Der Staat setzt Rahmenbedingungen für die Wirtschaft der Staat reagiert auf ökonomische Entwicklungen die Wirtschaft ric
252 73 3MB
German Pages 231 [234] Year 2012
Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft. Einleitende Bemerkungen
I. Kaiserreich, Weimarer Republik und NS-Diktatur
Der Gründerkrach, die Krise des liberalen Paradigmas und der Aufstieg des Kathedersozialismus
Nationalökonomie und ordnungspolitische Diskussion in der Weimarer Republik
Das nationalsozialistische Wirtschaftssystem: Indirekter Sozialismus, gelenkte Marktwirtschaft oder vorgezogene Kriegswirtschaft?
Wirtschaftspolitische Ordnungsvorstellungen im deutschen Widerstand gegen das „Dritte Reich“
II. Das geteilte Deutschland
Ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft als radikale Ordnungsinnovation und die Realität des bundesrepublikanischen „Wirtschaftswunders“
Wachstum und kein Ende. Die Ära des Keynesianismus in der Bundesrepublik
„Neoliberalismus“ als wirtschaftspolitisches Ordnungsmodell?
Die Bundesrepublik Deutschland in den 1980er Jahren
Die DDR als ökonomische Konkurrenz:
Das Scheitern des „zweiten deutschen Staates“ als Vergleichswirtschaft
III. Bilanz und Ausblick
Hat die Deutsche Einheit die Soziale Marktwirtschaft verändert?
Eine Zwischenbilanz 1990-2010
Was kann der Staat, was darf die Wirtschaft?
Die Autoren des Bandes
Personenregister
Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft
Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus Wissenschaftliche Reihe Band 11
Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft Vom Kaiserreich bis zur Berliner Republik Herausgegeben von Werner Plumpe und Joachim Scholtyseck
Redaktion: Florian Burkhardt
Franz Steiner Verlag
Umschlagabbildung: Ein Polizist bewacht wertlos gewordenes Papiergeld, das unter Aufsicht verbrannt werden soll (1923) © ullstein bild
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10142-4
Inhalt Vorwort .......................................................................................................... 7 Einleitung Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft. Einleitende Bemerkungen Werner Plumpe / Joachim Scholtyseck ......................................................... 9 I. Kaiserreich, Weimarer Republik und NS-Diktatur Der Gründerkrach, die Krise des liberalen Paradigmas und der aufstieg des Kathedersozialismus Werner Plumpe ............................................................................................ 17 nationalökonomie und ordnungspolitische Diskussion in der Weimarer Republik Roman Köster .............................................................................................. 43 Das nationalsozialistische Wirtschaftssystem: Indirekter Sozialismus, gelenkte Marktwirtschaft oder vorgezogene Kriegswirtschaft? Jochen Streb ................................................................................................ 61 Wirtschaftspolitische Ordnungsvorstellungen im deutschen Widerstand gegen das „Dritte Reich“ Michael Kißener .......................................................................................... 85 II. Das geteilte Deutschland ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft als radikale Ordnungsinnovation und die Realität des bundesrepublikanischen „Wirtschaftswunders“ Joachim Scholtyseck ................................................................................. 101 Wachstum und kein Ende. Die Ära des Keynesianismus in der Bundesrepublik Alexander Nützenadel ............................................................................... 119
6
Inhalt
„neoliberalismus“ als wirtschaftspolitisches Ordnungsmodell? Die Bundesrepublik Deutschland in den 1980er Jahren Andreas Wirsching .................................................................................... 139 Die DDR als ökonomische Konkurrenz: Das Scheitern des „zweiten deutschen Staates“ als Vergleichswirtschaft André Steiner ............................................................................................ 151 III. Bilanz und Ausblick hat die Deutsche Einheit die Soziale Marktwirtschaft verändert? Eine Zwischenbilanz 1990-2010 Karl-Heinz Paqué ..................................................................................... 179 Was kann der Staat, was darf die Wirtschaft? Karen Horn ............................................................................................... 205 Die autoren des Bandes ............................................................................ 227 Personenregister ........................................................................................ 229
VORWORt Der vorliegende Band dokumentiert die Erträge des theodor-heuss-Kolloquiums „Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft“, das die Stiftung Bundespräsident-theodor-heuss-haus vom 28. bis 30. Oktober 2010 im tagungszentrum Stuttgart-hohenheim veranstaltet hat. Die beiden herausgeber konnten sich dank vielfältiger Unterstützung ganz auf die inhaltlichen aspekte der tagung konzentrieren. Das tagungsthema wurde von der Stiftung vorgeschlagen und im Beirat der Stiftung erörtert und modelliert. Der Geschäftsführer der Stiftung, Dr. thomas hertfelder, hat mit seinem team die Organisation des Kolloquiums übernommen und damit wesentlich zum guten Gelingen und zur angenehmen atmosphäre der wissenschaftlichen Debatte beigetragen, die das Kolloquium drei tage lang geprägt hat. Die Wissenschaftsförderung der Sparkassen-Finanzgruppe e. V., Bonn, die Sparkassen-Finanzgruppe und die Stiftung der Kreissparkasse Esslingen-nürtingen haben die Drucklegung des tagungsbandes mit einer großzügigen Spende maßgeblich unterstützt. Der vorliegende Band wurde redaktionell von Florian Burkhardt, M. a., betreut, der auch das Personenregister besorgte. all diesen Institutionen und Personen gilt unser herzlicher Dank. Bonn/Frankfurt am Main, im Januar 2012 Werner Plumpe und Joachim Scholtyseck
EInlEItUnG DER Staat UnD DIE ORDnUnG DER WIRtSchaFt. EInlEItEnDE BEMERKUnGEn Werner Plumpe / Joachim Scholtyseck Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft – das ist, möchte man mit theodor Fontane fast resigniert sagen, ein weites Feld. Seit mindestens 300 Jahren zerbricht sich die okzidentale Welt den Kopf darüber, was Obrigkeit und Staat können und sollen, was die Wirtschaft und ihre akteure dürfen und wollen – und in welchem Verhältnis das alles zueinander steht. In diesen Jahren sind wahrscheinlich alle möglichen Varianten durchdacht und die meisten von ihnen auch ausprobiert worden. Eine befriedigende, zumindest eine unwidersprochene Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft scheint bisher nicht gelungen und zeichnet sich auch nicht ab – gleichwohl hat die Bedeutung des Staates in den vergangenen Jahrhunderten sukzessive zugenommen. lag der Staatsanteil am Bruttosozialprodukt vor 1914 um die 14 Prozent, so betrug er in den 1920er und den 1950er Jahren jeweils bereits deutlich mehr als 30 Prozent, um schließlich seit den 1970er Jahren auf nunmehr, wenn auch schwankende 50 Prozent der Wirtschaftsleistung anzusteigen. Dass es hier zu einem dauernden Rückgang kommt, kann als ausgeschlossen gelten. Es scheint, als habe die gesellschaftliche Praxis selbst – jenseits aller Debatten – entschieden, dass ein einigermaßen funktionierendes modernes Wirtschaftssystem nur mit einer starken, wachsenden Staatstätigkeit möglich ist, auch wenn sich angesichts der weltweiten Verschuldungskrise ganz aktuell die Frage stellt, ob diese Entwicklung nicht doch an eine schwer zu überwindende Barriere gelangt ist. Man kann daher zunächst, unabhängig von allen Grundsatzstreitereien, festhalten, dass die Bedeutung der wirtschaftlichen Rolle des Staates in den letzten beiden Jahrhunderten kontinuierlich gewachsen ist; eine Beobachtung, die im Übrigen der preußische Ökonom und Staatssozialist adolph Wagner bereits im 19. Jahrhundert gemacht hatte und die als „Wagnersches Gesetz“ in die Geschichte der Volkswirtschaftslehre einging. Ordnungspolitisch muss diese Feststellung indes noch nicht viel bedeuten: Die hier interessierende Frage bezüglich der Ordnung der Wirtschaft ist bestenfalls die, ab welchem Prozentsatz staatlicher Inanspruchnahme der Wirtschaftsleistung eine Wirtschaftsordnung ihren charakter ändert. Manche behaupten bereits heute, die
10
Werner Plumpe / Joachim Scholtyseck
Bundesrepublik habe im Grunde längst eine sozialistische Ordnung, auch wenn dies wohl eine Minderheitsmeinung vor allem radikal-libertärer Publizisten sein mag. Die Masse der Beobachter, auch aus der Zunft der professionellen Marktbeobachter, hingegen würde der Bundesrepublik wohl eine kapitalistische Ordnung der Wirtschaft attestieren. Ihr zumeist ja politischer Streit drehte und dreht sich auch gar nicht mehr um Grundsatzfragen, auch wenn diese als Grundierung stets eine Rolle spielen (können). Ganz im Gegenteil drehen sich die auseinandersetzungen um die Fragen der art und Weise der staatlichen Eingriffe in die Wirtschaft. Dabei lassen sich in der Diskussion – ähnlich wie in der wirtschaftlichen Entwicklung und parallel zu ihr – semantische Dominanzen beobachten, die zwischen einem Vorherrschen keynesianischen und neoliberalen Denkens oszillieren. Die Wendepunkte in diesen Schwankungen bilden offenbar tiefere Wirtschaftskrisen, die bis dato dominante Konzepte der Staatstätigkeit delegitimieren und konkurrierenden Überlegungen nachdruck verleihen. Dabei sind diese mit Krisen einsetzenden beziehungsweise verbundenen Orientierungskrisen nicht simple Scharniere; zumeist verbinden sich mit ihnen Phasen heftigen politischen und theoretischen Streits, wie das gerade seit der Pleite des Investmentbankhauses lehman Brothers im Jahr 2008 und den aktuellen Debatten um den Erhalt des Euro als gemeinschaftlicher Währung sowohl in den USa wie in Europa anschaulich beobachtet werden kann. Die Wahrnehmbarkeit des Wechsels ist zumeist etwas, das sich erst im nachhinein einstellt – etwa der aufstieg der Sozialpolitik nach 1873 oder die Blüte des Keynesianismus nach 1929. Es gibt also offenkundig regelmäßig Streit um die Wirtschaftspolitik, der allerdings nicht zwangsläufig mit Grundsatzfragen verbunden sein muss. So gibt es zwar derzeit eine heftige auseinandersetzung über die Rolle des Staates, aber der Kapitalismus selbst wird, sieht man einmal von den charakteristischerweise ausgesprochen diffusen Vorstellungen der anhänger der OccupyBewegung oder den politischen Konzepten der linkspartei ab, kaum in Frage gestellt. Der gegenwärtige antikapitalismus, soweit er sich in der Publizistik findet, hat überdies etwas ausgesprochen Rhetorisches; wirkliche Ordnungsalternativen verbinden sich mit ihm nicht. Dies war in der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts definitiv anders, als die politischen und ökonomischen Krisen die etablierte liberale Ordnung der Wirtschaft grundsätzlich in Frage stellten und alternative Ordnungsentwürfe provozierten. nun geht der heutige Streit aber, auch wenn er diesseits der Ordnungsschwelle ausgetragen wird, nicht allein um Fragen der Wirtschaftspolitik in einem strukturellen oder prozessualen Sinne, also um Fragen der Struktur- und der Konjunkturpolitik; es werden auch jeweils ordnungspolitische Fragen berührt. Dabei zeigen sich ebenfalls alte Konzeptionen in jeweils neuem Gewand, aber es kommen auch neue themen und Probleme hinzu. Überdies ist der Streit im Kern ein politi-
Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft. Einleitende Bemerkungen
11
scher, in dem allerdings durchweg ökonomische argumente verwendet werden. allen, auch den liberalen, geht es um Staatshandeln! Schon Ende des 18. und anfang des 19. Jahrhunderts waren derartige Fragen aktuell, vor allen Dingen jene nach der Freiheit der ökonomischen akteure, sieht man einmal von den Grundsatzfragen der Begründung der Rolle des Staates (Vertrags- versus Staatstheorie) ab. Der radikale liberalismus etwa der Physiokraten forderte auf naturrechtlicher Grundlage die völlige Freigabe des wirtschaftlichen handelns. Die an adam Smith angelehnten Ökonomen und Wirtschaftspolitiker konnten diesem ansinnen nur bedingt zustimmen, sahen aber immerhin, dass völlig freie Märkte tendenzen zur Selbstblockade entwickeln würden (Georg Friedrich Sartorius). Insofern müsse der als autonom gedachte Staat hier ordnend eingreifen. an diese ordnungspolitische Überlegung konnte man später, seit den 1850er Jahren anknüpfen, als sich die negativen Folgen freien ökonomischen handelns nicht nur ordnungspolitisch, sondern auch sozial zeigten. Spätestens seit jenen auseinandersetzungen um die „Soziale Frage“, wurde vom Staat verlangt, dass er nicht nur die Ordnung der Märkte, sondern auch die soziale Integration des Kapitalismus und die soziale Disziplinierung der Unternehmer zu leisten habe. Die bis heute anhaltende Diskussion, welche Mittel dafür eingesetzt werden sollten, kennzeichnete und prägte die ordnungspolitischen Debatten der folgenden Jahrzehnte. Während der Fortschrittsoptimismus, der sich auch auf ökonomische aspekte bezogen hatte, Zug um Zug verloren ging, brachte das Ende des Ersten Weltkrieges eine merkliche Polarisierung mit sich, in der nicht nur das liberale System grundsätzlich in Frage gestellt wurde, sondern auch von ihren Verfechtern wie den Schülern Gustav Schmollers oder John Maynard Keynesʼ alternative lösungsmodelle präferiert wurden. Schließlich kam mit der Weltwirtschaftskrise noch die Erfahrung des, frei formuliert, Kapitalistenstreiks hinzu, die Keynesʼ außerordentlich erfolgreiche Parole vom „Deficit Spending“ befeuerte, die in der nachkriegszeit in der sogenannten neoklassischen Synthese dann der Globalsteuerung das Wort redete. Ordnungspolitik, Sozialpolitik, Konjunkturpolitik: aus diesen drei teilweise deckungsgleichen, teilweise konkurrierenden Feldern besteht der Streit um die Rolle des Staates bei der Ordnung der Wirtschaft. Dabei haben sich bestimmte leitsemantiken durchgesetzt, die in Krisenzeiten auf- oder abstiegserlebnisse haben. aber allein die tatsache, dass wir um die historizität der Debatten wissen, verhindert, dass wir sie jeweils einfach wiederholen. auch in diesen Entwicklungen findet sich historischer Wandel, dem es nachzuspüren lohnt. Grund genug also, um auf einer tagung das changierende Verhältnis von Staat und Wirtschaft in der longue durée des 19. und 20. Jahrhunderts etwas genauer unter die lupe zu nehmen. Die hier vorliegenden Beiträge dokumentieren die Ergebnisse einer tagung, die die Stiftung Bundespräsident-theo-
12
Werner Plumpe / Joachim Scholtyseck
dor-heuss-haus vom 28. bis 30. Oktober 2010 in Stuttgart-hohenheim veranstaltet hat. Zunächst schildert Werner Plumpe, gleichsam in die Problematik einführend, den „Gründerkrach“ der frühen 1870er Jahre, die Krise des liberalen Paradigmas und den aufstieg des „Kathedersozialismus“ als den Versuch, die sich auftürmenden sozialen Krisen einer sich ausdifferenzierenden modernen Industriegesellschaft zu bewältigen. Mit dem Ersten Weltkrieg – und erst recht mit seinem Ende 1918 – schienen diese Versuche weitgehend gescheitert, zumal das liberale Modell mit seinen traditionellen Rezepten europaweit an seine Grenzen gekommen zu sein schien und zunehmend autoritäre Wirtschaftslösungen als universelle Rettungsmaßnahmen offeriert wurden, die den bisherigen ansätzen diametral entgegenstanden. hieran anknüpfend betrachtet Roman Köster den Untergang der kaiserzeitlichen Ordnung und die – weitgehend ergebnislose – Suche nach einem neuen Muster in den Jahren der Inflation und der Weltwirtschaftskrise. Die Folge war nicht nur eine Ratlosigkeit in der nationalökonomischen Debatte, sondern auch eine praktische Unfähigkeit, der Weltwirtschaftskrise mit wirksamen Rezepten entgegenzutreten. Solche Rezepte wurden allerdings lauthals von adolf hitler und seinen „Wirtschaftsexperten“ verkündet und angekündigt. Jochen Streb widmet sich der Frage, ob der nationalsozialismus mit seinem radikalen politischen Programm in ökonomischer hinsicht eine neue Wirtschaftsordnung auf den Weg zu bringen versuchte: Seine Überlegungen kreisen um die auch heute noch umstrittene Frage, ob die „braune Diktatur“ nun eine art indirekter Sozialismus, eine gelenkte Marktwirtschaft oder eine vorgezogene Kriegswirtschaft darstellte. Michael Kißener hingegen betrachtet die Gegenentwürfe zu den nationalsozialistischen Vorstellungen. Er analysiert die alternativen wirtschaftspolitischen Ordnungsvorstellungen der Widerstandskreise und des „anderen Deutschland“: Verschiedene „dritte Wege“, die beispielsweise von den Freiburger Kreisen in aller heimlichkeit skizziert und entwickelt wurden und gerade angesichts der nS-Politik Monopole und Kartelle, seien sie privater oder staatlicher Provenienz, verhindern und einen zukunftsfähigen ordnungspolitisch eingehegten Kapitalismus in der Zeit nach hitler ermöglichen wollten. Diese disparaten Modelle kamen bekanntlich nicht zum Zug; ganz im Gegenteil waren es zunächst die alliierten, die nach 1945 ihre wirtschaftspolitischen Vorstellungen dem besiegten Feindstaat aufzwingen konnten – zumindest schien es so: Joachim Scholtyseck stellt vor diesem hintergrund ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft als Ordnungsinnovation vor und verbindet die theoretischen Debatten der nachkriegszeit mit der Realität des „Wirtschaftswunders“ der 1950er Jahre. Alexander Nützenadel untersucht die „kurze Blüte von Keynesianismus und Globalsteuerung“, die mit einer charakteristischen, durch nS-Regime und Zweiten Weltkrieg verursachten, Verzögerung auch in der Bundesrepublik einsetzte, zugleich jedoch durch eine
Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft. Einleitende Bemerkungen
13
spezifisch deutsche Komponente ausgezeichnet war, weil gerade der Faktor Stabilität tief ins deutsche kollektive Gedächtnis eingegraben war. Spätestens seit der Ölkrise 1973 und dem Ende der Planungseuphorie gehörten die damit verbundenen optimistischen annahmen der makroökonomischen Steuerbarkeit definitiv der Vergangenheit an. allerdings gilt diese Feststellung vor allem für die ordnungspolitische Diskussion. Andreas Wirsching wirft nämlich einen nüchternen Blick auf den „neoliberalismus“ der 1980er Jahre und stellt fest, wie wirkungsmächtig die Residuen des Keynesianismus in der Ära Kohl blieben. André Steiner wiederum schaut auf die andere Seite des Eisernen Vorhangs. Er betrachtet das im ökonomischen Desaster endende Konkurrenzmodell der DDR und ermöglicht einen Vergleich zum bundesrepublikanischen Beispiel: Ordnungspolitische Debatten, wie sie für westliche Demokratien kennzeichnend waren, durften allerdings in der SED-Diktatur ohnehin nicht geführt werden. Karl-Heinz Paqué wiederum wirft einen Blick auf die ordnungspolitischen Vorstellungen, die im Zuge der deutschen Wiedervereinigung zum tragen kamen. Er fragt nach dem langfristigen „Erfolg“ dieses Modells und stellt die wirtschaftspolitische Dynamik der reindustrialisierten „neuen länder“ Ostdeutschlands in die Zusammenhänge der gesamten Entwicklung der mittel- und mittelosteuropäischen Staaten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als östlicher Führungsmacht. Den abschluss des Bandes bietet ein aufsatz von Karen Horn, der schließlich ganz grundsätzlich fragt: „Was kann der Staat, was darf die Wirtschaft?“ Sie stellt durchaus provozierend fest, dass der moderne marktwirtschaftliche Staat des 21. Jahrhunderts in der lage ist, Regelvertrauen zu gewähren, wobei er zugleich den Bürger auszuplündern versteht, während die Wirtschaft sich zum unausgesprochenen Grundsatz zu machen scheint, alles unternehmen zu dürfen, was nicht ausführlich verboten ist. Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang freilich, dass über diese jüngsten Entwicklungen kaum ernsthafte ordnungspolitische Debatten geführt werden, wie dies seit dem 19. Jahrhundert in Deutschland die norm war und wie der vorliegende Band nachzeichnen möchte.
