12

Rz. 84

Der Sanierungstarifvertrag

tivrechtlich sowie individualrechtlich – tarifunterworfenen Arbeitnehmer nicht verletzt wird1.

1. Grundsätzliche Möglichkeit der rückwirkenden Änderung durch TV 84

Nach der ständigen Rechtsprechung des BAG können die TV-Parteien die Regelungen des von ihnen abgeschlossenen TVes während dessen Laufzeit rückwirkend ändern, da tarifvertragliche Regelungen auch während der Laufzeit des TVes den immanenten Vorbehalt ihrer rückwirkenden Abänderbarkeit durch TV in sich tragen2. Von einer solchen rückwirkenden Änderung ist bereits nach Anspruchsentstehung auszugehen, der ggf. später liegende Fälligkeitszeitpunkt ist irrelevant.

2. Grenze: Vertrauensschutz 85

Arbeitnehmer müssen im Grundsatz und im Regelfall nicht damit rechnen, dass in bereits entstandene Ansprüche eingegriffen wird, auch wenn diese noch nicht erfüllt oder noch nicht fällig sind. Anders verhält es sich, wenn bereits vor Anspruchsentstehung das Vertrauen der Arbeitnehmer hinreichend erschüttert worden ist, die Arbeitnehmer also damit rechnen müssen, dass die TV-Parteien diesen Anspruch zu ihren Lasten ändern werden. Ist dies nicht der Fall, kann ein einmal zu Recht entstandenes, schützenswertes Vertrauen der Arbeitnehmer nicht nachträglich wieder entfallen3. Ein Eingriff ist dann nur in zukünftig erst noch entstehende Ansprüche möglich. Für die Bejahung oder Verneinung schützenswerten Vertrauens kommt es nicht darauf an, ob ein entstandener Anspruch bereits erfüllt ist.

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Schutzwürdiges Vertrauen kommt dann nicht (mehr) in Betracht, wenn bereits zum Zeitpunkt der Entstehung des Anspruchs hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die TV-Parteien diese Ansprüche zu Ungunsten der Arbeitnehmer ändern werden. Bei Ansprüchen, bei denen der Zeitpunkt der Entstehung und der Zeitpunkt der Fälligkeit auseinanderfallen, kommt es in den Fällen, in denen der Zeitpunkt der Anspruchsentstehung vor dem Inkrafttreten des SanierungsTVes liegt, darauf an, ob bereits vor Anspruchsentstehung das Vertrauen der Arbeitnehmer erschüttert wurde. Nur dann kann durch den SanierungsTV in diese bereits entstandenen Ansprüche eingegriffen werden. Ob das Vertrauen der Arbeitnehmer erschüttert wurde, ist eine Frage des Einzelfalles4. Bloße Hinweise auf wirtschaftliche Schwierigkeiten des Unternehmens 1 Vgl. BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 486/05, AP Nr. 24 zu § 1 TVG Rückwirkung. 2 Vgl. BAG v. 23.11.1994 – 4 AZR 879/93, AP Nr. 12 zu § 1 ZVG Rückwirkung; BAG v. 14.6.1995 – 4 AZR 225/94, AP Nr. 13 zu § 1 TVG Rückwirkung; BAG v. 15.11.1995 – 2 AZR 521/95, AP Nr. 20 zu § 1 TVG Tarifverträge: Lufthansa; BAG v. 25.6.1997 – 10 AZR 79/97; BAG v. 9.7.1997 – 4 AZR 635/95, AP Nr. 233 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG v. 14.11.2001 – 10 AZR 698/00, NZA 2002, 1056; BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 486/05, AP Nr. 24 zu § 1 TVG Rückwirkung; BAG v. 24.10.2007 – 10 AZR 878/06, NZA 2008, 131. 3 Vgl. BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 486/05, AP Nr. 24 zu § 1 TVG Rückwirkung. 4 Vgl. BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 486/05, AP Nr. 24 zu § 1 TVG Rückwirkung; BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 522/05, AiB 2007, 418.

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Wirkungen

Rz. 88 Teil 12

reichen in aller Regel nicht aus, weil solche Schwierigkeiten auch durch andere Maßnahmen als durch die rückwirkende Verschlechterung der tariflichen Ansprüche behoben werden könnten1. Hinsichtlich der Kenntnis von den maßgeblichen Umständen kommt es nicht auf den einzelnen Tarifunterworfenen an, sondern auf die Kenntnis der betroffenen Kreise2. Eine entsprechend geeignete Information an den ganzen Betrieb oder an den Teil des Betriebes, der von den Änderungen betroffen ist, ist also unbedingt notwendig, aber auch ausreichend. Beispiele für die hinreichende Erschütterung des Vertrauens:

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– Gemeinsame Erklärung der TV-Parteien über eine rückwirkende Änderung einer konkreten Entlohnungsfrage und deren Bekanntgabe durch Rundverfügung an den betroffenen Personenkreis3; – Bekanntgabe des Ergebnisprotokolls der Sanierungsverhandlungen4; – Information über den Wegfall des Anspruchs auf eine Jahressonderzahlung bei einer Gesamtbetriebsversammlung5; – Bekanntgabe des Inhalts des Verhandlungsergebnisses über eine Senkung des 13. Monatsgehalts auf einer Betriebsversammlung6; – Flugblätter der verhandelnden Gewerkschaft zu den Änderungsverhandlungen in Zusammenhang mit der Kenntnis der Mitarbeiter von der schwierigen wirtschaftlichen Lage des Unternehmens7; – Existenz eines bereits vor Abschuss eines VerbandsTVes vereinbarten HausTVes mit einer Arbeitszeiterhöhung ohne Entgeltausgleich. Bei dieser Lage konnten die Arbeitnehmer nicht darauf vertrauen, dass auf Verbandsebene im FlächenTV erzielte Tarifergebnisse uneingeschränkt auch an sie weitergegeben würden. Zudem hatte der Betriebsrat laufend über den Stand der Verhandlungen hinsichtlich des Abschlusses des neuen (den VerbandsTV verschlechternden) HausTVes informiert8.

3. Information der betroffenen Kreise Ist daher eine rückwirkende Verschlechterung von Arbeitsbedingungen durch einen SanierungsTV geplant, ist der Arbeitgeber gut beraten, rechtzeitig vor Entstehung der betroffenen Ansprüche klar und eindeutig diese bevorstehende 1 Vgl. BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 522/05, AiB 2007, 418. 2 St. Rspr.: BAG v. 23.11.1994 – 4 AZR 879/93, AP Nr. 12 zu § 1 TVG Rückwirkung; BAG v. 6.8.2002 – 1 AZR 247/01, AP Nr. 154 zu § 112 BetrVG 1972; BAG v. 22.10.2003 – 10 AZR 152/03, AP Nr. 21 zu § 1 TVG Rückwirkung; BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 486/05, AP Nr. 24 zu § 1 TVG Rückwirkung; BAG v. 24.10.2007 – 10 AZR 878/06, NZA 2008, 131. 3 Vgl. BAG v. 23.11.1994 – 4 AZR 879/93, AP Nr. 12 zu § 1 TVG. 4 Vgl. BAG v. 22.10.2003 – 10 AZR 152/03, AP Nr. 21 zu § 1 TVG Rückwirkung. 5 Vgl. LAG Rheinland-Pfalz v. 10.6.2009 – 8 Sa 767/08, n.v. 6 Vgl. BAG v. 14.11.2001 – 10 AZR 698/00, NZA 2002, 1056. 7 Vgl. BAG v. 17.5.2000 – 4 AZR 216/99, AP Nr. 19 zu § 1 TVG Rückwirkung. 8 Vgl. LAG Rheinland-Pfalz v. 20.7.2010 – 3 Sa 179/10, n.v.

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88

Teil 12

Rz. 89

Der Sanierungstarifvertrag

Verschlechterung zu kommunizieren, z.B. auf einzuberufenden Betriebsversammlungen oder durch umfassende schriftliche Information der Arbeitnehmer. Für die Arbeitnehmer muss erkennbar sein, welche konkreten Ansprüche betroffen sind und dass mit einer Verschlechterung zu rechnen ist. Es ist aus der Sicht des Arbeitgebers und der Sanierungsverantwortlichen zu empfehlen, dass nicht nur die TV-Parteien, sondern auch der Arbeitgeber, der ggf. im Zusammenwirken mit dem Betriebsrat handelt, über die geplanten Änderungen informiert. Dadurch ist sichergestellt, dass auch die nicht organisierten Arbeitnehmer Kenntnis erlangen1.

4. Rückwirkender Eingriff in ein beendetes Arbeitsverhältnis 89

Das BAG hat klargestellt, dass auch in ein beendetes Arbeitsverhältnis durch einen SanierungsTV rückwirkend eingegriffen werden kann. Ob dies von den TV-Parteien gewollt ist, ist durch Auslegung zu ermitteln. Die normative Rückwirkung eines TVes setzt allerdings voraus, dass sowohl zum Zeitpunkt des rückwirkenden Inkrafttretens als auch im Zeitpunkt des Abschlusses des TVes beiderseitige Tarifbindung besteht2. Die Rückwirkung tariflicher Regelungen aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahme hängt beim Fehlen einer ausdrücklichen Vereinbarung von der Auslegung der Bezugnahmeklausel ab. Eine dynamische Bezugnahmeklausel erfasst in der Regel alle das Arbeitsverhältnis betreffenden Änderungen der tariflichen Arbeitsbedingungen, auch wenn sie nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses, aber für die Zeit seines Bestandes rückwirkend vereinbart worden sind3. Es gilt auch hier das Gebot des Vertrauensschutzes. Es bleibt dabei, dass bei dem Eingriff in ein bereits beendetes Arbeitsverhältnis die Kenntnis der betroffenen Kreise maßgeblich ist. Es spielt daher keine Rolle, ob der betroffene Arbeitnehmer bereits aus dem Betrieb ausgeschieden ist und an den betriebsinternen Informationsveranstaltungen nicht mehr teilgenommen hat4.

F. Sanierungstarifvertrag und Betriebsübergang 90

Eine in der Praxis häufige Situation stellt die Veräußerung eines sanierungsbedürftigen Betriebs dar. In diesem Zusammenhang stellen sich zahlreiche Fragen, etwa wie sich der Betriebsübergang auf die Geltung eines für dieses Unternehmen geltenden SanierungsTVes auswirkt, ob der Betriebsübergang auf einen nicht tarifgebundenen Betriebserwerber zu einem Wegfall der Geschäftsgrundlage führt oder wie ein SanierungsTV nach einem Betriebsübergang gekündigt werden kann.

1 Vgl. Meyer, SAE 2008, 55 (59). 2 Vgl. BAG v. 6.8.2002 – 1 AZR 247/01, AP Nr. 154 zu § 112 BetrVG 1972; BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 486/05, AP Nr. 24 zu § 1 TVG Rückwirkung; BAG v. 24.10.2007 – 10 AZR 878/06, NZA 2008, 131. 3 Vgl. BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 486/05, AP Nr. 24 zu § 1 TVG Rückwirkung. 4 Vgl. Bepler, AuR 2010, 234 (239).

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Sanierungstarifvertrag und Betriebsübergang

Rz. 93 Teil 12

I. Auswirkungen eines Betriebsübergangs auf die Geltung des Sanierungstarifvertrages 1. Normativ wirkender SanierungsTV Gemäß § 4 Abs. 1 TVG wirkt ein TV normativ, also unmittelbar und zwingend, nur zwischen den beiderseits Tarifgebundenen. Gemäß § 3 Abs. 1 TVG sind dies die Mitglieder der TV-Parteien und der Arbeitgeber, der selbst Partei des TVes ist. Ein SanierungsTV wirkt daher normativ nur zwischen den Arbeitnehmern, die Mitglied der tarifschließenden Gewerkschaft sind, und dem tarifschließenden Arbeitgeber bzw. dem verbandsangehörigen Arbeitgeber.

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a) Kollektivrechtliche Weitergeltung Bei einem HausTV kommt eine kollektivrechtliche Weitergeltung bei einem Betriebsübergang im Sinne des § 613a BGB nach Ansicht des BAG nicht in Betracht1. Als Begründung führt das BAG an, die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers an den HausTV basiere auf seiner Stellung als TV-Partei und nicht auf der als Partei des Arbeitsvertrages. Es gebe keine Grundlage dafür, dass von dem Übergang der Arbeitgeberstellung hinsichtlich der Arbeitsverhältnisse gemäß § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB auch die Stellung als TV-Partei eines HausTVes erfasst werde. Vielmehr gelte die Auffangregelung in § 613a Abs. 1 Sätze 2–4 BGB für die TVe ohne Unterscheidung zwischen Verbands- und HausTVen. Dies muss inzwischen als gefestigte Rechtsprechung angesehen werden, ist aber auf (berechtigte) Kritik in der Literatur gestoßen2. Die kollektivrechtliche Weitergeltung eines HausTVes kommt nach der Rechtsprechung des BAG nur bei einer Gesamtrechtsnachfolge (Bsp.: Umwandlung)3 oder bei Abschluss eines gleichlautenden HausTVes bzw. einer Vereinbarung zwischen dem Betriebserwerber und der Gewerkschaft über die Übernahme des HausTVes in Frage.

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Ein VerbandsTV gilt grundsätzlich dann normativ weiter, wenn der Betriebserwerber kraft Mitgliedschaft in dem tarifschließenden Arbeitgeberverband oder bei Allgemeinverbindlichkeit ebenfalls tarifgebunden ist und der übertragene Betrieb auch nach dem Betriebsübergang dem Geltungsbereich des TVes unterfällt4. Es ist, wenn das Erwerberunternehmen tarifgebunden ist, zu fragen, ob der SanierungsTV nach seinem Geltungsbereich weiter anwendbar ist. Dies

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1 Vgl. BAG v. 20.6.2001 – 4 AZR 295/00, AP Nr. 18 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 29.8.2001 – 4 AZR 332/00, AP Nr. 17 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 15.3.2006 – 4 AZR 132/05, AP Nr. 9 zu § 2 TVG FirmenTV; BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, AP Nr. 376 zu § 613a BGB; so auch Ahrendt, RdA 2010, 120 (136); HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 47, 199; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 239; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 113; Seel, MDR 2008, 657 (658). Siehe ausf. dazu Teil 15 Rz. 36 ff. 2 Vgl. Kittner/Zwanziger/Bachner, Arbeitsrecht, § 98 Rz. 5; HK-ArbR/Karthaus/Richter, § 613a BGB Rz. 117; Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 108, 120; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 176; Moll, RdA 1996, 275. 3 Vgl. BAG v. 24.6.1998 – 4 AZR 208/97, AP Nr. 1 zu § 20 UmwG; Moll, in: Henssler/ Strohn, 2011, § 324 UmwG Rz. 18; APS/Steffan, 4. Aufl. 2012, § 324 UmwG Rz. 13. 4 Vgl. HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 262.

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Teil 12

Rz. 94

Der Sanierungstarifvertrag

hängt von der Bestimmung des Geltungsbereichs in dem SanierungsTV ab. Ist die Geltungsbereichsregelung allein betriebsbezogen, kann der SanierungsTV weiter angewandt werden. Ist die Geltungsbereichsregelung dagegen auf das Unternehmen bzw. den Unternehmensträger bezogen, was oftmals der Fall sein wird, ist der SanierungsTV nach dem Betriebsübergang kollektivrechtlich nicht mehr anwendbar, weil der Betriebserwerber vom Geltungsbereich nicht erfasst wird.

b) Transformation in das Arbeitsverhältnis 94

Liegt eine kollektivrechtliche Weitergeltung der Rechtsnormen des TVes nicht vor, kommt § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB zur Anwendung. Bei einem aufgrund beidseitiger Tarifgebundenheit normativ geltenden TV werden gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB die Rechtsnormen des TVes in das neue Arbeitsverhältnis zwischen Arbeitnehmer und Betriebserwerber „transformiert“. Dadurch verlieren sie zwar ihre kollektivrechtliche Geltung und ihre unmittelbare und zwingende Wirkung, behalten jedoch ihren „kollektivrechtlichen“ Charakter1. Außerdem gilt, dass der Regelungsgehalt der TV-Normen statisch in das Arbeitsverhältnis übergeht, nämlich in dem Normenstand, den er zur Zeit des Betriebsübergangs hat. Spätere tarifvertragliche Änderungen bleiben grundsätzlich unberücksichtigt, auch dann, wenn sie nach dem Wortlaut des TVes rückwirkende Geltung erhalten sollen. Eine in der statisch fortgeltenden Norm selbst angelegte Dynamik bleibt aufrechterhalten und wird Inhalt des Arbeitsverhältnisses. Das umfasst bereits vereinbarte Abschmelzungen ebenso wie bereits vereinbarte Erhöhungen2. Sind in dem SanierungsTV daher bestimmte Reduzierungen, z.B. von Sonderzahlungen, bereits für einen späteren (nach dem Betriebsübergang liegenden) Zeitpunkt konkret vereinbart, gilt diese Dynamik auch nach dem Betriebsübergang weiter. Dasselbe gilt für bereits vereinbarte Einmalzahlungen oder Erhöhungen der Tarifentgelte. Es muss sich um eine Tarifnorm im Sinne des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB handeln, die bereits anspruchsbegründend eine selbst angelegte Dynamik enthält. Begründet ein TV dagegen lediglich die schuldrechtliche Verpflichtung der TV-Parteien zum Abschluss weiterer TVe, so kann nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB keine Bindung des nicht tarifgebundenen Betriebserwerbers an die später abgeschlossenen TVe entstehen3.

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Verweist die übergegangene Tarifregelung ihrerseits auf andere normative Regelungen, die sich weiterentwickeln, so wird deren Stand zur Zeit des Betriebsübergangs (statisch) zum Inhalt des Arbeitsverhältnisses, die Weiterentwicklung dagegen nicht4. 1 Vgl. BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, AP Nr. 371 zu § 613a BGB; Ahrendt, RdA 2010, 129 (138). Siehe ausf. dazu unten Teil 15 Rz. 47 ff. 2 Vgl. BAG v. 19.9.2007 – 4 AZR 711/06, AP Nr. 328 zu § 613a BGB; BAG v. 14.11.2007 – 4 AZR 828/06, AP Nr. 334 zu § 613a BGB; BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, AP Nr. 371 zu § 613a BGB; BAG v. 21.4.2010 – 4 AZR 768/08, AP Nr. 387 zu § 613a BGB. 3 Vgl. LAG Berlin-Brandenburg v. 25.6.2009 – 25 Sa 582/09. 4 Vgl. BAG v. 29.8.2001 – 4 AZR 332/00, AP Nr. 17 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 14.11.2007 – 4 AZR 828/06, AP Nr. 334 zu § 613a BGB.

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Sanierungstarifvertrag und Betriebsübergang

Rz. 99 Teil 12

Eine nach Betriebsübergang eintretende (bereits vor dem Übergang vereinbarte) Beendigung des TVes ohne Nachwirkung führt auch beim Erwerber zu einer Beendigung der Tarifnormen1.

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Inhalte von zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs noch nicht in Kraft getretenen TVen werden grds. nicht nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB transformiert. Dies ist anders, wenn dem Bestand der zu transformierenden Tarifnormen bereits vor dem Betriebsübergang vereinbarte, noch nicht in Kraft getretene Tarifvereinbarungen (Bsp.: Zusatzzahlungen) zuzurechnen sind, weil und wenn sie mit den zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs geltenden Tarifregelungen z.B. eines SanierungsTVes in unmittelbarem Zusammenhang stehen (etwa weil sie als „Sanierungspaket“ vereinbart worden sind) und inhaltlich so eng miteinander verknüpft sind, dass die später in Kraft tretende Tarifnorm arbeitgeberseitig nach dem Willen der TV-Parteien nicht mehr gekündigt werden kann, weil sie einen Ausgleich für vorangegangene Einschränkungen schafft oder auch nur eine Belohnung darstellt für die Betriebstreue in einer mit besonderen Belastungen verbundenen Sanierungsphase. In solchen Fällen hat sich die Rechtsposition der Belegschaft zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs schon so sehr verfestigt, dass sie als zu der in das Arbeitsverhältnis zu transformierenden Tariflage gehörig anzusehen ist2.

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§ 613a Abs. 1 Satz 2 BGB enthält eine einjährige Veränderungssperre, wonach die transformierten Arbeitsbedingungen vor Ablauf eines Jahres nach dem Zeitpunkt des Betriebsübergang nicht zum Nachteil des Arbeitnehmers geändert werden können. Etwas anderes gilt in den Fällen des § 613a Abs. 1 Satz 3 und 4 BGB.

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Eine Ablösung der bisherigen Tarifnorm durch einen beim Erwerber geltenden TV, an den der bislang verbandsangehörige Arbeitnehmer nicht normativ gebunden ist, kann bezüglich dieses Arbeitnehmers nicht nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB erfolgen. Es fragt sich, was gilt, wenn im Arbeitsvertrag eine große dynamische Bezugnahmeklausel vereinbart ist. Diese würde dazu führen, dass nunmehr der beim Erwerber geltende TV gemäß § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB individualvertraglich gilt, während der beim Veräußerer geltende TV gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB (statisch) weiter gelten würde. Diese Situation wird in der Literatur teilweise unter Anwendung des § 613a Abs. 1 Satz 4 BGB gelöst, so dass die (bereits bestehende) große dynamische Bezugnahmeklausel als schuldrechtliche Vereinbarung der Anwendung des beim Erwerber geltenden TVes zwischen dem Arbeitnehmer und dem Erwerber angesehen wird3. Es wird teilweise demgegenüber angenommen, dass der beim Erwerber geltende TV innerhalb des ersten Jahres nach dem Betriebsübergang nur dann anwendbar sein könne, wenn er im Vergleich zu dem beim Veräußerer geltenden TV für den Arbeitnehmer günstiger sei; dies folge aus der einjährigen Veränderungssperre des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB4. Das BAG hat sich dieser Sichtweise angeschlos-

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1 2 3 4

Vgl. BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, AP Nr. 371 zu § 613a BGB. Vgl. LAG Berlin-Brandenburg v. 10.9.2009 – 26 Sa 39/09. Vgl. Bauer/Günther, NZA 2008, 6 (11) m.w.N. Vgl. Annuß, ZfA 2005, 405 (455) m.w.N.

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Teil 12

Rz. 100

Der Sanierungstarifvertrag

sen. Die nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB in das Arbeitsverhältnis transformierte Tarifnorm unterliegt, soweit keine gesetzliche Ablösungsregel eingreift, dem Günstigkeitsprinzip. Kommt es also zu einer Kollision zwischen einer gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB transformierten Tarifnorm und einer individualvertraglichen Vereinbarung oder Verweisung auf einen beim Erwerber geltenden TV (§ 613a Abs. 1 Satz 1 BGB), so ist die dadurch entstehende Regelkollision nach dem Kollisionslösungsprinzip des Günstigkeitsvergleichs gemäß § 4 Abs. 3 TVG aufzulösen1.

c) Ausschluss der Weitergeltung gemäß § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB 100

Die Anwendung des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB und somit die Fortgeltung auch eines SanierungsTVes ist ausgeschlossen, wenn die Rechte und Pflichten bei dem Betriebserwerber durch Rechtsnormen eines anderen TVes geregelt werden. Voraussetzung dafür ist nach der überwiegenden Meinung, dass sowohl der übernommene Arbeitnehmer als auch der Betriebserwerber entweder kraft Mitgliedschaft in den tarifschließenden Parteien oder kraft Allgemeinverbindlichkeit gemäß § 5 TVG nach dem Betriebsübergang an den beim Erwerber geltenden TV gebunden sind (kongruente Tarifgebundenheit)2. Der andere TV im Sinne des § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB verdrängt die nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fortgeltenden Tarifbestimmungen unabhängig davon, ob die Normgeltung bei Betriebsübergang begründet ist oder erst später – egal wann – begründet wird3. Das gilt auch bei einem allgemeinverbindlichen TV, an den nach dem Betriebsübergang sowohl Erwerber als auch Arbeitnehmer normativ gebunden sind4. Die Ablösungswirkung tritt nur dann ein, wenn das Arbeitsverhältnis dem Geltungsbereich des anderen TVes in jeder Hinsicht unterfällt.

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Die Ablösung setzt voraus, dass dieselben Regelungsgegenstände betroffen sind, was durch Auslegung zu ermitteln ist5. Es muss gefragt werden, ob der bisher beim Veräußerer geregelte Sachkomplex eine entsprechende Regelung beim Erwerber gefunden hat. Unerheblich ist, ob die neue Regelung günstiger ist oder nicht; es gilt das Ablösungsprinzip und nicht das Günstigkeitsprinzip6. 1 Vgl. BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, AP Nr. 371 zu § 613a BGB; BAG v. 24.2.2010 – 4 AZR 691/08, AP Nr. 75 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag. 2 Vgl. BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 581/99, AP Nr. 12 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 21.2.2001 – 4 AZR 18/00, AP Nr. 20 zu § 4 TVG; BAG v. 11.5.2005 – 4 AZR 315/04, AP Nr. 30 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; BAG v. 23.1.2008 – 4 AZR 602/06, AP Nr. 63 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; Kittner/Zwanziger/Bachner, Arbeitsrecht, § 98 Rz. 21; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 123; HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 263. Siehe aber demgegenüber LAG Köln v. 30.9.1999 – 6 (9) Sa 740/99, NZA-RR 2000, 179; Moll, RdA 1996, 275 (280); Willemsen/Hohenstatt/ Schweibert/Seibt/Hohenstatt, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, E II Rz. 149 ff. Siehe zum Ganzen ausf. unten Teil 15 Rz. 93 ff. 3 Vgl. BAG v. 11.5.2005 – 4 AZR 315/04, AP Nr. 30 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz. 4 Vgl. BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 1023/08, AP Nr. 388 zu § 613a BGB. 5 Vgl. BAG v. 20.4.1994 – 4 AZR 342/93, AP Nr. 108 zu § 613a BGB; BAG v. 22.1.2003 – 10 AZR 227/02, AP Nr. 242 zu § 613a BGB; BAG v. 23.1.2008 – 4 AZR 602/06, AP Nr. 63 zu § 1 TVG; Moll RdA 2007, 47 (49). 6 Vgl. BAG v. 11.5.2005 – 4 AZR 315/04, AP Nr. 30 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; Staudinger/Annuß, § 613a BGB (Stand 12/2010) Rz. 220; Kittner/Zwanziger/Bachner, Ar-

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Sanierungstarifvertrag und Betriebsübergang

Rz. 102 Teil 12

Soweit sich die Regelungsbereiche nicht decken, können die Regelungen des alten TVes gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fortgelten1. Wenn also beispielsweise in dem SanierungsTV sowie in dem beim Erwerber geltenden TV Regelungen bezüglich eines 13. Monatsgehalts oder eines Urlaubsgeldes existieren, handelt es sich um übereinstimmende Regelungsgegenstände, sodass nunmehr die Regelungen des beim Erwerber geltenden TVes hinsichtlich der Sonderzahlungen Anwendung finden. Dem steht nicht entgegen, dass der SanierungsTV ggf. Standortsicherungsklauseln enthält. Die Regelungsidentität kann nicht deshalb verneint werden, weil der befristete Ausschluss bzw. die befristete Reduzierung tariflicher Ansprüche und die befristete Standortsicherung in einem Zusammenhang stehen. Es handelt sich dabei nicht um einen einheitlichen Regelungsgegenstand2. Entsprechendes gilt, wenn der beim Erwerber anzuwendende TV ein Gehalt vorsieht, das in zwölf Teilen zu zahlen ist, der TV des Veräußerers jedoch ein 13. Monatsgehalt vorsieht. Mit der Ablösung durch den beim Erwerber geltenden TV fällt das 13. Monatsgehalt weg, da davon auszugehen ist, dass die TV-Parteien des ErwerberTVes den Komplex „Gehalt“ umfassend geregelt haben3. Beinhaltet der SanierungsTV Regelungen über unbezahlte Überstunden und existiert in dem beim Erwerber geltenden TV eine umfassende Arbeitszeitregelung, dann verdrängt diese Arbeitszeitregelung die Überstundenregelung des SanierungsTVes, weil davon auszugehen ist, dass die Tarifparteien den Komplex „Arbeitszeit“ komplett geregelt haben. Etwas anderes kann sich aufgrund einer Auslegung anhand der Einzelfallumstände ergeben4. Das Vorhandensein einer konstitutiven Bezugnahmeklausel bei verbandsangehörigen Arbeitnehmern kann zu folgender Konstellation führen: Ist der verbandsangehörige Arbeitnehmer Mitglied der Gewerkschaft, die den TV beim Erwerber geschlossen hat, gilt der ErwerberTV für den verbandsangehörigen Arbeitnehmer normativ. Es gilt § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB. Beinhaltet die konstitutive Bezugnahmeklausel des verbandsangehörigen Arbeitnehmers eine Verweisung auf einen beim Veräußerer geltenden VerbandsTV, d.h. liegt keine große dynamische Bezugnahmeklausel vor, so kann sich der Arbeitnehmer auf die evtl. günstigeren Regelungen des beim Veräußerer geltenden VerbandsTVes berufen, da diese individualvertraglich über die Bezugnahmeklausel in Verbindung mit § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB weiterhin anzuwenden sind. Dies folgt aus der Anwendung des Günstigkeitsprinzips5.

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beitsrecht, § 98 Rz. 17; Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt/Hohenstatt, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, E II Rz. 144; Seel, MDR 2008, 657 (660); Moll/Krahforst, Anm. zu BAG AP Nr. 387 zu § 613a BGB. Vgl. BAG v. 20.4.1994 – 4 AZR 342/93, AP Nr. 108 zu § 613a BGB. Vgl. BAG v. 23.1.2008 – 4 AZR 602/06, AP Nr. 63 zu § 1 TVG. Vgl. HK-ArbR/Karthaus/Richter, § 613a BGB Rz. 130. Vgl. Moll, RdA 2007, 47 (49). Vgl. BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, AP Nr. 61 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, AP Nr. 371 zu § 613a BGB; Bayreuther, ZIP 2008, 573 (574); Bayreuther, DZWIR 2010, 353 (354).

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Teil 12

Rz. 103

Der Sanierungstarifvertrag

2. Geltung des SanierungsTVes aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahme 103

Der nicht verbandsangehörige Arbeitnehmer unterliegt dem SanierungsTV nicht kraft Normwirkung. Individualvertragliche Geltung beansprucht der SanierungsTV nur, wenn in dem Arbeitsvertrag des Arbeitnehmers die Anwendbarkeit durch eine Bezugnahmeklausel vereinbart worden ist. Der Betriebserwerber tritt gemäß § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB in die Rechte und Pflichten aus den im Zeitpunkt des Betriebsübergangs bestehenden Arbeitsverhältnissen ein. Die arbeitsvertraglich vereinbarten Arbeitsbedingungen beinhalten auch die arbeitsvertragliche Bezugnahmeklausel. Es hängt dann vom Inhalt der jeweiligen Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag des nicht verbandsangehörigen Arbeitnehmers ab, ob der SanierungsTV auch nach einem Betriebsübergang auf ihn Anwendung findet.

104

Zwar kann durch einen zwischen dem Veräußerer und Erwerber geschlossenen Personalüberleitungsvertrag ohne die Zustimmung des einzelnen Arbeitnehmers eine dynamische Anwendbarkeit von TVen nicht vereinbart werden. Jedoch kann Arbeitnehmern die Berechtigung eingeräumt werden, eine Vereinbarung über die dynamische Anwendung der TVe gemäß dem Personalüberleitungsvertrag zu verlangen1; es obliegt dann der Entscheidung der Arbeitnehmer, diesen schuldrechtlichen Anspruch geltend zu machen oder nicht. Ob ein Personalüberleitungsvertrag eine solche Berechtigung enthält, ist durch Auslegung zu ermitteln.

a) Kleine dynamische Bezugnahmeklausel 105

Enthält der Arbeitsvertrag des Außenseiter-Arbeitnehmers eine als Gleichstellungsabrede auszulegende Bezugnahmeklausel, die den SanierungsTV beim Betriebsveräußerer erfasst hat, so wirkt der beim Betriebsveräußerer geltende TV – nichts anderes hat für den SanierungsTV zu gelten – nach dem Betriebsübergang nur noch statisch fort; die Bezugnahme wirkt bei der Auslegung als Gleichstellungsabrede beim Betriebsübergang nur noch als statische Verweisung2. Ergibt die Auslegung, dass der SanierungsTV erfasst ist (nach der Rechtsprechung des BAG beispielsweise dann, wenn auf die jeweils einschlägigen FlächenTVe Bezug genommen wird, weil und wenn in der Bezugnahmeklausel der Wille zum Ausdruck gebracht wird, die betrieblich einschlägigen Tarifwerke zur Anwendung gelangen zu lassen)3, übernimmt der Erwerber gemäß § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB diese Arbeitsverhältnisse samt den Regelungen des in Bezug genommenen SanierungsTVes. Ist eine abweichende Tarifbindung des Erwerbers gegeben und gilt dieser ErwerberTV für die verbandsangehörigen Arbeitnehmer gemäß § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB, stellt sich die Frage, ob es bei Vorliegen einer lediglich kleinen dynamischen Bezugnahmeklausel auch auf 1 Vgl. BAG v. 23.2.2011 – 4 AZR 439/09, AP Nr. 60 zu § 133 BGB. 2 Vgl. Ahrendt, RdA 2012, 129 (139); Giesen, NZA 2006, 625 (626); Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 108. 3 Vgl. BAG v. 23.3.2005 – 4 AZR 203/04, AP Nr. 29 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; BAG v. 23.1.2008 – 4 AZR 602/06, AP Nr. 63 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag.

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Sanierungstarifvertrag und Betriebsübergang

Rz. 106 Teil 12

individualvertraglicher Ebene zu einem Tarifwechsel kommen kann. Hierfür mag zwar der Gleichstellungszweck der Bezugnahmeklausel sprechen, der eine inhaltliche Anpassung des Bezugnahmeobjekts rechtfertigen könnte1. Indes muss auf Basis der jüngeren Rechtsprechung davon ausgegangen werden, dass ein Tarifwechsel nur dann möglich ist, wenn ein hierauf gerichteter Wille der Vertragsparteien in der Bezugnahmeklausel eindeutig zum Ausdruck kommt oder zumindest besondere Umstände vorliegen, die auf einen derartigen Parteiwillen schließen lassen2.

b) Große dynamische Bezugnahmeklausel Handelt es sich um eine große Bezugnahmeklausel (die den SanierungsTV grundsätzlich erfasst), kommt es darauf an, ob der Erwerber tarifgebunden ist oder nicht. Ist der Erwerber nicht tarifgebunden, geht die Verweisung ins Leere, da es nach dem Betriebsübergang an einem Bezugnahmeobjekt fehlt. Eine große dynamische Bezugnahmeklausel soll auf die den Arbeitgeber „jeweils normativ bindenden“ TVe gehen, was durch die eigens in ihre Formulierung aufgenommene sachliche Dynamik noch betont wird3. Entsprechend ist das BAG davon ausgegangen, dass bei einem Betriebsübergang von einem tarifgebundenen auf einen nicht tarifgebundenen Arbeitgeber eine große dynamische Bezugnahmeklausel ihren materiellrechtlichen Bedeutungsgehalt verliert.4 Eine Bindung an den SanierungsTV gemäß § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB bestünde demnach nicht. Die Position des BAG ist freilich nicht unumstritten (zu den Einzelheiten ausführlich unten Grau, Teil 15 Rz. 149 ff.). Der Praxis ist zu empfehlen, die Folgen eines Wegfalls der normativen Tarifbindung des Arbeitgebers in der Bezugnahmeklausel klarzustellen5. Sollte der Erwerber an einen anderen TV gebunden sein, ist die Konsequenz einer solchen Bezugnahmeklausel, dass nunmehr der bei dem Erwerber als neuem Arbeitgeber einschlägige TV anzuwenden ist6. Dies ergibt sich aus § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB.

1 Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 372. 2 Vgl. BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, AP Nr. 61 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 15.4.2008 – 9 AZR 159/07, AP Nr. 38 zu § 1 TVG Altersteilzeit; BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, AP Nr. 371 zu § 613a BGB; BAG v. 6.7.2011 – 4 AZR 706/09, NZA 2012,100 (104 f.). Siehe ausführlich dazu unten Grau, Teil 15 Rz. 144 ff. 3 Vgl. Henssler/Moll, AGS-Kontrolle vorformulierter Arbeitsbedingungen, 2011, S. 122. 4 Vgl. BAG v. 4.8.1999 – 5 AZR 642/98, AP Nr. 14 zu § 1 TVG Tarifverträge; Papierindustrie. 5 Vgl. den Formulierungsvorschlag bei Preis/Greiner, NZA 2007, 1073 (1079). 6 Vgl. BAG v. 25.9.2002 – 4 AZR 294/01, AP Nr. 26 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 16.10.2002 – 4 AZR 467/01, AP Nr. 22 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt/Hohenstatt, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, E II Rz. 187; Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 113; Hümmerich/Reufels/Reufels, Gestaltung von Arbeitsverträgen, § 20 Rz. 1373. Siehe dazu unten Teil 15 Rz. 154.

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Teil 12

Rz. 107

Der Sanierungstarifvertrag

II. Wegfall der Geschäftsgrundlage des Sanierungstarifvertrages durch den Betriebsübergang auf einen nicht tarifgebundenen Betriebserwerber? 107

Das BAG hat klargestellt, dass durch einen Betriebsübergang die Geschäftsgrundlage des SanierungsTVes ohne eine diesbezügliche Vereinbarung der TVParteien nicht entfällt. Geschäftsgrundlage einer Transformation nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB sei allein die normative Geltung der Tarifregelungen im Arbeitsverhältnis vor dem Betriebsübergang. Die Grundlage der Transformation seien die Tatbestandsmerkmale des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB, die Geschäftsgrundlage der transformierten Tarifnormen selbst sei dabei nicht von Bedeutung1. Ein SanierungsTV endet also durch einen Betriebsübergang nicht automatisch. Dies muss ausdrücklich vereinbart sein. Existiert eine entsprechende Vereinbarung (Bsp.: Betriebsübergang als auflösende Bedingung) und ist für diesen Fall die Rückkehr zum VerbandsTV vorgesehen, tritt diese Wirkung mit dem Zeitpunkt des Betriebsübergangs automatisch ein (§ 613a Abs. 1 Satz 1 bzw. Satz 2 BGB)2.

III. Kündigung des Sanierungstarifvertrages 108

Sollte für den Fall des Betriebsübergangs nicht schon im SanierungsTV die unmittelbare Beendigung vereinbart worden sein, stellt sich die Frage nach den Möglichkeiten einer Kündigung. Die Möglichkeit einer Kündigung scheitert nicht daran, dass der Betriebsveräußerer nicht mehr Betriebsinhaber ist3; der Betriebsübergang ändert nichts daran, dass Betriebsveräußerer und Gewerkschaft Parteien des (Sanierungs-)TVes bleiben/sind. Ob den Parteien des SanierungsTVes eine Möglichkeit gegeben ist, diesen nach einem Betriebsübergang zu kündigen, hängt von der konkreten Ausgestaltung des SanierungsTVes ab. Denkbar ist zum einen, dass die TV-Parteien ein ordentliches Kündigungsrecht unabhängig von etwaigen Betriebsübergängen vereinbart haben4. Dieses Kündigungsrecht bleibt von einem Betriebsübergang unberührt und kann jederzeit unter Beachtung der vereinbarten Kündigungsfrist ausgeübt werden. Zum anderen kann die Geltung des SanierungsTVes ohne Weiteres unter die auflösende Bedingung eines Betriebsinhaberwechsels gestellt oder den TV-Parteien für diesen Fall ein Recht zur (ggf. außerordentlichen) Kündigung des SanierungsTVes eingeräumt werden5. Ist weder ein ordentliches Kündigungsrecht vereinbart noch eine Beendigung des SanierungsTVes im Fall einer Betriebsveräußerung möglich, wird die Gültigkeit des SanierungsTVes durch den Betriebsübergang nicht tangiert. Ist der SanierungsTV in Form eines HausTVes abgeschlossen worden, kommt es zu einer Transformation der tariflichen Rege1 Vgl. BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, AP Nr. 371 zu § 613a BGB; BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, AP Nr. 376 zu § 613a BGB. 2 Vgl. LAG Berlin-Brandenburg v. 10.9.2009 – 26 Sa 39/09. 3 Vgl. BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, AP Nr. 376 zu § 613a BGB. 4 Vgl. BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, AP Nr. 371 zu § 613a BGB; BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, AP Nr. 376 zu § 613a BGB. 5 Vgl. Grau/Sittard, BB 2010,1093 (1094).

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Sanierungstarifvertrag und Betriebsübergang

Rz. 110 Teil 12

lungen nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB1. Insbesondere steht der Transformation des SanierungsTVes nicht entgegen, dass durch den Betriebsübergang seine Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) entfallen wäre. Nach der Rechtsprechung des BAG ist Geschäftsgrundlage der Transformation des SanierungsTVes nur dessen normative Geltung im Arbeitsverhältnis vor dem Betriebsübergang, nicht aber die tatsächlichen Gegebenheiten beim Veräußerer oder ein bestimmter Branchenbezug des SanierungsTVes (Einzelheiten unter Rz. 107). Eine Beendigung des SanierungsTVes kann in einem solchen Fall nur durch Ablauf einer vereinbarten Befristung eintreten. Die Kündigung hat gegenüber der anderen TV-Partei zu erfolgen. Für einen HausTV bedeutet dies, dass der SanierungsTV dem Betriebserwerber gegenüber nicht wirksam gekündigt werden kann, sondern nur gegenüber dem Betriebsveräußerer, da der Betriebserwerber durch den Betriebsübergang nicht TV-Partei geworden ist. Die tarifschließende Gewerkschaft bleibt auch nach einer Transformation der Tarifnormen Partei des TVes und ist kündigungsberechtigt2. Die Kündigung des SanierungsTVes hat nach Ablauf der Kündigungsfrist, wenn die Nachwirkung ausgeschlossen oder anderweitig erledigt ist, die Beendigung der Regelungen des SanierungsTVes auch bezüglich der beim Erwerber bestehenden, übergegangenen Arbeitsverhältnisse zur Folge3. Die gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fortgeltenden Tarifnormen fallen ersatzlos weg, wenn sie beim Veräußerer ohne Nachwirkung enden. Dies stellt keinen Widerspruch zu dem Grundsatz dar, dass die Tarifgeltung nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB statisch erfolgt und spätere Änderungen des TVes keine Auswirkungen haben; denn die Transformation ist auf die Zeit der Tarifgeltung beschränkt4. Ist die Nachwirkung nicht ausgeschlossen, ist nach allgemeinen Grundsätzen zu entscheiden, welche Wirkung den Sanierungstarifregelungen noch im Verhältnis zu sonstigen Bestimmungen zukommt. Die Transformation der vormals in einem TV geregelten Rechte und Pflichten führt nicht dazu, dass nunmehr etwa dem einzelnen Arbeitnehmer ein hierauf bezogenes Kündigungsrecht zusteht, welches sich aus dem Kündigungsrecht der TV-Parteien ableitet5.

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Die Parteien des SanierungsTVes können vereinbaren, dass eine Kündigung im Falle eines Betriebsübergangs nur dann in Betracht kommt, wenn die Sanierungssituation weggefallen ist. Dies kann deshalb empfehlenswert sein, weil es oftmals Ziel des Betriebserwerbers ist, die Sanierung des erworbenen Unternehmens weiter voranzutreiben, was durch die Weitergeltung des SanierungsTVes erleichtert wird.

110

1 Vgl. BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, AP Nr. 371 zu § 613a BGB; BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, AP Nr. 376 zu § 613a BGB. 2 Vgl. Hanau/Strauß, FS Bepler, S. 199 (204). 3 Kritisch zur Kündigungsbefugnis des Betriebsveräußerers Grau/Sittard, BB 2010, 1093; Hanau/Strauß, FS Bepler, S. 199 (204). Siehe ausführlich dazu unten Teil 15 Rz. 66 ff. 4 Vgl. Hohenstatt, NZA 2010, 23 (25); Meyer, DB 2010, 1404 (1405). 5 Vgl. BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, AP Nr. 371 zu § 613a BGB; BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, AP Nr. 376 zu § 613a BGB; LAG Düsseldorf v. 11.3.2010 – 11 Sa 1264/09; Hanau/Strauß, FS Bepler, S. 199 (203).

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Teil 12

Rz. 111

Der Sanierungstarifvertrag

G. Sanierungsbetriebsvereinbarung1 111

Alternative zum Abschluss eines SanierungsTVes ist der Abschluss einer Sanierungsbetriebsvereinbarung zwischen dem betroffenen Unternehmen und dem Betriebsrat. Dem steht regelmäßig entgegen, dass nach § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch TV geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein können (Tarifvorrang).

I. Bedeutung des Tarifvorrangs; Reichweite 112

Die Vorschrift dient der Sicherung der Tarifautonomie2. Erfasst werden die Regelungsgegenstände, die entweder bereits durch einen existierenden TV geregelt sind oder bei Nichtbestehen eines TVes üblicherweise geregelt werden. Darunter fallen z.B. Regelungen über Zeit, Ort und Art der Auszahlung des Arbeitsentgelts, Dauer und Lage der täglichen Arbeitszeit sowie über Urlaub und Urlaubsgewährung. Auch Regelungen, die den (zeitlich begrenzten) Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen gegen Entgeltverzicht und/oder Arbeitszeitverlängerung ohne Entgeltausgleich betreffen, können grundsätzlich nicht wirksam durch Betriebsvereinbarung geregelt werden3. Durch eine Betriebsvereinbarung kann weder zugunsten noch zulasten der Arbeitnehmer von einer tariflichen Regelung abgewichen werden. Das Günstigkeitsprinzip nach § 4 Abs. 3 TVG findet wegen § 77 Abs. 3 BetrVG auf das Verhältnis zwischen TV und Betriebsvereinbarung keine Anwendung4.

113

Ein bestehender HausTV kann in seinem Geltungsbereich ebenso Sperrwirkung entfalten wie ein VerbandsTV. Ein nur noch nachwirkender TV entfaltet dagegen grundsätzlich keine Sperrwirkung als bestehender TV5. Die Sperrwirkung ergibt sich dann daraus, dass die Regelung tarifüblich ist, weil der Tarifvorrang bereits dann Anwendung findet, wenn Tarifüblichkeit vorliegt. Die Sperrwirkung eines nur noch nachwirkenden TVes wird sich daher in der Regel aus der Tarifüblichkeit ergeben.

114

Durch bestehende oder übliche tarifliche Regelungen wird nicht jede Regelung in einer Betriebsvereinbarung auf diesem Gebiet gänzlich ausgeschlossen. Die Sperrwirkung erfasst nur die Kollision von konkret geregelten Arbeitsbedingungen. Regelt eine Betriebsvereinbarung beispielsweise Leistungen, die einen bestimmten Zweck verfolgen oder aus einem besonderen Anlass gewährt werden (Bsp.: Weihnachtsgratifikationen, Jubiläumszuwendungen), und finden

1 Vgl. ausführlich Seitz, unten Teil 11. Zur Tarifsperre im Gemeinschaftsbetrieb zuletzt Edenfeld, DB 2012, 575 ff. 2 Vgl. BAG v. 12.12.2006 – 1 AZR 96/06, AP Nr. 94 zu § 77 BetrVG 1972. 3 Vgl. Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, § 4 TVG Rz. 413. 4 Vgl. Fitting, § 77 BetrVG Rz. 97; ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 40; Richardi/Richardi, § 77 BetrVG Rz. 239; HSWGNR/Worzalla, § 77 BetrVG Rz. 96, 134. 5 Vgl. Fitting, § 77 BetrVG Rz. 83; HSWGNR/Worzalla, § 77 BetrVG Rz. 106.

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Sanierungsbetriebsvereinbarung

Rz. 116 Teil 12

sich in dem TV nur allgemeine Regelungen bezüglich der Arbeitsentgelte, sind diese besonderen Leistungen nicht von der Sperrwirkung erfasst1. Unter Verstoß gegen die Vorschrift des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG geschlossene Betriebsvereinbarungen sind (schwebend) unwirksam2. Ihre Wirksamkeit kann wieder aufleben, wenn die tarifliche Regelung entfällt oder keine Tarifüblichkeit mehr vorliegt3. Dazu führt das BAG aus: „Die Vorschrift des § 77 Abs. 3 BetrVG ist als kompetenzbegrenzende Norm ausgestaltet, sie beschränkt die rechtliche Gestaltungsmacht der Betriebspartner. Kompetenznormen sind aber nicht ohne Weiteres einer Verbotsnorm im Sinne des § 134 BGB gleichzusetzen. Gegen die Annahme einer Verbotsnorm mit Nichtigkeitsfolge spricht auch der Gesetzeswortlaut, wonach tariflich geregelte Arbeitsbedingungen nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein „können“. Bei Formulierungen dieser Art handelt es sich in der Regel nicht um ein gesetzliches Verbot, sondern nur um eine zur endgültigen oder schwebenden Unwirksamkeit führende Einschränkung der Gestaltungsmacht“4.

115

II. Tarifvertragliche Öffnungsklausel Gemäß § 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG können Betriebsvereinbarungen über Tarifgegenstände dann wirksam abgeschlossen werden, wenn dies im TV gestattet worden ist. Erforderlich ist, dass eine ausdrückliche Zulassung vorliegt, eine stillschweigende Zulassung ist ausgeschlossen5. Der TV muss klar und eindeutig den Abschluss von Betriebsvereinbarungen über Tarifgegenstände zulassen (Gebot der Rechtsklarheit). Dabei kann der Gegenstand und der Umfang der gestatteten Betriebsvereinbarung konkret festgelegt werden, es kann aber auch eine generelle Zulassung ergänzender Betriebsvereinbarungen erfolgen6. Wie weit die Öffnung für betriebliche Regelungen geht, ist ggf. durch Auslegung zu ermitteln7. Die TV-Parteien können sowohl abweichende als auch ergänzende Regelungen durch Betriebsvereinbarung zulassen, beispielsweise hinsichtlich der Arbeitszeit8. Ist eine ergänzende oder abweichende Betriebsvereinbarung zugelassen worden, geht sie der Tarifregelung vor. Die tarifvertragliche Öff1 Vgl. BAG v. 9.12.1997 – 1 AZR 319/97, AP Nr. 11 zu § 77 BetrVG 1972; HSWGNR/ Worzalla, § 77 BetrVG Rz. 109. 2 Siehe zum gewerkschaftlichen Beseitigungsanspruch bei tarifwidrigen betrieblichen Regelungen zuletzt BAG v. 17.5.2011 – 1 AZR 473/09, NZA 2011, 1169. 3 Vgl. BAG v. 20.4.1999 – 1 AZR 631/98, AP Nr. 12 zu § 77 BetrVG 1972; BAG v. 29.1.2002 – 1 AZR 267/01, NZA 2002, 927; BAG v. 9.12.2003 – 1 ABR 52/02, EzA § 77 BetrVG 2001 Nr. 6; BAG v. 22.5.2005 – 1 ABR 64/03, AP Nr. 26 zu § 4 TVG Geltungsbereich; BAG v. 10.10.2006 – 1 ABR 59/05, AP Nr. 24 zu § 77 BetrVG 1972 Tarifvorbehalt; HWK/Gaul, § 77 BetrVG Rz. 48; Fitting, § 77 BetrVG Rz. 97, 100; Richardi/Richardi, § 77 BetrVG Rz. 310. Siehe aber demgegenüber HSWGNR/Worzalla, § 77 BetrVG Rz. 135 (Nichtigkeit gemäß § 134 BGB). 4 Vgl. BAG v. 20.4.1999 – 1 AZR 631/98, AP Nr. 12 zu § 77 BetrVG 1972. 5 Vgl. HSWGNR/Worzalla, § 77 BetrVG Rz. 143. 6 Vgl. Fitting, § 77 BetrVG Rz. 117, 122. Siehe aber demgegenüber HSWGNR/Worzalla, § 77 BetrVG Rz. 148. 7 Vgl. BAG v. 20.2.2001 – 1 AZR 233/00, AP Nr. 15 zu § 77 BetrVG 1972 Tarifvorbehalt. 8 Vgl. BAG v. 22.6.1993 – 1 ABR 62/92, AP Nr. 22 zu § 23 BetrVG 1972; BAG v. 29.1.2002 – 1 AZR 267/01, NZA 2002, 927; ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 59; Fitting,

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Teil 12

Rz. 117

Der Sanierungstarifvertrag

nungsklausel bleibt solange bestehen, wie der TV läuft. Sie endet, wenn ein neuer TV geschlossen wird. Im Nachwirkungszeitraum eines TVes mit Öffnungsklausel können noch ergänzende bzw. abweichende Betriebsvereinbarungen abgeschlossen werden1. Die auf der Grundlage der tarifvertraglichen Öffnungsklausel abgeschlossene Betriebsvereinbarung endet mit Ablauf des TVes bzw. mit Ablauf des Nachwirkungszeitraums. Enthält ein neu geschlossener TV die gleiche Öffnungsklausel, so gelten die den früheren TV ergänzenden bzw. abweichenden Betriebsvereinbarungen weiter, wenn der TV nichts anderes anordnet2. 117

Bestimmt ein TV, dass bei begründeter Notwendigkeit abweichender betrieblicher Regelungen im Hinblick auf bestimmte im TV aufgeführte Zwecke die Gewerkschaft der abweichenden Betriebsvereinbarung zustimmen „soll“, so ist die Gewerkschaft zur Erteilung der Zustimmung verpflichtet, wenn die aufgestellten Kriterien erfüllt sind und nicht gewichtige konkrete Anhaltspunkte im Einzelfall einer Zustimmung entgegenstehen3.

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Es besteht grundsätzlich die Möglichkeit, rückwirkende Tariföffnungsklauseln zu vereinbaren, wodurch nachträglich eine bestimmte tarifvorbehaltswidrige Betriebsvereinbarung gebilligt wird4. Da eine entgegen § 77 Abs. 3 BetrVG geschlossene Betriebsvereinbarung nicht nichtig, sondern lediglich (schwebend) unwirksam ist, ist eine nachträgliche Genehmigung dieser Betriebsvereinbarung möglich. Der Schutzzweck des § 77 Abs. 3 BetrVG, nämlich den TVParteien zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie den Regelungsvorrang einzuräumen, ist bei der Zulassung von rückwirkenden Tariföffnungsklauseln gewahrt. Die rückwirkende Verkürzung tariflicher Ansprüche ist durch die Grundsätze des Vertrauensschutzes begrenzt. Diesbezüglich sind die für die Rückwirkung von TVen entwickelten Grundsätze maßgeblich5.

III. Betriebsvereinbarungsoffene Klausel im Arbeitsvertrag 119

Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass im Verhältnis zwischen Betriebsvereinbarung und Arbeitsvertrag das Günstigkeitsprinzip gilt6. Günstigere Regelungen im Arbeitsvertrag verdrängen daher die schlechteren Bedingungen einer Sanierungsbetriebsvereinbarung. Betriebsvereinbarungsöffnungsklauseln im Arbeitsvertrag können allerdings vorsehen, dass nach Vertragsschluss abgeschlossene Betriebsvereinbarungen Bestimmungen des Arbeitsvertrages auch

1 2 3 4

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§ 77 BetrVG Rz. 121; Richardi/Richardi, § 77 BetrVG Rz. 301; HSWGNR/Worzalla, § 77 BetrVG Rz. 144; Wendeling-Schröder, NZA 1998, 624. Siehe aber demgegenüber DKKW/Berg, § 77 BetrVG Rz. 74. Vgl. DKKW/Berg, § 77 BetrVG Rz. 77; Fitting, § 77 BetrVG Rz. 123; Richardi/Richardi, § 77 BetrVG Rz. 306. Vgl. Richardi/Richardi, § 77 BetrVG Rz. 307 f. Vgl. BAG v. 20.10.2010 – 4 AZR 105/09, NZA 2011, 468. Vgl. BAG v. 20.4.1999 – 1 AZR 631/98, AP Nr. 12 zu § 77 BetrVG 1972; BAG v. 29.1.2002 – 1 AZR 267/01, NZA 2002, 927; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht II, § 47 5 (3); ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 59. Vgl. BAG v. 20.4.1999 – 1 AZR 631/98, AP Nr. 12 zu § 77 BetrVG 1972. Vgl. HSWGNR/Worzalla, § 77 BetrVG Rz. 153.

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Rz. 120 Teil 12

Tarifsozialplan

dann abändern, wenn der Arbeitsvertrag günstigere Regelungen im Vergleich zur Betriebsvereinbarung enthält. Dies erspart die Notwendigkeit der einvernehmlichen Vertragsänderung. Solche Klauseln sind im Grundsatz anerkannt1. Gegen ihre Zulässigkeit dürften grundsätzlich keine Bedenken bestehen. Diesbezüglich ist auf die Ausführungen zu „vorgreiflichen Öffnungsklauseln“ bei TVen zu verweisen (Rz. 82). Im Ergebnis ist auch an dieser Stelle festzuhalten, dass die Betriebsvereinbarungsklausel der Inhaltskontrolle standhält. Dies ist richtigerweise nicht auf Klauseln beschränkt, die nur Sanierungsabreden/Sanierungsfälle erfassen2. Sollte sich die wirtschaftliche Lage des Unternehmens derart verschlechtern, dass Sanierungsvereinbarungen getroffen werden müssen, können durch Betriebsvereinbarungen Regelungen dieses Vertrages auch zulasten des Arbeitnehmers/der Arbeitnehmerin abgeändert werden. In diesem Falle ist ihm/ihr die abändernde Betriebsvereinbarung bekannt zu geben.

H. Tarifsozialplan I. Einleitung; Begriff; Gestaltungsoptionen Der SanierungsTV hat allgemein wirtschaftliche Schwierigkeiten im Blickfeld und dient deren Beseitigung/Überbrückung. Ein SanierungsTV wird nicht selten gerade deswegen abgeschlossen, um eine Betriebsänderung zu vermeiden. Die Rechtsfigur des Tarifsozialplans betrifft dagegen bevorstehende Betriebsänderungen insbesondere bei geplantem Stellenabbau, geplanten Standortverlegungen oder Standortschließungen. Plant ein Unternehmen eine Betriebsänderung im Sinne des § 111 BetrVG, ist die Verständigung auf einen Interessenausgleich und einen Sozialplan grundsätzlich den Betriebsparteien (Arbeitgeber und Betriebsrat) zugewiesen (§§ 111 ff. BetrVG). Kommt eine Einigung nicht zustande, muss die Einigungsstelle tätig werden. Seit einiger Zeit ist es vermehrt zu Versuchen seitens der Gewerkschaften gekommen, parallel zu der betriebsverfassungsrechtlichen Ebene einen Tarifsozialplan (auch SozialplanTV genannt) durchzusetzen; dabei handelt es sich um TVe mit sozialplanähnlichen Inhalten. Die Gewerkschaften stellen oftmals enorm hohe Ausgleichsforderungen. Es sind Forderungen nach deutlich verlängerten Kündigungsfristen von in Extremfällen mehreren Jahren, extreme Abfindungen in Höhe von mehreren Bruttomonatsgehältern pro Beschäftigungsjahr und darüber hinaus Finanzierung von Qualifizierungsmaßnahmen etc. bekannt geworden3. 1 Vgl. BAG v. 16.9.1986 – GS 1/82, AP Nr. 17 zu § 77 BetrVG1972; BAG v. 21.9.1989 – 1 AZR 454/88, AP Nr. 43 zu § 77 BetrVG 1972; BAG v. 5.8.2009 – 10 AZR 483/08, AP Nr. 85 zu § 242 BGB Betriebliche Übung; LAG München v. 19.3.2008 – 11 Sa 828/07; LAG Hessen v. 24.2.2010 – 6 Sa 304/09; Bayreuther, ZIP 2008, 573 (575); Gaul/Süßbrich/Kulejewski, ArbRB 2004, 346. 2 Vgl. Bayreuther, ZIP 2008, 573 (575). 3 Vgl. z.B. LAG Schleswig-Holstein v. 27.3.2003 – 5 Sa 137/03, NZA-RR 2003, 592; LAG Niedersachsen v. 2.6.2004 – 7 Sa 819/04, NZA-RR 2005, 200.

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Teil 12 121

Rz. 121

Der Sanierungstarifvertrag

Tarifsozialpläne können sowohl als firmenbezogene VerbandsTVe als auch als HausTVe gestaltet werden. Der Tarifsozialplan unterscheidet sich in seiner Gestaltung und Zielsetzung von dem SanierungsTV. Ziel der Gewerkschaften ist in erster Linie nicht die Sanierung des Unternehmens. Ziel ist die Verhinderung der Betriebsänderung. Durch die exorbitanten Forderungen zielen die Gewerkschaften darauf ab, die Betriebsänderung für das betroffene Unternehmen derartig zu verteuern, dass sie wirtschaftlich nicht mehr tragbar ist und undurchführbar wird. Insbesondere wegen dieses zwar nicht offiziellen, aber oftmals tatsächlichen Ziels des Tarifsozialplans sind seine Zulässigkeit und Erstreikbarkeit nicht unumstritten. Das BAG hat beides im Grundsatz ausdrücklich bejaht1. Dabei werden Fragen aus dem Schnittbereich von Arbeitskampf-, TVs- und Betriebsverfassungsrecht aufgeworfen.

II. Gebot der Rechtsquellenklarheit 122

Genauso wie der SanierungsTV muss auch der Tarifsozialplan dem Gebot der Rechtsquellenklarheit im Sinne einer Eindeutigkeit der Normurheberschaft entsprechen (Rz. 13 ff.).

III. Tarifliche Regelbarkeit, § 1 Abs. 1 TVG 123

Die von der Gewerkschaft geforderten Regelungen müssen tariflich regelbare Gegenstände im Sinne des § 1 Abs. 1 TVG sein. Inhalte von Tarifsozialplänen sind danach rechtmäßigerweise insbesondere: – Abfindungen – Kündigungsfristen – Durchführung und Finanzierung einer Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft. Regelungen über Abfindungen sind als Beendigungsnormen zu qualifizieren und daher tariflich regelbar2. Dies gilt auch für Regelungen über den Wechsel der zu entlassenden Arbeitnehmer in eine Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft3. Letztlich ist dies eine spezielle Art der Abfindung, die ebenso wie die Abfindung der Überbrückung der arbeitslosen Zeit dienen soll. 1 Vgl. zur Zulässigkeit BAG v. 6.12.2006 – 4 AZR 798/05, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Sozialplan; zur Erstreikbarkeit BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Sozialplan. 2 Vgl. LAG Schleswig-Holstein v. 27.3.2003 – 5 Sa 137/03, NZA-RR 2003, 592; Fischinger, NZA 2007, 310 (311); Greiner, NZA 2008, 1274 (1277); Henssler, FS Richardi, S. 553 (555); Löwisch, RdA 2009, 253 (254); Kempen/Zachert/Zachert, § 1 TVG Rz. 73 ff. 3 Vgl. BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Sozialplan; LAG Schleswig-Holstein v. 27.3.2003 – 5 Sa 137/03, NZA-RR 2003, 592; Gaul/Janz, NZA-Beilage 2010, 60 (61); Greiner, NZA 2008, 1274 (1277); Fischinger, NZA 2007, 310 (311); Henssler, FS Richardi, S. 553 (555); siehe aber demgegenüber: Lelley, EWiR 2003, 1035 (1036).

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Tarifsozialplan

Rz. 124 Teil 12

Von Abfindungen als zu diesem Zweck zu leistenden Einmalzahlungen unterscheiden sie sich durch organisatorische Gestaltung und zeitliche Streckung. Tarifliche Bestimmungen über die Dauer von Kündigungsfristen sind Normen im Sinne des § 1 Abs. 1 TVG1. Ihre Verlängerung über die gesetzliche Dauer hinaus ist zulässig (§ 622 Abs. 4 BGB). Die genaue Einordnung als Beendigungs- oder Inhaltsnorm ist an dieser Stelle irrelevant.

IV. Sperrwirkung der §§ 111 ff. BetrVG? Gemäß § 112 BetrVG verständigen sich Unternehmer und Betriebsrat im Rahmen des Sozialplans über die Milderung der wirtschaftlichen Nachteile, die den Arbeitnehmern in Folge der Betriebsänderung entstehen. Es wird daher die Auffassung vertreten, die §§ 111 ff. BetrVG entfalteten eine Sperrwirkung gegenüber tariflichen Sozialplänen2. Der Schutz der Betriebsratskompetenzen gebiete eine Sperrwirkung. Durch den Abschluss eines tariflichen Sozialplans werde dem betrieblichen Sozialplan kein Regelungsbereich mehr belassen, was den Betriebsrat in einem gesetzlich vorgeschriebenen Verfahren praktisch funktionslos stelle. Diese faktische Entwertung seiner Beteiligungsrechte sei genauso unzulässig wie die formale Beschränkung. Generell werde den Interessen der Arbeitnehmer durch einen betrieblichen Sozialplan besser Rechnung getragen, da der Betriebsrat die sachnähere Interessenvertretung sei. Zudem entfalte ein betrieblicher Sozialplan gemäß § 112 Abs. 1 Satz 3 BetrVG die Wirkungen einer Betriebsvereinbarung, gelte also normativ und zwingend für alle Arbeitnehmer, während ein tariflicher Sozialplan normativ und zwingend nur bezüglich der verbandsangehörigen Arbeitnehmer gelte, was eine nicht gerechtfertigte Schlechterstellung der Außenseiter-Arbeitnehmer darstelle. Die Gefahr eines tariflichen Sozialplans liege daher in der nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung der von einer Betriebsänderung gleichermaßen betroffenen Arbeitnehmer. Das BAG hat sich den Bedenken nicht angeschlossen3. Es bestehe keine Sperrwirkung der §§ 111 ff BetrVG. Die Vorschriften normierten lediglich Inhalt und Umfang des Mitbestimmungsrechts des Betriebsrats. Sie gäben keinesfalls zu erkennen, dass damit Regelungskompetenzen der TV-Parteien aus Art. 9 Abs. 3 GG, § 1 TVG zurückgedrängt werden sollten. Vielmehr ergebe sich aus der Aufhebung der Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG in Satz 4 des § 112 Abs. 1 BetrVG, dass auch das Gesetz von einem möglichen Nebeneinander beider Regelungsbereiche ausgehe. 1 Vgl. BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Sozialplan; ErfK/Franzen, § 1 TVG Rz. 44. 2 Vgl. LAG Hamm v. 31.5.2000 – 18 Sa 858/00, NZA-RR 2000, 535; Nicolai, RdA 2006, 33 (35 f.); Reichold, BB 2004, 2814 (2817); Rolfs/Clemens, NZA 2004, 410 (416;) Schiefer/Worzalla, DB 2006, 46 (47, 48); Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 711; Willemsen/ Stamer, NZA 2007, 413 (414) . 3 Vgl. BAG v. 6.12.2006 – 4 AZR 798/05, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Sozialplan; BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Sozialplan; Richardi/Annuß, § 112 BetrVG Rz. 179; Franzen, ZfA 2005, 315 (331); Gaul, RdA 2008, 13 (14); Gaul/Janz, NZA-Beilage 2010, 60; Henssler, FS Richardi, S. 553 (556); Kühling/Bertelsmann, NZA 2005, 1017 (1019).

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Teil 12

Rz. 125

Der Sanierungstarifvertrag

V. Arbeitskampf um einen Tarifsozialplan 1. Grundsatz 125

Von der Frage der grundsätzlichen Zulässigkeit von Tarifsozialplänen und insbesondere der Frage der tariflichen Regelbarkeit ihrer Inhalte zu unterscheiden ist die umstrittene Frage nach der Zulässigkeit eines Streiks um einen Tarifsozialplan1. Ein Streik um einen Tarifsozialplan ist laut Grundsatzentscheidung des BAG zulässig2. Da es sich nicht um einen betrieblichen, sondern um einen tariflichen Sozialplan handelt, ist das Arbeitskampfverbot des § 74 Abs. 2 BetrVG nicht berührt. Es richtet sich ausschließlich an die Betriebsparteien, Arbeitskämpfe der TV-Parteien werden von ihm nicht erfasst3.

2. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 126

Der Erforderlichkeit eines Streiks um einen Tarifsozialplan wird teilweise entgegengehalten, dass der Sozialplan nach §§ 111, 112 BetrVG ein ebenso geeignetes, den Arbeitgeber aber wesentlich weniger belastendes Mittel zur Bewältigung der Folgen einer Betriebsänderung darstelle, so dass der Streik um einen tariflichen Sozialplan nicht das mildeste Mittel und demzufolge nicht verhältnismäßig sei4. Ebenso wird teilweise ausgeführt, dass das Ultima-ratio-Gebot der Aufnahme eines Arbeitskampfes entgegenstehe, wenn auf betrieblicher Ebene bereits über einen Interessenausgleich und Sozialplan verhandelt werde und diese Verhandlungen noch nicht abgeschlossen seien. Die Gewerkschaft müsse zunächst abwarten und dürfe jedenfalls erst streiken, wenn der Einigungsstellenspruch aus ihrer Sicht keinen angemessenen Nachteilsausgleich gewähre5. Das BAG ist dem nicht gefolgt. Es betont, dass sich aus dem möglichen Nebeneinander von tariflichen und betrieblichen Regelungen auch ergebe, dass kein zeitliches Prioritätsverhältnis existiere, aus dem sich eine Verpflichtung der Gewerkschaft ergeben könne, zunächst die Verhandlungen auf der betrieblichen Ebene abzuwarten. Ebenso wenig stelle es einen Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dar, dass überhaupt oder parallel zu den Verhandlungen über einen VerbandsTV um den Abschluss eines Tarifsozialplans gestreikt werde6. 1 Dagegen: Bauer/Krieger, NZA 2004, 1019 (1021); Buchner, DB Beilage 9/2001, 1 (9 ff.); Franzen, ZfA 2005, 315 (337); HSWGNR/Hess, § 112 BetrVG Rz. 138a; Hohenstatt/ Schramm, DB 2004, 2214 (2218); Lieb, DB 1999, 2058 (2062); Lipinski/Ferme, DB 2007, 1250 (1252); Löwisch, DB 2005, 554 (556); Meyer, DB 2005, 830 (832); Nicolai, RdA 2006, 33 (35); Reichold, BB 2004, 2314 (2817); Reuter, NZA 2001, 1097; Schiefer/Worzalla, DB 2006, 46 (47); Willemsen/Stamer, NZA 2007, 413. Kritisch: Wank, RdA 2009, 1 (8); Weller, GmbHR 2007, R241 (R242). Dafür: Brecht-Heitzmann, NJW 2007, 3617; Kühling/Bertelsmann, NZA 2005, 1017 (1027). 2 BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Sozialplan; so schon LAG Schleswig-Holstein v. 27.3.2003 – 5 Sa 137/03, NZA-RR 2003, 592; LAG Niedersachsen v. 2.6.2004 – 7 Sa 819/04, NZA-RR 2005, 200. 3 Vgl. BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Sozialplan. 4 Vgl. Ricken, ZfA 2008, 283 (297 f.); Schiefer/Worzalla, DB 2006, 46 (48). 5 Vgl. Henssler, FS Richardi, S. 553 (566); Meyer, DB 2005, 830 (832); Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 711. 6 Vgl. BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Sozialplan.

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Tarifsozialplan

Rz. 129 Teil 12

3. Koalitionsfreiheit Der einzelne Arbeitgeber ist auch im Falle seiner Verbandszugehörigkeit als tariffähig anzusehen (Rz. 4 ff.). Es ist im Anschluss daran zutreffenderweise zwischen der Tariffähigkeit des einzelnen Arbeitgebers und dem Recht der Gewerkschaften, einen verbandsangehörigen Arbeitgeber einzeln zur Erzwingung eines HausTVes bestreiken zu können, zu differenzieren. Ein solcher Streik wird teilweise als Verstoß gegen die Koalitionsfreiheit des einzelnen Arbeitgebers angesehen1. Dieser habe durch seinen Verbandsbeitritt deutlich gemacht, dass er als einzelner Arbeitgeber grundsätzlich nicht selber TV-Partner sein möchte. Es könnten daher allenfalls freiwillige TVe in Betracht kommen. Die kollektive Koalitionsfreiheit des Arbeitgeberverbandes sei ebenfalls betroffen. Der Arbeitgeberverband müsse in der Lage sein, seine Mitglieder vor einem Streik um einen HausTV zu schützen2.

127

Das BAG ist dem nicht gefolgt und hat die grundsätzliche Zulässigkeit eines gegen einen einzelnen (verbandsangehörigen) Arbeitgeber geführten Streiks bejaht3. Dies beruhe auf der den Arbeitnehmern durch Art. 9 Abs. 3 GG garantierten Koalitionsfreiheit. Zu dieser gehöre die Betätigung der Gewerkschaften zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Darunter falle insbesondere der Abschluss von TVen. Die Wahl der Mittel, die die Koalitionen zur Erreichung dieses Zwecks für geeignet halten, überlasse Art. 9 Abs. 3 GG grundsätzlich den Koalitionen. Zu den geschützten Mitteln gehörten dabei Arbeitskampfmaßnahmen, die auf den Abschluss von TVen gerichtet seien. Es sei weder die kollektive Koalitionsfreiheit des Arbeitgeberverbandes noch die individuelle Koalitionsfreiheit des einzelnen Unternehmens verletzt.

128

Das BAG hat zugleich klargestellt, dass ein Streik um einen firmenbezogenen VerbandsTV ebenfalls grundsätzlich zulässig ist4. Das betroffene Unternehmen hat sich durch den Beitritt zum Arbeitgeberverband generell der Regelungsmacht des Verbandes unterworfen und akzeptiert von vorneherein die Vereinbarungen, die er mit der Gewerkschaft trifft. Das Verhältnis des Unternehmens und seines Arbeitgeberverbandes im Innenverhältnis vermag sich nicht auf den sozialen Gegenspieler im Außenverhältnis auszuwirken, da ansonsten interne Abmachungen das Grundrecht der Gewerkschaften aus Art. 9 Abs. 3 GG beschränken könnten5. Die Freiheit des einzelnen Arbeitgebers, in dem Arbeit-

129

1 Vgl. LAG Schleswig-Holstein v. 25.11.1999 – 4 Sa 584/99, NZA-RR 2000, 143; Bauer/ Krieger, NZA 2004, 1019 (1021); Buchner, DB Beilage 9/2001, 1 (15); Lieb, DB 1999, 2058 (2062); Reuter, NZA 2001, 1097 (1104); Wank, RdA 2009, 1 (5). 2 Vgl. Rolfs/Clemens, NZA 2004, 410 (412); Wank, RdA 2009, 1 (5). 3 Vgl. BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, AP Nr. 162 zu Art 9 GG Arbeitskampf; so auch die überwiegende Ansicht in der Literatur, ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 168; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 21 II 5c; Franzen, ZfA 2005, 315 (338); Henssler, FS Richardi, S. 553 (565); Kühling/Bertelsmann, NZA 2005, 1017 (1018); Wiedemann/ Oetker, § 2 TVG Rz. 131; MünchArbR/Otto, 2. Aufl., § 285 Rz. 66; MünchArbR/Ricken, 3. Aufl., § 200 Rz. 25; Wendeling-Schröder, NZA 1998, 624 (628). 4 Vgl. BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Sozialplan. 5 Vgl. ArbG Frankfurt v. 15.3.2005 – 5 Ca 4542/04, AuR 1005, 153. Siehe aber demgegenüber Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 187; MünchArbR/Ricken, § 200 Rz. 25; Rolfs/ Clemens, NZA 2004, 410 (413).

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Teil 12

Rz. 130

Der Sanierungstarifvertrag

geberverband zu verbleiben oder aus ihm auszutreten, wird regelmäßig nicht beeinträchtigt. 130

Etwas anderes gilt dann, wenn der Arbeitskampf darauf abzielt, den Arbeitgeber aus dem Verband „herauszubrechen“, ihn also zum Verlassen des Verbandes zu veranlassen. In diesen Fällen ist ein solcher Streik wegen ungerechtfertigten Eingriffs in die positive Koalitionsfreiheit des Arbeitgebers sowie unzulässigen Angriffs auf den Mitgliederbestand des Arbeitgeberverbandes in der Regel rechtswidrig1. Wann eine solche Konstellation gegeben ist, ist eine Frage des Einzelfalles. So kann eine solche Zielsetzung beispielsweise dann angenommen werden, wenn die Gewerkschaft einen VerbandsMTV kündigt, mit dem Arbeitgeberverband um einen Neuabschluss verhandelt und sich ein konkretes Unternehmen herausgreift, um dieses wegen des Abschlusses eines firmenbezogenen VerbandsMTVes gleichen Inhalts zu bestreiken2.

4. Grundsatz der Kampfparität 131

Der Grundsatz der Kampfparität leitet sich aus dem Sinn und Zweck der kollektiven Vertragsautonomie ab, faire Verhandlungschancen auf beiden Seiten zu gewährleisten, was nur durch das Vorliegen annähernd gleicher Verhandlungsstärke und Durchsetzungskraft gelingt3.

132

Einige Stimmen in der Literatur sehen eine Störung dieser Kampfparität, wenn der Arbeitgeber gleichzeitig in Verhandlungen mit dem Betriebsrat über einen Sozialplan steht. Der Arbeitgeber werde in diesen Fällen von beiden Seiten „in die Zange genommen“4, was das Kräfteverhältnis erheblich beeinflusse5. Der Grundsatz der Kampfparität schütze insbesondere davor, dass eine TV-Partei der anderen von vorneherein ihren Willen aufzwingen könne. Dabei sei der Umstand zu berücksichtigen, dass ein Sozialplan auf betrieblicher Ebene erzwingbar sei. In Anbetracht dessen sei nicht von einem Verhandlungsgleichgewicht auszugehen, wenn sich der Arbeitgeber in Bezug auf eine konkrete Betriebsänderung sowohl mit Sozialplanforderungen des Betriebsrats als auch mit solchen der Gewerkschaft konfrontiert sehe. In diesem Falle habe der Arbeitgeber von vorneherein keine reale Möglichkeit, sich einer Regelung zu entziehen. Um die finanziellen Einbußen durch einen Streik und ein eventuelles Einigungsstellenverfahren zu vermeiden, sehe sich der Arbeitgeber mehr oder weniger gezwungen, ganz oder weitgehend auf die Forderungen der Gewerkschaft einzugehen6.

133

Das BAG sieht keine Verletzung des Gebots der Kampfparität. Zwar könne sich der betroffene Arbeitgeber den Kosten des betrieblich erzwingbaren Sozial1 Vgl. BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, AP Nr. 162 zu Art 9 GG Arbeitskampf; BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Sozialplan. 2 Vgl. LAG Hessen v. 2.2.2006 – 9 Sa 915/05, LAGE Art. 9 GG Arbeitskampf Nr. 75. 3 Vgl. ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 112. 4 Vgl. Nicolai, RdA 2006, 33 (38). 5 Vgl. Otto, Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, 2006, § 3 Rz. 22; Rolfs/Clemens, NZA 2004, 410 (415); Schiefer/Worzalla, DB 2006, 46 (49). 6 Vgl. Nicolai, RdA 2006, 33 (38).

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Tarifsozialplan

Rz. 135 Teil 12

plans nicht entziehen, seine Verteidigungsmöglichkeiten gegen tarifliche (Mehr-) Forderungen würden dadurch aber nicht geschmälert. Da der Streik um tarifliche Ansprüche wirtschaftlich betrachtet mit dem Ziel der Aufstockung betrieblich begründeter Ansprüche geführt werde und die Betriebsparteien eine Kumulation der Ansprüche durch entsprechende Anrechnungsklauseln vermeiden könnten, könne sich die kampflose Erzwingbarkeit eines betrieblichen Sozialplans sogar negativ auf die Streikwilligkeit der Arbeitnehmer auswirken1.

5. Unternehmerische Freiheit Die Unternehmensautonomie ist als Teil der Berufsfreiheit des Arbeitgebers nach Art. 12 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich garantiert. Sie verleiht dem Arbeitgeber das verfassungsrechtlich geschützte Recht, die Führung seines Unternehmens und die damit verbundenen unternehmerischen Entscheidungen unabhängig gestalten zu können. Die Entscheidung des Unternehmens, einen Standort zu schließen oder zu verlagern, fällt in den Bereich der freien Unternehmensautonomie2.

134

Zwar verfolgen die Gewerkschaften nicht offiziell im Streikbeschluss das Ziel, die geplante Betriebsänderung zu verhindern oder jedenfalls erheblich zu erschweren, oftmals ist dies jedoch der eigentliche Hintergrund. Nicht selten lässt sich diese Absicht der Gewerkschaften aus internem Informationsmaterial, Flugblättern oder Informationsveranstaltungen ablesen. Es stellt sich daher die Frage, ob derartige Streiks als unzulässige Eingriffe in die Unternehmensautonomie rechtswidrig sind. Die herrschende Meinung geht zutreffend davon aus, dass ein streikweiser Zugriff auf die unmittelbare unternehmerische Entscheidung selbst, also das „Ob“ der Betriebsverlagerung/Betriebsschließung, nicht mit der unternehmerischen Freiheit vereinbar und daher unzulässig ist3. Das BAG hat sich bislang nicht abschließend zu dieser Frage geäußert. In der Grundsatzentscheidung zur Erstreikbarkeit tariflicher Sozialpläne vom 24.4.20074 hatte die Gewerkschaft nicht die Unternehmerentscheidung an sich in Frage gestellt, sondern nur weitreichende Forderungen zur Ausgestaltung der Betriebsänderung gestellt (hohe Abfindungen, extrem verlängerte Kündigungsfristen sowie finanzierte Qualifizierungsmaßnahmen nach Ablauf der Kündigungsfrist). Diese Forderungen waren dem Grunde nach tariflich regelbar, weshalb eine gerichtliche Übermaßkontrolle nicht stattfand. Aus dem enormen Umfang der Gewerkschaftsforderungen schloss das BAG nicht die Rechtswidrigkeit eines Streiks darum. Eine enorm hohe Streikforderung greife

135

1 Vgl. BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Sozialplan. 2 Vgl. Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 707. 3 Vgl. LAG Hamm v. 31.5.2000 – 18 Sa 858/00 (Unzulässigkeit des Streiks um einen Standortsicherungsvertrag); so wohl auch LAG Hessen v. 2.2.2006 – 9 Sa 915/05, LAGE Art 9 GG Arbeitskampf Nr. 75; Bauer/Krieger, NZA 2004, 1020 (1022); Fischinger, NZA 2007, 310 (311); Gaul/Mückl, ArbRB 2009, 330 (332); Löwisch, DB 2005, 554 (556); Rolfs/Clemens, NZA 2004, 410 (415); Wank, RdA 2009, 1 (7); Willemsen/Stamer, NZA 2007, 413 ff.; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 707. 4 BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Sozialplan.

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Teil 12

Rz. 136

Der Sanierungstarifvertrag

nicht in die Unternehmensfreiheit des Arbeitgebers ein. Eine Streikforderung rechne mit dem Widerstand des Arbeitgebers und sei deshalb regelmäßig überhöht. Mit der Rechtskontrolle schon des Umfangs der Streikforderung würde eine nur potentielle Norm in Unkenntnis ihrer späteren Konkretisierung auf eine mögliche Grundrechtswidrigkeit überprüft. Dies sei mit der Koalitionsfreiheit der Gewerkschaften nicht vereinbar und widerspreche dem Grundgedanken der Tarifautonomie. Eine Forderung nach dem Verzicht auf die geplante Betriebsänderung sei nicht Inhalt des Streikbeschlusses gewesen (auf den es ankomme). Darauf, ob sie andernfalls zulässig wäre, komme es nicht an. 136

Zwar erscheint der Ausgangspunkt des BAG legitim, es nicht zu einer Tarifzensur kommen zu lassen. Doch erscheint es in der Sache problematisch, planmäßig die Augen davor zu verschließen, dass das Aufstellen von exorbitant hohen Ausgleichsforderungen oder enorm langen Kündigungsfristen einen (mittelbaren) Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG darstellt, da die geplante Betriebsänderung dadurch wirtschaftlich sinnlos bzw. undurchführbar wird1. Dies müsste – in Ausnahmefällen jedenfalls – als unverhältnismäßiger Eingriff in die Unternehmensautonomie gewertet werden mit der Konsequenz der Rechtswidrigkeit eines Streiks2. Bei Tendenzunternehmen im Sinne des § 118 Abs. 1 Satz 1 BetrVG (z.B. Presse-, Medien- oder Rundfunkunternehmen) folgt dies zudem daraus, dass der Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG es erfordert, dass die unternehmerischen Grundentscheidungen ohne fremde Einflussnahme getroffen werden müssen und im Zweifel darüber, ob es sich um das „Ob“ oder das „Wie“ der unternehmerischen Maßnahme handelt, die gesamte Maßnahme dem fremden Einfluss zu entziehen ist. Ein Streik um einen Tarifsozialplan beispielsweise gegenüber einem Presseunternehmen müsste also als rechtswidrig angesehen werden, wenn die Forderungen zwar grundsätzlich tariflich regelbar wären, das Ausmaß der wirtschaftlichen Belastung für das Unternehmen die Maßnahme jedoch faktisch verhindern würde3.

137

Maßgeblich für die Bestimmung des Streikziels der Gewerkschaften ist nach Ansicht des BAG lediglich der dem Gegner übermittelte Streikbeschluss. Äußerungen am Rande von nicht vertretungsberechtigten Mitgliedern der Gewerkschaft oder Arbeitnehmern seien zur Bestimmung des Streikziels schon aus Gründen der Rechtssicherheit und um der Unbefangenheit der Meinungsbildung innerhalb der Gewerkschaft willen unmaßgeblich4. Dies mag bei nicht repräsentativen Gewerkschaftsmitgliedern und deren Äußerungen richtig sein, 1 Vgl. Fischinger, NZA 2007, 310 (313); ErfK/Franzen, § 1 TVG Rz. 74; Otto, Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, 2006, § 8 Rz. 43 (ein Streik um solch unverhältnismäßig hohe Forderungen sei rechtsmissbräuchlich). 2 So zutreffend Henssler, FS Richardi, S. 553 (563); Hohenstatt/Schramm, DB 2004, 2214 (2215); Wank, RdA 2009, 1 (7). 3 Vgl. dazu ausführlich Grimm/Pelzer, NZA 2008, 1321 (1325). 4 Vgl. BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Sozialplan; so auch LAG Hessen v. 2.2.2006 – 9 Sa 915/05, LAGE Art. 9 GG Arbeitskampf Nr. 75, kritisch Gaul/ Janz, NZA-Beilage 2010, 60 (61); Wank, RdA 2009, 1 (7); Weller, GmbHR 2007, R241 (R242).

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Tarifsozialplan

Rz. 141 Teil 12

muss jedoch bei Äußerungen von vertretungsberechtigten Gewerkschaftsmitgliedern bei Informationsveranstaltungen oder auf Flugblättern anders beurteilt werden. Ist das eigentliche Ziel der Gewerkschaft offensichtlich, nämlich die Betriebsänderung durch das „Vorschieben“ von tariflich regelbaren Forderungen im offiziellen Streikbeschluss faktisch zu verhindern, kann es sich nur um einen Fall des Rechtsmissbrauchs handeln mit der Konsequenz, dass ein solcher Streik rechtswidrig wäre. In Fällen der Standortverlagerung in das europäische Ausland ist zudem die Niederlassungsfreiheit des Art. 49 AEUV zu beachten1.

138

Darlegungs- und beweispflichtig hinsichtlich des Vorliegens eines Eingriffs in die unternehmerische Freiheit sind der Arbeitgeber bzw. Arbeitgeberverband2.

139

6. Relative Friedenspflicht Sollte bereits ein VerbandsTV existieren, stellt sich die Frage, ob ein Streik um einen Tarifsozialplan gegen die relative Friedenspflicht verstößt, wenn die betroffenen Aspekte (z.B. längere Kündigungsfristen etc.) bereits im VerbandsTV geregelt sind. Die Friedenspflicht schließt Arbeitskampfmaßnahmen während der Laufzeit eines TVes im Hinblick auf bereits geregelte Bereiche prinzipiell aus3. Sofern von den TV-Parteien nicht ausdrücklich etwas anderes vereinbart ist, wirkt die Friedenspflicht nicht absolut, sondern relativ und bezieht sich nur auf die tarifvertraglich geregelten Gegenstände. Ihre sachliche Reichweite ist durch Auslegung der tariflichen Regelungen zu ermitteln. Haben die TVParteien eine bestimmte Sachmaterie erkennbar umfassend geregelt, ist davon auszugehen, dass sie diesen Bereich der Friedenspflicht unterwerfen und für die Laufzeit des TVes die kampfweise Durchsetzung weiterer Regelungen unterbinden wollen, die in einem sachlich inneren Zusammenhang mit dem befriedeten Bereich stehen4.

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Relevant wird die Frage nach der relativen Friedenspflicht in der Praxis insbesondere bei dem Vorliegen von Rationalisierungsschutzabkommen. Diese unterscheiden sich von Tarifsozialplänen dadurch, dass sie in der Regel branchenbezogen abgeschlossen werden und keine konkret bevorstehende Betriebsänderung betreffen, sondern generelle Regelungen für mögliche Betriebsänderungen beinhalten5. Regelt das Rationalisierungsschutzabkommen die geplante Betriebsänderung umfassend, dürfte die Friedenspflicht der Erstreikbarkeit eines Tarifsozialplans entgegenstehen6. Sollte das Rationalisierungsschutzabkommen nur einzelne Punkte regeln, die üblicherweise in einem Tarifsozial-

141

1 Siehe dazu die „Viking-Entscheidung“ des EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-438/05, Slg. 2007, I 10773 = AP Nr. 3 zu Art. 43 EG; Fitting, § 112 BetrVG Rz. 191; Henssler, FS Richardi, S. 553 (560 ff.); Krieger/Wiese, BB 2010, 568 ff. 2 Vgl. Gaul, RdA 2008, 13 (18). 3 Vgl. Kempen/Zachert/Kempen, TVG, Grundlagen Rz. 65. 4 Vgl. BAG v. 21.12.1982 – 1 AZR 411/80; BAG v. 27.6.1989 – 1 AZR 404/88; BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, AP Nr. 162 zu Art 9 GG Arbeitskampf. 5 Vgl. Kuhn/Willemsen, NZA 2012, 593. 6 Vgl. LAG Berlin v. 28.9.2007 – 8 Sa 916/07; Rieble, RdA 2005, 200 (202).

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Teil 12

Rz. 142

Der Sanierungstarifvertrag

plan vereinbart werden, dürfte sich die Friedenspflicht dennoch nicht nur auf diese einzelnen Punkte, sondern auf die komplette Thematik beziehen, sofern das Rationalisierungsschutzabkommen nicht ausdrücklich nur bezüglich einer bestimmten Betriebsänderung Anwendung finden soll. Ist der Rationalisierungsschutz insgesamt angesprochen, besteht die Friedenspflicht auch dann, wenn einzelne Regelungen fehlen1. Ob dies der Fall ist, ist durch Auslegung zu ermitteln. Ist der Anwendungsbereich des Rationalisierungsschutzabkommens dagegen ausdrücklich auf einzelne Fälle von Betriebsänderungen beschränkt, gilt die Friedenspflicht auch nur hinsichtlich dieser Betriebsänderungen. Ist dies nicht der Fall, dürfte die Friedenspflicht umfassend gelten. Die TV-Parteien haben über alle möglichen Betriebsänderungen im Sinne der §§ 111 ff. BetrVG verhandelt, was eine umfassende Friedenspflicht rechtfertigt2. 142

Es ist in jedem Falle zu fragen, ob sich durch die beabsichtigte Restrukturierung eine neue, unvorhergesehene Regelungssituation ergibt, die von den Regelungen des TVes offensichtlich nicht erfasst ist, so dass dann die relative Friedenspflicht kein Hindernis darstellt3.

143

Ob ein bereits existierender MantelTV mit dem üblichen Inhalt kraft relativer Friedenspflicht den Streik um einen Tarifsozialplan sperrt, hängt vom Regelungsgegenstand ab. Teilweise wird die relative Friedenspflicht grundsätzlich verneint4. Richtigerweise wird man nach Regelungsinhalten differenzieren müssen. Sind Kündigungsfristen im MantelTV geregelt, erscheint mindestens nicht selbstverständlich, dass längere Kündigungsfristen erstreikt werden.

144

Das Bundesarbeitsgericht hat in der Entscheidung vom 10.12.2002 – bei der es, wie klarzustellen ist, nicht um einen Tarifsozialplan ging – eine streikweise Durchsetzung eines im Vergleich zum VerbandsTV weitergehenden Kündigungsschutzes in einem FirmenTV gegenüber einem Verbandsmitglied als rechtswidrig angesehen, da die verbandstariflichen Kündigungsschutzbestimmungen erkennbar abschließend seien5. In dem konkreten Fall war der verbandsangehörige Arbeitgeber mit einer Tarifforderung konfrontiert worden, u.a. einen besonderen, erweiterten Kündigungsschutz gegenüber betriebsbedingten Kündigungen zu gewähren. Das BAG sah in den bereits bestehenden Verbandstarifregelungen eine abschließende Regelung der Kündigungsproblematik. Es sah demgegenüber in der Entscheidung vom 24.4.2007 die Streikziele „Verlängerung der Fristen für betriebsbedingte Kündigungen aufgrund von Betriebsänderungen auf Zeiten von mehr als einem Jahr“ und das „Ziel einer mit der Betriebszugehörigkeit steigenden Dauer der Kündigungsfrist ohne Begrenzung auf eine Höchstlänge“ als rechtmäßig an6. Dies, obwohl die Verbandstarifregelungen Bestimmungen über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses und insbesondere über Kündigungsfristen vorsahen. Die Rechtmäßigkeit ergab 1 Vgl. Lindemann/Dannhorn, BB 2008, 1226 (1228). Siehe aber demgegenüber Olbertz/ Reinartz, ArbRB 2008, 310 (311). 2 Vgl. Lindemann/Dannhorn, BB 2008, 1226 (1229). 3 Vgl. BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, AP Nr. 162 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. 4 Vgl. Lipinski/Ferme, DB 2007, 1250 (1251). 5 Vgl. BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, AP Nr. 162 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. 6 Vgl. BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Sozialplan.

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Tarifsozialplan

Rz. 148 Teil 12

sich daraus, dass die Gewerkschaft die in Rede stehenden Verbandstarifbestimmungen nach Ansicht des BAG zuvor wirksam gekündigt hatte, so dass die Friedenspflicht aufgrund einer bestehenden verbandstariflichen Regelung den Forderungen der Gewerkschaft für den Tarifsozialplan nicht entgegen stand. Dieser Forderung und dem Streik stand nach Ansicht des BAG ebenso wenig entgegen, dass über die Forderungen auch auf Verbandsebene verhandelt wurde. Für den Fall, dass die TV-Parteien zeitgleich Verhandlungen über einen VerbandsTV mit dem gleichen Regelungsgegenstand führen, liegt bei zeitgleichem Streik um den Tarifsozialplan kein Verstoß gegen die Friedenspflicht vor. Verhandlungen der TV-Parteien über eine Nachfolgeregelung für die abgelaufene Bestimmung eines VerbandsTVes oder über deren erstmaliges Zustandekommen schließen gleichzeitige Arbeitskampfmaßnahmen zur Herbeiführung einer abweichenden Regelung zum gleichen Gegenstand in einem firmenbezogenen VerbandsTV nicht aus. Bloße Verhandlungen über eine bestimmte Tarifforderung begründen keine auf ihren Gegenstand bezogene Friedenspflicht. Diese entsteht erst mit dem Abschluss des erstrebten TVes1.

145

Fraglich ist, ob ein bestehender TV mit Regelungen zu Betriebsänderungen eine Friedenspflicht auch gegenüber den Gewerkschaften begründet, die nicht Vertragsparteien dieses TVes sind. Nachdem die Rechtsprechung den Grundsatz der Tarifeinheit aufgegeben hat2, und daher auch eine Tarifpluralität in einem Betrieb herrschen kann, spricht nichts mehr dafür, eine Sperrwirkung eines solchen TVes anzunehmen. Für diese Sichtweise streitet zudem die grundsätzliche Unzulässigkeit eines Vertrages zulasten Dritter3.

146

Eine etwaige Friedenspflicht ist zeitlich begrenzt, sie gilt nur während der Laufzeit des TVes. Im Nachwirkungszeitraum des § 4 Abs. 5 TVG besteht die Friedenspflicht nicht mehr4.

147

VI. Kollision von betrieblichen und tariflichen Sozialplänen Gemäß § 112 Abs. 1 Satz 4 BetrVG gilt § 77 Abs. 3 BetrVG, wonach Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch TV geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein können, für den betrieblichen Sozialplan nicht. Es besteht also kein genereller Vorrang von TVen. Daraus lässt sich schließen, dass grundsätzlich tarifliche Regelungen und Sozialplanregelungen nebeneinander bestehen können; das gilt sowohl bei Verbands- als auch bei HausTVen5. Bei kollidierenden Regelun1 2 3 4 5

Vgl. BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Sozialplan. Vgl. BAG v. 23.6.2010 – 10 AS 2/10, AP Nr. 47 zu § 3 TVG. Vgl. Gaul, RdA 2008, 13 (16). Vgl. BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Sozialplan. Vgl. BAG v. 24.11.1993 – 4 AZR 225/93, AP Nr. 116 zu § 1 TVG; BAG v. 13.4.1994 – 3 AZR 725/93, AP Nr. 119 zu § 1 TVG TVe Metallindustrie; BAG v. 6.12.2006 – 4 AZR 798/05, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Sozialplan; BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Sozialplan; Fitting, §§ 112, 112a BetrVG Rz. 182.

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148

Teil 12

Rz. 149

Der Sanierungstarifvertrag

gen gilt das Günstigkeitsprinzip. Eine „Rosinentheorie“ darf dabei nicht praktiziert werden, sondern es ist ein Sachgruppenvergleich anzustellen1. Möglich ist die Vereinbarung einer Öffnungsklausel im TV; danach können durch einen Sozialplan auch von dem TV abweichende, für die Arbeitnehmer ungünstigere Regelungen getroffen werden2. Um eine Kumulierung von Ansprüchen aus Tarifsozialplänen und betrieblichen Sozialplänen zu vermeiden, ist es möglich, eine Anrechnung von tariflichen auf die betrieblichen Leistungen (in dem betrieblichen Sozialplan)3 oder umgekehrt eine Anrechnung von betrieblichen auf die tariflichen Leistungen (in dem TV) vorzusehen. Dabei ist zu beachten, dass es nicht etwa möglich ist, in dem betrieblichen Sozialplan die Anrechnung von betrieblichen auf tarifliche Leistungen zu vereinbaren, da die Betriebsparteien im Rahmen ihrer Normsetzungskompetenz rechtlich nur in der Lage sind, Regelungen über die von ihnen selbst geschaffenen Ansprüche zu treffen4. Sehen sowohl der Tarifsozialplan als auch der betriebliche Sozialplan derartige Anrechnungsklauseln vor, muss unterschieden werden. Geht es um bereits erbrachte Leistungen, soll eine doppelte Inanspruchnahme des Arbeitgebers verhindert werden. Sobald er einmal geleistet hat, kann er sich darauf auch berufen, wenn er aus der anderen Rechtsgrundlage in Anspruch genommen wird. Geht es um bloße Ansprüche, heben sich die Klauseln gegenseitig auf und es gilt das Günstigkeitsprinzip5.

VII. Betriebliche Beteiligungsrechte beim Arbeitskampf 149

Es ist anerkannt, dass während eines Arbeitskampfes die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats bei personellen Einzelmaßnahmen wie Einstellungen, Versetzungen oder Kündigungen ruhen6.

150

Umstritten ist, ob während des Streiks um einen Tarifsozialplan die Beteiligungsrechte des Betriebsrates nach den §§ 111 BetrVG ff. suspendiert sind7. Eine Suspendierung wird insbesondere zur Sicherstellung der Kampfmittelparität angenommen. Dafür sei erforderlich, dass der Arbeitgeber die Betriebsänderung während des Streiks ohne den Versuch eines Interessenausgleichs mit dem Betriebsrat vornehmen dürfe. Dies habe dann weder Nachteilsausgleichsansprüche aus § 113 Abs. 3 BetrVG noch Ansprüche auf Unterlassung der Betriebsänderung zur Folge. Ein eventuell bereits eingeleitetes Einigungsstellenverfahren über einen Sozialplan sei bis zum Abschluss der Verhandlungen über 1 Vgl. BAG v. 6.12.2006 – 4 AZR 798/05, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Sozialplan; BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Sozialplan; Richardi/Annuß, § 112 BetrVG Rz. 181; DKKW/Däubler, §§ 112, 112a BetrVG Rz. 54; Fitting, §§ 112, 112a BetrVG Rz. 182; HSWGNR/Hess, § 112 BetrVG Rz. 137. 2 Vgl. HSWGNR/Hess, § 112 BetrVG Rz. 137. 3 So im Fall des BAG v. 14.11.2006 – 1 AZR 40/06, AP Nr. 181 zu § 112 BetrVG 1972. 4 Vgl. BAG v. 14.11.2006 – 1 AZR 40/06, AP Nr. 181 zu § 112 BetrVG 1972. 5 Vgl. DKKW/Däubler, BetrVG, §§ 112, 112a BetrVG Rz. 55. 6 Vgl. Willemsen/Stamer, NZA 2007, 413 (416). 7 Dafür: Gaul, RdA 2008, 13 (22); ErfK/Kania, § 112 BetrVG Rz. 13; Lipinski/Ferme, DB 2007, 1250; Wank, RdA 2009, 1 (6); Willemsen/Stamer, NZA 2007, 413 (415). Dagegen: Bayreuther, NZA 2010, 378 (380); DKKW/Däubler, §§ 112, 112a BetrVG Rz. 55a.

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Tarifsozialplan

Rz. 153 Teil 12

den Tarifsozialplan ruhend zu stellen, danach jedoch nachzuholen. Zu beachten ist jedoch, dass dem Arbeitgeber bei dieser Vorgehensweise zumindest bei einigen Landesarbeitsgerichten vom Betriebsrat beantragte Unterlassungsverfügungen drohen können1. Da keine Klarheit darüber besteht, ob die Beteiligungsrechte des Betriebsrats gemäß den §§ 111, 112 BetrVG tatsächlich suspendiert sind, stellt die Umsetzung der Betriebsänderung aufgrund der möglichen Unterlassungsansprüche des Betriebsrats und insbesondere auch im Hinblick auf mögliche Nachteilsausgleichsansprüche der Arbeitnehmer gemäß § 113 Abs. 3 BetrVG ein beachtliches Risiko für den Arbeitgeber dar. Der Sache nach spricht auf der Grundlage der BAG-Rechtsprechung nichts dafür, von einer Suspendierung der Beteiligungsrechte des Betriebsrats nach §§ 111, 112 BetrVG auszugehen, zumal der Tarifsozialplan das Interessenausgleichsverfahren nicht ersetzt.

VIII. Handlungsmöglichkeiten des Arbeitgebers Das Instrument des Tarifsozialplans legt auf Arbeitgeberseite mehrere Erwägungen nahe.

151

1. Präventivmaßnahmen Es kann vorteilhaft sein, mit der Gewerkschaft maßvolle Rationalisierungsschutzabkommen zu treffen, die den Fall einer Betriebsänderung umfassend regeln. Dies verhindert aufgrund der relativen Friedenspflicht, dass um diese Tarifinhalte gestreikt wird. Dies gilt insbesondere dann, wenn klar ist, dass die Parteien über alle möglichen Formen der Betriebsänderung verhandelt haben und sich das Rationalisierungsschutzabkommen auf alle denkbaren Betriebsänderungen bezieht.

152

Um einen konkret anstehenden Streik zu vermeiden, ist das eine Betriebsänderung planende Unternehmen gut beraten, möglichst schnell eine Einigung über einen Interessenausgleich und einen Sozialplan mit dem Betriebsrat zu erzielen und die Anrechnung von tariflichen auf die betrieblichen Leistungen zu vereinbaren. Zwar ist ein Arbeitskampf um einen tariflichen Sozialplan nicht deshalb rechtswidrig, weil bereits ein betrieblicher Sozialplan vereinbart wurde. Die Gewerkschaft wird jedoch größere Probleme haben, die Arbeitnehmer zu einem Streik bewegen zu können, wenn für sie bereits ein angemessener Sozialplan existiert, insbesondere wenn die Betriebsparteien ohnehin die Anrechnung tariflicher auf die betrieblichen Leistungen vorgesehen haben2. Sollte sich der Betriebsrat Zeit lassen, kann der Arbeitgeber das Scheitern der Verhandlungen feststellen und die Einigungsstelle anrufen. Jedem der Beteiligten – Betriebsrat oder Arbeitgeber – steht es frei zu entscheiden, wann er die inner-

153

1 Vgl. LAG Hamburg v. 26.6.1997 – 6 TaBV 5/97, NZA-RR 1997, 296; LAG Berlin v. 24.10.2003 – 17 Ta 6080/03, n.v.; LAG Schleswig-Holstein v. 20.7.2007 – 3 TaBVGa 1/07, NZA-RR 2008, 244. Siehe aber demgegenüber LAG Düsseldorf v. 19.11.1996 – 8 TaBV 80/96, NZA-RR 1997, 197. 2 Vgl. Bauer/Krieger, NZA 2004, 1019 (1024).

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Teil 12

Rz. 154

Der Sanierungstarifvertrag

betriebliche Beilegung einer Meinungsverschiedenheit in angemessener Zeit nicht mehr für erreichbar hält, das Scheitern der innerbetrieblichen Verhandlungen anzunehmen und dann die Bildung einer Einigungsstelle zu betreiben, wenn ernsthafte Verhandlungen stattgefunden haben und die Annahme eines Scheiterns der Verhandlungen nicht ohne jeglichen Anlass erfolgt1. Anders als der Interessenausgleich ist der Sozialplan durch die Einigungsstelle erzwingbar, wenn sich die Betriebspartner nicht einigen können (§ 112 Abs. 4 Satz 2 BetrVG). 154

Sollte die Gewerkschaft mit Forderungen auf den Arbeitgeber zukommen, ist dieser gut beraten, die Aufnahme von Verhandlungen nicht abzulehnen, sondern in Gespräche mit der Gewerkschaft zu treten, um einen Arbeitskampf zu vermeiden. Solange die Verhandlungen (ernsthaft) laufen, kann es je nach Situation der Gewerkschaft aufgrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes verwehrt sein, mangels Scheiterns der Verhandlungen einen Arbeitskampf zu beginnen2.

2. Maßnahmen bei Rechtswidrigkeit des Streiks 155

Handelt es sich um einen rechtswidrigen Streik, zum Beispiel weil er mit dem im Streikbeschluss offiziellen Ziel der Verhinderung der Betriebsänderung geführt wird, hat der betroffene Arbeitgeber einen Unterlassungs- und Beseitigungsanspruch aus § 1004 Abs. 1 i.V.m. § 823 Abs. 1 BGB, Art. 9 Abs. 3 GG gegen die Gewerkschaft, den er im einstweiligen Verfügungsverfahren oder im Klageverfahren durchsetzen kann. Daneben kann er ggf. Schadensersatz verlangen3.

156

Da bei einem rechtswidrigen Streik die arbeitsvertraglichen Pflichten unverändert bestehen bleiben, kann der Arbeitgeber die am Streik beteiligten Arbeitnehmer abmahnen, und bei beharrlicher Arbeitsverweigerung kann ggf. der Ausspruch einer Kündigung in Betracht kommen4. Ebenso kommen Schadenersatzansprüche in Betracht.

157

Der Arbeitgeber ist nicht verpflichtet, die Tätigkeit in dem bestreikten Betrieb aufrechtzuerhalten. Er kann ihn für die Dauer des Streiks stilllegen (und dies den Arbeitnehmern ausdrücklich mitteilen), so dass auch an die arbeitswilligen Arbeitnehmer kein Lohn mehr zu zahlen ist5.

1 Vgl. LAG Hessen v. 12.11.1991 – 4 TaBV 148/91, NZA 1992, 853; Stück, MDR 2008, 127 (129). 2 Vgl. Lipinski/Ferme, DB 2007, 1250 (1251). 3 Vgl. Gaul, RdA 2008, 13 (23); Otto, Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, 2006, § 15 Rz. 3. 4 Vgl. BAG v. 21.4.1971 – GS 1/68, AP Nr. 43 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; BAG v. 29.11.1983 – 1 AZR 469/82, AP Nr. 78 zu § 626 BGB. 5 Vgl. Gaul, RdA 2008, 13 (23); Otto, Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, 2006, § 1 Rz. 22.

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Tarifsozialplan

Rz. 158 Teil 12

3. Maßnahmen bei rechtmäßigem Streik Handelt es sich um einen rechtmäßigen Streik, nach Ansicht des BAG zum Beispiel auch bei dem Streik um exorbitant hohe, aber grundsätzlich tariflich regelbare Forderungen, hat der Arbeitgeber zunächst die Möglichkeit, die Arbeitnehmer, die sich nicht an dem Streik beteiligen, weiterzubeschäftigen (soweit ihm dies möglich und wirtschaftlich zumutbar ist). Die überwiegende Auffassung geht davon aus, dass die Zahlung einer Streikbruchprämie für die Arbeitnehmer, die sich nicht an dem Streik beteiligen, zulässig ist, wenn sie vor oder während des Arbeitskampfes zugesagt wird1. Der Arbeitgeber wird unabhängig davon überlegen, Arbeiten für die Zukunft fremd zu vergeben und auszugliedern. Er kann Überlegungen anstellen und offen legen, Arbeiten zu rationalisieren und Arbeitsplätze zu streichen2.

1 Vgl. Otto, Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, 2006, § 12 Rz. 45. 2 Vgl. ArbG Hamburg v. 1.9.2010 – 28 Ca 105/10, LAGE Nr. 85a zu Art 9 GG Arbeitskampf.

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Teil 13 Betriebliche Beschäftigungsbündnisse1 Rz.

I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Rz. 3. Tarifvorbehalt, § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG . . . . . . . . . . . . . . . 18

A. Begriff, Typen und rechtliche Grundlage betrieblicher Beschäftigungsbündnisse 1

II. Typen betrieblicher Beschäftigungsbündnisse . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Krisenbündnis a) Krisenbündnis als Reaktion auf eine eingetretene oder bevorstehende wirtschaftliche Notlage . . . . . . b) Politische Diskussion über Krisenbündnisse . . . . . . . . . c) Die Fälle Viessmann und Burda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Fall Viessmann . . bb) Der Fall Burda . . . . . . . 2. Innovationsbündnis . . . . . . . . . .

5 6 7 8

III. Rechtliche Grundlage . . . . . . . . . . .

9

2

3 4

B. Häufige Ausgangssituationen für betriebliche Beschäftigungsbündnisse I. Das Unternehmen ist „gewerkschaftsfrei“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 II. Die Unternehmensleitung lehnt eine Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft ab . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 III. Gescheiterte HaustarifvertragsVerhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 IV. Die Betriebsparteien wollen eine betriebliche Lösung . . . . . . . . . . . . . 15 C. Rechtliche Voraussetzungen eines betrieblichen Beschäftigungsbündnisses I. Tarifrechtliche Regelungsgrenzen 1. Gestaltung eines betrieblichen Beschäftigungsbündnisses in Abhängigkeit von der Tarifsituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2. Tarifvorrang, § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG . . . . . . . . . . 17

II. Ermittlung des tarifrechtlich zulässigen Gestaltungsspielraums . . 1. Gestaltungspielraum bei tarifgebundenen Arbeitgebern a) Betriebsvereinbarungen aa) Grundsatz: Sperre für Betriebsvereinbarungen im Umfang des § 77 Abs. 3 Satz BetrVG, § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG . . . . . . . . . . . . . bb) Ausnahmen von der tariflichen Sperrwirkung bei zwingender Tarifgeltung . . . . . . . . . (1) Tarifliche Öffnungsklauseln . . . . . . . . . . . . (2) Fehlende tarifliche Regelung . . . . . . . . . . . . . . (3) Kein Günstigkeitsprinzip im Verhältnis Betriebsvereinbarung/TV . . . . . . . . . . . . b) Regelungsabreden aa) Nichtgeltung des Tarifvorbehalts des § 77 Abs. 3 BetrVG . . . . . . . bb) Beschränkung des Bündnisses auf NichtGewerkschaftsmitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Günstigkeitsprinzip, § 4 Abs. 3 TVG . . . . . . 2. Gestaltungsspielraum bei nichttarifgebundenen Arbeitgebern a) Betriebsvereinbarungen aa) Grundsatz: Tarifüblichkeit . . . . . . . . . . . bb) Ausnahme: Vorrangtheorie . . . . . . . . . . . . . . b) Regelungsabreden . . . . . . . .

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1 Der Autor dankt seiner Kollegin Frau Rechtsanwältin Heinke von Netzer für die maßgebliche Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts.

Werner

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Teil 13

Betriebliche Beschäftigungsbündnisse Rz.

3. Gestaltungsspielraum nach Beendigung der Tarifbindung des Arbeitgebers . . . . . . . . . . . . . a) Nachbindung, § 3 Abs. 3 TVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ende des TVes . . . . . . . . . . . c) Konsequenzen für die Anwaltspraxis . . . . . . . . . . . . . . d) „Ewige“ Bindung an FlächenTVe? . . . . . . . . . . . . . . . e) Bedeutung von Erklärungsfristen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

d) 32 33 34 35 36 37

III. Wechsel zur OT-Mitgliedschaft als Alternative zum Verbandsaustritt 1. Begriff der OT-Mitgliedschaft . 40 2. Wirksamkeitsvoraussetzungen einer OT-Mitgliedschaft . . . . . . 41 IV. Zustimmungserfordernis der Mitarbeiter zum betrieblichen Bündnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 1. Betriebsvereinbarungen . . . . . . 44 2. Regelungsabreden . . . . . . . . . . . 45 V. Kurz-Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . 46 D. Die Regelungsabrede als Gestaltungsmittel für betriebliche Beschäftigungsbündnisse I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 II. Kein Tarifvorbehalt für Regelungsabreden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 III. Zustimmungserfordernis der Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 IV. AGB-Kontrolle der Regelungsabrede? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bereichsausnahme des § 310 Abs. 4 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Analoge Anwendung der Bereichsausnahme des § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB auf Regelungsabreden? . . . . . . . . . . . . . . . a) Keine analoge Anwendung des § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Analoge Anwendung des § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB . . c) Heranziehung der BAGRechtsprechung zu kirchlich-diakonischen Arbeitsvertragsregelungen . . . . . . .

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Werner

Rz.

50 51

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Konsequenzen für die Anwaltspraxis . . . . . . . . . . . . . . 56

V. Zulässigkeit arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklauseln auf ein betriebliches Beschäftigungsbündnis 1. Inhaltskontrolle arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklauseln . . . 2. Zulässigkeit einer statischen Bezugnahmeklausel . . . . . . . . . . 3. Zulässigkeit einer dynamischen Bezugnahmeklausel . a) Dynamische Bezugnahmeklausel auf TVe . . . . . . . . . . b) Dynamische Bezugnahmeklausel auf eine einseitig vom Arbeitgeber aufgestellte Arbeitsordnung . . c) Dynamische Bezugnahmeklausel auf kirchlich-diakonische Arbeitsvertragsregelungen . . . . . . . . . . . . . . d) Übertragung der Grundsätze der BAG-Rechtsprechung zu dynamischen Bezugnahmeklauseln auf Regelungsabreden . . . . . . . . . . e) Konsequenzen für die Anwaltspraxis . . . . . . . . . . . . . .

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E. Unterlassungsanspruch der Gewerkschaft gegen betriebliche Bündnisse I. Unterlassungsanspruch gegen tarifwidrige Betriebsvereinbarungen 1. Unterlassungsanspruch nach § 23 Abs. 3 BetrVG i.V.m. § 77 BetrVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 2. Unterlassungsanspruch aus Art. 9 Abs. 3 GG i.V.m. §§ 823, 1004 BGB . . . . . . . . . . . . 68 II. Unterlassungsanspruch gegen Regelungsabreden 1. Unterlassungsanspruch nach § 23 Abs. 3 BetrVG i.V.m. § 77 BetrVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 2. Unterlassungsanspruch aus Art. 9 Abs. 3 GG i.V.m. §§ 823, 1004 BGB (Burda-Beschluss und Folgeentscheidungen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

Teil 13

Betriebliche Beschäftigungsbündnisse Rz. a)

b) c) d) e) f)

Betriebseinheitliche Regelungen mit kollektivem Charakter . . . . . . . . . Tarifbindung auf Arbeitgeberseite . . . . . . . . . . . . . . . Tarifbindung auf Arbeitnehmerseite . . . . . . . . . . . . . Anforderungen an den Antrag der Gewerkschaft . Kritik an der Rechtsprechung des BAG . . . . . . . . . . Bedeutung für die Praxis . .

72 73 74 75 76 77

F. Inhaltliche Gestaltung eines betrieblichen Beschäftigungsbündnisses I. Typische Beiträge der Arbeitnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Typische Einsparpotenziale . . . 2. Bewertung der Einsparpotentiale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Besserungsscheinregelungen . . II. Typische Gegenleistungen des Unternehmens . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Beschäftigungssicherungszusagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Eindeutigkeit der Formulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Umfang der Beschäftigungssicherung . . . . . . . . . . aa) „Harte“ Beschäftigungssicherung ohne Ausstiegsmöglichkeit . . . . . . . . . . . . . bb) Beschäftigungssicherung mit Ausnahmen . cc) Zusicherung einer Personaldecke . . . . . . . 2. Standortgarantien . . . . . . . . . . . . 3. Investitionszusagen . . . . . . . . . . 4. Ausschluss von OutsourcingMaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Übernahmegarantie für Auszubildende . . . . . . . . . . . . . .

78 79 80 81 82 83

Rz. 2. Bedingtes Inkrafttreten der einzelvertraglichen Änderungsvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . 101 3. Gestaltung der Arbeitsverträge für künftige Neueinstellungen 102 4. Sonderkündigungsrecht . . . . . . 103 5. Ausschluss der Zustimmungsverweigerer von freiwilligen Vergütungserhöhungen . . . . . . . 104 a) Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes im Bereich der Vergütung . . . . 105 b) Voraussetzungen nach der BAG-Rechtsprechung aa) Kompensationszweck 106 bb) Keine Rechtfertigung bei Überkompensation 107 c) Offene Fragen . . . . . . . . . . . 108 6. Unterstützungsklausel des Betriebsrats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 G. Verhandlung von betrieblichen Beschäftigungsbündnissen I. Beteiligte Parteien 1. Arbeitgeber, Betriebsrat und Arbeitnehmer . . . . . . . . . . . . . . . 110 2. Beteiligung der Gewerkschaft? 111

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II. Verhalten bei Gegenreaktionen der Gewerkschaft . . . . . . . . . . . . . . . 112

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III. Kommunikation während der Verhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

86 87 89 93 94 96 97

III. Vermeidung arbeitsrechtlicher Fallstricke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 1. Entstehung einer ZweiKlassen-Gesellschaft und Vermeidungsmöglichkeiten a) Problematik . . . . . . . . . . . . . 99 b) Zustimmungsquote . . . . . . 100

IV. Die Rolle des anwaltlichen Beraters bei Vorbereitung und Umsetzung betrieblicher Beschäftigungsbündnisse . . . . . . . . . . 114 H. Beendigung betrieblicher Beschäftigungsbündnisse und Rechtsfolgen I. Betriebsvereinbarungen 1. Beendigungsgründe . . . . . . . . . . 115 2. Nachwirkung . . . . . . . . . . . . . . . 116 3. Folgen für die Arbeitnehmer . . 117 II. Regelungsabreden . . . . . . . . . . . . . . 1. Beendigung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Nachwirkung . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtsfolgen für die Arbeitnehmer a) Rechtsfolgen bei Nachwirkung der Regelungsabrede

Werner

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Teil 13

Betriebliche Beschäftigungsbündnisse

b)

Rz.

Rz.

Rechtsfolgen bei fehlender Nachwirkung der Regelungsabrede . . . . . . . . . . . . . 122

J. Fallbeispiel aus der Praxis: Zukunftsvertrag bei Automobilzulieferer . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

Literatur: Adomeit, Das Günstigkeitsprinzip – neu verstanden, NJW 1084, 26; Bauer, Betriebliche Bündnisse für Arbeit vor dem Aus?, NZA 1999, 957; Bauer, Neues Spiel bei der Betriebsänderung und der Beschäftigungssicherung?, NZA 2001, 375; Bauer/Haußmann, Betriebliche Bündnisse für Arbeit und gewerkschaftlicher Unterlassungsanspruch, NZA-Beil. 2000, 42; Bayreuther, Tarifpluralitäten und -konkurrenzen im Betrieb, NZA 2007, 184; Berg/Platow, Unterlassungsanspruch der Gewerkschaften gegen tarifwidrige betriebliche Regelungen, DB 1999, 2362; Buchner, Der Unterlassungsanspruch der Gewerkschaft – Stabilisierung oder Ende des Verbandstarifvertrages? Zum Beschluss des BAG vom 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 897; Buchner, Kündigung der Tarifregelung über die Entgeltanpassung in der Metallindustrie, NZA 1993, 289; Däubler, Das neue Klagerecht der Gewerkschaften bei Tarifbruch des Arbeitgebers, AiB 1999, 481; Däubler, Die Anpassung von Tarifverträgen an veränderte wirtschaftliche Umstände, ZTR 1996, 241; Dieterich, Flexibilisiertes Tarifrecht und Grundgesetz, RdA 2002, 1; Ehmann/Lambrich, Verschlechterung tariflicher Ansprüche durch einen „Konsolidierungsvertrag“ – Anm. zu BAG v. 7.11.2000 – 1 AZR 175/00, NZA 2001, 727; Franzen, Das Ende der Tarifeinheit und die Folgen, RdA 2008, 193; Franzen, Tarifrechtssystem und Gewerkschaftswettbewerb – Überlegungen zur Flexibilisierung des Flächentarifvertrags, RdA 2001, 1; Gotthardt, Grenzen von Tarifverträgen zur Beschäftigungssicherung durch Arbeitszeitverkürzung, DB 2000, 1462; Hanau, Die Deregulierung von Tarifverträgen durch die Betriebsvereinbarung als Problem der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG), RdA 1993, 1; Hanau, Ordnung und Vielfalt von Tarifverträgen und Arbeitskämpfen im Betrieb. Zugleich Besprechung zum Urteil des Sächsischen LAG v. 2.11.2007 – 7 SaGA 19/07 zum Tarifkonflikt bei der Deutschen Bahn, RdA 2008, 98; Henssler, Flexibilisierung der Arbeitsmarktordnung. Überlegungen zur Weiterentwicklung der tariflichen Regelungsmacht, ZfA 1994, 487; Hromadka, Zum Unterlassungsanspruch gegen tarifwidrige Bündnisse für Arbeit, ZTR 2000, 253; Kast/Freihube, Die fristlose Kündigung von (Haus-) Tarifverträgen, BB 2003, 956; Krauss, Noch lange nicht am Ende: Betriebliche Bündnisse für Arbeit, DB 2000, 1962; Lieb, Mehr Flexibilität im Tarifvertragsrecht? „Moderne“ Tendenzen auf dem Prüfstand, NZA 1994, 289; Löwisch, Deliktsschutz gegen abtrünnige Mitglieder?, BB 1999, 2080; Moll, Betriebliche Bündnisse, in: Festschrift für Klaus Bepler zum 65. Geburtstag, 2012, S. 425; Niebler/Schmiedl, Sind Abweichungen vom Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung zulässig?, BB 2001, 1631; Oetker, Abschluß tarifwidriger Betriebsvereinbarungen, SAE 1992, 158; Reichold, Abschied von der Tarifeinheit im Betrieb und die Folgen, NZA 2007, 321; Reichold, Die reformierte Betriebsverfassung 2001. Ein Überblick über die neuen Regelungen des BetriebsverfassungsReformgesetzes, NZA 2001, 857; Reichold, Rechtsprobleme der Einführung einer 32-Stunden-Woche durch Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung, ZfA 1998, 237; Richardi, Tarifautonomie und Betriebsautonomie als Formen wesensverschiedener Gruppenautonomie im Arbeitsrecht, DB 2000, 42; Rieble, Die Burda-Entscheidung des BAG, ZTR 1999, 483; Schwarze, Was wird aus dem gewerkschaftlichen Unterlassungsanspruch?, RdA 2005, 159; Sieg, Kündigungsfristen und –termine, AuA 1993, 164; Thüsing, Der Schutz des Tarifvertrages vor den tarifvertraglich Geschützten, DB 1999, 1552; Trappehl/ Lambrich, Unterlassungsanspruch der Gewerkschaft – das Ende für betriebliche „Bündnisse für Arbeit“?, NJW 1999, 3217; Winter/Zekau, Außerordentliche Kündigung von Tarifverträgen, ArbuR 1997, 89; Wohlfarth, Stärkung der Koalitionsfreiheit durch das BAG, NZA 1999, 962; Zöllner, Flexibilisierung des Arbeitsrechts, ZfA 1988, 265.

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Begriff, Typen und rechtliche Grundlage

Rz. 3 Teil 13

A. Begriff, Typen und rechtliche Grundlage betrieblicher Beschäftigungsbündnisse I. Begriff Der Begriff „betriebliches Beschäftigungsbündnis“ (auch „Bündnis für Arbeit“ genannt) ist nicht gesetzlich definiert. „Betriebliches Bündnis“ ist die schlagwortartige Beschreibung für Vereinbarungen auf betrieblicher Ebene, meist zwischen Arbeitgeber, Betriebsrat und Arbeitnehmern, mit denen die bestehenden (tariflichen) Arbeitsbedingungen modifiziert werden. In Betrieben ohne Betriebsrat sind ebenfalls betriebliche Bündnisse möglich. Die nachstehenden Ausführungen beziehen sich aber auf die in der Praxis häufigeren Fälle mit Betriebsratsbeteiligung. Betriebliche Beschäftigungsbündnisse sind durch ein gegenseitiges Geben und Nehmen gekennzeichnet: Die Arbeitnehmer verzichten auf bestimmte Rechte, z.B. stimmen sie einer Verringerung des Arbeitsentgelts oder einer Erhöhung der Wochenarbeitszeit ohne Entgeltausgleich zu. Dafür erhalten sie Gegenleistungen des Arbeitgebers, meist in Form von Beschäftigungssicherungszusagen oder Maßnahmen zur Arbeitsplatzsicherung wie etwa Investitionszusagen oder Standortgarantien. Das Wort „betrieblich“ bringt zum Ausdruck, dass keine unmittelbare Beteiligung der zuständigen Gewerkschaft erfolgt. Gewerkschaften sind allenfalls mittelbar beteiligt, indem sie zum Beispiel Öffnungsklauseln (s. Rz. 22) in TVen vereinbaren, die betriebliche Lösungen ermöglichen, oder tarifrechtlich unzulässige Bündnisse nachträglich genehmigen.

1

II. Typen betrieblicher Beschäftigungsbündnisse Betriebliche Beschäftigungsbündnisse werden aus unterschiedlichen Motiven geschlossen. In der Praxis haben sich insbesondere die nachfolgend beschriebenen Typen betrieblicher Beschäftigungsbündnisse herausgebildet.

2

1. Krisenbündnis a) Krisenbündnis als Reaktion auf eine eingetretene oder bevorstehende wirtschaftliche Notlage Bündnisse für Arbeit sind überwiegend Reaktionen auf eine bereits eingetretene oder bevorstehende wirtschaftliche Notlage. Zum Schutz der Arbeitsplätze im Inland und ggf. zur Vermeidung der Verlagerung ins Ausland vereinbaren Arbeitgeber mit ihrem Betriebsrat und mit Zustimmung der Mitarbeiter im Rahmen eines betrieblichen Beschäftigungsbündnisses Abweichungen von den bestehenden Arbeitsbedingungen wie z.B. eine höhere Wochenarbeitszeit oder niedrigere Arbeitsentgelte. Als Kompensation erhalten die Arbeitnehmer in der Regel die vertragliche Zusicherung des Arbeitgebers, dass das Unternehmen während der Dauer der Teilnahme des Mitarbeiters am betrieblichen Bündnis auf Kündigungen aus betriebsbedingten Gründen verzichtet. Aber auch andere Arbeitgeberzusagen wie der Erhalt der Belegschaftsstärke, eine Werner

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3

Teil 13

Rz. 4

Betriebliche Beschäftigungsbündnisse

Übernahmegarantie für Auszubildende, der Erhalt der Ausbildungskapazität, die Verpflichtung zu Neueinstellungen, Standortgarantien, Investitionen am Standort, der Verzicht auf Auslagerungen, die Garantie von Produktlinien und Gewinnbeteiligungen können Bestandteil der Kompensation sein.

b) Politische Diskussion über Krisenbündnisse 4

Politisch sind Krisenbündnisse umstritten. Viele Unternehmen befürworten Krisenbündnisse als flexibles Gestaltungsmittel zur Sicherung bzw. Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit. Gewerkschaften dagegen stehen Krisenbündnissen häufig kritisch gegenüber. Für sie ist die dargestellte Krisensituation oft nicht objektiv nachvollziehbar. Sie befürchten eine reine Gewinnmaximierung auf Kosten der Arbeitnehmer und eine Aushöhlung der verfassungsrechtlich gewährleisteten Tarifautonomie des Art. 9 Abs. 3 GG durch eine Unterschreitung der Tarifbedingungen.

c) Die Fälle Viessmann und Burda 5

In der Öffentlichkeit bekannt wurden Krisenbündnisse insbesondere durch die arbeitsgerichtlichen Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit den betrieblichen Beschäftigungsbündnissen bei den Firmen Viessmann1 und Burda2.

aa) Der Fall Viessmann 6

Die tarifgebundene Viessmann Werke GmbH & Co. KG hatte im Jahr 1996 mit dem Betriebsrat eine als „Bündnis für Arbeit“ bezeichnete Regelungsabrede über Kosteneinsparungen abgeschlossen. Hintergrund war die Vermeidung einer drohenden Arbeitsplatzverlagerung nach Tschechien aufgrund der dort niedrigeren Arbeits- und Produktionskosten. Insbesondere wurde eine Anhebung der tariflichen Wochenarbeitszeit um drei Stunden ohne Lohnausgleich für drei Jahre vereinbart, bei gleichzeitigem Kündigungsverzicht und Zusage einer geplanten Investition an einem deutschen Standort. Über 95 % der Belegschaft stimmte dem Bündnis für Arbeit auf Aufforderung des Arbeitgebers und der überwiegenden Betriebsratsmitglieder einzelvertraglich zu. Die zuständige Gewerkschaft, die Industriegewerkschaft Metall, leitete daraufhin u.a. ein Amtsenthebungsverfahren gegen die Betriebsräte ein, die das Bündnis für Arbeit unterstützt hatten. Das ArbG Marburg3 bejahte im Hinblick auf die tarifgebundenen Arbeitnehmer eine Verletzung der durch Art. 9 Abs. 3 GG grundgesetzlich geschützten Tarifautonomie sowie eine Verletzung des § 4 Abs. 1 und 4 TVG durch die zustimmenden Betriebsratsmitglieder, weiterhin gegenüber allen Arbeitnehmern eine Verletzung der den Betriebsratsmitgliedern obliegenden gesetzlichen Fürsorgepflicht. Die Amtsenthebung wurde nur mangels ausreichenden Verschuldens abgelehnt4. Ein weiteres von der IG Metall 1 ArbG Marburg v. 7.8.1996 – 1 BV 6/96, NZA 1996, 1331; ArbG Frankfurt v. 28.10.1996 – 1 Ca 6331/96, NZA 1996, 1340. 2 BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887. 3 ArbG Marburg v. 7.8.1996 – 1 BV 6/96, NZA 1996, 1331. 4 ArbG Marburg v. 7.8.1996 – 1 BV 6/96, NZA 1996, 1331.

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Begriff, Typen und rechtliche Grundlage

Rz. 7 Teil 13

eingeleitetes Verfahren gegen die Firma Viessmann vor dem ArbG Frankfurt a.M.1 auf Unterlassung der Aufforderung, dem Bündnis für Arbeit zuzustimmen, scheiterte ebenfalls. Hinsichtlich der nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer verneinte das ArbG Frankfurt a.M. bereits einen Verstoß gegen Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG. Hinsichtlich der tarifgebundenen Arbeitnehmer verneinte das ArbG Frankfurt a.M. einen Unterlassungsanspruch mangels Wiederholungsgefahr, da die Arbeitgeberin die zwischenzeitlich ausgesprochenen „Rücktritte“ gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmer von dem Bündnis für Arbeit unstreitig akzeptiert hatte2.

bb) Der Fall Burda Im sogenannten Burda-Beschluss3 hat das BAG die Rechtsschutzmöglichkeiten der Gewerkschaften im Falle eines die Tarifbedingungen verschlechternden Bündnisses für Arbeit erweitert und detailliert zu den Voraussetzungen des gewerkschaftlichen Unterlassungsanspruchs analog §§ 1004 Abs. 1, 823 Abs. 1 BGB Stellung genommen. Das BAG hat im Burda-Beschluss die Gestaltungsräume für betriebliche Beschäftigungsbündnisse bei tarifgebundenen und nichttarifgebundenen Arbeitgebern ausführlich beschrieben. Die Arbeitgeber hatten unter Berufung auf die schwierige Wettbewerbssituation eine von dem BAG später als Regelungsabrede qualifizierte Vereinbarung mit dem Betriebsrat abgeschlossen. Die Vereinbarung sah verschiedene für die Arbeitnehmer nachteilige Abweichungen von den einschlägigen FlächenTVen vor, u.a. eine Kürzung tariflicher Zuschläge. Im Gegenzug gewährten die Arbeitgeber eine befristete Beschäftigungsgarantie. Nahezu alle Arbeitnehmer stimmten nach wiederholten Aufforderungen der Arbeitgeber und des Betriebsrats der Vereinbarung zu. Zwischenzeitliche Versuche der Gewerkschaft, in Verhandlungen über FirmenTVe einzutreten, waren erfolglos geblieben. Die zuständige Gewerkschaft leitete daraufhin ein arbeitsgerichtliches Beschlussverfahren gegen die Arbeitgeber ein, gerichtet darauf, die Durchführung der Vereinbarungen zu unterlassen4. Das BAG stellte zunächst fest, dass der Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG nur Betriebsvereinbarungen, nicht dagegen Regelungsabreden verbietet5. Weitergehend kam das BAG in dem Burda-Beschluss u.a. zu dem Ergebnis, dass auch Regelungsabreden unter bestimmten Voraussetzungen einen unzulässigen Eingriff in die grundrechtlich geschützte Tarifautonomie darstellen können. Denn nicht nur tarifnormwidrige Betriebsvereinbarungen, sondern auch vertragliche Einheitsregelungen, die das Ziel verfolgen, normativ geltende Tarifbestimmungen zu verdrängen, seien geeignet, die TV-Parteien in ihrer kollektiven Koalitionsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 3 GG zu verletzen6. Auf die Voraussetzungen des Unterlassungsanspruchs analog §§ 1004 Abs. 1, 823 Abs. 1 BGB wird im Weiteren noch näher eingegangen (s. Rz. 70). 1 2 3 4 5 6

ArbG Frankfurt v. 28.10.1996 – 1 Ca 6331/96, NZA 1996, 1340. ArbG Frankfurt v. 28.10.1996 – 1 Ca 6331/96, NZA 1996, 1340. BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887. BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887. BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887. BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887.

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Teil 13

Rz. 8

Betriebliche Beschäftigungsbündnisse

2. Innovationsbündnis 8

Weniger verbreitet als Krisenbündnisse sind Bündnisse, die auf eine optimale Anpassung der Arbeitsbedingungen an eine besondere Unternehmenssituation bzw. bestimmte Anforderungen des Marktes abzielen, ohne dass sich das Unternehmen in der Krise befindet. Ein Innovationsbündnis richtet die Arbeitsorganisation auf die Anforderungen eines dynamischen Umfeldes aus, in dem schnell ändernde Produkt-, Markt- und Wettbewerbsbedingungen eine hohe Anpassungsflexibilität erfordern. In diesem Fall dient ein betriebliches Beschäftigungsbündnis häufig der Modifizierung von FlächenTVen, da in einem betrieblichen Bündnis flexiblere und stärker an die spezielle Situation des Unternehmens angepasste Regelungen möglich sind. So kann durch ein Innovationsbündnis beispielsweise die betriebliche Organisation (Arbeitszeiten, Schichtmodelle, Flexibilität von personellen Maßnahmen) einem bestimmten Auftrag angepasst und damit die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens bei Ausschreibungen erheblich verbessert werden.

III. Rechtliche Grundlage 9

Gemäß § 92a BetrVG steht dem Betriebsrat ein Vorschlags- und Beratungsrecht zur Beschäftigungsförderung und -sicherung zu. Das Gesetz legt den Betriebsparteien eine besondere Verantwortung für den Erhalt von Arbeitsplätzen auf1. § 92a BetrVG konkretisiert die allgemeinen Aufgaben des Betriebsrates aus § 80 Abs. 1 Nr. 8 BetrVG2, der die Sicherung und Förderung der Beschäftigung im Betrieb als Aufgabe des Betriebsrats festlegt. § 92a BetrVG ermöglicht somit dem Betriebsrat, zur Beschäftigungssicherung und -förderung im Betrieb initiativ zu wirken3. Viele Vorschläge des Betriebsrates enden somit in betrieblichen Bündnissen für Arbeit4. Die Norm verleiht dem Betriebsrat jedoch kein Mitbestimmungsrecht, er darf nicht in die Unternehmensführung des Arbeitgebers eingreifen5.

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Unter einer Beschäftigungssicherung versteht man den Erhalt der bestehenden Arbeitsplätze6. Bei der Beschäftigungsförderung handelt es sich um alle individualrechtlichen oder kollektiven Maßnahmen, die die Beschäftigungssituation im Betrieb stabilisieren und begünstigen bzw. die geeignet sind, die Arbeit im Betrieb für alle Arbeitnehmer attraktiver zu machen7. § 92a BetrVG listet Beispiele zur Sicherung und Förderung der Beschäftigung auf. Diese Aufzählung ist jedoch – wie die Formulierung „insbesondere“ zeigt – nicht abschließend. Aufgezählt werden die flexible Gestaltung der Arbeitszeit, die Förderung von Teilzeit und Altersteilzeit, neue Formen der Arbeitsorganisation, Änderungen 1 Vgl. AnwK-ArbR/Eylert/Schmidt, § 92a BetrVG Rz. 1; WPK/Preis, § 92a BetrVG Rz. 1; Bauer, NZA 2001, 375 (378). 2 Vgl. Reichold, NZA 2001, 857 (863). 3 Vgl. HWK/Ricken, § 92a BetrVG Rz. 1; Boemke, JuS 2001, 521 (527). 4 Vgl. WPK/Preis, § 92a BetrVG Rz. 2 und 15. 5 Vgl. AnwK-ArbR/Eylert/Schmidt, § 92a BetrVG Rz. 1; Fitting, § 92a BetrVG Rz. 3. 6 Vgl. HWK/Ricken, § 92a BetrVG Rz. 2. 7 Vgl. HWK/Ricken, § 92a BetrVG Rz. 2.

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Häufige Ausgangssituationen

Rz. 13 Teil 13

der Arbeitsverfahren und Arbeitsabläufe, die Qualifizierung der Arbeitnehmer, Alternativen zur Ausgliederung von Arbeit oder ihre Vergabe an andere Unternehmen sowie Produktions- und Investitionsprogramme. Des Weiteren kommen beispielsweise auch Anregungen zur Einführung von Arbeitsschutz-, Umweltschutz- oder Qualitätsmanagementsystemen, sowie die Rückführung freiwilliger oder widerrufbarer Leistungen (Weihnachtsgeld) in Betracht1. Den Vorschlägen des Betriebsrates sind keine Grenzen gesetzt, solange sie dem Erhalt von Arbeitsplätzen dienen2. Gemäß § 92a Abs. 2 BetrVG hat der Arbeitgeber die Vorschläge mit dem Betriebsrat zu beraten. Können sich Betriebsrat und Arbeitgeber über den – ggf. modifizierten – Vorschlag des Betriebsrates einigen, ist im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt, was nun gilt. Teilweise wird die Befugnis zur Vereinbarung bindender Regelungsabreden im gesamten Funktionsbereich des Betriebsrats befürwortet. Nach einer anderen Auffassung beschränkt sich die Regelungsbefugnis auf den Bereich normativer Regelungen des § 88 BetrVG3. Eine gerichtliche Entscheidung hierzu ist soweit ersichtlich noch nicht ergangen.

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B. Häufige Ausgangssituationen für betriebliche Beschäftigungsbündnisse I. Das Unternehmen ist „gewerkschaftsfrei“ Wenn ein Unternehmen bisher keine Berührungspunkte mit der zuständigen Gewerkschaft hatte oder keine Gewerkschaft für das Unternehmen zuständig ist, kommt ein betriebliches Beschäftigungsbündnis in Betracht. Ein betriebliches Beschäftigungsbündnis bietet die Möglichkeit, unter Beteiligung des Betriebsrats für die gesamte Belegschaft Änderungen der bestehenden Arbeitsbedingungen zu vereinbaren. Bei Zustandekommen des betrieblichen Beschäftigungsbündnisses bietet dieses für Arbeitgeber insbesondere den logistischen Vorteil, nicht mit jedem Arbeitnehmer individuell über die Änderung seiner Arbeitsbedingungen verhandeln zu müssen. Darüber hinaus können damit auch etwaige Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats wahrgenommen und „verbraucht“ werden.

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II. Die Unternehmensleitung lehnt eine Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft ab Weitere typische Ausgangssituation für ein betriebliches Beschäftigungsbündnis ist, dass ein Unternehmen die Zusammenarbeit mit der zuständigen Gewerkschaft ablehnt und die Gewerkschaft z.B. mangels mitgliedschaftlicher Durchsetzungskraft im betreffenden Betrieb eine Tarifbindung nicht einseitig 1 Vgl. AnwK-ArbR/Eylert/Schmidt, § 92a BetrVG Rz. 5. 2 Vgl. WPK/Preis, § 92a BetrVG Rz. 3. 3 Vgl. zu dieser Diskussion ErfK/Kania, § 92a BetrVG Rz. 1.

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Teil 13

Rz. 14

Betriebliche Beschäftigungsbündnisse

durchsetzen kann. Dies kann aus politischen Gründen der Fall sein. Denkbar ist aber auch, dass das Unternehmen Verhandlungen mit der Gewerkschaft zwar nicht prinzipiell ablehnt, aber diese als nicht erfolgversprechend bewertet.

III. Gescheiterte Haustarifvertrags-Verhandlungen 14

Betriebliche Beschäftigungsbündnisse entstehen oftmals nach gescheiterten HausTV-Verhandlungen. Hier hat der Unternehmer zunächst eine tarifliche Lösung mit der Gewerkschaft gesucht. Wenn die Gewerkschaft aber den vom Unternehmen für erforderlich gehaltenen Weg nicht mitgeht oder aus politischen Gründen nicht mitgehen kann, kommen als Rückfallposition Verhandlungen mit dem Betriebsrat über ein betriebliches Beschäftigungsbündnis in Betracht. Oftmals kann eine Tariflösung z.B. aus gewerkschaftspolitischen Gründen scheitern, weil gewerkschaftsinterne Richtlinien den Gewerkschaftsvertretern vor Ort bestimmte Abweichungen von den FlächenTVen prinzipiell untersagen. Dies gilt insbesondere für Arbeitszeitverlängerungen.

Ü Hinweis für die Beratungspraxis: Betriebspolitisch wird in dem Fall vorangegangener erfolgloser HausTV-Verhandlungen ein betriebliches Beschäftigungsbündnis nur zustande kommen, wenn der Betriebsrat für eine Lösung ohne die Gewerkschaft bereit ist. Oftmals ist die Verbindung zwischen Gewerkschaft und Betriebsrat so eng, dass der Betriebsrat nicht bereit ist, gegen den erklärten Willen der Gewerkschaft mit dem Arbeitgeber ein betriebliches Beschäftigungsbündnis abzuschließen. Dies hängt von der betrieblichen Situation im Einzelfall ab.

IV. Die Betriebsparteien wollen eine betriebliche Lösung 15

Schließlich kommen betriebliche Beschäftigungsbündnisse in der Praxis auch dann zustande, wenn Unternehmen und Betriebsrat übereinstimmend eine innerbetriebliche Lösung befürworten und einer Tariflösung vorziehen. Das ist in der Praxis häufig der Fall, wenn ein gutes Vertrauensverhältnis zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat besteht, der Betriebsrat eine gute Akzeptanz im Betrieb genießt und die Verantwortung für ein betriebliches Bündnis vor der Belegschaft übernimmt, die Gewerkschaft hingegen im Betrieb nicht oder nur wenig vertreten ist.

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Rechtliche Voraussetzungen

Rz. 18 Teil 13

C. Rechtliche Voraussetzungen eines betrieblichen Beschäftigungsbündnisses I. Tarifrechtliche Regelungsgrenzen 1. Gestaltung eines betrieblichen Beschäftigungsbündnisses in Abhängigkeit von der Tarifsituation Die rechtliche Wirksamkeit eines betrieblichen Beschäftigungsbündnisses hängt insbesondere von dem Tarifrecht ab. Betriebliche Beschäftigungsbündnisse kommen typischerweise in Berührung mit dem Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 BetrVG und dem Tarifvorrang aus § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG. Soweit der Abschluss einer Betriebsvereinbarung aufgrund einer Tarifsperre ausscheidet, kommt ggf. der Abschluss einer Regelungsabrede als Gestaltungsmittel in Betracht. Regelungsreden sind schuldrechtliche Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat, die nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht gegen den Tarifvorbehalt verstoßen (s. näher Rz. 25). Aber auch bei der Nutzung von Regelungsabreden als Gestaltungsmittel hat das BAG insbesondere im Burda-Beschluss Beschränkungen formuliert, die zu berücksichtigen sind (s. Rz. 7). In der Praxis ist daher bei der Vorbereitung eines Bündnisses zunächst zu prüfen, welche Regelungen jeweils im Einklang mit dem Tarifrecht durch Betriebsvereinbarung bzw. durch Regelungsabrede geregelt werden können und ob die Regelungen mit oder ohne Zustimmung der Mitarbeiter wirksam werden.

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2. Tarifvorrang, § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG Im Anwendungsbereich des § 87 BetrVG verbietet der Tarifvorrang gemäß § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG den Abschluss von Betriebsvereinbarungen, soweit eine tarifliche Regelung besteht. Der Tarifvorrang des § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG geht insoweit dem § 77 Abs. 3 BetrVG als speziellere Norm vor und genießt Anwendungsvorrang. Danach können keine Betriebsvereinbarungen über Themen geschlossen werden, die durch TV zwingend geregelt sind. Im Rahmen des sog. Tarifvorrangs genügt die einseitige Tarifbindung des Arbeitgebers, um die Sperrwirkung auszulösen, wenn der TV zum Zeitpunkt des Inkrafttretens voll wirksam ist1. Bei Nachwirkung des TVes gilt die Sperre nicht2.

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3. Tarifvorbehalt, § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG Außerhalb des Anwendungsbereichs von § 87 BetrVG gilt der Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG. Gemäß § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG können Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch TV geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein, wenn nicht ausnahmsweise ein TV den Abschluss ergänzender Betriebs1 BAG v. 27.11.2002 – 4 AZR 660/01, AP Nr. 34 zu § 87 BetrVG 1972 Tarifvorrang. 2 BAG v. 24.2.1987 – 1 ABR 18/85, NZA 1987, 639.

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Teil 13

Rz. 19

Betriebliche Beschäftigungsbündnisse

vereinbarungen ausdrücklich zulässt. Eine gegen den Tarifvorbehalt verstoßende Betriebsvereinbarung ist unwirksam1. Arbeitsbedingungen sind durch TV geregelt, wenn über sie ein TV geschlossen wurde und der Betrieb in dessen räumlichen, betrieblichen, fachlichen und persönlichen Geltungsbereich fällt2. Der Tarifvorbehalt dient dem Schutz der verfassungsrechtlich gewährleisteten Tarifautonomie gemäß Art. 9 Abs. 3 GG. Die Normsetzungsbefugnis der Tarifparteien soll nicht durch ergänzende oder abweichende Regelungen der Betriebspartner ausgehöhlt werden3. § 77 Abs. 3 BetrVG hat damit insbesondere die Aufgabe zu verhindern, dass die Betriebsräte zu „beitragsfreien Ersatzgewerkschaften“ werden4. Unter Arbeitsentgelt ist jede vermögenswerte Arbeitgeberleistung zu verstehen5. Ebenfalls ein weites Verständnis wird dem Begriff der sonstigen Arbeitsbedingungen beigelegt. Erfasst werden nicht nur materielle Arbeitsbedingungen, die den Umfang von Leistung und Gegenleistung betreffen, sondern auch alle „formellen“ Bestimmungen, die den Inhalt von Arbeitsverhältnissen im Sinne des § 1 Abs. 1 TVG regeln6.

II. Ermittlung des tarifrechtlich zulässigen Gestaltungsspielraums 19

Bei der Ermittlung des tarifrechtlich zulässigen Gestaltungsspielraums für ein Bündnis für Arbeit ist zu unterscheiden zwischen tarifgebundenen Arbeitgebern, nicht tarifgebundenen Arbeitgebern sowie Arbeitgebern, die ehemals tarifgebunden waren, ihre Tarifbindung aber zwischenzeitlich beendet haben. Relevant ist jeweils, ob und in welchem Umfang Betriebsvereinbarungen und/ oder Regelungsabreden zur Gestaltung des Bündnisses zulässig sind.

1. Gestaltungspielraum bei tarifgebundenen Arbeitgebern a) Betriebsvereinbarungen aa) Grundsatz: Sperre für Betriebsvereinbarungen im Umfang des § 77 Abs. 3 Satz BetrVG, § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG 20

Eine Tarifbindung des Arbeitgebers kann in Form einer Mitgliedschaft im zuständigen Arbeitgeberverband, als Partei eines HausTVes mit der zuständigen Gewerkschaft oder kraft Allgemeinverbindlicherklärung gemäß § 5 TVG vorliegen. Aufgrund der oben erläuterten tariflichen Regelungssperren ist tarifgebundenen Arbeitgebern die Möglichkeit einer Gestaltung von betrieblichen Beschäftigungsbündnissen durch Betriebsvereinbarung weitgehend versperrt. 1 BAG v. 29.10.2002 – 1 AZR 573/01, NZA 2003, 393. 2 BAV v. 9.12.1997 – 1 AZR 319/97, NZA 1998, 661. 3 BAG v. 24.2.1987 – 1 ABR 18/85, NZA 1987, 639; BAG v. 29.10.2002 – 1 AZR 573/01, NZA 2003, 393; BAG v. 21.1.2003 – 1 ABR 9/02, NZA 2003, 1097; BAG v. 29.4.2004 – 1 ABR 30/02, NZA 2004, 670. 4 Hanau, NZA 1993, 817 (821). 5 ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 44. 6 BAG v. 9.4.1991 – 1 AZR 406/90, NZA 1991, 734; ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 44; Fitting, § 77 BetrVG Rz. 71; DKKW/Berg, § 77 BetrVG Rz. 63; GK-BetrVG/Kreutz, § 77 Rz. 83 ff.

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Rechtliche Voraussetzungen

Rz. 23 Teil 13

Daraus folgt, dass Betriebsvereinbarungen bei tarifgebundenen Arbeitgebern bei mitbestimmungspflichtigen Angelegenheiten durch den Tarifvorrang des § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG gesperrt sind; die übrigen durch die räumlich, betrieblich, fachlich und persönlich einschlägigen TVe abschließend geregelten Themen sind aufgrund des Tarifvorbehalts des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG grundsätzlich ebenfalls nicht durch Betriebsvereinbarung regelbar, wenn nicht eine der nachfolgend unter Rz. 21 ff. beschriebenen Ausnahmen eingreift.

bb) Ausnahmen von der tariflichen Sperrwirkung bei zwingender Tarifgeltung In den nachfolgenden Fällen kann ein tarifgebundener Arbeitgeber trotz zwingender Tarifgeltung ausnahmsweise Betriebsvereinbarungen über Tarifthemen schließen.

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(1) Tarifliche Öffnungsklauseln Nach § 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG gilt der Tarifvorbehalt nicht, sofern der TV den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen ausdrücklich zulässt. Im Umfang einer solchen Öffnungsklausel kommt die Betriebsvereinbarung somit als Gestaltungsmittel für betriebliche Bündnisse in Betracht. Der Begriff der Ergänzung ist weit auszulegen, sodass auch vom TV abweichende Betriebsvereinbarungen und auch untertarifliche Regelungen zugelassen werden können1. Tarifwidrige Betriebsvereinbarungen können auch nachträglich durch rückwirkende tarifliche Öffnungsklauseln genehmigt werden2. Die rückwirkende Kürzung tariflicher Ansprüche ist allerdings begrenzt durch die Grundsätze des Vertrauensschutzes. Ferner zu berücksichtigen ist, dass Öffnungsklauseln wirksam nur von den Parteien vereinbart werden können, die den TV abgeschlossen haben3. Daher kann ein HausTV zwischen dem Arbeitgeber und der zuständigen Gewerkschaft keine wirksame Öffnungsklausel für Abweichungen von einem FlächenTV enthalten. Allerdings kann der HausTV eine eigene Öffnungsklausel enthalten. Diese kommt zur Anwendung, wenn der HausTV den FlächenTV im Wege des Spezialitätsgrundsatzes verdrängt4.

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(2) Fehlende tarifliche Regelung Soweit das betriebliche Beschäftigungsbündnis einen Regelungsgegenstand des § 87 Abs. 1 BetrVG betrifft, bleibt die Betriebsvereinbarung als Regelungsmittel zulässig, sofern keine zwingende und abschließende tarifliche Regelung vorliegt. Der TV muss die Materie so vollständig und eindeutig regeln, dass eine weitere Ergänzung zur praktischen Umsetzung der Regelung nicht notwendig ist. Bei einer Negativregelung sowie bei einer bewussten Nichtregelung der 1 ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 60 m.w.N. 2 BAG v. 20.4.1999 – 1 AZR 631/98, NZA 1999, 1059; unter Verweis auf Grenzen durch Vertrauensschutz: Moll, FS Bepler, S. 425 (432). 3 BAG v. 20.4.1999 – 1 AZR 631/98, NZA 1999, 1059. 4 ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 60.

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Teil 13

Rz. 24

Betriebliche Beschäftigungsbündnisse

Materie bleibt das Mitbestimmungsrecht bestehen1. Ob eine abschließende Tarifregelung vorliegt, ist durch Auslegung zu ermitteln2. Die Nichtregelung im einschlägigen TV hat für betriebliche Beschäftigungsbündnisse kaum Bedeutung, denn sie sind überwiegend auf die Modifizierung der tariflich geregelten Hauptarbeitsbedingungen, Vergütung und Arbeitszeit, gerichtet.

(3) Kein Günstigkeitsprinzip im Verhältnis Betriebsvereinbarung/TV 24

Das Günstigkeitsprinzip findet im Rahmen des Tarifvorbehalts keine Anwendung. Auch Betriebsvereinbarungen, die günstiger als der einschlägige TV sind, sind daher bei Verstoß gegen § 77 Abs. 3 BetrVG unwirksam. Das Günstigkeitsprinzip spielt aber eine Rolle bei der Umsetzung von betrieblichen Beschäftigungsbündnissen im Wege von Regelungsabreden (s. Rz. 28).

b) Regelungsabreden aa) Nichtgeltung des Tarifvorbehalts des § 77 Abs. 3 BetrVG 25

Für Regelungsabreden gilt der Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG nach der Rechtsprechung des BAG nicht3. Das erklärt, dass Regelungsabreden häufig als Gestaltungsmittel für betriebliche Beschäftigungsbündnisse genutzt werden.

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Allerdings sind hier die Vorgaben des Burda-Beschlusses des BAG4 zu beachten. Denn auch Regelungsabreden können bei Tarifbindung des Arbeitgebers in die Tarifautonomie eingreifen, wenn sie einheitlich wirken und an die Stelle der Tarifnormen treten sollen. Einen solch unzulässigen Eingriff in die Tarifautonomie nimmt das BAG bei einer Regelungsabrede mit dem Betriebsrat an, die einzelne Vorschriften der geltenden TVe ersetzen soll, und die sich unabhängig von der Tarifbindung auf die gesamte Belegschaft erstrecken sollen.

bb) Beschränkung des Bündnisses auf Nicht-Gewerkschaftsmitglieder 27

Zur Vermeidung eines Konfliktes mit dem Tarifrecht kann das betriebliche Bündnis auf Nicht-Gewerkschaftsmitglieder beschränkt werden. Schwierigkeiten kann die Unkenntnis des Arbeitgebers darüber bereiten, wie hoch der Organisationsgrad seiner Belegschaft tatsächlich ist. Denn dem Arbeitgeber ist es verwehrt, die Arbeitnehmer nach ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit zu fragen. Dennoch haben Arbeitgeber aus unterschiedlichen Quellen oftmals Vorstellungen darüber, welcher Prozentsatz der Belegschaft gewerkschaftlich organisiert ist. Bei einem hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad scheidet ein Bündnis nur für Nicht-Gewerkschaftsmitglieder in der Regel aus, da das Beschäftigungsbündnis dann praktisch ins Leere läuft. Bei einem niedrigen Organisationsgrad kann sich dies als Gestaltungsvariante anbieten. Nach dem Bur1 2 3 4

BAG v. 23.10.1985 – 4 AZR 119/84, DB 1986, 595. ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 56. BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887. BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887.

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Rechtliche Voraussetzungen

Rz. 28 Teil 13

da-Beschluss des BAG1 muss die Vereinbarung in diesem Fall erkennen lassen, dass sie nicht für Gewerkschaftsmitglieder gilt. Dies kann z.B. dadurch umgesetzt werden, dass sich die Aufforderungen zum Beitritt ausdrücklich nur auf die nicht gewerkschaftlich organisierten Mitarbeiter bezieht. Kommt nicht hinreichend zum Ausdruck, dass sich das betriebliche Bündnis nur an die Nichtorganisierten richtet, kann die Gewerkschaft Unterlassung verlangen.

cc) Günstigkeitsprinzip, § 4 Abs. 3 TVG Bei beiderseitiger Tarifgebundenheit sind tarifliche Rechtspositionen für die Arbeitnehmer gemäß § 4 Abs. 1, 4 TVG zwingend und unverzichtbar. Die im Rahmen eines betrieblichen Bündnisses vereinbarten Abweichungen von den einschlägigen TVen in den Einzelverträgen können bei gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern aber nach dem Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG ausnahmsweise zulässig sein. Es ist ein individueller Günstigkeitsvergleich vorzunehmen2. Im Zusammenhang mit betrieblichen Bündnissen wurde mehrfach der Versuch unternommen zu argumentieren, dass bei dem Günstigkeitsvergleich die Gegenleistungen der Arbeitgeberseite mit einbezogen werden müssten. Die Erhaltung des Arbeitsplatzes um den Preis einer gekürzten Arbeitsentgelts sei günstiger als die Beibehaltung der tariflichen Bedingungen3. Diesem weiten Verständnis einer Günstigkeit hat das BAG im Einklang mit einer starken Meinung in der Literatur4 eine Absage erteilt. Daher hat das Günstigkeitsprinzip bei betrieblichen Beschäftigungsbündnissen tarifgebundener Arbeitgeber nur geringe praktische Bedeutung. Nach dem BAG ist ein sogenannter Sachgruppenvergleich durchzuführen. Es dürfen nur Regelungen verglichen werden, deren Gegenstände miteinander in einem sachlichen Zusammenhang stehen5. Ein solcher Sachzusammenhang fehlt nach dem BAG insbesondere bei Arbeitszeit und Arbeitsentgelt einerseits und Beschäftigungsgarantien andererseits. Ein Vergleich sei methodisch unmöglich, es sei ein Vergleich von „Äpfeln mit Birnen“6. Daran ändert auch die Bereitschaft der überwiegenden tarifgebundenen Arbeitnehmer zum Verzicht auf tarifliche Rechte nach dem BAG nichts.

Ü Kurz-Zusammenfassung: Was ist bei Tarifbindung des Arbeitgebers durch Betriebsvereinbarung bzw. Regelungsabrede regelbar? Betriebsvereinbarungen: nur soweit keine abschließende, zwingende Tarifregelung besteht und bei tariflicher Öffnungsklausel. Regelungsabreden: grundsätzlich zulässig, da kein Verstoß gegen Tarifvorbehalt. Aber nach dem BAG bei Beschäftigungsbündnis ausdrückliche Be-

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BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887. ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 35. Buchner, DB-Beil. 12/1996, 10 ff. Ehmann/Schmidt, NZA 1995, 193 (202); Hanau, RdA 1998, 65 (70); Reichold, ZfA 1998, 237 (252); Walker, FS Wiese, 1998, S. 603 (608); Wiedemann, Anm. zu BAG Urteil v. 18.12.1997 – 2 AR 709/96, NZA 1998, 304. 5 BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887. 6 BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887.

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Rz. 29

Betriebliche Beschäftigungsbündnisse

schränkung auf Nicht-Gewerkschaftsmitglieder erforderlich, da sonst ein unzulässiger Eingriff in die Tarifautonomie vorliegt.

2. Gestaltungsspielraum bei nichttarifgebundenen Arbeitgebern a) Betriebsvereinbarungen aa) Grundsatz: Tarifüblichkeit 29

Gemäß § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG greift der Tarifvorbehalt nicht nur bei Tarifbindung des Arbeitgebers. Auch bei fehlender Tarifbindung entfaltet § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG eine Sperrwirkung. Bei nichttarifgebundenen Arbeitgebern schützt die Tarifautonomie durch das Verbot von Betriebsvereinbarungen über „üblicherweise“ in TVen geregelte Arbeitsbedingungen1. Die Tarifüblichkeit kann in der Praxis in vielen Fällen anhand der Kontrollfrage ermittelt werden, ob eine tarifliche Regelung bestünde, wäre der Arbeitgeber Mitglied des zuständigen Arbeitgeberverbandes.

bb) Ausnahme: Vorrangtheorie 30

Eine wesentliche Ausnahme von dem Prinzip des Verbots tarifüblicher Regelungen bildet die sogenannte Vorrangtheorie des BAG. Nach der Vorrangtheorie können im Nachwirkungszeitraum bzw. bei fehlender Tarifbindung von den üblichen tariflichen Regelungen abweichende Betriebsvereinbarungen geschlossen werden, soweit ein Regelungsgegenstand des § 87 BetrVG betroffen ist. Insofern besteht keine Tarifsperre2. Bei nichttarifgebundenen Arbeitgebern ist somit zu ermitteln, inwieweit das geplante betriebliche Beschäftigungsbündnis Gegenstände der zwingenden Mitbestimmung nach § 87 BetrVG betrifft und somit nach der Vorrangtheorie keine Regelungssperre besteht.

b) Regelungsabreden 31

Bei fehlender Tarifbindung ist der Abschluss von Regelungsabreden grundsätzlich nicht tarifrechtlich gesperrt. Regelungsabreden verstoßen auch bei Tarifüblichkeit nicht gegen den Tarifvorbehalt. Den oben erwähnten Unterlassungsanspruch der Gewerkschaft bei betrieblichen Einheitsregelungen, die sich gegen TVe richten und darauf abzielen, tarifliche Regelungen im Betrieb insgesamt zu ersetzen (s. Rz. 72), hat das BAG nur bei beiderseitiger Tarifbindung bejaht3. Bei fehlender Tarifbindung besteht daher kein Unterlassungsanspruch. 1 Zu Einzelfällen ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 48. 2 BAG GS v. 3.12.1991 – GS 2/90, DB 1992, 1579. Nach der von der Gegenauffassung befürworteten Zwei-Schranken-Theorie sind der Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 BetrVG und der Tarifvorrang des § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG dagegen nebeneinander anzuwenden, sodass noch weniger Spielraum für den Abschluss von Betriebsvereinbarungen verbleibt, vgl. GK-BetrVG/Kreutz, § 77 Rz. 139 ff.; Richardi/Richardi, § 77 BetrVG Rz. 247 ff. 3 BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887; zustimmend Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 987.

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Rz. 35 Teil 13

Ü Kurz-Zusammenfassung: Was ist bei fehlender Tarifbindung des Arbeitgebers durch Betriebsvereinbarung bzw. Regelungsabrede regelbar? Betriebsvereinbarungen: nach der Vorrangtheorie zulässig im Geltungsbereich der zwingenden Mitbestimmung nach § 87 BetrVG und bei fehlender Tarifüblichkeit. Regelungsabreden: zulässig, da kein Verstoß gegen Tarifvorbehalt.

3. Gestaltungsspielraum nach Beendigung der Tarifbindung des Arbeitgebers Eine besondere Tarifsituation besteht nach einem Verbandsaustritt des Arbeitgebers bzw. nach einem Wechsel zur OT-Mitgliedschaft:

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a) Nachbindung, § 3 Abs. 3 TVG Der Verbandsaustritt des Arbeitgebers bzw. der Wechsel zur OT-Mitgliedschaft haben auf den Tarifstatus zunächst keine Auswirkungen. Mit dem Austritt bzw. dem Wechsel zur OT-Mitgliedschaft beginnt die Nachbindung gemäß § 3 Abs. 3 TVG. Das heißt, die Tarifnormen wirken weiterhin unmittelbar und zwingend, bis die TVe enden. Diese Regelung soll die TV-Treue sichern und verhindern, dass sich die Arbeitgeberseite tariflichen Arbeitsbedingungen kurzfristig durch eine „Flucht aus dem Arbeitgeberverband“ entziehen kann1.

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b) Ende des TVes Die Nachbindung geht erst in die Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG über, wenn die TVe „enden“. Die Nachbindung endet nicht nur, wenn die TVe insgesamt durch Kündigung oder Aufhebungsvertrag beendet werden. Nach ständiger BAG-Rechtsprechung endet der TV insgesamt auch dann, wenn nur einzelnen Normen geändert werden2. Mit dem Eintritt in die Nachwirkungsphase verlieren die Tarifnormen ihre zwingende Wirkung und können im Rahmen eines betrieblichen Beschäftigungsbündnisses abgeändert werden.

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c) Konsequenzen für die Anwaltspraxis Die Frage, ob FlächenTVe nach einem Verbandsaustritt geendet haben oder sich noch in der Nachbindung befinden, ist somit wesentlich für die Ermittlung des Gestaltungsspielraums für betriebliche Beschäftigungsbündnisse. Denn nur TVe, die geendet haben und damit ihre zwingende Wirkung verloren haben, sind im Grundsatz einer Änderung durch ein Beschäftigungsbündnis zugänglich. Da die FlächenTVe einer Branche in der Regel aus einer Vielzahl von TVen bestehen (z.B. MantelTV, Lohn- und GehaltsrahmenTV, Lohn- und GehaltsTV, TV über Sonderzahlungen, TV zur Beschäftigungssicherung etc.), 1 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 22. 2 BAG v. 18.3.1992 – 4 AZR 339/91, NZA 1992, 700; BAG v. 7.11.2001 – 4 AZR 703/00, NZA 2002, 748.

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Rz. 36

Betriebliche Beschäftigungsbündnisse

ist die Nachbindung bzw. Nachwirkung für jeden TV gesondert zu prüfen. Dabei steht der Anwalt oft vor der praktischen Herausforderung, die benötigten Informationen über den Tarifstatus zu erlangen, insbesondere herauszufinden, ob nach dem Verbandsaustritt bzw. Wechsel zur OT-Mitgliedschaft Änderungen an den FlächenTVen vorgenommen wurden. Im Falle eines Verbandsaustritts haben auch die Mandanten oftmals nicht mehr den erforderlichen Kontakt zum Arbeitgeberverband, um diese Informationen zu erhalten. Die Gewerkschaften unterstützen die Arbeitgeber zumeist aus nachvollziehbaren Gründen nicht bei diesem Prozess und sind nicht bereit, diese Informationen gegenüber Nicht-Mitgliedern preiszugeben.

d) „Ewige“ Bindung an FlächenTVe? 36

Wie oben dargelegt (Rz. 33), verlieren TVe nach Beendigung der Tarifbindung erst dann ihre zwingende Wirkung, wenn sie enden. Lohn- und GehaltsTVe sind jeweils auf bestimmte Laufzeiten von höchstens zwei oder drei Jahren begrenzt. MantelTVe dagegen werden häufig unbefristet abgeschlossen und werden über viele Jahre hinweg nicht inhaltlich geändert. Es wurde daher verschiedentlich gefordert, die Nachbindungsphase zeitlich zu begrenzen, um eine „ewige“ Tarifbindung des Arbeitgebers zu verhindern1. Das BAG ist dieser Auffassung bisher aber nicht gefolgt. Daher ist für die anwaltliche Beratung nach wie vor davon auszugehen, dass auch MantelTVe nur durch betriebliche Beschäftigungsbündnisse abgeändert werden können, wenn sie durch inhaltliche Änderungen oder Kündigung in die Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG eingetreten sind.

e) Bedeutung von Erklärungsfristen 37

Erfolgt der Verbandsaustritt bzw. der Wechsel zur OT-Mitgliedschaft im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Abschluss neuer FlächenTVe mit dem Ziel, eine Tarifbindung an den unmittelbar bevorstehenden Tarifabschluss zu vermeiden, kann in der Praxis der genaue Zeitpunkt der Beendigung eines TVes entscheidend sein. Erfolgt der Wechsel zur OT-Mitgliedschaft in diesem Fall zeitlich erst nach Inkrafttreten des neuen TVes, so wird die neue Tarifrunde für den Arbeitgeber wirksam. Tritt der Arbeitgeber noch vor Inkrafttreten der neuen Tarifrunde aus dem Arbeitgeberverband aus bzw. wechselt er vor dem Tarifabschluss zur OT-Mitgliedschaft, so wird der neue Tarifabschluss nicht mehr für ihn wirksam. Vielmehr beendet der neue Tarifabschluss die Nachbindungsphase gemäß § 3 Abs. 3 TVG und führt zur Nachwirkung insbesondere des alten LohnTVes mit der Folge, dass die LohnTVe durch ein betriebliches Beschäftigungsbündnis abgeändert werden können. Problematisch ist der Zeitpunkt des Inkrafttretens eines TVes, wenn die TV-Parteien eine sogenannte Erklärungsfrist vereinbaren. Es entspricht gängiger Praxis bei Tarifverhandlungen, dass die TV-Parteien unter einem bestimmten Datum ein Ver1 Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 92 ff. m.w.N.; Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 232; Monopolkommission, 10. Hauptgutachten 1992/1993, BT-Drucks. 12/8323, 379 Nr. 947.

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Rz. 40 Teil 13

handlungsergebnis erzielen, zugleich aber eine sogenannte Erklärungsfrist von x Wochen vereinbaren. Hintergrund ist, dass das Verhandlungsergebnis aufgrund der Satzung des Arbeitgeberverbandes bzw. der Gewerkschaft durch die zuständigen Gremien ausdrücklich angenommen werden muss. Fraglich und soweit ersichtlich bislang nicht gerichtlich geklärt ist die Rechtsnatur von Erklärungsfristen. Insbesondere wenn vereinbart wird, dass Schweigen als Zustimmung gilt, stellt sich die Frage, ob der maßgebliche Zeitpunkt für das Inkrafttreten des TVes der Ablauf der Erklärungsfrist ist oder der TV nach Ablauf der Erklärungsfrist rückwirkend mit dem Tag der Unterzeichnung des Verhandlungsergebnisses in Kraft tritt.

38

Noch komplexer stellt sich die Rechtslage dar, wenn das Verhandlungsergebnis nicht von den TV-Parteien schriftlich unterzeichnet wurde, sondern die Unterzeichnung der TVe erst nach Ablauf der Erklärungsfrist erfolgt. Da für TVe gemäß § 1 Abs. 2 TVG das Schriftformerfordernis gilt, ist davon auszugehen, dass das rechtsverbindliche Inkrafttreten des TVes frühestens bis zum Zeitpunkt der beiderseitigen Unterzeichnung des jeweiligen TVes vorliegen kann. Aus Anwaltssicht stellt sich in der Praxis dabei aber häufig ein Beweisproblem. Da das Unternehmen insbesondere nach einem Verbandsaustritt keinen Zugriff auf die Originaldokumente hat, wird im Falle einer streitigen Auseinandersetzung der Nachweis des genauen Unterschriftszeitpunkts oftmals schwierig sein und bedeutet für den Arbeitgeber ein Prozessrisiko.

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Ü Kurz-Zusammenfassung: Was ist nach Beendigung der Tarifbindung des Arbeitgebers durch Betriebsvereinbarung bzw. Regelungsabrede regelbar? Soweit TVe in der Nachbindung sind: Betriebsvereinbarungen: nur das, was im TV nicht geregelt ist, und bei tariflicher Öffnungsklausel. Regelungsabreden: grundsätzlich zulässig, da kein Verstoß gegen Tarifvorbehalt. Aber nach dem BAG bei Beschäftigungsbündnis ausdrückliche Beschränkung auf Nicht-Gewerkschaftsmitglieder erforderlich, da sonst unzulässiger Eingriff in die Tarifautonomie. Soweit TVe in der Nachwirkung sind: Betriebsvereinbarungen: nach der Vorrangtheorie zulässig im Geltungsbereich der zwingenden Mitbestimmung nach § 87 BetrVG und bei fehlender Tarifüblichkeit. Regelungsabreden: zulässig, da kein Verstoß gegen Tarifvorbehalt.

III. Wechsel zur OT-Mitgliedschaft als Alternative zum Verbandsaustritt 1. Begriff der OT-Mitgliedschaft Als Alternative zu einem Verbandsaustritt kommt ggf. auch ein Wechsel zur sogenannten „Mitgliedschaft ohne Tarifbindung“ (OT-Mitgliedschaft) in BeWerner

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Rz. 41

Betriebliche Beschäftigungsbündnisse

tracht. Die Satzungen vieler Arbeitgeberverbände sehen inzwischen die Möglichkeit vor, trotz fehlender Tarifbindung eine Mitgliedschaft besonderer Art im Arbeitgeberverband aufrecht zu erhalten. Ein Wechsel zur OT-Mitgliedschaft kann sich aus Arbeitgebersicht als Alternative zum Verbandsaustritt anbieten. Vorteil einer OT-Mitgliedschaft gegenüber einem Verbandsaustritt ist zum einen, dass der Wechsel zur OT-Mitgliedschaft nach der jeweiligen Satzung oftmals mit deutlich kürzeren Fristen und sogar innerhalb von wenigen Tagen möglich ist. Eine Kündigung der Mitgliedschaft dagegen ist oftmals an eine mehrmonatige Frist zum Jahresende gebunden, wobei sich aber die Frage der Wirksamkeit einer solch langen Frist stellt. Zu lange Kündigungsfristen in der Satzung eines Arbeitgeberverbandes oder einer Gewerkschaft können wegen eines Verstoßes gegen die negative Koalitionsfreiheit ggf. unwirksam sein1. Unternehmen sehen einen Wechsel zur OT-Mitgliedschaft oftmals als vorzugswürdig gegenüber einem Verbandsaustritt an, weil sie auf diese Weise den Kontakt zum Verband halten können, ohne gleichzeitig aber die Tarifbindung fortsetzen zu müssen.

Ü Hinweis für die Beratungspraxis: Wird ein Wechsel zur OT-Mitgliedschaft angestrebt, lohnt sich aus Beratersicht oftmals eine unmittelbare Kontaktaufnahme mit dem jeweiligen Arbeitgeberverband. Bei direkter Kontaktaufnahme erklären sich die Verbände ggf. bereit, eine satzungsmäßige Frist zu verkürzen bzw. ein Wechsel kann im Verhandlungswege kurzfristig vereinbart werden. Denn auch die Verbände haben grundsätzlich ein Interesse daran, ein Verbandsmitglied nicht gänzlich zu verlieren und ziehen daher ein kooperatives Verhalten einem vollständigen Verlust des Mitglieds vor.

2. Wirksamkeitsvoraussetzungen einer OT-Mitgliedschaft 41

Auch die OT-Mitgliedschaft als Organisationsform ist durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützt2. Wenn in einem Arbeitgeberverband tarifwillige und -unwillige Mitglieder zusammengefasst werden, fordert das BAG zum Schutz der Funktionsfähigkeit des TV-Systems, dass die beiden Gruppen satzungsmäßig klar getrennt und ihr Status auch für die Arbeitnehmerseite transparent ist3. Um den erforderlichen Gleichlauf von Verantwortlichkeit und Betroffenheit bezüglich der tariflichen Vereinbarungen sicherzustellen, könne die Satzung für OT-Mitglieder nicht lediglich die Rechtsfolge des § 3 Abs. 1 TVG abbedingen. Sie muss nach dem BAG darüber hinaus für Tarifangelegenheiten eine klare und eindeutige Trennung der Befugnisse von Mitgliedern mit und ohne Tarifbindung vorsehen4. Eine unmittelbare Einflussnahme von OT-Mitgliedern auf tarifpolitische Entscheidungen ist nicht zulässig. OT-Mitglieder dürfen daher nicht in Tarifkommissionen entsandt werden, den Verband im Außenverhältnis nicht tarifpolitisch vertreten und nicht in Aufsichtsorganen mitwirken, die 1 Vgl. ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 38 mit Rechtsprechungsnachweisen. 2 BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225. 3 BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 111/08, NZA 2010, 105; bestätigt durch BVerfG v. 1.12.2010 – 1 BvR 2593/09, NZA 2011, 60; BAG v. 20.5.2009 – 4 AZR 179/08, NZA 2010, 102. 4 BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 111/08, NZA 2010, 105.

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Rz. 44 Teil 13

die Streikfonds verwalten. Zudem sind sie von Abstimmungen auszuschließen, in denen die tarifpolitischen Ziele festgelegt oder Ergebnisse von Tarifverhandlungen angenommen werden. Zulässig ist es, dass den OT-Mitgliedern die allgemeinen Mitwirkungsrechte eines „gewöhnlichen“ Vereinsmitglieds zustehen, die keinen originären Bezug zur Tarifpolitik des Verbands haben. Alle genannten Anforderungen sind in der notwendigen Klarheit zu regeln. Die Beteiligung bei der Erörterung tarifpolitischer Fragen mit beratender Stimme sieht das BAG dagegen als unbedenklich an. Denn dem Verband sei es auch nicht verwehrt, sich durch an die tarifpolitischen Entscheidungen nicht gebundene außenstehende Dritte beraten zu lassen. Die Begründung einer OT-Mitgliedschaft in einem Arbeitgeberverband setzt zudem voraus, dass es für diese Mitgliedschaftsform zu dem Zeitpunkt, in dem ein bisheriges Vollmitglied eine OT-Mitgliedschaft begründen will, eine wirksame satzungsmäßige Grundlage gibt. Das erfordert, dass eine dahin gehende Satzungsänderung bereits in das Vereinsregister eingetragen ist. Eine Rückwirkung auf den Tag der Beschlussfassung findet nicht statt1.

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Ü Hinweis für die Beratungspraxis: Ein kurzfristiger „Blitzaustritt“ aus dem Arbeitgeberverband bzw. Wechsel in die OT-Mitgliedschaft während laufender Tarifverhandlungen ist nach einer umstrittenen BAG-Rechtsprechung unter bestimmten Voraussetzungen unzulässig, wenn hierüber die zuständige Gewerkschaft nicht rechtzeitig in Kenntnis gesetzt wird2. Grundlage der Verhandlungen seien regelmäßig Vorstellungen über die Mitgliederzusammensetzung der Gegenseite, insbesondere seitens der Gewerkschaft über die des Arbeitgeberverbandes. Danach entscheide sich, für welche Betriebe und damit für welche dort beschäftigten organisierten Arbeitnehmer die auszuhandelnden TVe tarifrechtlich gelten werden. Auf diese betroffenen Betriebe und deren wirtschaftliche Verhältnisse seien die Tarifverhandlungen ausgerichtet. Diese gemeinsame Grundlage der Verhandlungen könne gestört sein, wenn ohne Kenntnis der Gegenseite eine Mitgliedschaft kurzfristig beendet wird. Ob im konkreten Fall eine Mitteilung des Verbandsaustritts erforderlich ist, hängt nach dem BAG von den Umständen des Einzelfalles ab.

IV. Zustimmungserfordernis der Mitarbeiter zum betrieblichen Bündnis Ob die Mitarbeiter einem betrieblichen Bündnis zustimmen müssen, damit dieses für die Arbeitsverhältnisse verbindlich wird, hängt von der Rechtsnatur der mit dem Betriebsrat geschlossenen Vereinbarungen ab.

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1. Betriebsvereinbarungen Betriebsvereinbarungen wirken gemäß § 77 Abs. 4 Satz 1 BGB unmittelbar und zwingend. Die Mitarbeiter müssen der Betriebsvereinbarung nicht zustim1 BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 294/08, NZA-RR 2010, 305. 2 BAG v. 20.2.2008 – 4 AZR 64/07, NZA 2008, 946.

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Rz. 45

Betriebliche Beschäftigungsbündnisse

men. Die Regelungen werden allein aufgrund der Vereinbarung mit dem Betriebsrat rechtsverbindlich für die einzelnen Arbeitsverhältnisse. Aus anwaltlicher Sicht ist aber zu beachten, dass den Mitarbeitern möglicherweise einzelvertraglich günstigere Rechtspositionen zustehen, die einer Betriebsvereinbarung zur Beschäftigungssicherung aufgrund des Günstigkeitsprinzips entgegenstehen. Das setzt voraus, dass die Regelung im Arbeitsvertrag nicht lediglich deklaratorische Bedeutung hat. Es ist im Wege der Auslegung zu ermitteln, ob die Arbeitsvertragsparteien ihre vertragliche Absprache „betriebsvereinbarungsoffen“ dahin gestaltet haben, dass sie einer späteren betrieblichen Regelung den Vorrang einräumen1. Entspricht die Angabe von Arbeitszeit und Arbeitsort und Lohnart im Arbeitsvertrag der bei Einstellung im Betrieb gültigen Regelung, dann hat die Erwähnung im Arbeitsvertrag nach dem BAG im Regelfall keine konstitutive Bedeutung2. Gleiches gilt für die Angabe der Lohnart im Arbeitsvertrag3. Erst recht verneint das BAG individuelle Zusagen, wenn der Arbeitsvertrag eine allgemeine Verweisung auf die jeweilige tarifliche Regelung enthält. Hier kann der Arbeitnehmer regelmäßig nicht davon ausgehen, dass der Bezeichnung einer einzelnen Arbeitsbedingung oder Vergütungsform überhaupt eine über die Verweisung auf den TV hinausgehende eigenständige Bedeutung zukommt4. Aufgrund der AGB-Kontrolle von Arbeitsverträgen zeichnen sich in der BAG-Rechtsprechung aber strengere Anforderungen für die Annahme einer Betriebsvereinbarungsoffenheit ab5.

2. Regelungsabreden 45

Bei Regelungsabreden bedarf es zur Ausführung grundsätzlich Maßnahmen auf arbeitsvertraglicher Ebene in Form einer Zustimmung der Mitarbeiter oder Anweisungen im Rahmen des arbeitgeberseitigen Direktionsrechts. Denn Regelungsabreden entfalten anders als Betriebsvereinbarungen keine unmittelbare und zwingende Wirkung6. Teilweise wird zwar befürwortet, dass die Inhalte von begünstigenden Regelungsabreden als Vertrag zugunsten Dritter nach § 328 BGB für die Mitarbeiter unmittelbar verpflichtende Rechtswirkung entfalten7. Da betriebliche Beschäftigungsbündnisse meist aber auch Nachteile für die Mitarbeiter enthalten, ist in der Praxis bei Regelungsabreden von einem Zustimmungserfordernis auszugehen.

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Näher ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 80 ff. BAG v. 7.12.2000 – 6 AZR 444/99, NZA 2001, 780. BAG v. 26.8.2008 – 1 AZR 353/07, DB 2009, 461. BAG v. 21.1.2004 – 6 AZR 583/02, NZA 2005, 61; BAG v. 28.6.2001 – 6 AZR 114/00, NZA 2002, 331; BAG v. 11.8.1993 – 10 AZR 558/92, NZA 1994, 139; BAG v. 1.4.1993 – 4 AZR 73/93, NZA 1993, 1004; BAG v. 4.4.2001 – 4 AZR 194/00, NZA 2002, 55; BAG v. 6.9.2001 – 8 AZR 26/01, NZA-RR 2002, 660. 5 BAG v. 5.8.2009 – 10 AZR 483/08, NZA 2009, 1105. 6 BAG v. 21.1.2003 – 1 ABR 9/02, NZA 2003, 1097; BAG v. 6.5.2003 – 1 AZR 340/02, NZA 2003, 1422. 7 ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 132.

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Die Regelungsabrede als Gestaltungsmittel

Rz. 48 Teil 13

V. Kurz-Checkliste Die vorstehend dargestellten wesentlichen rechtlichen Prüfungsschritte für die erfolgreiche Umsetzung eines betrieblichen Beschäftigungsbündnisses lassen sich mit folgender Kurz-Checkliste zusammenfassen:

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Kurz-Checkliste zum betrieblichen Beschäftigungsbündnis: – Besteht eine Tarifbindung des Unternehmens (Risiko: § 77 Abs. 3 BetrVG, Unterlassungsanspruch der Gewerkschaft)? – Bei Verbandsaustritt: Welche TVe befinden sich in Nachbindung oder Nachwirkung? – Welche Regelungen können mit dem Betriebsrat getroffen werden und für welche Regelungen müssen die Mitarbeiter zustimmen?

D. Die Regelungsabrede als Gestaltungsmittel für betriebliche Beschäftigungsbündnisse I. Begriff Aufgrund der oben beschriebenen tarifrechtlichen Sperrwirkung für Betriebsvereinbarungen gemäß §§ 77 Abs. 3 Satz 1, 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG wird häufig die Regelungsabrede als Gestaltungsmittel für betriebliche Beschäftigungsbündnisse genutzt. Es existiert keine gesetzliche Definition der Regelungsabrede. Als rechtliche Grundlage für Regelungsabreden wird § 77 Abs. 1 BetrVG herangezogen, der Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat vorsieht, die keine Betriebsvereinbarung sind. Regelungsabreden ist begriffsnotwendig gemeinsam, dass sie keine normative, d.h. unmittelbare und zwingende Wirkung auf die Arbeitsverhältnisse haben (dann wären sie Betriebsvereinbarungen), sondern primär nur zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat wirken, allenfalls mit gewissen Reflexwirkungen auf die Arbeitsverhältnisse1. Regelungsabreden erlangen Wirksamkeit für das Arbeitsverhältnis grundsätzlich erst durch einzelvertragliche Umsetzung. Das heißt in der Praxis, dass Inhalte einer Regelungsabrede erst mit Zustimmung des Mitarbeiters für das Arbeitsverhältnis wirksam werden. Die Regelungsabrede unterliegt anders als Betriebsvereinbarungen keinem Schriftformerfordernis2.

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II. Kein Tarifvorbehalt für Regelungsabreden Der wesentliche Unterschied zwischen Betriebsvereinbarungen und Regelungsabreden ist, dass nach der Rechtsprechung des BAG die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG nicht für Regelungsabreden gilt. Regelungsabreden werden, egal welchen Inhalt sie haben, nicht von der Sperrwirkung des

1 ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 127. 2 ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 134.

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Rz. 49

Betriebliche Beschäftigungsbündnisse

§ 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG erfasst1. Dies begründet das BAG zunächst mit dem Wortlaut von § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG, der nur Betriebsvereinbarungen erwähnt. Zum anderen soll die Vorschrift die durch TV geschaffene normative Ordnung vor einer Aushöhlung durch konkurrierende gesetzesgleiche Regelung schützen. Regelungsabreden entfalten jedoch nur obligatorische Wirkung zwischen den Betriebsparteien und können mangels normativer Wirkung die Arbeitsverhältnisse nicht unmittelbar gestalten; sie wirken deshalb nicht als Konkurrenz zum TV2. Regelungsabreden sind daher meist das Gestaltungsmittel für betriebliche Beschäftigungsbündnisse, um einen Konflikt mit dem Tarifrecht zu vermeiden. Denkbar ist auch, dass ein Beschäftigungsbündnis sowohl Bestandteile enthält, die rechtlich durch Betriebsvereinbarung im Einklang mit dem Tarifrecht geregelt werden, während andere Bestandteile des Beschäftigungsbündnisses in einer Regelungsabrede vereinbart werden, der die Mitarbeiter einzelvertraglich zustimmen. Dann ist es eine Frage der Regelungstechnik, ob zwei getrennte Vereinbarungen geschlossen werden, oder ob der gesamte Inhalt des Beschäftigungsbündnisses in einer Vereinbarung niedergelegt wird und durch entsprechende Hervorhebung eindeutig im Text unterschieden wird, bei welchen Punkten es sich um eine Betriebsvereinbarung und bei welchen Punkten es sich um eine zustimmungspflichtige Regelungsabrede handelt.

III. Zustimmungserfordernis der Mitarbeiter 49

Da Regelungsabreden grundsätzlich erst durch einzelvertragliche Vereinbarung zum Inhalt des Arbeitsverhältnisses werden, schließt der Arbeitgeber zur Umsetzung eines betrieblichen Bündnissen wie oben dargestellt zumeist eine Regelungsabrede mit dem Betriebsrat, deren Geltung die Mitarbeiter sodann einzelvertraglich zustimmen. Die optische und inhaltliche Gestaltung der Zustimmungserklärung spielt für das Gelingen eines betrieblichen Bündnisses eine wesentliche Rolle. Die Zustimmungserklärung sollte leicht verständlich und übersichtlich sein. Seitenlange Vertragswerke schrecken die Mitarbeiter ab und verringern die Zustimmungsbereitschaft. Formulierungsbeispiel: Zustimmungserklärung Die Geschäftsführung hat mit dem Betriebsrat unter dem … eine Regelungsabrede zur Beschäftigungssicherung (betriebliches Bündnis) geschlossen. Mit meiner Unterschrift unter dieser Vereinbarung stimme ich zu, dass die Bestimmungen der Regelungsabrede Gegenstand meines Arbeitsvertrages werden. Begründet der Arbeitgeber eine Tarifbindung, treten die Tarifverträge automatisch an die Stelle der Regelungsabrede.

1 BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887. 2 BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887; BAG 21.1.2003 – 1 ABR 9/02, NZA 2003, 1097; Fitting, § 77 BetrVG Rz. 102; a.A.: DKKW/Berg, § 77 BetrVG Rz. 78; Richardi/Richardi, § 77 BetrVG Rz. 230, 293.

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Die Regelungsabrede als Gestaltungsmittel

Rz. 53 Teil 13

Ich stimme somit insbesondere zu, dass mit Wirkung ab dem … folgende Arbeitsbedingungen gelten: (Auflistung der geänderten Arbeitsbedingungen)

IV. AGB-Kontrolle der Regelungsabrede? Fraglich ist, ob Regelungsabreden, die im Rahmen betrieblicher Beschäftigungsbündnisse abgeschlossen werden, der AGB-Kontrolle unterliegen.

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1. Bereichsausnahme des § 310 Abs. 4 BGB Zum 1.1.2002 ist das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz mit den §§ 305 ff. in das BGB integriert worden. § 310 Abs. 4 BGB hat das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen aber nicht im gesamten Arbeitsrecht zur Anwendung gebracht. Gemäß der Bereichsausnahme des § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB finden die §§ 305 ff. BGB auf TVe, Betriebsvereinbarungen und Dienstvereinbarungen keine Anwendung. Somit findet keine Inhaltskontrolle im Sinne einer Angemessenheitskontrolle gemäß §§ 307 ff. BGB statt. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass in diesen „normsetzenden“ Bereich nicht durch eine AGB-Kontrolle eingegriffen werden darf1. Deshalb sind Betriebsvereinbarungen nach dem BAG keiner allgemeinen Billigkeitskontrolle mehr zu unterziehen2. Darüber hinaus regelt § 310 Abs. 4 Satz 3 BGB ausdrücklich den Fall der Einbeziehung kollektiver Regelungen im Einzelarbeitsvertrag. Insoweit gilt ein differenzierter, aber ebenfalls eingeschränkter Kontrollmaßstab, insbesondere in Abhängigkeit davon, ob es sich um eine Globalverweisung, eine Einzelverweisung oder eine Teilverweisung handelt3.

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2. Analoge Anwendung der Bereichsausnahme des § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB auf Regelungsabreden? Fraglich ist, ob die Bereichsausnahme des § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB bzw. die speziellen Regelungen für die einzelvertragliche Einbeziehung von kollektiven Regelungswerken auf Regelungsabreden analog anzuwenden ist. Soweit ersichtlich ist diese Frage bisher höchstrichterlich nicht geklärt. In der Literatur wird diese Frage diskutiert und unterschiedlich beurteilt.

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a) Keine analoge Anwendung des § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB Zum Teil wird eine analoge Anwendung des § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB auf Regelungsabreden abgelehnt. Regelungsabreden seien einer vollen Inhaltskontrolle 1 ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 9, unter Verweis auf BT-Drucks. 14/6857, S. 54. 2 BAG v. 1.2.2006 – 5 AZR 187/05, NZA 2006, 563. 3 Eingehend ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 12 ff.

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Teil 13

Rz. 54

Betriebliche Beschäftigungsbündnisse

gemäß §§ 307 ff. BGB zu unterziehen1. Die Regelungsabrede habe einen niedrigeren Rang im Verhältnis zu einer Betriebsvereinbarung. Sie wirke anders als eine Betriebsvereinbarung nicht unmittelbar und zwingend gemäß § 77 Abs. 4 BetrVG und sei daher mit der Betriebsvereinbarung nicht vergleichbar. Dies zeige sich auch an dem fehlenden Schriftformerfordernis für Regelungsabreden im Unterschied zu Betriebsvereinbarungen.

b) Analoge Anwendung des § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB 54

Lobinger spricht sich dagegen für die analoge Anwendung der Bereichsausnahme für Regelungsabreden aus2. Entscheidend sei nicht, ob eine Regelung normativ oder schuldrechtlich Verbindlichkeit erlangt. Maßgeblich sei vielmehr, wer den Inhalt vereinbart habe. Das BAG rechtfertige die Bereichsausnahme für TVe und Betriebsvereinbarungen maßgeblich damit, dass diese von gleichberechtigten Partnern ausgehandelt würde. Wegen der Gleichgewichtigkeit der Partner sei davon auszugehen, dass bei einer Gesamtbetrachtung der tariflichen Regelungen eine ausgewogene, auch die Arbeitnehmerinteressen berücksichtigende Regelung getroffen werde. Damit korrespondiert eine gegenüber den Arbeitsvertragsparteien weitere Vertragsgestaltungsfreiheit3. Da Regelungsabreden ebenso wie Betriebsvereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat ausgehandelt würden, müsse diese erhöhte Richtigkeitsgewähr und Annahme der Ausgewogenheit auch für Regelungsabreden gelten.

c) Heranziehung der BAG-Rechtsprechung zu kirchlich-diakonischen Arbeitsvertragsregelungen 55

Zur Beantwortung der Frage einer AGB-Kontrolle von Regelungsabreden ist die BAG-Rechtsprechung zur Inhaltskontrolle kirchlich-diakonischer Arbeitsvertragsregelungen aufschlussreich. Auch auf dem Dritten Weg zustande gekommene Arbeitsvertragsregelungen sind in § 310 Abs. 4 BGB nicht erwähnt. Nach aktueller BAG-Rechtsprechung unterliegen kirchlich-diakonische Arbeitsvertragsregelungen ebenso wie Tarifregelungen einer eingeschränkten gerichtlichen Inhaltskontrolle, sofern sie gemäß den einschlägigen Organisations- und Verfahrensvorschriften zustande gekommen sind, von einer paritätisch mit weisungsunabhängigen Mitgliedern besetzten Arbeitsrechtlichen Kommission beschlossen wurden und damit nicht der Arbeitgeberseite zugeordnet werden können4. Sie seien dann nur daraufhin zu untersuchen, ob sie gegen die Verfassung, gegen anderes höherrangiges zwingendes Recht oder die guten Sitten verstießen. Zu diesem Ergebnis kommt das BAG nicht über eine analoge Anwendung der Bereichsausnahmeregelung, sondern aufgrund der nach § 310 Abs. 4 Satz 2 BGB zu berücksichtigenden Besonderheiten im Arbeitsrecht. Als maßgeblichen Grund für die Vergleichbarkeit mit TVen nennt das BAG den Umstand, dass die Arbeitsvertragsregelungen auf dem Dritten 1 2 3 4

DBD/Dorndorf/Deinert, § 310 BGB Rz. 19. Lobinger, FS Reuter, 2010, S. 663 (674 ff.). ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 8. BAG v. 22.7.2010 – 6 AZR 170/08, BB 2011, 186.

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Rz. 57 Teil 13

Weg entstanden sind und von einer paritätisch mit weisungsunabhängigen Mitgliedern besetzten Arbeitsrechtlichen Kommission beschlossen werden. Durch dieses Verfahren werde der Gefahr einer unangemessenen Benachteiligung der Arbeitnehmer ausreichend Rechnung getragen. Damit sei gewährleistet, dass die Arbeitgeberseite nicht einseitig ihre Interessen durchsetzen kann1. Hinsichtlich der Vergütung werde die Gefahr zudem dadurch begrenzt, dass die Arbeitgeberseite kirchenrechtlich auf das Gebot der Lohngerechtigkeit verpflichtet ist2. Zudem sei die Einflussmöglichkeit des einzelnen kirchlichdiakonischen Anstellungsträgers ähnlich begrenzt wie die eines Mitgliedsunternehmens eines Arbeitgeberverbandes beim Abschluss von TVen, sodass die für die Annahme einer einseitigen Leistungsbestimmung erforderliche Durchsetzungsfähigkeit nicht bestehe und damit auch nicht die Gefahr einer unangemessenen Benachteiligung der Arbeitnehmer3. Gemessen an diesen Ausführungen bestehen Bedenken, dass im Streitfall das BAG eine analoge Anwendung des eingeschränkten gerichtlichen Kontrollmaßstabes analog auf Regelungsabreden bejahen würde. Die beschriebene Unabhängigkeit einer Arbeitsrechtlichen Kommission dürfte bei Betriebsräten nicht in gleichem Maß gegeben sein. Betriebsräte sind Arbeitnehmer des Betriebs, dessen Existenz bei der Verhandlung betrieblicher Beschäftigungsbündnisse oftmals gefährdet ist. Sie stehen daher in einem stärkeren Abhängigkeitsverhältnis als Mitglieder einer Arbeitsrechtlichen Kommission.

d) Konsequenzen für die Anwaltspraxis Da Regelungsabreden nicht ausdrücklich in der Bereichsausnahme des § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB erwähnt sind, muss mangels höchstrichterlicher Rechtsprechung zu dieser Frage in der Beratungspraxis einkalkuliert werden, dass die Bereichsausnahme keine Anwendung findet. Maßstab für die anwaltliche Beratung bleibt somit, dass die Regelungsabrede im Rahmen eines betrieblichen Bündnisses im Streitfall einer AGB-Kontrolle gemäß §§ 307 ff. BGB unterliegt.

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V. Zulässigkeit arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklauseln auf ein betriebliches Beschäftigungsbündnis 1. Inhaltskontrolle arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklauseln Wie oben erläutert (s. Rz. 47), erlangen die Bestimmungen der Regelungsabrede grundsätzlich erst durch einzelvertragliche Vereinbarung Wirksamkeit für das Arbeitsverhältnis. Dynamische Bezugnahmeklauseln auf TVe, auf kirchlichdiakonische Arbeitsvertragsregelungen sowie auf einseitig vom Arbeitgeber formulierte allgemeine Arbeitsbedingungen unterliegen der AGB-Kontrolle gemäß §§ 305 ff. BGB4. Der gleiche Prüfungsmaßstab ist für Bezugnahmeklauseln auf Regelungsabreden anzulegen. 1 2 3 4

BAG v. 17.11.2005 – 6 AZR 160/05, NZA 2006, 872. BAG v. 22.7.2010 – 6 AZR 170/08, BB 2011, 186. BAG v. 22.7.2010 – 6 AZR 170/08, BB 2011, 186. ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 80a.

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Rz. 58

Betriebliche Beschäftigungsbündnisse

Bei der Angemessenheitskontrolle ist nach dem BAG nicht auf die durch den Arbeitgeber tatsächlich erfolgten Änderungen abzustellen, sondern auf die Möglichkeiten, die ihm eine Klausel einräumt1. §§ 305 ff. BGB verbiete bereits das Stellen inhaltlich unangemessener Allgemeiner Geschäftsbedingungen, nicht erst den unangemessenen Gebrauch im Einzelfall. Unangemessene Klauseln sind auch dann unwirksam, wenn sie ein Risiko in zu beanstandender Weise regeln, das sich im Streitfall nicht realisiert hat2. Bei der anwaltlichen Beratung ist daher bei der Formulierung der Bezugnahmeklauseln insbesondere das Verbot überraschender Klauseln gemäß § 305c Abs. 1 BGB zu beachten, weiterhin das Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB sowie, ob die Klausel einer Angemessenheitskontrolle nach §§ 308 Nr. 4, 307 BGB standhält.

2. Zulässigkeit einer statischen Bezugnahmeklausel 59

Eine statische Verweisung, d.h. eine Einbeziehung der Regelungsabrede in der Fassung, wie sie mit dem Betriebsrat im Zeitpunkt der Zustimmung vereinbart wurde, dürfte daher an AGB-Maßstäben gemessen wirksam sein. Dies gilt unter der Voraussetzung, dass die Formulierung der Klausel insbesondere dem Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB genügt und nicht überraschend im Sinne des § 305c Abs. 1 BGB für die Mitarbeiter ist. Unter dem Gesichtspunkt der Angemessenheitskontrolle nach §§ 308 Nr. 4, 307 BGB dürfte eine statische Bezugnahme auf eine Regelungsabrede zulässig sein, auch wenn eine ausdrückliche Billigung durch das BAG bisher fehlt. Bei nichttarifgebundenen Arbeitgebern kann es zusätzlich sinnvoll sein, in der Zustimmungserklärung auch eine Regelung aufzunehmen, was im Falle einer späteren Tarifbindung des Arbeitgebers gelten soll. Dies vermeidet spätere Unsicherheiten.

3. Zulässigkeit einer dynamischen Bezugnahmeklausel 60

Unternehmen äußern gegenüber ihrem anwaltlichen Berater teilweise den Wunsch, die einzelvertragliche Zustimmung der Mitarbeiter zu dem betrieblichen Bündnis so zu gestalten, dass etwaige künftige Änderungen der Regelungsabrede automatisch von der Zustimmung des Mitarbeiters erfasst werden. Die Bezugnahmeklausel auf das betriebliche Regelungswerk soll somit als dynamische Verweisungsklausel ausgestaltet werden. Fraglich ist die rechtliche Zulässigkeit solcher dynamischer Bezugnahmeklauseln (auch Jeweiligkeitsklausel genannt), insbesondere unter AGB-Gesichtspunkten. Denn der Mitarbeiter erklärt sich mit Regelungen pauschal einverstanden, deren Inhalt er zum Zeitpunkt der Zustimmung noch nicht kennt. Soweit ersichtlich, hat das BAG sich zu dynamischen Bezugnahmeklauseln auf Regelungsabreden bisher nicht geäußert. Es ist daher auf die Urteile des BAG zu dynamischen Bezugnahmeklauseln auf andere kollektive Regelungswerke sowie auf einseitig vom Arbeitgeber aufgestellte Regelungen zurückzugreifen.

1 BAG v. 11.2.2009 – 10 AZR 222/08, NZA 2009, 428. 2 BAG v. 22.7.2010 – 6 AZR 170/08, BB 2011, 186.

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Rz. 62 Teil 13

a) Dynamische Bezugnahmeklausel auf TVe Dynamische arbeitsvertragliche Verweisungen auf TVe in der jeweils gültigen Fassung hat die höchstrichterliche Rechtsprechung unter bestimmten Voraussetzungen für AGB-konform erklärt1. Eine dynamische Verweisung auf das jeweils gültige Tarifrecht ist nach dem BAG weder überraschend noch intransparent. Dabei sei als gesetzliche Wertung zu berücksichtigen, dass Bezugnahmen auf TVe im tarifdispositiven Gesetzesrecht als allgemeines zulässiges Instrument zur Regelung der Arbeitsbedingungen vorausgesetzt werden. Dies werde unter anderem aus § 622 Abs. 4 Satz 2 BGB, § 13 Abs. 1 Satz 2 BUrlG, § 7 Abs. 3 ArbZG, § 4 Abs. 4 Satz 2 EFZG, § 14 Abs. 2 Satz 4 TzBfG sowie § 9 Nr. 2 AÜG deutlich. Die dynamische Ausgestaltung, die die Dynamik des Arbeitsverhältnisses abbildet, führe nicht zur Intransparenz, weil die im jeweiligen Anwendungszeitpunkt geltenden Regelungen bestimmbar seien2. TVe seien dazu bestimmt, einen tatsächlichen Machtausgleich zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu schaffen. Sie böten daher eine materielle Richtigkeitsgewähr. Im Normalfall werden ihre Regelungen den Interessen beider Seiten gerecht und vermitteln keiner Seite ein unzumutbares Übergewicht. Die Angemessenheit einer dynamischen Bezugnahmeklausel wird nach dem BAG jedenfalls dann, wenn auf die fachlich einschlägigen TVe verwiesen wird, für die inhaltsgleiche Übernahme tariflicher Bestimmungen in den Arbeitsvertrag durch die Bezugnahmeklausel vermutet3.

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b) Dynamische Bezugnahmeklausel auf eine einseitig vom Arbeitgeber aufgestellte Arbeitsordnung Dagegen hat der 10. Senat des BAG eine dynamische Bezugnahmeklausel auf einseitig vom Arbeitgeber vorgegebene Regelungen für als im Sinne von §§ 308 Nr. 4, 307 BGB unangemessen und damit für insgesamt unwirksam befunden4. Die automatische Änderung von vertraglichen Leistungspflichten aufgrund der Änderung eines externen Regelungswerks laufe dem Grundsatz „pacta sunt servanda“ zuwider. Vom Arbeitgeber vorformulierte, auf allgemeine Arbeitsbedingungen verweisende Jeweiligkeitsklauseln unterliegen daher nach dem BAG den strengen Anforderungen der Änderungsvorbehalte. Daher müsse für die Änderung ein triftiger Grund vorliegen und dieser müsse in der Änderungsklausel bereits beschrieben sein. Das Widerrufsrecht müsse wegen der unsicheren Entwicklung der Verhältnisse als Instrument der Anpassung notwendig sein. Im fraglichen Fall waren nahezu alle Bedingungen des Arbeitsverhältnisses von einer möglichen Änderung betroffen, und die hierfür genannten Gründe erkannte das BAG nicht als ausreichend an. Nach den Ausführungen des BAG dürfte es in der Praxis auch schwer sein, Gründe zu formulieren, die eine weitgehende einseitige Abänderung der Arbeitsbedingungen gestatten. 1 BAG v. 24.9.2008 – 6 AZR 76/07, NZA 2009, 154; BAG v. 19.5.2009 – 9 AZR 145/08, NZA 2010, 176. 2 BAG v. 24.9.2008 – 6 AZR 76/07, NZA 2009, 154; BAG v. 3.4.2007 – 9 AZR 283/06, NZA-RR 2008, 504; BAG v. 15.4.2008 – 9 AZR 159/07, NZA-RR 2008, 586. 3 BAG v. 24.9.2008 – 6 AZR 76/07, NZA 2009, 154. 4 BAG v. 11.2.2009 – 10 AZR 222/08, NZA 2009, 428; ebenso BAG v. 22.7.2010 – 6 AZR 170/08, BB 2011, 186.

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Teil 13

Rz. 63

Betriebliche Beschäftigungsbündnisse

Dynamische Bezugnahmeklauseln auf einseitig vom Arbeitgeber vorgegebene Regelungen dürften daher im Regelfall unzulässig sein.

c) Dynamische Bezugnahmeklausel auf kirchlich-diakonische Arbeitsvertragsregelungen 63

Dynamische Bezugnahmen auf kirchlich-diakonische Arbeitsvertragsregelungen hat der 6. Senat des BAG für zulässig befunden1. Sie hielten einer Vertragskontrolle nach §§ 305 ff. BGB stand. Bei der Inhaltskontrolle sei als nach § 310 Abs. 4 Satz 2 BGB im Arbeitsrecht zu berücksichtigende Besonderheit zu würdigen, dass kirchliche Arbeitsvertragsregelungen auf dem Dritten Weg entstehen und von einer paritätisch besetzten Arbeitsrechtlichen Kommission beschlossen werden2. Die Änderungen der Arbeitsbedingungen erfolgten daher nicht einseitig durch den Dienstgeber, sondern durch eine paritätisch besetzte Arbeitsrechtliche Kommission. Zudem seien die Mitglieder der Arbeitsrechtlichen Kommission weisungsunabhängig. Ein so eingeschränkter Änderungsund Ergänzungsvorbehalt stelle keine unangemessene Benachteiligung im Sinne von § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB dar.

d) Übertragung der Grundsätze der BAG-Rechtsprechung zu dynamischen Bezugnahmeklauseln auf Regelungsabreden 64

Wie oben erwähnt (Rz. 60 ff.), steht eine ausdrückliche Entscheidung des BAG zur Rechtswirksamkeit einer Jeweiligkeitsklausel bezogen auf eine Regelungsabrede noch aus. Die Regelungsabrede ist im Vergleich zu den oben beschriebenen Regelungswerken ein „Zwischending“. Es handelt sich weder um ein einseitig vom Arbeitgeber vorgesehenes Vertragswerk noch um eine normativ geltende Regelung, wie dies bei TVen und Betriebsvereinbarungen der Fall ist. Stellt man die Regelungsabrede mangels ihres normativen Charakters der einzelvertraglich vom Arbeitgeber aufgestellten Arbeitsordnung gleich, so spricht dies für die Unzulässigkeit einer dynamischen Verweisungsklausel. Hält man dagegen den Umstand für maßgeblich, dass Regelungsabreden ebenso wie TVe von gleichberechtigten Partnern ausgehandelt werden, ist es näherliegend, von einer Richtigkeitsgewähr und somit von einer Ausgeglichenheit der Regelungen auszugehen. Dies spricht für die Zulässigkeit von Jeweiligkeitsklauseln. Allerdings ist fraglich, ob gerade bei dem Abschluss betrieblicher Beschäftigungsbündnisse von einer echten Gleichberechtigung der Parteien ausgegangen werden kann. In den Entscheidungen des BAG zur wirksamen Einbeziehung kirchlicher Arbeitsrechtsregelungen in den Arbeitsvertrag3 wird deutlich, dass die Weisungsunabhängigkeit und Gleichberechtigung der Parteien als wesentlich angesehen wird. Eine Gleichberechtigung kann bei Betriebsvereinbarungen, die im Rahmen der zwingenden Mitbestimmung ergehen, wohl angenommen werden. In Regelungsabreden zu Beschäftigungsbündnissen werden aber typischerweise Fragen geregelt, die nach der Wertentscheidung des Art. 9 Abs. 3 GG der Regelungsmacht der Betriebsparteien entzogen sind. Hinter1 BAG v. 22.7.2010 – 6 AZR 170/08, BB 2011, 186. 2 BAG v. 19.11.2009 – 6 AZR 561/08, NZA 2010, 583. 3 Vgl. insbesondere BAG v. 22.7.2010 – 6 AZR 170/08, BB 2011, 186.

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Unterlassungsanspruch der Gewerkschaft

Rz. 67 Teil 13

grund dafür, dass der Gesetzgeber gemäß Art. 9 Abs. 3 GG sowie den Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG die Regelungsmacht für Arbeitsentgelt und Arbeitsbedingungen grundsätzlich den Tarifparteien zugewiesen hat, war die Befürchtung, dass die Betriebsräte als Arbeitnehmer des Betriebs in einer persönlichen Abhängigkeit zum Unternehmen stehen und somit ein größeres Risiko als bei Gewerkschaftsvertretern besteht, dass sie vom Arbeitgeber unter Druck gesetzt und zu Zugeständnissen gedrängt werden, die sie als Nicht-Betriebsangehörige nicht so getätigt hätten. Diese Gefahr besteht in erhöhtem Maße bei Beschäftigungsbündnissen zur Überwindung von Krisensituationen. Denn die Betriebsräte sind als Arbeitnehmer des Betriebs ggf. selbst akut von einer möglichen Betriebsschließung betroffen. Das gefährdet ihre Unabhängigkeit und birgt das Risiko, dass sie aufgrund drohender persönlicher Nachteile nicht als gleichberechtigte Verhandlungspartner agieren.

e) Konsequenzen für die Anwaltspraxis Aus den dargelegten Gründen sprechen gute Gründe dafür, dass dynamische Bezugnahmeklauseln auf Regelungsabreden im Streitfall von den Arbeitsgerichten als unangemessen und damit als unwirksam angesehen werden, wenn nicht die strengen, für Widerrufsvorbehalte geltenden Wirksamkeitsvoraussetzungen ausnahmsweise vorliegen.

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In der Praxis kann es trotz der Wirksamkeitsbedenken aus Unternehmersicht vorzugswürdig sein, sich in Kenntnis des bestehenden Rechtsrisikos für eine dynamische Bezugnahmeklausel auf die Regelungsabrede zu entscheiden. Denn praktische Konsequenz wäre im „worst case“, dass etwaige Änderungen der Regelungsabrede nicht für die Mitarbeiter wirksam würden und die Regelungsabrede in der ursprünglich vereinbarten Fassung anwendbar bliebe1. Allerdings ist aus Arbeitgebersicht zu bedenken, dass eine dynamische Verweisungsklausel auf die Arbeitnehmer abschreckend wirken könnte und damit die Akzeptanz des betrieblichen Bündnisses gefährdet. Hier ist das Interesse des Arbeitgebers an einer dynamischen Verweisung abzuwägen mit der möglichen Abschreckungswirkung auf die Arbeitnehmer.

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E. Unterlassungsanspruch der Gewerkschaft gegen betriebliche Bündnisse I. Unterlassungsanspruch gegen tarifwidrige Betriebsvereinbarungen 1. Unterlassungsanspruch nach § 23 Abs. 3 BetrVG i.V.m. § 77 BetrVG Verstößt eine Betriebsvereinbarung gegen den Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 BetrVG, so hat das BAG mehrfach einen gewerkschaftlichen Anspruch auf Un1 BAG v. 11.2.2009 – 10 AZR 222/08, NZA 2009, 428.

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Teil 13

Rz. 68

Betriebliche Beschäftigungsbündnisse

terlassung gemäß § 23 Abs. 3 BetrVG i.V.m. § 77 BetrVG grundsätzlich bejaht. Allerdings muss es sich im Einzelfall um einen groben Verstoß handeln. Dabei hat das BAG § 23 Abs. 3 BetrVG als Grundnorm der betriebsverfassungsrechtlichen Ordnung angesehen, deren Beachtung § 23 Abs. 1 und § 23 Abs. 3 BetrVG gewährleisten sollen1. Im später ergangenen Burda-Beschluss zweifelt das BAG einen Unterlassungsanspruch aus § 23 Abs. 3 BetrVG jedoch an. Es sei zweifelhaft, ob § 23 Abs. 1 und 3 BetrVG überhaupt als Vorkehrungen zur Abwehr von Verstößen gegen § 77 Abs. 3 BetrVG gedacht seien2. Das BAG hat die Frage in der genannten Entscheidung nicht beantwortet.

2. Unterlassungsanspruch aus Art. 9 Abs. 3 GG i.V.m. §§ 823, 1004 BGB 68

Auch wenn die Voraussetzungen des Unterlassungsanspruchs gemäß § 23 Abs. 3 BetrVG i.V.m. § 77 BetrVG nicht vorliegen, steht der Gewerkschaft gegen tarifwidrige Betriebsvereinbarungen unabhängig davon ggf. ein Unterlassungsanspruch gemäß Art. 9 Abs. 3 GG i.V.m. §§ 823, 1004 BGB aufgrund eines unzulässigen Eingriffs in die Koalitionsfreiheit der Gewerkschaft zu3. § 23 Abs. 3 BetrVG verdrängt §§ 1004, 823 BGB nach dem BAG nicht im Wege des Spezialitätsverhältnisses4. Das BAG begründet den Unterlassungsanspruch gemäß §§ 1004, 823 BGB im Wesentlichen damit, dass die von Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Regelungsbefugnis nicht erst dann beeinträchtigt werde, wenn eine Koalition daran gehindert werde, Tarifrecht zu schaffen. Eine Behinderung der Koalitionsfreiheit liegt nach dem BAG auch in Abreden oder Maßnahmen, die darauf gerichtet sind, die Wirkung eines TVes zu vereiteln oder leerlaufen zu lassen. Das sei der Fall bei betrieblichen Regelungen, die einheitlich wirken und an die Stelle der Tarifnorm treten sollen. Bei tarifnormwidrigen Betriebsvereinbarungen sei dies im Zweifel anzunehmen5. Der Unterlassungsanspruch ist darauf gerichtet, dass der Arbeitgeber die Durchführung der tarifwidrigen betrieblichen Regelung unterlässt6. Nicht ganz eindeutig beantwortet das BAG im Burda-Beschluss die Frage, ob der Unterlassungsanspruch nur bei Tarifbindung des Arbeitgebers besteht oder auch bei fehlender Tarifbindung im Falle eines Verstoßes gegen § 77 Abs. 3 BetrVG aufgrund Tarifüblichkeit. Gegen einen Unterlassungsanspruch in diesem Fall spricht, dass das BAG ausführt, dass geltendes Tarifrecht nur verdrängt werde, wenn der betreffende TV im Anwendungsbereich der fraglichen betrieblichen Regelung normativ gelte, da andernfalls kein Geltungsanspruch des TVes bestehe7.

1 BAG v. 22.6.1993 – 1 ABR 62/92, NZA 1994, 234; BAG v. 20.8.1991 – 1 ABR 85/90, NZA 1992, 317; zustimmend: DDKW/Trittin, § 23 BetrVG Rz. 84; Fitting, § 23 BetrVG Rz. 60; GK-BetrVG/Wiese/Oetker, § 23 Rz. 184. 2 BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887. 3 BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887. 4 BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887. 5 BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887. 6 So auch Bauer/Haußmann, NZA-Beil. 2000, 42 (46 f.). 7 BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887 (unter II 2b bb a.E.).

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Unterlassungsanspruch der Gewerkschaft

Rz. 70 Teil 13

II. Unterlassungsanspruch gegen Regelungsabreden 1. Unterlassungsanspruch nach § 23 Abs. 3 BetrVG i.V.m. § 77 BetrVG Gemäß § 23 Abs. 3 BetrVG hat eine im Betrieb vertretene Gewerkschaft eine Anspruch auf Unterlassung gegenüber dem Arbeitgeber, wenn er gegen seine Verpflichtungen aus dem Tarifvertragsgesetz grob verstößt. Das BAG hat im Burda-Beschluss1 einen Unterlassungsanspruch gemäß § 23 Abs. 3 BetrVG i.V.m. § 77 BetrVG bei Regelungsabreden verneint. Dies entspricht sowohl der bisher herrschenden Meinung2 als auch dem klaren Wortlaut, Sinn und Zweck des § 77 Abs. 3 BetrVG. Die Norm soll die Normsetzungsprärogative der TVParteien sichern3. Diese kann jedoch nur durch zwingende Regelungen gefährdet werden. Die Regelungsabrede verfügt wie oben beschrieben gerade nicht über eine normative Wirkung, sodass die Normsetzungsprärogative nicht geschützt werden muss. Auch vertragliche Einheitsregelungen entfalten keine normative Wirkung.

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2. Unterlassungsanspruch aus Art. 9 Abs. 3 GG i.V.m. §§ 823, 1004 BGB (Burda-Beschluss und Folgeentscheidungen) Das BAG hat im Burda-Beschluss einen gewerkschaftlichen Unterlassungsanspruch nach Art. 9 Abs. 3 i.V.m. §§ 823, 1004 BGB auch bei tarifwidrigen Regelungsabreden und vertraglichen Einheitsregelungen grundsätzlich anerkannt4. Mit dem Unterlassungsanspruch können Gewerkschaften – und wohl auch Arbeitgeberverbände – die Nichtanwendung tarifwidriger Reglungsabreden unter weitergehenden Voraussetzungen verlangen, wenn der Arbeitgeber tarifgebunden ist. Damit hat das BAG den Gestaltungsspielraum für betriebliche Beschäftigungsbündnisse neu definiert. Vor dem Burda-Beschluss vom 20.4.1999 wurde ein Unterlassungsanspruch der Gewerkschaften auf Basis einer Verletzung des Art. 9 Abs. 3 GG von den Gerichten nicht anerkannt5. Der Antrag ist im Beschlussverfahren geltend zu machen6. In Eilfällen kann die Gewerkschaft im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes den Erlass einer Regelungsverfügung nach § 940 ZPO beantragen7. Allerdings besteht kein An-

1 Vgl. BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887. 2 Vgl. GK-BetrVG/Kreutz, § 77 Rz. 114; Reichold, ZfA 1998, 237 (257); Walker, FS Wiese, 1998, S. 603 (606 f.). 3 Vgl. BVerfG v. 29.6.1993 – 1 BvR 1916/91, NZA 1994, 34. 4 Vgl. BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887; bestätigt durch BAG v. 19.3.2003 – 4 AZR 271/02, NZA 2003, 1221; BAG 17.5.2011 – 1 AZR 473/09, NZA 2011, 1169; zustimmend: Däubler, AiB 1999, 481; Wohlfarth, NZA 1999, 962 (962 ff.); Berg/Platow, DB 1999, 2362; kritisch: Bauer, NZA 1999, 957 (957 ff.); Hromadka, ZTR 2000, 253 (253 ff.); Trappehl/Lambrich, NJW 1999, 3217 (3217 ff.); Buchner, NZA 1999, 897 (897 ff.); Löwisch, BB 1999, 2080 (2080 ff.); Thüsing, DB 1999, 1552 (1552 ff.); Rieble, ZTR 1999, 483 (483 ff.); Richardi, DB 2000, 42. 5 BAG v. 28.8.1991 – 1 ABR 85/90, NZA 1992, 317; ebenso Oetker, SAE 1992, 158 (162); Walker, FS Wiese, 1998, S. 603 (613 f.). 6 So auch: Moll, FS Bepler, S. 425 (429). 7 BAG 17.5.2011 – 1 AZR 473/09, NZA 2011, 1169.

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Rz. 71

Betriebliche Beschäftigungsbündnisse

spruch der Gewerkschaft auf Nachzahlung der tariflichen Leistungen an die Gewerkschaftsmitglieder1. 71

Der gewerkschaftliche Unterlassungsanspruch besteht nach dem Burda-Beschluss bei Regelungsabreden unter folgenden Voraussetzungen:

a) Betriebseinheitliche Regelungen mit kollektivem Charakter 72

Der Unterlassungsanspruch bezieht sich nur auf betriebseinheitliche Regelungen mit kollektivem Charakter, die den Arbeitgeber an der Durchführung der tariflichen Vereinbarungen hindern sollen. Der den Unterlassungsanspruch begründende Eingriff in die Tarifautonomie folgt bei Regelungsabreden und vertraglichen Einheitsregelungen nach dem BAG ebenso wie bei Betriebsvereinbarungen daraus, dass diese faktisch geeignet seien, auf Grund ihres erklärten Geltungsanspruchs an die Stelle der tariflichen Regelungen zu treten. Aufgrund dessen seien die Regelungen in der Lage, die Tarifnorm als kollektive Ordnung zu verdrängen und ihrer zentralen Funktion zu berauben. Der Unterlassungsanspruch erfasst somit: – Individualabreden, die auf einer Regelungsabrede zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat basieren – Vertragsangebote seitens des Arbeitgebers, wenn sie vom Betriebsrat ausdrücklich unterstützt werden2.

b) Tarifbindung auf Arbeitgeberseite 73

Von einer Verdrängung geltenden Tarifrechts kann nach dem BAG nur gesprochen werden, wenn der betreffende TV im Anwendungsbereich der fraglichen betrieblichen Regelung normativ gelte. Bei fehlender Tarifbindung bestehe kein Geltungsanspruch des TVes und der Arbeitgeber sei frei, mit seinen Arbeitnehmern untertarifliche Arbeitsbedingungen zu vereinbaren3.

c) Tarifbindung auf Arbeitnehmerseite 74

Weitere Voraussetzung ist die Tarifbindung auf Arbeitnehmerseite. Nach dem BAG kann die Gewerkschaft grundsätzlich nicht verlangen, dass der Arbeitgeber den Vollzug einer tarifwidrigen betrieblichen Regelung auch hinsichtlich der Tarifaußenseiter unterlässt. Ausnahmsweise bejaht das BAG einen Unterlassungsanspruch auch hinsichtlich der Tarifaußenseiter, und zwar dann, wenn der Arbeitgeber nach seiner Zielvorgabe seine Vereinbarungen unabhängig von der Tarifgebundenheit auf die gesamte Belegschaft bzw. auf Teile der Belegschaft erstrecken will. In diesem Fall könne die angegriffene Regelung nur für alle betroffenen Arbeitnehmer oder gar nicht Bestand haben4. Dieser praktisch bedeutsame Fall führt dazu, dass bei Tarifbindung Beschäftigungs1 2 3 4

BAG 17.5.2011 – 1 AZR 473/09, NZA 2011, 1169. Vgl. BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887. BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887. BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887.

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bündnisse allenfalls dann zulässig sind, wenn sie ausdrücklich auf die Tarifaußenseiter beschränkt werden.

d) Anforderungen an den Antrag der Gewerkschaft In der weiteren Entscheidung vom 19.3.2003 hat das BAG die Anforderungen an den Antrag der Gewerkschaft näher definiert1. Das BAG verlangt, um den Unterlassungsanspruch hinreichend bestimmt werden zu lassen (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO), dass die Gewerkschaft die Namen der tarifgebundenen Arbeitnehmer nennt. In der späteren Entscheidung vom 17.5.20112 hat das BAG hierzu klargestellt, dass die namentliche Nennung der Gewerkschaftsmitglieder nur erforderlich ist, wenn der Unterlassungsantrag auf diese begrenzt ist.

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e) Kritik an der Rechtsprechung des BAG Für Kritiker der BAG-Rechtsprechung erscheint fraglich, ob die Normsetzungsbefugnis der TV-Parteien durch tarifwidrige Vereinbarungen tatsächlich beeinträchtigt wird. Bei beidseitiger Tarifbindung von Arbeitgeber und Arbeitnehmer komme eine untertarifliche Abmachung schon deshalb nicht zur Geltung, da sie für den Arbeitnehmer nicht gemäß § 4 Abs. 3 TVG günstiger ist. Der Arbeitnehmer kann also weiterhin seine Rechte aus dem TV einklagen. Auch ein Verzicht auf die tariflichen Rechte ist gemäß § 4 Abs. 4 TVG ohne Zustimmung beider TV-Parteien nicht zulässig. Die Normsetzungsbefugnis der Gewerkschaft könne somit rechtlich gar nicht unterlaufen werden.

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f) Bedeutung für die Praxis Die Burda-Entscheidung hat den Spielraum für Beschäftigungsbündnisse bei tarifgebundenen Arbeitgebern eingeengt. Nach dem BAG-Beschluss ist für die Beratungspraxis davon auszugehen, dass betriebliche Beschäftigungsbündnisse bei tarifgebundenen Arbeitgebern praktisch nur noch im Wege einer Regelungsabrede möglich sind, die sich ausdrücklich auf die nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer beschränkt.

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F. Inhaltliche Gestaltung eines betrieblichen Beschäftigungsbündnisses I. Typische Beiträge der Arbeitnehmer Üblicherweise strebt das Unternehmen an, in betrieblichen Beschäftigungsbündnissen Personalkosteneinsparungen zu erzielen, indem die Arbeitnehmer auf einen Teil ihrer Vergütung verzichten.

1 BAG v. 19.3.2003 – 4 AZR 271/02, NZA 2003, 1221. 2 BAG v. 17.5.2011 – 1 AZR 473/09, NZA 2011, 1169.

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Rz. 79

Betriebliche Beschäftigungsbündnisse

1. Typische Einsparpotenziale 79

Nachfolgend sind typische Einsparpotentiale in der Praxis aufgelistet: – Erhöhung der Wochenarbeitszeit um x Stunden pro Woche ohne Vergütungsausgleich – Aussetzung von Gehaltserhöhungen für die nächsten x Jahre – Kürzung von Urlaubstagen – Aussetzung von Gehaltsrunden bzw. Koppelung von Vergütungserhöhungen an die wirtschaftliche Situation (Faktoren sind z.B.: Betriebsergebnis, Entwicklung der Personalkosten im Verhältnis zu den Einnahmen, allgemeine Gehaltsentwicklung im Sektor, Arbeitsmarktentwicklung im Sektor hinsichtlich der Beschaffung von Fachkräften, Entwicklung der Inflationsrate) – Koppelung von Weihnachtsgeld/Urlaubsgeld an die wirtschaftliche Situation bzw. an den Unternehmenserfolg – Flexibilisierung der Arbeitszeit – Entfall oder Kürzung von Zuschlägen für Mehrarbeit, Sonntagsarbeit, Feiertagsarbeit – Absenkung der Entgelttabellen bzw. Spreizung der bestehenden Tabellen durch zusätzliche Stufen, sodass Lohnsteigerungen langsamer erfolgen – Flexible Regelungen zur vorübergehenden Absenkung der Personalkosten um bis zu x % im Falle einer wirtschaftlichen Notlage – Kürzung von etwaigen freiwilligen (übertariflichen) Zulagen und Einstellung von freiwilligen Zahlungen – Kürzung einer Erfolgsbeteiligung, soweit vorhanden.

2. Bewertung der Einsparpotentiale 80

Zunächst sind die Einsparpotentiale finanziell zu bewerten. Neben der finanziellen Bewertung ist in der Praxis auch die strategische Bewertung der ermittelten Einsparpotenziale von hoher Bedeutung. Das finanzielle Volumen einer Leistung entspricht oftmals nicht der emotionalen Bedeutung. So mögen Jubiläumszahlungen für langjährige Betriebszugehörigkeit ein im Vergleich zu anderen freiwilligen Sonderzahlungen geringes finanzielles Volumen ausmachen. Die Negativwirkung auf die Motivation der Mitarbeiter kann aber bei Streichung solcher Jubiläumszahlungen deutlich höher sein als bei Wegfall zahlenmäßig höherer Leistungen. Der Anwalt sollte zudem die besondere Interessenlage in dem jeweiligen Unternehmen bei seinen Ansprechpartnern erfragen. Weiterhin sind solche Einsparungen für die Arbeitnehmer besonders schmerzlich, bei denen das monatliche Einkommen verringert wird, z.B. bei einer vorübergehenden Absenkung der Lohntabellen um x %. Denn die meisten Arbeitnehmer haben die monatlichen Gehaltszahlungen fest eingeplant und benötigen diese, um ihre laufenden Kosten zu decken. Daher kann es erfolgver-

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Rz. 83 Teil 13

sprechender sein, z.B. eine höhere Arbeitszeit ohne Vergütungsausgleich durchzusetzen als eine Kürzung des laufenden Entgelts bei unveränderten Wochenstunden. Es ist daher in enger Zusammenarbeit mit den Unternehmensverantwortlichen auszuloten und abzuschätzen, welche Einsparpositionen sich voraussichtlich in den Verhandlungen mit dem Betriebsrat durchsetzen lassen und welche Einbußen die Belegschaft voraussichtlich nicht akzeptieren wird.

3. Besserungsscheinregelungen Häufig werden sogenannte Besserungsscheinregelungen vereinbart. Der Begriff kommt aus dem Finanzbereich. Ein Unternehmen, das vor der Insolvenz steht, kann Papiere ausgeben, die den Gläubigern einen finanziellen Ausgleich für erlittene Verluste für den Fall der Besserung der Vermögenslage verspricht. Dieses Modell wird häufig in betrieblichen Bündnissen und SanierungsTVen genutzt. Wenn die Arbeitnehmer im Zuge des betrieblichen Beschäftigungsbündnisses finanzielle Einbußen akzeptieren, wird ihnen zugesagt, dass sie im Falle einer doch notwendig werdenden betriebsbedingten Kündigung die Einbußen wieder zurückerstattet bekommen. Da sich für diese Arbeitnehmer der Einsatz nicht gelohnt hat, empfinden es die Parteien betrieblicher Bündnisse häufig als gerecht, ihnen im Gegenzug auch die eingebrachten Leistungen bzw. einen Teil davon wieder zurückzugewähren. Es sind unterschiedliche Gestaltungsvarianten denkbar. Eine Besserungsscheinregelung kann z.B. so gestaltet werden, dass die Rückerstattungspflicht auf einen bestimmten Zeitraum begrenzt wird, z.B. eine Rückerstattung der eingebrachten Leistungen in den letzten 18 Monaten vor dem Ausscheiden.

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II. Typische Gegenleistungen des Unternehmens Übliche Gegenleistungen des Unternehmens für die vereinbarten Personalkosteneinsparungen sind Zugeständnisse, die im weitesten Sinne zur Sicherung der Arbeitsplätze beitragen. Nachfolgend werden Zusicherungen beschrieben, die sich typischerweise in Beschäftigungsbündnissen finden.

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Ü Hinweis für die Beratungspraxis: Das Unternehmen muss den Balanceakt meistern, für die Mitarbeiter Zugeständnisse mit einem echten Mehrwert zu vereinbaren, sich aber nicht so weitgehend rechtlich zu binden, dass die unternehmerische Handlungsfähigkeit gefährdet wird.

1. Beschäftigungssicherungszusagen Häufigste Gegenleistung des Unternehmens für gewisse Zugeständnisses der Arbeitnehmer sind Beschäftigungssicherungszusagen. Dabei verpflichtet sich das Unternehmen zumeist, während der Laufzeit des betrieblichen Beschäftigungsbündnisses keine Entlassungen aus betriebsbedingten Gründen vorzunehmen. In der Praxis sind insbesondere folgende Gestaltungsfragen von Bedeutung: Werner

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Teil 13

Rz. 84

Betriebliche Beschäftigungsbündnisse

a) Eindeutigkeit der Formulierung 84

In der Formulierung sollte klar zum Ausdruck kommen, dass das Verbot nur Kündigungen aus betriebsbedingten Gründen erfasst, während Kündigungen aus personenbedingten oder verhaltensbedingten Gründen weiterhin zulässig sind. Auch zwischen einem „Kündigungsverbot“ und einem „Entlassungsverbot“ kann ein rechtlicher Unterschied bestehen. Ein Kündigungsverbot untersagt zweifellos den Ausspruch einer Kündigung. Dagegen kann als Entlassung ggf. auch der Zeitpunkt der rechtlichen Beendigung verstanden werden.

b) Umfang der Beschäftigungssicherung 85

Beschäftigungssicherungsklauseln sind von ihrer Reichweite her sehr unterschiedlich ausgestaltet. Sie reichen von bloßen Absichtserklärungen ohne rechtliche Verpflichtung bis zu „harten“ Kündigungsverboten ohne Ausnahme.

aa) „Harte“ Beschäftigungssicherung ohne Ausstiegsmöglichkeit Formulierungsbeispiel 1: Während der Laufzeit des betrieblichen Beschäftigungsbündnisses sind betriebsbedingte Beendigungskündigungen ausgeschlossen.

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Das Formulierungsbeispiel 1 enthält eine „harte“ Beschäftigungssicherung ohne Ausstiegsmöglichkeit. Aus Arbeitgebersicht ist bei solchen Formulierungen Vorsicht geboten. In der Praxis verbleibt als letzter Rettungsanker für die Arbeitgeberseite ggf. nur die sog. „Orlando-Kündigung“, sollten betriebsbedingte Kündigungen trotz des Verbotes dennoch erforderlich werden1. Die Orlando-Kündigung bezeichnet die außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist eines ordentlich unkündbaren Arbeitnehmers, die nur in sehr engen Grenzen zulässig ist.

bb) Beschäftigungssicherung mit Ausnahmen Formulierungsbeispiel 2: Während der Laufzeit des betrieblichen Beschäftigungsbündnisses wird das Unternehmen grundsätzlich keine Entlassungen aufgrund betriebsbedingter Beendigungskündigungen vornehmen. Diese Zusicherung gilt, sofern dem nicht wirtschaftliche Gründe entgegenstehen. Wirtschaftliche Gründe liegen insbesondere vor, wenn der Umsatz in einem Monat mehr als x % hinter dem Umsatzforecast zurückbleibt. 1 „Orlando“ nach der gleichnamigen Figur in Virginia Woolfs Roman Orlando. Der Begriff geht zurück auf den ehemaligen Richter am Bundesarbeitsgericht Knut-Dietrich Bröhl.

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Rz. 91 Teil 13

Aus Arbeitgebersicht ist es in der Regel vorzugswürdig, Beschäftigungssicherungen mit Ausstiegsmöglichkeit zu vereinbaren, d.h. Ausnahmen von der Beschäftigungssicherung für bestimmte Fälle zuzulassen, wie in Formulierungsbeispiel 2.

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Ist der Betriebsrat bereit, solche Ausnahmen mitzutragen, empfiehlt sich eine möglichst eindeutige Benennung der Ausnahmefälle. Pauschale Ausnahmen von Kündigungsverboten „aus wirtschaftlichen Gründen“ oder „wenn sich die wirtschaftliche Situation weiter verschlechtert“ ohne nähere Erläuterung dieser Gründe bergen das Risiko von späteren Auslegungsstreitigkeiten und bedeuten für beide Seiten Rechtsunsicherheit. Sie sind daher grundsätzlich nicht zu empfehlen.

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cc) Zusicherung einer Personaldecke Formulierungsbeispiel 3: Das Unternehmen verpflichtet sich, während der Laufzeit des betrieblichen Beschäftigungsbündnisses die Anzahl der Arbeitnehmer nicht unter 567 Köpfe sinken zu lassen.

Teilweise werden Beschäftigungssicherungen in Form einer Zusage des Aufrechterhaltens einer bestimmten Personaldecke vereinbart, wie in Formulierungsbeispiel 3.

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Zumindest in dieser Pauschalität sind solche Kopfzahlzusagen nicht zu empfehlen. Bei der Anwendung entstehen regelmäßig Unsicherheiten, die insbesondere für die Arbeitgeberseite zu erheblicher Rechtsunsicherheit führen. So kommt regelmäßig die Frage auf, ob eine Pflicht zum „Auffüllen“ d.h. zum Einstellen von Mitarbeitern bestehe, wenn die vereinbarte Kopfzahl aus anderen als betriebsbedingten Gründen unterschritten wird, z.B. durch Renteneintritt von Mitarbeitern, Eigenkündigungen oder Auslaufen von Befristungen, aber auch durch Arbeitgeberkündigungen aus personenbedingten oder krankheitsbedingten Gründen. Aus dem Wortlaut geht dies nicht hervor, dieser schreibt pauschal eine Kopfzahl fest. Andererseits schützt die Beschäftigungssicherung vor Entlassungen aus betriebsbedingten Gründen, nicht aber vor einer Betriebsverkleinerung aufgrund natürlicher Fluktuation.

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Unklar ist auch, was im Falle von Ausgründungen passiert. Was geschieht mit der Kopfzahl, wenn z.B. ein Betriebsteil abgespalten und unter dem Dach eines anderen Unternehmens im Wege des Betriebsteilübergangs gemäß § 613a BGB fortgeführt wird und dadurch die Kopfzahl im ausgründenden Unternehmen unterschritten wird? Wenn durch eine aufwendigere Formulierung versucht wird, möglichst viele Folgefragen von vornherein zu klären, stellt sich in der Praxis meist heraus, dass die Beschäftigungssicherung sehr lang und damit der Belegschaft schwerer zu vermitteln ist, andererseits trotzdem nicht alle Fragen geklärt werden können. Zusammenfassend sind Kopfzahlzusagen nur eingeschränkt zu empfehlen.

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Teil 13 92

Rz. 92

Betriebliche Beschäftigungsbündnisse

Neben den drei genannten Formulierungsbeispielen sind in der Praxis eine Vielzahl von Abwandlungen und unterschiedlichen Ausgestaltungen solcher Klauseln verbreitet.

2. Standortgarantien 93

Eine weitere typische Gegenleistung der Arbeitgeberseite im Rahmen betrieblicher Bündnisse sind Standortgarantien. Diese kommen insbesondere zum Tragen, wenn eine Verlagerung von Arbeitsplätzen an einen anderen Standort oder ins Ausland droht.

Formulierungsbeispiel: Das Unternehmen sichert zu, dass der Sitz des Betriebs mindestens bis zum … in Köln verbleibt.

3. Investitionszusagen 94

Auch Investitionszusagen finden sich häufig in betrieblichen Beschäftigungsbündnissen. Denn zu Recht wird die reine Zusage einer Weiterbeschäftigung oftmals von den Arbeitnehmervertretern nicht als ausreichend angesehen. Nur wenn das Unternehmen neben Kosteneinsparungen auch unternehmerische Maßnahmen ergreift, um die wirtschaftliche Situation zu verbessern und in den Standort investiert, sehen die Arbeitnehmervertreter und Mitarbeiter eine Perspektive, wie die Arbeitsplätze mittel- und langfristig gesichert werden können.

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Auch bei Investitionszusagen spielt die genaue Formulierung eine wesentliche Rolle, um spätere Auslegungsstreitigkeiten zu vermeiden. Insbesondere sollte der anwaltliche Berater darauf hinwirken, dass der Begriff der „Investition“ möglichst eindeutig definiert wird. Dabei stellt sich regelmäßig die Frage, ob auch Ausgaben für Forschung und Entwicklung Bestandteil der Investitionen sind, weiterhin, ob Modernisierungsaufwendungen eingerechnet sind, oder ob diese zusätzlich zu den Investitionen geleistet werden müssen. Schließlich ist klar zu definieren, ob sich die zugesagte Summe bei mehrjähriger Laufzeit des betrieblichen Beschäftigungsbündnisses auf die Laufzeit insgesamt bezieht, oder ob jedes Jahr eine Investition in der zugesagten Höhe zu tätigen ist.

Formulierungsbeispiel: Das Unternehmen sichert zu, in den Jahren 2013 bis einschließlich 2016 jährliche Investitionen zur Zukunftssicherung des Unternehmens zu tätigen. Die Höhe der Investitionen wird von dem Unternehmen jeweils unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Situation festgelegt. Aus heutiger Sicht wird das Unternehmen Investitionen einschließlich Modernisierungsaufwendungen, Ausgaben für Forschung und Entwicklung und Reparaturen in Höhe von mindestens … Mio. Euro jährlich tätigen.

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Rz. 99 Teil 13

4. Ausschluss von Outsourcing-Maßnahmen Auch die Zusage, bestimmte Outsourcing-Maßnahmen zu unterlassen, findet sich häufig in Beschäftigungsbündnissen.

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Formulierungsbeispiel: Während der Laufzeit des betrieblichen Beschäftigungsbündnisses verpflichtet sich das Unternehmen, die Ausgliederung von Betriebsteilen oder sonstigen Einheiten auf Drittunternehmen zu unterlassen. Dies gilt insbesondere für die Bereiche Kantine und Fuhrpark.

5. Übernahmegarantie für Auszubildende Weiterhin vereinbaren die Betriebsparteien in betrieblichen Beschäftigungsbündnissen häufig Übernahmegarantien für Auszubildende.

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Formulierungsbeispiel: Das Unternehmen übernimmt auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten soziale Verantwortung. Deshalb sichert das Unternehmen zu, in den Jahren 2013 bis einschließlich 2015 für Auszubildende jährlich insgesamt mindestens … Ausbildungsverträge anzubieten. Eine Verpflichtung zur unbefristeten Übernahme von Auszubildenden besteht jedoch nicht.

III. Vermeidung arbeitsrechtlicher Fallstricke Bei der praktischen Umsetzung eines betrieblichen Beschäftigungsbündnisses treten regelmäßig Fallstricke auf, die durch entsprechende Gestaltung des betrieblichen Bündnisses häufig vermieden werden können und maßgeblich zum Erfolg des Bündnisses beitragen.

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1. Entstehung einer Zwei-Klassen-Gesellschaft und Vermeidungsmöglichkeiten a) Problematik Wie oben beschrieben (Rz. 49), erfordern betriebliche Beschäftigungsbündnisse aus rechtlichen Gründen in der Regel die Zustimmung jedes einzelnen Mitarbeiters. Aufgrund des Maßregelungsverbots gemäß § 612a BGB können die Arbeitnehmer sich frei entscheiden, dem betrieblichen Beschäftigungsbündnis zuzustimmen oder die Zustimmung zu verweigern. Die Benachteiligung aufgrund einer Zustimmungsverweigerung wäre nach dem Maßregelungsverbot des § 612a BGB unzulässig. Aufgrund dieser Entscheidungsfreiheit der Arbeitnehmer besteht in der Praxis das Risiko einer Zwei-Klassen-Gesellschaft innerWerner

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Rz. 100

Betriebliche Beschäftigungsbündnisse

halb der Belegschaft. Ein Teil der Mitarbeiter wird das Beschäftigungsbündnis akzeptieren und fortan zu den veränderten Arbeitsbedingungen tätig werden. Der Rest der Belegschaft wird die Zustimmung verweigern mit der Folge, dass die Arbeitsbedingungen unverändert bleiben. Das kann zu sozialem Unfrieden führen, weil die Mitarbeiter, die dem Bündnis zugestimmt haben, das Gefühl bekommen, dass auf ihre Kosten der übrigen Belegschaft eine Erhaltung der Arbeitsbedingungen ermöglicht wird. Für das Unternehmen bedeutet die ZweiKlassen-Gesellschaft zusätzlichen Verwaltungsaufwand, weil fortan zwei unterschiedliche Arbeitsrechts-Regime verwaltet und abgerechnet werden müssen. Je nach Umfang der Zustimmung wird der Unternehmer möglicherweise nachträglich zu dem Ergebnis kommen, dass sich der ganze Aufwand gemessen an der Anzahl der sich beteiligenden Arbeitnehmer nicht gelohnt hat und er unter diesen Voraussetzungen an den alten Arbeitsbedingungen festgehalten und andere Lösungen verfolgt hätte.

b) Zustimmungsquote 100

Eine Zwei-Klassen-Gesellschaft kann in der Praxis zum Beispiel durch die Koppelung des Bündnisses an eine Zustimmungsquote vermieden werden. Das Zustandekommen des Bündnisses wird von der Bedingung abhängig gemacht, dass beispielsweise 95 % der Mitarbeiter dem betrieblichen Beschäftigungsbündnis schriftlich zustimmen. Zudem ist es sinnvoll, eine Frist für die Zustimmungserklärung zu setzen, damit das Unternehmen zu einem bestimmten Zeitpunkt Klarheit darüber hat, wie hoch die Zustimmungsquote ist. Dabei sind Abwesenheiten von Mitarbeitern, insbesondere durch Urlaub, zu berücksichtigen. Formulierungsbeispiel: Diese Vereinbarung tritt nur dann in Kraft, wenn mindestens 95 % aller Mitarbeiter, denen von der X-GmbH im Rahmen dieses betrieblichen Beschäftigungsbündnisses eine einzelvertragliche Änderungsvereinbarung angeboten wurde, das Änderungsangebot bis zum Ablauf der jeweils gesetzten Annahmefrist schriftlich angenommen haben.

2. Bedingtes Inkrafttreten der einzelvertraglichen Änderungsvereinbarungen 101

Entscheidet sich der Arbeitgeber für eine Zustimmungsquote bei der Gestaltung der einzelvertraglichen Änderungsvereinbarungen wie unter Rz. 49 dargestellt, sollte bei der Gestaltung darauf geachtet werden, dass die Änderungsvereinbarungen für die einzelnen Mitarbeiter nur in Kraft treten, wenn auch das Beschäftigungsbündnis insgesamt zustande kommt. Wird den Mitarbeitern ein unbedingtes Änderungsangebot unterbreitet, würden die einzelvertraglichen Vereinbarungen grundsätzlich wirksam, auch wenn die Zustimmungsquote für das Beschäftigungsbündnis insgesamt nicht erreicht wird. Wird also 1008

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Rz. 104 Teil 13

das Beschäftigungsbündnis insgesamt an eine Zustimmungsquote geknüpft, sollten auch die einzelvertraglichen Änderungsvereinbarungen nur unter der Bedingung in Kraft treten, dass die Zustimmungsquote erfüllt ist.

3. Gestaltung der Arbeitsverträge für künftige Neueinstellungen Weiterhin ist auf die Gestaltung der Arbeitsverträge für künftige Neueinstellungen zu achten. Es sollte sichergestellt werden, dass auch nach Abschluss des betrieblichen Bündnisses eintretende Mitarbeiter zu den Bedingungen des Bündnisses eingestellt werden. Daher ist bei Neuverträgen eine Bezugnahmeklausel auf das betriebliche Bündnis aufzunehmen. Um den Anforderungen von § 2 NachwG Rechnung zu tragen, sollte im Arbeitsvertrag nicht nur ein Verweis auf das betriebliche Bündnis erfolgen. Vielmehr sollten die wesentlichen Vertragsbedingungen im Arbeitsvertrag genannt werden.

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4. Sonderkündigungsrecht Aufgrund des oben beschriebenen möglichen Konflikts von Beschäftigungsbündnissen mit dem Tarifrecht (s. Rz. 27) sollte das betriebliche Bündnis eine Regelung für den Fall vorsehen, dass das Unternehmen das betriebliche Bündnis aus rechtlichen Gründen nicht wie geplant umsetzen kann. Möglich ist z.B. ein außerordentliches Sonderkündigungsrecht für die Vereinbarung mit dem Betriebsrat insgesamt oder ein Teilkündigungsrecht für einzelne Ziffern der Regelungsabrede. Eine solche Klausel ist geeignet, spätere Streitigkeiten über das Vorgehen im Falle einer gerichtlichen Auseinandersetzung zu vermeiden und für diesen Fall einen Prozess zu definieren.

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Formulierungsbeispiel: Sofern alle oder einzelne Maßnahmen dieser Regelungsabrede aus rechtlichen Gründen nicht wie gewollt umsetzbar sind, steht der X-GmbH ein außerordentliches Sonderkündigungsrecht für die Regelungsabrede ohne Einhaltung einer Frist zu. Die Kündigung bedarf der Schriftform.

5. Ausschluss der Zustimmungsverweigerer von freiwilligen Vergütungserhöhungen Ein typisches Praxisproblem ist der Umgang mit Mitarbeitern, die einem betrieblichen Bündnis nicht zugestimmt haben. Für diese bleibt es bei den bislang geltenden arbeitsvertraglichen Regelungen. Insbesondere wenn ein betriebliches Bündnis finanzielle Einbußen für die Mitarbeiter zur Folge hat, wird von nicht tarifgebundenen Arbeitgebern aus einem Gerechtigkeitsempfinden heraus häufig der Wunsch geäußert, die Zustimmungsverweigerer nicht an künftigen freiwilligen Vergütungserhöhungen teilnehmen zu lassen. Denn es wird als ungerecht empfunden, die Zustimmungsverweigerer ebenso in den Genuss von Vergütungserhöhungen kommen zu lassen wie Kollegen, die das Werner

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Rz. 105

Betriebliche Beschäftigungsbündnisse

betriebliche Bündnis mittragen. Die rechtliche Zulässigkeit der Herausnahme von Mitarbeitern von betrieblichen Vergütungserhöhungen im Zusammenhang mit Beschäftigungsbündnissen hat die höchstrichterliche Rechtsprechung in den letzten Jahren wiederholt beschäftigt. Nach dem BAG1 stellt sich dabei insbesondere die Frage eines Verstoßes gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz.

a) Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes im Bereich der Vergütung 105

Im Bereich der Vergütung findet der Gleichbehandlungsgrundsatz nach dem BAG Anwendung, wenn Arbeitsentgelte durch eine betriebliche Einheitsregelung generell angehoben und der Arbeitgeber die Leistung nach einem bestimmten erkennbaren und generalisierenden Prinzip gewährt. Dem Arbeitgeber ist es verwehrt, einzelne Arbeitnehmer oder Gruppen von ihnen aus unsachlichen oder sachfremden Gründen von einer Erhöhung des Arbeitsentgelts auszuschließen. Auch eine sachfremde Gruppenbildung ist unzulässig. Die Differenzierung zwischen der begünstigten Gruppe und den benachteiligten Arbeitnehmern ist dann sachfremd, wenn es für die unterschiedliche Behandlung keine billigenswerten Gründe gibt. Die Gründe müssen auf vernünftigen, einleuchtenden Erwägungen beruhen und dürfen nicht gegen höherrangige Wertentscheidungen verstoßen. Ist die unterschiedliche Behandlung nach dem Zweck der Leistung nicht gerechtfertigt, kann die benachteiligte Arbeitnehmergruppe verlangen, nach Maßgabe der begünstigten Arbeitnehmergruppe behandelt zu werden2.

b) Voraussetzungen nach der BAG-Rechtsprechung aa) Kompensationszweck 106

Bietet der Arbeitgeber seinen Arbeitnehmern eine Vertragsänderung an, die zu verschlechterten Bedingungen in Gestalt einer reduzierten Vergütung führt, und gewährt er den Arbeitnehmern, die der Vertragsänderung zugestimmt haben, in der Folgezeit eine Vergütungserhöhung, nicht aber denjenigen Arbeitnehmern, die die Vertragsänderung abgelehnt haben, ist diese Ungleichbehandlung nach dem BAG sachlich berechtigt, wenn sie allein den Ausgleich der erlittenen Vergütungsnachteile derjenigen, die der Änderung zugestimmt haben, bezweckt (Kompensationszweck)3. Dann liegt der tragende Grund für die Benachteiligung nicht in der Ablehnung der Vertragsänderung, sondern darin, dass im Zusammenhang mit der Ablehnung ein unterschiedliches Vergütungsniveau im Betrieb entstanden ist4. Darin sieht das BAG eine sachliche Rechtfertigung für die Ungleichbehandlung. Dann sei auch das Maßregelungsverbot des § 612a BGB nicht verletzt. Unerheblich ist nach dem BAG, ob der Arbeitgeber einen gänzlichen oder nur teilweisen Ausgleich vornimmt. Die Einkom1 2 3 4

BAG 15.7.2009 – 5 AZR 486/08, NZA 2009, 1202. BAG 14.3.2007 – 5 AZR 420/06, NZA 2007, 862. BAG v. 23.2.2011 – 5 AZR 84/10, NZA 2011, 693. BAG v. 15.7.2009 – 5 AZR 486/08, NZA 2009, 1202.

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Rz. 108 Teil 13

menslage der Arbeitnehmer muss der früheren Situation wieder näher kommen1.

bb) Keine Rechtfertigung bei Überkompensation Grundsätzlich nicht sachlich berechtigt ist hingegen nach dem BAG eine Lohnerhöhung nur für die zustimmenden Arbeitnehmer, sobald diese dazu führt, dass diese Gruppe dadurch mehr Vergütung erhält, als diesen Arbeitnehmern vor ihrer verschlechternden Vertragsänderung zustand (sog. Überkompensation)2. In diesem Falle könne der Zweck nicht mehr allein in der Kompensation der erlittenen Nachteile bestehen, sondern es liege nahe, dass der Zweck der Vergütungserhöhung darin liege, diejenigen, die der Änderung zugestimmt haben, dafür zu honorieren. Da die Ablehnung einer Vertragsänderung eine zulässige Rechtsausübung darstellt, die dem Erhalt der subjektiven Rechte dient, handelt es sich dabei nicht um einen legitimen Zweck, der geeignet wäre, die Ungleichbehandlung sachlich zu rechtfertigen3.

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Ü Hinweis für die Beratungspraxis: Aus Arbeitgebersicht sollte die Begründung für die freiwillige Vergütungserhöhung gegenüber allen Mitarbeitern kommuniziert werden. Ansonsten kann es im Prozess Schwierigkeiten bereiten, den Kompensationszweck glaubhaft nachzuweisen.

c) Offene Fragen Im Zusammenhang mit der Schlechterstellung von Zustimmungsverweigerern sind viele praxisrelevante Fragen bisher nicht höchstrichterlich geklärt. Eine höchstrichterliche Entscheidung steht insbesondere zu der Frage des Ausschlusses von Arbeitnehmern von einer freiwilligen Vergütungserhöhung bei betrieblichen Bündnissen aus, wenn der Beitrag der Arbeitnehmer in einer Erhöhung des variablen, leistungsabhängigen Vergütungsbestandteils liegt, d.h., dass ein größerer Teil eines Einkommens künftig leistungsabhängig ausbezahlt wird. Das ArbG Stuttgart will darin keinen Nachteil sehen, wenn die Mitarbeiter weiterhin die Möglichkeit haben, die gleiche Vergütung zu erzielen wie bisher und es im betreffenden Zeitraum nicht zu einer Absenkung der Vergütung gekommen war4. Dies ist nicht überzeugend. Es kann nicht entscheidend sein, ob der Arbeitnehmer tatsächlich aufgrund entsprechender Leistung im Ergebnis das gleiche Entgelt erzielt hat. Darin, dass er akzeptiert hat, dass ein Teil seiner garantierten Festvergütung künftig nur noch leistungsbezogen ausbezahlt wird, ist ein Nachteil zu sehen, der durch eine Bevorzugung bei freiwilligen Vergütungserhöhungen kompensiert werden kann. Dass in der Umwandlung von Festvergütung in einen variablen Gehaltsbestandteil eine Benachtei1 BAG v. 15.7.2009 – 5 AZR 486/08, NZA 2009, 1202; BAG v. 23.2.2011 – 5 AZR 84/10, NZA 2011, 693. 2 BAG v. 17.3.2010 – 5 AZR 168/09, NZA 2010, 696; BAG v. 23.2.2011 – 5 AZR 84/10, NZA 2011, 693; BAG v. 13.4.2011 – 10 AZR 88/10, NZA 2011, 1047. 3 BAG v. 15.7.2009 – 5 AZR 486/08, NZA 2009, 1202. 4 ArbG Stuttgart v. 17.4.2012 – 16 Ca 9707/11, n. rkr.

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Rz. 109

Betriebliche Beschäftigungsbündnisse

ligung liegt, zeigt sich darin, dass solche Änderungen nicht einseitig vom Arbeitgeber im Rahmen des Direktionsrechts angeordnet werden können, sondern nur im Wege der Änderungskündigung gemäß § 2 KSchG.

6. Unterstützungsklausel des Betriebsrats 109

Eine typische Klausel in Beschäftigungsbündnissen ist das ausdrückliche Bekenntnis des Betriebsrats zu dem Bündnis und die Zusage seiner Unterstützung. Einer solchen Klausel kommt keine besondere rechtliche Bedeutung zu, sie ist aber von psychologischer Bedeutung. Denn letztendlich gilt es, die Belegschaft des Unternehmens zu überzeugen und ihre Zustimmung zu erlangen.

Formulierungsbeispiel: Der Betriebsrat unterstützt die vorstehenden Regelungen zur künftigen Gestaltung der Arbeitsbedingungen ausdrücklich. Die Betriebsparteien werden gemeinsam sicherstellen, dass diese Regelungsabrede bei den Mitarbeitern hohe Akzeptanz findet. Der Betriebsrat wird den Mitarbeitern empfehlen, der Regelungsabrede zuzustimmen.

G. Verhandlung von betrieblichen Beschäftigungsbündnissen I. Beteiligte Parteien 1. Arbeitgeber, Betriebsrat und Arbeitnehmer 110

Beteiligte eines betrieblichen Beschäftigungsbündnisses sind zunächst Arbeitgeber und Betriebsrat. Durch Einbindung des Betriebsrats werden zum einen den betriebsverfassungsrechtlichen Anforderungen Rechnung getragen, indem Informations- und Beratungspflichten wahrgenommen werden und etwaige zwingende Mitbestimmungsrechte durch Abschluss entsprechender Vereinbarungen mit dem Betriebsrat gewahrt werden. Die Beteiligung des Betriebsrats hat darüber hinaus psychologische Bedeutung. Insbesondere wenn der Betriebsrat eine gute Akzeptanz bei der Belegschaft genießt, kann die Zustimmung des Betriebsrats zu dem betrieblichen Bündnis die entscheidende Motivation für die Mitarbeiter sein, den vereinbarten Maßnahmen zuzustimmen und in diesem Zuge auch finanzielle oder sonstige Nachteile in Kauf zu nehmen.

2. Beteiligung der Gewerkschaft? 111

Die Gewerkschaft ist zumeist rechtlich nicht unmittelbar an betrieblichen Beschäftigungsbündnissen beteiligt. Die zuständige Gewerkschaft spielt jedoch bei der erfolgreichen Umsetzung betrieblicher Beschäftigungsbündnisse eine erhebliche Rolle, insbesondere nach Abschluss des Bündnisses, siehe dazu Rz. 67 ff. 1012

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Verhandlung von betrieblichen Beschäftigungsbündnissen

Rz. 113 Teil 13

II. Verhalten bei Gegenreaktionen der Gewerkschaft Wenn die Gewerkschaft dem Bündnis kritisch gegenübersteht, kann die Gewerkschaft zunächst erheblichen politischen Druck in der Öffentlichkeit und über die Presse erzeugen. Sollte ein betriebliches Bündnis tarifliche Arbeitsbedingungen unterschreiten, kann – wie die Fälle Burda und Viessmann zeigen – von der Gewerkschaft auch eine Unterlassungsklage angestrengt werden, um die Umsetzung des betrieblichen Bündnisses gerichtlich unterbinden zu lassen. Weiterhin muss das Unternehmen damit rechnen, dass die zuständige Gewerkschaft zu einem Streik um einen HausTV aufruft. Auf diese Risiken muss der Anwalt das Unternehmen hinweisen und gemeinsam abstimmen, wie auf solche eventuelle Gegenreaktionen der Gewerkschaft reagiert werden kann. Neben großer rechtlicher Sorgfalt bei der Gestaltung des Bündnisses im Einklang mit dem Tarifrecht und einer optimalen Prozessführung im Falle einer Unterlassungsklage vor dem Arbeitsgericht spielt die richtige Kommunikation gegenüber Mitarbeitern, der Öffentlichkeit, der Presse und gegenüber den Gesellschaftern eine entscheidende Rolle.

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III. Kommunikation während der Verhandlungen Die erfolgreiche Umsetzung eines betrieblichen Bündnisses hängt wesentlich davon ab, dass alle Beteiligten, d.h. die Vertreter auf Arbeitgeberseite, der Betriebsrat, die Belegschaft und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter überzeugt werden. Daher spielt die ständige und richtige Kommunikation während des gesamten Prozesses eine Schlüsselrolle. Von besonderer Bedeutung sind dabei die jeweiligen Vorgesetzten als Bindeglied zwischen der Geschäftsführung und den Nicht-Führungskräften. Denn die jeweiligen Vorgesetzten sind die unmittelbaren Ansprechpartner im betrieblichen Alltag, wenn Mitarbeiter mit Fragen, Bedenken oder Kritik an dem vorgeschlagenen betrieblichen Bündnis an das Unternehmen herantreten. Deswegen sollten die Führungskräfte bestmöglich mit den Hintergründen, Inhalten, Zahlen und Fakten vertraut gemacht werden, um in den Gesprächen mit den Mitarbeitern die entsprechende Überzeugungsarbeit leisten zu können. Besonders wirkungsvoll ist in diesen Fällen ein gemeinsames Auftreten der Unternehmensleitung und des Betriebsrats. Wenn es gelingt, dass Betriebsrat und Geschäftsleitung vollständig an einem Strang ziehen und die Mitarbeiter gemeinsam über das Bündnis informieren, kann dies entscheidend zur Akzeptanz beitragen. Wesentlich ist, dass die Kommunikation einfach und verständlich erfolgt. Das Unternehmen sollte sich nicht auf eine Information beschränken, sondern einen Kommunikationsplan entwickeln, damit die Mitarbeiter mehrfach, ggf. auch in unterschiedlicher Art und Weise bestmöglich informiert werden. Dabei ist auch zu überlegen, ob eine Betriebsversammlung erfolgen soll. Die Ausarbeitung des genauen Kommunikationsplans hängt von der Größe des Unternehmens und den jeweiligen Besonderheiten maßgeblich ab. Festzuhalten bleibt, dass die „Zustimmungsphase“ die entscheidende Phase für den Erfolg des Bündnisses ist. Die Belegschaft mit einem gut formulierten Schriftstück alleine zu lassen und nach Ablauf der Zustimmungsfrist eine Zustimmung von 100 % zu erwarten, hat geringe Aussicht auf Erfolg. Werner

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Rz. 114

Betriebliche Beschäftigungsbündnisse

IV. Die Rolle des anwaltlichen Beraters bei Vorbereitung und Umsetzung betrieblicher Beschäftigungsbündnisse 114

Insbesondere für den anwaltlichen Berater auf Arbeitgeberseite sind betriebliche Beschäftigungsbündnisse in vielerlei Hinsicht eine Herausforderung. Zum einen sind bei betrieblichen Beschäftigungsbündnissen Berührungen mit dem Tarifrecht und insbesondere mit dem Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG geradezu vorprogrammiert. Beschäftigungsbündnisse zielen in vielen Fällen auf die Unterschreitung tariflicher Arbeitsbedingungen ab. Die Betriebsparteien werden bei betrieblichen Bündnissen im Kernbereich gewerkschaftlicher Aktivität tätig. Dies stellt den Anwalt vor die Herausforderung, das zum Teil äußerst anspruchsvolle Tarifrecht einschließlich der jeweils aktuellen höchstrichterlichen Rechtsprechung zu beherrschen und die rechtlichen Gestaltungsspielräume für betriebliche Bündnisse auszuloten. Zum anderen kann es aufgrund der Berührungen mit dem Tarifrecht zu Konflikten mit der zuständigen Gewerkschaft kommen. Die inhaltliche Ausarbeitung eines betrieblichen Beschäftigungsbündnisses ist rechtlich anspruchsvoll. Maßgeblich ist auch, welche Glaubwürdigkeit die Geschäftsleitung bei der Belegschaft genießt. Vertraut die Belegschaft den Unternehmensverantwortlichen, was oftmals bei inhabergeführten Mittelständlern mit einer langen Unternehmensgeschichte zu beobachten ist, und wird das Bündnis auf hohem Niveau rechtlich vorbereitet und praktisch umgesetzt, dann sind betriebliche Beschäftigungsbündnisse mit einer Zustimmungsquote von 100 % keine Seltenheit.

H. Beendigung betrieblicher Beschäftigungsbündnisse und Rechtsfolgen I. Betriebsvereinbarungen 1. Beendigungsgründe 115

Beruht das betriebliche Beschäftigungsbündnis (ausnahmsweise) auf einer Betriebsvereinbarung, gelten die allgemein für Betriebsvereinbarungen geltenden Regelungen. Die Betriebsvereinbarung endet insbesondere bei Ablauf einer vereinbarten Befristung, durch Kündigung einer der Parteien oder durch Ablösung durch eine zeitlich nachfolgende Betriebsvereinbarung. Im Falle der Kündigung gilt die dreimonatige Kündigungsfrist des § 77 Abs. 5 BetrVG, soweit nichts anderes vereinbart ist.

2. Nachwirkung 116

Nach § 77 Abs. 6 BetrVG wirken Betriebsvereinbarungen über mitbestimmte Angelegenheiten nach, während freiwillige Regelungen keine gesetzliche Nachwirkung entfalten. Die Nachwirkung unterliegt nach dem BAG der kollektiven Vertragsfreiheit, d.h. die Betriebsparteien können sowohl bei mitbestimmten Angelegenheiten die Nachwirkung ausschließen als auch bei freiwilligen Rege1014

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Verhandlung von betrieblichen Beschäftigungsbündnissen

Rz. 120 Teil 13

lungen eine Nachwirkung vereinbaren1. Aufgrund des meist vorübergehenden Charakters von betrieblichen Beschäftigungsbündnissen wird oftmals die Nachwirkung der Betriebsvereinbarung ausdrücklich ausgeschlossen sein.

3. Folgen für die Arbeitnehmer Aufgrund der normativen Wirkung von Betriebsvereinbarungen gemäß § 77 Abs. 4 BetrVG wirkt sich eine Beendigung von Betriebsvereinbarungen unmittelbar auf die Arbeitsverhältnisse der Mitarbeiter aus. Im Falle der Nachwirkung gelten die Regelungen der Betriebsvereinbarung gemäß § 77 Abs. 6 BetrVG weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden. Entfällt eine Nachwirkung, entfalten die Regelungen der Betriebsvereinbarung auch keine Wirkung mehr für die Arbeitsverhältnisse.

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II. Regelungsabreden Beruht das betriebliche Beschäftigungsbündnis auf einer Regelungsabrede mit dem Betriebsrat und der einzelvertraglichen Zustimmung der Mitarbeiter, sind die Rechtsfolgen im Falle einer Kündigung der Regelungsabrede durch Arbeitgeber oder Betriebsrat meist nicht so eindeutig wie im Falle der Beendigung einer Betriebsvereinbarung. Hier stellen sich zum einen die Fragen der Beendigungsmöglichkeiten für Regelungsabreden sowie der Nachwirkung der Regelungsabrede. Weiterhin sind die Auswirkungen auf die einzelnen Arbeitsverhältnisse zu klären.

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1. Beendigung Die Regelungsabrede endet in der Regel, wie die Betriebsvereinbarung, durch Zeitablauf oder Zweckerreichung. Auch der Abschluss als aufschiebend und auflösend befristete Regelung ist zulässig2. Daneben kommt eine Kündigung der Regelungsabrede in Betracht. Sofern die Betriebsparteien keine Kündigungsfrist vereinbart haben, gilt nach einem Beschluss des BAG vom 10.3.19923 auch ohne ausdrückliche Regelung eine ordentliche Kündigungsfrist von drei Monaten, analog § 77 Abs. 5 BetrVG. Dies gilt nach dem BAG jedenfalls dann, wenn die Regelungsabrede für einen längeren Zeitraum eine mitbestimmungspflichtige Angelegenheit im Sinne von § 87 Abs. 1 BetrVG regelt. Dann müsse sich jede Partei wie bei jedem anderen Dauerschuldverhältnis durch Kündigung von dem schuldrechtlichen Vertrag lösen können4.

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2. Nachwirkung Fraglich ist, ob Regelungsabreden im Falle der Kündigung analog § 77 Abs. 6 BetrVG Nachwirkung entfalten. Dies ist in der Literatur umstritten5. Das BAG 1 2 3 4 5

BAG v. 9.2.1984 – 6 ABR 10/81, NZA 1984, 96. ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 144. BAG v. 10.3.1992 – 1 ABR 31/91, NZA 1992, 952. BAG v. 10.3.1992 – 1 ABR 31/91, NZA 1992, 952. Befürwortend ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 148; ablehnend: Richardi/Richardi, § 77 BetrVG Rz. 234.

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Rz. 121

Betriebliche Beschäftigungsbündnisse

hat in dem Beschluss vom 23.6.19921 eine analoge Anwendung des § 77 Abs. 6 BetrVG für eine Angelegenheit der zwingenden Mitbestimmung gemäß § 87 BetrVG bejaht. Das BAG hat ausgeführt, dass eine Regelungsabrede ebenso wie Betriebsvereinbarungen Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats gestalten und verbrauchen kann. In den mitbestimmungspflichtigen Angelegenheiten habe die Regelungsabrede daher für das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat die gleiche Rechtswirkung wie eine Betriebsvereinbarung. Aus diesem Grund rechtfertige sich die insoweit analoge Anwendung des § 77 Abs. 6 BetrVG2. Führt man diesen Gedanken sowie die BAG-Rechtsprechung zur Nachwirkung teilmitbestimmter Betriebsvereinbarungen weiter, so ist eine Nachwirkung bei freiwilligen Regelungsabreden analog § 77 Abs. 6 BetrVG zu bejahen, soweit sie teilmitbestimmt sind und der Arbeitgeber eine einseitige Änderung in der teilmitbestimmten Angelegenheit vornehmen will3.

3. Rechtsfolgen für die Arbeitnehmer a) Rechtsfolgen bei Nachwirkung der Regelungsabrede 121

Das BAG hat in dem Beschluss vom 23.6.19924 zu Recht darauf hingewiesen, dass mangels normativer Wirkung der Regelungsabrede eine Nachwirkung im Sinne einer unmittelbaren Nachwirkung auf die einzelnen Arbeitsverhältnisse ausgeschlossen ist. Eine Nachwirkung bei Regelungsabreden bezieht sich daher unmittelbar nur auf Arbeitgeber und Betriebsrat. Diese sind im Nachwirkungszeitraum schuldrechtlich verpflichtet, sich weiterhin gemäß der Regelungsabrede zu verhalten. Das wirkt sich mittelbar auf die Arbeitsverhältnisse aus. Bei ordnungsgemäßem Verhalten wird der Arbeitgeber die Regelungsabrede im Nachwirkungszeitraum für die einzelnen Arbeitsverhältnisse weiterhin zur Anwendung bringen.

Ü Hinweis für die Beratungspraxis: Wenn der anwaltliche Berater an der Umsetzung des betrieblichen Bündnisses nicht beteiligt war und erst später das Mandat erhält, stellt sich oftmals die Frage, welche Rechtsnatur ein betriebliches Bündnis überhaupt hat. Oftmals werden betriebliche Bündnisse nicht ausdrücklich als „Regelungsabrede“ oder „Betriebsvereinbarung“ bezeichnet, sondern mit aussagekräftigen Arbeitstiteln bzw. „Zukunftsvertrag“, „Standortsicherungsvereinbarung“ oder „Beschäftigungsbündnis“. Der genaue Rechtscharakter der Vereinbarung kommt in der Bezeichnung teilweise nicht zum Ausdruck. Ob eine Regelungsabrede oder eine Betriebsvereinbarung geschlossen wurde, ist in diesen Fällen durch Auslegung zu ermitteln. Dabei gelten die für Betriebsvereinbarung geltenden Grundsätze, also diejenigen, die für die Auslegung von TVen zur Anwendung kommen. Es kommt darauf an, ob die Regelung nach ihrem Inhalt unmittelbar und zwingend wirken soll. Die Regelungsabrede selbst ist aber als schuldrechtliche Vereinbarung 1 2 3 4

BAG v. 23.6.1992 – 1 ABR 53/91, NZA 1992, 1098. BAG v. 23.6.1992 – 1 ABR 53/91, NZA 1992, 1098. ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 149. BAG v. 23.6.1992 – 1 ABR 53/91, NZA 1992, 1098.

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Zukunftsvertrag bei Automobilzulieferer

Rz. 123 Teil 13

nicht nach den Grundsätzen der Gesetzesauslegung, sondern nach §§ 133, 157 BGB auszulegen.

b) Rechtsfolgen bei fehlender Nachwirkung der Regelungsabrede Fraglich sind die Rechtsfolgen bei fehlender Nachwirkung eines betrieblichen Regelungswerks. Da Regelungsabreden der einzelvertraglichen Umsetzung bedürfen, um Wirksamkeit für das Arbeitsverhältnis zu entfalten, ist rechtlich der Inhalt der einzelvertraglichen Vereinbarung zur Umsetzung des betrieblichen Bündnisses maßgeblich (Zustimmungserklärung). Es ist ggf. durch Auslegung zu ermitteln, wie lange die Regelungen des Beschäftigungsbündnisses für das Arbeitsverhältnis Wirksamkeit behalten sollen. Im Falle sogenannter Innovationsbündnisse, die die Arbeitsbedingungen meist dauerhaft abweichend von den FlächenTVen gestalten, werden die vereinbarten Regelungen in der Regel unabhängig vom Fortbestand der Regelungsabrede in die jeweiligen Arbeitsverträge übernommen. Die arbeitsvertraglichen Regelungen gelten in diesem Fall weiter, bis sie nach den allgemeinen Grundsätzen, insbesondere einvernehmliche Änderung bzw. Änderungskündigung, abgelöst werden.

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J. Fallbeispiel aus der Praxis: Zukunftsvertrag bei Automobilzulieferer Folgendes Fallbeispiel verdeutlicht eine typische Ausgangssituation und erfolgreiche Umsetzung eines Krisenbündnisses zur Abwendung einer Verlagerung von Arbeitsplätzen in das Ausland: Ausgangssituation Die F-GmbH ist ein Unternehmen der Automobilzulieferindustrie. Sie ist Mitglied im Metall-Arbeitgeberverband und wendet die TVe der bayerischen Metall- und Elektroindustrie an. Die F-GmbH beschäftigt an ihrem Sitz in Süddeutschland ca. 2 500 Mitarbeiter. Sie unterliegt einem weltweiten Standortwettbewerb. Der deutsche Standort ist unter anderem aufgrund zu hoher Personalkosten nicht wettbewerbsfähig. Es droht der Abbau von ca. 500 Arbeitsplätzen. Geschäftsleitung und Betriebsrat wollen einen neuen Auftrag, der die 500 Arbeitsplätze sichern würde, an den deutschen Standort holen. Vorbereitung des betrieblichen Bündnisses Geschäftsleitung und Betriebsrat sind der Auffassung, dass man die erforderlichen Einsparungen im Wege eines betrieblichen Bündnisses erreichen könnte. Verhandlungen mit der zuständigen Gewerkschaft erscheinen aus unterschiedlichen Gründen nicht erfolgversprechend. Da bei fortbestehender Tarifbindung nur aufgrund der tarifrechtlichen Sperrwirkung nur wenig Spielraum für ein betriebliches Bündnis besteht, wechselt die F-GmbH kurzfristig zur OT-Mitgliedschaft.

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Teil 13

Rz. 123

Betriebliche Beschäftigungsbündnisse

Umsetzung des betrieblichen Bündnisses Nach dem Wechsel zur OT-Mitgliedschaft schließt die Geschäftsleitung einen „Zukunftssicherungsvertrag“ mit dem Betriebsrat ab, in dem unter anderem eine befristete Erhöhung der Wochenarbeitszeit gegen Zusage eines Kündigungsverbots vereinbart werden. Die Mitarbeiter werden gemeinsam von Geschäftsleitung und Betriebsrat in mehreren Veranstaltungen ausführlich über die Hintergründe und das Ziel des Zukunftsvertrags informiert und aufgefordert, innerhalb einer Frist ihre Zustimmung zum Zukunftsvertrag zu erklären. Das Zustandekommen des Zukunftsvertrags ist an eine Zustimmungsquote von 95 % geknüpft. Zustandekommen des betrieblichen Beschäftigungsbündnisses Bei Fristablauf haben fast 100 % der Mitarbeiter dem Zukunftsvertrag einzelvertraglich zugestimmt, die Zustimmungsquote wird erreicht. Damit können die Kostenziele am Standort erreicht werden. Die Fertigung des Auftrags erfolgt am deutschen Standort. 500 Arbeitsplätze konnten gesichert werden.

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Teil 14 Gewillkürter Tarifverlust* Rz. A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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B. Verbandsaustritt . . . . . . . . . . . . . . .

5

I. Rechtsfolgen für bereits beschäftigte Arbeitnehmer . . . . . . . . . . . . . 1. Tarifgeltung nach dem TVG . . a) Einhaltung der Kündigungsfristen des Verbandes/TVes aa) VerbandsTV . . . . . . . . . bb) HausTV . . . . . . . . . . . . . b) Nachbindung nach Austritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Nachwirkung . . . . . . . . . . . d) Rechtsfolgen bei Gewerkschaftsaustritt des Arbeitnehmers . . . . . . . . . . . . . . . . e) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Tarifgeltung aufgrund individualrechtlicher Bezugnahmeklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Statische Bezugnahmeklausel und kleine dynamische Bezugnahmeklausel ohne Gleichstellungscharakter . . . . . . . . . . . . . . . b) Kleine dynamische Bezugnahmeklausel als Gleichstellungsabrede und große dynamische Bezugnahmeklausel . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Rechtsfolgen für Neueintritte . . . . 26 III. Zwang zur Anwendung von betrieblichen Entgeltschemata trotz fehlender anderweitiger Tarifbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 IV. Auswirkungen des Abschlusses neuer Tarifverträge nach dem Verbandsaustritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 C. Verbandswechsel . . . . . . . . . . . . . . . 35 I. Rechtsfolgen für bereits beschäftigte Arbeitnehmer 1. Tarifgeltung nach dem TVG . . 37

Rz. a)

Tarifgeltung bei TV-Abschluss mit gleicher Gewerkschaft . . . . . . . . . . . . . . b) Tarifgeltung bei TV-Abschluss mit anderer Gewerkschaft . . . . . . . . . . . . . . c) Sonderfall: Blitzwechsel in OT-Mitgliedschaft . . . . . . . 2. Tarifgeltung aufgrund geltender Bezugnahmeklauseln . . . . . a) Situation bei Bestehen eines TVes mit der „alten“ Gewerkschaft . . . . . . . . . . . aa) Statische Bezugnahmeklausel . . . . . . . . . . . bb) Kleine dynamische Bezugnahmeklausel als Gleichstellungsabrede cc) Kleine dynamische Bezugnahmeklausel als konstitutiv-dynamisch wirkende Verweisung dd) Große dynamische Bezugnahmeklausel . . . . b) Situation bei Bestehen eines TVes mit einer „neuen“ Gewerkschaft . . . . . . . aa) Statische Bezugnahmeklausel . . . . . . . . . . . bb) Kleine dynamische Bezugnahmeklausel als Gleichstellungsabrede cc) Kleine dynamische Bezugnahmeklausel als konstitutiv-dynamisch wirkende Verweisung dd) Große dynamische Bezugnahmeklausel . . . . II. Rechtsfolgen für Neueintritte . . . . 1. Tarifgeltung bei TV-Abschluss mit gleicher Gewerkschaft . . . . 2. Tarifgeltung bei TV-Abschluss mit anderer Gewerkschaft . . . . 3. Tarifgeltung qua Bezugnahmeklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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* Der Verfasser dankt Herrn Rechtsreferendar Dr. Patrick Flockenhaus für die Unterstützung bei der Vorbereitung des Manuskripts.

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Teil 14

Gewillkürter Tarifverlust Rz.

Rz.

III. Zwang zur Anwendung von tariflichen Entgeltschemata für bereits beschäftigte und neu eingestellte Arbeitnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

I. Rechtsfolgen für bereits beschäftigte Arbeitnehmer . . . . . . . . . . . . . 75

D. Herstellung einer mehrfachen Tarifbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 I. Doppelmitgliedschaft von Arbeitnehmer oder Arbeitgeber . . . . . . . . 64 II. Abschluss eines Haustarifvertrages neben einem bestehenden Verbandstarifvertrag . . . . . . . . . . . . . . . 68 III. Tarifkollision mit allgemeinverbindlich erklärtem Tarifvertrag/ AEntG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 E. Herauswachsen aus dem Geltungsbereich eines Tarifvertrages . 74

II. Rechtsfolgen für Neueintritte . . . . 78 F. Auswirkungen einer Unternehmensumstrukturierung auf die Geltung eines Tarifvertrages . . . . . 79 G. Übersicht über die Tarifgeltung . . 80 H. „Tarifwechsel“ durch Einsatz von Zeitarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 I. Leiharbeit als Instrument zur Einführung eines neuen/zusätzlichen Tarifregimes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 II. Einsatz von konzerninternen Personalservicegesellschaften . . . . . . . 86

Literatur: Annuß, Tarifbindung durch arbeitsvertragliche Bezugnahme?, ZfA 2005, 405; Bauer/Günther, Änderung der betrieblichen Lohnstruktur – rechtliche und personalpolitische Probleme, DB 2009, 620; Bauer/Haußmann, Blitzaustritt und Blitzwechsel: Wirksam, aber ohne Wirkung? Die kurzfristige Beendigung oder Änderung der Verbandsmitgliedschaft von Arbeitgebern und ihre Folgen für die Tarifbindung, RdA 2009, 99; Bayreuther, Bezugnahmeklauseln und Tarifpluralität am Beispiel der Tarifmehrheit in Kliniken und Krankenhäusern, NZA 2009, 935; Bayreuther, Generelle Verpflichtung zur Aufnahme von Bezugnahmeklauseln durch betriebliche Mitbestimmung bei nachwirkenden (transformierten) Tarifverträgen?, BB 2010, 2177; Bepler, Tarifeinheit im Betrieb – Eine Skizze der bisherigen Rechtsprechung, NZA-Beilage zu Heft 3/2010, 99; Bepler, Tarifvertragliche Vergütungssysteme als Grundsätze der betrieblichen Lohngestaltung – Ansprüche ohne Anspruchsgrundlage?, in: Festschrift für Bauer, 2010, S. 161; Braun, Spezialitätsgrundsatz im Nachwirkungszeitraum, ArbRB 2007, 76; Caspers, Teilnachwirkung des Tarifvertrages durch § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG – zur Ablösung tariflicher Vergütungssysteme, in: Festschrift für Löwisch, 2007, S. 45; Etzel, Die Entwicklung des Arbeitsrechts im Jahre 1990, NJW 1991, 3191; Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, 2012; Gaul/Naumann, Gestaltungsrisiken bei der arbeitsvertraglichen Bezugnahme auf Tarifverträge, DB 2007, 2594; Giesen, Beitragsrechtliche Folgen des CGZP-Beschlusses des Bundesarbeitsgerichts, in: Brand/Lembke (Hrsg.), Der CGZP-Beschluss des Bundesarbeitsgerichts, 2012, S. 113; Henssler, Schuldrechtliche Tarifgeltung bei Verbandsaustritt, Verbandswechsel und Unternehmensumstrukturierung, in: Festschrift für Wißmann, 2005, S. 133; Hohenstatt, Problematische Ordnungsvorstellung des BAG im Tarifrecht – Tarifpluralität und Tarifeinheit, DB 1992, 1678; Hromadka/Maschmann/Wallner, Der Tarifwechsel, 1996; Jacobs, Tarifpluralität statt Tarifeinheit – Aufgeschoben ist nicht aufgehoben!, NZA 2008, 325; Jacobs, Entgeltmitbestimmung beim nicht (mehr) tarifgebundenen Arbeitgeber, in: Festschrift für Säcker, 2011, S. 201; Jordan/ Bissels, Gilt „der jeweils anwendbare Tarifvertrag in der jeweils gültigen Fassung“ noch? Wirksamkeit von großen dynamischen Bezugnahmeklauseln, NZA 2010, 71; Kania, Die arbeitsvertragliche Bezugnahme auf Tarifverträge bei Veränderung der tariflichen Strukturen im Betrieb, NZA-Beilage 3/2000, 45; Kreft, Tarifliche Vergütungsordnung und betriebliche Entlohnungsgrundsätze, in: Festschrift für Kreutz, 2010, S. 263; Lambrich, Weitergeltung und Ablösung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang, in: Festschrift für Ehmann, 2005, S. 169; Lembke, Der CGZP-Beschluss des BAG vom 14.12.2010 und seine Folgen, NZA-Beilage 2012, 66; Löwisch/Rieble, Tarifrechtliche und arbeitskampf-

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Rz. 2 Teil 14

Einführung

rechtliche Fragen des Übergangs vom Haustarif zum Verbandstarif, in: Festschrift für Schaub, 1998, S. 457; Müller-Bonanni/Mehrens, Auswirkungen von Umstrukturierungen auf die Tarifsituation, ZIP 2012, 1217; Oetker, Die Beendigung der Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband als tarifliche Vorfrage, ZfA 1998, 41; Otto, Arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln und Änderungen der Tarifgeltung, 2006; Plagemann/Brand, Sozialversicherungsbeiträge für nicht erfüllte „equal pay“-Ansprüche? – Sozialrechtliche Folgen der CGZP-Entscheidung des BAG, NJW 2011, 1488; Preis/Greiner, Vertragsgestaltung bei Bezugnahmeklauseln nach der Rechtsprechungsänderung des BAG, NZA 2007, 1073; Reichold, Notwendige Mitbestimmung als neue „Anspruchsgrundlage“, in: Festschrift für Konzen, 2006, S. 763; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb – Der Schutz von Vertrags- und Wettbewerbsfreiheit im Arbeitsrecht, 1996; Salamon, § 87 BetrVG als Geltungsgrund tariflicher Vergütungsordnungen für Außenseiter?, NZA 2012, 899; Schliemann, Tarifkollision – Ansätze zur Vermeidung und Auflösung, NZA-Beilage zu Heft 24/2000, 24; Schüren, Auswirkungen zur CGZP-Entscheidung des BAG vom 14.12.2010 und ihrer Bindungswirkung – „Rückwärts, rückwärts, Don Rodrigo!“, RdA 2011, 368; Seel, Ende der Tarifeinheit – Was ist aus Arbeitgebersicht zu tun?, öAT 2010, 82; Sittard, Voraussetzungen und Wirkungen der Tarifnormerstreckung nach § 5 TVG und dem AEntG, 2010; Sittard/Ulbrich, Zur Rechtsprechungsänderung bei der Auslegung von Bezugnahmeklauseln – zugleich Besprechung des Urteils vom 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, ZTR 2006, 458; Thüsing, Statische Rechtsprechung zur dynamischen Bezugnahme, NZA 2003, 1184; Waltermann, Die betriebliche Übung, RdA 2006, 257; Wiedemann, Der nicht organisierte Arbeitnehmer im kollektiven Arbeitsrecht, RdA 2007, 65; E.M. Willemsen, Die arbeitsvertragliche Bezugnahme auf den Tarifvertrag bei Tarifwechsel, 2009; H.J. Willemsen/Mehrens, Die Rechtsprechung des BAG zum „Blitzaustritt“ und ihre Auswirkungen auf die Praxis, NJW 2009, 1916; H.J. Willemsen/Mehrens, Die Friedenspflicht im Zeitraum der Nachbindung, NZA 2009, 169; Zundel, Wirksamkeit arbeitsvertraglicher Klauseln insbesondere unter dem Aspekt der AGB-Kontrolle, NJW 2006, 1237.

A. Einführung Unter einem „gewillkürten Tarifwechsel“ wird regelmäßig ein vom Arbeitgeber bewusst herbeigeführter Wechsel von einem Tarifregime in ein anderes und ggf. auch das komplette Abstreifen der Tarifbindung verstanden. Dabei müssen aus Sicht der Praxis mehrere Ebenen auseinander gehalten werden: In einem ersten Schritt ist zu prüfen, welche Auswirkungen eine tarifrechtliche Änderung auf (a) die bestehenden (bereits tarifgebundenen) Arbeitsverhältnisse und (b) auf Neueintritte nach Vollzug des Tarifwechsels hat. In einem zweiten Schritt ist dann zu untersuchen, ob die tarifrechtlichen Konsequenzen tatsächlich die gewünschte Rechtsfolge, also z.B. die Absenkung der Vergütung, erreichen. Dem können im Einzelfall das Betriebsverfassungsrecht, insbesondere das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG, und vor allem Bezugnahmeklauseln in den Arbeitsverträgen der bereits beschäftigten Arbeitnehmer entgegenstehen.

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Ein „gewillkürter Tarifwechsel“ aus Arbeitnehmersicht ist hingegen – wenn auch nicht ausgeschlossen – so doch deutlich weniger praxisrelevant. Am ehesten vorstellbar ist ein Wechsel des Arbeitnehmers in eine andere Gewerkschaft im tarifpluralen Betrieb, weil der Arbeitnehmer sich damit ggf. unmittelbar die Tarifbedingungen der neuen Gewerkschaft sichern kann (bei sofortiger Herstellung kongruenter Tarifbindung). Der reine Austritt des Arbeitnehmers aus der Gewerkschaft hat in der Praxis regelmäßig keine Auswirkungen, weil der Ar-

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Rz. 3

Gewillkürter Tarifverlust

beitgeber von diesem häufig gar keine Kenntnis erhält und der Arbeitnehmer daher faktisch weiterhin an der Tarifentwicklung partizipiert – und sei es über Bezugnahmeklauseln. 3

Nachfolgend werden die wichtigsten Konstellationen tarifrechtlich möglicher gewillkürter Tarifwechsel aufgezeigt und die wesentlichen Problemfelder dargestellt. Dabei wird hinsichtlich der allgemeinen tarifrechtlichen Auswirkungen weitgehend auf die allgemeinen Kapitel verwiesen und der Schwerpunkt auf die praktischen Probleme gelegt.

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Darüber hinaus werden unter Rz. 81 ff. die tarifrechtlichen Implikationen des Einsatzes von Leiharbeit erörtert.

B. Verbandsaustritt 5

Ausgangspunkt eines gewillkürten Tarifwechsels ist im Regelfall der Austritt eines Arbeitgebers aus dem Arbeitgeberverband. Der Austritt aus dem Arbeitgeberverband wird für den zuvor tarifgebundenen Arbeitgeber von Henssler treffend auch als „Marathonlauf mit Hindernissen“1 bezeichnet. Denn bekanntermaßen führt die Kundgabe der Entscheidung eines Arbeitgebers, nicht mehr länger an einen TV gebunden sein zu wollen und deshalb den zuvor zugehörigen Arbeitgeberverband zu verlassen – wie auch die Entscheidung, einen bestehenden HausTV zu kündigen –, in der Regel nicht unmittelbar zum Abstreifen der Tarifwirkung. Dafür sorgen zum einen die in den jeweiligen Satzungen der Verbände vorgesehenen Austrittsfristen, die zum Teil einen Zeitraum von sechs Monaten zum Jahresende vorsehen2, und zum anderen die Vorgaben des TVG zur Nachbindung (§ 3 Abs. 3 TVG) und Nachwirkung (§ 4 Abs. 5 TVG) von TVen. Ein weiteres Hindernis auf dem Weg in die Tariflosigkeit können in den Arbeitsverträgen befindliche Bezugnahmeklauseln auf Tarifwerke darstellen.

I. Rechtsfolgen für bereits beschäftigte Arbeitnehmer 6

Wenn ein gewillkürter Tarifwechsel geplant wird, so ist zunächst für die bereits beschäftigten Arbeitnehmer zu prüfen, welche Rechtsfolgen die geplanten tarifrechtlichen Maßnahmen entfalten werden.

1. Tarifgeltung nach dem TVG 7

Gemäß § 3 Abs. 1 TVG sind nur die Mitglieder der tarifvertragsschließenden TV-Parteien an diesen gebunden. Die dem Arbeitgeber zustehende Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) berechtigt ihn dazu, die Mitgliedschaft jederzeit im Rahmen des durch den Verband ausgestalteten Kündigungsrechts zu beenden. 1 Henssler, FS Wißmann, S. 133. 2 BAG v. 1.12.2004 – 4 AZR 55/04, NZA 2005, 645; Thüsing/Braun/Heise, 11. Kap. Rz. 115.

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Verbandsaustritt

Rz. 9 Teil 14

a) Einhaltung der Kündigungsfristen des Verbandes/TVes aa) VerbandsTV Ist der Arbeitgeber an VerbandsTVe gebunden, so muss er zunächst seine Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband kündigen. Hierbei muss er – da kaum mal ein außerordentlicher Kündigungsgrund vorliegen wird und auch der „drohende Abschluss“ eines ungünstigen TVes regelmäßig keinen außerordentlichen Kündigungsgrund begründet – die in der Verbandssatzung festgelegte Kündigungsfrist wahren. In der Praxis sind Kündigungsfristen von sechs Monaten sehr geläufig, wobei häufig feste Kündigungstermine vorgesehen sind (z.B. zum Ende des Geschäftsjahres des Verbandes). Allerdings sind die Arbeitgeberverbände bei der Regelung der Kündigungsfrist nicht völlig frei. In der Rechtsprechung zum Satzungsrecht der Koalitionen wird vor dem Hintergrund der negativen Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) von einer maximal zulässigen Länge der Kündigungsfristen beim Arbeitgeberverband von sechs Monaten bis zu einem Jahr ausgegangen1. Längere Kündigungsfristen sollen demnach unmittelbar gemäß Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG nichtig sein2. Rechtsfolge ist nach h.M. allerdings nicht der Wegfall jeglicher Kündigungsfrist, sondern die Reduzierung der Kündigungsfrist auf eine zulässige Länge, wohl also maximal ein Jahr.

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Eine gegebenenfalls raschere Beendigung der Tarifbindung kann im Einzelfall und unter strengen Voraussetzungen durch eine besondere Form des Verbandsaustritts, den so genannten Blitzaustritt des Arbeitgebers aus dem Arbeitgeberverband, erreicht werden. Darunter wird das kurzfristige oder gar fristlose Ausscheiden eines Arbeitgebers aus der Arbeitgebervereinigung (häufig im Vorfeld zu einem TV-Abschluss) durch einen Austritt mit knapper satzungsmäßiger Frist, durch eine einvernehmliche sofortige Aufhebung der Mitgliedschaft zwischen Arbeitgeber und Verband oder durch einen fristlosen Wechsel in die OTMitgliedschaft (zum Begriff Teil 2 Rz. 148 ff.) verstanden3 (wobei letztere Methode auch als Blitzwechsel bezeichnet wird, dazu siehe unten Rz. 44). Ein Blitzaustritt kann im Ergebnis eine erhebliche Verkürzung des zum Wegfall der Tarifgebundenheit führenden Prozesses bedeuten, wenn auch ein solcher Blitzaustritt nicht unmittelbar in eine Tariflosigkeit mündet. Vielmehr tritt auch hier zunächst die Nachbindung des TVes nach § 3 Abs. 3 TVG ein4. Da der Blitzaustritt oftmals jedoch im Rahmen von laufenden TV-Verhandlungen erklärt wird, wenn für den Arbeitgeber absehbar ist, dass der anstehende TVAbschluss für ihn nachteilige Folgen hat, ist der Zeitraum der Nachbindung teilweise sehr kurz. Denn unmittelbar an den Blitzaustritt und die anknüpfende Nachbindung an den zum Zeitpunkt des Austritts normativ geltenden TV schließt sich der Abschluss des NachfolgeTVes an, dessen Inkrafttreten die

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1 S. MünchKomm/Reuter, § 39 BGB Rz. 8 m.w.N. sowie Oetker, ZfA 1998, 41 (59 ff.). 2 BGH v. 4.7.1977 – II ZR 30/76, AP Nr. 25 zu Art. 9 GG; BGH v. 22.9.1980 – II ZR 34/80, AP Nr. 33 zu Art. 9 GG (jeweils zu Gewerkschaften); BAG v. 19.9.2006 – 1 ABR 2/06, NZA 2007, 277 ff. 3 Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 232. 4 BAG v. 25.2.2009 – 4 AZR 986/07, AP Nr. 40 zu § 3 TVG; Bauer/Haußmann, RdA 2009, 99 (103).

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Nachbindung wieder beendet. Aufgrund des Blitzaustritts ist der Arbeitgeber an den NachfolgeTV jedoch nicht mehr gebunden, so dass er nach dem raschen Wegfall der Nachbindung keiner normativen Tarifgeltung mehr unterliegt. Das Entstehen eines tariflosen Zustands nach dem Blitzaustritt/dem Blitzwechsel in die OT-Mitgliedschaft wird verhindert, indem der Arbeitgeber nach § 4 Abs. 5 TVG zur Anwendung des vorher geltenden TVes – vorbehaltlich einer anderen Abmachung – verpflichtet ist1, wobei es bei einer statischen Geltung dieses „alten“ TVes verbleibt. 10

In der Praxis ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Blitzaustritt/Blitzwechsel für den Arbeitgeber auch nur dann tatsächlich ein wirksamer Schritt in die Tariffreiheit ist, wenn gewisse von der Rechtsprechung des BAG in der jüngeren Vergangenheit an den Austrittsprozess geknüpfte Anforderungen erfüllt sind. Während ein Blitzaustritt/Blitzwechsel auf das vereinsrechtliche Mitgliedschaftsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitgeberverband in der Regel nämlich ohne Weiteres unmittelbar gestaltend einwirkt und dieses aufhebt/ändert, kann der Arbeitgeber trotz satzungsrechtlich wirksamen Austritts/Wechsels nach der – allerdings zweifelhaften – Rechtsprechung des 4. Senats des BAG dennoch weiterhin auch an den NachfolgeTV normativ – und zwar gemäß § 3 Abs. 1 TVG – gebunden sein. Dies sei der Fall, wenn der Austritt des Arbeitgebers aus dem Arbeitgeberverband bzw. dessen Wechsel in die OT-Mitgliedschaft „koalitionsrechtswidrig“ erfolge, weil dieser für die Gewerkschaftsseite nicht transparent vollzogen wurde2. Ein vereinsrechtlich wirksamer Wechsel von der Vollmitgliedschaft in die OT-Mitgliedschaft während laufender Tarifverhandlungen kann nach der Rechtsprechung nämlich die Geschäftsgrundlage der Tarifverhandlungen und den Gleichlauf von Verantwortlichkeit und Betroffenheit der Tarifparteien stören3; was ebenso für den Fall eines Blitzaustritts gelten soll4. Es bedürfe deshalb für die tarifrechtliche Wirksamkeit eines solchen Wechsels während des Laufs von Tarifverhandlungen dessen Offenlegung gegenüber der an der Verhandlung beteiligten Gewerkschaft und dies zu einem Zeitpunkt, in dem die Gewerkschaft auf eine solche Veränderung noch im Rahmen der laufenden Tarifauseinandersetzung reagieren kann5. Zur Kritik an dieser – für die Praxis dennoch maßgeblichen – Rechtsprechung s. Teil 2 Rz. 174 ff.

bb) HausTV 11

Ist der Arbeitgeber hingegen (nur) an einen HausTV gebunden, so fällt das Hindernis der Kündigungsfrist im Verband weg. Allerdings muss dann der TV als 1 BAG v. 25.2.2009 – 4 AZR 986/07, AP Nr. 40 zu § 3 TVG; Bauer/Haußmann, RdA 2009, 99 (103). 2 BAG v. 20.2.2008 – 4 AZR 64/07, NZA 2008, 946 (949 ff.); BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (1371 ff.); BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 285/08, NZA 2010, 230 (234); kritisch diesbezüglich Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 239 ff.; Willemsen/Mehrens, NJW 2009, 1916 (1917 ff.). 3 BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (Ls.). 4 BAG v. 20.2.2008 – 4 AZR 64/07, NZA 2008, 946 (949). 5 BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (Ls.).

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Verbandsaustritt

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solcher gekündigt werden bzw. dessen Ablauf (bei Befristung) abgewartet werden, um zumindest in die Phase der Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG zu gelangen.

b) Nachbindung nach Austritt Scheidet der Arbeitgeber (im Regelfall mit Ablauf der verbandlichen Kündigungsfrist) aus der Arbeitgebervereinigung aus, gilt der zuvor gemäß § 3 Abs. 1 TVG geltende TV gemäß § 3 Abs. 3 TVG fort (siehe dazu auch Teil 6 Rz. 61 ff.). Mit dieser sog. Nachbindung des TVes gemäß § 3 Abs. 3 TVG ändert sich an der bisherigen Tarifgeltung im Grunde nichts (dazu Teil 6 Rz. 76). Der TV gilt immer noch unmittelbar und zwingend für den aus der Arbeitgebervereinigung ausgetretenen Arbeitgeber und die von ihm beschäftigten Arbeitnehmer, soweit diese Mitglied in der tarifschließenden Gewerkschaft sind. Eine andere (für die Arbeitnehmer ungünstigere) Abmachung ist weiterhin nicht zulässig. Die Nachbindung setzt aber voraus, dass auch die übrigen Anforderungen an eine normative Tarifbindung weiterhin erfüllt sind, so dass eine normative Geltung eines TVes nach dem Verbandsaustritt ausscheidet, wenn z.B. die Tarifzuständigkeit entfallen ist oder der Arbeitgeber aus dem Geltungsbereich des TVes herauswächst1. Ein Ende der Nachbindung tritt erst dann ein, wenn der qua Nachbindung geltende TV beendet ist, insbesondere dieser durch einen neuen TV abgelöst wird2 oder der nachbindende TV inhaltlich geändert wird3. Die Nachbindung wird auch durch eine teilweise Inhaltsänderung des TVes beendet, da der geänderte Teil des TVes mangels mitgliedschaftlicher Legitimation nicht mehr vom ausgestiegenen Arbeitgeber mitgetragen wird und auch der unverändert gebliebene Teil des TVes nicht als ein geschlossenes Verhandlungsergebnis betrachtet werden kann, welches eine unveränderte Fortgeltung rechtfertigen könnte4.

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c) Nachwirkung An den Zeitraum der Nachbindung knüpft dann allerdings unter Umständen eine Nachwirkung des TVes gemäß § 4 Abs. 5 TVG an. Zweck dieser Norm ist das Verhindern von Regelungslücken nach Wegfall der Tarifgeltung gemäß § 3 TVG (siehe dazu Teil 9 Rz. 21 ff.). Hier gilt der zuvor normativ wirkende TV nur noch unmittelbar und kann durch eine andere Abmachung ersetzt werden (er gilt also nicht mehr zwingend). Die andere Abmachung kann dabei neben einem neuen TV bspw. auch eine Betriebsvereinbarung (soweit nach § 77 1 BAG v. 26.9.1979 – 4 AZR 819/77, NJW 1980, 1591; BAG v. 14.6.1994 – 9 AZR 89/93, NZA 1995, 178 (179); BAG v. 9.11.1999 – 3 AZR 690/98, NZA 2000, 730 (731); HWK/ Henssler, § 3 TVG Rz. 43; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 68. 2 BAG v. 13.12.1995 – 4 AZR 603/94, NZA 1996, 767 (768); HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 44; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 85. 3 BAG v. 4.4.2001 – 4 AZR 215/00, NZA 2002, 104 (106); BAG v. 27.9.2001 – 2 AZR 236/00, NZA 2002, 750 (752); BAG v. 7.11.2001 – 4 AZR 703/00, NZA 2002, 748; ErfK/ Franzen, § 3 TVG Rz. 26; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 44; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 95 ff. 4 BAG v. 7.11.2001 – 4 AZR 703/00, NZA 2002, 748 (750); ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 25; Thüsing/Braun/Heise, 11. Kap. Rz. 117.