I. Kaiserreich, Weimarer Republik und NS-Diktatur
DER GRÜnDERKRach, DIE KRISE DES lIBERalEn PaRaDIGMaS UnD DER aUFStIEG DES KathEDERSOZIalISMUS Werner Plumpe 1. Wirtschaftskrisen als Zäsuren Wirtschaftskrisen können erhebliche Folgen für die gesellschaftliche Selbstbeschreibung haben und damit auch die Voraussetzungen ändern, unter denen politische Entscheidungen noch als legitim gelten. Gesellschaftliche Selbstbeschreibungen, zumal solche, die im Medium der öffentlichen Meinung stattfinden, sind zwar nie eindeutig, aber evolutionär setzen sich jeweils bestimmte Scripts und Schemata durch, die den „Geist der Zeit“ bestimmen und entsprechend politische und wirtschaftliche Entscheidungsprozesse und Entscheidungen ermöglichen. Diese leitsemantiken nun werden durch ökonomische Krisen erkennbar herausgefordert, da die durch sie zugleich ermöglichte wie beschriebene Welt sich geradezu abrupt ändert – bisher sicher Gewusstes wechselt gelegentlich schlagartig seinen Status und erscheint plötzlich als falsch, naiv, dumm. Wir kennen alle den rasanten auf- wie abstieg des Finanzmarktliberalismus in den vergangenen Jahren. Der Umschlag dieses ansatzes vom überzeugenden Konzept zur fadenscheinigen Ideologie wurde dabei keineswegs durch „bessere Einsicht“ veranlasst, sondern durch den krisenhaften Rückgang der Immobilienpreise in den USa und die sich anschließende weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise ausgelöst.1 Die gegenwärtige Situation macht überdies auf einen weiteren Punkt aufmerksam. Die auswirkungen der Krisen betreffen in der Regel nicht alle in einer Gesellschaft verfügbaren Schemata und Scripts der Selbstbeschreibung, im Gegenteil. Die Krise kann auch zur Stunde konkurrierender Semantiken werden, die bislang ein Schattendasein führten, sich nicht behaupten konnten oder in einem wie auch immer gearteten Minderheitsstatus verblieben waren. Insofern sie vor allem die bisherigen leitsemantiken delegitimieren, können Krisen bisher unterlegene, defensive oder versteckte (konkurrierende) Semantiken ans licht holen oder doch stark aufwerten.2 Dass, um erneut auf ein aktuelles Beispiel 1 2
Journalistisch zugespitzt, aber durchaus lesenswert Lisa NieNhaus: Die Blindgänger. Warum Ökonomen auch künftige Krisen nicht erkennen werden, Frankfurt a. M. 2009. typisch dafür etwa die Rückkehr eines wie auch immer gearteten Keynesianismus, z. B. PauL R. KRugmaN: Die neue Weltwirtschaftskrise, Frankfurt a. M. 2009; bezeichnend auch die Karriere der texte von Naomi KLeiN: Die Schock-Strategie. Der aufstieg des Krisenkapitalismus, Frankfurt a. M. 2007.
18
Werner Plumpe
zu verweisen, eine Person wie Sahra Wagenknecht heute ernst genommen wird, wäre noch vor einigen Jahren geradezu unvorstellbar gewesen; man hätte ihren Platz in der linken nicht bestritten, aber ihr letztlich keine darüber hinausgehende Bedeutung zugestanden.3 Diese krisenbedingte Rotation von unter Umständen konkurrierenden Semantiken, insbesondere aber ihre Verwirbelung scheint typisch für Phasen zu sein, die sich an tiefere Wirtschaftskrisen anschließen – dies ist zugegebenermaßen unklar ausgedrückt.4 Die praktischen auswirkungen von Krisen sind selten derart klar, dass sie unmittelbar neue leitsemantiken zuließen. Denn zwar können bisher unterlegene semantische angebote profitieren; dass sie aber die krisenbedingten Veränderungen korrekt und überzeugend nicht nur erfassen, sondern auch zustimmungsfähige auswege weisen können, ist deshalb ja noch keineswegs erwiesen.5 Wirtschaftskrisen sind ja zudem immer auch Momente im Strukturwandel und nicht einfach Unterbrechungen eines stabilen Wachstumsprozesses, der nach der Krise unter Verzicht auf bestimmte, als krisenverursachend geltende Verhaltensweisen einfach fortgesetzt werden kann. Und mehr noch: Krisen sind keine isolierten Phänomene, sondern gehören zum ökonomischen Zyklus dazu wie aufschwung und Boom. Simple Rezepte zur ihrer Beschreibung und Überwindung taugen daher nicht; Krisen sind wohl Impulse für Ideenevolutionen und semantische Variierungen mit ganz offenem ausgang.6 Streit ist die normale Reaktion. Der Fall jedenfalls, dass eine bisherige leitsemantik spektakulär untergeht, den Platz vollständig räumt und unmittelbar ersetzt wird, ist historisch fast ohne Beispiel. Vielleicht kommt die Weltwirtschaftskrise von 1929 dieser radikalen Eindeutigkeit noch am nächsten, doch auch hier sind Zweifel angebracht. Denn die Krisenreaktionen umfassten nicht nur ein außerordentlich breites Spektrum an theoretischen Konzepten und politischen Entwürfen; sie variierten auch von land zu land und – es brauchte Zeit, zum teil viel Zeit, bis sich der nebel lichtete.7 Der große Erfolg von Keynes’ allgemeiner theorie, über den 3 4 5
6 7
sahRa WageNKNecht: Wahnsinn mit Methode. Finanzcrash und Weltwirtschaft, Berlin 2009, ein Buch, das in der Krise gleich mehrere auflagen erlebte. Vgl. hierzu vor allem haNsjöRg siegeNthaLeR: Regelvertrauen, Prosperität und Krisen: Die Ungleichmäßigkeit wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung als Ergebnis individuellen handelns und sozialen lernens, tübingen 1993. Die Verwirrung scheint derzeit (august 2011) selbst Jahre nach dem ausbruch der Finanzkrise weiter zuzunehmen, nicht zuletzt deshalb, weil alle scheinbar sicheren Krisenauswege (Rettungsschirme, Stützungsaktionen etc.) selbst zu neuen Krisenfaktoren (Staatsverschuldung) werden können. allgemein vgl. aNsgaR BeLKe (hg.): Wirtschaftspolitische Konsequenzen der Finanz- und Wirtschaftskrise, Berlin 2010. WeRNeR PLumPe: Wirtschaftskrisen. Geschichte und Gegenwart, München 2010. Eine gute aktuelle Darstellung der Weltwirtschaftskrise, ihrer theoretischen Verarbeitung und der politischen Reaktionen auf sie gibt es nicht. Die meisten Darstellungen (Kindleberger, Galbraith etc.) sind älteren Datums oder recht oberflächlich; für Deutschland siehe theo BaLdeRstoN: the Origins and course of the German Economic crisis
Der Gründerkrach, die Krise des liberalen Paradigmas
19
Joseph Schumpeter verzweifelt den Kopf schüttelte8, erklärt sich auch deshalb, weil die (akademische) Öffentlichkeit 1936 geradezu nach einem „lösenden Wort“ gierte.9 hier ist eine Bemerkung dazu notwendig, wie ich den Begriff der Semantik verwende. In anlehnung an niklas luhmann10 geht es um Redeweisen und Bedeutungszuweisungen sowie deren Struktur. Kommunikative Bedeutungszuweisungen verwenden Schemata oder Scripts, in denen Geltung beanspruchende Bedeutungen unmittelbar ausgedrückt werden, etwa im Sinne der Globalisierung oder der Selbststeuerung. Dabei handelt es sich um semantische Schemata, die jeder einigermaßen Gebildete sofort versteht und die in Kommunikationsprozessen wesentliche anschlussfunktionen erfüllen. Diese kommunikativen Strukturen unterliegen historischem Wandel, zum Beispiel indem sich nach Krisen Kommunikationsprozesse ändern. Semantik in diesem Sinne unterliegt aber nicht nur historischem Wandel, sie ist auch selbst sehr differenziert. Über Wirtschaft und Wirtschaftskrisen kann man politisch kommunizieren etwa in Parlamenten, Parteien und Interessenverbänden; sie können Gegenstand ethischer Reflexion werden durch Kirchen oder Philosophen. Insbesondere sind sie auch Gegenstand der gepflegten Kommunikation der Wirtschaftswissenschaften. Überdies spielen sich diese je unterschiedlichen Redeweisen zumindest teilweise im Medium der öffentlichen Meinung ab. Dort müssen sie als neuigkeit, als Information auftauchen, da hier nur so kommuniziert werden kann und die akteure des Mediensystems dies auch genau so betreiben. Diese Beobachtung nun macht es sehr viel klarer, warum Keynes einen solchen Erfolg hatte. nicht nur war er allein wegen seines lebenswandels, seines geschäftlichen Erfolgs und seiner Zugehörigkeit zur BloomsburyGroup eine nachricht, die sich in England kaum eine Zeitung entgehen ließ. Seine hochzeit mit einer russischen tänzerin Mitte der 1920er Jahre war entsprechend ein großes Ereignis.11 nein: Keynes spielte geradezu virtuos auf allen Ebenen semantischer Sinnproduktion. Er sprach im Radio zur Wirtschaftskrise; er vertrat eine ethische Position, die nähe zu den Opfern und Verlierern der Krise signalisierte. Seine Ratschläge besaßen politische Brisanz und konnten im Grunde von sehr vielen Interessengruppen unterstützt november 1923 to May 1932, Berlin 1993; vgl. zu den USa BaRRy eicheNgReeN: Golden Fetters: the Gold Standard and the Great Depression, Oxford 1992. 8 josePh a. schumPeteR: Besprechung zu Keynes, allgemeine theorie, abgedruckt in: deRs.: Beiträge zur Sozialökonomik, Wien 1987, S.79–84. 9 johN mayNaRd KeyNes: allgemeine theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, München 1936. 10 NiKLas LuhmaNN: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1980. Vgl. grundlegend: deRs.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde, Frankfurt a. M. 1997. Zum Begriff der Scripts und Schemata vgl. deRs.: Die Realität der Massenmedien, Wiesbaden 1995. 11 Zur Biographie von Keynes vgl. chaRLes h. hessioN: John Maynard Keynes, Stuttgart 1986.