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Abs. 3 bzw. § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG zulässig) oder eine arbeitsvertragliche Abrede sein. Bis zur Beseitigung des nachwirkenden TVes ist der Arbeitgeber jedoch an die Rechtsnormen des nachwirkenden TVes gebunden.

d) Rechtsfolgen bei Gewerkschaftsaustritt des Arbeitnehmers 14

Tritt der Arbeitnehmer aus der Gewerkschaft aus, treten auf kollektivrechtlicher Ebene dieselben Rechtsfolgen ein wie bei dem Austritt des Arbeitgebers aus dem Arbeitgeberverband. Demnach gilt der TV zunächst nach § 3 Abs. 3 TVG fort und tritt nach Beendigung des TVes dann in den Nachwirkungszeitraum ein (§ 4 Abs. 5 TVG). Man kann zwar daran zweifeln, ob die Anwendung der Arbeitnehmerschutzvorschriften des § 3 Abs. 3 TVG und des § 4 Abs. 5 TVG auch dann sinnvoll sind, wenn der Arbeitnehmer sich für den Verbandsaustritt entscheidet, da das TVG hier aber keine unterschiedliche Behandlung des Austritts von Arbeitgeber und Arbeitnehmer vorsieht, ist dieses Ergebnis hinzunehmen.

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Kommt es somit auf kollektivrechtlicher Ebene nach Abschluss der Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG zum Wegfall jeglicher kollektivrechtlicher Tarifbindung, werden in der Praxis wohl auch nach diesem kompletten Wegfall der Tarifbindung weiterhin die Regelungen des zuvor verbindlichen TVes angewendet werden, da der Arbeitgeber zumeist von dem Gewerkschaftsaustritt seines Mitarbeiters keine Kenntnis erlangt hat und deshalb – oder bewusst zum Zwecke der Gleichstellung (evtl. auch im Wege der betrieblichen Übung1) – die zuvor geltenden TVe weiterhin auf individualrechtlicher Ebene durch eine Bezugnahmeklausel anwendet oder ggf. zur Weiteranwendung der TVe aufgrund einer zuvor vereinbarten Bezugnahmeklausel verpflichtet ist. – Zu den Folgen eines Verbandsaustritts auf die individualrechtliche Tarifgeltung siehe unten Rz. 19.

e) Fazit 16

Die Beseitigung der Tarifbindung durch den Austritt aus dem Arbeitgeberverband kann somit unter Umständen einen erheblichen Zeitraum in Anspruch nehmen.

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Anzumerken ist noch, dass ein Verbandsaustritt keinerlei Auswirkungen auf die bestehende Tarifgebundenheit des Arbeitgebers hat, wenn der zum Zeitpunkt des Verbandsaustritts geltende TV aufgrund einer Allgemeinverbindlicherklärung gemäß § 5 TVG oder aufgrund einer Geltungserstreckung durch das AEntG für das jeweilige Arbeitsverhältnis Anwendung findet (siehe dazu Teil 7). 1 Wobei eine solche nicht in Betracht kommt, wenn der Arbeitgeber weiterhin der Auffassung ist, den TV als Kollektivregelung anzuwenden. Zur Nichtanwendbarkeit der Grundsätze der betrieblichen Übung im Fall der vermeintlichen Anwendung von Kollektivregelungen vgl. BAG v. 16.10.2002 – 4 AZR 467/01, AP Nr. 22 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 26.9.2007 – 5 AZR 808/06, NZA 2008, 179 (181); Gaul/ Naumann, DB 2007, 2594 (2596); kritisch Waltermann, RdA 2006, 257 (268).

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Verbandsaustritt

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Für den Austritt des Arbeitnehmers aus der Gewerkschaft gelten die gleichen „Hürden“ (Wahrung der gewerkschaftlichen Kündigungsfrist, Nachbindung und Nachwirkung) wie für den Austritt des Arbeitgebers aus dem Verband. Der reine Austritt (ohne Wechsel in eine andere Gewerkschaft insbesondere im tarifpluralen Betrieb) hat aber häufig in der Praxis gar keine Auswirkungen, da der Arbeitgeber unabhängig von der Mitgliedschaft z.B. über Bezugnahmeklauseln das Tarifniveau gewährt.

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2. Tarifgeltung aufgrund individualrechtlicher Bezugnahmeklauseln Neben den Auswirkungen eines Verbandsaustritts auf kollektivrechtlicher Ebene ist weiterhin zu berücksichtigen, welche Folgen eine (in der Praxis sehr häufig vorkommende) etwaige Vereinbarung von individualvertraglichen Bezugnahmeklauseln für die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers hat. Die Bezugnahme auf einen TV stellt einen eigenen Geltungsgrund der Tarifinhalte (allerdings auf individualvertraglicher Ebene) neben einer etwaigen (kollektivrechtlichen) Tarifgeltung aufgrund der Bestimmungen des TVG dar1, so dass sich die Tarifgeltung auf schuldrechtlicher Bezugnahme- und kollektivrechtlicher Ebene separat voneinander entwickeln können. Der Arbeitgeber sollte vor einem etwaigen Verbandsaustritt prüfen, ob und, wenn ja, welche Bezugnahmeklauseln in den Arbeitsverträgen mit seinen Arbeitnehmern vereinbart wurden2, da diese das Erreichen der mit einem Verbandsaustritt verfolgten Ziele gegebenenfalls verhindern können.

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a) Statische Bezugnahmeklausel und kleine dynamische Bezugnahmeklausel ohne Gleichstellungscharakter Wurde eine sog. statische Bezugnahmeklausel („Es gilt der Tarifvertrag der Chemieindustrie in Nordrhein-Westfalen in der Fassung vom 16.4.2012“) vereinbart, ist der darin in einer bestimmten Fassung in Bezug genommene TV auch nach dem Verbandsaustritt weiterhin unverändert anzuwenden. In diesem Fall kann der Arbeitgeber allein durch einen Verbandsaustritt eine Geltung tariflicher Regelungen nicht abstreifen. Da die schuldrechtliche/individualvertragliche Geltung des TVes neben der kollektivrechtlichen Nachbindung/Nachwirkung des TVes nach dem Arbeitgeberverbandsaustritt besteht, erlangt das Konkurrenzverhältnis der verschiedenen Geltungsgrundlagen Bedeutung. Hinsichtlich einer statischen Bezugnahmeklausel ergeben sich hier jedoch – zumindest für den Fall, dass statisch auf den bislang kollektivrechtlich geltenden TV verwiesen wird – keine auflösungsbedürftigen Konfliktsituationen, da der nachbindende/nachwirkende TV ebenso wie der von der statischen Bezugnahmeklausel in Bezug genommene TV nur statisch wirkt und somit unterschiedliche Anordnungen auf kollektiver und individualrechtlicher 1 BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, NZA 2002, 634 (637); BAG v. 27.11.2002 – 4 AZR 661/01, AP Nr. 28 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 19.3.2003 – 4 AZR 331/02, NZA 2003, 1207; Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, S. 167. 2 Zu den verschiedenen Klauselvarianten siehe oben Teil 10 Rz. 131 ff., sowie Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, S. 119 ff.

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Ebene nicht entstehen können1. Wird hingegen auf einen anderen als den bislang kollektivrechtlich geltenden TV statisch verwiesen, muss unterschieden werden, ob sich der TV auf kollektivrechtlicher Ebene im Bereich der Nachbindung (§ 3 Abs. 3 TVG) oder im Bereich der Nachwirkung (§ 4 Abs. 5 TVG) befindet. Gilt der TV nach § 3 Abs. 3 TVG noch unmittelbar und zwingend fort, ist eine Abweichung von ihm nur im Rahmen des Günstigkeitsprinzips (§ 4 Abs. 3 TVG) möglich, dessen Anwendung im Verhältnis zwischen Bezugnahmeklausel und normativ geltendem TV von der Rechtsprechung mittlerweile anerkannt ist2. Tritt der TV jedoch in den Bereich der Nachwirkung ein, kann die Bezugnahmeklausel im Einzelfall als andere Abmachung angesehen werden, die dann zu einer Verdrängung des TVes führt, ohne dass es eines Rückgriffs auf das Günstigkeitsprinzip bedürfte. Nach der Rechtsprechung des BAG können „andere Abmachungen“ im Sinne des § 4 Abs. 5 TVG im Grundsatz auch vor dem Eintritt der Nachwirkungsphase abgeschlossen werden3. Voraussetzung dafür, dass einer arbeitsvertraglichen Regelung jedoch der Charakter einer „anderen Abmachung“ zugesprochen werden kann, die zur Beendigung der Nachwirkung führt, obwohl sie bereits vor dem Übergang des TVes in die Nachwirkungsphase abgeschlossen wurde, ist jedoch, dass die Abrede von ihrem Regelungswillen her darauf gerichtet ist, eine bestimmte bestehende Tarifregelung in Anbetracht ihrer bevorstehenden Beendigung und des darauf folgenden Eintritts der Nachwirkung abzuändern4. Wann eine einzelvertragliche Klausel die von der Rechtsprechung aufgestellten Anforderungen erfüllt und damit als andere Abmachung anzusehen ist, ist im Einzelfall nicht immer leicht zu beurteilen. Unproblematisch möglich dürfte eine Vereinbarung einer bewusst statischen Verweisung in Ansehung des konkreten Austritts aus dem Arbeitgeberverband in Form einer „Besitzstandswahrungsvereinbarung“ sein. Je weiter die Vereinbarung der Bezugnahmeklausel zeitlich vor dem Austritt des Arbeitgebers liegt, desto höher dürften die Anforderungen des BAG an eine andere Abmachung im Sinne von § 4 Abs. 5 TVG sein. Hinsichtlich der Vereinbarung einer Bezugnahmeklausel nahm das BAG im Jahr 2006 noch an, dass es ausreiche, dass die individualvertragliche Vereinbarung „nach dem Willen der Arbeitsvertragsparteien zumindest auch die Nachwirkung des beendeten Tarifvertrages beseitigen soll“, wobei sich im konkreten Sachverhalt keinerlei besondere Anhaltspunkte ergaben, die auf eine explizite Äußerung dieses Willens hätten hinweisen können5. Im Hinblick auf eine vor dem Zeitraum der 1 E.M. Willemsen, Bezugnahme auf Tarifvertrag, S. 273. 2 BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, NZA 2008, 364 (366); BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 308/07, AP Nr. 64 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 1023/08, NZA-RR 2011, 30 (33); Thüsing/Braun/Reufels, 8. Kap. Rz. 63; Bepler, NZABeil. 3/2010, 99 (102); Hohenstatt, DB 1992, 1678 (1683). 3 BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 789/07, NZA 2009, 265 (267); BAG v. 20.5.2009 – 4 AZR 230/08, NZA-RR 2010, 591 (595); BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53 (60); insbesondere für die Zulässigkeit einer anderen Abmachung durch eine Bezugnahmeklausel vor Eintritt der Nachwirkung BAG v. 17.1.2006 – 9 AZR 41/05, NZA 2006, 923 (925); vgl. auch Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 745; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 359; E.M. Willemsen, Bezugnahme auf Tarifvertrag, S. 279 ff. 4 BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 789/07, NZA 2009, 265 (267); BAG v. 20.5.2009 – 4 AZR 230/08, NZA-RR 2010, 591 (595); BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53 (60). 5 BAG v. 17.1.2006 – 9 AZR 41/05, NZA 2006, 923 (925).

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Rz. 21 Teil 14

Nachwirkung vereinbarte Änderung der materiellen Arbeitsbedingungen, welche nicht durch die Wirkung einer vereinbarten Bezugnahmeklausel eintraten, legte das BAG jedoch in einer späteren Entscheidung einen strengeren Maßstab an und stellte klar, dass allein der Umstand, dass während der normativen Geltung eines TVes materielle Arbeitsbedingungen vereinbart werden, die wegen der schützenden Funktion des § 4 Abs. 3 TVG keine Wirkung erzeugen konnten, nicht ausreicht, um den Nachwirkungszeitraum zu beenden1. Ist eine kleine dynamische Bezugnahmeklausel („Es gilt der Tarifvertrag der Chemieindustrie Nordrhein-Westfalen in der jeweils gültigen Fassung“) vereinbart worden, die nicht als Gleichstellungsabrede (zum Begriff der Gleichstellungsabrede siehe Teil 10 Rz. 60) zu verstehen ist, gilt Folgendes: Der Arbeitgeber bleibt zur dynamischen Anwendung des in der Klausel bezeichneten TVes auf schuldrechtlicher Ebene verpflichtet. Dabei spielt es keine Rolle, ob die kleine dynamische Bezugnahmeklausel deshalb keine Gleichstellungswirkung entfaltet, weil der Gleichstellungszweck nach der Rechtsprechungsänderung des BAG2 nicht hinreichend zum Ausdruck gebracht wurde oder die kleine dynamische Bezugnahmeklausel auf einen anderen als den normativ geltenden TV verwiesen hat und deshalb eine Gleichstellung von Vornherein – auch nach alter BAG-Rechtsprechung – nicht in Betracht kam3. In beiden Fällen gilt der danach in Bezug genommene TV dynamisch fort, selbst wenn der Arbeitgeber seine normative Tarifbindung an diesen TV durch den Verbandsaustritt beseitigt hat4. Dies führt für den Zeitraum einer Nachbindung an den in Bezug genommenen TV gemäß § 3 Abs. 3 TVG und einer Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG dazu, dass sich die normative und die schuldrechtliche Geltungsanordnung abhängig von ihrem Geltungsgrund unterschiedlich entwickeln können. Auf tarifrechtlicher Ebene gilt der TV insbesondere in der Nachwirkung nämlich nur noch statisch, während der qua Bezugnahmeklausel auf individualrechtlicher Ebene geltende TV dynamische Geltung beansprucht und damit der neue Tarifabschluss, der aufgrund des Austritts vom Arbeitgeber tarifrechtlich nicht mehr maßgeblich und daher nicht mehr nachzuvollziehen ist, aufgrund der individualvertraglichen Bindung dennoch an die Arbeitnehmer weiterzugeben ist. In einem solchen Fall, der Kollision von kollektivrechtlich geltendem TV und qua Bezugnahmeklausel geltendem TV, stellt sich die Frage, welche Regelungen der Arbeitgeber im konkreten Einzelfall auf sein Arbeitsverhältnis anzuwenden hat. Wiederum ist zu differenzieren, ob sich der TV auf kollektivrechtlicher Ebene im Bereich der Nachbindung (§ 3 Abs. 3 1 BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53 (60). 2 Siehe dazu BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, NJW 2006, 2571 ff.; BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965 ff., sowie die Anmerkungen bei Löwisch/Feldmann, Anm. zu BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, EzA Nr. 32 zu § 3 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; Sittard/Ulbrich, ZTR 2006, 458. 3 BAG v. 19.1.1999 – 1 AZR 606/96, NZA 1999, 879 (882); BAG v. 1.12.2004 – 4 AZR 50/04, NZA 2005, 478 (479); BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, NJW 2006, 2571 (2572); Zundel, NJW 2006, 1237 (1242). 4 BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, NJW 2006, 2571 ff.; BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965 ff.; BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 793/07, NZA 2009, 323 ff.; BAG v. 23.2.2011 – 4 AZR 536/09, NZA-RR 2011, 510 (511); vgl. dazu Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, S. 240 ff.

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Rz. 22

Gewillkürter Tarifverlust

TVG) oder im Bereich der Nachwirkung (§ 4 Abs. 5 TVG) befindet. Gilt der TV nach § 3 Abs. 3 TVG noch unmittelbar und zwingend fort, ist in jedem Fall anhand des Günstigkeitsprinzips zu entscheiden, ob der nachbindende oder der in Bezug genommene TV Anwendung findet. Befindet sich der kollektivrechtliche TV in der Nachwirkung, kann die Bezugnahmeklausel unter den o.g. Voraussetzungen (oben Rz. 20) als andere Abmachung dem kollektivrechtlichen TV vorgehen, wobei die neuere Rechtsprechung hier – wie dargestellt – strenge Voraussetzungen annimmt. Sollte die Bezugnahmeklausel die von der Rechtsprechung aufgestellten Anforderungen an eine „andere Abmachung“ im Sinne des § 4 Abs. 5 TVG nicht erfüllen, besteht auch im Nachwirkungsstadium eine nach dem Günstigkeitsprinzip gemäß § 4 Abs. 3 TVG auflösungsbedürftige Kollisionslage fort. 22

Im Falle der Vereinbarung einer statischen Bezugnahmeklausel und einer kleinen dynamischen Bezugnahmeklausel ohne Gleichstellungscharakter gibt somit die Bezugnahmeklausel vor, welcher TV in welcher Fassung anzuwenden ist. Der Arbeitgeberverbandsaustritt hat für die Beurteilung der tarifrechtlichen Situation in dieser Konstellation somit faktisch kaum noch Bedeutung. Zwar spart der Arbeitgeber noch die Mitgliedschaftsbeiträge im Verband, verliert dafür aber auch jeglichen Einfluss auf den Verband und die Tarifverhandlungen und ist dennoch über die Bezugnahmeklauseln an das Verhandlungsergebnis gebunden.

b) Kleine dynamische Bezugnahmeklausel als Gleichstellungsabrede und große dynamische Bezugnahmeklausel 23

Lediglich für den Fall, dass eine kleine dynamische Bezugnahmeklausel mit echtem Gleichstellungscharakter vereinbart worden ist oder eine große dynamische Bezugnahmeklausel besteht (dazu Teil 10 Rz. 90 ff.), führen die bestehenden individualrechtlichen Vertragsklauseln zu einer Synchronisation des Arbeitsverhältnisses mit der kollektivrechtlichen Lage, so dass keine Divergenzen zwischen der Tarifgeltung nach dem TVG und qua existierender Bezugnahmeklausel bestehen1. Ist eine echte Gleichstellungsabrede vereinbart worden, richtet sich die schuldrechtliche Tarifgeltung nach der Tariflage für kollektivrechtlich gebundene Arbeitnehmer, so dass der in der Gleichstellungsabrede bezeichnete TV nach dem Wegfall der normativen Tarifgebundenheit – wie für die tarifgebundenen Arbeitnehmer – lediglich statisch anzuwenden ist2. 1 Für die Gleichstellungsabrede: BAG v. 14.2.1973 – 4 AZR 176/72, AP Nr. 6 zu § 4 TVG Nachwirkung; BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, AP Nr. 21 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; Lambrich, FS Ehmann, S. 169 (222); für die große dynamische Bezugnahmeklausel: BAG v. 21.2.2001 – 4 AZR 18/00, NZA 2001, 1318 (1324); BAG v. 16.10.2002 – 4 AZR 467/01, NZA 2003, 390 (391 f.); Henssler, FS Wißmann, S. 133 (138 f.); Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 330. 2 BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, AP Nr. 21 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 27.11.2002 – 4 AZR 661/00, AP Nr. 28 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 21.10.2009 – 4 AZR 396/08, NZA-RR 2010, 361 (362); Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, S. 154; Wiedemann, RdA 2007, 65.

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Verbandsaustritt

Rz. 27 Teil 14

Für den Fall einer großen dynamischen Bezugnahmeklausel entfällt – je nach Formulierung der Klausel – die Geltung des TVes auf schuldrechtlicher Ebene nach dem Verbandsaustritt gänzlich oder der vor dem Verbandsaustritt geltende TV wirkt lediglich statisch1. Da eine nach typischem Vorbild formulierte große dynamische Bezugnahmeklausel einen TV unabhängig davon in Bezug nimmt, ob er nach § 3 Abs. 1 TVG „regulär“ gilt oder sich in der Nachbindungsphase nach § 3 Abs. 3 TVG oder der Nachwirkungsphase nach § 4 Abs. 5 TVG befindet, ist es im Falle eines Arbeitgeberverbandsaustritts ohne Tarifwechsel nicht möglich, dass auf kollektivrechtlicher und individualrechtlicher Ebene unterschiedliche Tarifregelungen zur Anwendung gelangen.

24

Ist somit eine kleine dynamische Bezugnahmeklausel als Gleichstellungsabrede oder aber eine große dynamische Bezugnahmeklausel vereinbart worden, kann die Beseitigung der Tarifgeltung auf kollektivrechtlicher Ebene anhand der bestehenden Bezugnahmeklausel auf die individualrechtliche Ebene durchschlagen, so dass der Arbeitgeberverbandsaustritt die Tarifgeltung des Arbeitgebers trotz bestehender individualrechtlicher Verpflichtungen zur Anwendung eines TVes maßgeblich gestalten kann.

25

II. Rechtsfolgen für Neueintritte Neben den Rechtsfolgen eines gewillkürten Tarifwechsels für bereits beschäftigte Arbeitnehmer darf der Arbeitgeber nicht aus dem Blick verlieren, wie sich bspw. der Verbandsaustritt auf Neueinstellungen auswirkt. Dabei ist es regelmäßig so, dass dem Arbeitgeber in Bezug auf Neueintritte deutlich größere Handlungsspielräume zustehen, weil zum einen der tarifliche Schutz für neu eintretende Arbeitnehmer im Fall des Verbandsaustritts oder -wechsels geringer ist und zum anderen die individualvertraglichen Bezugnahmeklauseln einseitig gestaltbar sind (z.B. durch Verzicht auf eine dynamische Bezugnahmeklausel etc.). Allerdings muss der dies planende Arbeitgeber berücksichtigen, dass es damit zu einer „gespaltenen Belegschaft“ in Hinblick auf die Arbeitsbedingungen kommen kann, die in der Praxis teilweise aus personalpolitischen Gründen nicht gewollt ist. So wird insbesondere die unterschiedliche Bezahlung trotz gleicher Tätigkeit in der Personalpraxis mit guten Gründen kritisch gesehen. Entgegen einem langläufigen Vorurteil ist eine solche „Spaltung“ arbeitsrechtlich aber unproblematisch möglich, denn einen Grundsatz „gleiches Geld für gleiche Arbeit“ kennt das deutsche Recht nicht.

26

Hinsichtlich der Geltung eines TVes nach dem Verbandsaustritt des Arbeitgebers ist für Neueinstellungen, d.h. nach dem Verbandsaustritt neu eingestellte Arbeitnehmer, zu unterscheiden, ob sich der TV in der Nachbindungsoder der Nachwirkungsphase befindet. Gilt der TV kraft Nachbindung gemäß § 3 Abs. 3 TVG, entfaltet er weiterhin unmittelbare und zwingende Wirkung für den aus dem Verband ausgetretenen Arbeitgeber (siehe dazu Teil 6 Rz. 76).

27

1 Vgl. dazu BAG v. 4.8.1999 – 5 AZR 642/98, NZA 2000, 154 (155); Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, S. 309 f.; Jordan/Bissels, NZA 2010, 71 (73); Preis/Greiner, NZA 2007, 1073 (1079).

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Teil 14

Rz. 28

Gewillkürter Tarifverlust

Ein nach dem Verbandsaustritt begründetes Arbeitsverhältnis oder ein Arbeitsverhältnis eines Arbeitnehmers, der erst nach dem Verbandsaustritt der Gewerkschaft beitritt, fällt unter die normative Wirkung des TVes und wird – bei entsprechender gewerkschaftlicher Gebundenheit des neu eingestellten Mitarbeiters – von diesem TV erfasst1. 28

Ist der TV jedoch bereits im Nachwirkungszeitraum gemäß § 4 Abs. 5 TVG „angekommen“ und gilt er somit nur noch unmittelbar, aber nicht mehr zwingend, wird von der BAG-Rechtsprechung eine Geltung des TVes für ein Arbeitsverhältnis, welches erst im Zeitraum der Nachwirkung begründet worden ist, nicht mehr angenommen2. Der Grund für eine Nachwirkung eines TVes gemäß § 4 Abs. 5 TVG bestehe in einer Überbrückungsfunktion, die eine Inhaltsleere des Arbeitsverhältnisses nach Wegfall der Tarifbindung verhindern soll3. In einem neu begründeten Arbeitsverhältnis kann eine solche Regelungslücke durch einen möglichen Wegfall einer Tarifbindung jedoch erst gar nicht entstehen, da das Arbeitsverhältnis noch nie von einem normativ wirkenden TV erfasst wurde. Eine Geltungserstreckung eines TVes auf ein neu begründetes Arbeitsverhältnis gemäß § 4 Abs. 5 TVG wird – entgegen anders lautender Stimmen in der Literatur4 – daher von der Rechtsprechung abgelehnt5.

29

Im Rahmen der Neueinstellung ist der Arbeitgeber frei in der Entscheidung, ob, und wenn ja, welche Bezugnahmeklauseln er in den Arbeitsvertrag des neu eingestellten Arbeitnehmers aufnehmen möchte. Die Wahl der jeweiligen Bezugnahmeklausel hängt regelmäßig davon ab, ob der Arbeitgeber in Zukunft eventuell den Wiedereintritt in einen Arbeitgeberverband anstrebt oder zumindest – ohne normative Tarifbindung – weiterhin das TV-Niveau gewähren will, z.B. aus Gründen der Attraktivität am Bewerbermarkt. Will der Arbeitgeber auch in Zukunft keiner kollektivrechtlichen Tarifbindung unterliegen, wäre die Vereinbarung einer Bezugnahmeklausel kontraproduktiv. Sollte auf lange Sicht jedoch eine kollektivrechtliche Tarifgeltung in einem anderen Verband 1 BAG v. 4.8.1993 – 4 AZR 499/92, NZA 1994, 34 (35); BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 247/96, NZA 1998, 484 (485); BAG v. 7.11.2001 – 4 AZR 703/00, NZA 2002, 748; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 84; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 23; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 225; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 67; siehe dazu auch Teil 6 Rz. 74. 2 St. Rspr. seit BAG v. 6.6.1958 – 1 AZR 515/57, NJW 1958, 1843 (1844); BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 247/96, NZA 1998, 484 (485); BAG v. 22.7.1998 – 4 AZR 403/97, NZA 1998, 1287 (1288); BAG v. 7.11.2001 – 4 AZR 703/00, NZA 2002, 748 (750); BAG v. 5.8.2009 – 10 AZR 1006/08, NZA 2009, 1439; siehe auch Teil 9 Rz. 36. 3 BAG v. 6.6.1958 – 1 AZR 515/57, NJW 1958, 1843 (1844); BAG v. 13.12.1995 – 4 AZR 1062/94, NZA 1996, 769 (771); BAG v. 15.10.2003 – 4 AZR 573/02, NZA 2004, 387 (389); ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 50; Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 533; siehe Teil 9 Rz. 23. 4 Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 535; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 332; Wiedemann, Anm. zu BAG v. 14.2.1973 – 4 AZR 176/72, AP Nr. 6 zu § 4 TVG Nachwirkung; Wiedemann, Anm. zu BAG v. 29.1.1975 – 4 AZR 218/74, AP Nr. 8 zu § 4 TVG Nachwirkung. 5 St. Rspr. seit BAG v. 6.6.1958 – 1 AZR 515/57, NJW 1958, 1843 (1844); BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 247/96, NZA 1998, 484 (485); BAG v. 22.7.1998 – 4 AZR 403/97, NZA 1998, 1287 (1288); BAG v. 7.11.2001 – 4 AZR 703/00, NZA 2002, 748 (750); BAG v. 5.8.2009 – 10 AZR 1006/08, NZA 2009, 1439; siehe auch Teil 9 Rz. 36.

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Verbandsaustritt

Rz. 30 Teil 14

angestrebt werden, kann aufgrund der damit gewährleisteten Flexibilität die Vereinbarung einer großen dynamischen Bezugnahmeklausel (als Tarifwechselklausel) aus Vereinheitlichungsgesichtspunkten1 opportun sein.

III. Zwang zur Anwendung von betrieblichen Entgeltschemata trotz fehlender anderweitiger Tarifbindung Führt der Verbandsaustritt eines Arbeitgebers zum Wegfall der Tarifbindung, indem der Zeitraum der Nachbindung gemäß § 3 Abs. 3 TVG und der Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG überwunden wurde, kann der Arbeitgeber (nach der BAG-Rechtsprechung) auch ohne eine im Arbeitsvertrag vereinbarte Bezugnahmeklausel zur Anwendung bestimmter Regelungen eines TVes sowohl gegenüber neu eingestellten Arbeitnehmern als auch gegenüber Altarbeitnehmern verpflichtet sein. Das BAG geht nämlich davon aus, dass ein Arbeitgeber, der eine zuvor bestehende Tarifbindung abgestreift hat, aufgrund derer ein tarifliches Vergütungssystem in seinem Betrieb zur Anwendung gekommen ist (was bei VergütungsTVen wohl immer der Fall sein dürfte), nach dem Wegfall der Tarifbindung zur Änderung dieses Vergütungssystems nur berechtigt ist, wenn er ein sich diesbezüglich ergebendes Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG gewahrt hat2. Trotz Wegfalls der kollektivrechtlichen Geltung des TVes und trotz fehlender Bezugnahmeklausel, die zumindest einen schuldrechtlichen Geltungsgrund des tariflichen Vergütungssystems hätte schaffen können, sei ein auf tariflicher Ebene bestehendes Vergütungssystem weiterhin das für den Betrieb einschlägige Entgeltschema mit der Folge, dass der Arbeitgeber es weiter anwenden und z.B. neu eingestellte Mitarbeiter entsprechend eingruppieren müsse3. Auch für den Fall, dass das Vergütungssystem zunächst nur aufgrund einer arbeitsvertraglichen Inbezugnahme im Betrieb des Arbeitgebers Anwendung fand und eine Änderung der Tarifgeltung auf Seiten des Arbeitgebers nunmehr dazu führt, dass das Entgeltschema von der vereinbarten Bezugnahmeklausel nicht mehr aufgegriffen wird, bspw. im Falle eines Tarifwegfalls und dessen Abbildung durch eine große dynamische Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag, sei der Arbeitgeber weiterhin solange zur Beibehaltung des bisherigen Entgeltschemas verpflichtet, bis er dessen Änderung unter Beteiligung des Betriebsrats und Wahrung dessen Mitbestimmungsrechts nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG beschlossen hat4. Das BAG begründet diese Folge mit der Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung: Ändere der Arbeitgeber das betriebliche Entgeltschema in einer von § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG erfassten Weise, ohne dass eine entsprechende Beteiligung des Betriebsrats stattgefunden hat, könnten die Arbeitnehmer die Beibehaltung des früheren Vergütungssystems verlangen. Dieser Anspruch bestehe auch dann, wenn die Anwendung der Vergütungsordnung einst 1 Zu den mit der Vereinbarung einer Bezugnahmeklausel auf TVe verfolgten Zwecken siehe Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, S. 87 ff. 2 BAG v. 8.12.2009 – 1 ABR 66/08, NZA 2010, 404 (406); vgl. auch BAG v. 2.3.2004 – 1 AZR 271/03, NZA 2004, 852 (855). 3 BAG v. 14.4.2010 – 7 ABR 91/08, NZA-RR 2011, 83 (84). 4 BAG v. 8.12.2009 – 1 ABR 66/08, NZA 2010, 404 (406).

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30

Teil 14

Rz. 31

Gewillkürter Tarifverlust

allein auf tariflicher Grundlage beruhte und diese nunmehr weggefallen ist, weil die normative Tarifbindung aufgehoben wurde und die Vergütungsordnung auch nicht aufgrund einer Bezugnahmeklausel für das Arbeitsverhältnis Geltung beanspruchen kann, weil entweder eine solche Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag gar nicht existiert oder deren konkrete Ausgestaltung im Einzelfall eine Aufrechterhaltung des Vergütungssystems nach dem kollektivrechtlichen Tarifwegfall nicht stützen kann. Diese Folge tritt sowohl für zum Zeitpunkt des Wegfalls der Tarifbindung bereits im Betrieb beschäftigte Mitarbeiter1 als auch für Arbeitnehmer, die zeitlich erst nach dem Wegfall der Tarifbindung eingestellt werden2, ein. 31

Völlig zu Recht wird diese evident falsche Rechtsprechung ganz überwiegend kritisiert3. Der 1. BAG-Senat schafft einen „Anspruch ohne Anspruchsgrundlage“4 und ignoriert die tarifrechtlichen Wirkungen der §§ 3 Abs. 3 bzw. 4 Abs. 5 TVG. Denn diesen Normen lässt sich entnehmen, dass die Anwendung der Tarifnormen jedenfalls nach Ablauf der Nachwirkungsphase kollektivrechtlich (etwas anderes muss wegen des Günstigkeitsprinzips für Bezugnahmeklauseln gelten) nicht mehr gerechtfertigt werden kann. Auch überspannt der Senat die Grundsätze der Nachwirkung von tariflichen Regelungen, wenn er auch Arbeitnehmer unter die Geltung der tariflichen Vergütungsregelung fallen lässt, die erst im Zeitraum der Nachwirkung oder sogar erst nach Abschluss des Nachwirkungszeitraums eingestellt wurden5. Vom Ergebnis her nicht nachvollziehbar ist auch, dass durch die Rechtsprechung ohne Grund und Rechtfertigung tarifliche Vergütungsgrundlagen in betriebliche Vergütungsordnungen transformiert und dann unter Hinweis auf die Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung für individualrechtliche Ansprüche bei fehlender Beteiligung des Betriebsrats Zustände geschaffen werden, die über dasjenige hinausgehen, was gelten würde, hätte es einen mitbestimmungsrechtlichen Verfahrensmangel nie gegeben6. Ein weiterer Kritikpunkt ergibt sich speziell für den Fall eines noch genauer zu behandelnden Tarifwechsels (siehe dazu Rz. 62): Findet ein Tarifwechsel – unabhängig, ob allein auf tarifrechtlicher Ebene oder unter Synchronisation des Arbeitsvertrages durch eine große dynamische Bezugnahmeklausel – statt, stellt sich die Frage, ob ein allein auf dem Tarifwechsel beruhender Austausch des tariflich vorgegebenen Vergütungssys-

1 BAG v. 2.3.2004 – 1 AZR 271/03, NZA 2004, 852 (855). 2 BAG v. 15.4.2008 – 1 AZR 65/07, NZA 2008, 888; BAG v. 8.12.2009 – 1 ABR 66/08, NZA 2010, 404 (406). 3 Bauer/Günther, DB 2009, 620; Bayreuther, BB 2010, 2177 (2178); Caspers, FS Löwisch, S. 45 (50); Jacobs, FS Säcker, S. 201 (205); Reichold, Anm. zu BAG v. 2.3.2004 – 1 AZR 271/03, AP Nr. 31 zu § 3 TVG; Reichold, RdA 2011, 311 (312); zustimmend hingegen Bepler, FS Bauer, S. 161 (177 ff.); Kreft, FS Kreutz, S. 263 (272 ff.). 4 So Bauer/Günther, DB 2009, 620; Reichold, Anm. zu BAG v. 2.3.2004 – 1 AZR 271/03, AP Nr. 31 zu § 3 TVG. 5 Bauer/Günther, DB 2009, 620 (621); Caspers, FS Löwisch, S. 45 (50); Reichold, FS Konzen, S. 763 (768). 6 Bauer/Günther, DB 2009, 620 (621); Jacobs, FS Säcker, S. 201 (206); Reichold, FS Konzen, S. 763 (767 f.).

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Verbandsaustritt

Rz. 33 Teil 14

tems überhaupt zur Auslösung von Mitbestimmungsrechten des Betriebsrats führt, da es sich allein um schlichten Normen- bzw. Vertragsvollzug handelt1. Auch wenn die Rechtsprechung des BAG zum „Anspruch ohne Anspruchsgrundlage“ dogmatisch und vom Ergebnis her nicht überzeugen kann, ist sie in der Praxis im Rahmen eines gewillkürten Tarifwechsels zwingend zu beachten, wobei die zukünftige Entwicklung nicht zuletzt wegen des zumindest teilweise einlenkenden Urteils des 1. Senats vom 17.5.20112, worin ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei einer Veränderung des tariflichen Vergütungsschemas im Wege einer Tarifsukzession verneint wurde, zu beobachten bleibt. Doch auch unter strikter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Vorgaben verbleibt dem Arbeitgeber die Möglichkeit, nach einem Tarifausstieg hinsichtlich bestehender Vergütungssysteme gestaltend tätig zu werden. Entscheidend ist, dass er im Nachgang zum Verbandsaustritt keine Änderungen herbeiführt, die das Mitbestimmungsrecht des § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG auslösen. Kürzt er bspw. gleichmäßig Grundvergütung und Zusatzleistungen für alle Arbeitnehmer (also für bereits im Betrieb beschäftigte und auch neu eingestellte Mitarbeiter), greift er nicht verändernd in die Lohnverteilungsgrundsätze ein und ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats, dessen Verletzung die Grundlage für die Aufrechterhaltung der abgelaufenen Tarifbedingungen samt Entgeltschema ist, wird nicht berührt3. Die Rechtsprechung des 1. Senats dürfte in diesem Fall nicht einschlägig sein.

32

IV. Auswirkungen des Abschlusses neuer Tarifverträge nach dem Verbandsaustritt Ist der Arbeitgeber aus dem Arbeitgeberverband wirksam ausgetreten, kann dies unter Umständen die Gewerkschaft auf den Plan rufen, die einen erneuten Beitritt in das Tarifsystem fordert. Insbesondere kann hier der Abschluss eines HausTVes gefordert (z.B. in Form eines AnerkennungsTVes, der wieder die Anwendung des VerbandsTVes anordnet) und ggf. mit Mitteln des Streiks erkämpft werden. Die Möglichkeit einer Erstreikbarkeit von Tarifbedingungen besteht nach der Ansicht einzelner Instanzgerichte nämlich bereits im Zeitraum der Nachbindung eines TVes gemäß § 3 Abs. 3 TVG, da sich der aus dem Arbeitgeberverband ausgetretene Arbeitgeber nicht mehr auf eine etwaig beste-

1 So auch WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 202; in diese Richtung gehend nun auch für den Fall eines “unechten“ Tarifwechsels, d.h. einer Tarifsukzession BAG v. 17.5.2011 – 1 AZR 797/09, NZA-RR 2011, 644 (646); siehe dazu auch unten unter Rz. 62. 2 BAG v. 17.5.2011 – 1 AZR 797/09, NZA-RR 2011, 644 (646); kritisch dazu Salamon, NZA 2012, 899. 3 So auch Bauer/Günther, DB 2009, 620 (622); Jacobs, FS Säcker, S. 201 (204); Kreft, FS Kreutz, S. 263 (277); Reichold, FS Konzen, S. 763 (767); vgl. dazu BAG v. 21.9.1990 – 1 ABR 73/89, NZA 1991, 190 (191); BAG v. 23.1.2008 – 1 ABR 82/06, NZA 2008, 774 (776); BAG v. 15.4.2009 – 1 AZR 65/07, NZA 2008, 888 (891); skeptisch hingegen Bayreuther, BB 2010, 2177, 2179.

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Teil 14

Rz. 34

Gewillkürter Tarifverlust

hende Friedenspflicht berufen könne1. Dabei stützt sich diese Ansicht jedoch zum Teil auf ein Urteil des BAG aus dem Jahre 19552, welches eine vom Arbeitgeberverbandsaustritt abweichende Fallgestaltung betraf und daher nicht ohne Weiteres für den hier relevanten Sachverhalt übernommen werden kann3. Die herrschende Auffassung in der Literatur geht hingegen richtigerweise davon aus, dass die Friedenspflicht auch während der Nachbindungsphase gemäß § 3 Abs. 3 TVG fortbesteht4. Danach soll ein Arbeitskampf nur dann zulässig sein, wenn ein tariflicher Regelungskonflikt besteht, was jedoch nicht der Fall ist, wenn der zuvor anwendbare TV nach dem Arbeitgeberverbandsaustritt weiterhin zwingende Wirkung entfaltet5. Ab dem Zeitpunkt des Ablaufs des TVes (Ablauf der Kündigungsfrist, Befristungsende) besteht hingegen keine Friedenspflicht mehr, so dass in der Nachwirkungsphase Arbeitskämpe möglich sind. 34

Hinsichtlich der sich nach dem etwaigen Abschluss eines HausTVes ergebenden Konkurrenzsituation auf kollektivrechtlicher Ebene zwischen einem evtl. fortgeltenden/nachwirkenden VerbandsTV und dem „frisch“ abgeschlossenen HausTV sei auf die Ausführungen zur Auflösung von Tarifmehrheiten verwiesen (Teil 9 Rz. 73 ff.). Im Ergebnis wird es in der Regel zwischen dem neu abgeschlossenen TV und einem nachbindenden TV nach § 3 Abs. 3 TVG zu einer Tarifkonkurrenz kommen, die anhand des Spezialitätsprinzips aufzulösen ist. Dabei geht der HausTV dem VerbandsTV vor. Wird der neue TV hingegen im Zeitraum der Nachwirkung des früheren TVes gemäß § 4 Abs. 5 TVG abgeschlossen, verdrängt der neue TV den alten als „andere Abmachung“, ohne dass es auf die Spezialität ankäme.

C. Verbandswechsel 35

Unter Umständen bringt ein Verbandsaustritt nicht die vom Arbeitgeber beabsichtigten Folgen mit sich und es kann zweckmäßig sein, einen Verbandswechsel vorzunehmen, insbesondere dann, wenn der Arbeitgeber einen Tarifwechsel, also die Anwendung eines neuen Tarifregimes, beabsichtigt. Die Möglichkeiten hierfür sind aufgrund des zunehmenden Auftretens von Tarifpluralitäten und ihrer Anerkennung durch das BAG6 in den letzten Jahren durchaus gewachsen.

1 LAG Hamm v. 31.1.1991 – 16 Sa 119/91; LAG Rheinland-Pfalz v. 20.12.1996 – 7 Sa 1247/96, NZA-RR 1998, 131; LAG Hessen v. 17.9.2008 – 9 SaGa 1442/08, NZA-RR 2009, 26. 2 BAG v. 4.5.1955 – 1 AZR 493/54, AP Nr. 2 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. 3 LAG Hessen v. 17.9.2008 – 9 SaGa 1442/08, NZA-RR 2009, 26; Willemsen/Mehrens, NZA 2009, 169 (170 ff.). 4 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 28; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 261 ff.; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 79; Willemsen/Mehrens, NZA 2009, 169 (170 ff.). 5 Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 261 ff. m.w.N. 6 BAG v. 27.1.2010 – 10 AS 2/10, NZA 2010, 645 ff.; BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068 ff.

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Rz. 38 Teil 14

Verbandswechsel

Welche Auswirkungen ein Verbandswechsel auf die tarifrechtliche Situation eines Arbeitgebers im Einzelnen hat, ist auch in Abhängigkeit davon zu beurteilen, mit welchen Gewerkschaften jeweils TVe abgeschlossen worden sind.

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I. Rechtsfolgen für bereits beschäftigte Arbeitnehmer 1. Tarifgeltung nach dem TVG Der Verbandswechsel geht zumeist damit einher, dass der Arbeitgeber aus seinem bisherigen Arbeitgeberverband austritt, weil eine Doppelmitgliedschaft regelmäßig nicht gewollt ist (und teilweise auch satzungswidrig wäre). Der Arbeitgeberverbandsaustritt ist somit meist der notwendige Zwischenschritt zum Verbandswechsel. Die sich auf kollektivrechtlicher und individualrechtlicher Ebene ergebenden Auswirkungen eines Arbeitgeberverbandsaustritts auf die Tarifgeltung wurden bereits dargestellt (siehe dazu Rz. 5 ff.). Tritt der Arbeitgeber anschließend in einen neuen Arbeitgeberverband ein, kann es zu einer Tarifmehrheit zwischen den TVen des „alten“ Arbeitgeberverbandes und den beim „neuen“ Arbeitgeberverband geltenden TVen kommen. Ob eine solche Tarifmehrheit tatsächlich entsteht und wie diese im Einzelfall aufzulösen ist, hängt nicht zuletzt davon ab, mit welcher Gewerkschaft die jeweils miteinander konfligierenden TVe abgeschlossen wurden.

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a) Tarifgeltung bei TV-Abschluss mit gleicher Gewerkschaft Wechselt der Arbeitgeber in einen Verband, der mit derjenigen Gewerkschaft einen TV abgeschlossen hat, die auch bereits Vertragspartner des früheren Arbeitgeberverbandes war, kommt es für die im Betrieb des Arbeitgebers beschäftigten und in der tarifschließenden Gewerkschaft organisierten Arbeitnehmer zu einer Tarifkonkurrenz, solange der Arbeitgeber gemäß § 3 Abs. 3 TVG an den „alten“ TV gebunden ist, der aus seiner Mitgliedschaft beim früheren Arbeitgeberverband resultiert. Die Tarifkonkurrenz besteht dann zwischen dem fortgeltenden „alten“ TV und dem nach § 3 Abs. 1 TVG geltenden TV des „neuen“ Arbeitgeberverbandes. Diese Tarifkonkurrenz1 ist nach überwiegender Auffassung anhand des Spezialitätsprinzips aufzulösen2. Tritt der vom „alten“ Arbeitgeberverband abgeschlossene und nach dem Verbandsaustritt zunächst gemäß § 3 Abs. 3 TVG nachbindende TV anschließend in das Stadium der Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG ein, wird er durch den vom neuen Ar-

1 Siehe dazu BAG v. 24.1.2001 – 4 AZR 655/99, NZA 2001, 788 (790); BAG v. 4.4.2001 – 4 AZR 237/00, NZA 2001, 1085 (1086); Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 265 ff.; Hohenstatt, DB 1992, 1678 (1679); Jacobs, Tarifeinheit, S. 95 f.; siehe auch Teil 9 Rz. 91 ff. 2 Bislang einhellige Meinung, siehe ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 67 m.w.N.; Schliemann, NZA-Beil. zu Heft 24/2000, 24 (29); zur Rechtslage nach der Verabschiedung des Grundsatzes der Tarifeinheit durch das BAG siehe Teil 9 Rz. 94 ff.; siehe zum Spezialitätsprinzip allgemein BAG v. 24.9.1975 – 4 AZR 471/74, AP Nr. 11 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; BAG v. 14.6.1989 – 4 AZR 200/89, AP Nr. 16 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; Hromadka/Maschmann/Wallner, Tarifwechsel, Rz. 139; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 278; Etzel, NJW 1991, 3191 (3192).

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Teil 14

Rz. 39

Gewillkürter Tarifverlust

beitgeberverband abgeschlossenen TV als andere Abmachung verdrängt1 und es gilt dann allein der vom neuen Arbeitgeberverband abgeschlossene TV. 39

In der Praxis sind derartige Tarifwechsel gerade im Zuständigkeitsbereich der Gewerkschaft ver.di häufig möglich, da diese – bspw. im Energiesektor – mit verschiedenen Arbeitgeberverbänden TVe abgeschlossen hat, die aber durchaus ein unterschiedliches Vergütungsniveau aufweisen. Der Wechsel in den „günstigeren“ TV über einen Wechsel des Arbeitgeberverbandes stellt damit eine durchaus denkbare Gestaltungsoption dar. Allerdings sind den Gewerkschaften entsprechende „Fluchtszenarien“ durchgehend bewusst und sie versuchen u.a. durch den Abschluss von HausTVen so einen einfachen Tarifwechsel unmöglich zu machen. Teilweise finden sich in derartigen HausTVen auch Vereinbarungen dahingehend, dass das Unternehmen verpflichtet sein soll, Mitglied im „bisherigen“ Arbeitgeberverband zu bleiben. Derartige Vereinbarungen dürften indes nach Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG wegen eines ungerechtfertigten Eingriffs in die negative Koalitionsfreiheit verfassungswidrig und unmittelbar nichtig sein.

b) Tarifgeltung bei TV-Abschluss mit anderer Gewerkschaft 40

Findet der Verbandswechsel des Arbeitgebers in eine Arbeitgebervereinigung statt, die mit einer anderen Gewerkschaft als derjenigen kontrahiert hat, die Vertragspartner des früheren Arbeitgeberverbandes des Arbeitgebers war, beurteilt sich die kollektivrechtliche Situation jeweils individuell danach, in welcher Gewerkschaft die im Betrieb des Arbeitgebers beschäftigten Mitarbeiter organisiert sind.

41

Vollzieht kein Arbeitnehmer den „Gewerkschaftswechsel“ nach und ist auch sonst kein Arbeitnehmer in der Gewerkschaft organisiert, die nunmehr Vertragspartner desjenigen Arbeitgeberverbandes geworden ist, dem der Arbeitgeber jüngst beigetreten ist, gilt im Unternehmen des Arbeitgebers allein der vom „alten“ Arbeitgeberverband mit der „alten“ Gewerkschaft abgeschlossene TV kraft Nachbindung/Nachwirkung gemäß § 3 Abs. 3 TVG bzw. § 4 Abs. 5 TVG2.

42

Wechseln hingegen – was ein theoretischer Fall sein dürfte – alle Arbeitnehmer die Gewerkschaft und organisieren sich in der Arbeitnehmervereinigung, die Vertragspartners des „neuen“ Arbeitgeberverbands des Arbeitgebers nach dem Verbandswechsel geworden ist, sind alle Arbeitnehmer gemäß § 3 Abs. 1 TVG zumindest an den zwischen der „neuen“ Gewerkschaft und dem „neuen“ Arbeitgeberverband abgeschlossenen TV normativ gebunden. Gilt der vormals vom „alten“ Arbeitgeberverband abgeschlossene TV gemäß § 3 Abs. 3 TVG fort, findet dieser trotz Gewerkschaftswechsel auf Belegschaftsseite und Arbeitgeberverbandswechsel auf Unternehmerseite weiterhin auf alle zuvor von 1 BAG v. 4.12.1974 – 5 AZR 75/74, AP Nr. 2 zu § 3 TVG; BAG v. 4.9.1996 – 4 AZR 135/95, NZA 1997, 271 (272); Thüsing/Braun/Heise, 11. Kap. Rz. 154; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 212; Henssler, FS Wißmann, S. 133 (140); E.M. Willemsen, Bezugnahme auf Tarifvertrag, S. 289. 2 So auch Thüsing/Braun/Heise, 11. Kap. Rz. 155

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Verbandswechsel

Rz. 44 Teil 14

der normativen Wirkung dieses TVes erfassten Arbeitsverhältnisse unmittelbare und zwingende Anwendung. Die damit entstehende Tarifkonkurrenz ist nach herrschender Auffassung anhand des Spezialitätsprinzips aufzulösen1. Tritt der vor dem Arbeitgeberverbandsaustritt gemäß § 3 Abs. 1 TVG normativ geltende TV jedoch in den Zeitraum der Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG ein, wird er durch den zwischen dem „neuen“ Arbeitgeberverband und der „neuen“ Gewerkschaft geschlossenen TV als andere Abmachung abgelöst2. Tritt, was in der Praxis der absolute Regelfall sein dürfte, nach dem Vollzug des Verbandswechsels jedoch eine Spaltung der Belegschaft dergestalt ein, dass Teile der Belegschaft bei derjenigen Gewerkschaft organisiert bleiben, die einen TV mit dem „alten“ Arbeitgeberverband abgeschlossen hat, und Teile der Belegschaft einen Gewerkschaftswechsel hin zu derjenigen Gewerkschaft vollziehen (oder dort ohnehin schon Mitglieder sind), die einen TV mit dem „neuen“ Arbeitgeberverband geschlossen hat, gilt Folgendes: Für die in der „alten“ Gewerkschaft organisierten Arbeitnehmer gilt weiterhin der „alte“ TV gemäß § 3 Abs. 3 TVG/§ 4 Abs. 5 TVG; für die in der „neuen“ Gewerkschaft organisierten Arbeitnehmer kommt es im Zeitraum der Nachbindung des „alten“ TVes zu einer Tarifkonkurrenz, wonach nach herrschender Auffassung der speziellere der beiden TVe anwendbar ist, während im Zeitraum der Nachwirkung des „alten“ TVes allein der neue TV als „andere Abmachung“ zur Anwendung kommt. Aufgrund des unterschiedlichen Organisationsgrades der einzelnen Belegschaftsgruppen und der demnach unterschiedlichen Tarifgeltung kann es in einzelnen Betrieben des Arbeitgebers auch zu einem Nebeneinander verschiedener TVe kommen. Diese Tarifpluralität ist nach neuer Rechtsprechung des BAG dann allerdings hinzunehmen und nicht auflösungsbedürftig3.

43

c) Sonderfall: Blitzwechsel in OT-Mitgliedschaft Eine „Art von Verbandswechsel“ bildet auch der sog. Blitzwechsel in die OTMitgliedschaft, welche zu einer Nachbindung des zuvor geltenden TVes nach § 3 Abs. 3 TVG mit anschließender Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG führt4. Da sich nach dem Blitzwechsel in die OT-Mitgliedschaft aber keine 1 Bislang einhellige Meinung, siehe ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 67 m.w.N.; Schliemann, NZA-Beil. zu Heft 24/2000, 24 (29); zur Rechtslage nach der Verabschiedung des Grundsatzes der Tarifeinheit durch das BAG siehe Teil 9 Rz. 94 ff.; siehe zum Spezialitätsprinzip allgemein BAG v. 24.9.1975 – 4 AZR 471/74, AP Nr. 11 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; BAG v. 14.6.1989 – 4 AZR 200/89, AP Nr. 16 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; Hromadka/Maschmann/Wallner, Tarifwechsel, Rz. 139; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 278; Etzel, NJW 1991, 3191 (3192). 2 BAG v. 4.12.1974 – 5 AZR 75/54, AP Nr. 2 zu § 3 TVG; BAG v. 4.9.1996 – 4 AZR 135/95, NZA 1997, 271 (272); Thüsing/Braun/Heise, 11. Kap. Rz. 154; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 212; Henssler, FS Wißmann, S. 133 (140); E.M. Willemsen, Bezugnahme auf Tarifvertrag, S. 289. 3 BAG v. 27.1.2010 – 4 AZR 549/08 (A), NZA 2010, 645; BAG v. 23.6.2010 – 10 AS 3/10, NZA 2010, 778; BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068; siehe auch Teil 9 Rz. 99 ff. 4 BAG v. 25.2.2009 – 4 AZR 986/07, AP Nr. 40 zu § 3 TVG; Bauer/Haußmann, RdA 2009, 99 (103); Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 247.

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Teil 14

Rz. 45

Gewillkürter Tarifverlust

weitere normative Tarifbindung an die Vollziehung des Wechsels anschließt, kann auf die Rechtslage zum Arbeitgeberverbandsaustritt verwiesen werden. Auch hier ist aber zu beachten, dass die Anforderungen des BAG an die Transparenz des Blitzwechsels gewahrt sein müssen (vgl. oben Rz. 10 f.).

2. Tarifgeltung aufgrund geltender Bezugnahmeklauseln 45

Welche Rolle eine bestehende Bezugnahmeklausel für die Beurteilung der geltenden Tarifregelungen nach einem Verbandswechsel spielt, ist erheblich komplizierter zu bestimmen als im Falle eines „bloßen“ Arbeitgeberverbandsaustritts. Neben der Frage, ob ein in Bezug genommener TV nach der Maßnahme – Verbandsaustritt oder Verbandswechsel – statisch oder dynamisch wirkt, stellt sich im Rahmen eines Verbandswechsels weiterhin die Frage, welcher TV – der „alte“ oder der „neue“ TV – durch die Bezugnahmeklausel denn überhaupt individualvertraglich gelten soll. Wiederum ist eine Beantwortung dieser Fragen davon abhängig, welche Art von Bezugnahmeklausel vereinbart wurde und wie sich die Tarifsituation auf kollektivrechtlicher Ebene darstellt, was – wie bereits erwähnt – vorwiegend danach zu beurteilen ist, mit welcher Gewerkschaft ein TV abgeschlossen wurde.

a) Situation bei Bestehen eines TVes mit der „alten“ Gewerkschaft 46

Zunächst soll die Situation des Arbeitgebers behandelt werden, der in einen Arbeitgeberverband wechselt, der Tarifpartner derselben Gewerkschaft wie der „alte“ Arbeitgeberverband ist.

aa) Statische Bezugnahmeklausel 47

Ist eine statische Bezugnahmeklausel vereinbart, ist der Arbeitgeber auch nach dem Verbandswechsel dazu verpflichtet, den in der Bezugnahmeklausel bezeichneten TV statisch anzuwenden. Daran ändert sich durch den Verbandswechsel nichts. Die statische Bezugnahmeklausel ist insoweit „verbandswechselfest“1. Entsteht eine Kollision zwischen dem auf kollektivrechtlicher Ebene für das einzelne Arbeitsverhältnis geltenden TV und dem qua Bezugnahmeklausel geltenden TV, bspw. weil der TV auf kollektivrechtlicher Ebene dynamisch und auf schuldrechtlicher Ebene nur statisch wirkt, ist diese gemäß § 4 Abs. 3 TVG anhand des Günstigkeitsprinzips aufzulösen2.

1 Henssler, FS Wißmann, S. 133 (141); E.M. Willemsen, Bezugnahme auf Tarifvertrag, S. 308. 2 Zur Anwendung des Günstigkeitsprinzips bei Kollision von Bezugnahmeklausel und Tarifvertrag: BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, NZA 2008, 364 (366); BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 308/07, AP Nr. 64 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 1023/08, NZA-RR 2011, 30 (33); Thüsing/Braun/Reufels, 8. Kap. Rz. 63; Bepler, NZA-Beil. 3/2010, 99 (102); Hohenstatt, DB 1992, 1678 (1683).

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Verbandswechsel

Rz. 50 Teil 14

bb) Kleine dynamische Bezugnahmeklausel als Gleichstellungsabrede Ist eine kleine dynamische Bezugnahmeklausel als Gleichstellungsabrede ausgestaltet, ergibt sich im Falle des Verbandswechsels unter Abschluss eines „neuen“ TVes durch den „neuen“ Arbeitgeberverband – wenn auch mit der „alten“ Gewerkschaft – das Problem, dass die kleine dynamische Bezugnahmeklausel aufgrund ihres Wortlauts immer noch den „alten“ TV in seiner jeweils gültigen Fassung bezeichnet, auch wenn dieser auf kollektivrechtlicher Ebene unter Umständen gar nicht mehr zur Anwendung kommt1. Ihrer Gleichstellungsfunktion kann die Bezugnahmeklausel in dieser Konstellation nicht mehr gerecht werden, da voraussichtlich ein Großteil der organisierten Belegschaft an den „neuen“ TV gebunden ist/sein wird, während die Bezugnahme auf den nicht mehr zeitgemäßen „alten“ TV verweist. Trotz dieses für den Arbeitgeber unglücklichen Ergebnisses ist entgegen der früheren2 und im Einklang mit der jüngeren3 Rechtsprechung davon auszugehen, dass eine unter Hinweis auf ihren Gleichstellungscharakter vorzunehmende „Umdeutung“ der Bezugnahmeklausel mit dem Ziel, das Bezugnahmeziel zu wechseln und somit auf den „neuen“ TV zu verweisen, unzulässig ist.

48

Diese Tarifkollision aufgrund der Bezugnahmeklausel ist wiederum nach dem Günstigkeitsprinzip gemäß § 4 Abs. 3 TVG zu lösen.

cc) Kleine dynamische Bezugnahmeklausel als konstitutiv-dynamisch wirkende Verweisung Rechtlich unproblematisch (wenn auch für den Arbeitgeber ungünstig) ist die Situation hingegen in dem Fall, dass die kleine dynamische Bezugnahmeklausel keinen Gleichstellungscharakter aufweist, sondern konstitutiv-dynamische Wirkung entfaltet. In dieser Konstellation ist der in der Bezugnahmeklausel bezeichnete TV, unabhängig vom erfolgten Tarifwechsel und streng am Wortlaut der Verweisungsklausel orientiert, dynamisch anzuwenden. Eine etwaige Kollision zwischen schuldrechtlicher und kollektivrechtlicher Tarifgeltung ist wiederum anhand des Günstigkeitsprinzips aufzulösen.

49

dd) Große dynamische Bezugnahmeklausel Ist eine große dynamische Bezugnahmeklausel vereinbart worden, kann sich die Konstellation ergeben, dass nicht eindeutig bestimmbar ist, welcher TV 1 Insbesondere für den Fall, dass sich der alte Tarifvertrag gemäß § 3 Abs. 3 TVG in der Nachbindung befindet und dann vom neuen, gemäß § 3 Abs. 1 TVG geltenden Tarifvertrag im Wege des Spezialitätsprinzips zur Auflösung der entstandenen Tarifkonkurrenz verdrängt wurde; oder für den Fall, dass sich der alte Tarifvertrag gemäß § 4 Abs. 5 TVG in der Nachwirkung befand und vom neuen, nach dem Verbandswechsel gemäß § 3 Abs. 1 TVG geltenden Tarifvertrag als andere Abmachung abgelöst wurde. 2 BAG v. 4.9.1996 – 4 AZR 135/95, NZA 1997, 271 (272). 3 BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 581/99, NZA 2001, 510 (511 f.); BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, NZA 2008, 364 (365); BAG v. 15.4.2008 – 9 AZR 159/07, NZA-RR 2008, 586 (592); BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (45); BAG v. 17.11.2010 – 4 AZR 391/09, NZA 2011, 356 (357).

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Teil 14

Rz. 51

Gewillkürter Tarifverlust

nach dem durchgeführten Verbandswechsel von der Bezugnahmeklausel erfasst sein soll. Denkbar ist die Fallgestaltung, dass der „alte“ TV nach § 3 Abs. 3 TVG fortgilt und der „neue“ TV gemäß § 3 Abs. 1 TVG Anwendung findet (tarifrechtlich also eine Tarifkonkurrenz vorliegt). Ist eine große dynamische Bezugnahmeklausel nach dem bekannten Vorbild „Es gelten die jeweils normativ geltenden TVe“ gestaltet, kann sich die Bezugnahmeklausel grundsätzlich auf beide kollektivrechtlich geltenden TVe beziehen, denn beide TVe „gelten“ im Betrieb. Haben die Parteien diesen Fall in der Formulierung ihrer Bezugnahmeklausel nicht bedacht, bspw. indem sie einen Klauselzusatz in Form einer Spezialitäts- oder Mehrheitsklausel aufgenommen haben1, ist durch (ergänzende) Vertragsauslegung gemäß §§ 133, 157 BGB zu ermitteln, auf welchen TV sich die Bezugnahmeklausel beziehen soll. Ergibt sich aus einer Auslegung, dass mit der Klausel vorrangig Gleichstellungsgesichtspunkte verfolgt werden sollen, wird sich für eine Verweisung auf denjenigen TV argumentieren lassen, der von der Mehrheit der Arbeitnehmer getragen wird. Denkbar wäre es aber auch, die Verweisung so zu lesen, dass auf das zukünftig maßgebliche, also das „neue“ Tarifregime Bezug genommen werden soll. Liegt der Klausel keine Gleichstellungsintention zugrunde, liegt es aus Sicht eines objektiven Empfängers nahe, unter Anwendung des für Tarifmehrheiten in der Vergangenheit regelmäßig angeführten Spezialitätsgrundsatzes eine Verweisung auf den sachnächsten TV anzunehmen2. Eine Kollision der schuldrechtlichen und kollektivrechtlichen Tarifgeltung ist hier dann nicht gegeben.

b) Situation bei Bestehen eines TVes mit einer „neuen“ Gewerkschaft 51

Bei einem Verbandswechsel des Arbeitgebers tritt praktisch häufig der Fall auf, dass der Arbeitgeber in einen Arbeitgeberverband wechselt, dessen Tarifpartner eine andere Gewerkschaft als die des „alten“ Arbeitgeberverbandes ist.

aa) Statische Bezugnahmeklausel 52

Bei einer statischen Bezugnahmeklausel gilt hier nichts anderes als bei Gewerkschaftsidentität beim Tarifwechsel, denn der bezeichnete TV gilt statisch „verbandswechselfest“3 fort und im Kollisionsfalle greift das Günstigkeitsprinzip4. Die Fallkonstellation „Arbeitgeberverbandswechsel und TV-Abschluss mit ‚neuer‘ Gewerkschaft“ unterscheidet sich von der Fallkonstellation „Arbeitgeberverbandswechsel und TV-Abschluss mit ‚alter‘ Gewerkschaft“ nur dadurch, dass – falls in beiden Fällen jeweils eine statische Bezugnahmeklausel vereinbart wurde – die auf individualvertraglicher und kollektivrechtlicher gel1 Siehe dazu, wie auch zu anderen Klauselvorschlägen ausführlich Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, S. 128 ff. 2 So auch E.M. Willemsen, Bezugnahme auf Tarifvertrag, S. 315. 3 Henssler, FS Wißmann, S. 133 (141); E.M. Willemsen, Bezugnahme auf Tarifvertrag, S. 308. 4 BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, NZA 2008, 364 (366); BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 308/07, AP Nr. 64 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 1023/08, NZA-RR 2011, 30 (33); Thüsing/Braun/Reufels, 8. Kap. Rz. 63; Bepler, NZABeil. 3/2010, 99 (102); Hohenstatt, DB 1992, 1678 (1683).

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Verbandswechsel

Rz. 53 Teil 14

tenden TVe solche verschiedener Gewerkschaften sein können. Ist mit dem Arbeitgeberverbandswechsel auch ein Austausch des Vertragspartners auf Gewerkschaftsseite verbunden, kann es dazu kommen, dass dieser mit der „neuen“ Gewerkschaft auf kollektivrechtlicher Ebene geltende TV mit dem statisch in Bezug genommenen TV „kollidiert“.

bb) Kleine dynamische Bezugnahmeklausel als Gleichstellungsabrede Welcher TV durch die kleine dynamische Bezugnahmeklausel, deren Zweck eine Gleichstellung der Arbeitnehmer ist, in Bezug genommen werden soll, ist anhand der Intention des Arbeitgebers zu ermitteln, die tarifrechtliche Lage auf individualrechtlicher Ebene widerzuspiegeln. Wie bereits dargestellt, ist die Geltung von TVen auf der kollektivrechtlichen Ebene insbesondere davon abhängig, welcher Gewerkschaft die im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer angehören (siehe dazu oben unter Rz. 37 ff.). Da durch eine kleine dynamische Bezugnahmeklausel jedoch nur ein bestimmter TV in Bezug genommen wird, kann eine Gleichstellung aller Arbeitnehmer – zumindest für den Fall einer auf kollektivrechtlicher Ebene bestehenden Tarifmehrheit – durch eine kleine dynamische Bezugnahmeklausel nicht mehr erreicht werden1. Eine Gleichstellung kann im Falle eines Verbandswechsels des Arbeitgebers nur dann erfolgen, wenn auch nach dem Verbandswechsel allein der „alte“, in Bezug genommene TV Anwendung findet, da keiner der Arbeitnehmer im Betrieb in der „neuen“ Gewerkschaft organisiert ist und somit der „alte“ TV weiterhin gemäß § 3 Abs. 3/§ 4 Abs. 5 TVG gilt und zugleich für alle Arbeitnehmer Bezugnahmeobjekt der Gleichstellungsabrede ist2. Selbst wenn alle Arbeitnehmer allein an den „neuen“ TV normativ gebunden wären, könnte auf schuldrechtlicher Ebene eine Gleichstellung mit diesem TV nicht erfolgen, wenn die kleine dynamische Bezugnahmeklausel auf den „alten“ TV verweist, da ein Tarifwechsel von dieser Klausel in der Regel nicht nachvollzogen wird3. Eine Gleichstellung kann somit durch die Vereinbarung einer kleinen dynamischen Bezugnahmeklausel kaum erreicht werden. Eine weitaus größere Gleichstellungswirkung kann durch die Vereinbarung einer großen dynamischen Bezugnahmeklausel bspw. mit einem sog. Repräsentationszusatz, wonach bei einer Tarifmehrheit auf kollektivrechtlicher Ebene derjenige TV gelten soll, der auf die Mehrheit der Arbeitsverhältnisse aller Arbeitnehmer im Betrieb Anwendung findet4, erreicht werden.

1 So auch Feudner, Anm. zu BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, RdA 2008, 301 (303); Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, S. 131 f.; Kania, NZA-Beil. 3/2000, 45 (48); Thüsing, NZA 2003, 1184 (1186 f.); E.M. Willemsen, Bezugnahme auf Tarifvertrag, S. 320; in der Instanzrechtsprechung wurde diese Frage bislang offen gelassen: LAG Baden-Württemberg v. 22.1.2008 – 14 Sa 87/07, NZA-RR 2008, 443 (444). 2 So auch Thüsing/Braun/Heise, 11. Kap. Rz. 155. 3 BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 581/99, NZA 2001, 510 (511 f.); BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, NZA 2008, 364 (365); BAG v. 15.4.2008 – 9 AZR 159/07, NZA-RR 2008, 586 (592); BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (45); BAG v. 17.11.2010 – 4 AZR 391/09, NZA 2011, 356 (357). 4 Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, S. 132 f.; Seel, öAT 2010, 82 ff.

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Teil 14

Rz. 54

Gewillkürter Tarifverlust

cc) Kleine dynamische Bezugnahmeklausel als konstitutiv-dynamisch wirkende Verweisung 54

Ist die kleine dynamische Bezugnahmeklausel nicht als Gleichstellungsabrede konzipiert, ändert der Verbandswechsel nichts an der Verpflichtung zur dynamischen Inbezugnahme des genannten Tarifwerkes1. Es stellt sich lediglich die Frage, wie eine etwaige Kollisionslage mit auf kollektivrechtlicher Ebene bestehenden TVen aufzulösen ist. Hier ist wiederum danach zu differenzieren, ob auf kollektivrechtlicher Ebene nur ein TV und, wenn ja, welcher, das heißt der „neue“ oder der „alte“ TV, oder ob mehrere TVe, und, wenn ja, welche zur Anwendung kommen und wie diese auf das Arbeitsverhältnis einwirken. Welcher TV sich auf kollektivrechtlicher Ebene im Falle des Verbandswechsels jeweils durchsetzt, wurde bereits dargestellt (siehe dazu Rz. 37 ff.). Hinsichtlich der Kollision zwischen einem individualrechtlich geltenden TV und einem nach § 3 Abs. 1 TVG oder § 3 Abs. 3 TVG geltenden TV gilt das Günstigkeitsprinzip gemäß § 4 Abs. 3 TVG2. Ist das Ergebnis auf kollektivrechtlicher Ebene jedoch, dass der „alte“ TV gemäß § 4 Abs. 5 TVG nachwirkt, so ist zu prüfen, ob die Bezugnahmeklausel eine ablösende „andere Abmachung“ darstellen kann3.

dd) Große dynamische Bezugnahmeklausel 55

Ist eine große dynamische Bezugnahmeklausel vereinbart worden, kann diese unter Umständen einen auf kollektivrechtlicher Ebene stattfindenden Tarifwechsel nachvollziehen4. Dies ist der Fall, wenn bspw. der „alte“ TV durch den „neuen“ TV abgelöst wird und somit die Bezugnahmeklausel den „neuen“ TV als den – bei traditioneller Formulierung der Bezugnahmeklausel – „jeweils im Betrieb normativ geltenden TV“ erfasst. Probleme kann die Bestimmung des nach dem Verbandswechsel anzuwendenden TVes jedoch bereiten, wenn nach dem Verbandswechsel nicht bloß ein einziger TV auf das Arbeitsverhältnis einwirkt, sondern im Betrieb des Arbeitgebers eine Tarifpluralität oder Tarifkonkurrenz besteht, da hier aufgrund der Formulierung der Bezugnahmeklausel zunächst nicht ermittelbar ist, welcher auf kollektivrechtlicher Ebene

1 E.M. Willemsen, Bezugnahme auf Tarifvertrag, S. 320. 2 BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, NZA 2008, 364 (366); BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 308/07, AP Nr. 64 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 1023/08, NZA-RR 2011, 30 (33); Thüsing/Braun/Reufels, 8. Kap. Rz. 63; Bepler, NZABeil. 3/2010, 99 (102); Hohenstatt, DB 1992, 1678 (1683). 3 BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 789/07, NZA 2009, 265 (267); BAG v. 20.5.2009 – 4 AZR 230/08, NZA-RR 2010, 591 (595); BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53 (60); insbesondere für die Zulässigkeit einer anderen Abmachung durch eine Bezugnahmeklausel vor Eintritt der Nachwirkung BAG v. 17.1.2006 – 9 AZR 41/05, NZA 2006, 923 (925); vgl. auch Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 745; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 359; E.M. Willemsen, Bezugnahme auf Tarifvertrag, S. 279 ff. 4 BAG v. 4.9.1996 – 4 AZR 135/95, NZA 1997, 271 (272); BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 784/07, AP Nr. 66 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 22.4.2009 – 4 ABR 14/08, NZA 2009, 1286 (1289); Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 330; Annuß, ZfA 2005, 405 (414); Otto, Arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln, S. 46.

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Rz. 57 Teil 14

Verbandswechsel

geltende TV denn der eine „jeweils im Betrieb normativ geltende TV“ ist1. In klauselgestalterischer Hinsicht besteht eine Möglichkeit zur Beseitigung etwaiger Unklarheiten darin, die große dynamische Bezugnahmeklausel mit einem Klauselzusatz zu versehen, durch den die Tarifmehrheit auf kollektivrechtlicher Ebene schuldrechtlich aufgelöst wird, indem bspw. bei Geltung mehrerer TVe nur der speziellere TV in Bezug genommen werden soll2. Weist eine große dynamische Bezugnahmeklausel im Falle einer auf kollektivrechtlicher Ebene bestehenden Tarifmehrheit keinen die Kollisionslage auflösenden Zusatz auf, spricht viel dafür, dass im Rahmen der Klauselauslegung entsprechend der früher zur Auflösung von Tarifmehrheiten geltenden Rechtsprechung allein auf den speziellsten TV verwiesen werden sollte3.

II. Rechtsfolgen für Neueintritte Die kollektivrechtliche Geltung von TVen für nach dem Arbeitgeberverbandswechsel neu eingestellte Arbeitnehmer beurteilt sich in Abhängigkeit davon, mit welcher Gewerkschaft der neue Arbeitgeberverband einen TV abgeschlossen hat und in welcher Gewerkschaft die neu eingestellten Arbeitnehmer organisiert sind.

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1. Tarifgeltung bei TV-Abschluss mit gleicher Gewerkschaft Hat der „neue“ Arbeitgeberverband, dessen Mitglied der Arbeitgeber nach seinem Verbandswechsel geworden ist, mit der gleichen Gewerkschaft einen TV abgeschlossen, ergibt sich für einen neu eingestellten Arbeitnehmer die gleiche Rechtsfolge wie für die bereits vor dem Verbandswechsel beschäftigten Mitarbeiter. Der vom „alten“ Arbeitgeberverband abgeschlossene TV gilt bis zu dessen Beendigung gemäß § 3 Abs. 3 TVG fort und erfasst auch neu eingetretene Arbeitnehmer, soweit diese in der tarifschließenden Gewerkschaft organisiert sind4. Daneben findet der zwischen dem „neuen“ Arbeitgeberverband und der „alten“ Gewerkschaft abgeschlossene TV gemäß § 3 Abs. 1 TVG Anwendung, was bei bestehender Fortgeltung des „alten“ TVes nach § 3 Abs. 3 TVG zu einer Tarifkonkurrenz führt, die nach überwiegender Auffassung nach dem

1 Bayreuther, NZA 2009, 935 (937); Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, S. 128 ff.; Jacobs, NZA 2008, 325 (332 f.); Willemsen/Mehrens, NZA 2010, 1313 (1314 f.). 2 Hinsichtlich möglicher Klauselgestaltungen siehe Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, S. 128 ff., 319 ff. 3 So auch Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, S. 134; Jacobs, NZA 2008, 325 (332 f.); Willemsen/Mehrens, NZA 2010, 1313 (1314 f.). 4 BAG v. 4.8.1993 – 4 AZR 499/92, NZA 1994, 34 (35); BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 247/96, NZA 1998, 484 (485); BAG v. 7.11.2001 – 4 AZR 703/00, NZA 2002, 748; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 84; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 23; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 225; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 67; siehe dazu auch Teil 6 Rz. 74.

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Teil 14

Rz. 58

Gewillkürter Tarifverlust

Spezialitätsprinzip aufzulösen ist1. Gilt der vom „alten“ Arbeitgeberverband geschlossene TV nicht mehr fort (§ 3 Abs. 3 TVG), findet bei entsprechender Gewerkschaftsmitgliedschaft des neu eingestellten Arbeitnehmers allein der neue TV Anwendung. Ist der neu eingetretene Arbeitnehmer gar nicht oder in einer anderen Gewerkschaft organisiert, gilt für ihn kein TV.

2. Tarifgeltung bei TV-Abschluss mit anderer Gewerkschaft 58

Hat der „neue“ Arbeitgeberverband, dessen Mitglied der Arbeitgeber nach dem Verbandswechsel geworden ist, hingegen einen TV mit einer anderen Gewerkschaft abgeschlossen, ist neben der Gewerkschaftszugehörigkeit des neu eingetretenen Arbeitnehmers für dessen Tarifgebundenheit auch der Geltungsgrund des jeweiligen TVes entscheidend.

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Ist der Arbeitnehmer Mitglied der „alten“ Gewerkschaft, ist er gemäß § 3 Abs. 3 TVG an den „alten“ TV gebunden, wenn sich der „alte“ TV zum Zeitpunkt seiner Einstellung im Zeitraum der Fortgeltung/Nachbindung befand2. Befand sich der „alte“ TV hingegen bereits im Zeitraum der Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG, ist eine Bindung an diesen TV gänzlich ausgeschlossen, da neu eingestellte Arbeitnehmer von der Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG nicht erfasst werden3. Eine Tarifgebundenheit an den zwischen der „neuen“ Gewerkschaft und dem „neuen“ Arbeitgeberverband abgeschlossenen TV besteht mangels kongruenter Tarifbindung nicht.

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Ist der neu eingestellte Arbeitnehmer hingegen in der „neuen“ Gewerkschaft organisiert, ist er gemäß § 3 Abs. 1 TVG allein an den „neuen“ TV gebunden. Eine Bindung an den alten TV ist mangels entsprechender Gewerkschaftszugehörigkeit nicht gegeben.

3. Tarifgeltung qua Bezugnahmeklausel 61

Der Arbeitgeber ist in Hinblick auf Neueintritte frei in der Entscheidung, ob und, wenn ja, welche Bezugnahmeklausel er vereinbaren will. Da mit der Vereinbarung einer statischen sowie einer kleinen dynamischen Bezugnahmeklausel ohne Gleichstellungszweckvereinbarung eine dauerhafte und selbst durch 1 Bislang einhellige Meinung, siehe ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 67 m.w.N.; Schliemann, NZA-Beil. zu Heft 24/2000, 24 (29); zur Rechtslage nach der Verabschiedung des Grundsatzes der Tarifeinheit durch das BAG siehe Teil 9 Rz. 94 ff.; zum Spezialitätsprinzip allgemein BAG v. 24.9.1975 – 4 AZR 471/74, AP Nr. 11 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; BAG v. 14.6.1989 – 4 AZR 200/89, AP Nr. 16 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; Hromadka/Maschmann/Wallner, Tarifwechsel, Rz. 139; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 278; Etzel, NJW 1991, 3191 (3192). 2 BAG v. 4.8.1993 – 4 AZR 499/92, NZA 1994, 34 (35); BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 247/96, NZA 1998, 484 (485); BAG v. 7.11.2001 – 4 AZR 703/00, NZA 2002, 748; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 84; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 23; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 225; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 67; siehe dazu auch Teil 6 Rz. 74. 3 St. Rspr. seit BAG v. 6.6.1958 – 1 AZR 515/57, NJW 1958, 1843 (1844); BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 247/96, NZA 1998, 484 (485); BAG v. 22.7.1998 – 4 AZR 403/97, NZA 1998, 1287 (1288); BAG v. 7.11.2001 – 4 AZR 703/00, NZA 2002, 748 (750); BAG v. 5.8.2009 – 10 AZR 1006/08, NZA 2009, 1439; siehe auch Teil 9 Rz. 36.

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Herstellung einer mehrfachen Tarifbindung

Rz. 63 Teil 14

Änderungskündigung kaum einseitig zu beseitigende Tarifbindung geschaffen wird, sollte von diesen Klauselvarianten im Regelfall kein Gebrauch gemacht werden. Strebt der Arbeitgeber eine Gleichstellung seiner Arbeitnehmer an, kann eine große dynamische Bezugnahmeklausel empfehlenswert sein, die mit einem Zusatz versehen werden kann, dass die Bezugnahmeklausel lediglich Gleichstellungszwecken dienen soll und im Falle einer bestehenden Tarifpluralität – je nach Bedarf – bspw. entweder der speziellste oder der von der Mehrheit der Arbeitnehmer auf kollektivrechtlicher Ebene getragene TV Anwendung finden soll1.

III. Zwang zur Anwendung von tariflichen Entgeltschemata für bereits beschäftigte und neu eingestellte Arbeitnehmer Die oben bereits geschilderten Folgen der Rechtsprechung des 1. Senats des BAG, die eine Pflicht des Arbeitgebers zur Beibehaltung tariflicher Vergütungsschemata auch nach dem Wegfall der Bindung an das tarifliche Vergütungssystem über § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG statuiert, gilt in gleicher Weise für den Fall, dass ein Verbandswechsel stattfindet und es im Zuge des damit verbundenen Tarifwechsels zum Wegfall oder zum Austausch eines tariflichen Vergütungssystems kommt (vgl. oben Rz. 30 f.). Denn auch hier ist auf Grundlage der Rechtsprechung des 1. Senats2 das zuvor auf tariflicher Grundlage angewendete Vergütungsschema durch dessen Anwendung im Betrieb zum „betrieblichen Vergütungsschema“ geworden und dürfte nur unter Wahrung der dem Betriebsrat diesbezüglich zustehenden Mitbestimmungsrechte geändert werden. Neben der bereits oben dargestellten Kritik (Rz. 31) erscheint die Rechtsprechung des BAG speziell für den Fall des Tarifwechsels noch fragwürdiger, da es hier allein durch schlichten Normenvollzug zum Austausch eines tariflichen Vergütungssystems kommt und für den Arbeitgeber ein regelungsbedürftiger Spielraum, den er unter Wahrung eines Mitbestimmungsrechts des Betriebsrats ausgestalten müsste, nicht besteht. Trotz aller Kritik ist auch hier die bestehende Rechtsprechung des BAG zu berücksichtigen.

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D. Herstellung einer mehrfachen Tarifbindung Ein Tarifwechsel kann von Seiten der Arbeitnehmer und des Arbeitgebers auch dadurch herbeigeführt werden, dass eine normative Bindung an mehrere Tarifwerke hergestellt wird, um dann im Rahmen einer Auflösung der sich ergebenden Tarifkollision eine Verdrängung des bisher geltenden TVes durch den im Wege der Mehrfachbindung nunmehr vorrangig geltenden TV zu erreichen. Dies ist insbesondere in den nachfolgend behandelten Fällen denkbar, wenn sich Arbeitgeber oder Arbeitnehmer in mehreren Koalitionen gleichzeitig betä1 Zur entsprechenden Ausgestaltung einer solchen Bezugnahmeklausel siehe Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, S. 577 ff. 2 BAG v. 8.12.2009 – 1 ABR 66/08, NZA 2010, 404 (406); so auch der 7. Senat in BAG v. 14.4.2010 – 7 ABR 91/08, NZA-RR 2011, 83 (84).

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Rz. 64

Gewillkürter Tarifverlust

tigen und damit eine so genannte Doppelmitgliedschaft eingehen, oder indem der Arbeitgeber einen HausTV abschließt, um sich damit eventuell der Regelungswirkung eines weiterhin geltenden VerbandsTVes zu entziehen. Weiterhin ist ein Tarifwechsel vorstellbar, in dem arbeitgeberseitig eine Tarifbindung nach § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG – sei es an einen HausTV oder an einen VerbandsTV – neben einer Geltung eines allgemeinverbindlichen TVes (§ 5 Abs. 4 TVG) hergestellt wird.

I. Doppelmitgliedschaft von Arbeitnehmer oder Arbeitgeber 64

Kollektivrechtlich geltende Tarifbestimmungen können auch dadurch abgelöst und damit ein Tarifwechsel vollzogen werden, wenn Arbeitnehmer oder Arbeitgeber Doppelmitgliedschaften begründen, d.h. der Arbeitgeber in mehreren Arbeitgebervereinigungen und der Arbeitnehmer in mehreren Gewerkschaften organisiert ist. Eine Doppelmitgliedschaft von Arbeitnehmer oder Arbeitgeber wird zwar eher der Ausnahmefall sein, ist jedoch theoretisch denkbar und zumindest tarifrechtlich zulässig. Durch den Beitritt zu einer Koalition wird das Beitrittsrecht von Arbeitnehmer oder Arbeitgeber nicht verbraucht und ist daher verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden1. Der Begründung einer Doppelmitgliedschaft können jedoch Satzungsbestimmungen der jeweiligen „konkurrierenden“ Koalitionen entgegenstehen. Aber selbst wenn dies so sein sollte, dürfte ein reiner Satzungsverstoß nicht auf die neue Tarifbindung durchschlagen. Problematisch ist aber, wenn die Satzung der „neuen“ Koalition den wirksamen Beitritt zu ihrer Vereinigung davon abhängig macht, dass eine Mitgliedschaft in einer konkurrierenden Koalition nicht besteht. Eine solche Satzungsbestimmung ist nach überwiegender Auffassung zulässig, da keine Koalition Mitglieder konkurrierender Organisationen aufnehmen muss2.

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Besteht auf der Seite eines Arbeitnehmers eine doppelte Mitgliedschaft, so kann dies unter Umständen zu einer Tarifkollision führen, die dann die Verdrängung eines zuvor geltenden TVes bewirken kann. Für den Fall, dass der Arbeitnehmer in zwei Gewerkschaften organisiert ist, die beide mit dem Arbeitgeber selbst oder aber mit dessen Arbeitgebervereinigung einen TV geschlossen haben, kommt es zu einer kollidierenden Geltung zweier TVe nach § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG. Auf ein und dasselbe Arbeitsverhältnis wirken zwei TVe ein und es entsteht eine Tarifkonkurrenz, die nach bisheriger Auffassung anhand des Spezialitätsprinzips aufzulösen ist3. Ist der Arbeitnehmer allerdings in 1 BAG v. 17.2.1998 – 1 AZR 364/97, NZA 1998, 754 (755); Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 108. 2 BGH v. 25.3.1991 – II ZR 170/90, NJW-RR 1992, 246 (247); Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 109. 3 Bislang einhellige Meinung, siehe ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 67 m.w.N.; Schliemann, NZA-Beil. zu Heft 24/2000, 24 (29); zur Rechtslage nach der Verabschiedung des Grundsatzes der Tarifeinheit durch das BAG siehe Teil 9 Rz. 94 ff.; zum Spezialitätsprinzip allgemein BAG v. 24.9.1975 – 4 AZR 471/74, AP Nr. 11 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; BAG v. 14.6.1989 – 4 AZR 200/89, AP Nr. 16 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; Hromadka/Maschmann/Wallner, Tarifwechsel, Rz. 139; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 278; Etzel, NJW 1991, 3191 (3192).

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Herstellung einer mehrfachen Tarifbindung

Rz. 67 Teil 14

mehreren Gewerkschaften organisiert und hat der Arbeitgeber oder dessen Arbeitgebervereinigung nur mit einer dieser Gewerkschaften einen TV geschlossen, findet nur ein TV auf das Arbeitsverhältnis des Arbeitnehmers normative Anwendung und eine Tarifkollision ist ausgeschlossen. Ebenso ist es auf der anderen Seite auch vorstellbar, dass sich ein Arbeitgeber in mehreren Arbeitgeberverbänden gleichzeitig organisiert. Welche Auswirkungen diese Doppelmitgliedschaft des Arbeitgebers auf die Tarifgeltung im jeweiligen Betrieb hat, hängt davon ab, mit welcher Gewerkschaft die Arbeitgeberverbände kontrahiert haben und in welcher Gewerkschaft die vom Arbeitgeber beschäftigten Mitarbeiter organisiert sind. Haben beide Arbeitgeberverbände einen TV mit derselben Gewerkschaft geschlossen, so kommt es für die organisierten Arbeitnehmer zu einer Tarifkonkurrenz, die anhand des Spezialitätsprinzips aufzulösen ist. Für etwaige Außenseiter besteht keinerlei Tarifbindung. Haben die Arbeitgeberverbände hingegen mit verschiedenen Gewerkschaften TVe geschlossen, kommt es zu einer Tarifpluralität im Betrieb. Auf die Arbeitsverhältnisse sind grds. diejenigen TVe anzuwenden, die von der Gewerkschaft geschlossen worden sind, in der der jeweilige Arbeitnehmer organisiert ist (das gilt jedenfalls für Inhaltsnormen, bei Betriebsnormen kommt es zu einer auflösungsbedürftigen Tarifkonkurrenz). Es gilt dann für jedes Arbeitsverhältnis nur ein TV, wobei innerhalb des Betriebes mehrere TVe angewendet werden müssen. Die im Betrieb entstehende Tarifpluralität ist hinzunehmen und nach neuer Rechtsprechung des BAG nicht länger auflösungsbedürftig1. Eine solche Tarifpluralität würde hingegen ausbleiben, wenn die Belegschaft im jeweiligen Betrieb von Anfang an nur in einer der an den TV-Abschlüssen beteiligten Gewerkschaften organisiert wäre oder eine einheitliche Tarifgeltung dadurch bewerkstelligen würde, dass alle Arbeitnehmer nach den erfolgten TV-Abschlüssen nachträglich in eine der beiden im Betrieb vertretenen Gewerkschaften wechseln2. Zu einer sozusagen „doppelten Tarifkonkurrenz“ würde es hingegen kommen, wenn nicht nur der Arbeitgeber in zwei Arbeitgebervereinigungen vertreten wäre, sondern auch die Arbeitnehmer aufgrund einer Doppelmitgliedschaft in den jeweils an den TV-Abschlüssen beteiligten Gewerkschaften doppelt kongruent tarifgebunden wären. Die dann entstehende Tarifkonkurrenz wäre wiederum nach dem Spezialitätsprinzip aufzulösen (siehe oben Rz. 65).

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Ergibt sich in den soeben dargestellten Fallkonstellationen eine Tarifkonkurrenz, die zugunsten eines der konkurrierenden TVe aufgelöst werden muss, kann damit – je nach Ausgang der erforderlichen Spezialitätsbetrachtung – ein Tarifwechsel erfolgen und der zuvor geltende TV durch einen anderen TV verdrängt werden. Da in dieser Konstellation – bis auf den Austritt der Arbeitnehmer zum Zwecke des Gewerkschaftswechsels, welcher sich nach den bereits oben dargestellten Grundsätzen richtet (oben Rz. 35 ff.) – die bestehenden Mitgliedschaftsverhältnisse in den jeweiligen Koalitionen nicht beendet werden

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1 BAG v. 27.1.2010 – 4 AZR 549/08 (A), NZA 2010, 645; BAG v. 23.6.2010 – 10 AS 3/10, NZA 2010, 778; BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068; siehe auch Teil 9 Rz. 99 ff. 2 So auch Hromadka/Maschmann/Wallner, Tarifwechsel, Rz. 485 ff.

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Rz. 68

Gewillkürter Tarifverlust

und auch sonst eine Beendigung von TVen nicht zu erwarten ist, stellen sich auf kollisionsrechtlicher Ebene keine Probleme hinsichtlich der Ablösung von TVen im Stadium der Fortgeltung (§ 3 Abs. 3 TVG) oder Nachwirkung (§ 4 Abs. 5 TVG).

II. Abschluss eines Haustarifvertrages neben einem bestehenden Verbandstarifvertrag 68

Die verdrängende Wirkung des Spezialitätsprinzips gegenüber einem kollektivrechtlich geltenden TV bei einer Kollision mit einem anderen auf normativer Ebene geltenden TV kann auch in der Fallkonstellation einen Tarifwechsel eintreten lassen, in der ein an einen VerbandsTV gebundener Arbeitgeber zusätzlich einen HausTV abschließt. Der HausTV wird dem VerbandsTV für diejenigen Arbeitsverhältnisse, die einer Tarifkonkurrenz unterliegen, im Wege der Spezialitätsbetrachtung regelmäßig vorgehen und somit zu einem Austausch des geltungsbeanspruchenden Regelwerks auf Tarifebene führen (siehe Teil 11 Rz. 31 ff.). Der Abschluss eines HausTVes kann somit ein taktisches Mittel des Arbeitgebers zur Gestaltung der geltenden Tariflage sein. Hiervon wird häufig in der Situation sog. SanierungsTVe Gebrauch gemacht, in denen der Arbeitgeber mit seiner „alten“ Gewerkschaft in Verhandlungen über Spezialregelungen (z.B. Veränderung der wöchentlichen Arbeitszeit, Verzicht auf tarifliche Sonderleistungen, ggf. zeitweise Absenkung der Grundvergütung etc.) für das Unternehmen oder einen Betrieb eintritt (dazu Teil 12 Rz. 1 ff.).

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Wird ein HausTV gekündigt, gelten für ihn grundsätzlich die allgemein zur Beendigung von Tarifregelungen einschlägigen Bestimmungen, so dass es nach Beendigung des TVes zu einer Nachwirkung im Sinne des § 4 Abs. 5 TVG kommt. Insbesondere bei SanierungsTVen in Form eines HausTVes bestehen die Gewerkschaften aber häufig darauf, dass die Nachwirkung ausgeschlossen wird, damit die „Sanierungsbedingungen“ nicht auf Dauer – und sei es über die Nachwirkung – weiter gelten. In diesem Fall schließt sich an die Fortgeltung des TVes nach § 3 Abs. 3 TVG unmittelbar der ersatzlose Wegfall des HausTVes an1. Dann kommt regelmäßig wieder der zuvor im Wege der Spezialität verdrängte VerbandsTV zur Anwendung.

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Wurde die Nachwirkung des TVes gemäß § 4 Abs. 5 TVG hingegen nicht ausgeschlossen, stellt sich die Frage, ob der zuvor verdrängte VerbandsTV mit Eintritt des HausTVes in die Nachwirkungsphase als „andere Abmachung“ zur direkten Beseitigung des HausTVes führt oder ob besondere Anforderungen an die Verdrängung des HausTVes durch den zuvor seinerseits verdrängten VerbandsTV zu stellen sind. Unzweifelhaft ist von einer Beseitigung des nachwirkenden HausTVes durch einen VerbandsTV dann auszugehen, wenn der VerbandsTV erst nach dem Eintritt der Nachwirkung vereinbart wurde. Das BAG hat die Frage, ob ein zuvor abgeschlossener und zunächst durch den HausTV verdrängter VerbandsTV eine Nachwirkung beseitigen könne, in seiner Ent-

1 So bspw. bei BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41.

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Herstellung einer mehrfachen Tarifbindung

Rz. 70 Teil 14

scheidung vom 4.7.2007 ausdrücklich offen gelassen1. In der Literatur wird zum Teil davon ausgegangen, dass grundsätzlich jeder TV, der unmittelbar und zwingend auf das einzelne Arbeitsverhältnis einwirkt, eine andere Abmachung darstelle – unabhängig davon, ob dies zu einer Verdrängung des spezielleren TVes durch den allgemeineren TV führt2. Demnach würde der nachwirkende HausTV unmittelbar durch einen zuvor im Wege des Spezialitätsprinzips verdrängten VerbandsTV abgelöst. Für diese Auffassung spricht, dass der normativ geltende VerbandsTV eine gegenüber dem nur nachwirkenden HausTV größere Richtigkeitsgewähr beansprucht (denn der HausTV ist ja abgelaufen und der Zeitraum, für den die TV-Parteien diese speziellen Bedingungen wollten, ist beendet) und somit einem nicht zwingend geltenden TV vorgehen könnte, dessen Nachwirkung als Ausdruck einer Überbrückung tarifloser Zeiten wegen der Geltung des VerbandsTVes nicht mehr erforderlich ist. Weiterhin kann sich diese Auffassung auf den Wortlaut des § 4 Abs. 5 TVG berufen, der eine Verdrängung eines nachwirkenden TVes durch eine andere Abmachung gerade nicht am Spezialitätsprinzip misst. Nach anderer Auffassung soll jedoch eine solche Kollision zweier normativ geltender TVe – auch wenn der HausTV „nur“ gemäß § 4 Abs. 5 TVG nachwirkt – weiterhin nach den allgemeinen Grundsätzen zur Auflösung von Tarifkollisionen beurteilt werden3, wobei diese Auffassung eine Ausnahme für den Fall macht, dass nach der Beendigung des HausTVes der Abschluss eines Folge-HausTVes ausgeschlossen ist. Demnach würde sich der speziellere HausTV auch für den Zeitraum seiner Nachwirkung gegenüber dem VerbandsTV durchsetzen. Dafür könnte sprechen, dass der nachwirkende TV ebenfalls an einer besonderen Richtigkeitsgewähr partizipiert, da die den HausTV abschließenden TV-Parteien von einem Ausschluss der Nachwirkung absichtlich abgesehen haben. Weiterhin könnte die vom HausTV ausgehende Richtigkeitsgewähr sogar schwerer wiegen, da der geltende HausTV verglichen mit dem VerbandsTV der speziellere ist. Auch wenn das BAG sich keiner der beiden Auffassungen ausdrücklich angeschlossen hat, so hat es die letztgenannte Auffassung in einem Urteil aufgegriffen und unbeanstandet gelassen4. Dies bedeutet freilich nicht, dass sich das BAG dieser Auffassung zwingend anschließen wird. In neueren Entscheidungen hat der 4. BAG-Senat jedoch eine Ablösung von TVen durch andere, bereits vor dem Eintritt der Nachwirkung vereinbarte, aber zuvor verdrängte Abmachungen nur dann ohne Weiteres zugelassen, wenn die Nachwirkung des TVes ausgeschlossen wurde5. Dies spricht dafür, dass allein der Eintritt des HausTVes in das Nachwirkungsstadium nicht ausreicht, um von einer zuvor überlagerten Regelung verdrängt zu werden, wobei eine abschließende Entscheidung des BAG abzuwarten bleibt.

1 BAG v. 4.7.2007 – 4 AZR 439/02, AP Nr. 48 zu § 4 TVG Nachwirkung. 2 Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 725 f.; Löwisch/Rieble, FS Schaub, S. 457 (462 f.). 3 Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 861; Jacobs/Krause/Oetker, Tarifvertragsrecht, § 7 Rz. 219. 4 BAG v. 4.7.2007 – 4 AZR 491/06, NZA 2008, 307. 5 So bspw. in BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41; BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53 (60).

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Teil 14

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Gewillkürter Tarifverlust

III. Tarifkollision mit allgemeinverbindlich erklärtem Tarifvertrag/AEntG 71

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Eine unter Anwendung des Spezialitätsprinzips zur Ablösung von tariflichen Bestimmungen und somit zum Tarifwechsel führende Tarifkollision kann auch zwischen Regelungen eines gemäß § 5 Abs. 4 TVG für allgemeinverbindlich erklärten TVes und eines nach §§ 3, 4 TVG geltenden TVes entstehen. Gelten neben dem allgemeinverbindlich erklärten TV vom Arbeitgeber abgeschlossenen TVe unmittelbar und zwingend gemäß § 3 Abs. 1 TVG oder § 3 Abs. 3 TVG, findet auf die Arbeitsverhältnisse nach überwiegender Auffassung allein der speziellere TV Anwendung, was in der Regel eine Anwendung des für allgemeinverbindlich erklärten TVes ausschließt (da dieser regelmäßig ein VerbandsTV mit großem Geltungsbereich ist). Nach einer im Vordringen befindlichen Auffassung lässt sich aber eine Verdrängung von mitgliedschaftlich legitimierten TVen (sei es Haus- oder VerbandsTV) durch eine staatlich angeordnete Tarifbindung nach § 5 Abs. 4 TVG nie rechtfertigen, solange der kraft Mitgliedschaft geltende TV unmittelbar und zwingend wirkt1. Befinden sich die im Betrieb geltenden TVe in der Nachwirkung, stellt sich das oben hinsichtlich der Kollision von nachwirkendem HausTV und unmittelbar und zwingend geltendem VerbandsTV geschilderte Problem abermals. Wiederum ist die Frage zu beantworten, ob die Spezialität des nachwirkenden TVes für einen Vorrang vor dem allgemeinverbindlich erklärten TV sorgt, oder ob sich die unmittelbaren und zwingenden Regelungen des allgemeinverbindlich erklärten TVes gegenüber den bloß nachwirkenden Regelungen eines weiteren TVes durchsetzen2. Im Gegensatz zur beschriebenen Fallkonstellation, in der ein nachwirkender HausTV mit einem zuvor verdrängten VerbandsTV kollidiert, hat sich das BAG für den Fall einer Kollision von allgemeinverbindlichem und nachwirkendem TV für den Vorrang des allgemeinverbindlichen TVes ausgesprochen3. Klar geregelt ist hingegen die Auflösung von Tarifkonkurrenzen unter Beteiligung eines nach dem AEntG erstreckten TVes. Nach § 8 Abs. 2 AEntG gehen die vom AEntG erfassten TVe immer vor, soweit die konkurrierenden TVe ungünstigere Arbeitsbedingungen vorsehen. Im Anwendungsbereich des AEntG gilt das Spezialitätsprinzip damit nicht, sondern es gilt – auch zwischen TVen – eine Art Günstigkeitsprinzip4.

E. Herauswachsen aus dem Geltungsbereich eines Tarifvertrages 74

Neben der Mitgliedschaft von Arbeitgeber und Arbeitnehmer in der jeweils tarifschließenden Koalition ist weiterhin Voraussetzung für die Anwendbarkeit 1 Vgl. Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 270 ff. m.w.N. sowie Teil 7 Rz. 74. 2 Für die erstgenannte Ansicht: Jacobs/Krause/Oetker, § 7 Rz. 219; für die letztgenannte Auffassung: Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 727; Braun, ArbRB 2007, 76; Jacobs, Tarifeinheit, S. 305; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1808 f.; siehe insgesamt weiterhin Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 267 ff. 3 BAG v. 15.11.2006 – 10 AZR 665/05, NZA 2007, 448 (452). 4 Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 389 ff. m.w.N. sowie Teil 7 Rz. 147 f.

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Sittard

Herauswachsen aus dem Geltungsbereich eines Tarifvertrages

Rz. 76 Teil 14

eines TVes auf ein Arbeitsverhältnis, dass das jeweilige Arbeitsverhältnis auch dem Geltungsbereich des TVes unterfällt. Ein Wegfall der Tarifgeltung bzw. ein Tarifwechsel kann daher auch dann stattfinden, wenn das vom TV erfasste Unternehmen bzw. der erfasste Betrieb (entscheidend ist insoweit, an welche Einheit – Unternehmen, Betrieb oder Betriebsteil – der konkrete TV anknüpft) den Geltungsbereich des TVes verlässt. Ein solches Verlassen des Geltungsbereichs eines TVes kann entweder dadurch erfolgen, dass sich in sachlicher Hinsicht der branchenbezogene Tätigkeitsschwerpunkt des jeweiligen Betriebes verändert oder der Betrieb in örtlicher Hinsicht verlagert wird. Ein solches „Herauswachsen“ aus dem Geltungsbereich liegt bspw. vor, wenn sich ein ehemaliger Produktionsbetrieb allmählich zu einem Dienstleistungsbetrieb entwickelt. Ein Betrieb kann allerdings auch dadurch den Geltungsbereich eines TVes verlassen, indem er im Wege einer Unternehmensumstrukturierung entweder intern anders organisiert wird und damit einen anderen Tätigkeitsschwerpunkt erhält oder an einen einer anderen Branche zugehörigen Inhaber übertragen wird. Zu dem sich im Zuge einer Unternehmensumstrukturierung ergebenden Verlassen des tariflichen Geltungsbereichs siehe Teil 15 Rz. 7 ff., 29 ff.

I. Rechtsfolgen für bereits beschäftigte Arbeitnehmer Wächst der Betrieb aus dem Geltungsbereich eines TVes heraus, fehlt es an einer Geltungsvoraussetzung des TVes. Eine unmittelbare und zwingende Geltung des TVes gemäß §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG findet nicht mehr statt. Im Anschluss an den Wegfall der Tarifgeltung gemäß § 3 Abs. 1 TVG schließt sich keine Prolongierung der Tarifgeltung nach § 3 Abs. 3 TVG an, da diese Regelung nur die Konstellation erfasst, dass die Tarifbindung wegen eines Verbandsaustritts entfällt1 und die sonstigen Tarifvoraussetzungen fortbestehen2. Vielmehr tritt der TV, dessen Geltungsbereich verlassen wurde, unmittelbar in die Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG ein3.

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Wurde eine Bezugnahmeklausel vereinbart, beurteilt sich die Tarifgeltung auf schuldrechtlicher Ebene wiederum in Abhängigkeit davon, welche Form der Bezugnahmeklausel gewählt wurde. Das Herauswachsen aus dem Geltungsbereich bedeutet für die Wirkung von statischer und kleiner dynamischer Bezugnahmeklausel ohne Gleichstellungszweck keinerlei Veränderungen mit der Folge, dass das Herauswachsen aus dem Geltungsbereich individualrechtlich nicht nachvollzogen wird. Im Falle der statischen Bezugnahmeklausel ist der Arbeitgeber auch in Zukunft dazu verpflichtet, den bezeichneten TV in der konkret bezeichneten Fassung anzuwenden. Im Falle der kleinen dynamischen

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1 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 247/96, NZA 1998, 484 (486); Thüsing/Braun/Heise, 11. Kap. Rz. 29; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 68. 2 BAG v. 26.9.1979 – 4 AZR 819/77, NJW 1980, 1591; BAG v. 14.6.1994 – 9 AZR 89/93, NZA 1995, 178 (179); BAG v. 9.11.1999 – 3 AZR 690/98, NZA 2000, 730 (731); HWK/ Henssler, § 3 TVG Rz. 43; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 68 3 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 193/97, NZA 1998, 488 (490 f.); siehe dazu im Einzelnen Teil 9 Rz. 27 ff.

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Teil 14

Rz. 77

Gewillkürter Tarifverlust

Bezugnahmeklausel ohne vereinbarten Gleichstellungszweck bleibt der Arbeitgeber zur Anwendung des konkret bezeichneten TVes dynamisch in seiner jeweils gültigen Fassung verpflichtet. Wurde hingegen eine kleine dynamische Bezugnahmeklausel mit Gleichstellungswirkung vereinbart, wurde also der TV in Bezug genommen, aus dessen Geltungsbereich der Arbeitgeber nunmehr herausgewachsen ist, wobei zum Ausdruck gekommen ist, dass die Bezugnahmeklausel lediglich die kollektivrechtliche Lage auf individualvertraglicher Ebene widerspiegeln soll, so bedeutet das Herauswachsen aus dem Geltungsbereich des TVes für die schuldrechtliche Geltung des in Bezug genommenen TVes, dass dieser in Zukunft nur noch statisch (nämlich in Anlehnung an die Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG) zur Anwendung kommt1. Wurde eine große dynamische Bezugnahmeklausel vereinbart, führt diese – soweit es nach dem Herauswachsen aus dem Geltungsbereich des „alten“ TVes nicht zu einem Hineinwachsen in den Geltungsbereich eines „neuen“ TVes kommt – dazu, dass weiterhin der „alte“ TV in Bezug genommen wird. Ob dieser TV dann allerdings statisch oder dynamisch in Bezug genommen wird, ist wiederum abhängig davon, ob der großen dynamischen Bezugnahmeklausel ein Gleichstellungszweck beigemessen werden kann. 77

Findet nach dem Herauswachsen aus dem Geltungsbereich ein neuer TV gemäß § 3 Abs. 1 TVG Anwendung, verdrängt er den nach § 4 Abs. 5 TVG nachwirkenden TV als „andere Abmachung“. Eine solche normative Geltung des neuen TVes nach § 3 Abs. 1 TVG setzt freilich eine kongruente Tarifgebundenheit von Arbeitgeber und Arbeitnehmer voraus. Auf schuldrechtlicher Ebene kann dieser „Austausch“ des TVes nur durch eine große dynamische Bezugnahmeklausel nachvollzogen werden, wobei auch hier die Formulierung der Klausel im Einzelfall entscheidend ist.

II. Rechtsfolgen für Neueintritte 78

Der Umgang mit Neueintritten bereitet für den Fall einer Nachwirkung eines TVes, dessen Geltungsbereich verlassen wurde, keine Schwierigkeiten. Da die Neueintritte von der Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG nicht erfasst werden, ist der Arbeitgeber nicht dazu verpflichtet, die Bedingungen des TVes, aus dessen Geltungsbereich er herausgewachsen ist, auf die neu begründeten Arbeitsverhältnisse anzuwenden2. Hinsichtlich der Vereinbarung von Bezugnahmeklauseln kann – wenn die Aufnahme von Bezugnahmeklauseln in die neuen Arbeitsverträge überhaupt beabsichtigt ist – im Regelfall nur zur Verwendung einer großen dynamischen Bezugnahmeklausel mit einem entsprechenden Zu1 BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, NZA 2002, 634 (636); BAG v. 19.9.2007 – 4 AZR 710/06, AP Nr. 54 zu § 133 BGB; BAG v. 21.10.2009 – 4 AZR 396/08, NZA-RR 2010, 361 (362); Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, S. 154; Henssler, FS Wißmann, S. 133 (137). 2 St. Rspr. seit BAG v. 6.6.1958 – 1 AZR 515/57, NJW 1958, 1843 (1844); BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 247/96, NZA 1998, 484 (485); BAG v. 22.7.1998 – 4 AZR 403/97, NZA 1998, 1287 (1288); BAG v. 7.11.2001 – 4 AZR 703/00, NZA 2002, 748 (750); BAG v. 5.8.2009 – 10 AZR 1006/08, NZA 2009, 1439; siehe auch Teil 9 Rz. 36.

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Rz. 80 Teil 14

Übersicht über die Tarifgeltung

satz zur Auflösung von Tarifmehrheiten auf individualvertraglicher Ebene geraten werden.

F. Auswirkungen einer Unternehmensumstrukturierung auf die Geltung eines Tarifvertrages Ein Tarifwechsel oder Tarifverlust kann auch Ergebnis einer Unternehmensumstrukturierung sein. Die sich durch eine interne Unternehmensumstrukturierung ergebenden Folgen für die Tarifgeltung wie auch die Konsequenzen einer Einzelrechtsübertragung eines Betriebes oder Unternehmens gemäß § 613a BGB für die tarifliche Situation1 sowie die Auswirkungen einer Gesamtrechtsnachfolge im Wege der Umwandlung oder gesellschaftsrechtlichen Anwachsung auf die Geltung von TVen werden an anderer Stelle ausführlich dargestellt (Teil 15 Rz. 6, 16 ff., 176 ff. und 205 f.). Im Rahmen einer Umstrukturierung ist in einem ersten Schritt zu bestimmen, welche Auswirkungen die unternehmerische Maßnahme konkret auf die Tarifgeltung des jeweiligen Unternehmens auf kollektivrechtlicher Ebene hat, sei es unmittelbar tarifrechtlich oder über § 613a BGB, ggf. i.V.m. § 324 UmwG (siehe insb. Teil 15 Rz. 29 ff.). Weiterhin sind auch diesbezüglich die jeweiligen Folgen der Geltung von Bezugnahmeklauseln für die Tarifgeltung von Relevanz (Teil 15 Rz. 112 ff.).

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G. Übersicht über die Tarifgeltung Fall 1: Verbandsaustritt

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Tarifgeltung nach § 3 Abs. 3 TVG bis zur Beendigung des TVes (auch für TVG Neueintritte); anschließend § 4 Abs. 5 TVG (nicht für Neueintritte) Für Außenseiter: keine Tarifbindung Tarifgeltung nach Statische Bezugnahme: Statische Geltung des bezeichneten TVes Bezugnahmeklausel Kleine dynaGleichstellungsabrede: Nach Austritt mische Bezugstatische Anwendung des bezeichneten TVes nahme Dynamisch wirkende Klausel: Auch nach Austritt weiterhin dynamische Anwendung des TVes Große dynamische Bezugnahme: Nach Austritt statische Anwendung des kollektivrechtlich geltenden TVes

1 Siehe dazu auch Müller-Bonanni/Mehrens, ZIP 2012, 1217 ff.

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Teil 14

Rz. 80

Gewillkürter Tarifverlust

Kollisionsverhält- Kollisionen nur zwischen kollektivrechtlich geltendem nis TV und statischer Bezugnahme/kleiner dynamischer Bezugnahme mit dynamischer Wirkung möglich: – Gilt TV kollektivrechtlich nach §§ 3 Abs. 1, Abs. 3 TVG: Günstigkeitsprinzip (§ 4 Abs. 3 TVG) gilt – Gilt TV kollektivrechtlich nach § 4 Abs. 5 TVG: Bezugnahme kann „andere Abmachung“ sein; wenn (-), Günstigkeitsprinzip (§ 4 Abs. 3 TVG) fi Konstellation kann für Neueintritte nicht entstehen Fall 2: Verbandswechsel Tarifgeltung nach Abschluss des TVG NachfolgeTVes mit selber Gewerkschaft

Für Gewerkschaftsmitglieder: – Während Nachbindung des alten TVes gemäß § 3 Abs. 3 TVG: Tarifkonkurrenz fi Spezialitätsprinzip – Während Nachwirkung des alten TVes gemäß § 4 Abs. 5 TVG: Regelmäßig Ablösung des alten durch den neuen TV als andere Abmachung (nicht: für Neueinstellungen) Für Außenseiter: keine Tarifbindung

Abschluss des NachfolgeTVes mit neuer Gewerkschaft

Für Mitglieder der alten Gewerkschaft: Fortgeltung (§ 3 Abs. 3 TVG) und Nachwirkung (§ 4 Abs. 5 TVG) des alten TVes; keine Bindung an den neuen TV Für Mitglieder der neuen Gewerkschaft: Bindung an den neuen TV (§ 3 Abs. 1 TVG) und Bindung an alten TV abhängig von: – alter TV gilt gemäß § 3 Abs. 3 TVG: Tarifkonkurrenz fi Spezialitätsprinzip – alter TVG gilt gemäß § 4 Abs. 5 TVG: neuer TV gilt als „andere Abmachung“ und löst alten TV ab (nicht: für Neueinstellungen) Bei gespaltener Belegschaft: Tarifgeltung abhängig von Gewerkschaftszugehörigkeit; Behandlung jeder Gruppe nach obigen Regelungen fi entstehende Tarifpluralität ist nicht aufzulösen. Für Außenseiter: keine Tarifbindung

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Rz. 80 Teil 14

Übersicht über die Tarifgeltung

Tarifgeltung nach Abschluss des Bezugnahmeklau- NachfolgeTVes mit selber Gesel werkschaft

Statische Bezugnahme: Statische Geltung des bezeichneten TVes Kleine dynamische Bezugnahme

Gleichstellungsabrede: Statische Anwendung des alten TVes (keine Umdeutung in Tarifwechselklausel) Dynamisch wirkende Klausel: dynamische Anwendung des bezeichneten TVes

Große dynamische Bezugnahme

Abschluss des NachfolgeTVes mit neuer Gewerkschaft

Anwendung des kollektivrechtlich geltenden TVes: bei Tarifmehrheit: – Anwendung eines etwaigen Klauselzusatzes – oder ergänzende Vertragsauslegung: damit i.d.R. Verweisung auf den spezielleren TV (str.)

Statische Bezugnahme: Statische Geltung des bezeichneten TVes Kleine dynamische Bezugnahme

Gleichstellungsabrede: Statische Anwendung des alten TVes (keine Umdeutung in Tarifwechselklausel; Gleichstellung durch kleine dynamische Klausel hier generell nicht mehr möglich)

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Teil 14

Rz. 80

Gewillkürter Tarifverlust

Dynamisch wirkende Klausel: dynamische Anwendung des bezeichneten TVes Große dynamische Bezugnahme

Anwendung des kollektivrechtlich geltenden TVes: bei Tarifmehrheit: – Anwendung eines etwaigen Klauselzusatzes – oder ergänzende Vertragsauslegung: damit i.d.R. Verweisung auf den spezielleren TV (str.)

Kollisionsverhält- Bei Kollision von statischer/kleiner dynamischer Klausel nis und kollektivrechtlichem TV: Günstigkeitsprinzip; ebenso bei Tarifgeltung nach § 3 Abs. 3 TVG; Ablösung denkbar, wenn Klausel andere Abmachung; bei Vereinbarung einer großen dynamischen Klausel i.d.R. keine Kollision Fall 3: Herauswachsen aus dem Geltungsbereich Tarifgeltung nach Arbeitnehmer ist Gewerkschaftsmitglied: Mit HerausTVG wachsen sofort Nachwirkung des TVes nach § 4 Abs. 5 TVG bis zur Ablösung durch andere Abmachung (bspw. neuer TV bei Hineinwachsen in anderen Geltungsbereich) Arbeitnehmer ist Außenseiter: keine Tarifbindung; Gleiches gilt für Neueinstellungen Tarifgeltung nach Statische Bezugnahme: Statische Geltung des bezeichneBezugnahmeklau- ten TVes sel Kleine dynaGleichstellungsabrede: Statische Anmische Bezugwendung des nicht mehr passenden nahme TVes Dynamisch wirkende Klausel: dynamische Anwendung des bezeichneten TVes

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„Tarifwechsel“ durch Einsatz von Zeitarbeit

Rz. 83 Teil 14

Große dynamische Bezugnahme: bei bloßem Herauswachsen statische Anwendung des nicht mehr passenden TVes; bei Hineinwachsen in neuen TV Anwendung des neuen TVes Kollisionsverhält- Bei großer dynamischer Bezugnahmeklausel kann keine nis Kollision entstehen; bei anderen Bezugnahmeklauseln gelten diese entweder als „andere Abmachungen“ und verdrängen den TV oder das Kollisionsverhältnis richtet sich nach dem Günstigkeitsprinzip (§ 4 Abs. 3 TVG)

H. „Tarifwechsel“ durch Einsatz von Zeitarbeit Ein faktisches Auswechseln der im Betrieb vom Arbeitgeber anzuwendenden TVe kann auch ohne etwaige Maßnahmen mit kollektivrechtlichen Auswirkungen (Verbandsaustritt, Verbandswechsel, Herauswachsen aus dem Geltungsbereich oder Umstrukturierung) herbeigeführt werden. Obwohl Arbeitnehmer und Arbeitgeber an die gleichen TVe gebunden bleiben, kann durch den Einsatz des Instruments der Zeitarbeit das maßgebliche Tarifregime im Ergebnis zumindest teilweise ausgetauscht werden. Im Zusammenhang mit dem Einsatz von – im Vergleich zur Stammbelegschaft des Arbeitgebers – anderweitig tarifgebundenen Leiharbeitnehmern sind jedoch einige Klippen zu umschiffen.

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I. Leiharbeit als Instrument zur Einführung eines neuen/ zusätzlichen Tarifregimes Die Arbeitnehmerüberlassung ist mittlerweile zu einem häufig eingesetzten Flexibilisierungsinstrument geworden, mit dem u.a. Auftragsspitzen abgefangen werden können. Allerdings wurde in der Praxis – jedenfalls in der Vergangenheit – von der Arbeitnehmerüberlassung teilweise auch Gebrauch gemacht, um gegenüber der Stammbelegschaft Lohnkosten einzusparen. Das Grundprinzip der Lohnkosteneinsparung liegt in der Nichtanwendung des equal-pay-Gebots (§ 3 Abs. 1 Nr. 3 Satz 2, § 9 Nr. 2 AÜG) aufgrund der Möglichkeit der Bezugnahmeklausel auf einen TV der Leiharbeitsbranche. Da das Tarifniveau in der Leiharbeitsbranche teilweise deutlich unter dem Vergütungsniveau der Stammbelegschaft liegt, kann sich der Einsatz von Leiharbeitnehmern wirtschaftlich rechnen.

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In der Grundkonzeption des AÜG stehen den Leiharbeitnehmern die gleichen Arbeitsbedingungen, insbesondere das gleiche Entgelt, wie den (vergleichbaren) Stammarbeitnehmern des jeweiligen Entleihers zu (sog. equal-pay bzw. equaltreatment) zu. Hiervon sieht das AÜG in § 3 Abs. 1 Nr. 3 Satz 2, § 9 Nr. 2 AÜG eine Ausnahme vor, wenn ein TV abweichende Regelungen (in den Grenzen der Lohnuntergrenze nach § 3a AÜG) vorsieht. In der Praxis besonders

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Teil 14

Rz. 84

Gewillkürter Tarifverlust

wichtig ist indes, dass bereits eine Bezugnahme auf entsprechende Tarifwerke der Leiharbeitsbranche zur Abweichung vom equal-pay-Grundsatz berechtigt. Da in der Leiharbeitsbranche der Organisationsgrad der Arbeitnehmer (und zwar in allen Gewerkschaften) äußerst gering ist, wird faktisch allein über die Bezugnahme auf TVe operiert. 84

Da nach der Rechtsprechung des BAG Leiharbeitnehmer in einer eigenen Branche tätig sind1 (und nicht jeweils in der Branche des Entleiherbetriebs), kann über den Einsatz von Leiharbeitnehmern die Anwendung eines anderen Tarifregimes im Betrieb erreicht werden. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Bezugnahme auf einen TV der CGZP (Christliche Gewerkschaft für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen) nach der Entscheidung des BAG vom 14.12.20102 nicht zu dem gewünschten Ergebnis führt, da die CGZP danach nicht tariffähig ist. Aufgrund der damit einhergehenden Unwirksamkeit der TVe der CGZP (die nach ganz überwiegender Auffassung auch rückwirkend vor der BAG-Entscheidung gilt) geht die Bezugnahme auf CGZP-TVe ins Leere mit der Folge, dass wieder der equal-pay-Grundsatz zur Anwendung kommt3. Die rückwirkende Unwirksamkeit der von der CGZP abgeschlossenen TVe führt dazu, dass die Verpflichtung des Verleih-Arbeitgebers zum equal-pay der eingesetzten Leiharbeitnehmer rückwirkend wieder auflebt und die beschäftigten Leiharbeitnehmer somit rückwirkend Nachzahlung des zu Unrecht nicht erhaltenen Vergütungsbestandteils verlangen können. Während der Verleih-Arbeitgeber diese Zahlungspflicht gegenüber seinen Arbeitnehmern jedoch nur dann tatsächlich erfüllen muss, wenn er von diesen in Anspruch genommen wird – wobei es nicht unwahrscheinlich ist, dass eine Anspruchsgeltendmachung durch einen Großteil der Belegschaft nicht erfolgt, weil diese längst woanders beschäftigt sind –, besteht eine Verpflichtung des Arbeitgebers zur Nachzahlung ausstehender Sozialversicherungsbeiträge für die nicht ausgezahlten „equal-pay-Lohnbestandteile“ (auch) gegenüber den Sozialversicherungsträgern nach §§ 28e, 28g SGB IV4, die von den Sozialversicherungsträgern auch durchgesetzt werden wird. Denn im Sozialrecht gilt das sog. Entstehungsprinzip, d.h. die geschuldeten Sozialversicherungsbeiträge hängen nicht vom tatsächlich gezahlten Lohn ab, sondern vom rechtlich richtigerweise entstandenen Anspruch. Eine Besonderheit liegt zudem darin, dass sich zwar der Entgeltanspruch von Leiharbeitnehmern allein gegen den Verleih-Arbeitgeber richtet, für die nicht gezahlten Sozialversicherungsbeiträge aber subsidiär auch der Entleiher haftet (vgl. § 28e Abs. 2 Satz 1, 2 SGB IV).

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Zudem ist auffällig, dass die Gewerkschaften häufiger dazu übergehen, insbesondere in HausTVen mit Arbeitgebern Regelungen zur Vermeidung oder Begrenzung des Leiharbeitnehmereinsatzes zu vereinbaren bzw. jedenfalls zu verlangen (so bspw. die Flugbegleitergewerkschaft UFO bei der Lufthansa). Da1 BAG v. 21.10.2009 – 5 AZR 951/08, NZA 2010, 237; BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289 (299). 2 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289. 3 Zu den Folgen des CGZP-Beschlusses siehe auch Schüren, RdA 2011, 368 ff. 4 Giesen in Brand/Lembke, Der CGZP-Beschluss des Bundesarbeitsgerichts, 2012, S. 113 ff.; Lembke, NZA-Beil. 2012, 66 (71); Plagemann/Brand, NJW 2011, 1488.

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„Tarifwechsel“ durch Einsatz von Zeitarbeit

Rz. 86 Teil 14

durch versuchen die etablierten Gewerkschaften einem vermehrten Einsatz der Leiharbeit, die als eine Art Lohndumpingmaßnahme wahrgenommen wird, entgegenzuwirken.

II. Einsatz von konzerninternen Personalservicegesellschaften Die Möglichkeit des Einsatzes der Zeitarbeit zur teilweisen Einführung eines neuen Tarifregimes kann auf Seiten des Arbeitgebers auch dadurch nutzbar gemacht werden, dass eine konzerninterne Personalservicegesellschaft gegründet wird, deren Ziel primär oder allein darin besteht, Arbeitnehmer einzustellen und diese im Wege der Konzernleihe an andere konzerninterne Unternehmen zu verleihen. Wenn die konzerninterne Personalservicegesellschaft in den Anwendungsbereich der Leiharbeits-TVe fällt (was sie aufgrund ihrer Funktion regelmäßig tut), finden auf die Arbeitsverhältnisse ihrer Mitarbeiter diese TVe Anwendung, so dass über eine Bezugnahmeklausel die Anwendung des equalpay-Grundsatzes vermieden werden kann. Nach Inkrafttreten der Änderungen des AÜG zum 1.12.2011 ist eine solche konzerinterne Arbeitnehmerleihe aufgrund der Verschärfung der Erlaubnispflichten jedoch erlaubnispflichtig im Sinne des § 1 AÜG.

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Teil 15 Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel Rz. A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

B. Auswirkungen von betriebs- und unternehmensinternen Umstrukturierungen auf die Tarifgeltung . .

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I. Herauswachsen aus dem Geltungsbereich als Folge einer internen Umstrukturierung . . . . . . . . . .

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II. Wegfall der Tarifzuständigkeit . . . 12 III. Verbandsaustritt und Verbandswechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 C. Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang auf die Tarifgeltung . . . . . . . . . . . . . . . . 16 I. Überblick über Voraussetzungen und Anwendungsbereich des § 613a BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Identitätswahrender Übergang eines Betriebs oder Betriebsteils a) Vorliegen eines übergangsfähigen Betriebs(teils) . . . . b) Identitätswahrender Übergang der wirtschaftlichen Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wechsel des Betriebsinhabers . 3. Rechtsgeschäftlich veranlasste Übertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Grenzüberschreitende Betriebsübernahmen . . . . . . . . . . . II. Kollektivrechtliche Fortgeltung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang 1. Vorrang der kollektivrechtlichen Fortgeltung . . . . . . . . . . . 2. Voraussetzungen für die kollektivrechtliche Fortgeltung a) Verbandstarifverträge . . . . b) Firmentarifverträge aa) Betriebsübergang im Wege der Einzelrechtsübertragung . . . . . . . . . bb) Betriebsübergang und (partielle) Gesamtrechtsnachfolge . . . . . .

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Rz. III. Fortwirkung von Tarifverträgen beim Erwerber kraft gesetzlicher Anordnung des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Voraussetzungen des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB . . . . . . . . . . . a) Betriebs- oder Betriebsteilübergang . . . . . . . . . . . . . . . . b) Keine kollektivrechtliche Fortgeltung der Tarifverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Keine Ablösung durch beim Erwerber einschlägigen Kollektivvertrag . . . . . 2. Inhalt und Wirkungen der gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB beim Erwerber aufrechterhaltenen Tarifnormen a) Rechtsnatur der in § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB angeordneten Fortgeltung . . . . . . . . b) Erfasste Arbeitsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erfasste Tarifnormen . . . . . aa) Inhaltlich erfasste Tarifnormen . . . . . . . . . . . bb) Zeitlich erfasste Tarifnormen/Grundsatz der statischen Fortgeltung d) Wirkungen bei Beendigung des fortwirkenden Tarifvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . e) Kündigungsrecht des Erwerbers im Hinblick auf den fortwirkenden Tarifvertrag? . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schutz der aufrechterhaltenen Tarifbedingungen durch die Veränderungssperre . . . . . . . . . . a) Bedeutung und Gegenstand der Veränderungssperre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gesetzliche und teleologische Einschränkungen der Veränderungssperre . . . . . . aa) Wegfall der Geltung des Tarifvertrags . . . . .

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Teil 15

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel Rz.

Rz.

bb) Inbezugnahme eines einschlägigen Tarifvertrages . . . . . . . . . . . . 81 IV. Ablösung von Tarifverträgen durch beim Betriebserwerber einschlägige Kollektivverträge (§ 613a Abs. 1 Satz 3 BGB) . . . . . . 86 1. Zweck und Bedeutung der Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 2. Voraussetzungen der Tarifablösung a) Art des ablösenden Kollektivvertrags . . . . . . . . . . . . . . 89 b) Erfordernis der beiderseitigen Tarifgebundenheit . . . 93 c) Identität des ablösenden Regelungsgegenstands (Regelungskollision) . . . . . 97 d) Keine Anwendbarkeit des Günstigkeitsprinzips . . . . . 103 e) Geltungszeitpunkt des ablösenden Tarifvertrages . . . 105 3. Besonderheiten bei der Ablösung von Tarifverträgen über die betriebliche Altersversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 4. Tarifablösung bei mehreren hintereinander geschalteten Betriebsübergängen . . . . . . . . . . 110 V. Auswirkungen des Betriebsübergangs auf die individualvertragliche Bezugnahme auf Tarifverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 1. Typisierung und Auslegung von Bezugnahmeklauseln . . . . 114 a) Statische vs. „kleine“ vs. „große“ dynamische Bezugnahme . . . . . . . . . . . . . . . 115 b) Gleichstellungsabrede . . . . 118 c) „Tarifwechselklausel“ . . . 123 2. Übergang der Rechte und Pflichten aus der Bezugnahmeklausel und Verhältnis zu beim Erwerber normativ anwendbaren Tarifverträgen . . . . . . . . . 127 3. Überblick über die sich ergebenden Fallkonstellationen . . . 130 a) Statische Bezugnahme . . . 131 b) Kleine dynamische Bezugnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132

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c)

aa) Keine Tarifbindung des Erwerbers . . . . . . . . bb) Bestehende Tarifbindung des Erwerbers . . . (1) Geltung derselben Tarifverträge wie beim Veräußerer . . . . . . . . . . (2) Geltung anderer Tarifverträge als beim Veräußerer . . . . . . . . . . . . . Große dynamische Bezugnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Keine Tarifbindung des Erwerbers . . . . . . . . bb) Bestehende Tarifbindung des Erwerbers . . .

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VI. Unterrichtung der Arbeitnehmer über die tarifrechtlichen Rechtsfolgen 1. Darstellung der tariflichen Rechtsfolgen im Unterrichtungsschreiben beim Betriebsübergang (§ 613a Abs. 5 BGB) . 159 2. Nachweis einer Änderung wesentlicher Vertragsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 VII. Übersicht: Tarifgeltung nach Betriebsübergang . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 D. Auswirkungen einer gesellschaftsrechtlichen Umstrukturierung (insbesondere Unternehmensumwandlung) auf die Tarifgeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 I. Unternehmensverkauf/Gesellschafterwechsel 1. Tarifrechtliche Neutralität eines Gesellschafterwechsels . . . 2. Besonderheiten bei konzerneinheitlich geltenden Tarifverträgen und Tarifgemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . a) Tarifgeltung bei Ausscheiden aus dem Konzern . . . . b) Beteiligung einer Tarifgemeinschaft . . . . . . . . . . . .

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II. Unternehmensumwandlungen nach dem UmwG und (partielle) Gesamtrechtsnachfolge 1. Überblick über die verschiedenen Erscheinungsfomen der Umwandlung . . . . . . . . . . . . . . . 176

Teil 15

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel Rz. 2. Anwendbarkeit der Regelungen des § 613a BGB in Fällen der Umwandlung . . . . . . . . . . . . 181 3. Auswirkungen einer Verschmelzung von Unternehmen auf die Tarifgeltung a) Geltung von Verbandstarifverträgen . . . . . . . . . . . . 183 b) Geltung von Firmentarifverträgen aa) Grundsatz der kollektivrechtlichen Fortgeltung . . . . . . . . . . . . . . . . 185 bb) Besonderheiten bei Verschmelzung zur Aufnahme auf einen Rechtsträger mit bestehenden Betrieben . . 187 4. Auswirkungen einer Spaltung von Unternehmen auf die Tarifgeltung a) Geltung von Verbandstarifverträgen . . . . . . . . . . . . 193 b) Geltung von Firmentarifverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . 196

Rz. aa) Tarifgeltung beim von der Spaltung betroffenen Rechtsträger . . . . . . . . . . . . . . . bb) Tarifgeltung beim aufnehmenden Rechtsträger . . . . . . . . . . . . . . . 5. Auswirkungen einer Vermögensübertragung auf die Tarifgeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Auswirkungen eines Formwechsels auf die Tarifgeltung .

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203 204

III. Gesamtrechtsnachfolge aufgrund gesellschaftsrechtlicher Anwachsung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 E. Auswirkungen von Umstrukturierungen auf Tarifverträge über besondere Betriebsratsstrukturen nach § 3 BetrVG . . . . . . . . . . . . . . . . 207 I. Übertragungen mit Rechtsnachfolge auf Seiten des Arbeitgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 II. Sonstige Umstrukturierungen . . . 213

Literatur: Annuß, Die einzelvertragliche Bezugnahme auf Tarifverträge, BB 1999, 2558; Bauer/Haußmann/Göpfert/Krieger, Umstrukturierung – Handbuch für die arbeitsrechtliche Praxis, 2. Aufl. 2009; Bauer/v. Medem, Betriebsübergang: Beschränkt kollektivrechtliche Fortgeltung nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB, DB 2010, 2560; Bauer/Meinel, Vereinheitlichung der Arbeitsbedingungen im Betrieb – Individualrechtliche Lösung statt Grundsatz der Tarifeinheit, NZA 2000, 181; Bayreuther, Generelle Verpflichtung zur Aufnahme von Bezugnahmeklauseln durch betriebliche Mitbestimmung bei nachwirkenden (transformierten) Tarifverträgen?, BB 2010, 2177; Bepler, Tarifverträge im Betriebsübergang, RdA 2009, 65; Bernsau/Dreher/Hauck, Betriebsübergang, 2007; Buchner, Vereinheitlichung tariflicher Strukturen im Unternehmens- und Konzernbereich, in: Festschrift für Schaub, 1998, S. 75; Caspers, Teilnachwirkung des Tarifvertrages durch § 87 Abs. 1 Nr. 10 – zur Ablösung tariflicher Vergütungssysteme, in: Festschrift für Löwisch, 2007, S. 45; Clemenz, Arbeitsvertragliche Bezugnahme auf Tarifverträge – Paradigmenwechsel mit offenen Fragen, NZA 2007, 769; Däubler, Tarifausstieg – Erscheinungsformen und Rechtsfolgen, NZA 1996, 225; Deinert, Arbeitsrechtliche Rahmenbedingungen und Folgen nationaler und transnationaler Umstrukturierungen von Betrieben und Unternehmen in Deutschland, RdA 2001, 368; Döring/Grau, Überkreuz mit der Überkreuzablösung – Kein Vorrang von Betriebsvereinbarungen gegenüber „transformierten“ tariflichen Ansprüchen beim Betriebsübergang?, BB 2009, 158; Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge – am Beispiel der Bezugnahme- und Öffnungsklausel, 2012; Franzen, Gesetzesbindung im Tarifvertragsrecht, in: Festschrift für Picker, 2010, S. 929; B. Gaul, Das Arbeitsrecht der Betriebs- und Unternehmensspaltung, 2002; B. Gaul, Das Schicksal von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen bei der Umwandlung von Unternehmen, NZA 1995, 717; B. Gaul, Die einzelvertragliche Bezugnahme auf einen Tarifvertrag beim Tarifwechsel des Arbeitgebers, NZA 1998, 9; B. Gaul/Janz, Chancen und Risiken tariflicher Lösungen, NZA-Beilage 2/2010, 60; B. Gaul/Mückl, Ver-

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Teil 15

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

einbarte Betriebsverfassung – Was ist möglich, was sinnvoll?, NZA 2011, 657; D. Gaul, Die kollektivrechtlichen Auswirkungen eines rechtsgeschäftlich begründeten Betriebsübergangs, ZTR 1989, 432; Giesen, Bezugnahmeklauseln – Auslegung, Formulierung, Änderung, NZA 2006, 625; Grau, Unterrichtung und Widerspruchsrecht der Arbeitnehmer bei Betriebsübergang gemäß § 613a Abs. 5 und 6 BGB, 2005; Grau, Unterrichtung und Widerspruchsrecht beim Betriebsübergang – Aktuelle Gestaltungsfragen und Verwirkung, AE 2010, 130; Gussen/Dauck, Die Weitergeltung von Betriebsvereinbarungen und Tarifverträgen bei Betriebsübergang und Umwandlung, 2. Aufl. 1997; Hanau, Arbeitsrecht und Mitbestimmung in Umwandlung und Fusion, ZGR 1990, 548; Hanau, Die Rechtsprechung des BAG zur arbeitsvertraglichen Bezugnahme auf Tarifverträge – Wem sie nützt, wem sie schadet und wie man das ändern kann, NZA 2005, 489; Hanau, Brennpunkte der Rechtsprechung zum Betriebsübergang, in: Festschrift für Küttner, 2006, S. 357; Hanau/Strauß, Die neue Rechtsprechung zur Kündigung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang, in: Festschrift für Bepler, 2012, S. 199; Hanau/Vossen, Die Auswirkungen des Betriebsinhaberwechsels auf Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge, in: Festschrift für Hilger/Stumpf, 1983, S. 271; Heinlein, Statik statt Dynamik beim Betriebsübergang?, NJW 2008, 321; Heinze, Arbeitsrechtliche Probleme bei der Umstrukturierung von Unternehmen, DB 1998, 1861; Heinze, Ausgewählte Rechtsfragen zu § 613a BGB, in: Festschrift für Schaub, 1998, S. 275; Henssler, Aufspaltung, Ausgliederung und Fremdvergabe, NZA 1994, 294; Henssler, Aktuelle Rechtsprobleme des Betriebsübergangs, NZA 1994, 913; Henssler, Unternehmensumstrukturierung und Tarifrecht, in: Festschrift für Schaub, 1998, S. 311; Henssler, Schuldrechtliche Tarifgeltung bei Verbandsaustritt, Verbandswechsel und Unternehmensumstrukturierung, in: Festschrift für Wißmann, 2005, S. 133; Henssler, Tarif- und arbeitsvertragliche Folgen der Auflösung von Arbeitgeberverbänden und Tarifgemeinschaften, in: Festschrift 25 Jahre Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht im DAV, 2003, S. 37; Hohenstatt, Die Fortgeltung von Tarifnormen nach § 613a Abs 1 S. 2 BGB, NZA 2010, 23; Hohenstatt/Günther-Gräff, Schicksal von Betriebsvereinbarungen und Tarifverträgen bei Unternehmenskauf und Umstrukturierung, DStR 2001, 1980; Hohenstatt/Kuhnke, Die arbeitsvertragliche Bezugnahme auf Tarifverträge beim Betriebs(teil)übergang, RdA 2009, 107; Hromadka/Maschmann/ Wallner, Der Tarifwechsel, 1996; Hunold, Aktuelle Rechtsprechung zu zentralen Fragen des Betriebsübergangsrechts, NZA-RR 2010, 281; Jacobs, Fortgeltung und Änderung von Tarif- und Arbeitsbedingungen bei der Umstrukturierung von Unternehmen, NZA-Beilage 1/2009, 45; Jacobs, Bezugnahmeklausel als Stolpersteine beim Betriebsübergang, BB 2011, 2037; Kallmeyer, Umwandlungsgesetz, 4. Aufl. 2010; Kania, Tarifeinheit bei Betriebsübergang, DB 1994, 529; Kania, Tarifbindung bei Ausgliederung und Aufspaltung eines Betriebs, DB 1995, 625; Kempen, Betriebsübergang und Tarifvertrag, BB 1991, 2006; Kreft, Tarifliche Vergütungsordnung und betriebliche Entlohnungsgrundsätze, in: Festschrift für Kreutz, 2010, S. 263; Lambrich, Weitergeltung und Ablösung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang, in: Festschrift für Ehmann, 2005, S. 169; Melot de Beauregard, Fluch und Segen arbeitsvertraglicher Verweisungen auf Tarifverträge, NJW 2006, 2522; Meyer, Arbeitsvertragsänderungen bei Betriebsübergang, NZA 2002, 246; Meyer, Das Regelungsverhältnis von Verbands- und firmenbezogenen Verbandstarifvertrag zum Firmentarifvertrag, NZA 2004, 366; Meyer, Betriebsübergang: Neues zur Transformation gem. § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB, DB 2010, 1404; Moll, Kollektivvertragliche Arbeitsbedingungen nach einem Betriebsübergang, RdA 1996, 275; Müller-Bonanni/Mehrens, Auswirkungen von Umstrukturierungen auf die Tarifsituation, ZIP 2012, 1217; Nicolai, EuGH bestätigt statische Weitergeltung von Tarifnormen nach Betriebsübergang – Anmerkung zur Werhof-Entscheidung des EuGH, DB 2006, 670; Olbertz, Gleichstellungsabrede – Gestaltungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten für die betriebliche Praxis, BB 2007, 2737; Oetker, Arbeitsvertragliche Bezugnahme auf Tarifverträge und AGB-Kontrolle, in: Festschrift für Wiedemann, 2002, S. 383; Otto, Arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln und Änderungen der Tarifgeltung, 2006; Picot/Schnitker, Arbeitsrecht bei Unternehmenskauf und Restrukturierung, 2001; Preis, Der Arbeitsvertrag, 4. Aufl. 2011; Preis, Arbeitsvertragliche Verweisung auf Tarifverträge, in: Festschrift für Wiedemann, 2002, S. 425;

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Rz. 1 Teil 15

Einführung

Preis, Bezugnahme auf den Tarifvertrag und das Vertragsrecht, in: Festschrift für Bepler, 2012, S. 479; Preis/Steffan, Zum Schicksal kollektivrechtlicher Regelungen beim Betriebsübergang, in: Festschrift für Kraft, 1998, S. 477; Reinecke, Vertragliche Bezugnahme auf Tarifverträge in der neueren Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, BB 2006, 2637; Rieble, Konzerntarifvertrag, Konzern 2005, 475, 549; Rinck, Kollision von fortwirkenden Tarifnormen und Bezugnahmeklauseln und Betriebsübergang, RdA 2010, 216; Röller/Wißmann, Tarifbindung und arbeitsvertragliche Bezugnahme, in: Festschrift für Küttner, 2006, S. 465; Sagan, Die kollektivrechtliche Fortgeltung von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen nach § 613a Abs. 1 Sätze 2–4 BGB, RdA 2011, 163; Sagan, Das Verschlechterungsverbot bei Ablösung von Kollektivverträgen nach einem Betriebsübergang, EuZA 2012, 247; Schiefer, Tarifvertragswechsel beim Betriebsübergang – neue Möglichkeiten?, DB 2003, 390; Schiefer/Pogge, Betriebsübergang und dessen Folgen – Tatbestandsvoraussetzungen des § 613a BGB und Fortgeltung kollektiv-rechtlicher Regelungen, NJW 2003, 3734; Schliemann, Arbeitsvertragliche Verweisung auf Tarifverträge, NZA-Beilage 16/2003, 3; Schliemann, Tarifgeltung und arbeitsvertragliche Bezugnahme auf Tarifverträge in der neueren Rechtsprechung des BAG, ZTR 2004, 502; Schmitt/Hörtnagl/Stratz, Umwandlungsgesetz, Umwandlungssteuergesetz, 5. Aufl. 2009; Schnitker/ Grau, Arbeitsrechtliche Aspekte von Unternehmensumstrukturierungen durch Anwachsung von Gesellschaftsanteilen, ZIP 2008, 394; Seibt, Gesamtrechtsnachfolge beim gestalteten Ausscheiden von Gesellschaftern aus Personengesellschaften: Grundfragen des Gesellschafter-, Gläubiger- und Arbeitnehmerschutzes, in: Festschrift für Röhricht, 2005, S. 603; Seiter, Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen beim Betriebsinhaberwechsel, DB 1980, 877; Seitz/Werner, Arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln bei Unternehmensumstrukturierungen, NZA 2000, 1257; Semler/Stengel, Umwandlungsgesetz, 3. Aufl. 2012; Sittard/Ulbrich, Zur Rechtsprechungsänderung bei der Auslegung von Bezugnahmeklauseln, ZTR 2006, 458; Sowka/Weiß, Gesamtbetriebsvereinbarung und Tarifvertrag bei Aufnahme eines neuen Betriebs in das Unternehmen, DB 1991, 1518; Spielberger, Vertrauensschutz light: Das Urteil des BAG vom 18.4.2007 zur Gleichstellungsabrede, NZA 2007, 1086; Steffan, Neues vom EuGH zum Betriebsübergang: Was folgt aus „Scattolon“?, NZA 2012, 473; Thüsing, Statische Rechtsprechung zur dynamischen Bezugnahme, NZA 2003, 1184; Thüsing, Europarechtliche Bezüge der Bezugnahmeklausel, NZA 2006, 473; Thüsing, Vereinbarte Betriebsratsstrukturen, ZIP 2003, 693; Thüsing/ Lambrich, Arbeitsvertragliche Bezugnahme auf Tarifnormen, Verbandsaustritt, Verbandswechsel, Betriebsübergang, RdA 2002, 193; Wellenhofer-Klein, Tarifwechsel durch Unternehmensumstrukturierung, ZfA 1999, 239; Wilhelm, Das Rechtsinstitut der Anwachsung und seine Auswirkungen in der arbeitsrechtlichen Praxis, in: Festschrift 25 Jahre Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht im DAV, 2003, S. 721; E.M. Willemsen, Die arbeitsvertragliche Bezugnahme auf den Tarifvertrag bei Tarifwechsel, 2009; H.J. Willemsen, Europäisches und deutsches Arbeitsrecht im Widerstreit? – Aktuelle Baustellen im Recht des Betriebsübergangs, NZA-Beilage 4/2008, 155; H. J. Willemsen/Hohenstatt/ Schweibert/Seibt, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 4. Aufl. 2011; Zöllner, Veränderung und Angleichung tarifvertraglich geregelter Arbeitsbedingungen nach Betriebsübergang, DB 1995, 1401.

A. Einführung Die Umstrukturierung und Übertragung von Betrieben und Unternehmen führt zu vielschichtigen und teilweise rechtlich komplexen Problemen im Hinblick auf das Schicksal von TVen. Den Ausgangspunkt jeder Analyse bildet dabei die Frage, auf welche Ebene sich die geplante Umstrukturierung beziehen soll.

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Teil 15

Rz. 2

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

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Für rein innerbetriebliche bzw. unternehmensinterne Umstrukturierungen (dazu Rz. 6 ff.) sind Auswirkungen vor allem im Hinblick auf die weitere fachliche oder örtliche Einschlägigkeit der bisherigen TVe sowie die Tarifzuständigkeit der am TV-Abschluss beteiligten Koalitionen denkbar. Derartige Fälle lassen sich in tarifrechtlicher Hinsicht weitgehend anhand der allgemeinen Regelungen des TVG lösen.

3

Häufig gehen die Wirkungen einer Umstrukturierung jedoch über das Unternehmen hinaus und sind mit einer Rechtsnachfolge auf Seiten des Arbeitgebers verbunden. Das gilt insbesondere dann, wenn ein Betrieb oder Betriebsteil veräußert bzw. im Rahmen der Umstrukturierung einem anderen Rechtsträger zugeordnet wird. In derartigen Fällen stellt sich die Frage, ob die bisherigen TVe weiterhin dynamisch oder zumindest statisch für die tarifgebundenen Arbeitsverhältnisse Anwendung finden oder durch im aufnehmenden Unternehmen bestehende TVe abgelöst werden (dazu Rz. 16 ff.). Dafür sind in erster Linie die besonderen Vorschriften des § 613a Abs. 1 Satz 2–4 BGB über die Aufrechterhaltung des kollektivrechtlichen Besitzstands der tarifgebundenen Arbeitnehmer sowie die Ablösung von Kollektivverträgen entscheidend. In der Praxis ist der Betriebsübergang insofern ein wichtiges Gestaltungsmittel, mit dem tarifliche Veränderungen für die Belegschaft wie z.B. ein Tarifwechsel oder zumindest die Begrenzung der weiteren Tarifdynamik herbeigeführt werden können.

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Entsprechendes gilt für Umstrukturierungen mit vollständiger oder partieller Gesamtrechtsnachfolge auf Arbeitgeberseite. Auch wenn derartige Vorgänge oft ebenfalls mit einem Betriebs- oder Betriebsteilübergang verbunden sind, sind ihre Folgen im Hinblick auf die Tarifgeltung wegen der Universalsukzession gesondert zu betrachten. Dies gilt insbesondere für die Auswirkungen von Verschmelzungen und Spaltungen von Unternehmen nach dem UmwG (dazu Rz. 176 ff.). Reine Veränderungen auf Gesellschafterebene wie z.B. im Fall des Gesellschafterwechsels nach einem Anteilsverkauf (share deal) sind demgegenüber tarifrechtlich in der Regel „neutral“. Einzelheiten hierzu einschließlich etwaiger Besonderheiten bei „KonzernTVen“ und Tarifgemeinschaften sind unter Rz. 168 ff. dargestellt.

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Neben den Auswirkungen von Umstrukturierungen und Übertragungen auf der kollektivrechtlichen Schiene muss stets auch die arbeitsvertragliche Ebene in die Analyse der tariflichen Konsequenzen einbezogen werden, sofern in den Anstellungsverträgen der Arbeitnehmer auf TVe Bezug genommen wird. Denn nur ausreichend elastisch formulierte Bezugnahmeklauseln sind in der Lage, jede tarifliche Entwicklung auch auf der vertraglichen Ebene für das Arbeitsverhältnis nachzuvollziehen. Dies ist im Kontext von Umstrukturierungen vor allem beim Betriebsübergang von Bedeutung (dazu Rz. 112 ff.).

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Auswirkung betriebs- und unternehmensinterner Umstrukturierungen

Rz. 9 Teil 15

B. Auswirkungen von betriebs- und unternehmensinternen Umstrukturierungen auf die Tarifgeltung Aus tarifrechtlicher Sicht können unternehmensinterne Strukturveränderungen insbesondere dann Bedeutung für die Tarifgeltung gewinnen, wenn mit ihnen entweder ein Herauswachsen des betroffenen Betriebes aus dem fachlichen oder örtlichen Geltungsbereich der bislang angewendeten TVe einhergeht oder es zu einem Verlust der Tarifzuständigkeit einer an dem TV-Abschluss beteiligten Koalition kommt. Stehen diese Folgen im Zusammenhang mit einer Betriebsänderung i.S.v. § 111 BetrVG, so kann eine hierdurch eintretende Verschlechterung der Arbeitsbedingungen als wirtschaftlicher Nachteil in einem Sozialplan adressiert werden. Hierin liegt wegen § 112 Abs. 1 Satz 4 BetrVG kein Verstoß gegen die „Tarifsperre“ des § 77 Abs. 3 BetrVG1.

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I. Herauswachsen aus dem Geltungsbereich als Folge einer internen Umstrukturierung Umstrukturierungsmaßnahmen des Arbeitgebers können dazu führen, dass der betroffene Betrieb aus dem fachlichen oder örtlichen Geltungsbereich der bislang kollektivrechtlich einschlägigen TVe herausfällt. Beispiele hierfür sind Betriebsänderungen mit grundlegender Änderung des Betriebszwecks (z.B. Branchenwechsel) oder eine Verlagerung des Betriebes, soweit diese zur Folge haben, dass der Geltungsbereich der bisherigen TVe nicht mehr eröffnet ist. Entsprechendes kann sich ergeben, wenn ein Betriebsteil stillgelegt wird und der verbleibende Betriebsteil nunmehr einen Zweck verfolgt, für welchen der bislang einheitlich angewendete TV fachlich nicht mehr einschlägig ist. Maßgeblich ist die Abgrenzung des Geltungsbereichs in dem jeweiligen TV.

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Die Konsequenzen für die Tarifgeltung ergeben sich in diesen Fällen aus dem allgemeinen Tarifrecht. Als Folge eines Herauswachsens aus dem Geltungsbereich tritt nach richtiger Ansicht analog § 4 Abs. 5 TVG die Nachwirkung des TVes für die bislang von ihm erfassten Arbeitsverhältnisse ein, soweit keine die bisherigen Tarifregelungen ersetzende andere Abmachung getroffen wird2. Mithin hat das Herauswachsen aus dem Geltungsbereich das Ende der normativen Wirkung des TVes zur Folge.