20
Werner Plumpe
werden; und schließlich bot er noch eine theoretische Grundlage an, die die akademische Welt zu revolutionieren schien.12 Das alles zusammen war schon eine leistung; und dass Joseph a. Schumpeter, der sich aus Politik und Ethik meinte heraushalten zu müssen und theoretisch viel skrupulöser war, das alles nicht fassen konnte und geradezu entsetzt erlebte, wie sich die Studenten von ihm und seiner Konjunkturtheorie ab- und Keynes zuwandten, ist nicht weiter verwunderlich.13 Diese abschweifung hat es mir ermöglicht, nicht nur meinen Semantikbegriff zu erläutern, sondern zugleich auch am Beispiel der Weltwirtschaftskrise von 1929 zu zeigen, wie lange es dauerte, bis sich eine neue, scheinbar nichtliberale Semantik durchsetzen konnte und wie „zufällig“ letztlich die lösung war. Ob ohne Keynes eine schlüssige, zumindest zeitweilig zustimmungsfähige antwort auf die Krise der Ökonomie in der Weltwirtschaftskrise möglich gewesen wäre, scheint mir mehr als fraglich. Zumindest hätte es wohl kaum diese scheinbar konkurrenzlose Dominanz eines bestimmten Konzeptes gegeben, demgegenüber alle, auch alle berechtigte Kritik verblasste. Dass jedenfalls nach 1929 eine Krise der politischen Programmatik und eine Verschiebung ökonomischer Semantiken hand in hand gingen, war – auch wenn es im nachhinein folgerichtig erscheint – historisch keineswegs sicher. Dem Gründerkrach und der Gründerkrise von 1873 bis 1878 wird auch eine solche geistige Zäsur nachgesagt, sowohl in der politischen Programmatik wie in der ökonomischen theorie. Das bis dahin mehr oder weniger konkurrenzlos dominante Paradigma des liberalismus, gipfelnd in der Wirtschaftsgesetzgebung des Deutschen Bundes und des neugegründeten Deutschen Reiches um 1870, sei in geradezu atemberaubendem tempo gefallen und habe einem neuem sozialprotektionistischen Grundkonsens Platz gemacht. Dieser findet im sogenannten Kathedersozialismus der historischen Schule der nationalökonomie seinen mustergültigen ausdruck und dominierte geistig die Wirtschafts- und Sozialpolitik des Kaiserreiches.14 Die deutsche antwort auf die mit dem Gründerkrach ausgelöste Krise des liberalismus hat hiernach einen namen: Gustav Schmoller.15 Er beschränkte sich kei12 Seine Radioansprachen aus der Weltwirtschaftskrise wurden 2009 in loser Reihe in der FaZ abgedruckt. 13 thomas K. mccRaW: Joseph a. Schumpeter. Eine Biographie, hamburg 2008. Ferner aNNette schäfeR: Die Kraft der schöpferischen Zerstörung. Joseph Schumpeter – die Biographie, Frankfurt a. M. 2008. 14 In der Beschwörung des niedergangs des Wirtschaftsliberalismus seit Mitte der 1870er Jahre ist sich die literatur von hans Rosenberg, hans-Ulrich Wehler bis hin zu thomas nipperdey weitgehend einig. 15 Eine neuere Schmoller-Biographie existiert nicht. Grundsätzlich vgl. NiLs goLdschmidt: Gustav Schmoller, in: heiNz d. KuRz (hg.): Klassiker des ökonomischen Denkens, Bd. 1: Von adam Smith bis alfred Marshall, München 2008, S. 287–305. nicht zuletzt wegen des Fehlens einer aktuellen Biographie ist Gustav Schmoller heute nur noch der Inbegriff des greisen Geheimrates, der er aber zur Zeit des Gründerkrachs gerade nicht
Der Gründerkrach, die Krise des liberalen Paradigmas
21
neswegs auf sozialpolitische Ratschläge, sondern ebnete einer ganz anderen Ökonomie den Weg. Ob diese annahmen, zumal in der Klarheit zutreffen, sollen die nachfolgenden Überlegungen erkundigen. 2. Der Gründerkrach und die Krise des liberalismus Wirft man einen Blick in die mittlerweile unüberschaubare literatur zur Geschichte der 1870er und 1880er Jahre, so finden sich gewisse Stereotypen. Offensichtlich brachten die 1870er Jahre einen Umbruch nicht nur in der wirtschaftlichen Entwicklung; zugleich änderten sich auch die gesellschaftlichen leitvorstellungen grundlegend. Die 1870er Jahre sahen einen umfassenden niedergang des liberalismus, der bis dato für Jahrzehnte unbestritten das Feld beherrscht hatte. Der liberalismus war dabei keineswegs ein rein ökonomisches Phänomen geblieben. Im Gegenteil: liberale Politiker und Intellektuelle bestimmten das politische und kulturelle Klima der Zeit. Der rasch nach der Reichsgründung ausbrechende Kulturkampf einerseits, die wirtschaftsliberale Gesetzgebung der frühen 1870er Jahre und die sie erst ermöglichenden politischen Konstellationen andererseits sprechen eine deutliche Sprache. Ende der 1870er Jahre freilich war alles vorüber. Der liberalismus war nicht mehr regierende Partei, der Freihandel weltweit in der Defensive und an den Finanz- und Kapitalmärkten wurden die Stimmen lauter, die nach einer stärkeren Regulierung verlangten, nachdem 1870 insbesondere das aktienrecht weitgehend liberalisiert worden war.16 Den Umschlag weg vom liberalismus brachten der Gründerkrach und die sich anschließende Gründerkrise, die in eine gut 20jährige „Große Depression“ mündeten, in der sich das Wachstum gemessen am Boom der Gründerzeit verlangsamte und sich – insbesondere – angesichts des eingetretenen ökonomischen Strukturwandels die Gewinne vieler Unternehmen deutlich reduzierten.17 Die Krise bewirkte damit nicht nur einen Einbruch in den gesamtwar. Bei dessen ausbruch 1873 war Schmoller mit 35 Jahren ein frischgebackener Professor, der in den kommenden Jahren zum jungen Wilden der deutschen Ökonomie avancierte. 16 dieteR LaNgeWiesche: liberalismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1995. Vgl. auch deRs. (hg.): liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Göttingen 1988. 17 Grundlegend weiterhin haNs RoseNBeRg: Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa, Berlin 1967. Ob und inwieweit die deflationäre Phase, die sich als „Große Depression“ an den Gründerkrach anschloss, durch eine Verringerung der Goldproduktion und damit durch die restriktiven Folgen des Goldstandards beeinflusst wurde, sei hier dahingestellt. Ein Zusammenhang ist denkbar, ja sogar wahrscheinlich, doch sollte man die strukturellen Folgen des Übergangs zur Massenherstellung von Industriegütern nicht übersehen. Vgl. BaRRy eicheN-
22
Werner Plumpe
wirtschaftlichen Daten; sie löste auch einen gesellschaftlichen Klimawandel aus. thomas nipperdey formulierte das folgendermaßen: „Die Krise löste Ängste aus, ersetzte das hochgefühl der hoffnung durch angst: angst vor Umverteilung und vor Sozialisten, angst um den Status quo, um das Erreichte, angst vor der Zukunft. Das kam bei Mittelklassen nicht der Partei der Bewegung und Veränderung, der Partei der Modernität, der Zukunft zugute. Die Krise führte weiterhin zuerst bei denen, die sich im Gründungsfieber verspekuliert hatten, dann bei anderen ‚Betroffenen‘ und schließlich bei allen Beobachtern zur Suche nach ‚Schuldigen‘, zur Kritik der Bedingungen und Umstände, die sie wirklich oder vermeintlich heraufgeführt hatten. Das war, so meinten viele, die kapitalistische Konkurrenz- und Marktwirtschaft mit ihrem ungehemmten Gewinnstreben, das waren ihre kürzlich erst gesetzten Rahmenbedingungen, die Gewerbefreiheit und vor allem das (in der tat mangelhafte) aktienrecht und das Bankrecht. Das waren die liberale Wirtschaftsverfassung, das liberale Prinzip der Selbststeuerung und -regulierung der Wirtschaft, das man nun als ‚Manchestertum‘ bezeichnete, der liberale harmonieglaube, die ins Kreuzfeuer der Kritik gerieten, ja es war der liberalismus selbst, der mit all dem identifiziert wurde, die liberalen als Partei eines modernen aktienrechtes – der liberalismus befand sich plötzlich nicht mehr in der Situation der Selbstverständlichkeit, sondern in der Defensive. Das war ein säkulares Schicksal.“18
Der liberalismus, dessen niedergang nipperdey hier beschreibt, war vor allem ein politisches Projekt, in Deutschland verkörpert durch die nationalliberale Partei, die seit 1867 gemeinsam mit Bismarck – oder besser – hinter Bismarck im Wesentlichen die Gesetzgebung in Deutschland und damit auch die Grundstrukturen der Wirtschaftsverfassung des neuen Staates bestimmt hatte. Sein niedergang reflektierte freilich mehr als nur das Stimmungstief nach dem Platzen der Gründerblasen. Vielmehr zeigte sich nun sehr deutlich, dass er sich kaum auf eine breite soziale Basis stützen konnte, sondern im Kern immer das Projekt des Besitz-, weniger des Bildungsbürgertums gewesen war, das sich im Boom der Gründerzeit freilich großen Zuspruchs sicher sein konnte, zumal man als Partei Bismarcks auch ein wenig vom Glanz der Reichsgründung abbekam. Überdies begünstigte das wachstumsfreundliche Milieu der 1850er und 1860er Jahre die industrielle und agrarische Unterstützung des liberalismus.19 Die Schwerindustrie an Rhein und Ruhr, zu Ende der 1840er Jahre noch durchaus protektionistisch eingestellt und immer wieder mit der Kartellierung von teilmärkten liebäugelnd, fand sich in den 1860er Jahren mit dem sukzessiven Übergang zur Freihandelspolitik ab; noch 1875 wurden in einem letzten nachholenden akt liberaler Wirtschaftsgesetzgebung die letzten Eisenzölle beseitigt, nur um wenige Jahre später, nicht zugReeN: Vom Goldstandard zum Euro. Die Geschichte des internationalen Währungssy-
stems, Berlin 2000. 18 thomas NiPPeRdey: Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 3: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992, S. 387. 19 RichaRd tiLLy: Vom Zollverein zum Industriestaat. Die wirtschaftlich-soziale Entwicklung Deutschlands 1834–1914, München 1990.
Der Gründerkrach, die Krise des liberalen Paradigmas
23
letzt auf Druck der Interessenten an Rhein und Ruhr, wieder eingeführt zu werden.20 aber nicht nur die Schwerindustrie schwenkte angesichts großer Überkapazitäten und sinkender Preise und Margen in das lager des Protektionismus über, auch das jahrzehntelange Bollwerk des Freihandels, die Großlandwirtschaft, bekam nach und nach Zweifel, ob der Freihandel noch die beste aller Welten verhieß, wie man es zuvor stets betont hatte.21 Der Grund dafür lag nicht unbedingt in den Folgen des Gründerkrachs, sondern in strukturellen Verschiebungen in der Weltagrarwirtschaft. nach dem Ende des Bürgerkrieges kehrten die USa nach und nach wieder als anbieter auf die Weltagrarmärkte zurück; ebenso tauchten australien und argentinien als Großproduzenten auf, die angesichts dramatisch fallender transportkosten nun ihre günstigen Produktionsbedingungen ins Spiel bringen konnten. auch wenn die deutsche landwirtschaft keineswegs homogen war und unterschiedliche Interessen verfolgte, sank angesichts dieses Wandels der Stern des Freihandels. teile der Schwerindustrie, die Mehrzahl der textilindustriellen und zahlreiche landwirte jedenfalls wandten sich vom Freihandel ab und drängten auf eine aktivere, sprich protektionistische Politik des Staates. Da zugleich, auch eine Folge der Krise, ein tiefgehendes strukturelles Problem des sich durchsetzenden Kapitalismus, die „Soziale Frage“ immer drängender wurde und die arbeiterschaft begann, sich als soziale und politische Bewegung zu formieren, verlor der liberalismus auch hier an Überzeugungskraft. Der Konflikt mit dem Katholizismus, der im Kulturkampf kulminierte, tat schließlich ein weiteres, um den liberalismus gesellschaftlich zu isolieren. Der politische Druck jedenfalls, schreibt hans-Ulrich Wehler, „wurde dadurch immens erhöht, daß die Vorherrschaft der nationalliberalen dem jahrelangen Erosionsprozeß, der von der Diskreditierung der liberalen Marktwirtschaft, der liberalen Wirtschaftspolitik: insgesamt der liberalen ‚Weltanschauung’ ausging, nicht standhielt und – auch dank Bismarcks tatkräftiger nachhilfe – nach zehn Jahren endgültig zerbrach.“22
Der politische liberalismus, der als Krisenreaktion das Festhalten an seiner bisherigen Programmatik anbot (Freihandel, liberale Wirtschaftsverfassung) und zugleich die auseinandersetzung mit den vermeintlichen Feinden der Moderne intensivierte, verlor schnell an Boden; der Vorwurf des „Manchestertums“, der zuvor bestenfalls aus der intellektuellen Sozialkritik und der entstehenden arbeiterbewegung geäußert worden war, wurde plötzlich hoffähig. Damit geriet nunmehr auch der theoretische Gehalt des ökonomischen 20 uLRich WeNgeNRoth: Unternehmensstrategien und technischer Fortschritt: Die deutsche und britische Stahlindustrie 1865–1895, Göttingen 1986. 21 Zur Freihandelsbewegung generell VoLKeR heNtscheL: Die deutschen Freihändler und der volkswirtschaftliche Kongreß 1858 bis 1885, Stuttgart 1975. 22 haNs-uLRich WehLeR: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, Von der ‚Deutschen Doppelrevolution‘ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1845/49–1914, München 1995, S. 935.
24
Werner Plumpe
liberalismus in die Kritik. Zwar hatte es in Deutschland seit der frühen SmithRezeption immer wieder entschiedene Kritiker eines sich auf Smith beziehenden Wettbewerbskapitalismus gegeben; zwar war auch frühzeitig bemerkt worden, dass der liberale Kapitalismus über Einschränkungen der Marktfunktion zur Selbstblockade neigte;23 zwar hatte nicht zuletzt Karl Knies auf die historische Wandelbarkeit der konstituierenden Begriffe der britischen Ökonomie verwiesen und damit die these des liberalen Ökonomen John R. Mcculloch, die natur habe es auf einen allgemeinen Markt abgesehen, aus letztlich erkenntnistheoretischen Gründen zurückgewiesen und einer historischen Ökonomie das Wort geredet;24 zwar hatte es frühzeitig gerade aus besitz- und bildungsbürgerlichen Kreisen Kritik an den Praktiken kapitalistischer Unternehmen ebenso wie nachdrückliche Plädoyers für soziale Reformen gegeben:25 all das hatte aber die Bedeutung der britischen Ökonomie nicht wirklich in Frage stellen können. auch hier führte erst die Krise von 1873 zu einem Wandel, der sich freilich als Möglichkeit bereits abgezeichnet hatte. Joseph a. Schumpeter jedenfalls konstatiert um 1870 einen Bruch in der Entwicklung der ökonomischen analyse, da der liberale Wettbewerbskapitalismus und seine normativität mit der ökonomischen Realität eines zunehmend von Großunternehmen und Kartellen beherrschten Wirtschaftsgeschehens kaum mehr vereinbar gewesen seien. Schumpeter plädiert deshalb dafür, 1870 als Zäsur zu nehmen, weil sich „um das Jahr 1870 ein neues Interesse an sozialen Reformen, ein neuer Geist des ‚historismus‘ und neue aktivität auf dem Gebiet der ‚Wirtschaftstheorie‘ durchzusetzen (begann), bzw. daß es zu einem Bruch mit der tradition kam, der so deutlich war, wie dies in einem Prozeß eben möglich ist, der eigentlich stets kontinuierlich verlaufen muß.“26
nach seiner auffassung war der Bruch ein bewusster akt: „Der Bruch mit der tradition um 1870 wurde durch Wissenschaftler, deren namen mit ihm verbunden sind, bewußt herbeigeführt: Ihnen mag der Bruch schärfer erschienen sein als dem historiker, was jedoch nicht heißt, daß er nur in ihrer Einbildung existierte. auf diese ‚Revolutionen‘ folgen zwei Jahrzehnte des Streits und mehr oder weniger hitziger Diskussionen.“27
23 Etwa geoRg saRtoRius: Von der Mitwirkung der obersten Gewalt zur Beförderung des nationalreichtums, in: johaNNes BuRKhaRdt / BiRgeR P. PRiddat (hg.): Geschichte der Ökonomie, Frankfurt a. M. 2000, S. 354–374. 24 KaRL KNies: Die politische Ökonomie vom geschichtlichen Standpuncte, Braunschweig ²1883, nachdruck Saarbrücken 2006. 25 jüRgeN ReuLecKe: Sozialer Frieden durch soziale Reform. Der centralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen in der Frühindustrialisierung, Wuppertal 1983. 26 josePh a. schumPeteR: Geschichte der ökonomischen analyse, 2 teilbände, Göttingen 1965, S. 919. 27 Ebd.
Der Gründerkrach, die Krise des liberalen Paradigmas
25
Erst seit den 1890er Jahren habe sich wieder eine gewisse harmonie in den ökonomischen Wissenschaften abgezeichnet, die aber nicht von langer Dauer gewesen sei; rasch danach sei es vermehrt zu Zeichen „bevorstehender Umbrüche und Revolutionen“ gekommen.28 Er kommt für die Jahre nach 1870 immerhin zu dem Schluss: „Politisch gesehen unterstützte die ökonomische Fachwelt aller länder im großen und ganzen eher die Gegenströmungen gegen den liberalismus als die immer noch vorhandenen liberalen Strömungen. In diesem Sinne können wir sagen, daß das Bündnis zwischen Wirtschaftswissenschaft und liberalismus – und mit einigen ausnahmen auch das zwischen Wirtschaftswissenschaft und Utilitarismus – zerbrochen war.“29
Sicher ist jedenfalls, dass sich die Erwartungshaltungen an das staatliche handeln völlig änderten. Das liberale credo, dass der Staat die Rahmenbedingungen zu gewährleisten, sich aber ansonsten aus der Wirtschaft rauszuhalten habe, schien doppelt gescheitert: einmal wegen der Krise selbst, zum anderen wegen des ökonomischen Strukturwandels und der herausbildung großbetrieblicher Strukturen mit deren vermeintlich fatalen ökonomischen und sozialen Folgen.30 Sodann machte sich aber auch ein schwer benennbares Bedürfnis nach Schutz vor der kapitalistischen Kälte breit, wie thomas nipperdey bemerkt: „Dem Zweifel am liberalismus entsprach eine weit verbreitete Erwartung an den Staat, für abhilfe zu sorgen. Es blieben genügend Skeptiker gegenüber dem Staat, genügend anhänger der ‚freien‘ Wirtschaft, aber Staatsintervention war ein aktuelles thema.“ Entscheidend war wohl eine art Klimawandel. noch einmal nipperdey: „Psychologisch kann man sagen, minderte die Krisenangst in einer eben in die moderne Industriewirtschaft eintretenden Gesellschaft das Vertrauen der Einzelnen in sich selbst, den Markt, die Gesellschaft, und disponierte umgekehrt zur Schutzsuche beim Staat, beim starken Staat.“31
Diese Wendung zum Staat vor dem hintergrund ökonomischer Krisen einerseits, intensiven Strukturwandels andererseits hat ein teil der älteren Forschung bei allen Differenzierungen zum anlass genommen, die Entstehung einer art von „Organisiertem Kapitalismus“ zu konstatieren und den aufstieg des Interventionsstaates zu diagnostizieren.32 Dieser neu sich herauskristallisierende Interventionsstaat, der bereits antizyklische Konjunkturpolitik be-
28 Ebd. 29 Ebd., S. 935. 30 hierzu geRhaRd a. RitteR / KLaus teNfeLde: arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871– 1914, Bonn 1992. 31 th. NiPPeRdey, Deutsche Geschichte, Bd. 3 (wie anm. 18), S. 388. 32 heiNRich august WiNKLeR (hg.): Organisierter Kapitalismus: Voraussetzungen und anfänge, Göttingen 1974.