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Teilweise wird indes angenommen, dass betriebliche Umstrukturierungsmaßnahmen des Arbeitgebers, infolge derer der Betrieb nicht mehr vom Geltungsbereich der bisherigen TVe erfasst wird, wie ein „faktischer“ Verbandsaustritt

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1 Zum Verhältnis von TV und Sozialplan s. BAG v. 14.11.2006 – 1 AZR 40/06, NZA 2007, 339 (341); ErfK/Kania, §§ 112, 112a BetrVG Rz. 13; HWK/Hohenstatt/Willemsen, § 112 BetrVG Rz. 80. 2 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 193/97, NZA 1998, 488 (490 f.); LAG Hamm v. 12.6.2001 – 13 TaBV 134/00, n.v.; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 60; Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 44; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 693; Thüsing/Braun/Heise, 11. Kap. Rz. 29; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 337; Kania, DB 1995, 625 (630); zurückhaltend Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 886 ff.

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Teil 15

Rz. 10

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

zu bewerten seien, mit der Folge, dass eine Nachbindung an die bisherigen TVe gemäß § 3 Abs. 3 TVG eintritt, bis diese enden1. Dieser Ansatz findet jedoch im Gesetz keine Stütze. Die Nachbindung setzt aufgrund der systematischen Verknüpfung mit § 3 Abs. 1 TVG einen Verlust der Mitgliedschaft in der TVPartei voraus und stellt keine allgemeine tarifrechtliche Übergangsvorschrift für den Fall dar, dass das Arbeitsverhältnis aus anderen Gründen nicht mehr dem bisherigen – nicht einschlägigen – TV unterfällt2. 10

Zu berücksichtigen ist, dass sich aufgrund von Bezugnahmeklauseln eine Besserstellung gegenüber der sich auf der tarifrechtlichen Ebene ergebenden lediglich statischen Nachwirkung der TVe ergeben kann, wenn die Verweisung dynamisch ausgestaltet ist, sofern die Klausel – bspw. wegen Verfehlung der für Neuverträge seit dem 1.1.2002 geltenden besonderen Transparenzanforderungen der Rechtsprechung – nicht als Gleichstellungsabrede ausgelegt werden kann3. Die sich hier stellenden Auslegungsfragen ergeben sich in ähnlicher Weise für den Fall des Betriebsübergangs auf einen nicht oder anderweitig tarifgebundenen Erwerber (vgl. dazu Rz. 133 ff.).

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Kommt in dem betroffenen Betrieb ein neuer TV zur Anwendung, an welchen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemäß §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG gebunden sind, so hat dieser gegenüber den nachwirkenden Tarifnomen ablösende Wirkung. Wurde der ablösende TV mit einer anderen Gewerkschaft abgeschlossen – etwa bei Änderung des Betriebszwecks oder Branchenwechsel – müssen die Arbeitnehmer zur Herstellung der für die ablösende Tarifwirkung erforderlichen kongruenten Tarifbindung allerdings in die neue Gewerkschaft wechseln. Für derartige Konstellationen wird zum Teil eine analoge Anwendung von § 613a Abs. 1 Satz 2–4 BGB befürwortet4. Richtigerweise kommt dies jedoch nicht in Betracht, da die besonderen Schutzvorschriften des § 613a BGB einen Wechsel in der Person des Betriebsinhabers voraussetzen und damit auf rein arbeitgeberinterne Umstrukturierungsmaßnahmen nicht anwendbar sind5. Angesichts der Lösungsmöglichkeiten anhand des TVG besteht zudem kein Bedarf für eine Analogie zu § 613a BGB.

II. Wegfall der Tarifzuständigkeit 12

Ferner können Strukturveränderungen im Unternehmen dazu führen, dass die Tarifzuständigkeit der am Abschluss der bislang angewendeten TVe beteiligten 1 Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 151; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 252. 2 BAG v. 13.7.1994 – 4 AZR 555/93, NZA 1995, 479 (480); Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 224; Thüsing/Braun/Heise, 11. Kap. Rz. 29; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 65. 3 Vgl. dazu etwa BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, NJW 2006, 2571 ff.; BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965 ff.; BAG v. 21.10.2009 – 4 AZR 396/08, NZA-RR 2010, 361 (362); BAG v. 24.2.2010 – 4 AZR 691/08, NZA-RR 2010, 530 (534); ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 41a; Henssler, FS Wißmann, S. 133 (152). 4 Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 137 (anders aber wohl Rz. 151); Erman/Edenfeld, § 613a BGB Rz. 76; Hanau, RdA 1989, 207 (211). 5 Ebenso Bauer/Göpfert/Haußmann/Krieger, Umstrukturierung, Teil 1 A Rz. 8; ErfK/ Preis, § 613a BGB Rz. 43; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 111; D. Gaul, NZA 1986, 628 (630); Kreßel, DB 1989, 1623 (1625); Schiefer, RdA 1994, 83 (85).

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Auswirkung betriebs- und unternehmensinterner Umstrukturierungen

Rz. 15 Teil 15

Koalition(en) entfällt, insbesondere weil der Arbeitgeber nunmehr eine andere Branchenzugehörigkeit aufweist. Auch diese Konstellation ist ausschließlich anhand des TVG zu lösen, wobei die Einzelheiten umstritten sind (vgl. näher Teil 2 Rz. 237). Wohl überwiegend wird davon ausgegangen, dass ein FirmenTV seine normative Wirkung nicht durch den Verlust der Tarifzuständigkeit der Gewerkschaft einbüßt1. Allerdings soll den Tarifparteien ein Kündigungsrecht zustehen, wobei umstritten ist, ob dies die Möglichkeit einer Kündigung aus wichtigem Grund einschließt2. Da das von der Umstrukturierung betroffene Unternehmen im Falle eines VerbandsTVes nicht Vertragspartei ist und zudem mehrere Arbeitgeber an den TV gebunden sind, ist eine Kündigung durch den einzelnen Arbeitgeber weder möglich noch sachgerecht. Insofern wird verbreitet davon ausgegangen, dass der nachträgliche Verlust der Tarifzuständigkeit bei einem VerbandsTV unmittelbar zum Eintritt der Nachwirkung analog § 4 Abs. 5 TVG führt3.

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Es erscheint jedoch vorzugwürdig, den nachträglichen Wegfall der Tarifzuständigkeit sowohl im Falle eines VerbandsTVes als auch bei einem FirmenTV einheitlich als Anwendungsfall einer Nachwirkung analog § 4 Abs. 5 TVG zu behandeln4. Der Vorteil dieser Lösung liegt darin, dass insofern alle Fälle des Wegfalls von Wirksamkeitsvoraussetzungen gleich behandelt werden. Zudem erscheint es wie beim Herauswachsen aus dem Geltungsbereich des TVes sachgerecht, es den Parteien des Arbeitsverhältnisses zu überlassen, ob sie die nicht mehr passenden Bedingungen durch eine die Nachwirkung beendende andere Abmachung ersetzen wollen. Schließlich ist der Arbeitnehmer aufgrund der Nachwirkung vor einem inhaltslosen Zustand des Arbeitsverhältnisses geschützt.

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III. Verbandsaustritt und Verbandswechsel Schließlich lassen sich unmittelbar tarifrechtliche Gestaltungsmaßnahmen des Arbeitgebers wie insbesondere der Verbandsaustritt oder der Verbandswechsel im weiteren Sinne zu den internen Umstrukturierungsmaßnahmen zählen. Hierzu sei auf die Ausführungen in Teil 14 verwiesen.

1 HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 47; Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, § 2 TVG Rz. 170 f.; a.A. Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 174a; ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 38; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 272. 2 HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 47; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 232 m.w.N. 3 Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, § 2 TVG Rz. 174; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 96; ähnlich Hromadka/Maschmann/Wallner, Tarifwechsel, Rz. 258 ff. Für eine Nachbindung analog § 3 Abs. 3 TVG Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 178. 4 So auch MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 164 Rz. 100.

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Teil 15

Rz. 16

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

C. Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang auf die Tarifgeltung 16

Die Frage nach der Fortgeltung oder Ablösung von TVen stellt sich in besonderer Weise im Zusammenhang mit Umstrukturierungen, die mit einem Wechsel des Betriebsinhabers verbunden sind. Mit der einschlägigen Vorschrift in § 613a BGB setzt der deutsche Gesetzgeber die Vorgaben der Betriebsübergangsrichtlinie um1. Infolgedessen hat nicht zuletzt die Judikatur des EuGH anhaltend prägenden Einfluss auf die Auslegung des § 613a BGB. Die Vorgaben in Art. 3 Abs. 3 RL 2001/23/EG für den Schutz kollektivvertraglich geregelter Arbeitsbedingungen beim Betriebsübergang sind daher im Rahmen einer europarechtskonformen Auslegung von § 613a Abs. 1 Satz 2–4 BGB zu beachten.

I. Überblick über Voraussetzungen und Anwendungsbereich des § 613a BGB 17

Ein Betriebsübergang i.S.v. § 613a BGB liegt vor, wenn infolge einer Übertragung eines Betriebes oder Betriebsteils durch Rechtsgeschäft die Person des Betriebsinhabers wechselt und der neue Inhaber die übernommene Einheit unter Wahrung ihrer Identität fortführt. Voraussetzung ist stets, dass der neue Betriebsinhaber die betriebliche Organisations- und Leitungsmacht erhält und ausübt. Dies ist auch entscheidend für die Bestimmung des Zeitpunkts des Betriebsinhaberwechsels. Der bloße Erhalt der Fortführungsmöglichkeit reicht demgegenüber für die Annahme eines Betriebsübergangs nicht aus2. Ebenfalls nicht ausreichend ist die Übertragung einer bloßen Tätigkeit (Funktionsnachfolge) oder einzelner „isolierter“ Betriebsmittel3.

1. Identitätswahrender Übergang eines Betriebs oder Betriebsteils a) Vorliegen eines übergangsfähigen Betriebs(teils) 18

Gemäß Art. 1 Abs. 1 lit. b RL 2001/23/EG gilt als übergangsfähig und damit als taugliches „Transaktionsobjekt“ jede wirtschaftliche Einheit im Sinne einer organisierten Zusammenfassung von Ressourcen zur Verfolgung einer wirtschaftlichen Haupt- oder Nebentätigkeit. Diese Definition ist weiter gefasst als der „klassische“ Betriebsbegriff des BetrVG. Entscheidend kommt es auf die Übernahme einer funktionsfähigen arbeitstechnischen Organisations1 RL 77/187/EWG v. 14.2.1977, geändert durch RL 98/50/EG v. 29.6.1998, zuletzt konsolidierte Fassung durch RL 2001/23/EG v. 22.3.2001, ABl. EG L 82/16 v. 22.3.2001. 2 BAG v. 18.3.1999 – 8 AZR 196/98, NZA 1999, 869 (870); BAG v. 21.2.2008 – 8 AZR 77/07, NZA 2008, 825 (826); HWK/Willemsen, § 613a BGB Rz. 69 f. Hieran hat sich trotz EuGH v.12.2.2009 – Rs. C-466/07 (Klarenberg), NZA 2009, 251 ff. nichts geändert. 3 St. Rspr., BAG v. 21.1.2009 – 8 AZR 158/07, NZA 2009, 905 (907); BAG v. 28.5.2009 – 8 AZR 273/08, NZA 2009, 1267 (1269); BAG v. 17.12.2009 – 8 AZR 1019/09, NZA 2010, 499 (501 f.); BAG v. 7.4.2011 – 8 AZR 730/09, NZA 2011, 1231; aus der Lit. statt aller HWK/Willemsen, § 613a BGB Rz. 127 f.

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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang

Rz. 19 Teil 15

einheit mit eigener wirtschaftlicher Zielsetzung an1. Damit ist entgegen der früher vor allem auf die Übertragung sächlicher und immaterieller Betriebsmittel abstellenden Sichtweise davon auszugehen, dass in betriebsmittelarmen Einheiten auch die Übernahme eines wesentlichen Teils des durch die gemeinsame Tätigkeit sowie durch die vom Veräußerer geschaffene Betriebsorganisation dauerhaft verbundenen Personals ein wesentliches Betriebsübergangsindiz darstellen kann2. Ein übergangsfähiger Betriebsteil im Sinne des § 613a BGB zeichnet sich dadurch aus, dass bestimmte, von der übrigen Betriebsorganisation abgrenzbare Ressourcen dauerhaft zur Erbringung eines betrieblichen Teilzwecks verknüpft werden und eine eigene Organisation aufweisen3. Die wirtschaftliche Einheit muss auf eine gewisse Dauer angelegt sein. Ein stillgelegter Betrieb kann nicht Gegenstand eines Betriebsübergangs nach § 613a BGB sein4. Liegt zwar keine endgültige Stilllegung des Betriebes vor, kann ein Betriebsübergang auch dann ausscheiden, wenn vor der Übernahme des Betriebs durch die neue Leitung eine längere Betriebsunterbrechung eingetreten ist5. Für die Anwendung des § 613a BGB ist es irrelevant, ob die übergehende Einheit eine öffentliche Einrichtung ist oder ob sie dem Bereich der Privatwirtschaft zuzuordnen ist, solange nur der Betriebserwerber privatwirtschaftliche Zwecke verfolgt und die restlichen Voraussetzungen des § 613a BGB erfüllt sind (insbesondere die erforderliche Übertragung kraft Rechtsgeschäfts)6. Damit werden von § 613a BGB grundsätzlich auch Privatisierungsfälle erfasst7, bei denen die Frage der Fortgeltung der für den öffentlichen Dienst geltenden TVe regelmäßig besonderes Gewicht hat. Der EuGH geht in der Anwendung der Betriebsübergangsrichtlinie sogar noch einen Schritt weiter und versteht auch den Übergang einer öffentlichen Einrichtung auf einen neuen Arbeitgeber innerhalb der öffentlichen Verwaltung als Betriebsübergang, wenn dieser im Rahmen der Neuordnung der öffentlichen Verwaltung erfolgt und die öffent1 Vgl. nur EuGH v. 11.3.1997 – Rs. C-13/95 (Ayse Süzen), NZA 1997, 433 (434); EuGH v. 2.12.1999 – Rs. C-234/98 (Allen), NZA 2000, 587 (588); EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-242/09 (Albron), NZA 2010, 1225 (1226); BAG v. 13.11.1997 – 8 AZR 295/95, NZA 1998, 251 (252); BAG v. 17.4.2003 – 8 AZR 253/02, AP Nr. 253 zu § 613a BGB; BAG v. 27.1.2011 – 8 AZR 326/09, NZA 2011, 1162 (1164). 2 Vgl. nur BAG v. 22.5.1997 – 8 AZR 101/96, NZA 1997, 1050 (1052 f.); BAG v. 3.11.1998 – 3 AZR 484/97, n.v.; HWK/Willemsen, § 613a BGB Rz. 122. 3 BAG v. 2.10.1974 – 5 AZR 504/73, NJW 1975, 1378 ff.; BAG v. 26.8.1999 – 8 AZR 718/98, NZA 2000, 144 (145); BAG v. 17.12.2009 – 8 AZR 1019/08, NZA 2010, 499 (500 f.); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 7. 4 BAG v. 28.4.1988 – 2 AZR 623/87, NZA 1989, 265 (266); BAG v. 16.5.2002 – 8 AZR 319/01, NZA 2003, 93 (99); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 56; HWK/Willemsen, § 613a BGB Rz. 77. 5 BAG v. 22.5.1997 – 8 AZR 101/96, NZA 1997, 1050 (1052); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 57; HWK/Willemsen, § 613a BGB Rz. 78. 6 Vgl. EuGH v. 15.10.1996 – Rs. C-298/94 (Henke), NZA 1996, 1279 (1280); EuGH v. 10.12.1998 – Rs. C-173/96 (Hidalgo), NZA 1999, 189 (190); EuGH v. 14.9.2000 – Rs. C-242/98 (Collino u.a.), NZA 2000, 1279 (1281); BAG v. 27.4.2000 – 8 AZR 260/99, n.v.; HWK/Willemsen, § 613a BGB Rz. 23. 7 Ausführlich Blanke/Fedder/Blanke, Privatisierung, 2. Aufl. 2010, Teil 6 Rz. 23 ff.; s. auch BAG v. 27.4.2000 – 8 AZR 260/99, n.v.; HWK/Willemsen, § 613a BGB Rz. 23; Schipp, NZA 1994, 865 ff.

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Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

liche Einrichtung keine hoheitlichen, sondern wirtschaftliche Tätigkeiten ausübt1.

b) Identitätswahrender Übergang der wirtschaftlichen Einheit 20

Ob der für den Betriebsübergang vorausgesetzte identitätswahrende Übergang der wirtschaftlichen Einheit vorliegt, ist im Rahmen einer Gesamtabwägung der Umstände des Einzelfalls zu beurteilen. Hierfür gilt der bekannte, von der Rechtsprechung entwickelte Sieben-Punkte-Katalog2. Kriterien für die Prüfung einer identitätswahrenden Übertragung sind danach ein Vergleich der Art des Betriebes vor und nach dem Übergang, die Übernahme von materiellen sowie immateriellen Betriebsmitteln durch den Erwerber, die Übernahme der Hauptbelegschaft, die Übernahme von Kundenbeziehungen, die Vergleichbarkeit der Tätigkeit vor und nach dem Betriebsübergang sowie die Dauer einer möglichen Unterbrechung der Geschäftstätigkeit3.

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Bei der erforderlichen Gesamtbeurteilung ist das Gewicht der einzelnen Kriterien in Beziehung zur Art des Betriebes zu setzen. Maßgebliche Bedeutung kommt hierbei der Unterscheidung zu, ob die wirtschaftliche Einheit durch ihre sächlichen oder immateriellen Betriebsmittel geprägt war oder aber ein betriebsmittelarmer Betrieb vorliegt, bei dem es im Wesentlichen auf die menschliche Arbeitskraft ankommt. Im ersten Fall – Vorliegen eines betriebsmittelgeprägten Betriebes – kommt der Übernahme der sächlichen oder immateriellen Betriebsmittel, speziell jedoch derjenigen Betriebsmittel, die den Kern der wirtschaftlichen Wertschöpfung im Betrieb ausmachen4, besonderes Gewicht zu. Für eine Übernahme der Betriebsmittel durch den Erwerber ist es nicht erforderlich, dass diese sachenrechtlich in dessen Eigentum übergehen oder er hierüber „eigenwirtschaftlich“ disponieren kann. Vielmehr sind dem Betriebserwerber die Mittel nach der Abler-Entscheidung des EuGH bereits zuzurechnen, wenn er diese lediglich weiter nutzt5. In betriebsmittelarmen Betrieben setzt ein Betriebsübergang demgegenüber in der Regel voraus, dass der Erwerber einen nach Zahl und Sachkunde wesentlichen Teil des Personals (freiwillig) übernimmt6. 1 EuGH v. 6.9.2011 – Rs. C-108/10 (Scattolon), NZA 2011, 1077 (1080 f.). 2 Siehe etwa EuGH v. 20.11.2003 – Rs. C-340/01 (Abler), NZA 2003, 1385 (1386); EuGH v. 15.12.2005 – Rs. C-232/04 (Nurten Güney-Görres), NZA 2006, 29 (30); BAG v. 8.8.2002 – 8 AZR 583/01, NZA 2003, 315 (317); BAG v. 2.3.2006 – 8 AZR 147/05, NZA 2006, 1105 (1106); BAG v. 17.12.2009 – 8 AZR 1019/08, NZA 2010, 499 (501). 3 Ausführlich zu den einzelnen Kriterien u.a. ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 10 ff.; HWK/ Willemsen, § 613a BGB Rz. 93 ff.; MünchKomm/Müller-Glöge, § 613a BGB Rz. 25 ff. 4 Zum Wertschöpfungsgedanken siehe BAG v. 22.7.2004 – 8 AZR 350/03, NZA 2004, 1384 (1387); HWK/Willemsen, § 613a BGB Rz. 98; Müntefering/Willemsen, NZA 2006, 1185 ff. 5 EuGH v. 20.11.2003 – Rs. C-340/01 (Abler), NZA 2003, 1385; im Anschluss daran BAG v. 6.4.2006 – 8 AZR 222/04, NZA 2006, 723 (725); dazu Hohenstatt/Grau, NJW 2007, 29 ff. 6 Siehe dazu BAG v. 11.12.1997 – 8 AZR 729/96, NZA 1998, 534 (535); BAG v. 10.12.1998 – 8 AZR 676/97, NZA 1999, 420 (421); BAG v. 18.3.1999 – 8 AZR 306/98, NZA 1999, 706 (707); HWK/Willemsen, § 613a BGB Rz. 145.

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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang

Rz. 24 Teil 15

Bislang war davon auszugehen, dass die übertragene Einheit beim Erwerber noch organisatorisch unterscheidbar vorhanden sein muss, um einen Betriebsübergang anzunehmen. Wurde die übernommene Einheit hingegen im Zuge der Übertragung durch Eingliederung in die anders gearteten betrieblichen Strukturen beim Erwerber organisatorisch aufgelöst, so schied ein Betriebsübergang aus (sog. Konzept der identitätszerstörenden Eingliederung)1. Wie der EuGH in der Sache Klarenberg entschieden hat, kann ein Betriebsübergang jedoch auch dann vorliegen, wenn die übertragene Einheit ihre organisatorische Selbständigkeit nicht bewahrt, sofern die funktionelle Verknüpfung zwischen den übertragenen Produktionsfaktoren beibehalten wird, so dass der Erwerber mit ihnen derselben oder einer gleichartigen wirtschaftlichen Tätigkeit nachgehen kann2.

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Für die Einzelheiten zum Betriebsübergangstatbestand und die zahlreichen Abgrenzungsfragen sei auf die einschlägigen Auswertungen der umfangreichen Judikatur im Schrifttum verwiesen3.

2. Wechsel des Betriebsinhabers § 613a BGB setzt einen Wechsel in der Person des Betriebsinhabers voraus. Betriebsinhaber ist derjenige, der die Leitungs- und Organisationsmacht über die übergehende Einheit innehat und den Betrieb im eigenem Namen führt4. Erforderlich ist ein Wechsel in der Rechtspersönlichkeit des Betriebsinhabers. Die Vorschrift ist demnach nicht, auch nicht analog, auf Vorgänge zu erstrecken, bei denen die Identität des Arbeitgebers unberührt bleibt5. Dies gilt neben bloßen Veränderungen auf Gesellschafterebene (z.B. beim share deal) auch für arbeitgeberinterne Umstrukturierungsmaßnahmen wie z.B. die betriebsverfassungsrechtliche Verschmelzung von Betrieben.

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3. Rechtsgeschäftlich veranlasste Übertragung § 613a BGB ist nur auf Betriebs(teil)übertragungen kraft Rechtsgeschäfts anwendbar. Dieses Merkmal ist weit auszulegen. Es genügt, wenn der Inhaberwechsel rechtsgeschäftlich veranlasst ist, was auch dann der Fall ist, wenn der Erwerb der betrieblichen Leitungsmacht auf einem Bündel von Rechtsgeschäften beruht oder durch mehrere rechtsgeschäftliche Beziehungen vermittelt 1 Vgl. BAG v. 6.4.2006 – 8 AZR 249/04, NZA 2006, 1039 (1041 f.); BAG v. 13.12.2007 – 8 AZR 937/06, NZA 2008, 1021 (1023 f.); BAG v. 24.4.2008 – 8 AZR 268/07, NZA 2008, 1314 (1317); s. dazu auch Schnitker/Grau, BB 2006, 2194; Willemsen, NZA-Beilage 4/2008, 155 (158). 2 EuGH v. 12.2.2009 – Rs. C-466/07 (Klarenberg), NZA 2009, 251 (253); dazu u.a. ErfK/ Preis, § 613a BGB Rz. 6a; Schlachter, RdA-Beilage 2009, 31 (36 ff.); Schiefer, FS Bauer, S. 901 (907); Willemsen/Sagan, ZIP 2010, 1205 (1211 f.). 3 Siehe etwa ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 5 ff.; HWK/Willemsen, § 613a BGB Rz. 11 ff.; WHSS/Willemsen, Teil G Rz. 5 ff., Rz. 47 ff., jeweils m.w.N. 4 Statt aller HWK/Willemsen, § 613a BGB Rz. 64. 5 BAG v. 14.8.2007 – 8 AZR 803/06, NZA 2007, 1428 (1430); Bauer/Göpfert/Haußmann/ Krieger, Umstrukturierung, Teil 1 A Rz. 8; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 43; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 74; Deinert, RdA 2001, 368 (369).

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Rz. 25

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

wird, ohne dass zwischen dem Betriebsveräußerer und dem Erwerber eine unmittelbare Vertragsbeziehung besteht (z.B. Pächterwechselfälle)1. In Abgrenzung hierzu fallen Übertragungsakte kraft Gesetzes oder Hoheitsaktes nicht unter § 613a BGB. Bei Umstrukturierungen öffentlicher Rechtsträger greift § 613a BGB nach bisherigem Verständnis nicht ein, wenn zwar eine übergangsfähige Einheit übertragen wird, der Übergang jedoch unmittelbar kraft Gesetzes vollzogen wird2. Der EuGH sieht den Anwendungsbereich der Betriebsübergangsrichtlinie indes als weiter3 und hat zuletzt auch den Übergang einer wirtschaftlichen Einheit durch Gesetz als Anwendungsfall der Betriebsübergangsrichtlinie angesehen. Dies begründet der Gerichtshof mit Schutzzweckerwägungen. 25

Damit ist § 613a BGB in Fällen einer gesetzlichen Universalsukzession jedenfalls nach bisherigem nationalen Verständnis grundsätzlich nicht anwendbar. Allerdings kommt § 613a BGB in Fällen der vollständigen oder partiellen Gesamtrechtsnachfolge bei Unternehmensumwandlungen nach dem UmwG zum Tragen, sofern hierbei ein Betrieb oder Betriebsteil auf einen neuen Rechtsträger übergeht (vgl. die Rechtsgrundverweisung in § 324 UmwG)4. Dies kommt für Verschmelzungen, die verschiedenen Formen der Spaltung sowie Vermögensübertragungen in Betracht. Ausgeschlossen ist ein Betriebsübergang in Fällen der formwechselnden Umwandlung, da hierbei der bisherige Rechtsträger identisch bleibt5.

4. Grenzüberschreitende Betriebsübernahmen 26

§ 613a BGB gilt für die Übernahme von im Inland liegenden Betrieben6. Zudem muss das fragliche übergehende Arbeitsverhältnis deutschem Recht unterliegen7. Die Einzelheiten richten sich insofern nach den Kollisionsregelungen des Art. 8 der Verordnung über vertragliche Schuldverhältnisse (Rom-I-VO).

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Wird ein in Deutschland ansässiger Betrieb aufgrund eines Betriebsübergangs in das Ausland verlagert, kann § 613a BGB für die Arbeitsverhältnisse grundsätzlich zum Tragen kommen. Die räumliche Veränderung kann allerdings 1 BAG v. 25.2.1981 – 5 AZR 991/78, NJW 1981, 2212; BAG v. 27.4.1995 – 8 AZR 197/94, NZA 1995, 1155 (1156 f.); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 60; HWK/Willemsen, § 613a BGB Rz. 198 f. 2 Vgl. EuGH v. 15.10.1996 – Rs. C-298/94 (Henke), NZA 1996, 1279; BAG v. 8.5.2001 – 9 AZR 95/00, NZA 2001, 1200 (1202). Anders wenn zur Umsetzung der Abschluss eines Rechtsgeschäfts erforderlich ist, vgl. BAG v. 25.1.2001 – 8 AZR 336/00, NZA 2001, 840 (841 f.). Dazu auch BVerfG v. 25.1.2011 – 1 BvR 1741/09, NZA 2011, 400. 3 Siehe EuGH v. 6.9.2011 – Rs. C-108/10 (Scattolon), NZA 2011, 1077 ff. 4 BAG v. 25.5.2000 – 8 AZR 416/99, DB 2000, 1966 (1967); BAG v. 6.10.2005 – 2 AZR 316/04, NZA 2006, 990 (993 f.); Kallmeyer/Willemsen, § 324 UmwG Rz. 2. 5 HWK/Willemsen, § 324 UmwG Rz. 15; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 120. 6 HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 377; MüAnwHdbArb/Cohnen/Tepass, § 50 Rz. 63; Thüsing/Braun/Reufels, 13. Kap. Rz. 46; Feudner, NZA 1999, 1184 (1186 f.). 7 BAG v. 29.10.1992 – 2 AZR 267/92, AP Nr. 31 zu Internationales Privatrecht – Arbeitsrecht; BAG v. 26.5.2011 – 8 AZR 37/10, n.v.; MüAnwHdbArb/Cohnen/Tepass, § 50 Rz. 63; Thüsing/Braun/Reufels, 13. Kap. Rz. 45.

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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang

Rz. 30 Teil 15

dazu führen, dass nicht mehr von einer Identitätswahrung der bisherigen wirtschaftlichen Einheit gesprochen werden kann1. Sieht der Arbeitsvertrag ausschließlich eine Inlandstätigkeit vor, scheitert die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses, wenn der Arbeitnehmer dem Wechsel seines Arbeitsortes nicht zustimmt. Bei Anwendbarkeit des § 613a BGB gilt hinsichtlich des Schicksals der vormals geltenden TVe die Bestimmung des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB, sofern durch die Verlagerung des Betriebes ins Ausland die kollektivrechtliche Geltung der inländischen TVe entfällt2. Eine Ablösung der nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fortwirkenden TVe durch ausländische Regelungen ist möglich, wenn diese mit deutschen Tarifnormen vergleichbar sind3.

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II. Kollektivrechtliche Fortgeltung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang 1. Vorrang der kollektivrechtlichen Fortgeltung Durch einen Betriebsübergang soll die Rechtsstellung der betroffenen Arbeitnehmer nicht verschlechtert werden. Aus diesem Grunde sollen auch die auf kollektivrechtlicher Grundlage zugesagten Rechte infolge des Betriebsübergangs nicht geschmälert werden, sofern beim Betriebserwerber keine anderweitigen Kollektivverträge gelten. Diese Zielsetzung ergibt sich aus Art. 3 Abs. 3 RL 2001/23/EG, wonach der Betriebserwerber verpflichtet ist, die in einem Kollektivvertrag vereinbarten Arbeitsbedingungen bis zur Kündigung oder zum Ablauf des Kollektivvertrages bzw. bis zum Inkrafttreten oder bis zur Anwendung eines anderen Kollektivvertrages in dem gleichen Maße aufrechtzuerhalten, wie sie in dem Kollektivvertrag für den Veräußerer vorgesehen waren. Die Mitgliedstaaten sind nach Art. 3 Abs. 3 2. UAbs. RL 2001/23/EG dazu berechtigt, den Zeitraum der Aufrechterhaltung der Arbeitsbedingungen zu begrenzen, solange dieser Zeitraum mindestens ein Jahr beträgt.

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Der deutsche Gesetzgeber hat diese Vorgaben durch das arbeitsrechtliche EGAnpassungsgesetz vom 13.8.1980 umgesetzt, was zur Aufnahme von § 613a Abs. 1 Satz 2 bis 4 BGB in das Gesetz geführt hat. Danach werden Rechte und Pflichten, die durch Rechtsnormen eines TVes geregelt sind, Inhalt des Arbeitsverhältnisses zwischen dem neuen Inhaber und dem Arbeitnehmer und dürfen nicht vor Ablauf eines Jahres nach dem Zeitpunkt des Übergangs zum Nachteil des Arbeitnehmers geändert werden (§ 613a Abs. 1 Satz 2 BGB). Gemäß § 613a

30

1 Vgl. BAG v. 20.4.1989 – 2 AZR 431/88, NZA 1990, 32; MüAnwHdbArb/Cohnen/Tepass, § 50 Rz. 64; Feudner, NZA 1999, 1184 (1187). 2 Däubler/Däubler, TVG, Einl. Rz. 646 f.; Thüsing/Braun/Reufels, 13. Kap. Rz. 42; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 95; Deinert, RdA 2001, 368 (374); eine Erstreckung inländischer Tarifnormen auf Auslandssachverhalte ist grds. möglich, vgl. BAG v. 10.9.1985 – 1 ABR 28/83, AP Nr. 3 zu § 117 BetrVG 1972; BAG 12.12.1990 – 4 AZR 238/90, NZA 1991, 386 (387). 3 Thüsing/Braun/Reufels, 13. Kap. Rz. 42; Däubler, FS Kissel, S. 119 (127); Deinert, RdA 2001, 368 (374); Feudner, NZA 1999, 1184 (1188).

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Rz. 31

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

Abs. 1 Satz 3 BGB gilt dies jedoch nicht, wenn die Rechte und Pflichten bei dem neuen Inhaber durch Rechtsnormen eines anderen TVes oder durch eine andere Betriebsvereinbarung geregelt werden. Vor Ablauf der Frist nach Satz 2 können die Rechte und Pflichten geändert werden, wenn der TV nicht mehr gilt oder bei fehlender beiderseitiger Tarifgebundenheit im Geltungsbereich eines anderen TVes dessen Anwendung zwischen dem neuen Inhaber und dem Arbeitnehmer vereinbart wird (§ 613a Abs. 1 Satz 4 BGB). 31

Durch den nach diesem System angeordneten kollektivrechtlichen Bestandsschutz soll in den Grenzen des durch § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB geschützten Ablösungsinteresses des Betriebserwerbers verhindert werden, dass die von einem Betriebsübergang betroffenen Arbeitnehmer durch den Übergang des Betriebes auf einen neuen Inhaber den ihnen zuvor zustehenden Tarifschutz verlieren1. Ein Eingreifen des spezialgesetzlichen Schutzes der bisherigen Tarifbedingungen ist jedoch nicht erforderlich, wenn sich die normative Fortgeltung der bisherigen TVe bereits aus den zwingenden Vorschriften des allgemeinen Tarifrechts ergibt. Besteht demnach die Tarifbindung in dem nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB übergegangenen Arbeitsverhältnis gemäß §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG oder im Falle der Allgemeinverbindlichkeit gemäß § 5 Abs. 4 TVG fort, so ist § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB aufgrund des Charakters als Auffangnorm nicht anwendbar2. Einer in der Literatur vertretenen gegenteiligen Auffassung, wonach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB als lex specialis zu anderen gesetzlichen Anordnungen der Tarifgeltung anzusehen ist bzw. es bei originärer eigener Tarifbindung des Erwerbers zu einer doppelten Tarifbindung kraft Betriebsübernahme und Verbandsmitgliedschaft kommen soll3, ist entgegenzuhalten, dass es der mit § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB lediglich bezweckten Absicherung des kollektivrechtlichen status quo zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs nicht bedarf, sofern das übergegangene Arbeitsverhältnis weiterhin derselben Tarifbindung unterliegt wie vor dem Übergang. In diesem Fall ist § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB bereits seinem Zweck nach nicht einschlägig. Zudem steht diese Auffassung im Widerspruch zu § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB, wonach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB nicht gilt, wenn die tariflichen Rechte und Pflichten bei dem Betriebserwerber durch einen anderen Kollektivvertrag geregelt werden. Schließt sogar die Regelung durch einen anderen Kollektivvertrag eine Weitergeltung der bisherigen Bedingungen aus, so ist bei Geltung desselben Kollektivvertrages wie vor dem Übergang erst recht kein Raum für eine Anwendung von § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB. Schließlich passen die systematisch in Bezug auf § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB geregelten Einschränkungen des kollektivrechtlichen Bestandsschutzes in § 613a Abs. 1 Satz 4 BGB nicht auf Fälle, in denen sich die 1 ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 2, 111; HWK/Willemsen, § 613a BGB Rz. 6; Lambrich, FS Ehmann, S. 169 (172); Röder, DB 1981, 1980. 2 BAG v. 5.2.1991 – 1 ABR 32/90, NZA 1991, 639 (641); BAG v. 27.7.1994 – 7 ABR 37/93, NZA 1995, 222 (225); BAG v. 18.9.2002 – 1 ABR 54/01, NZA 2003, 670 (674); BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, NZA 2010, 238 (241); aus der Lit. statt vieler Hromadka/ Maschmann/Wallner, Tarifwechsel, Rz. 337; HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 254; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 203; Henssler, FS Schaub, S. 311 (312); Moll, RdA 1996, 275. 3 ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 113 f.; Sagan, RdA 2011, 163 (170).

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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang

Rz. 33 Teil 15

unveränderte normative Tarifgeltung für das Arbeitsverhältnis aus den allgemeinen Bestimmungen des TVG ergibt. Insofern ist mit der ganz h.M. also stets vorrangig zu prüfen, ob sich durch die Umstrukturierungsmaßnahme überhaupt Veränderungen der Tarifgeltung auf kollektivrechtlicher Ebene ergeben, oder ob vielmehr der zuvor beim Veräußerer kollektivrechtlich geltende TV wegen identischer Tarifbindung des Erwerbers auch nach dem Betriebsübergang normativ auf das betroffene Arbeitsverhältnis einwirkt.

2. Voraussetzungen für die kollektivrechtliche Fortgeltung a) Verbandstarifverträge Die kollektivrechtliche (Weiter-)Geltung eines VerbandsTVes setzt die kongruente Tarifgebundenheit von Arbeitgeber und Arbeitnehmer voraus. Die Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband ist höchstpersönlicher Natur und geht beim Betriebsübergang – in Fällen der Einzelrechtsübertragung schon mangels in Frage kommenden Rechtsnachfolgetatbestands, da § 613a BGB nicht die Rechtsbeziehung zum Arbeitgeberverband regelt – nicht auf den Erwerber über1. Demnach tritt beim Betriebsübergang keine automatische, kollektivrechtliche Fortgeltung von VerbandsTVen ein2. Dasselbe gilt grundsätzlich auch im Fall einer Gesamtrechtsnachfolge wie etwa bei der Verschmelzung (vgl. Rz. 183 f.).

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Zu einer normativen Weitergeltung der im übertragenen Betrieb vor dem Übergang geltenden VerbandsTVe kommt es jedoch dann, wenn der Erwerber einer (originären) eigenen Tarifbindung an dieselben TVe unterliegt wie der Veräußerer. Dies ist dann der Fall, wenn er entweder selbst kraft Mitgliedschaft im tarifschließenden Arbeitgeberverband gemäß §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG an die betreffenden TVe gebunden ist, oder wenn die TVe gemäß § 5 TVG für allgemeinverbindlich erklärt wurden3. Die Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband kann durch eigenen Verbandsbeitritt oder durch einvernehmliche Übertragung der Mitgliedschaft des Veräußerers erworben werden, falls die Satzung des Arbeitgeberverbands eine solche Übertragung zulässt4. Stellt der Erwerber die entsprechende Tarifbindung zeitlich erst nach dem Vollzug des Betriebsübergangs her, so greift zwischenzeitlich für die zuvor tarifgebundenen Arbeitnehmer der

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1 BAG v. 4.12.1974 – 5 AZR 75/74, AP Nr. 2 zu § 3 TVG; BAG v. 13.7.1994 – 4 AZR 555/93, NZA 1995, 479 (480); BAG v. 24.6.1998 – 4 AZR 208/97, NZA 1998, 1346 (1347 f.); Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 149; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 201; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 100; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 203. 2 BAG v. 4.12.1974 – 5 AZR 75/74, AP Nr. 2 zu § 3 TVG; BAG v. 13.7.1994 – 4 AZR 555/93, NZA 1995, 479 (480); BAG v. 24.6.1998 – 4 AZR 208/97, NZA 1998, 1346 (1347 f.); aus der Lit. statt aller Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 149; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 209. 3 BAG v. 26.9.1976 – 4 AZR 819/77, NJW 1980, 1591; BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 581/00, NZA 2001, 510 (512); Bauer/Göpfert/Haußmann/Krieger, Umstrukturierung, Teil 4 C Rz. 20; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 149; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 199; Moll, RdA 1996, 275; Müller-Bonanni/Mehrens, ZIP 2012, 1217. 4 Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 208; Gaul, NZA 1995, 717 (719); Wellenhofer-Klein, ZfA 1999, 239 (255).

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Teil 15

Rz. 34

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

Schutz des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB ein. Erst nach Eintritt der erneuten kollektivrechtlichen Tarifbindung an die betreffenden TVe gelten diese dann wieder normativ und lösen die nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB aufrechterhaltenen Tarifnormen ab (§ 613a Abs. 1 Satz 3 BGB). 34

Voraussetzung für die kollektivrechtliche (Fort-)Geltung der bisherigen VerbandsTVe nach dem Betriebsübergang ist zudem, dass die übertragene Einheit den fachlichen und örtlichen Geltungsbereich der TVe nicht verlassen hat und die am TV-Abschluss beteiligten Koalitionen weiterhin tarifzuständig sind1. Anderenfalls ist eine unmittelbar und zwingende Fortgeltung des VerbandsTVes nach tarifrechtlichen Maßstäben ausgeschlossen (vgl. Rz. 7 ff., 12 ff.). Denkbar ist dies insbesondere in Ausgliederungsfällen, wenn eine Funktionsabteilung auf ein anderes Unternehmen übertragen wird, welches einer anderen Branche angehört (z.B. Auslagerung der Kantine eines Chemiebetriebs in ein Cateringunternehmen). Eine Sonderkonstellation kann sich bei einem Betriebsinhaberwechsel im Zuge eines unechten Betriebsführungsvertrags ergeben2. Sofern bei konzerninternen Gestaltungen ein Tätigwerden des Betriebsführers auf reiner Kostenerstattungsbasis vereinbart wird, kann es mangels Gewinnerzielungsabsicht an einer gewerblichen Tätigkeit des betriebsführenden Unternehmens und damit selbst bei gleicher Tarifgebundenheit wie das übertragende Unternehmen an einer Voraussetzung für die weitere Einschlägigkeit eines TVes fehlen, soweit dieser nach seinem Geltungsbereich eine gewerbliche Tätigkeit des Arbeitgebers voraussetzt3. Scheidet der Betrieb bzw. Betriebsteil durch den Inhaberwechsel aus dem Geltungsbereich aus oder kommt es im Zuge des Übergangs zu einem Verlust der Tarifzuständigkeit einer am TV beteiligten Koalition, so werden die tariflichen Inhaltsnormen für die bislang tarifgebundenen Arbeitnehmer nach Maßgabe von § 613a Abs. 1 Satz 2 bis 4 BGB aufrechterhalten. Die Vorschriften des § 613a BGB sind insofern speziell gegenüber einer Nachbindung oder Nachwirkung von Tarifnormen gemäß §§ 3 Abs. 3, 4 Abs. 5 TVG4.

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Die Anforderungen an die kollektivrechtliche Fortgeltung eines firmenbezogenen VerbandsTVes sind identisch. Wegen seiner Rechtsnatur als VerbandsTV5 erfolgt keine automatische Rechtsnachfolge, sondern der Erwerber muss die Tarifbindung durch Begründung der Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband herstellen. Allerdings kann einer kollektivrechtlichen Fortgeltung der firmenbezogene Charakter des TVes entgegen stehen, wenn nach dessen Geltungsbereich die Zugehörigkeit des Betriebs zu dem Unternehmen des Betriebsveräußerers 1 BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 581/00, NZA 2001, 510 (512); Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 149; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 199; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 94. 2 Zur Terminologie und Anwendbarkeit des § 613a BGB im Zusammenhang mit Betriebsführungsvereinbarungen siehe WHSS/Willemsen, Teil G Rz. 77 ff. 3 Vgl. Rieble, NZA 2010, 1145 (1149); siehe zum Geltungsbereich eines TVes des Baugewerbes unter diesem Gesichtspunkt BAG v. 11.3.1998 – 10 AZR 220/97, NZA 1998, 949. 4 Siehe BAG v. 1.4.1987 – 4 AZR 77/86, NZA 1987, 593 ff.; BAG v. 29.8.2001 – 4 AZR 332/00, NZA 2002, 513 (515). 5 BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, NZA 2007, 987 ff.; HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 5; Meyer, NZA 2004, 366 (369).

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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang

Rz. 37 Teil 15

Voraussetzung für die weitere Einschlägigkeit des TVes ist. Hier wird sich im Zweifel der Abschluss eines ÜberleitungsTVes empfehlen, wenn der Erwerber den TV übernehmen will. Dies kann unter Mitwirkung des Arbeitgeberverbandes oder durch Abschluss eines entsprechenden (spezielleren) FirmenTVes des Erwerbers mit der tarifschließenden Gewerkschaft erfolgen.

b) Firmentarifverträge aa) Betriebsübergang im Wege der Einzelrechtsübertragung Für eine automatische Überleitung der Vertragspartnerstellung des Veräußerers aus einem von ihm abgeschlossenen FirmenTV auf den Erwerber fehlt es bei der Einzelrechtsnachfolge an einer gesetzlichen Grundlage. Dementsprechend wird heute ganz überwiegend davon ausgegangen, dass der Erwerber nicht automatisch in die Tarifbindung an einen in der übertragenden Einheit geltenden FirmenTV eintritt1. Nach einer Gegenansicht soll die kollektivrechtliche Fortgeltung eines FirmenTVes nach dem Betriebsübergang hingegen in Betracht kommen, wenn die von ihm erfassten Betriebe identitätswahrend auf den Erwerber übertragen werden2. Die insofern gezogene Parallele zur Rechtslage bei Betriebsvereinbarungen ist jedoch nicht haltbar, weil § 3 Abs. 1 TVG für die Tarifbindung an die Rechtspersönlichkeit des Arbeitgebers als Partei des FirmenTVes anknüpft und die Tarifbindung somit gerade nicht betriebsbezogen definiert3. Der Erwerber kann die Tarifbindung an den FirmenTV allerdings herstellen, wenn er selbst mit der Gewerkschaft einen inhaltsgleichen TV bzw. ÜbernahmeTV abschließt und damit die Geltung des bisherigen FirmenTVes für den nunmehr zu seinem Unternehmen gehörenden Betrieb vereinbart4. Voraussetzung ist die fortbestehende Tarifzuständigkeit der Gewerkschaft.

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Da keine automatische Vertragsübernahme durch den Betriebserwerber erfolgt, gilt der FirmenTV im Anschluss an den Betriebsübergang zwischen den bishe-

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1 BAG v. 29.8.2001 – 4 AZR 332/00, NZA 2002, 513 (514 f.); BAG v. 10.6.2009 – 4 ABR 21/08, NZA 2010, 51 (53); BAG v. 26.8.2009 – 5 AZR 969/08, NZA 2010, 173 (175); BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, NZA 2010, 238 (240 f.); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 113; Erman/Edenfeld, § 613a BGB Rz. 74; HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 262; Küttner/Kreitner, Betriebsübergang Rz. 61; MünchKomm/MüllerGlöge § 613a BGB Rz. 130; Picot/Schnitker, Unternehmenskauf und Restrukturierung, S. 99; Thüsing/Braun/Heise, 11. Kap. Rz. 47; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 98; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 200; Bauer/v. Medem, DB 2010, 2560; Jacobs, NZA-Beilage 1/2009, 45 (46); Rinck, RdA 2010, 216 (218). 2 Vgl. Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 176; Däubler, RdA 2002, 303 (304); Henssler, FS Schaub, S. 311 (335); Kempen, BB 1991, 2006 (2008); Moll, RdA 1996, 275; im Ergebnis auch Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 120; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 778 f. 3 WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 96; Hanau/Vossen, FS Hilger/Stumpf, S. 271 (297); Kania, DB 1994, 529 (533); Lambrich, FS Ehmann, S. 169 (185). 4 Vgl. BAG v. 10.6.2009 – 4 ABR 21/08, NZA 2010, 51 (53); BAG v. 26.8.2009 – 5 AZR 969/08, NZA 2010, 173 (175); BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, NZA 2010, 238 (240 f.); Thüsing/Braun/Heise, 11. Kap. Rz. 47; Müller-Bonanni/Mehrens, ZIP 2012, 1217.

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Teil 15

Rz. 38

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

rigen Tarifparteien – Veräußerer und Gewerkschaft – grundsätzlich kollektivrechtlich weiter. Dies gilt auch dann, wenn sämtliche Betriebe des Veräußerers übergegangen sind, da das zwischen den Tarifparteien bestehende Schuldverhältnis durch den Wegfall des Geltungsobjektes des FirmenTVes nicht ipso iure entfällt. Damit verbleibt auch ein etwaiges Kündigungsrecht hinsichtlich des FirmenTVes im Verhältnis zwischen den Tarifparteien bestehen. Nach Ansicht des BAG soll eine nach dem Betriebsübergang durch eine der ursprünglichen Tarifparteien erfolgende Kündigung sogar Auswirkungen auf die beim Erwerber nur noch gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fortgeltenden Tarifbedingungen und damit auf die Rechtsbeziehungen zwischen dem Erwerber und den auf ihn übergegangenen zuvor tarifgebundenen Arbeitnehmern haben können (vgl. dazu Rz. 49, 66)1. 38

Unterschiedliche Folgerungen werden in der Literatur aus einem als GoetheInstitut-Entscheidung des BAG bekannt gewordenen Fall gezogen. Hier hatte der 4. Senat im Falle einer konzerninternen Ausgliederung von Einheiten durch die in Deutschland tarifgebundene „Konzernmutter“ eine Einwirkungspflicht des ausgliedernden Unternehmens auf ihre ausgegründete Tochtergesellschaft angenommen, dass jene den vom herrschenden Unternehmen abgeschlossenen FirmenTV weiterhin anwende2. Das BAG hatte zugrunde gelegt, dass die ausgegliederte Einheit (hier: die mexikanischen Institute) wie eine „unselbständige Unternehmensabteilung“ beherrscht wurden und ihre rechtliche Verselbständigung allein durch die bezweckte Kosteneinsparung durch das Abstreifen der tariflichen Bindungen und nicht zur Verwirklichung eigener Unternehmensziele veranlasst war. Der 4. Senat sah in dieser Konstellation das ausgliedernde Unternehmen in der Pflicht, alles zu unterlassen, was zu einem Leerlaufen der Regelungen des FirmenTVes führen konnte3. Einige Stimmen wollen hieraus eine generelle Einwirkungspflicht des herrschenden Unternehmens auf ein ausgegliedertes Tochterunternehmen in Bezug auf die Übernahme der tariflichen Bestimmungen aus einem FirmenTV ableiten, wenn ein Betriebsübergang bzw. eine Ausgliederung dem Entzug aus dem Geltungsbereich dieses TVes dient4. Richtigerweise handelte es sich bei der vom BAG entschiedenen Konstellation jedoch um eine Einzelfallentscheidung, welche für Ausgliederungskonstellationen nicht verallgemeinerungsfähig ist5. Dafür spricht bereits, dass die Entscheidung die in Mexiko beschäftigten Arbeitnehmer betraf, deren tarifliche Arbeitsbedingungen aufgrund der fehlenden territorialen Anwendbarkeit des § 613a BGB ausnahmsweise nicht durch § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB geschützt waren. Diese Vorschrift würde umgangen, wenn über das Vehikel einer Einwirkungspflicht im Allgemeinen eine Pflicht zur Herstellung der Tarifgeltung in ausgegliederten Tochterunternehmen anzu1 BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (49). 2 BAG v. 11.9.1991 – 4 AZR 71/91, NZA 1992, 321 (323) mit abl. Anmerkung Dütz/Rötter, AP Nr. 29 zu Internationales Privatrecht Arbeitsrecht. 3 BAG v. 11.9.1991 – 4 AZR 71/91, NZA 1992, 321 (323). 4 Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 178; Kempen/Zachert/Zachert, § 1 TVG Rz. 672. 5 So auch Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 59; Junker, Intern. Arbeitsrecht im Konzern, 1992, S. 459, der von einem „Sonderfall“ spricht; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 99; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 927; Riesenhuber, BB 1993, 1001.

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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang

Rz. 40 Teil 15

nehmen wäre1. Auch ein Kosteneinsparungszweck der Umwandlung bzw. Ausgliederung durch die Beendigung oder Änderung der unmittelbaren Tarifbindung in der ausgegliederten Einheit kann grundsätzlich keine Rolle spielen, da die Übertragung von Betrieben auf einen nicht tarifgebundenen Rechtsträger als Gestaltungsmittel – wie schon die Existenz von § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB belegt – gesetzlich anerkannt ist. Zudem steht einer abgeleiteten Tarifgeltung auf Basis einer „Konzernzurechnung“ die auch für Konzernunternehmen prinzipiell anzuerkennende tarifrechtliche Selbständigkeit jedes Arbeitgebers entgegen2. Schließlich lässt sich eine Einwirkungspflicht regelmäßig auch nicht aus der tarifvertraglichen Durchführungspflicht des tarifschließenden herrschenden Unternehmens herleiten3. Denn vorbehaltlich einer eindeutigen anderweitigen tarifvertraglichen Abmachung, aus der sich die eindeutige Verpflichtung zur Herstellung des Vertragserfolges auch bei abhängigen Unternehmen ergibt, besteht für ein tarifgebundenes Unternehmen aus einem TV keine Verpflichtung, gegenwärtige oder zukünftige abhängige Gesellschaften, welche selbst nicht tarifgebunden sind, zur Durchführung des im herrschenden Unternehmen geltenden TVes zu veranlassen4.

bb) Betriebsübergang und (partielle) Gesamtrechtsnachfolge Bei Betriebsübernahmen im Rahmen einer Gesamtrechtsnachfolge – wie insbesondere im Fall der Verschmelzung (§§ 2 ff. UmwG) – rückt der übernehmende Rechtsträger kraft Universalsukzession vollständig in die Rechtsposition des übertragenden Rechtsträgers ein. In dem Fall ist entgegen der Rechtslage bei der Einzelrechtsübertragung grundsätzlich von einer kollektivrechtlichen Fortgeltung von FirmenTVen des übertragenden Rechtsträgers für die übergegangenen tarifgebundenen Arbeitnehmer auszugehen, sofern keine Ablösung durch eigene TVe des übernehmenden Rechtsträgers erfolgt (§ 613a Abs. 1 Satz 3 BGB, § 324 UmwG). Bei der partiellen Gesamtrechtsnachfolge im Rahmen von umwandlungsrechtlichen Spaltungsvorgängen (Aufspaltung, Abspaltung, Ausgliederung) ist eine kollektivrechtliche Fortgeltung möglich, wenn die Vertragsstellung aus dem FirmenTV im Spaltungs- und Übernahmevertrag dem übernehmenden Rechtsträger als Betriebs(teil)erwerber zugewiesen wurde (näher dazu Rz. 196 ff.).

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III. Fortwirkung von Tarifverträgen beim Erwerber kraft gesetzlicher Anordnung des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB Gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB werden die durch Rechtsnormen eines TVes oder durch eine Betriebsvereinbarung geregelten Rechte und Pflichten „Inhalt des Arbeitsverhältnisses“ zwischen dem neuen Inhaber und dem Arbeitneh1 2 3 4

Gaul, Unternehmensspaltung, 2002, § 24 Rz. 137; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 99. Vgl. WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 99; Heinze, DB 1997, 2122 (2124). A.A. Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 178. BAG v. 17.10.2007 – 4 AZR 1005/06, NZA 2008, 713 (715); BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 120/09, NZA-RR 2011, 137 (139); Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 927; Wiedemann, WM-Beilage 4/1975, 17; differenzierend Windbichler, Arbeitsrecht im Konzern, 1989, S. 444 f.

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Teil 15

Rz. 41

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

mer und dürfen grundsätzlich nicht vor Ablauf eines Jahres nach dem Zeitpunkt des Betriebsübergangs zum Nachteil des Arbeitnehmers geändert werden.

1. Voraussetzungen des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB 41

Die Vorschrift des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB bezweckt einen in seiner zwingenden Wirkung auf ein Jahr zeitlich limitierten Bestandsschutz für die bislang im Arbeitsverhältnis unmittelbar kollektivrechtlich und somit zwingend geltenden Tarifnormen nach dem Betriebsübergang, sofern sich aus § 613a Abs. 1 Satz 3 und 4 BGB nicht etwas anderes ergibt1. Aus diesem Gesetzeszweck bzw. dem damit verknüpften Charakter der Vorschrift als Auffangnorm (vgl. Rz. 31) ergeben sich zugleich die maßgeblichen Voraussetzungen für ein Eingreifen der Fortgeltungsanordnung des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB.

a) Betriebs- oder Betriebsteilübergang 42

Anwendbar ist § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB in allen Fällen des Betriebs- bzw. Betriebsteilübergangs durch Einzelrechtsnachfolge. Ferner ist die Vorschrift auf Basis der Rechtsgrundverweisung in § 324 UmwG auch anwendbar, wenn es bei einer übertragenden Umwandlung zu einem Betriebs(teil)übergang kommt. § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB kommt als speziellere Vorschrift gegenüber § 4 Abs. 5 TVG auch zum Tragen, wenn sich mit dem Betriebsübergang der Betriebszweck ändert und es infolgedessen zu einem Ausscheiden aus dem Geltungsbereich eines vor dem Übergang normativ gültigen TVes kommt, da die Norm eine Verschlechterung des Bestandes der tarifrechtlichen Mindestarbeitsbedingungen aus Anlass des Betriebsinhaberwechsels verhindern will2.

b) Keine kollektivrechtliche Fortgeltung der Tarifverträge 43

Ferner muss der Übergang des Arbeitsverhältnisses dazu führen, dass ein vor dem Übergang normativ auf das Arbeitsverhältnis einwirkender TV seine unmittelbare kollektivrechtliche Geltung verliert. Erforderlich ist, dass der betreffende TV beim Veräußerer normativ, d.h. aufgrund beiderseitiger Tarifgebundenheit gemäß §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG oder bei Allgemeinverbindlichkeit gemäß § 5 Abs. 4 TVG, für das betreffende Arbeitsverhältnis galt und sich die unmittelbare Tarifbindung an den TV beim Erwerber nicht fortsetzt3. Damit ist § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB nicht einschlägig, falls sich an der Tarifgel1 Siehe nur BAG v. 1.8.2001 – 4 AZR 82/00, NZA 2002, 41 (43); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 119, 121; MünchKomm/Müller-Glöge, § 613a BGB Rz. 137; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 218; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 41; Hanau/Vossen, FS Hilger/ Stumpf, S. 271 (284); Meyer, DB 2004, 1886 (1887); Rinck, RdA 2010, 216 (222); Röder, DB 1981, 1982. 2 Vgl. BAG v. 5.10.1993 – 3 AZR 586/92, NZA 1994, 848 (850 f.); Hrodmadka/Maschmann/Wallner, Tarifwechsel, Rz. 338 ff.; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 244; a.A. Rieble, SAE 1995, 77 (79). 3 MünchKomm/Müller-Glöge, § 613a BGB Rz. 133; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 117; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 240; a.A. ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 113, 113a.

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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang

Rz. 46 Teil 15

tung im Arbeitsverhältnis nichts ändert, weil es bereits zu einer kollektivrechtlichen Fortgeltung der bisherigen TVe beim Erwerber kommt (s. auch Rz. 31). War vor dem Betriebsübergang nur eine der beiden Arbeitsvertragsparteien tarifgebunden oder beruhte die Anwendung des TVes lediglich auf einer Bezugnahme im Arbeitsvertrag, greift § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB nicht1.

c) Keine Ablösung durch beim Erwerber einschlägigen Kollektivvertrag Schließlich ist die Aufrechterhaltung der bisherigen Tarifnormen kraft gesetzlicher Anordnung des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB gemäß Satz 3 der Vorschrift insoweit ausgeschlossen, als die entsprechenden Rechte und Pflichten bei dem Erwerber durch Rechtsnormen eines anderen für das übergegangene Arbeitsverhältnis einschlägigen Kollektivvertrags geregelt werden. Ob es sich bei diesem – einen TV ablösenden – Kollektivvertrag auch um eine beim Erwerber bestehende Betriebsvereinbarung handeln kann, ist ebenso umstritten wie das Erfordernis einer beidseitigen Tarifgebundenheit von Arbeitnehmer und Betriebserwerber als Voraussetzung einer Tarifablösung (vgl. dazu Rz. 90 ff.).

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Findet nach dem Betriebsübergang ein anderer Kollektivvertrag auf das übergegangene Arbeitsverhältnis Anwendung, gebührt dem Interesse des Betriebserwerbers an der Vereinheitlichung der Arbeitsbedingungen nach der Gesetzeskonzeption Vorrang vor einer Aufrechterhaltung der inhaltlich kollidierenden bisherigen Kollektivbedingungen2. Die ablösende Wirkung einer Erwerberregelung tritt allerdings stets nur insoweit ein, wie sich identische Regelungsgegenstände gegenüberstehen (vgl. noch Rz. 97 ff.)3. Sind daher einzelne der bislang beim Veräußerer tariflich geregelten Arbeitsbedingungen in den beim Erwerber für die übergegangenen Arbeitsverhältnisse einschlägigen Kollektivregelungen nicht enthalten, so gelten diese Bedingungen gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fort, während die kollidierenden Regelungsgegenstände abgelöst werden. Es kommt hier also zu einer sog. Teilablösung.

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Die ablösende Wirkung der Erwerberregelung nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB tritt unabhängig davon ein, ob diese günstiger oder ungünstiger für die Arbeitnehmer ist. Das Günstigkeitsprinzip ist hier nicht anwendbar (vgl. noch Rz. 103 ff.)4. Ferner ist unerheblich, ob die ablösende Kollektivregelung beim Erwerber bereits im Zeitpunkt des Betriebsübergangs gilt oder erst später in

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1 BAG v. 4.3.1993 – 2 AZR 507/92, NZA 1994, 260 (262); Erman/Edenfeld, § 613a BGB Rz. 94; MünchKomm/Müller-Glöge, § 613a BGB Rz. 133; Palandt/Weidenkaff, § 613a BGB Rz. 28. 2 Vgl. BT-Drucks. 8/3317, S. 11; BAG v. 20.4.1994 – 4 AZR 342/93, NZA 1994, 1140 (1142); aus der Lit. statt vieler Erman/Edenfeld, § 613a BGB Rz. 87; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 221; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 122; Henssler, FS Wißmann, S. 133 (147); Moll, RdA 1996, 275 (283). 3 BAG v. 20.4.1994 – 4 AZR 342/93, NZA 1994, 1140 (1142); BAG v. 22.1.2003 – 10 AZR 227/02, AP Nr. 242 zu § 613a BGB; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 123. 4 BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (46 f.); BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 1023/08, NZA-RR 2011, 30 (33); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 125; MünchKomm/Müller-Glöge, § 613a BGB Rz. 139; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 220; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 144.

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Teil 15

Rz. 47

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

Kraft tritt bzw. abgeschlossen wird1. Greift die Erwerberregelung nicht schon beim Betriebsübergang ein, so kommt es zunächst zu einer Phase der Aufrechterhaltung der bisherigen Kollektivbedingungen nach Maßgabe von § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB, bis sich mit Geltungseintritt der Erwerberregelung deren ablösende Wirkung nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB vollzieht.

2. Inhalt und Wirkungen der gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB beim Erwerber aufrechterhaltenen Tarifnormen a) Rechtsnatur der in § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB angeordneten Fortgeltung 47

Gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB werden die beim Veräußerer kollektivvertraglich geregelten Rechte und Pflichten zum „Inhalt des Arbeitsverhältnisses“. Dieser rätselhafte Wortlaut der Vorschrift lässt die Rechtsnormqualität der danach vom Erwerber weiter anzuwendenden Kollektivbestimmungen im Dunkeln. Wie das BAG nunmehr annimmt, sind die nach der (an sich überkommenen) Diktion der Rechtsprechung durch „Transformation“ in das Arbeitsverhältnis einbezogenen Kollektivvertragsnormen arbeitsvertraglich vereinbarten Arbeitsbedingungen nicht gleichzustellen, sondern behalten ihren kollektivrechtlichen Charakter auch nach dem Betriebsübergang2. Damit ist weder ein umfassendes Einrücken des Erwerbers in die Stellung als Tarifpartei bzw. eine originär tarifrechtliche Bindung des Erwerbers gemeint, noch hat das BAG eine dritte Normenkategorie zwischen Individual- und Tarifrecht geschaffen3. Vielmehr geht die Rechtsprechung von einer begrenzten Aufrechterhaltung des kollektivvertraglich erreichten Besitzstands in Anlehnung an die tarifrechtlichen Kategorien der Nachbindung (§ 3 Abs. 3 TVG) bzw. Nachwirkung (§ 4 Abs. 5 TVG) aus4. Danach soll der Erwerber an die „transformierten“ Regelungen zunächst in einer Weise gebunden sein, die der Nachbindung eines aus dem tarifschließenden Arbeitgeberverband ausgetretenen Arbeitgebers nach § 3 Abs. 3 TVG entspricht. Das Ende der Sperrfrist des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB sei äquivalent zu dem (fiktiven) Ende des nachbindenden TVes5. Die sich daran anschließende nicht mehr zwingende Fortgeltung der transformierten Tarifnormen vergleicht das BAG mit der Nachwirkung der tariflichen Mindest1 BAG v. 20.4.1994 – 4 AZR 342/93, NZA 1994, 1140 (1142); BAG v. 16.5.1995 – 3 AZR 535/94, NZA 1995, 1166 (1168); MünchKomm/Müller-Glöge, § 613a BGB Rz. 141; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 220; Thüsing/Braun/Heise, 11. Kap. Rz. 48; WHSS/ Hohenstatt, Teil E Rz. 143. 2 BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 ff.; bestätigt durch BAG v. 26.8.2009 – 5 AZR 969/08, NZA 2010, 173 (175); BAG v. 24.2.2010 – 4 AZR 691/08, NZA-RR 2010, 530 (534). Dazu u.a. Bauer/v. Medem, DB 2010, 2560 ff.; Hohenstatt, NZA 2010, 23 ff.; Hunold, NZA-RR 2010, 281 ff.; C. Meyer, DB 2010, 1404 (1406). 3 Anders ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 112. 4 BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 ff.; in diese Richtung auch HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 250; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 249 f.; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 2; Moll, RdA 1996, 275 (279). Zum Teil wird auch eine mit der Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG vergleichbare Wirkung angenommen, so u.a. Lambrich, FS Ehmann, S. 169 (177 f.); Schliemann, NZA-Beilage 16/2003, 3 (11). 5 Vgl. andeutungsweise bereits BAG v. 13.11.1985 – 4 AZR 309/84, NZA 1986, 422 (423).

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arbeitsbedingungen gemäß § 4 Abs. 5 TVG. Insofern wird jedenfalls hinsichtlich der Wirkung des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB auch von einer begrenzt kollektivrechtlichen Aufrechterhaltung der beim Veräußerer normativ anwendbaren Tarifbestimmungen gesprochen1. Nach der bislang h.M. und der früheren Position der Rechtsprechung ist hingegen mit dem Eingang der kollektivvertraglichen Rechte und Pflichten in das Arbeitsverhältnis ein Wechsel in der Rechtsnatur der vom Erwerber aufrechtzuerhaltenden Tarifbestimmungen verbunden. Danach verlieren die Regelungen des TVes ihren kollektivrechtlichen Charakter, indem sie zum Bestandteil des individualrechtlichen Arbeitsverhältnisses und damit praktisch zum Arbeitsvertragsinhalt werden2. Diese individualrechtliche Transformationstheorie kann sich auf das historische Verständnis des Gesetzgebers stützen, welcher bei der im Jahr 1980 erfolgten Einführung von § 613a Abs. 1 Satz 2 bis 4 BGB von einer lediglich individualrechtlichen Fortgeltung der transformierten Kollektivregelungen ausgegangen sein dürfte3. Zudem wird der Schutz der negativen Koalitionsfreiheit des Erwerbers aus Art. 9 Abs. 3 GG für die individualrechtliche Fortgeltung ins Feld geführt4. Dieses Argument ist allerdings – selbst wenn man die Tarifregelungsfreiheit entgegen der Rechtsprechung des BVerfG und des BAG als vom Schutzbereich der negativen Koalitionsfreiheit umfasst sieht (vgl. dazu Teil 1 Rz. 30 f.) – wenig überzeugend, da die in § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB angeordnete Belastung des Erwerbers mit „fremden“ tariflichen Mindestbedingungen letztlich unabhängig von der Rechtsnatur der aufrechtzuerhaltenden tariflichen Rechte und Pflichten ist5.

48

Vor dem Hintergrund von Art. 3 Abs. 3 RL/2001/23 EG, wonach der Erwerber die in einem Kollektivvertrag vereinbarten Arbeitsbedingungen bis zu dessen Ablauf oder Ablösung in dem gleichen Maße aufrechtzuerhalten hat, wie sie beim Veräußerer vorgesehen waren, ist der These zuzustimmen, dass der nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB zu wahrende Besitzstand nicht losgelöst von dem bisherigen kollektivrechtlichen Normencharakter gesehen werden kann. Der Erwerber hat die entsprechenden kollektivvertraglichen Rechte und Pflichten danach im Arbeitsverhältnis so aufrechtzuerhalten, als wären sie – in den zeitlichen Grenzen der Veränderungssperre sowie des § 613a Abs. 1 Satz 4 BGB – weiterhin normativ und damit zwingend auf das Arbeitsverhältnis anwendbar.

49

1 WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 123. 2 BAG v. 13.11.1985 – 4 AZR 309/84, AP Nr. 46 zu § 613a BGB (mit zust. Anm. Scholz); BAG v. 1.4.1987 – 4 AZR 77/86, NZA 1987, 593 (595); BAG v. 20.4.1994 – 4 AZR 342/93, NZA 1994, 1140 (1141); BAG v. 24.6.1998 – 4 AZR 208/97, EzA Nr. 1 zu § 20 UmwG; BAG v. 1.8.2001 – 4 AZR 82/00, NZA 2002, 41 (43); BAG v. 13.11.2007 – 3 AZR 191/06, NZA 2008, 600 (602); Gaul, Unternehmensspaltung, 2002, § 24 Rz. 19; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 366; MünchKomm/Müller-Glöge, § 613a BGB Rz. 131; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 229 m.w.N.; Hanau/Vossen, FS Hilger/Stumpf, S. 271 (272); Henssler, FS Schaub, S. 311 (317); Kempen, BB 1991, 2006 (2009); Wellenhofer-Klein, ZfA 1999, 239 (253). 3 BT-Drucks. 8/3317, S. 11; s.a. Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 229. 4 D. Gaul, ZTR 1989, 432 (434); Kania, DB 1994, 529; Kempen, BB 1991, 2006; vgl. auch BAG v. 26.9.1979 – 4 AZR 819/77, NJW 1980, 1591 (1591), wo eine Übertragung von § 3 Abs. 3 TVG auf Fälle des § 613a BGB aus diesen Gründen abgelehnt wurde. 5 Vgl. Lambrich, FS Ehmann, S. 168 (177); Rinck, RdA 2010, 216 (220).

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Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

Hierbei handelt es sich also letztlich um eine Fiktion und nicht um eine volle „echte“ Tarifgebundenheit des Betriebserwerbers1. Grundlage für die Aufrechterhaltung des kollektivvertraglichen status quo ist die in § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB getroffene eigenständige Fortgeltungsanordnung für die hiervon betroffenen Inhaltsnormen2. Die vom BAG zur Begründung rechtsfortbildend vorgenommene Übertragung der Rechtsfolgen aus dem System der §§ 3 Abs. 3, 4 Abs. 5 TVG erscheint hingegen weder erforderlich noch lassen sich die Parallelen inhaltlich in allen Facetten überzeugend durchhalten3. Die Berücksichtigung des kollektivrechtlichen Ursprungs der nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB aufrechtzuerhaltenden Tarifnormen im übergegangenen Arbeitsverhältnis ist notwendig, weil eine lediglich arbeitsvertragliche Fortgeltung bei streng dogmatischer Durchführung des individualrechtlichen Transformationsmodells keinen vergleichbaren Schutz des erreichten kollektivrechtlichen Besitzstandes bietet. Denn unter Zugrundelegung einer identischen Normenebene zwischen „tranformierten“ Kollektivregelungen und den arbeitsvertraglichen Regelungen müsste an sich die Zeitkollisionsregel (lex posterior derogat legi priori) herangezogen werden, was jedoch u.U. zu einer Verschlechterung der gemäß § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB unverändert weiter geltenden Arbeitsvertragsinhalte führen würde. Demgegenüber gehört es zum kollektivrechtlichen Besitzstand, dass bei Kollisionen zwischen den bislang unmittelbar tariflich geregelten Rechten und Pflichten und dem Arbeitsvertrag das Günstigkeitsprinzip Anwendung findet (§ 4 Abs. 3 TVG), was sich dementsprechend für die nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB aufrechterhaltenen Tarifnormen fortzusetzen hat4. Zudem soll nach dem individualrechtlichen Tranformationsmodell nur der im Übergangszeitpunkt nach Spezialitätsgrundsätzen maßgebliche TV zum Arbeitsvertragsinhalt werden5. Demgegenüber gehört zum kollektivvertraglich erreichten Status richtigerweise auch der im Zeitpunkt des Betriebsübergangs für das Arbeitsverhältnis einschlägige Gesamtbestand von sich überlagernden bzw. vorübergehend verdrängten TVen, welcher als „Tariforganismus“ einschließlich der jeweiligen Spezialitätsverhältnisse zum Erwerber transportiert wird6. Praktisch wirkt sich der Unterschied zu der individualrechtlichen Sichtweise dann aus, wenn der vorrangige TV nach dem Übergang nachwirkungslos wegfällt, so dass es nach dem kollektivrechtlich geprägten Fortgeltungsverständnis zu einem Wegfall seiner Regelungen auch im übergegangenen Arbeitsverhältnis unter Wiederaufleben der verdrängten Tarifnormen kommen 1 So auch Hanau/Strauß, FS Bepler, S. 199 (204) m.w.N. 2 HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 250 (Fortgeltungsanordnung sui generis); Lambrich FS Ehmann, S. 169 (177 f.); ähnlich Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 198 (Geltung kraft normativer Anordnung); ErfK/Preis, § 613a Rz. 112 sowie Sagan, RdA 2011, 163 (167) (gesetzliche Rechtsnachfolge in die kollektivrechtlichen Bindungen des Veräußerers, „Sukzessionsmodell“). Siehe aus dem älteren Schrifttum auch Zöllner, DB 1995, 1401 (1402) sowie Heinze, DB 1998, 1861 (1862); Heinze, FS Schaub, S. 275 (278 ff.); Moll, RdA 1996, 275 (279). 3 Ablehnend daher Franzen, FS Picker, S. 929 (944 ff.). 4 Vgl. Lambrich, FS Ehmann, S. 169 (232); Otto, Arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln, 2006, S. 183 f. 5 Vgl. Rinck, RdA 2010, 216 (221). 6 Siehe BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (49); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 113.

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Rz. 52 Teil 15

kann1. Der sich dabei ergebende Widerspruch zu § 613a Abs. 1 Satz 4 Alt. 1 BGB, der an den Wegfall des nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB aufrechterhaltenen TVes lediglich die Folge einer sofortigen Abänderbarkeit seiner Regelungen im übergegangenen Arbeitsverhältnis knüpft, ist unter teleologischen Gesichtspunkten in Kauf zu nehmen2. Auf diese Weise wird die Prämisse konsequent umgesetzt, dass nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB aufrechtzuerhaltene Kollektivnormen beim Erwerber auch nicht weitergehend geschützt sein können als es ihrem kollektivrechtlichen Ursprung entspricht3.

b) Erfasste Arbeitsverhältnisse Die Fortgeltungsanordnung des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB kommt nur für im Zeitpunkt des Betriebsinhaberwechsels bereits bestehende Arbeitsverhältnisse zum Tragen, welche gemäß § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB auf den Betriebserwerber übergehen und beim Veräußerer unmittelbar tarifgebunden waren. Arbeitsverhältnisse, die erst nach dem Betriebsübergang beim Betriebserwerber begründet werden, sind nach einhelliger Ansicht nicht erfasst4. Insofern wird der Erwerber hier also auch nach dem Fortgeltungskonzept des BAG anders behandelt als ein aus dem Arbeitgeberverband ausgetretener Arbeitgeber bei Begründung von Arbeitsverhältnissen während einer Nachbindung im Sinne von § 3 Abs. 3 TVG5. Die Gleichsetzung der Rechtsfolgen von § 3 Abs. 3 TVG und § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB lässt sich also keineswegs überall durchhalten.

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c) Erfasste Tarifnormen Die Frage nach den von der Fortgeltungsanordnung des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB erfassten Tarifnormen stellt sich sowohl in inhaltlicher als auch in zeitlich-dynamischer Hinsicht.

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aa) Inhaltlich erfasste Tarifnormen Nach dem Gesetzeswortlaut von § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB werden nur die Rechtsnormen eines TVes von der Anordnung der Weitergeltung beim Erwerber erfasst. Damit sind unstreitig jedenfalls die sog. Inhaltsnormen gemeint, welche die im Arbeitsverhältnis geltenden Rechte und Pflichten der vor dem Betriebsübergang unmittelbar Tarifunterworfenen regeln6. Für andere Typen von Tarifnormen ist durch Auslegung zu ermitteln, ob sie Rechte und Pflichten der Arbeitsvertragsparteien regeln und daher ebenfalls beim Betriebserwer1 Vgl. BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (49). 2 Kritisch Franzen, FS Picker, S. 929 (945); s.a. Sagan, RdA 2011, 163 (164). 3 Vgl. BAG v. 21.2.2001 – 4 AZR 18/00, NZA 2001, 1318 (1322); BAG v. 14.8.2001 – 1 AZR 619/00, NZA 2002, 276 (279). 4 Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 190; Erman/Edenfeld, § 613a BGB Rz. 83; Staudinger/ Annuß, § 613a BGB Rz. 212; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 232. 5 So ausdrücklich BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (48). 6 Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 196; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 118; HWK/Willemsen/ Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 264; MünchKomm/Müller-Glöge, § 613a BGB Rz. 135; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 210; Henssler, FS Schaub, S. 311 (317); Seiter, DB 1980, 877.

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Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

ber nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fortgelten. Das betrifft beispielsweise auch Abschlussnormen eines TVes, sofern diese etwa Anordnungen über die Einführung von Nebenabreden und Vertragsänderungen in das Arbeitsverhältnis treffen1. Tarifvorschriften über die Begründung von Arbeitsverhältnissen sind hier hingegen regelmäßig nicht relevant (anders aber z.B. bei Regelungen über die Anrechnung von Vorbeschäftigungszeiten), da § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB nur für die zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs bereits bestehenden Arbeitsverhältnisse zum Tragen kommt. Tarifregelungen über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses wie z.B. Kündigungsfristen werden von § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB hingegen inhaltlich unproblematisch erfasst2. 53

Die Aufrechterhaltung von betrieblichen oder betriebsverfassungsrechtlichen Normen eines TVes gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB beim Erwerber scheidet regelmäßig aus, da sich diese Normen in der Regel nur an den Arbeitgeber oder die Betriebsparteien als Adressaten wenden und keine Inhalte des Arbeitsverhältnisses betreffen. Regeln Betriebsnormen hingegen ausnahmsweise auch individuelle Rechte und Pflichten (sog. Doppelnormen), so kommt deren Fortgeltung gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB in Betracht3. Für Vorschriften über Gemeinsame Einrichtungen der Tarifparteien ist § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB nicht einschlägig4. Diese Beschränkungen sind nach zutreffender Ansicht mit der Betriebsübergangsrichtlinie vereinbar, da es nach Art. 3 Abs. 3 RL 2001/23/EG allein auf die Aufrechterhaltung der kollektivrechtlichen Arbeitsbedingungen im Sinne der daraus für die Arbeitsverhältnisse folgenden Rechte und Pflichten ankommt5.

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Wie ausgeführt, umfasst der Bestandsschutz des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB nach der neuen Konzeption des BAG grundsätzlich den Gesamtbestand der am Betriebsübergangsstichtag normativ auf das Arbeitsverhältnis einwirkenden Inhaltsnormen (vgl. Rz. 49, 66)6, so dass sich im übergegangenen Arbeitsverhältnis letztlich die bisherige tarifrechtliche Situation des Arbeitnehmers widerspiegelt. Sind diese Rechte und Pflichten in mehreren TVen geregelt, so erstreckt sich die von § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB angeordnete Fortgeltung auf die Bedingungen aus allen diesen TVen. Für die Praxis ist besonders zu beachten, dass damit entgegen dem im Rahmen der individualrechtlichen Transfor1 Gaul, Unternehmensspaltung, 2002, § 24 Rz. 23; MünchKomm/Müller-Glöge, § 613a BGB Rz. 135; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 210; Moll, RdA 1996, 275 (277); a.A. ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 118; Erman/Edenfeld, § 613a BGB Rz. 81. 2 ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 118; Gussen/Dauck, Weitergeltung von Betriebsvereinbarungen und Tarifverträgen, S. 138 ff.; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 379; Staudinger/ Annuß, § 613a BGB Rz. 210; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 246. 3 Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 196; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 118; HWK/Willemsen/ Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 264; MünchKomm/Müller-Glöge, § 613a BGB Rz. 135; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 245; Kempen, BB 1991, 2006 (2009); Moll, RdA 1996, 275 (277). 4 ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 118; HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 264; MünchKomm/Müller-Glöge, § 613a BGB Rz. 135; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 247; einschränkend Erman/Edenfeld, § 613a BGB Rz. 81. 5 Näher Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 211; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 124; a.A. Seiter, DB 1980, 877 (880 f.). 6 BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (49); Grau/Sittard, BB 2010, 1093 (1094).

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Rz. 56 Teil 15

mationstheorie vorherrschenden Verständnis auch (vorübergehend) nach Spezialitätsgrundsätzen verdrängte TVe mit zu dem im Rahmen von § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB übergehenden Normenbestand gehören. § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB gilt auch für Tarifnormen, an die Veräußerer und Arbeitnehmer kraft Nachbindung im Sinne von § 3 Abs. 3 TVG oder nur noch durch Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG gebunden sind1. Unerheblich ist ferner, ob es sich nach den Bestimmungen des TVes um dispositive Vorschriften handelt2. Speziell im Hinblick auf die Veränderungssperre ist dabei zu berücksichtigen, dass die Tarifnormen durch § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB nicht weitergehender vor Änderungen geschützt sind als sie es zuvor beim Veräußerer waren3.

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Die in § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB als Inhalt des Arbeitsverhältnisses angeordnete Weitergeltung der tariflichen Rechte und Pflichten bezieht sich ausschließlich auf den normativen und nicht auch auf den schuldrechtlichen Teil eines TVes4. Als schuldrechtliche Vereinbarung ist auch die Bestimmung in einem PersonalüberleitungsTV zu werten, wonach Outsourcingmaßnahmen des Arbeitgebers der Zustimmung der Tarifparteien bedürfen5. Gegen die Anwendbarkeit von § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB auf den schuldrechtlichen Teil eines TVes spricht der Gesetzeswortlaut, wonach nur solche Rechtsnormen Inhalt des Arbeitsverhältnisses zwischen Erwerber und Arbeitnehmer werden können, die Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis regeln. Dies ist für die schuldrechtlichen Abreden zwischen den TV-Parteien und die sich daraus in diesem Rechtsverhältnis inter partes ergebenden Rechte und Pflichten nicht der Fall. Die in § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB angeordnete Fortgeltung der Tarifnormen für die übergegangenen Arbeitsverhältnisse tangiert somit nicht die tarifrechtliche Stellung des Betriebsveräußerers. Selbst wenn der normative Teil eines FirmenTVes beim Veräußerer infolge Übergangs aller bei ihm bislang vom Geltungsbereich erfassten Arbeitnehmer gegenstandslos wird, soll das schuldrechtliche Rechtsverhältnis zwischen dem Veräußerer und der Gewerkschaft aus dem TV bis zu dessen Beendigung bestehen bleiben6. Daraus wird abgeleitet, dass die Kündigung eines FirmenTVes ausschließlich im Verhältnis zwi-

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1 BAG v. 27.11.1991 – 4 AZR 211/91, NZA 1992, 800 (801 f.); BAG v. 1.8.2001 – 4 AZR 82/00, NZA 2002, 41 (43); HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 263; MünchKomm/Müller-Glöge, § 613a BGB Rz. 135; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 209; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 244; Jacobs, NZA-Beilage 1/2009, 45 (47); Moll, RdA 1996, 275 (278); a.A. Heinze, DB 1998, 1861 (1862). 2 Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 244. 3 Vgl. BAG v. 1.8.2001 – 4 AZR 82/00, NZA 2002, 41 (43); Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 209; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 41; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 258; Hanau/Vossen, FS Hilger/Stumpf, S. 271 (284); Lambrich, FS Ehmann, S. 169 (196); Rinck, RdA 2010, 216 (222). 4 BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, NZA 2010, 238 (241); BAG 24.8.2011 – 4 AZR 566/09, n.v.; Erman/Edenfeld, § 613a BGB Rz. 81; HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 264; MünchKomm/Müller-Glöge, § 613a BGB Rz. 135; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 209; a.A. Seiter, DB 1980, 877 (881); einschränkend ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 113b; Sagan, RdA 2011, 163 (170). 5 S. BAG v. 26.1.2011 – 4 AZR 159/09, DB 2011, 1454 (1455 f.). 6 Vgl. BAG v. 20.6.2001 – 4 AZR 295/00, NZA 2002, 517 (518); BAG v. 29.8.2001 – 4 AZR 332/00, NZA 2002, 513 (514); BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, NZA 2010, 238 (241); Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 239; Grau/Sittard, BB 2010, 1093 (1094).

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Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

schen Veräußerer und Gewerkschaft erfolgen kann, auch wenn hiermit die Beendigung der Weitergeltung des TVes gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB in den auf den Erwerber übergegangenen Arbeitsverhältnissen beabsichtigt ist1. Auch die aus dem schuldrechtlichen Teil erwachsende tarifliche Friedenspflicht wird von der ganz h.M. beim FirmenTV ausschließlich dem Rechtsverhältnis zwischen der tarifschließenden Gewerkschaft und dem Veräußerer zugeordnet2. Dies ist jedoch kritisch zu hinterfragen (vgl. dazu Rz. 68 ff.).

bb) Zeitlich erfasste Tarifnormen/Grundsatz der statischen Fortgeltung 57

Die Vorschrift des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB ordnet lediglich eine statische Fortgeltung der beim Veräußerer zuvor normativ auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren Kollektivverträge beim Erwerber an3. Die TVe gelten danach lediglich in der Gestalt weiter, die sie inhaltlich zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs aufwiesen, so dass es auf der kollektivrechtlichen Ebene zu einem Verlust der dynamischen Anwendbarkeit der bisherigen TVe kommt (zu Auswirkungen auf Bezugnahmeklauseln vgl. Rz. 112 ff.). Mit dem Übergang des Arbeitsverhältnisses wird dieses mithin von zeitlich nachfolgenden Veränderungen der TVe durch die Tarifparteien abgekoppelt. Dieses „Einfrieren“ der bisherigen Tarifbedingungen, insbesondere die fehlende Teilhabe an künftigen Tariflohnerhöhungen, kann zu einem erheblichen Druck auf die Arbeitnehmer führen, einem Gewerkschaftswechsel zuzustimmen und damit ggf. ein abweichendes dynamisches Tarifregime des Erwerbers nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB zur Anwendung zu bringen.

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Nach dem Betriebsübergang von den TV-Parteien vereinbarte rückwirkende Änderungen der gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB aufrechterhaltenen Kollektivbedingungen wirken sich auf die übergegangenen Arbeitsverhältnisse nicht aus4. Entsprechendes gilt für den Abschluss eines TVes beim Veräußerer nach dem Betriebsübergang, auch wenn diesem Rückwirkung beigelegt wird5. Abzu1 BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (46); BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, NZA 2010, 238 (241); differenzierend Hanau/Strauß, FS Bepler, S. 199 (202 f.). 2 Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 243; Hanau/Vossen, FS Hilger/Stumpf, S. 271 (292); a.A. Sagan, RdA 2011, 163 (171). Bei einem VerbandsTV stellt sich die Frage nicht, da sich grundsätzlich nur die tarifschließende Koalition unmittelbar auf die Friedenspflicht berufen kann; vgl. Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 873. 3 BAG v. 29.8.2001 – 4 AZR 332/00, NZA 2002, 513 (515); BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (49); BAG v. 26.8.2009 – 5 AZR 969/08, NZA 2010, 173 (175); BAG v. 6.7.2011 – 4 AZR 706/09, NZA 2012, 100 (102); BeckOK/Bepler, TV-L Anh. § 1 Rz. 47; MünchKomm/Müller-Glöge, § 613a BGB Rz. 133; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 126; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 248; Müller-Bonanni/Mehrens, ZIP 2012, 1217. 4 BAG v. 13.9.1994 – 3 AZR 148/94, NZA 1995, 740 (741); BAG v. 10.12.2008 – 4 AZR 881/07, NZA-RR 2009, 537 (538); BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (49). 5 BAG v. 13.9.1994 – 3 AZR 148/94, NZA 1995, 740 (741); BAG v. 10.12.2008 – 4 AZR 881/07, NZA-RR 2009, 537 (538); BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (49); LAG Brandenburg v. 10.3.1992 – 3 Sa 272/91, DB 1992, 1145 (1146); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 117; siehe auch BAG v. 16.5.2012 – 4 AZR 320/10, PM Nr. 36/12 v. 16.5.2012.

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Rz. 62 Teil 15

grenzen ist dies von Konstellationen, in denen ein bereits vereinbarter TV erst nach dem Betriebsübergang in Kraft tritt oder erst danach bereits vor dem Übergang im TV vereinbarte Rechtsfolgen auslöst. In diesen Fällen gehört der TV zu dem gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB übergehenden Besitzstand1. Wird in einem nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fortgeltenden TV dynamisch auf einen anderen TV verwiesen, so schlagen Änderungen des in Bezug genommenen TVes nicht mehr auf das übergegangene Arbeitsverhältnis durch2. Etwas anderes wäre mit dem Grundsatz der lediglich statischen Fortgeltung nicht vereinbar. Hiervon geht auch das BAG aus3. Gleichermaßen ist der Arbeitgeber im Falle von § 3 Abs. 3 TVG nicht an während des Nachbindungszeitraumes vereinbarte Änderungen eines in dem nachbindenden TV in Bezug genommenen anderen TVes gebunden4.

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Umstritten ist, ob eine dynamische Entwicklung der Arbeitsbedingungen, welche in einem nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB nur noch statisch fortgeltenden TV bereits dem Grunde nach angelegt ist, nach dem Betriebsübergang vom Erwerber angewendet werden muss.

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Beispiel: Auf das Arbeitsverhältnis findet kraft beidseitiger Tarifgebundenheit ein tarifliches Vergütungssystem Anwendung, welches eine Gehaltsentwicklung nach Betriebszugehörigkeitszeiten vorsieht. Kurz bevor der Arbeitnehmer eine neue Vergütungsstufe erreicht, wird der Betrieb auf einen nicht tarifgebundenen Erwerber übertragen. Der Arbeitnehmer beansprucht die Vergütungsstufe, welche er nach dem bisherigen System – zeitlich jedoch erst nach dem Betriebsübergang – erreicht hat5.

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In der Literatur wird teilweise die Auffassung vertreten, dass der Arbeitnehmer eine in dem nur statisch fortgeltenden TV festgelegte Dynamik nach dem Betriebsübergang nicht mehr beanspruchen kann. Sehe der nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB beschränkt aufrechterhaltene TV beispielsweise eine Arbeitszeitverkürzung oder Entgeltanhebung in mehreren Schritten vor, so sei der Betriebserwerber nicht dazu verpflichtet, diese schrittweise Veränderung für die übernommenen Arbeitsverhältnisse nachzuvollziehen6. Hingegen gehören Rechte und Ansprüche aus einem gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB statisch

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1 BAG v. 14.11.2007 – 4 AZR 828/06, NZA 2008, 420 (422); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 117. Zur Rechtslage bei vor Eintritt der Nachbindung nach § 3 Abs. 3 TVG vereinbarten Änderungen des TVes vgl. BAG v. 19.9.2007 – 4 AZR 711/06, NZA 2008, 241 (243). 2 BAG v. 20.6.2001 – 4 AZR 295/00, NZA 2002, 517 (519); BAG v. 29.8.2001 – 4 AZR 332/00, NZA 2002, 513 (515); HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 265; Thüsing/Braun/Heise, 11. Kap. Rz. 47; Hohenstatt, NZA 2010, 23 (26). 3 BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 ff.; BAG v. 26.8.2009 – 5 AZR 969/08, NZA 2010, 173 (175). 4 BAG v. 17.5.2000 – 4 AZR 363/99, NZA 2001, 453 (456); BAG v. 4.4.2001 – 4 AZR 215/00, NZA 2002, 104 (106); a.A. Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 126; unklar Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 77. 5 Vgl. BAG v. 14.11.2007 – 4 AZR 828/06, NZA 2008, 420. 6 HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 265; Hohenstatt, NZA 2010, 23 (26).

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Teil 15

Rz. 63

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

fortgeltenden TV, deren Entstehung oder Fälligkeit nur noch vom weiteren Zeitablauf abhängig ist, nach Ansicht des BAG zu dem von § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB konservierten kollektivrechtlichen Besitzstand und sind damit vom Erwerber zu gegebener Zeit zu erfüllen1. Für die letztgenannte Sichtweise spricht neben einer Verwirklichung des Schutzzwecks von Art. 3 Abs. 3 RL 2001/23/EG, dass der Arbeitnehmer in einem solchen Fall bereits eine zum erreichten kollektivrechtlichen status quo zählende „Anwartschaft“ erworben hat, die von der weiteren Tarifentwicklung unabhängig ist, so dass der Grundsatz der nur statischen Fortgeltung des TVes nicht berührt ist. Die Auffassung des BAG ist auch mit den vom EuGH in der Rechtssache Werhof aufgezeigten Grundsätzen vereinbar. Danach kann eine Bindung des Betriebserwerbers an künftige Tarifentwicklungen zwar unter Umständen eine Verletzung des unionsrechtlichen Grundrechts auf negative Koalitionsfreiheit darstellen2. Die EuGH-Rechtsprechung bezieht sich jedoch auf Kollektivverträge, deren Abschluss dem Zeitpunkt des Betriebsinhaberwechsel nachfolgt. War der TV bereits zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs abgeschlossen und wird dieser anschließend nicht mehr geändert, so dass sich lediglich bereits im TV angelegte Entwicklungen aktualisieren, greifen die Prämissen des Werhof-Urteils nicht ein3.

d) Wirkungen bei Beendigung des fortwirkenden Tarifvertrages 63

Befindet sich der TV im Zeitpunkt des Betriebsübergangs bereits im Stadium der vertragsdispositiven Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG, so gehen seine Normen gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB auch nur als nachwirkende, d.h. nicht mehr zwingende Vorschriften, über, so dass beim Erwerber auch schon vor Ablauf der einjährigen Veränderungssperre eine abweichende Individualvereinbarung geschlossen werden kann4. Der entsprechend limitierte kollektivrechtliche Besitzstand ist ebenfalls zu beachten, wenn der TV befristet ist und nach dem Betriebsübergang ausläuft. Wirkt der TV nach, so ist der Erwerber hieran nur in dem entsprechenden Umfang gebunden, d.h. ab Wegfall der kollektivrechtlich zwingenden Wirkung des TVes ist eine Ablösung beim Erwerber ohne Verstoß gegen die Veränderungssperre jederzeit auch durch eine verschlechternde Individualabrede möglich5. 1 BAG v. 19.9.2007 – 4 AZR 711/06, NZA 2008, 241 (243); BAG v. 14.11.2007 – 4 AZR 828/06, NZA 2008, 420 (421); BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (49); BAG v. 24.10.2010 – 4 AZR 768/08, BB 2010, 2965; ebenso BeckOK/Bepler, TV-L Anh. § 1 Rz. 47; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 117; Erman/Edenfeld, § 613a BGB Rz. 83; Hanau/Kania, DB 1995, 1229 (1231 f.); Jacobs, NZA-Beilage 1/2009, 45 (47); Lambrich, FS Ehmann, S. 169 (193 f.); Moll, RdA 1996, 275 (279). 2 EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C 499/04 (Werhof), NZA 2006, 376 ff.; dazu Heinlein, NJW 2008, 321; Nicolai, DB 2006, 670; Zerres, NJW 2006, 3533. 3 So auch BAG v. 19.9.2007 – 4 AZR 711/06, NZA 2008, 241 (244). 4 BAG v. 1.8.2001 – 4 AZR 82/00, NZA 2002, 41 (43); BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (47 f.); Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 197; HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 282; MünchKomm/Müller-Glöge, § 613a BGB Rz. 137. 5 Vgl. BAG v. 1.8.2001 – 4 AZR 82/00, NZA 2002, 41 (43); BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (47); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 121; HWK/Willemsen/MüllerBonanni, § 613a BGB Rz. 282; Lambrich, FS Ehmann, S. 169 (196).

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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang

Rz. 65 Teil 15

Noch nicht endgültig geklärt ist die Rechtslage, wenn der TV nach Ablauf des vereinbarten Geltungszeitraumes oder infolge Kündigung nach Ablauf der Kündigungsfrist ohne Nachwirkung endet. Im Urteil vom 22.4.2009 ist das BAG für den Fall eines Nachwirkungsausschlusses in dem „transformierten“ TV davon ausgegangen, dass das Ende des TVes im Veräußererbetrieb nicht den Eintritt der Abänderbarkeit der Tarifnormen beim Erwerber, sondern über den Wortlaut des § 613a Abs. 1 Satz 4 Alt. 1 BGB hinausgehend dessen ersatzlosen Wegfall in den übergegangenen Arbeitsverhältnissen bewirkt1. Fraglich ist der Zeitpunkt, in dem diese Wirkung eintritt. Unter dem Blickwinkel der vom BAG gezogenen Parallele zwischen dem Ablauf der Jahresfrist mit dem Ende der zwingenden Nachbindung im Sinne von § 3 Abs. 3 TVG könnte gefolgert werden, dass die bisherigen Bedingungen trotz ihres Wegfalls beim Veräußerer bis zum Ablauf der Jahresfrist beim Erwerber aufrechterhalten werden müssen und sich ihr Wegfall für die übergegangenen Arbeitsverhältnisse erst dann auswirken kann2. Laut Orientierungssatz der Entscheidung vom 22.4.2009 soll der ersatzlose Wegfall „spätestens“ mit Ablauf der einjährigen Sperrfrist des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB gelten3. Indes lässt sich den Urteilsgründen entnehmen, dass die Jahresfrist keine materielle Mindestbindungsfrist für die gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fortgeltenden Tarifnormen bedeutet, wenn der TV beim Veräußerer bereits vorher ohne Nachwirkung erlischt4. Die Annahme einer solchen zeitlichen Bestandsschutzverstärkung wäre in der Tat inkonsequent, da in diesem Fall die nur kraft Anordnung der Weitergeltung aufrechterhaltenen Normen beim Erwerber einem weitergehenden Schutz unterliegen würden als im Falle ihrer unmittelbaren kollektivrechtlichen Geltung. Der Betriebsübergangsrichtlinie lässt sich nichts Gegenteiliges entnehmen, da die bisherigen Kollektivbedingungen laut Art. 3 Abs. 3 RL 2001/23/EG vom Erwerber ebenfals nur „in dem gleichen Maße“ aufrechterhalten werden müssen, wie sie im Kollektivvertrag des Veräußerers vorgesehen waren und ausschließlich der sich danach ergebende Schutzbestand für mindestens ein Jahr abgesichert werden muss.

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Zu ergänzen ist, dass sich die Ausführungen des BAG nur auf den Fall eines vor dem Betriebsübergang in dem TV bereits angelegten Beendigungstatbestand (einschließlich einer auf Kündigungsregelungen in dem TV basierenden späteren Kündigung) beziehen dürften5. Erfolgen nach dem Betriebsübergang Dispositionen der Tarifparteien über den Bestand des TVes, welche in dem TV in der zum Zeitpunkt des Übergangs geltenden Fassung dem Grunde nach noch

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1 BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (49); s.a. Thüsing/Braun/Heise, 11. Kap. Rz. 65; Grau/Sittard, Anm. zu BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, BB 2010, 1093 (1094); teils kritisch Bauer/v. Medem, DB 2010, 2560 (2563). Anders auf Basis eines individualrechtlichen Transformationsmodells noch BAG v. 1.4.1987 – 4 AZR 77/86, NZA 1987, 593 (595); BAG v. 20.4.1994 – 4 AZR 342/93, NZA 1994, 1140 (1141); Wellenhofer-Klein, ZfA 1999, 239 (253). 2 Vgl. Bauer/v. Medem, DB 2010, 2560 (2563). 3 BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (Os. 3e). 4 BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (48); ebenso HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 267; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 218; vgl. auch MünchKomm/Müller-Glöge, § 613a BGB Rz. 137; a.A. wohl Gussen/Dauck, Weitergeltung von Betriebsvereinbarungen und Tarifverträgen, Rz. 174 ff. 5 Ebenso Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 218.

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Rz. 66

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

nicht angelegt waren (z.B. einvernehmliche spätere Aufhebung oder Ersetzung des TVes), so kann dies in den übergegangenen Arbeitsverhältnissen nicht zum Geltungswegfall der gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fortwirkenden Tarifnormen, sondern lediglich zum Außerkrafttreten der einjährigen Veränderungssperre (§ 613a Abs. 1 Satz 4 Alt. 1 BGB) führen. Ein anderes Ergebnis wäre unter Berücksichtigung des Grundsatzes der statischen Aufrechterhaltung der bisherigen TVe nicht sachgerecht.

e) Kündigungsrecht des Erwerbers im Hinblick auf den fortwirkenden Tarifvertrag? 66

Die erheblichen praktischen Konsequenzen der geänderten dogmatischen Blickrichtung der Rechtsprechung im Hinblick auf den Charakter der nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fortgeltenden Tarifnormen (vgl. Rz. 47 ff.) werden anhand der folgenden Konstellation deutlich, welche der Entscheidung des 4. Senats vom 22.4.2009 zugrunde lag1. Problematisch ist hierbei insbesondere der vom BAG angenommene Verbleib von Gestaltungsrechten für die Beendigung der Wirkungen des gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fortgeltenden TVes bei den Tarifparteien auf Veräußererseite. Beispiel:

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Bei dem insolvenzbedrohten Betriebsveräußerer galt ein zwischen dem Veräußerer und der zuständigen Gewerkschaft vereinbarter SanierungsTV, welcher dem ansonsten in dem Betrieb geltenden VerbandsTV nach dem Spezialitätsprinzip vorging. Der SanierungsTV war befristet und beinhaltete überdies ein vorzeitiges Kündigungsrecht; eine Nachwirkung war ausgeschlossen. Nachdem der Betrieb zwischenzeitlich auf den nicht tarifgebundenen Erwerber übergegangen war, erklärte die Gewerkschaft gegenüber dem Veräußerer die Kündigung des SanierungsTVes. Der Betriebserwerber wandte auf das Arbeitsverhältnis des gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer den SanierungsTV an. Der Arbeitnehmer beansprucht die höhere Vergütung nach dem VerbandsTV.

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Nach Ansicht des BAG ging die von der Gewerkschaft gegenüber dem Veräußerer erklärte Kündigung des SanierungsTVes nicht deswegen „ins Leere“, weil zwischenzeitlich die Arbeitsverhältnisse der tarifgebundenen Arbeitnehmer infolge Betriebsübergangs auf den Erwerber übergegangen waren und der SanierungsTV dort nur nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fortwirkte. Da die Stellung des Veräußerers als TV-Partei nicht auf den Erwerber übergegangen sei, habe auch das im SanierungsTV bereits angelegte vorzeitige Kündigungsrecht ausschließlich im Verhältnis zwischen Veräußerer und Gewerkschaft fortbestanden. Dem Erwerber steht danach kein Kündigungsrecht hinsichtlich eines „transformierten“ TVes zu. Zudem soll die Kündigung des TVes durch eine der Tarifparteien auf Veräußererseite auch für die übergegangenen Arbeitsverhältnisse eine unmittelbare Beendigung der Fortwirkung seiner Regelungen nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB bedeuten, sofern die Nachwirkung im TV ausgeschlossen war. Ferner ging das BAG davon aus, dass mit dem Wegfall der spezielleren Regelungen des SanierungsTVes die im Hintergrund mit „transfor-

1 Vgl. BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 ff.

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Rz. 70 Teil 15

mierten“ Bedingungen des VerbandsTVes in dem übergegangenen Arbeitsverhältnis beim Erwerber wieder aufgelebt seien1. Nach obiger Lösung behalten demnach die ursprünglichen Tarifparteien auf Veräußererseite einen im TV in Form von Kündigungsmöglichkeiten angelegten Einfluss auf die Arbeitsbedingungen für die übergegangenen Arbeitsverhältnisse bei, da sie bei Ausschluss der Nachwirkung durch Kündigung des beim Erwerber nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fortwirkenden TVes dessen Wegfall oder gar ein Wiederaufleben von Bedingungen eines zuvor durch den gekündigten TV verdrängten TVes ohne Wissen oder Wollen des Erwerbers herbeiführen können2. In Konstellationen, in denen im übertragenen Betrieb ein mehrschichtiger Bestand von teils verdrängten TVen einschlägig war, kann sich der Erwerber folglich entgegen der auf Basis des individualrechtlichen Transformationsmodells bislang gültigen Sichtweise3 nicht auf die Fortgeltung der im Betriebsübergangszeitpunkt maßgeblichen tariflichen Arbeitsbedingungen verlassen. Die möglichen tariflichen Konsequenzen sind dementsprechend bei der Durchführung einer Due Diligence und bei den wirtschaftlichen Überlegungen des Erwerbers zu beachten. Ferner wird man aus Erwerbersicht überlegen müssen, im Betriebskaufvertrag Vorsorge für einen Wegfall des vorrangigen TVes zu treffen (z.B. durch Verpflichtung des Veräußerers, eine Kündigung des fortgeltenden TVes nur nach Weisung des Erwerbers zu erklären4; ggf. Vereinbarung einer Kaufpreisanpassung oder gar Rückabwicklung des Betriebskaufs bei Kündigung durch die Gewerkschaft, insb. falls bei Wegfall eines SanierungsTVes der Betriebserwerb wirtschaftlich scheitert). Ist anders als im obigen Beispiel ein gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB beim Erwerber fortwirkender FirmenTV für den Fall einer Kündigung mit Nachwirkung ausgestattet, so verfügt der Erwerber allerdings insofern über eine gesichertere Position, als der FirmenTV auch im Stadium der Nachwirkung spezieller gegenüber einem VerbandsTV bleibt, an welchen der Veräußerer ebenfalls normativ gebunden war5.

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Die von der Rechtsprechung aus dem kollektivrechtlichen Charakter der nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fortgeltenden TVe abgeleitete Konsequenz, dass deren Fortbestand beim Erwerber weiterhin zumindest in begrenztem Umfang zur Disposition der Tarifparteien auf Veräußererseite steht, ist bedenklich. Zum einen ist es unter dem Gesichtspunkt der negativen Koalitionsfreiheit des Erwerbers zumindest problematisch, diesen einer fortbestehenden Gestaltungsmacht durch die bisherigen Tarifparteien zu unterwerfen. Das BAG rechtfertigt dies mit dem Argument, dass die Nachbindung des Erwerbers an das

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1 BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 ff. 2 Ablehnend Franzen, FS Picker, S. 929 (946 f.); Meyer, DB 2010, 1404 (1405 ff.); Moll, RdA 1996, 275 (284). 3 Vgl. BAG v. 1.8.2001 – 4 AZR 82/00, NZA 2002, 41 (42); LAG Düsseldorf v. 15.11.2007 – 11 Sa 1275/07; Erman/Edenfeld, § 613a BGB Rz. 93. 4 Dies schützt allerdings nicht vor Dispositionen seitens der Gewerkschaft, die auch aus Gründen im Tarifverhältnis mit dem Veräußerer möglich sind, auf welche der Erwerber keinen Einfluss hat. 5 Vgl. BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 ff.; BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, NZA 2010, 238 ff. mit. Anm. Grau/Sittard, BB 2010, 1093 f.; allgemein dazu siehe LAG Nürnberg v. 21.11.2006 – 6 Sa 470/06, NZA-RR 2007, 421 ff.

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Rz. 71

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

beim Betriebsübergang vorzufindende (vollständige) Tarifgefüge von der zum rechtsgeschäftlichen Betriebsinhaberwechsel erforderlichen Willenserklärung des Erwerbers umfasst und damit letztlich Ausdruck seiner Vertragsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG sei1. Es ist jedoch qualitativ etwas anderes, ob sich eine in dem übergegangenen TV angelegte Entwicklung durch einen für den Erwerber bereits bei Betriebsübergang erkennbaren Befristungsablauf oder eine auflösende Bedingung realisiert, oder ob diese von einer ungewissen Ausübung von Gestaltungsrechten durch eine der bisherigen Tarifparteien abhängt, zumal die Motive hierfür gänzlich außerhalb der Sphäre oder ggf. sogar der Branche des Erwerbers liegen können2. War beispielsweise der SanierungsTV vor dem Betriebsübergang auf mehrere Betriebe des Veräußerers anwendbar und setzt sich die prekäre wirtschaftliche Lage nach dem Betriebsübergang nur in dem übertragenen Betrieb fort, nicht jedoch in den übrigen Betrieben des Veräußerers, so wird die Gewerkschaft den SanierungsTV – dann zwangsläufig mit auch auf die übergegangenen Arbeitsverhältnisse durchschlagender Wirkung – beenden, obwohl dies im übertragenen Betrieb zu einer unmittelbaren Gefährdung der Arbeitsplätze führt. Zum anderen führt die Konzeption der Rechtsprechung dazu, dass der Betriebserwerber zwar gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB mit kollektivrechtlichem Charakter fortwirkenden Tarifnormen unterworfen wird, er jedoch aufgrund des fehlenden Übergangs des schuldrechtlichen Teils des TVes keine aus einer normativen Tarifbindung im Normalfall resultierenden Rechte gegenüber dem Tarifpartner hat3. Insbesondere hat der Erwerber selbst keine Möglichkeit, die für die übernommenen Arbeitsverhältnisse angeordnete weitere Normwirkung zu beenden, sieht man von regelmäßig schwer umzusetzenden individualrechtlichen Gestaltungsmitteln nach Ablauf der Veränderungssperre ab4. 71

In der Literatur werden seit längerem Ansätze diskutiert, wonach der Erwerber einen bei ihm nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fortwirkenden Kollektivvertrag zur Vermeidung einer Besserstellung der übergegangenen Arbeitnehmer unter Beachtung der vereinbarten Kündigungsfrist (ggf. mit anschließender Nachwirkung) durch Erklärung gegenüber den Arbeitnehmern kündigen kann5. Das BAG hat jedenfalls eine solche Kündigung durch den Arbeitnehmer abgelehnt, da hierin eine unzulässige Teilkündigung erblickt wurde6. Es erscheint zwar nicht zwingend, diese Annahme auch auf den Betriebserwerber als Arbeitgeber zu übertragen, zumal der Arbeitnehmer kollektivrechtlich mangels Tariffähigkeit niemals kündigungsbefugt ist, während dem Arbeitgeber bei einem FirmenTV ebenso wie bei Betriebsvereinbarungen als Vertragspartei prinzipiell ein Kündigungsrecht zustehen kann7. Indes hat das BAG an anderer Stelle be1 2 3 4 5

Vgl. BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (47). Siehe auch Meyer, DB 2010, 1404 (1405). Bauer/v. Medem, DB 2010, 2560 (2563) bezeichnen dieses Ergebnis als „paradox“. Vgl. Bauer/v. Medem, DB 2010, 2560 (2563). S. Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 218; Hanau/Vossen, FS Hilger/Stumpf, S. 271 (284); Kreft, FS Wißmann, S. 347 (356); Seiter, DB 1980, 870 (883); für Betriebsvereinbarungen s. Kreutz, FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 993 (1004 f.). 6 BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, NZA 2010, 238 (241). 7 Bauer/v. Medem, DB 2010, 2560 (2562).

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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang

Rz. 72 Teil 15

tont, dass ein Übergang der schuldrechtlichen Abreden zwischen den TV-Parteien gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB gerade nicht stattfindet (vgl. Rz. 56)1. Nach derzeitigem Stand der Rechtsprechung ist damit ein eigenes Kündigungsrecht des Erwerbers hinsichtlich eines von ihm auf die übergegangenen Arbeitsverhältnisse weiter anzuwendenden TVes nicht anzunehmen. Für VerbandsTVe erscheint dies noch insofern konsequent, als der einzelne Arbeitgeber hier niemals kündigungsbefugt ist, sondern er lediglich die Möglichkeit hat, aus dem Arbeitgeberverband auszutreten und nach Ablauf der Nachbindung des § 3 Abs. 3 TVG eine abweichende Vereinbarung zu treffen. Dementsprechend dürfte es folgerichtig sein, dass sich der Erwerber nicht einseitig von den gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fortwirkenden Regelungen eines VerbandsTVes lösen kann, sondern er nach Ablauf der einjährigen Veränderungssperre auf diejenigen Ablösungsmöglichkeiten verwiesen ist, welche einem Arbeitgeber nach Verbandsaustritt im Stadium der Nachwirkung (§ 4 Abs. 5 TVG) zustehen2. Für FirmenTVe sollten die problematischen Konsequenzen einer Entkoppelung des bei den Tarifparteien verbleibenden schuldrechtlichen Teils von den inhaltlichen Rechten und Pflichten für die übergegangenen Arbeitsverhältnisse indes noch einmal überdacht werden. Es erscheint entsprechenden Vorschlägen in der Literatur folgend hier in der Tat erwägenswert, den Erwerber im Verhältnis zur Gewerkschaft partiell (d.h. nur soweit die übergegangenen Arbeitsverhältnisse betroffen sind) in die bisherige Stellung des Veräußerers als Tarifpartei einrücken zu lassen oder zumindest den kraft § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fortwirkenden FirmenTV betreffende Gestaltungserklärungen nur im Verhältnis zwischen Erwerber und Gewerkschaft zuzulassen3. Als Begründung für eine solche rechtsfortbildende Erweiterung des Fortgeltungsmodells nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB durch entsprechende Zuordnung der Rechtskreise lässt sich anführen, dass die bisherige Rechtsposition der Arbeitnehmer in tariflicher Hinsicht gerade aufrechterhalten würde, wenn – wie vor dem Betriebsübergang – der aktuelle Arbeitgeber (d.h. nach dem Übergang der Erwerber) im Verhältnis zur Gewerkschaft für den Empfang oder die Ausübung von Gestaltungserklärungen im Hinblick auf den für die tarifgebundenen Arbeitsverhältnisse (nunmehr nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fortwirkenden) FirmenTV zuständig ist. Der Erwerber rückt hierbei anders als im Falle einer Gesamtrechtsnachfolge mangels eines umfassenden Sukzessionstatbestandes nicht insgesamt als Vertragspartei in den FirmenTV ein, so dass das Rechtsverhältnis zwischen Veräußerer und Gewerkschaft mit Ausnahme der im Hinblick auf die übergegangenen tarifgebundenen Arbeitsverhältnisse auf den Erwerber 1 BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, NZA 2010, 238 (241). 2 Bauer/v. Medem, DB 2010, 2560 (2561). Auf bei Verlust der Betriebsidentität nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fortwirkende Regelungen aus Betriebsvereinbarungen lässt sich dies nicht übertragen. Dort spricht vieles für ein Kündigungsrecht des Erwerbers, sofern die Betriebsvereinbarung selbst kündbar war. 3 Vgl. ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 113b (auf Basis einer angenommenen Rechtsnachfolge des Erwerbers in die kollektivrechtlichen Bindungen des Veräußerers); Bauer/v. Medem, DB 2010, 2560 (2563); Sagan, RdA 2011, 163 (171); im Ergebnis auch Hanau/ Strauß, FS Bepler, S. 199 (203 ff.).

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Teil 15

Rz. 73

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

übergeleiteten Befugnisse als Tarifpartei unberührt bleibt. Zudem ist diese abgeleitete Rechtsposition des Erwerbers analog zur statischen Fortwirkung der Tarifbedingungen auf die schuldrechtlichen Rechte und Pflichten aus dem FirmenTV im Zeitpunkt des Übergangs begrenzt1. Entsprechendes sollte umgekehrt für die Gewerkschaft gegenüber dem Erwerber gelten, soweit es um Wirkungen für die übergegangenen Arbeitsverhältnisse geht2. Der Gesetzeswortlaut des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB steht einer solchen Lösung nicht entgegen, da nach diesem Ansatz gerade keine Überleitung des Rechtsverhältnisses zu der Gewerkschaft in das Arbeitsverhältnis erfolgt. Die Kündigung eines gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fortwirkenden FirmenTVes könnte demgemäß nicht gegenüber den Arbeitnehmern erklärt werden3. Lehnt man die vorstehend skizzierte Lösung ab, so bleibt dem Erwerber nur die Möglichkeit, mit dem Veräußerer im Innenverhältnis Absprachen darüber zu treffen, unter welchen Bedingungen der Veräußerer den FirmenTV kündigen darf, oder sich vom Veräußerer eine Vollmacht zur Kündigung gegenüber der Gewerkschaft geben zu lassen. In diesem Falle wäre der FirmenTV allerdings nur einheitlich, d.h. auch mit Wirkung für beim Veräußerer ggf. noch bestehende tarifgebundene Arbeitsverhältnisse, kündbar, was aus den dargelegten Gründen nicht unbedingt interessengerecht ist.

3. Schutz der aufrechterhaltenen Tarifbedingungen durch die Veränderungssperre 73

Wie in § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB angeordnet ist, dürfen die tariflich geregelten Rechte und Pflichten, soweit sie Inhalt des Arbeitsverhältnisses zwischen dem Erwerber und dem Arbeitnehmer werden, grundsätzlich nicht vor Ablauf eines Jahres nach dem Zeitpunkt des Betriebsinhaberwechsels zum Nachteil des Arbeitnehmers geändert werden. Für die Fristberechnung gelten die §§ 186 ff. BGB. Ergänzend ordnet § 613a Abs. 1 Satz 4 BGB bestimmte Durchbrechungen dieser sog. Veränderungssperre an. Die Möglichkeit von Änderungen zu Gunsten der übergegangenen Arbeitnehmer wird hierdurch nicht berührt4.

a) Bedeutung und Gegenstand der Veränderungssperre 74

Die Veränderungssperre soll den Schutz der Arbeitnehmer verstärken, indem neben der Aufrechterhaltung der tariflich gewährten Arbeitsbedingungen durch § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB den danach vom Erwerber auf die vor dem Übergang tarifgebundenen Arbeitsverhältnisse weiter anzuwendenden Regelungen für einen begrenzten Zeitraum eine gesetzlich zwingende Wirkung im Sinne der Wahrung von Mindestbedingungen beigelegt wird. In der Praxis ist auf Arbeitnehmerseite gelegentlich die Erwartung anzutreffen, die Verände1 Vgl. Bauer/v. Medem, DB 2010, 2560 (2563); Sagan, RdA 2011, 163 (170 f.); ähnlich ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 112. 2 Bauer/v. Medem, DB 2010, 2560 (2563). 3 Anders im Ergebnis Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 215 ff. 4 ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 119; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 394; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 257.

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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang

Rz. 75 Teil 15

rungssperre bewirke eine umfassende Absicherung der bisherigen tariflichen Arbeitsbedingungen für ein Jahr. Dies ist jedoch wegen der begrenzten Reichweite der Vorschrift nicht der Fall. Die Veränderungssperre greift zum einen nur für solche Tarifbedingungen ein, die unter den dargestellten Voraussetzungen von der Aufrechterhaltung gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB erfasst sind und betrifft somit nicht solche TVe, die beim Erwerber kollektivrechtlich weiter gelten1. Diese TVe können nach der Zeitkollisionsregel jederzeit durch einen verschlechternden TV geändert, ersetzt oder aufgehoben werden. Zum anderen können die von § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB aufrechterhaltenen Bedingungen nach der Ablösungsvorschrift des § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB jederzeit, d.h. auch schon ab dem Betriebsübergang, durch einen anderen TV des Erwerbers abgelöst werden, sofern Arbeitgeber und Arbeitnehmer tarifgebunden sind2. Der spätere nachwirkungslose Wegfall einer ablösenden Kollektivvereinbarung des Erwerbers hat nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut nicht – auch nicht bei Wegfall während der Sperrfrist – zur Folge, dass anschließend die abgelösten ursprünglichen Tarifnormen in den Arbeitsverhältnissen gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB wieder aufleben3. Auch Art. 3 Abs. 3 RL 2001/23/EG ist nichts Gegenteiliges zu entnehmen, da hiernach die bisherigen Kollektivbedingungen nur bis zu der (erstmaligen) Anwendung eines anderen Kollektivvertrages aufrecht erhalten werden müssen. Während der Sperrfrist unzulässig sind Änderungen der gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB aufrechterhaltenen Regelungen mit individualrechtlichen Mitteln, also durch Änderungsvereinbarung oder Änderungskündigung4. Kein Verstoß gegen die Veränderungssperre liegt jedoch vor, wenn zwischen Erwerber und Arbeitnehmer eine Verschlechterung von gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB aufrechterhaltenen Tarifbestimmungen vereinbart wird, welche bereits beim Veräußerer der Disposition durch die Arbeitsvertragsparteien zugänglich war. Eine vertragsdispositive Tarifbestimmung behält diesen Charakter bei und kann daher nach dem Betriebsübergang jederzeit auch innerhalb der einjährigen Sperrfrist geändert werden5. Einzelvertraglich geregelte Arbeitsbedingungen, die beim Erwerber gemäß § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB fortgelten, können von den Arbeitsvertragsparteien nach allgemeinen vertragsrechtlichen Grundsätzen ab-

1 Statt aller HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 3 TVG Rz. 266; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 132. 2 S. nur ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 125; HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 266; Thüsing/Braun/Heise, 11. Kap. Rz. 63; ebenso EuGH v. 6.9.2011 – Rs. C-108/10 (Scattolon), NZA 2011, 1077 (1083) in Bezug auf Art. 3 Abs. 3 2. UAbs. RL 2001/23/EG. 3 Meyer, DB 2010, 1404 (1405 ff.); Moll, RdA 1996, 275 (284); für Betriebsvereinbarungen s. auch BAG v. 18.11.2003 – 1 AZR 604/02, AP Nr. 15 zu § 77 BetrVG 1972 Nachwirkung; HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 275. 4 Vgl. LAG Bremen v. 30.3.2006 – 3 Sa 204/05, NZA-RR 2006, 458 (460); Erman/Edenfeld, § 613a BGB Rz. 84; HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 266; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 133. 5 BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (48); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 119; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 258; Moll, RdA 1996, 275 (278); ähnlich BAG v. 1.8.2001 – 4 AZR 82/00, NZA 2002, 41 (43).

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Rz. 76

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

geändert werden1; eines irgendwie gearteten Sachgrundes bedarf es hierfür nicht2. 76

Rechtsfolge eines Verstoßes gegen die Veränderungssperre ist die Nichtigkeit der getroffenen Änderungsvereinbarung oder der auf eine Verschlechterung der gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB aufrechterhaltenen Tarifregelungen abzielenden Änderungskündigung des Erwerbers gemäß § 134 BGB3. Verschlechternde Änderungsvereinbarungen, welche während der Jahresfrist mit Wirkung für die Zeit nach der Sperrfrist abgeschlossen werden, sind nach richtiger Ansicht zulässig, da § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB zwar eine befristete kollektivrechtliche Bestandssicherung zu entnehmen ist, hieraus jedoch kein generelles Kontrahierungsverbot ableitbar ist4. Dafür spricht nicht zuletzt auch, dass abweichende Individualvereinbarungen im Vorgriff auf die Nachwirkung eines TVes gemäß § 4 Abs. 5 TVG ebenfalls wirksam schon während der noch zwingenden Geltung des TVes abgeschlossen werden können5. Schließlich ist diese Sichtweise mit Art. 3 Abs. 3 der Betriebsübergangsrichtlinie 2001/23/EG kompatibel, da sich die dort ebenfalls geregelte Jahresfrist nur auf die Aufrechterhaltung der Arbeitsbedingungen bezieht, nicht hingegen auf den Zeitpunkt einer abweichenden Abmachung6.

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Auch nach Ablauf der Sperrfrist ist der Arbeitgeber nicht zur willkürlichen oder einseitigen Beseitigung der von der Fortgeltung betroffenen vormaligen Tarifnormen befugt. Vielmehr kann eine Änderung abgesehen von einer auch im späteren Verlauf nach dem Betriebsübergang möglichen kollektivrechtlichen Ablösung gemäß § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB nur durch einvernehmliche Änderungsvereinbarung mit dem Arbeitnehmer oder durch Änderungskündigung unter den entsprechenden Voraussetzungen herbeigeführt werden7.

1 HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 266; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 132; Lambrich, FS Ehmann, S. 169 (195); Schiefer/Pogge, NJW 2003, 3734 (3738). 2 BAG v. 7.11.2007 – 5 AZR 1007/76, NJW 2008, 939 f.; BAG v. 21.10.2009 – 4 AZR 396/08, NZA-RR 2010, 361 (365); HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 266; anders hingegen noch BAG v. 18.8.1976 – 5 AZR 95/75, NJW 1977, 1178; BAG v. 26.1.1977 – 5 AZR 302/75, NJW 1977, 1470 (1471). 3 LAG Bremen v. 30.3.2006 – 3 Sa 204/05, NZA-RR 2006, 458 (460); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 119; MünchKomm/Müller-Glöge, § 613a BGB Rz. 136; Moll, RdA 1996, 275 (279). 4 Vgl. HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 267; Willemsen, FS ARGE Arbeitsrecht im DAV, 2003, S. 1013 (1026 f.); anders wohl ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 119; KR/Pfeiffer, § 613a BGB Rz. 162; Moll, RdA 1996, 275 (279); Müller-Bonanni/ Mehrens, ZIP 2012, 1217 (1221). 5 Siehe BAG v. 23.2.2005 – 4 AZR 186/04, AP Nr. 42 zu § 4 TVG Nachwirkung; BAG 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53 (60); ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 64; Bauer/ Günther, NZA 2008, 6 (9); a.A. Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 908; Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 565. 6 So auch HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 267. 7 ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 120; MünchKomm/Müller-Glöge, § 613a BGB Rz. 136; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 132 f.; Meyer, NZA 2002, 246 (248 f.).

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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang

Rz. 79 Teil 15

b) Gesetzliche und teleologische Einschränkungen der Veränderungssperre Gemäß § 613a Abs. 1 Satz 4 Alt. 1 BGB können die durch § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB aufrechterhaltenen tariflichen Rechte und Pflichten bereits vor dem Ablauf der Veränderungssperre geändert werden, wenn der zugrunde liegende TV nicht mehr gilt oder bei fehlender beiderseitiger Tarifgebundenheit im Geltungsbereich eines anderen TVes dessen Anwendung zwischen dem neuen Inhaber und dem Arbeitnehmer vereinbart wird. Damit ist bei der Auslegung der Reichweite der Veränderungssperre zu beachten, dass die gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB aufrechterhaltenen Kollektivbedingungen beim Erwerber nicht in weiterem Umfang geschützt sein sollen, als wenn sie kollektivrechtlich gelten würden1. Die Veränderungssperre ist vor diesem Hintergrund allerdings nicht deswegen teleologisch auf null zu reduzieren, weil die Belegschaft eines beim Veräußerer verbleibenden Betriebsteils nicht vergleichbar vor einer Verschlechterung ihrer Tarifbedingungen geschützt ist und zudem im Falle einer normativen Fortgeltung derselben TVe beim Erwerber deren Verschlechterung jederzeit möglich wäre2. Denn der grundsätzliche Schutz des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB knüpft an das Fehlen einer kollektivrechtlichen Regelung beim Erwerber an und nicht, wie sich mittelbar auch aus § 613a Abs. 1 Satz 3 sowie Satz 4 Alt. 2 BGB ergibt, an die Gewährleistung bestimmter inhaltlicher Standards zugunsten der übergegangenen Arbeitnehmer. Allerdings spricht vieles dafür, die Kündigung eines gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB aufrechterhaltenen Kollektivvertrages durch den Erwerber mit Wirkung für die übergegangenen Arbeitsverhältnisse zuzulassen, wenn und soweit dieser durch den Veräußerer ebenfalls kündbar war (vgl. bereits Rz. 71 ff.). Dies müsste folgerichtig zeitlich unabhängig von der Veränderungssperre gelten3.

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aa) Wegfall der Geltung des Tarifvertrags Gemäß § 613a Abs. 1 Satz 4 Alt. 1 BGB ist die verschlechternde individualrechtliche Ablösung der nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB aufrechterhaltenen Tarifbedingungen auch bereits während der Sperrfrist zulässig, wenn der zugrunde liegende TV nicht mehr gilt. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift wird durch die unter teleologischen Gesichtspunkten konsequente Auslegung des BAG, wonach die Beendigung eines TVes aufgrund eines in diesem bereits angelegten Beendigungstatbestandes (Befristung oder Kündigung gemäß den im TV enthaltenen Bestimmungen) und bei Ausschluss der Nachwirkung zum ersatzlosen Wegfall der gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB zunächst aufrechterhal1 Vgl. BAG v. 1.8.2001 – 4 AZR 82/00, NZA 2002, 41 (43); BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (47 f.); MünchKomm/Müller-Glöge, § 613a BGB Rz. 137; WHSS/ Hohenstatt, Teil E Rz. 41; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 258; Hanau/Vossen, FS Hilger/Stumpf, S. 271 (284); Rinck, RdA 2010, 216 (222). 2 Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 218; Hanau/Vossen, FS Hilger/Stumpf, S. 271 (284); Kreft, FS Wißmann, S. 347 (356). 3 Ebenso Staudinger/Annuß, BGB, § 613a Rz. 217; Kreft, FS Wißmann, S. 347 (355 f.); in Bezug auf Betriebsvereinbarungen Hanau/Vossen, FS Hilger/Stumpf, S. 271 (284); Kreutz, FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 993 (1004 f.).

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Teil 15

Rz. 80

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

tenen Bedingungen führt1, reduziert. In dem Fall ist für ein Eingreifen der Veränderungssperre folglich kein Raum. 80

Im Gegensatz hierzu führt die nachwirkungslose Beendigung des TVes durch die Tarifparteien aufgrund eines nicht im TV bereits im Übergangszeitpunkt angelegten Beendigungsgrundes (z.B. einvernehmliche Aufhebung oder Ersetzung des TVes) zur Anwendung des § 613a Abs. 1 Satz 4 BGB, d. h Veränderungen der statisch gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fortwirkenden TV-Normen sind auch bereits vor Ablauf der Jahresfrist möglich. Ebenso tritt die Veränderungssperre außer Kraft, wenn der TV seine zwingende Geltung verliert, also in allen Fällen der Nachwirkung im Sinne von § 4 Abs. 5 TVG2. Unerheblich ist, aus welchem Grund die Nachwirkung eintritt und ob diese bereits im Zeitpunkt des Betriebsübergangs bestanden hat oder erst durch eine danach liegende Maßnahme der Tarifparteien ausgelöst wird3. Inhaltliche Änderungen des TVes nach dem Betriebsübergang, welche dessen normative Wirkung beim Veräußerer nicht tangieren, führen nicht zum Außerkrafttreten der Veränderungssperre gemäß § 613a Abs. 1 Satz 4 BGB4; an derartige Änderungen ist der Erwerber wegen der statischen Fortwirkung des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB allerdings auch nicht gebunden. Fraglich ist, ob die Veränderungssperre auch dann nach § 613a Abs. 1 Satz 4 Alt. 1 BGB außer Kraft tritt, wenn der Betriebsveräußerer den Geltungsbereich des TVes später verlässt, so dass es für die dort verbliebenen Arbeitnehmer nach der h.M. zur Nachwirkung analog § 4 Abs. 5 TVG kommt (vgl. Rz. 7 ff.). Dies erscheint in Anbetracht des Schutzzwecks der Veränderungssperre als relativ weitgehend, würde allerdings auch den Gedanken umsetzen, dass sich die Stellung der übergegangenen Belegschaft durch den Betriebsübergang nicht verbessern soll.

bb) Inbezugnahme eines einschlägigen Tarifvertrages 81

Vereinbaren Arbeitnehmer und Betriebserwerber im Geltungsbereich eines anderen TVes dessen Anwendung auf das Arbeitsverhältnis, so findet die Veränderungssperre nach § 613a Abs. 1 Satz 4 Alt. 2 BGB ebenfalls keine Anwendung. Der Grund für diese Ausnahme ist darin zu sehen, dass der Gesetzgeber den Schutz der Arbeitnehmer in einer mit § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB vergleichbaren Weise durch die Anwendung des in Bezug genommenen und mit einer „Richtigkeitsgewähr“ ausgestatteten TVes gewährleistet sieht5. Dies wird entsprechend dem Gesetzeswortlaut nur dann erreicht, wenn die Verweisung auf einen einschlägigen TV erfolgt, d.h. ein vom Geltungsbereich her persönlich, 1 Vgl. BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (49). 2 BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (47); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 121; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 134; Lambrich, FS Ehmann, S. 169 (196). 3 Vgl. ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 121; Erman/Edenfeld, § 613a BGB Rz. 93; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 134. 4 Vgl. BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 247/96, NZA 1998, 484 (487); BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 193/97, NZA 1998, 488 (490 f.); Kempen/Zachert/Zachert, § 4 TVG Rz. 544; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 337. 5 BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (47); HWK/Willemsen-Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 283; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 135; Lambrich, FS Ehmann, S. 169 (196).

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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang

Rz. 84 Teil 15

räumlich und sachlich einschlägiger TV in Bezug genommen wird1. Zudem muss die Inbezugnahme den gesamten TV umfassen und darf nicht nur punktuell für einzelne Regelungen vereinbart werden2. Es verstößt daher in einer Tarifwechselkonstellation nicht gegen die Veränderungssperre, wenn der anderweitig tarifgebundene Erwerber den übergegangenen Arbeitnehmern zu Vereinheitlichungszwecken eine Umstellung auf die bei ihm geltenden Arbeitsvertragsmuster mit Verweisungsklauseln auf die TVe anbietet, welche im Falle der Tarifgebundenheit der Arbeitnehmer für diese normativ gelten würden. Die Vereinbarung eines Verweises nur auf einzelne Regelungskomplexe dieser TVe, während es die Parteien im Übrigen bei der Fortgeltung von Tarifbedingungen des Veräußerers gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB belassen, entspricht hingegen nicht den Anforderungen des § 613a Abs. 1 Satz 4 Alt. 2 BGB. Nach dem Wortlaut des § 613a Abs. 1 Satz 4 Alt. 2 BGB gilt die Ausnahme von der einjährigen Veränderungssperre nur bei fehlender beiderseitiger Tarifgebundenheit. Damit wird an sich eine Selbstverständlichkeit zum Ausdruck gebracht, da die bisherigen Tarifbedingungen im Falle einer kongruenten Tarifbindung an die TVe des Erwerbers abgelöst würden (§ 613a Abs. 1 Satz 3 BGB). Der Ausnahmetatbestand von der Veränderungssperre kommt damit neben dem Fall einer fehlenden Tarifbindung sowohl des Erwerbers als auch des Arbeitnehmers auch dann zum Tragen, wenn nur eine der Parteien tarifgebunden ist3.

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Nach zutreffender Ansicht muss die Vereinbarung im Sinne von § 613a Abs. 1 Satz 4 Alt. 2 BGB nicht zwingend erst nach dem Zeitpunkt des Betriebsübergangs abgeschlossen werden, so dass eine im übergegangenen Arbeitsvertrag bereits enthaltene große dynamische Bezugnahmeklausel (Tarifwechselklausel), durch die das Arbeitsverhältnis den beim Erwerber einschlägigen TVen unterstellt wird, nicht der Veränderungssperre des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB unterliegt (vgl. noch Rz. 158)4. In der Rechtsprechung ist dies allerdings soweit ersichtlich noch nicht abschließend geklärt.

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Problematisch ist auch, ob der Ausnahmetatbestand des § 613a Abs. 1 Satz 4 Alt. 2 BGB durch eine Bezugnahmevereinbarung erfüllt werden kann, die auf

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1 BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (47); MünchKomm/Müller-Glöge, § 613a BGB Rz. 138; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 235; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 136; Müller-Bonanni/Mehrens, ZIP 2012, 1217 (1222). 2 Erman/Edenfeld, § 613a BGB Rz. 93; MünchKomm/Müller-Glöge, § 613a BGB Rz. 138; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 235; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 136; Moll, RdA 1996, 275 (284). 3 HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 283; Soergel/Raab, § 613a BGB Rz. 136; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 235; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 136; Rinck, RdA 2010, 216 (222); a.A. Heinze, DB 1998, 1861 (1866); Moll, RdA 1996, 275 (284). 4 HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 283; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 235; Thüsing/Braun/Heise, 11. Kap. Rz. 54; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 206; Annuß, RdA 2000, 179 (182); Hanau, NZA 2005, 489 (492); Henssler, FS Wißmann, S. 133 (154); Jacobs, NZA-Beilage 1/2009, 45 (51); Rinck, RdA 2010, 216 (223); a.A. ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 41a; Heinze, FS Schaub, S. 275 (293); Lambrich, FS Ehmann, S. 169 (234); Thüsing/Lambrich, RdA 2002, 193 (212).

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Teil 15

Rz. 85

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

dem Ausspruch einer Änderungskündigung seitens des Erwerbers innerhalb der Sperrfrist des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB beruht. Der Gesetzeswortlaut, wonach eine derartige Verweisung „vereinbart“ werden muss, steht einer solchen Möglichkeit nicht entgegen, da auch eine per Änderungskündigung eingeführte Bezugnahmeklausel auf einem Vertragsschluss durch Annahme eines Änderungsangebotes beruht1. Bezieht man mit ein, dass der Gesetzgeber in § 613a Abs. 1 Satz 4 Alt. 2 BGB die Übernahme eines in sich geschlossenen und prinzipiell einschlägigen Tarifwerkes nicht als unzulässigen Entzug der ansonsten nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB aufrechtzuerhaltenden kollektivrechtlichen Bedingungen gewertet hat, so dürfte es keine Rolle spielen, auf welchem Wege die Bezugnahmevereinbarung zustande kommt2. Über die nach kündigungsrechtlichen Maßstäben zu beurteilende Zulässigkeit der Änderungskündigung, insbesondere ihre soziale Rechtfertigung, ist damit freilich noch nichts gesagt. Soweit teilweise vertreten wird, die sich aus §§ 1, 2 KSchG ergebenden Maßstäbe seien in dem Fall zu modifizieren, so dass auch das bloße Vereinheitlichungsinteresse des Erwerbers genügen könne, um einer Änderungskündigung zur Einführung einer Bezugnahmeklausel zur Wirksamkeit zu verhelfen3, ist dem nicht zu folgen. Es spricht zwar im Rahmen der erforderlichen Interessenabwägung für die Angemessenheit bzw. Zumutbarkeit der geänderten Bedingungen, dass der Gesetzgeber die Verwirklichung eines adäquaten Arbeitnehmerschutzes durch die Inbezugnahme eines der Richtigkeitsgewähr unterliegenden und prinzipiell für das Arbeitsverhältnis einschlägigen TVes beim Erwerber anerkannt hat und mithin auch Verschlechterungen gegenüber den kollektiven Bedingungen beim Veräußerer hinzunehmen sind. Jedoch ist allein das Vereinheitlichungsinteresse nicht zur Begründung des für die soziale Rechtfertigung der Änderungskündigung notwendigen Wegfalls des Beschäftigungsbedarfs zu unveränderten Voraussetzungen ausreichend. Allein die Berufung auf eine ansonsten bessere Stellung der übernommenen Arbeitnehmer reicht damit als Grund für eine Änderungskündigung im Sinne des §§ 1 Abs. 2 Satz 1, 2 Satz 1 KSchG regelmäßig nicht aus4. Ohnehin wird jedenfalls eine Massenänderungskündigung zur Vereinheitlichung der Arbeitsbedingungen regelmäßig schon an praktischen Erwägungen scheitern. 85

Die beim Erwerber einschlägigen TVe können nicht durch Globalverweis in einer Betriebsvereinbarung für die übernommenen Arbeitnehmer für anwendbar

1 Vgl. APS/Künzl, § 2 KSchG Rz. 5 ff.; ErfK/Oetker, § 2 KSchG Rz. 5 ff., jeweils m.w.N. 2 So im Ergebnis auch ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 122; MünchKomm/Müller-Glöge, § 613a BGB Rz. 138; Kania, DB 1994, 529 (531); Meyer, NZA 2002, 246 (253); Moll, RdA 1996, 275 (284). Vgl. auch Schwab, BB 1994, 781 (782) zur Parallelthematik bei § 4 Abs. 5 TVG. 3 Vgl. Lambrich, FS Ehmann, S. 169 (199); Meyer, NZA 2002, 246 (253); Schiefer, DB 2003, 390 (392); ebenso für den Zeitraum nach dem Ablauf der Veränderungssperre Bauer/Meinel, NZA 2000, 181 (185 ff.). 4 APS/Steffan, § 613a BGB Rz. 129 unter Bezugnahme auf BAG v. 28.4.1982 – 7 AZR 1139/79, AP Nr. 3 zu § 2 KSchG 1969; Erman/Edenfeld, § 613a BGB Rz. 93; Kania, DB 1994, 531; Moll, RdA 1996, 275 (284).

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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang

Rz. 88 Teil 15

erklärt werden, da eine solche Betriebsvereinbarung an der Tarifsperre des § 77 Abs. 3 BetrVG scheitert1.

IV. Ablösung von Tarifverträgen durch beim Betriebserwerber einschlägige Kollektivverträge (§ 613a Abs. 1 Satz 3 BGB) Gemäß § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB erfolgt keine Aufrechterhaltung der durch Kollektivvertrag des Veräußerers geregelten Rechte und Pflichten, sofern die betreffenden Rechte und Pflichten bei dem Erwerber durch Rechtsnormen eines anderen TVes oder durch eine andere Betriebsvereinbarung geregelt werden.

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1. Zweck und Bedeutung der Regelung Der Vorschrift des § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB liegt der Gedanke zugrunde, dass es eines Schutzes der bisherigen Kollektivbedingungen nicht bedarf, wenn und soweit beim Erwerber entsprechende Mindestbedingungen durch einen für die übergegangenen Arbeitsverhältnisse einschlägigen Kollektivvertrag geregelt werden2. Zugleich eröffnet die Vorschrift dem Erwerber die Möglichkeit, die nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB aufrechtzuerhaltenden Kollektivvorschriften des Veräußerers durch eigene Kollektivbedingungen zu verdrängen bzw. zu ersetzen. Damit schützt § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB das Ablösungs- bzw. Vereinheitlichungsinteresse des Betriebserwerbers3. Dies entspricht Art. 3 Abs. 3 der Betriebsübergangsrichtlinie 2001/23/EG, wonach der Erwerber die in einem Kollektivvertrag des Veräußerers vereinbarten Arbeitsbedingungen nur bis zur Anwendung eines anderen Kollektivvertrages aufrecht zu erhalten hat.

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Die Vorschrift des § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB bedeutet für die Arbeitgeber einen erheblichen Gestaltungsspielraum, da eine Betriebsübernahme zur Herbeiführung eines Tarifwechsels eingesetzt werden kann. Allerdings unterliegen diese Gestaltungsmöglichkeiten insofern Einschränkungen, als eine Verdrängung der bisherigen Kollektivnormen durch eigene TVe des Erwerbers nach h.M. nur unter der Voraussetzung einer beiderseitigen Tarifgebundenheit von Erwerber und Arbeitnehmer eintritt (vgl. Rz. 93 ff.). Schließlich scheitert ein Tarifwechsel in der Praxis nicht selten an nicht ausreichend flexibel formulierten Bezugnahmeklauseln in den Arbeitsverträgen der übergehenden Belegschaft. Für die

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1 BAG v. 8.12.2009 – 1 ABR 66/08, NZA 2010, 404 (407); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 122; Gaul, Unternehmensspaltung, 2002, § 24 Rz. 59; HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 268; MünchKomm/Müller-Glöge, § 613a BGB Rz. 138; Kania, DB 1995, 625 (626 f.); Schaub, ZIP 1984, 272 (279); a.A. Soergel/Raab, § 613a BGB Rz. 128; Zöllner, DB 1995, 1401 (1408). 2 S. nur BAG v. 1.8.2001 – 4 AZR 82/00, NZA 2002, 41 (44); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 123; Lambrich, FS Ehmann, S. 169, 172; Röder, DB 1981, 1980. 3 Vgl. die Gesetzesbegründung BT-Drucks. 8/3317, S. 11; BAG v. 20.4.1994 – 4 AZR 342/93, NZA 1994, 1140 (1142); BAG v. 1.8.2001 – 4 AZR 82/00, NZA 2002, 41 (44); Bernsau/Dreher/Hauck/Dreher, Betriebsübergang, 2007, § 613a BGB Rz. 276; Henssler, FS Wißmann, S. 133 (147); Henssler, FS Schaub, S. 311 (319); Moll, RdA 1996, 275 (283).

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Teil 15

Rz. 89

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

Analyse des Ablösungspotentials der TVe des Erwerbers muss neben der kollektivrechtlichen also stets auch die individualvertragliche Ebene mit in den Blick genommen werden.

2. Voraussetzungen der Tarifablösung a) Art des ablösenden Kollektivvertrags 89

Der Gesetzeswortlaut des § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB stellt nicht darauf ab, welche Arten von Kollektivvereinbarungen auf Veräußerer- und Erwerberseite miteinander kollidieren. Unproblematisch ist die Ablösung im Verhältnis zwischen mehreren TVen. Für die Ablösungswirkung des § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB spielt es insofern keine Rolle, welche Art von TVen, d.h. Verbands- oder FirmenTV, sich jeweils auf Veräußerer- und Erwerberseite gegenüberstehen1. FirmenTVe können demnach im Rahmen von § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB entgegen den nur bei unmittelbaren kollektivrechtlichen Kollisionslagen anwendbaren Spezialitätsgrundsätzen auch durch beim Erwerber geltende VerbandsTVe abgelöst werden. Auch die Ablösung von Regelungen einer im übertragenen Betrieb geltenden Betriebsvereinbarung durch einen auf das übergegangene Arbeitsverhältnis normativ anwendbaren TV wird durch § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB ermöglicht2. In letztgenannter Konstellation wäre ohnehin fraglich, ob die Betriebsvereinbarung aufgrund des Tarifvorrangs in Fällen des § 87 Abs. 1 Einls. BetrVG bei Gegenständen der erzwingbaren Mitbestimmung oder bei Tarifüblichkeit im Übrigen (§ 77 Abs. 3 BetrVG) nach dem Betriebsübergang überhaupt noch aufrechterhalten werden kann.

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Die seit langem umstrittene Frage, ob ein TV des Veräußerers unter Ausschluss der Fortgeltung nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB auch durch Regelungen einer beim Erwerber anwendbaren Betriebsvereinbarung abgelöst werden kann, ist vom BAG jedenfalls außerhalb des Bereichs der erzwingbaren Mitbestimmung inzwischen dahingehend beantwortet worden, dass eine solche „Überkreuzablösung“ nicht zulässig sein soll3. Begründet wird dies unter anderem mit einem Vergleich der Rechtslage ohne Betriebsübergang, wo es dem Arbeitgeber versagt sei, Bestimmungen eines TVes durch eine verschlechternde Betriebsvereinbarung abzulösen. Selbst wenn die Betriebsvereinbarung nicht an der Hürde des §§ 77 Abs. 3, 87 Abs. 1 Einls. BetrVG scheitere, unterbinde das Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG eine verschlechternde Regelung durch 1 S. Erman/Edenfeld, § 613a BGB Rz. 87; HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 273; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 141; D. Gaul, ZTR 1989, 432 (434); Jacobs, NZA-Beilage 1/2009, 45 (47); zur Ablösung durch einen allgemeinverbindlichen TV siehe BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 1023/08, NZA-RR 2011, 30 (33). 2 Bernsau/Dreher/Hauck/Dreher, Betriebsübergang, 2007, § 613a BGB Rz. 276; WHSS/ Hohenstatt, Teil E Rz. 56 f.; Moll, RdA 1996, 275 (283); offen gelassen in BAG v. 1.8.2001 – 4 AZR 82/00, NZA 2002, 41 ff.; BAG v. 22.3.2005 – 1 ABR 64/03, NZA 2006, 383 ff. 3 BAG v. 6.11.2007 – 1 AZR 862/06, NZA 2008, 542 (546); BAG v. 21.4.2010 – 4 AZR 768/08, DB 2010, 1998; LAG Hessen v. 28.5.2008 – 6 Sa 1690/07, n.v.; LAG Berlin v. 4.11.2008 – 19 Sa 678/08, ZTR 2009, 275; ebenso ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 126; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 221.

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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang

Rz. 91 Teil 15

eine Betriebsvereinbarung1. Es widerspreche dem Schutzzweck der Betriebsübergangsrichtlinie und des § 613a BGB, wenn es dem Erwerber erlaubt wäre, ursprünglich tariflich begründete Rechtsansprüche der Arbeitnehmer, die durch § 4 Abs. 3 TVG vor Verschlechterungen durch eine Betriebsvereinbarung geschützt waren, nach dem Betriebsübergang durch ungünstigere Bestimmungen einer Betriebsvereinbarung abzulösen2. Als weiteres Argument gegen eine Überkreuzablösung wird angeführt, dass es auf der betriebsverfassungsrechtlichen Ebene aufgrund fehlender Erstreikbarkeit der Regelungen an einer vergleichbar starken Durchsetzungskraft der Interessen der Belegschaft fehle3. Die gegen die prinzipielle Möglichkeit der Überkreuzablösung ins Feld geführten Argumente überzeugen nicht4. Gegen die Ansicht der Rechtsprechung lässt sich insbesondere das in § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB geschützte Interesse des Betriebserwerbers an der Vereinheitlichung der Arbeitsbedingungen anführen, welches auf europäischer Ebene in gleicher Weise durch die in Art. 3 Abs. 3 RL 2001/23/EG vorgesehene Ablösungsmöglichkeit durch einen „anderen Kollektivvertrag“ verankert ist5. Eine Differenzierung zwischen der Art des ablösenden Kollektivvertrages ist weder in der Richtlinie noch im Gesetzeswortlaut des § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB angelegt. Der vom Richtliniengeber und nationalem Gesetzgeber übereinstimmend „ablösungsfreundlich“ formulierte Wortlaut der Vorschrift spricht vielmehr dafür, eine Ablösung von vor dem Betriebsübergang auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren Tarifnormen auch durch eine Betriebsvereinbarung zuzulassen6. Auch die Gesetzesbegründung dürfte eher darauf hindeuten, dass der Gesetzgeber eine Überkreuzablösung zulassen wollte7. Da § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB nur einen Auffangtatbestand für den Fall der fehlenden Geltung eines Kollektivvertrags beinhaltet, steht die unterschiedliche Normenhierarchie der ablösenden Wirkung einer Betriebsvereinbarung ebenfalls nicht zwingend entgegen. Schließlich dürfte auch nicht per se, speziell nicht bei Gegenständen der erzwingbaren Mitbestimmung, von einer Inkongruenz der „erzwingbaren“ Regelungsmacht von Tarif- und Betriebspartnern ausgegangen werden können. Nicht zuletzt wird auch in anderen Zusammenhängen, gerade im Verhältnis eines gemäß § 4 Abs. 5 TVG 1 S. BAG v. 6.11.2007 – 1 AZR 862/06, NZA 2008, 542 (546); BAG v. 21.4.2010 – 4 AZR 768/08, DB 2010, 1998. 2 BAG v. 6.11.2007 – 1 AZR 862/06, NZA 2008, 542 (546); BAG v. 21.4.2010 – 4 AZR 768/08, DB 2010, 1998; LAG Hessen v. 28.5.2008 – 6 Sa 1690/07, n.v. 3 BAG v. 13.11.2007 – 3 AZR 191/06, NZA 2008, 600 (603); BAG v. 21.4.2010 – 4 AZR 768/08, DB 2010, 1998. 4 Für die grds. Zulässigkeit auch HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 273; Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 123; KR/Pfeiffer, § 613a BGB Rz. 172; MünchKomm/Müller-Glöge, § 613a BGB Rz. 143; RGRK/Ascheid, § 613a BGB Rz. 225; Bauer/v. Medem, DB 2010, 2560 (2562); Döring/Grau, BB 2009, 158 (161); Gaul/Janz, NZABeilage 2/2010, 60 (67); Henssler, FS Schaub, S. 311 (321); Moll, RdA 1996, 275 (283); Zöllner, DB 1995, 1401 (1405); für den Bereich der zwingenden Mitbestimmung auch WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 56. 5 Meyer, NZA 2001, 751; Moll, RdA 1996, 275 (283). 6 Ebenso Henssler, FS Schaub, S. 311 (321); Meyer, NZA 2001, 751; Schiefer/Pogge, NJW 2003, 3734 (3739 f.); vgl. sogar BAG v. 6.11.2007 – 1 AZR 862/06, NZA 2008, 542 (545). 7 Döring/Grau, BB 2009, 158 (161); a.A. BAG v. 6.11.2007 – 1 AZR 862/06, NZA 2008, 542 (545).