26
Werner Plumpe
trieben haben soll, sei in Deutschland, so hans-Ulrich Wehler, besonders konservativ-antiliberal ausgefallen. „Deshalb stellt er keineswegs einen politischen ‚Zwitter‘ (l. Gall) dar, sondern verkörperte einen anlauf zur etatistisch-korporativistischen Steuerung sozialökonomischer Entwicklungsprozesse mit ihren krisenhaften Fluktuationen, um den vitalen Interessen großer Wirtschaftsblöcke Rechnung zu tragen, durch die Wohlstandseffekte eines regulierten Wachstums die Massenloyalität zu erhalten und die legitimationsbasis des konservativen Machtkartells, erst in einem charismatischen, dann in einem polykratischen herrschaftssystem, zu befestigen.“33
Dieses wortmächtige Urteil verzeichnet gleichwohl die Entwicklung der staatlichen Wirtschaftspolitik und gibt ihr eine Folgerichtigkeit, die nie bestand. So zeigte etwa Volker hentschel34 schon 1978, dass von staatlicher Wirtschaftspolitik in unserem Sinne auch weiterhin nicht die Rede sein konnte. Und jüngst entmythisierte cornelius torp auch den deutschen Protektionismus und die deutsche außenhandelspolitik der Zeit, die sehr viel weniger restriktiv, vor allem aber sehr viel weniger autonom war, als man lange annahm. Sie ordnet sich vielmehr in ein Muster zunehmender internationaler Verflechtung ein, das nationalen alleingängen kaum Spielraum ließ.35 Und selbst in der doch scheinbar unstrittigen Sozialpolitik war im Grunde Mitte der 1870er Jahre noch alles offen.36 nein, zwar wuchsen seit der Mitte der 1870er Jahre die Erwartungen an den Staat; aber was er tun sollte, war alles andere als klar. 3. Der aufstieg des „historismus“ Die historische nationalökonomie stieß mithin in eine lücke, die durch die Zeitumstände entstanden war, und sich auch aus der nachlassenden Überzeugungskraft einer ökonomischen theorie ergab, die auf den Strukturwandel des Kapitalismus und die soziale Frage im Grunde keine antwort hatte. Ihre Entstehung selbst war indes keine Reaktion auf Gründerkrach und Gründerkrise; die Wurzeln der historischen Ökonomie reichen deutlich weiter zurück, ohne dass dem hier weiter nachgegangen werden kann. Im Kern aber war den Gründern des Vereins für Socialpolitik 1872 klar, dass die normativität der britischen Ökonomie, die in Deutschland vor allem mit der Freihandelsbewe33 h-u. WehLeR, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3 (wie anm. 22), S. 937. 34 VoLKeR heNtscheL: Wirtschaft und Wirtschaftspolitik im wilhelminischen Deutschland. Organisierter Kapitalismus und Interventionsstaat?, Stuttgart 1978 35 coRNeLius toRP: Die herausforderung der Globalisierung. Wirtschaft und Politik in Deutschland 1860–1914, Göttingen 2005. 36 geRhaRd a. RitteR: Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München ³2010. VoLKeR heNtscheL: Geschichte der Sozialpolitik (1880– 1980). Soziale Sicherung und kollektives arbeitsrecht, Frankfurt a. M. 1983.
Der Gründerkrach, die Krise des liberalen Paradigmas
27
gung und dem Manchestertum identifiziert wurde, nicht nur nicht reichte, sondern eine sinnvolle „Politikberatung“ einen anderen Zugriff auf die ökonomische und soziale Realität verlangte. am klarsten kam diese Entwicklung im sogenannten Methodenstreit zwischen carl Menger und Gustav Schmoller zum ausdruck.37 Den ausgangspunkt der auseinandersetzung bildete eine Kritik Schmollers, die zugleich seine eigene Programmatik verdeutlichte. Denn Gustav Schmoller hatte carl Mengers grundlegendes Buch zur Volkswirtschaftslehre, das 1871 erschienen war und den anspruch erhob, die Volkswirtschaftslehre allgemeingültig darzustellen, deshalb kritisiert, weil es alle relevanten volkswirtschaftlichen Fragen ausschließlich von einem „privatwirtschaftlichen“ Standpunkt aus behandele, dies zudem in spekulativer Weise tue und daher auf die drängenden Fragen der Gegenwart überhaupt keine antwort gebe. Menger leitete von einigen Grundannahmen (homo oeconomicus, Rationalität et cetera) das gesamte ökonomische Geschehen, insbesondere die Preisbildung ab, was in Schmollers augen die volkswirtschaftliche Realität verfehle, die man nicht mit spekulativen axiomen, die als naturwissenschaftliches Vorgehen verkleidet würden, sondern nur mit statistischen und historischen Vorgehensweisen angemessen erfassen könne. Das Kernstück des österreichischen Marginalismus, die subjektive Wertlehre, teilte Schmoller im Übrigen, auch wenn er hierauf keine allgemeine Wirtschaftslehre aufbaute, da so die komplexe volkswirtschaftliche Realität nicht begriffen werden könne. Schmollers Urteil über Mengers Buch dürfte über die sachliche Kritik hinaus auch deshalb zur Entfremdung zwischen beiden beigetragen haben, da sie wohl eine Rolle bei der Zurückweisung von Mengers erstem habilitationsversuch 1873 mit teilen dieses Buches spielte. Jedenfalls wurde der Streit sehr heftig und persönlich. letztlich ging es in dem Streit aber um Politik, weniger um die Methoden ökonomischer analyse oder theoriebildung, denn carl Menger trat dezidiert und wiederholt für einen passiven, zurückhaltenden Staat ein. Im Grunde waren für Menger, folgt man GrimmerSolems überzeugender Darstellung, die deutschen „Realisten“ mit ihrem Plädoyer für eine starke staatliche Sozialpolitik schlicht zu links. Seine Kritik an Gustav Schmoller neigte daher dazu, unfair und polemisch zu werden. Menger vertrat letztlich eine art Konservativismus, der alles so lassen wollte, wie es war, ja der sich auch deshalb gegen Statistik und statistische Erhebungen aussprach. anders als man heute denkt, wenn das Stichwort ‚Methodenstreit‘ fällt, war Menger der „Organiker“, der gegen Eingriffe gleich welcher art am gesellschaftlichen Körper wegen deren unkalkulierbarer Folgen eintrat. Insofern stand er Edmund Burke näher als adam Smith. Der hauptfehler der his37 Darstellung nach dieteR LiNdeNLauB: Richtungskämpfe im Verein für Socialpolitik. Wissenschaft und Sozialpolitik im Kaiserreich vornehmlich vom Beginn des „neuen Kurses“ bis zum ausbruch des Ersten Weltkrieges (1890–1914), Wiesbaden 1967, S. 96–141. Ähnlich im Urteil eRic gRimmeR-soLem: the historical Economics and Social Reform in Germany 1864–1894, Oxford 2003, S. 246ff.
28
Werner Plumpe
torischen Ökonomen war in dieser Sicht, dass sie sich mit der Politik eingelassen hatten, meint Grimmer-Solem: „the Untersuchungen showed unequivocally that Menger was continuing an idealistic and romantic tradition of economic thinking in which teleology and essentialist metaphysics were linked seamlessly with methodology and in which ‚exact theories’ were not subject to empirical tests. Menger himself made explicit that this was a tradition hostile to both Enlightenment rationalism and liberalism. as both hansen and alter independently conclude, it was not Schmoller but Menger who was the intellectual heir of idealism, romanticism, hegel, and the ‚older historical School‘.“38
Schmoller jedenfalls wies die Mengerʼsche Kritik zurück. Daraufhin griff Menger 1884 Schmoller direkt und persönlich an mit seiner Schrift „Die Irrthümer des historismus in der deutschen nationalökonomie“, auf die Schmoller allerdings nicht mehr reagierte. Er gab das Buch, das ihm zugeschickt worden war, mit der Bemerkung zurück, auf persönliche angriffe würde er nicht eingehen. Damit war, soweit es Schmoller betraf, der Methodenstreit erledigt. Er zeigte vor allem, was den aufstieg der historischen Methode in der Ökonomie so beflügelte: Ihr Realismus und ihre Bereitschaft, hiervon ausgehend zu vernünftigen politischen Schlüssen zu kommen, die, das war völlig klar, nur in die Richtung sozialer Reformen gehen konnten. Das wollte Menger nicht. Schmoller und lujo Brentano bezeichneten sich seit dieser Zeit gelegentlich selber auch als realistische Schule, ja Brentano behauptete gar, der wahre Erbe adam Smiths zu sein, dem das, was dann als Manchestertum bezeichnet wurde, fern gelegen habe.39 Jedenfalls war völlig klar, dass man auf der Basis klarer Wirklichkeitserkenntnis zu politischem handeln kommen wollte. Die später so umstrittene Werturteilsbereitschaft als teil auch des wissenschaftlichen nachdenkens hatte hiermit zu tun: Es ging um die aufdeckung der Strukturprobleme des Kapitalismus, um ihn zu reformieren. Ökonomische theorie trat hier also zugleich als Gesellschaftskritik auf, allerdings nicht in klassenkämpferischer, sondern in irenischer absicht.40 Der Verein stand folgerichtig auch zunächst zwischen allen Parteien, zwischen liberalen und Konservativen, Katholiken und Sozialdemokraten.41 Getragen wurde er insbesondere vom akademischen Bürgertum, in dem er besonders einflussreich war. Sein politisches Ziel war klar: Der Staat sollte den Kapitalismus zur sozialen Marktwirtschaft umprägen (thomas nipperdey), da er in seinem derzeitigen Zustand langfristig nicht überlebensfähig sein würde. Im Kathederso38 Ebd., 256f. 39 Zu Brentano siehe seine autobiographie Lujo BReNtaNo: Mein leben im Kampf um die soziale Entwicklung Deutschlands, Jena 1931. 40 hierzu grundlegend e. gRimmeR-soLem, historical Economics (wie anm. 37), S. 89– 170. 41 thomas NiPPeRdey: Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2, adelswelt und Bürgergeist, München 1990, S. 335ff.
Der Gründerkrach, die Krise des liberalen Paradigmas
29
zialismus gab es dabei unterschiedliche ausprägungen: Schmoller setzte auf ein historisch aufgeklärtes handeln des Staates, plädierte mitunter auch für ein soziales Königtum, Wagner war für Staatssozialismus, Brentano schließlich huldigte einem wenig etatistisch angehauchten Sozialliberalismus, in dem nach englischem Vorbild die arbeitsmarktparteien ihre Interessenkonflikte im Streit, dann aber konsensual lösen sollten. aber der gemeinsame Impuls stand außer Frage: Der Staat musste handeln, um die arbeiterschaft zu integrieren beziehungsweise die Voraussetzungen zu schaffen, damit arbeit und Kapital in freier Vereinbarung zu einem ausgleich kamen. Das war zweifellos noch in den 1860er Jahren eine Minderheitsmeinung. aber mit der Gründerkrise bekam der bald so genannte „Kathedersozialismus“ Oberwasser, der in gewisser hinsicht auch vom aufstieg der Sozialisten profitierte, die er als Symptom der ungelösten Probleme sah und hinstellte.42 auch Bismarcks abkehr vom liberalismus Ende der 1870er Jahre förderte das kathedersozialistische Denken. Ohne diese Wende hätte es die staatliche Sozialpolitik kaum gegeben. all das begünstigte den aufstieg der wissenschaftlichen „Sozialpolitik“. Deutschlands Pionierrolle auf diesem Gebiet geht nach nipperdey eben auch „auf die akademische, gemäßigt liberale Denktradition der moralisch orientierten Wirtschafts- und Gemeinwohlpolitik, auf die Bewegung der bürgerlichen Sozialreform also“ zurück.43 Zwar war die Frage der Sozialpolitik auch im Verein für Socialpolitik selbst zunächst heftig umkämpft, doch setzte sich die „sozialpolitische Richtung“ schließlich immer mehr durch.44 Zwar gab es keine direkten Beziehungen von Gustav Schmoller zu Bismarck, dafür aber intensive Kontakte zu dem Spiritus Rector der Sozialgesetzgebung theodor lohmann: „What this shows is at a considerable degree of interaction developed in the 1870s between Schmoller, the Verein, and sympathetic members of the Prussian bureaucracy not without consequences for social insurance legislation.“45 Umstritten war im Verein für Socialpolitik vor allem, wie weit man sich politisch engagieren sollte. lujo Brentano war unbedingt dafür inklusive öffentlicher agitation, während Schmoller für Zurückhaltung plädierte, vor allem gegenüber Parteien und der tagespolitik: „Schmoller thus believed that while science was driven by normative impulses, it had to remain detached from the political fray.“46 Die tagespolitik stellte in der tat ein großes Problem dar, weil sich hier zeigte, dass die aufkommende Richtung der historischen Ökonomie keineswegs mit einer Stimme sprach und nicht über ein kla42 Zum aufstieg der arbeiterbewegung vgl. KLaus schöNhoVeN: Die deutschen Gewerkschaften, Frankfurt a. M. 1988. Siehe auch heLga gReBiNg: Geschichte der deutschen arbeiterbewegung von der Revolution 1848 bis ins 21. Jahrhundert, Berlin 2007. 43 th. NiPPeRdey, Deutsche Geschichte, Bd. 2 (wie anm. 41), S. 341. 44 E. gRimmeR-soLem, historical Economics (wie anm. 37), S. 185f. 45 Ebd., S. 186. 46 Ebd., S. 191.
30
Werner Plumpe
res Programm verfügte.47 Die auseinandersetzungen um den Protektionismus führten 1879 den Verein in eine Zerreißprobe, der mit dem Rückzug der liberalen theoretiker, Politiker und Interessenvertreter endete. Der Vereinsvorsitzende Erwin nasse war ein entschiedener Gegner des Protektionismus, während Gustav Schmoller moderate Schutzzölle akzeptierte, zumal sie die Finanzspielräume des Reichs vergrößerten.48 In Frankfurt votierte der Verein 1879 nach heftigen auseinandersetzungen schließlich knapp für Schutzzölle, damit auch gegen das Prinzip des weitgehenden Freihandels. Die knappe, für den Verein geradezu existenzbedrohende Entscheidung führte in der Folge zu einer Dominanz der tendenziell eher sozialkonservativen Bismarck-Unterstützer (Schmoller, Friedrich Georg Knapp et cetera), während die Bedeutung der Sozialliberalen und Freihändler um lujo Brentano abnahm. Jedenfalls verschaffte die Wende zum Schutzzoll dem Verein für die nächsten dreißig Jahre den Ruf eines konservativen, protektionistischen Klubs, konstatiert Eric Grimmer-Solem.49 Vor allem aber zog sich der Verein aus der tagespolitik zurück, die Wissenschaft trat in den Vordergrund. Der Verein verlor dadurch allerdings, verglichen mit den 1870er Jahren, so Schmollers Wahrnehmung, an Einfluss. Er wurde in der tat sehr viel stärker eine akademische Veranstaltung; von unmittelbaren politischen Ratschlägen hielt man sich fern. Schmollers bedächtige, abwartende art schlug sich auch nach der Jahrhundertwende in der ersten Kartell-Enquete, in der er den Zeitpunkt einer politischen Entscheidung für oder gegen Kartelle für verfrüht hielt: Erst genaue Wirklichkeitserkenntnis und kluge Schlussfolgerung könnten hier politischen Rat ermöglichen, zumal sich die Kartellfrage ohnehin jeder Dogmatik entziehe: Man müsse sie im lichte der jeweiligen Umstände betrachten.50 Diese Zurückhaltung, dieses abwägen, abwarten und bestenfalls vorsichtige Intervenieren waren aber keinesfalls von Feigheit oder Konfliktscheu bestimmt. Schmoller mochte keine Ideologien, war aber sonst sehr klar im Urteil: Entsprechend hart kritisierte er 1873 auch die Spekulanten und Korrupten der Gründerzeit, die den Krach erst herbeigeführt hatten. Von Eduard lasker, der das alles im Reichstag zur Sprache gebracht hatte, war er tief beeindruckt. In einer öffentlichen Rede „Die soziale Frage und der preußische Staat“ griff er laskers Kritik auf: Die Sozialdemokraten seien keine Feinde, 47 Vgl. hierzu auch Beate WagNeR-haseL: Die arbeit des Gelehrten: Der national-Ökonom Karl Bücher (1847–1930), Frankfurt a. M. 2011. Wagner setzte im Gegensatz zu Brentano, aber auch zu Schmoller, noch viel stärker auf den Staat, ja entwickelte fast eine art staatssozialistischer Vorstellung. 48 e. gRimmeR-soLem, historical Economics (wie anm. 37), S. 200. 49 Ebd., S. 202. 50 Zur Weiterentwicklung des Vereins nach der Frankfurter Krise vgl. D. LiNdeNLauB, Richtungskämpfe (wie anm. 37). Vgl. zur Kartellenquete fRitz BLaich: Kartell- und Monopolpolitik im kaiserlichen Deutschland. Das Problem der Marktmacht im deutscheN Reichstag zwischen 1879 und 1914, Düsseldorf 1973.