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Teil 15

Rz. 92

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

nachwirkenden TVes zu einer Betriebsvereinbarung, die Ablösung tariflicher durch betriebliche Regelungen unter dem Vorbehalt der §§ 77 Abs. 3, 87 Abs. 1 Einls. BetrVG zugelassen1. 92

Wenngleich damit gute Argumente für die prinzipielle Zulässigkeit einer Überkreuzablösung im Rahmen von § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB streiten, kann dieser Weg deswegen versperrt sein, weil der Abschluss einer ablösenden Betriebsvereinbarung beim Erwerber nur in den allgemein durch §§ 77 Abs. 3, 87 Abs. 1 Einls. BetrVG gezogenen betriebsverfassungsrechtlichen Grenzen möglich ist2. Dabei kann ein Tarifvorrang bei einem tarifungebundenen Erwerber allerdings nicht aus einer etwaigen Aufrechterhaltung von Tarifregelungen nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB, wohl aber gegebenenfalls aus der Tarifüblichkeit der betreffenden Regelungen im Rahmen des Anwendungsbereichs des § 77 Abs. 3 BetrVG hergeleitet werden3.

b) Erfordernis der beiderseitigen Tarifgebundenheit 93

Nach verbreiteter Aufassung soll bereits die einseitige Tarifgebundenheit des neuen Betriebsinhabers an anderweitige TVe genügen, um jedenfalls die Aufrechterhaltung der vor dem Übergang normativ auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren Kollektivbedingungen nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB auszuschließen4. Der Wegfall der zuvor auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren Kollektivregelungen soll nach dieser Ansicht durch ergänzende Auslegung – im Bereich der Vergütung ggf. am Maßstab des § 612 Abs. 2 BGB – oder durch Heranziehung einer etwaigen Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag kompensiert werden5. Teilweise wird sogar angenommen, dass es auch bei einer einseitigen Tarifgebundenheit des Erwerbers zu einer ablösenden Wirkung der TVe für das Arbeitsverhältnis komme6.

1 BAG v. 27.11.2002 – 4 AZR 660/01, AP Nr. 34 zu § 87 BetrVG 1972 Tarifvorrang; BAG v. 2.3.2004 – 1 AZR 271/03, NZA 2004, 852 (855); Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 897; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 11; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 736 ff. 2 Däubler, NZA 1996, 225 (233); Henssler, FS Schaub, S. 311 (321); Henssler, NZA 1994, 294 (300); Hunold, NZA-RR 2010, 281 (287); Lambrich, FS Ehmann, S. 169 (216). 3 Döring/Grau, BB 2009, 158 (162); Gaul/Janz, NZA-Beilage 2/2010, 60 (67); Moll, RdA 1996, 275 (283); wohl auch Zöllner, DB 1995, 1401 (1405); unklar Seiter, DB 1980, 877 (878). 4 LAG Köln v. 30.9.1999 – 6 (9) Sa 740/99, NZA-RR 2000, 179 (180); Preis/Willemsen/ Moll, Umstrukturierung von Betrieb und Unternehmen im Arbeitsrecht, 1999, Teil E Rz. 41; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 152; Heinze, DB 1998, 1861 (1866); Heinze, FS Schaub, S. 275 (281); Henssler, FS Schaub, S. 311 (319 ff.); Lambrich, FS Ehmann, S. 169 (204); Moll, RdA 1996, 275 (280); Schiefer, NJW 1998, 1817 (1821); Seitz/Werner, NZA 2000, 1257 (1267); Wellenhofer-Klein, ZfA 1999, 239 (257); Zöllner, DB 1995, 1401 (1403 ff.). 5 Lambrich, FS Ehmann, S. 169 (211); Moll, RdA 1996, 275 (282); Wellenhofer-Klein, ZfA 1999, 239 (261); ablehnend BAG v. 21.2.2001 – 4 AZR 18/00, NZA 2001, 1318 (1321). 6 Kania, DB 1994, 529 (530); s.a. Röder, DB 1981, 1981 (1982) über den Weg einer Änderungskündigung.

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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang

Rz. 95 Teil 15

Begründet wird dies vor allem mit dem Argument, dass das Erfordernis einer kongruenten Tarifbindung von übergehenden Arbeitnehmern und dem neuen Betriebsinhaber den Anwendungsbereich des § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB entgegen dem berechtigten Vereinheitlichungsinteresse des Betriebsnachfolgers zu stark auf Fälle einenge, in denen der Erwerber zufällig einem von derselben Gewerkschaft wie beim Veräußerer abgeschlossenen TV unterliegt oder in denen die Arbeitnehmer in die für den Erwerber zuständige Gewerkschaft wechseln1. Das Erfordernis einer kongruenten Tarifgebundenheit führe regelmäßig zur unerwünschten Entstehung von Tarifpluralität, indem es zu einer Fortgeltung der Veräußererregelungen zum Stand des Betriebsübergangs gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB für einen Teil der Belegschaft und im Übrigen zu einer normativen Geltung der TVe des Erwerbers für die kongruent tarifgebundenen Arbeitnehmer kommt2. Dieses Nebeneinander von TVen im Betrieb des Erwerbers konnte auch schon bislang, unabhängig von der inzwischen erfolgten Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit durch die Rechtsprechung, nicht nach den Grundsätzen der Tarifeinheit aufgelöst werden, da § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB insofern eine Sonderregelung darstellt3.

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Die h.M. geht demgegenüber zu Recht davon aus, dass § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB nur unter der Voraussetzung einer kongruenten Tarifgebundenheit der Parteien des Arbeitsverhältnisses an den ablösenden TV anwendbar ist4. Zwar ist der Wortlaut von § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB insofern offen. Es wäre jedoch unter Schutzzweckaspekten schwer zu rechtfertigen, den durch § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB grundsätzlich gewährleisteten Schutz des kollektivrechtlich erreichten status quo deswegen in Abrede zu stellen, weil beim Erwerber TVe gelten, an welche der Arbeitnehmer nicht gebunden ist. Zudem ist § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB systematisch als Ausnahme zu der Aufrechterhaltungsvorschrift des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB konzipiert („gilt nicht“), welche nur im Falle beidseitiger Tarifgebundenheit vor dem Betriebsübergang greift5. Es erscheint daher folgerichtig, die normative Anwendbarkeit des ErwerberTVes auf das Arbeitsverhältnis auch für den Ausschluss einer Fortwirkung der bisherigen TVe nach dem Betriebsübergang zu verlangen. Zu einer Ersetzung der bis-

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1 Vgl. WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 149; Henssler, FS Schaub, S. 311 (320); Henssler, FS Wißmann, S. 133 (148); Seitz/Werner, NZA 2000, 1257 (1267). 2 S. WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 151; Lambrich, FS Ehmann, S. 169 (208 f.); Moll, RdA 1996, 275 (280). 3 S. APS/Steffan, § 613a BGB Rz. 137; HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 268; differenzierend Kania, DB 1996, 1921 (1923). 4 BAG v. 21.2.2001 – 4 AZR 18/00, NZA 2001, 1318 (1321); BAG v. 29.8.2001 – 4 AZR 332/00, NZA 2002, 513 (515); BAG v. 23.1.2008 – 4 AZR 602/06, n.v.; BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (43); APS/Steffan, § 613a BGB Rz. 134; Bernsau/Dreher/ Hauck/Dreher, Betriebsübergang, 2007, § 613a BGB Rz. 276; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 123 f.; Gussen/Dauck, Weitergeltung von Betriebsvereinbarungen und Tarifverträgen, 2. Aufl. 1997, Rz. 234; HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 263; MünchKomm/Müller-Glöge, § 613a BGB Rz. 139; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 229. 5 Vgl. BAG v. 20.4.1994 – 4 AZR 342/93, NZA 1994, 1140 (1142); BAG v. 21.2.2001 – 4 AZR 18/00, NZA 2001, 1318 (1321); Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 229; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 253.

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Teil 15

Rz. 96

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

herigen TVe durch die beim Erwerber gültigen TVe kann es wegen Art. 9 Abs. 3 GG in jedem Falle nur kommen, wenn der ablösende TV nach tarifrechtlichen Maßstäben, d.h. abgesehen von der Allgemeinverbindlichkeit nur unter der Voraussetzung der Mitgliedschaft des Arbeitnehmers in der tarifschließenden Gewerkschaft gemäß § 3 Abs. 1 TVG, unmittelbare und zwingende Wirkung entfaltet und nach seinem Geltungsbereich für das übergegangene Arbeitsverhältnis einschlägig ist1. Dies gilt auch dann, wenn auf Gewerkschaftsseite sowohl beim Veräußerer als auch beim Erwerber jeweils eine DGB-Gewerkschaft beteiligt ist2. 96

Abgesehen von Fällen der Allgemeinverbindlichkeit des beim Erwerber geltenden TVes muss der Arbeitnehmer somit zur Herstellung einer Bindung an den beim Erwerber gültigen TV in die dort zuständige Gewerkschaft wechseln, sofern diese nicht mit der tarifschließenden Gewerkschaft beim Veräußerer identisch ist. Letzteres kann vor allem vorkommen, wenn Veräußerer und Erwerber einem mit derselben Gewerkschaft abgeschlossenen FirmenTV unterliegen oder beide zwar unterschiedlichen Arbeitgeberverbänden angehören, jedoch auf Gewerkschaftsseite derselbe Tarifpartner vertreten ist. Zu einem Eintritt in die beim Erwerber tarifzuständige Gewerkschaft können die Arbeitnehmer schon wegen der Gewährleistung der negativen Koalitionsfreiheit durch Art. 9 Abs. 3 GG nicht gezwungen werden. Allerdings kann ein Gewerkschaftswechsel zur Herbeiführung einer kongruenten Tarifbindung trotz in einigen Regelungspunkten womöglich schlechteren Konditionen in den TVen des Erwerbers wirtschaftlich sinnvoll für den Arbeitnehmer sein, da er bei erfolgreicher Tarifablösung im Gegensatz zu einer bloß statischen Aufrechterhaltung der „alten“ TVe bei § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB weiter an einer Tarifdynamik partizipiert. Das Entstehen einer kongruenten Tarifbindung an die beim Erwerber gültigen TVe ist auch infolge einer Verschmelzung von Gewerkschaften möglich3.

c) Identität des ablösenden Regelungsgegenstands (Regelungskollision) 97

Die Ablösungswirkung des § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB tritt nur ein, soweit die beim Erwerber geltenden TVe denselben Regelungsgegenstand betreffen wie die Kollektivverträge des früheren Betriebsinhabers4. Im Übrigen greift § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB ein, wonach die nur beim Veräußerer kollektivvertraglich geregelte Materie inhaltlich für die vormals erfassten Arbeitsverhältnisse auf1 St. Rspr., BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 581/99, NZA 2001, 510 (512); BAG v. 21.2.2001 – 4 AZR 18/00, NZA 2001, 1318 (1321); BAG v. 29.8.2001 – 4 AZR 332/00, NZA 2002, 513 (515); BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (43). 2 BAG v. 21.2.2001 – 4 AZR 18/00, NZA 2001, 1318 (1320 ff.); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 123; HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 268; a.A. LAG Köln v. 30.9.1999 – 6 (9) Sa 740/99, NZA-RR 2000, 179 (180); Hanau/Kania, FS Schaub, S. 239 (256); Kania, DB 1996, 1921 (1923). 3 BAG v. 11.5.2005 – 4 AZR 315/04, NZA 2005, 1362 (1364 f.). 4 BAG v. 20.4.1994 – 4 AZR 342/93, NZA 1994, 1140 (1142); BAG v. 22.1.2003 – 10 AZR 227/02, NZA 2003, 879; MünchKomm/Müller-Glöge, § 613a BGB Rz. 142; Staudinger/ Annuß, § 613a BGB Rz. 222; Thüsing/Braun/Heise, 11. Kap. Rz. 48; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 145.

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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang

Rz. 99 Teil 15

rechterhalten wird, d.h., es kommt zur Konstellation einer Teilablösung1. Ob eine Überschneidung der Regelungsmaterie vorliegt, ist anhand einer Auslegung der sich gegenüber stehenden Kollektivregelungen zu ermitteln2. Hierbei ist vorab zu klären, ob die jeweilige Kollektivregelung des Erwerbers überhaupt für neu hinzukommende Betriebe und Betriebsteile gelten soll oder ob eine ablösende Wirkung an der Beschränkung des Geltungsbereichs auf die bisherige Stammbelegschaft des Erwerbers scheitert. Eine zur Ablösung gemäß § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB führende Kollision muss hinsichtlich des „Ob“ der Regelung, nicht jedoch hinsichtlich des „Wie“ bestehen, so dass inhaltliche Unterschiede einer Ablösung nicht entgegenstehen3. Schweigen die Kollektivverträge des Erwerbers im Gegensatz zu denjenigen des Veräußerers zu einem abgrenzbaren Regelungskomplex, so kann dies grundsätzlich nicht als verdrängende „Regelung“ einer Sachfrage angesehen werden4. Umgekehrt kann jedoch eine beim Erwerber bestehende eindeutige Negativregelung, aus der sich ergibt, dass bestimmte Rechte und Pflichten beim Erwerber nicht gelten oder bestehen sollen, nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB verdrängende Wirkung entfalten, auch wenn damit keine tatsächliche Ausgestaltung dieser Arbeitsbedingungen verbunden ist5. Dafür spricht, dass es den Tarifparteien grundsätzlich frei steht, eine Leistung nicht vorzusehen oder in den Grenzen des Vertrauensschutzes wieder zu beseitigen, und § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB nicht zur Besserstellung der übernommenen Arbeitnehmer im Vergleich zur Situation ohne Betriebsübergang führen soll6.

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Die richtige Abgrenzung der kollidierenden Ablösungsmaterie kann in der Praxis erhebliche Schwierigkeiten bereiten. Zwei Extrempositionen können als Gegenpole ausgemacht werden. Zum einen könnte eine Identität der Regelungsgegenstände bereits dann angenommen werden, wenn ein TV in der Gesamtheit seiner Regelungen thematisch die gleichen Arbeitsbedingungen regeln will. Zum anderen könnte eine Regelungsidentität nur als gegeben anzusehen sein, soweit auf Basis der einzelnen Normen eine „punktuelle Deckungsgleichheit“ zu verzeichnen ist. Die Rechtsprechung hat sich für einen Mittelweg entschieden und lässt es zutreffenderweise für die Ablösung ausreichen, wenn dieselbe Sachgruppe beim Erwerber ebenfalls kollektivvertraglich geregelt ist7. Hinsichtlich einzelner

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1 BAG v. 22.1.2003 – 10 AZR 227/02, AP Nr. 242 zu § 613a BGB; BAG v. 23.1.2008 – 4 AZR 602/06, AP Nr. 63 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; HWK/Willemsen/ Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 271 m.w.N. 2 BAG v. 20.4.1994 – 4 AZR 342/93, NZA 1994, 1140 (1142); MünchKomm/Müller-Glöge, § 613a BGB Rz. 142; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 145. 3 BAG v. 20.4.1994 – 4 AZR 342/93, NZA 1994, 1140 (1142); Jacobs, NZA-Beilage 1/2009, 45 (48); Moll, RdA 2007, 47 (49); Röder, DB 1981, 1980 (1981). 4 BAG v. 20.4.1994 – 4 AZR 342/93, NZA 1994, 1140 (1142); BAG v. 22.1.2003 – 10 AZR 227/02, NZA 2003, 879; Erman/Edenfeld, § 613a BGB Rz. 91; Zöllner, DB 1995, 1401 (1403); wohl auch Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 222. 5 BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (47); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 125; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 224; Meyer, DB 2004, 1886; Moll, RdA 2007, 47 (49); a.A. WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 48. 6 Vgl. HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 270. 7 BAG v. 20.4.1994 – 4 AZR 342/93, NZA 1994, 1140 (1142); LAG Köln v. 1.4.2004 – 10 Sa 1228/02, DB 2004, 1892; ebenso HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB

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Teil 15

Rz. 100

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

Regelungskomplexe kommt es darauf an, dass zwischen diesen ein inhaltlicher Zusammenhang gegeben ist1. Die Abgrenzung der sich im Rahmen der Ablösung gegenüber stehenden Sachgruppen darf nicht zu eng erfolgen, da dies zu einer von § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB nicht beabsichtigten Zersplitterung der Arbeitsbedingungen und zu einer sog. „Rosinenlösung“ führen würde2. Daher kommt bei einem Aufeinandertreffen in sich geschlossener Vergütungssysteme eine Behandlung der Bestimmungen der Vergütungssysteme als einheitlicher Sachkomplex und damit eine vollständige Ablösung durch die entsprechenden Erwerberregelungen auch dann in Betracht, wenn die Systeme im Einzelnen unterschiedliche Komponenten bzw. Leistungen vorsehen3. Beispiele:

100

Um einen einheitlichen Sachkomplex im Rahmen der Ablösung nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB handelt es sich auch, wenn das tarifliche Gehaltssystem des Erwebers anders als dasjenige des Veräußerers bei insgesamt vergleichbarer Vergütungshöhe ohne die Gewährung einer allgemeinen tariflichen Sonderzuwendung auskommt4. Eine Regelungsidentität wurde zwischen Sonderleistungen in Form eines „tariflichen Urlaubsgelds“ und einer „tariflichen Sonderzahlung“ angenommen5.

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Tarifbestimmungen über die Durchführung von Schichtarbeit sind auch dann regelungsidentisch, wenn der TV beim Veräußerer eine besondere Form des Ausgleichs der Schichtarbeit vorsieht, wohingegen der beim Erwerber anwendbare TV die Schichtarbeit ohne einen derartigen Ausgleich regelt6.

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Keine Regelungsidentität soll bestehen, wenn der TV des Betriebserwerbers lediglich regelt, welche Maßnahmen vor dem Ausspruch einer Kündigung zu ihrer Wirksamkeit ergriffen werden müssen, während der TV des Veräußerers darüber hinaus eine Abfindungsregelung für den Fall der Kündigung enthält7.

d) Keine Anwendbarkeit des Günstigkeitsprinzips 103

Unerheblich für das Eingreifen der Ablösungswirkung des § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB ist, ob die ablösenden Kollektivregelungen des Erwerbers inhaltlich günstiger oder ungünstiger sind als die abgelösten Regelungen des Veräußerers. Das Günstigkeitsprinzip findet im Verhältnis zwischen den abzulösenden, alten

1

2 3 4 5 6 7

Rz. 271; MünchKomm/Müller-Glöge, § 613a BGB Rz. 142; RGRK/Ascheid, § 613a BGB Rz. 224; Soergel/Raab, § 613a BGB Rz. 126; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 275; Moll, RdA 2007, 47 (49). LAG Köln v. 1.4.2004 – 10 Sa 1228/02, DB 2004, 1892; MünchKomm/Müller-Glöge, § 613a BGB Rz. 142; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 222; Jacobs, NZA-Beilage 1/2009, 45 (48); Lambrich, FS Ehmann, S. 169 (200). Grau/Sittard, Anm. zu BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, BB 2010, 1093. Siehe auch Erman/Edenfeld, § 613a BGB Rz. 91; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 147. A.A. wohl BAG v. 22.1.2003 – 10 AZR 227/02, NZA 2003, 879; wie hier WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 147. BAG v. 23.1.2008 – 4 AZR 602/06, AP Nr. 63 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag. Vgl. BAG v. 11.5.2005 – 4 AZR 315/05, NZA 2005, 1362 (1364 ff.); LAG Köln v. 1.4.2004 – 10 Sa 1228/02, DB 2004, 1892. BAG v. 20.4.1994 – 4 AZR 342/93, NZA 1994, 1140 (1142 f.).

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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang

Rz. 104 Teil 15

TVen des Veräußerers und den TVen des Erwerbers keine Anwendung1. Die Ablösung wirkt allerdings nur für die Zukunft. In bereits erworbene Anwartschaften auf betriebliche Altersversorgung kann anders als in künftig zu erzielende Versorgungszuwächse durch § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB regelmäßig nicht eingegriffen werden (vgl. noch Rz. 106 ff.)2. Die damit jedenfalls nach bisherigem Verständnis unabhängig von der Frage der Günstigkeit der beim Erwerber geltenden Kollektivregelungen gewährleistete Ablösungsmöglichkeit von Kollektivregelungen des Veräußerers ist mit den Vorgaben der Betriebsübergangsrichtlinie vereinbar. Gemäß Art. 3 Abs. 3 RL 2001/23/EG hat der Erwerber die in einem Kollektivvertrag vereinbarten Arbeitsbedingungen bis zur Kündigung oder zum Ablauf des Kollektivvertrages bzw. bis zum Inkrafttreten oder bis zur Anwendung eines anderen Kollektivvertrages in dem gleichen Maße aufrecht zu erhalten, wie sie in dem Kollektivvertrag für den Veräußerer vorgesehen waren. Dieser Richtlinientext schließt die Möglichkeit von Verschlechterungen in den kollektivrechtlich geregelten Arbeitsbedingungen im Rahmen der Ablösung mit ein. Insofern gestaltet die Richtlinie die Rechtslage im Bereich der kollektivrechtlich geregelten Rechte und Pflichten anders aus als für individualvertragliche Rechtspositionen der Arbeitnehmer, welche gemäß Art. 3 Abs. 1 RL 2001/23/EG unverändert mit den bisherigen Rechten und Pflichten auf den Erwerber übergehen. Eine Gleichstellung der individualvertraglichen mit der kollektiven Ebene im Hinblick auf ein Verschlechterungsverbot der Arbeitsbedingungen ist der Richtlinie nicht zu entnehmen3. Dafür spricht auch, dass die Gefahr einer Ablösung von TVen durch für die Arbeitnehmer ungünstigere TVe bei Schaffung von Art. 3 Abs. 2 RL 77/187/EWG, der Vorgängerregelung des heutigen Art. 3 Abs. 3 RL 2001/23/EG, durchaus gesehen wurde; entsprechende Vorschläge für eine Begrenzung der Ablösungsmöglichkeit von TVen wurden vom Richtliniengeber jedoch offenbar bewusst nicht aufgegriffen4. Schließlich ist auch vor dem Hintergrund der TVen gemeinhin zugebilligten Richtigkeitsgewähr kein rechtfertigender Grund ersichtlich, die Ausübung des europäischen Grundrechts auf kollektive Gestaltung der Arbeitsbedingungen gemäß Art. 28 GrCh durch die beim Betriebserwerber zuständigen Sozialpartner zu beschränken, nur weil die von den Tarifparteien geschaffenen Regelungen im Wege eines Betriebsübergangs übergehende Arbeitnehmer betreffen, für welche sie nach mitgliedstaatlichem Tarifrecht zuständig sind5. In diesem Sinne hat der EuGH in 1 BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (46 f.); BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 1023/08, NZA-RR 2011, 30 (33); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 125; Erman/Edenfeld, § 613a BGB Rz. 87; MünchKomm/Müller-Glöge, § 613a BGB Rz. 139; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 220; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 144; Moll, RdA 2007, 47 (48). 2 BAG v. 24.7.2001 – 3 AZR 660/00, NZA 2002, 520 (522); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 125; HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 270. 3 Vgl. Sagan, EuZA 2012, 247 (254); wohl auch Leder/Rodenbusch, EWiR 2011, 737 (738). 4 Siehe dazu die Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses vom 14.2.1977, veröffentlicht im ABl. EG 1977 Nr. L 61/26; vgl. dazu v. Alvensleben, Die Rechte der Arbeitnehmer bei Betriebsübergang im europäischen Gemeinschaftsrecht, 1992, S. 107. 5 Sagan, EuZA 2012, 247 (254).

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104

Teil 15

Rz. 104a

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

der Vergangenheit zutreffend entschieden, dass die Betriebsübergangsrichtlinie es dem Erwerber nicht verwehre, die Arbeitsbedingungen zu verändern, soweit das nationale Recht eine solche Änderung unabhängig vom Fall des Betriebsübergangs zulässt1. 104a

Im Widerspruch hierzu hat der EuGH in der Scattolon-Entscheidung ausgeführt, dass eine Ablösung von Kollektivverträgen nicht dem Ziel der Betriebsübergangsrichtlinie zuwiderlaufen dürfe, zu verhindern, dass sich die Lage der übergegangenen Arbeitnehmer allein auf Grund des Übergangs verschlechtert. Daher dürfe die Möglichkeit, gemäß Art. 3 Abs. 3 RL 2001/23/EG die in einem TV des Veräußerers vorgesehenen Arbeitsbedingungen mit sofortiger Wirkung durch die Arbeitsbedingungen eines beim Erwerber geltenden TVes zu ersetzen, nicht zum Ziel oder zur Folge haben, dass den Arbeitnehmern insgesamt schlechtere Arbeitsbedingungen als die vor dem Übergang geltenden auferlegt werden2. Konkret ging es in dem Fall um eine kollektivvertragliche Regelung aus Anlass der Umstrukturierung von Instandhaltungs- und Verwaltungsdiensten in italienischen Schulen, welche für die übergehenden Arbeitnehmer nur zu einer bedingten Berücksichtigung der zurückgelegten Vorbeschäftigungszeit bei der Integration in das Gehaltssystem der übernehmenden Körperschaft führte. Hierin sah der EuGH einen Verstoß gegen Art. 3 RL 77/187/EWG, der es nicht zulasse, dass Arbeitnehmer „erhebliche“ Kürzungen ihres Entgelts im Vergleich zu ihrer Lage unmittelbar vor dem Betriebsübergang hinnehmen müssten, weil ihr beim Veräußerer zurückgelegtes Dienstalter, welches dem anderer Arbeitnehmer beim Erwerber entspreche, bei der Bestimmung ihres Anfangsgehaltes nicht berücksichtigt worden ist. Die Feststellung einer erheblichen Kürzung überließ der Gerichtshof den nationalen Gerichten ebenso wie die Klärung der Rechtsfolgen einer nicht mehr vom Schutzzweck der Betriebsübergangsrichtlinie gedeckten Verschlechterung.

104b

Welche Konsequenzen aus der inhaltlich in diverser Hinsicht kritikwürdigen Scattolon-Entscheidung für die Praxis folgen, ist derzeit noch weitgehend unklar3. Festzuhalten ist zunächst, dass bei dienstzeitabhängigen tariflichen Vergütungsregelungen auf Veräußerer- und Erwerberseite eine Berücksichtigung der bereits vom Arbeitnehmer zurückgelegten Betriebszugehörigkeit im Rahmen der Leistungsermittlung beim Erwerber zu erfolgen hat. Hierbei ergibt sich für die Auslegung von § 613a BGB insofern wenig Neues, als schon bislang anerkannt ist, dass der Erwerber das beim Betriebsübergang erreichte Dienstalter im Zusammenhang mit Anspruchsgrundlagen, welche auf die Betriebszugehörigkeit oder die Dauer des Arbeitsverhältnisses abstellen, als übernommenen Besitzstand gegen sich gelten lassen muss, soweit der Arbeitnehmer bereits beim Betriebsveräußerer Anspruch auf eine entsprechende Leistung hatte4. Ob der Scattolon-Entscheidung darüber hinausgehend in den vom 1 EuGH v. 14.9.2000 – Rs. C-343/98 (Collino und Chiappero), NZA 2000, 1279 ff. 2 EuGH v. 6.9.2011 – Rs. C-108/10 (Scattolon), NZA 2011, 1077 (1083). 3 Siehe Leder/Rodenbusch, EwiR 2011, 737 f.; Sagan, EuZA 2012, 247 ff.; Steffan, NZA 2012, 473 ff. 4 Vgl. etwa BAG v. 27.6.2002 – 2 AZR 270/01, NZA 2003, 1045; BAG v. 18.9.2003 – 2 AZR 330/02, NZA 2004, 319 (320); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 76; HWK/Willemsen/ Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 236; Steffan, NZA 2012, 473 (474 f.) jeweils m.w.N.

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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang

Rz. 105 Teil 15

EuGH angedeuteten Konturen und Grenzen nunmehr ein allgemeines Verschlechterungsverbot bei der Ablösung von Kollektivregelungen im Rahmen eines kollektiven Günstigkeitsvergleichs entnommen werden muss, erscheint angesichts des speziellen Fallkontextes der Entscheidung ebenso fragwürdig, wie offen ist, nach welchen Maßstäben sich die Feststellung „erheblicher“ Verschlechterungen richten soll und ob solche gegebenenfalls zur (statischen) Fortgeltung des bisherigen Tarifregimes führen könnten. Als gesichert dürfte immerhin gelten, dass der EuGH nur solche Verschlechterungen als schutzzweckwidrig ansieht, die „allein“ wegen der Übernahme durch einen anderen Arbeitgeber eintreten1. Nimmt man den Gerichtshof beim Wort, spricht dies an sich gegen einen Günstigkeitsvergleich, da die Arbeitnehmer im Falle ihres Verbleibs beim Veräußerer nach der im Verhältnis zwischen TVen greifenden Zeitkollisionsregel eine ungünstigere Entwicklung ihrer tariflichen Arbeitsbedingungen ebenfalls hinzunehmen hätten2. Fraglich ist, welche Einschränkungen daraus folgen, dass die Inanspruchnahme der Ablösungsmöglichkeit nach dem EuGH auch nicht zum Ziel haben darf, dass den Arbeitnehmern insgesamt schlechtere Arbeitsbedingungen auferlegt werden. Hieraus ist nicht zu folgern, dass nunmehr Ausgliederungen mit dem Ziel einer Tarifablösung durch beim Erwerber bereits geltende womöglich ungünstigere TVe versperrt sein sollen. Vielmehr spricht einiges dafür, dass der EuGH nicht die unmittelbare Erstreckung von bereits für die Stammbelegschaft des Erwerbers geltenden TVen auf die übergehenden Arbeitnehmer im Blick hatte, sondern in erster Linie Konstellationen, in denen durch TVe im Rahmen der Überleitung eine gezielte erhebliche Verschlechterung der Bedingungen für übergehende Arbeitnehmer herbeigeführt werden soll3. Ganz eindeutig ist dies allerdings nicht. Immerhin könnte die Sichtweise des EuGH sanierende Betriebsübernahmen mit tariflichen Vergütungsabsenkungen oder entsprechende ÜberleitungsTVe künftig deutlich erschweren. Letztlich bleibt die weitere Rechtsprechungsentwicklung abzuwarten, ob es tatsächlich zu dem angedeuteten Umbruch der Ablösungsdogmatik durch den EuGH kommt. Insofern hat sich die Praxis jedenfalls vorläufig auf eine erhebliche Rechtsunsicherheit hinsichtlich der Ablösungsvoraussetzungen für Kollektivverträge beim Betriebsübergang einzustellen.

e) Geltungszeitpunkt des ablösenden Tarifvertrages Wie sich aus dem Wortlaut des § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB ergibt, ist es für die ablösende Wirkung eines TVes oder einer Betriebsvereinbarung des Erwerbers nicht erforderlich, dass die ablösende Regelung bereits im Betriebsübergangszeitpunkt abgeschlossen oder in Kraft ist4. Eine Ablösung der gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB zunächst aufrechterhaltenen Kollektivnormen des Veräuße1 2 3 4

Sagan, EuZA 2012, 247 (252). Vgl. Steffan, NZA 2012, 473 (476); v. Steinau-Steinrück, NJW-Spezial 2012, 434 (435). In diese Richtung auch Sagan, EuZA 2012, 247 (255). BAG v. 20.4.1994 – 4 AZR 342/93, NZA 1994, 1140 (1142); BAG v. 16.5.1995 – 3 AZR 535/94, NZA 1995, 1166 (1168); MünchKomm/Müller-Glöge, § 613a BGB Rz. 141; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 220; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 143; Rinck, RdA 2010, 216 (221).

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Teil 15

Rz. 106

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

rers ist damit auch noch nach dem Betriebsübergang jederzeit mit ex-nunc-Wirkung möglich1. Dementsprechend hat es der Erwerber unter den sonstigen Ablösungsvoraussetzungen des § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB in der Hand, in einer sich an den Betriebserwerb anschließenden Harmonisierungsphase für eine Vereinheitlichung der Arbeitsbedingungen mit der bisherigen Stammbelegschaft zu sorgen. Die einjährige Veränderungssperre des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB steht dem nicht entgegen. Aber selbst wenn eine Vereinbarung ablösender TVe auf Seiten des Erwerbers vorerst unterbleibt, bleiben die über § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fortgeltenden Kollektivbedingungen für die Zukunft ablösungsoffen, da § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB keine Einschränkung im Sinne eines erforderlichen zeitlichen Zusammenhangs zwischen dem Betriebsübergang und dem Zustandekommen des ablösenden Kollektivvertrags zu entnehmen ist2. Auch verwirkt das „Ablösungsrecht“ des Erwerbers aus § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB nicht etwa wegen Zeitablaufs. Erst recht besteht auch unter Gleichbehandlungsaspekten keine Verpflichtung des Betriebserwerbers zur Herbeiführung einer Harmonisierung nach dem Betriebsübergang3.

3. Besonderheiten bei der Ablösung von Tarifverträgen über die betriebliche Altersversorgung 106

Sofern beim Veräußerer ein auf kollektivrechtlichen Regelungen basierendes System der betrieblichen Altersversorgung gilt, richtet sich der Übergang der Regelungen grundsätzlich nach den Vorschriften des § 613a Abs. 1 Satz 2 bis 4 BGB. Beim Veräußerer durch TV begründete Versorgungszusagen gehen demnach für die tarifgebundenen Arbeitnehmer gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB auf den Erwerber über mit der Folge, dass der Betriebserwerber in die Stellung des Versorgungsschuldners eintritt. Besteht beim Erwerber ein eigener Kollektivvertrag über die betriebliche Altersversorgung, welcher nach dem Übergang normativ auf die übergegangenen Arbeitnehmer Anwendung findet, so kommt dessen ablösende Wirkung nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB in Betracht. Nach Ansicht der Rechtsprechung kann es sich für den Fall, dass die Versorgungszusage des Veräußerers durch TV erfolgt ist, bei dem ablösenden Kollektivvertrag des Erwerbers allerdings nur um einen TV handeln, da eine Verdrängung durch eine Betriebsvereinbarung als sog. Überkreuzablösung unzulässig sein soll (vgl. Rz. 90 ff.). Allerdings sind TVe über eine arbeitgeberfinanzierte betriebliche Altersversorgung in der Privatwirtschaft bislang nicht allzu verbreitet, da die Betriebsvereinbarung hier nach wie vor das „klassische“ Gestaltungsmittel für betriebliche Versorgungsordnungen darstellt4. Durchaus häufiger sind hingegen FlächenTVe über Versorgungszusagen im Wege der Entgeltumwandlung anzutreffen. 1 BAG v. 11.5.2005 – 4 AZR 315/04, NZA 2005, 1362 (1365); MünchKomm/Müller-Glöge, § 613a BGB Rz. 114; Moll, RdA 2007, 47 (48). 2 Einschränkend Henssler, NZA 1994, 913 (919). 3 BAG v. 25.8.1976 – 5 AZR 788/75, AP Nr. 41 zu § 242 BGB Gleichbehandlung; BAG v. 31.8.2005 – 5 AZR 517/04, NZA 2006, 265; BAG v. 14.3.2007 – 5 AZR 420/06, NZA 2007, 862 (864); Jacobs, NZA-Beilage 1/2009, 45 (49). 4 Siehe auch Blomeyer/Otto/Rolfs/Rolfs, Anh. § 1 BetrAVG Rz. 133 ff.; anders Allgaier, NZA 2011, 786.

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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang

Rz. 108 Teil 15

Anders stellt sich die Situation im Bereich des öffentlichen Dienstes dar, wo eine arbeitgeberfinanzierte Altersversorgung etwa durch den TV über die Altersversorgung der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes (ATV) oder den inhaltsgleichen TV auf kommunaler Ebene (ATV-K) etabliert ist. Durch die Geltung des ATV wird der Dienstherr Mitglied in der VBL (Versicherungsanstalt des Bundes und der Länder), über welche die Altersversorgung durchgeführt wird. Die hierdurch bei privatisierenden Umstrukturierungen oder Betriebsübergängen entstehenden rechtlichen Probleme sind zum Teil sehr komplex und bergen je nach Szenario u.U. das Risiko der Auslösung einer wirtschaftlich erheblichen Ausfinanzierungsverpflichtung (sog. Gegenwertzahlung) gegenüber der VBL. Dementsprechend bedarf es bei der Planung der Umstrukturierung in derartigen Fällen einer besonders sorgfältigen Analyse der in Betracht kommenden Rechtsfolgen und Gestaltungsmöglichkeiten hinsichtlich des Schicksals der VBL-Versorgung1.

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Im Hinblick auf die „Ablösungsoffenheit“ von Kollektivregelungen des Erwerbers über eine betriebliche Altersversorgung bedarf es zunächst einer sorgfältigen Auslegung der Bestimmungen zum Geltungsbereich, ob diese auch auf neu in das Unternehmen hinzukommende Betriebe bzw. Arbeitnehmer anwendbar sein sollen2. Im Übrigen ist noch weitgehend ungeklärt, unter welchen Voraussetzungen bei Aufeinandertreffen unterschiedlich ausgestalteter Versorgungssysteme von der für eine Ablösung nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB erforderlichen Regelungsidentität bzw. -kollision ausgegangen werden kann. Aufgrund der Vielgestaltigkeit und Komplexität vieler Versorgungssysteme wird die bloße Existenz eines ebenfalls die betriebliche Altersversorgung betreffenden TVes beim Erwerber nicht zwangsläufig zu einer Ablösung nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB führen3. Dies gilt vor allem dann, wenn ein arbeitgeberfinanziertes Versorgungssystem beim Betriebsveräußerer auf ein rein arbeitnehmerfinanziertes Versorgungssystem beim Erwerber trifft4. Eine Regelungsidentität scheitert aber prinzipiell nicht schon daran, dass unterschiedliche Durchführungswege für die jeweiligen Zusagen bestehen5. Der Durchführungsweg ist nach der Rechtsprechung lediglich „Mittel zum Zweck“ zur Erfüllung des Grundversprechens aus der Versorgungszusage und damit austauschbar, zumal der Erwerber das auf ihn gemäß § 613a BGB übergehende Grundversprechen auf anderem Weg in der zugesagten Leistungshöhe erbringen muss, wenn der bisherige Durchführungsweg nach erfolgtem Betriebsübergang nicht mehr verfügbar ist, sog. Versorgungsverschaffungsanspruch6. Drittrechtsbeziehungen

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1 Ausführlich hierzu WHSS/Schnitker, Teil J Rz. 643 ff.; ferner Höfer/Küpper, ZTR 2005, 181 ff.; Schipp, RdA 2001, 150 ff.; Wegner-Wahnschaffe, ZTR 2004, 402 ff., jeweils m.w.N. 2 Vgl. allgemein BAG v. 1.8.2001 – 4 AZR 82/00, NZA 2002, 41 (43); Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 201; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 106. 3 WHSS/Schnitker, Teil J Rz. 456; Rolfs, NZA-Beilage 4/2008, 164 (167); Schnitker/ Grau, NZA-Beilage 8/2010, 68 (74). 4 WHSS/Schnitker, Teil J Rz. 456. 5 S. WHSS/Schnitker, Teil J Rz. 463 unter Verweis auf BAG v. 13.11.2007 – 3 AZR 191/06, NZA 2008, 600 ff. 6 Vgl. BAG v. 24.3.1977 – 3 AZR 649/76, DB 1977, 1466; BAG v. 23.7.1991 – 3 AZR 366/96, NZA 1992, 217 (218); BAG v. 12.5.1992 – 3 AZR 247/91, NZA 1992, 1080; BAG v. 18.9.2001 – 3 AZR 689/00, NZA 2002, 1391; Blomeyer/Otto/Rolfs/Rolfs, Anh.

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Teil 15

Rz. 109

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

des Arbeitgebers oder des Arbeitnehmers zu einem externen Versorgungsträger bleiben durch den Eintritt des Erwerbers in das Versorgungsverhältnis grundsätzlich unberührt und müssen ggf. auf den Erwerber übergeleitet werden, wenn die Altersversorgung nach dem Betriebsübergang unverändert in dem bestehenden Durchführungsweg fortgeführt werden soll, falls dies nach den einschlägigen Versicherungs- oder Satzungsbedingungen des Versorgungsträgers auch durch den neuen Arbeitgeber möglich ist1. 109

Aufgrund des Schutzes erworbener Anwartschaften ist eine Ablösung des bisherigen TVes über die Versorgungszusage nicht ohne Berücksichtigung des zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs erreichten Besitzstands im Hinblick auf die Altersversorgung möglich. Die bis zum Zeitpunkt des § 613a BGB erdiente Anwartschaft muss vom Erwerber gewahrt werden. Dies ist grundsätzlich der Fall, wenn die Anwendung der beim Erwerber geltenden Versorgungszusage bei Eintritt der Leistungsvoraussetzungen im Ergebnis zu keinen geringeren Ansprüchen führt als es dem im Zeitpunkt des Betriebsübergangs erreichten Besitzstand des Arbeitnehmers entspricht2. Die Besitzstandswahrung kann dabei entweder dergestalt erfolgen, dass die beim Betriebsveräußerer erbrachten Vordienstzeiten im Rahmen des beim Erwerber geltenden Versorgungssystems berücksichtigt werden, so dass der Arbeitnehmer insgesamt so behandelt wird, als hätte er seine volle Dienstzeit unter Geltung des beim Erwerber geltenden Versorgungssystems erbracht, oder es wird nach der sog. „Zwei-Stämme-Lösung“ verfahren. Danach wird bei der Berechnung der wegen Übergangs des Arbeitsverhältnisses insgesamt vom Erwerber zu erfüllenden Versorgungsansprüche zwischen der bis zum Betriebsübergang erdienten Leistung (sog. past service) und den anschließend beim Erwerber begründeten Ansprüchen auf Basis der jeweiligen Versorgungsordnungen unterschieden3. Welche Lösung gewählt wird, steht den Parteien offen4. Jedenfalls muss gewährleistet sein, dass die vor dem Betriebsübergang erdiente Anwartschaft mindestens mit dem Wert erhalten bleibt, der bestehen würde, wenn die Versorgungsordnung beim alten Arbeitgeber entfallen wäre. Auf die Ablösung der Versorgungszusage durch einen beim Betriebserwerber geltenden TV ist der für Eingriffe durch Betriebsvereinbarungen entwickelte Besitzstandsschutz nach Maßgabe der sog. Drei-StufenTheorie nicht anwendbar5.

1 2 3 4 5

§ 1 BetrAVG Rz. 479; WHSS/Schnitker, Teil J Rz. 463; Rolfs, NZA-Beilage 2/2008, 164 (166 f.). Siehe im Einzelnen WHSS/Schnitker, Teil J Rz. 494; Rolfs, NZA-Beilage 2/2008, 164 (166 f.). BAG v. 24.7.2001 – 3 AZR 660/00, NZA 2002, 520 (522 f.); Blomeyer/Rolfs/Otto/Rolfs, Anh. zu § 1 BetrAVG Rz. 322; Höfer, Band 1 BetrAVG, ART Rz. 1261. Siehe dazu WHSS/Schnitker, Teil J Rz. 473 ff. (mit Berechnungsbeispiel); ferner Höfer, Band 1 BetrAVG, Art. Rz. 1262; Schnitker/Grau, NZA-Beilage 8/2010, 68 (74). BAG v. 24.7.2001 – 3 AZR 660/00, NZA 2002, 520 (522); WHSS/Schnitker, Teil J Rz. 473. BAG v. 25.5.2004 – 3 AZR 123/03, AP Nr. 11 zu § 1 BetrAVG Überversorgung; BAG v. 28.7.2005 – 3 AZR 14/05, NZA 2006, 335 (338 f.); BAG v. 27.2.2007 – 3 AZR 734/05, NZA 2007, 1371 (1374); BAG v. 21.8.2007 – 3 AZR 102/06, NZA 2008, 182 (186); dazu näher Blomeyer/Otto/Rolfs/Rolfs, Anh. § 1 BetrAVG Rz. 617 ff.

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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang

Rz. 111 Teil 15

4. Tarifablösung bei mehreren hintereinander geschalteten Betriebsübergängen Bei mehreren hintereinander geschalteten Betriebsübergängen ergeben sich für die Fortgeltung bzw. Ablösung von TVen im Prinzip keine Besonderheiten. Es ist vielmehr für jede „Betriebsübergangsstufe“ gesondert anhand der Vorschriften des § 613a Abs. 1 Satz 2 bis 4 BGB bzw. bei Bestehen arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklauseln zusätzlich nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB zu prüfen, welche Auswirkungen sich für die Tarifgeltung in dem Arbeitsverhältnis jeweils ergeben. Da die gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB bei einem Übergang auf einen tariflosen Erwerber aufrechterhaltenen Tarifbestimmungen ihren kollektivrechtlichen Charakter nicht verlieren und entgegen der früheren Betrachtungsweise nicht zu arbeitsvertraglichen Regelungen werden (vgl. Rz. 47 ff.), bereitet die dogmatisch stringente Erfassung von „Kettenbetriebsübergängen“ keine Probleme. Der über § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB statisch abgesicherte kollektivrechtliche Besitzstand wirkt auch in der Folge mehrerer Betriebsübergänge nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB weiter, soweit die Regelungen nicht bei einem Erwerber durch Bestimmungen eines dort normativ auf das übergegangene Arbeitsverhältnis anwendbaren Kollektivvertrags abgelöst werden1. Die von § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB aufrecht erhaltenen Kollektivnormen bleiben damit auch über mehrere Betriebsübergänge hinweg im Rahmen von § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB ablösungsoffen und verfestigen sich nicht zu einem nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB übergehenden Arbeitsvertragsbestandteil, der aufgrund des im Verhältnis von Arbeitsvertrag zu TV geltenden Günstigkeitsprinzips (§ 4 Abs. 3 TVG) nicht mehr ohne Inkaufnahme dogmatischer Brüche durch ungünstigere Kollektivregelungen eines Erwerbers abgelöst werden könnte2. Soweit die beim ersten Veräußerer normativ anwendbaren Tarifbestimmungen in der Folge bei weiteren Betriebsübergängen mangels Ablösungstatbestandes jeweils gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB aufrechterhalten bleiben, wird die einjährige Veränderungssperre nicht durch jeden Betriebsübergang neu ausgelöst3.

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Im Hinblick auf den Tatbestand des § 613a BGB ist bei vermeintlichen Mehrfachbetriebsübergängen zu berücksichtigen, dass ein Fall des § 613a BGB nur vorliegt, wenn der Erwerber auf der jeweiligen Stufe tatsächlich – wenn auch nur für einen kurzen Zeitraum – die betriebliche Leitungsmacht über den erworbenen Betrieb übernimmt und ausübt. Der reine dingliche Eigentumserwerb an den Betriebsmitteln (z.B. bei Durchleitungsketten, Mehrfachverschmelzung, unmittelbarer Weiterverpachtung des erworbenen Betriebs) genügt für die Auslösung des § 613a BGB ebenso wenig wie der bloße Erwerb der

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1 Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 214; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 139; Moll, RdA 1996, 275 (279); wohl auch, wenngleich im Ergebnis offen gelassen, BAG v. 20.4.1994 – 4 AZR 342/93, NZA 1994, 1140 (1142). 2 A.A. noch auf Basis eines individualvertraglichen Transformationsverständnisses Soergel/Raab, § 613a BGB Rz. 125a; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 242; Nicolai, SAE 1995, 204. 3 HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 276; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 214; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 139; in der Tendenz auch BAG v. 20.4.1994 – 4 AZR 342/93, NZA 1994, 1140 (1142); a.A. ErfK/Preis, §§ 613a BGB Rz. 113; KR/Pfeiffer, § 613a BGB Rz. 161.

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Teil 15

Rz. 112

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

betrieblichen Fortführungsmöglichkeit1. Hieran hat sich auch durch die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Klarenberg nichts geändert2. Geht die betriebliche Leitungsmacht vom bisherigen Betriebsinhaber unmittelbar auf den Letzterwerber über, so liegt kein „Kettenbetriebsübergang“ vor, sondern es findet nur ein einziger Betriebsübergang im Sinne von § 613a BGB statt3. Dementsprechend bleiben die tariflichen Verhältnisse des „Zwischenerwerbers“ in dem Fall ohne Einfluss auf die übergehenden Arbeitsverhältnisse, da dieser nicht in die Arbeitsverhältnisse eintritt.

V. Auswirkungen des Betriebsübergangs auf die individualvertragliche Bezugnahme auf Tarifverträge 112

Ein im Arbeitsvertrag in Bezug genommener TV wirkt nicht tarifvertragsgleich unmittelbar und zwingend auf das Arbeitsverhältnis ein, sondern entfaltet allein schuldrechtliche Wirkung4. Die Bezugnahmeklausel bewirkt einen eigenständigen Geltungsgrund für den TV im jeweiligen Arbeitsverhältnis mit konstitutiver Wirkung sowohl für unmittelbar tarifgebundene Arbeitnehmer als auch für die Tarif-Außenseiter5. Die vertragliche Inbezugnahme eines TVes steht damit grundsätzlich neben einer eventuellen Tarifgeltung für das Arbeitsverhältnis gemäß §§ 4 Abs. 1, 5 Abs. 4 TVG6.

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Vor diesem Hintergrund wäre es aus Sicht des Erwerbers ein schwerer Fehler, bei seinem wirtschaftlichen Konzept für die Betriebsübernahme auf eine kollektivrechtlich begründete Tarifablösung zu setzen, wenn diese praktisch deswegen nicht zum Tragen kommt, weil sich die Arbeitnehmer nach dem Betriebsübergang aufgrund des Arbeitsvertrages auf eine für sie u.U. günstigere (ggf. dynamische) Fortgeltung der TVe des Veräußerers berufen können. Insbesondere Outsourcingprojekte mit dem Ziel eines Tarifwechsels können durch nicht ausreichend flexible Bezugnahmeklauseln erheblich erschwert werden oder schlimmstenfalls vereitelt werden7. Um dieses Ergebnis zu vermeiden, bedarf es in der Praxis einer entsprechend vorausschauenden Arbeitsvertragsgestaltung, bei der die denkbaren Tarifentwicklungen antizipiert und 1 BAG v. 18.3.1999 – 8 AZR 159/98, NZA 1999, 704 (705); BAG v. 18.3.1999 – 8 AZR 196/98, NZA 1999, 869 (870); BAG v. 21.2.2008 – 8 AZR 77/07, NZA 2008, 825; ErfK/ Preis, § 613a BGB Rz. 49 ff.; HWK/Willemsen, § 613a BGB Rz. 68 f. 2 S. EuGH v. 12.2.2009 – Rs. C-466/07 (Klarenberg), NZA 2009, 251; dazu Willemsen, NZA 2009, 289 ff.; Willemsen/Sagan, ZIP 2010, 1205 ff.; zweifelnd Wißmann/Schneider, BB 2009, 1126 (1129). 3 Zutreffend WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 139; vgl. auch BAG v. 15.12.2005 – 8 AZR 202/05, NZA 2006, 597 (600 f.). 4 BAG v. 14.2.1973 – 4 AZR 176/72, AP Nr. 6 zu § 4 TVG Nachwirkung; BAG v. 29.1.1975 – 4 AZR 218/74, AP Nr. 8 zu § 4 TVG Nachwirkung; BAG v. 4.9.1996 – 4 AZR 135/95, NZA 1997, 271 (272); ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 32; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 27; Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, 2012, S. 162. 5 HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 28; Thüsing/Braun/Heise, 11. Kap. Rz. 52; Wiedemann/ Oetker, § 3 TVG Rz. 346; Röller/Wißmann, FS Küttner, S. 465 (473). 6 Rinck, RdA 2010, 216 (219). 7 Vgl. WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 202.

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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang

Rz. 116 Teil 15

bei der Formulierung der Bezugnahmeklauseln unter Wahrung der Transparenzanforderungen (vgl. § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB) entsprechend berücksichtigt werden.

1. Typisierung und Auslegung von Bezugnahmeklauseln Die Auswirkungen eines Betriebsübergangs auf die arbeitsvertragliche Bezugnahme von TVen hängen vom jeweiligen Klauseltyp und dessen Auslegung ab. Die verschiedenen Arten von Bezugnahmeklauseln und Auslegungsprinzipien sind ausführlich in Teil 10 dargestellt und werden hier nur im Überblick kurz behandelt, soweit es für das Verständnis der sich beim Betriebsübergang ergebenden Rechtsfolgen relevant ist.

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a) Statische vs. „kleine“ vs. „große“ dynamische Bezugnahme In Abhängigkeit davon, ob eine Bezugnahmeklausel Veränderungen eines konkret bezeichneten TVes auf der individualrechtlichen Ebene nachvollzieht, ist zwischen statischen und dynamischen Klauseln zu unterscheiden. Eine statische Bezugnahmeklausel nimmt einen konkret bezeichneten TV in seiner zu einem bestimmten Stichtag konkret bestehenden Fassung in Bezug (Beispiel: „Es gilt der Tarifvertrag XY in der Fassung vom …“)1. Eine dynamische Bezugnahmeklausel verweist hingegen auf einen TV in seiner jeweils geltenden Fassung, so dass nachträgliche Änderungen des TVes von der Bezugnahmeklausel erfasst werden (Beispiel: „Es gilt der Tarifvertrag XY in seiner jeweils gültigen Fassung.“)2.

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Innerhalb der Gruppe der dynamischen Bezugnahmeklauseln wird weiterhin zwischen der sog. „kleinen“ und „großen“ dynamischen Bezugnahmeklausel differenziert. Diese Unterscheidung zielt darauf ab, ob ein Austausch des auf kollektivrechtlicher Ebene anwendbaren TVes, d.h. ein Tarifwechsel, auch auf vertraglicher Ebene nachvollzogen werden soll. Während für eine kleine dynamische Bezugnahme aufgrund der konkreten Bezeichnung des Verweisungsobjekts ein sich auf der kollektivrechtlichen Ebene ergebender Tarifwechsel des Arbeitgebers irrelevant ist, da der Arbeitsvertrag nur auf das konkret bezeichnete Tarifwerk verweist, führt ein Tarifwechsel bei Vereinbarung einer großen dynamischen Bezugnahme (Beispiel: „Auf das Arbeitsverhältnis finden die im Betrieb jeweils kollektivrechtlich für den Arbeitgeber bindenden TVe Anwendung.“) regelmäßig dazu, dass fortan auch auf der individualvertraglichen Ebene ein anderer TV Anwendung findet3.

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1 BAG v. 19.9.2007 – 4 AZR 710/06, AP Nr. 54 zu § 133 BGB; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 17; Henssler, FS Wißmann, S. 133 (136); Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung, 1993, S. 400; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 262. 2 BAG v. 20.11.2001 – 1 AZR 12/01, EzA Nr. 70 zu § 77 BetrVG 1972; BAG v. 19.9.2007 – 4 AZR 710/06, AP Nr. 54 zu § 133 BGB; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 36; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 17; Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung, 1993, S. 400; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 262. 3 Vgl. BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 784/07, NZA 2009, 151 (152 f.); BAG v. 17.11.2010 – 4 AZR 391/09, NZA 2011, 356 (358 f.); HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 17; Preis/Preis, Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 18 ff.; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 330.

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Teil 15 117

Rz. 117

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

Die Auslegung von Bezugnahmeklauseln richtet sich grundsätzlich nach den für Verträge allgemein geltenden Auslegungsregeln der §§ 133, 157 BGB1. Für die Auslegung einer in Form einer AGB-Klausel vereinbarten Bezugnahmeklausel ist ein objektiver Auslegungsmaßstab anzulegen2. Eine Bezugnahme auf TVe ist nach der Rechtsprechung im Zweifel als zeitlich dynamische Verweisung zu interpretieren, da dies den Parteiinteressen regelmäßig am besten gerecht wird3. Erst wenn in der Klauselformulierung eindeutig zum Ausdruck kommt, dass die Vertragsparteien eine statische Wirkung der Klausel intendiert haben, ist die Verweisung dem BAG zufolge auch tatsächlich dahingehend zu verstehen4. Eine ausdrücklich vereinbarte Klauselstatik hat das BAG für den Fall der Inbezugnahme einer nach ihrem Datum bestimmten Fassung eines TVes angenommen5.

b) Gleichstellungsabrede 118

Eine weitere Auslegungsmaxime der Rechtsprechung bestand in der Vergangenheit darin, eine dynamisch formulierte Bezugnahmeklausel als sog. Gleichstellungsabrede zu verstehen6. Hiernach bezweckt die Klausel eine Ersetzung der fehlenden Gewerkschaftsmitgliedschaft der nicht organisierten Belegschaftsmitglieder durch die schuldrechtlich vereinbarte Tarifgeltung, wodurch gewährleistet wird, dass der Arbeitgeber die im Betrieb kollektivrechtlich einschlägigen TVe einheitlich gegenüber jedem Arbeitnehmer anwenden kann7. Die dynamische Bezugnahme führt im Fall einer Gleichstellungsabrede demgemäß zu einer Gleichbehandlung von tarifgebundenen Arbeitnehmern und Außenseitern im Hinblick auf den in der Klausel genannten TV, da für die nicht organisierten Arbeitnehmer diejenigen Tarifbedingungen widergespiegelt werden sollen, welche für die unmittelbar tarifgebundenen Arbeitsverhältnisse

1 BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, NZA 2002, 634 (635); BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, NJW 2006, 2571; BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965 (967); HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 23; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 308; Annuß, BB 1999, 2558 (2559 f.). 2 BAG v. 21.3.1974 – 3 AZR 259/73, AP Nr. 3 zu § 74c HGB; BGH v. 17.2.1993 – VIII ZR 37/92, NJW 1993, 1381. Vgl. auch BGH v. 18.7.2007 – VIII ZR 227/06, NJW-RR 2007, 1697; Preis/Preis, Arbeitsvertrag, I C Rz. 83. 3 BAG v. 27.2.2002 – 9 AZR 562/00, NZA 2002, 1099 (1101); BAG v. 13.11.2002 – 4 AZR 351/01, NZA-RR 2003, 330 (331); BAG v. 6.9.2010 – 5 AZR 696/09, NZA 2011, 109 (111 f.); ebenso HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 24; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 327; kritisch Preis/Preis, Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 37; Bayreuther, Anm. zu BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, AP Nr. 53 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, 2012, S. 149 ff. 4 BAG v. 19.9.2007 – 4 AZR 710/06, AP Nr. 54 zu § 133 BGB. 5 BAG v. 19.9.2007 – 4 AZR 710/06, AP Nr. 54 zu § 133 BGB. 6 Vgl. etwa BAG v. 16.10.2002 – 4 AZR 467/01, NZA 2003, 390 (391); BAG v. 27.11.2002 – 4 AZR 661/01, NZA 2003, 1296; BAG v. 19.3.2003 – 4 AZR 331/02, NZA 2003, 1207 (1208); BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, NJW 2006, 2571. 7 BAG v. 19.1.1999 – 1 AZR 606/98, NZA 1999, 879 (882); BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, NZA 2002, 634 (635); BAG v. 19.3.2003 – 4 AZR 331/02, NZA 2003, 1207 (1208); Kempen/Zachert/Stein, § 3 TVG Rz. 181; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 459.

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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang

Rz. 120 Teil 15

gelten1. Hieraus ergibt sich zugleich auch die Voraussetzung für die Annahme einer Gleichstellungsabrede, dass der Arbeitgeber im Zeitpunkt des Arbeitsvertragsschlusses an den in Bezug genommenen TV selbst tarifgebunden und dieser TV bei unterstellter Gewerkschaftszugehörigkeit des Arbeitnehmers fachlich und persönlich einschlägig sein muss2. Die Gleichstellung hat die dem an sich dynamischen Klauselwortlaut allerdings regelmäßig entgegengesetzte Konsequenz, dass die Bezugnahmeklausel den Arbeitgeber nach dem Wegfall seiner Tarifbindung, bspw. durch Verbandsaustritt oder Betriebsübergang, analog zu der sich für die gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer ergebenden Rechtslage nicht mehr zur Weitergabe späterer Tarifentwicklungen verpflichtet3. Demnach bewirkt die Gleichstellungsabrede eine lediglich statische Fortgeltung der im Zeitpunkt des Wegfalls der normativen Wirkung des TVes geltenden Bedingungen auf der arbeitsvertraglichen Ebene4. Dies entspricht beim Betriebsübergang auf einen tariflosen oder nur einseitig tarifgebundenen Erwerber den Rechtsfolgen, die sich für die beim Veräußerer normativ tarifgebundenen Arbeitsverhältnisse aus § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB ergebenden.

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Nachdem das BAG seine Rechtsprechung auch unter der Geltung der seit dem 1.1.2002 auf Standardarbeitsverträge anwendbaren AGB-rechtlichen Bestimmungen, insbesondere der Unklarheitenregel (§ 305c Abs. 2 BGB) und dem Transparenzgebot (§ 307 Abs. 1 Satz 2 BGB), zunächst aufrecht erhalten hatte5, hat der zuständige 4. Senat bekanntermaßen inzwischen die Abkehr von der Gleichstellungslehre vollzogen6. Eine Bezugnahmeklausel wird von der Rechtsprechung nur noch dann als Gleichstellungsabrede interpretiert, wenn der Gleichstellungszweck im Wortlaut der Klausel ausdrücklich erkennbar

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1 BAG v. 7.12.1977 – 4 AZR 474/76, AP Nr. 9 zu § 4 TVG Nachwirkung; BAG v. 9.12.1981 – 4 AZR 312/79, AP Nr. 8 zu § 4 BAT; BAG v. 23.4.1986 – 4 AZR 90/85, AP Nr. 118 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG v. 29.8.2001 – 4 AZR 332/00, NZA 2002, 513 (516); BAG v. 6.7.2011 – 4 AZR 706/09, NZA 2012, 100 (102); Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 459; MüAnwHdbArb/Cohnen/Tepass, § 51 Rz. 100; Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, 2012, S. 154. 2 BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, NJW 2006, 2571 (2572); BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 793/07, NZA 2009, 323 (324); BAG v. 21.10.2009 – 4 AZR 396/08, NZA-RR 2010, 361 (362 f.); BAG v. 17.11.2010 – 4 AZR 127/09, NZA 2011, 457 (458); HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 24. 3 BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, NZA 2002, 634 (635); BAG v. 27.11.2002 – 4 AZR 661/01, NZA 2003, 1296; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 231; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 30; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 468; MünchKomm/Müller-Glöge, § 613a BGB Rz. 146. 4 BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, NZA 2002, 634 (637); BAG v. 27.11.2002 – 4 AZR 661/01, NZA 2003, 1296; BAG v. 24.2.2010 – 4 AZR 691/08, NZA-RR 2010, 530 (532). 5 S. BAG v. 19.3.2003 – 4 AZR 331/02, NZA 2003, 1207 ff.; kritisch Annuß, BB 1999, 2558 (2559); Deinert, Anm. zu BAG v. 1.12.2004 – 4 AZR 50/04, AP Nr. 34 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; Thüsing, NZA 2003, 1184 (1185). 6 BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965 ff.; BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 308/07, AP Nr. 64 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 793/07, NZA 2009, 323 ff.; BAG v. 21.10.2009 – 4 AZR 396/08, NZA-RR 2010, 361 (365 ff.); BAG v. 17.11.2010 – 4 AZR 127/09, NZA 2011, 457 ff.

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Teil 15

Rz. 121

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

wird1. Um eine beabsichtigte Gleichstellung tatsächlich bewirken zu können, muss die Klausel also unter Hinweis auf den Gleichstellungszweck entsprechend eindeutig formuliert sein. Nur unter dieser Voraussetzung kann für ab dem 1.1.2002 vereinbarte Bezugnahmeklauseln weiterhin vom Vorliegen einer Gleichstellungsabrede ausgegangen werden. 121

Die wortlautgetreue Auslegung ist laut BAG auf Arbeitsverträge anwendbar, welche seit dem 1.1.2002 geschlossen wurden2. Für bis dahin abgeschlossene Altverträge bleibt es bei dem bisherigen Auslegungsgrundsatz als Gleichstellungsabrede3. Damit hält das BAG das Vertrauen von Arbeitgebern als Klauselverwender in den Fortbestand der bisherigen Auslegungspraxis für zwischen dem 1.1.2002 und der Ankündigung der Rechtsprechungsänderung mit Urteil vom 14.12.20054 vereinbarte Arbeitsverträge für nicht schutzwürdig, was bedenklich erscheint5. Zu beachten ist, dass eine seit dem 1.1.2002 erfolgte Änderung eines an sich noch vom Vertrauensschutz erfassten Altvertrages diesen zu einem nach neuer Rechtsprechung zu behandelnden Neuvertrag machen kann, wenn die Bezugnahmeklausel bei der Änderungsvereinbarung zum Gegenstand der rechtsgeschäftlichen Willensbildung der Parteien gemacht worden ist6. Dies soll schon dann gelten, wenn die Parteien anlässlich der Vertragsänderung auf ein neues Vertragsformular zurückgreifen, in welchem die Bezugnahmeklausel sprachlich nur leicht anders formuliert ist7. Nicht angezeigt ist eine Behandlung der Bezugnahmeklausel als „Neuklausel“ jedenfalls dann, wenn die Klausel bei der Vertragsänderung unverändert geblieben ist und die Parteien festgehalten haben, dass der Arbeitsvertrag abgesehen von den ausdrücklich vereinbarten inhaltlichen Änderungen unberührt bleiben soll8.

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Sofern die Voraussetzungen für die Auslegung einer kleinen dynamischen Bezugnahmeklausel als Gleichstellungsabrede nicht erfüllt sind, weil entweder auf einen im Zeitpunkt des Arbeitsvertragsschlusses für den Arbeitgeber nicht normativ geltenden TV verwiesen wurde oder weil im Falle einer seit dem 1 BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, NJW 2006, 2571 (2573). 2 BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, NJW 2006, 2571 ff.; BAG v. 23.2.2011 – 4 AZR 536/09, NZA-RR 2011, 510 (511); BAG v. 14.12.2011 – 4 AZR 79/10, DB 2012, 1211. 3 BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, NJW 2006, 2571 (2573); BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 793/07, NZA 2009, 323 ff.; BAG v. 21.10.2009 – 4 AZR 396/08, NZA-RR 2010, 361 (365 ff.); BAG v. 23.2.2011 – 4 AZR 536/09, NZA-RR 2011, 510 (511); BAG v. 6.7.2011 – 4 AZR 706/09, n.v.; BAG v. 14.12.2011 – 4 AZR 79/10, DB 2012, 1211. 4 BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, NJW 2006, 2571 ff. 5 Kritisch auch WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 195; Clemenz, NZA 2007, 769 (773); Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, 2012, S. 262 ff.; Giesen, NZA 2006, 625 (628 f.); Hanau, RdA 2007, 180 (182); Hohenstatt/Kuhnke, RdA 2009, 107 (110). 6 Vgl. BAG v. 18.11.2009 – 4 AZR 514/08, NZA 2010, 170 (172); BAG v. 24.2.2010 – 4 AZR 691/08, NZA-RR 2010, 530 (532); BAG v. 19.10.2011 – 4 AZR 811/09, DB 2011, 2783. 7 BAG v. 24.2.2010 – 4 AZR 691/08, NZA-RR 2010, 530 (532); dazu Lakies, Vertragsgestaltung, 2011, Rz. 179. 8 A.A. wohl BAG v. 18.11.2009 – 4 AZR 514/08, NZA 2010, 170 (172); BAG v. 24.2.2010 – 4 AZR 691/08, NZA-RR 2010, 530 (532); s. allerdings auch BAG v. 19.10.2011 – 4 AZR 811/09, DB 2011, 2783; wie hier Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, 2012, S. 282 f.

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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang

Rz. 122 Teil 15

1.1.2002 vereinbarten Bezugnahmeklausel der Gleichstellungszweck nicht hinreichend zum Ausdruck kommt, bleibt es dabei, dass der Arbeitnehmer aufgrund des Arbeitsvertrages die dynamische Anwendung des in der Klausel konkret bezeichneten TVes verlangen kann. Dies gilt unabhängig davon, ob und an welche TVe der Betriebserwerber und der Arbeitnehmer ggf. nach tarifrechtlichen Maßstäben bzw. gemäß § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB gebunden sind1. Die in dem Fall individualvertraglich bewirkte Bindung des Erwerbers an die weitere dynamische Entwicklung der in Bezug genommenen TVe steht nicht im Widerspruch zu seinem Grundrecht auf negative Koalitionsfreiheit2. Auch verstößt ein solches Auslegungsergebnis nicht gegen das Unionsgrundrecht der negativen Vereinigungsfreiheit bzw. die vom EuGH in der Werhof-Entscheidung3 aufgezeigten sich hieraus ergebenden Schranken4. Gegenstand der Entscheidung in der Rechtssache Werhof war die Frage, ob es mit Art. 3 der Betriebsübergangsrichtlinie 2001/23/EG vereinbar ist, wenn eine dynamische Bezugnahmeklausel im Sinne der früheren Gleichstellungskonzeption des BAG dahingehend ausgelegt wird, dass hiervon nach dem Betriebsübergang abgeschlossene TVe nicht mehr erfasst sind. Dies hat der EuGH bejaht und damit die frühere BAG-Rechtsprechung zur Gleichstellungsinterpretation bestätigt. Zwar geht der EuGH davon aus, dass die Anordnung einer dauerhaften dynamischen Bindung des Betriebserwerbers an einen TV, an welchen er selbst nicht kollektivrechtlich gebunden ist, dessen unionsrechtlich verbürgte negative Vereinigungsfreiheit tangiert. Indes wird man die WerhofEntscheidung nicht so weitgehend verstehen können, dass ein Verstoß gegen das europäische Grundrecht vorliegen soll, wenn die Dynamik lediglich auf einer arbeitsvertraglichen Abmachung beruht, an welche der Erwerber aufgrund seines Eintritts in das Arbeitsverhältnis ebenso gebunden ist wie der Veräußerer5. Auch das BAG hat aus der Werhof-Entscheidung nicht den 1 BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 793/07, NZA 2009, 323 (326); BAG v. 21.10.2009 – 4 AZR 396/08, NZA-RR 2010, 361 (362); BAG v. 24.2.2010 – 4 AZR 691/08, NZA-RR 2010, 530 (534); Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 256; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 41a; Henssler, FS Wißmann, S. 133 (152); Jacobs, BB 2011, 2037 (2039). 2 BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 793/07, NZA 2009, 323 (325); BAG v. 23.9.2009 – 4 AZR 331/08, DB 2010, 2112 (2113); BAG v. 21.10.2009 – 4 AZR 396/08, NZA-RR 2010, 361 (367); BAG v. 24.2.2010 – 4 AZR 691/08, NZA-RR 2010, 530 (535); WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 197; Hanau, RdA 2007, 180 (181 f.); Jacobs, NZA-Beilage 1/2009, 45 (52); Reinecke, BB 2006, 2637 (2641); Sittard/Ulbrich, ZTR 2006, 458 (461); Thüsing, NZA 2006, 473 (474 f.). 3 EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 (Werhof), NZA 2004, 376 ff.; siehe auch den Vorlagebeschluss durch das LAG Düsseldorf v. 8.10.2004 – 9 Sa 817/04, NZA-RR 2005, 148 ff. 4 Wie hier HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 26; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 197; Bayreuther, Anm. zu BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, AP Nr. 53 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; Hanau, RdA 2007, 180 (181 f.); Jacobs, NZA-Beilage 1/2009, 45 (52); Sittard/Ulbrich, ZTR 2006, 458 (461); Thüsing, NZA 2006, 473 (474 f.); E. M. Willemsen, Bezugnahme auf Tarifvertrag, S. 185 ff.; a.A. Clemenz, NZA 2007, 769 (773 f.); Meinel/Herms, DB 2006, 1429 (1430); Melot de Beauregard, NJW 2006, 2522 (2525); Moll, RdA 2007, 47(52); Nicolai, DB 2006, 670 (672 f.); Olbertz, BB 2007, 2737 (2739); Spielberger, NZA 2007, 1086 (1089). 5 BAG v. 21.10.2009 – 4 AZR 396/08, NZA-RR 2010, 361 (366); WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 197; Hanau, RdA 2007, 180 (181 f.); Thüsing, NZA 2006, 473 (474) m.w.N.

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Teil 15

Rz. 123

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

Schluss gezogen, eine vereinbarte Dynamik von Bezugnahmeklauseln nach dem Betriebsübergang aus europarechtlichen Gesichtspunkten einschränken zu müssen1.

c) „Tarifwechselklausel“ 123

Unter Zugrundelegung der obigen Typisierung von Bezugnahmeklauseln ist jedenfalls bei wortlautorientierter Auslegung grundsätzlich nur eine sog. große dynamische Verweisungsklausel sicher in der Lage, einen auf kollektivrechtlicher Ebene erfolgenden Tarifwechsel auf die individualrechtliche Ebene zu übertragen. Sie wird daher auch als Tarifwechselklausel bezeichnet2. Zweck einer solchen Klausel wird in der Regel ebenfalls die (umfassende) Gleichstellung von Außenseitern mit tarifgebundenen Arbeitnehmern sein, wobei der Gleichstellungszweck hier infolge der zeitlichen und sachlich-fachlichen Dynamik noch ausgeprägter ist als im Falle einer grundsätzlich nur zeitlich-dynamisch wirkenden kleinen dynamischen Klausel3. Beim Betriebsübergang wird aufgrund einer solchen großen dynamischen Klausel oder Tarifwechselklausel arbeitsvertraglich die jeweilige Tarifbindung des Erwerbers umfassend reflektiert4. Sofern nach Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit mehrere TVe bei dem Betriebserwerber normativ anwendbar sind, kann sich die durch Auslegung zu ermittelnde Bestimmung des konkreten Bezugnahmeobjektes allerdings als schwierig erweisen.

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Da der Arbeitgeber nicht nur durch die Vereinbarung einer großen dynamischen Bezugnahmeklausel, sondern regelmäßig auch durch die Vereinbarung einer auf einen konkret bezeichneten TV verweisenden kleinen dynamischen Bezugnahme eine Gleichstellungsabsicht verfolgt, kam das BAG früher zu dem Schluss, dass im Falle eines kollektivrechtlichen Tarifwechsels auch eine kleine dynamische Verweisungsklausel ausnahmsweise im Wege einer korrigierenden Auslegung das Bezugnahmeobjekt wechseln könne, da andernfalls der von den Parteien intendierte Gleichstellungszweck nicht effektiv umgesetzt werden könne5. Später hat sich das BAG von dieser Sichtweise distanziert und angenommen, dass ein Tarifwechsel nur durch die Vereinbarung 1 S. BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965 (968 f.); BAG v. 23.9.2009 – 4 AZR 331/08, DB 2010, 2112 (2113); BAG v. 21.10.2009 – 4 AZR 396/08, NZA-RR 2010, 361 (367). 2 Vgl. BAG v. 16.10.2002 – 4 AZR 467/01, NZA 2003, 390 (391); BAG v. 17.11.2010 – 4 AZR 391/09, NZA 2011, 356 (358); WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 202; Rinck, RdA 2010, 216 (216). 3 BAG v. 16.10.2002 – 4 AZR 467/01, NZA 2003, 390 (391); Bauer/Günther, NZA 2008, 6 (7); Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, 2012, S. 156. 4 BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 784/07, NZA 2009, 151 (152 f.); BAG v. 17.11.2010 – 4 AZR 391/09, NZA 2011, 356 (358 f.); Henssler, FS Wißmann, S. 133 (138 f.). 5 Vgl. BAG v. 4.9.1996 – 4 AZR 135/95, NZA 1997, 271 (273); LAG Hamm v. 22.4.2008 – 9 Sa 2230/07, NZA-RR 2008, 478 (480 f.); zustimmend Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 336; Gaul, NZA 1998, 9 (13); Kempen, BB 1991, 2006 (2010); Moll, RdA 1996, 275 (286); Wellenhofer-Klein, ZfA 1999, 239 (251); a.A. ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 127; Annuß, BB 1999, 2558 (2560); Hanau, NZA 2005, 489 (491); Henssler, FS Wißmann, S. 133 (141 f.); Lambrich, FS Ehmann, S. 169 (223).

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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang

Rz. 126 Teil 15

einer großen dynamischen Bezugnahmeklausel erfolgen könne und eine kleine dynamische Bezugnahmeklausel nur unter besonderen Umständen, die auf einen entsprechenden Parteiwillen hindeuteten, zum Tarifwechsel führen könne1. Einen Vertrauensschutz für die Auslegung einer kleinen dynamischen Auslegung als Tarifwechselklausel für vor dem 1.1.2002 abgeschlossene Altverträge wird in der Rechtsprechung abgelehnt2. Zweifelhaft ist, ob ein sich aufgrund von großen dynamischen Bezugnahmeklauseln bzw. Tarifwechselklauseln vollziehender Tarifwechsel in dem vom Betriebsübergang betroffenen Betrieb, der zur Anwendung eines neuen tariflichen Entgeltschemas führt, unter dem Gesichtspunkt einer Änderung der betrieblichen Vergütungsordnung ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats auslösen kann3. Das BAG hält den Erwerber eines seine Identität behaltenden Betriebes in betriebsverfassungsrechtlicher Hinsicht grundsätzlich für verpflichtet, die im Betrieb bestehende Vergütungsordnung bis zu einer dem Mitbestimmungsrecht des § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG genügenden Änderung gegenüber den übergegangenen Arbeitnehmern fortzuführen4. Dabei kommt es nach Auffassung des 1. Senats nicht darauf an, auf welcher Rechtsgrundlage das betriebliche Entgeltschema bislang basierte5. Nach richtiger Auffassung kann dies allerding dann nicht gelten, wenn es sich bei dem Austausch der tariflichen Vergütungsordnung um schlichten Normen- oder Vertragsvollzug handelt, da in dem Fall schon kein durch die Betriebsparteien regelungsfähiger Spielraum besteht6. Dementsprechend ist für eine Mitbestimmung des Betriebsrats kein Raum, wenn sich die im Betrieb angewendete Vergütungsordnung aufgrund eines Tarifwechsels ändert, der auf der Anwendung von Bezugnahmeklauseln oder § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB basiert. Im letztgenannten Fall ist auch wegen der Sperrwirkung des ablösenden TVes (§ 87 Abs. 1 Einls. BetrVG) kein Raum für eine betriebliche Mitbestimmung7.

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Bleibt es bei der bisherigen tariflichen Vergütungsordnung, weil diese aufgrund von § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB bzw. aufgrund von Bezugnahmeklauseln weiter für die übergegangenen Arbeitnehmer anzuwenden ist, so ist der nicht tarifgebundene Erwerber nicht verpflichtet, diese Vergütungsordnung auch auf neu

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1 BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, NZA 2008, 364 (365); BAG v. 15.4.2008 – 9 AZR 159/07, NZA-RR 2008, 586 (592); BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (45); BAG v. 17.11.2010 – 4 AZR 391/09, NZA 2011, 356; BAG v. 6.7.2011 – 4 AZR 706/09, NZA 2012, 100 (104 f.). 2 BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 765/06, AP Nr. 62 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, NZA 2008, 364 ff.; BAG v. 6.7.2011 – 4 AZR 706/09, NZA 2012, 100; kritisch WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 195; Hohenstatt/Kuhnke, RdA 2009, 107 (109 f.); siehe auch Henssler, FS Wißmann, S. 133 (142). 3 WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 202; anders wohl Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 241 unter Hinweis auf BAG v. 22.6.2010 – 1 AZR 853/08, NZA 2010, 1243 ff. 4 BAG v. 8.12.2009 – 1 ABR 66/08, NZA 2010, 404 (406 f.); dazu Bayreuther, BB 2010, 2177 ff. 5 BAG v. 8.12.2009 – 1 ABR 66/08, NZA 2010, 404 (406); so auch BAG v. 17.5.2011 – 1 AZR 797/09, NZA-RR 2011, 644 (645). 6 So auch WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 202. 7 Vgl. in diese Richtung nunmehr BAG v. 17.5.2011 – 1 AZR 797/09, NZA-RR 2011, 644 (646).

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Teil 15

Rz. 127

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

eingestellte Arbeitnehmer anzuwenden1. Er kann vielmehr im Rahmen der Vertragsfreiheit grundsätzlich die Vergütung frei vereinbaren oder mit Zustimmung des Betriebsrats, der insoweit auch ein Initiativrecht hat, gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG eine Vergütungsordnung für neu einzustellende Arbeitnehmer einführen2. Soweit das BAG davon ausgeht, dass auch gegenüber im übergegangenen Betrieb neu eingestellten Arbeitnehmern bis zu einer anderweitigen Regelung mit dem Betriebsrat an der bisher angewendeten Vergütungsordnung festgehalten werden muss3, ist dem nicht zu folgen. Es ist zu weitgehend, aus dem in § 613a Abs. 1 BGB allein zugunsten der übergegangenen Arbeitnehmer angeordneten Schutz mittelbar eine Rechtspflicht zur Behandlung von neu eingestellten und vom Betriebsübergang nicht betroffenen Arbeitnehmern nach einer tariflichen Vergütungsordnung des Veräußerers und damit einen faktischen „Zwang zur Bezugnahme“ abzuleiten4.

2. Übergang der Rechte und Pflichten aus der Bezugnahmeklausel und Verhältnis zu beim Erwerber normativ anwendbaren Tarifverträgen 127

Aufgrund der Einordnung der Bezugnahmevereinbarung als schuldrechtliche Abrede erfolgt der Eintritt des Betriebserwerbers in die Rechte und Pflichten hieraus zusammen mit dem Arbeitsvertrag gemäß § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB5. Die Vorschriften des § 613a Abs. 1 Satz 2 bis 4 BGB spielen hierfür keine Rolle6. Ob es neben der Anwendbarkeit von TVen infolge der arbeitsvertraglichen Bezugnahme beim Erwerber auch auf der kollektivrechtlichen Ebene zu einer Anwendung von TVen auf das Arbeitsverhältnis kommt, ist für den Übergang der Verpflichtungen aus der Bezugnahmeklausel irrelevant, hat aber ggf. Bedeutung für deren im Wege der Auslegung zu ermittelnden Gegenstand und Inhalt. Dabei kann sich auf der normativen und der arbeitsvertraglichen Ebene die Anwendbarkeit unterschiedlicher TVe nach dem Betriebsübergang ergeben, wenn die Bezugnahmeklausel aufgrund einer fehlenden sachlichen Dynamik keine Synchronisation mit den beim Erwerber normativ einschlägigen TVen bewirkt. Ferner stellt sich die Konkurrenzfrage in Fällen, in denen die Bezugnahme dynamisch ausgestaltet ist, indessen auf der normativen Ebene die bisherigen Kollektivverträge des Veräußerers gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB nur statisch aufrechterhalten werden. 1 BAG v. 23.9.2003 – 1 ABR 35/02, NZA 2004, 800 (803); Müller-Bonanni/Mehrens, ZIP 2012, 1217; anders aber BAG v. 8.12.2009 – 1 ABR 66/08, NZA 2010, 404 (406). 2 BAG v. 23.9.2003 – 1 ABR 35/02, NZA 2004, 800 (803). 3 BAG v. 8.12.2009 – 1 ABR 66/08, NZA 2010, 404 (406); ebenso Kreft, FS Kreutz, S. 263 (274 f.). 4 Bayreuther, BB 2010, 2177 (2180); Caspers, FS Löwisch, S. 45 (50 ff.); Reichold, Anm. zu BAG v. 2.3.2004 – 1 AZR 271/03, AP Nr. 31 zu § 3 TVG; Stein, SAE 2005, 169 (170). 5 BAG v. 25.9.2002 – 4 AZR 294/01, NZA 2003, 807 (808); BAG v. 21.10.2009 – 4 AZR 396/08, NZA-RR 2010, 361 (362); BAG v. 24.2.2010 – 4 AZR 691/08, NZA-RR 2010, 530 (533); BAG v. 6.7.2011 – 4 AZR 706/09, NZA 2012, 100; aus der Lit. statt aller Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 252; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 41a; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 30b; Preis, FS Bepler, S. 479 (485). 6 BAG v. 28.5.1997 – 4 AZR 663/95, NZA 1997, 1066 (1069 f.); BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 793/07, NZA 2009, 323 (328); Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 252; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 236; E. M. Willemsen, Bezugnahme auf Tarifvertrag, S. 209.

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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang

Rz. 128 Teil 15

Nach einer früher vom 4. Senat des BAG vertretenen Auffassung bewirkte die normative Geltung eines TVes neben einer individualvertraglich vereinbarten Inbezugnahme eines anderen TVes eine Tarifkonkurrenz, welche über die entsprechenden tarifrechtlichen Prinzipien (Spezialitätsgrundsatz) aufzulösen war1. Hierfür fehlt es jedoch nicht erst seit Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit durch die Rechtsprechung an einer dogmatischen Grundlage, da die Tarifnormkonkurrenz nicht auf derselben kollektivrechtlichen Geltungsebene besteht. Der 4. Senat hat seine Rechtsprechung inzwischen aufgegeben und geht nunmehr davon aus, dass die „Konkurrenz“ zwischen einer normativen und einer einzelvertraglichen Anwendbarkeit von TVen anhand des Günstigkeitsprinzips aufzulösen ist2. Demnach setzen die sich aus einer arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklausel für den Arbeitnehmer ergebenden günstigeren Konditionen im Vergleich zu den Bedingungen eines beim Erwerber normativ anwendbaren TVes auch dann durch, wenn dieser TV kraft beidseitiger Tarifgebundenheit auf das Arbeitsverhältnis einwirkt (s. allerdings Rz. 158 zur Frage einer abweichenden Vereinbarung im Sinne von § 613a Abs. 1 Satz 4 Alt. 2 BGB bei Vereinbarung einer großen dynamischen Bezugnahmeklausel). Dasselbe gilt bei Fehlen einer Gleichstellungsabrede für einen durch die Bezugnahmevereinbarung ggf. vermittelten Anspruch auf Weitergabe der Tarifdynamik (z.B. Lohnerhöhungen) im Verhältnis zu einer lediglich statischen Fortwirkung der betreffenden Tarifregelungen beim Erwerber gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB3. Eine Anpassung der Bezugnahmeklausel an die tariflichen Verhältnisse beim Erwerber über die Grundsätze der Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) kann allenfalls in Ausnahmefällen zum Tragen kommen, da man sonst stets zu einer – von den Parteien nicht vereinbarten – Tarifwechselabrede gelangen würde4. Die sich durch arbeitsvertragliche Bezugnahme ergebenden Ansprüche der übergegangenen Arbeitnehmer können weder durch Betriebsvereinbarung noch durch Regelungen eines Interessenausgleichs bzw. Sozialplans abbedungen werden5, schon weil auch insoweit das Günstigkeitsprinzip gilt. 1 BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, NZA 1991, 736 (738); BAG v. 28.5.1997 – 4 AZR 663/95, NZA 1997, 1066 (1070); BAG v. 23.3.2005 – 4 AZR 203/04, NZA 2005, 1003 (1005); offen gelassen von BAG v. 22.9.1993 – 10 AZR 207/92, NZA 1994, 667 (668 f.); zustimmend Hanau/Kania, Anm. zu BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, AP Nr. 20 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz. 2 BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, NZA 2008, 364 (366); BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 308/07, AP Nr. 64 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 1023/08, NZA-RR 2011, 30 (33); BAG v. 17.11.2010 – 4 AZR 391/09, NZA 2011, 356 (358); ebenso u.a. Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, 2012, S. 168 ff.; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 510; Thüsing/Braun/Heise, 11. Kap. Rz. 53; Bauer/Haußmann, DB 1999, 1114 (1117); Bayreuther, NZA 2007, 187 (190); Preis, FS Bepler, S. 479 (485); einschränkend Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 349. 3 BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (43); so auch Jacobs, BB 2011, 2037 (2039); Lambrich, FS Ehmann, S. 169, 232; Otto, Arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln, S. 183 f. 4 WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 202; a.A. Henssler, FS Wißmann, S. 133 (152 f.). 5 BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 765/06, AP Nr. 62 zu § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 766/06, ArbuR 2008, 181; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 202.

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Teil 15 129

Rz. 129

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

Zur Abgrenzung der in den Günstigkeitsvergleich einzubeziehenden Materie bedarf es eines Sachgruppenvergleichs der jeweiligen Regelungen1. Hierfür können im Prinzip dieselben Kriterien wie bei der Ermittlung einer Regelungskollision im Rahmen der Tarifablösung nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB zugrunde gelegt werden (vgl. dazu Rz. 97 ff.).

3. Überblick über die sich ergebenden Fallkonstellationen 130

In Abhängigkeit von dem jeweiligen Klauseltyp und der Tarifgebundenheit der Arbeitsvertragsparteien lässt sich das Schicksal einer arbeitsvertraglichen Bezugnahme auf TVe beim Betriebsübergang wie folgt systematisieren.

a) Statische Bezugnahme 131

Da eine vereinbarte statische Bezugnahmeklausel (nur) auf den konkret bezeichneten TV verweist, haben etwaige Änderungen der Tarifgeltung auf der kollektivrechtlichen Ebene keine Auswirkungen auf das Bezugnahmeobjekt. Der Betriebserwerber bleibt folglich – wie zuvor der Veräußerer – zur Anwendung des im Arbeitsvertrag konkret bezeichneten TVes in der konkret bezeichneten Fassung verpflichtet2. Etwaig auftretende Diskrepanzen zwischen den arbeitsvertraglich anwendbaren und evtl. tarifrechtlich oder kraft Fortgeltungsanordnung des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB auf das Arbeitsverhältnis einwirkenden Tarifnormen sind unter Anwendung des Günstigkeitsprinzips aufzulösen.

b) Kleine dynamische Bezugnahme 132

Im Falle einer kleinen dynamischen Bezugnahmeklausel ist zunächst danach zu unterscheiden, ob die Verweisungsklausel den Charakter einer (wirksamen) Gleichstellungsabrede aufweist oder ob die Klausel als konstitutiv-dynamisch wirkende Bezugnahme zu verstehen ist und daher nach dem Betriebsübergang entsprechend dem Wortlaut weiterhin dynamisch auf die in Bezug genommenen TVe verweist.

aa) Keine Tarifbindung des Erwerbers 133

Bei einer kleinen dynamischen Bezugnahmeklausel in Form einer Gleichstellungsabrede gelten die an sich dynamisch in Bezug genommenen bisherigen TVe nach dem Betriebsübergang nur noch statisch weiter, wenn der Erwerber anders als der Veräußerer nicht tarifgebunden ist3. Damit wird die sich für tarif1 Vgl. BAG v. 27.1.2004 – 1 AZR 148/03, NZA 2004, 667 (669); BAG v. 30.3.2004 – 1 AZR 85/03, AP Nr. 170 zu § 112 BetrVG 1972; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 532 ff.; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 467; Kort, SAE 2006, 247 (251). 2 Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 265; Thüsing/Braun/Heise, 11. Kap. Rz. 56; Otto, Arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln, S. 197; E. M. Willemsen, Bezugnahme auf Tarifvertrag, S. 212. 3 BAG v. 14.11.2007 – 4 AZR 861/06, NZA-RR 2008, 362 (366); BAG v. 10.12.2008 – 4 AZR 881/07, NZA-RR 2009, 537 (539); ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 41; Thüsing/Braun/ Heise, 11. Kap. Rz. 57; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 196; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 369; Henssler, FS Wißmann, S. 133 (150); Jacobs, BB 2011, 2037 (2039); a.A. wohl Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 264.

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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang

Rz. 137 Teil 15

gebundene Arbeitnehmer ergebende Rechtslage arbeitsvertraglich gespiegelt, da die bislang kollektivrechtlich anwendbaren TVe nach dem Betriebsübergang gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB nur noch statisch in der im Zeitpunkt des Betriebsübergangs gegebenen Fassung aufrechterhalten werden. Beispiel: Beim Veräußerer galt seit 2000 ein FirmenTV mit der IG Medien, wonach sich die Vergütung nach dem jeweiligen EntgeltTV für Angestellte des Zeitungsverlagsgewerbes richtete. In dem im Jahr 2001 abgeschlossenen Arbeitsvertrag des Arbeitnehmers wird auf den FirmenTV in der jeweiligen Fassung verwiesen. Das Arbeitsverhältnis geht Ende 2010 im Wege des Betriebsübergangs auf den nicht tarifgebundenen Erwerber über. Der Arbeitnehmer beansprucht die sich aus den jeweiligen Tarifabschlüssen ab 2011 ergebenden Lohnerhöhungen vom Erwerber1.

134

Da beim Betriebsübergang im Wege der Einzelrechtsnachfolge kein automatischer Eintritt des Erwerbers in den FirmenTV erfolgt, werden dessen Inhaltsnormen für die beim Veräußerer bislang tarifunterworfenen Arbeitnehmer gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB nach dem Übergang nur noch statisch aufrechterhalten. Nach dem Betriebsübergang erfolgende Tarifänderungen müssen vom Erwerber gegenüber den gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern nicht weitergegeben werden. Dies gilt auch für Änderungen eines in einem FirmenTV des Veräußerers in Bezug genommenen VerbandsTVes2. Die arbeitsvertragliche Bezugnahme ist nach der für vor dem 1.1.2002 abgeschlossene Altverträge noch anwendbaren Rechtsprechung als Gleichstellungsabrede zu werten, so dass individualvertraglich dasjenige zum Tragen kommt, was auch tarifrechtlich gilt. Demnach vermittelt die Gleichstellungsabrede keinen Anspruch auf Weitergabe von Lohnerhöhungen aus Tarifabschlüssen nach dem Zeitpunkt des Betriebsübergangs.

135

Beispiel: Der Veräußerer ist ein Metallunternehmen mit Hauptsitz in Hessen und Betrieben in mehreren Bundesländern. Der Veräußerer ist an die hessischen MetallTVe normativ gebunden. Der Betrieb in NRW wird im Jahre 2007 veräußert; der Erwerber ist nicht tarifgebunden. In den Arbeitsverträgen der übergegangenen Mitarbeiter wird auf die TVe der hessischen Metall- und Elektroindustrie in der jeweiligen Fassung verwiesen. Der im nordrhein-westfälischen Betrieb beschäftigte Arbeitnehmer macht unter Verweis auf seinen bereits 1990 abgeschlossenen Arbeitsvertrag Bezahlung gemäß den nach dem Betriebsübergang in der hessischen Metallindustrie verbesserten Tarifen geltend3.

136

Sofern die Bezugnahme auf einen für den Betrieb bzw. die tarifgebundenen Arbeitsverhältnisse nicht einschlägigen TV erfolgt (s. im Beispiel aufgrund der Verweisung auf einen gebietsfremden TV), lag schon nach früherer Rechtsprechung grundsätzlich keine Gleichstellungsabrede vor, so dass sich der Arbeitgeber auch nicht auf einen Vertrauensschutz wegen eines Altvertrages berufen

137

1 Nachgebildet BAG v. 29.8.2001 – 4 AZR 332/00, NZA 2002, 513 ff.; vgl. MüAnwHdBArb/Cohnen/Tepass, § 51 Rz. 104. 2 S. BAG v. 20.6.2001 – 4 AZR 295/00, NZA 2002, 517 (519); BAG v. 29.8.2001 – 4 AZR 332/00, NZA 2002, 513 (515); BAG v. 26.8.2009 – 5 AZR 969/08, NZA 2010, 173 (175). 3 Nachgebildet BAG v. 21.10.2009 – 4 AZR 396/08, NZA-RR 2010, 361 ff.; Vgl. auch BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 793/07, NZA 2009, 323 ff.; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 197.

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Teil 15

Rz. 138

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

konnte. In derartigen Konstellationen geht die Rechtsprechung grundsätzlich davon aus, dass die in der Klausel vorgesehene Dynamik unabhängig von der Tarifgebundenheit des Betriebserwerbers fortbesteht, da eine zur Statik der Klausel führende Gleichstellungswirkung bereits vor dem Betriebsübergang nur bei normativer Geltung des Bezugnahmeobjekts für den Arbeitgeber angenommen werden konnte1. Demnach ist die Bezugnahme nach dem Betriebsübergang weiterhin zeitlich-dynamisch auszulegen. Zum selben Ergebnis käme man im Falle der Verweisung auf einen für den Veräußerer fachfremden oder für den Arbeitnehmer persönlich nicht einschlägigen TV2. Eine von der normativen Tarifgeltung unabhängig ausgestaltete Klauseldynamik gilt auch für nach neuer Rechtsprechung zu behandelnde Neuverträge seit dem 1.1.2002, falls sich ein mit der Bezugnahme beabsichtigter Gleichstellungszweck nicht aus dem Vertragswortlaut ableiten lässt. 138

Fraglich ist, ob die Wirkung einer Gleichstellungsabrede auch so weit reichen kann, dass bei ersatzlosem Wegfall des in Bezug genommenen TVes auf der kollektivrechtlichen Ebene, welcher für die vor dem Betriebsübergang tarifgebundenen Arbeitsverhältnisse gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB zunächst beim Erwerber aufrechterhalten wurde, fortan auch die arbeitsvertragliche Geltung entfällt, weil die Bezugnahme insoweit ins Leere geht. Dies wäre im Lichte der bezweckten Gleichbehandlung von tarifgebundenen Arbeitnehmern und Außenseitern an sich konsequent und ist jedenfalls dann anzunehmen, wenn die Arbeitsvertragsparteien dies in der Bezugnahmeklausel ausdrücklich geregelt haben. Fehlt ein Anhaltspunkt in der Klauselformulierung dafür, dass bei Entfallen jeglicher Tarifgeltung für den Arbeitgeber auch keine weitere Anwendbarkeit des entfallenen TVes kraft Arbeitsvertrages gegeben sein soll, so widerspricht es jedenfalls für seit dem 1.1.2002 abgeschlossene Neuverträge AGB-rechtlichen Grundsätzen, insbesondere dem Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB, entgegen dem eindeutigen Wortlaut einer vereinbarten Bezugnahme davon auszugehen, dass diese bei kollektivrechtlichem Wegfall des konkreten Verweisungsobjektes vollständig ins Leere gehen soll. Für Altverträge sind gemäß Art. 229 § 5 EGBGB die Maßstäbe der §§ 305 ff. BGB zwar ebenfalls anzuwenden, jedoch ergeben sich insoweit aufgrund des vom BAG anerkannten Vertrauensschutzes in den Fortbestand der alten Gleichstellungsrechtsprechung erweiterte Auslegungsspielräume (vgl. Rz. 121). Auf Basis der früheren Auslegungsgrundsätze wäre daher nach Verlust der kollektivrechtlichen Bindung an den in Bezug genommenen TV jedenfalls nur noch eine statische Fortgeltung aufgrund der Bezugnahmeklausel anzunehmen. Da diese Konsequenz vom Wortlaut einer im Grundsatz dynamisch formulierten Gleichstellungsabrede ebenfalls nicht gedeckt ist, erscheint es keineswegs 1 Vgl. BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, NJW 2006, 2571 (2572); BAG v. 5.6.2007 – 9 AZR 241/06, NZA 2007, 1369 (1370); BAG v. 21.10.2009 – 4 AZR 396/08, NZA-RR 2010, 361 (363); anders BAG v. 21.8.2002 – 4 AZR 263/01, NZA 2003, 442 in einem Fall, in dem nur wenige Arbeitnehmer außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs des in Bezug genommenen TVes beschäftigt waren und somit nicht von der normativen Wirkung dieses TVes erfasst wurden. 2 WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 197; Jacobs, BB 2011, 2037 (2042); siehe auch BAG v. 21.10.2009 – 4 AZR 396/08, NZA-RR 2010, 361 (363).

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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang

Rz. 141 Teil 15

zwingend, mit Rücksicht auf den Klauselwortlaut – jedoch nunmehr entgegen dem Gleichstellungszweck – die Bezugnahme mit statischer Wirkung aufrechtzuerhalten, wenn der betreffende TV für die tarifgebundenen Arbeitsverhältnisse entfallen ist1. Allerdings ist die Inhaltsleere einer Gleichstellungsabrede in Form einer kleinen dynamischen Bezugnahme bei Wegfall des Verweisungsobjektes für Altverträge keineswegs gesicherte Erkenntnis, da diese Folge in der früheren Rechtsprechung soweit ersichtlich nur für große dynamische Bezugnahmeklauseln angenommen wurde2. Insofern kommt es auf eine ergänzende Vertragsauslegung an (vgl. dazu noch Rz. 152).

bb) Bestehende Tarifbindung des Erwerbers Für die Beurteilung der Auswirkungen eines Betriebsübergangs auf die arbeitsvertragliche Bezugnahme im Falle einer Tarifbindung des Erwerbers sind wie folgt mehrere Konstellationen zu unterscheiden.

139

(1) Geltung derselben Tarifverträge wie beim Veräußerer Bei identischer Tarifbindung von Betriebsveräußerer und Erwerber ist die Rechtslage unproblematisch. Ergeben sich für die Tarifgeltung auf der kollektivrechtlichen Ebene durch den Betriebsübergang keine Veränderungen, so bleibt der Gleichstellungscharakter der Bezugnahmeklausel auch nach dem Betriebsübergang erhalten. Die Klausel führt demnach weiterhin dazu, dass der in ihr bezeichnete TV dynamisch anzuwenden ist3. Dies gilt aufgrund des Klauselwortlautes der kleinen dynamischen Bezugnahme auch dann, wenn die Voraussetzungen für eine Auslegung als „echte“ Gleichstellungsabrede nach der früheren Rechtsprechung nicht erfüllt sind, weil die Verweisung einen beim Arbeitgeber nicht normativ geltenden TV betrifft4.

140

(2) Geltung anderer Tarifverträge als beim Veräußerer Schwieriger sind Konstellationen zu beurteilen, in denen der Betriebserwerber anderweitig tarifgebunden ist und damit eine kollektivrechtliche Fortgeltung des beim Veräußerer anwendbaren TVes nicht möglich ist. In diesem Szenario ist weiterhin danach zu differenzieren, ob die TV-Partei auf Seiten der Gewerkschaft bei Veräußerer und Erwerber übereinstimmt oder aber der Erwerber an TVe einer anderen Gewerkschaft als der Veräußerer gebunden ist. Während es auf der kollektivrechtlichen Ebene im erstgenannten Fall für die entsprechend gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer gemäß § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB zu einer Tarifablösung kommt, ist dies im zweiten Fall mangels kongruenter Tarifbindung der Arbeitnehmer ausgeschlossen. 1 A.A. für den Wegfall einer Tarifbindung selbst bei Vereinbarung einer großen dynamischen Bezugnahmeklausel Jordan/Bissels, NZA 2010, 71 (73). 2 Siehe etwa BAG v. 4.8.1999 – 5 AZR 642/98, NZA 2000, 154 (155). 3 WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 198; E. M. Willemsen, Bezugnahme auf Tarifvertrag, S. 231 f. 4 BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, NJW 2006, 2571 (2572); BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 793/07, NZA 2009, 323 (326); BAG v. 24.2.2010 – 4 AZR 691/08, NZA-RR 2010, 530 (534); Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 256; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 41a.

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141

Teil 15

Rz. 142

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

Beispiel:

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Ein Unternehmen der Chemieindustrie überträgt seinen in NRW ansässigen Betrieb auf einen ebenfalls der Branche zugehörigen Erwerber. Der Veräußerer ist an die VerbandsTVe der chemischen Industrie, die von der Gewerkschaft IGBCE abgeschlossenen wurden, gebunden. In den Anstellungsverträgen der übergehenden Arbeitnehmer wird auf die TVe der chemischen Industrie in der jeweils gültigen Fassung verwiesen. Bei dem Betriebserwerber gelten ebenfalls mit der IGBCE abgeschlossene FirmenTVe.

143

Es stellt sich die Frage, ob es in derartigen Fällen auch bei Vorliegen einer kleinen dynamischen Bezugnahme entsprechend der sich auf normativer Ebene vollziehenden Tarifablösung (§ 613a Abs. 1 Satz 3 BGB) zu einem Tarifwechsel kommen kann. Auf der Grundlage des Arguments, dass die Bezugnahmeklausel nur dasjenige widerspiegeln will, was auch für Tarifgebundene gilt, wird ein Tarifwechsel auf der vertraglichen Ebene auch bei Vorliegen einer einfachen Gleichstellungsabrede in der Literatur für möglich gehalten1. Für diese Ansicht spricht, dass nur durch eine konsequente Gleichstellung eine regelmäßig nicht beabsichtigte vertragliche Besser- oder Schlechterstellung von Außenseitern gegenüber Gewerkschaftsmitgliedern nach dem Betriebsübergang verhindert wird2. Das BAG hat dieses Ergebnis in einer bereits länger zurückliegenden Einzelfallentscheidung bei einem mit einem Branchenwechsel verbundenen Betriebsübergang über die Annahme einer Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) begründet3.

144

Indes muss auf Basis der jüngeren Rechtsprechung davon ausgegangen werden, dass ein Tarifwechsel nur dann möglich ist, wenn ein hierauf gerichteter Wille der Vertragsparteien in der Bezugnahmeklausel eindeutig zum Ausdruck kommt oder zumindest besondere Umstände vorliegen, die auf einen derartigen Parteiwillen schließen lassen4. Wie das BAG unlängst noch einmal hervorgehoben hat, haben die Auslegungsgrundsätze zur Gleichstellungsabrede nicht zum Inhalt, den Arbeitnehmer in jeder Hinsicht wie einen tarifgebundenen Arbeitnehmer zu behandeln, sondern ihn vertraglich lediglich so zu stellen, als wäre er an den in der Klausel genannten TV gebunden, und damit die zeitliche Dynamik der Verweisung auf die Dauer der Tarifbindung des Arbeitgebers zu begrenzen5. Soweit keine ausdrückliche Tarifwechselabrede vorliegt oder sich ein entsprechender Parteiwille zumindest aus den Umständen ableiten lässt, 1 Vgl. Erman/Edenfeld, § 613a BGB Rz. 94; MünchKomm/Müller-Glöge, § 613a BGB Rz. 145; Soergel/Raab, § 613a BGB Rz. 130; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 372; Henssler, FS Wißmann, S. 133 (151); Hromadka, DB 1996, 1872 (1877); Kania, DB 1995, 625 (628). 2 Erman/Edenfeld, § 613a BGB Rz. 94; Seitz/Werner, NZA 2000, 1257 (1266); E. M. Willemsen, Bezugnahme auf Tarifvertrag, S. 237. 3 Vgl. BAG v. 1.4.1987 – 4 AZR 77/86, NZA 1987, 593 (596). Eine früher z.T. vorgeschlagene analoge Anwendung des § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB auf die übergehenden, nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer (s. Henssler, FS Schaub, S. 311 (322 f.)) hat das BAG abgelehnt; s. BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, NZA 2008, 364 (366). 4 BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 581/99, NZA 2001, 510 (511); BAG v. 16.10.2002 – 4 AZR 467/01, NZA 2003, 390 (392); BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, NZA 2008, 364 (365); BAG v. 15.4.2008 – 9 AZR 159/07, NZA-RR 2008, 586 (592); BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (45). 5 BAG v. 6.7.2011 – 4 AZR 706/09, NZA 2012, 100 (105 f.).

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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang

Rz. 145 Teil 15

wird ein Wechsel der für den Betrieb kollektivrechtlich einschlägigen TVe auf individualvertraglicher Ebene tendenziell nicht durch eine kleine dynamische Bezugnahmeklausel nachvollzogen1. Diese These dürfte vor dem Hintergrund der Hinwendung der Rechtsprechung zu einer primär am Wortlaut orientierten Auslegung von Bezugnahmeklauseln heute umso größeres Gewicht beanspruchen2. Die Rechtsprechung geht nunmehr davon aus, dass sich die Vertragsparteien an der von ihnen gewählten Klauselformulierung festhalten lassen müssen, soweit entgegenstehende Umstände bei Vertragsschluss nicht erkennbar sind3. Danach ist es für einen Tarifwechsel grundsätzlich erforderlich, dass der Wortlaut der Bezugnahmeklausel aufgrund einer entsprechend weiten Formulierung eine Einbeziehung des beim Erwerber geltenden TVes ermöglicht. Dadurch wird allerdings nicht per se ausgeschlossen, dass die Bezugnahmeklausel im Einzelfall auch über ihren Wortlaut hinaus ausgelegt werden kann, wenn besondere Umstände vorliegen, aus denen zu schließen ist, dass nach dem Willen der Vertragsparteien auch in der Klausel nicht ausdrücklich bezeichnete TVe Anwendung finden sollen4. Sofern auf die jeweiligen TVe einer bestimmten Branche verwiesen wurde, ist darin eine bewusst umfassende Formulierung zu erblicken, welche alle für den Arbeitgeber bzw. den Betriebserwerber einschlägigen TVe dieser Branche einschließen soll und zwar – jedenfalls bei Identität der tarifschließenden Gewerkschaft – unabhängig von der Qualität des Bezugnahmeobjekts als Verbands- oder FirmenTV5. Jedenfalls erscheint es hier folgerichtig, die Geltung speziellerer, mit derselben Gewerkschaft abgeschlossener FirmenTVe als besonderen Umstand anzuerkennen, welcher eine arbeitsvertragliche Anwendung dieser TVe auch im Falle einer Bezugnahme auf die hierdurch verdrängten VerbandsTVe ermöglicht. Bezieht sich die Verweisung hingegen auf die von einem bestimmten Arbeitgeberverband abgeschlossenen TVe und fehlt es an Anhaltspunkten dafür, dass auch ergänzende, ersetzende oder abändernde TVe erfasst werden sollen, so ist zumindest unklar, ob in Anbetracht der heutigen Anforderungen an eine transparente Vertragsgestaltung noch davon ausgegangen werden kann, dass die Klausel einen beim Betriebserwerber mit derselben Gewerkschaft abgeschlossenen Fir1 BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (45); BAG v. 17.11.2010 – 4 AZR 391/09, NZA 2011, 356 (357 f.); BAG v. 17.11.2010 – 4 AZR 408/09, n.v.; BAG v. 6.7.2011 – 4 AZR 706/09, NZA 2012, 100 (105 f.); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 127; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 30b; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 237; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 372; Henssler, FS Wißmann, S. 133 (149); Jacobs, Tarifeinheit, S. 321; Jacobs, BB 2011, 2037 (2039); a.A. LAG Hamm v. 22.4.2008 – 9 Sa 2230/07, NZA-RR 2008, 478 (480 f.). 2 Ebenso WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 201; vgl. auch BAG v. 22.9.2010 – 4 AZR 98/09, NZA 2011, 879. 3 BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, NZA 2006, 607 (609 f.); BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965 (967); BAG v. 17.11.2010 – 4 AZR 408/09, n.v. 4 Siehe BAG v. 23.1.2008 – 4 AZR 602/06, DB 2008, 2598; BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (44 f.); WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 186; Bepler, RdA 2009, 65 (76). 5 BAG v. 22.9.2010 – 4 AZR 98/09, NZA 2011, 879; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 186 u. Rz. 201; ähnlich Reinecke, BB 2006, 2637 (2641); zum Fall eines SanierungsTVes auf Verbandsebene vgl. BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 468/05, NZA 2007, 634 ff.

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145

Teil 15

Rz. 146

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

menTV mit einbeziehen soll1. Für den Fall einer Verweisung auf den jeweiligen MantelTV in einem vor dem 1.1.2002 abgeschlossenen Arbeitsvertrag hat es der 10. Senat des BAG allerdings für möglich gehalten, dass von der Bezugnahme auch ein mit der betreffenden Gewerkschaft abgeschlossener RestrukturierungsTV umfasst war, wobei der Senat maßgeblich auf den beabsichtigten Gleichstellungszweck der Bezugnahme und ergänzend auf die von den Parteien praktizierte Durchführung des Arbeitsvertrages abgestellt hat2. Auch der 4. Senat hat einen mit derselben Gewerkschaft abgeschlossenen FirmenTV als von einer Bezugnahme auf einen VerbandsTV mit umfasst angesehen, da die Vertragsparteien im Zweifel die fachlich und betrieblich einschlägigen TVe in Bezug nehmen wollten3. Als zusätzliches Indiz für die gewollte Geltung der für den Betrieb einschlägigen Rechtsnormen wurde in der Entscheidung der – wegen § 77 Abs. 4 BetrVG an sich überflüssige – arbeitsvertragliche Hinweis auf die Geltung etwaiger Betriebsvereinbarungen gewertet. Inzwischen hat sich der 4. Senat allerdings von dieser Rechtsprechung distanziert4. Für die Praxis wird man letztlich resümieren müssen, dass beim Betriebsübergang nach heutigem Stand von einem Tarifwechsel auf der arbeitsvertraglichen Ebene nur dann mit Sicherheit ausgegangen werden kann, wenn die vorhandenen Bezugnahmeklauseln unabhängig vom Vertragsdatum eindeutig als große dynamische Klausel formuliert sind5. Beispiel:

146

Ein Betrieb wird auf ein Speditionsunternehmen übertragen, welches an die TVe für Spediteure und Hafenanleger gebunden ist. Beim Veräußerer galten zuvor kraft Verbandsmitgliedschaft die TVe der Druckindustrie mit der IG Medien. In den Anstellungsverträgen wird auf die „Bestimmungen des jeweiligen Manteltarifvertrages der Druckindustrie“ verwiesen. Der Arbeitnehmer verlangt nach Vollzug des Betriebsübergangs weiterhin eine Vergütung nach den jeweiligen TVen der Druckindustrie6.

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Nach der für Altverträge maßgeblichen Auslegung des BAG ist die in dem Beispiel verwendete Bezugnahmeklausel auch ohne besondere Klarstellung dieses Zwecks eine Gleichstellungsabrede, jedoch nicht in Form einer großen dynamischen Klausel bzw. Tarifwechselklausel7. Aufgrund des Erfordernisses der beiderseitigen Tarifgebundenheit von Arbeitnehmer und Erwerber entfalten die beim Erwerber geltenden TVe für die beim Veräußerer tarifgebundenen Arbeitsverhältnisse keine ablösende Wirkung nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB, sondern es kommt wegen der inkongruenten Tarifbindung zur statischen Aufrechterhaltung des vor dem Betriebsübergang normativ geltenden TVes gemäß 1 Ablehnend Röller/Wißmann, FS Küttner, S. 465 (471); in der Tendenz auch WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 201; a.A. Hanau, NZA 2005, 489 (491). 2 Siehe BAG v. 14.12.2005 – 10 AZR 296/05, NZA 2006, 744 (745); ebenso LAG Schleswig-Holstein v. 21.10.2004 – 1 Sa 66/04, n.v. 3 BAG v. 23.3.2005 – 4 AZR 203/04, NZA 2005, 1003 (1005); siehe auch BAG v. 4.9.1996 – 4 AZR 135/95, NZA 1997, 271 (272); offen lassend BAG v. 15.2.2006 – 4 AZR 4/05, NZA 2006, 1128. 4 BAG v. 6.7.2010 – 4 AZR 706/09, NZA 2012, 100 (105) m.w.N. 5 Ebenso WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 202. 6 Nachgebildet BAG v. 21.2.2001 – 4 AZR 18/00, NZA 2001, 1318 ff. 7 BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 5891/99, NZA 2001, 510 ff.; Fieberg, NZA 2005, 1226 (1227); Greiner, NZA 2009, 877 (878); vgl. auch WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 183.

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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang

Rz. 149 Teil 15

§ 613a Abs. 1 Satz 2 BGB. Dieses Ergebnis ist auch für den Inhalt der Gleichstellungsabrede nach dem Betriebsübergang maßgeblich, so dass aufgrund des Arbeitsvertrages die Weitergabe der künftigen Tarifentwicklung aus den beim Veräußerer einschlägigen TVen nicht verlangt werden kann1. Eine Bezugnahmeklausel, die lediglich zeitlich-dynamisch auf bestimmte TVe oder TVe einer bestimmten Branche verweist, lässt sich regelmäßig nicht in dem Sinne auslegen, dass damit nach einem Betriebsübergang TVe einer anderen Branche oder einer anderen Gewerkschaft in Bezug genommen sind2. Für nach neuer Rechtsprechung zu behandelnde Anstellungsverträge seit dem 1.1.2002 gilt die zeitliche Dynamik der Verweisungsklausel hingegen auch nach dem Betriebsübergang, sofern die Gleichstellungsabsicht im Vertragswortlaut nicht zum Ausdruck kommt. Ein Tarifwechsel findet nach der Rechtsprechung auf Grundlage einer kleinen dynamischen Bezugnahmeklausel grundsätzlich nicht statt.

c) Große dynamische Bezugnahme Im Fall einer großen dynamischen Bezugnahmeklausel bzw. Tarifwechselklausel sollen die jeweils tarifrechtlich für den Betrieb des Arbeitgebers einschlägigen TVe auf die arbeitsvertragliche Ebene übertragen werden. Eine große, d.h. zeitlich und sachlich, dynamische Wirkung hat das BAG bspw. einer Bezugnahme auf die „jeweils für den Arbeitgeber geltenden TVe“3 oder die „jeweiligen TVe der Betriebsstätte, in denen der Mitarbeiter eingesetzt wird“4 zuerkannt. Hingegen wurde die Formulierung „Im Übrigen gelten die Bestimmungen des anzuwendenden TVes in seiner jeweils gültigen Fassung“ vom BAG als zirkelschlüssig und damit unzureichend angesehen5. Im Hinblick auf die möglichen Folgen einer großen dynamischen Bezugnahme beim Betriebsübergang ist wiederum je nach Tarifgeltung beim Erwerber zwischen dem Übergang auf einen tarifgebundenen und dem Übergang auf einen tarifungebundenen Betriebserwerber zu differenzieren.

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aa) Keine Tarifbindung des Erwerbers Geht der Betrieb von einem tarifgebundenen Arbeitgeber auf einen Erwerber über, der keiner Tarifgeltung unterliegt, erweist sich die große dynamische Klausel bei wortlautgetreuer Auslegung als inhaltsleer, da es fortan an einem Objekt der Bezugnahme fehlt. Nimmt man die Klausel beim Wort, so dürfte in 1 Siehe BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 5891/99, NZA 2001, 510 (511); BAG v. 29.8.2001 – 4 AZR 332/00, NZA 2002, 513 (516 f.); BAG v. 14.11.2007 – 4 AZR 861/06, NZA-RR 2008, 362 (366); BAG v. 10.12.2008 – 4 AZR 881/07, NZA-RR 2009, 537 (539); ErfK/ Franzen, § 3 TVG Rz. 41; MüAnwHdbArb/Cohnen/Tepass, § 51 Rz. 114; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 196; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 369; Henssler, FS Wißmann, S. 133 (150). 2 BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 581/99, NZA 2001, 510 (511); BAG v. 21.2.2001 – 4 AZR 18/00, NZA 2001, 1318 (1324); WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 203; Annuß, RdA 2000, 179 (182); Henssler, FS Wißmann, S. 133 (152); E. M. Willemsen, Bezugnahme auf Tarifvertrag, S. 247 f. 3 BAG v. 16.2.2002 – 4 AZR 467/01, NZA 2003, 390 ff. 4 BAG v. 4.8.1999 – 5 AZR 642/98, NZA 2000, 154 f. 5 BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1029 (1030).

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Teil 15

Rz. 150

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

einer solchen Konstellation nach dem Betriebsübergang kraft der Bezugnahme kein TV auf das Arbeitsverhältnis Anwendung finden. Lediglich für die vor ihrem Übergang tarifgebundenen Arbeitnehmer kommt es zur statischen Fortgeltung der bisherigen TVe gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB. Beispiel:

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Im Arbeitsvertrag des seit 1999 beim Betriebsveräußerer beschäftigten Arbeitnehmers findet sich eine große dynamische Bezugnahmeklausel, wonach die für den Arbeitgeber jeweils geltenden TVe in ihrer jeweils gültigen Fassung zur Anwendung kommen sollen. Im Jahr 2010 geht der Betriebsteil, in dem der nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer beschäftigt wurde, auf einen nicht tarifgebundenen Arbeitgeber über. Der Arbeitnehmer verlangt weiterhin die Anwendung der beim Veräußerer vormals vertraglich angewendeten Tarifbedingungen1.

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Wäre in diesem Fall eine kleine dynamische Bezugnahmeklausel vereinbart worden, wäre nach dem Betriebsübergang weiterhin der in der Klausel konkret bezeichnete TV in seiner zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs geltenden Fassung statisch anzuwenden gewesen. Dies ergibt sich aus einer Gleichstellung mit der tarifrechtlichen Situation für die beim Veräußerer noch tarifgebundenen Arbeitsverhältnisse (§ 613a Abs. 1 Satz 2 BGB). Bei Verwendung einer großen dynamischen Bezugnahmeklausel lässt sich nach dem Betriebsübergang auf einen tarifungebundenen Arbeitgeber jedoch anhand des Vertragswortlautes aufgrund des Wegfalls des Bezugnahmeobjektes nicht mehr feststellen, welcher TV fortan von der Verweisung erfasst sein soll. Dies gilt allerdings nur dann, wenn die Klausel so ausgelegt wird, dass es auf eine kollektivrechtliche Bindung des Arbeitgebers an die jeweiligen TVe ankommt und nicht nur die fachlichen und räumlichen Tarifstandards der Branche als Bezugnahmeobjekt fungieren sollen. Für eine Bezugnahme auf die normativ gültigen TVe spricht es, wenn der Arbeitgeber bei Vertragsabschluss selbst entsprechend tarifgebunden war. Das BAG ist in einer älteren Entscheidung davon ausgegangen, dass bei einem Betriebsübergang von einem tarifgebundenen auf einen nicht tarifgebundenen Arbeitgeber und damit dem Wegfall der Tarifbindung auf der kollektivrechtlichen Ebene eine große dynamische Bezugnahme ihren materiellrechtlichen Bedeutungsgehalt verliert2. Nach dem Betriebsübergang finde daher keine Tarifregelung aufgrund der Bezugnahmeklausel auf das Arbeitsverhältnis mehr Anwendung. Einer anderen Ansicht zufolge soll bei fehlender Tarifgeltung beim Erwerber ebenso wie im Falle seiner Bindung an mit einer anderen Gewerkschaft abgeschlossene TVe auch bei Vorliegen einer großen dynamischen Bezugnahmeklausel grundsätzlich von einer statischen Fortgeltung der zuvor qua Bezugnahme angewendeten TVe auszugehen sein3.

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Sofern die Parteien den Fall einer Tariflosigkeit bei Vereinbarung der Bezugnahme nicht vorhergesehen oder zumindest als nicht regelungsbedürftig angesehen haben, müssen die Folgen eines Tarifwegfalls durch ergänzende Vertragsauslegung unter Berücksichtigung der Parteiinteressen ermittelt wer1 Ähnlich BAG v. 4.8.1999 – 5 AZR 642/98, NZA 2000, 154 ff. 2 BAG v. 4.8.1999 – 5 AZR 642/98, NZA 2000, 154 (155). 3 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 41; MüAnwHdbArb/Cohnen/Tepass, § 51 Rz. 106; Jordan/ Bissels, NZA 2010, 71 (73).

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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang

Rz. 154 Teil 15

den1. Aus der vereinbarten Dynamik könnte gefolgert werden, dass die Parteien die Arbeitsbedingungen nicht in einer bestimmten Weise festschreiben wollten. Gegen die Annahme einer weiteren dynamischen Anwendung der TVe des Veräußerers spricht jedoch, dass der Arbeitnehmer dann trotz fehlender Tarifbindung des Erwerbers sogar besser gestellt wäre als im Falle der Vereinbarung einer weniger flexiblen kleinen dynamischen Bezugnahme in Form einer Gleichstellungsabrede. Ob es im Übrigen stets interessengerecht ist, zur Vermeidung einer Inhaltsleere der Bezugnahme bei einem tarifungebundenen Erwerber zumindest von einer statischen Fortgeltung der bislang aufgrund der Klausel angewendeten TVe auszugehen, ist fraglich2. Denn hierbei müsste unterstellt werden, dass sich die Arbeitsvertragsparteien im für die ergänzende Vertragsauslegung maßgeblichen Zeitpunkt des Vertragsabschlusses3 trotz der Verwendung einer möglichst flexiblen Klausel auf der individualrechtlichen Ebene intensiver an die Geltung der TVe binden wollten, als es auf der kollektivrechtlichen Ebene der Fall ist. Allerdings ist unter Zugrundelegung der neueren Rechtsprechung zur Auslegung von Verweisungsklauseln und den hiernach geltenden verschärften Transparenzanforderungen fraglich, ob von einer völligen Wirkungslosigkeit der Bezugnahme auch dann ausgegangen werden kann, wenn diese mögliche Folge nicht im Wortlaut der Bezugnahme angelegt ist4. In der Praxis sollten vor diesem Hintergrund die bezweckten Folgen eines Wegfalls der normativen Tarifbindung des Arbeitgebers in der Bezugnahmeklausel klargestellt werden. Diese Regelungen sind dann auch für den Betriebsübergang auf einen tariflosen Erwerber zugrunde zu legen.

bb) Bestehende Tarifbindung des Erwerbers Unproblematisch ist der Fall einer mit der Situation beim Veräußerer identischen Tarifbindung des Erwerbers. Hier bewirkt die große dynamische Bezugnahme die weitere dynamische Anwendbarkeit der auch schon vor dem Betriebsübergang auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren TVe.

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Ist der Betriebserwerber an andere TVe gebunden als der Betriebsveräußerer, so vollzieht eine große dynamische Bezugnahmeklausel den Tarifwechsel mit. Die Bezugnahme geht nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB zusammen mit dem Arbeitsvertrag auf den Betriebserwerber über und führt zur Anwendung des beim Erwerber kollektivrechtlich geltenden TVes auf der individualrechtlichen Ebene5. Dies gilt grundsätzlich auch für den Fall, dass der Betriebsübergang mit ei-

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1 Vgl. auch BAG v. 18.5.2011 – 5 AZR 213/09, DB 2011, 1695; BAG v. 6.7.2011 – 4 AZR 706/09, NZA 2012, 100 (103 f.). 2 A.A. MüAnwHdbArb/Cohnen/Tepass, § 51 Rz. 106; Jordan/Bissels, NZA 2010, 71 (73). 3 Vgl. nur BGH v. 20.9.1993 – II ZR 104/92, NJW 1993, 3193 (3194); MünchKomm/Busche, § 157 BGB Rz. 49; Palandt/Ellenberger, § 157 BGB Rz. 7. 4 Vgl. Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, 2012, S. 309 f.; Preis/Greiner, NZA 2007, 1073 (1079). 5 BAG v. 28.5.1997 – 4 AZR 663/95, NZA 1997, 1066 (1069 f.); BAG v. 25.9.2002 – 4 AZR 294/01, NZA 2003, 807 (808); BAG v. 21.10.2009 – 4 AZR 396/08, NZA-RR 2010, 361 (362); BAG v. 24.2.2010 – 4 AZR 691/08, NZA-RR 2010, 530 (533); Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 252; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 41a; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 30b; Lakies, Vertragsgestaltung, 2011, Rz. 175; Jacobs, BB 2011, 2037 (2040).

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Teil 15

Rz. 155

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

nem Branchenwechsel verbunden ist oder die ErwerberTVe mit einer anderen Gewerkschaft abgeschlossen wurden, da im Falle einer ausreichend flexibel formulierten Tarifwechselklausel nach dem Willen der Vertragsparteien die jeweilige Tarifbindung des Arbeitgebers für das Anstellungsverhältnis maßgeblich sein soll1. Vor dem Hintergrund des Transparenzgebots (§ 307 Abs. 1 Satz 2 BGB) und der Unklarheitenregel (§ 305c Abs. 2 BGB) ist für die Gestaltungspraxis allerdings zu einer ausdrücklichen Klarstellung zu raten, dass die Bezugnahme im Anschluss an einen Branchenwechsel oder Betriebsübergang auch TVe einer anderen Branche oder einer anderen Gewerkschaft umfassen soll2. Beispiel:

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Der Veräußerer, ein im kommunalen Arbeitsgeberverband organisiertes Klinikum, überträgt seinen Betriebsteil Gebäudereinigung an ein Unternehmen des Gebäudereinigerhandwerks. Während der Veräußerer an die TVe für gemeindliche Verwaltungen und Betriebe gebunden war, gelten beim Erwerber die einschlägigen TVe des Gebäudereinigerhandwerks. Im Arbeitsvertrag einer vom Betriebsteilübergang betroffenen Reinigungskraft ist eine große dynamische Bezugnahmeklausel enthalten, wonach die „jeweils geltenden TVe in ihrer jeweils geltenden Fassung“ auf das Arbeitsverhältnis Anwendung finden. Der Arbeitnehmer verlangt von dem Erwerber eine Vergütung nach den TVen für gemeindliche Verwaltungen und Betriebe3.

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In dieser Konstellation kommt es aufgrund der vereinbarten Tarifwechselklausel zur Anwendung der bei dem neuen Arbeitgeber normativ einschlägigen TVe und damit zur Tarifablösung auf der vertraglichen Ebene. Voraussetzung hierfür ist es, dass der Erwerber – wie im Beispiel – kraft eigener Tarifbindung an die bei ihm angewendeten TVe gebunden ist4. Dies erscheint folgerichtig, soweit der Betriebsveräußerer bei Vereinbarung der Bezugnahmeklausel ebenfalls tarifgebunden war und somit ein Gleichstellungszweck verfolgt wurde. Erfolgte die Bezugnahme hingegen auf die räumlich und fachlich jeweils für den Betrieb „einschlägigen“ BranchenTVe, weil die Bedingungen der TVe der jeweiligen Branche trotz fehlender Tarifbindung des Arbeitgebers als Standard gelten sollten, so dürfte sich im Falle eines Betriebsübergangs mit Branchenwechsel aufgrund der Geltung der großen dynamischen Bezugnahmeklausel auch auf der arbeitsvertraglichen Ebene ein Tarifwechsel hin zu den nunmehr einschlägigen Tarifbedingungen der Erwerberbranche vollziehen5.

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Im Hinblick auf die beim Veräußerer vor dem Betriebsübergang tarifgebundenen Arbeitnehmer ist zu berücksichtigen, dass für diese die bisherigen TVe gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB in der bisherigen Fassung fortwirken. Die bei gleichzeitiger Vereinbarung einer Tarifwechselklausel im Arbeitsvertrag auftretende Kollision zwischen der vertraglichen Geltung der beim Erwerber einschlägigen TVe und den nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB statisch aufrechterhal1 BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 784/07, NZA 2009, 151 (152 f.); BAG v. 17.11.2010 – 4 AZR 391/09, NZA 2011, 356 (358 f.); ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 36; Henssler, FS Wißmann, S. 133 (138 f.). 2 Vgl. Preis/Preis, Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 113; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 204. 3 Nachgebildet BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, NZA 2008, 364 ff. 4 S. BAG v. 16.10.2002 – 4 AZR 467/01, NZA 2003, 390 (392); WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 205; a.A. Lambrich, FS Ehmann, S. 169 (233 f.). 5 Vgl. auch Lambrich, FS Ehmann, S. 169 (233 f.).

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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang

Rz. 158 Teil 15

tenen Tarifbedingungen des Veräußerers ist durch die Anwendung des Günstigkeitsprinzips aufzulösen. Zu der vorbeschriebenen Kollisionslage kommt es allerdings nicht, wenn man anerkennt, dass auch eine im Arbeitsvertrag bereits vor dem Betriebsübergang vereinbarte große dynamische Bezugnahmeklausel als Abrede im Sinne des § 613a Abs. 1 Satz 4 Alt. 2 BGB zu qualifizieren ist1. Nach dieser Vorschrift können an sich der Fortwirkung gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB unterworfene Tarifnormen im Falle fehlender beidseitiger Tarifgebundenheit beim Erwerber auch während der einjährigen Veränderungssperre geändert werden, wenn im Geltungsbereich eines anderen TVes dessen Anwendung zwischen Erwerber und Arbeitnehmer vereinbart wird. Mit Blick auf den Gesetzeswortlaut sowie den Ausnahmecharakter der Vorschrift wird vertreten, dass diese auf eine im übergegangenen Arbeitsvertrag bereits enthaltene Tarifwechselklausel nicht anwendbar sei2. Die Gegenauffassung hält es hingegen zu Recht für unschädlich, wenn die Bezugnahme, aufgrund derer das Arbeitsverhältnis den beim Erwerber einschlägigen TVen unterstellt wird, bereits vor dem Betriebsübergang vereinbart wurde3. Dafür spricht die ratio von § 613a Abs. 1 Satz 4 Alt. 2 BGB, wonach die Fortwirkung „fremder“ Tarifbedingungen nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB zurücktreten soll, wenn die Arbeitsvertragsparteien in privatautonomer Weise eine abweichende Regelung getroffen haben. Die Ablösung der aufrechterhaltenen Tarifregelungen durch individualvertraglich inkorporierte Tarifbedingungen wird vom Gesetzgeber zugelassen, weil den global in Bezug genommenen Regelungen eines einschlägigen TVes eine Richtigkeitsgewähr unterstellt wird, die auch unter Schutzfunktionsgesichtspunkten ein Absehen von der weiteren Anwendung der früheren Tarifbedingungen durch Unterstellung unter die nunmehr prinzipiell für das Arbeitsverhältnis einschlägigen TVe rechtfertigt4. Hierfür spielt der Zeitpunkt der Vereinbarung der Bezugnahmeklausel keine Rolle. Auch die Gesetzesbegründung legt eine zwingende Unterscheidung anhand des Vereinbarungszeitpunktes als formales Anwendbarkeitskriterium für § 613a Abs. 1 Satz 4 Alt. 2 BGB nicht nahe5. Ferner ist im Hinblick auf die nicht unähnliche Regelung des § 4 Abs. 5 TVG aner1 Das BAG hat dies bislang soweit ersichtlich offen gelassen: vgl. BAG v. 21.2.2001 – 4 AZR 18/00, NZA 2001, 1318 (1324); bei einer kleinen dynamischen Bezugnahme stellt sich die Frage nur, wenn diese ausnahmsweise zu einer Anwendung der neuen TVe des Erwerbers führt. 2 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 41a; Heinze, FS Schaub, S. 275 (293); Lambrich, FS Ehmann, S. 169 (234); Thüsing/Lambrich, RdA 2002, 193 (212); E. M. Willemsen, Bezugnahme auf Tarifvertrag, S. 228. 3 HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 283; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 235; Thüsing/Braun/Heise, 11. Kap. Rz. 54; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 206; Annuß, RdA 2000, 179 (182); Hanau, NZA 2005, 489 (492); Henssler, FS Wißmann, S. 133 (154); Jacobs, NZA-Beilage 1/2009, 45 (51); Jacobs, BB 2011, 2037 (2040); Müller-Bonanni/Mehrens, ZIP 2012, 1217 (1223); Rinck, RdA 2010, 216 (223); im Ergebnis auch Bauer/Göpfert/Haußmann/Krieger, Umstrukturierung, Teil 4 C Rz. 30. 4 WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 206; Henssler, FS Wißmann, S. 133 (154); Rinck, RdA 2010, 216 (223); E. M. Willemsen, Bezugnahme auf Tarifvertrag, S. 229. 5 Vgl. BT-Drucks. 8/3317, S. 1. Dort wird maßgeblich darauf abgestellt, dass sich die Vereinbarung auf die Anwendung des für den Erwerber einschlägigen Tarifwerkes beziehen muss.

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Teil 15

Rz. 159

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

kannt, dass eine andere Abmachung im Sinne dieser Norm, die zur Ablösung eines nicht mehr zwingend geltenden TVes genügt, auch vor dem Eintritt des TVes in das Nachwirkungsstadium geschlossen worden sein kann1. Zwar vergleicht das BAG die Phase der Veränderungssperre eher mit dem Nachbindungszeitraum des § 3 Abs. 3 TVG2. Trotzdem lässt sich die Wertung übertragen, da § 613a Abs. 1 Satz 4 Alt. 2 BGB die Weitergeltung der vormals normativ anwendbaren Tarifbestimmungen ähnlich wie § 4 Abs. 5 TVG zur privatautonomen Disposition der Parteien stellt3. Art. 3 Abs. 3 RL/2001/23 EG steht dieser weiten Interpretation nicht entgegen, da die Aufrechterhaltung der bisherigen Kollektivbedingungen dort nur unter dem Vorbehalt gewährleistet ist, dass beim Erwerber kein anderer Kollektivvertrag angewendet wird. Dies ist jedoch aufgrund einer geeigneten arbeitsvertraglichen Tarifwechselklausel möglich. Folgt man dieser Argumentation, so kommt es im obigen Beispielsfall (vgl. Rz. 155) auch für die beim Veräußerer tarifgebundenen Arbeitnehmer mit entsprechenden Verweisungsklauseln zur Tarifablösung unter Ausschluss einer Fortwirkung der bisherigen TVe gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2, Satz 4 Alt. 2 BGB.

VI. Unterrichtung der Arbeitnehmer über die tarifrechtlichen Rechtsfolgen 1. Darstellung der tariflichen Rechtsfolgen im Unterrichtungsschreiben beim Betriebsübergang (§ 613a Abs. 5 BGB) 159

Bei einem Betriebs- oder Betriebsteilübergang unterliegen Veräußerer und Erwerber gemäß § 613a Abs. 5 BGB gesamtschuldnerisch einer umfassenden Unterrichtungspflicht gegenüber den vom Übergang betroffenen Arbeitnehmern. Rechtsfolge einer fehlenden, nicht formgerechten (Textform, § 126b BGB) oder inhaltlich nicht ordnungsgemäßen Information ist, dass die einmonatige Widerspruchsfrist gegen den Übergang des Arbeitsverhältnisses nach § 613a Abs. 6 BGB nicht ausgelöst wird und – in den Grenzen der Verwirkung – ein rückwirkender Widerspruch auch ggf. erhebliche Zeit nach dem Betriebsübergang noch vom Arbeitnehmer erklärt werden kann4. Zudem kommt eine Schadensersatzpflicht des Arbeitgebers gegenüber dem Arbeitnehmer in Betracht5.

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Für die zur Auslösung der Widerspruchsfrist erforderliche ordnungsgemäße und vollständige Unterrichtung gelten hohe Anforderungen. Die erteilten In1 BAG v. 23.2.2005 – 4 AZR 186/04, NZA 2005, 1320; BAG v. 17.1.2006 – 9 AZR 41/05, NZA 2006, 923 (925); WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 206. 2 BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (46 f.). 3 Ebenso WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 206; Jacobs, BB 2011, 2037 (2040). 4 BAG v. 13.7.2006 – 8 AZR 305/05, NZA 2006, 1268 (1270); BAG v. 23.7.2009 – 8 AZR 538/08, NZA 2010, 89 (91); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 93; Hohenstatt/Grau, NZA 2007, 13 (18); zur Verwirkung des Widerspruchsrechts u.a. BAG v. 2.4.2009 – 8 AZR 262/07, NZA 2009, 1149 (1150 ff.); Dzida, NZA 2009, 641; Menke/Jacobsen, NZA-RR 2010, 393; Rudkowski, NZA 2010, 739; Sagan, ZIP 2011, 1641 (1647 ff.). 5 S. BAG v. 31.1.2008 – 8 AZR 1116/06, NZA 2008, 642 ff.; BAG v. 20.3.2008 – 8 AZR 1022/08, NZA 2008, 1297 ff.; dazu näher Grau, RdA 2005, 367 ff.; Lunk, RdA 2009, 48 ff.

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formationen müssen inhaltlich zutreffend sein und dürfen keine juristischen Fehler beinhalten; lediglich im Kern richtige Angaben sind nach der Rechtsprechung des BAG nicht ausreichend zur Erfüllung der Unterrichtungspflicht1. Bei komplexen Rechtsfragen genügt eine vertretbare Darstellung, wobei der Arbeitgeber die Rechtslage sorgfältig prüfen muss, ggf. Rechtsrat einzuholen und die höchstrichterliche Rechtsprechung zu beachten hat2. Ein Anwendungsfall für einen solchen Vertretbarkeitsspielraum kann beispielsweise die Darstellung der Auswirkungen von Bezugnahmeklauseln sein3. Ein Spielraum sollte auch für stark wertungsabhängige Fragen anerkannt werden, wie z.B. die Abgrenzung der kollidierenden Regelungsgegenstände in Fällen der Tarifablösung gemäß § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB. Schließlich wird vorausgesetzt, dass das Unterrichtungsschreiben in einer für juristische Laien möglichst verständlichen Sprache abgefasst wird4, was erfahrungsgemäß gerade im Hinblick auf die komplexen Vorschriften des § 613a Abs. 1 Satz 2–4 BGB wegen des gleichzeitigen Gebotes der präzisen Unterrichtung Schwierigkeiten bereitet. Kernbestandteil der Unterrichtung sind die rechtlichen Folgen des Übergangs (§ 613a Abs. 5 Nr. 3 BGB). Hierbei bedarf es mindestens eines Eingehens auf die in § 613a Abs. 1 – 4, 6 BGB geregelten Aspekte. Zum zwingenden Bestandteil der Unterrichtung zählen damit auch Angaben zu den Auswirkungen des Betriebsübergangs auf die Kollektivvereinbarungen wie beispielsweise TVe. Sofern Maßnahmen in Aussicht genommen sind, welche sich auf die Tarifgeltung auswirken, besteht zudem eine Informationspflicht nach § 613a Abs. 5 Nr. 4 BGB. Zu beachten ist, dass nach der Rechtsprechung wegen des Zwecks der Unterrichtung, den Arbeitnehmern eine informierte Entscheidung über einen etwaigen Widerspruch zu ermöglichen, auch mittelbare Folgen für die Arbeitnehmer in die Information einbezogen werden müssen, soweit dies als adäquate Wissensgrundlage erforderlich ist. Die Reichweite einer Unterrichtungspflicht über Sekundärfolgen des Übergangs ist allerdings noch nicht abschließend geklärt. Sofern beispielsweise im Falle des Widerspruchs eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses beim Veräußerer in Betracht kommt und sich die für die Arbeitsverhältnisse vormals geltenden tariflichen Rahmenbedingungen beim Veräußerer ändern (z.B. Herausfallen aus dem Geltungsbereich der bisherigen TVe infolge des Betriebsübergangs), sollte in der Praxis erwogen werden, entsprechende Angaben neben einer Schilderung der Tarifgeltung beim Erwerber zumindest vorsorglich in das Unterrichtungsschreiben aufzunehmen. Al1 BAG v. 13.7.2006 – 8 AZR 305/05, NZA 2006, 1268 (1272); BAG v. 23.7.2009 – 8 AZR 538/08, NZA 2010, 89 (93); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 85; kritisch Willemsen, NZABeilage 4/2008, 155 (160); zurückhaltend Hanau, FS Küttner, S. 357 (373); Joppich/Kania, FS Küttner, S. 383 (392). 2 BT-Drucks. 14/7760, S. 19; BAG v. 14.12.2006 – 8 AZR 763/05, NZA 2007, 682 (685); BAG v. 10.11.2011 – 8 AZR 430/10, NZA 2012, 584; LAG Düsseldorf v. 1.4.2005 – 18 Sa 1950/04, DB 2005, 1741 (1742); Bernsau/Dreher/Hauck, Betriebsübergang, 2007, § 613a BGB Rz. 139. 3 S. BAG v. 13.7.2006 – 8 AZR 303/05, NZA 2006, 1273 (1274); so auch BAG v. 10.11.2011 – 8 AZR 430/10, NZA 2012, 584; Hohenstatt/Grau, NZA 2007, 13 (18); Reinhard, NZA 2009, 63 (65). 4 BAG v. 13.7.2006 – 8 AZR 305/05, NZA 2006, 1268 (1271); BAG v. 14.12.2006 – 8 AZR 763/05, NZA 2007, 682 (684); zur Rechtsprechung s. Grau, AE 2010, S. 130 ff. m.w.N.

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lerdings sprechen auch unter Berücksichtigung der Gesetzmaterialien gute Gründe dafür, dass eine derart weitgehende Unterrichtung nicht zwingend ist1. Zu den erforderlichen Bestandteilen der Unterrichtung zählt die Angabe, ob und auf welcher Grundlage (Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband, FirmenTV, Allgemeinverbindlichkeit) beim Betriebserwerber TVe Anwendung finden. Die tarifschließende Gewerkschaft ist abgesehen von Fällen der Allgemeinverbindlichkeit ebenfalls zu nennen, da die Arbeitnehmer nur so ermitteln können, ob die TVe aufgrund ihrer eigenen Gewerkschaftszugehörigkeit für das Arbeitsverhältnis kollektivrechtlich gelten. Eines inhaltlichen Eingehens auf einzelne TVe des Erwerbers bedarf es grundsätzlich nicht, sofern es nicht gerade im Hinblick auf den Betriebsübergang zu wesentlichen Modifizierungen einer geltenden Kollektivregelung kommt2. In Fällen eines Tarifwechsels trägt es allerdings erheblich zur Transparenz der Unterrichtung bei, wenn die beim Erwerber einschlägigen TVe unter Angabe ihres Titels oder ggf. ihres wesentlichen Regelungsgegenstandes z.B. in einer Anlage zum Informationsschreiben aufgelistet werden, um weitere Erkundigungen zu ermöglichen. Denn die Unterrichtung soll die Arbeitnehmer in die Lage versetzen, sich bei Bedarf eigenverantwortlich weitergehend über die Auswirkungen des Betriebsübergangs für ihr Arbeitsverhältnis zu informieren3. Daher hat es sich vielfach eingebürgert, in die Unterrichtung einen Hinweis aufzunehmen, dass und wo die wesentlichen Kollektivverträge des Erwerbers eingesehen werden können (z.B. im Personalbüro, Intranet). Die Informationsverpflichtung erstreckt sich auch darauf, wie ggf. die bisherigen TVe des Veräußerers für die bislang tarifgebundenen Arbeitsverhältnisse weiter gelten4, d.h. ob aufgrund identischer Tarifgebundenheit des Erwerbers unmittelbar kollektivrechtlich in der jeweiligen Fassung oder aufgrund gesetzlicher Fortgeltungsanordnung des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB lediglich in statischer Form unter Ausschluss einer künftigen Tarifdynamik. Die lediglich pauschale Angabe, dass TVe und Betriebsvereinbarungen nach dem Betriebsübergang gemäß § 613a BGB weiter gelten, ist damit für eine ordnungsgemäße Unterrichtung nicht ausreichend5. Sofern ein mehrschichtiger Bestand von teils verdrängten TVen gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB aufrechterhalten wird, sollte einschlägigenfalls auf die möglichen Konsequenzen der neuen Rechtsprechung bei nachwirkungslosem Fortfall des verdrängenden TVes eingegangen werden (vgl. dazu Rz. 64 ff.), falls derartige tarifliche Veränderungen konkret absehbar sind. Noch nicht abschließend geklärt ist, ob in Bezug auf die aufrechterhaltenen Tarifbedingungen auch auf die einjährige Veränderungssperre in § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB, auf ihre Ausnahmen (§ 613a Abs. 1 Satz 4 BGB) sowie allgemein auf spätere kollektivrechtliche Ablösungsmöglichkeiten 1 Näher Grau, Unterrichtung und Widerspruchsrecht, S. 174 ff. m.w.N. 2 BAG v. 13.7.2006 – 8 AZR 305/05, NZA 2006, 1268 (1272); BAG v. 23.7.2009 – 8 AZR 538/08, NZA 2010, 89 (93). 3 Vgl. die Regierungsbegründung, BT-Drucks. 14/7760, S. 19; BAG v. 13.7.2006 – 8 AZR 303/05, NZA 2006, 1273 (1276); Grau, Unterrichtung und Widerspruchsrecht, S. 98 ff. 4 BAG v. 13.7.2006 – 8 AZR 305/05, NZA 2006, 1268 (1272); BAG v. 23.7.2009 – 8 AZR 538/08, NZA 2010, 89 (93); Bernsau/Dreher/Hauck/Dreher, Betriebsübergang, § 613a BGB Rz. 140; HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 327. 5 BAG v. 23.7.2009 – 8 AZR 538/08, NZA 2010, 89 (93).

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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang

Rz. 165 Teil 15

durch § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB hingewiesen werden muss. Wenngleich aufgrund vorsorglicher Gestaltung hierzu oftmals Ausführungen gemacht werden, erscheint die Annahme einer grundsätzlichen Erstreckung der Informationspflicht auf abstrakte Rechtsausführungen, ob und inwieweit Arbeitsbedingungen künftig geändert werden könnten, als zu ausufernd1. Ein Anlass zum Eingehen auf diese Punkte besteht aber, wenn der Erwerber Änderungen oder eine Ablösung der nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fortgeltenden Bedingungen plant (vgl. auch § 613a Abs. 5 Nr. 4 BGB). Auch für etwaige überobligatorische Angaben im Unterrichtungsschreiben gilt im Übrigen, dass diese zutreffend sein müssen und kein unvollständiges Bild vermitteln dürfen. Noch nicht abschließend geklärt ist, ob in Fällen einer nur teilweisen Ablösung von TVen im Unterrichtungsschreiben dezidiert darauf eingegangen werden muss, welche Bedingungen beim Erwerber durch inhaltlich kollidierende TVe gemäß § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB abgelöst werden und welche der bisherigen Tarifbedingungen kraft § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB statisch fortgelten. Einerseits würde die Bereitstellung eines kompletten „Tarifvergleichs“ regelmäßig zur völligen Überfrachtung der Unterrichtung führen und wäre damit der Lesbarkeit und Verständlichkeit abträglich. Andererseits kann in der lediglich statischen Aufrechterhaltung bestimmter besonders zentraler materieller Arbeitsbedingungen durchaus ein für einen etwaigen Widerspruch entscheidungserheblicher und damit informationsrelevanter Umstand liegen. Dafür, welche (überlicherweise durch TV) geregelten Arbeitsbedingungen insoweit als besonders wesentlich anzusehen sind, liefert der Katalog des § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 bis 9 NachwG Anhaltspunkte. Eine Unterscheidung zwischen abgelöster und statisch fortgeltender Materie dürfte jedenfalls dann obsolet sein, wenn der Erwerber aufgrund von Bezugnahmeklauseln die bisherigen TVe des Veräußerers ohnehin weiter dynamisch anwenden muss, sofern keine günstigere Kollektivregelung des Erwerbers greift. Im Übrigen liegt ein als Lösung geeigneter Mittelweg darin, in der Unterrichtung die Grundsätze bezüglich der Ablösung oder Aufrechterhaltung der bisherigen TVe zu beschreiben und den Arbeitnehmern die TVe des Erwerbers zum Nachlesen zugänglich zu machen, so dass sie sich bei Interesse selbst ein genaues Bild davon machen können, welche Themen beim Erwerber kollektivrechtlich geregelt sind2. Dabei muss wegen der laufenden Widerspruchsfrist sicher gestellt sein, dass die Arbeitnehmer tatsächlich Zugang zu den TVen haben3.

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Erforderlicher Bestandteil der Unterrichtung sind auch die sich aus Bezugnahmeklauseln für die Anwendung von TVen ergebenden Auswirkungen4.

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1 Wie hier in Bezug auf die Veränderungssperre MüAnwHdbArb/Cohnen/Tepass, § 52 Rz. 38; Grau, Unterrichtung und Widerspruchsrecht, S. 158; wohl auch BAG v. 10.11.2011 – 8 AZR 430/10, NZA 2012, 584; a.A. APS/Steffan, § 613a BGB Rz. 209; Huke, FA 2002, 263 (267); Sayatz/Wolf, DStR 2002, 2039 (2041). 2 Vgl. HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 327; MüAnwHdbArb/Cohnen/ Tepass, § 52 Rz. 39; Grau, AE 2010, 130 (133); so nun auch BAG v. 10.11.2011 – 8 AZR 430/10, NZA 2012, 584. 3 Vgl. für die Ersetzung von Einzelangaben durch Verweisung im Rahmen des NachwG ErfK/Preis, § 2 NachwG Rz. 31. 4 BAG v. 13.7.2006 – 8 AZR 303/05, NZA 2006, 1273 (1274); MüAnwHdbArb/Cohnen/ Tepass, § 52 Rz. 37; Meyer, NZA-Beilage 4/2008, 173 f.; Reinhard, NZA 2009, 63 (65).

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Rz. 166

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

Eine standardisierte Unterrichtung ist grundsätzlich zulässig, wobei jedoch etwaige Besonderheiten des Arbeitsverhältnisses nicht außer Betracht bleiben dürfen1. Fraglich ist, inwieweit ggf. auf unterschiedliche Varianten von Bezugnahmeklauseln einzugehen ist. Gerade bei Übernahmen größerer Betriebe mit einer historisch bedingten Vielzahl von Klauselvarianten in den Anstellungsverträgen stößt dies auf erhebliche Schwierigkeiten. Die Unterrichtung muss aber zumindest so formuliert sein, dass der Arbeitnehmer die für sein Arbeitsverhältnis gültigen tariflichen Folgen durch Subsumtion unter die bereit gestellten Informationen ermitteln oder sich darauf basierend zumindest weitergehend erkundigen kann2. Sofern sich beispielsweise die Rechtsfolgen einer vorhandenen Gleichstellungsabrede für Alt- und Neuverträge unterscheiden, muss daher in der Unterrichtung zumindest abstrakt auf die unterschiedlichen Folgen hingeweisen werden.