Der Gründerkrach, die Krise des liberalen Paradigmas
31
sondern ein Symptom der gesellschaftlichen Probleme, die durch solche typen wie Spekulanten erst hervorgerufen worden seien.51 Damit rief Schmoller allerdings erhebliche Kritik auf den Plan, insbesondere von Seiten der liberalen. Schon der relativ kritiklose abdruck des Vortrags im „Socialdemokrat“ war ein Politikum, der Inhalt stieß erst recht auf scharfe Kritik. Man setzte Schmoller mit dem Führer des aDaV Wilhelm hasenclever gleich. Schließlich griff der Mitherausgeber der Preußischen Jahrbücher heinrich von treitschke selber zur Feder: „Der Socialismus und seine Gönner“ hieß seine gegen Gustav Schmoller gerichtete politische Polemik, die er 1874 in den Preußischen Jahrbüchern veröffentlichte. Schmoller antwortete unmittelbar: Man könne nur den Kopf schütteln angesichts der Blindheit von treitschke gegenüber der Realität.52 Diese haltung behielt Schmoller in der Zukunft bei: Moderate Sozialreformen durch den Staat als angemessene antwort auf die soziale Frage. Jede Repression der arbeiterschaft oder liberale Ideologie der staatlichen Zurückhaltung wies er zurück. Das Sozialistengesetz lehnten die Kathedersozialisten folgerichtig als nutzlos und falsch ab. Das folgte der Grundentscheidung: Ökonomie als tatsachenwissenschaft und Grundlage für eine behutsame Sozialreform, die ihrerseits wiederum ein wichtiges Moment der wirtschaftlichen Entwicklung werden konnte. Der Wirtschaftsliberalismus war damit im Kern sowohl theoretisch wie politisch abgelehnt, ohne dass allerdings die neue Richtung daraus den Schluss gezogen hätte, nun in ähnlicher Weise „politisch“zu werden, wie man das etwa dem Manchestertum unterstellte. Für den aufstieg und andauernden Erfolg der historischen Ökonomen waren letztlich, ohne dass das hier im Einzelnen darzustellen ist, drei Punkte maßgeblich: Erstens gelang es in der Krise des liberalismus und der liberalen Ökonomie jene themen zu besetzen, die der Mainstream lange vernachlässigt hatte, die sich in der Krise zuspitzten und die durch den Strukturwandel des Kapitalismus dauerhaft auf der tagesordnung bleiben würden. Da diese themen nach dem niedergang des politischen liberalismus auf der politischen tagesordnung obenan standen, gelang es ihnen beziehungsweise ihren herausragenden Vertretern auch, in eine enge Beziehung zur Bürokratie Preußens und des Reichs zu gelangen. Zweitens konnten die durchweg jungen Ökonomen sich in ihrer Universitätspraxis als Reformer etablieren. Sie entwickelten, namentlich Gustav Schmoller und lujo Brentano in Straßburg in den 1870er und 1880er Jahren,53 einen völlig neuen Stil zu lehren, zogen die Studenten bereits im Studium in die Forschung und förderten die empirische arbeit, wo sie nur konnten. Der große lehrerfolg ihrer frühen Jahre als Universitätsleh51 e. gRimmeR-soLem, historical Economics (wie anm. 37), S. 194. 52 Ebd., S. 195f. 53 gustaV VoN schmoLLeR: charakterbilder, München 1913; Lujo BReNtaNo: Elsässer Erinnerungen, Berlin 1917; vgl. schließlich stePhaN RoscheR: Die Kaiser-Wilhelms-Universität Straßburg, Frankfurt a. M. 2006.
32
Werner Plumpe
rer verschaffte ihnen immensen Zulauf und entsprechende ausbildungserfolge, die bis in die USa ausstrahlten. Die nähe zur Bürokratie und die großen Erfolge an den Universitäten ermöglichten schließlich auch ihre starke Stellung im hochschulsystem, namentlich die Förderung durch Friedrich althoff,54 wodurch sie ihre Dominanz zumindest in Preußen recht lange behaupten konnten. Drittens schließlich boten sie auch programmatische alternativen zumindest zu jener Form britischer Ökonomie, die sich in Deutschland seit den 1840er Jahren durchgesetzt hatte und zuletzt nur wenige antworten auf Krisen und Strukturwandel zu geben wusste. Ihr antispekulativer Realismus, der theoriebildung nicht ausschloss oder ablehnte, sondern an das Ende der eigentlichen Forschung verschob, besaß zunächst vor allem den Vorteil, sich mit den realen Problemen der Wirtschaft zu befassen, und hatte überdies den charme, erkenntnistheoretisch nicht nur komplexer aufzutreten als die britische Spekulation, sondern die Ökonomie als breites sozialwissenschaftliches Fach mit anschlussstellen an zahlreiche nachbardisziplinen zu konstituieren. Die tatsache, dass auf diese Weise eine neue art der empirischen Forschung (historischer und statistischer art) möglich wurde und sich der thematische Fokus der Ökonomie verschob, war allerdings um den Preis erkauft, auf eine „allgemeine ökonomische theorie“ zumindest vorläufig zu verzichten.55 Diese theoretische Schwäche, die Widersprüchlichkeit eines Forschungsansatzes, der deskriptive Momente als Grundlage normativer Setzungen nutzen wollte, sowie – einfach – das altwerden der Protagonisten, das Erstarren beziehungsweise Selbstverständlichwerden ihrer lehr- und Forschungsinnovationen, schließlich der sich um die Jahrhundertwende abzeichnende Generationenwechsel – all das leitete spätestens seit 1900 den niedergang des historismus in der Ökonomie ein. Bis dato hatte er freilich eine zentrale Rolle in der semantischen Konzipierung der staatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik gespielt und damit auch zur neuausrichtung dieser Politik nach dem Gründerkrach beigetragen. 4. Wirtschafts- und Sozialpolitik im Zeichen des „Kathedersozialismus“ Dass der „Kathedersozialismus“ zur maßgeblichen Inspiration der Wirtschafts- und Sozialpolitik des Kaiserreiches geworden sei, wird man nicht behaupten können. Dazu fehlte ihm die, wenn man so will, gesellschaftliche Breite. Er war und blieb ein Projekt einer sozialkonservativ bis sozialliberal 54 Zum System althoff BeRNhaRd Vom BRocKe: hochschul- und Wissenschaftspolitik in Preußen und im Deutschen Kaiserreich. Das „System althoff“, in: PeteR BaumgaRt (hg.): Bildungspolitik in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs, Stuttgart 1980, S. 9–118. Vgl. auch aRNoLd sachse: Friedrich althoff und sein Werk, Berlin 1928. 55 Vgl. KaRL PRiBRam: Geschichte des ökonomischen Denkens, Frankfurt a. M. 1992, Bd. 2, S. 412–428.
Der Gründerkrach, die Krise des liberalen Paradigmas
33
eingestellten Professorenschaft und hatte zahlreiche Unterstützer in der Reichs- und preußischen Bürokratie. aber schon in den politischen Parteien konnte er sich keineswegs einer breiten Unterstützung sicher sein. Die Bedeutung der „Sozialpolitik“, in deren Förderung der Markenkern des Kathedersozialismus bestand, war zwar ein wesentliches politisches thema von der Mitte der 1870er bis zum Beginn der 1890er Jahre; hier gab es zum Beispiel über den erwähnten Kontakt Gustav Schmollers mit Bismarcks engem Berater theodor lohmann auch einen spürbaren Einfluss. lohmanns Gesetzentwürfe beruhten weitgehend auf Vorarbeiten von Schmoller und Wagner.56 Mit dem relativen Bedeutungsverlust der Sozialpolitik seit der zweiten hälfte der 1890er Jahre aber ließ auch deren politische Brisanz nach. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg kamen die „soziale Frage“ und die Sozialpolitik zwar immer wieder auf die tagesordnung (ausweitung der Sozialversicherung, Status der angestellten et cetera), konnten allerdings keine größere Brisanz entfalten, da der Wirtschaftsaufschwung das Problem deutlich entschärfte.57 Der größte und dauerhafteste Einfluss der „Kathedersozialisten“ findet sich daher weniger in der unmittelbaren Wirtschafts- und Sozialpolitik der Zeit, als vielmehr vor allem in der staatlichen Bürokratie, die seit den 1870er Jahren den Wirtschaftsalltag im Wesentlichen auf dem Verordnungswege zu gestalten hatte. „am wichtigsten war der Einfluß der sozialreformerischen Professoren auf die Beamten, die ja ihre Schüler waren. Die Rolle der anwälte der Sozialreform Schmollerscher Observanz war geradezu auf den konstitutionellen Beamtenstaat bezogen“, bemerkt thomas nipperdey.58 In der tat: nach dem heftigen Streit um den Protektionismus, der den Verein für Sozialpolitik fast die Existenz gekostet hätte, verzichtete man seit 1881 auf Schlussabstimmungen zu politischen Projekten nicht zuletzt deshalb, um Mobilisierungen zu den Verbandstagungen, wie sie vor der Schutzzolltagung durch industrielle Interessenvertreter stattgefunden hatten, in Zukunft auszuschließen; 1905 wurde sogar die Zusammenfassung der tagung durch den Vorsitzenden eingestellt. Der Verein beeinflusste neben den direkten Kontakten zwischen Professoren und Beamten auch die öffentliche Meinung. Insbesondere die unter seiner Ägide verfassten, insgesamt 134 Studien zur sozialen Situation im Deutschen Reich, wirkten in der Öffentlichkeit „erzieherisch“ und flossen hin und wieder auch direkt in Gesetzesvorlagen ein. Gelegentlich beteiligte sich der Staat sogar an der Finanzierung von Vereins-Enqueten oder unterstützte sie organisatorisch.59 In den 1870er Jahren und 1880er Jahren waren die öffentliche Bedeutung und der direkte wie indirekte Einfluss des Vereins zweifellos am größten, 56 d. LiNdeNLauB, Richtungskämpfe (wie anm. 37), S. 35. 57 WoLfgaNg j. mommseN: Bürgerstolz und Weltmachtstreben. Deutschland unter Wilhelm II. 1890–1918, Berlin 1995, S. 380–395. 58 th. NiPPeRdey, Deutsche Geschichte, Bd. 1 (wie anm. 41), S. 371. 59 d. LiNdeNLauB, Richtungskämpfe (wie anm. 37), S. 28ff.
34
Werner Plumpe
auch, weil die liberalen Semantiken in dieser Zeit schwer angeschlagen blieben. Die Bismarckʼsche Sozialgesetzgebung jedenfalls wurde durch den Kathedersozialismus nicht nur beeinflusst, sondern auch semantisch gerahmt. Schmollers Berufung in den Preußischen Staatsrat 1883 brachte diese große Bedeutung auch symbolisch zum ausdruck.60 Dies bedeutete freilich nicht, dass die „empirische Schule“ in der nationalökonomie nun konkurrenzlos das Feld beherrscht hätte; in der Großindustrie, namentlich der Schwerindustrie des Saarlandes, des Ruhrgebietes und Schlesiens waren die Vorbehalte gegen diese art der Sozialpolitik und ihre Propagierung massiv und wuchsen kontinuierlich an. Den Widerstand der Großindustrie speiste neben materiellen Gründen auch und gerade das Bild der hartherzigkeit, das mit den Vorwürfen des Vereins für Socialpolitik in der Öffentlichkeit entstand. noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts fühlte „der Groß- und Schwerindustrielle Emil Kirdorf (…) sich und seinesgleichen in der öffentlichen Meinung des Bürgertums (…) isoliert, ja moralisch disqualifiziert.“61 nicht zuletzt erschien die akademische Sozialpolitik als Förderin oder Dulderin der SPD, die trotz aller sozialpolitischen Erfolge in den 1890er weiter an Bedeutung gewann. Die zahlreichen Versuche der Reichsregierung, gegen die Sozialdemokratie vorzugehen, scheiterten zwar;62 die hoffnung aber mit der Sozialpolitik die arbeiterschaft von der SPD fernhalten zu können, erwies sich als illusorisch. Der Kaiser, der sich nach 1890 zunächst als arbeiterfreund profilieren wollte, und die Reichsregierung verloren insofern das Interesse an der Sozialpolitik, die daher aus dem Zentrum der Politik rückte. Die politische Konstellation, die in den1870er Jahren die Sozialpolitik begünstigt hatte, drehte sich nun, weil seit dem Beginn einer neuen hochkonjunkturphase Mitte der 1890er Jahre die „soziale Frage“ an Brisanz verlor. Vollbeschäftigung und steigende Realeinkommen spielten hierfür ebenso eine Rolle wie die nach und nach eintretenden Erfolge der staatlichen Sozial- und Gesundheitspolitik und der kommunalen Daseinsfürsorge. Zahlreiche Großbetriebe hatten zudem ihre eigene Sozialpolitik entfaltet, zum teil in einem Maße, das die staatlichen Bemühungen deutlich übertraf. Für den Generaldirektor der Elberfelder Farbenfabriken carl Duisberg jedenfalls waren der Verein und die herablassend als theoretisch bezeichnete Sozialpolitik kein Ärgernis mehr, eher schon das wiederholte öffentliche Eintreten von lujo Brentano für die Gewerkschaften. Mit den Gewerkschaften wollte man sich nicht an einen tisch setzen, aber in der Sozialpolitik, da machte Duisberg nach seinem Selbstbild niemand etwas vor. Die große Bedeutung für die Sozialpolitik der 1870er bis 1890er Jahre sollte indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass der wirtschaftspolitische Einfluss, die wirtschaftspolitische Bedeutung des Kathedersozialismus ansonsten 60 E. gRimmeR-soLem, historical Economics (wie anm. 37), S. 102ff. 61 th. NiPPeRdey, Deutsche Geschichte, Bd. 1 (wie anm. 41), S. 371. 62 W. J. mommseN, Bürgerstolz (wie anm. 57), S. 173ff.
Der Gründerkrach, die Krise des liberalen Paradigmas
35
gering war. Dies hatte ganz unterschiedliche Gründe. Einerseits waren Schmoller und sein Umfeld in diesen Fragen zurückhaltend; unmittelbare Forderungen oder Interventionen, wie sie in ihren augen für das Manchestertum typisch waren, lehnte man ab. Sodann hatte der Streit um Protektionismus und Freihandel gezeigt, dass es eine einheitliche Meinung im Verein ohnehin nicht gab. Schmoller hatte angesichts der europäischen Entwicklung einen moderaten Schutzzoll unterstützt; viele andere unter ihnen der Vereinsvorsitzende Erwin nasse und lujo Brentano blieben hingegen überzeugte Freihändler. Der Streit hierüber hielt an, ja verschärfte sich angesichts der verschiedenen Zolldebatten unter caprivi, Bülow und Bethmann-hollweg immer wieder; eine einheitliche haltung des Vereins gab es vor 1914 nicht. Und selbst wenn der Verein sich hier klar geäußert hätte; jüngst hat cornelius torp gezeigt, dass die Möglichkeiten einer autonomen handels- und Zollpolitik ohnehin viel geringer waren als Jahrzehnte lang unterstellt.63 Durch seine internationale Währungs- und handelseinbindung war das Deutsche Reich in Zollfragen de facto nur sehr beschränkt souverän. Ein gleiches gilt für die Währungs-, Geld- und Zinspolitik, die durch den Goldstandard ebenfalls der nationalen Souveränität entzogen war.64 Bezogen auf die handels- und Finanzpolitik gab es mithin nicht nur kaum einen Einfluss der „realistischen Ökonomie“, sie war auch weit davon entfernt, antizyklisch angelegt zu sein, wie hans-Ulrich Wehler das annimmt. Ordnungspolitisch die größte Brisanz besaß ohnehin nicht dieser Bereich, sondern die Kartell- und trustpolitik. Der ökonomische liberalismus hatte ja nicht zuletzt auch deshalb Probleme mit der Wirklichkeit bekommen, weil der Konkurrenzkapitalismus der Frühindustrialisierung im Zuge der technischen Entwicklung nach und nach, zumindest in wesentlichen Branchen, verdrängt worden war und einer eigentümlichen Gemengelage von Großunternehmen, Kartellen und Zusammenschlüssen Platz gemacht hatte – eine tendenz, die sich im Zuge der Großen Depression nachhaltig verstärkte. Die nationalökonomie war sich keineswegs sicher, wie diese Entwicklungen zu beurteilen seien.65 Daher war der Verein hier auch sehr zurückhaltend mit der abgabe von grundsätzlichen Stellungnahmen. Zweimal bestimmte das thema die Jahrestagungen, 1894 in Wien und 1905 in Mannheim, wobei die auffassungen mit der Zeit kartellkritischer 63 coRNeLius toRP: Erste Globalisierung und deutscher Protektionismus, in: sVeN oLiVeR müLLeR / coRNeLius toRP (hg.): Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009, S. 422–440. 64 B. eicheNgReeN, Goldstandard (wie anm. 17), S. 54. Vgl. auch KaRL guNNaR PeRssoN: an Economic history of Europe. Knowledge, Institutions and Growth. 600 to the Present, cambridge 2010, S. 175–178. 65 Bezeichnend hierfür RudoLf hiLfeRdiNg: Das Finanzkapital. Eine Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus, Düsseldorf 2000 (zuerst 1910). In der neuausgabe auch eine Studie von BetRam schefoLd: Rudolf hilferding und die Idee des Organisierten Kapitalismus, Düsseldorf 2000. Vgl. auch dieteR KRügeR: nationalökonomen im wilhelminischen Deutschland, Göttingen 1983, S. 74–101.