2. Nachweis einer Änderung wesentlicher Vertragsbedingungen 166

Das Nachweisgesetz verpflichtet den Arbeitgeber zur schriftlichen Niederlegung und Aushändigung des Inhaltes der vereinbarten wesentlichen Vertragsbedingungen, welche in § 2 Abs. 1 Satz 2 NachwG im Sinne eines Mindestkataloges näher umschrieben sind. Dazu gehört auch ein in allgemeiner Form gehaltener Hinweis auf die für das Arbeitsverhältnis ggf. geltenden TVe. Die Verpflichtung zur schriftlichen Fixierung der wesentlichen Arbeitsbedingungen dient der Rechtssicherheit und -klarheit im Arbeitsverhältnis und der Rechtsdurchsetzung durch den Arbeitnehmer3. Diese Verpflichtung entsteht nicht nur im Zusammenhang mit dem Beginn des Arbeitsverhältnisses (§ 2 Abs. 1 NachwG), sondern gemäß § 3 NachwG auch im Falle einer Änderung der wesentlichen Vertragsbedingungen, sofern es sich nicht um eine bloße Änderung der Kollektivvereinbarungen handelt, die für das Arbeitsverhältnis gelten. Finden erstmals (neue) TVe auf das Arbeitsverhältnis Anwendung, so greift die Nachweispflicht ein, da auf das Arbeitsverhältnis anwendbare TVe wesentliche Vertragsbedingungen sind und eine bloße Änderung voraussetzt, dass eine tarifvertragliche Regelung bereits besteht4. Die Nachweispflicht aus § 3 NachwG kann daher sowohl bei unternehmensinternen Umstrukturierungen mit der Folge der Geltung neuer TVe als auch bei Geltung neuer TVe infolge eines Betriebsübergangs zum Tragen kommen. Die Unterrichtungspflicht gemäß § 613a Abs. 5 BGB ergänzt die Informationspflichten des Arbeitgebers

1 BAG v. 13.7.2006 – 8 AZR 305/05, NZA 2006, 1268 (1271); BAG v. 14.12.2006 – 8 AZR 763/05, NZA 2007, 682 (684); APS/Steffan, § 613a BGB Rz. 209; HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 320; Hohenstatt/Grau, NZA 2007, 13 (14). 2 BAG v. 10.11.2011 – 8 AZR 430/10, NZA 2012, 584. 3 Vgl. BT-Drucks. 13/668, S. 8; HWK/Kliemt, Vorb. NachwG Rz. 4; Melms/Weck, RdA 2006, 171; Preis, NZA 1997, 10; zu den Rechtsfolgen von Verstößen gegen die Nachweispflicht im Überblick ErfK/Preis, Einf. NachwG Rz. 11 ff. m.w.N., sowie BAG v. 17.4.2002 – 5 AZR 89/01, NZA 2002, 1096 ff. 4 S. BAG v. 5.11.2003 – 5 AZR 469/02, NZA 2004, 102 (104); BAG v. 3.5.2006 – 4 AZR 189/05, NZA 2006, 1420 (1422); ErfK/Preis, § 3 NachwG Rz. 1; HWK/Kliemt, § 3 NachwG Rz. 4.

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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang

Rz. 167 Teil 15

aus dem NachwG bezogen auf den Betriebsübergang1; beide Pflichten bestehen jedoch hinsichtlich ihrer Voraussetzungen und Rechtsfolgen unabhängig voneinander. Da eine ausdrückliche Kennzeichnung der Information als Niederschrift im Sinne des Nachweisgesetzes nicht erforderlich ist2, ist es jedoch möglich und zulässig, mit der Unterrichtung gemäß § 613a Abs. 5 BGB zugleich eine etwaige Verpflichtung des Erwerbers zum Nachweis einer Änderung wesentlicher Vertragsbedingungen zu erfüllen, soweit zugleich den diesbezüglichen inhaltlichen Anforderungen des Nachweisgesetzes entsprochen wird.

VII. Übersicht: Tarifgeltung nach Betriebsübergang Die folgende Übersicht bezieht sich auf den Fall des § 613a BGB im Wege der Einzelrechtsübertragung. Veräußerer ist nicht tarifgebunden Fehlende Tarifbindung beim Erwerber

Tarifgeltung auf tarifrechtlicher Grundlage

Nicht vorhanden, da weder Erwerber noch Veräußerer tarifgebunden sind

Statische Bezugnahmeklausel

Statische Anwendung des bezeichneten TVes

Auslegung als Gleichstellungsabrede: Kleine dynamische Bezugnah- nicht möglich, da Tarifgebundenheit des Veräußerers fehlte meklausel Dynamische Anwendung des bezeichneten TVes durch den Erwerber gemäß Wortlaut Große dynaKlausel inhaltsleer (str.), da weder bei mische Bezugnah- Veräußerer noch beim Erwerber ein meklausel TV normativ gilt Kollisionsverhältnis: Kollision nicht denkbar, da keine tarifrechtliche Geltung von TVen neben der Bezugnahmeklausel in Betracht kommt Tarifbindung des Erwerbers

Tarifgeltung auf tarifrechtlicher Grundlage

Für Außenseiter: keine Für Gewerkschaftsmitglieder: gemäß §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG (erstmalige) Geltung des TVes beim Erwerber

1 BAG v. 13.7.2006 – 8 AZR 305/05, NZA 2006, 1268 (1272); LAG Hamm v. 11.3.2002 – 8 Sa 1249/01, n.v.; HWK/Kliemt, § 3 NachwG Rz. 5; Melms/Weck, RdA 2006, 171; Schnitker/Grau, BB 2005, 2238 (2240). 2 ErfK/Preis, § 2 NachwG Rz. 2; Preis, NZA 1997, 10 (16).

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Teil 15

Rz. 167

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

Veräußerer ist nicht tarifgebunden Tarifbindung des Erwerbers

Statische Bezugnahmeklausel

Statische Anwendung des bezeichneten TVes

Auslegung als Gleichstellungsabrede: Kleine dynamische Bezugnah- nicht möglich, da Tarifgebundenheit des Veräußerers fehlte meklausel Dynamische Anwendung des bezeichneten TVes durch den Erwerber gemäß Wortlaut Dynamische Anwendung des beim ErGroße dynamische Bezugnah- werber normativ geltenden TVes meklausel Kollisionsverhältnis: Nur für normativ an den TV des Erwerbers gebundene Arbeitnehmer mit statischer/kleiner dynamischer Verweisung auf anderen TV denkbar fi Auflösung gemäß Günstigkeitsprinzip Erwerber ist nicht Tarifgeltung auf tarifgebunden tarifrechtlicher Grundlage

Für Außenseiter: keine; Fortgeltung von Tarifregelungen des Veräußerers gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB ist ausgeschlossen Für Gewerkschaftsmitglieder: Statische Aufrechterhaltung der Tarifbedingungen des Veräußerers gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB

Statische Bezugnahmeklausel

Statische Anwendung des bezeichneten TVes

Kleine dynaAuslegung als Gleichstellungsabrede: mische Bezugnah- Statische Anwendung der Tarifbedinmeklausel gungen des Veräußerers, da Widerspiegeln der tarifrechtlichen Lage Im Übrigen: Dynamische Anwendung des bezeichneten TVes durch den Erwerber gemäß Wortlaut Folgen wie bei Gleichstellungsabrede: Große dynamische Bezugnah- Statische Anwendung der Tarifbedingungen des Veräußerers entsprechend meklausel § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB (h.M.)

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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang

Rz. 167 Teil 15

Veräußerer ist nicht tarifgebunden Erwerber ist nicht Kollisionsverhältnis: Zwischen nach § 613a Abs. 1 tarifgebunden Satz 2 BGB fortgeltenden Regelungen und qua Bezugnahme anwendbaren Regelungen fi Auflösung gemäß Günstigkeitsprinzip (im Falle der Gleichstellungsabrede allerdings wegen statischer Fortgeltung identischer Tarifregelungen keine Kollision denkbar) Erwerber ist an den gleichen TV gebunden wie Veräußerer

Tarifgeltung auf tarifrechtlicher Grundlage

Für Außenseiter: keine; Fortgeltung von Tarifregelungen des Veräußerers gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB ist ausgeschlossen Für Gewerkschaftsmitglieder: Kollektivrechtliche Fortgeltung des bisher auch beim Veräußerer geltenden TVes gemäß §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG

Statische Bezugnahmeklausel

Statische Anwendung des bezeichneten TVes

Kleine dynaAuslegung als Gleichstellungsabrede: mische Bezugnah- Klausel behält ihren Zweck bei und meklausel verweist weiter dynamisch auf den bezeichneten TV; nach evtl. späterem Wegfall der Tarifbindung nur statische Wirkung Im Übrigen: Dynamische Anwendung des bezeichneten TVes durch den Erwerber gemäß Wortlaut (auch über den Zeitpunkt eines möglichen Wegfalls der Tarifbindung hinaus) Klausel verweist nach wie vor auf den Große dynamische Bezugnah- normativ geltenden TV; nach evtl. späterem Wegfall der normativen Gelmeklausel tung des TVes nur noch statische Wirkung Kollisionsverhältnis: Wegen gleicher normativer Tarifbindung von Veräußerer und Erwerber ist Kollision nur für den Fall denkbar, dass Bezugnahme konstitutiv auf anderweitige TVe verweist fi Auflösung gemäß Günstigkeitsprinzip

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Rz. 167

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

Veräußerer ist tarifgebunden Erwerber ist an Tarifgeltung auf anderen, mit an- tarifrechtlicher Grundlage derer Gewerkschaft geschlossenen TV gebunden

Für Außenseiter: keine; Fortgeltung von Tarifregelungen des Veräußerers gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB ist ausgeschlossen Für Gewerkschaftsmitglieder

Mitgliedschaft in Gewerkschaft des Veräußerers: Statische Fortgeltung des beim Veräußerer geltenden TVes gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB Mitgliedschaft in Gewerkschaft des Erwerbers: Kollektiv-rechtliche Geltung des ErwerberTVes gemäß §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG

Statische Bezug- Statische Anwendung des bezeichneten nahmeklausel TVes Kleine dynamische Bezugnahmeklausel

Auslegung als Gleichstellungsabrede: statische Inbezugnahme des bisherigen TVes; Tarifwechsel nur bei „besonderen Umständen“ möglich (h.M.) Im Übrigen: Dynamische Anwendung des bezeichneten TVes durch den Erwerber gemäß Wortlaut

Große dynamische Bezugnahmeklausel

Klausel vollzieht den Tarifwechsel mit und verweist auf den beim Erwerber mit der anderen Gewerkschaft abgeschlossenen TV

Kollisionsverhältnis: – Zwischen nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fortgeltender Regelung und Bezugnahmeklausel: sowohl hinsichtlich des materiellen Inhalts der Tarifregelung als auch hinsichtlich der zeitlichen Dynamik fi Günstigkeitsprinzip; Ausnahme: große dynamische Bezugnahmeklausel, dann gilt § 613a Abs. 1 Satz 4 Alt. 2 BGB und Bezugnahmeinhalt geht vor (str.) – Zwischen kraft kongruenter Tarifbindung geltenden TVRegelungen und Bezugnahmeklausel: sowohl hinsichtlich des materiellen Inhalts der Tarifregelung als auch hinsichtlich der zeitlichen Dynamik fi Günstigkeitsprinzip (§ 4 Abs. 3 TVG)

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Auswirkungen einer gesellschaftsrechtlichen Umstrukturierung

Rz. 168 Teil 15

Veräußerer ist tarifgebunden Tarifgeltung auf Erwerber ist an anderen, mit glei- tarifrechtlicher Grundlage cher Gewerkschaft geschlossenen TV gebunden

Für Außenseiter: keine; Fortgeltung von Tarifregelungen des Veräußerers gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB ist ausgeschlossen

Statische Bezugnahmeklausel

Statische Anwendung des bezeichneten TVes

Für Gewerkschaftsmitglieder: Tarifablösung durch beim Erwerber geltenden TV gemäß § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB unter statischer Aufrechterhaltung nicht abgelöster Regelungsmaterie aus früheren TVen im Übrigen (§ 613a Abs. 1 Satz 2 BGB)

Auslegung als Gleichstellungsabrede: Kleine dynamische Bezugnah- statische Inbezugnahme des „alten“ TVes; Tarifwechsel nur bei „besondemeklausel ren Umständen“ möglich oder wenn ErwerberTV vom Wortlaut mit umfasst (str. bei Verweis auf BranchenTVe im Falle eines FirmenTVes des Erwerbers) Im Übrigen: Dynamische Anwendung des bezeichneten TVes durch den Erwerber gemäß Wortlaut Klausel vollzieht den Tarifwechsel Große dynamische Bezugnah- mit und verweist auf den beim Erwerber normativ gültigen TV meklausel Kollisionsverhältnis: Zwischen ablösenden/kollektivrechtlich geltenden Tarifbestimmungen und Bezugnahmeklausel fi Günstigkeitsprinzip (§ 4 Abs. 3 TVG)

D. Auswirkungen einer gesellschaftsrechtlichen Umstrukturierung (insbesondere Unternehmensumwandlung) auf die Tarifgeltung Neben der Übertragung eines Betriebs im Wege einer Einzelrechtsnachfolge stellt sich auch bei Umstrukturierungsmaßnahmen, die sich primär auf der gesellschaftsrechtlichen Ebene vollziehen, die Frage nach den Auswirkungen auf die Tarifgeltung.

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Rz. 169

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

I. Unternehmensverkauf/Gesellschafterwechsel 1. Tarifrechtliche Neutralität eines Gesellschafterwechsels 169

Ein Unternehmensverkauf im Wege eines sog. share deals, bei dem die Anteile an einem Unternehmen auf einen neuen Inhaber übertragen werden, hat grundsätzlich keine Auswirkungen auf die Tarifgebundenheit oder die Geltung von TVen1. Die Änderung betrifft allein die Person des Gesellschafters, ohne dass die Betriebe des Unternehmens und die dortigen Arbeitsbedingungen hiervon berührt werden. Auch die Person des Arbeitgebers als tarifunterworfener Rechtsträger nach §§ 3, 5 TVG wird nicht betroffen. Ein Gesellschafterwechsel ist daher in tarifrechtlicher Hinsicht regelmäßig „neutral“.

2. Besonderheiten bei konzerneinheitlich geltenden Tarifverträgen und Tarifgemeinschaften 170

Soweit ein FirmenTV inhaltlich auf Konzernverhältnisse bezogen ist und nach Ausscheiden des Unternehmens aus dem Konzernverbund ausnahmsweise undurchführbar wird, führt dies nicht automatisch zum Wegfall seiner normativen Geltung für das tarifgebundene Unternehmen2. Denkbar ist in dem Fall die Anerkennung eines (ggf. außerordentlichen) Kündigungsrechts oder eine Anpassung des TVes über das Institut der Störung der Geschäftsgrundlage3, sofern einer Tarifpartei ein Festhalten an dem TV nicht mehr zumutbar ist. Gegebenenfalls besteht hier eine Obliegenheit der Tarifparteien zur Nachverhandlung, da wegen Art. 9 Abs. 3 GG eine richterliche Vertragsanpassung ausgeschlossen ist4. Abgesehen davon können bei TVen mit Konzernbezug folgende Besonderheiten bei Änderung der Konzernverhältnisse zum Tragen kommen.

a) Tarifgeltung bei Ausscheiden aus dem Konzern 171

Da der Konzern mangels Rechtspersönlichkeit weder Arbeitgeber sein kann noch als Arbeitgebervereinigung zu qualifizieren ist, ist er gemäß § 2 Abs. 1 TVG nicht tariffähig5. Der Abschluss eines „KonzernTVes“ durch einen Konzern auf Arbeitgeberseite ist daher im Rechtssinne nicht möglich6. Denkbar ist es je1 BAG v. 12.7.1990 – 2 AZR 39/90, NZA 1991, 63 (64); Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 132; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 74; Deinert, RdA 2001, 368 (369). 2 Vgl. Höpfner, Arbeitsrecht im Konzern, 2010, S. 115 (135); Rieble, Konzern 2005, 549 (556). 3 Zur umstrittenen Anwendbarkeit des Instituts einer Störung der Geschäftsgrundlage auf TVe und zum Verhältnis zum Kündigungsrecht siehe nur HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 35 m.w.N. 4 Vgl. HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 35; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 523 f. m.w.N. (2. Aufl. 2004). 5 BAG v. 12.2.2007 – 4 AZR 1058/06, n.v.; BAG v. 17.10.2007 – 4 AZR 1005/06, NZA 2008, 713 (715); Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 98; Thüsing/Braun/Emmert, 2. Kap. Rz. 169; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 141; Thüsing, ZIP 2003, 693 (698). 6 Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 98; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 359; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 141 ff.

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Rz. 172 Teil 15

doch, die einheitliche Geltung eines TVes für mehrere konzernangehörige Unternehmen herzustellen, indem beispielsweise ein firmenbezogener VerbandsTV nach seinem Geltungsbereich einheitlich für die Unternehmen eines bestimmten Konzerns abgeschlossen wird, mehrere Unternehmen ein anderes Konzernunternehmen zum Abschluss eines TVes bevollmächtigen oder die Konzernunternehmen einen gleich lautenden FirmenTV abschließen (sog. mehrgliedriger TV)1. Wird im letztgenannten Fall die konzerneinheitliche Tarifgeltung dadurch realisiert, dass die Konzernunternehmen mehrere TVe in eigenständigen Urkunden abschließen, wird terminologisch auch von einem mehrgliedrigen TV im weiteren Sinne, bei Abschluss in einer einzelnen Urkunde von einem mehrgliedrigen TV im engeren Sinne gesprochen2. Sofern ein Unternehmen aus dem Konzernverbund ausscheidet, kann sich ein Gesellschafterwechsel ausnahmsweise auf die weitere Tarifgeltung auswirken. Zwar tritt durch das Herausfallen aus dem Konzern grundsätzlich keine Änderung der Tarifbindung des Arbeitgebers im Sinne von §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG ein. Dennoch kann eine unveränderte normative Weitergeltung des TVes bei dem betreffenden Unternehmen ausgeschlossen sein, wenn dieser gemäß den von den Tarifparteien zu seinem Geltungsbereich getroffenen Bestimmungen nur unter der Voraussetzung gelten soll, dass der Arbeitgeber Teil desjenigen Konzerns ist, für den die einheitlichen Tarifbedingungen abgeschlossen wurden. Fällt das erworbene Unternehmen aufgrund der gesellschaftsrechtlichen Transaktion aus dem Konzern und damit zugleich dem Geltungsbereich des TVes heraus, ist eine Fallkonstellation gegeben, die mit dem Herauswachsen aus dem fachlichen Geltungsbereich eines TVes vergleichbar ist. In derartigen Fällen kommt es daher bei dem aus dem Konzern ausscheidenden Unternehmen zur Nachwirkung des TVes analog § 4 Abs. 5 TVG3. § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB ist nicht – auch nicht entsprechend – anwendbar. Von einem Ausscheiden aus dem Geltungsbereich ist allerdings nicht schon allein deswegen auszugehen, weil die Tarifparteien eine konzerneinheitliche Gestaltung der Arbeitsbedingungen bezweckt haben. Vielmehr wird es einer eindeutigen Regelung bedürfen, dass die Tarifgeltung bei dem Arbeitgeber an dessen Konzernzugehörigkeit geknüpft sein soll. Die normative Geltung eines bislang konzerneinheitlichen TVes fällt zudem nicht allein aus dem Grunde weg, weil das Unternehmen in einen Konzern eingegliedert wird, bei dem ebenfalls ein konzerneinheitlicher TV gilt, ohne dass das übertragene Unternehmen hieran nach tarifrechtlichen Maßstäben gebunden wird. Denkbar ist es schließlich, dass im Zuge der Veräußerung des Unternehmens die weitere Zuständigkeit der am Tarifabschluss beteiligten Koalitionen entfällt (z.B. bei Abschluss des TVes durch 1 Vgl. BAG v. 26.9.2004 – 1 AZR 143/03, AP Nr. 36 zu § 1 TVG; BAG v. 17.10.2007 – 4 AZR 1005/06, NZA 2008, 713 (715); BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 120/09, NZA-RR 2011, 137 (139); Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 93 f.; Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 98; Thüsing/Braun/Emmert, 2. Kap. Rz. 169 f.; Höpfner, Arbeitsrecht im Konzern, 2010, S. 115 (119 ff.). 2 BAG v. 8.11.2006 – 4 AZR 590/05, NZA 2007, 576 (577); Höpfner, Arbeitsrecht im Konzern, 2010, S. 115 (128). 3 Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 692 f.; Höpfner, Arbeitsrecht im Konzern, 2010, S. 115 (135); Rieble, Konzern 2005, 549 (556).

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Teil 15

Rz. 173

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

einen Konzern-Arbeitgeberverband mit satzungsmäßig beschränkter Tarifzuständigkeit1). Auch hier kommt es zur Nachwirkung des TVes analog § 4 Abs. 5 TVG (vgl. Rz. 13 ff.)2.

b) Beteiligung einer Tarifgemeinschaft 173

Die Herstellung konzerneinheitlicher Tarifbedingungen kann durch Gründung einer Tarifgemeinschaft, also eines Zusammenschlusses mehrerer tariffähiger Parteien zur gemeinsamen Ausübung ihrer Tariffähigkeit, erleichtert werden (vgl. dazu Teil 2 Rz. 178 ff.)3. Eine Tarifgemeinschaft wird regelmäßig als BGBGesellschaft qualifiziert4. Da die Tarifgemeinschaft selbst nicht tariffähig ist, kann ein von ihr verhandelter TV nur dann für ihre Mitglieder Wirkung entfalten, wenn die tariffähigen Mitglieder den TV anschließend selbst als Partei abschließen oder die Tarifgemeinschaft zum Abschluss des TVes bevollmächtigen5.

174

Das Ausscheiden eines Unternehmens aus dem Konzernverbund kann sich sowohl auf die Weitergeltung der unter Beteiligung der Tarifgemeinschaft abgeschlossenen TVe als auch auf den Bestand der Tarifgemeinschaft auswirken. Wird im Geltungsbereich des TVes auf die Mitglieder der Tarifgemeinschaft abgestellt, so kommt es darauf an, ob dies lediglich „deklaratorische“ Bedeutung hat, weil aus Vereinfachungsgründen auf eine Aufzählung aller einzelnen Arbeitgeber als Tarifparteien verzichtet wurde, oder aber ob die Mitgliedschaft in der Tarifgemeinschaft eine eigene konstitutive Geltungsvoraussetzung für den TV in dem jeweiligen Unternehmen sein soll. Im ersten Fall kommt in Abhängigkeit von der genauen Ausgestaltung des Geltungsbereichs eine kollektivrechtliche Fortgeltung des TVes auch nach Austritt des Arbeitgebers aus der Tarifgemeinschaft in Betracht. Demgegenüber bedeutet im zweiten Fall das Ende der Mitgliedschaft regelmäßig zugleich ein Herauswachsen aus dem Geltungsbereich des TVes, so dass der TV bei dem ausscheidenden Arbeitgeber in die Nachwirkung analog § 4 Abs. 5 TVG eintritt6.

175

Ob ein Gesellschafterwechsel bzw. ein Ausscheiden des Arbeitgebers aus dem Konzern, für den die Tarifgemeinschaft gebildet wurde, zur Beendigung der Mitgliedschaft in der Tarifgemeinschaft oder ggf. zu einem außerordentlichen Kündigungsrecht der Mitgliedschaft seitens der betroffenen oder der anderen Unternehmen führt, beurteilt sich nach den Satzungsregelungen der Gemeinschaft. Das Ausscheiden eines Mitglieds aus der Tarifgemeinschaft kann bei 1 Dazu Höpfner, Arbeitsrecht im Konzern, 2010, S. 115 (137 ff.). 2 Rieble, Konzern 2005, 549 (556). 3 Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 363 ff.; Henssler, FS ARGE Arbeitsrecht im DAV, S. 37 (38 ff.); Höpfner, Arbeitsrecht im Konzern, 2010, S. 115, (130). 4 Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 365; Thüsing/Braun/Emmert, 2. Kap. Rz. 148; Henssler, FS ARGE Arbeitsrecht im DAV, S. 37 (38); Höpfner, Arbeitsrecht im Konzern, 2010, S. 115 (131). 5 Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 363 ff.; Thüsing/Braun/Emmert, 2. Kap. Rz. 147 f.; Rieble, Konzern 2005, 475 (484); im Ergebnis Höpfner, Arbeitsrecht im Konzern, 2010, S. 115 (130 f.). 6 Henssler, FS ARGE Arbeitsrecht im DAV, S. 37 (38 ff).

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Auswirkungen einer gesellschaftsrechtlichen Umstrukturierung

Rz. 177 Teil 15

Fehlen einer Fortsetzungsklausel in der Satzung nach gesellschaftsrechtlichen Maßstäben (§§ 723, 736 BGB) die Auflösung der Tarifgemeinschaft erforderlich machen. Für diesen Fall wird davon ausgegangen, dass die von der Tarifgemeinschaft abgeschlossenen TVe im Wege der Liquidation gekündigt werden müssen1. Dieser Schluss erscheint allerdings nicht zwingend, weil die Tarifbindung letztlich das einzelne Mitglied und nicht die Gemeinschaft als solche betrifft. Aufgrund der fehlenden Tariffähigkeit der Tarifgemeinschaft lässt sich ihre Auflösung auch nicht unmittelbar mit der Auflösung einer tariffähigen Arbeitgebervereinigung gleichsetzen2. Sofern die Mitgliedschaft in der Tarifgemeinschaft Voraussetzung für die Erfassung des Arbeitgebers vom Geltungsbereich des TVes sein soll, kommt es allerdings bei Auflösung der Gemeinschaft ebenfalls zum Eintritt der Nachwirkung der von ihr abgeschlossenen TVe gemäß § 4 Abs. 5 TVG (analog).

II. Unternehmensumwandlungen nach dem UmwG und (partielle) Gesamtrechtsnachfolge 1. Überblick über die verschiedenen Erscheinungsfomen der Umwandlung Das Umwandlungsgesetz (UmwG) eröffnet einem Unternehmen die Möglichkeit, sein Vermögen durch eine der vier abschließend im Gesetz aufgezählten Umwandlungsformen entweder als Ganzes oder partiell auf einen Dritten im Wege der Gesamtsrechtsnachfolge zu übertragen oder identitätswahrend seine Rechtsform zu ändern. Die Umwandlung wird mit Eintragung in das Handelsregister wirksam. Im Überblick ist zwischen folgenden Umwandlungsarten zu unterscheiden:

176

– Eine Verschmelzung (§§ 2 ff. UmwG), die den in § 3 UmwG aufgezählten Rechtsträgern offensteht, worunter insbesondere Personengesellschaften, Partnerschaftsgesellschaften und Kapitalgesellschaften fallen, kann zur Aufnahme oder zur Neugründung vorgenommen werden. Bei einer Verschmelzung zur Aufnahme wird das Vermögen eines oder mehrerer Rechtsträger als Ganzes auf einen anderen bestehenden Rechtsträger übertragen (§ 2 Nr. 1 UmwG). Im Falle der Verschmelzung zur Neugründung wird ein neuer Rechtsträger durch die Übertragung des Vermögens von mindestens zwei anderen Rechtsträgern gegründet (§ 2 Nr. 2 UmwG). In beiden Konstellationen gehen sämtliche Aktiva und Passiva des übertragenden Rechtsträgers im Wege der Gesamtrechtsnachfolge auf den aufnehmenden Rechtsträger über; gleichzeitig kommt es zum Erlöschen des übertragenden Rechtsträgers ohne Abwicklung (§ 20 Abs. 1 UmwG iVm. § 36 UmwG). Sofern beim übertragenden Rechtsträger ein Betrieb oder Betriebsteil im Sinne von § 613a BGB vorhanden war, kommt es im Zuge der Verschmelzung tatbestandlich zu einem Betriebsübergang.

177

1 Rieble, Konzern 2005, 475 (484). 2 Zur Auflösung eines Arbeitgeberverbandes s. BAG v. 28.5.1997 – 4 AZR 546/95, NZA 1998, 40 (41 f.); Henssler, FS ARGE Arbeitsrecht im DAV, S. 37 (38 ff.).

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Teil 15

Rz. 178

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

178

– Eine Spaltung (§§ 123 ff. UmwG) kann sowohl zur Neugründung als auch zur Aufnahme erfolgen in Abhängigkeit davon, ob der aufnehmende Rechtsträger bereits existiert oder erst im Wege des Spaltungsvorgangs gegründet wird. Das Gesetz unterscheidet verschiedene Spaltungsarten in Form der Aufspaltung, Abspaltung und Ausgliederung. Bei einer Aufspaltung geht das Vermögen des übertragenden Rechtsträgers, welcher hierbei erlischt, auf zwei oder mehrere neue Rechtsträger über. Im Gegensatz hierzu bleibt der ursprüngliche Rechtsträger im Falle der Abspaltung oder Ausgliederung bestehen und lediglich die abgespaltenen bzw. ausgegliederten Vermögensteile des übertragenden Rechtsträgers gehen auf den übernehmenden Rechtsträger über. Der Unterschied zwischen Abspaltung und Ausgliederung besteht darin, wer im Gegenzug Anteile an dem aufnehmenden Rechtsträger erhält. Bei der Abspaltung erhalten die Gesellschafter des übertragenden Rechtsträgers Anteile an der aufnehmenden Gesellschaft; Ursprungsgesellschaft und aufnehmende Gesellschaft werden somit zu Schwesterunternehmen. Im Falle der Ausgliederung erhält der ausgliedernde Rechtsträger Anteile an der aufnehmenden Gesellschaft; letztere wird somit praktisch zu einer Tochtergesellschaft des ausgliedernden Rechtsträgers1.

179

– Durch Vermögensübertragung (§§ 174 ff. UmwG) kann entweder das gesamte Vermögen eines Rechtsträgers unter dessen Auflösung ohne Abwicklung auf einen anderen Rechtsträger gegen Anteilsgewährung (Vollübertragung) oder aber ein Teil des Vermögens des übertragenden Rechtsträgers durch Aufspaltung, Abspaltung oder Ausgliederung auf einen anderen Rechtsträger gegen Anteilsgewährung (Teilübertragung) übertragen werden. Die Vermögensübertragung ist in der Praxis von geringer Bedeutung, da diese Art der Umwandlung nur zugunsten der öffentlichen Hand sowie im Verhältnis zwischen privaten und öffentlich-rechtlichen Versicherungsunternehmen vorgesehen ist (vgl. § 175 UmwG).

180

– Schließlich sehen die §§ 190 ff. UmwG die Möglichkeit eines Formwechsels der in § 191 UmwG genannten Rechtsträger vor. Das Wesen dieser Umwandlungsart liegt im Wechsel der Rechtsform des Unternehmens bei gleichzeitiger Wahrung der Identität des betroffenen Rechtsträgers. Es findet also kein Vermögensübergang statt2.

2. Anwendbarkeit der Regelungen des § 613a BGB in Fällen der Umwandlung 181

Wie in § 324 UmwG klargestellt ist, bleiben die Vorschriften des § 613a Abs. 1, 4 bis 6 BGB durch die Wirkungen der Eintragung einer Verschmelzung, Spaltung oder Vermögensübertragung unberührt. Mit dieser Formulierung ist gemeint, dass ungeachtet der gesetzlichen (partiellen) Gesamtrechtsnachfolge ein Betriebs- oder Betriebsteilübergang mit den entsprechenden Rechtsfolgen 1 Näher Henssler/Strohn/Wardenbach, Gesellschaftsrecht, 2011, § 123 UmwG Rz. 4 ff.; Kallmeyer/Kallmeyer/Sickinger, § 123 UmwG Rz. 11; Schmitt/Hörtnagl/Stratz/Hörtnagl, § 123 UmwG Rz. 6 ff. 2 Statt aller Kallmeyer/Meister/Klöcker, § 190 UmwG Rz. 6 m.w.N.

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Auswirkungen einer gesellschaftsrechtlichen Umstrukturierung

Rz. 183 Teil 15

vorliegen kann, wenn im Zuge der Uwandlung ein Betriebs- oder Betriebsteil von dem übertragenden auf einen neuen Rechtsträger übergeht1. Ob die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB erfüllt sind, ist aufgrund der in § 324 UmwG getroffenen Rechtsgrundverweisung stets eigenständig zu prüfen2. Hinsichtlich der für die Annahme eines Betriebsübergangs erforderlichen rechtsgeschäftlichen Übertragung ist auf die der Umwandlung jeweils zugrunde liegenden Rechtsgeschäfte abzustellen3. Im Falle des Formwechsels ist ein Betriebsübergang ausgeschlossen, da der Betrieb weiterhin dem formwechselnden Rechtsträger zugeordnet bleibt4. Damit kommen die Anordnungen des § 613a Abs. 1 Satz 2–4 BGB für das Schicksal von Kollektivverträgen grundsätzlich auch in Fällen der Verschmelzung oder Spaltung von Unternehmen oder im Falle der Vermögensübertragung zum Tragen, wobei sich im Einzelnen bedingt durch die Gesamtrechtsnachfolge sowie die prinzipielle Möglichkeit, Vermögensteile und damit auch Vertragsbeziehungen im Rahmen von Spaltungen gezielt einem der beteiligten Rechtsträger zuzuordnen (Grundsatz der spaltungsrechtlichen Zuordnungsfreiheit5), bei den Folgen für die Tarifgeltung Unterschiede zur Situation nach Betriebsübergang im Wege der Einzelrechtsübertragung ergeben können.

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3. Auswirkungen einer Verschmelzung von Unternehmen auf die Tarifgeltung a) Geltung von Verbandstarifverträgen Die Mitgliedschaft des übertragenden Rechtsträgers im Arbeitgeberverband wird nicht im Rahmen der Gesamtrechtsnachfolge (§ 20 Abs. 1 Nr. 1 UmwG) auf den aufnehmenden Rechtsträger übertragen, da § 38 BGB einen Übergang der Mitgliedschaft als höchstpersönliches Recht grundsätzlich ausschließt6. Eine kollektivrechtliche Bindung des aufnehmenden Rechtsträgers an den beim übertragenden Rechtsträger zuvor normativ geltenden TV erfolgt demnach regelmäßig nur unter der Voraussetzung, dass der aufnehmende Rechtsträger selbst Mitglied im tarifschließenden Arbeitgeberverband ist bzw. wird 1 HWK/Willemsen, § 324 UmwG Rz. 2 ff.; Kallmeyer/Willemsen, § 324 UmwG Rz. 3; Semler/Stengel/Simon, § 324 UmwG Rz. 6 ff. 2 BAG v. 25.5.2000 – 8 AZR 416/99, DB 2000, 1966 (1967); BAG v. 6.10.2005 – 2 AZR 316/04, NZA 2006, 990 (993 f.); Kallmeyer/Willemsen, § 324 UmwG Rz. 2; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 120; Seibt, FS Röhricht, S. 603 (628). 3 ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 58; HWK/Willemsen, § 613a BGB Rz. 187 ff. 4 Statt aller Kallmeyer/Meister/Klöcker, § 190 UmwG Rz. 6 m.w.N. 5 S. HWK/Willemsen, § 324 UmwG Rz. 23; Hierdurch wird wegen des zwingenden Charakters der Vorschrift allerdings keine Möglichkeit zu einer von § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB abweichenden Zuordnung der Arbeitsverhältnisse begründet; s. Willemsen, NZA 1996, 798 f. 6 BAG v. 4.12.1974 – 5 AZR 75/74, AP Nr. 2 zu § 3 TVG; BAG v. 13.7.1994 – 4 AZR 555/93, NZA 1995, 479 (480); BAG v. 24.6.1998 – 4 AZR 208/97, NZA 1998, 1346 (1347 f.); Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 168; Kallmeyer/Willemsen, § 324 UmwG Rz. 24; Semler/Stengel/Simon, § 20 UmwG Rz. 41; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 201; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 100; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 207 f.; Hanau/Vossen, FS Hilger/Stumpf, S. 271 (289).

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Teil 15

Rz. 184

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

oder der TV allgemeinverbindlich ist1. Entsprechendes gilt für firmenbezogene VerbandsTVe. Die Satzung des Arbeitgeberverbandes kann die Übertragung der Mitgliedschaft allerdings zulassen (§ 40 BGB). In dem Fall tritt der aufnehmende Rechtsträger mit der Verschmelzung ausnahmsweise in die Tarifbindung des übertragenden Unternehmens ein2. Aufgrund der umfassenden Gesamtrechtsnachfolge bedarf es hierbei für die Übertragung der Mitgliedschaft bei Vorliegen der mitgliedschaftlichen Voraussetzungen für eine Mitgliedsnachfolge (anders als im Fall der partiellen Gesamtrechtsnachfolge bei Spaltungen, vgl. Rz. 193 ff.) keiner ausdrücklichen Regelung im Umwandlungsvertrag. 184

In einer noch vor Inkrafttreten des Umwandlungsgesetzes ergangenen Entscheidung ist das BAG für den Fall, dass ein Rechtsträger infolge Gesamtrechtsnachfolge erlischt, von der Aufrechterhaltung der Tarifbestimmungen im Wege der Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG analog ausgegangen3. Auf Umwandlungen nach Maßgabe des Umwandlungsgesetzes ist dies allerdings nicht übertragbar, da der Gesetzgeber den Schutz der tariflichen Rechte und Pflichten über die Verweisungsvorschrift des § 324 UmwG unter Bezugnahme auf § 613a BGB speziell geregelt hat. Wenn es nicht zur kollektivrechtlichen Fortgeltung der TVe des übertragenden Rechtsträgers beim aufnehmenden Unternehmen kommt, ist daher für eine analoge Anwendung von § 4 Abs. 5 TVG mangels Regelungslücke kein Raum4. Die von Teilen der Literatur für den Fall eines Verlustes der mitgliedschaftlichen Voraussetzungen der Tarifbindung durch eine Gesamtrechtsnachfolge vorgeschlagene entsprechende Anwendung von § 3 Abs. 3 TVG ist aus demselben Grund abzulehnen. 5 Ein Rückgriff auf die Vorschrift ist zudem deswegen ausgeschlossen, weil § 3 Abs. 3 TVG nur eine bislang bestehende Tarifgebundenheit nach Wegfall der sie vermittelnden Koalitionszugehörigkeit „verlängert“, jedoch keine neue (originäre) Tarifbindung eines zuvor mitgliedschaftlich nicht organisierten Rechtsträgers herstellt6. Sofern die Voraussetzungen für eine kollektivrechtliche Fortgeltung des VerbandsTVes beim aufnehmenden Rechtsträger nicht (ausnahmsweise) erfüllt sind, greifen demnach für die zuvor tarifgebundenen Arbeitsverhältnisse die Regelungen des § 613a Abs. 1 Satz 2 bis 4 BGB (i.V.m. § 324 UmwG) unmittel1 HWK/Willemsen, § 324 UmwG Rz. 20; Kallmeyer/Willemsen, § 324 UmwG Rz. 24; Semler/Stengel/Simon, § 20 UmwG Rz. 42; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 207; Hanau, ZGR 1990, 548 (553); Henssler, FS Schaub, S. 311 (315). 2 S. BAG v. 24.6.1998 – 4 AZR 208/97, EzA Nr. 1 zu § 20 UmwG (mit zust. Anm. Rieble); Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 168; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 208; Gaul, NZA 1995, 717 (719). 3 BAG v. 13.7.1994 – 4 AZR 555/93, NZA 1995, 479 (480 ff.). 4 Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 170; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 100; Wiedemann/ Oetker, § 3 TVG Rz. 210 f.; Gaul, NZA 1995, 717 (719); Henssler, FS Schaub, S. 311 (315); a.A. Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 440. 5 Im Ergebnis wie hier Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 169; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 100; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 210 f.; Gaul, NZA 1995, 717 (719); Henssler, FS Schaub, S. 311 (315); a.A. Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 50 f., 138; Quander, Betriebsinhaberwechsel bei Gesamtrechtsnachfolge, 1990, S. 249 ff. 6 BAG v. 13.7.1994 – 4 AZR 555/93, NZA 1995, 479 (480); Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 224; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 65, 210; Gaul, NZA 1995, 717 (719); Wiedemann, Anm. zu BAG v. 4.12.1974 – 5 AZR 75/74, AP Nr. 2 zu § 3 TVG.

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Auswirkungen einer gesellschaftsrechtlichen Umstrukturierung

Rz. 185 Teil 15

bar ein1. Dies gilt auch für den Fall, dass der übergegangene Betrieb bei ausnahmsweise bestehender Übertragbarkeit der Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband und Rechtsnachfolge des aufnehmenden Rechtsträgers in die Tarifbindung infolge eines anderen Unternehmensgegenstandes aus dem fachlichen Geltungsbereich der TVe herausfällt oder die beteiligte Koalition für das aufnehmende Unternehmen nicht tarifzuständig ist. Aufgrund des Übergangs der Arbeitsverhältnisse nach § 613a BGB sind die dortigen Vorschriften für die Fortgeltung der tariflichen Rechte und Pflichten spezieller gegenüber einer Nachwirkung analog § 4 Abs. 5 TVG.

b) Geltung von Firmentarifverträgen aa) Grundsatz der kollektivrechtlichen Fortgeltung Aus dem Umstand, dass im Falle der Verschmelzung sämtliche Aktiva und Passiva des übertragenden Rechtsträgers bei dessen gleichzeitigem Erlöschen auf den aufnehmenden Rechtsträger übergehen (§ 20 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 UmwG) und zu den Vermögensbestandteilen eines Unternehmens auch die Rechte und Pflichten aus einem FirmenTV gehören, wird überwiegend geschlossen, dass der aufnehmende Rechsträger bei einer Verschmelzung als Vertragspartei auf Arbeitgeberseite in den FirmenTV einrückt und dieser somit grundsätzlich bei diesem kollektivrechtlich fortgilt2. Hierin liegt kein Widerspruch zu der abweichenden Rechtslage bei Betriebsübernahmen im Wege der Einzelrechtsübertragung3. Zwar wird in § 324 UmwG auf § 613a BGB verwiesen. Dies bedingt jedoch nicht zwingend eine einheitliche Beurteilung der normativen Tarifgeltung in beiden Szenarien, da es sich sowohl bei § 324 UmwG als auch bei § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB um eine Auffangvorschrift handelt, für deren Eingreifen kein Bedürfnis besteht, wenn der Schutz der kollektivrechtlich gewährten Rechtspositionen der von der Verschmelzung betroffenen Arbeitnehmer bereits durch die Gesamtrechtsnachfolge bzw. den damit einhergehenden Übergang der Stellung als Tarifpartei des FirmenTVes sichergestellt ist4. § 324 UmwG schließt die kollektivrechtliche Fortgeltung von TVen in 1 Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 168; Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 137; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 439; Däubler, RdA 1995, 136 (139). Im Ergebnis auch Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 216, der für eine analoge Anwendung von § 613a Abs. 1 Satz 2 – 4 BGB plädiert. 2 BAG v. 24.6.1998 – 4 AZR 208/97, EzA Nr. 1 zu § 20 UmwG (mit zust. Anm. Rieble); BAG v. 4.7.2007 – 4 AZR 491/06, NZA 2008, 307 (310); BAG v. 10.6.2009 – 4 ABR 21/08, NZA 2010, 51 (52); LAG Baden-Württemberg v. 27.9.2010 – 4 TaBV 2/10, n.v.; Bauer/Göpfert/Haußmann/Krieger, Umstrukturierung, Teil 4 C Rz. 21; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 180; Semler/Stengel/Simon, § 20 UmwG Rz. 40; Thüsing/Braun/ Heise, 11. Kap. Rz. 75; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 101; Bachner, NJW 1995, 2881 (2882); a.A. Gussen/Dauck, Weitergeltung von Betriebsvereinbarungen und Tarifverträgen, Rz. 369; Hanau, ZGR 1990, 548 (554 f.); Hanau/Vossen, FS Hilger/Stumpf, S. 271 (297); Kreßel, BB 1995, 925 (930); Wellenhofer-Klein, ZfA 1999, 239 (262); einschränkend Gaul, Unternehmensspaltung, § 24 Rz. 139 ff. 3 A.A. Gussen/Dauck, Weitergeltung von Betriebsvereinbarungen und Tarifverträgen, Rz. 369. 4 Vgl. BAG v. 24.6.1998 – 4 AZR 208/97, EzA Nr. 1 zu § 20 UmwG (mit zust. Anm. Rieble); WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 103; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 204.

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185

Teil 15

Rz. 186

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

Umwandlungsfällen folglich nicht aus1. Dieses Verständnis verstößt auch nicht gegen die negative Koalitionsfreiheit des aufnehmenden Rechtsträgers aus Art. 9 Abs. 3 GG2. Denn der Eintritt in die Tarifbindung ist lediglich Konsequenz des durch die beteiligten Rechtsträger privatautonom abgeschlossenen Verschmelzungsvertrages. Zudem steht es den beteiligten Arbeitgebern offen, durch die Wahl eines anderen Umstrukturierungsmittels, speziell durch Übernahme der Betriebe im Wege der Einzelrechtsnachfolge, den Eintritt des aufnehmenden Unternehmens in die Stellung als Tarifpartei eines beim übertragenden Rechtsträgers bestehenden FirmenTVes zu vermeiden3. 186

Sofern der Betrieb einschließlich der Arbeitsverhältnisse zu einem bestimmten Stichtag bereits qua Einzelrechtsnachfolge gemäß § 613a BGB vorab auf den Erwerber übertragen wurde und erst zu einem späteren Zeitpunkt die Verschmelzung des bisherigen Betriebsinhabers auf den Erwerber umwandlungsrechtlich vollzogen wird (in der Praxis z.B. bei Vorschaltung eines Betriebsführungsvertrages vor der Eintragung der Umwandlung in das Handelsregister), kommt bei fehlender kollektivrechtlicher Bindung des Erwerbers an den FirmenTV zunächst § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB zum Tragen. Ob bei späterem Wirksamwerden der Verschmelzung die kollektivrechtliche Geltung des FirmenTVes beim Erwerber aufgrund der Gesamtrechtsnachfolge für die gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer wieder auflebt, hängt von der im Verschmelzungszeitpunkt bestehenden kollektivrechtlichen Position des Veräußerers bzw. übertragenden Rechtsträgers ab, in die der aufnehmende Rechtsträger gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 1 UmwG eintritt. Dabei erlischt die Tarifbindung des Veräußerers grundsätzlich nicht deswegen automatisch, weil dieser nach dem Betriebsübergang vorbehaltlich etwaiger Widersprüche gemäß § 613a Abs. 6 BGB über keine Arbeitsverhältnisse mehr verfügt. Erst wenn durch die Umstrukturierungsmaßnahme die Rechtspersönlichkeit des Arbeitgebers als Partei des FirmenTVes oder die Tarifzuständigkeit der tarifschließenden Gewerkschaft entfällt, hat die Umstrukturierungsmaßnahme Auswirkungen auf die normative Geltung des TVes4. Wenn ein Übergang der Stellung als Tarifpartei mit Wirksamwerden der Verschmelzung verhindert werden soll, muss dieser von dem übetragenden Rechtsträger somit zuvor beendet werden.

bb) Besonderheiten bei Verschmelzung zur Aufnahme auf einen Rechtsträger mit bestehenden Betrieben 187

Umstritten ist die Rechtslage im Falle der Verschmelzung zur Aufnahme, wenn bei dem aufnehmenden Unternehmen bereits eigene Betriebe und Ar1 BAG v. 24.6.1998 – 4 AZR 208/97, EzA Nr. 1 zu § 20 UmwG; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 103; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 204. 2 Vgl. BAG v. 4.7.2007 – 4 AZR 491/06, NZA 2008, 307 (311); WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 103; Boecken, SAE 2000, 162 (163); im Ergebnis auch Henssler, FS Schaub, S. 311 (326); a.A. Gussen/Dauck, Weitergeltung von Betriebsvereinbarungen und Tarifverträgen, Rz. 371; Kreßel, BB 1995, 925 (930); Trappehl/Lambrich, DB 1999, 291. 3 Vgl. WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 103. 4 S. auch BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, NZA 2010, 353 (355); Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 77; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 14.

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Auswirkungen einer gesellschaftsrechtlichen Umstrukturierung

Rz. 189 Teil 15

beitsverhältnisse bestehen, die zudem womöglich noch einer Bindung an andere TVe unterliegen. In derartigen Konstellationen wird gegen die Möglichkeit einer kollektivrechtlichen Fortgeltung eines FirmenTVes des übertragenden Rechtsträgers im Anschluss an die Verschmelzung teilweise eingewandt, dass es hierdurch zu einer unzulässigen Erweiterung des vertraglichen Geltungsbereichs des FirmenTVes kommen könne1. Indes spricht jedenfalls bei separater Fortführung der Betriebe des übernehmenden und des übertragenden Rechtsträgers nichts dagegen, dass bei dem aufnehmenden Unternehmen fortan zwei unterschiedliche Regime von FirmenTVen kollektivrechtlich Anwendung finden und zwar jeweils getrennt für die vor der Verschmelzung von den jeweiligen TVen erfassten betrieblichen Einheiten2. Hierbei handelt es sich nicht einmal um einen Fall von Tarifkonkurrenz oder -pluralität, sofern sich die Geltungsbereiche der FirmenTVe in den nach der Verschmelzung zum aufnehmenden Unternehmen gehörenden Betrieben nicht überschneiden. Ist der Geltungsbereich der TVe jeweils betriebsbezogen definiert, so ist eine Erstreckung auf Ursprungsbetriebe des anderen an der Verschmelzung beteiligten Rechtsträgers nach dem Willen der Tarifparteien ohnehin ausgeschlossen. Aber auch wenn der Geltungsbereich des FirmenTVes des übertragenden Rechtsträgers unternehmensbezogen ausgestaltet ist, führt eine Auslegung in der Regel zu dem Ergebnis, dass sich dieser FirmenTV nach der Verschmelzung nicht auch auf im aufnehmenden Unternehmen bereits bestehende Betriebe erstrecken soll3. Dies gilt auch, wenn der FirmenTV des übertragenden Rechtsträgers laut seinen Geltungsbereichsbestimmungen auch neu zum Unternehmen hinzukommende Betriebe erfassen soll. Denn dieser Fall ist bei der Verschmelzung dieses Unternehmens auf einen anderen Rechtsträger nicht einschlägig. Es kommen nicht neue Betriebe zu dem an den FirmenTV gebundenen Unternehmen hinzu, sondern vielmehr gehen die Betriebe dieses Unternehmens auf einen anderen Rechtsträger über. Für die schon bislang beim aufnehmenden Rechtsträger bestehenden Arbeitsverhältnisse ergibt sich insofern keine Änderung im Hinblick auf die Tarifgeltung.

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Fraglich ist, ob in einem FirmenTV ausdrücklich geregelt werden kann, dass er sich im Falle einer etwaigen zukünftigen Verschmelzung des Unternehmens auch auf Betriebe des aufnehmenden Rechtsträgers erstrecken soll. Dies würde jedoch eine unzulässige Abrede zu Lasten Dritter, nämlich des aufnehmenden

189

1 Vgl. Gaul, Unternehmensspaltung, 2002, § 24 Rz. 145; Däubler, RdA 1995, 136 (140); Gaul, NZA 1995, 717 (722 f.); Hanau/Vossen, FS Hilger/Stumpf, 1983, S. 271 (297). 2 Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 182; Kallmeyer/Willemsen, § 324 UmwG Rz. 24; Lunk/ Fandel, Arbeitsrecht § 2 Rz. 894; MüAnwHdbArb/Cohnen/Tepass, § 51 Rz. 77; Thüsing/Braun/Heise, 11. Kap. Rz. 75; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 102; Wiedemann/ Oetker, § 3 TVG Rz. 198; Boecken, SAE 2000, 162 (165); Jacobs, NZA-Beilage 1/2009, 45 (46); Thüsing/v. Medem, ZIP 2007, 510 (516 f.); wohl auch Rieble, Anm. zu BAG v. 24.6.1998 – 4 AZR 208/97, EzA Nr. 1 zu § 20 UmwG. 3 Im Ergebnis auch HWK/Willemsen, § 324 UmwG Rz. 20; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 106; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 194; Boecken, SAE 2000, 162 (165); Hanau/ Vossen, FS Hilger/Stumpf, S. 271 (279); Müller-Bonanni/Mehrens, ZIP 2012, 1217 (1218); Sowka/Weiss, DB 1991, 1518 (1521); einschränkend Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 201.

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Teil 15

Rz. 190

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

Rechtsträgers, darstellen. Allerdings steht es der Gewerkschaft unter der Voraussetzung des Fortbestehens ihrer Tarifzuständigkeit und dem aufnehmenden Unternehmen als nunmehriger Partei des FirmenTVes frei, mit Rücksicht auf die Verschmelzung eine entsprechende Ausdehnung des Geltungsbereichs zu vereinbaren. 190

Sofern der aufnehmende Rechtsträger vor der Verschmelzung bereits an einen anderen TV gebunden war, welcher nach seinem Geltungsbereich auch neu zum Unternehmen hinzukommende Betriebe erfasst, wovon nach der Rechtsprechung bei einem FirmenTV im Zweifel auszugehen sein soll, wenn der TV nicht ausdrücklich nur für bestimmte Betriebe des Arbeitgebers abgeschlossen wurde1, kann es aufgrund des zusätzlichen Eintritts des aufnehmenden Rechtsträgers in die Stellung als Tarifpartei des FirmenTVes des übertragenden Rechtsträgers im Hinblick auf die Arbeitsverhältnisse in den übergehenden Betrieben und in Abhängigkeit von der Gewerkschaftszugehörigkeit der Arbeitnehmer zu einer Tarifmehrheit kommen. Eine Tarifpluralität im übergegangenen Betrieb muss der Arbeitgeber nach Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit durch das BAG hinnehmen (vgl. dazu Teil 9 Rz. 116 ff.)2. Die Auflösung einer durch eine Verschmelzung zur Aufnahme ggf. entstehenden Tarifkonkurrenz infolge kollektivrechtlicher Anwendbarkeit sowohl des bisherigen FirmenTVes als auch eines beim aufnehmenden Rechtsträger schon bislang geltenden TVes auf ein und dasselbe Arbeitsverhältnis richtet sich nach dem tarifrechtlichen Spezialitätsprinzip3. Danach setzt sich der speziellere der beiden nach der Verschmelzung auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren konkurrierenden TVe durch. Handelt es sich bei dem beim aufnehmenden Rechtsträger geltenden TV um einen VerbandsTV, hat der ebenfalls kollektivrechtlich (weiter-)geltende FirmenTV für die übergehenden Arbeitsverhältnisse Vorrang, soweit jeweils eine Tarifbindung des Arbeitnehmers besteht. Die Ablösungsvorschrift des § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB, wonach die kollektivrechtlich gültigen TVe des neuen Arbeitgebers grundsätzlich Vorrang gegenüber einer Aufrechterhaltung der bisherigen Tarifbedingungen haben, kommt hier wegen der gleichzeitigen kollektivrechtlichen Weitergeltung des FirmenTVes des übertragenden Rechtsträgers nicht zum Tragen. Die Vorschriften in § 613a Abs. 1 Satz 2–4 BGB sind auf diese Konstellation nicht anwendbar4. Sind die beteiligten Gewerkschaften auf Seiten des übertragenden und des aufnehmenden Rechtsträgers verschieden, so entscheidet die Organisationszugehörigkeit der übergegangenen Arbeitnehmer, welcher TV fortan nach der Verschmelzung normativ auf das Arbeitsverhältnis Anwendung findet.

1 BAG v. 9.12.1999 – 6 AZR 299/98, NZA 2000, 1167 (1168); LAG Baden-Württemberg v. 27.9.2010 – 4 TaBV 2/10, n. v; siehe auch Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 123. 2 BAG v. 27.1.2010 – 4 AZR 549/08 (A), NZA 2010, 645 ff.; BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068 ff.; Müller-Bonanni/Mehrens, ZIP 2012, 1217 (1218). 3 Vgl. LAG Baden-Württemberg v. 31.5.2005 – 20 TaBV 3/04, n.v.; Hromadka/Maschmann/Wallner, Tarifwechsel, Rz. 139; MüAnwHdbArb/Cohnen/Tepass, § 51 Rz. 78; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 107; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 227; Hohenstatt, DB 1992, 1678 (1679); Müller-Bonanni/Mehrens, ZIP 2012, 1217 (1218). 4 Vgl. Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 176; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 186; Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 140; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 202.

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Auswirkungen einer gesellschaftsrechtlichen Umstrukturierung

Rz. 192 Teil 15

Sofern die Betriebe der beteiligten Rechtsträger im Zuge der Verschmelzung durch Eingliederung oder Bildung neuer Betriebe zusammengeschlossen werden, ist auch hier prinzipiell die Entstehung von Tarifmehrheiten denkbar, deren Bewältigung sich nach den allgemeinen Regeln richtet. Allerdings kann sich der Zusammenschluss sowohl auf den Geltungsbereich der bisherigen TVe als auch z.B. im Falle der Änderung der bisherigen fachlichen Ausrichtung der Betriebe auf die Tarifzuständigkeit einer am TV-Abschluss beteiligten Koalition auswirken. Ein Zusammenschluss der Betriebe des übertragenden Rechtsträgers mit solchen des aufnehmenden Rechtsträgers kann insbesondere dazu führen, dass der Geltungsbereich des FirmenTVes des übertragenden Rechtsträgers entfällt, da die von ihm ursprünglich erfassten Einheiten nicht mehr existieren1. Die Regelungen des FirmenTVes werden in dem Fall für die übergehenden tarifgebundenen Arbeitnehmer nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB aufrechterhalten und unterliegen unter den allgemeinen Voraussetzungen der Ablösung durch einen beim aufnehmenden Rechtsträger geltenden TV gemäß § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB. Insbesondere bedarf es hierfür der Mitgliedschaft der Arbeitnehmer in der (auch) am TV-Abschluss auf Seiten des aufnehmenden Rechtsträgers beteiligten Gewerkschaft. Für die Arbeitnehmer des aufnehmenden Rechtsträgers verbleibt es bei der unveränderten Geltung des dort schon vor der Verschmelzung gültigen TVes, soweit sie tarifgebunden sind. Auch im Hinblick auf diesen TV sind allerdings etwaige Auswirkungen auf den Geltungsbereich sowie die Tarifzuständigkeit durch die betrieblichen Strukturveränderungen zu beachten. Bei betriebsbezogener Ausrichtung der Satzung einer am TV-Abschluss beteiligten Koaltition kommt es im Hinblick auf die Tarifzuständigkeit darauf an, welcher Betriebszweck dem im Zuge der Verschmelzung zusammengeschlossenen neuen Betrieb das Gepräge gibt2. Entfällt im Hinblick auf den TV des aufnehmenden Rechtsträgers infolge der betrieblichen Veränderungen die Tarifzuständigkeit der beteiligten Koalition oder ist der TV vom Geltungsbereich her für die neu entstandene Einheit nicht mehr einschlägig, so kommt es für die schon bislang beim aufnehmenden Rechtsträger beschäftigten tarifgebundenen Arbeitnehmer zur Nachwirkung dieses TVes analog § 4 Abs. 5 TVG bzw. im Fall eines FirmenTVes und Verlust der Tarifzuständigkeit nach abweichender Ansicht zur Entstehung eines Kündigungsrechts des Arbeitgebers mit anschließender Nachwirkung nach dessen Ausübung (vgl. dazu Rz. 13 f.).

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Denkbar ist ferner die Konstellation, dass nur der aufnehmende Rechtsträger tarifgebunden ist, während der übertragende Rechtsträger tariflos ist. Sofern die an dem TV des Erwerbers beteiligte Gewerkschaft auch für die übergegangenen Betriebe tarifzuständig ist und die Arbeitnehmer dieser Gewerkschaft angehören bzw. Mitglieder werden, erstreckt sich die Tarifbindung nach der

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1 Siehe auch WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 108, der bei Zusammenschluss der Betriebe des übertragenden Rechtsträgers mit solchen des aufnehmenden Rechtsträgers ein Ende der kollektivrechtlichen Geltung des FirmenTVes des verschmolzenen Unternehmens annimmt. In diese Richtung auch Hanau, ZGR 1990, 548 (554 f.); Hanau/ Vossen, FS Hilger/Stumpf, S. 271 (297); Wellenhofer-Klein, ZfA 1999, 239 (262). 2 Vgl. BAG v. 14.4.1971 – 4 AZR 201/70, AP Nr. 10 zu § 1 TVG Tarifverträge Bau; BAG v. 22.11.1988 – 1 ABR 6/87, NZA 1989, 561 (562); WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 105; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 68.

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Teil 15

Rz. 193

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

Verschmelzung nunmehr auch auf die übergegangenen Arbeitsverhältnisse. Soweit es sich um einen FirmenTV handelt, muss hierfür zudem der Geltungsbereich so definiert sein, dass eine Einbeziehung neu zum Unternehmen hinzukommender Betriebe möglich ist. Für die schon vor der Verschmelzung beim aufnehmenden Rechtsträger bestehenden Arbeitsverhältnisse ergeben sich in tariflicher Hinsicht keine Auswirkungen.

4. Auswirkungen einer Spaltung von Unternehmen auf die Tarifgeltung a) Geltung von Verbandstarifverträgen 193

Im Falle der umwandlungsrechtlichen Spaltung eines Unternehmens geht die Tarifbindung des von der Spaltung betroffenen Rechtsträgers an einen VerbandsTV im Rahmen der partiellen Gesamtrechtsnachfolge nicht auf den aufnehmenden Rechtsträger über1. Insofern gilt wie bei Verschmelzungen und sonstigen Fällen der Gesamtrechtsnachfolge, dass ein automatischer Übergang der der Tarifbindung zugrunde liegenden Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband regelmäßig an der fehlenden Übertragbarkeit aufgrund ihres höchstpersönlichen Charakters scheitert (vgl. Rz. 183). Eine Übertragung der Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband auf den aufnehmenden Rechtsträger ist nur dann möglich, wenn dies in den Satzungsbestimmungen des Arbeitgeberverbandes ausdrücklich zugelassen ist. Demnach gelten die VerbandsTVe nach einer Spaltung beim aufnehmenden Rechtsträger in der Regel nur dann kollektivrechtlich (weiter), wenn das Unternehmen selbst kraft eigener Mitgliedschaft in dem Arbeitgeberverband oder kraft Allgemeinverbindlichkeit normativ an die entsprechenden TVe gemäß §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG bzw. § 5 Abs. 4 TVG gebunden ist. Sofern dies nicht der Fall ist und mit der Abspaltung ein Betrieb oder Betriebsteil im Sinne des § 613a BGB übertragen wird, werden die Inhaltsnormen eines nicht kollektivrechtlich weiter geltenden VerbandsTVes für die übergehenden tarifgebundenen Arbeitsverhältnisse gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB (i.V.m. § 324 UmwG) aufrechterhalten, soweit bei dem aufnehmenden Unternehmen kein gemäß § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB ablösender Kollektivvertrag greift. Für eine analoge Heranziehung von § 3 Abs. 3 TVG oder § 4 Abs. 5 TVG zum Schutz der tariflichen Arbeitsbedingungen ist insofern weder Bedarf noch Raum2.

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Wird die Spaltung nicht in Form der Aufspaltung vollzogen, bei welcher der betroffene Rechtsträger erlischt mit der Folge, dass auch keine Tarifbindung mehr bestehen kann, hat die Spaltung namentlich in Fällen der Abspaltung oder Ausgliederung grundsätzlich keine Auswirkungen auf die verbandsrechtlichen und tarifrechtlichen Voraussetzungen für die Bindung des übertragenden Rechtsträgers an einen VerbandsTV3. Demnach berührt eine Abspaltung 1 Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 173 f.; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 185; Kallmeyer/Willemsen, § 324 UmwG Rz. 24; Lunk/Fandel, Arbeitsrecht, 2011, § 2 Rz. 894; Kempen/ Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 135 f.; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 109. 2 A.A. Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 175 (§ 3 Abs. 3 TVG analog). 3 HWK/Willemsen, § 324 UmwG Rz. 20; Schmitt/Hörtnagl/Stratz/Hörtnagl, § 131 UmwG Rz. 66; Semler/Stengel/Simon, § 131 UmwG Rz. 50; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 111 f.; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 196.

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Auswirkungen einer gesellschaftsrechtlichen Umstrukturierung

Rz. 196 Teil 15

oder Ausgliederung von Unternehmensteilen die Tarifbindung des übertragenden Unternehmens an die VerbandsTVe regelmäßig nicht. Dies gilt grundsätzlich auch für den Fall, dass der übertragende Rechtsträger fortan keine Arbeitnehmer mehr beschäftigt1. Falls die Mitgliedsnachfolge in der Satzung des Arbeitgeberverbandes ausnahmsweise zugelassen ist, kommt es für die künftige Tarifgebundenheit darauf an, ob die Mitgliedschaft im Rahmen der Spaltung mit übertragen wird. Da die Verbandsmitgliedschaft nicht aufteilbar ist und ihre Vervielfältigung entweder auf mehrere übernehmende Rechtsträger oder den übertragenden und den übernehmenden Rechtsträger schon wegen der damit verbundenen Vermehrung des Stimmrechts nicht in Betracht kommt, bedarf es hierfür einer entsprechenden Bestimmung im Spaltungs- und Übernahmevertrag, wonach die Mitgliedschaft einem (einzigen) aufnehmenden Rechtsträger übertragen wird2. Das neue Mitglied muss zudem in seiner Person alle satzungsmäßigen Voraussetzungen für einen Verbandsbeitritt erfüllen. Die Vereinbarung eines rückwirkenden Übergangs der Mitgliedschaft dürfte in tarifrechtlicher Hinsicht nicht möglich sein3. Mit einem wirksamen Übergang der Mitgliedschaft scheidet das übertragende Unternehmen aus dem Arbeitgeberverband aus. Die Situation entspricht für diesen Arbeitgeber derjenigen eines Verbandsaustritts, so dass es hier zu einer Nachbindung entsprechend § 3 Abs. 3 TVG kommt, bis der jeweilige VerbandsTV endet4. Schließlich sind Konstellationen denkbar, in denen zwar die mitgliedschaftsbezogenen Voraussetzungen für ein Fortbestehen der normativen Tarifbindung des übertragenden Unternehmens nach der Spaltung weiter gegeben sind, jedoch der Geltungsbereich des bisherigen VerbandsTVes infolge einer geänderten fachlichen Ausrichtung der beim übertragenden Unternehmen noch verbliebenen Betriebe bzw. Betriebsteile nicht mehr einschlägig ist. Mangels Vorliegen eines Betriebsübergangs für die beim übertragenden Unternehmen verbleibenden Arbeitsverhältnisse ist § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB nicht anwendbar. Es kommt wie in sonstigen Fällen des Herauswachsens aus dem Geltungsbereich zur Nachwirkung des VerbandsTVes gemäß § 4 Abs. 5 TVG5.

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b) Geltung von Firmentarifverträgen Anders als im Falle der Gesamtrechtsnachfolge wie bei einer Verschmelzung erfolgt bei der Spaltung lediglich eine partielle Gesamtrechtsnachfolge hinsichtlich derjenigen Vermögensbestandteile, die dem jeweiligen aufnehmenden Rechtsträger im Spaltungs- und Übernahmevertrag zugewiesen wurden (s. 1 LAG Baden-Württemberg v. 24.10.2000 – 10 TaBV 2/99, AP Nr. 18 zu § 3 TVG Verbandszugehörigkeit; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 220. 2 LAG Baden-Württemberg v. 24.10.2000 – 10 TaBV 2/99, AP Nr. 18 zu § 3 TVG Verbandszugehörigkeit; Gaul, Unternehmensspaltung 2002, § 24 Rz. 5; MüAnwHdbArbR/Cohnen/Tepass, § 51 Rz. 72; s.a. Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 220. 3 Vgl. Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 45 m.w.N. 4 Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 220; im Ergebnis auch Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 175. 5 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 193/97, NZA 1998, 488 (490 f.); ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 60; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 440; Thüsing/Braun/Heise, 11. Kap. Rz. 29; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 337.

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Teil 15

Rz. 197

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

§§ 129 Abs. 1 Nr. 9, 131 Abs. 1 Nr. 1 UmwG). Zu den ausgliederungs- bzw. abspaltungsfähigen Vermögensbestandteilen gehört auch die Rechtsstellung aus einem von dem von der Spaltung betroffenen Unternehmen abgeschlossenen FirmenTV1. Die Frage der kollektivrechtlichen Fortgeltung von FirmenTVen bei den verschiedenen Formen der Spaltung wird somit maßgeblich dadurch beeinflusst, welchem Rechtsträger im Spaltungs- und Übernahmevertrag die Stellung als TV-Partei zugewiesen wurde. Unabhängig hiervon ist unter dem Gesichtspunkt der Tarifzuständigkeit und den im FirmenTV zu seinem Geltungsbereich getroffenen Bestimmungen nach den allgemeinen Regeln zu prüfen, ob sich im Zuge etwaiger betrieblicher oder fachlicher Veränderungen Hindernisse für die weitere kollektivrechtliche Einschlägigkeit des FirmenTVes ergeben.

aa) Tarifgeltung beim von der Spaltung betroffenen Rechtsträger 197

Die Auswirkungen der Spaltung auf die Tarifbindung des übertragenden Rechtsträgers an den bisherigen FirmenTV beurteilen sich in Abhängigkeit von der gewählten Spaltungsart sowie den Regelungen über eine Zuweisung der Rechtsstellung aus dem FirmenTV im Spaltungsplan. Eine kollektivrechtliche Fortgeltung des FirmenTV beim übertragenden Rechtsträger ist jedenfalls dann ausgeschlossen, wenn eine Aufspaltung stattfindet, da diese zu seiner Auflösung ohne Abwicklung führt2. Im Falle einer Abspaltung oder Ausgliederung bleibt die Existenz des übertragenden Rechtsträgers unberührt, so dass eine kollektivrechtliche Fortgeltung des FirmenTVes prinzipiell möglich ist3. Dies kommt dann nicht zum Tragen, wenn im Spaltungsvertrag festgelegt wurde, dass der aufnehmende Rechtsträger an den FirmenTV gebunden sein soll4.

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Umstritten ist, wie die Tarifbindung der beim übertragenden Rechtsträger verbleibenden Arbeitnehmer zu beurteilen ist, wenn der zuvor geltende FirmenTV per Spaltungsplan dem aufnehmenden Rechtsträger zugewiesen wird. Da durch den Übertragungsakt die bisherige Tarifbindung des Arbeitgebers unmittelbar entfällt und somit ein tarifloser Zustand entstehen könnte, ist eine mit dem Verbandsaustritt eines Arbeitgebers vergleichbare Interessenlage gegeben, die angesichts der bestehenden Regelungslücke für die analoge Anwendung von § 3 Abs. 3 TVG spricht5. Es kommt daher für die tarifgebundenen Arbeitsver1 Vgl. BAG v. 24.6.1998 – 4 AZR 208/97, NZA 1998, 1346 (1347); BAG v. 4.7.2007 – 4 AZR 491/06, NZA 2008, 307 (310); WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 101; Bachner, NJW 1995, 2881 (2882); Gaul, NZA 1995, 717 (722); Müller-Bonanni/Mehrens, ZIP 2012, 1217 (1219). 2 WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 112; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 196, 219. 3 Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 186; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 111; Wiedemann/ Oetker, § 3 TVG Rz. 196; wohl auch Gaul, Unternehmensspaltung, § 24 Rz. 142. 4 Kallmeyer/Willemsen, § 324 UmwG Rz. 24; MüAnwHdbArb/Cohnen/Tepass, § 51 Rz. 79; Semler/Stengel/Simon, § 131 UmwG Rz. 51; Thüsing/Braun/Heise, 11. Kap. Rz. 78; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 111; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 197; Müller-Bonanni/Mehrens, ZIP 2012, 1217 (1219). 5 Schmitt/Hörtnagl/Stratz/Hörtnagl, § 131 UmwG Rz. 67; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 111. Für eine entsprechende Anwendung von § 4 Abs. 5 TVG hingegen Semler/ Stengel/Simon, § 131 UmwG Rz. 52; Rieble, Anm. zu BAG v. 24.6.1998 – 4 AZR 208/97, EzA Nr. 1 zu § 20 UmwG; Müller-Bonanni/Mehrens, ZIP 2012, 1217 (1220).

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Auswirkungen einer gesellschaftsrechtlichen Umstrukturierung

Rz. 200 Teil 15

hältnisse der beim übertragenden Rechtsträger verbleibenden Arbeitnehmer zu einer Nachbindung an den FirmenTV bis zu dessen Ablauf. Dies erscheint sachgerecht, weil der Arbeitgeber – wie sich aus der Wertung des § 3 Abs. 3 TVG ergibt – grundsätzlich keine Möglichkeit besitzen soll, die bestehende Tarifbindung durch Einwirkung auf die sie vermittelnde Organisationszugehörigkeit bzw. Parteistellung mit der Folge eines sofortigen Wegfalls des TVes einseitig abzustreifen zu können. Bei Anerkennung dieser Lösung besteht auch kein Missbrauchspotential durch isolierte „Abspaltung“ der Tarifbindung zusammen mit einem arbeitnehmerlosen Unternehmensteil. Eine Fortgeltung der tariflichen Rechte und Pflichten nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB scheidet hingegen aus, da für die beim übertragenden Rechtsträger verbliebenen Arbeitnehmer kein Betriebsinhaberwechsel erfolgt1.

bb) Tarifgeltung beim aufnehmenden Rechtsträger Wurde die Rechtsstellung aus dem FirmenTV im Spaltungsvertrag dem aufnehmenden Rechtsträger zugeordnet, so wird dieser gemäß § 3 Abs. 1 TVG an den TV gebunden2. Für den Fall einer Spaltung zur Aufnahme wird hingegen teilweise vertreten, dass es beim aufnehmenden Rechtsträger nur ausnahmsweise zu einer kollektivrechtlichen Fortgeltung des FirmenTVes kommen könne, wobei insbesondere die Erweiterung des Geltungsbereichs des FirmenTVes als Argument angeführt wird3. Zum einen wird jedoch der FirmenTV vom Geltungsbereich her in der Regel dahingehend auszulegen sein, dass dieser nach der Spaltung nicht auch beim aufnehmenden Rechtsträger bereits bestehende Betriebe umfasst, so dass die Wirkungen des Übergangs der Tarifbindung bereits aus dem Grunde auf die vom übertragenden Rechtsträger übernommenen tarifgebundenen Arbeitsverhältnisse beschränkt bleiben. Zum anderen steht es den Spaltungsparteien frei, eine andere Zuweisung der Rechtsstellung aus dem FirmenTV zu treffen, wenn dies generell ausgeschlossen werden soll. Folglich besteht auch keine Begrenzung der Übertragungsmöglichkeit der Stellung aus einem FirmenTV auf Fälle einer Spaltung zur Neugründung.

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Nach einer in der Literatur vertretenen Ansicht soll es keiner Zuweisung der Rechtsstellung aus einem FirmenTV im Spaltungsplan bedürfen, da vielmehr jeder der aus einer Spaltung hervorgehenden Rechtsträger an die bestehenden FirmenTVe des übertragenden Rechtsträgers gebunden werde4. Diese Sichtweise ist indes mit den tarifrechtlichen Grundsätzen zu den Voraussetzungen der Tarifbindung nicht zu vereinbaren. Soweit kein gesetzlicher Tatbestand

200

1 Ebenso WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 111; a.A. wohl Gaul, Unternehmensspaltung, § 24 Rz. 142; MüAnwHdbArb/Cohnen/Tepass, § 51 Rz. 80. 2 Gaul, Unternehmensspaltung, § 24 Rz. 139; Schmitt/Hörtnagl/Stratz/Hörtnagl, § 131 UmwG Rz. 67; Gaul, NZA 1995, 717 (723); Müller-Bonanni/Mehrens, ZIP 2012, 1217 (1219 f.). 3 Gaul, Unternehmensspaltung, § 24 Rz. 146; Schmitt/Hörtnagl/Stratz/Hörtnagl, § 131 UmwG Rz. 67; Gaul, NZA 1995, 717 (723); a.A. Rieble, Anm. zu BAG v. 24.6.1998 – 4 AZR 208/97, EzA Nr. 1 zu § 20 UmwG. 4 Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 140; Däubler, RdA 1995, 136 (142); Däubler, RdA 2002, 303 f.; in diese Richtung gehend auch Wellenhofer-Klein, ZfA 1999, 239 (262); für den Fall der Aufspaltung jedenfalls Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 185.

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Teil 15

Rz. 201

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

einschlägig ist, der eine Vertragsübernahme durch den aufnehmenden Rechtsträger vorsieht, kann die Bindung einer am TV-Abschluss nicht beteiligten Partei nicht eintreten. Zudem führt die Gegenansicht zu einer Vervielfältigung der Rechtsverhältnisse aus dem FirmenTV bzw. zu einer Zersplitterung der Stellung als TV-Partei auf Arbeitgeberseite. Diese Konsequenz ist jedoch abzulehnen. Die Spaltungsvorschriften gehen von einer eindeutigen Aufteilung und Zuordnung der Rechtsverhältnisse des übertragenden Rechtsträgers im Spaltungsplan aus, welche durch eine spaltungsplanunabhängige Erstreckung oder Verdoppelung von Rechtsverhältnissen vereitelt würde1. Demnach ist an dem Erfordernis einer eindeutigen Zuweisung der Rechtsstellung aus dem FirmenTV festzuhalten, damit es zur Bindung des betreffenden aufnehmenden Rechtsträgers an diesen TV kommt2. 201

Für die bislang tarifunterworfenen Arbeitnehmer gelten im Falle des Übergangs auf einen aufnehmenden Rechtsträger, welchem die Parteistellung aus dem FirmenTV nicht zugewiesen wurde, die Regelungen des § 613a Abs. 1 Satz 2–4 BGB i.V.m. § 324 UmwG im Hinblick auf die Aufrechterhaltung und ggf. Ablösung ihrer bisherigen tariflichen Rechte und Pflichten3. Dies gilt sowohl für den Fall, dass der FirmenTV auf einen anderen aufnehmenden Rechtsträger übertragen wurde (etwa bei der Aufspaltung) als auch falls die Rechtsstellung aus dem FirmenTV bei dem übertragenden Rechtsträger verbleibt. Eine Tarifbindung des aufnehmenden Rechtsträgers kann bei nicht erfolgter Zuordnung des FirmenTVes nicht über § 3 Abs. 3 TVG fingiert werden4. Angesichts des Schutzes durch § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB besteht insofern für die übergehenden tarifgebundenen Arbeitsverhältnisse auch kein Schutzdefizit.

202

Sofern beim aufnehmenden Rechsträger bereits TVe anwendbar sind, kann es bei Übergang der Rechtsstellung aus dem FirmenTV zu einer Kollision von TVen kommen. Die Auflösung richtet sich nach den oben für den Fall der Verschmelzung zweier tarifgebundener Rechtsträger aufgezeigten Grundsätzen (vgl. dazu Rz. 187 ff.).

5. Auswirkungen einer Vermögensübertragung auf die Tarifgeltung 203

Die tarifrechtlichen Auswirkungen einer Vollübertragung des Vermögens entsprechen aufgrund der hiermit ebenfalls verbundenen Gesamtrechtsnachfolge denjenigen bei einer Verschmelzung5. Für die Teilübertragung mit partieller 1 Semler/Stengel/Simon, § 131 UmwG Rz. 51; Thüsing/Braun/Heise, 11. Kap. Rz. 78; Boecken, SAE 2000, 162 (165); Rieble, Anm. zu BAG v. 24.6.1998 – 4 AZR 208/97, EzA Nr. 1 zu § 20 UmwG. 2 Ebenso u.a. Kallmeyer/Willemsen, § 324 UmwG Rz. 24; Schmitt/Hörtnagl/Stratz/ Hörtnagl, § 131 UmwG Rz. 67; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 110; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 198; Boecken, SAE 2000, 162 (165); wohl auch Lambrich, FS Ehmann, S. 169 (189 f.). 3 MüAnwHdbArbR/Cohnen/Tepass, § 51 Rz. 80; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 111; Müller-Bonanni/Mehrens, ZIP 2012, 1217 (1219). 4 WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 111; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 198; Rieble, Anm. zu BAG v. 24.6.1998 – 4 AZR 208/97, EzA Nr. 1 zu § 20 UmwG; Müller-Bonanni/Mehrens, ZIP 2012, 1217 (1219). 5 Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 140; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 113.

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Auswirkungen einer gesellschaftsrechtlichen Umstrukturierung

Rz. 206 Teil 15

Gesamtrechtsnachfolge gelten die obigen Grundsätze zur Spaltung entsprechend (Rz. 193 ff.)1.

6. Auswirkungen eines Formwechsels auf die Tarifgeltung Aufgrund der Beibehaltung der rechtlichen Identität des Arbeitgebers hat der Formwechsel in der Regel keine Auswirkungen auf die Tarifgeltung. Sowohl die Bindung an bestehende FirmenTVe als auch an bestehende VerbandsTVe bleibt hierbei erhalten2.

204

III. Gesamtrechtsnachfolge aufgrund gesellschaftsrechtlicher Anwachsung Die Anwachsung ist ein im Personengesellschaftsrecht geregelter Vorgang, durch den im Falle des Ausscheidens eines Gesellschafters aus der Gesellschaft der Anteil des ausscheidenden Gesellschafters gegen Abfindung den übrigen Gesellschaftern zuwächst (vgl. § 738 Abs. 1 Satz 1 BGB). Verbleibt nach Austritt aus einer zweigliedrigen Personengesellschaft nur noch ein Gesellschafter, so geht das gesamte Geschäftsvermögen der Gesellschaft im Wege der Universalsukzession mit allen Aktiva und Passiva auf den verbleibenden Gesellschafter über3. Die Strukturierungsergebnisse, die durch eine gesellschaftsrechtliche Anwachsung herbeigeführt werden können, sind denen einer umwandlungsrechtlichen Verschmelzung ähnlich. Für eine analoge Anwendung von § 324 UmwG besteht allerdings kein Bedarf, da § 613a BGB auf den Übergang von Betrieben im Rahmen der Anwachsung nach richtiger Ansicht unmittelbar anwendbar ist4.

205

Aufgrund der mit der Anwachsung ebenfalls verbundenen Gesamtrechtsnachfolge kommen in tariflicher Hinsicht dieselben Grundsätze wie im Falle der Verschmelzung von Unternehmen zum Tragen, so dass insbesondere eine kollektivrechtliche Weitergeltung von FirmenTVen möglich ist (vgl. dazu Rz. 185 ff.)5. Im Übrigen richten sich die tarifrechtlichen Folgen für die Arbeitsverhältnisse nach § 613a Abs. 1 Satz 2–4 BGB.

206

1 WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 113; Gaul, NZA 1995, 717 (719). 2 Schmitt/Hörtnagl/Stratz/Stratz, § 194 UmwG Rz. 9; Thüsing/Heise, 11. Kap. Rz. 80; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 114; Henssler, FS Schaub, S. 311 (314). 3 Vgl. BGH v. 16.12.1999 – VII ZR 53/97, NJW 2000, 1119; BGH v. 15.3.2004 – II ZR 247/01, NZG 2004, 611; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 145; WHSS/Seibt, Teil F Rz. 101; Seibt, FS Röhricht, S. 603 f. 4 WHSS/Willemsen, Teil G Rz. 235; Schnitker/Grau, ZIP 2008, 394, 395; Seibt, FS Röhricht, S. 603 (616 ff.); gegen die Anwendbarkeit von § 613a BGB LAG Hamm v. 1.6.2005 – 9 Sa 1123/04, n.v.; Krüger, DStZ, 1986, 382 (384); Wilhelm, FS ARGE Arbeitsrecht im DAV, S. 721 (725); offen gelassen in BAG v. 21.2.2008 – 8 AZR 157/02, NZA 2008, 815 (816). 5 Schnitker/Grau, ZIP 2008, 394 (400); im Ergebnis auch Wilhelm, FS ARGE Arbeitsrecht im DAV, S. 721 (735).

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Teil 15

Rz. 207

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

E. Auswirkungen von Umstrukturierungen auf Tarifverträge über besondere Betriebsratsstrukturen nach § 3 BetrVG 207

§ 3 Abs. 1 BetrVG eröffnet unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit, durch TV (oder ggf. ersatzweise durch Betriebsvereinbarung, vgl. § 3 Abs. 2 und 3 BetrVG) besondere betriebsverfassungsrechtliche Betriebs- und Arbeitnehmervertretungsstrukturen zu schaffen. Dies betrifft insbesondere die Bildung eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 lit. a BetrVG) oder die Zusammenfassung von Betrieben zu einem einzigen Betrieb (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 lit. b BetrVG). Darüber hinaus können weitere besondere unternehmens- oder konzerninterne Arbeitnehmervertretungsstrukturen auf Basis eines TVes errichtet werden (vgl. § 3 Abs. 1 Nr. 2–5 BetrVG)1. Im Rahmen von Umstrukturierungen sind Auswirkungen auf diese Strukturen in mehrfacher Hinsicht möglich. Zum einen stellt sich in Fällen der Rechtsnachfolge auf Arbeitgeberseite die Frage nach der Übergangsfähigkeit des TVes und der darin vereinbarten besonderen Strukturen. Daneben können sich auch durch arbeitgeberinterne Umstrukturierungen die betrieblichen Rahmenbedingungen derart verändern, dass sich die Frage stellt, ob die tariflichen Regelungen aufrechterhalten werden können. In diesen Fällen ergeben sich vielfältige und teilweise komplexe Rechtsfragen an der Schnittstelle zwischen Tarifvertrags- und Betriebsverfassungsrecht, die in der Rechtsprechung noch wenig geklärt sind und hier nur in einigen Grundzügen kurz aufgegriffen werden sollen.

I. Übertragungen mit Rechtsnachfolge auf Seiten des Arbeitgebers 208

In der Regel handelt es sich bei tariflichen Vereinbarungen nach § 3 Abs. 1 BetrVG um FirmenTVe, in manchen Fällen auch um firmenbezogene VerbandsTVe2. Soweit die Betriebe des Arbeitgebers im Wege der Einzelrechtsübertragung nach § 613a BGB auf ein anderes Unternehmen übergehen3, ist eine kollektivrechtliche Fortgeltung des FirmenTVes bei dem Erwerber grundsätzlich ausgeschlossen, sofern dieser keinen entsprechenden eigenen AnerkennungsTV mit der Gewerkschaft abschließt (vgl. Rz. 36). Mit Wegfall der normativen Geltung des TVes beim Arbeitgeber besteht keine Rechtsgrundlage mehr für die tarifliche Betriebsratsstruktur. Zu einer Fortwirkung der Regelungen des TVes über besondere Betriebsverfassungsstrukturen beim Erwerber gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB kommt es nicht, da es sich nicht um allein übergangsfähige tarifliche Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis, sondern um betriebsverfassungsrechtliche Normen des TVes handelt4. Zudem könnte 1 Näher dazu u.a. GK-BetrVG/Franzen, § 3 Rz. 6 ff.; Gaul/Mückl, NZA 2011, 657 ff.; Gistel, Gewillkürte Betriebsverfassung und Umstrukturierung, 2006; Teusch, NZA 2007, 124 ff.; Utermark, Betriebsverfassung als Verhandlungsgegenstand, 2005. 2 GK-BetrVG/Franzen, § 3 Rz. 30; Gaul/Mückl, NZA 2011, 657; Thüsing, ZIP 2003, 693 (697). 3 Die Existenz besonderer Betriebsstrukturen nach § 3 TVG hat keine Auswirkungen auf den Betriebsbegriff i.S.v. § 613a BGB; Gistel, Gewillkürte Betriebsverfassung, 2006, S. 77 ff.; Mückl, DB 2010, 2615 (2619). 4 HWK/Gaul, § 3 BetrVG Rz. 41; Gistel, Gewillkürte Betriebsverfassung, 2006, S. 149 f.; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 377; siehe ferner oben Rz. 51 f.

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Auswirkungen auf TVe über besondere Betriebsratsstrukturen

Rz. 209 Teil 15

die notwendige betriebseinheitliche Geltung der Regelungen des TVes durch § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB nicht erreicht werden. Der fehlende Übergang des TVes auf den Erwerber verstößt nicht gegen die Vorgaben von Art. 3 Abs. 3 RL 2001/23/EG (vgl. Rz. 53). In der Literatur wird dennoch teilweise ein Eintritt des Erwerbers in den TV über die besonderen betriebsverfassungsrechtlichen Strukturen im Wege einer Nachbindung analog § 3 Abs. 3 TVG befürwortet1. Dies ist abzulehnen, schon weil die Vorschrift selbst bei unmittelbarer Anwendung keine erstmalige (originäre) Tarifbindung eines tarifungebundenen Arbeitgebers herstellt. Ohnehin wäre eine Fortgeltung der Regelungen des TVes praktisch nur sinnvoll, wenn der Erwerber sämtliche Einheiten übernimmt, welche von der tariflich gebildeten Repräsentationseinheit umfasst sind. Nur im Fall einer Identität von veräußerter Einheit und der durch den TV geschaffenen betriebsverfassungsrechtlichen Organisations- bzw. Vertretungsstruktur (z.B. im Falle der Veräußerung aller Betriebe und Errichtung eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats) kann insofern auch fraglich sein, ob der besondere Betriebsrat trotz fehlender Tarifbindung des Erwerbers an den zugrunde liegenden TV beim Erwerber noch bis zum Ablauf der regulären Amtsperiode im Amt bleibt und erst anschließend ein neuer Betriebsrat auf Basis der allgemeinen Bestimmungen im BetrVG zu wählen ist2. Für dieses Ergebnis spricht, dass ein Fortbestand des bisherigen Betriebsrats auch sonst bei Wegfall des zugrunde liegenden TVes noch für die Dauer der restlichen Amtszeit für möglich gehalten wird, sofern sich die betrieblichen Strukturen nicht entscheidend ändern3. Nach anderer Ansicht kommt ein Übergangsmandat analog § 21a BetrVG zum Tragen, bis die Betriebsräte auf Grundlage der nunmehr maßgeblichen gesetzlichen Zuständigkeit neu gewählt sind4. Werden anstatt sämtlicher unter die aufgrund des TVes gebildeten besonderen Repräsentationsstrukturen fallenden Einheiten nur einzelne Betriebe oder Betriebsteile übertragen bzw. im Falle des § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG eine einzelne Sparte, so fällt der übertragene Bereich aus dem Geltungsbereich der tariflichen Strukturvereinbarung heraus5. Auf die weitere Anwendbarkeit des TVes über die besonderen Vertretungsstrukturen beim Veräußerer hat dies keine Auswirkungen, sofern nicht die im TV zugrunde gelegte Einheit durch die Veräußerung von Teilen hiervon insgesamt ihre Identität verliert. Hingegen können insbesondere unternehmenseinheitliche Gremien beim Erwerber nicht aufrechterhalten werden, da diese bei Übernahme einzelner Betriebe aus dem Unternehmenszusammenhang gerissen werden, für den sie gebildet wurden6. Wird im Zuge der Übertragung ein Teilbereich aus einer durch den TV zusam1 DKKW/Trümner, § 3 BetrVG Rz. 225; Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 108; Däubler, DB 2005, 666 (668); Utermark, Betriebsverfassung als Verhandlungsgegenstand, 2005, S. 204 f.; ablehnend Fitting, § 3 BetrVG Rz. 89; WHSS/Hohenstatt, Teil D Rz. 195. 2 Dafür DKKW/Trümner, § 3 BetrVG Rz. 227; Fitting, § 3 BetrVG Rz. 89 m.w.N. 3 Fitting, § 3 BetrVG Rz. 84; GK-BetrVG/Franzen, § 3 Rz. 36. 4 So für den Wegfall des TVes Richardi/Richardi, § 3 BetrVG Rz. 65 sowie Thüsing, ZIP 2003, 693 (704). 5 Dieser Vorgang kann mit einer Betriebsänderung i.S.v. § 111 BetrVG verbunden sein; näher WHSS/Hohenstatt, Teil D Rz. 196 f. m.w.N. 6 Wohl auch Däubler, DB 2005, 666 (668).

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Teil 15

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Rz. 210

Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel

mengefassten Repräsentationseinheit herausgelöst, so kommt es zu einer mit einer Betriebsspaltung vergleichbaren Konstellation. In dem Fall kommt ein Übergangsmandat gemäß § 21a BetrVG des auf Basis des TVes gebildeten und beim Veräußerer bestehen bleibenden Betriebsrat für den „abgespaltenen“ Bereich in Betracht, sofern dieser nicht beim Erwerber in einen Betrieb mit bestehendem Betriebsrat eingegliedert wird1. Im Falle einer Verschmelzung erfolgt aufgrund der Gesamtrechtsnachfolge eine kollektivrechtliche Fortgeltung des FirmenTVes über die besonderen Strukturen nach § 3 Abs. 1 BetrVG beim aufnehmenden Rechtsträger. Der Eintritt des Erwerbers in den TV bereitet in der Regel keine Probleme, sofern die darin vereinbarten Strukturen auf den Bereich des übertragenden Unternehmens bezogen waren und der aufnehmende Rechsträger diese fortführt2. Handelte es sich bei den übertragenen Einheiten um Bestandteile einer konzernweiten Struktur (z.B. Vereinbarung eines unternehmensübergreifenden Spartenbetriebsrats durch einen mehrgliedrigen TV3), so ist die Aufrechterhaltung der bisherigen Repräsentationsstruktur bei Herausverschmelzung eines der beteiligten Unternehmen aus dem Konzern bei dem aufnehmenden Rechtsträger nicht möglich. Der TV wird dann bei dem aufnehmenden Rechtsträger gegenstandslos und somit unanwendbar. Dem dürfte im Sinne der Rechtsklarheit durch ein außerordentliches Kündigungsrecht der TV-Parteien Rechnung zu tragen sein4. Entsprechend dem oben Gesagten kommt ein Übergangsmandat des arbeitgeberübergreifenden Spartenbetriebsrats für die durch Herausverschmelzung „abgespaltene“ Einheit in Betracht. Problematisch ist die Rechtslage auch, wenn ein Unternehmen mit unternehmenseinheitlichem Betriebsrat auf einen Rechtsträger mit bereits bestehenden Betrieben und Betriebsratsgremien verschmolzen wird. Hier spricht bis zu einer Beendigung des TVes bzw. bis zum Ablauf der Amtszeit des unternehmenseinheitlichen Betriebsrats (oder jedenfalls bis zur Integration der Betriebsstrukturen) vieles dafür, dass der unternehmenseinheitliche Betriebsrat neben den beim aufnehmenden Unternehmen bereits existierenden Vertretungsgremien bestehen bleibt, zumal der zugrunde liegende FirmenTV beim aufnehmenden Rechtsträger weiterhin normativ gilt. Allerdings sind die Zuständigkeiten des unternehmenseinheitlichen Betriebsrats in dem Fall auf die ursprünglich von ihm vertretenen Betriebe des übertragenden Rechtsträgers begrenzt und dehnen sich nicht auf die beim aufnehmenden Rechtsträger bereits vorhandenen Betriebe unter Verdrängung der dortigen Arbeitnehmervertretungsgremien aus5. Kommen umgekehrt Betriebe zu einem Unternehmen hinzu, für das ein unternehmenseinheitlicher Betriebsrat errichtet wurde, so kommt es in erster Linie 1 GK-BetrVG/Franzen, § 3 Rz. 61; HWK/Gaul, § 3 BetrVG Rz. 44; WHSS/Hohenstatt, Teil D Rz. 196 f. Siehe auch näher zu Verschmelzungskonstellationen Trappehl/Zimmer, BB 2008, 778 ff. 2 Vgl. HWK/Gaul, § 3 BetrVG Rz. 42 f.; Thüsing, ZIP 2003, 693 (705). 3 Der TV muss in dem Fall von allen Konzernunternehmen geschlossen werden; Fitting, § 3 BetrVG Rz. 44. 4 Ähnlich Thüsing, ZIP 2003, 693 (704 f.). 5 Vgl. auch Fitting, § 3 BetrVG Rz. 86 mit Nachw. zur Gegenansicht.

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Auswirkungen auf TVe über besondere Betriebsratsstrukturen

Rz. 214 Teil 15

auf die in dem zugrunde liegenden TV getroffenen Regelungen sowie bei Fehlen ausdrücklicher Bestimmungen auf die Auslegung der Vereinbarung an, ob die neuen Betriebe unmittelbar von der Strukturvereinbarung erfasst werden sollen1. Teilweise wird angenommen, dass dies erst ab der nächsten folgenden Betriebsratswahl erfolgen könne, so dass der Betriebsrat des hinzuerworbenen Betriebes nicht unmittelbar verdrängt wird2. Dies erscheint aber bei entsprechender Integrationsoffenheit der tariflichen Strukturvereinbarung keineswegs zwingend, zumal auch sonstige betriebliche Eingliederungsprozesse dazu führen können, dass ein Teil der Arbeitnehmer von einem Gremium vertreten wird, an dessen Wahl sie (noch) nicht beteiligt waren3. In der Praxis sollten die Auswirkungen derartiger Veränderungen in dem betreffenden TV ausdrücklich geregelt werden, um entsprechende Unklarheiten zu vermeiden. Denkbar ist auch, dass sich der Hinzuerwerb als Zusammenlegung von Betrieben darstellt mit der Folge, dass ggf. ein Übergangsmandat für den nach § 3 BetrVG gebildeten Betriebsrat ausgelöst wird (§ 21a Abs. 2 BetrVG)4.

II. Sonstige Umstrukturierungen Auch bei Geltung eines TVes nach § 3 Abs. 1 BetrVG ist der Arbeitgeber nicht daran gehindert, während der Laufzeit des TVes Umstrukturierungen vorzunehmen (unter ggf. erforderlicher Wahrung der §§ 111 ff. BetrVG), durch welche sich die im TV zugrunde gelegten betrieblichen Strukturen verändern5. Entfällt durch die Umstrukturierung das Substrat für die tarifliche Strukturvereinbarung, weil die Einheit, für welche die besondere Arbeitnehmervertretungsstruktur gebildet wurde, ihre Identität eingebüßt hat, so dass die sinnvolle Handhabung des TVes nicht mehr möglich ist, so führt dies zwar nicht zum automatischen Wegfall der kollektivrechtlichen Geltung des TVes6. Allerdings gehen die von dem TV getroffenen Anordnungen fortan ins Leere und haben keine Auswirkungen mehr auf die veränderte Betriebsverfassungsstruktur7. In dem Fall wird man den TV-Parteien zudem ein außerordentliches Kündigungsrecht zubilligen müssen, um die Tarifgeltung auch formal zu beenden.

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Sofern die im TV für den Repräsentationsbereich zugrunde gelegte Einheit ihre Identität verliert, kommt es zur vorzeitigen Beendigung der Amtszeit der für diese Einheit gebildeten Arbeitnehmervertretung. Allerdings können in dem Fall die Regelungen zum Rest- und Übergangsmandat in §§ 21a, b BetrVG entsprechend zur Anwendung kommen, um einen etwaig eintretenden vertretungslosen Zustand zu verhindern8.

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1 GK-BetrVG/Franzen, § 3 Rz. 63; HWK/Gaul, § 3 TVG Rz. 47; WHSS/Hohenstatt, Teil D Rz. 198 m.w.N. Siehe zu einem solchen Fall auch ArbG Hamburg v. 13.6.2006 – 19 BV 16/06, NZA-RR 2006, 645 ff. 2 Trümner, FA 2007, 226 (229). 3 Siehe auch LAG Schleswig-Holstein v. 9.7.2008 – 3 TaBV 4/08, n.v. 4 Vgl. GK-BetrVG/Franzen, § 3 Rz. 63. 5 Fitting, § 3 BetrVG Rz. 86. 6 Fitting, § 3 BetrVG Rz. 86; ähnlich DKKW/Trümner, § 3 BetrVG Rz. 233 f. 7 Vgl. auch LAG Hamburg v. 7.12.1995 – 1 TaBV 5/95, LAGE Nr. 1 zu § 3 BetrVG 1972. 8 Fitting, § 3 BetrVG Rz. 86; Thüsing, ZIP 2003, 693 (704).

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Teil 16 Gerichtliche Durchsetzung tariflicher Ansprüche Rz. A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Rechtsstreite unter Beteiligung der Taifvertragsparteien I. Rechtsstreite zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden 1. Verbandsklage . . . . . . . . . . . . . . . a) Streitgegenstand . . . . . . . . . b) Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Klageart . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Rechtsverhältnis . . . . . bb) Feststellungsinteresse d) Entscheidung und Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einwirkungsklage . . . . . . . . . . . a) Durchführungs- und Einwirkungspflicht . . . . . . . . . b) Einwirkungsmittel . . . . . . . c) Klageantrag . . . . . . . . . . . . . d) Zwangsvollstreckung . . . . 3. Verfahren über die Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit einer Vereinigung . . . . . . . . . . . . . a) Verfahrensgegenstand . . . . b) Einleitung und Antragsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Beteiligte . . . . . . . . . . . . . . . e) Rechtsschutzinteresse . . . . f) Bindungswirkung . . . . . . . . g) Wiederaufnahmeverfahren h) Aussetzung . . . . . . . . . . . . . 4. Klage auf Abschluss eines Tarifvertrages . . . . . . . . . . . . . . .

1

2 3 4 9 10 11 13 17 18 20 21 24

25 26 27 33 36 39 43 44 45 47

II. Rechtsstreite zwischen Gewerkschaften und einzelnen Arbeitgebern wegen tarifwidrigen Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 1. Unterlassungsanspruch wegen gleichzeitiger Verletzung betriebsverfassungsrechtlicher Pflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2. Unterlassungsanspruch a) Rechtsgrundlage . . . . . . . . . 50 b) Gerichtliche Durchsetzung

Rz. aa) Maßnahmen unter Beteiligung des Betriebsrats . . . . . . . . . . . . bb) Maßnahmen ohne Beteiligung des Betriebsrats . . . . . . . . . . . . c) Antrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Prozessstandschaft der Gewerkschaften und Folgenbeseitigungsanspruch . . . . . . . .

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52 53

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C. Tarifliche und gesetzliche Verfahrensbestimmungen I. Tariflicher Ausschluss der Arbeitsgerichtsbarkeit (§§ 101, 102 ArbGG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gesamtschiedsvereinbarung . . a) Geltungsbereich . . . . . . . . . b) Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einzelschiedsvereinbarung . . . a) Geltungsbereich . . . . . . . . . b) Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bühnenschiedsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . e) Aufhebungsverfahren . . . .

57 58 59 60 61 62 63 64 65 66

II. Tarifliche Zuständigkeitsbestimmungen (§ 48 Abs. 2 ArbGG) 1. Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 2. Zulässigkeit und Inhalt abweichender tariflicher Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 III. Ausschlussfristen 1. Ersetzung der (außergerichtlichen) Geltendmachung durch Klage a) Fristwahrung . . . . . . . . . . . . b) Kündigungsschutzklage . . 2. Gerichtliche Geltendmachung a) Fristbeginn . . . . . . . . . . . . . . b) Klage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Streitiger Bestand des Arbeitsverhältnisses . . . . . . . . d) Fristwahrung . . . . . . . . . . . . e) Wiedereinsetzung . . . . . . . .

Gäntgen

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75 76 77 78 79 82 83

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Teil 16

Rz. 1

Gerichtliche Durchsetzung tariflicher Ansprüche Rz.

IV. Eingruppierungsfeststellungsklagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Antrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Prüfungsumfang . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtsschutzinteresse a) Regelfall . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sonderfälle aa) Einzelne Elemente eines Rechtsverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Vergangenheitsbezogene Feststellung . . . . cc) Widerklage . . . . . . . . . .

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Rz. dd) Zwischenfeststellungsklage . . . . . . . 93 ee) Zinsen . . . . . . . . . . . . . . 94 D. Rechtsmittel I. Zulassung der Berufung nach § 64 Abs. 3 ArbGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 II. Zulassung der Revision nach § 72 ArbGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

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III. Sprungrevision nach § 76 ArbGG 101

91 92

E. Informationspflichten der Gerichte für Arbeitssachen bei Rechtsstreiten mit Tarifbezug . . . 106

A. Einleitung 1

Regelungen von prozessualer Bedeutung finden sich sowohl im Gesetz als auch in den TVen selbst. Zudem können tarifliche Bestimmungen wegen ihrer normativen Wirkung in nahezu allen Rechtsstreiten vor den Gerichten für Arbeitssachen von Bedeutung sein.

B. Rechtsstreite unter Beteiligung der Tarifvertragsparteien I. Rechtsstreite zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden 1. Verbandsklage 2

Der Begriff „Verbandsklage“ umfasst Rechtsstreite zwischen den TV-Parteien über den Bestand oder den normativen Inhalt des zwischen ihnen abgeschlossenen TV.

a) Streitgegenstand 3

Die Verbandsklage hat entweder die Auslegung („Rechtsstreitigkeit aus dem TV“) oder die Wirksamkeit eines TVes („Rechtsstreitigkeit über das Bestehen oder Nichtbestehen des TVes“) zum Gegenstand. Gegenstand der Verbandsklage kann – das Bestehen oder Nichtbestehen eines TVes im Ganzen oder – die Gültigkeit einer einzelnen Tarifnorm1, 1 Wiedemann/Oetker, § 9 TVG Rz. 22.

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Rechtsstreite unter Beteiligung der Tarifvertragsparteien

Rz. 5 Teil 16

– die Auslegung einer einzelnen Tarifnorm1, – die Geltung eines TVes für bestimmte Betriebe, – die Geltung eines TVes für bestimmte Arbeitnehmer in einem tarifgebundenen Betrieb2, – die Frage, welcher von mehreren in Betracht kommenden TVen auf bestimmte Arbeitsverhältnisse anzuwenden ist3, – die Erfüllung bestimmter Tarifmerkmale durch eine abgrenzbare Gruppe von Arbeitnehmern, – der Anspruch von Arbeitnehmern auf bestimmte tarifliche Leistungen4, – die Feststellung, ob eine Partei (nicht) TV-Partei ist, wenn die Gegenseite die gegenteilige Auffassung vertritt5, sein6. Die Feststellung eines tarifwidrigen Arbeitgeberverhaltens kann nicht Streitgegenstand einer Verbandsklage sein, selbst wenn die Auseinandersetzung in einem unterschiedlichen Verständnis der Tarifnorm wurzelt7. Streitig ist, ob sich der Gegenstand des Rechtsstreits nur auf den normativen oder auch auf den schuldrechtlichen Teil des TVes beziehen kann8. Gegen letzteres spricht entscheidend der Umstand, dass § 9 TVG ein Ausfluss der Normsetzungsbefugnis der TV-Parteien ist und damit nicht auf bürgerliche Streitigkeiten der TV-Parteien abzielt9.

b) Parteien § 9 TVG setzt einen Rechtsstreit zwischen den TV-Parteien voraus, die sich bei den TV-Verhandlungen gegenüber standen, also

4

– bei einem VerbandsTV einen Rechtsstreit zwischen einem Arbeitgeberverband und einer Gewerkschaft und – bei einem FirmenTV einen Rechtsstreit zwischen dem Arbeitgeber und einer Gewerkschaft. Nicht unter § 9 TVG fallen

5

1 2 3 4 5 6

Wiedemann/Oetker, § 9 TVG Rz. 22. BAG v. 10.6.2009 – 4 AZR 77/08, ZTR 2010, 73. BAG v. 23.2.1995 – 6 AZR 329/94, NZA 1996, 19. BAG v. 12.12.2007 – 4 AZR 991/06, ZTR 2008, 315. BAG v. 4.7.2007 – 4 AZR 491/06, NZA 2008, 37. BAG v. 12.4.2000 – 5 AZR 372/98, NZA 2002, 226; BAG v. 12.4.2000 – 5 AZR 228/98, NZA 2001, 1028. 7 BAG v. 18.4.2012 – 4 AZR 371/10. 8 Bejahend HWK/Henssler, § 9 TVG Rz. 13; Wiedemann/Oetker, § 9 TVG Rz. 23 etwa für den Fall der obligatorischen Tarifbestimmungen, die schuldrechtliche Ansprüche zu Gunsten Dritter begründen; ablehnend GMPM/Matthes/Schlewing, § 2 ArbGG Rz. 21. 9 GMPM/Matthes/Schlewing, § 2 ArbGG Rz. 21.

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Teil 16

Rz. 6

Gerichtliche Durchsetzung tariflicher Ansprüche

– Rechtsstreite zwischen TV-Parteien und Dritten, etwa zwischen einer TVPartei und einem einzelnen Arbeitgeber oder Arbeitnehmer1, – Rechtsstreite zwischen einer TV-Partei und einer am TV nicht beteiligten Vereinigung (Drittrechtsverhältnisse), etwa die von einer konkurrierenden Gewerkschaft begehrte Feststellung der Unwirksamkeit eines von einer anderen Gewerkschaft mit der gegnerischen TV-Partei abgeschlossenen TV2, – Rechtsstreite zwischen TV-Parteien, die auf derselben Verhandlungsseite gestanden haben3. 6

Ausreichend ist, dass die Partei behauptet, TV-Partei zu sein. Ob sie es tatsächlich ist, muss im Rechtsstreit geklärt werden4.

7

Bei mehrgliedrigen TVen besteht keine notwendige Streitgenossenschaft im Sinne des § 62 ZPO zwischen den auf einer Seite stehenden TV-Parteien5. Sie sind nicht nur gemeinschaftlich, sondern einzeln aktiv oder passiv legitimiert, da eine Tarifauslegung aus Gründen der Tarifautonomie nicht notwendig allen TV-Parteien gegenüber einheitlich festgestellt werden muss. Ein Urteil, das auf die Verbandsklage einer TV-Partei hin ergeht, berührt das Verhältnis der anderen auf ihrer Seite stehenden TV-Parteien zum TV-Kontrahenten nicht6.

8

Bei EinheitsTVen, die von mehreren auf einer Seite handelnden TV-Parteien in der Form abgeschlossen werden, dass bestimmte Vertragsrechte nur gemeinsam ausgeübt werden können7, sind die Vertragsparteien der einen Seite hingegen notwendige Streitgenossen8. EinheitsTVe stellen nicht mehrere rechtlich selbständige Tarifwerke, sondern einen einheitlichen TV mit mehreren Vertragsparteien auf einer Seite dar. Die Vertragsparteien einer Seite werden durch den TV gemeinsam berechtigt und verpflichtet. Sie können ihre Rechte gegenüber der Gegenpartei nur gemeinsam ausüben.

c) Klageart 9

Die die Verbandsklage ist weder auf eine vollstreckungsfähige Leistung gerichtet, noch hat sie rechtsgestaltenden Charakter. Sie wird daher als Feststellungsklage erhoben9. Die Zulässigkeit der Verbandsklage setzt somit nach § 256 Abs. 1 ZPO grundsätzlich voraus, dass sie auf die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines konkreten Rechtsverhältnisses gerichtet ist und dass ein besonderes Feststellungsinteresse besteht. Beide Voraussetzungen lassen sich bei der Verbandsklage nicht ohne Weiteres bejahen. 1 2 3 4 5 6 7 8 9

Wiedemann/Oetker, § 9 TVG Rz. 17. BAG v. 9.12.2009 – 4 AZR 190/08, NZA 2010, 712. HWK/Henssler, § 9 TVG Rz. 11; Wiedemann/Oetker, § 9 TVG Rz. 15. BAG v. 9.12.2009 – 4 AZR 190/08, NZA 2010, 712. Schwab/Weth/Walker, § 2 ArbGG Rz. 57. BAG v. 28.9.1977 – 4 AZR 446/76, AP Nr. 1 zu § 9 TVG 1969. BAG v. 10.11.1993 – 4 AZR 184/93, NZA 1994, 892. BAG v. 29.6.2004 – 1 AZR 143/03, ZTR 2005, 141. BAG v. 10.6.2009 – 4 AZR 77/08, ZTR 2010, 73; BAG v. 12.4.2000 – 5 AZR 228/98, NZA 2001, 1028; BAG v. 28.9.1977 – 4 AZR 446/76, AP Nr. 1 zu § 9 TVG 1969.

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Rechtsstreite unter Beteiligung der Tarifvertragsparteien

Rz. 11 Teil 16

aa) Rechtsverhältnis Unter einem „Rechtsverhältnis“ versteht man gemeinhin die Beziehung einer Person zu einer anderen Person, die ein subjektives Recht enthält oder aus der solche Rechte entspringen können1. Allerdings begründet ein TV in seinem normativen Teil keine Rechte und Pflichten der TV-Parteien. Ein Rechtsverhältnis lässt sich auch nicht mit der Überlegung begründen, dass es um die Feststellung der rechtlichen Verpflichtungen aus der Durchführung des TVes gehe2. Hier hilft § 9 TVG weiter, der den Anwendungsbereich des § 256 Abs. 1 ZPO auf die Klärung von Wirksamkeits- und Auslegungsfragen und somit letztlich auf die Klärung von reinen Rechtsfragen erweitert. Das BAG spricht insoweit von abstrakten Rechtsverhältnissen3 und abstrakten Rechtsbegriffen4. Zulässig kann selbst eine sog. Elementenfeststellungsklage sein, die nur eine Vorfrage berührt und keine endgültige Klärung des Fragenkomplexes herbeiführt5.

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bb) Feststellungsinteresse Ferner garantiert § 9 TVG das erforderliche Feststellungsinteresse. Es ergibt sich aus der Bindungswirkung der rechtskräftigen Entscheidung für weitere Rechtsstreitigkeiten zwischen den tarifgebundenen Parteien sowie zwischen ihnen und Dritten6. Das Feststellungsinteresse für die Verbandsklage ist gleichwohl nur gegeben, wenn ein Streit zwischen den TV-Parteien entstanden ist. Nicht erforderlich ist, dass bereits einzelne Arbeitnehmer ihre Ansprüche im Wege der Individualklage verfolgen7 oder andere Rechtsstreite anhängig oder zu erwarten sind, in denen es auf die begehrte Feststellung ankommt8. Ein Feststellungsinteresse ist jedoch zu verneinen, wenn die Wirksamkeit des TVes oder einzelner Tarifnormen zwischen den TV-Parteien selbst unstreitig ist und nur von Dritten, also etwa von Behörden oder einzelnen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, angezweifelt wird9. Ein Feststellungsinteresse ist schließlich zu verneinen, wenn die Feststellung keine Auswirkungen auf die rechtliche Lage der Partei hätte. Unzulässig wäre daher die Klage eines Arbeitgeberverbands auf Feststellung, dass die Gewerkschaft keine bestimmten Forderungen an die Mitgliedsfirmen seines Verbandes stellen darf, wenn er aus dieser Feststellung keine Rechtsfolgen für seine eigene Rechtsposition herleiten kann10.

1 Zöller/Greger, § 256 ZPO Rz. 3. 2 So aber LAG Hessen v. 2.12.2004 – 9 Sa 881/04; zudem schlösse ein solches Verständnis die Verbandsklage für Tarifnormen im Nachwirkungszeitraum aus, siehe Löwisch/Rieble, § 9 TVG Rz. 3. 3 BAG v. 6.6.2007 – 4 AZR 411/06, NZA 2008, 1086. 4 BAG v. 15.12.2010 – 4 AZR 197/09, EzA § 4 TVG Metallindustrie Nr. 137. 5 BAG v. 15.12.2010 – 4 AZR 197/09, EzA § 4 TVG Metallindustrie Nr. 137. 6 BAG v. 10.6.2009 – 4 AZR 77/08, ZTR 2010, 73. 7 BAG v. 30.5.1984 – 4 AZR 512/81, NZA 1984, 300. 8 BAG v. 4.7.2007 – 4 AZR 491/06, NZA 2008, 37; BAG v. 15.12.2010 – 4 AZR 197/09. 9 BAG v. 30.5.2001 – 4 AZR 387/00, NZA 2002, 228. 10 BAG v. 21.12.1982 – 1 AZR 411/80, NJW 1983, 1750.

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Teil 16 12

Rz. 12

Gerichtliche Durchsetzung tariflicher Ansprüche

Bezieht sich die Klage, wie etwa bei einem beendeten TV ohne Nachwirkung, auf eine die Vergangenheit betreffende Feststellung, ist die Klage zulässig, wenn sich aus der begehrten Feststellung noch Rechtsfolgen für die Gegenwart oder die Zukunft ergeben1. Das ist etwa der Fall, wenn zahlreiche Individualprozesse im Hinblick auf das noch während der Laufzeit des TVes angestrengte Verfahren nach § 9 TVG ausgesetzt oder ruhend gestellt worden waren und Arbeitnehmer und Arbeitgeber Regelungen für den Ausgang des Verfahrens getroffen haben2.

d) Entscheidung und Rechtsfolgen 13

§ 9 TVG verallgemeinert die subjektive Rechtskraftwirkung der Entscheidungen und dehnt sie über die §§ 325 ff. ZPO hinaus auf (nachfolgende) Rechtsstreitigkeiten zwischen tarifgebundenen Parteien sowie zwischen diesen und Dritten aus3. Damit gewährleistet die Vorschrift zunächst, dass in einem neuen Prozess keine von der bindenden Vorentscheidung abweichende Sachentscheidung ergeht4. Darüber hinaus stärkt5 die Bindungswirkung die Normsetzungsbefugnis der TV-Parteien, indem sie die normative Wirkung des TVes mit einer einheitlichen rechtlichen Beurteilung untersetzt6 und seine einheitliche Anwendung gewährleistet7. Schließlich dient § 9 TVG der Vermeidung unnötiger Leistungsklagen zwischen den Arbeitsvertragsparteien8.

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Die Entscheidung muss von einem Gericht für Arbeitssachen, also einem Arbeitsgericht, einem Landesarbeitsgericht oder dem BAG ergangen sein. § 9 TVG gilt nicht für Schiedssprüche eines Schiedsgerichts9. Die Entscheidung muss sich inhaltlich mit der tarifrechtlichen Frage auseinandersetzen. § 9 TVG erfasst daher zusprechende Versäumnisurteile, da sie eine Schlüssigkeitsprüfung voraussetzen, nicht aber10 – Prozessurteile und klageabweisende Versäumnisurteile, da sie keine materiell-rechtliche Aussage treffen, – Anerkenntnis- und Verzichtsurteile, da die Gefahr besteht, dass mittels des Gerichts eine tarifliche Frage mit Bindungswirkung unzutreffend geklärt würde,

1 BAG v. 6.6.2007 – 4 AZR 411/06, NZA 2008, 1086; BAG v. 15.12.2010 – 4 197/09. 2 BAG v. 6.6.2007 – 4 AZR 411/06, NZA 2008, 1086. 3 BAG v. 30.5.1984 – 4 AZR 512/81, NZA 1984, 300; Wiedemann/Oetker, § 9 Rz. 10 ff. 4 So noch BAG v. 28.9.1977 – 4 AZR 446/76, AP Nr. 1 zu § 9 TVG 1969. 5 BAG v. 6.6.2007 – 4 AZR 411/06, NZA 2008, 1086; BAG v. 15.12.2010 – 4 197/09. 6 BAG v. 9.12.2009 – 4 AZR 190/08, NZA 2010, 712. 7 BAG v. 6.6.2007 – 4 AZR 411/06, NZA 2008, 1086; HWK/Henssler, § 9 TVG Rz. 8 BAG v. 6.6.2007 – 4 AZR 411/06, NZA 2008, 1086. 9 HWK/Henssler, § 9 TVG Rz. 16; Wiedemann/Oetker, § 1 TVG Rz. 34 ff. 10 HWK/Henssler, § 9 TVG Rz. 15.

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AZR

TVG

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2.

Rechtsstreite unter Beteiligung der Tarifvertragsparteien

Rz. 18 Teil 16

– Vergleiche1, da sie nicht in Rechtskraft erwachsen können und die Möglichkeit der Manipulation eröffnen würden. Ein Vergleich kann jedoch als authentische Interpretationshilfe bei der Auslegung des TVes hilfreich sein2. Die Bindungswirkung erstreckt sich auf alle Rechtsstreite, die denselben TV betreffen und zwischen3

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– den Parteien des Rechtsstreits, – den Mitgliedern der TV-Parteien, – einem tarifgebundenen Mitglied der TV-Partei und einem Dritten, etwa einem Rechtsnachfolger oder einem Schädiger, der Verdienstausfall in Höhe des Tarifentgelts zu zahlen hat4, – mit gemeinsamen Einrichtungen der TV-Parteien (§ 4 Abs. 2 TVG), – Außenseitern bei allgemeinverbindlichen TVen (§ 5 Abs. 4 TVG) vor deutschen Gerichten, nicht nur vor den für Arbeitssachen, sowie allen Schiedsgerichten geführt werden. Keine Bindungswirkung tritt ein, wenn nur der Arbeitsvertrag zwischen tarifungebundenen Arbeitsvertragsparteien auf den TV Bezug nimmt5, oder bei anderen TVen mit einer gleichen oder ähnlichen Norm6. Bei mehrgliedrigen TVen beschränkt sich die Bindungswirkung auf die konkret am Prozess beteiligten Verbände und deren Mitglieder7.

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2. Einwirkungsklage Mit der Einwirkungsklage will eine TV-Partei, zumeist eine Gewerkschaft, erreichen, dass ihr Tarifpartner für die Einhaltung des TVes durch seine Mitglieder Sorge trägt.

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a) Durchführungs- und Einwirkungspflicht Die Einwirkungspflicht wurzelt in der Durchführungspflicht, die zu den schuldrechtlichen Nebenpflichten eines TVes zählt und sich aus ihm gemäß dem Grundsatz von Treu und Glauben8 auch ohne ausdrückliche Regelung ergibt9. Die Durchführungspflicht hält die TV-Parteien an, sich im Rahmen ihrer Verbandsgewalt für die Umsetzung des TVes einzusetzen10. Sie müssen dafür 1 2 3 4 5 6 7 8 9

Wiedemann/Oetker, § 1 TVG Rz. 37. Wiedemann/Oetker, § 1 TVG Rz. 37. HWK/Henssler, § 9 TVG Rz. 20. Wiedemann/Oetker, § 1 TVG Rz. 46, 49. HWK/Henssler, § 9 TVG Rz. 20. Wiedemann/Oetker, § 1 TVG Rz. 40. BAG v. 28.9.1977 – 4 AZR 446/76, AP Nr. 1 zu § 9 TVG 1969. BAG v. 29.4.1992 – 4 AZR 432/91, AP Nr. 3 zu § 1 TVG Durchführungspflicht. BAG v. 10.6.2009 – 4 AZR 77/08, ZTR 2010, 73; BAG v. 29.4.1992 – 4 AZR 432/91, AP Nr. 3 zu § 1 TVG Durchführungspflicht. 10 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1091, halten die TV-Parteien gar für verpflichtet, alles für die Umsetzung des TVes zu tun.

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Teil 16

Rz. 19

Gerichtliche Durchsetzung tariflicher Ansprüche

sorgen, dass ihre Mitglieder die normativen Regelungen des TVes einhalten, und müssen alles unterlassen, was die tarifvertraglichen Regelungen leerlaufen lassen könnte. Dabei haben die TV-Parteien auf ihre Mitglieder einzuwirken, tarifwidrige Maßnahmen zu unterlassen (Einwirkungspflicht)1. Die Rechtsprechung geht hier sehr weit und hat in einem Einzelfall sogar die Verpflichtung bejaht, ein rechtlich selbständiges Tochterunternehmen zur Anwendung eines TVes anzuhalten, wenn es tatsächlich von dem Arbeitgeber ideell, wirtschaftlich und verwaltungsmäßig abhängt und die Übertragung der Arbeitsverhältnisse auf das Tochterunternehmen nur der Absenkung der Arbeitsbedingungen diente2. Soweit der TV gemäß § 2 Abs. 2 TVG von Spitzenorganisationen abgeschlossen wurde, haften die Mitgliedsverbände nach § 2 Abs. 4 TVG für die Erfüllung der Einwirkungspflicht3. 19

Die Einwirkungspflicht sichert die Ordnungsfunktion eines TVes bei der Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen4. Sie besteht auch bei zweifelhafter Rechtslage. Überholt ist die ältere Rechtsprechung des BAG, die eine Einwirkungspflicht nur bei klarer Tarifwidrigkeit von betrieblichen Maßnahmen bejahte5. Nach der neueren Rechtsprechung des BAG steht die fehlende Eindeutigkeit eines tarifwidrigen Verhaltens einer Einwirkungsklage nicht entgegen. Die streitige Auslegungsfrage kann als Verbandsklage im Wege der Klagehäufung neben der begehrten Einwirkung zum Streitgegenstand des Rechtsstreits gemacht werden6. Alternativ kann der Auslegungsstreit im Rahmen der Einwirkungsklage als zwingend zu beantwortende Vorfrage inzidenter zur Entscheidung gestellt werden7, was jedoch den Verzicht auf die Bindungswirkung des § 9 TVG bedeuten würde, weil die Entscheidung bezüglich der Vorfrage nicht in Rechtskraft erwachsen kann.

b) Einwirkungsmittel 20

Welches Mittel die gegnerische Vereinigung einsetzt, um auf ihre Mitglieder einzuwirken, bleibt ihr überlassen. Aufgrund ihrer Verbandsautonomie entscheidet sie darüber selbst8. Dem Erfolg einer Einwirkungsklage steht es nicht entgegen, wenn die Satzung der Vereinigung keine Einwirkungsmittel oder Sanktionen gegen die eigenen Mitglieder vorsieht. Denn jede TV-Partei darf ihr Mitglied auch ohne besondere Regelung in der Satzung auffordern, sich tarifgerecht zu verhalten und tarifwidrige Maßnahmen zu unterlassen9. In Betracht kommen10:

1 BAG v. 29.4.1992 – 4 AZR 432/91, AP Nr. 3 zu § 1 TVG Durchführungspflicht. 2 BAG v. 11.9.1991 – 4 AZR 71/91, NZA 1992, 321; ablehnend Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1087. 3 BAG v. 10.6.2009 – 4 AZR 77/08, ZTR 2010, 73. 4 BAG v. 29.4.1992 – 4 AZR 432/91, AP Nr. 3 zu § 1 TVG Durchführungspflicht. 5 BAG v. 29.4.1992 – 4 AZR 432/91, AP Nr. 3 zu § 1 TVG Durchführungspflicht. 6 BAG v. 17.11.2010 – 4 AZR 118/09; BAG v. 10.6.2009 – 4 AZR 77/08, ZTR 2010, 73. 7 Walker, Einwirkungsanspruch, FS Schaub, 1998, S. 750. 8 BAG v. 25.1.2006 – 4 AZR 552/04, DB 2006, 2017. 9 BAG v. 29.4.1992 – 4 AZR 432/91, AP Nr. 3 zu § 1 TVG Durchführungspflicht. 10 Siehe Kempen/Zachert, § 1 TVG Rz. 670.

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Rechtsstreite unter Beteiligung der Tarifvertragsparteien

Rz. 22 Teil 16

– Mitgliederinformationen – Aufforderungen – Diskussionen mit dem erkennbaren Ziel der Einwirkung1 – Warnungen – Entziehung von Unterstützungen – Geldstrafen oder Geldbußen – Klage gegen das Mitglied2 – Verbandsausschluss (str.)3.

c) Klageantrag In dem Klageantrag muss und kann das Einwirkungsmittel nicht benannt werden4. Maßgeblich für die Bestimmtheit des Leistungsantrags ist allein, ob ein stattgebendes Urteil vollstreckungsfähig wäre und der Schuldner erkennen kann, durch welche Verhaltensweisen er dem Urteilsspruch nachkommen kann. Ein Klageantrag auf Verurteilung zur Einwirkung auf einen Dritten, dieser möge eine bestimmte Handlung vornehmen oder unterlassen, ist hinreichend bestimmt. Denn er ist auf die Vornahme einer Handlung gerichtet, durch die der Dritte angehalten wird, sich tariftreu zu verhalten5.

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Gleichwohl ist festzustellen, dass die Wirkungen eines auf Einwirkung lautenden Leistungsurteils in der Regel kaum über die Appellwirkung eines Feststellungsurteils hinaus gehen. Da der Einwirkungsanspruch nur auf eine einmalige Einwirkung gerichtet ist6 und dem Schuldner die freie Wahl bleibt, welches Mittel der Einwirkung er wählt, führt seine nicht näher spezifizierte Leistungshandlung nicht zwingend zum Erfolg7. Jede noch so schwache Einwirkung reicht aus, um der Einwirkungspflicht Genüge zu tun8. Der Schuldner ist nicht verpflichtet, seine Mittel so lange einzusetzen, bis ein tarifkonformer Zustand

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1 BAG v. 25.1.2006 – 4 AZR 552/04, DB 2006, 2017. 2 Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 934; zwar könnte eine auf den vereinsrechtlichen Erfüllungsanspruch gestützte Klage des Verbandes gegen sein Mitglied auf die Einhaltung des TVes gerichtet sein. Ein solcher Rechtsstreit wäre jedoch langwierig und würde einen Verbandsaustritt des Mitglieds provozieren, siehe Walker, Einwirkungsanspruch, FS Schaub, 1998, S. 752. 3 Bejahend: Kempen/Zachert, § 1 TVG Rz. 670; ablehnend: Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 934. 4 BAG v. 29.4.1992 – 4 AZR 432/91, NZA 1992, 846; BAG v. 18.2.1998 – 4 AZR 363/96; verfehlt war die ältere Rechtsprechung, etwa BAG v. 9.6.1982 – 4 AZR 274/81, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Durchführungspflicht, die einen auf „Einwirkung“ gerichteten Klageantrag für zu unbestimmt hielt und die klagende Partei auf eine Feststellungsklage verwies, hiergegen schon Buchner, Abschied von der Einwirkungspflicht, DB 1992, 572 (573) und Grunsky, Anm. zu BAG v. 9.6.1982 – 4 AZR 274/81, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Durchführungspflicht. 5 BAG v. 29.4.1992 – 4 AZR 432/91, NZA 1992, 846. 6 Walker, Einwirkungsanspruch, FS Schaub, 1998, S. 757. 7 Walker, Einwirkungsanspruch, FS Schaub, 1998, S. 750. 8 BAG v. 29.4.1992 – 4 AZR 432/91, NZA 1992, 846.

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Teil 16

Rz. 23

Gerichtliche Durchsetzung tariflicher Ansprüche

eingetreten ist1. Geschuldet ist nur die Einwirkung, nicht der Einwirkungserfolg. 23

Angesichts der geringen Effizienz der Einwirkungsklage wird eine analoge Anwendung des § 315 BGB vorgeschlagen: Danach habe die zur Einwirkung verpflichtete TV-Partei die Auswahl des Mittels nach billigem Ermessen vorzunehmen2. Verweigere oder verzögere die Partei die Einwirkung, könne das Einwirkungsmittel nach § 315 Abs. 3 Satz 2 BGB durch Urteil bestimmt werden3. Allerdings wäre eine Konkretisierung der Einwirkungspflicht durch eine gerichtliche Billigkeitsentscheidung nicht mit der verfassungsrechtlich abgesicherten Verbandsautonomie zu vereinbaren4. Zielführend wären allein eine konkrete schuldrechtliche Regelung der Einwirkungspflichten und -mittel im TV, sofern der Verband aufgrund seiner Satzung zu einem entsprechenden Vorgehen gegen seine tarifuntreuen Mitglieder berechtigt ist5, Hier kommen insbesondere Informations- und Berichtspflichten in Betracht6. Denkbar ist auch die Absicherung der Einwirkungspflicht durch die Einrichtung einer Schiedsstelle für Streitigkeiten über die Durchführung des TVes7 oder die Verabredung einer Vertragsstrafe8, wobei Letzteres wohl kaum jemals praktisch werden dürfte9.

d) Zwangsvollstreckung 24

Bei der Verurteilung zur Einwirkung auf einen anderen Verband oder einen Arbeitgeber, eine bestimmte Handlung vorzunehmen oder zu unterlassen, handelt es sich um eine unvertretbare Handlung, die nach § 888 ZPO oder § 890 ZPO zu vollstrecken ist10. Die Gegenseite kann sich mit einer Vollstreckungsgegenklage nach § 767 ZPO wehren, indem sie vorträgt, sie habe die Einwirkung vorgenommen. Da ihr die Bestimmung der verbandsrechtlichen Mittel überlassen ist, würde selbst der Vortrag ausreichen, sie habe ein Telefonat mit dem Mitglied geführt oder ihm einen Brief geschrieben11. Der Titel wäre dann verbraucht12, da nur die Einwirkung selbst, nicht der Einwirkungserfolg geschuldet ist.

1 Buchner, Abschied von der Einwirkungspflicht, DB 1992, 572 (574); a.A. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1281. 2 Däubler/Reim § 1 TVG Rz. 1067. 3 Däubler/Reim § 1 TVG Rz. 1068. 4 Walker, Einwirkungsanspruch, FS Schaub, 1998, S. 753; Buchner, Abschied von der Einwirkungspflicht, DB 1992, 572 (575). 5 Buchner, Abschied von der Einwirkungspflicht, DB 1992, 572 (576). 6 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1103. 7 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1104. 8 Kempen/Zachert, § 1 TVG Rz. 673. 9 Kempen/Zachert, § 1 TVG Rz. 673. 10 BAG v. 29.4.1992 – 4 AZR 432/91, NZA 1992, 846; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1277. 11 Kempen/Zachert, § 1 TVG Rz. 671; a.A. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1281. 12 Walker, Einwirkungsanspruch, FS Schaub, 1998, S. 757.

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Rechtsstreite unter Beteiligung der Tarifvertragsparteien

Rz. 27 Teil 16

3. Verfahren über die Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit einer Vereinigung Nach § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG sind die Gerichte für Arbeitssachen ausschließlich zuständig für Entscheidungen über die Tariffähigkeit und die Tarifzuständigkeit einer Vereinigung. Gemäß § 2a Abs. 2 ArbGG findet in diesem Fall ein Beschlussverfahren statt, das durch § 97 ArbGG besonders ausgestaltet wird. Örtlich zuständig ist das Arbeitsgericht, in dessen Bezirk der Sitz der umstrittenen Vereinigung liegt1.

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a) Verfahrensgegenstand In den Verfahren kann es zum einen um die rechtliche Fähigkeit einer Vereinigung2 gehen, durch Vereinbarung mit dem sozialen Gegenspieler Arbeitsbedingungen tarifvertraglich mit normativer Wirkung zu regeln (Tariffähigkeit). Zum anderen können die Verfahren die Befugnis einer Vereinigung, TVe mit einem bestimmten Geltungsbereich abzuschließen (Tarifzuständigkeit), zum Gegenstand haben. Zu entscheiden kann sowohl die positive als auch die negative Tariffähigkeit/Tarifzuständigkeit einer Vereinigung sein3. Es muss nicht zwingend um die Tariffähigkeit oder Tarifzuständigkeit einer anderen Vereinigung gehen. Vielmehr kann eine Vereinigung selbst die Feststellung beantragen, sie sei tariffähig und damit eine Gewerkschaft bzw. ein Arbeitgeberverband4. Hingegen kann die Frage der Tarifgebundenheit einzelner Arbeitgeber, etwa im Falle einer OT-Mitgliedschaft, nicht im Verfahren nach § 97 ArbGG geklärt werden5. Wendet ein Arbeitgeber gegenüber einem im Klagewege geltend gemachten tariflichen Anspruch ein, der tarifvertragschließende Verband sei für ihn als OT-Mitglied nicht tarifzuständig, handelt es sich in Wirklichkeit um den Einwand fehlender Tarifgebundenheit. Diese Frage kann als Vorfrage im Urteilsverfahren selbst geklärt werden6.

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b) Einleitung und Antragsbefugnis Gemäß § 2a Abs. 2 ArbGG findet in Verfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG das Beschlussverfahren statt. Das Verfahren wird auf Antrag eingeleitet von – einer räumlich und sachlich zuständigen Vereinigung von Arbeitnehmern oder von Arbeitgebern (§ 97 Abs. 1 ArbGG) oder – einer obersten Arbeitsbehörde des Bundes oder eines Landes, auf dessen Gebiet sich die Tätigkeit der Vereinigung erstreckt (§ 97 Abs. 1 ArbGG), oder

1 HWK/Bepler, § 97 ArbGG Rz. 10. 2 Hingegen kann die Tariffähigkeit eines einzelnen Arbeitgebers, etwa nach Beitritt zu einem Arbeitgeberverband, nicht zum Gegenstand des Verfahrens gemacht werden, HWK/Bepler, § 97 ArbGG Rz. 2. 3 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289. 4 BAG v. 25.11.1986 – 1 ABR 22/85, NZA 1987, 492. 5 HWK/Bepler, § 97 ArbGG Rz. 5. 6 HWK/Bepler, § 97 ArbGG Rz. 5; a.A. BAG v. 23.10.1996 – 4 AZR 409/95 (A), NZA 1997, 383.

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Teil 16

Rz. 28

Gerichtliche Durchsetzung tariflicher Ansprüche

– eines einzelnen Arbeitgebers in entsprechender Anwendung des § 97 Abs. 1 ArbGG, wenn die Tarifzuständigkeit einer Gewerkschaft für sein Unternehmen oder einen seiner Betriebe zu klären ist1, oder – der Partei eines nach § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG ausgesetzten Rechtsstreits, damit gewährleistet ist, dass die für den ausgesetzten Rechtsstreit erhebliche Tariffähigkeit oder Tarifzuständigkeit im Verfahren nach § 97 geklärt wird (§ 97 Abs. 5 Satz 2 ArbGG). 28

Die Aufzählung der Antragsberechtigten hat einschränkenden Charakter. Andere Stellen, insbesondere betriebsverfassungsrechtliche Organe, sind von der Antragsbefugnis ausgeschlossen. Sie sind von der Frage der Tariffähigkeit/Tarifzuständigkeit einer im Betrieb vertretenen Gewerkschaft nicht betroffen. Einem Betriebsrat fehlt daher die für die Einleitung des Verfahrens erforderliche Antragsbefugnis2. Nicht ausgeschlossen ist allerdings, dass ein Betriebsrat als Beteiligter in einem ausgesetzten Rechtsstreit nach § 97 Abs. 5 Satz 2 ArbGG antragsbefugt wird.

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Die Antragsbefugnis einer konkurrierenden Vereinigung folgt ohne Weiteres aus § 97 Abs. 1 ArbGG und setzt kein weitergehendes eigenes Recht der Vereinigung voraus. Sie muss allerdings selbst tariffähig sein3. Erforderlich ist zudem, dass sich der räumliche und sachliche Zuständigkeitsbereich des Antragstellers zumindest teilweise mit den Zuständigkeitsbereichen der Vereinigung deckt, deren Tariffähigkeit bestritten wird4. Der Antrag kann nicht wegen des Konkurrenzverhältnisses als rechtsmissbräuchlich zurückgewiesen werden, da widerstreitende Interessen der Beteiligten den Verfahren nach § 97 Abs. 1 ArbGG typischerweise eigen sind5.

30

Die Antragsbefugnis der obersten Arbeitsbehörde eines Landes setzt nicht voraus, dass sich die Tätigkeit der Vereinigung auf das Gebiet der antragstellenden Arbeitsbehörde eines Bundeslandes beschränkt. Dies verlangen weder der Wortlaut des § 97 Abs. 1 ArbGG noch der ordnungspolitische Zweck des Verfahrens zur Feststellung der Tariffähigkeit einer Vereinigung6.

31

Die Antragsbefugnis der Partei eines nach § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG ausgesetzten Rechtsstreits gewährleistet, dass die für den ausgesetzten Rechtsstreit erhebliche Tariffähigkeit oder Tarifzuständigkeit im Verfahren nach § 97 geklärt wird. Die Antragsbefugnis beschränkt sich auf die Vorfrage, wegen derer das Verfahren ausgesetzt wurde. Die Parteien des ausgesetzten Verfahrens sind nicht befugt, eine andere als die von dem aussetzenden Gericht für entscheidungserheblich erachtete Frage der Tariffähigkeit oder Tarifzuständigkeit klären zu lassen. Unerheblich ist hingegen, ob die Vorfrage, wegen derer das Verfahren ausgesetzt wurde, tatsächlich vorgreiflich ist7. 1 2 3 4

BAG v. 13.3.2007 – 1 ABR 24/06, NZA 2007, 1069. BAG v. 13.3.2007 – 1 ABR 24/06, NZA 2007, 1069. BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289. BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289; BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300. 5 BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300. 6 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289. 7 BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225.

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Rechtsstreite unter Beteiligung der Tarifvertragsparteien

Rz. 36 Teil 16

Verfolgen mehrere Antragsteller ihr Begehren im Wege einer subjektiver Antragshäufung, handelt es sich um eine notwendige Streitgenossenschaft, auch wenn §§ 59 ff. ZPO in § 80 Abs. 2 ArbGG nicht in Bezug genommen sind. Über den identischen Antrag kann nur eine einheitliche Sachentscheidung ergehen. Die einzelnen Prozessvoraussetzungen sind jedoch für sämtliche Antragsteller getrennt zu prüfen1.

32

c) Antrag Der Antrag muss nicht auf die Feststellung des Bestehens eines Rechtsverhältnisses gerichtet sein. Die besonderen Regelungen des § 2a Abs. 1 Nr. 4, § 97 Abs. 1 ArbGG haben insoweit Vorrang vor der allgemeinen Vorschrift des § 256 Abs. 1 ZPO2. Der Antrag lautet bei fraglicher Tariffähigkeit

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– festzustellen, dass der/die … (nicht) tariffähig ist, oder – festzustellen, dass der/die … keine tariffähige Gewerkschaft ist. Bei umstrittener Tarifzuständigkeit lautet der Antrag, – festzustellen, dass die/der nicht zuständig ist für den Abschluss von Tarifverträgen für …, oder – festzustellen, dass der/die … für die/den … nicht tarifzuständig ist. Allerdings sind die so gestellten Anträge auf die Gegenwart gerichtet und nicht vergangenheitsbezogen3. Soll der Beschluss des Gerichts auch für in der Vergangenheit abgeschlossene TVe Bedeutung erlangen, empfiehlt es sich, die Anträge weiter zu fassen („seit dem … nicht tariffähig ist“).

34

Die Parteien eines nach § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG ausgesetzten Rechtsstreits müssen die Anträge enger fassen. Da sie nicht befugt sind, eine andere als die von dem aussetzenden Gericht für entscheidungserheblich erachtete Frage der Tariffähigkeit oder Tarifzuständigkeit gerichtlich klären zu lassen4, müssen sie den Antrag entsprechend formulieren.

35

d) Beteiligte Der Antragsteller ist notwendig Beteiligter des Verfahrens. Die weiteren Beteiligten sind gemäß §§ 83 Abs. 3, 97 Abs. 2 ArbGG diejenigen Stellen, deren materielle Rechtsposition von der Tariffähigkeit/Tarifzuständigkeit der betreffenden Koalition unmittelbar betroffen ist. Beteiligt sind somit neben dem Antragsteller – die Vereinigung, über deren Tariffähigkeit gestritten wird5, – die Spitzenverbände der betroffenen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite, selbst wenn sie den Verbänden nicht angehören6, 1 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289. 2 BAG v. 10.2.2009 – 1 ABR 36/08, NZA 2009, 98. 3 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289; a.A. BAG v. 15.11.2006 – 10 AZR 665/05, NZA 2007, 268. 4 BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225. 5 BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09. 6 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289.

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Teil 16

Rz. 37

Gerichtliche Durchsetzung tariflicher Ansprüche

– die oberste Arbeitsbehörde eines Landes, wenn sich die Tarifzuständigkeit der Vereinigung entweder ausschließlich auf das Gebiet dieses Landes erstreckt oder die Tarifzuständigkeit nur für TVe bestritten wird, deren Geltungsbereich auf ein Land begrenzt ist, – die oberste Arbeitsbehörde des Bundes bei länderübergreifender Zuständigkeit oder größerem Geltungsbereich1, – die Parteien eines Rechtsstreits, der von der Tariffähigkeit oder Tarifzuständigkeit der Vereinigung abhängt (§ 97 Abs. 5 Satz 2 ArbGG). 37

Hingegen sind einzelne Arbeitgeber, die Vereinbarungen mit einer Arbeitnehmervereinigung abgeschlossen haben, deren Tariffähigkeit umstritten ist, im Verfahren nach § 97 Abs. 1 ArbGG grundsätzlich nicht anzuhören, sofern sie nicht Antragsteller sind, da ihre Interessen durch die Beteiligung der Spitzenverbände ausreichend gewahrt werden2. Arbeitgeber, die in ihrer Rechtsstellung als TV-Partei von dem Verfahren betroffen sind, können die Rechtswirksamkeit der von ihnen abgeschlossenen Vereinbarung als TV jedoch im Rahmen einer Verbandsklage feststellen lassen. Im Rahmen eines solchen Rechtsstreits muss das Arbeitsgericht das Verfahren nach § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG bis zur Erledigung des Beschlussverfahrens aussetzen. Die Arbeitgeber sind dann gemäß § 97 Abs. 5 Satz 2 ArbGG in dem bereits anhängigen Beschlussverfahren antragsberechtigt3.

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Die Beteiligung an einem Verfahren zur Entscheidung über die Tariffähigkeit einer Vereinigung von Arbeitnehmern ist in allen Instanzen von Amts wegen zu prüfen. Personen und Stellen, die zu Unrecht nicht gehört wurden, sind in einer späteren Instanz auch ohne Rüge zum Verfahren hinzuzuziehen. Dagegen ist im Rechtsbeschwerdeverfahren grundsätzlich nicht von Amts wegen zu prüfen, ob sämtliche in den Vorinstanzen beteiligten Personen, Vereinigungen und Stellen zu Recht angehört wurden4.

e) Rechtsschutzinteresse5 39

Für einen Antrag auf Feststellung der Tariffähigkeit oder der Tarifzuständigkeit einer Vereinigung muss entsprechend § 256 ZPO ein Feststellungsinteresse gegeben sein6. Dieses besondere Rechtsschutzinteresse wurde vom BAG in einer älteren Entscheidung mit der Begründung bejaht, dass das Verfahren die Stellung des Beteiligten im Arbeitsleben und für das Arbeitsleben entscheidend und bindend feststelle7. Indes wird man darüber hinaus fordern müssen, dass die Tariffähigkeit bzw. die Tarifzuständigkeit zwischen den Beteiligten streitig 1 BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09; BAG v. 10.2.2009 – 1 ABR 36/08, NZA 2009, 98. 2 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289; a.A. Löwisch, Tariffähigkeit von Spitzenorganisationen, SAE 2011, 61 (65). 3 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289. 4 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289. 5 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289. 6 BAG v. 10.2.2009 – 1 ABR 36/08, NZA 2009, 98; BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289. 7 BAG v. 15.3.1977 – 1 ABR 16/75, DB 1977, 590.

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Rechtsstreite unter Beteiligung der Tarifvertragsparteien

Rz. 42 Teil 16

ist. Für die Einholung eines Rechtsgutachtens ohne konkreten Anlass sollten die Gerichte nicht bemüht werden1. Für einen Antrag auf Feststellung der fehlenden Tariffähigkeit besteht daher ein Feststellungsinteresse, wenn diese Eigenschaft von dem Antragsteller oder sonst im Arbeitsleben in Zweifel gezogen wird. Das Feststellungsinteresse kann auch für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum bestehen. Dies ergibt sich für diejenigen Verfahren, die aus einem Aussetzungsbeschluss nach § 97 Abs. 5 ArbGG resultieren, bereits aus der Natur der Sache, da es zwangsläufig um den Zeitpunkt geht, in dem der TV abgeschlossen wurde. Nur er ist für den materiellen Anspruch der klagenden Partei des Ausgangsverfahrens entscheidungserheblich2. Nach zutreffender Auffassung gilt dies aber auch in den Fällen des § 97 Abs. 1 ArbGG3, wenn die Frage nach der Tariffähigkeit noch von einem aktuellen rechtlichen Interesse ist.

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Typischerweise ist das Feststellungsinteresse hinsichtlich der Tarifzuständigkeit einer Vereinigung gegeben

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– für den Antrag einer Gewerkschaft, wenn zwischen einer Gewerkschaft und einem Arbeitgeberverband Streit darüber besteht, ob der Verband für ein bestimmtes Unternehmen tarifzuständig ist4, – für den Antrag einer konkurrierenden Vereinigung, wenn die andere Vereinigung im Zuständigkeitsbereich der antragstellenden Vereinigung TVe geschlossen hat oder sich anschickt, Tarifverhandlungen zu führen5, – für den Antrag eines Arbeitgebers, wenn sich eine Gewerkschaft der Tarifzuständigkeit für sein Unternehmen oder einen seiner Betriebe berühmt6. Ist zwischen zwei dem DGB angehörenden Gewerkschaften die Tarifzuständigkeit streitig, ist gemäß § 16 der DGB-Satzung i.V.m. der vom DGB-Bundesausschuss beschlossenen Schiedsgerichtsordnung zunächst ein Vermittlungsverfahren vor der Vermittlungsstelle und, sofern dies erfolglos bleibt, ein Schiedsgerichtsverfahren durchzuführen. Nach Nr. 6 der Schiedsgerichtsordnung hat die unterliegende Gewerkschaft ihre Mitglieder im umstrittenen Organisationsbereich unter ausführlicher Darlegung des Schiedsurteils, seiner Gründe und seiner Folgen im Einvernehmen mit der obsiegenden Partei aufzufordern, in die zuständige Gewerkschaft überzutreten. Die unterliegende Gewerkschaft ist ferner verpflichtet, nach außen hin nicht mehr als zuständige Gewerkschaft in Erscheinung zu treten und insbesondere keine neuen TVe abzuschließen. Für ein Verfahren nach § 97 ArbGG dürfte es daher an dem erforderlichen Rechtsschutzinteresse fehlen7. 1 Schwab/Weth/Walker, § 97 ArbGG Rz. 26, 27. 2 BAG v. 23.5.2012 – 1 AZB 58/11, NZA 2012, 623. 3 ArbG Köln v. 30.10.2008 – 14 BV 324/08, ArbuR 2009, 100; a.A. LAG Hamburg v. 21.3.2012 – 3 TaBV 7/11. 4 BAG v. 10.5.1989 – 4 AZR 80/89, NZA 1989, 687. 5 BAG v. 10.2.2009 – 1 ABR 36/08, NZA 2009, 98. 6 BAG v. 13.3.2007 – 1 ABR 24/06, NZA 2007, 1069; GMPM/Matthes/Schlewing, § 97 ArbGG Rz. 21. 7 BAG v. 17.2.1970 – 1 ABR 15/69, DB 1970, 1494.

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42

Teil 16

Rz. 43

Gerichtliche Durchsetzung tariflicher Ansprüche

f) Bindungswirkung 43

Die im Beschlussverfahren ergangenen Entscheidungen über die Tariffähigkeit haben die Bindungswirkung des § 9 TVG1. Beschlüsse über die Tariffähigkeit einer Vereinigung wirken wegen des gesteigerten Interesses an Rechtssicherheit und Rechtsklarheit im Arbeitsleben trotz fehlender ausdrücklicher gesetzlicher Regelung2 gegenüber jedermann3. Entscheidungen über die Tarifzuständigkeit einer Vereinigung entfalten ihre Bindungswirkung hingegen nur in Rechtsstreiten über den Bestand von TVen oder über Ansprüche aus den von der Vereinigung abgeschlossenen TVen4, etwa in Rechtsstreitigkeiten zwischen dem verbandsangehörigen Arbeitgeber und seinen Arbeitnehmern5. Die Bindungswirkung besteht so lange, wie sich die tatsächlichen Verhältnisse6, die rechtlichen Rahmenbedingungen7 oder die Satzungsbestimmungen der Vereinigung8 nicht in den wesentlichen Punkten ändern9. Steht z.B. rechtskräftig fest, dass eine Arbeitnehmerkoalition bei Abschluss eines bestimmten TVes aus tatsächlichen Gründen nicht über die erforderliche soziale Mächtigkeit verfügt hat, kann von deren Fehlen bis zu einer wesentlichen Änderung der entscheidungserheblichen tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse auch in der Zukunft ausgegangen werden10. Ob die Feststellungen für die Vergangenheit bindend sind, hängt, wenn dies nicht aufgrund eines entsprechenden Antrags ausdrücklich festgestellt wird, davon ab, ob Tariffähigkeit oder Tarifzuständigkeit neben dem im Beschlusstenor bezeichneten Zeitpunkt auch für frühere Zeiträume nur einheitlich beurteilt werden können. War eine Vereinigung nach rechtskräftiger gerichtlicher Feststellung aufgrund von Satzungsmängeln zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht tariffähig oder tarifzuständig, gilt diese Feststellung auch für frühere Zeiträume, in denen sich diese Eigenschaften nach eben jener Satzung bestimmten11. Ist dies nicht der Fall, müssen sie für die fraglichen Zeitpunkte in einem neuen Verfahren gesondert festgestellt werden12.

g) Wiederaufnahmeverfahren 44

Nach § 97 Abs. 4 ArbGG findet eine Wiederaufnahme des Verfahrens statt, wenn die Entscheidung über die Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit darauf 1 BAG v. 10.5.1989 – 4 AZR 80/89, NZA 1989, 687; HWK/Henssler, § 9 TVG Rz. 13; Wiedemann/Oetker, § 1 TVG Rz. 30. 2 Schwab/Weth/Walker, § 97 ArbGG Rz. 34. 3 BAG v. 25.11.1986 – 1 ABR 22/85, NZA 1987, 492; BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112; GMPM/Matthes/Schlewing, § 97 ArbGG Rz. 29. 4 GMPM/Matthes/Schlewing, § 97 ArbGG Rz. 30; HWK/Bepler, § 97 ArbGG Rz. 15. 5 BAG v. 10.5.1989 – 4 AZR 80/89, NZA 1989, 687. 6 BAG v. 6.6.2000 – 1 ABR 21/99, NZA 2001, 156. 7 BAG v. 6.6.2000 – 1 ABR 21/99, NZA 2001, 156. 8 BAG v. 15.11.1989 – 1 ABR 37/83, NZA 1986, 480. 9 GMPM/Matthes/Schlewing, § 97 ArbGG Rz. 29. 10 BAG v. 23.5.2012 – 1 AZB 58/11, NZA 2012, 623. 11 BAG v. 23.5.2012 – 1 AZB 58/11, NZA 2012, 623. 12 Löwisch, Tariffähigkeit von Spitzenorganisationen, SAE 2011, 61 (65, 66); wohl a.A. BAG v. 15.11.2006 – 10 AZR 665/05, NZA 2007, 268.