36
Werner Plumpe
wurden beziehungsweise einer staatlichen Beaufsichtigung der Kartelle das Wort geredet wurde. Zumindest bei Schmoller herrschte hier eine pragmatische haltung vor; in der Krise mochten Kartelle ihren Sinn haben, im aufschwung konnten sie hinderlich sein. Der Staat sollte ein auge darauf haben und gegebenenfalls intervenieren. Zu einer derartigen Regelung kam es vor dem Ersten Weltkrieg freilich nicht mehr.66 Im Kern war die ordnungspolitische Vorstellung der „realistischen Ökonomie“ daher pragmatisch, liberal. Eine dogmatische herleitung der Wirtschaftspolitik lehnte man ab; diese sollte vielmehr pragmatisch auf die jeweiligen herausforderungen reagieren und zu lösungen beitragen. Diese unausgesprochenen Grundsätze durchziehen die weiteren arbeiten (und Empfehlungen) des Vereins für Socialpolitik, sei es zur Gestaltung der Binnenwasserstraßen, zu den Kommunalsteuern oder zur Wohnungsfrage.67 Makroökonomische Grundsatzfragen zur wirtschaftlichen Entwicklung, zu Krisen oder zur Produktivitätsentwicklung wurden nach 1900 häufiger thematisiert, ohne dass es hier zu unmittelbaren Schlussfolgerungen gekommen wäre. Der Pragmatismus blieb die dominante linie wohl auch deshalb, weil sich mit ihm Grundsatzkonflikte vermeiden ließen, die ansonsten eine Existenzbedrohung für den Verein dargestellt hätten. 5. Die Krise des historismus in der Ökonomie Dass die „realistische“ Richtung in der nationalökonomie seit den 1890er Jahre in eine Krise geriet und deutlich an Prägekraft verlor, könnte man zunächst schlicht mit einem erneuten Wechsel in der konjunkturellen Großwetterlage erklären. nach dem Ende der Großen Depression änderte sich die Stimmungslage, die Zukunftserwartungen wurden optimistischer und die angst vor den „revolutionären Umtrieben“ der Sozialdemokratie begann sich zu legen.68 aber eine solche Erklärung greift nicht weit genug aus. Denn zunächst änderte sich an der staatlichen Wirtschafts- und Wirtschaftsordnungspolitik in Deutschland wenig. Der liberale Pragmatismus behielt die Oberhand; wenn überhaupt bestand die Krise der „realistischen“ Schule bestenfalls im Verblassen der Sozialpolitik. Gleichwohl muss von einer Krise des ökonomischen historismus gesprochen werden, die sich aus zwei wesentlichen, sich 66 d. LiNdeNLauB, Richtungskämpfe (wie anm. 37), S. 39f. fRitz BLaich: Kartell- und Monopolpolitik im kaiserlichen Deutschland. Das Problem der Marktmacht im deutschen Reichstag zwischen 1879 und 1914, Düsseldorf 1973. 67 Vgl. fRaNz Boese: Geschichte des Vereins für Sozialpolitik 1872–1932, Berlin 1939. 68 Zur wirtschaftlichen Entwicklung aLBeRt caRReRas / camiLLa josePhsoN: aggregate Growth, 1870–1914: Growing at the Production Frontier, in: stePheN BRoadBeRRy / KeViN h. o’RouRKe (hg.): the cambridge Economic history of Modern Europe, Bd. 2: 1870 to the Present, cambridge 2010, S. 30–58.
Der Gründerkrach, die Krise des liberalen Paradigmas
37
bald miteinander vermischenden Flüssen speiste: Einerseits kam es zu einem Generationenkonflikt; für die jüngere Generation waren die Errungenschaften der „Realisten“ längst selbstverständlich geworden, an ihre heroische Phase bei der Reform des Studiums erinnerte nicht mehr viel.69 Der Bedächtigkeit ihres Pragmatismus entsprach mittlerweile die Behäbigkeit ihres akademischen auftritts, von dem allein Brentano, der eine unterhaltsame ader hatte, abstach. Moritz Julius Bonn, Jahrgang 1873 und renommierter Ökonom der Zwischenkriegszeit, ließ an seinen akademischen lehrern aus der historischen Schule kaum ein gutes haar, von seinem Doktorvater Brentano abgesehen. Über den alten Karl Knies, bei dem Bonn in heidelberg noch gehört hatte, heißt es: „Ich fiel in die hände von Karl Knies, eines großen Gelehrten, aber denkbar schlechten lehrers. Während des ganzen Jahres, in dem ich ihn hörte, hat er, glaube ich, keinen einzigen Satz zu Ende geführt. Er langweilte uns und wir langweilten ihn wahrscheinlich noch mehr.“70 Schmoller sei ein „Relativist“ gewesen. „Er sagte selten ‚ja‘ oder ‚nein‘. Er lehrte seine Schüler, alle wirtschaftlichen Probleme als formlose, sich immer wandelnde Phänomene zu betrachten, deren wahres Wesen man doch nicht ergründen könne. Daher tue man am besten, ihre Geschichte zu studieren; wer besonders rege, mutig und wißbegierig sei, könne allenfalls gegenwärtige Zustände beschreiben, solle sie aber nicht bewerten. Was die Wirtschaftspolitik angehe, so sei es klug, sich zurückzuhalten; man solle sie den jeweiligen Machthabern überlassen; wenn diese ihre Entscheidung gefällt hätten, könne man sie mit einschlägigen tatsachen und guten Gründen rechtfertigen.“71
Das war eine bösartige Verzeichnung einer in mancher hinsicht zutreffenden Beobachtung; vor allem aber brachte sie die stille oder offene Verachtung zum ausdruck, die Schmollers Programmatik mittlerweile auf sich ziehen konnte. Beide Beobachtungen Bonns gingen allerdings in die richtige Richtung: Die „Realisten“ waren alt und sie hatten keine klare Botschaft. Die jüngeren Ökonomen und Sozialwissenschaftler setzten sich daher einerseits vom Pragmatismus Schmollerʼscher art ab, andererseits suchten sie nach der allgemeinen Gesellschafts- und Wirtschaftstheorie, die ihnen Schmoller nun gerade nicht geboten hatte. Die Welle der Marx-Rezeption bei zahlreichen jüngeren Wissenschaftlern entsprach dieser Konstellation, von den gesellschaftlichen Zuständen auszugehen, sie aber so allgemein zu fassen, dass generalisierbare aussagen über die Gesellschaft, die Wirtschaft und deren Wandel möglich wurden.72 Zumindest in ihrer Zurückweisung der englischen Klassik und in 69 Vgl. hierzu dieteR KRügeR: nationalökonomen im wilhelminischen Deutschland, Göttingen 1983. 70 moRitz juLius BoNN: So macht man Geschichte. Bilanz eines lebens, München 1953, S. 57. 71 Ebd., S. 53. 72 typisch hierfür die ansätze etwa Max Webers oder Werner Sombarts, die an einer theorie des modernen Kapitalismus interessiert waren und Schmollers gemächlichen Evolu-
38
Werner Plumpe
der geringen Rezeption der neoklassik, aber auch in ihrem ausgehen von den realen tatsachen des gesellschaftlichen lebens erwiesen sie sich jedoch als treue Schüler Schmollers, dessen ethischen Pragmatismus man indes nicht gelten ließ.73 Die Krise des historismus in der nationalökonomie bestand zunächst in ihrem verblassenden heroismus, sodann in den unklaren methodischen Grundlagen ihres ethischen Pragmatismus und schließlich in dem Fehlen einer allgemeinen theorie zum Verständnis der Gegenwart. hier sickerten im deutschen Fall aber weniger allgemeine ökonomische theorien ein, etwa der Grenznutzenschule oder später der allgemeinen Gleichgewichtskonzepte, sondern kapitalismustheoretische Überlegungen, am sichtbarsten zweifellos in Sombarts Studien zum modernen Kapitalismus.74 Die starke Position der 1870er Jahre war jedenfalls ohne eine moderne ökonomische theorie, zumindest aber eine sozialwissenschaftliche theorie der ökonomischen Moderne, nicht dauerhaft zu behaupten. Die Krise des historischen Denkens in der Ökonomie war zumindest in Deutschland daher auch keineswegs der ausdruck einer niederlage gegen die österreichischen Marginalisten oder die anderen Vertreter der neoklassik. Wesentliche annahmen des historismus galten auch weiterhin, insbesondere die Zurückweisung einer unhistorischen axiomatik in den zentralen Begriffen und hiermit zusammenhängend die Zurückweisung einer spekulativen ökonomischen theorie, die sich empirischen tests entzog. Die Krise des historismus in der Ökonomie war kein später Sieg von carl Menger über Gustav Schmoller, auch wenn im nachhinein sich der Eindruck festgesetzt hat, die österreichischen Marginalisten seien als Sieger vom Platz gegangen. Das waren sie, auch wenn Ökonomen wie Bonn anderes behaupteten und damit eine bis heute nachwirkende legende fabrizierten, keineswegs. Die Programmatik einer realistischen Ökonomie hatte sich vielmehr im Wesentlichen gegen Mengers Kritik behaupten können. Faktisch aber trat Gustav Schmoller vor 1914 für eine empirische Wirtschaftswissenschaft ein, die sich angesichts mangelnder Daten zunächst auf historische und wenige statistische Untersuchungen beschränken musste. Ein großer teil des Forschungsprogramms des Vereins für Socialpolitik war Datenerhebung und Datensicherung. Dieses Forschungsprogramm ist den heutigen „Experimental Econotionismus theoretisch, methodisch und programmatisch zurückwiesen. Vgl. hierzu insbesondere d. LiNdeNLauB, Richtungskämpfe (wie anm. 37). Vgl. auch RomaN KösteR: Die Wissenschaft der außenseiter. Die Krise der nationalökonomie in der Weimarer Republik, Göttingen 2011. 73 Man bezeichnete Weber und Sombart ja auch als „jüngste historische Schule“. Zum nachwirken Schmollers josePh a. schumPeteR: Gustav von Schmoller und die Probleme von heute, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft 50 (1926), S. 337–388. 74 WeRNeR somBaRt: Der moderne Kapitalismus. historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen anfängen bis zur Gegenwart, 3 Bände in 6 teilbänden, München 1916–1919 (zuerst 1902).
Der Gründerkrach, die Krise des liberalen Paradigmas
39
mics“ im Grunde sehr viel ähnlicher als bisher angenommen. Und mit der gegenwärtigen Ökonomie teilt Schmoller ja in gewisser Weise auch, dass ihm vorgeworfen wird, zum allgemeinen Verständnis von Gesellschaft und Wirtschaft wenig beizutragen. Die hinwendung eines teiles der jüngeren Generation zu Marx beziehungsweise zu dem Versuch, den Kapitalismus theoretisch zu fassen, war (wenn auch der Marxismus kaum angenommen wurde, sondern die kritische auseinandersetzung dominierte) im Kaiserreich immer noch ein Karriererisiko, wie unter anderem Werner Sombart erfahren musste.75 Viele angehörige der jüngeren Generation gingen daher andere Wege – in gewisser hinsicht dem Vorbild Mengers und seiner neigung zur „Privatwirtschaft“ folgend, befassten sie sich jetzt mit Unternehmen und Unternehmensgeschichte und suchten zum teil die enge anlehnung an die Privatwirtschaft, die der Verein für Socialpolitik seit 1881 konsequent ablehnte. Vor allem im nichtpreußischen Deutschland und an die aus dem Boden sprießenden handelshochschulen wurden nach der Jahrhundertwende immer weniger Vertreter der historischen Schule, sondern nicht selten deren erklärte Gegner berufen, wie Richard Ehrenberg, ludwig Pohle, andreas Voigt, adolf Weber und ludwig Bernhard, zwischen 1857 und 1875 geborene Ökonomen, die zum teil den Unternehmen nahestanden, auf jeden Fall aber die sozialethische Richtung Schmollers ablehnten.76 Damit zeichnete sich auch personell ein Ende des historismus ab, dessen Kernsätze einer empirischen Wirtschaftswissenschaft von dieser Krise freilich nicht betroffen waren. Der aufstieg der Sozialpolitik war unter anderem eine Folge des Gründerkrachs und der ökonomischen Struktur- und Rahmenbedingungen der 1870er Jahre. Ende des Jahrhunderts hatten sich die Bedingungen geändert und der Problemdruck war, nicht zuletzt wegen des Erfolgs der Sozialpolitik, geringer geworden. 6. Fazit Gustav Schmoller war, um noch einmal auf den ausgangspunkt zurückzukommen, ein völlig anderes Kaliber als John Maynard Keynes, auch wenn ihr jeweiliger aufstieg im Kontext des Zerbrechens bisheriger ökonomischer leitvorstellungen während großer Krisen erstaunliche Parallelen hat. Keynes ist uns heute in jeder hinsicht näher als Gustav Schmoller, über den Georg Friedrich Knapp schrieb:
75 Vgl. hierzu fRiedRich LeNgeR: Werner Sombart 1863–1941. Eine Biographie, München 1994. 76 D. KRügeR, nationalökonomen (wie anm. 69).
40
Werner Plumpe „Er hatte keine nebenher laufende liebhaberei. Er war für theater, für Musik, für Bilder nicht zu haben; er suchte nie den abendtisch von Kollegen auf, schon weil das Gespräch weniger seine Sache war; auch gab es keine lieblingsdichter für ihn. Selbst wenn er aufs land ging, arbeitete er dort weiter, nur in leichteren Sachen, indem er zum Beispiel Bücher für sein Jahrbuch anzeigte. aber daß er allen lebensgenuß entbehrt hätte, glaube man nicht; was ihn so frisch erhielt bis zum 79. lebensjahr, versteht jeder, der ihn persönlich kannte. Man muß es gesehen haben, wie ihm ‚im hause wohl bereitet war‘ durch die innige hingabe und das kluge Wirken seiner Frau, die die echteste Gehilfin ihres Mannes war. Sie ersetzte ihm alles, was andere in Zerstreuungen suchen.“77
Man unterschätzt indes Schmoller, wenn man ihn stets nur als alten Gelehrten sieht. In seiner „heroischen Zeit“, den 1870er Jahren, war er ein junger Mann – ein aspekt, der für seine Kreativität und seinen Durchsetzungswillen zweifellos eine wichtige Rolle spielte. Ähnlich wie bei Keynes jedenfalls, dessen theoretische Karriere ohne die Weltwirtschaftskrise kaum vorstellbar gewesen wäre, so verdankte sich auch Schmollers aufstieg zum führenden deutschen Ökonomen zweifellos der Gründerkrise und dem Gründerkrach. Er wusste diese chance, die sich ihm recht plötzlich bot, zu nutzen. Sein thema – die „Soziale Frage“ – war ohnehin aktuell. Die Gründung des Vereins für Socialpolitik, der wissenschaftliche Forschung und das Eintreten für eine gemäßigte Sozialreform miteinander verband, war noch in der hochphase des Gründerbooms erfolgt. Schmoller war hier von anfang an führend beteiligt. Er verband in der Folgezeit sehr geschickt verschiedene semantische Stränge miteinander, die in der Verflechtung von Wissenschaft und Politik über die Beamtenausbildung und die Praxis des Vereins, theoretiker und Praktiker zusammenzubringen, zusammenliefen und ihm eine Zeitlang eine einmalige Stellung auch in der Öffentlichkeit des Deutschen Reiches erlaubten. Er revolutionierte die akademische Ökonomie, indem er die empirische Forschung betonte, die angesichts der verfügbaren Materialien in jener Zeit im Grunde nur historisch sein konnte. anders als Keynes aber gelang ihm nie der wissenschaftliche Schritt hin zu einer „allgemeinen theorie“. Das hatte zweifellos mit der hinwendung zum historischen Strukturwandel zu tun, aber wohl auch mit Bedächtigkeit. Entscheidend war die Zurückweisung des spekulativen charakters der britischen theoretischen Ökonomie und ihrer im- wie expliziten Grundannahmen. Schmoller wollte und konnte sich nicht auf eine Ökonomie einlassen, die im Grunde spekulativ war, die von einer Reihe von axiomen ausgehend mehr oder weniger formale Sätze über ökonomische Beziehungen aufstellte, deren Realitätsbezug faktisch nicht zu überprüfen war beziehungsweise bei Inspektion mit gesundem Menschenverstand nicht existierte. Weder fand man in der Realität lupenreine homines Oeconomici noch allgemeine Gleichgewichte, 77 geoRg fRiedRich KNaPP: Gustav von Schmoller, in: Frankfurter Zeitung, 6. Juli 1917, wiederabgedruckt in: deRs.: ausgewählte Werke I: Einführung in einige hauptgebiete der nationalökonomie, München/leipzig 1925, S. 363–367, hier S. 367.
Der Gründerkrach, die Krise des liberalen Paradigmas
41
sondern eine Vielzahl an heterogenen Eindrücken, die erst zu ordnen waren. Schmollers Vertrauen auf das soziale Königtum, auf eine Sozialreform aus dem Geiste der Bürokratie, stützte sich letztlich auf die historisch belegte Reformfähigkeit des preußischen Staates. Seine politischen Empfehlungen waren daher auch selten konkret; er plädierte für den ausbau einer institutionellen Infrastruktur zur sozialen Integration des Kapitalismus, um diesen insgesamt leistungsfähiger zu machen. In die tagespolitik mischte er sich nicht ein; selbst in so grundlegenden Fragen wie der Kartellpolitik plädierte Schmoller zum Ärger vieler Mitglieder des Vereins für eine abwartende, geradezu bedächtige haltung. Schmollers Position war daher zu keinem Zeitpunkt verallgemeinerungsfähig, sondern blieb an die spezifischen deutschen Umstände gebunden, auch wenn der Kern seiner haltung (das antispekulative Moment, die hinwendung zur empirischen Forschung, die Betonung der Institutionengestaltung und die vorsichtige artikulation evolutionärer Überlegungen) über Joseph a. Schumpeter in jenen semantischen Fundus eingeflossen ist, von dem heute die sogenannte heterodoxe Ökonomie zehrt. Immerhin aber konnte Schmoller auf Gründerkrach und Gründerkrise eine konzise antwort geben: Der Kapitalismus benötigt eine spezifische soziale Einbettung, ohne die er nicht nur an legitimität verliert, sondern auch an Effizienz. Schaffen kann das allein oder zumindest vorrangig nur eine Bürokratie, die sich aus historischem Bewusstsein heraus ihrer Verantwortung stellt. Krisen zerstören Sicherheiten und lösen Streit aus, das kann man spätestens seit hansjörg Siegenthalers Studie über Prosperität und Krisen wissen.78 Es ist dabei nicht allein der Streit vorteilssuchender ökonomischer akteure nach für sie günstigen Regeln; der Streit geht viel tiefer, da er alle semantischen Schichten einer kapitalistischen Gesellschaft durchdringt. Restrukturierungen erfolgen dann, wenn es gelingt, hier zu semantischen Kopplungen zu gelangen, die Bündelungseffekte ermöglichen. Keynes, der gerade diese Kopplungen musterhaft in seiner Person verkörperte, hat das sehr schön auf den Punkt gebracht: „Der nationalökonom muss Mathematiker sein, Geschichtsschreiber, Staatsmann und Philosoph (…) Er muss das Gegenwärtige im lichte des Vergangenen um der Zukunft willen erforschen. Kein teil der menschlichen natur darf ganz außerhalb seines Blickfelds liegen. Er muss gleichzeitig zweckhaft und uninteressiert sein; so abseitig und unbestechlich wie ein Künstler, doch manchmal so nah der Erde wie ein Politiker.“79
– kurz: wie John Maynard Keynes halt, möchte man ergänzen! Eine solche semantische Kopplung, wie Keynes sie hier vorführt, ist auch mit dem namen 78 haNsjöRg siegeNthaLeR: Regelvertrauen, Prosperität und Krisen. Die Ungleichmäßigkeit wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung als Ergebnis individuellen handelns und sozialen lernens, tübingen 1993. 79 Zit. nach KaReN hoRN: Ohne Märkte gibt es keine persönliche Freiheit. Milton Friedmans „Kapitalismus und Freiheit“, in: Merkur 736/737 (2010), S. 845.