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Rechtsstreite unter Beteiligung der Tarifvertragsparteien

Rz. 45 Teil 16

beruht, dass ein Beteiligter absichtlich unrichtige Angaben oder Aussagen gemacht hat. Eine Vereidigung des Beteiligten im Ausgangsverfahren ist nicht erforderlich. Ferner findet § 581 ZPO findet keine Anwendung. Daher ist eine Wiederaufnahme auch dann möglich, wenn wegen der Straftat keine rechtskräftige Verurteilung ergangen ist, wenn die Einleitung oder Durchführung eines Strafverfahrens aus anderen Gründen als wegen Mangels an Beweis nicht erfolgen konnte. Das Vorliegen einer Straftat wird dann im Wiederaufnahmeverfahren geprüft1.

h) Aussetzung Hängt die Entscheidung eines anderen Rechtsstreits davon ab, ob eine Vereinigung tariffähig oder tarifzuständig ist, hat das Gericht das Verfahren nach § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG ohne Rücksicht auf Verfahrensart und Gegenstand bis zur Erledigung des Beschlussverfahrens nach § 2a Abs. 1 Nr. 4 von Amts wegen2 auszusetzen, wenn die Tariffähigkeit/Tarifzuständigkeit streitig ist oder insoweit Bedenken bestehen3. Auf die Frage der Tariffähigkeit/Tarifzuständigkeit muss es tatsächlich ankommen. Das ist nicht der Fall, wenn der Rechtsstreit auf einer anderen Basis entschieden werden kann4. Allein die Frage der Tariffähigkeit/Tarifzuständigkeit darf noch entscheidungserheblich sein5. Zur Aussetzung sind alle Gerichte, nicht nur die Gerichte für Arbeitssachen, unabhängig von der Verfahrensart verpflichtet, bei denen sich die Tariffähigkeit oder Tarifzuständigkeit als Vorfrage stellt6. Die Aussetzung setzt nicht voraus, dass das Beschlussverfahren nach § 97 ArbGG bereits anhängig ist7. Sofern Leiharbeitnehmer Entgeltnachforderungen mit der Begründung erheben, die TV-schließende Gewerkschaft sei bei Abschluss des TVes nicht tariffähig gewesen und habe den Equal-pay-Grundsatz nicht außer Kraft setzen können, müssen die Gerichte die Rechtsstreite aussetzen, bis über die Tariffähigkeit der Gewerkschaft im Verfahren nach § 97 ArbGG entschieden ist. Dies gilt auch im Sozialgerichtsverfahren bei Anfechtungen eines Beitragsbescheids über Nachforderungen8. Der Aussetzungsbeschluss muss hinreichend bestimmt sein und klar erkennen lassen, auf welche Vorfrage es nach Auffassung des Gerichts genau ankommt. Anderenfalls ist er unbeachtlich und nicht geeignet, eine Antragsbefugnis der Parteien für das Beschlussverfahren nach § 97 Abs. 5 Satz 2 ArbGG zu begründen. So würde es nicht ausreichen, den Rechtsstreit „bis zum rechtskräftigen Abschluss eines gemäß § 2a Abs. 1 Nr. 4, § 97 Abs. 1 ArbGG einzuleitenden Beschlussverfahrens gemäß § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG auszusetzen“9. 1 2 3 4 5 6

GMPM/Matthes/Schlewing, § 97 ArbGG Rz. 32. BAG v. 23.10.1996 – 4 AZR 409/95 (A), NZA 1997, 383. BAG v. 28.1.2008 – 3 AZB 30/07, NZA 2008, 489. BAG v. 28.1.2008 – 3 AZB 30/07, NZA 2008, 489. LAG Berlin-Brandenburg v. 19.1.2012 – 24 Ta 2405/11, ArbuR 2012, 140. BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 25/96, NZA 1997, 668; Schwab/Weth/Walker, § 97 ArbGG Rz. 45. 7 BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 25/96, NZA 1997, 668. 8 Löwisch, Tariffähigkeit von Spitzenorganisationen, SAE 2011, 61 (66). 9 BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225.

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Teil 16 46

Rz. 46

Gerichtliche Durchsetzung tariflicher Ansprüche

Die Aussetzungspflicht besteht, wenn die (fehlende) Tariffähigkeit/Tarifzuständigkeit nicht wirklich unzweifelhaft1 feststeht2 und keine irgendwie nachvollziehbaren Bedenken3 gegen sie vorgebracht werden. Dies ergibt sich aus dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers, dass für alle Streitfragen zur Tarifzuständigkeit das gleiche Verfahrensrecht gelten soll. § 97 Abs. 5 ArbGG will gewährleisten, dass unabhängig von den zufälligen Gegebenheiten des jeweiligen Ausgangsverfahrens und unter Beteiligung der zuständigen Verbände und obersten Arbeitsbehörden sowie der betroffenen Vereinigung selbst ein Höchstmaß an Klarheit über die Befugnis zur tariflichen Normsetzung herbeigeführt wird4. Das objektivierte Verfahren des § 97 ArbGG ist dabei schon wegen des dort vorgesehenen Amtsermittlungsgrundsatzes besser geeignet, die Tariffähigkeit/Tarifzuständigkeit zu klären als etwa einzelne Rechtsstreitigkeiten zwischen Privaten5, die dem Beibringungsgrundsatz unterliegen und bei denen es von dem Parteivortrag abhängt, ob tatsächliche Anhaltpunkte für eine andere Beurteilung der Rechtslage bestehen. Zudem wäre es verfassungsrechtlich sowohl unter dem Gesichtspunkt der Garantie des gesetzlichen Richters als auch im Hinblick auf den Anspruch auf rechtliches Gehör bedenklich, von einer Aussetzung abzusehen. Schließlich lässt sich nur durch eine Aussetzung die Gefahr divergierender Entscheidungen über die Tariffähigkeit/Tarifzuständigkeit einer Vereinigung bannen6.

4. Klage auf Abschluss eines Tarifvertrages 47

Die Klage auf Abschluss eines TVes ist auf die Abgabe einer Willenserklärung gerichtet. Ein entsprechender Anspruch kann sich aus einer zwischen den TVParteien erzielten Tarifeinigung ergeben, sofern diese im Sinne eines Vorvertrages eine verbindliche und klar bestimmte oder bestimmbare Verständigung über den Inhalt des von ihnen noch abzuschließenden TVes enthält7. Die materielle Grundlage des Klagebegehrens kann sich ebenfalls aus einem zuvor abgeschlossenen TV ergeben, der unter bestimmten Voraussetzungen eine tarifliche Neuregelung vorsieht. Erforderlich ist in beiden Fällen, dass der Inhalt des neu abzuschließenden Tarifvertrages genau bestimmt ist. Den Gerichten selbst ist eine Inhaltsbestimmung verwehrt, da diese Aufgabe durch die verfassungsrechtlich abgesicherte Tarifautonomie den TV-Parteien zugewiesen ist8. Dem Bestimmtheitserfordernis des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO ist bei der Klage genügt, wenn der Antrag den gesamten Vertragsinhalt erfasst und das Urteil nach § 894 ZPO vollstreckt werden kann9.

1 2 3 4 5 6 7 8 9

Vgl. auch BAG v. 23.10.1996 – 4 AZR 409/95 (A), NZA 1997, 383. LAG Sachsen v. 5.9.2011 – 4 Ta 162/11 (05). Vgl. HWK/Bepler, § 97 ArbGG Rz. 19. BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 25/96, NZA 1997, 668. BAG v. 28.1.2008 – 3 AZB 30/07, NZA 2008, 489. ArbG Lübeck v. 16.5.2011 – 6 Ca 700/11. BAG v. 5.7.2006 – 4 AZR 381/05, AP Nr. 38 zu § 1 TVG. LAG Köln v. 6.1.2012 – 4 Sa 776/11. BAG v. 5.7.2006 – 4 AZR 381/05, AP Nr. 38 zu § 1 TVG.

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Rechtsstreite unter Beteiligung der Tarifvertragsparteien

Rz. 50 Teil 16

II. Rechtsstreite zwischen Gewerkschaften und einzelnen Arbeitgebern wegen tarifwidrigen Verhaltens Wegen der mangelnden Effektivität der Einwirkungsklage liegt es im besonderen Interesse der Gewerkschaften, die Mitglieder der anderen TV-Partei unmittelbar auf Unterlassung eines tarifwidrigen Verhaltens in Anspruch nehmen zu können.

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1. Unterlassungsanspruch wegen gleichzeitiger Verletzung betriebsverfassungsrechtlicher Pflichten Nach § 23 Abs. 3 BetrVG kann eine im Betrieb vertretene Gewerkschaft im Rahmen eines für sie gerichtskostenfreien Beschlussverfahrens nach § 2a Abs. 1 Nr. 1 ArbGG beim Arbeitsgericht beantragen, einem Arbeitgeber die Unterlassung eines bestimmten tarifwidriges Verhaltens aufzugeben. Dies setzt voraus, dass das beanstandete tarifwidrige Verhalten einen groben Verstoß gegen die Verpflichtungen des Arbeitgebers aus dem Betriebsverfassungsgesetz darstellt. Denn § 23 Abs. 3 BetrVG stellt nur ein Mindestmaß gesetzmäßigen Verhaltens des Arbeitgebers im Rahmen der betriebsverfassungsrechtlichen Ordnung sicher1. Das tarifwidrige Verhalten muss zudem gegen die betriebsverfassungsrechtliche Ordnung verstoßen. Diese ist bei einem tarifwidrigen Verhalten zwar dann gestört, wenn die Maßnahmen des Arbeitgebers auf einer entgegen § 77 Abs. 3 BetrVG geschlossenen Betriebsvereinbarung beruhen2. Jedoch betrifft die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG von vornherein nicht tarifwidrige Regelungsabreden und die auf einer solchen Regelungsabrede basierenden Individualvereinbarungen, selbst wenn sie im Betrieb Geltung für sich beanspruchen. Eine Normenkonkurrenz kann hier aus rechtlichen Gründen nicht bestehen3. Schließlich greift § 23 Abs. 3 BetrVG häufig deswegen nicht, weil die Betriebspartner mit Betriebsvereinbarungen über nach § 87 Abs. 1 BetrVG mitbestimmungspflichtige soziale Angelegenheiten in Ausübung ihrer Zuständigkeit und im Rahmen der betriebsverfassungsrechtlichen Ordnung handeln. Dass die so abgeschlossenen Betriebsvereinbarungen tariflichen Vorgaben widersprechen, stellt keinen Verstoß des Arbeitgebers gegen seine betriebsverfassungsrechtlichen Verpflichtungen dar4.

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2. Unterlassungsanspruch a) Rechtsgrundlage Angesichts des engen Anwendungsbereiches von § 23 Abs. 3 BetrVG waren vermehrt Überlegungen angestrengt worden, den Rechtsschutz der Gewerkschaften effektiver zu gestalten. Die Neuordnung der tariflichen Regelungsbefugnisse im Verhältnis zu den Betriebsparteien war Gegenstand der Beratun1 BAG v. 20.8.1991 – 1 ABR 85/90, NZA 1992, 317. 2 BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887; BAG v. 20.8.1991 – 1 ABR 85/90, NZA 1992, 317. 3 BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887 – Burda. 4 BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887; BAG v. 20.8.1991 – 1 ABR 85/90, NZA 1992, 317.

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50

Teil 16

Rz. 51

Gerichtliche Durchsetzung tariflicher Ansprüche

gen der arbeitsrechtlichen Abteilung des 61. Deutschen Juristentages 1996. Der Vorschlag, einer tarifschließenden Gewerkschaft bei Abschluss einer tarifwidrigen Betriebsvereinbarung oder sonstiger Nichteinhaltung des TVes eine direkte Tarifeinhaltungsklage oder Arbeitskampfmaßnahmen gegen den Arbeitgeber zu ermöglichen, wurde indes abgelehnt1. Die Rechtsprechung bejaht mittlerweile einen Unterlassungsanspruch der Gewerkschaften gegen tarifwidrige Maßnahmen von Arbeitgebern auf Grundlage der §§ 823 Abs. 1, 1004 BGB, Art. 9 Abs. 3 GG. Denn tarifwidrige Betriebsvereinbarungen und tarifwidrige vertragliche Einheitsregelungen sind darauf gerichtet, die Wirkung eines TVes zu vereiteln oder ihn leerlaufen zu lassen. Sie sind daher geeignet, die TV-Parteien in ihrer kollektiven Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG zu verletzen. Das gilt insbesondere dann, wenn ein entsprechendes Regelungsziel zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat in Form einer Regelungsabrede vereinbart wird2.

b) Gerichtliche Durchsetzung aa) Maßnahmen unter Beteiligung des Betriebsrats 51

Der Unterlassungsantrag ist im Beschlussverfahren geltend zu machen, wenn er sich gegen tarifwidrige Betriebsvereinbarungen oder sonstige unter Beteiligung des Betriebsrats getroffene tarifwidrige Maßnahmen richtet. Denn ungeachtet der Rechtsgrundlage des Anspruchs im bürgerlichen Recht betrifft er eine betriebsverfassungsrechtliche Angelegenheit im Sinne des § 2a Abs. 1 Nr. 1 ArbGG. Der Gegenstand des Antrags bezieht sich ausschließlich auf die betriebliche Ordnung in Gestalt der Rechtsbeziehungen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat einerseits und die durch betriebsverfassungsrechtliche Normsetzung gestalteten Rechtsbeziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern andererseits. Zwar beruht der Eingriff in die Tarifautonomie bei einer Regelungsabrede nicht auf normativen Regelungen nach dem BetrVG und der daraus folgenden Durchführungspflicht des Arbeitgebers, sondern auf einer arbeitsvertraglichen Umsetzung der Regelungsabrede durch den Arbeitgeber. Dafür ursächlich ist jedoch ein gemeinsames Handeln der Betriebsparteien. Die Beurteilung der Rechtmäßigkeit dieses betriebsverfassungsrechtlichen Handelns ist dem Beschlussverfahren vorbehalten3.

bb) Maßnahmen ohne Beteiligung des Betriebsrats 52

Trifft der Arbeitgeber ohne jedwede Beteiligung des Betriebsrats mit seinen Arbeitnehmern tarifwidrige Individualvereinbarungen, ist der Unterlassungsanspruch hingegen durch eine Klage im Urteilsverfahren zu verfolgen4.

1 Abdruckt in NZA 1996, 1277 (1278). 2 BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887; Walker, Einwirkungsanspruch, FS Schaub, 1998, S. 746; BAG v. 13.3.2001 – 1 AZB 19/00, NZA 2001, 1037. 3 BAG v. 13.3.2001 – 1 AZB 19/00, NZA 2001, 1037. 4 BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887; Schwab/Weth/Walker, § 2 ArbGG Rz. 76.

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Rechtsstreite unter Beteiligung der Tarifvertragsparteien

Rz. 56 Teil 16

c) Antrag Der Unterlassungsantrag bedarf zu seiner hinreichenden Bestimmtheit der namentlichen Benennung der Arbeitnehmer, die Mitglied der Gewerkschaft sind und von dem tarifwidrigen Verhalten des Arbeitgebers betroffen sind1. Auf diese Weise werden der Streitgegenstand und der Umfang der Prüfungs- und Entscheidungsbefugnis klar umrissen und der Arbeitgeber zu einer erschöpfend Rechtsverteidigung in die Lage versetzt2. Zugleich wird verhindert, dass dem Vollstreckungsgericht bei der Androhung und Festsetzung eines Ordnungsgeldes die Entscheidung darüber überlassen wird, was dem Arbeitgeber verboten ist3.

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3. Prozessstandschaft der Gewerkschaften und Folgenbeseitigungsanspruch Der Unterlassungsanspruch gegen tarifwidrige betriebliche Regelungen schließt nicht die Befugnis der Gewerkschaft ein, Individualansprüche ihrer Mitglieder einzuklagen, da er allein dem Schutz der kollektiven Koalitionsfreiheit dient. Diese ist nicht dadurch betroffen, dass ein Arbeitgeber Tarifansprüche nicht erfüllt, solange er damit nicht eine tarifwidrige Einheitsregelung konzipiert. Geht es ausschließlich um Rechte einzelner Arbeitnehmer, müssen diese selbst tätig werden4.

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Teilweise wird aber ein Folgenbeseitigungsanspruch der Gewerkschaften mit dem Argument bejaht, eine Beseitigung der Störung im Sinne des § 1004 BGB sei nur dadurch möglich, dass die tariflich garantierten Leistungen nachträglich an die Gewerkschaftsmitglieder erbracht würden5. Dieser Auffassung hat das BAG eine klare Absage erteilt: Der Eingriff in die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Betätigungsfreiheit der Gewerkschaft liegt nicht in der Vorenthaltung der tariflichen Leistungen, sondern allein im Abschluss der tarifwidrigen Betriebsvereinbarung. Mit der Aufhebung dieser Betriebsvereinbarung endet die Beeinträchtigung der kollektiven Koalitionsfreiheit. Beeinträchtigungen, die als weitere Folge dieser Störung entstehen, etwa durch die Vorenthaltung der tariflichen Leistungen, können allenfalls durch einen Schadensersatzanspruch nach § 823 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 9 Abs. 3 GG ausgeglichen werden. Hierfür fehlt aber es an dem notwendigen materiellen Schaden der Gewerkschaft. Auch aus einer Verletzung der Koalitionsfreiheit lässt sich kein immaterieller Schaden ableiten, der mit der Höhe der Verdiensteinbußen der betroffenen Arbeitnehmer zu bemessen wäre6.

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Ansprüche einer Gewerkschaft auf die Beseitigung von Folgen tarifwidriger Betriebsvereinbarungen und Regelungsabreden wären wegen der Mitwirkung des

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1 BAG v. 19.3.2003 – 4 AZR 271/02, AP Nr. 41 zu § 253 ZPO; LAG München v. 6.10.2009 – 7 Sa 36/09. 2 BAG v. 19.3.2003 – 4 AZR 271/02, AP Nr. 41 zu § 253 ZPO. 3 BAG v. 19.3.2003 – 4 AZR 271/02, AP Nr. 41 zu § 253 ZPO. 4 BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887. 5 Däubler, Klagerecht der Gewerkschaften, AiB 1999, 481 (483). 6 BAG v. 17.5.2011 – 1 AZR 473/09, NZA 2011, 1169.

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Teil 16

Rz. 57

Gerichtliche Durchsetzung tariflicher Ansprüche

Betriebsrates wie Unterlassungsansprüche im Beschlussverfahren geltend zu machen1.

C. Tarifliche und gesetzliche Verfahrensbestimmungen I. Tariflicher Ausschluss der Arbeitsgerichtsbarkeit (§§ 101, 102 ArbGG) 57

Grundsätzlich kann die Arbeitsgerichtsbarkeit nicht ausgeschlossen werden. § 4 ArbGG stellt im Interesse der Arbeitsvertragsparteien sicher, dass das materielle Arbeitsrecht mit Hilfe staatlicher Gerichte durchgesetzt werden kann2. Ausnahmen bestehen für bürgerliche Streitigkeiten zwischen den TV-Parteien selbst und für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten aus einem Arbeitsverhältnis, das sich nach einem TV bestimmt. Für diese Fälle können die Parteien nach Maßgabe des § 101 ArbGG die Arbeitsgerichtsbarkeit durch eine Schiedsabrede ausschließen und die Entscheidung einem Schiedsgericht übertragen. Vereinzelt geäußerte Bedenken3 gegen die Verfassungsmäßigkeit der Schiedsgerichtsbarkeit in Arbeitsstreitigkeiten greifen nicht. Die Schiedsgerichtsbarkeit wurzelt in der Koalitionsfreiheit. Das Grundgesetz enthält kein Verbot der Schiedsgerichtsbarkeit und keine Partei wird ihrem gesetzlichen Richter entzogen, da ein Schiedsspruch mit der Aufhebungsklage nach § 110 ArbGG angegriffen werden kann4.

1. Gesamtschiedsvereinbarung 58

Für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten zwischen den TV-Parteien aus TVen oder über das Bestehen oder Nichtbestehen eines TVes können TVe in ihrem obligatorischen Teil eine Schiedsvereinbarung enthalten (sog. Gesamtschiedsvereinbarung, § 101 Abs. 1 ArbGG). Gesamtschiedsvereinbarungen sind häufig in Schlichtungsabkommen eingebettet und enthalten typischerweise Bestimmungen über die Zuständigkeit und die Zusammensetzung des Schiedsgerichts sowie über das Verfahren5.

a) Geltungsbereich 59

Eine Gesamtschiedsvereinbarung kann neben den Ansprüchen aus dem obligatorischen Teil des TVes auch Streitigkeiten über den Bedeutungsinhalt und die verbindliche Auslegung einzelner Tarifnormen erfassen6. Die Möglichkeit, die 1 BAG v. 17.5.2011 – 1 AZR 473/09, NZA 2011, 1169; siehe auch schon LAG Hamburg v. 18.6.2009 – 2 Sa 176/08. 2 BAG v. 14.1.2004 – 4 AZR 581/02, NZA-RR 2004, 590. 3 Schwab/Weth/Zimmerling, § 101 ArbGG Rz. 1–5. 4 Germelmann, Bühnenschiedsgerichte und Arbeitsgerichtsbarkeit, NZA 1994, 12 (14). 5 Etwa die Schlichtungs- und Schiedsvereinbarung für die Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalens v. 1.1.1980. 6 LAG Baden-Württemberg v. 23.11.2009 – 15 Sa 71/09.

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Tarifliche und gesetzliche Verfahrensbestimmungen

Rz. 63 Teil 16

Entscheidung unter Ausschluss des Rechtswegs einem Schiedsgericht zu übertragen, besteht hingegen nicht für Rechtsstreitigkeiten zwischen TV-Parteien und Dritten1 sowie für Beschlussverfahren2. Gleiches gilt für Regelungsstreitigkeiten3. Für diese können tarifliche Schlichtungsstellen eingerichtet werden.

b) Form Mangels gesetzlicher Formvorschriften muss die Gesamtschiedsvereinbarung nicht zwingend in einem TV enthalten sein. Sie kann auch in Form einer Regelungsabrede geschlossen werden oder sogar in der Erklärung vor dem Schiedsgericht liegen, es möge den Rechtsstreit entscheiden4.

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2. Einzelschiedsvereinbarung Für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten aus bestimmten Arbeitsverhältnissen, die sich nach einem TV bestimmen, können die Parteien des TVes gemäß § 101 Abs. 2 Satz 1 ArbGG die Arbeitsgerichtsbarkeit durch die ausdrückliche Vereinbarung ausschließen, dass die Entscheidung durch ein Schiedsgericht erfolgen soll.

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a) Geltungsbereich Der persönliche Geltungsbereich des TVes muss überwiegend Bühnenkünstler, Filmschaffende, Artisten oder Kapitäne und Besatzungsmitglieder im Sinne der §§ 2 und 3 des Seemannsgesetzes umfassen. Die Schiedsvereinbarung gilt nach § 101 Abs. 2 Satz 2 und 3 ArbGG für die Mitglieder der TV-Parteien und für nicht tarifgebundene Arbeitsvertragsparteien, wenn sich deren Arbeitsverhältnisse aufgrund einzelvertraglicher Bezugnahme5 nach dem TV regeln. Für andere als die in § 101 Abs. 2 Satz 1 ArbGG genannte Arbeitnehmer kann die ausschließliche Zuständigkeit eines Schiedsgerichts auch einzelvertraglich nicht vereinbart werden6. Der Geltungsbereich einer Einzelschiedsvereinbarung kann schließlich nicht durch Allgemeinverbindlicherklärung auf an sich tarifungebundene Arbeitsvertragsparteien ausgedehnt werden7. Keiner Partei darf gegen ihren Willen ein schiedsgerichtliches Verfahren aufgedrängt werden8.

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b) Form Eine Einzelschiedsvereinbarung muss anders als die Gesamtschiedsvereinbarung gemäß § 101 Abs. 2 ArbGG in einem TV getroffen werden. Eine einzel1 2 3 4 5 6 7

GMPM/Germelmann, § 101 ArbGG Rz. 8. GMPM/Germelmann, § 4 ArbGG Rz. 4. GMPM/Germelmann, § 4 ArbGG Rz. 11. HWK/Kalb, § 101 ArbGG Rz. 7. BAG v. 25.2.2009 – 7 AZR 942/07. BAG v. 25.2.2009 – 7 AZR 942/07. So etwa HWK/Kalb, § 101 ArbGG Rz. 12; GMPM/Germelmann, § 101 ArbGG Rz. 24; a.A. Schwab/Weth/Zimmerling, § 101 ArbGG Rz. 47–49. 8 Ausführlich Schwab/Weth/Zimmerling, § 101 ArbGG Rz. 48.

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Teil 16

Rz. 64

Gerichtliche Durchsetzung tariflicher Ansprüche

vertragliche Bezugnahme1 ist möglich, sofern sie ausdrücklich und schriftlich vereinbart ist. Nicht ausreichend ist die Bezugnahme auf einzelne Tarifnormen2. Ein Formmangel wird durch rügelose Einlassung auf die schiedsgerichtliche Verhandlung geheilt (§ 101 Abs. 2 Satz 3 a.E. ArbGG).

c) Bühnenschiedsgerichtsbarkeit 64

Unter den Einzelschiedsvereinbarungen kommt der Schiedsabrede in § 53 Normalvertrag (NV) Bühne die größte praktische Bedeutung zu: Danach sind die Bühnenschiedsgerichte unter Ausschluss der Arbeitsgerichtsbarkeit für alle bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten der Arbeitsvertragsparteien ausschließlich zuständig. Im NV Bühne werden die Arbeitsverhältnisse aus den Sparten der Solisten, Opernchor- und Tanzgruppenmitglieder und der Bühnentechniker einheitlich geregelt. Innerhalb des NV Bühne finden sich zudem Sonderregelungen für die einzelnen Sparten. Der NV Bühne ist nicht allgemeinverbindlich, findet aber aufgrund der Bezugnahmeklauseln in den Standard-Arbeitsverträgen und wegen des hohen Organisationsgrads der Theaterunternehmer allgemein Anwendung3. Dass die Bühnentechniker ebenfalls als Bühnenkünstler angesehen werden, ist nicht zu beanstanden, da die TV-Parteien im Rahmen ihrer satzungsgemäß festgelegten Tarifzuständigkeit befugt sind, den Geltungsbereich der von ihnen abgeschlossenen TVe weitgehend frei zu bestimmen. Dabei dürfen sie aus Praktikabilitätserwägungen auch Berufsgruppen im Randbereich der künstlerischen Tätigkeiten einbeziehen. Maßgeblich ist allein, ob im Arbeitsvertrag vereinbart ist, dass der Techniker überwiegend künstlerisch tätig ist, und zwar unabhängig davon, ob er tatsächlich künstlerisch eingesetzt wird4.

d) Rechtsfolgen 65

Wird das Arbeitsgericht wegen einer Rechtsstreitigkeit angerufen, für die die Parteien des TVes einen Schiedsvertrag geschlossen haben, so hat das Gericht die Klage nach § 102 Abs. 1 ArbGG als unzulässig abzuweisen, wenn sich die beklagte Partei auf den Schiedsvertrag beruft.

e) Aufhebungsverfahren 66

Eine Vertragspartei kann nach § 110 Abs. 1 ArbGG binnen einer Notfrist von zwei Wochen auf Aufhebung des Schiedsspruchs klagen, wenn – das schiedsgerichtliche Verfahren „an sich“5 unzulässig war, oder – der Schiedsspruch auf der Verletzung einer Rechtsnorm beruht, also ein Verstoß gegen materielles Recht gleich welcher Art, also auch gegen materiell-

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BAG v. 25.2.2009 – 7 AZR 942/07. HWK/Kalb, § 101 ArbGG Rz. 14; GMPM/Germelmann, § 101 ArbGG Rz. 27. MünchArbR/Pallasch, § 334 Rz. 15. BAG v. 25.2.2009 – 7 AZR 942/07. BAG v. 15.2.2012 – 7 AZR 626/10.

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Tarifliche und gesetzliche Verfahrensbestimmungen

Rz. 70 Teil 16

rechtliche Tarifbestimmungen1, nicht jedoch gegen formelle tarifliche Verfahrensregelungen2, vorliegt, oder – die Voraussetzungen vorliegen, unter denen gegen ein gerichtliches Urteil nach § 580 Nr. 1 bis 6 ZPO die Restitutionsklage zulässig wäre. Für die Klage ist gemäß § 110 Abs. 2 ArbGG das Arbeitsgericht zuständig, das für die Geltendmachung des Anspruchs zuständig wäre. Für Aufhebungsklagen gegen Schiedssprüche des Bühnenschiedsgerichts bzw. des Bühnenoberschiedsgerichts ist gemäß § 38 BSchGO, § 37 BSchGO-C das Arbeitsgericht Köln zuständig. In der Klageschrift ist der angegriffene Schiedsspruch genau zu bezeichnen. Zudem muss der Aufhebungskläger die Tatsachen vortragen, aus denen sich das Vorliegen eines Aufhebungsgrundes ergibt3.

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Das Aufhebungsverfahren ist ein revisionsähnliches Verfahren. Der Schiedsspruch wird nur auf Rechtsfehler überprüft. Gegenstand des Aufhebungsrechtsstreits ist das Sachbegehren selbst4. Der Aufhebungskläger muss demgemäß nicht nur die Aufhebung des Schiedsspruchs beantragen, sondern einen konkreten Sachantrag stellen, der üblicherweise mit seinem Sachantrag im Schiedsverfahren übereinstimmt. Das Schiedsgerichtsverfahren ist hingegen verbraucht5. Eine Zurückverweisung der Sache an das Schiedsgericht ist ausgeschlossen6. Materielle Rechtsfehler sind im Aufhebungsverfahren von Amts wegen zu berücksichtigen. Fehlerhafte tatsächliche Feststellungen des Schiedsgerichts müssen mit Verfahrensrügen angegriffen werden. Ansonsten sind die Gerichte für Arbeitssachen daran gebunden. Im Revisionsverfahren vor dem Bundesarbeitsgericht können nur noch Verfahrensfehler des Landesarbeitsgerichts gerügt werden7.

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Die Überprüfung der Rechtsanwendung beschränkt sich darauf, ob

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– das Schiedsgericht einen Rechtsbegriff verkannt hat, – die Subsumtion unter den Rechtsbegriff Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt oder – die Beurteilung wegen Außerachtlassung wesentlicher Umstände oder wegen Widersprüchlichkeit offensichtlich fehlerhaft ist8. Da die Bühnenschiedsgerichtsbarkeit den künstlerischen Freiraum gegenüber einer übermäßigen staatlichen Einflussnahme absichern soll, ist dem Schiedsgericht bei der Auslegung unbestimmter Tarifbegriffe ein Beurteilungsspiel-

1 BAG v. 12.5.1982 – 4 AZR 510/81, AP Nr. 20 zu § 611 BGB Bühnenengagementsvertrag; BAG v. 2.7.2003 – 7 AZR 613/02, AP Nr. 39 zu § 611 BGB Musiker. 2 BAG v. 15.2.2012 – 7 AZR 626/10. 3 BAG v. 14.10.1992 – 5 AZR 59/92. 4 BAG v. 15.2.2012 – 7 AZR 626/10. 5 BAG v. 7.11.1995 – 3 AZR 955/94, NZA 1996, 487; BAG v. 15.2.2012 – 7 AZR 626/10. 6 BAG v. 27.1.1993 – 7 AZR 124/92, NZA 1993, 1102. 7 BAG v. 16.12.2010 – 6 AZR 487/09. 8 BAG v. 16.12.2010 – 6 AZR 487/09.

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Teil 16

Rz. 71

Gerichtliche Durchsetzung tariflicher Ansprüche

raum eingeräumt, der den staatlichen Gerichten im Aufhebungsverfahren nicht zugänglich ist1.

II. Tarifliche Zuständigkeitsbestimmungen (§ 48 Abs. 2 ArbGG) 1. Grundsatz 71

Die Prorogationsfreiheit der Prozessparteien ist in arbeitsgerichtlichen Rechtsstreiten weitgehend beseitigt2. Gerichtsstandsvereinbarungen sind gemäß § 38 ZPO i.V.m. § 46 Abs. 2 ArbGG nur in engen Grenzen möglich. Praktisch werden sie regelmäßig bei internationalen Zuständigkeitsvereinbarungen3.

2. Zulässigkeit und Inhalt abweichender tariflicher Regelungen 72

Nach § 48 Abs. 2 ArbGG können allein TV-Parteien durch TV für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern – aus einem Arbeitsverhältnis, – aus Verhandlungen über die Eingehung eines Arbeitsverhältnisses, das sich nach einem TV bestimmt, sowie – aus dem Verhältnis einer gemeinsamen Einrichtung der TV-Parteien zu den Arbeitnehmern oder Arbeitgebern die Zuständigkeit eines an sich örtlich unzuständigen Arbeitsgerichts festlegen. Im Geltungsbereich eines solchen TVes gelten die tariflichen Bestimmungen über das örtlich zuständige Arbeitsgericht auch zwischen nicht tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, wenn die Anwendung des gesamten TVes zwischen ihnen vereinbart ist.

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§ 48 Abs. 2 ArbGG erfasst abschließend4 die Fälle, an deren einheitlicher Entscheidung ein besonderes Interesse der TV-Parteien besteht. Nicht erfasst sind Streitigkeiten über das Bestehen oder Nichtbestehen eines Arbeitsverhältnisses5 oder über Ansprüche aus einer betrieblichen Altersversorgung6. Voraussetzung für eine wirksame tarifliche Gerichtsstandsvereinbarung ist jeweils, dass 1 BAG v. 16.12.2010 – 6 AZR 487/09. 2 GMPM/Germelmann, § 48 ArbGG Rz. 133. 3 Zöller/Vollkommer, § 38 ZPO Rz. 41; nach Art. 17 Abs. 5 des Luganer Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen sind Gerichtsstandsvereinbarungen wegen der besonderen Schutzbedürftigkeit der Arbeitnehmer für das Arbeitsrecht beschränkt und bei individuellen Arbeitsverträgen nur dann wirksam, wenn sie nach der Entstehung der Streitigkeit getroffen werden, siehe dazu BAG v. 8.12.2010 – 10 AZR 562/08. 4 Schwab/Weth/Walker, § 48 ArbGG Rz. 166; GMPM/Germelmann, § 48 ArbGG Rz. 136. 5 A.A. ArbG Kiel v. 10.12.2009 – 1 Ca 2203d/09, DB 2010, 288. 6 GMPM/Germelmann, § 48 ArbGG Rz. 136; zu tariflichen Zuständigkeitsbestimmung für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten aus dem Verhältnis einer gemeinsamen Einrichtung der TV-Parteien zu Dritten siehe LAG Berlin-Brandenburg v. 10.6.2009 – 6 SHa 977/09; ArbG Hannover v. 17.9.2003 – 12 Ca 472/03, EzAÜG § 1a AEntG Nr. 3.

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Tarifliche und gesetzliche Verfahrensbestimmungen

Rz. 75 Teil 16

sich die Arbeitsverhältnisse aufgrund beiderseitiger Tarifgebundenheit, aufgrund einer Allgemeinverbindlicherklärung oder wegen einer arbeitsvertraglichen Verweisung nach einem TV bestimmen1. Es ist Sache der TV-Parteien und im Wege der Auslegung zu ermitteln, ob sie eine ausschließliche Zuständigkeit des Gerichts oder nur einen zusätzlichen Gerichtsstand begründen wollten2. Im Zweifel ist im Hinblick auf die erstrebte Einheitlichkeit der Rechtsprechung von einer ausschließlichen Zuständigkeit auszugehen3. Da die Beschränkungen des § 38 Abs. 2 und 3 ZPO keine Anwendung finden, kann sich die Zuständigkeitsvereinbarung auf zukünftige Rechtsstreitigkeiten beziehen4.

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III. Ausschlussfristen 1. Ersetzung der (außergerichtlichen) Geltendmachung durch Klage a) Fristwahrung Zur Wahrung einer tariflichen Ausschlussfrist kann die geforderte (außergerichtliche) Geltendmachung durch die sofortige Klageerhebung ersetzt werden. Umstritten ist, ob es für die Wahrung der Frist auf die Zustellung der Klageschrift oder gemäß § 167 ZPO auf den Eingang bei Gericht ankommt, wenn die Zustellung demnächst erfolgt. Nach hergebrachter Auffassung des BAG gilt § 167 ZPO nicht für tarifvertragliche Ausschlussfristen, die auf anderem Wege als durch Klageerhebung gewahrt werden können, da dem Gläubiger mit der Vorschrift nur das Verzögerungsrisiko der außerhalb seiner Einflusssphäre liegenden Amtszustellung abgenommen werden soll. Kann der Gläubiger die Frist hingegen auf anderem Wege, z.B. durch einfachen Brief, wahren, soll ihm die Erleichterung des § 167 ZPO nicht zu Gute kommen5. Demgegenüber wendet der BGH in seiner neueren Rechtsprechung § 167 ZPO auch in den Fällen an, in denen durch die Zustellung eine Frist gewahrt werden soll, die ebenso durch außergerichtliche Geltendmachung gewahrt werden könnte6. Dies ist im Hinblick auf den Wortlaut des § 167 ZPO, der nicht zwischen ausschließlich gerichtlich geltend zu machenden Fristen und anderen Fristen unterscheidet, plausibel, zumal auch bei der Zustellung von Willenserklärungen durch einen Gerichtsvollzieher gemäß §§ 132 Abs. 1 Satz 2, 191, 192, 167 ZPO auf den Zeitpunkt der Übergabe des Schriftstücks an den Gerichtsvollzieher abgestellt wird. Hinzu kommt, dass der mögliche Zeitverlust, der durch die gerichtliche Zustellung eintritt, in der Regel nur kurz ist und die beklagte Partei in ihren Dispositionen nicht allzu sehr beeinträchtigen dürfte, zumal die Verzögerung durch die schnellere gerichtliche Klärung mehr als kompensiert werden dürfte. Die Entscheidung des BGH sollte das BAG dazu veranlassen, seine bisherige 1 2 3 4 5 6

Schwab/Weth/Walker, § 48 ArbGG Rz. 167. Schwab/Weth/Walker, § 48 ArbGG Rz. 169. Schwab/Weth/Walker, § 48 ArbGG Rz. 169; HWK/Ziemann, § 48 ArbGG Rz. 84. BAG v. 10.4.1991 – 4 AZR 479/90, NZA 1991, 857. BAG v. 25.9.1996 – 10 AZR 678/95. BGH v. 17.7.2008 – I ZR 109/05, NJW 2009, 765.

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Teil 16

Rz. 76

Gerichtliche Durchsetzung tariflicher Ansprüche

Rechtsprechung kritisch zu überdenken1. Wird die Klage zurückgenommen, fällt nicht zugleich ihre fristwahrende Wirkung weg2.

b) Kündigungsschutzklage 76

Die Erhebung einer Kündigungsschutzklage reicht aus, um eine in Ausschlussfristenregelungen vorgesehene außergerichtliche Geltendmachung zu erfüllen, wenn es um Ansprüche geht, die vom Ausgang des Kündigungsschutzverfahrens abhängen. Denn das Gesamtziel der Kündigungsschutzklage ist für den Arbeitgeber erkennbar regelmäßig nicht auf den Erhalt des Arbeitsplatzes beschränkt, sondern zugleich auf die Sicherung der Ansprüche gerichtet, die durch den Verlust der Arbeitsstelle verloren gehen. Mit der Erhebung einer Kündigungsschutzklage ist der Arbeitgeber damit hinreichend über den Willen des Arbeitnehmers unterrichtet, die durch die Kündigung bedrohten Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis aufrechtzuerhalten. Die Ansprüche müssen dabei weder ausdrücklich bezeichnet noch beziffert werden3.

2. Gerichtliche Geltendmachung a) Fristbeginn 77

Verlangt eine zweistufige tarifliche Ausschlussklausel eine fristgebundene Klageerhebung, wenn Ansprüche innerhalb einer Frist zur Geltendmachung erhoben, aber vom Anspruchsgegner bestritten werden, beginnt die Frist für die Klageerhebung regelmäßig mit dem Bestreiten des Anspruchs4. Maßgeblich ist bei einem schriftlichen Bestreiten der Zeitpunkt des Zugangs. Hat der Arbeitnehmer durch die Erhebung der Kündigungsschutzklage die tarifliche Ausschlussfrist für die vom Ausgang des Kündigungsschutzverfahrens abhängigen Ansprüche gewahrt, beginnt die daran anknüpfende weitere tarifliche Frist für die gerichtliche Geltendmachung mit der Erklärung des Arbeitgebers, er beantrage, die Kündigungsschutzklage abzuweisen5. Die mit der Erhebung der Kündigungsschutzklage für den Arbeitgeber verbundene Warnfunktion, dass er noch mit Zahlungsansprüchen des Arbeitnehmers rechnen muss, gilt umgekehrt für den Arbeitnehmer, wenn der Arbeitgeber Klageabweisung begehrt6. Von diesem Grundsatz ist auch dann keine Ausnahme zu machen, wenn die Tarifnorm den Beginn der Klagefrist an eine ausdrückliche Ablehnung der Ansprüche durch den Arbeitgeber knüpft7 oder für die Ablehnungserklärung des Arbeitgebers die Schriftform vorschreibt, denn auch dann fehlt es nicht an der

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Kloppenburg, jurisPR-ArbR 7/2009, Anm. 5. BAG v. 20.6.2011 – 4 AZR 368/09, NZA-RR 2011, 609. BAG v. 19.5.2010 – 5 AZR 253/09, NZA 2010, 939; BAG v. 17.11.2009 – 9 AZR 745/08. BAG v. 16.3.1995 – 8 AZR 58/92, NZA 1995, 1213. BAG v. 26.4.2006 – 5 AZR 403/05, NZA 2006, 845; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1798,1799. 6 BAG v. 13.9.1984 – 6 AZR 379/81, NZA 1985, 249. 7 Hierzu BAG v. 4.5.1977 – 5 AZR 187/76, AP Nr. 60 zu § 4 TVG Ausschlussfristen.

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Tarifliche und gesetzliche Verfahrensbestimmungen

Rz. 79 Teil 16

mit dem Erfordernis einer schriftlichen Ablehnung verbundenen Warn- und Signalfunktion1.

b) Klage Die zweite Stufe einer tariflichen Verfallfrist wird gewahrt durch die Einreichung bzw. Erhebung

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– einer bezifferten Leistungsklage2, – einer unbezifferten Leistungsklage, sofern das Gesetz dies wie z.B. bei § 10 KSchG und § 113 Abs. 3 BetrVG zulässt3, – einer unzulässigen Leistungsklage, wenn sie nach Ablauf der zweistufigen Ausschlussfrist durch Aufnahme eines konkreten Zahlungsantrages zulässig gemacht wird, und die für die Höhe des Anspruchs geltend gemachten Tatsachen in der Klage so mitgeteilt sind, dass der Betrag ohne Weiteres berechnet werden kann4, – einer zulässigen allgemeinen Feststellungsklage, sofern sie geeignet ist, den gesamten von den Parteien unterschiedlich beurteilten Streitstoff zu klären5. Die Einreichung eines PKH-Antrags mit Klageentwurf wahrt die Frist nicht6. Von einem entsprechenden Versuch der Geltendmachung ist im Übrigen schon deswegen abzuraten, da § 167 ZPO mangels Zustellung des Entwurfs nicht greift und es somit von den Zufälligkeiten der gerichtlichen Behandlung des Antrags abhängig ist, wann der Entwurf dem Anspruchsgegner im Rahmen der Gewährung rechtlichen Gehörs nach § 118 Abs. 1 Satz 1 ZPO formlos zugeht. Eine Geltendmachung im Wege der Streitverkündung hat ebenfalls keine fristwahrende Wirkung, da die Streitverkündung nicht die Rechtshängigkeit des Anspruchs begründet7.

c) Streitiger Bestand des Arbeitsverhältnisses Hingegen wahrt die Erhebung einer Kündigungsschutzklage anders als bei zweistufigen Ausschlussfristen in Formulararbeitsverträgen8 nicht die zweite Stufe einer tariflichen Verfallklausel. Die gerichtliche Geltendmachung von Vergütungsansprüchen setzt daher die Einreichung einer Klage mit einem entsprechenden Streitgegenstand voraus. Dies gilt unabhängig davon, ob der TV 1 BAG v. 26.4.2006 – 5 AZR 403/05, NZA 2006, 845; a.A. BAG v. 11.12.2001 – 9 AZR 510/00, EzA Nr. 145 zu § 4 TVG Ausschlussfristen. 2 BAG v. 29.6.1989 – 6 AZR 459/88, NZA 1989, 897. 3 BAG v. 29.6.1989 – 6 AZR 459/88, NZA 1989, 897. 4 BAG v. 29.6.1989 – 6 AZR 459/88, NZA 1989, 897; BAG v. 30.3.1989 – 6 AZR 769/85, EzA Nr. 79 zu § 4 TVG Ausschlussfristen. 5 BAG v. 29.6.1989 – 6 AZR 459/88, NZA 1989, 897. 6 LAG Köln v. 8.10.1997 – 2 Sa 587/97, NZA-RR 1998, 226; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1815; a.A. LAG Hamm v. 14.6.2011 – 14 Ta 768/10. 7 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1814. 8 BAG v. 19.3.2008 – 5 AZR 429/07, NZA 2008, 757.

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Teil 16

Rz. 80

Gerichtliche Durchsetzung tariflicher Ansprüche

kraft Organisationszugehörigkeit oder kraft arbeitsvertraglicher Verweisung Anwendung findet, sofern sich die Verweisung nicht auf einzelne Vorschriften eines TVes beschränkt1. 80

Indes ist eine tarifliche Ausschlussfrist unter dem Gesichtspunkt der Gewährung effektiven Rechtsschutzes auszulegen und anzuwenden. Das verbietet übersteigerte Obliegenheiten zur gerichtlichen Geltendmachung von Ansprüchen. Der Zugang zu den Gerichten darf nicht durch Kostenbarrieren abgeschnitten werden. Ist ein Arbeitnehmer vor Abschluss eines Rechtsstreits über den Bestand seines Arbeitsverhältnisses gezwungen, Ansprüche auf Annahmeverzugslohn einzuklagen, erhöht sich sein Kostenrisiko so erheblich, dass eine Obliegenheit zur Klageerhebung unzumutbar sein kann2.

81

Demgemäß wird vorgeschlagen, zweistufige Verfallklauseln so auszulegen, dass die zweite Stufe erst mit dem Ende des Kündigungsschutzrechtsstreits zu laufen beginnt3. Praktischer und wenigstens im Ergebnis überzeugender dürfte es jedoch sein, für Annahmeverzugsansprüche die Erhebung der Kündigungsschutzklage als gerichtliche Geltendmachung ausreichen zu lassen4. Insofern wäre im Ergebnis der für die Rechtsanwender wünschenswerte Einklang mit der Rechtsprechung zu einzelvertraglichen Ausschlussklauseln hergestellt.

d) Fristwahrung 82

Bei einer zweistufigen tariflichen Verfallfrist reicht in entsprechender Anwendung des § 167 ZPO zur Wahrung der Klagefrist die rechtzeitige Einreichung bei Gericht aus, da eine tarifvertragliche Verfallfrist in ihrer Wirkung mit einer verkürzten Verjährungsfrist vergleichbar ist5. Wird die Klage zurückgenommen, so wäre eine erneute, nach Ablauf der Ausschlussfrist erhobene Klage verspätet. Die Verfallfrist gilt dann nicht als durch die erste Klage eingehalten6. Eine Haftungsfalle stellt § 54 Abs. 5 Satz 4 ArbGG7: Erscheinen oder verhandeln beide Parteien in der Güteverhandlung nicht, wird demgemäß das Ruhen des Verfahrens angeordnet, und wenn nicht innerhalb von sechs Monaten auf Antrag einer Partei Termin zur streitigen Verhandlung bestimmt wird, gilt die Klage als zurückgenommen. Die Ausschlussfrist ist nicht mehr gewahrt.

1 Zuletzt BAG v. 17.11.2009 – 9 AZR 745/08. 2 BVerfG v. 1.12.2010 – 1 BvR 1682/07, NZA 2011, 354; Temming, jurisPR-ArbR 20/2011 Anm. 2; auch schon BAG v. 12.12.2006 – 1 AZR 96/06, NZA 2007, 453 zu einer entsprechenden Regelung bei einer Betriebsvereinbarung. 3 Nägele/Gertler, Tarifliche Ausschlussfristen auf dem Prüfstand, NZA 2011, 442 (445). 4 LAG Köln v. 5.5.2011 – 13 Sa 954/06; LAG Düsseldorf v. 20.5.2011 – 6 Sa 393/11, ArbuR 2011, 504; ArbG Hagen v. 8.3.2011 – 1 Ca 2809/08. 5 LAG Köln v. 11.9.2006 – 14 (13) Sa 395/06, LAGE § 615 BGB 2002 Nr. 5; ErfK/Preis, §§ 194–218 BGB Rz. 65. 6 BAG v. 11.7.1990 – 5 AZR 609/89, NZA 1991, 70; anders noch BAG v. 24.5.1973 – 5 AZR 21/73, AP Nr. 52 zu § 4 TVG Ausschlussfristen. 7 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1813.

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Tarifliche und gesetzliche Verfahrensbestimmungen

Rz. 86 Teil 16

e) Wiedereinsetzung Bei der Versäumung einer Ausschlussfrist ist eine Wiedereinsetzung nach § 233 ZPO nicht möglich. Tarifliche Ausschlussfristen sind weder mit gesetzlichen Notfristen noch mit Rechtsmittelbegründungfristen vergleichbar1. Bei vertraglich vereinbarten Fristen hatten es die Parteien selbst in der Hand, die Dauer der Frist und die Modalitäten ihres Ablaufs so zu bestimmen, dass einer unverschuldeten Versäumung vorgebeugt werden kann2.

83

IV. Eingruppierungsfeststellungsklagen Ist ein Arbeitnehmer in eine zu niedrige Vergütungs- oder Entgeltgruppe eingruppiert worden, kann er eine höhere Vergütung mit einer Eingruppierungsfeststellungsklage durchsetzen.

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1. Antrag Die Klage ist auf die Feststellung gerichtet, dass der Arbeitgeber verpflichtet ist, den Kläger nach einer bestimmten Vergütungsgruppe zu vergüten. Ein Antrag auf Feststellung, dass der Kläger in eine bestimmte Stufe „eingruppiert“ sei, ist unzulässig, da er nicht die Feststellung eines Rechtsverhältnisses im Sinne des § 256 ZPO, sondern die Klärung einzelner Voraussetzungen eines solchen Rechtsverhältnisses zum Gegenstand hat3. Unpräzise wäre ein Antrag, dass der Kläger in eine bestimmte Vergütungsgruppe einzugruppieren sei. Denn der Arbeitgeber schuldet regelmäßig keine rechtsgeschäftliche Handlung in Form einer Eingruppierung in eine bestimmte Vergütungsgruppe. Erforderlich und ausreichend ist bei den meisten TVen, dass der Arbeitnehmer die maßgeblichen Merkmale der Vergütungsgruppe erfüllt (Tarifautomatik)4. Der fehlerhafte Antrag kann jedoch so ausgelegt bzw. umgestellt werden, dass die Feststellung einer bestimmten Vergütungsverpflichtung verlangt wird, ohne dass es einer Klageänderung bedürfte5.

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2. Prüfungsumfang Die gerichtliche Geltendmachung eines quantifizierten Anspruchs enthält regelmäßig auch die Geltendmachung eines Anspruchs, der in seiner Höhe unterhalb des Hauptanspruchs liegt6. Eines Hilfsantrages auf Feststellung der Vergütungsverpflichtung nach einer niedrigeren Vergütungsgruppe oder für einen kürzeren Zeitraum bedarf es daher nicht, wenn er als Weniger im Hauptantrag enthalten ist. Das ist anzunehmen, wenn7

1 2 3 4 5 6 7

ErfK/Preis, §§ 194–218 BGB Rz. 65. BAG v. 18.11.2004 – 6 AZR 651/03, NZA 2005, 516. BAG v. 27.1.2011 – 6 AZR 578/09. BAG v. 24.2.1982 – 4 AZR 526/79. BAG v. 27.1.2011 – 6 AZR 578/09. BAG v. 6.6.2007 – 4 AZR 505/06, NZA-RR 2008, 189. BAG v. 6.6.2007 – 4 AZR 505/06, NZA-RR 2008, 189.

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Teil 16

Rz. 87

Gerichtliche Durchsetzung tariflicher Ansprüche

– die Tätigkeitsmerkmale der höheren Vergütungsgruppe auf denen der niedrigeren aufbauen, indem sie eine zusätzliche Anforderung vorsehen (Beispiel: Die höhere Vergütungsgruppe verlangt im Gegensatz zu der niedrigeren Vergütungsgruppe nicht nur gründliche und vielseitige Fachkenntnisse, sondern zusätzlich selbständige Leistungen), oder – wenn ein Tätigkeitsmerkmal im Vergleich zu einem anderen höhere Anforderungen stellt. (Beispiel: Die höhere Vergütungsgruppe verlangt mindestens zur Hälfte selbständige Leistungen. Die niedrigere Vergütungsgruppe verlangt nur zu einem Drittel selbständige Leistungen bei ansonsten unveränderten Anforderungen.) 87

Enthält die Begründetheit eines Anspruchs nach einer höher bewerteten Entgeltgruppe hingegen nicht denknotwendig die Erfüllung der Voraussetzungen der niedriger bewerteten Vergütungsgruppe, ist der Anspruch auf Entgelt nach der niedrigeren Vergütungsgruppe nicht vom Klageantrag umfasst. Hier ist der Streitgegenstand auf den Entgeltanspruch nach der höheren Lohngruppe beschränkt. Die Vergütung nach der niedrigeren Vergütungsgruppe wäre im Wege eines Hilfsantrages geltend zu machen. Wird das Klagebegehren mit einem Zahlungsantrag verfolgt, müsste der Kläger zumindest hilfsweise zu den Voraussetzungen der niedriger bewerteten Vergütungsgruppe vortragen1.

88

Die rechtskräftige Feststellung der Verpflichtung, eine Vergütung nach einer bestimmten Vergütungsgruppe zu zahlen, schließt nicht aus, in einem weiteren Rechtsstreit über die Erfüllung von Tätigkeitsmerkmalen einer höheren Vergütungsgruppe zu entscheiden. Dies gilt unabhängig davon, ob die Vorentscheidung auf eine Leistungs- oder auf eine Feststellungsklage hin erlassen worden ist. Wegen des Aufbaues der einzelnen Vergütungsgruppen aufeinander ist jeweils nur zu prüfen, ob der Arbeitnehmer die Tätigkeitsmerkmale der begehrten Vergütungsgruppe erfüllt. Es braucht und darf wegen der Bindung an die Parteianträge nicht geprüft werden, ob und inwieweit die Tätigkeitsmerkmale einer höheren Vergütungsgruppe erfüllt sind2.

3. Rechtsschutzinteresse a) Regelfall 89

Das nach § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche besondere Rechtsschutzinteresse für eine Eingruppierungsfeststellungsklage ist auch dann gegeben, wenn eine Leistungsklage möglich und zumutbar ist3. Denn eine Leistungsklage hätte für die Klägerseite erhebliche praktische Nachteile: Sie wäre grundsätzlich auf bereits fällige Ansprüche beschränkt. Eine Klage auf künftige Vergütung nach § 259 ZPO müsste nämlich berücksichtigen, dass Vergütungsansprüche dann entfallen, wenn das Arbeitsverhältnis beendet wird, die geschuldete Arbeitsleistung ausbleibt oder die Vergütung nicht fortzuzahlen ist. Diese für den Vergütungs-

1 BAG v. 25.2.2009 – 4 AZR 41/08, NZA-RR 2010, 147. 2 BAG v. 12.5.1971 – 4 AZR 247/70, NJW 1971, 1768. 3 Zöller/Greger, § 256 ZPO Rz. 7a.

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Tarifliche und gesetzliche Verfahrensbestimmungen

Rz. 90 Teil 16

anspruch maßgebenden Bedingungen wären in den Antrag aufzunehmen1. Eine Klage nach § 258 ZPO kommt nicht in Betracht, weil Gehaltsansprüche keine wiederkehrenden Leistungen im Sinne der Vorschrift sind2. Der Arbeitnehmer wäre daher gehalten, seine Differenzansprüche nachträglich einzuklagen, was zu einem unnötigen Aufwand für die Parteien und das Gericht führen würde, wenn die Vergütungspflicht an sich unstreitig ist und nur über die zutreffende Eingruppierung gestritten wird. Hinzu kommt, dass die Berechnung der Vergütungsdifferenz bei komplexen Tarifsystemen für den Arbeitnehmer (und das Gericht) sehr schwer ist3. Schließlich hat die Zugehörigkeit eines Arbeitnehmers zu einer bestimmten Vergütungs- oder Entgeltgruppe oftmals Auswirkungen in anderen Bereichen, etwa beim Bewährungsaufstieg, beim Urlaub oder bei Reisekosten4. Die Zulässigkeit einer Eingruppierungsfeststellungsklage ist daher – auch gegenüber privaten Arbeitgebern5 – seit langem anerkannt6. Das BAG erwägt überdies, jedenfalls bei einer Eingruppierung im öffentlichen Dienst, sogar von einem Vorrang der Eingruppierungsfeststellungsklage auszugehen7.

b) Sonderfälle aa) Einzelne Elemente eines Rechtsverhältnisses Die Klage ist unzulässig, wenn durch die Entscheidung kein Rechtsfrieden geschaffen wird, weil nur einzelne Elemente eines Rechtsverhältnisses zur Entscheidung gestellt werden. Die Rechtskraft der Entscheidung muss vielmehr weitere gerichtliche Auseinandersetzungen über die zwischen den Parteien strittigen Fragen um denselben Fragenkomplex ausschließen. Das ist bei einem auf Feststellung einer Zahlungsverpflichtung gerichteten Antrag der Fall, wenn über die weiteren Vergütungsfaktoren kein Streit besteht und die konkrete Bezifferung der Vergütung den Parteien überlassen bleiben kann8. Unzulässig ist hingegen die Klage auf Feststellung einer bestimmten Fallgruppe innerhalb einer Vergütungs- oder Entgeltgruppe, selbst wenn die Fallgruppe für die Teilnahme an einem Bewährungsaufstieg von Bedeutung ist. Denn die begehrte Entscheidung würde sich nicht über ein Rechtsverhältnis, sondern nur über ein Anspruchselement verhalten und somit auf die Erstattung eines Rechtsgutachtens hinauslaufen9.

1 2 3 4 5 6 7 8 9

BAG v. 13.3.2002 – 5 AZR 755/00, EzA § 259 ZPO Nr. 1. BAG v. 23.9.1992 – 4 AZR 30/92, NZA 1993, 891. Schwab/Weth/Zimmerling, § 46 ArbGG Rz. 121. BAG v. 19.10.1983 – 4 AZR 339/81; GMPM/Germelmann, § 46 ArbGG Rz. 106. BAG v. 19.5.2010 – 4 AZR 932/08; BAG v. 20.6.1984 – 4 AZR 208/82, AP Nr. 2 zu § 1 TVG TV – Großhandel; GMPM/Germelmann, § 46 ArbGG Rz. 108. BAG v. 24.4.1996 – 4 AZR 876/94, NZA 1997, 50. BAG v. 9.4.2008 – 4 AZR 104/07, NZA-RR 2009, 79. BAG v. 21.4.2010 – 4 AZR 755/08, EzA § 256 ZPO 202 Nr. 9. BAG v. 22.1.2003 – 4 AZR 700/01, AP Nr. 24 zu § 24 BAT; kritisch Schwab/Weth/ Zimmerling, § 46 ArbGG Rz. 121; zur Zahlungspflicht bei der ERA-Strukturkomponente siehe BAG v. 21.4.2010 – 4 AZR 755/08, EzA § 256 ZPO 202 Nr. 9.

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90

Teil 16

Rz. 91

Gerichtliche Durchsetzung tariflicher Ansprüche

bb) Vergangenheitsbezogene Feststellung 91

Ein Feststellungsinteresse besteht auch dann, wenn das Arbeitsverhältnis beendet ist und der Feststellungsantrag auf einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum beschränkt wird1.

cc) Widerklage 92

Klagt der Arbeitnehmer auf Zahlung aus einer höheren Vergütungs- oder Entgeltgruppe, sind Widerklagen in Gestalt einer negativen Eingruppierungsfeststellungsklage zulässig. Für sie gelten dieselben Grundsätze wie für Eingruppierungsfeststellungsklagen, da die Vergütungsdifferenzbeträge für die Zukunft nicht bestimmbar sind und die Klage den streitigen Gesamtkomplex zwischen den Parteien klären kann2.

dd) Zwischenfeststellungsklage 93

Der Arbeitnehmer kann eine Zahlungsklage mit einer Eingruppierungsfeststellungsklage kombinieren. Diese ist als Zwischenfeststellungsklage auf die Feststellung eines vorgreiflichen Rechtsverhältnisses gerichtet. Die Prüfung des Feststellungsinteresses beschränkt sich in diesem Fall nach § 256 Abs. 2 ZPO allein auf die Präjudizialität des streitigen Rechtsverhältnisses für die Hauptentscheidung3.

ee) Zinsen 94

Zulässig ist es, den Eingruppierungsfeststellungsantrag auf die Verzinsungspflicht zu erstrecken, etwa durch den Zusatz „… und die monatlichen Bruttonachzahlungsbeträge zwischen der Vergütungsgruppe … und der Vergütungsgruppe … beginnend mit dem … ab dem jeweiligen Fälligkeitszeitpunkt mit fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz zu verzinsen“4.

D. Rechtsmittel I. Zulassung der Berufung nach § 64 Abs. 3 ArbGG 95

Nach § 64 Abs. 3 Nr. 2 ArbGG hat das Arbeitsgericht die Berufung zuzulassen, wenn die Rechtssache Rechtsstreitigkeiten betrifft zwischen TV-Parteien – aus TVen oder über das Bestehen oder Nichtbestehen von TVen, – über die Auslegung eines TVes, dessen Geltungsbereich sich über den Bezirk eines Arbeitsgerichts hinaus erstreckt, 1 BAG v. 6.3.1974 – 4 AZR 293/73, AP Nr. 2 zu § 21 MTB II; BAG v. 26.7.1995 – 4 AZR 280/94, NZA-RR 1996, 153; a.A. GMPM/Germelmann, § 46 ArbGG Rz. 108. 2 BAG v. 6.12.1978 – 4 AZR 321/77, AP Nr. 11 zu §§ 22, 23 BAT 1975; Schwab/Weth/ Zimmerling, § 46 ArbGG Rz. 121. 3 BAG v. 24.4.1996 – 4 AZR 876/94, NZA 1997, 50. 4 BAG v. 9.12.2009 – 4 AZR 630/08; BAG v. 23.8.2006 – 4 AZR 417/05, NZA 2007, 516.

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Rechtsmittel

Rz. 100 Teil 16

– oder zwischen tariffähigen Parteien oder zwischen diesen und Dritten aus unerlaubten Handlungen, soweit es sich um Maßnahmen zum Zwecke des Arbeitskampfs oder um Fragen der Vereinigungsfreiheit einschließlich des hiermit im Zusammenhang stehenden Betätigungsrechts der Vereinigungen handelt. § 64 Abs. 3 ArbGG erfasst nur TVe im Rechtssinne. Unter die Vorschrift fallen nicht1

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– Betriebsvereinbarungen, – die Arbeitsvertraglichen Richtlinien des Deutschen Caritasverbandes (AVR), da sie nicht von TV-Parteien ausgehandelt und nach Maßgabe des TVG zustande gekommen sind2, – Dienstordnungen von Behörden, – bindende Festsetzungen nach dem Heimarbeitsgesetz. Die qualifizierte Voraussetzung der „Auslegung“ eines TVes ist erfüllt, wenn die Interpretation tariflicher Rechtsbegriffe in Frage steht3. Die Auslegung muss nicht unmittelbarer Gegenstand des Rechtsstreits sein und kann auch eine Vorfrage betreffen. Eine Tarifbindung der Parteien ist nicht erforderlich4.

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Fraglich ist, ob unter „Auslegung eines TVes“ nur die Ermittlung des Inhaltes einer Tarifnorm oder zudem die Kontrolle einer ihrem Inhalt nach feststehenden Norm anhand höherrangigen Rechts zu verstehen ist. Die besseren Gründe dürften für Letzteres sprechen, da die Auslegung einer Norm und ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht unmittelbar zusammenhängen5.

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Die Entscheidung des Arbeitsgerichts, ob die Berufung zugelassen oder nicht zugelassen wird, ist in den Urteilstenor aufzunehmen. Ist dies unterblieben, kann binnen zwei Wochen ab Verkündung des Urteils eine entsprechende Ergänzung beantragt werden. Über den Antrag kann die Kammer ohne mündliche Verhandlung entscheiden.

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II. Zulassung der Revision nach § 72 ArbGG Nach § 72 Abs. 2 ArbGG hat das Landesarbeitsgericht die Revision zuzulassen, wenn eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung hat. Bei einem Rechtsstreit über die Auslegung eines TVes, der zwischen den TV-Parteien geführt wird, ist die Revision in der Regel auch dann zuzulassen, wenn der Geltungsbereich des TVes nicht über den Bezirk eines Landesarbeitsgerichts hinausgeht. Denn die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache er-

1 2 3 4 5

GMPM/Germelmann, § 64 ArbGG Rz. 24. BAG v. 23.1.2002 – 4 AZN 760/01. LAG Rheinland-Pfalz v. 30.9.2008 – 13 Sa 221/08. GMPM/Germelmann, § 64 ArbGG Rz. 23. Siehe auch BAG v. 25.4.1996 – 3 AZR 316/95 (A), 3 AZR 316/95, NZA 1997, 231.

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100

Teil 16

Rz. 101

Gerichtliche Durchsetzung tariflicher Ansprüche

gibt sich bereits aus der Bindungswirkung der rechtskräftigen Entscheidung für die Gerichte und Schiedsgerichte nach § 9 TVG1.

III. Sprungrevision nach § 76 ArbGG 101

Gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1 ArbGG kann gegen das Urteil eines Arbeitsgerichts unter Übergehung der Berufungsinstanz unmittelbar die Revision (Sprungrevision) eingelegt werden, wenn der Gegner schriftlich zustimmt und wenn die Sprungrevision vom Arbeitsgericht auf Antrag im Urteil oder nachträglich durch Beschluss zugelassen wird.

102

Die Sprungrevision ist nach § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1–3 ArbGG nur zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat und Rechtsstreitigkeiten betrifft – zwischen TV-Parteien aus TVen oder über das Bestehen oder Nichtbestehen von TVen, – über die Auslegung eines TVes, dessen Geltungsbereich sich über den Bezirk des Landesarbeitsgerichts hinaus erstreckt, oder – zwischen tariffähigen Parteien oder zwischen diesen und Dritten aus unerlaubten Handlungen, soweit es sich um Maßnahmen zum Zwecke des Arbeitskampfes oder um Fragen der Vereinigungsfreiheit einschließlich des hiermit im Zusammenhang stehenden Betätigungsrechts der Vereinigungen handelt.

103

Das BAG ist gemäß § 76 Abs. 1 Satz 2 ArbGG an die Zulassung gebunden. Die Ablehnung der Zulassung ist unanfechtbar.

104

Ist die Sprungrevision im Urteil zugelassen, muss der Revisionsschrift gemäß § 76 Abs. 1 Satz 3 ArbGG die schriftliche Zustimmung des Gegners der Revisionsschrift beigefügt werden. Die Erklärung muss schriftlich niedergelegt und vom Erklärenden eigenhändig unterschrieben sein. Eine beglaubigte Kopie der Zustimmungserklärung reicht nicht aus2. Erklärt eine Partei schriftsätzlich oder zur Protokoll, sie stimme der Zulassung einer Sprungrevision zu, so bedeutet das noch nicht, dass sie ebenfalls der Einlegung einer Sprungrevision gemäß § 76 Abs. 1 ArbGG zustimmen will3.

105

Ob gegen die Versäumung der fristgerechten Einreichung der Zustimmungserklärung des Gegners nach § 76 Abs. 1 ArbGG durch den Revisionskläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bewilligt werden kann, ist zweifelhaft, da die Pflicht zur Vorlage der Zustimmungserklärung innerhalb der Frist keine Prozesshandlung, sondern eine weitere Zulässigkeitsvoraussetzung der eigentlichen Prozesshandlung, der Einlegung der Sprungrevision, ist4. 1 2 3 4

BAG v. 17.6.1997 – 9 AZN 251/97, NZA 1998, 500 zur alten Rechtslage. BAG v. 14.3.2001 – 4 AZR 367/00. BAG v. 28.10.1986 – 3 AZR 218/86, AP Nr. 7 zu § 76 ArbGHG 1979. Bejahend BSG v. 2.3.1994 – 1 RK 58/93, NZS 1994, 431; ablehnend noch BSG v. 15.3.1978 – 1 RA 33/77; offengelassen von BAG v. 14.3.2001 – 4 AZR 367/00.

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Informationspflichten der Gerichte für Arbeitssachen

Rz. 109 Teil 16

E. Informationspflichten der Gerichte für Arbeitssachen bei Rechtsstreiten mit Tarifbezug Nach § 63 ArbGG sind rechtskräftige Urteile der Arbeitsgerichte, die in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten zwischen TV-Parteien aus dem TV oder über das Bestehen oder Nichtbestehen des TVes ergangen sind, alsbald der zuständigen obersten Landesbehörde und dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales in vollständiger Form abschriftlich zu übersenden oder elektronisch zu übermitteln. Ist die zuständige oberste Landesbehörde die Landesjustizverwaltung, so sind die Urteilsabschriften oder das Urteil in elektronischer Form auch der obersten Arbeitsbehörde des Landes zu übermitteln.

106

§ 63 ArbGG korrespondiert mit § 9 TVG und soll gewährleisten, dass die Entscheidungen jederzeit zugänglich sind und veröffentlicht werden1.

107

Zu übermitteln sind nur Entscheidungen in Streitigkeiten zwischen TV-Parteien. Damit umfasst der Anwendungsbereich der §§ 63, 64 Abs. 7, 72 Abs. 6 ArbGG nicht Rechtsstreitigkeiten zwischen TV-Parteien und Dritten2. § 63 ArbGG gilt gemäß §§ 63, 64 Abs. 7, 72 Abs. 6 ArbGG auch für Urteile der Landesarbeitsgerichte und des BAG und findet nach § 97 Abs. 3 ArbGG zudem entsprechende Anwendung bei Beschlussverfahren über die Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit einer Vereinigung. § 63 ArbGG erfasst wie § 9 TVG nur Sachentscheidungen3, die eine entsprechende Schlüssigkeitsprüfung voraussetzen.

108

Zuständig für die Übermittlung ist nicht die Verwaltung des Gesichts, sondern der Vorsitzende des Spruchkörpers4.

109

1 2 3 4

Schwab/Weth/Berscheid, § 63 ArbGG Rz. 1; GMPM/Germelmann, § 63 ArbGG Rz. 1. GMPM/Germelmann, § 63 ArbGG Rz. 2. Schwab/Weth/Berscheid, § 63 ArbGG Rz. 5; GMPM/Germelmann, § 63 ArbGG Rz. 3. Schwab/Weth/Berscheid, § 63 ArbGG Rz. 8; GMPM/Germelmann, § 63 ArbGG Rz. 8.

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Teil 17 Internationales Tarifvertragsrecht Rz. A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

B. Internationales Tarifvertragsrecht i.e.S. (Kollisionsrecht) I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Tarifvertragsstatut 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bestimmung des Tarifvertragsstatuts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Festlegung des Tarifvertragsstatuts durch Rechtswahl aa) Zulässigkeit der Rechtswahl . . . . . . . . . bb) Einzelfragen der Rechtswahl . . . . . . . . . b) Objektive Anknüpfung . . . 3. Reichweite des Tarifvertragsstatuts a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . b) Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Tariffähigkeit . . . . . . . . . . . d) Tarifbindung und Tarifwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Grenzen der Anwendung eines ausländischen Tarifvertragsstatuts durch ein deutsches Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Eingriffsnormen des deutschen Rechts . . . . . . . . . . . .

3 7 9

12 18 22

27 28 29 30

Rz. b)

Ordre public . . . . . . . . . . . . . 43

III. Der internationale Geltungsbereich von deutschen Tarifverträgen und ausländischen Kollektivvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . 1. Der internationale Geltungsbereich deutscher Tarifverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Fallgestaltungen aa) „Ausstrahlung“ des deutschen Tarifvertrages . . . . . . . . . . . . . . . bb) Einbeziehung von teilweiser Auslandsarbeit im deutschen Tarifvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Einbeziehung von reiner Auslandsarbeit im deutschen Tarifvertrag b) Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . 2. Der internationale Geltungsbereich ausländischer Kollektivvereinbarungen . . . . . . . . . . .

45

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50

52

54 55

58

C. Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . 61 D. Internationale Kollektivvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

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I. Völker- und unionsrechtliche Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 II. Bestehende Rechtsunsicherheiten 67

Literatur: Berger, Grenzüberschreitende Tarifverträge innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Diss. Köln 1972; Birk, Internationales Tarifvertragsrecht, Eine kollisionsrechtliche Skizze, in: Festschrift für Beitzke, 1979, S. 831; Däubler, Der Kampf um einen weltweiten Tarifvertrag, 1997; Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, 1999; Demarne, Anwendung nationaler Tarifverträge bei grenzüberschreitenden Arbeitsverhältnissen, 1999; Dubois, Multinationale Unternehmen und die Möglichkeiten des Abschlusses internationaler Tarifverträge, AuR 1975, 129 und 172; Ebenroth/Fischer/Sorek, Das Kollisionsrecht der Fracht-, Passage- und Arbeitsverträge im internationalen Seehandelsrecht, ZVglRWiss 88 (1989), 124; Friedrich, Probleme der Tarifverträge mit Auslandsberührung, RdA 1980, 109; Franzen, AR-Blattei SD 920 Rz. 301 ff., Stand 11/2006; Fudickar, Parteiautonome Anknüpfung grenzüberschreitender Tarifverträge in der Europäischen Union, 2005; Gamillscheg, Internationales Arbeitsrecht, § 16 Tarifvertrag, 1959; Hanau, Kollektives Arbeitsrecht (§ 19), in: Hanau/Steinmeyer/Wank, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, 2002; Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, AR-Blattei SD 1550.15, Stand 2/2004; Herschel, Grenzüberschreitende Tarifverträ-

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ge?, BB 1962, 1255; Junker, Internationales Arbeitsrecht im Konzern, § 13 Tarifvertragsrecht, 1992; Junker, Zwingendes ausländisches Recht und deutscher Tarifvertrag, IPRax 1994, 21; Kowanz, Europäische Kollektivvertragsordnung, 1999; Leo, Der Tarifvertrag als internationales Rechts-Problem, Blätter für die Vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre 11 (1907), 433; Lohmann, Grenzüberschreitende Firmentarifverträge, 1993; Schnorr, Rechtsfragen europäischer Tarifverträge, Sozialer Fortschritt 1963, 155; Stadtler, Europäische Tarifverträge, NJW 1969, 962; Thüsing/Müller, Geklärtes und Ungeklärtes im Internationalen Tarifrecht, BB 2004, 1333; Walz, Multinationale Unternehmen und internationaler Tarifvertrag, 1981; Wimmer, Die Gestaltung internationaler Arbeitsverhältnisse durch kollektive Normenverträge, 1992.

A. Einleitung 1

Das Tarifrecht kann auf unterschiedliche Weise einen internationalen Bezug aufweisen. Zum einen kann in einem konkreten Rechtsstreit der Sachverhalt eine sog. Auslandsberührung haben. Insbesondere kann das einzelne Arbeitsverhältnis einen Bezug zum Ausland aufweisen, z.B. weil der Arbeitnehmer seine Tätigkeit teilweise oder ganz im Ausland erbringt. Es stellt sich dann die Frage, ob und inwieweit sich der Arbeitnehmer, z.B. für seinen Lohnanspruch, auf einen deutschen TV berufen kann. Aber auch der TV selbst kann eine Auslandsberührung haben, z.B. wenn er von einer ausländischen Gewerkschaft mit einem deutschen Arbeitgeber geschlossen würde. Dann kann u.a. fraglich sein, nach welcher Rechtsordnung sich die Tariffähigkeit der ausländischen Gewerkschaft beurteilt. Die Frage, nach welcher Rechtsordnung eine bestimmte rechtliche Frage entschieden werden muss, wenn der Sachverhalt eine Auslandsberührung hat, beantwortet das Kollisionsrecht. Das Kollisionsrecht, welches über die anwendbare Rechtsordnung (sog. Statut) in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten entscheidet, wird Internationales Arbeitsrecht (i.e.S.) genannt. Sofern es sich um eine tarifvertragliche Streitigkeit handelt, kann von Internationalem Tarifrecht i.e.S. gesprochen werden. Dieses wird unter Rz. 3 ff.) behandelt.

2

Das TV-Recht ist in den europäischen und außereuropäischen Rechtsordnungen höchst unterschiedlich ausgestaltet. Die Erforschung der unterschiedlichen nationalen Tarifrechtsordnungen ist eine Sache der Rechtsvergleichung (dazu Rz. 61). Darüber hinaus gibt es den Wunsch, auf europäischer wie internationaler Ebene „grenzüberschreitende“ bi- oder multinationale TVe zu schließen. Dieser Prozess steht freilich erst am Anfang (dazu Rz. 62 ff.).

B. Internationales Tarifvertragsrecht i.e.S. (Kollisionsrecht) I. Allgemeines 3

Das internationale Tarifrecht i.e.S. meint hier das Kollisionsrecht (Verweisungsrecht). Dieses regelt die Frage, welche Rechtsordnung (sog. Statut) über 1216

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eine bestimmte tarifrechtliche Rechtsfrage in einem Fall mit Auslandsberührung entscheidet. Damit ist das internationale Tarifrecht i.e.S. ein Teil des sog. internationalen Arbeitsrechts i.e.S. Dieses wird seit dem 17.12.2009 maßgeblich durch die Art. 3, 8 und 9 der VO 593/2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht, sog. Rom-I-Verordnung1, geregelt. Ob und inwiefern diese Verordnung auch für das internationale Tarifrecht i.e.S. gilt, ist indes fraglich und umstritten (vgl. unten Rz. 11 ff.). Das internationale Tarifrecht i.e.S. ist nationales Recht. Das bedeutet, dass sich die internationalen Tarifrechte i.e.S. der einzelnen Staaten unterscheiden. Zwar hat innerhalb der EU durch die Rom-I-Verordnung eine gewisse Harmonisierung des internationalen Arbeitsrechts stattgefunden. Da die Rom-I-Verordnung jedoch das internationale Tarifrecht i.e.S. nicht (ausdrücklich) regelt, bleiben die nationalen kollisionsrechtlichen Regelungen auch der europäischen Staaten unterschiedlich.

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Vereinzelte Hinweise zum tarifrechtlichen Kollisionsrecht ausländischer Rechtsordnungen finden sich bei Gamillscheg, Internationales Arbeitsrecht, § 16 Tarifvertrag, 1959, S. 360 bis 365, und bei Junker, Internationales Arbeitsrecht im Konzern, 1992, S. 408 bis 464. Eine aktuellere Darstellung des internationalen Tarifvertragsrechts von England und Frankreich bietet Fudickar, Parteiautonome Anknüpfung grenzüberschreitender Tarifverträge in der Europäischen Union, 2005, S. 165 bis 185. Zur Rechtslage in Frankreich vgl. auch Demarne, Anwendung nationaler Tarifverträge bei grenzüberschreitenden Arbeitsverhältnissen, 1999, S. 61 bis 74.

Daher wird ein deutsches Gericht die Frage, welche Rechtsordnung über eine tarifrechtliche Streitfrage bei einem Sachverhalt mit Auslandsberührung entscheidet, möglicherweise anders beantworten als ein Gericht im Ausland. Kann ein Klagebegehren in Deutschland nicht durchgesetzt werden, könnte grundsätzlich danach gefragt werden, ob eine Klage im Ausland erfolgreich sein kann. Dabei müssen jedoch auch die internationale Zulässigkeit einer solchen Klage, die Kosten eines Rechtsstreits im Ausland und die Möglichkeiten der Vollstreckbarkeit eines ausländischen Titels im Ausland oder in Deutschland in den Blick genommen werden.

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Die hier folgenden Ausführungen beschränken sich auf die Darstellung des in Deutschland anwendbaren internationalen Tarifrechts i.e.S. In Deutschland wird dem TV eine Doppelnatur zugeprochen. Damit hat auch das deutsche internationale Tarifrecht i.e.S. den schuldrechtlichen wie den normativen Charakter des TVes zu berücksichtigen. Es muss vor diesem Hintergrund die Rechtsordnung bestimmen, die über den TV, d.h. über sein Zustandekommen, seine Wirksamkeit und seine Beendigung, entscheidet. Diese Rechtsordnung wird Tarifvertragsstatut genannt2; die Ermittlung des TV-Statuts wird sogleich unter Rz. 7 ff. erörtert. Weiter kann der TV als solcher in den Blick genommen

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1 ABl. 2008 L 177/6, berichtigt ABl. 2009 L 309/87. Die Rom-I-Verordnung gilt nicht für Dänemark, vgl. Erwägungsgründe 45, 46 zur Verordnung 539/2008. Dazu Magnus, IPRax 2010, 27 (30 f.). Das Vereinigte Königreich hat die Verordnung mittlerweile angenommen, vgl. Entscheidung der Kommission v. 22.12.2008, ABl. 2009 L 10/22. 2 ErfK/Schlachter, Rom-I-VO Rz. 32; Krause in Jacobs/Krause/Oetker, § 1 Rz. 128.

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und nach seinem internationalen Geltungsbereich gefragt werden. Hierzu wird unter Rz. 45 ff. Stellung genommen.

II. Das Tarifvertragsstatut 1. Allgemeines 7

Das TV-Statut ist die Rechtsordnung, die in einem Sachverhalt mit Auslandsberührung darüber entscheidet, ob ein bestimmter TV wirksam zustande gekommen ist, ob und welche Rechtswirkungen er entfaltet sowie wann und unter welchen Bedingungen er endet. In der Praxis stellen sich diese Rechtsfragen bislang selten. Jedoch könnte sich dies im Zuge der fortschreitenden Globalisierung und der sog. „Europäisierung des kollektiven Arbeitsrechts“1 ändern.

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Ist deutsches Recht TV-Statut, sind diese Fragen also maßgeblich nach dem TVG sowie der zum TVG ergangenen Rechtsprechung zu entscheiden. Wäre eine ausländische Rechtsordnung TV-Statut, wäre in einem Streitfall diese Rechtsordnung von dem deutschen Gericht anzuwenden. Der Inhalt dieser Rechtsordnung ist gemäß § 293 ZPO durch das Gericht von Amts wegen festzustellen. Eine Verletzung dieser Pflicht kann mit der Verfahrensrüge beanstandet werden. Dabei ist es nach der Rechtsprechung des BGH nicht ausreichend, sich auf die Heranziehung der Rechtsquellen zu beschränken. Vielmehr müsse der Richter auch die konkrete Ausgestaltung des Rechts in der ausländischen Rechtspraxis, insbesondere die ausländische Rechtsprechung, berücksichtigen. Es sei das Recht als Ganzes zu ermitteln, wie es sich in Lehre und Rechtsprechung entwickelt habe. Dazu müsse der Richter die ihm zugänglichen Erkenntnisquellen ausschöpfen2. Je detaillierter und kontroverser die Parteien zur ausländischen Rechtsordnung vortrügen, desto höher seien die Anforderungen an die Ermittlung durch das Gericht3.

2. Bestimmung des Tarifvertragsstatuts 9

Eine gesetzliche Regelung zur Bestimmung des TV-Statuts besteht nicht4. Es findet sich allerdings in § 21 Abs. 4 Satz 2 FlRG eine Regelung für TVe, die von ausländischen Gewerkschaften geschlossen wurden und die die Arbeitsverhältnisse von Besatzungsmitgliedern eines im Internationalen Seeschifffahrtsregister eingetragenen Handelsschiffs regeln, wenn diese Seeleute in Deutschland keinen Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt haben5. Einem solchen TV können die im deutschen TVG genannten Wir1 Vgl. schon Hanau, EG-Binnenmarkt und deutsches Arbeitsrecht, 1989, S. 27; Junker, Internationales Arbeitsrecht im Konzern, S. 416. 2 BGH v. 23.6.2003 – II ZR 305/01, NJW 2003, 2685 f. 3 BGH v. 25.10.2006 – VII ZB 24/06, MDR 2007, 487 f. Weiterführend Geimer, IZPR, 6. Aufl. 2009, Rz. 2577 ff. 4 Ausführlich Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 41 ff. 5 Neufassung v. 26.10.1994, BGBl. I S. 3140; zuletzt geändert durch Gesetz v. 30.6.2009, BGBl. I S. 1574. § 21 Abs. 4 FlRG lautet: „Arbeitsverhältnisse von Besatzungsmitgliedern eines im Internationalen Seeschiffahrtsregister eingetragenen Kauffahrteischiffes, die im Inland keinen Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt haben, unterliegen bei der Anwendung des Artikels 8 der Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I) (ABl. L 177 vom 4.7.2008, S. 6) vorbehaltlich anderer Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft nicht schon auf Grund der Tatsa-

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kungen verliehen werden1, wenn für den TV die Anwendung des deutschen Tarifrechts und die Zuständigkeit der deutschen Gerichte vereinbart wurde. Es handelt sich um ein Spezialgesetz. Der Norm kann jedoch allgemein entnommen werden, dass der deutsche Gesetzgeber die Wahl der auf den TV anwendbaren Rechtsordnung zumindest grundsätzlich für zulässig hält2.

Daher ist es Aufgabe von Rechtsprechung und Literatur, entsprechende Regelungen zu entwickeln. Allgemein besteht heute die im Sinne der Rechtsvereinfachung begrüßenswerte Tendenz, das TV-Statut einheitlich zu bestimmen, d.h. dass nur eine Rechtsordnung über das Zustandekommen, die Wirkungen und die Beendigung des TVes entscheiden soll3. Dennoch stellt sich für bestimmte Bereiche, wie z.B. das Formerfordernis (vgl. unten Rz. 28), die Frage, ob hiervon Ausnahmen zu machen sind (vgl. unten Rz. 27 ff.).

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In Anlehnung an die Regelungen des deutschen internationalen Vertragsrechts, welche sich in der Rom-I-Verordnung (vgl. oben Rz. 3) finden, wird vorgeschlagen, die Bestimmungen des TV-Statuts in erster Linie den Vertragsparteien zu überlassen, d.h. dass diese das auf den Vertrag anwendbare Recht durch Rechtswahl festlegen können (dazu sogleich Rz. 12 ff.). Haben die Vertragsparteien keine entsprechende Wahl getroffen oder hält man eine Rechtswahl für unzulässig, muss die anwendbare Rechtsordnung unabhängig vom Willen der Parteien bestimmt werden, sog. objektive Anknüpfung (dazu Rz. 22 ff.).

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a) Festlegung des Tarifvertragsstatuts durch Rechtswahl aa) Zulässigkeit der Rechtswahl Für schuldrechtliche Verträge bestimmt Art. 3 Abs. 1 Satz 1 der Rom-I-Verordnung allgemein, dass die Vertragsparteien das auf den Vertrag anwendbare Recht selbst wählen können. Einschränkungen der Rechtswahlfreiheit enthalten dann die Art. 3 Abs. 2 bis 4 Rom-I-Verordnung. Diese Rechtswahlfreiheit erstreckt Art. 8 Abs. 1 Satz 1 Rom-I-Verordnung auf den Individualarbeitsvertrag, wobei Satz 2 dieser Norm zu den Art. 3 Abs. 2 bis 4 Rom-I-Verordnung eine weitere Einschränkung vorsieht. che, daß das Schiff die Bundesflagge führt, dem deutschen Recht. Werden für die in Satz 1 genannten Arbeitsverhältnisse von ausländischen Gewerkschaften Tarifverträge abgeschlossen, so haben diese nur dann die im Tarifvertragsgesetz genannten Wirkungen, wenn für sie die Anwendung des im Geltungsbereich des Grundgesetzes geltenden Tarifrechts sowie die Zuständigkeit der deutschen Gerichte vereinbart worden ist. Nach Inkrafttreten dieses Absatzes abgeschlossene Tarifverträge beziehen sich auf die in Satz 1 genannten Arbeitsverhältnisse im Zweifel nur, wenn sie dies ausdrücklich vorsehen. Die Vorschriften des deutschen Sozialversicherungsrechts bleiben unberührt.“ Die Norm ist verfassungskonform, BVerfG v. 10.1.1995 – 1 BvF 1/90, BVerfGE 92, 26. Kritisch zu dieser Norm und den Hintergründen ihrer Entstehung Hauschka/ Henssler, NZA 1988, 597. 1 Dies war im Fall BAG v. 16.2.2000 – 4 AZR 14/99, NZA 2001, 331, nach Ansicht des BAG nicht geschehen. 2 Junker, Internationales Arbeitsrecht im Konzern, S. 422 f., mit weiteren Hinweisen zur Gesetzgebungsgeschichte. Anders MünchArbR/Birk, 2. Aufl. 2000, § 21 Rz. 29; Löwisch/Rüble, Grundl. Rz. 346. 3 Anders noch Gamillscheg, Internationales Arbeitsrecht, S. 360 f.

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Da der TV zumindest teilweise einen schuldrechtlichen Charakter hat, liegt es nahe, auch den TV-Parteien eine entsprechende Rechtswahl zu gestatten. Dabei bietet es sich wiederum an, die differenzierte Regelung des Art. 3 RomI-Verordnung auf TVe analog anzuwenden. Wird demgegenüber die Rechtswahl für unzulässig gehalten, bleibt nur die Möglichkeit der objektiven Anknüpfung (dazu Rz. 22 ff.).

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Die Zulässigkeit einer Rechtswahl ist in der Literatur seit langem umstritten. Zum Teil wird diese Möglichkeit grundsätzlich abgelehnt. Die TV-Parteien seien in eine bestimmte Arbeits- und Wirtschaftsverfassung eingebettet, aus der auszubrechen ihnen nicht erlaubt werden könne. Das Tarifrecht habe als Ausfluss tragender Ideen und Vorstellungen über Gesellschaft, Staat und Verbände zwingenden Charakter. Zudem habe der TV als Rechtsnormenvertrag eine andere Rechtsnatur als der Individualarbeitsvertrag1. Weiter wird darauf hingewiesen, dass den TV-Parteien „materielle Privatautonomie“ nur im Rahmen des TVG verliehen sei2. Schließlich wird darauf verwiesen, dass auch bei Zulassung der Rechtswahl zahlreiche Sonderanknüpfungen vorzunehmen seien (z.B. für die Tariffähigkeit). Damit erschwere die Rechtswahl nur die Rechtsanwendung, statt sie zu erleichtern3. Die Gegenansicht lässt die Rechtswahl u.a. mit dem Argument zu, dass die Tarifpartner „auf der Ebene relativer Ebenbürtigkeit“ verhandelten4, d.h. dass zwischen den Parteien im Ansatz Vertragsparität bestünde. Die TV-Parteien hätten ferner durch Rechtswahl die Möglichkeit, für Klarheit bezüglich des anwendbaren Rechts zu sorgen, wenn die objektive Anknüpfung schwierig sei, weil keine ausgeprägte Bindung zu einem bestimmten Staat vorliege5. Das BAG hat in seiner Entscheidung vom 11.9.1991 ohne nähere Auseinandersetzung mit der Diskussion festgestellt, dass TVe „dem Privatrecht zugeordnet“ würden; dann gelte „aber auch für sie der Grundsatz, dass die TV-Parteien das Rechtsstatut bestimmten können“6.

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Entscheidend dürfte weniger die eher begriffliche Diskussion um den schuldrechtlichen oder privatrechtlichen Charakter des TVes sein. Auch die Problematik von Sonderanknüpfungen stellt sich erst, wenn über die Grundfrage der Rechtswahl entschieden ist. Für diese ist maßgeblich der Grund für die Gewährung von Rechtswahlfreiheit in den Blick zu nehmen. Die Rechtswahlfreiheit ist für natürliche und juristische Personen Ausfluss der Privatautonomie. Daher ist zu fragen, ob auf der Ebene des Tarifrechts den TV-Parteien eine ähnliche Freiheit zusteht, aus der ebenfalls die Freiheit zur Rechtswahl resultiert.

1 MünchArbR/Birk, 2. Aufl. 2000, § 21 Rz. 30 f., m.w.N. Ähnlich auch Löwisch/Rieble, Grundl. Rz. 343 ff. 2 Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 108. 3 Walz, Multinationale Unternehmen und internationaler Tarifvertrag, S. 167. 4 Däubler/Däubler, Einleitung Rz. 668. Walz, Multinationale Unternehmen und internationaler Tarifvertrag, S. 158. 5 Däubler/Däubler, Einleitung Rz. 668; Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 72 ff.; Wimmer, Die Gestaltung internationaler Arbeitsverhältnisse, S. 57 ff.; Fudickar, Parteiautonome Anknüpfung grenzüberschreitender Tarifverträge, S. 224 ff. 6 BAG v. 11.9.1991 – 4 AZR 71/91, AP Nr. 29 zu Internationales Privatrecht, Arbeitsrecht, Rz. 27.

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Dies wurde bereits 1992 überzeugend von Junker dargetan1. Die Tarifautonomie sei nicht nur die Fortsetzung individueller Vertragsfreiheit auf anderer Ebene. Die TVe seien auch Ausdruck der Normsetzungsmacht, die der Staat den Sozialpartnern verliehen habe, um Arbeitsbedingungen zu regeln2. Aus diesem Grund könne Rechtswahlfreiheit nicht nur für den schuldrechtlichen, sondern auch für den normativen Teil des TVes angenommen werden3. Diese Argumentation wird durch die europäische Rechtsentwicklung bestätigt. Die Tarifautonomie wird den TV-Parteien nun nicht mehr nur noch „national“ gewährt, d.h. in Deutschland durch Art. 9 Abs. 3 GG. Auch das Unionsrecht kennt das Recht der TV-Parteien, „Tarifverträge auf den geeigneten Ebenen auszuhandeln und zu schließen“ (Art. 28 GrCh, Art. 6 Abs. 1 EUV). Inwieweit diese Bestimmung den Tarifpartnern ein unmittelbares Recht auf Kollektivverhandlungen und den Abschluss von Kollektivverträgen verleiht, ist freilich offen. Vgl. dazu unten Rz. 65 ff.

Eine durch supranationales Recht „gewährte“, jedenfalls aber „bestätigte“ TVFreiheit legt mehr noch als eine rein national garantierte Tarifautonomie nahe, dass die TV-Parteien auch das auf den Vertrag anwendbare Recht frei wählen können. Die Gefahr eines Missbrauchs der Rechtswahlfreiheit dürfte als relativ gering einzuschätzen sein4. Dass die TV-Parteien durch z.B. die Wahl einer exotischen Rechtsordnung die tarifgebundenen Arbeitnehmer benachteiligen könnten, erscheint schon aufgrund des prinzipiell anzunehmenden Machtgleichgewichts zwischen den TV-Parteien fernliegend. Zudem steht grundsätzlich zur Vermeidung des Missbrauchs Art. 3 Abs. 2 bis 4 Rom-I-Verordnung in analoger Anwendung zur Verfügung.

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Ob und welche der in Art. 3 Abs. 2 bis 4 Rom-I-Verordnung genannten Beschränkungen der Rechtswahlfreiheit im Wege der Analogie auf die Rechtswahl durch die TV-Parteien anzuwenden wären, wird bislang kaum diskutiert5. Angesichts fehlenden Fallmaterials fällt es schwer zu beurteilen, für welche Beschränkungen ein Bedürfnis besteht. Schon um im geeigneten Fall auf das Instrumentarium des Art. 3 Abs. 2 bis 4 Rom-I-Verordnung zurückgreifen zu können, empfiehlt es sich jedoch, die Rechtswahlfreiheit der TV-Parteien nicht „abstrakt“, sondern im Wege der Analogie zu Art. 3 Abs. 1 Rom-I-Verordnung zu konstruieren6.

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1 Junker, Internationales Arbeitsrecht im Konzern, S. 418 ff. Mit ähnlicher Argumentation Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 64 ff. 2 Junker, Internationales Arbeitsrecht im Konzern, S. 421, unter Verweis auf Däubler/ Hege, Tarifvertragsrecht, 2. Aufl. 1981, Nr. 115. 3 Junker, Internationales Arbeitsrecht im Konzern, S. 419 f. Wie Junker gegen eine getrennte Behandlung von schuldrechtlichem und normativem Teil auch Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 62 f. 4 Junker, Internationales Arbeitsrecht im Konzern, S. 418. 5 Vgl. aber Ansätze bei Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 72 ff. 6 So im Ergebnis auch ErfK/Schlachter, Rom I-VO Rz. 32. Bezogen noch auf Art. 27 ff. EGBGB: Franzen, AR-Blattei SD 920, Rz. 307; Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 75; Kempen/Zachert/Kocher, § 4 TVG Rz. 47; Staudinger/Magnus,

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So bilden Löwisch/Rieble den Fall, dass (wohl deutsche) TV-Parteien durch Wahl des französischen Tarifrechts das Erfordernis der beiderseitigen Tarifgebundenheit überspielen und Tarifgeltung auch für nicht organisierte Arbeitnehmer erreichen wollen1. Sofern kein Bezug zu Frankreich besteht, würde Art. 3 Abs. 3 Rom-I-Verordnung analog den Ausschluss von §§ 4 Abs. 1, 3 Abs. 1 TVG verhindern. Ist Arbeitsort der betroffenen Arbeitnehmer allerdings Frankreich und besteht damit ein Bezug zu diesem Land, bleibt die Frage, ob die Anwendung des französischen Tarifrechts nicht sachgemäß ist (und es die Parteien auch gerade deshalb gewählt haben).

bb) Einzelfragen der Rechtswahl 18

Nach Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Rom-I-Verordnung kann für vertragliche Schuldverhältnisse eine ausdrückliche oder eine konkludente Rechtswahl erfolgen. Die konkludente Rechtswahl muss sich „eindeutig … aus den Umständen des Falles ergeben“. Die Vorgängerregelung in Art. 27 Abs. 1 Satz 2 EGBGB ließ noch eine „hinreichende Sicherheit“2 genügen.

Auch hier liegt es nahe, die Regelung analog auf die Rechtswahl für den TV anzuwenden. Allgemein wird die Zulässigkeit einer konkludenten Rechtswahl bejaht, sofern die Rechtswahl allgemein für zulässig gehalten wird3. 19

Als Indizien werden für die Rechtswahl bei vertraglichen Schuldverhältnissen allgemein z.B. die Vereinbarung des Gerichtsstandes4, die Bezugnahme auf Regelungen am Sitz des Arbeitgebers5, der Ort des Vertragsabschlusses, die Hinzuziehung von in einer bestimmten Rechtsordnung tätigen Rechtsanwälten oder die Abfassung des Vertrags in der Sprache einer bestimmten Rechtsordnung6 genannt. Auch für die konkludente Rechtswahl von TVen können diese Indizien von Bedeutung sein7. Wichtiger jedoch sind die in der Literatur aufgeführten Umstände der Bezugnahme auf ein bestimmtes TV-Recht im TV

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Art. 30 EGBGB Rz. 252. Ausdrücklich gegen eine Analogie (bezogen auf das Übereinkommen von Rom über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht vom 19.6.1980, ABl. 1998 C 27/34) Fudickar, Parteiautonome Anknüpfung grenzüberschreitender Tarifverträge, S. 115 ff. Löwisch/Rieble, 2. Aufl., 2004, Grundl. Rz. 91. Argumentation beibehalten in der 3. Aufl. Rz. 344. Dazu BAG v. 26.7.1995 – 5 AZR 216/94, AP Nr. 7 zu § 157 BGB; BAG v. 12.12.2001 – 5 AZR 255/00, AP Nr. 10 zu Art. 30 EGBGB n.F. Vertiefend Riesenhuber, DB 2005, 1571 ff. Junker, Internationales Arbeitsrecht im Konzern, S. 423; Franzen, AR-Blattei SD 920, Rz. 310 f.; Staudinger/Magnus, Art. 30 EGBGB Rz. 251 f.; Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 75; ErfK/Schlachter, Rom I-VO Rz. 32. BAG v. 1.7.2010 – 2 AZR 270/09, EzA § 20 GVG Nr. 5; BAG v. 23.7.1986 – 5 AZR 120/85, n.v. Vgl. auch Erwägungsgrund 12 zur Rom-I-VO. Kritisch dazu Rauscher/ v. Hein, EuZPR/EuIPR, 2011, Art. 8 Rom I-VO Rz. 24. BAG v. 1.7.2010 – 2 AZR 270/09, EzA § 20 GVG Nr. 5; BAG v. 26.7.1995 – 5 AZR 216/94, AP Nr. 7 zu § 157 BGB; BAG v. 12.12.2001 – 5 AZR 255/00, AP Nr. 10 zu Art. 30 EGBGB n.F. BGH v. 19.1.2000 – VIII ZR 275/98, NJW-RR 2000, 1002 (1004). Dies bejaht MünchArbR/Oetker, § 11 Rz. 120, zumindest auch für die Vertragssprache.

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oder die Anmeldung des TVes bei einem Tarifregister1. Weiter ist möglich, dass die Klauseln des TVes offensichtlich auf eine bestimmte Rechtsordnung zugeschnitten sind2. Als Anhaltspunkte werden weiter der räumliche Geltungsbereich des TVes und die Nationalität der Vertragsparteien genannt3. Vor diesem Hintergrund wird von Junker angenommen, dass sich in „fast allen Fällen“ eine konkludente Rechtswahl feststellen lassen werde4. Berücksichtigt man, dass die genannten Umstände zum Teil auch für die objektive Anknüpfung herangezogen werden (Rz. 23), so ergibt sich, dass die Befürworter einer Rechtswahl und die Gegenansicht vielfach zu demselben Ergebnis gelangen werden5. Weitgehend offen ist, ob eine Rechtswahl auch für einen Teil des TVes getroffen werden kann. Auch wenn Art. 3 Abs. 1 Satz 3 Rom-I-Verordnung die Teilrechtswahl für vertragliche Schuldverhältnisse ausdrücklich zulässt6, wird sie in der Literatur teilweise kritisch gesehen7. Eine Teilrechtswahl nur für den schuldrechtlichen Teil des TVes wird abgelehnt, da dieser Teil vom normativen Inhalt des TVes nicht abspaltbar sei (vgl. auch unten Rz. 31)8.

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Soweit ersichtlich wird bislang nicht diskutiert, ob eine nachträgliche Rechtswahl zulässig sein könnte, wie dies Art. 3 Abs. 2 der Rom-I-Verordnung für vertragliche Schuldverhältnisse allgemein vorsieht. Nach dieser Norm kann auch eine einmal getroffene Rechtswahl später geändert werden. Die Änderung soll im Zweifel ex tunc wirksam sein9; es sei jedoch maßgeblich auf den Parteiwillen abzustellen10. Die nachträgliche Rechtswahl könne wiederum auch konkludent erfolgen11. Für die Zulässigkeit der nachträglichen Rechtswahl für TVe in analoger Anwendung von Art. 3 Abs. 2 Rom-I-Verordnung könnte sprechen, dass sich ein Schutz der betroffenen Arbeitnehmer durch Satz 2 dieser Norm konstruieren ließe, nach welchem durch die Rechtswahl u.a. „Rechte Dritter … nicht berührt werden.“

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1 Junker, Internationales Arbeitsrecht im Konzern, S. 423; Franzen, AR-Blattei SD 920, Rz. 311; ErfK/Schlachter, Rom I-VO Rz. 32. 2 Junker, Internationales Arbeitsrecht im Konzern, S. 423; wohl auch MünchArbR/ Oetker, § 11 Rz. 120: „Inhalt der Regelungen“. 3 MünchArbR/Oetker, § 11 Rz. 120. 4 Junker, Internationales Arbeitsrecht im Konzern, S. 423. 5 MünchArbR/Oetker, § 11 Rz. 121. 6 Zur Vorgängerregelung in Art. 27 Abs. 1 Satz 3 EGBGB: BAG v. 20.4.2004 – 3 AZR 301/03, AP Nr. 21 zu § 38 ZPO – Internationale Zuständigkeit; BAG v. 20.11.1997 – 2 AZR 631/96, AP Nr. 1 zu § 18 GVG; LAG Hessen v. 14.8.2000 – 10 Sa 982/99, IPRspr. 2000, 231. Zu Art. 3 Abs. 1 Satz 3 Rom-I-Verordnung: MünchKommBGB/Martiny, Art. 3 Rom-I-VO Rz. 67 ff. 7 Zur Vorgängerregelung in Art. 27 Abs. 1 Satz 3 EGBGB: Junker, FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 1197 (1201) m.w.N. Zu Art. 3 Abs. 1 Satz 3 Rom-I-Verordnung: Deinert, RdA 2009, 144 (149 f.). 8 Junker, Internationales Arbeitsrecht im Konzern, S. 420. Mit Hinweis auf eine Teilverweisung für Feiertagsregelungen Demarne, Anwendung nationaler Tarifverträge bei grenzüberschreitenden Arbeitsverhältnissen, S. 122 f. 9 MünchKommBGB/Martiny, Art. 3 Rom-I-VO Rz. 79 ff. 10 Staudinger/Magnus, Art. 27 EGBGB Rz. 109 m.w.N. 11 BAG v. 23.7.1986 – 5 AZR 120/85, n.v.

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Rz. 22

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b) Objektive Anknüpfung 22

Wurde keine Rechtswahl getroffen oder wird die Zulässigkeit einer Rechtswahl abgelehnt, muss das auf den TV anwendbare Recht objektiv bestimmt werden (objektive Anknüpfung). Auch hier kommt ein Rekurs auf die für vertragliche Schuldverhältnisse geltende Regelung des Art. 4 Rom-I-Verordnung in Betracht. Nach der Systematik der Norm müsste gemäß Abs. 2 – da die Fälle des Abs. 1 nicht vorliegen – auf das Recht des Staates abgestellt werden, in dem die Vertragspartei, die die sog. charakteristische Leistung erbringt, ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Der gewöhnliche Aufenthalt von Gesellschaften, Vereinen und juristischen Personen ist der Sitz ihrer Hauptverwaltung (Art. 19 Abs. 1 Satz 1 Rom-I-Verordnung). In einem TV lässt sich jedoch eine charakteristische Leistung in diesem Sinne nicht ausmachen1. In diesem Fall kommt Art. 4 Abs. 4 Rom-I-Verordnung zur Anwendung, nach dem das Recht des Staates anzuwenden ist, zu dem der Vertrag die engste Verbindung aufweist. Welche Kriterien für die Etablierung der engsten Verbindung für vertragliche Schuldverhältnisse allgemein in Betracht kommen, ist umstritten2. Für den TV werden vor allem der Verwaltungssitz der TV-Parteien, aber auch der „Schwerpunkt der vom TV erfassten Arbeitsverhältnisse“ vorgeschlagen3. Letzteres ist vage. So soll bei Seeschiffen, wenn die TV-Parteien unterschiedliche Nationalitäten haben, das Recht der Flagge ausschlaggebend sein können4. Bei „normalen“ Arbeitsverhältnissen komme es auf den Arbeitsort der Mehrzahl der vom TV erfassten Arbeitnehmer an5.

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Unklar ist auch, in welchem Rangverhältnis diese beiden Indizien stehen sollen. Während einige dem Verwaltungssitz zumindest in dem Fall, in dem beide TV-Parteien diesen Sitz in demselben Staat haben, Vorrang einräumen wollen6, stellen andere wohl vorrangig auf den Schwerpunkt der vom TV erfassten Arbeitsverhältnisse ab7.

1 Junker, Internationales Arbeitsrecht im Konzern, S. 424, und Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 76 ff.; Franzen, AR-Blattei SD 920, Rz. 312; Fudickar, Parteiautonome Anknüpfung grenzüberschreitender Tarifverträge, S. 157. 2 Vgl. MünchKommBGB/Martiny, Art. 4 Rom-I-VO Rz. 282 ff. m.w.N. 3 Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 79; Franzen, AR-Blattei SD 920, Rz. 314. Wohl auch ErfK/Schlachter, Rom I-VO Rz. 32, und Junker, Internationales Arbeitsrecht im Konzern, S. 424 ff., der auch „den räumlichen Schwerpunkt der tariflichen Regelung“ nennt (S. 426). Grundsätzlich auch MünchArbR/Birk, 2. Aufl. 2000, § 21 Rz. 22 bis 25, der allerdings nicht den „Verwaltungssitz“ der TV-Parteien nennt, sondern den Staat, von dem die TV-Parteien aus, den Arbeitseinsatz „initiieren und lenken“. Dies wird jedoch in der Regel der Verwaltungssitz sein. 4 Junker, Internationales Arbeitsrecht im Konzern, S. 425; Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 79. 5 Däubler/Däubler, Einleitung Rz. 672. Grundsätzlich auch MünchArbR/Birk, 2. Aufl. 2000, § 21 Rz. 24 ff., und Hauschka/Henssler, NZA 1988, 597 (600). 6 Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 76; Franzen, AR-Blattei SD 920, Rz. 314; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 106. Ähnlich MünchArbR/Birk, 2. Aufl. 2000, § 21 Rz. 22 bis 25. 7 ErfK/Schlachter, Rom I-VO Rz. 32 (a.E.).

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Rz. 25 Teil 17

Wieder andere Stimmen plädieren dafür, auch auf die Vereinbarung der TV-Parteien über den räumlichen Geltungsbereich, die Vertragssprache und den Inhalt der getroffenen Regelung abzustellen1. Dies ist grundsätzlich möglich. Wenn jedoch letztlich die Vereinbarung der TV-Parteien als solche den Ausschlag geben soll2, sollte man diesen auch die Rechtswahl zugestehen und die genannten Kritieren im Rahmen einer stillschweigenden Rechtswahl gewichten3. Angesichts des dürftigen Fallmaterials wird man bei der Bestimmung des Rechts der engsten Verbindung eine vorsichtige Einzelfallbetrachtung vornehmen müssen. Für diese kann man die für die Bestimmung der engsten Verbindung von allgemeinen Schuldverhältnissen vorgeschlagenen Kriterien in den Blick nehmen und prüfen, ob eine Übertragung auf TVe in Betracht kommt. Maßgeblich ist hier vor allem ein gemeinsamer gewöhnlicher Aufenthalt der Vertragsparteien4. Gemäß Art. 19 Abs. 1 Satz 1 Rom-I-Verordnung heißt das übertragen auf die TV-Parteien, dass ihre Hauptverwaltungssitze in demselben Staat liegen. Damit kommt man mit der wohl überwiegenden Ansicht zu dem Schluss, dass, wenn die Gewerkschaft und der Arbeitgeber(verband) ihre Hauptverwaltungssitze in einem Staat haben, in der Regel das Recht dieses Staates anzuwenden ist. Schließen also eine deutsche Gewerkschaft und ein deutscher Arbeitgeber(verband) einen TV, unterliegt dieser dem TVG und der zu diesem ergangenen Rechtsprechung, auch wenn der Arbeitsort der vom TV betroffenen Arbeitnehmer im Ausland gelegen ist.

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Als Anküpfungspunkt wird für allgemeine Schuldverhältnisse weiter der „Lageort des Vertragsgegenstandes“ und ggf. das Recht der Flagge genannt. Es komme aber auf die jeweilige Vertragsart und -gestaltung an5. Wenn man in diesem Sinne als „Vertragsgegenstand“ des TVes die betroffenen Arbeitsverhältnisse versteht, so liegt es nahe, für TVe auf das am „Lageort“ der betroffenen Arbeitsverhältnisse geltende Recht abzustellen. Dabei ist jedoch die Frage, ob damit schlicht die am „Arbeitsort“ geltende Rechtsordnung gemeint ist oder ob auf das Recht abzustellen ist, dem die Mehrzahl der Arbeitsverhältnisse unterliegt. Für letztere Lösung spricht, dass auf diese Weise ein Gleichklang von TV- und (Mehrheits-)Arbeitsvertragsstatut erreicht werden kann6. Sofern keine Rechtwahl für die Arbeitsverträge vorliegt, kommen freilich beide Ansätze zu demselben Ergebnis, denn die Arbeitsverhältnisse unterliegen bei objektiver Anknüpfung in der Regel dem Recht des Staates, in dem der Arbeitnehmer in Erfüllung des Vertrages gewöhnlich seine Arbeit verrichtet (Art. 8 Abs. 2 Satz 1 Rom-I-Verordnung). Dies führt dazu, dass, wenn die TV-Parteien ihren Sitz in verschiedenen Staaten haben, als weiteres wichtiges Kriterium der Ort hinzutritt, an dem die Mehrzahl der Arbeitnehmer gewöhnlich ihre Ar-

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1 Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 106. 2 So wohl Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 106. 3 Vgl. insoweit auch MünchKommBGB/Martiny, Art. 4 Rom I-VO Rz. 282 ff., insbesondere Rz. 286 f., Art. 3 Rom I-VO Rz. 57 ff., 63, zu vertraglichen Schuldverhältnissen im Allgemeinen. 4 MünchKommBGB/Martiny, Art. 4 Rom I-VO Rz. 294. 5 MünchKommBGB/Martiny, Art. 4 Rom I-VO Rz. 298 f. 6 Für einen solchen Gleichklang grundsätzlich auch Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 492.

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Rz. 26

Internationales Tarifvertragsrecht

beit verrichten. Es spricht viel dafür, das Recht dieses Arbeitsorts anzuwenden, wenn auch eine der TV-Parteien ihren Verwaltungssitz in diesem Staat hat1. 26

Es ist aber weiterhin zu konzedieren, dass „nahezu unüberwindliche Schwierigkeiten“2 bei einem „multinationalen TV“ bestehen, bei welchem die TV-Parteien aus mehreren Nationen kommen bzw. es sich um internationale Organisationsformen handelt, und welcher Arbeitsverhältnisse in mehreren Staaten erfassen will. Die vorgeschlagene Anpassung der Sachrechte zur Lösung der konkreten Rechtsfrage3 dürfte den Rechtsanwender überfordern. In der Literatur wird weiter der Nutzen verfahrensrechtlicher Lösungen, z.B. durch den Einsatz von Schiedsgerichten, diskutiert4. Gerade in einer solchen Situation zeigt sich jedoch der Nutzen der Rechtswahl5. Denn es liegt nahe, dass solche TV-Parteien um die Schwierigkeiten der Bestimmung der Rechtsordnung wissen und – ggf. durch stillschweigende Rechtswahl – selbst für Abhilfe gesorgt haben.

3. Reichweite des Tarifvertragsstatuts a) Allgemeines 27

Offen ist weiter, welche der den TV betreffenden Rechtsfragen das TV-Statut erfasst. Heute kann in Anlehnung an die Rom-I-Verordnung festgestellt werden, dass das TV-Statut über das Zustandekommen und die Wirksamkeit des TVes (vgl. Art. 10 Abs. 1 Rom-I-Verordnung), die Auslegung, die Erfüllung der schuldrechtlichen Pflichten, die Rechtsfolgen der Nichterfüllung6 und über das Erlöschen der Pflichten7 sowie über Rechtsfolgen einer Nichtigkeit entscheidet (vgl. Art. 12 Abs. 1 Rom-I-Verordnung)8.

b) Form 28

Auf die Form kann Art. 11 Abs. 1, 2 Rom-I-Verordnung analog angewandt werden, d.h. dass die Form gewahrt ist, wenn sie den Anforderungen des TV-Statuts oder des Ortsrechts genügt9. Andere halten nur das TV-Statut für maßgeblich10. 1 2 3 4 5 6 7

8 9 10

So auch Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 79. Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 80. MünchArbR/Birk, 2. Aufl. 2000, § 21 Rz. 26. Däubler/Däubler, Einleitung Rz. 677; Walz, Multinationale Unternehmen und internationaler Tarifvertrag, S. 167 ff. Junker, Internationales Arbeitsrecht im Konzern, S. 426. Dagegen aber Walz, Multinationale Unternehmen und internationaler Tarifvertrag, S. 167. So im Ergebnis auch Junker, Internationales Arbeitsrecht im Konzern, S. 426. So im Ergebnis auch MünchArbR/Oetker, § 11 Rz. 117; MünchArbR/Birk, 2. Aufl. 2000, § 21 Rz. 44; Franzen, AR-Blattei SD 920, Rz. 323; Däubler/Däubler, Einleitung Rz. 673; Junker, Internationales Arbeitsrecht im Konzern, S. 426. Anders in der Sache Gamillscheg, Internationales Arbeitsrecht, 1959, S. 360. Vgl. Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 89; Däubler/Däubler, Einleitung Rz. 676. Junker, Internationales Arbeitsrecht im Konzern, S. 428; Krause in Jacobs/Krause/ Oetker, § 1 Rz. 130; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 109; Kempen/Zachert/Kocher, § 4 TVG Rz. 51.

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Rz. 32 Teil 17

c) Tariffähigkeit Für die Tariffähigkeit ist nicht auf Art. 7 Abs. 1 Satz 1 EGBGB abzustellen, nach dem das Recht maßgeblich ist, dem die Person angehört. Vielmehr wird auch die Tariffähigkeit vom TV-Statut erfasst1.

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d) Tarifbindung und Tarifwirkung Schwieriger ist die Frage zu beurteilen, ob auch die wichtigen Rechtsfragen der Tarifbindung und der Tarifwirkung dem TV-Statut unterfallen.

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Beide Komplexe beziehen sich auf den normativen Teil des TVes und stehen mithin in enger Beziehung zu den betroffenen Arbeitsverhältnissen. Man könnte daher fordern, dass die Rechtsfragen des Arbeitsverhältnisses und diejenigen, die den normativen Teil des TVes betreffen, von derselben Rechtsordnung entschieden werden müssten, m.a.W. könnte man den prinzipiellen Gleichlauf von TV-Statut und Arbeitsvertragsstatut fordern, zumindest für den normativen Teil des TVes. Indes sollte der TV nicht aufgespalten und nach unterschiedlichen Rechtsordnungen beurteilt werden, vielmehr sollte es ein einheitliches TV-Statut geben2. Im Normalfall wird der schuldrechtliche Teil des TVes geschlossen, um dem normativen Teil zur Durchsetzung zu verhelfen, aber auch um ihm (insbesondere zeitliche) Grenzen zu setzen. Damit stehen der schuldrechtliche und der normative Teil in einem derart engen Verhältnis zueinander, dass die Teile nicht getrennt voneinander beurteilt werden können.

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Demgegenüber handelt es sich bei dem TV und den von ihm betroffenen Arbeitsverhältnissen um getrennte Verträge, die grundsätzlich getrennt voneinander behandelt werden können. Die Frage, ob der Arbeitnehmer einen arbeitsvertraglichen Lohnanspruch hat, muss nicht nach derselben Rechtsordnung entschieden werden wie die Frage, ob der Arbeitnehmer einen Lohnanspruch aus dem TV hat. Dies gilt auch dann, wenn der schuldrechtliche Lohnanspruch mithilfe einer Bezugnahmeklausel konstruiert ist.

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So könnte das Arbeitsverhältnis z.B. aufgrund einer Rechtswahl englischem Recht unterliegen (Art. 8 Abs. 1 Satz 1 Rom-I-Verordnung), wohingegen sich der TV z.B. nach objektiver Anknüpfung gemäß Art. 4 Abs. 3 Rom-I-Verordnung analog nach deutschem Recht richtet. Damit könnte der Arbeitnehmer einen Urlaubsanspruch nach englischem Recht und zusätzlich einen Urlaubsanspruch aus dem für ihn geltenden deutschen TV haben. Das Verhältnis beider (rangverschiedener) Ansprüche bestimmt sich nach dem Günstigkeitsprinzip. 1 So im Ergebnis auch Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 81 ff. m.w.N.; Franzen, AR-Blattei SD 920, Rz. 315 ff.; MünchArbR/Birk, 2. Aufl. 2000, § 21 Rz. 32; Däubler/Däubler, Einleitung Rz. 674; Krause in Jacobs/Krause/Oetker, § 1 Rz. 130; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 110; ErfK/Schlachter, Rom-I-VO Rz. 32; MünchArbR/Oetker, § 11 Rz. 117; Kempen/Zachert/Kocher, § 4 TVG Rz. 51; Ebenroth/ Fischer/Sorek, ZVglRWiss 88 (1989), 124 (146). Junker, Internationales Arbeitsrecht im Konzern, S. 427 f., verweist dabei auch auf eventuelle Anpassungsprobleme. Anders als die herrschende Meinung Gamillscheg, Internationales Arbeitsrecht, 1959, S. 360. 2 Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 62 f.; Junker, Internationales Arbeitsrecht im Konzern, S. 420.

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Teil 17 33

Rz. 33

Internationales Tarifvertragsrecht

TV-Statut und Arbeitsvertragsstatut können also auseinanderfallen1. Hielte man dies für ausgeschlossen, so könnten (deutsche) TV-Parteien keine TVe mit normativer Wirkung für (in der betreffenden deutschen Gewerkschaft organisierte!) Arbeitnehmer schließen, deren Arbeitsvertrag ausländischem Recht unterliegt2. Dies wird in der Tat vom Bundesarbeitsgericht angenommen3. Das Gericht übernimmt dabei das Argument, den TV-Parteien stünde eine „Regelungskompetenz“ nur für Arbeitsverhältnisse zu, die dem deutschen Recht unterlägen4. Fraglich ist indes, aus welchem Grund die Regelungskompetenz der TV-Parteien derart beschränkt sein soll. Gerade wenn man davon ausgeht, die „Normwirkung des Verbandstarifvertrages“ fuße „auf der legitimierenden Mitgliedschaft des einzelnen Arbeitgebers oder Arbeitnehmers“5, ist schwer einzusehen, aus welchen Gründen die auf diese Weise legitimierten TV-Parteien für ihre Mitglieder keine normativ wirkenden TVe schließen können sollen, nur weil die jeweiligen Arbeitsverträge einer anderen Rechtsordnung unterliegen. In dem zentralen vom Bundesarbeitsgericht zu entscheidenden Fall war der Blick hierfür dadurch verstellt, dass es auf die Mitgliedschaft aufgrund einer Allgemeinverbindlichkeitserklärung des TVes nicht ankam6. Die Allgemeinverbindlichkeitserklärung gemäß § 5 TVG ist indes ein Sonderfall. Andererseits hat das BAG in einer früheren Entscheidung ausgeführt, es unterläge „keinen Rechtsbedenken, dass der TV ausschließlich Regelungen für Arbeitsverhältnisse im Ausland beschäftigter deutscher Angestellter zum Gegenstand hat.“7

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Dem Ergebnis nach wird die Ansicht des Bundesarbeitsgerichts insbesondere von Junker geteilt8. Junker beurteilt diese Frage vom Arbeitsvertragsstatut aus: Art. 8 Rom-I-Verordnung legt fest, welche Rechtsordnung auf den Arbeitsvertrag anzuwenden ist. Damit ist das materielle Recht des betroffenen Staates gemeint. Genauer wird dies durch Art. 20 Rom-I-Verordnung als „die in diesem 1 Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 86 f.; Franzen, AR-Blattei SD 920, Rz. 336 ff.; ErfK/Schlachter, Rom I-VO Rz. 33; Däubler/Däubler, Einleitung Rz. 617 ff.; MünchArbR/Birk, 2. Aufl. 2000, § 21 Rz. 40 f.; Hauschka/Henssler, NZA 1988, 597 (599 f.). 2 Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 87; Franzen, AR-Blattei SD 920, Rz. 337 f. 3 BAG v. 20.8.2003 – 5 AZR 362/02, AP Nr. 25 zu § 1 BeschFG 1996. Und bereits BAG v. 4.5.1977 – 4 AZR 10/76, AP Nr. 30 zu § 1 TVG – Tarifverträge: Bau. Anders in der Tendenz aber BAG v. 11.9.1991 – 4 AZR 71/91, AP Nr. 29 Internationales Privatrecht, Arbeitsrecht (Rz. 27); BAG v. 10.9.1985 – 1 ABR 28/83, AP Nr. 3 zu § 117 BetrVG 1972: betrifft aber TV über betriebsverfassungsrechtliche Fragen, vgl. auch Franzen, AR-Blattei SD 920, Rz. 335; BAG v. 24.8.1989 – 2 AZR 3/89, AP Nr. 30 zu Internationales Privatrecht, Arbeitsrecht (Rz. 46): Vergütung richte sich nach englischem TV, dennoch sei Anwendbarkeit des deutschen Rechts auf den Arbeitsvertrag zu prüfen, vgl. auch Däubler/Däubler, Einleitung Rz. 621. 4 BAG v. 9.7.2003 – 10 AZR 593/02, AP Nr. 261 zu § 1 TVG – Tarifverträge: Bau. Ähnlich Löwisch/Rieble, Grundl. Rz. 347, 352 ff. 5 Löwisch/Rieble, 2. Aufl. 2004, Grundlagen Rz. 91. 6 BAG v. 9.7.2003 – 10 AZR 593/02, AP Nr. 261 zu § 1 TVG – Tarifverträge: Bau. 7 BAG v. 11.9.1991 – 4 AZR 71/91, AP Nr. 29 Internationales Privatrecht, Arbeitsrecht (Rz. 27). 8 Junker, Internationales Arbeitsrecht im Konzern, S. 429 ff.; freilich unter Anwendung der 1992 gültigen Kollisionsnormen.

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Rz. 35 Teil 17

Staat geltenden Rechtsnormen“ beschrieben. Ist z.B. deutsches Recht Arbeitsvertragsstatut, sind die in Deutschland geltenden Rechtsnormen anzuwenden. Damit seien auch die in Deutschland geltenden Tarifnormen gemeint. Auf diese Weise gingen die „Rechtsnormen eines Tarifvertrages … wie Gesetzesnormen in das Arbeitsvertragsstatut ein; die Normen eines deutschen Tarifvertrages sind anwendbar, wenn das Arbeitsverhältnis … dem deutschen Recht untersteht.“1 Nimmt man den Anwendungsbefehl der Art. 8, 20 Rom-I-Verordnung in den Blick, erscheint diese Argumentation beinahe zwingend. Indes muss man ebenso die für TVe geltende Kollisionsregel in Betracht ziehen, auch wenn diese bislang nicht normiert ist. Nimmt man mit der hier vertretenen Ansicht an, dass die für das TV-Statut geltenden Regelungen in Art. 3, 4 RomI-Verordnung analog zu finden sind (oben Rz. 12 ff., Rz. 22 ff.), so gilt der Anwendungsbefehl für das auf den TV anzuwendende Recht mit gleicher „Macht“ wie der für das Arbeitsvertragsstatut. Der Konflikt zwischen Arbeitsvertragsund TV-Statut lässt sich auf diese Weise also nicht auflösen. Geht man von dem Grundsatz aus, dass sich für die Arbeitsvertrags- wie für die TV-Parteien (oben Rz. 12 ff.) das anzuwendende Recht in erster Linie aufgrund einer (ggf. stillschweigenden) Rechtswahl ergibt, so gilt es letztlich zu entscheiden, ob die TV-Parteien oder die Arbeitsvertragsparteien über die Anwendung des TVes auf ein bestimmtes Arbeitsverhältnis bestimmen können. Spricht man sich für den zwingenden Gleichlauf von Arbeitsvertrags- und TVStatut aus, so können die Arbeitsvertragsparteien durch die Wahl einer bestimmten Rechtsordnung gleichzeitig darüber entscheiden, ob der TV anzuwenden ist. D.h. auch, dass sie auf diese Weise einen TV „abwählen“ können, und das, obwohl beide Arbeitsvertragsparteien organisiert sind und durch ihre Verbandsmitgliedschaft an sich dokumentiert haben, dass sie tarifgebunden sein wollen. Geht man demgegenüber davon aus, dass die TV-Parteien über das anzuwendene Recht entscheiden, so können sie unabhängig von der Frage, welchem Arbeitsvertragsstatut die einzelnen Arbeitsverhältnisse unterliegen, im Rahmen des Geltungsbereichs des TVes einheitliche Tarifnormen erlassen sowie einheitlich das auf diese Tarifnormen anzuwendende Recht bestimmen. Für diese Lösung spricht die den TV-Parteien heute durch supranationales Recht bestätigte (oben Rz. 15) Tarifautonomie. Auch wenn Art. 20 Rom-I-Verordnung für das Arbeitsvertragsstatut bestimmt, dass „die in diesem Staat geltenden Rechtsnormen“ anzuwenden sind, so ist es eben in erster Linie von den TV-Parteien abhängig, ob ein bestimmter TV in diesem Staat „gilt“. Im konkreten Fall wird auch die Gegenansicht in der Regel2 über Art. 8 Abs. 1 Satz 2 Rom-I-Verordnung zur Anwendbarkeit des TVes kommen3. Nach dieser Norm darf dem Arbeitnehmer durch die Rechtswahl im Arbeitsvertrag nicht der Schutz entzogen werden, den er nach dem gemäß Art. 8 Art. 2 bis 4 Rom-I-Verordnung anzuwendenen Recht 1 Junker, Internationales Arbeitsrecht im Konzern, S. 435, mit zahlreichen Nachweisen für diese Ansicht. Dem folgend Kempen/Zachert/Kocher, § 4 TVG Rz. 60 ff. Ähnlich auch Lohmann, Grenzüberschreitende Firmentarifverträge, 1993, S. 99 ff., der auch auf „Systemkonflikte“ verweist. Ähnlich wie Junker Löwisch/Rieble, Grundlagen Rz. 352 ff.; Thüsing/Müller, BB 2004, 1333 (1335). 2 Aber nicht immer, vgl. BAG v. 9.7.2003 – 10 AZR 593/02, AP Nr. 261 zu § 1 TVG – Tarifverträge: Bau. 3 So auch Kempen/Zachert/Kocher, § 4 TVG Rz. 62 f.

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Teil 17

Rz. 36

Internationales Tarifvertragsrecht

hätte, sofern dieses nicht dispositiv ist. Hierunter werden auch die zwingenden Bestimmungen eines anwendbaren TVes gefasst1.

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Damit sind Rechtsfragen der Tarifbindung2 und der Tarifwirkung3 ebenfalls nach dem TV-Statut zu beantworten. Ist also deutsches Recht TV-Statut, müssen Rechtsfragen der Tarifbindung nach §§ 3 Abs. 1 und 2, 5 Abs. 4 TVG und Rechtsfragen der Tarifwirkung nach § 4 TVG und der zu diesen Normen ergangenen Rechtsprechung beantwortet werden.

4. Grenzen der Anwendung eines ausländischen Tarifvertragsstatuts durch ein deutsches Gericht 37

Wurde nach den unter Rz. 9 ff. dargestellten Regeln das TV-Statut bestimmt und ergibt sich, dass ein ausländisches TV-Recht anzuwenden ist, hat das deutsche Gericht von der Anwendung dieser Rechtsordnung wieder abzusehen, wenn bestimmte Ausnahmekonstellationen gegeben sind. Zum einen ist es möglich, dass die konkrete Rechtsfrage durch eine sog. deutsche Eingriffsnorm gemäß Art. 9 Rom-I-Verordnung geregelt wird, welche das ausländische Recht verdrängt (Rz. 38 ff.). Denkbar ist auch, dass der Richter im konkreten Fall durch den in Art. 21 Rom-I-Verordnung normierten ordre public gehindert ist, ein ausländisches Tarifrecht anzuwenden (Rz. 43 f.).

a) Eingriffsnormen des deutschen Rechts 38

Nach Art. 9 Abs. 2 Rom-I-Verordnung sind von einem deutschen Arbeitsgericht sog. Eingriffsnormen des deutschen Rechts stets anzuwenden. Eingriffsnormen setzen sich nicht nur gegenüber einer von den Vertragsparteien gewählten Rechtsordnung durch, sondern auch gegenüber einer durch objektive Anknüpfung ermittelten anwendbaren Rechtsordnung. Zur Vorläuferregelung des Art. 34 EGBGB wurde hierfür allerdings als Voraussetzung gefordert, dass der Sachverhalt einen hinreichenden Bezug zur Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland aufweist4.

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Der Begriff der Eingriffsnorm ist in Art. 9 Abs. 1 Rom-I-Verordnung definiert. Um Eingriffsnormen, also um sog. international zwingende Normen, handelt es sich nur, wenn die Normen entweder ausdrücklich oder nach ihrem Sinn und Zweck ohne Rücksicht auf kollisionsrechtliche Regelungen Anwendung finden sollen. Eine ausdrückliche Anordnung findet sich im Tarifrecht insbesondere in § 2 AEntG. 1 Rauscher/v. Hein, EuZPR/EuIPR, 2011, Art. 8 Rom I-VO Rz. 28 m.w.N. 2 Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 88; Franzen, AR-Blattei SD 920, Rz. 318 ff.; MünchArbR/Birk, 2. Aufl. 2000, § 21 Rz. 40; Birk, FS Beitzke, 1979, S. 831, 860; Fudickar, Parteiautonome Anknüpfung grenzüberschreitender Tarifverträge, S. 240 ff., 253. 3 Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 85 ff.; Franzen, AR-Blattei SD 920, Rz. 322; MünchArbR/Birk, 2. Aufl. 2000, § 21 Rz. 41; Birk, FS Beitzke, 1979, S. 831, 860 f.; Däubler/Däubler, Einleitung Rz. 673; Hauschka/Henssler, NZA 1988, 597 (599 f.); Fudickar, Parteiautonome Anknüpfung grenzüberschreitender Tarifverträge, S. 243 ff. 4 BGH v. 19.3.1997 – VIII ZR 316/96, BGHZ 135, 124 (136). Ebenso für Art. 9 Rom-I-Verordnung Magnus, IPRax 2010, 27 (41).

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Internationales Tarifvertragsrecht i.e.S. (Kollisionsrecht)

Rz. 41 Teil 17

Muss der Charakter als Eingriffsnorm erst durch Auslegung ermittelt werden, kommt es darauf an, dass die Norm nicht nur auf den Schutz von Individualinteressen zielt, sondern mit ihr zumindest auch öffentliche Gemeinwohlinteressen verfolgt werden1. Die in Art. 9 Abs. 1 Rom-I-Verordnung genannten Gemeinwohlaspekte der „politischen, sozialen und wirtschaftlichen Organisation“ sind dabei nicht abschließend. Für einen auch auf öffentliche Interessen ausgerichteten Normzweck sprechen gezielte regulierende Eingriffe in private Rechtsverhältnisse des Wirtschafts- und Arbeitslebens durch Verbote bestimmter Schuldverhältnisse oder Genehmigungsvorbehalte für bestimmte Vertragstypen; solche Normen können dem privaten wie dem öffentlichen Recht zuzuordnen sein2.

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Der Vorgängerregelung in Art. 34 EGBGB wurde Ausnahmecharakter zugesprochen; sie sei daher restriktiv auszulegen3. Die Auslegung ist im Arbeitsrecht problematisch, da mit arbeitsrechtlichen Bestimmungen in aller Regel ein sozialpolitischer Zweck verfolgt wird4. Arbeitnehmerschutzvorschriften, die in erster Linie den Individualschutz des Arbeitnehmes bezwecken, sollten nicht ohne weiteres als Eingriffsnormen betrachtet werden5. Das gilt auch für deutsche Gesetze, durch welche europäisches Richtlinienrecht umgesetzt wird. Solche Bestimmungen sind nicht automatisch Eingriffsnormen; vielmehr ist ihr international zwingender Charakter durch Auslegung zu ermitteln6.

41

Beispiele für Normen, welche von der Rechtsprechung als Eingriffsnormen gemäß dem früheren Art. 34 EGBGB qualifiziert wurden, sind: § 14 Abs. 1 MuSchG7, § 3 EFZG8, Regelungen über den Kündigungsschutz der Betriebsverfassungsorgane, bei Massenentlassungen und in der Tendenz auch für den Kündigungsschutz von Schwerbehinderten, Schwangeren und Müttern9, die materiell-rechtlichen Insolvenzvorschriften10, § 15 BErzGG a.F. (jetzt: § 15 BEEG)11. Abgelehnt wurde der zwingende Charakter für: die Bestimmungen des KSchG über den allgemeinen Kündigungsschutz (§§ 1 bis 14 KSchG)12 und für § 626 BGB13, für den Kündigungsschutz im SeemG14, für § 613a BGB15. Auch § 8 1 BAG v. 9.7.2003 – 10 AZR 593/02, AP Nr. 261 zu § 1 TVG – Tarifverträge: Bau; BAG v. 12.12.2001 – 5 AZR 255/00, AP Nr. 10 zu Art. 30 EGBGB nF. 2 BAG v. 24.8.1989 – 2 AZR 3/89, AP Nr. 30 zu Internat. Privatrecht Arbeitsrecht. 3 Staudinger/Magnus, 13. Aufl. 2002, Art. 34 EGBGB Rz. 45 ff. 4 So auch Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 97. 5 So auch ErfK/Schlachter, Rom I-VO Rz. 19. 6 Vgl. EuGH v. 9.11.2000 – Rs. C-381/98, Slg. 2000 I, 9305, 9334 (Rz. 21) – Ingmar, betr. Ausgleichsanspruch des Handelsvertreters. Weiterführend Staudinger/Magnus, 13. Aufl. 2002, Art. 34 EGBGB Rz. 41 ff. Entsprechend bereits BAG v. 29.10.1992 – 2 AZR 267/92, AP Nr. 31 zu Internat. Privatrecht Arbeitsrecht (zu § 613a BGB). 7 BAG v. 12.12.2001 – 5 AZR 255/00, AP Nr. 10 zu Art. 30 EGBGB n.F. 8 BAG v. 12.12.2001 – 5 AZR 255/00, AP Nr. 10 zu Art. 30 EGBGB n.F. Kritisch Franzen, IPRax 2003, 239 (241). 9 BAG v. 24.8.1989 – 2 AZR 3/89, AP Nr. 30 zu Internat. Privatrecht Arbeitsrecht. 10 BAG v. 24.3.1992 – 9 AZR 76/91, AP Nr. 28 zu Internat. Privatrecht Arbeitsrecht. 11 LAG Hessen v. 16.11.1999 – 4 Sa 463/99, LAGE Art. 30 EGBGB Nr. 5. 12 BAG v. 1.7.2010 – 2 AZR 270/09, EzA § 20 GVG Nr. 5. 13 LAG Hess. v. 24.11.2008 – 17 Sa 682/07, n.v. 14 BAG v. 24.8.1989 – 2 AZR 3/89, AP Nr. 30 zu Internat. Privatrecht Arbeitsrecht. Zum SeemG auch BAG v. 3.5.1995 – 5 AZR 15/94, AP Nr. 32 zu Internat. Privatrecht Arbeitsrecht. 15 BAG v. 29.10.1992 – 2 AZR 267/92, AP Nr. 31 zu Internat. Privatrecht Arbeitsrecht.

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Rz. 42

Internationales Tarifvertragsrecht

TzBfG1, das AGG2 sowie die Lohnwucherrechtsprechung gemäß § 138 BGB3 sollen keinen zwingenden Charakter haben.

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Umstritten ist, ob Tarifnormen, insbesondere für allgemeinverbindlich erklärte Tarifnormen, als Eingriffsnormen anzusehen sind. Dass dies grundsätzlich nicht der Fall ist, zeigt § 3 AEntG4. Unklar ist, ob und inwieweit ein deutsches Gericht ausländisches TV-Recht oder ausländische TVe zu berücksichtigen hat oder berücksichtigten darf, wenn deutsches Recht TV-Statut ist5. Nach dem im deutschen Recht erst seit 2009 geltenden Art. 9 Abs. 3 Rom-I-Verordnung kann auch Normen einer ausländischen Rechtsordnung eines Mitgliedstaats der Europäischen Union Wirkung verliehen werden, wenn es sich um die Rechtsordnung handelt, in der die Erfüllung der vertraglichen Verpflichtung stattfinden soll oder stattgefunden hat. Voraussetzung ist weiter, dass die ausländische Eingriffsnorm zur Rechtswidrigkeit der Vertragserfüllung führt. Die Auslegung der Norm ist bislang weitgehend offen6. Nach Art. 12 Abs. 2 Rom-I-Verordnung ist im Hinblick auf die Erfüllungsmodalitäten das am Erfüllungsort geltende Recht zu berücksichtigen. Zu diesen Erfüllungsmodalitäten gehören im Arbeitsrecht z.B. Feiertagsregelungen, Höchstarbeitszeiten oder Unfallverhütungsvorschriften. Ob z.B. auch Bestimmungen in ausländischen TVen derartige Erfüllungsmodalitäten schaffen können, ist ebenfalls offen.

b) Ordre public 43

Art. 21 Rom-I-Verordnung bestimmt darüber hinaus allgemein, dass eine ausländische Norm nicht angewendet werden muss, wenn sie mit dem „ordre public“ des angerufenen Gerichts nicht vereinbar ist. Für deutsche Gerichte ist dies nach Art. 6 EGBGB der Fall, wenn die Anwendung der ausländischen Norm zu einem Ergebnis führte, welches mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar wäre, insbesondere wenn sie gegen die Grundrechte verstieße. Die Bedeutung des ordre public ist im Arbeits-

1 BAG v. 13.11.2007 – 9 AZR 134/07, AP Nr 8 zu Art 27 EGBGB n.F.; Junker, EuZA 2009, 88 (93 ff.). 2 Schrader/Straube, NZA 2007, 184 ff.; Rauscher/v. Hein, EuZPR/EuIPR, 2011, Art. 8 Rom I-VO Rz. 38. 3 Franzen, ZESAR 2011, 101 (106 f.). Anders in der Tendenz Bayreuther, NZA 2010, 1157 (1158 f.). 4 So im Ergebnis auch BAG v. 12.1.2005 – 5 AZR 617/01, AP Nr. 2 zu § 1 AEntG; BAG v. 9.7.2003 – 10 AZR 593/02, AP Nr. 261 zu § 1 TVG – Tarifverträge: Bau; BAG v. 6.11.2002 – 5 AZR 617/01 (A), AP Nr. 1 zu § 1a AEntG; BAG v. 4.5.1977 – 4 AZR 10/76, AP Nr. 30 zu § 1 TVG – Tarifverträge: Bau; Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 98; Krause in Jacobs/Krause/Oetker, § 1 Rz. 132; Hanau in Hanau/ Steinmeyer/Wank, § 15 Rz. 470; Junker, Internationales Arbeitsrecht im Konzern, S. 431 f.;; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 89; MünchArbR/Oetker, § 11 Rz. 124. Anders Däubler/Däubler, Einleitung Rz. 655 f.; Deinert, RdA 2009, 144 (151); Walz, Multinationale Unternehmen und internationaler Tarifvertrag, S. 154; Wimmer, Die Gestaltung internationaler Arbeitsverhältnisse, S. 208 ff. 5 Vgl. dazu ausführlich Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 98, sowie als Beispielsfall BAG v. 11.9.1991 – 4 AZR 71/91, AP Nr. 29 zu Internationales Privatrecht, Arbeitsrecht (Rz. 45), doch war hier die Berücksichtigung mexikanischen Ortsrechts schon im TV vorgesehen. 6 Rauscher/v. Hein, EuZPR/EuIPR, 2011, Art. 9 Rom I-VO Rz. 60 ff.

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Internationales Tarifvertragsrecht i.e.S. (Kollisionsrecht)

Rz. 47 Teil 17

recht allgemein gering. Das Bundesarbeitsgericht hat einen Verstoß gegen den ordre public wiederholt abgelehnt1. Ein Verstoß wird insbesondere verneint, wenn ausländisches TV-Recht eine weitergehende Tarifbindung als das deutsche Recht vorsieht2, Effektiv-, Differenzierungs- oder Indexklauseln oder die Festlegung von Höchstarbeitsbedingungen zulässt3. Bei der Zulässigkeit von closed-shop-Klauseln komme es auf den Grad der Inlandsbeziehungen an. Finde der Sachverhalt im Ausland statt, scheide ein Verstoß gegen den ordre public aus4. Dies soll auch für sog. maintenance-of-membership-Klauseln (Gewerkschaftsaustritt als auflösende Bedingung des Arbeitsvertrages) gelten5.

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III. Der internationale Geltungsbereich von deutschen Tarifverträgen und ausländischen Kollektivvereinbarungen Unter Rz. 7 ff. wurde untersucht, welche Rechtsordnung eine bestimmte Rechtsfrage, z.B. die nach der Tariffähigkeit einer ausländischen Gewerkschaft, beantwortet. Hier wurde also entsprechend der klassischen kollisionsrechtlichen Herangehensweise von der jeweiligen Rechtsfrage aus nach der anwendbaren Rechtsordnung gesucht.

45

Im internationalen Tarifrecht wird allerdings vielfach auch der TV als solcher in den Blick genommen und es wird die Frage gestellt, inwieweit ein deutscher TV im Ausland „gelte“6, oder es wird gefragt, ob ausländische TVe im Inland „gelten“7.

46

Beide Fragen sollen im Folgenden getrennt untersucht werden, d.h. es ist zunächst auf den internationalen Geltungsbereich deutscher TVe (Rz. 47 ff.) und anschließend auf den Geltungsbereich ausländischer Kollektivordnungen (Rz. 58 ff.) einzugehen.

1. Der internationale Geltungsbereich deutscher Tariverträge Für die erstere Konstellation ist schon offen, was unter einem „deutschen TV“ zu verstehen ist. In der Praxis wird man hierunter wohl TVe begreifen, welche 1 BAG v. 24.8.1989 – 2 AZR 3/89 u. v. 10.4.1975 – 2 AZR 128/74, AP Nr. 30, 12 zu Internat. Privatrecht Arbeitsrecht, betr. Kündigungsschutz; BAG v. 26.2.1985 – 3 AZR 1/83, AP Nr. 30 zu Internat. Privatrecht Arbeitsrecht, betr. Abhängigkeit einer Provision vom Bestand des Arbeitsverhältnisses; BAG v. 29.10.1992 – 2 AZR 267/92, AP Nr. 31 zu Internat. Privatrecht Arbeitsrecht, betr. § 613a BGB. Vgl. aber BAG v. 3.5.1995 – 5 AZR 15/94, AP Nr. 32 zu Internat. Privatrecht Arbeitsrecht, betr. indisches Arbeitsrecht; BAG v. 29.6.1978 – 2 AZR 973/77, AP Nr. 8 zu § 38 ZPO – Internationale Zuständigkeit. 2 Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 92. 3 Däubler/Däubler, Einleitung Rz. 658. 4 Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 96; Däubler/Däubler, Einleitung Rz. 658. 5 Wimmer, Die Gestaltung internationaler Arbeitsverhältnisse, S. 79 mit Fn. 306. 6 Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 102 ff.; Franzen, AR-Blattei SD 920, Rz. 326 ff.; Krause in Jacobs/Krause/Oetker, § 1 Rz. 131 ff., spricht von der „Reichweite deutscher Tarifverträge“. 7 Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 125 ff.

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Rz. 48

Internationales Tarifvertragsrecht

von einer deutschen Gewerkschaft und einem deutschen Arbeitgeber geschlossen werden. Damit stellt sich allerdings die Frage, was eine deutsche Gewerkschaft und was ein deutscher Arbeitgeber(verband) ist. Hier bietet es sich an, nach den Regeln des internationalen Gesellschaftsrechts mit der herrschenden Meinung auf die Sitztheorie abzustellen1. Maßgeblich wäre dann, dass der tatsächliche Verwaltungssitz der Gewerkschaft bzw. des Arbeitgeberverbandes oder des Unternehmens in Deutschland liegt. Birk definiert indes den Begriff „deutscher TV“ anders: Nach ihm handelt es sich um einen „inländischen“ TV, wenn deutsches Tarifrecht für den Kollektivvertrag maßgebend ist2, m. a. W. wenn deutsches Recht TV-Statut ist. Bei objektiver Anknüpfung des TVes ist freilich deutsches Recht TV-Statut, wenn der Verwaltungssitz der TVParteien im Inland liegt (oben Rz. 24). In diesem Fall kommen beide Ansätze zu demselben Ergebnis. Abweichungen entstehen indes, wenn eine Partei im Ausland ansässig ist (oben Rz. 25 f.), denn auch dann kann grundsätzlich deutsches Recht TV-Statut sein, oder wenn die TV-Parteien eine Rechtswahl getroffen haben3. 48

Von dem „Geltungsbereich“ des deutschen TVes zu sprechen heißt freilich, den Normcharakter des TVes in den Vordergrund zu stellen. Betrachtet man den TV ähnlich einem Gesetz, so erscheint die „Erstreckung“ der deutschen Rechtsnormen über das Territorium der Bundesrepublik Deutschland hinaus per se unzulässig. Dieser Ansatz ist jedoch für die kollisionsrechtliche Betrachtung keineswegs zwingend. Fasst man den TV in erster Linie als Vertrag auf, so entstehen diese Bedenken kaum. Selbstverständlich können zwei deutsche Staatsbürger einen „deutschen“ Vertrag schließen, auch wenn die „Vertragsgegenstände“ im Ausland belegen sein sollten.

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Weiter bleibt vage, was inhaltlich mit „Geltung im Ausland“ gemeint ist. Birk konretisiert dies überzeugend dahingehend, dass zu fragen ist, ob der normative Teil des TVes „Sachverhalte, inbesondere Arbeitsverhältnisse, mit Auslandsberührung“ erfassen könnte4. Doch stellt sich diese Frage überhaupt nur, wenn die betroffenen Arbeitsverhältnisse eine relevante Auslandsberührung haben. Es wird kaum bezweifelt werden, dass ein deutscher TV die Arbeitsverhältnisse im deutschen Einzelhandel regeln kann, auch wenn einige der betroffenen Arbeitnehmer eine ausländische Staatsangehörigkeit haben werden. Ausgehend von einem eher „territorialen“ Verständnis des TVes erscheinen vor allem Auslandsberührungen relevant, welche dadurch entstehen, dass der Arbeitsort im Ausland belegen ist. Bei vertragsrechtlicher Betrachtung des TVes wäre indes eher danach zu fragen, ob der TV Arbeitsverhältnisse erfassen kann, die selbst einer ausländischen Rechtsordnung unterliegen. Diese Frage ist umstritten und nach hier vertretener Ansicht zu bejahen (oben Rz. 32 ff.). Da aber der normative Charakter des TVes eine territoriale Betrachtung nahelegt, sind die unterschiedlichen Alternativen, die für den Fall, dass der Arbeits1 Vgl. nur MünchKommBGB/Kindler, IntGesR Einleitung Rz. 5. 2 Birk, FS Beitzke, S. 831 (851). 3 Die Birk nicht für zulässig hält, MünchArbR/Birk, 2. Aufl. 2000, § 21 Rz. 30 f., vgl. oben Rz. 14. 4 Birk, FS Beitzke, S. 831 (851).

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Internationales Tarifvertragsrecht i.e.S. (Kollisionsrecht)

Rz. 53 Teil 17

ort im Ausland liegt, – im Anschluss an Birk1 – diskutiert werden, hier kurz aufzugreifen.

a) Fallgestaltungen aa) „Ausstrahlung“ des deutschen Tarifvertrages Die Auslandsberührung der vom TV betroffenen Arbeitsverhältnisse kann dadurch entstehen, dass die Arbeitnehmer zwar ihren Arbeitsort im Inland haben, aber vorübergehend ins Ausland entsandt werden. Hier wird eine Parallele zu § 4 SGB IV gezogen, der für diesen Fall die Weitergeltung deutschen Sozialversicherungsrechts mit der Rechtsfigur der „Ausstrahlung“ des deutschen Rechts fordert2. Die Erstreckung des normativen Teils auf solche Arbeitsverhältnisse wird auch ohne ausdrückliche Regelung im TV für zulässig gehalten3.