42
Werner Plumpe
Gustav Schmoller eng verbunden, der freilich – oberflächlich gesehen – ein deutscher Sonderfall blieb, da er es nicht vermochte, eine „allgemeine theorie“ der Wirtschaft vorzulegen, in deren licht raumzeitunspezifische Generalisierungen möglich geworden wären. Keynes hat das geschafft – der Keynesianismus (welch sprechende Wortschöpfung!) war nicht nur eine antwort auf die Weltwirtschaftskrise, sondern konnte sich zugleich im Rahmen der ökonomischen theorie als alternative zur neoklassik etablieren, die bis dato unter anderem in Form eines zum teil recht radikalen liberalismus das ökonomische Denken vor allem in Großbritannien beherrscht hatte. Die historische Schule und ihr Kathedersozialismus haben diesen Status normativer Verbindlichkeit deshalb nie erreicht, weil sie eine allgemeine ökonomische theorie und ein daraus ableitbares universales normatives Modell nicht vorlegten. Das geschah wohl weniger, weil man es nicht konnte oder wollte, sondern vielmehr, weil man jene generalisierenden axiome nicht teilte, auf denen zumindest bislang jede formale und allgemeine theorie der Ökonomie aufsetzt. Der ausweg, empirische historische Forschung zu betreiben und die mittel- und langfristigen Bedingungen für eine soziale Integration des Kapitalismus (Wirtschaftssoziologie) zu formulieren, blieb letztlich – nicht zwangsläufig, aber faktisch – zeitlich und regional so gebunden, dass der „Kathedersozialismus“ als deutsche Sonderlehre erscheinen musste. Mit dem niedergang des historischen Denkens in der Ökonomie als Reaktion auf die Überwindung der Gründerkrise und in Folge des wilhelminischen Wirtschaftswunders entstand daher in Deutschland eine lücke, die es zu füllen galt. Die jetzt beginnende Suche nach den Bedingungen der Möglichkeit einer „allgemeinen theorie“ ging nun aber gerade nicht in Richtung der Übernahme österreichischer oder angelsächsischer Konzepte, sondern wandte sich dem Kapitalismus und den mit ihm vermeintlich verbundenen aporien der Moderne zu. Vor allen Dingen diese Debatten haben, wie Roman Köster in diesem Band eindrücklich zeigt, in der Weimarer Republik eine intensive Methodendebatte ausgelöst, da man in der Mehrzahl weiterhin – trotz der Krise des historismus – nicht bereit war, sich der Gleichgewichtsökonomie beziehungsweise der neoklassik in ihren verschiedenen Facetten einfach anzuschließen. aus deren Sicht erschienen nunmehr die deutschen Ökonomen als weltfremd; angesichts der tatsache, dass sich der aufstieg der historischen Ökonomie gerade am fehlenden Realismus der englischen Klassik entzündete, eine bizarre Pointe.
natIOnalÖKOnOMIE UnD ORDnUnGSPOlItISchE DISKUSSIOn In DER WEIMaRER REPUBlIK Roman Köster Die zwei nachkriegszeiten, die Deutschland im 20. Jahrhundert erlebt hat, haben beide den legitimitätsverlust der alten Ordnung gemeinsam. Sowohl im Falle des Untergangs des Kaiserreichs 1918 wie auch dem Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft 1945 war bei aller Ungewissheit über die Zukunft klar, dass es zu grundlegenden Änderungen der sozialen und ökonomischen Ordnung kommen musste. Wie die Geschichte ausging, ist bekannt: Während sich die Bundesrepublik Deutschland erfolgreich aus der Misere befreien konnte, gelang es der Weimarer Republik nicht, ihre gravierenden sozialen und ökonomischen Probleme zu überwinden. Sicherlich sollte ein solcher Vergleich nicht überstrapaziert werden, aber auffällig ist, dass die Etablierung und der Erfolg einer sozioökonomischen Ordnung im einen Fall einherging mit der Durchsetzung eines ordnungspolitischen Paradigmas, nämlich der „Sozialen Marktwirtschaft“, während im anderen Fall die krisengeschüttelte Weimarer Republik gerade keine ordnungspolitische leitvorstellung ausbildete. Stattdessen kam es zu politisch-ideologischen Grabenkämpfen und ausbrüchen politischer Gewalt. In der Weltwirtschaftskrise setzte sich schließlich auf breiter Ebene die ansicht durch, das Schicksal der freien Wirtschaft sei besiegelt, wobei über die Form der neuen Ordnung allerdings keine Einigkeit bestand. So schwierig es dabei ist, Ursache und Wirkung klar zu benennen, scheint es doch keine allzu gewagte aussage, dass ein ordnungspolitisches Konzept wie das der „Sozialen Marktwirtschaft“ seine legitimität und sicherlich auch einen teil seiner intellektuellen Kraft aus dem ökonomischen Erfolg gewann. Inwiefern das Konzept durch in seinem Sinne erfolgte institutionelle Weichenstellungen zu diesem Erfolg beitrug, ist eine Frage von Zuschreibungskämpfen. an dieser Stelle genügt ein hinweis darauf, dass ein Modell ökonomischer Integration der Gesellschaft auf der einen Seite zwar plausibel erscheinen musste, nachdem das Modell politischer Integration im nationalsozialismus jede legitimität verloren hatte. auf der anderen Seite war es aber angesichts der Bedingungen der unmittelbaren nachkriegszeit und der Erfahrungen der letzten dreißig Jahre auch äußerst gewagt. aus diesem Grund erscheint die Frage, warum es der Weimarer Republik nicht gelang, ein vorherrschendes ordnungspolitisches Paradigma zu entwickeln, eng verwoben mit der Frage nach den Gründen für ihr Scheitern. Da
44
Roman Köster
das aber eine viel zu umfassende themenstellung ist, beschränkt sich dieser aufsatz auf das akademische Fach nationalökonomie und beschäftigt sich anhand dieses teilaspekts etwas eingehender mit dem Problem. Es soll gezeigt werden, dass die handfesten Krisen der Weimarer Republik auf die ausbildung von Ordnungskonzeptionen in der Disziplin eine schwere hypothek legten. trotzdem dürfte mit dieser Feststellung allein die Frage, warum sie – anders als nach 1945 – keine klare leitvorstellung ausbildete, nicht zureichend beantwortet sein. Daran schließt sich das Problem an, inwiefern die Diskussionen innerhalb des Faches für die ordnungspolitischen Debatten dieser Zeit insgesamt charakteristisch waren. In diesem Zusammenhang wird dann auch zu einigen, gerade aktuellen Interpretationen der Weimarer Republik Stellung bezogen. 1. Der Untergang des Kaiserreichs und das Ende der historischen Schule Zunächst gilt es einige Worte zur lage der deutschen nationalökonomie nach dem Ersten Weltkrieg zu verlieren. In der literatur ist viel geschrieben worden über den schlechten Zustand des Faches in den 1920er Jahren, dem angeblich geringen niveau und der theorieferne der Forschung.1 als Ursache wird dabei zumeist der fortdauernde Einfluss der Jüngeren historischen Schule identifiziert, welche die Durchsetzung der ökonomischen theorie angelsächsischer oder österreichischer Prägung in Deutschland verhindert habe. Dabei war aber für die in der tat vorhandenen Probleme des Faches eigentlich nicht die Kontinuität der historischen Schule verantwortlich, sondern die tatsache, dass sie mit dem Ersten Weltkrieg unterging, nachdem sie bereits seit der Jahrhundertwende ihre Dominanz zunehmend verloren hatte.2 Die Gründe hierfür können an dieser Stelle nur knapp angerissen werden. ausschlaggebend waren in erster linie zwei Dinge: Zum einen hatte die historische Schule ihr Erkenntnisprogramm stark an die annahme eines kontinuierlichen Institutionenfortschritts gekoppelt, der zu einer zunehmenden „Versittlichung“ der Gesellschaft führen sollte. War diese Vorstellung schon vor dem Krieg beispielsweise von Max Weber und Werner Sombart im Rahmen ihrer Kapitalismusanalyse scharf kritisiert worden, wurde sie durch den Ersten Weltkrieg ad absurdum geführt. Zweitens war das Ziel der historischen Schule, als Resultat vereinter Forschungsanstrengungen zu empirischen Ge1
2
cLaus-dieteR KRohN: Wirtschaftstheorien als politische Interessen. Die akademische nationalökonomie in Deutschland 1918–1933. Frankfurt a. M./new York 1981. allgemein zur deutschen nationalökonomie vgl. auch hauKe jaNsseN: nationalökonomie und nationalsozialismus. Die deutsche Volkswirtschaftslehre in den dreißiger Jahren, Marburg 22001. Dazu RomaN KösteR: Die Wissenschaft der außenseiter. Die Krise der nationalökonomie in der Weimarer Republik, Göttingen 2011, S. 31ff.
nationalökonomie und ordnungspolitische Diskussion in der Weimarer Republik 45
setzen des Wirtschaftslebens zu gelangen, an die Vorstellung gebunden, die Menge der tatsachen sei forschungspraktisch beherrschbar. Der Weltkrieg erzeugte jedoch solche Mengen an neuen Fakten und neuem empirischem Material, dass ihr Erkenntnisprogramm allein vor diesem hintergrund als eine aussichtslose Sysiphus-arbeit erscheinen musste. Stattdessen galt die theoretische Zusammenfassung und Ordnung der tatsachen als das Gebot der Stunde. hinzu kam, dass während und kurz nach dem Krieg zahlreiche autoritäten des Faches verstorben waren, unter anderem Gustav Schmoller, adolph Wagner oder Max Weber, während andere wie lujo Brentano oder Karl Bücher bereits sehr alt waren und nur noch selten das Wort ergriffen; Brentano vor allem mit seinem öffentlichkeitswirksamen austritt aus dem Verein für Sozialpolitik 1923.3 Spätestens anfang der 1920er Jahre begann das Fach, sich kritisch mit seiner tradition auseinandersetzen – und es war diese Zeit, in der die historische Schule das schlechte Image bekam, welches ihr bis in die jüngste Zeit anhaftet. Selbst ein lange so treuer Schmoller-Schüler wie hermann Schumacher schrieb 1930 vom unheilvollen Einfluss der historischen Schule auf die Entwicklung des ökonomischen Denkens in Deutschland.4 Wenn letztere weiter fortlebte, dann eigentlich nur als Gegenstand von Schuldzuweisungen für den schlechten Zustand des Faches, während sich kaum noch jemand zu dieser, wenige Jahre zuvor noch vorherrschenden Richtung bekennen mochte. arthur Spiethoff, Schmoller-Schüler und herausgeber von „Schmollers Jahrbuch“, meinte 1932 resigniert, es gäbe wohl noch den ein oder anderen historisch arbeitenden nationalökonomen, von einer Schule ließe sich aber nun wirklich nicht sprechen.5 Der hauptsächlich durch den Untergang des Kaiserreichs bedingte Paradigmenverlust stürzte das Fach in eine Krise, die vor allem durch das nebeneinander zahlreicher verschiedener Richtungen charakterisiert war, die sich untereinander scharf bekämpften. aus der unüberschaubaren Vielzahl an Krisendiagnosen sollen hier nur zwei Beispiele angeführt werden. laut alfred amonn befand sich die nationalökonomie in einem Zustand der Verwirrung. Ihre Entwicklung sei ausgeartet in einen „wilden anarchismus (…), in dem jeder für sich seine eigenen Gesetze (…) macht und für sich unabhängig von allem, was vor ihm auf dem Gebiete der Wissenschaft geschehen ist oder neben ihm geschieht, sein System errichtet.“6 Werner Sombart begann seine 3 4 5 6
Lujo BReNtaNo: Mein leben im Kampf um die soziale Entwicklung Deutschlands, Jena 1931, S. 399f. heRmaNN schumacheR: artikel: Staatswissenschaften, in: gustaV aBB (hg.): aus fünfzig Jahren deutscher Wissenschaft, Berlin 1930, S. 136–158, 142. fRaNz Boese (hg.): Verhandlungen des Vereins für Sozialpolitik in Dresden 1932, München 1932. aLfRed amoNN: Objekt und Grundbegriffe der theoretischen nationalökonomie, leipzig 1911, S. 2.
46
Roman Köster
Drei Nationalökonomien von 1929 mit dem Satz: „In der Wissenschaft, die der deutsche Volksmund seit jeher und immerdar als nationalökonomie bezeichnet hat, ist alles, was bestimmt sein sollte, unbestimmt: sogar der Gegenstand mit dem sie sich beschäftigt.“7 Es sollte während der gesamten Zeit der Weimarer Republik nicht gelingen, die internen Probleme zu lösen.8 Die Krise der nationalökonomie hatte verschiedene Ursachen, die hier nur knapp genannt werden können. Sie hatte unter anderem damit zu tun, dass das Fach seine neubegründung nicht in gebotener Ruhe, sondern unter dem massiven Druck ökonomischer Problemlagen leisten musste. Zu einem gewichtigen teil muss die Krise auch als selbstreferentieller Prozess gesehen werden, denn es waren häufig gerade die Versuche, sie zu überwinden, die zu ihrer Verschärfung beitrugen. Das zeigte sich besonders an einer breit geführten Methodendebatte, in der grundlegende Begriffe und Kategorien der nationalökonomie geklärt werden sollten. In der Diskussion über erkenntnistheoretische Grundsatzfragen schienen sich mitunter noch die letzten Gewissheiten zu verflüchtigen. Manche Wissenschaftler meinten sogar, die epistemologischen Probleme des Faches nur durch den Entwurf einer neuen Begriffssprache lösen zu können.9 Der heidelberger nationalökonom arthur Salz schrieb 1927 folgerichtig, die nationalökonomie leide so sehr unter dem Übermaß von Selbstkritik, „dass sie (…) über die Frage, wie man richtig gehen muss, das Gehen selbst verlernte.“10 Ganz wesentlich hing diese Krise jedoch auch mit dem Problem zusammen, dass mit der neubegründung des Faches gleichzeitig eine antwort auf das Ordnungsproblem der Weimarer Republik gegeben werden sollte. Immer wieder stand die Frage im Fokus, im Rahmen welcher Ordnung die diagnostizierte Krise der Weimarer Republik überwunden werden konnte. Diese Grundsatzdiskussionen verschärften den Dissens innerhalb des Faches, zumal sich ordnungspolitische Vorstellungen als eng verknüpft mit der epistemologischen Begründung nationalökonomischer theoriebildung erwiesen. 2. anforderungen an die neue Ordnung Die Krise des Faches steht in einem eigenartigen Kontrast dazu, dass die nationalökonomie eine Zeit lang nach dem Ersten Weltkrieg geradezu als eine Modewissenschaft galt. Das hatte einerseits mit scheinbar günstigen berufli7
WeRNeR somBaRt: Die drei nationalökonomien. Geschichte und System der lehre von der Wirtschaft, Berlin 1930, S. 1. 8 R. KösteR, Wissenschaft (wie anm. 2), S. 307ff. 9 Z. B. fRiedRich V. gottL-ottLiLieNfeLd: Die wirtschaftliche Dimension. Eine abrechnung mit der sterbenden Wertlehre, Jena 1923. 10 aRthuR saLz: theorie und Praxis in der Wirtschaft, in: Der Deutsche Volkswirt. 2/1. hbb. (1927), S. 269–272, 271.