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Zu diesem Ergebnis gelangt man auch, wenn nicht auf den Ort der Arbeit, sondern auf das Arbeitsvertragsstatut abgestellt und für den Regelfall unterstellt wird, dass deutsches Recht Arbeitsvertragsstatut ist. Denn das Statut bleibt bei der Entsendung grundsätzlich gleich, auch bei objektiver Anknüpfung. Nach Art. 8 Abs. 2 Satz 2 Rom-I-Verordnung ändert die vorübergehende Entsendung in einen anderen Staat an der Maßgeblichkeit des gewöhnlichen Arbeitsorts für das Arbeitsvertragsstatut nichts. Nach dem 36. Erwägungsgrund zur RomI-Verordnung soll die Entsendung als vorübergehend gelten, „wenn von dem Arbeitnehmer erwartet wird, dass er nach seinem Arbeitseinsatz im Ausland seine Arbeit im Herkunftsstaat wieder aufnimmt.“ Auf die Frage, ob der TV nur deutschem Recht unterliegende Arbeitsverhältnisse erfassen kann, muss daher in diesen Fallgestaltungen nicht eingegangen werden.

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bb) Einbeziehung von teilweiser Auslandsarbeit im deutschen Tarifvertrag Weiter werden die Fälle in den Blick genommen, in denen der TV eine Regelung enthält, nach der er auch auf Arbeitsverhältnisse angewandt werden soll, die teilweise in einem odere mehreren ausländischen Staaten verwirklicht werden, wie dies insbesondere im Verkehrswesen oder bei Bau- und Montagearbeiten der Fall sein kann4. Auch eine solche ausdrückliche oder durch Auslegung zu ermittelnde Erstreckung des Geltungsbereichs wird für zulässig gehalten5.

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In solchen Fällen können freilich Arbeitsvertrags- und TV-Statut auseinanderfallen. Insbesondere können die Arbeitsvertragsparteien zur Klärung ihrer Rechtsverhältnisse eine Rechtswahl getroffen haben. Ist das Arbeitsvertrags-

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1 Birk, FS Beitzke, S. 831 (851 ff.). 2 Birk, FS Beitzke, S. 831 (853). 3 Birk, FS Beitzke, S. 831 (853); Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 103 f.; Franzen, AR-Blattei SD 920, Rz. 327; Däubler/Däubler, Einleitung Rz. 626 ff. 4 Birk, FS Beitzke, S. 831 (854). 5 Birk, FS Beitzke, S. 831 (853 ff.); Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 105; Franzen, AR-Blattei SD 920, Rz. 328; Krause in Jacobs/Krause/Oetker, § 1 Rz. 133.

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Rz. 54

Internationales Tarifvertragsrecht

statut nicht deutsches Recht, würde die Einbeziehung dieser Arbeitsverhältnisse in den TV nach der Ansicht, die einen Gleichklang von Arbeitsvertragsund TV-Statut fordert (oben Rz. 33 ff.), ausscheiden. Indes kann nicht bestritten werden, dass es gerade für solche Arbeitsverhältnisse „fast unabweisbar oder doch äußerst zweckmäßig“ erscheint, „einheitliche Arbeitsbedingungen“1 zu schaffen.

cc) Einbeziehung von reiner Auslandsarbeit im deutschen Tarifvertrag 54

Schließlich ist es möglich, dass deutsche Tarifpartner einen TV für „reine Auslandsarbeit“ schließen oder eine solche in einen TV miteinbeziehen. In der Praxis wird dies freilich nur geschehen, wenn die Tarifpartner dazu Veranlassung haben, weil die betroffenen Arbeitsverhältnisse einen Bezug zum Inland haben, inbesondere weil der Arbeitgeber ein in Deutschland ansässiges Unternehmen ist (z.B. Goethe-Institut, deutsche Rundfunkanstalten). Auch in diesen Fällen hält man eine Regelung im „deutschen“ TV für zulässig, wenn ein hinreichender Bezug zum Inland bestehe2.

b) Grundsätze 55

Die Fallgestaltungen zeigen, dass grundsätzlich das Recht der TV-Parteien, den Geltungsbereich des TVes auf Arbeitsverhältnisse zu erstrecken, bei welchen der Arbeitsort im Ausland liegt, anerkannt wird, sofern nur ein hinreichender Bezug zum Inland besteht.

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Wenn man diese eher „territoriale“ Betrachtung aufgibt, ist die abstrakte Frage, ob die TV-Parteien auch „Sachverhalte, inbesondere Arbeitsverhältnisse, mit Auslandsberührung“3 regeln können (oben Rz. 49), ebenfalls zu bejahen. Insbesondere können sie nach hier vertretener Ansicht auch normative Regelungen für Arbeitsverträge schaffen, welche ausländischem Recht unterliegen. Allerdings wird teilweise vertreten, dass die Regelungsmacht der TV-Parteien nur Arbeitsverhältnisse erfasse, die deutschem Recht unterliegen (oben Rz. 33)4. Da der Gleichklang von Arbeitsvertrags- und TV-Statut vor allem von der deutschen Rechtsprechung gefordert wird (oben Rz. 33), kann den TV-Parteien empfohlen werden, für die vom TV betroffenen Arbeitnehmer eine Regelung im TV zu treffen, nach der das Arbeitsvertragsstatut deutsches Recht sein soll. Eine solche Bestimmung des Arbeitsvertragsstatuts durch den TV wird für zulässig gehalten5. 1 Birk, FS Beitzke, S. 831 (854). 2 Birk, FS Beitzke, S. 831 (855 ff.); Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 107; Franzen, AR-Blattei SD 920, Rz. 329 ff. 3 Birk, FS Beitzke, S. 831 (851). 4 Ausdrücklich auch im vorliegenden Zusammenhang Krause in Jacobs/Krause/Oetker, § 1 Rz. 134 f.: „fehlende Tarifmacht“. 5 Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 120 m.w.N. zur herrschenden Literaturmeinung; Kempen/Zachert/Kocher, § 4 TVG Rz. 85 ff.; Winkler v. Mohrenfels/ Block, Europäisches Arbeits- und Sozialrecht (EAS), B 3000, Stand 8/2010, Rz. 93 ff.; Wimmer, Die Gestaltung internationaler Arbeitsverhältnisse, S. 63 ff. Zweifelnd Krause in Jacobs/Krause/Oetker, § 1 Rz. 136. Ablehnend Löwisch/Rieble, Grundl. Rz. 349 ff.

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Internationales Tarifvertragsrecht i.e.S. (Kollisionsrecht)

Rz. 60 Teil 17

Fraglich bleibt aber, ob auf solche Rechtswahltarifverträge das Günstigkeitsprinzip angewendet werden muss1. Die Frage stellt sich auch gerade dann, wenn neben der tariflichen Rechtswahl eine abweichende arbeitsvertragliche Rechtswahl getroffen wurde.

Den TV-Parteien, vor allem den Gewerkschaften, ist es also nicht verwehrt, für ihre Mitglieder auch dann Regelungen zu treffen, wenn diese im Ausland tätig sind. Dies ist freilich nur die Sicht des deutschen Rechtsanwenders. Eine völlig andere Frage ist, ob ein ausländisches Gericht den deutschen TV für anwendbar hielte. Möglich ist auch, dass am Arbeitsort andere, ausländische TVe gelten, welche ebenfalls das Arbeitsverhältnis erfassen wollen. Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn der ausländische TV nach dortigem Recht für allgemeinverbindlich erklärt wurde. Wie ein ausländisches Gericht diesen Sachverhalt beurteilte, kann hier nicht entschieden werden. Ob und wie ein deutsches Gericht die Existenz ausländischer, einschlägiger TVe beurteilen würde, ist ebenfalls weitgehend offen. Hier handelt es sich um eine Frage internationaler Tarifkonkurrenz (unten Rz. 60).

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2. Der internationale Geltungsbereich ausländischer Kollektivvereinbarungen Hier kann lediglich der Fall untersucht werden, in dem ein deutsches Gericht mit der Frage konfrontiert wird, ob und wie es eine ausländische Kollektivvereinbarung, die auf das Arbeitsverhältnis nach dem Recht ihres „Herkunftslandes“ anzuwenden ist, zu berücksichtigen hat.

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Grundsätzlich wird hier vertreten, dass die für die „Ausstrahlung“ deutscher TVe geltenden Regeln spiegelbildlich auch für die „Einstrahlung“ ausländischer TVe gelten müssten2. Es sind also auch Kollektivverträge ausländischer Kollektivpartner, die in Deutschland (ganz oder teilweise) verwirklichte Arbeitsverhältnisse betreffen, anzuwenden, sofern ein Bezug zum jeweiligen Staat vorhanden ist. Nach hier vertretener Ansicht ist „spiegelbildlich“ nicht zu fordern, dass das Arbeitsvertragsstatut der jeweiligen ausländischen Rechtsordnung entspricht. Ob die Rechtsprechung diese Forderung erheben würde, ist offen. Allerdings muss der deutsche Richter von der Anwendung des ausländischen TVes absehen, wenn deutsche Eingriffsnormen oder der ordre public entgegenstehen (oben Rz. 38 ff.).

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Findet auf das Arbeitsverhältnis auch ein inländischer TV (z.B. aufgrund Allgemeinverbindlicherklärung) Anwendung, handelt es sich um einen Fall der internationalen Tarifkonkurrenz. Für diese wird die Anwendung des Günstigkeitsprinzips3 oder die Übertragung der für internrechtliche Konkurrenzfragen

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1 Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 123; Winkler v. Mohrenfels/ Block, Europäisches Arbeits- und Sozialrecht (EAS), B 3000, Stand 8/2010, Rz. 94 f. 2 Birk, FS Beitzke, S. 831 (864); Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 125; Franzen, AR-Blattei SD 920, Rz. 345. 3 Däubler/Däubler, Einleitung Rz. 640; Kempen/Zachert/Kocher, § 4 TVG Rz. 64. Wohl auch Demarne, Anwendung nationaler Tarifverträge bei grenzüberschreitenden Arbeitsverhältnissen, S. 332 ff.

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Rz. 61

Internationales Tarifvertragsrecht

entwickelten Grundsätze der lex fori (also hier deutschen Rechts)1 gefordert. Man könnte auch eine Berücksichtigung ausländischen Tarifrechts nach Art. 9 Abs. 3 Rom-I-Verordnung oder Art. 12 Abs. 2 Rom-I-Verordnung2 diskutieren (oben Rz. 42). Geht man mit der wohl überwiegenden Ansicht davon aus, die für internrechtliche Tarifkonkurrenzfragen entwickelten Grundsätze des deutschen Rechts seien anwendbar, liefe dies für das betroffene Arbeitsverhältnis auf die Anwendung der lex specialis-Regelung hinaus, so dass der sachnähere TV Anwendung fände3.

C. Rechtsvergleichung 61

Die Tarifrechtssysteme der europäischen und außereuropäischen Staaten sind äußerst unterschiedlich ausgestaltet. Darstellungen in deutscher Sprache gibt es insbesondere für die europäischen Nachbarstaaten. Zum Tarifrecht außerhalb Europas finden sich nur vereinzelt Darstellungen in der deutschen Literatur. Rechtshistorisch zu den Ländern Frankreich, den Niederlanden, Großbritannien, den USA, Neuseeland, der Schweiz Leo, Der TV als internationales Rechts-Problem, Blätter für die Vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre 11 (1907), 433 ff. Es finden sich Hinweise zur Rechtslage in Österreich, der Schweiz, Italien, Frankreich, Belgien, den Niederlanden, England, Mexiko, den USA und Neuseeland bei Gamillscheg, Internationales Arbeitsrecht, § 16 Tarifvertrag, 1959, S. 355 bis 360. Zu Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden vgl. auch Berger, Grenzüberschreitende Tarifverträge innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Diss. Köln 1972, S. 58 bis 69. Hinweise zu Österreich, der Schweiz, Frankreich, Italien, Spanien, England, den USA bietet auch Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, 1997, S. 494 f. Zur Rechtslage in England vgl. Kulbe, Kollektivrechtliche Vereinbarungen im englischen Arbeitsrecht, Diss. Köln, 1986, van Scherpenberg, Kollektive Bestimmungen der Arbeitsbedingungen in Deutschland und England, 1995, und Mecke, Zur rechtlichen Verbindlichkeit kollektiver Vereinbarungen in England, 1997. Zur Rechtslage in Frankreich vgl. Krieger, Das französische Tarifvertragsrecht, 1991, und Demarne, Anwendung nationaler Tarifverträge bei grenzüberschreitenden Arbeitsverhältnissen, 1999, S. 32 bis 40. Eine neuere Darstellung der Tarifrechtsordnungen von England und Frankreich bietet Fudickar, Parteiautonome Anknüpfung grenzüberschreitender Tarifverträge in der Europäischen Union, 2005, S. 47 bis 62. Zur Rechtslage in den Niederlanden vgl. Waas, Tarifvertragsrecht in den Niederlanden und Deutschland im Vergleich, in: Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeits- und Sozialrecht (ZIAS) 2004, 57–72. Weiter finden sich aktuelle Darstellungen zu Belgien, Bulgarien, Dänemark, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Italien, Lettland, Litauen, Luxemburg, den Niederlanden, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Schweden, der Schweiz, der Slowakei, Spanien, Tschechien, der Türkei, Ungarn und den USA bei Waas, Der Regelungsentwurf von DGB und BDA zur Tarifeinheit. Verfassungs- und internatio-

1 Birk, FS Beitzke, S. 831 (862 ff.), der damit zur Anwendung der lex-specialis-Regelung kommt. Jedenfalls insoweit zweifelnd Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 107. Nur allgemein Franzen, AR-Blattei SD 920, Rz. 344. 2 Vgl. auch Däubler/Däubler, Einleitung Rz. 638. 3 So Birk, FS Beitzke, S. 831 (863 f.).

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Internationale Kollektivvereinbarungen

Rz. 63 Teil 17

nalrechtliche Aspekte, 2010, S. 67 ff.1. Zu Belgien, Dänemark, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Italien, Lettland, Litauen, Luxemburg, den Niederlanden, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Russland, Schweden, der Schweiz, der Slowakei, Spanien, Tschechien, der Türkei und Ungarn vgl. Henssler/ Braun, Arbeitsrecht in Europa, 3. Aufl. 2011. Zu Griechenland, Großbritannien (in englischer Sprache), Italien, Litauen, Österreich, der Schweiz, der Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechien und der Türkei vgl. die Darstellungen in Hekimler/Ring, Tarifrecht in Europa, 2012.

D. Internationale Kollektivvereinbarungen Der Wunsch, echte „internationale“ oder „multinationale“ Kollektivvereinbarungen zu schließen, ist über 100 Jahre alt2. Unter einer internationalen Kollektivvereinbarung lassen sich TVe verstehen, bei denen Vertragspartner aus mindestens zwei Staaten und/oder europäische bzw. internationale Spitzenverbände beteiligt sind.

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Tatsächlich sind solche TVe aber auch heute noch in der Praxis selten und zumeist nur in per se grenzüberschreitenden Wirtschaftsbereichen (z.B. internationaler Transport) anzutreffen3. Die Gründe hierfür mögen vielfältig sein. Ein Grund4 ist sicher die Rechtsunsicherheit, die bezüglich des Abschlusses und der Anwendung solcher Kollektivvereinbarungen besteht.

I. Völker- und unionsrechtliche Regelungen Zwar finden sich im Völkerrecht einige Regelungen, die in Zusammenhang mit der Vereinbarung solcher Kollektivvereinbarungen stehen5. Dazu gehören Art. 23 Nr. 4 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948, Art. 8 Abs. 1 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19.12.19666 sowie die Abkommen Nr. 87, 98, 135 und 154 der International Labour Organisation (ILO)7. Auf europäischer Ebene sind zunächst Art. 11 Abs. 1 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) vom 4.11.19508 sowie Teil 1, Nr. 5, 6 und

1 Gutachten für das Hugo-Sinzheimer-Institut für Arbeitsrecht, http://www.hugosinzheimer-institut.de/veroeffentlichungen/veroeffentlichungen-des-hsi.html. 2 Vgl. Birk, FS Beitzke, S. 831 m.w.N. 3 Vgl. die Hinweise bei Birk, FS Beitzke, S. 831 (840 ff.) und Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 1 ff., auf entsprechende Kollektivvereinbarungen. 4 Zu weiteren Gründen Kowanz, Europäische Kollektivvertragsordnung, S. 28 ff. 5 Dazu ausführlich Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 270 ff.; Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 13 ff.; Berger, Grenzüberschreitende Tarifverträge, S. 31 ff. 6 BGBl. 1973 II S. 1570. 7 In deutscher Sprache unter http://www.ilo.org/ilolex/german/docs/convdisp1.htm. 8 BGBl. 1952 II S. 685, Neubekanntmachung v. 17.5.2002, BGBl. II S. 1054, zuletzt ergänzt durch Protokoll Nr. 14 v. 13.5.2004, BGBl. 2006 II S. 138. Das Protokoll ist am 1.6.2010 in Kraft getreten.

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Teil 17

Rz. 64

Internationales Tarifvertragsrecht

Teil 2 Nr. 5, 6 der Europäischen Sozialcharta (ESC) vom 18.10.19611 zu nennen. Allerdings begründen diese völkerrechtlichen Rechtsquellen als solche nur Rechte und Pflichten für die Mitgliedstaaten; die Koalitionspartner können aus ihnen unmittelbar keine Rechte herleiten2. 64

Ob und inwieweit das Unionsrecht ein Recht zum Abschluss internationaler oder europäischer Kollektivvereinbarungen verleiht, ist offen. Zunächst kann nach Abs. 1 von Art. 155 AEUV der „Dialog zwischen den Sozialpartnern auf Unionsebene … zur Herstellung vertraglicher Beziehungen einschließlich des Abschlusses von Vereinbarungen führen.“ Zur Vorgängernorm des Art. 139 EG-Vertrag wurde vertreten, dass diese Norm keine Rechtsgrundlage für internationale TVe biete3.

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Weiter wurde bereits oben (Rz. 15) erwähnt, dass die Tarifautonomie als solche, d.h. das Recht, „Tarifverträge auf den geeigneten Ebenen auszuhandeln und zu schließen“, durch Art. 28 der Europäischen Grundrechtecharta zumindest „bestätigt“ wird. Nach Art. 6 Abs. 1 EUV erkennt die EU die Charta der Grundrechte an, welche dadurch rechtsverbindlicher Teil des Primärrechts wird. Allerdings gilt die Charta gemäß ihrem Art. 51 Abs. 1 Satz 1, 2 für die Mitgliedstaaten „ausschließlich bei der Durchführung“ von Unionsrecht. Es steht zu vermuten, dass der EuGH den Begriff „Durchführung“ sehr weit verstehen wird, nämlich in dem Sinne, dass die Maßnahme in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt4. „Dementsprechend“ haben die Mitgliedstaaten die „Rechte“ zu „achten“. Inwieweit damit die Mitgliedstaaten bzw. öffentliche Arbeitgeber (vertikale Direktwirkung) oder sogar Private (horizontale Direktwirkung)5 durch die Charta berechtigt und verpflichtet werden, ist unklar6. Unklar ist auch, ob die TV-Parteien in diesem Zusammenhang wie Privatrechtssubjekte zu behandeln sind, oder ob sie als Normgeber stärkeren Rechten und Bindungen unterliegen7.

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In der Literatur wird zwar unter Verweis auf Art. 153 Abs. 5 AEUV betont, dass die Union keine Kompetenz zur Regelung des Tarifrechts habe, so dass sich das Ausmaß der Gewährleistung des Rechts auf Kollektivverhandlungen und -maßnahmen ausschließlich nach mitgliedschaftlichem Recht bestimme8. Nichtsdestotrotz erkennt der EuGH das Recht der TV-Parteien auf Kollektiv1 BGBl. 1964 II S. 1261, zuletzt geändert durch BGBl. 2001 II S. 970. Die Bundesrepublik Deutschland hat die Revidierte Sozialcharta v. 1.7.1999 bisher nur gezeichnet. 2 Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 20. 3 Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 34; Lohmann, Grenzüberschreitende Firmentarifverträge, S. 50 ff.; ebenso für das aktuelle Recht Löwisch/Rieble, Grundl. Rz. 389 ff. Differenzierend Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 186 ff. Zweifelnd zum aktuellen Recht Calliess/Ruffert/Krebber, Art. 154 AEUV Rz. 23. 4 Calliess/Ruffert/Kingreen, Art. 51 GrCh Rz. 8. Vgl. auch EuGH v. 22.12.2010 – Rs. C-279/09, EuZW 2011, 137 – DEB; EuGH v. 16.9.2010 – Rs. C-149/10, EuZW 2011, 62 – Chatzi. 5 Dagegen Calliess/Ruffert/Kingreen, Art. 51 GRCh Rz. 18 m.w.Nachw. 6 Näher Krebber, RdA 2009, 224 (230 f.); Willemsen/Sagan, NZA 2011, 258. 7 Dazu Dewald, Die Anwendung des Unionsrechts auf den deutschen Tarifvertrag, 2012, demnächst. 8 Calliess/Ruffert/Krebber, Art. 28 GrCh Rz. 4; Löwisch/Rieble, Grundl. Rz. 421.

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Internationale Kollektivvereinbarungen

Rz. 68 Teil 17

verhandlungen an1, welches er als „Grundrecht“ bezeichnet2. Insofern wird man die „dynamische Dimension“3 von Art. 28 GrCh konzedieren müssen, insbesondere wenn man die Bestimmung in Zusammenhang mit Art. 155 AEUV wertet.

II. Bestehende Rechtsunsicherheiten Kollektivvereinbarungen, bei denen Vertragspartner aus zwei oder mehr Staaten bzw. europäische oder internationale Spitzenverbände beteiligt sind, unterliegen auch innerhalb der Europäischen Union einer erheblichen Rechtsunsicherheit. Selbst wenn innerhalb der Europäischen Union ein „Grundrecht“ auf internationale Kollektivverhandlungen und Kollektivvereinbarungen anerkannt wird, bleibt dieses weitgehend konturlos. Unklar ist vor allem, ob sich aus einem solchen Grundrecht das Recht ableiten ließe, Tarifregelungen mit normativer Wirkung für die organisierten Mitglieder zu schaffen. Solange dies nicht gewährleistet ist, bleibt die Schaffung einheitlicher Arbeitsbedinungen durch TV auch innerhalb der Europäischen Union problematisch.

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Eine abgeschlossene internationale Kollektivvereinbarung wird nach heutiger Rechtslage in den einzelnen Staaten unterschiedlich beurteilt. Das jeweilige nationale Gericht wird für die jeweilige Rechtsfrage zunächst das anwendbare Recht bestimmen und anschließend die dieser Rechtsordnung zu entnehmende Beurteilung vornehmen. Da die Kollisionsrechte der einzelnen Staaten differieren (oben Rz. 4), wird ein und dieselbe Rechtsfrage in den jeweiligen Staaten unterschiedlich beurteilt werden. Eine gewisse Vereinheitlichung lässt sich innerhalb der Union durch die analoge Anwendung der Rom-I-Verordnung für die Bestimmung des TV-Statuts (oben Rz. 11 ff.) erreichen. Weiter können die Vertragsparteien durch Rechtswahl das TV-Statut festlegen, doch besteht schon im deutschen Recht keine Einigkeit, ob eine solche Rechtswahl zulässig ist (oben Rz. 12 ff.). Auch wenn die Rechtswahl anerkannt wird, mag sich der jeweilige nationale Richter gezwungen sehen, zwingenden Normen seiner Rechtsordnung Wirkung zu verleihen oder die gewählte Rechtsordnung aufgrund eines entgegenstehenden ordre public nicht anzuwenden (vgl. oben Rz. 38 ff.). Solange keine europäische Kollektivvertragsordnung besteht4, kann die Schaffung international einheitlicher Arbeitsbedingungen durch TV wohl nur durch ein „Bündel gleich lautender nationaler TVe“5 gelingen.

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1 EuGH v. 8.9.2011 – Rs. C-297/10, NZA 2011, 1100 (Rz. 78) – Hennings; EuGH v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09, NZA 2011, 1039 (Rz. 47) – Prigge. 2 EuGH v. 15.7.2010 – Rs. C-271/08, Slg. 2010, I-7091 (Rz. 37 ff., 41) – Kommission gegen Deutschland; EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-438/05, Slg. 2007, I-10779 (Rz. 44) – Viking Line; EuGH v. 18.12.2007 – C-341/05, Slg. 2007, I-11767 (Rz. 91) – Laval. 3 Riedel in Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl. 2011, Rz. 27. Vgl. auch Rixen in Tettinger/Stern, Europäische Grundrechtecharta, 2006, Art. 28 Rz. 4. Anders Löwisch/Rieble, Grundl. Rz. 426, 253 ff. 4 Zur Entwicklung einer solchen Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 186 ff.; Kowanz, Europäische Kollektivvertragsordnung, S. 186 ff. 5 Hergenröder, Internationales Tarifvertragsrecht, Rz. 140. Zu diesem Modell Junker, Internationales Arbeitsrecht im Konzern, S. 450 f. m.w.N.; Walz, Multinationale Unternehmen und internationaler Tarifvertrag, S. 187 ff.

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Stichwortverzeichnis Bearbeiter: Klaus Thölken Fett gedruckte Ziffern verweisen auf das Kapitel, magere Ziffern auf die Randziffern des jeweiligen Kapitels.

Ablösender Tarifvertrag 3 216 ff. – Haustarifvertrag 3 220 f. – Tarifpluralität/Tarifeinheit 3 222 f. – Umfang 3 217 ff. – Umstrukturierung 15 11 – vorübergehender Zeitraum 3 219 – weiterer Tarifvertrag mit anderer Gewerkschaft 3 222 f. Ablösung nachwirkender Tarifverträge 9 39 ff. – AGB-Kontrolle 9 47 – durch Änderungsvertrag 9 45 – durch Betriebsvereinbarung 9 44 – Höchstdauer der Nachwirkung 9 51 f. – durch Individualvertrag 9 45 ff. – durch Tarifvertrag 9 40 ff. – Vergütungsordnungen 9 46 – Zeitpunkt 9 48 ff. Ablösungsprinzip 9 74 Abschlussgebote – gesetzliche Diskriminierungsverbote 4 47 – normative Tarifregelungen 4 46 ff. Abschlussnormen 4 9, 42 ff. – Abschlussgebote 4 46 ff. – Abschlussverbote 4 54 ff. – Befristungsregelungen als Beendigungsnorm 4 78 – Formerfordernisse 4 44 f. – Quotenregelungen 4 53 – Übernahme von Auszubildenden 4 51 – Übernahme von Leiharbeitnehmern 4 52 – Wiedereinstellungsklauseln 4 49 f. Abschlussverbote 4 54 ff. – Günstigkeitsprinzip 9 149

AEntG siehe Tarifgeltung aufgrund des AEntG AGB-Kontrolle – Anrechnung von Tariflohnerhöhungen aufgrund Vorbehalt 9 208 ff. – Anrechnung von Tariflohnerhöhungen ohne Vorbehalt 9 211 ff. – Bereichsausnahme bei Regelungsabreden 13 51 ff. – Bezugnahmeklauseln siehe AGBKontrolle von Bezugnahmeklauseln – nachwirkender Tarifvertrag 9 47 – Regelungsabreden für betriebliche Beschäftigungsbündnisse 13 50 ff., 64 ff. AGB-Kontrolle von Bezugnahmeklauseln 10 16 ff. – Arbeitsordnung, einseitig aufgestellte 13 62 – Auslegung 10 24 ff. – BAT-Verweis u.ä. 10 34 f. – Bestimmtheitsgebot 10 39 – betriebliches Beschäftigungsbündnis 13 57 ff. – branchen- oder ortsfremde Tarifverträge 10 21 – Differenzierungsklauseln 10 27 ff. – dynamische Bezugnahme 10 25 – dynamische Verweisungen und Überraschungsschutz 10 22 f. – Einbeziehung in den Vertrag 10 18 ff. – Einzel- und Teilverweisung auf einschlägigen Tarifvertrag 10 43 ff. – Globalverweisung 10 42 1243

Stichwortverzeichnis

– Inhaltskontrolle der Bezugnahmeklauseln 10 36 ff. – Inhaltskontrolle der Tarifnormen 10 40 ff. – Jeweiligkeitsklauseln 10 19 – kirchlich-diakonische Arbeitsvertragsregelungen 13 63 – Tarifpluralität 10 32 f. – Transparenzgebot 10 38 – überraschende Klauseln 10 20 ff. – Unklarheitenregel 10 24, 26 – Verweisungen auf branchenfremde Tarifverträge 10 46 Akkordlohn 5 (3) 6 Allgemeinverbindlicherklärung 7 2 ff. – Ablauf des erstreckten Tarifvertrags 7 78 f. – allgemeinverbindlicherklärbarer Tarifvertrag 7 36 ff. – Antrag 7 20 ff. – Arbeitnehmerschutz 7 5 – Aufhebung der ~ 7 80 – ausländische Arbeitnehmer und Arbeitgeber 7 75 ff. – Befristung der ~ 7 81 – Bekanntmachung 7 31 ff. – Berechnung des Quorums 7 43 ff. – Beteiligungsverfahren 7 25 – betroffene Tarifverträge 7 4 – Einvernehmen des Tarifausschusses 7 26 ff. – Entscheidung des Ministeriums 7 29 f. – erfasste Arbeitsverhältnisse 7 68 ff. – Finanzierung gemeinsamer Einrichtungen 7 11 ff. – formelle Voraussetzungen 7 20 ff. – Geltungsbereich des Tarifvertrags 8 12 – gemeinsame Einrichtungen 4 110; 8 106 f. – Grundprinzipien der Erstreckungswirkung 7 63 ff. – und Grundrechte 3 183 – Herauswachsen aus dem Geltungsbereich 7 88 f. 1244

– inzidente Rechtmäßigkeitsprüfung 7 97 – materielle Voraussetzungen 7 35 ff. – Mindestarbeitsbedingungen durch das MiArbG 7 192 – Nachwirkung nach Ende der ~ 7 82 ff. – Nachwirkung bei Herauswachsen aus dem Geltungsbereich eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrags 7 86 – öffentliches Interesse 7 50 ff. – OT-Mitgliedschaft 7 92 – Outsourcing 7 93 – Prüfung des Quorums 7 41 f. – Prüfungsmaßstab des öffentlichen Interesses 7 52 ff. – Quorum 7 39 ff. – Rechtsnatur 7 15 ff. – Rechtsschutz 7 94 ff. – Rechtsschutz gegen Ablehnung 7 95 – Rechtsschutz gegen ausgesprochene ~ 7 96 – Rückwirkung 7 60 ff. – sozialer Notstand 7 57 ff. – und speziellerer anderer Tarifvertrag 14 71 f. – staatlicher Rechtsetzungsakt 7 3, 16 – Stärkung der Koalitionen 7 9 ff. – Tarifgebundenheit als Wirkung 7 63 ff. – Tarifgeltung aufgrund des AEntG 7 119 f. – Tarifkonkurrenz 7 71 ff. – Tarifpluralität 9 129 f. – teilweise 7 34 – Verfassungsmäßigkeit von § 5 TVG 7 98 f. – Vermeidung allgemeinverbindlicher Tarifverträge 7 87 ff. – Voraussetzungen 7 19 ff. – Vorliegen des öffentlichen Interesses 7 55 f. – Wettbewerbsregulierung 7 6 ff. – Zuständigkeit 7 19 – Zweck 7 5 ff.

Stichwortverzeichnis

– Zweck des öffentlichen Interesses 7 51 – Zweck des Quorums 7 40 Altersgrenzen – Altersdiskriminierung 5 (1) 7 – Altersdiskriminierung bei Piloten 5 (1) 37 ff. – Anwendung von § 41 Satz 2 SGB VI 4 83; 5 (1) 9 – Befristungsvereinbarungen 5 (1) 5 f. – MTV Cockpitpersonal Lufthansa 5 (1) 10, 34 ff. – normative Tarifregelungen 4 79 ff. – Rechtfertigung nach BAG 5 (1) 15 ff. – Regelaltersgrenze 4 81; 5 (1) 2 – TVöD 5 (1) 9, 11 ff. – typische Tarifnormen 5 (1) 1 ff. – unterhalb der gesetzlichen Regelaltersgrenze 4 82; 5 (1) 34 ff. – Vereinbarkeit mit Gemeinschaftsrecht 5 (1) 23 ff. – Zweck 5 (1) 1 Änderungskündigung – fehlerhafte Eingruppierung 5 (11) 10 f. Änderungsvertrag – Ablösung nachwirkender Tarifverträge 9 45 Anerkennungstarifvertrag 11 7 – Abkoppelung von der Vergütungsautomatik 11 62 – Abweichungen von den Flächentarifverträgen 11 8 – Begriff 11 58 f. – dynamische oder statische Anerkennung 11 61 – Friedenspflicht 11 72 – Nachwirkung des ~s 11 65 ff. – Status der Tarifgeltung 11 61 ff. – Übernahme fremder Tarifregelungen 11 63 – Umfang der Anerkennung 11 60 Anfechtung – Kündigung des normativen Teils 3 160 ff. – des normativen Teils 3 160 ff.

– schuldrechtliche Koalitionsvereinbarungen 3 163 f. Anhänge des Tarifvertrags 3 62 ff. Anlagen des Tarifvertrags 3 49 f., 62 ff. Annahmeverzug – MTV Chemie West 5 (2) 6, 15 ff. – MTV ERA Metall- und Elektroindustrie Südwürttemberg-Hohenzollern 5 (2) 5, 7 ff. – typische Tarifnormen 5 (2) 1 ff. Anrechnung von Tariflohnerhöhungen 9 201 ff. – Grenzen 9 214 ff. – Mitbestimmung 9 217 – Vorbehalt 9 208 ff. – ohne Vorbehalt 9 211 ff. Anwachsung 15 205 f. Arbeitgeberbegriff 2 96 ff.; 11 14 – und Haustarifvertrag 11 14 – jeweiliger Rechtsträger 2 97 – juristische Personen 2 98 ff. – Konzern 2 101 ff. – Vertragspartner des Arbeitnehmers 2 97 Arbeitgeberverband – siehe auch OT-Mitgliedschaft; Tariffähigkeit von Spitzenorganisationen; Verbandsrecht; Verbandswechsel – Beitritt des einzelnen Arbeitgebers und Verlust der Tariffähigkeit 2 108 ff. – Blitzaustritt/-wechsel 2 6 ff.; 6 48 ff.; 14 9 f. – Gastmitgliedschaft 2 153 Arbeitnehmerähnliche Personen – normative Tarifregelungen 4 7 Arbeitnehmerentsendung siehe Tarifgeltung aufgrund des AEntG Arbeitsbefreiung – Anzeige-, Nachweis- und Genehmigungspflichten 5 (4) 15 – Entgeltfortzahlung 5 (4) 16; 5 (12) 14 – normative Tarifregelungen 4 34 – TVöD 5 (4) 2 – typische Tarifnormen 5 (4) 1 ff. 1245

Stichwortverzeichnis

– Verhältnis zu § 616 BGB 5 (4) 3 ff. Arbeitsbereitschaft – MTV Chemie 5 (5) 11, 32 ff. Arbeitsentgelt – Abrechnung 5 (3) 12 – Absenkung in Sanierungstarifvertrag 12 30 – Akkordlohn 5 (3) 6 – Anrechnung von Tariflohnerhöhungen siehe dort – Arbeitsbewertung 5 (3) 10 – Aussetzung/Reduzierung von Tariflohnerhöhungen in Sanierungstarifvertrag 12 33 – Auszahlung 5 (3) 11 – Bundesentgelttarifvertrag Chemie 5 (3) 2 – Eingruppierung siehe dort – Einmalzahlungen 5 (3) 9 – Entgeltsysteme 5 (3) 4 ff. – Fälligkeit 5 (3) 11 – Flexibilisierung 5 (3) 7 – Haustarifvertrag 11 104 – Leistungsentgelt 5 (3) 7 – Mehrarbeit 5 (15) 12 ff. – Mindestentgeltsätze und von AEntG erfasste Branchen 7 115 f. – Mitbestimmung 5 (3) 13 – normative Tarifregelungen 4 21 ff. – TVöD (Bund) zu Leistungsentgelt 5 (3) 3 – typische Tarifnormen 5 (3) 1 ff. – Zeitlohn 5 (3) 5 – Zulagen-/Zuschlagsregelungen siehe dort Arbeitsgerichtsbarkeit – Informationspflichten bei Rechtsstreiten mit Tarifbezug 16 106 ff. Arbeitskampf siehe Streik Arbeitsplatzsicherung siehe Beschäftigungssicherungszusagen Arbeitsverhältnis – Abschlussnormen siehe dort – Anknüpfungspunkt für die Tarifvertragsnormen 4 3 ff. 1246

Arbeitsverhinderung siehe Arbeitsbefreiung Arbeitsvertrag – günstiger als Betriebsvereinbarung 9 155 – günstiger als Tarifvertrag 9 143 ff. Arbeitsvertragsstatut – Tarifvertragsstatut 17 33 ff. Arbeitszeit – Begriff 5 (5) 5 – Dauer 5 (5) 6 – EMTV Metall 5 (5) 12, 37 ff. – Erhöhung ohne Entgeltausgleich in Sanierungstarifvertrag 12 29 – Haustarifvertrag 11 103 – individualvertragliche Vereinbarung 5 (5) 9 – Jahres~ 5 (5) 7 – Lage 5 (5) 8 – MTV Chemie zur ~ 5 (5) 10 f., 16 ff. – normative Tarifregelungen 4 14 ff. – normative Tarifregelungen der Verteilung 4 18 ff. – Öffnungsklauseln 4 19 – TVöD 5 (5) 13 ff., 42 ff. – TVöD zu ~konto 5 (5) 15, 46 – typische Tarifnormen 5 (5) 1 ff. AT-Mitarbeiter – Geltung Haustarifvertrag 11 87 f. Aufhebungsvertrag – Tarifvertrag 3 215 – Verbandsmitgliedschaft 6 44 ff. Ausgleichsquittung – Verzichtsverbot 9 56 Ausländisches Vertragsstatut – Allgemeinverbindlicherklärung 7 75 ff. Auslandsberührung – Auslandsarbeit, Einbeziehung im deutschen Tarifvertrag 17 52 ff. – „Ausstrahlung“ des deutschen Tarifvertrags 17 50 f., 55 ff. – räumlicher Geltungsbereich 8 38 Auslegung – Satzung 2 15 – Tarifvertrag siehe Auslegung des Tarifvertrags

Stichwortverzeichnis

Auslegung des Tarifvertrags 3 128 ff. – Andeutungstheorie 3 136 – anwendungsorientierte 3 141 f. – arbeitnehmerfreundliche 3 150 – Auskünfte der Tarifvertragsparteien 3 143 – gesetzeskonformer Tarifvertrag nach Willen der Tarifvertragsparteien 3 149 – Gesetzeswiederholung 3 148 – Lückenschließung 3 151 ff. – normativer Teil 3 129 ff. – Normcharakter der Übereinkunft 3 157 ff. – objektive Gesetzesauslegung 3 129 f. – Praxis der Tarifanwendung 3 146 – Rechtsbegriffe 3 144 – schuldrechtlicher Teil 3 155 f. – Verständnismöglichkeit der Normunterworfenen 3 134 ff. – Wille der Tarifvertragsparteien 3 131 ff. Auslegung im Betrieb 3 108 ff. – Mindestarbeitsbedingungen 3 111 ff. – und Nachweisgesetz und -richtlinie 3 118 ff. – Tarifverträge 3 108 ff. – Verletzung der Pflicht 3 114 ff. – Wirkung 3 114 ff. Ausschluss aus dem Verband 6 53 ff. – automatische Beendigung der Mitgliedschaft 6 59 – gerichtliche Überprüfung 6 57 – Grund 6 55 ff. – Streichung 6 58 – wichtiger Grund 6 54 ff. Ausschlussfristen – arbeitsvertragliche Ansprüche 5 (22) 13 – einseitige 5 (22) 17 – einstufige 5 (22) 6 – Ersetzung der außergerichtlichen Geltendmachung durch Klage 16 75 ff.

– Fälligkeit des Anspruchs 5 (22) 6 – Form der Geltendmachung 5 (22) 11 – Frist für Klageerhebung 16 77 – Geltendmachung 5 (22) 9 ff. – gerichtliche Geltendmachung 16 77 ff. – Grenzen 5 (22) 18 – Inhaltskontrolle 5 (22) 18 – Klageerhebung/-einreichung 16 78 – Kündigungsschutzklage als Geltendmachung 16 76 – normative Tarifregelungen 4 39 – Regelungskompetenz 5 (22) 12 ff. – Sozialplanansprüche 5 (22) 14 – streitiger Bestand des Arbeitsverhältnisses 16 79 ff. – und Tarifgeltung aufgrund des AEntG 7 143 – tarifliche Rechte 5 (22) 13 – typische Tarifnormen 5 (22) 1 ff. – unabdingbare gesetzliche Ansprüche 5 (22) 15 – Urlaubsabgeltungsanspruch 5 (21) 6; 5 (22) 16 – und Verjährung 9 72 – Wiedereinsetzung 16 83 – zweistufige 5 (22) 7 f. Außenseiter – betriebliche Beschäftigungsbündnisse 13 27 – gemeinsame Einrichtung 4 109 – Haustarifvertrag 11 90 – Klauseln 10 126 f. – Sanierungs-/Verbandstarifvertrag, Verhältnis, wenn nur Arbeitgeber verbandsangehörig 12 68 ff. Außerordentliche Kündigung 3 224 ff. – normative Tarifregelungen 4 70 – Tarifvertrag und Nachbindung 9 30 – Unkündbarkeit 5 (20) 14 ff. – Verbandsmitgliedschaft 6 43 Aussperrung – Geltungsbereich des Tarifvertrags 8 19 1247

Stichwortverzeichnis

Beendigungsnormen 4 9, 42, 61 ff. – Altersgrenzen 4 79 ff. – außerordentliche Kündigung 4 70 – Befristungsregelungen 4 73 ff. – Befristungsregelungen als Abschlussnorm 4 78 – besonderer Kündigungsschutz 4 71 f. – Formerfordernisse 4 62 f. – Kündigungsfristen 4 65 ff. – Kündigungsgründe 4 69 f. – Kündigungsregelungen 4 64 ff. – Sozialauswahlrichtlinien 4 69 Befristeter Arbeitsvertrag 5 (6) 1 ff. – Abschluss- oder Beendigungsnorm 4 78 – MTV Wach- und Sicherheitsgewerbe 5 (6) 8 f., 21 ff. – normative Tarifregelungen 4 73 ff. – Sachgrundbefristung, Tarifdispositivität 5 (6) 4 f. – sachgrundlose Befristung 4 77 – sachlicher Grund 4 74 ff. – Tariföffnungsklausel 5 (6) 2 ff. – TV zu Kurzarbeit, Qualifizierung und Beschäftigung Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg 5 (6) 9, 25 ff. – TVöD 5 (6) 6 f., 10 ff. – TVöD zur bevorzugten Besetzung von Dauerarbeitsplätzen 5 (23) 9, 22 ff. – TVöD zu Führung auf Probe 5 (6) 7, 17 ff. – typische Tarifnormen 5 (6) 1 ff. Berufsausbildungsverhältnisse – normative Tarifregelungen 4 6 – Übernahmeverpflichtung nach erfolgreichem Abschluss 4 51 Berufsverbandsprinzip 2 221, 227 Berufung – Zulassung 16 95 ff. Beschäftigungssicherungszusagen – betriebliche Beschäftigungsbündnisse 13 83 ff. – Eindeutigkeit 13 84 – Haustarifvertrag 11 106 1248

– TV Beschäftigungssicherung Metall NRW 5 (19) 11, 18 ff. – TV Rationalisierungsschutz und Beschäftigungssicherung T-Systems Business Services 5 (19) 10, 15 ff. – typische Tarifnormen 5 (19) 1 ff. – Umfang 13 85 ff. – Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen 5 (19) 18 f. Beschäftigungszeit – Maßregelungsverbot 5 (14) 14 Beschlussverfahren zur Feststellung der Tariffähigkeit 2 141 ff. – Amtsermittlungsgrundsatz 2 146 – Antragsbefugnis einer konkurrierenden Gewerkschaft 2 143 – Antragsbefugnis der obersten Arbeitsbehörde 2 144 – Antragsberechtigung 2 142 – Aussetzung des Rechtsstreits 2 147 – Beteiligte 2 145 Beschlussverfahren zur Feststellung der Tarifzuständigkeit 2 242 ff. – Antragsberechtigung 2 243 – Bindungswirkung 2 245 – Rechtsschutzbedürfnis 2 244 Besetzungsregeln – MTV Druck 5 (7) 8 ff. – normative Tarifregelungen 4 87 f. – typische Tarifnormen 5 (7) 1 ff. Besonderer Kündigungsschutz – ältere Mitarbeiter 4 71 – normative Tarifregelungen 4 71 f. – Rationalisierungsmaßnahmen 4 72 Betrieb – Anknüpfungspunkt für sektoralen Geltungsbereich 8 50 ff. Betriebliche Altersversorgung – Betriebsübergang und Tarifablösung 15 106 ff. Betriebliche Beschäftigungsbündnisse 5 (19) 8 – Ablehnung der Zusammenarbeit mit Gewerkschaft 13 13 – Ausgangssituationen 13 12 ff.

Stichwortverzeichnis

– Ausschluss von Outsourcing-Maßnahmen 13 96 – Ausschluss der Zustimmungsverweigerer von freiwilligen Vergütungserhöhungen 13 104 ff. – bedingtes Inkrafttreten der einzelvertraglichen Änderungsvereinbarungen 13 101 – Beendigung der Betriebsvereinbarung 13 115 ff. – Beendigung der Regelungsabrede 13 118 ff. – Begriff 13 1 – Beschäftigungssicherung mit Ausnahmen 13 87 f. – Beschäftigungssicherungszusagen 13 83 ff. – Besserungsscheinregelungen 13 81 – Beteiligte 13 110 f. – betriebliche Beschäftigungsbündnisse nach gescheiterten Verhandlungen über Haustarifvertrag 13 14 – Betriebsvereinbarung bei nicht tarifgebundenem Arbeitgeber 13 29 f. – Betriebsvereinbarung bei tarifgebundenem Arbeitgeber 13 20 ff. – Betriebsvereinbarung, keine Zustimmung der Mitarbeiter 13 44 – Bewertung der Einsparpotentiale 13 80 – Bezugnahme auf betriebliches Beschäftigungsbündnis siehe dort – Burda 13 7 – Fallbeispiel 13 123 – fehlende tarifliche Regelung 13 23 – gescheiterte Haustarifvertrags-Vereinbarungen 13 14 – Gestaltung der Arbeitsverträge für Neueinstellungen 13 102 – Gestaltungsspielraum nach Beendigung der Tarifbindung des Arbeitgebers 13 32 ff. – Gestaltungsspielraum nach Wechsel in OT-Mitgliedschaft 13 32 ff. – gewerkschaftsfreies Unternehmen 13 12 – Günstigkeitsprinzip 9 189 ff.; 13 28

– „harte“ Beschäftigungssicherung ohne Ausstiegsmöglichkeit 13 86 – inhaltliche Gestaltung 13 78 ff. – Innovationsbündnis 13 8 – Investitionszusagen 13 94 f. – Kommunikation während der Verhandlungen 13 113 – Krisenbündnis 13 3 ff. – Nachwirkung der Betriebsvereinbarung 13 116 – Nachwirkung der Regelungsabrede 13 120 – Nicht-Gewerkschaftsmitglieder 13 27 – Öffnungsklausel 13 22 – Rechtsfolgen bei fehlender Nachwirkung der Regelungsabrede 13 122 – Rechtsfolgen bei Nachwirkung der Regelungsabrede 13 121 – Rechtsgrundlage 13 9 ff. – Regelungsabreden für betriebliche Beschäftigungsbündnisse siehe dort – Rolle des anwaltlichen Beraters 13 114 – Sonderkündigungsrecht 13 103 – Standortgarantien 13 93 – tarifrechtliche Regelungsgrenzen 13 16 ff. – Tarifvorbehalt 13 18 – Tarifvorrang 13 17, 20 – typische Beiträge der Arbeitnehmer 13 78 ff. – typische Einsparpotenziale 13 79 – typische Gegenleistungen des Unternehmens 13 82 ff. – Übernahmegarantie für Auszubildende 13 97 – Unterlassungsanspruch der Gewerkschaft gegen Betriebsvereinbarung 13 67 f. – Unterlassungsanspruch der Gewerkschaft gegen Regelungsabreden 13 69 ff. – Unterstützungsklausel des Betriebsrats 13 109 – Verhalten bei Gegenreaktion der Gewerkschaft 13 112 1249

Stichwortverzeichnis

– Vissmann 13 6 – Wechsel in OT-Mitgliedschaft 13 40 ff. – auf Wunsch der Betriebsparteien 13 15 – Zusicherung einer Personaldecke 13 89 ff. – Zustimmungserfordernis der Mitarbeiter 13 43 ff. – Zustimmungsquote 13 100 – „Zwei-Klassen-Gesellschaft“ 13 99 ff. Betriebliche Bündnisse für Arbeit siehe Betriebliche Beschäftigungsbündnisse Betriebliche Übung – Bezugnahme kraft betrieblicher Übung siehe dort – dogmatische Grundlagen 10 104 ff. Betriebsänderung – Tarifsozialplan 12 120 f., 135 ff. Betriebsbedingte Kündigungen – Sanierungstarifvertrag mit Voraussetzungen für ~ 12 42 – Verzicht auf ~ 5 (19) 18 f. Betriebsnormen 4 10, 84 ff.; 6 90 ff. – Begriff 6 92 f. – Besetzungsregelungen 4 87 f. – Fortgeltung nach Betriebsübergang 15 53 – Gemeinschaftsbetrieb 6 91 – Grundrechtsverstoß 3 181 f. – Günstigkeitsprinzip 9 150 – Kurzarbeitsregelungen 5 (13) 8 – notwendiger Regelungswille 4 91 – Organisationsregelungen 4 89 f. – restriktive Auslegung 4 86 – Tarifgebundenheit des Arbeitgebers/eines Arbeitnehmers 6 95 – Verfassungsmäßigkeit von § 3 Abs. 2 TVG 6 95 Betriebsratsmitglieder – Maßregelungsverbot und Streik 5 (14) 11 Betriebsratsstrukturen, besondere 4 95 ff.; 15 207 ff. – Struktur-Tarifvertrag 11 11 f. – Tarifvorbehalt 9 241 f. 1250

Betriebsrentner – normative Tarifregelungen 4 5 Betriebsrisiko – MTV Chemie West 5 (2) 6, 15 ff. – MTV ERA Metall- und Elektroindustrie Südwürttemberg-Hohenzollern 5 (2) 5, 7 ff. – typische Tarifnormen 5 (2) 1 ff. Betriebsrisikolehre – Entgeltfortzahlung 5 (12) 13 Betriebsübergang 15 16 ff. – siehe auch Umstrukturierung – Ablösung durch beim Betriebserwerber einschlägige Tarifverträge siehe Tarifablösung bei Betriebsübergang – Anwachsung 15 205 f. – Begriff 15 17 – Bezugnahme auf Tarifvertrag und Betriebsübergang siehe dort – Fortgeltung nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB siehe Fortgeltung nach Betriebsübergang – grenzüberschreitender 15 26 ff. – große dynamische Bezugnahmeklauseln 10 93 ff. – identische Tarifbindung des Erwerbs 15 31 ff. – identitätswahrender Übergang 15 18 ff. – identitätswahrender Übergang der wirtschaftlichen Einheit 15 20 ff. – kleine dynamische Bezugnahmeklauseln als Altklausel 10 70 f. – kollektivrechtliche Fortgeltung von Firmentarifverträgen 15 36 ff. – kollektivrechtliche Fortgeltung von Tarifverträgen 15 29 ff. – kollektivrechtliche Fortgeltung von Verbandstarifverträgen 15 32 ff. – Nachweis geänderter wesentlicher Vertragsbedingungen 15 166 – und Nachwirkung von Tarifnormen 9 29 – Normwirkung bei Tarifverträgen 9 6 f. – rechtsgeschäftliche Veranlassung 15 24 f.

Stichwortverzeichnis

– Sanierungstarifvertrag und Betriebsübergang siehe dort – übergangsfähiger Betrieb 15 18 f. – übergangsfähiges Betriebsteil 15 18 f. – und Umwandlung 15 181 f. – Unterrichtung bei Betriebsübergang siehe dort – Wechsel des Betriebsinhabers 15 23 Betriebsvereinbarung – siehe auch Tarifvorbehalt – ablösende ~ gemäß § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB 15 89 ff. – Ablösung nachwirkender Tarifverträge 9 44 – Arbeitsvertrag als günstigere Regelung 9 155 – Ausschlussklauseln 5 (22) 14 – betriebliches Beschäftigungsbündnis bei nicht tarifgebundenem Arbeitgeber 13 29 f. – betriebliches Beschäftigungsbündnis bei tarifgebundenem Arbeitgeber 13 20 ff. – betriebliches Beschäftigungsbündnis, keine Zustimmung der Mitarbeiter zur ~ 13 44 – Bezugnahme auf Tarifvertrag 10 121 ff. – günstigere Regelung als Tarifvertrag 9 146 ff. – Haustarifvertrag 11 43 ff. – Haustarifvertrag, Überschneidungen 11 98 – Öffnungsklauseln 5 (17) 9 f. – Sanierungsbetriebsvereinbarung siehe dort – Überkreuzablösung 15 90 ff. – Unterlassungsanspruch der Gewerkschaft gegen betriebliches Beschäftigungsbündnis 13 67 f. Betriebsverfassungsrechtliche Tarifregelungen 4 10, 84 f., 92 ff. – Betriebsorganisation 4 95 ff. – Erweiterung von Mitbestimmungsrechten 4 99 ff.

– Vorrang der Betriebsverfassung 4 93 f. – Zuordnungstarifvertrag 4 96, 98 – Zusammenfassung von Betrieben 4 97 Betriebszugehörigkeit – Maßregelungsverbot 5 (14) 14 Bezugnahme kraft betrieblicher Übung 10 103 ff. – Beendigung 10 119 f. – betriebliche Übung 10 104 ff. – einzelne Tarifklauseln 10 115 f. – entgegenstehende Absprachen 10 111 ff. – ganzer Tarifvertrag 10 115 f. – Inhalt 10 114 ff. – negative betriebliche Übung 10 120 – regelmäßig wiederkehrendes, gleichförmiges Verhalten 10 107 ff. – schuldrechtliche Ansprüche 10 114 – statische/dynamische Wirkung 10 117 ff. – Tarifbindung kraft betrieblicher Übung 10 107 ff. Bezugnahme auf betriebliches Beschäftigungsbündnis – AGB-Kontrolle 13 57 ff. – dynamische 13 60 ff. – statische 13 59 Bezugnahme auf Tarifvertrag 10 1 ff. – AGB-Kontrolle von Bezugnahmeklauseln siehe dort – allgemeine Zulässigkeit 10 9 ff. – Altklausel/Neuklauseln 10 64, 67 ff. – Altverträge 15 120 f. – und anderer, konkurrierender Tarifvertrag 9 96 f. – arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz 10 128 ff. – keine Auslagepflicht 10 15 – kraft betrieblicher Übung siehe Bezugnahme kraft betrieblicher Übung 1251

Stichwortverzeichnis

– Betriebsübergang siehe Bezugnahme auf Tarifvertrag und Betriebsübergang – durch Betriebsvereinbarung 10 121 ff. – deklaratorische 10 48 ff. – dynamische 13 61; 15 115 ff. – dynamische ~ und Sanierungstarifvertrag und Arbeitnehmer-Außenseiter 12 72 ff. – eindeutige Bezeichnung des Tarifvertrags 10 14 – einfache Differenzierungsklauseln 5 (8) 11 – Einzel- und Teilweisung 10 99 ff. – firmenbezogener Verbandstarifvertrag 12 12 – Form 3 51; 10 12 ff. – Formulierungsvorschlag für nicht tarifgebundene Arbeitgeber 10 133 – Formulierungsvorschlag für tarifgebundene Arbeitgeber 10 132 – Gleichstellungsabrede 10 59 ff., 89; 15 118 ff. – große dynamische ~ 10 83 ff.; 15 116 – große dynamische ~ als Tarifwechselklausel 10 86 ff. – große dynamische ~ und Verbandsaustritt 14 23 ff. – Haustarifvertrag 11 27, 46 ff. – Haustarifvertrag, Risiken bei ~ 11 94 ff. – Herauswachsen aus dem Geltungsbereich eines Tarifvertrags 14 76 – kleine dynamische ~ 10 58 ff.; 15 116 – kleine dynamische ~ mit Gleichstellungscharakter und Verbandsaustritt 14 23, 25 – kleine dynamische ~ und Verbandsaustritt 14 21 f. – konstitutive 10 48 ff. – konstitutive Ewigkeitsbindung bei kleiner dynamischer ~ 10 62 ff., 74 ff. – konstitutive Wirkung bei beidseitiger Tarifbindung 10 8 1252

– Nachweispflichten 10 13 f. – normativ nicht geltender Tarifvertrag und kleine dynamische ~ als Altklausel 10 72 f. – keine normative Wirkung 10 6 – Normwirkung bei Tarifverträgen 9 8 f. – Offenlegung der Gewerkschaftsmitgliedschaft 9 122 ff. – Sanierungstarifvertrag und kleine dynamische ~ 10 79 ff. – schuldrechtlicher Charakter 10 7 – statische 10 53 ff.; 15 115 – statische ~ und Sanierungstarifvertrag und Arbeitnehmer-Außenseiter 12 71 – statische ~ und Verbandsaustritt 14 20, 22 – Tarifbindungsänderung und große dynamische ~ 10 90 ff. – Tarifpluralität 9 121 – Tarifsukzession und kleine dynamische ~ 10 78 – tarifvertragliche Außenseiterklauseln 10 126 f. – Tarifwechselklausel 15 123 ff. – Umstrukturierung 15 10 – Unwirksamkeit des Tarifvertrags 3 169 – keine Veränderungssperre nach § 613a Abs. 1 Satz 4 Alt. 2 BGB 15 81 ff. – Verbandsaustritt 14 19 ff. – Verbandsaustritt und kleine dynamische ~ als Altklausel 10 68 – Verbandsaustritt bei statischer ~ 10 55 f. – Verbandswechsel 14 45 ff., 61 – Verbandswechsel und große dynamische ~ 10 91 f., 98 – Verbandswechsel und kleine dynamische ~ als Altklausel 10 69 – Verbandswechsel bei statischer ~ 10 55, 57 – Wirkung von kleiner dynamischer ~ als Neuklausel 10 74 ff. – Wirkungen 10 6 ff.

Stichwortverzeichnis

Bezugnahme auf Tarifvertrag und Betriebsübergang 15 112 ff. – bestehende Tarifbindung des Erwerbers bei großer dynamischer Bezugnahme 15 149 ff. – Fallkonstellationen 15 130 ff. – fehlende Tarifbindung des Erwerbers bei großer dynamischer Bezugnahme 15 149 ff. – Gleichstellungsabrede 15 133 ff. – große dynamische ~ 10 93 ff.; 15 148 ff. – große dynamische Bezugnahme auf Sanierungstarifvertrag 12 106 – kleine dynamische ~ 15 132 ff. – kleine dynamische ~ als Altklausel 10 70 f. – kleine dynamische Bezugnahme auf Sanierungstarifvertrag 12 105 – Sanierungstarifvertrag 12 103 ff. – statische 15 131 – Tarifbindung, bestehende des Erwerbers bei kleiner dynamischer Bezugnahmeklausel 15 139 ff. – Tarifbindung, fehlende des Erwerbers bei kleiner dynamischer Bezugnahmeklausel 15 133 ff. – Tarifwechselklausel 15 123 ff., 148 ff. – Übergang der Rechte und Pflichten aus der Bezugnahmeklausel 15 127 – Unterrichtung bei Betriebsübergang 15 165 – Verhältnis zu normativ anwendbaren Tarifverträgen beim Erwerber 15 127 ff. Blitzaustritt 2 6 ff.; 6 48 ff.; 14 9 f. – während Tarifverhandlungen 14 9 Bündnis für Arbeit siehe Betriebliche Beschäftigungsbündnisse DGB-Gewerkschaften – Schiedsstelle 2 249 ff. – Spezialitätsprinzip bei Tarifverträgen mehrere ~ 9 83 f.

– verbandsinterne Klärung der Tarifzuständigkeiten 2 247 ff. Differenzierungsklauseln – AGB-Kontrolle von Bezugnahmeklauseln 10 27 ff. – AWO-Haustarifvertrag zu einfachen ~ 5 (8) 4 – Bezugnahmeklausel und einfache ~ 5 (8) 11 – einfache 5 (8) 1, 3, 8 ff. – Entwicklung der Rechtsprechung 5 (8) 2 – gemeinsame Einrichtungen 5 (8) 17 – Großer Senat zu ~ 5 (8) 7 – Haustarifvertrag 11 73 ff. – mittelbare 5 (8) 17 – negative Koalitionsfreiheit bei einfachen ~ 5 (8) 9 f., 12 f. – qualifizierte 5 (8) 1, 14 ff. – Sanierungstarifvertrag 12 46 ff. – Spannenklausel 5 (8) 7, 14 f. – Tarifausschlussklauseln 5 (8) 16 – Tarifmacht bei einfachen ~ 5 (8) 10 – TV Erholungsbeihilfe zu qualifizierten ~ 5 (8) 5 – typische Tarifnormen 5 (8) 1 ff. – Urlaubsgeld 5 (8) 6 – Verbotsklauseln 5 (8) 16 Direktionsrecht – normative Tarifregelungen 4 37 Direktionsrechtsklauseln – Bestimmungsklauseln 5 (9) 13 – billiges Ermessen 5 (9) 11 – Kündigungsrecht 5 (9) 5 ff. – Mitbestimmung 5 (9) 9 f. – MTV Chemie zu Kurzarbeit 5 (9) 3 – TVöD 5 (9) 2 – typische Tarifnormen 5 (9) 1 ff. – Versetzung 5 (9) 8 Diskriminierung nach AGG – Altersgrenzenregelungen 5 (1) 7 – Altersgrenzenregelungen bei Piloten 5 (1) 37 – Rechtsfolgenproblematik bei Verstößen 3 187 ff. 1253

Stichwortverzeichnis

Diskriminierungsverbot – persönlicher Geltungsbereich eines Tarifvertrags 8 82 ff. – Rechtsfolgenproblematik bei Verstößen 3 187 ff. Durchführungspflicht 4 122 ff. – Einwirkungsklage 16 18 Effektivklauseln – typische Tarifnormen 5 (10) 1 ff. Eingruppierung 5 (3) 10 – Altersdiskriminierung 4 26 – Änderungskündigung bei falscher ~ 5 (11) 10 f. – Arbeitsplatzbewertung 5 (11) 2 f. – Definition 5 (11) 6 – Entgeltschema 5 (11) 1 – ERTV Chemie 5 (11) 4 ff. – und fachlicher Geltungsbereich eines Tarifvertrags 8 70 ff. – fehlerhafte 5 (11) 10 ff. – korrigierende Rückgruppierung im öffentlichen Dienst 5 (11) 11 – Mitbestimmung 5 (11) 14 ff. – normative Tarifregelungen 4 25 ff. – Tarifautomatik 5 (11) 7 – tarifliches Reklamations- oder Beanstandungsverfahren 5 (11) 13 – typische Tarifklauseln 5 (11) 1 ff. – Unterrichtung des Betriebsrats vor Ein- oder Umgruppierung 5 (11) 16 – Verfahren 5 (11) 7 ff. – vorübergehend höherwertige Tätigkeit 5 (11) 9 – Zustimmungsersetzungsverfahren 5 (11) 19 – Zustimmungsverweigerung des Betriebsrats 5 (11) 17 f. Eingruppierungsfeststellungsklage 5 (11) 12; 16 84 ff. – Antrag 16 85 – einzelne Elemente eines Rechtsverhältnisses 16 90 – Prüfungsumfang 16 86 ff. – Rechtsschutzinteresse 16 89 ff. – vergangenheitsbezogene Feststellung 16 91 1254

– Widerklage 16 92 – Zinsen 16 94 – Zwischenfeststellungsklage 16 93 Einwirkungsklage 16 18 ff. – Antrag 16 21 ff. – Durchführungspflicht 16 18 – Mittel 16 20 – Zwangsvollstreckung 16 24 Ende der zwingenden Tarifgeltung 3 200 ff.; 9 19 – anderweitiger Tarifabschluss 3 216 ff. – Aufhebungsvertrag 3 215 – Auflösung eines Arbeitgeberverbands 3 205 f. – außerordentliche Kündigung 3 224 ff. – Gemeinschaftsbetrieb, Auflösung 3 202 – ordentliche Kündigung 3 207 ff. – Tariffähigkeit, Wegfall 3 203 – Tarifgebundenheit, Wegfall 3 204 – Tarifzuständigkeit, Wegfall 3 203 – Veränderungen bei den Tarifvertragsparteien 3 200 ff. Entgeltfortzahlung – Arbeitsbefreiung siehe dort – Bemessungsgrundlage 5 (12) 4 – Berechnungsgrundlage 5 (12) 6 – Berechnungsmethode 5 (12) 5 – Betriebsrisikolehre 5 (12) 13 – Feiertage 5 (12) 12 – Krankheit 5 (12) 3 ff. – normative Tarifregelungen zur ~ im Krankheitsfall 4 32 f. – sonstige Entgeltbestandteile 5 (12) 7 – TVöD 5 (12) 2 ff. – typische Tarifnormen 5 (12) 1 ff. – Unabdingbarkeit bei Krankheit 5 (12) 3 – bei Urlaub siehe Urlaubsentgelt – zusätzliche Leistungen 5 (12) 9 Entgeltschema – Eingruppierung 5 (11) 1 – Mitbestimmung und ~ nach Betriebsübergang 15 125 f. – und Verbandsaustritt 14 30 ff.

Stichwortverzeichnis

– und Verbandswechsel 14 62 Ergebnisniederschrift 3 56 ff. Erlassvertrag – Verzichtsverbot 9 56 EU-Recht – Altersgrenzen, diskriminierende bei Piloten 5 (1) 37 ff. – Altersgrenzen, Vereinbarkeit mit ~ 5 (1) 23 ff. – Eingruppierung, altersdiskriminierende 4 26 – Kontrolle tariflicher Regelungen 3 184 f. – Urlaubsregelungen 4 30 f. Feiertage – Entgeltfortzahlung 5 (12) 12 Firmentarfvertrag siehe Haustarifvertrag Fortgeltung nach Betriebsübergang 15 40 ff. – keine Ablösung durch beim Erwerber einschlägigen Kollektivvertrag 15 44 ff. – Beendigung des fortwirkenden Tarifvertrags 15 64 f. – bereits nachwirkender Tarifvertrag 15 63 – Betriebs- oder Betriebsteilübergang 15 42 – Betriebsnormen 15 53 – erfasste Arbeitsverhältnisse 15 50 – erfasste Tarifnormen 15 51 ff. – Inbezugnahme eines einschlägigen Tarifvertrags und Veränderungssperre 15 81 ff. – Inhaltsnormen 15 52, 54 – keine kollektivrechtliche Fortgeltung der Tarifverträge 15 43 – Kündigungsrecht des Erwerbers im Hinblick auf den fortwirkenden Tarifvertrag 15 66 ff. – Nachbindung 15 55 – Nachwirkung 15 55 – Rechtsnatur der Fortgeltung 15 47 ff.

– schuldrechtlicher Teil eines Tarifvertrags 15 56 – statische 15 57 ff. – Übersicht 15 167 – Veränderungssperre 15 74 ff. – Veränderungssperre, Einschränkungen 15 78 ff. – Voraussetzungen 15 41 ff. – Wegfall der Geltung des Tarifvertrags und Veränderungssperre 15 79 f. Freistellung siehe Arbeitsbefreiung Friedenspflicht 3 30; 4 117 ff. – Anerkennungstarifvertrag 11 72 – Einschränkung 4 120 f. – Erweiterung 4 118 f. – Geltungsbereich des Tarifvertrags 8 17 – Haustarifvertrag 11 57 – Kündigung des Tarifvertrags wegen ~verletzung 3 225 f. – Nachbindung an Tarifverträge 6 77 – Nachwirkung des Tarifvertrags 9 33 – Rationalisierungsschutzabkommen 12 141 – Tarifsozialplan 12 140 ff. Fußnoten 3 62 ff. Gefälligkeitstarifvertrag – Durchsetzungsfähigkeit 2 66 f. Geltungsbereich 8 1 ff. – Abschluss speziellerer Tarifverträge 7 90 f. – Allgemeinverbindlicherklärung 8 12 – Anknüpfungspunkte 8 7 ff. – Auslegung 8 22 f. – Aussperrung 8 19 – Branche siehe Geltungsbereich, sektoraler – fachlicher siehe Geltungsbereich, fachlicher – Festlegung für Haustarifvertrag 11 85 ff. – Friedenspflicht 8 17 1255

Stichwortverzeichnis

– gerichtliche Überprüfung 8 28 – Grenzen 8 24 ff. – Herauswachsen aus dem ~ siehe Geltungsbereich, Herauswachsen – internationale Kollektivvereinbarungen 17 62 ff. – internationaler ~ ausländischer Kollektivvereinbarungen 17 58 ff. – internationaler ~ deutscher Tarifverträge 17 47 ff. – persönlicher siehe Geltungsbereich, persönlicher – Pflicht zur Festlegung 8 20 f. – räumlicher siehe Geltungsbereich, räumlicher – Sanierungstarifvertrag 12 20 ff. – tarifautonome Bestimmung 8 20 ff. – Tarifgebundenheit, Abgrenzung 8 4 f. – Tarifkonkurrenzen 8 13 – Tariföffnungsklausel 8 16 – Tarifvorbehalt 8 15 – Tarifvorrang 8 14 – Tarifzuständigkeit, Abgrenzung 86 – Unterstützungsstreik 8 18 – zeitlicher siehe Geltungsbereich, zeitlicher Geltungsbereich, fachlicher – Anknüpfungspunkte 8 66 ff. – Begriff 8 7 ff., 62 ff. – Grenzen 8 69 – Herauswachsen aus dem ~ siehe Geltungsbereich, Herauswachsen – persönlicher Geltungsbereich, Abgrenzung 8 64, 75 – Relevanz 8 11 ff. – sektoraler Geltungsbereich, Abgrenzung 8 46, 65 – Tarifgebundenheit, Abgrenzung 8 76 – Vergütungsgruppen 8 70 ff. Geltungsbereich, Herauswachsen 14 74 ff., 80 – und Haustarifvertrag 11 21 – und Nachwirkung eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrags 7 86, 88 f. 1256

– Rechtsfolgen für bereits beschäftigte Arbeitnehmer 14 75 ff. – Rechtsfolgen für neueingetretene Arbeitnehmer 14 78 – Umstrukturierung mit Herauswachsen aus dem Geltungsbereich 15 7 ff. Geltungsbereich, persönlicher – siehe auch Haustarifvertrag – Anknüpfungspunkte 8 77 ff. – arbeitgeberbezogene Anknüpfungspunkte 8 79 ff. – arbeitnehmerbezogene Anknüpfungspunkte 8 77 f. – Begriff 8 74 ff. – Diskriminierungsverbote 8 82 ff. – fachlicher Geltungsbereich, Abgrenzung 8 64, 75 – firmenbezogener Verbandstarifvertrag 8 80 – Gewerkschaftsmitgliedschaft 8 78 – Gleichheitssatz 8 86 f. – Grenzen 8 82 ff. – Haustarifvertrag 11 86 ff. – Sanierungstarifvertrag 12 21 ff. – sektoraler Geltungsbereich, Abgrenzung 8 47 – Veränderung persönlicher Merkmale 8 88 Geltungsbereich, räumlicher – Anknüpfungspunkte 8 33 ff. – Arbeitnehmerentsendegesetz 8 40 – Auslandsberührung 8 38 – Ausscheiden 8 42 ff. – Begriff 8 29 ff. – gemeinsame Einrichtungen 8 41 – Haustarifvertrag 11 85 – Sanierungstarifvertrag 12 20 – Schwerpunkt des Arbeitsverhältnisses 8 35 – Seearbeitsrecht 8 39 – Veränderung Ost/West-Tarifvertrag 8 36 Geltungsbereich, sektoraler – Anknüpfungspunkte 8 48 ff. – Ausscheiden 8 57 ff. – Begriff 8 45 ff.

Stichwortverzeichnis

– Betrieb als Anknüpfungspunkt 8 50 ff. – Branchenwechsel 8 58 – Entstehen neuer Einheiten 8 59 – fachlicher Geltungsbereich, Abgrenzung 8 46, 65 – Gemeinschaftsbetrieb 8 56 – Gemeinschaftsunternehmen 8 55 – Mischbetrieb 8 52 f. – persönlicher Geltungsbereich, Abgrenzung 8 47 – Rechtsprechung 8 61 – Unternehmen als Anknüpfungspunkt 8 54 Geltungsbereich, zeitlicher – siehe auch Ende der zwingenden Tarifgeltung; Kündigung – Begriff 8 89 – Ende 8 93 ff. – Haustarifvertrag 11 91 ff. – Inkrafttreten 8 90 ff. – Rückwirkung 8 92 – Sanierungstarifvertrag 12 25 ff. Gemeinsame Einrichtung 4 104 ff.; 8 96 ff. – Allgemeinverbindlicherklärung 4 110; 8 106 f. – Ausscheiden 8 108 – Außenseiter 4 109 – Begriff 8 96 f. – Finanzierung und Allgemeinverbindlicherklärung 7 11 ff. – Gemeinsamkeitspostulat 8 100 – Grundsatz der Tarifeinheit 4 111 – Günstigkeitsprinzip 9 151 – Merkmale 4 105 ff. – Nachwirkung 4 112 – normative Wirkung 8 101 ff. – Organisation 8 98 ff. – räumlicher Geltungsbereich 8 41 – Selbständigkeit 8 99 – Tarifpluralität 9 131 Gemeinschaftsbetrieb – Auflösung 3 202 – Betriebsnormen 6 91 – sektoraler Geltungsbereich 8 56 Gemeinschaftsunternehmen – sektoraler Geltungsbereich 8 55

Gemeinwohlbindung – Tarifvertragsparteien 1 35 f. Genehmigungsvorbehalt – Inkrafttreten des Tarifvertrags 3 87 ff. – Öffnungsklauseln 5 (17) 16 Gesellschafterwechsel 15 169 Gewerkschaften – siehe auch DGB-Gewerkschaften; Verbandsrecht – Anerkennung des geltenden Tarifrechts 2 83 f. – Arbeitskampfbereitschaft/-fähigkeit 2 58 – Auflösung und Auswirkung auf Tarifverträge 3 205 f. – Austritt 14 14 f. – demokratische Binnenorganisation 2 85 – Durchsetzungskraft 2 55 ff. – kein eingetragener Verein 2 3 ff. – Gegenreaktion bei betrieblichen Beschäftigungsbündnissen 13 112 – Gegnerunabhängigkeit 2 49 ff. – Gewerkschaft für Kunststoffgewerbe und Holzverarbeitung 2 74 ff. – „Hopping“ bei Tarifpluralität 9 128 – Industrieverbandsprinzip 2 12 – Koalitionsfreiheit 1 19 – Koalitionsmittelfreiheit 2 59 – konkurrierende ~ und Mehrheit von Tarifverträgen 9 85 ff. – Mitgliederzahl 2 75 ff. – Offenlegung der Mitgliedschaft bei Tarifpluralität 9 122 ff. – Organisationsgrad 2 71 – organisatorische Leistungsfähigkeit 2 80 ff. – organisatorischer Geltungsbereich eines Tarifvertrags 8 78 – Scheintarifvertrag 2 65 – Spartengewerkschaften 2 13 – Spartengewerkschaften und Grundsatz der Tarifeinheit 9 107 – Spezialisten in Schlüsselstellung 2 78 f. 1257

Stichwortverzeichnis

– Tariffähigkeit von Arbeitnehmerkoalitionen siehe dort – Tarifwilligkeit 2 53 f. – Tarifzuständigkeit 2 218 – Unabhängigkeit 2 49 Gleichbehandlung 10 128 – Kündigungsfristen 4 68 – nichtorganisierte Arbeitnehmer untereinander 10 130 – Rechtsfolgenproblematik bei Verstößen 3 187 ff. – Tarifgebundene/Nicht-Tarifgebundene 10 129 – Zustimmungsverweigerer bei betrieblichen Beschäftigungsbündnissen 13 105 Gleichheitssatz – persönlicher Geltungsbereich eines Sanierungstarifvertrags 12 23 f. – persönlicher Geltungsbereich eines Tarifvertrags 8 86 f. Grundrechte – und Allgemeinverbindlicherklärung 3 183 – Betriebsnormen 3 181 f. – Bindung der Tarifvertragsparteien 1 33 f. – Verstoß gegen ~ in Tarifvertrag 3 176 ff. Günstigkeitsprinzip 9 140 ff. – Abschlussverbote 9 149 – allgemeine Arbeitsbedingungen 9 144 f. – Anwendungsbereich 9 143 ff. – Arbeitsvertrag 9 143 ff. – Arbeitsvertrag günstiger als Betriebsvereinbarung 9 155 – beschäftigungspolitisches Mandat der Tarifvertragsparteien 9 181 ff. – betriebliche Beschäftigungsbündnisse 9 189 ff.; 13 28 – Betriebsnormen 9 150 – Betriebsvereinbarung als günstigere Regelung 9 146 ff. – Durchführung des Günstigkeitsvergleichs 9 165 ff. – einzubeziehende Tarifnormen 9 149 ff. 1258

– entsprechende Anwendung 9 155 f. – gemeinsame Einrichtung, Normen über 9 151 – individueller Günstigkeitsvergleich 9 166 ff. – Kurzarbeitsregelungen 5 (13) 7 – Privatautonomie 9 157 ff. – Regelungszweck 9 157 ff. – Sachgruppenvergleich 9 171 ff. – Sanierungstarifvertrag 9 194 ff. – schuldrechtliche Koalitionsvereinbarungen 9 152 ff. – Tarifablösung bei Betriebsübergang 15 103 ff. – Vergleich konkreter Rechtspositionen 9 170 – vertragliche Einheitsregelung 9 144 f. – Zweifelsregelung 9 178 Haftung – des Vereins 2 30 ff. Haustarifvertrag – Ablauf der Verhandlungsphase 11 111 ff. – Abschluss nach Ablauf des Flächentarifvertrags 11 35 – Abschluss nach Ablauf des Flächentarifvertrags einer anderen Gewerkschaft 11 38 – Abschluss während der Laufzeit des Flächentarifvertrags einer anderen Gewerkschaft 11 37 – Abschluss während der zwingenden Geltung des Flächentarifvertrags 11 34; 14 68 ff. – und allgemeinverbindlicher anderer Tarifvertrag 14 71 f. – Anerkennungstarifvertrag siehe dort – Arbeitgeber kein Verbandsmitglied 11 32 – Arbeitgeberbegriff 11 14 – Arbeitsentgelt 11 104 – Arbeitszeit 11 103 – Arten 11 6 ff. – AT-Mitarbeiter 11 87 f.

Stichwortverzeichnis

– Ausscheiden aus dem Konzern und konzerneinheitlich geltender ~ 15 170 ff. – Außenseiter 11 90 – Austritt aus dem Arbeitgeberverband 11 20 – Beendigung 11 30 – Begriff 11 1 – Beschäftigungssicherungszusagen 11 106 – betriebliche Beschäftigungsbündnisse nach gescheiterten Verhandlungen über ~ 13 14 – Betriebsübergang, kollektivrechtliche Fortgeltung des ~s 15 36 ff. – Betriebsvereinbarungen 11 43 ff. – Betriebsvereinbarungen, Überschneidungen 11 98 – Bezugnahmeklauseln 11 46 ff. – Bezugnahmeklauseln, Risiken 11 94 ff. – Bezugnahmeklauseln, schuldrechtliche Geltung 11 27 – Chancen 11 3 – Definition der Zielstruktur 11 101 – Differenzierungsklauseln 11 73 ff. – Festlegung des Geltungsbereichs 11 85 ff. – und Flächentarifvertrag 3 220 f. – Friedenspflicht 11 57 – gewerkschaftsinterne Richtlinien 11 5 – günstigere Regelungen in Arbeitsverträgen 11 97 – Haustariffähigkeit 11 13 – Herauswachsen aus dem Geltungsbereich eines Flächentarifvertrags 11 21 – Investitionszulagen 11 105 – Joint-Venture-Situation 11 19 – Klärung der Gewerkschaftszuständigkeit 11 81 ff. – Konzern 11 15 – Nachteile 11 4 – Nachwirkung 3 221; 11 92, 107 – normative Geltung kraft beidseitiger Tarifbindung 11 26 – Öffnungsklausel 11 44 f.

– Outsourcing 11 19 – persönlicher Geltungsbereich 11 86 ff. – Post Merger Situation 11 18 – Praxishinweise 11 80 ff. – räumlicher Geltungsbereich 11 85 – Risiken 11 4 – Rückkehr zum Flächentarifvertrag 11 93 – Sanierungstarifvertrag 11 25; 12 4 ff. – selbständiger ~ ohne Bezugnahme auf Flächentarifverträge 11 9 – Spaltung 15 196 ff. – Spezialitätsprinzip in Bezug auf Verbandstarifvertrag 9 81 ff.; 11 34; 14 68 ff. – Standortfrage 11 23 – Streikrecht 11 52 ff.; 12 7 – Struktur-~ gemäß § 3 BetrVG 11 11 f. – Tarifpluralität bei mehreren Haustarifverträgen 11 41 f. – andere Tarifverträge 11 99 – Tarifzuständigkeit der Gewerkschaft 11 28 – typische Ausgangssituationen 11 17 ff. – Überleitungstarifvertrag 11 18, 76 ff. – Umstrukturierung 11 24; 15 13 f. – unternehmensbezogener Verbandstarifvertrag 11 10 – Untersagung des Abschlusses in Satzung des Arbeitgeberverbands 2 111 – Verbandsaustritt 11 29; 14 11 – oder Verbandsbeitritt 2 110 – Verhältnis zum Arbeitsvertrag 11 46 ff. – Verhältnis zu anderen Haustarifverträgen 11 39 ff. – Verhältnis zum Verbandstarifvertrag 11 31 ff. – Verlassen der Tarifzuständigkeit 2 241 – Verschmelzung 15 185 ff. – Vorteile 11 3 1259

Stichwortverzeichnis

– Wechsel in OT-Mitgliedschaft 11 29 – wesentliche Verhandlungspunkte 11 102 ff. – Wettbewerber hat tarifliche Vorteile 11 22 – wirtschaftliche Rahmenbedingungen 11 108 – zeitlicher Geltungsbereich 11 91 ff. – Zeitpunkt der Verhandlungen 11 109 – Zuschläge 11 104 Heimarbeiter – normative Tarifregelungen 4 8 Industrieverbandsprinzip 2 12, 221 ff. – Mischunternehmen/-betriebe 2 224 Informationspflichten der Gerichte – bei Rechtsstreiten mit Tarifbezug 16 106 ff. Inkrafttreten 3 66 ff.; 8 90 ff. – abgeschwächte Inkraftsetzung im ERA 3 89 ff. – Erklärungsfristen der Tarifvertragsparteien 3 81 ff. – Kontinuitätswahrung 3 70 – rückwirkende Inkraftsetzung 3 73 ff. – Rückwirkung 8 92 – Stufentarifverträge 3 71 f. – Vorbehalt der Zustimmung 3 81 ff. Innungen/Innungsverbände – Tariffähigkeit 2 130 f. Internationale Kollektivvereinbarungen 17 62 ff. – Rechtsunsicherheiten 17 67 f. – Unionsrecht 17 64 ff. – Völkerrecht 17 63 Internationales Tarifvertragsrecht 17 1 ff. – nationales Recht 17 4 ff. – Tarifvertragsstatut 17 7 ff. Koalition – Anerkennung des geltenden Tarifrechts 2 83 f. 1260

– Arbeitskampfbereitschaft/-fähigkeit 2 58 – Begriff (Arbeitgeberseite) 2 112 ff. – Begriff (Arbeitnehmerseite) 2 47 ff. – Begriff und Koalitionsfreiheit 1 18 ff. – demokratische Binnenorganisation (Arbeitgeberseite) 2 114 ff. – demokratische Binnenorganisation (Arbeitnehmerseite) 2 85 – Durchsetzungskraft 2 55 ff. – Gefälligkeitstarifvertrag 2 66 f. – Gegnerunabhängigkeit 2 49 ff., 118 ff. – Gewerkschaft für Kunststoffgewerbe und Holzverarbeitung 2 74 ff. – Koalitionsmittelfreiheit 2 59 – Mitgliederzahl 2 75 ff. – Organisationsgrad 2 71 – organisatorische Leistungsfähigkeit 2 80 ff. – „relative“/„absolute“ Tariffähigkeit 2 86 ff. – Scheintarifvertrag 2 65 – Spezialisten in Schlüsselstellung 2 78 f. – Tarifwilligkeit 2 53 f., 122 ff. – Unabhängigkeit 2 49 Koalitionsbetätigungsfreiheit 1 6 ff. – Koalitionsfreiheit 1 8 Koalitionsfreiheit – Gewerkschaften 1 19 – Koalitionsbegriff 1 18 ff.; 2 47 ff. – Koalitionsbildungsfreiheit 1 21 f. – Koalitionspluralität 1 21 f. – Tarifautonomie 1 3 ff. – Tariffähigkeit 2 42 ff. – Tarifsozialplan 12 127 ff. – Tariftreueklausel und negative ~ 1 30 f. – Träger 1 15 ff. Konzern – Abschlussbefugnis 3 38 ff. – Arbeitgeber 2 101 ff. – Ausscheiden aus dem ~ 15 170 ff. – Ausscheiden aus dem ~ bei mehrgliedrigem Tarifvertrag 15 171 f.

Stichwortverzeichnis

– Haustarifvertrag 11 15 – Leiharbeit, ~interne als Instrument für teilweise anderes Tarifregime 14 86 – mehrgliedriger Tarifvertrag 2 103 ff., 184 – Sanierungstarifvertrag 12 5 – Tarifgemeinschaft 2 184 – Tarifgemeinschaft und Ausscheiden aus ~verbund 15 173 ff. Krankheit – Entgeltfortzahlung 5 (12) 3 ff. Kündigung – statt Anfechtung 3 160 ff. – Ausschluss/Beschränkung in Sanierungstarifvertrag 12 39 ff. – außerordentliche siehe dort – Beendigungsnormen 4 64 ff. – Friedenspflichtverletzung 3 225 f. – grundlegende Veränderung der Rahmenbedingungen 3 229 ff. – ordentliche 3 207 ff. – Schriftform 3 213 – Teil-~ 3 208 – Verletzung der schuldrechtlichen Nebenpflicht 3 227 – durch Vertreter 3 214 – Zuständigkeit 3 209 ff. Kündigungsfristen – BRTV-Bau 5 (20) 8, 25 – Gleichbehandlung 4 68 – kürzere 4 67 – längere 4 66 – MTV Metall- und Elektroindustrie Südwürttemberg-Hohenzollern 5 (20) 6, 18 ff. – normative Tarifregelungen 4 65 ff. – von Tarifverträgen 3 212 – TVöD 5 (20) 7, 22 f. – typische Tarifnormen 5 (20) 1 ff. Kündigungsgründe – normative Tarifregelungen 4 69 f. Kündigungsschutzklage – als Geltendmachung bei Ausschlussfristen 16 76 Kurzarbeit – MTV Chemie 5 (9) 3 – normative Tarifregelungen 4 17

Kurzarbeitsregelungen – Ankündigungsfrist 5 (13) 9 – Grenzen 5 (13) 4 – Günstigkeitsprinzip 5 (13) 7 – Inhaltsnormen oder Betriebsnormen 5 (13) 8 – Kurzarbeit 5 (13) 1 f. – Mitbestimmungsrecht 5 (13) 5 f. – MTV Chemie 5 (13) 17 ff., 31 ff. – MTVe Metall NordwürttembergNordbaden 5 (13) 13 ff., 20 ff. – typische Tarifnormen 5 (13) 1 ff. Leiharbeitnehmer – Einsatz als Instrument für neues/ zusätzliches Tarifregime 14 82 ff. – Mindestlohn in der Zeitarbeitsbranche siehe dort – Tarifgeltung aufgrund des AEntG 7 144 f. – Übernahmeverpflichtung als normative Tarifregelung 4 52 Maßregelungsverbot – Beispiele 5 (14) 3 f. – Beschäftigungszeit/Betriebszugehörigkeit 5 (14) 14 – Betriebsratsmitglieder und Streik 5 (14) 11 – Erscheinungsformen 5 (14) 6 – Personalakte 5 (14) 12 – Rechtsnatur 5 (14) 5 – Reichweite 5 (14) 6 – Schadensersatzansprüche 5 (14) 10 – Sinn und Zweck 5 (14) 1 – Straftaten 5 (14) 13 – Streikbruchprämien 5 (14) 9 – Suspendierung von Entgeltzahlungspflicht 5 (14) 8 – typische Tarifnormen 5 (14) 1 ff. – Wiedereinstellungsanspruch 5 (14) 7 Mehrarbeitsregelungen – Anordnung von Mehrarbeit 5 (15) 9 – Arbeitszeitkonten 5 (15) 11 – Mehrarbeit 5 (15) 1 ff. 1261

Stichwortverzeichnis

– MTV Chemie 5 (15) 15, 19 ff. – MTV ERA Metall NRW 5 (15) 16, 28 ff. – normative Tarifregelungen 4 16 – Pflicht zur Mehrarbeit 5 (15) 5 – Teilzeitbeschäftigte 5 (15) 6 f., 10 – TVöD 5 (15) 17 f., 35 ff. – typische Tarifnormen 5 (15) 1 ff. – Überarbeit/Überstunden 5 (15) 4 – Vergütung 5 (15) 12 ff. Mehrgliedriger Tarifvertrag – mehrgliedriger siehe Tarifvertrag, mehrgliedriger Meistbegünstigungsklauseln 5 (16) 1 ff. – BRTV 5 (16) 14 ff. – Inhalt 5 (16) 1 – Koalitionspluralismus 5 (16) 6 – Tarifverantwortung 5 (16) 9, 11 – unzulässige dynamische Verweisung 5 (16) 10 – Vertrag zu Lasten Dritter 5 (16) 13 – Wirksamkeit 5 (16) 8 ff. – Ziele 5 (16) 2 Mindestarbeitsbedingungen durch das MiArbG 7 181ff, – formelle Voraussetzungen des Rechtsverordnungserlasses 7 183 f. – materielle Voraussetzungen des Rechtsverordnungserlasses 7 185 ff. – negatives Quorum 7 185 ff. – Überschneidung mit der Allgemeinverbindlicherklärung 7 192 – Überschneidungen nach dem AEntG 7 193 – ungeschriebene Voraussetzungen 7 189 f. – Wirkungen der Rechtsverordnung 7 191 – Zweck der Regelung 7 182 Mindestlohn 1 40 f. – siehe auch Mindestarbeitsbedingungen durch das MiArbG; Tarifgeltung aufgrund des AEntG – Leiharbeit siehe Mindestlohn in der Zeitarbeitsbranche – Pflegebranche 7 168 ff. 1262

Mindestlohn in der Zeitarbeitsbranche 7 172 ff. – verfassungsrechtliche Zweifel 7 180 – Voraussetzungen des Rechtsverordnungserlasses 7 174 f. – Wirkung der Rechtsverordnung 7 176 ff. – Zweck der Regelung 7 173 Mitbestimmung – siehe auch Tarifvorbehalt; Tarifvorrang – Anrechnung von Tariflohnerhöhungen 9 217 – Arbeitsplatzbewertung 5 (11) 15 – Beteiligungsrechte nach §§ 111 ff. BetrVG während Streiks für Tarifsozialplan 12 149 f. – Direktionsrechtsklauseln 5 (9) 9 f. – Eingruppierung 5 (11) 14 ff. – Entgeltregelungen 5 (3) 13 – Entgeltschema nach Betriebsübergang 15 125 f. – Erweiterung durch Tarifvertrag 4 99 ff. – Unterrichtungspflicht vor Ein- oder Umgruppierung 5 (11) 16 – wirtschaftliche Angelegenheiten, keine tariflichen Regelungen 4 102 f. – Zustimmungsersetzungsverfahren bei Ein- oder Umgruppierung 5 (11) 19 – Zustimmungsverweigerung bei Ein- oder Umgruppierung 5 (11) 17 f. Nachbindung an Tarifverträge 6 61 ff. – Änderung der Tarifvertrags 6 84 – Arbeitgeber als Hauptbetroffener 6 78 – Beendigung der Mitgliedschaft 6 69 ff. – befristete Tarifverträge 6 83 – beiderseitige Beendigung der Mitgliedschaft 6 75

Stichwortverzeichnis

– beiderseitige Tarifgebundenheit 6 74 – und betriebliche Beschäftigungsbündnisse 13 33 ff. – Ende 6 82 ff. – Ewigkeitsbindung 6 87 – Flucht aus dem Tarifvertrag 6 62 – Fortgeltung nach Betriebsübergang 15 55 – Fortwirkung der Tarifnormen 6 76 ff. – Friedenspflicht 6 77 – Kündigungsmöglichkeit 6 86 – Mitgliedschaft 6 68 – statische Wirkung 6 79 – Tarifkonkurrenz 6 80 f. – Teilkündigung 6 85 – Verbandsaustritt 14 12 – verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit 6 66 – Voraussetzungen 6 67 ff. – zeitliche Höchstgrenze 6 88 f. Nachweis wesentlicher Vertragsbedingungen – Betriebsübergang 15 166 – Bezugnahme auf Tarifvertrag 10 13 f. – geltendes Tarifrecht 3 121 ff. – Umstrukturierung 15 166 – und Verletzung der Auslegungspflicht im Betrieb 3 118 ff. Nachwirkung – Ablösung nachwirkender Tarifverträge siehe dort – Abschluss eines nachwirkenden Tarifvertrags 9 32 – von nach dem AEntG erstreckten Tarifverträgen 7 157 ff. – des anerkannten Tarifvertrags 11 70 f. – Anerkennungstarifvertrag 11 65 ff. – Arbeitsverhältnis, im ~szeitraum begründetes 9 36 – außerordentliche Kündigung eines Tarifvertrags 9 30 – und Betriebsübergang 9 29

– Betriebsvereinbarung über betriebliches Beschäftigungsbündnis 13 116 – nach Ende der Allgemeinverbindlicherklärung 7 82 ff. – Fortgeltung nach Betriebsübergang 15 55 – Friedenspflicht 9 33 – Geltungsgrund 9 25 – gemeinsame Einrichtungen 4 112 – Haustarifvertrag 3 221; 11 92, 107 – bei Herauswachsen aus dem Geltungsbereich eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrags 7 86 – Höchstdauer 9 51 f. – Inhaltsschutz 9 22 – Rechtsfolge 9 33 ff. – Regelungsabrede über betriebliches Beschäftigungsbündnis 13 120 ff. – statische 9 35 – tarifdispositive Regelung 9 31 – tarifdispositives Gesetzesrecht 9 37 – Tarifkonkurrenzen 9 38 – Tarifvorrang und nachwirkender Tarifvertrag 9 259 – Überbrückungsfunktion 9 23 – Verbandsaustritt 14 13 – Verfassungsmäßigkeit 9 26 – Voraussetzungen 9 27 ff. – Zweck 9 21 ff. Negatives Schuldanerkenntnis – Verzichtsverbot 9 56 Nichtigkeit des Tarifvertrags siehe Unwirksamkeit des Tarifvertrags Normative Tarifgebundenheit siehe Tarifgebundenheit, normative kraft Mitgliedschaft Normativer Teil 4 1 ff. – Abschlussnormen siehe dort – arbeitnehmerähnliche Personen 47 – Arbeitsbefreiung 4 34 – Arbeitsentgelt 4 21 ff. – Arbeitsverhältnis als Anknüpfungspunkt 4 3 ff. – Arbeitszeit 4 14 ff. 1263

Stichwortverzeichnis

– – – – – – –

Arbeitszeitverteilung 4 18 ff. Ausschlussklauseln 4 39 Beendigungsnormen siehe dort Berufsausbildungsverhältnisse 4 6 Betriebsnormen siehe dort Betriebsrentner 4 5 Betriebsverfassungsrechtliche Tarifregelungen siehe dort – Direktionsrecht 4 37 – Eingruppierung 4 25 ff. – Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall 4 32 f. – Grundentgelt 4 24 – Heimarbeiter 4 8 – nicht individualvertraglich regelbare Inhalte 4 40 f. – Inhaltsnormen 4 9, 11 ff. – Kurzarbeit 4 17 – Mehrarbeit 4 16 – Nebenleistungen des Arbeitgebers 4 36 – Nebenpflichten des Arbeitnehmers 4 38 – negative Inhaltsnormen 4 40 – Sonderzahlungen 4 29 – Überstunden 4 16 – Urlaub 4 30 f. Normwirkung 9 1 ff. – nach Betriebsübergang 9 6 f. – bei Bezugnahmeklausel 9 8 f. – Ende der zwingenden Wirkung 9 19 – Rechtsfolgen 9 20 – Tarifautomatik 9 5 – unmittelbare Wirkung 9 2 ff. – verdrängende Wirkung 9 14 ff. – Wiederaufleben einer verdrängten Regelung 9 17 f. – zwingende Wirkung 9 10 ff. Obligatorischer Teil siehe Schuldrechtlicher Teil Öffnungsklauseln – Abweichungsmöglichkeiten 5 (17) 7 ff. – Arbeitszeit 4 19 – befristeter Arbeitsvertrag 5 (6) 2 ff. 1264

– Bestimmungsklauseln 5 (17) 4 – betriebliche Beschäftigungsbündnisse 13 22 – Betriebsvereinbarung 5 (17) 9 f. – Dauer 5 (17) 19 – Entgeltfortzahlung 4 33 – Geltungsbereich des Tarifvertrags 8 16 – Genehmigungsvorbehalt 5 (17) 16 – Haustarifvertrag 11 44 f. – MTV Chemie 5 (17) 20, 22 ff. – Rückwirkung 5 (17) 18; 12 118 – Sanierungsbetriebsvereinbarung 12 116 ff. – Tarifoption 5 (17) 6 – TV Beschäftigungssicherung Metall NRW 5 (17) 21, 33 ff. – typische Tarifnormen 5 (17) 1 ff. – Umfang und Grenzen der Abweichung 5 (17) 15 ff. – Unterschreitung des Tarifniveaus 9 197 ff. – verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit 5 (17) 5 – zu Gunsten der betriebsverfassungsrechtlichen Ebene 9 240 OT-Mitgliedschaft 2 148 ff. – Anforderungen 2 157 ff. – Aufteilungsmodell 2 151 – Begriff 13 40 – betriebliches Beschäftigungsbündnis nach Wechsel in ~ 13 32 ff. – Blitzwechsel 2 170; 13 42; 14 10, 44 – Blitzwechsel während laufender Tarifverhandlungen 2 174 ff. – Fachgruppenmodell 2 159 – Gastmitgliedschaft 2 153 – Haustarifvertrag 11 29 – Information über Wechsel 2 173 ff. – Perplexität der Beitrittserklärung 2 165 ff. – Satzung 2 160 ff. – satzungsrechtlich unwirksame ~ 2 163 ff. – Statuswechselvertrag 2 171 – Stufenmodell 2 152 – Tarifgebundenheit 2 154 ff.

Stichwortverzeichnis

– und Tarifzuständigkeit 2 232 – Trennungsgebot 2 157 f. – zur Vermeidung von Allgemeinverbindlicherklärung 7 92 – Wechsel in die ~ 2 170 ff.; 13 40 ff. – Wechselfrist 2 170 – Wirksamkeitsvoraussetzungen 13 41 f. Outsourcing – Ausschluss von ~ in betrieblichen Beschäftigungsbündnissen 13 96 – Haustarifvertrag 11 19 – zur Vermeidung von Allgemeinverbindlicherklärung 7 93 Personalakte – Maßregelungsverbot 5 (14) 12 Pflegebranche – Mindestlohn 7 168 ff. Protokollnotizen 3 49 f., 62 ff. Quotenregelungen – normative Tarifregelungen 4 53 Rationalisierungsmaßnahmen – besonderer Kündigungsschutz 4 72 Rationalisierungsschutzabkommen – Friedenspflicht 12 141 – als Präventionsmaßnahme gegen Tarifsozialplan 12 152 Rechtsmittel – Berufungszulassung 16 95 ff. – Revisionszulassung 16 100 – Sprungrevision 16 101 ff. Rechtsschutz – Allgemeinverbindlicherklärung 7 94 ff. Rechtsstreitigkeiten 16 2 ff. – Abschluss eines Tarifvertrags, Klage auf 16 47 – Eingruppierungsfeststellungsklage siehe dort – Einwirkungsklage siehe dort – Informationspflichten der Gerichte 16 106 ff. – Schiedsvereinbarung siehe dort

– Tariffähigkeit/Tarifzuständigkeit, Verfahren siehe dort – Unterlassung tarifwidrigen Verhaltens siehe dort – Verbandsklage siehe dort Rechtsvergleichung 17 61 Rechtsverordnung nach § 7 Abs. 1 AEntG 7 121 ff. – Auswahlentscheidung bei sich überschneidendem Geltungsbereich 7 134 ff. – Beendigung der Wirkungen 7 155 f. – Beteiligung des Tarifausschusses 7 129 – Beteiligungsverfahren 7 128 – dogmatische Einordnung 7 122 ff. – gemeinsamer Antrag 7 126 f. – Kollision mehrerer Anträge 7 139 f. – Mindestarbeitsbedingungen durch das MiArbG 7 193 – Nachwirkung 7 158 ff. – öffentliches Interesse 7 132 f. – Regelungsgegenstände und Geltungsbereich 7 130 f. – sich überschneidender Geltungsbereich 7 135 ff. – Voraussetzungen 7 125 ff. Regelungsabreden – Begriff 13 47 – betriebliche Beschäftigungsbündnisse siehe Regelungsabreden für betriebliche Beschäftigungsbündnisse – und Tarifvorbehalt 9 227; 13 48 Regelungsabreden für betriebliche Beschäftigungsbündnisse 13 47 ff. – AGB-Kontrolle 13 50 ff., 64 ff. – Bereichsausnahme bei AGB-Kontrolle 13 51 ff. – Bezugnahme auf betriebliches Beschäftigungsbündnis siehe dort – nicht tarifgebundener Arbeitgeber 13 31 – tarifgebundener Arbeitgeber 13 25 ff. – kein Tarifvorbehalt 13 48 1265

Stichwortverzeichnis

– Unterlassungsanspruch der Gewerkschaft gegen betriebliches Beschäftigungsbündnis 13 69 ff. – Zustimmung der Mitarbeiter zur Regelungsabrede 13 45, 49 Revision – Zulassung 16 100 Rückwirkung – Inkraftsetzung, rückwirkende 3 73 ff. – zeitlicher Geltungsbereich 8 92 Sanierungsbetriebsvereinbarung 12 111 ff. – betriebsvereinbarungsoffene Arbeitsvertragsklauseln 12 119 – Öffnungsklauseln 12 116 ff. – Tarifvorrang 12 112 ff. Sanierungstarifvertrag 12 1 ff. – allgemeinverbindlicher Verbandstarifvertrag und individualvertraglich geltender ~ 12 81 – Änderung der Geschäftsgrundlage 12 43 – Arbeitszeiterhöhung ohne Entgeltausgleich 12 29 – Ausgleichsregelungen 12 44 f. – Betriebsübergang siehe Sanierungstarifvertrag und Betriebsübergang – Bezugnahmeklausel bei firmenbezogenem Verbandstarifvertrag 12 12 – Differenzierungsklauseln 12 46 ff. – firmenbezogener Verbandstarifvertrag 12 9 ff. – Gebot der Rechtsquellenklarheit 12 13 ff. – Geltungsbereich 12 20 ff. – Gestaltungsoptionen 12 3 ff. – Gleichheitssatz-Verstoß 12 23 f. – günstigere Arbeitsvertragsabreden 12 82 – Günstigkeitsprinzip 9 194 ff. – Haustarifvertrag 11 25; 12 4 ff. – Information über bevorstehende Verschlechterungen 12 88 – inhaltliche Gestaltung 12 19 ff. 1266

– kleine dynamische Bezugnahmeklausel 10 79 ff. – Konzern 12 5 – Kündigungsbeschränkungen/-verzichte 12 39 ff. – mehrseitige Vereinbarung 12 14 ff. – persönlicher Geltungsbereich 12 21 ff. – räumlicher Geltungsbereich 12 20 – Regelung für Fall des Scheiterns der Sanierung 12 45 – rückwirkende Änderung von Arbeitsbedingungen 12 83 ff. – rückwirkender Eingriff in beendetes Arbeitsverhältnis 12 89 – Sanierungsbeiträge des Arbeitgebers 12 34 ff. – Sanierungsbeiträge der Arbeitnehmer 12 29 ff. – Sanierungsrisiko 12 49 ff. – Sonderzahlungen, Reduzierung/ Wegfall 12 31 f. – Standortsicherung 12 35 ff. – statische Bezugnahme auf Verbandstarifvertrag und Arbeitnehmer-Außenseiter 12 71 – Streik 12 7 – Tariffähigkeit des einzelnen Arbeitgebers 12 6 – Tariflohnerhöhungen, Aussetzung/ Reduzierung 12 33 – Verbesserung der wirtschaftlichen Lage 12 44 – Vereinbarung von Voraussetzungen für betriebsbedingte Kündigungen 12 42 – Vergütungsabsenkung 12 30 – Verhältnis zu Verbandstarifvertrag bei beidseitiger Verbandsangehörigkeit 12 53 ff. – Verhältnis zu Verbandstarifvertrag, wenn nur Arbeitgeber verbandsangehörig 12 68 ff. – Vertrauensschutz bei rückwirkenden Änderungen von Arbeitsbedingungen 12 85 ff. – zeitlicher Geltungsbereich 12 25 ff.

Stichwortverzeichnis

Sanierungstarifvertrag und Betriebsübergang 12 90 ff. – Bezugnahmeklausel als Geltungsgrund des Sanierungstarifvertrags 12 103 ff. – Kündigung des Sanierungstarifvertrags 12 108 ff. – normativ wirkender Sanierungstarifvertrag 12 91 ff. – Wegfall der Geschäftsgrundlage wegen nicht tarifgebundenem Erwerber 12 107 Satzung – Auslegung 2 15 – Begriff 2 14 – des DGB: verbandsinterne Klärung der Tarifzuständigkeiten 2 247 ff. – Satzungsautonomie 2 12 – Tarifzuständigkeit 2 16, 209 f., 212 ff. – Vereinsverfassung 2 11 Schadensersatz – durch Streik verursachte und Maßregelungsverbot 5 (14) 10 Scheintarifvertrag – Durchsetzungsfähigkeit 2 65 Schiedsvereinbarung 4 126 f.; 16 57 ff. – Aufhebung des Schiedsspruchs 16 66 ff. – Bühnenschiedsgerichtsbarkeit 16 64 – Einzel~ 16 61 ff. – Form der Einzel~ 16 63 – Form der Gesamt~ 16 60 – Geltungsbereich der Einzel~ 16 62 – Geltungsbereich der Gesamt~ 16 59 – Gesamt~ 16 58 ff. – Klageabweisung wegen ~ 16 65 Schiedsverfahren – Tarifzuständigkeit bei DGB-Gewerkschaften 2 248 ff. Schlechtwetterklauseln – BRTV Bau 5 (18) 5 ff. – eigenständige Anspruchsgrundlagen 5 (18) 3 – typische Tarifnormen 5 (18) 1 ff.

Schlechtwetterzeit – BRTV-Bau zu Kündigungsausschluss 5 (20) 8, 26 Schlichtung 3 21 ff. – Geschichte 3 22 ff. – gesetzliche 3 31 f. – Vereinbarung siehe Schlichtungsvereinbarung – Weimarer Republik 3 24 f. Schlichtungsvereinbarung 4 130 ff. – Ergebnis der Schlichtung 4 134 – Friedenspflicht 3 30 – Inhalt 3 28 ff. – keine Pflicht zum Schlichtungsverfahren 4 130 – Scheitern der Verhandlungen 4 132 – Zusammensetzung der Schlichtungsstelle 4 133 Schriftform – Abschlussnormen 4 44 f. – Anlagen 3 49 f. – Anwendungsbereich des Gebots 3 46 ff. – Beendigungsnormen 4 62 f. – Bezugnahmen auf andere Regelwerke 3 51 – einseitige Unterzeichnung 3 44 – Erfüllung der ~ 3 43 ff. – Kündigung des Tarifvertrags 3 213 – Normzweck 3 41 f. – Parteien des Tarifvertrags 3 47 – Protokollnotizen 3 49 f. – Rechtsquellenklarheit 3 48 – Verstoß 3 53 f. Schuldrechtlicher Teil 4 1 f., 113 ff. – Arbeitskampfregelungen 4 135 ff. – Durchführungs- und Einwirkungspflichten 4 122 ff. – eigenständige schuldrechtliche Normen 4 116 – Fortgeltung nach Betriebsübergang 15 56 – Friedenspflicht 4 117 ff. – prozessuale Vereinbarungen 4 138 – Schiedsvereinbarungen 4 126 f. – Schlichtungsvereinbarungen 4 130 ff. – Vertragsfreiheit 4 128 f. 1267

Stichwortverzeichnis

Seearbeitsrecht – räumlicher Geltungsbereich 8 39 Sonderzahlungen – normative Tarifregelungen 4 29 – Reduzierung/Wegfall in Sanierungstarifvertrag 12 31 f. Sozialauswahl – normative Tarifregelungen 4 69 – Unkündbarkeit 5 (20) 13 Sozialkassenverfahren – Tarifgeltung aufgrund des AEntG 7 117 Sozialplan – Ausschlussklauseln 5 (22) 14 – Präventionsmaßnahme gegen Tarifsozialplan 12 153 – Tarifsozialplan siehe dort Spaltung 15 178 – Firmentarifverträge 15 196 ff. – Tarifgeltung beim von der ~ betroffenen Rechtsträger 15 197 f. – Tarifgeltung beim aufnehmenden Rechtsträger 15 199 ff. – Verbandstarifverträge 15 193 ff. Spartengewerkschaft 2 13 – Grundsatz der Tarifeinheit 9 107 Sperrwirkung – Tarifsozialplan 12 124 Spezialitätsprinzip 9 75 ff. – allgemeinverbindlicher Tarifvertrag und speziellerer anderer Tarifvertrag 14 71 f. – Firmentarifvertrag/Verbandstarifvertrag 9 81 ff.; 11 34; 14 68 ff. – Tarifkonkurrenz 9 91 ff. – und Tarifpluralität 9 95, 100 ff. – Tarifverträge mehrerer DGB-Gewerkschaften 9 83 f. – Vermeidung von Allgemeinverbindlichkeit 7 90 f. Spitzenorganisation – Tariffähigkeit von Spitzenorganisationen siehe dort – Tarifzuständigkeit 2 215 Sprungrevision 16 101 ff. Standortsicherung – Sanierungstarifvertrag 12 35 ff. – Streik um ~svertrag 12 37 1268

– TV Karstadt 5 (19) 9, 12 ff. – typische Tarifnormen 5 (19) 1 ff. Straftaten – Maßregelungsverbot 5 (14) 13 Streik – Arbeitskampfregelungen 4 135 ff. – Beteiligungsrechte des Betriebsrats während ~ für Tarifsozialplan 12 149 f. – Haustarifvertrag 11 52 ff.; 12 7 – Maßregelungsverbot siehe dort – Notdienst- und Erhaltungsarbeiten 4 136 – Sanierungstarifvertrag 12 7 – Standortsicherungsvertrag 12 37 – Streikbruchprämien 5 (14) 9 – Tarifeinheit als Schutz vor gehäuften ~s 9 108 – Tarifpluralität 9 132 ff. – Tarifsozialplan 12 125 ff. – Tarifsozialplan und rechtmäßiger ~ 12 158 – Tarifsozialplan und rechtswidriger ~ 12 155 ff. – durch tarifunzuständige Gewerkschaft 2 239 – Unterstützungs~ und Geltungsbereich eines Tarifvertrags 8 18 – Wiedereinstellungsklauseln 5 (23) 5 Stundung – Verzichtsverbot 9 56 Tarifablösung bei Betriebsübergang 15 86 ff. – Art des ablösenden Kollektivvertrags 15 89 ff. – beidseitige Tarifgebundenheit 15 93 ff. – betriebliche Altersversorgung 15 106 ff. – Geltungszeitpunkt des ablösenden Tarifvertrags 15 105 – Gestaltungsspielraum 15 88 – Günstigkeitsprinzip, Nichtanwendung 15 103 ff.

Stichwortverzeichnis

– Identität des ablösenden Regelungsgegenstands 15 97 ff. – mehrere hintereinander geschaltete Betriebsübergänge 15 110 f. – Voraussetzungen 15 89 ff. – Zweck 15 87 Tarifarchiv 3 95 f. – Mitwirkungspflichten der Tarifvertragsparteien 3 98 ff. – Reformüberlegungen 3 103 ff. – Zweck und Wirkung 3 101 f. Tarifautomatik 9 5 Tarifautonomie – Bundesverfassungsgericht, Rechtsprechung 1 3 ff. – dogmatische Rekonstruktion 1 9 ff. – Garantie 1 1 ff. – gesetzgeberische Spielräume und Grenzen 1 23 ff. – Koalitionsbetätigungsfreiheit 1 8 – Koalitionsfreiheit 1 3 ff. – Koalitionspluralität 1 21 f. – Normsetzungsmonopol 1 37 ff. – Unterscheidung von Grundrechtsausgestaltung und Eingriff 1 10 ff. – verfassungsrechtliche Garantie 1 2 ff. Tarifbindung – Bezugnahme kraft betrieblicher Übung siehe dort – Blitzaustritt/-wechsel 2 6 ff.; 6 48 ff. – identische ~ des Erwerbs nach Betriebsübergang 15 31 ff. – mehrfache ~ siehe Tarifbindung, mehrfache – OT-Mitgliedschaft siehe dort – Tarifvertragsstatut 17 30 ff. – Verbandsauflösung 2 22 Tarifbindung, mehrfache 14 63 ff. – Abschluss eines Haustarifvertrag neben einem bestehenden Verbandstarifvertrag 14 68 ff. – Doppelmitgliedschaft des Arbeitgebers 14 64, 66 f. – Doppelmitgliedschaft des Arbeitnehmers 14 64 f., 67

– Tarifkollision mit allgemeinverbindlich erklärtem Tarifvertrag 14 71 f. – Tarifkonkurrenz 14 65 ff. – Tarifpluralität 14 66 Tarifeinheit 1 28 f. – Aufgabe des Grundsatzes durch das BAG 9 95, 116 ff. – Folgeprobleme der Aufgabe des Grundsatzes 9 119 ff. – gemeinsame Einrichtungen 4 111 – Kritik 9 110 ff. – rechtspolitische Initiativen zur Wiederherstellung der ~ 9 137 ff. – Schutz vor gehäuften Arbeitskämpfen 9 108 – Tarifkonkurrenz 9 91 ff. – und Tarifpluralität 9 95, 100 ff. – Wirkungen im Betrieb 9 106 ff. Tariffähigkeit 2 33 ff. – Arbeitgeber siehe Tariffähigkeit einzelner Arbeitgeber – Arbeitgeberverband siehe Tariffähigkeit der Arbeitgeberverbände – Entfallen 2 133 ff. – Gewerkschaften siehe Tariffähigkeit von Arbeitnehmerkoalitionen – Marktfreiheit 2 37 ff. – Regelungszweck 2 33 ff. – Spitzenorganisation siehe Tariffähigkeit von Spitzenorganisationen – staatliche Regulierung 2 40 – Tarifgemeinschaft 2 188 f. – Tarifvertragsstatut 17 29 – Tarifzuständigkeit, Abgrenzung 2 211 – Verfahren über ~ siehe Tariffähigkeit/Tarifzuständigkeit, Verfahren – Verfahren zu Feststellung 2 141 ff. – verfassungsrechtliche Einordnung 2 41 ff. – Wegfall und Auswirkung auf Tarifvertrag 3 203 – Wirksamkeitsvoraussetzung 2 34 Tariffähigkeit auf Arbeitgeberseite – Haustarifvertrag 11 13, 16 1269

Stichwortverzeichnis

– Haustarifvertrag und Konzern 11 15 – Innungen und Innungsverbände 2 130 f. – Tariffähigkeit einzelner Arbeitgeber siehe dort – Voraussetzungen 2 95 ff. Tariffähigkeit der Arbeitgeberverbände – Auflösung des Verbands 2 137 ff. – demokratische Binnenstruktur 2 114 ff. – Gegnerunabhängigkeit 2 118 ff. – Insolvenz 2 136 – Koalitionsbegriff 2 112 ff. – kein Mächtigkeitserfordernis 2 125 ff. – Spitzenorganisationen siehe Tariffähigkeit von Spitzenorganisationen – Tarifwilligkeit 2 122 ff. – Überbetrieblichkeit 2 117 – Verlust der Tariffähigkeit bei einem Verband 2 135 ff. Tariffähigkeit einzelner Arbeitgeber – Arbeitgeberbegriff 2 96 ff. – Entfallen 2 134 – Sanierungstarifvertrag 12 6 – soziale Mächtigkeit 2 105 f. – Verlust durch Verbandsbeitritt 2 108 ff. Tariffähigkeit von Arbeitnehmerkoalitionen 2 45 ff. – Anerkennung des geltenden Tarifrechts 2 83 f. – Arbeitskampfbereitschaft/-fähigkeit 2 58 – demokratische Binnenorganisation 2 85 – Durchsetzungskraft 2 55 ff. – Gefälligkeitstarifvertrag 2 66 f. – Gewerkschaft für Kunststoffgewerbe und Holzverarbeitung 2 74 ff. – Koalitionsbegriff 2 47 ff. – Koalitionsmittelfreiheit 2 59 – Mitgliederzahl 2 75 ff. – Organisationsgrad 2 71 1270

– organisatorische Leistungsfähigkeit 2 80 ff. – Rechtsprechungsentwicklung 2 60 ff. – „relative“/„absolute“ ~ 2 86 ff. – Scheintarifvertrag 2 65 – Spezialisten in Schlüsselstellung 2 78 f. – Tarifwilligkeit 2 53 f. Tariffähigkeit von Spitzenorganisationen 2 192 ff. – Begriff 2 192 – CGZP-Beschluss 2 197 ff. – Tariffähigkeit der Mitgliedskoalitionen 2 195 f. – tarifliche Wirkungsmöglichkeiten 2 193 f. – keine Überschreitung der Tarifzuständigkeiten 2 198 ff. – kein Zurückbleiben hinter den Tarifzuständigkeiten 2 201 f. – Zuständigkeitskongruenz 2 197 ff. Tariffähigkeit/Tarifzuständigkeit, Verfahren 16 25 ff. – Antrag 16 33 ff. – Antragsbefugnis 16 28 ff. – Aussetzung 16 45 f. – Beteiligte 16 36 ff. – Bindungswirkung 16 43 – Einleitung 16 27 – Rechtsschutzinteresse 16 39 ff. – Verfahrensgegenstand 16 26 – Wiederaufnahmeverfahren 16 44 Tarifgebundenheit – beidseitige ~ im Falle von Tarifablösung bei Betriebsübergang 15 93 ff. – Betriebsnormen 6 90 ff. – Geltungsbereich, Abgrenzung 8 4 f. – durch Inbezugnahme siehe Bezugnahme auf Tarifvertrag – OT-Mitgliedschaft 2 154 ff. – persönlicher Geltungsbereich, Abgrenzung 8 76 – kraft Rechtsscheins 6 11 f. – Tarifgebundenheit, normative kraft Mitgliedschaft siehe dort

Stichwortverzeichnis

– Wegfall und Auswirkung auf Tarifvertrag 3 204 Tarifgebundenheit kraft hoheitlichen Aktes 6 10 – Betriebsnormen 6 90 ff. Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung 7 1 ff. – Allgemeinverbindlicherklärung siehe dort – Tarifgeltung aufgrund des AEntG siehe dort Tarifgebundenheit, normative kraft Mitgliedschaft 6 1 ff. – Anspruch gegen den Verband auf Aufnahme als Mitglied 6 24 ff. – Arbeitgeberseite 6 6 – Aufhebungsvertrag 6 44 ff. – Ausschluss aus dem Verband 6 53 ff. – außerordentliche Kündigung 6 43 – Austritt aus dem Verband 6 34 ff. – Beendigung der Mitgliedschaft 6 33 ff. – Begriff 6 1 – betriebsbezogene Mitgliedschaft des Arbeitgebers 6 8 – Erwerb der Mitgliedschaft 6 14 ff. – inzidente Prüfung durch das Arbeitsgericht 6 4 – Mängel des Verbandsbeitritts 6 29 ff. – Mitgliedschaft 6 13 ff. – kraft Mitgliedschaft 6 5 ff. – Mitgliedschaft bei Umwandlung des Verbands 6 32 – Nachbindung an Tarifverträge siehe dort – subjektive 6 3 – und Tarifgebundenheit kraft hoheitlichen Aktes 6 10 – und Tarifgebundenheit kraft Rechtsscheins 6 11 f. – Verbandsbeitritt durch Aufnahmevertrag 6 15 ff. Tarifgeltung aufgrund des AEntG 7 100 ff. – Allgemeinverbindlicherklärung 7 119 f.

– Ausschlussfristen 7 143 – Beendigung bei Erstreckung kraft Allgemeinverbindlicherklärung 7 154 – Beendigung der Wirkungen 7 154 ff. – Betriebsabteilung 7 109 – Branchenzugehörigkeit 7 107 ff. – erfasste Arbeitsbedingungen 7 113 ff. – Leiharbeitnehmer 7 144 f. – Mindestentgeltsätze 7 115 f. – Nachwirkung 7 157 ff. – Rechtsfolgen des AEntG 7 141 ff. – Rechtsschutz 7 162 – rechtstatsächliche Bedeutung 7 100 ff. – Rechtsverordnung nach § 7 Abs. 1 AEntG siehe dort – staatlicher Tarifnormerstreckungsakt 7 118 ff. – Urlaubskassen 7 117 – Verdrängungswirkung des AEntG 7 147 ff. – Verfassungsmäßigkeit des AEntG 7 163 ff. – vergleichbare Regelungsinstrumente 7 168 ff. – Verjährung 7 143 – Vermeidung 7 161 – Vertragsstatut 7 142 – Verwirkung 7 143 – Verzicht 7 143 – Voraussetzungen 7 106 ff. – Zweck des AEntG 7 104 f. Tarifgemeinschaft 2 178 ff. – Konzern-~ 2 184 – Konzern-~ und Ausscheiden aus Konzernverbund 15 173 ff. – mehrgliedriger Tarifvertrag 2 182 ff. – Rechtsform 2 181 – Tariffähigkeit 2 188 f. – als Tarifpartei 2 191 – Tarifzuständigkeit 2 190, 216 1271

Stichwortverzeichnis

Tarifkonkurrenz 1 28 f.; 3 222 f.; 9 85 ff. – Allgemeinverbindlicherklärung 7 71 ff. – arbeitsvertragliche Bezugnahme und anderer, konkurrierender Tarifvertrag 9 96 f. – Doppelmitgliedschaft 14 65 ff. – Geltungsbereich des Tarifvertrags 8 13 – Haustarifvertrag und Flächentarifvertrag 11 34; 14 68 ff. – Nachbindung an Tarifverträge 6 80 f. – und Nachwirkung von Tarifverträgen 9 38 – Rechtsfolge 9 89 ff. – Spezialitätsprinzip 9 91 ff. – Tarifeinheit 9 91 ff. – Tarifpluralität siehe dort – Tatbestand 9 87 f. Tariföffnungsklausel siehe Öffnungsklauseln Tarifpluralität 1 28 f.; 3 222 f.; 9 85, 98 ff. – siehe auch Tarifeinheit – AGB-Kontrolle von Bezugnahmeklauseln 10 32 f. – Allgemeinverbindlicherklärung 9 129 f. – Arbeitskämpfe 9 132 ff. – Bezugnahme auf Tarifverträge 9 121 – Doppelmitgliedschaft 14 66 – Folgeprobleme 9 119 ff. – gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien 9 131 – Gewerkschaftshopping 9 128 – und Grundsatz der Tarifeinheit/ Spezialitätsprinzip 9 95, 100 ff. – Haustarifvertrag und Flächentarifvertrag mit unterschiedlichen Gewerkschaften 11 36 ff. – Koalitionspluralität 1 21 f. – Kollektivnormen 9 125 ff. – mehrere Haustarifverträge 11 41 f. 1272

– Nebeneinander unterschiedlicher Vergütungs- und Arbeitszeitsysteme 9 120 – rechtspolitische Initiativen zur Wiederherstellung der Tarifeinheit 9 137 ff. – und Tarifvorrang 9 256 – Tatbestand 9 99 – Zuordnungstarifverträge gemäß § 3 BetrVG 9 126 f. Tarifregister 3 94 ff. – Mitwirkungspflichten der Tarifvertragsparteien 3 98 ff. – Reformüberlegungen 3 103 ff. – Zweck und Wirkung 3 101 f. Tarifschlichtung siehe Schlichtung Tarifsozialplan 12 120 ff. – Beteiligungsrechte des Betriebsrats während Streiks 12 149 f. – Betriebsänderung 12 120 f., 135 ff. – Erforderlichkeit eines Streiks 12 126 – Grundsatz der Kampfparität 12 131 ff. – Handlungsmöglichkeiten des Arbeitgebers 12 151 ff. – Interessenausgleich und Sozialplan als Präventionsmaßnahme 12 153 – Koalitionsfreiheit 12 127 ff. – Kollision mit betrieblichem Sozialplan 12 148 – Maßnahmen bei rechtswidrigem Streik 12 155 ff. – Rationalisierungsschutzabkommen 12 141 – Rationalisierungsschutzabkommen als Präventionsmaßnahme 12 152 – relative Friedenspflicht 12 140 ff. – Sperrwirkung 12 124 – Streik 12 125 ff. – tarifliche Regelbarkeit 12 123 – Tarifsozialplan und rechtmäßiger Streik 12 158 – Tendenzunternehmen 12 136 – unternehmerische Freiheit 12 134 ff.

Stichwortverzeichnis

– Verhandlungen mit der Gewerkschaft 12 154 Tariftreueerklärung 7 194 ff. – Europarechtswidrigkeit 7 197 – Verfassungsgemäßheit 7 196 Tariftreueklausel 1 30 f. Tarifunwilligkeit 2 124 Tarifverhandlungen – Abschlussbefugnis 3 36 ff. – Anspruch – Ansicht des BAG 3 4 ff. – Anspruch – Ansicht der Literatur 3 9 ff. – Anspruch oder Obliegenheit 3 13 ff. – Anspruch, tarifvertraglicher 3 20 – Ausgangslage, rechtstatsächliche 3 1 ff. – Blitzaustritt 6 49 ff.; 14 9 – Blitzwechsel in OT-Mitgliedschaft 2 174 ff. – Ergebnisniederschrift 3 56 ff. – Ergebnisse 3 55 ff. – Erklärungsfristen der Tarifvertragsparteien 3 81 ff. – Verhandlungsführung 3 35 – Vorverträge 3 59 ff. Tarifvertrag – Abschluss, Klage auf 16 47 – Abschlussbefugnis 3 36 ff. – befristeter ~ und Nachbindung 6 83 – Doppelnatur 4 1 f. – Einheits-~ 2 184 ff. – firmenbezogener Verbands~ 8 80; 11 10 – firmenbezogener Verbands~ zur Sanierung 12 9 ff. – geänderter ~ und Nachbindung 6 84 – höherrangiges Recht, Verstoß 3 170 ff. – mehrgliedriger siehe Tarifvertrag, mehrgliedriger – Mehrheit von Tarifverträgen 9 73 ff. – Publizität 3 92 ff. Tarifvertrag, mehrgliedriger 2 182 ff. – Ausscheiden aus dem Konzernverbund 15 171 f. – im engeren Sinne 2 183 – Konzern 2 103 ff.

Tarifverträge, typische Klauseln – Arbeitsbefreiung 5 (4) 7 ff. – AWO-Haustarifvertrag zu einfachen Differenzierungsklauseln 5 (8) 4 – BRTV Bau zu Ausschlussklauseln 5 (22) 5 – BRTV Bau zu Meistbegünstigungsklauseln 5 (16) 14 ff. – BRTV Bau zu Schlechtwetterklauseln 5 (18) 5 ff. – BRTV Bau zu Kündigung 5 (20) 8, 25 f. – BRTV Bau zu Kündigungsausschluss in Schlechtwetterzeit 5 (20) 8, 26 – Bundesentgelttarifvertrag Chemie zu Arbeitsentgelt 5 (3) 2 – Bundesentgelttarifvertrag Chemie zu Zulagen/Zuschlägen 5 (24) 9 ff., 23 ff. – Effektivklauseln 5 (10) 4 ff. – EMTV Metall zur Arbeitszeit 5 (5) 12, 37 ff. – EMTV Metall- und Elektroindustrie NRW zu Urlaub 5 (21) 9, 32 ff. – EMTV Metall- und Elektroindustrie NRW zu Urlaubsabgeltung 5 (21) 9, 35 ff. – EMTV Metall- und Elektroindustrie NRW zu Urlaubsentgelt 5 (21) 9 – EMTV Metall- und Elektroindustrie NRW zu Urlaubsgeld 5 (21) 9, 45 – ERTV Chemie zu Eingruppierung 5 (11) 4 ff. – Kurzarbeit 5 (14) 4 – Meistbegünstigungsklauseln 5 (16) 1 ff. – MTV Chemie zur Arbeitsbereitschaft 5 (5) 11, 32 ff. – MTV Chemie zur Arbeitszeit 5 (5) 10 f., 16 ff. – MTV Chemie zu Ausschlussklauseln 5 (22) 4 – MTV Chemie zu Kurzarbeit 5 (9) 3; 5 (13) 17 ff., 31 ff. 1273

Stichwortverzeichnis

– MTV Chemie zu Mehrarbeit 5 (15) 15, 19 ff. – MTV Chemie zu Öffnungsklauseln 5 (17) 20, 22 ff. – MTV Chemie zu Urlaub 5 (21) 7, 12 ff. – MTV Chemie zu Urlaubsabgeltung 5 (21) 7 – MTV Chemie zu Urlaubsentgelt 5 (21) 7 – MTV Chemie zu Urlaubsgeld 5 (21) 8 – MTV Chemie West zu Annahmeverzug/Betriebsrisiko 5 (2) 6, 15 ff. – MTV Chemie zu Wiedereinstellungsanspruch 5 (23) 7, 10 ff. – MTV Chemie zu Zulagen/Zuschlägen 5 (24) 8, 12 ff. – MTV Cockpitpersonal Lufthansa zu Altersgrenzen 5 (1) 10, 34 ff. – MTV Druck zu Besetzungsregeln 5 (7) 8 ff. – MTV ERA Metall NRW zu Mehrarbeit 5 (15) 16, 28 ff. – MTV Metall- und Elektroindustrie Südbaden zu Wiedereinstellungsanspruch 5 (23) 8, 19 ff. – MTV ERA Metall SüdwürttembergHohenzollern zu Annahmeverzug/ Betriebsrisiko 5 (2) 5, 7 ff. – MTV Metall- und Elektroindustrie Südwürttemberg-Hohenzollern zu Kündigung 5 (20) 6 – MTV Metall- und Elektroindustrie Südwürttemberg-Hohenzollern zu Kündigungsfristen 5 (20) 18 ff. – MTV Metall- und Elektroindustrie Südwürttemberg-Hohenzollern zu Unkündbarkeit 5 (20) 6, 9 ff. – MTV Wach- und Sicherheitsgewerbe zu Befristungen 5 (6) 8 f., 21 ff. – MTVe Metall NordwürttembergNordbaden zu Kurzarbeit 5 (13) 13 ff., 20 ff. – TV Beschäftigungssicherung Metall NRW zu Beschäftigungssicherung 5 (19) 11, 18 ff. 1274

– TV Beschäftigungssicherung Metall NRW zu Öffnungsklauseln 5 (17) 21, 33 ff. – TV Erholungsbeihilfe zu qualifizierten Differenzierungsklauseln 5 (8) 5 – TV Karstadt zu Standortsicherung 5 (19) 9, 12 ff. – TV zu Kurzarbeit, Qualifizierung und Beschäftigung Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg zu Befristungen 5 (6) 9, 25 ff. – TV Rationalisierungsschutz und Beschäftigungssicherung T-Systems Business Services zu Beschäftigungssicherung 5 (19) 10, 15 ff. – TVöD (Bund) zu Leistungsentgelt 5 (3) 3 – TVöD zu Altersgrenzen 5 (1) 9, 11 ff. – TVöD zu Arbeitsbefreiung 5 (4) 2 – TVöD zur Arbeitszeit 5 (5) 13 ff., 42 ff. – TVöD zu Arbeitszeitkonto 5 (7) 15 – TVöD zu Ausschlussklauseln 5 (22) 3 – TVöD zu Befristungen 5 (6) 6 f., 10 ff. – TVöD zur bevorzugten Besetzung von Dauerarbeitsplätzen durch befristet Beschäftigte 5 (23) 9, 22 ff. – TVöD zu Direktionsrechtsklauseln 5 (9) 2 – TVöD zur Entgeltfortzahlung 5 (12) 2 ff. – TVöD zu Führung auf Probe 5 (6) 7, 17 ff. – TVöD zu Kündigung 5 (20) 7 – TVöD zu Kündigungsfrist 5 (20) 22 f. – TVöD zu Mehrarbeit 5 (15) 17 f., 35 ff. – TVöD zu Unkündbarkeit 5 (20) 7, 24 – TVöD zu Urlaub 5 (21) 10 f., 46 ff. – Urlaubsgeld 5 (8) 6 Tarifvertragsparteien – siehe auch Verbandsrecht – Gemeinwohlbindung 1 35 f.

Stichwortverzeichnis

– Grundrechtsbindung 1 33 f. – Normsetzungsmonopol 1 37 ff. Tarifvertragsrecht – Deregulierung 1 25 ff. Tarifvertragsstatut 17 7 ff. – Arbeitsvertragsstatut 17 33 ff. – Auslandsarbeit, Einbeziehung im deutschen Tarifvertrag 17 52 ff. – „Ausstrahlung“ des deutschen Tarifvertrags 17 50 f., 55 ff. – Bestimmung des ~s 17 9 ff. – Eingriffsnorm des deutschen Rechts 17 38 ff. – „Einstrahlung“ einer ausländischen Kollektivvereinbarung 17 58 ff. – Festlegung durch Rechtswahl 17 12 ff. – Form 17 28 – Grenzen der Anwendung eines ausländischen ~s 17 37 ff. – internationaler Geltungsbereich deutscher Tarifverträge 17 47 ff. – konkludente Rechtswahl 17 18 f. – nachträgliche Rechtswahl 17 21 – objektive Anknüpfung 17 22 ff. – ordre public 17 43 f. – Reichweite 17 27 ff. – Tarifbindung 17 30 ff. – Tariffähigkeit 17 29 – Tarifnorm als Eingriffsnorm 17 42 – Tarifwirkung 17 30 ff. – Zulässigkeit der Rechtswahl 17 12 ff. Tarifvorbehalt 9 218 ff. – Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen 9 226 – Beendigung der Sperrwirkung 9 237 – Berufs- oder Spartentarifvertrag 9 234 – betriebliche Beschäftigungsbündnisse 13 18, 20 – Geltungsbereich des Tarifvertrags 8 15 – Haustarifvertrag 11 43 ff. – Öffnungsklauseln 9 240 – prozessuale Geltendmachung 9 238 f.

– Regelungsabreden 9 227 – Schutzzweck 9 221 ff. – Strukturen der Betriebsverfassung 9 241 f. – Tarifüblichkeit 9 235 f. – „durch Tarifvertrag geregelt“ 9 229 ff. – Umdeutung der Betriebsvereinbarung 9 244 – Verdrängung der Betriebsvereinbarung 9 243 Tarifvorrang 9 218 ff. – abschließende Tarifregelung 9 258 – Anwendungsbereich 9 248 ff. – Anwendungsvoraussetzungen 9 252 ff. – beidseitige kongruente Tarifbindung 9 257 – betriebliche Beschäftigungsbündnisse 13 17, 20 – freiwillige Betriebsvereinbarung 9 251 – Geltungsbereich des Tarifvertrags 8 14 – Haustarifvertrag 11 43 – Individualnormen 9 255 – nachwirkender Tarifvertrag 9 259 – Sanierungsbetriebsvereinbarung 12 112 ff. – Schutzzweck 9 245 ff. – Tarifpluralität 9 256 – Vorrangtheorie 9 248 – Zwei-Schranken-Theorie 9 249 f. Tarifwechsel – siehe auch Tarifwechselklausel – des Arbeitgebers 14 1 – des Arbeitnehmers 14 2 – gewillkürter 14 1 ff. – Herauswachsen aus dem Geltungsbereich eines Tarifvertrags 14 74 ff., 80 – Herstellung mehrfacher Tarifbindung 14 63 ff. – Umstrukturierung 14 79 – Verbandsaustritt 14 5 ff., 80 – Verbandswechsel 14 35 ff., 80 – Zeitarbeit 14 81 ff. 1275

Stichwortverzeichnis

Tarifwechselklausel 15 123 ff. – Betriebsübergang 15 148 ff. – fehlende Tarifbindung des Erwerbers 15 149 ff. – große dynamische Bezugnahmeklausel 10 86 ff. Tarifwerk 9 73 Tarifwidriges Verhalten siehe Unterlassung tarifwidrigen Verhaltens Tarifwilligkeit – Arbeitgeberkoalition 2 122 ff. – Arbeitnehmerkoalition 2 53 f. – Tarifunwilligkeit auf Arbeitgeberverbandsseite 2 124 Tarifzuständigkeit – anfängliches Fehlen 2 235 f. – Berufsverbandsprinzip 2 221, 227 – Definition 2 204 f. – einzelner Arbeitgeber 2 217 – Ermittlung der ~ 2 209 f. – fachliche 2 221 ff. – Festlegung 2 212 ff. – Festlegung durch Dachverband 2 214 – Feststellung der ~ 2 242 ff. – Flucht aus dem Tarifvertrag über die ~ 2 240 f. – Geltungsbereich, Abgrenzung 8 6 – gerichtliche Klärung 2 242 ff. – Gewerkschaft 2 218 – Gewerkschaft bei Haustarifvertrag 11 28 – Industrieverbandsprinzip 2 221 ff. – Klärung der ~ für Haustarifvertrag 11 81 ff. – korrespondierende 2 233 ff. – nachträglicher Wegfall 2 237 f. – und OT-Mitgliedschaft 2 232 – personelle 2 229 ff. – räumliche 2 219 f. – Regelung durch Satzung 2 212 ff. – sachliche 2 228 – Satzung 2 209 f. – Satzung, Bestimmtheit 2 16 – Schiedsverfahren bei DGB-Gewerkschaften 2 248 ff. – Spitzenorganisation 2 215 1276

– Streik bei tarifunzuständiger Gewerkschaft 2 239 – Tariffähigkeit, Abgrenzung 2 211 – Tarifgemeinschaft 2 190, 216 – Umstrukturierung, Wegfall der ~ 15 12 ff. – verbandsinterne Klärung 2 247 ff. – aufgrund Vereinsgewohnheitsrecht 2 213 – Verfahren über ~ siehe Tariffähigkeit/Tarifzuständigkeit, Verfahren – Wegfall und Auswirkung auf Tarifvertrag 3 203 – Zweck 2 206 ff. Teilkündigung eines Tarifvertrags – Nachbindung an Tarifverträge 6 85 Teilzeitbeschäftigung – Mehrarbeit 5 (15) 6 f., 10 Überleitungstarifverträge – Fusionen 11 78 – Haustarifvertrag 11 76 ff. – Herauswachsen aus dem fachlichen Geltungsbereich 11 79 – Umstrukturierungen 11 77 Überstunden – normative Tarifregelungen 4 16 Umdeutung – Austrittserklärung aus Verband 6 47 – Betriebsvereinbarung wegen Tarifvorbehalts 9 244 Umstrukturierung 15 1 ff. – siehe auch Betriebsübergang; Umwandlung – ablösender Tarifvertrag 15 11 – besondere Betriebsratsstrukturen 15 207 ff. – Bezugnahmeklauseln 15 10 – Haustarifvertrag 11 24; 15 13 f. – Herauswachsen aus dem Geltungsbereich einschlägiger Tarifverträge 15 7 ff. – Nachweis geänderter wesentlicher Vertragsbedingungen 15 166 – Tarifwechsel 14 79 – Überleitungstarifvertrag 11 77

Stichwortverzeichnis

– Wegfall der Tarifzuständigkeit 15 12 ff. Umwandlung 15 176 ff. – und Betriebsübergang 15 181 f. – Formwechsel 15 180, 204 – Vermögensübertragung 15 179, 203 – Verschmelzung siehe dort Unkündbarkeit – außerordentliche Kündigung 5 (20) 14 ff. – Ewigkeitsbindung, Risiko 5 (20) 15 – MTV Metall- und Elektroindustrie Südwürttemberg-Hohenzollern 5 (20) 6, 9 ff. – Sozialauswahl 5 (20) 13 – TVöD 5 (20) 7, 24 – typische Tarifnormen 5 (20) 5 Unterlassung tarifwidrigen Verhaltens 16 47 ff. – Antrag 16 53 – betriebliches Beschäftigungsbündnis als Betriebsvereinbarung 13 67 f. – betriebliches Beschäftigungsbündnis als Regelungsabrede 13 69 ff. – Folgenbeseitigungsanspruch 16 55 f. – gerichtliche Durchsetzung 16 51 ff. – Prozessstandschaft der Gewerkschaften 16 54 – Rechtsgrundlage 16 50 – Unterlassungsanspruch 16 50 ff. – Verstoß gegen betriebsverfassungsrechtliche Pflichten 16 49 Unternehmen – Anknüpfungspunkt für sektoralen Geltungsbereich 8 54 Unternehmensmitbestimmung – zwingende gesetzliche Regelungen 4 102 Unternehmerische Freiheit – Tarifsozialplan 12 134 ff. Unterrichtung bei Betriebsübergang 15 159 ff. – Bezugnahmeklauseln 15 165 – hohe Anforderungen 15 160 – rechtliche Folgen 15 161

– Tarifverträge beim Erwerber 15 162 – Tarifverträge des Veräußerers 15 163 – teilweise Ablösung von Tarifverträgen 15 164 Unterstützungsstreik – Geltungsbereich des Tarifvertrags 8 18 Unwirksamkeit des Tarifvertrags – in Bezug genommener Tarifvertrag 3 169 – EU-Recht 3 184 f. – Gründe 3 165 f. – Grundrechtsverstoß 3 176 ff. – Rechtsfolgenproblematik bei Gleichbehandlungs- und Diskriminierungsverstößen 3 187 ff. – Teil-~ 3 186 – Vertrauensschutz 3 167 f. – zwingendes Gesetzesrecht, Verstoß 3 170 ff. Urlaub – Altersdiskriminierung 4 31 – EMTV Metall- und Elektroindustrie NRW 5 (21) 9, 32 ff. – Langzeiterkrankung 5 (21) 5 – MTV Chemie 5 (21) 7, 12 ff. – normative Tarifregelungen 4 30 f. – TVöD 5 (21) 10 f., 46 ff. – typische Tarifnormen 5 (21) 1 ff. – übergesetzlicher ~sanspruch und EuGH-Rechtsprechung 5 (21) 4 Urlaubsabgeltungsanspruch – Ausschlussfristen 5 (21) 6; 5 (22) 16 – EMTV Metall- und Elektroindustrie NRW 5 (21) 9, 35 ff. – MTV Chemie 5 (21) 7 Urlaubsentgelt – EMTV Metall- und Elektroindustrie NRW 5 (21) 9 – MTV Chemie 5 (21) 7 – tariflicher Gestaltungsspielraum 5 (12) 11 – unabdingbare Regelung 5 (12) 10 1277

Stichwortverzeichnis

Urlaubsgeld – EMTV Metall- und Elektroindustrie NRW 5 (21) 9, 45 – MTV Chemie 5 (21) 8 Urlaubskassen – Tarifgeltung aufgrund des AEntG 7 117 Verbandsaustritt 6 34 ff.; 14 5 ff., 80 – Abschluss neuer Tarifverträge nach ~ 14 33 f. – Bedingungsfeindlichkeit 6 36 – betriebliches Beschäftigungsbündnis nach ~ 13 32 ff. – betriebliches Entgeltschema, Zwang zur Anwendung 14 30 ff. – Blitzaustritt 6 48 ff. – Blitzaustritt/-wechsel 2 6 ff.; 6 48 ff.; 14 9 f. – Form 6 35 – Fristen 6 37 ff. – und Gewerkschaftsaustritt 14 14 f. – große dynamische Bezugnahmeklauseln 10 91 f.; 14 23 ff. – Haustarifvertrag 11 20, 29; 14 11 – kleine dynamische Bezugnahmeklauseln 14 21 f. – kleine dynamische Bezugnahmeklauseln als Altklausel 10 68 – kleine dynamische Bezugnahmeklauseln mit Gleichstellungscharakter 14 23, 25 – Kündigungsfrist 14 8 – Nachbindung an Tarifverträge 14 12 – Nachwirkung 14 13 – Nachwirkung und neu eingetretene Arbeitnehmer 14 28 – Rechtsfolgen für bereits beschäftigte Arbeitnehmer 14 6 ff. – Rechtsfolgen für neu eingetretene Arbeitnehmer 14 26 ff. – statische Bezugnahmeklauseln 10 55 f.; 14 20, 22 – Umdeutung einer unwirksamen Austrittserklärung 6 47 – Verbandswechsel siehe dort 1278

– Verfahren 6 34 Verbandsklage 16 2 ff. – Bindungswirkung 16 15 f. – Entscheidung 16 13 f. – Feststellungsinteresse 16 11 f. – Klageart 16 9 ff. – Parteien 16 4 ff. – Rechtsverhältnis 16 10 – Streitgegenstand 16 3 Verbandsrecht 2 1 ff. – Abschlussbefugnis 3 36 ff. – Auflösung des Verbands 2 18 ff. – Aufnahmeanspruch gegen den Verband 6 24 ff. – Ausschluss aus dem Verband siehe dort – Beendigung der Mitgliedschaft 6 33 ff. – Beitritt durch Aufnahmevertrag 6 15 ff. – Blitzaustritt/-wechsel 2 6 ff.; 6 48 ff. – Erwerb der Mitgliedschaft 6 14 ff. – Geschäftsführung 2 27 – Gründung 2 9 ff. – Gründungsmitglieder 2 9 f. – Haftung 2 30 ff. – Mängel des Verbandsbeitritts 6 29 ff. – Mitgliedschaft 2 23 ff. – Satzung siehe dort – Umwandlung des Verbands 6 32 – Verband, Begriff 2 2 – Verbandsaustritt siehe dort – Verbandswechsel siehe dort – Vereinsverfassung 2 11 ff. – Vertretung 2 28 f. Verbandswechsel 14 35 ff., 80 – Bestehen eines Tarifvertrags mit der „alten“ Gewerkschaft und große dynamische Bezugnahmeklausel 14 50 – Bestehen eines Tarifvertrags mit der „alten“ Gewerkschaft und kleine dynamische Bezugnahmeklausel als konstitutiv-dynamisch wirkende Verweisung 14 49 – Bestehen eines Tarifvertrags mit der „alten“ Gewerkschaft und kleine

Stichwortverzeichnis











– – – – – – – – –





dynamische Bezugnahmeklausel als Gleichstellungsabrede 14 48 Bestehen eines Tarifvertrags mit der „alten“ Gewerkschaft und statische Bezugnahmeklausel 14 47 Bestehen eines Tarifvertrags mit einer „neuen“ Gewerkschaft und große dynamische Bezugnahmeklausel 14 55 Bestehen eines Tarifvertrags mit einer „neuen“ Gewerkschaft und kleine dynamische Bezugnahmeklausel als konstitutiv-dynamisch wirkende Verweisung 14 54 Bestehen eines Tarifvertrags mit einer „neuen“ Gewerkschaft und kleine dynamische Bezugnahmeklausel als Gleichstellungsabrede 14 53 Bestehen eines Tarifvertrags mit einer „neuen“ Gewerkschaft und statische Bezugnahmeklausel 14 52 betriebliches Entgeltschema, Zwang zur Anwendung 14 62 Bezugnahmeklausel bei neu eingetretenen Arbeitnehmern 14 61 große dynamische Bezugnahmeklauseln 10 98 kleine dynamische Bezugnahmeklauseln als Altklausel 10 69 mit mehrfacher Tarifbindung siehe Tarifbindung, mehrfache Rechtsfolgen für bereits beschäftigte Arbeitnehmer 14 37 ff. Rechtsfolgen für neu eingetretene Arbeitnehmer 14 56 ff. statische Bezugnahmeklauseln 10 55, 57 Tarifabschluss mit anderer Gewerkschaft und neu eingetretene Arbeitnehmer 14 58 ff. Tarifabschluss mit gleicher Gewerkschaft und neu eingetretene Arbeitnehmer 14 57 Tarifgeltung aufgrund geltender Bezugnahmeklauseln 14 45 ff.

– Tarifgeltung bei Tarifvertragsabschluss mit anderer Gewerkschaft 14 40 ff. – Tarifgeltung bei Tarifvertragsabschluss mit gleicher Gewerkschaft 14 38 f. – Tarifgeltung nach dem TVG 14 37 ff. Verein siehe Verbandsrecht Verfallklauseln siehe Ausschlussfristen Vergleich – gebilligter ~ und Verzichtsverbot 9 61 ff. – prozessualer Tatsachen~ und Verzichtsverbot 9 64 f. – Verzichtsverbot 9 56 Vergütung siehe Arbeitsentgelt Verjährung 9 70 ff. – und Ausschlussfristen 9 72 – und Tarifgeltung aufgrund des AEntG 7 143 Verschmelzung 15 177 – zur Aufnahme auf einen Rechtsträger mit bestehenden Betrieben 15 187 ff. – besondere Betriebsratsstrukturen 15 210 f. – Firmentarifverträge 15 185 ff. – kollektivrechtliche Fortgeltung eines Firmentarifvertrags 15 185 f. – Verbandstarifverträge 15 183 ff. Versetzung 5 (9) 8 Vertrauensschutz – rückwirkende Inkraftsetzung 3 73 ff. – unwirksamer Tarifvertrag 3 167 f. Verwirkung 9 66 ff. – und Tarifgeltung aufgrund des AEntG 7 143 Verzicht – und Tarifgeltung aufgrund des AEntG 7 143 – auf tarifliche Ansprüche siehe Verzichtsverbot 1279

Stichwortverzeichnis

Verzichtsverbot – Anwendungsbereich 9 55 ff. – Ausgleichsquittung 9 56 – Ausnahmen 9 61 ff. – Erlassvertrag 9 56 – nicht gebilligter Prozessvergleich über Tatsachenfragen 9 64 f. – gebilligter Vergleich 9 61 ff. – Gesamtnichtigkeit einer Vereinbarung 9 57 – Klageverzichtsvereinbarung 9 56 – negatives Schuldanerkenntnis 9 56 – Rechtsfolgen 9 54 – Rechtsgeschäfte außerhalb des Arbeitsverhältnisses 9 59 – Regelungszweck 9 53 – Stundung 9 56 – Vergleich 9 56 Vorverträge – Ergebnisniederschrift 3 59 ff. Wiedereinstellungsklauseln – Arbeitskampf 5 (23) 5 – bedingte 5 (23) 3 – MTV Chemie 5 (23) 7, 10 ff. – MTV Metall- und Elektroindustrie Südbaden 5 (23) 8, 19 ff.

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– normative Tarifregelungen 4 49 f. – typische Tarifnormen 5 (23) 1 ff. Zeitkollisionsregel 9 74 Zulagen-/Zuschlagsregelungen 5 (3) 8 – Anrechnung von Tariflohnerhöhungen siehe dort – Aufwandsentschädigung 5 (24) 4 – Begriffe 5 (24) 1 ff. – Besteuerung 5 (24) 5 f. – Bundesentgelt-TV Chemie 5 (24) 9 ff., 23 ff. – Formen 5 (24) 3 – Haustarifvertrag 11 104 – MTV Chemie 5 (24) 8, 12 ff. – typische Tarifnormen 5 (24) 1 ff. – Unterscheidung 5 (24) 2 Zuschlagsregelungen siehe Zulagen-/Zuschlagsregelungen Zuständigkeitsbestimmungen, tarifliche 16 71 ff. Zwangsvollstreckung – Einwirkungsklage 16 24