nationalökonomie und ordnungspolitische Diskussion in der Weimarer Republik 47
chen aussichten zu tun – bis 1923 wurde das Studium nach lediglich sechs Semestern mit der Promotion abgeschlossen und schien durch die zahlreichen Verbandsgründungen nach 1918 gute Karrierechancen zu eröffnen.11 auf der anderen Seite galt die nationalökonomie aber auch als die Wissenschaft, der am ehesten zugetraut wurde, die neuen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Realitäten der Weimarer Republik zu beschreiben und zu erklären. Das war auch der anspruch, den das Fach selbst an sich stellte, nämlich Orientierung in einer sich rapide verändernden Wirklichkeit zu ermöglichen. Sie beschränkte ihren Gegenstand also keineswegs auf die analyse ökonomischer tauschbeziehungen, sondern wollte die gegenseitige Bedingtheit von Wirtschaft und Gesellschaft aufzeigen. Dieser Erklärungsanspruch hatte zunächst mit der Wahrnehmung zu tun, dass sich mit Kriegsniederlage, Revolution und Republikgründung nicht einfach „nur“ das politische System geändert hatte. Vielmehr wurde ein fundamentaler Wandel auf allen Ebenen wahrgenommen, der den Untergang der Ordnung des Kaiserreichs feststellte und, damit einhergehend, den Bedeutungsverlust eines genuin bürgerlichen Wertekosmos diagnostizierte. Eine auf Meriten, Stand und Bildung beruhende Gesellschaftshierarchie – mithin die herrschaft der alten über die Jungen – war nun durch etwas neues zu ersetzen, in dem das politische System die sozialökonomische Struktur der Gesellschaft repräsentierte und der tendenziellen auflösung der trennung zwischen Staat und Gesellschaft Rechnung trug. harry Graf Kessler merkte bereits in einem tagebucheintrag vom 6. Dezember 1918 an, dass das Bildungsideal durch den Weltkrieg getötet worden sei. an seine Stelle müsse nun das Ideal der tüchtigkeit treten.12 Erik Reger schrieb in seinem Roman „Union der festen hand“ 1931 davon, die Wirtschaft, die früher nur an der „Peripherie der romantischen Idylle Deutsches Kaiserreich“ geduldet worden sei, habe sich nach 1918 zum „allmächtigen Götzenbild republikanischer Gläubigkeit“ gewandelt.13 Überall wurde die gestiegene aufmerksamkeit für wirtschaftliche und soziale Fragen vermerkt, was unter anderem dazu führte, dass sich die Zahl der Studierenden des Faches nationalökonomie innerhalb kürzester Zeit verfünffachte.14 Die geforderte neue theorie, beziehungsweise zeitgenössisch: das „neue System“, hatte insofern die soziale und wirtschaftliche Realität zu erfassen, 11 Vgl. RomaN KösteR: Die deutsche nationalökonomie in den 1920er Jahren und die Einführung des Diplomexamens, in: RaiNeR PöPPiNghege / dietmaR KLeNKe (hg.): hochschulreformen früher und heute. autonomie oder gesellschaftlicher Gestaltungsanspruch?, Essen 2011, S. 56–81, 59ff. 12 haRRy gRaf KessLeR: tagebücher 1918–1937, hg. v. WoLfgaNg PfeiffeR-BeLLi, Berlin 1961, S. 62. 13 eRiK RegeR: Union der festen hand. Roman einer Entwicklung, Berlin 1946, S. 317. 14 nach der Inflation sank sie, vgl. haRtmut titze: Das hochschulstudium in Preußen und Deutschland 1820–1944, Göttingen 1987, S. 156ff.
48
Roman Köster
war aber gleichzeitig mit dem Problem konfrontiert, dass mit der Installierung eines politischen Systems soziale Ordnung gerade noch nicht hergestellt war, implizierte der Umbruch von 1918 doch, dass das politische System die Gesellschaft gewissermaßen zu repräsentieren habe, anstatt dass umgekehrt das politische System die soziale Ordnung konstituiere. So schnell es im november 1918 gelungen war, eine jahrzehntelang als geradezu übermächtig erscheinende Ordnung zu beseitigen, so schwierig gestaltete sich der neuaufbau. Dabei gehörte es zu den grundlegenden Erfahrungen der nachkriegszeit mit Versorgungsengpässen, Eruptionen der politischen Gewalt und schließlich der traumatischen Zerstörung der individuellen Erwartungssicherheit in der Inflation, dass das Ordnungsversprechen der „unsichtbaren hand“ offensichtlich versagte. Es ist der deutschen nationalökonomie später oftmals angekreidet worden, dass sie nach 1918 nicht auf die bereits vorhandene, abstrakte ökonomische theorie der Österreichischen Schule zurückgriff.15 Jedoch ist darauf zu verweisen, dass diese sowohl die Selbstregulierung der wirtschaftlichen Ordnung proklamierte, als auch Machtfaktoren sich immer nur im Rahmen ökonomischer Gesetze auswirken sah.16 Unter den Bedingungen der Zeit nach 1918 mussten beide annahmen schlicht als unrealistische Stilisierung erscheinen.17 Wenn sich die neue Ordnung nicht von selbst herstellte, wem sollte diese aufgabe dann zufallen? abgesehen von jenen, die, wie etwa die Vertreter der Österreichischen Schule, den Ordnungsverlust zwar nicht bestritten, ihn jedoch primär als Resultat der Versuche sahen, soziale Ordnung, einem bestimmten Ziel folgend, interventionistisch zu gestalten, war die antwort zumeist: der zielgerichtet handelnde Mensch. Die antwort auf das Ordnungsproblem der Weimarer Republik bestand insofern in Intervention und Organisation. Dabei handelte es sich um einen ubiquitären Grundzug der nationalökonomischen Debatten, abgesehen von wenigen standfesten liberalen, ökonomische Ordnung mit konkreter Organisation zu verkoppeln, also nicht länger einfach nur einen juristischen Rahmen zu setzen, sondern konkret zu intervenieren. Das ging tendenziell einher mit einer Geringschätzung der ordnungsstiftenden Kraft des Rechts, worin sich gleichfalls ein Bruch gegenüber dem Kaiserreich sehen lässt, für das die Jurisprudenz in vielerlei hinsicht die leitwissenschaft gewesen war.
15 Z. B. haRaLd WiNKeL: Die deutsche nationalökonomie im 19. Jahrhundert, Darmstadt 1977, S. 118. 16 Vgl. dazu den klassischen aufsatz von eugeN VoN Böhm-BaWeRK: Macht oder ökonomisches Gesetz?, in: Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung 23 (1914), S. 205–271. 17 Z. B. haNs hoNeggeR, Zur Krisis der statischen nationalökonomie, in: Schmollers Jahrbuch 48 (1924), S. 473–490, 482.
nationalökonomie und ordnungspolitische Diskussion in der Weimarer Republik 49
Ein gutes Beispiel dafür ist die Debatte um Kartelle und Monopole, deren Zahl während der 1920er Jahre massiv anstieg.18 Während der freie Wettbewerb angeblich die tendenz hatte, zu einem anarchischen Kampf zu mutieren, sollten Kartelle als eine ordnungsstiftende Kraft wirken, die das Wirtschaftsleben befriedeten. Selbst Wirtschaftsliberale beschrieben in dieser Zeit eine kartelliert-organisierte Ökonomie mit nahezu derselben Begrifflichkeit, mit der sie vormals die freie Verkehrswirtschaft bedacht hatten.19 Es konnten sich aber auch ganz andere Vorstellungen Bahn brechen, die auf eine Selbstermächtigung des Menschen und die rationale Planung gesellschaftlicher Prozesse zielten. Das „Gestaltungsbewusstsein“, von dem kürzlich im hinblick auf die Weimarer Republik gesprochen wurde,20 hatte hier seinen Ort: aus dem Untergang des Kaiserreiches resultierte eine historische Offenheit, welche die Schaffung von Ordnung dem gestaltenden Menschen anheim legte. Diese historische Offenheit markiert eine scharfe Differenz zwischen der ordnungspolitischen Diskussion der Weimarer Republik und den, häufig von einer Fin de Siècle-Stimmung getragenen Debatten des späten Kaiserreiches. letztere kreisten insbesondere darum, ob man sich in einem geschichtsphilosophischen heilsversprechen geborgen fühlen konnte oder ob die Entwicklungslogik des Kapitalismus nicht den Menschen unter das Joch einer stahlharten Rationalität zwang, das die Ganzheit seiner Persönlichkeit verkümmern ließ.21 aus letzterer Perspektive war nicht der Verlust von Ordnung das Problem, sondern vielmehr deren Übermacht.22 hingegen erfolgte die historische Selbstverortung nach dem Ersten Weltkrieg zumeist auf die Weise, die aktuelle Situation zu einer Phase der Selbstermächtigung des Menschen zu erklären – also entweder als ahistorischen Zustand per se oder als jenen als „Krise“ apostrophierten Zustand, der die Phase einer grundlegenden Entscheidung zwischen alternativen beinhaltete. Vor dem hintergrund einer solchen Selbstermächtigung erwies sich indes die Frage als entscheidend, nach welchem Bilde Ordnung gestaltet werden sollte. Durch die Debatten der 1920er Jahre geisterten dabei zahlreiche „natürliche“ Ordnungen, die es zu verwirklichen galt. Diese waren aber stets mit der Verlegenheit konfrontiert, keine antwort auf die Frage parat zu haben, warum sich eine „natürliche“ Ordnung nicht auch auf „natürliche“ art und 18 hoRst WageNfühR: Kartelle in Deutschland, nürnberg 1931, S. XIII. 19 adoLf WeBeR: Das Ende des Kapitalismus? Die notwendigkeit freier Erwerbswirtschaft, München 21929, S. 72f. 20 RüdigeR gRaf: Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918–1933, München 2008. 21 max WeBeR: Zwischenbetrachtung zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen, in: deRs.: Gesammelte aufsätze zur Religionssoziologie I, S. 536–573; emiL LedeReR: Deutschlands Wiederaufbau und weltwirtschaftliche neueingliederung durch Sozialisierung. tübingen 1920, S. 5. 22 detLeV j. K. PeuKeRt: Max Webers Diagnose der Moderne, Göttingen 1989, S. 55ff.
50
Roman Köster
Weise durchsetzte. letztlich handelte es sich hier aber auch nur um eine Spielart eines ausgeprägt hangs zur Utopie in den 1920er Jahren, von Martin Buber zeitgenössisch definiert als der Entwurf einer Gesellschaft, als ob es keine anderen Faktoren als den Menschenwillen gäbe.23 Es soll allerdings später noch darauf hingewiesen werden, dass dieser Utopismus auf heuristischer Ebene eine antwort auf ein konkretes Problem darstellte, und sich letztlich sogar als pragmatische Verarbeitung einer spezifischen Wirklichkeitserfahrung interpretieren lässt. 3. Ordnungspolitische leitbilder im Konflikt Die Frage, an welchem leitbild sich die Schaffung von Ordnung zu orientieren hatte, wurde in der nationalökonomie breit diskutiert. claus-Dieter Krohn hat darum später zu Recht davon gesprochen, die nationalökonomischen Diskussionen während der 1920er Jahre seien zu einem Großteil ordnungspolitische Grundsatzdebatten gewesen.24 Das schlug sich zunächst in der breiten Sozialisierungsdiskussion nach dem Ersten Weltkrieg nieder, in der es um die sozialistische Umgestaltung der deutschen Wirtschaft beziehungsweise die Verstaatlichung bestimmter Schlüsselindustrien ging.25 Diese Debatte versandete zwar anfang der 1920er Jahre, vor allem weil politische Konsequenzen ausblieben.26 Jedoch bildete sie lediglich den auftakt einer dauerhaften auseinandersetzung mit wirtschaftspolitischen Vorstellungen. Dabei gab es durchaus Verteidiger der freien Marktwirtschaft, vor allem die angehörigen der Österreichischen Schule der nationalökonomie. Für ludwig Mises, Friedrich hayek und andere waren die Probleme der Weimarer Republik in erster linie durch den staatlichen Interventionismus bedingt, vor allem die Eingriffe in den freien Markt. Mises ging dabei von einer spezifischen Systemdynamik aus, dass nämlich staatliche Eingriffe eine Störung erzeugten, die wiederum durch eine andere Maßnahme zu korrigieren versucht wurde, die wiederum eine neue Störung an anderer Stelle mit sich brachte. am Ende stand ein torso sich gegenseitig korrigierender Interventionen, was die Illusion erzeugte, ein planwirtschaftliches System könne die Probleme insgesamt besser lösen. In Wirklichkeit bestand für ihn jedoch die einzige lösung in einer Rückkehr zum freien Markt. 23 maRtiN BuBeR: Pfade in Utopia. Über Gemeinschaft und deren Verwirklichung, Darmstadt 1985, S. 30f. 24 c.-d. KRohN, Wirtschaftstheorien (wie anm. 1), S. 14. 25 KLaus NoVy: Strategien der Sozialisierung. Die Diskussion um die Wirtschaftsreform in der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 1978. 26 Vgl. RomaN KösteR: Die Schmalenbachkontroverse während der Weltwirtschaftskrise. Ein Fallbeispiel für die ökonomische Wissensrezeption, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2009/1, S. 229–244, 235f.
nationalökonomie und ordnungspolitische Diskussion in der Weimarer Republik 51
Die Vertreter der Österreichischen Schule waren in den 1920er Jahren sicherlich die radikalsten Vertreter einer liberalen Wirtschaftspolitik und -theorie, wohingegen deutsche liberale sich zumeist vorsichtiger äußerten. trotz eines klaren Plädoyers für die marktwirtschaftliche Verfassung der Wirtschaft sahen sie Regelung und Organisation trotzdem als notwendig an. So wies beispielsweise der Münchner nationalökonom adolf Weber Kartellen eine ordnungsschaffende Rolle zu. Marktorganisationen sollten den freien Wettbewerb befrieden und zivilisieren.27 Bezeichnenderweise bedachte Weber den „organisierten“ Kapitalismus der 1920er Jahre mit einer der ökonomischen Klassik analogen Begrifflichkeit: trusts und Kartelle sollten den Wettbewerb wieder in eine spielerische Veranstaltung verwandeln.28 angesichts solcher Äußerungen wird es jedoch verständlich, warum Eduard heimann bereits 1924 vom „eigenartigen Konservativismus“ sprach, der die liberalen der Weimarer Republik befallen habe.29 auch wenn (formal) liberale Positionen in der Disziplin keineswegs in der Minderheit waren30, so gab es daneben jedoch zahlreiche Positionen, welche die Umgestaltung zu einer sozialistischen Wirtschaft oder – in konservativer Fassung – einer „gebundenen“ Wirtschaftsform forderten. Eine durchaus einflussreiche konservative Konzeption war zum Beispiel die Vorstellung einer universalistischen Ständewirtschaft, die der Wiener Soziologe und nationalökonom Othmar Spann vortrug.31 Spann kontrastierte die Moderne mit einem statischen, alteuropäischen Ordnungsmuster, von dem erstere seit der Französischen Revolution abgewichen sei. Ihm zufolge galt es, eine Ständewirtschaft als natürliche Ordnung zu reinstallieren. In eine ähnliche Richtung zielte die Idee einer „seinsrichtigen“ Wirtschaft Friedrich von Gottl-Ottlilienfelds, auch wenn dessen Organizismus sehr viel dynamischer war, als das bei Spanns neuromantik der Fall war.32 auf sozialistischer Seite gab es neben jenen, welche die Sozialisierung oder die planwirtschaftliche Umgestaltung der Wirtschaft forderten, auch zahlreiche „abweichende“ Entwürfe. Ein besonders prominentes Beispiel da27 a. WeBeR, Ende (wie anm. 19), S. 72f. 28 Zur Semantik der ökonomischen Klassik s. PieRRe foRce: Self-Interest before adam Smith. a Genealogy of Economic Science, cambridge 2004, S. 82f. 29 adoLf heimaNN: Entwicklungsgang der wirtschafts- und sozialpolitischen Systeme und Ideale, II. Die jüngste Entwicklung, in: Grundriss der Sozialökonomik. 1. abteilung: historische und theoretische Grundlagen. 1. teil: Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaft, tübingen 1924, S. 184–201, 194, 200. 30 caRL LaNdaueR: Planwirtschaft und Verkehrswirtschaft, München/leipzig 1931, S. 209. 31 Z. B. othmaR sPaNN: Der wahre Staat, leipzig 1921. 32 fRiedRich V. gottL-ottLiLieNfeLd: Fordismus? Paraphrasen über das Verhältnis von wirtschaftlicher und technischer Vernunft, Kiel 1924; deRs.: Die wirtschaftliche Dimension. Eine abrechnung mit der sterbenden Wertlehre, Jena 1923; s. auch R. KösteR, Wissenschaft (wie anm. 2), S. 201.
52
Roman Köster
für ist der Frankfurter nationalökonom Franz Oppenheimer, der die Überwindung der Gegenwartskrise an die aufhebung der „Bodensperre“, das heißt des rechtlichen Monopols von Großgrundbesitzern auf land, koppelte. Das konstituierte nach Oppenheimer eine „Politische Ökonomie“ der Machtmonopole und Klassenherrschaft. Durch die Schaffung von „Freiland“ war jedoch die Schaffung eines liberalen Sozialismus möglich, den er als einen „dritten Weg“ zwischen Sozialismus und Kommunismus apostrophierte. Zahlreiche weitere Konzepte ließen sich nennen. Erinnert sei beispielsweise an Johann Plenges „Organisationslehre“ oder den sozialistischen Fordismus eines Fritz tarnow, von explizit utopischen Entwürfen wie carl Ballods „Zukunftsstaat“ ganz zu schweigen.33 Im laufe der Weltwirtschaftskrise sollte sich der charakter der ordnungspolitischen Debatten verändern. Zum einen bekam sie einen sehr viel stärker dezisionistischen Zug. häufig ging es nun weniger um die Schaffung einer „besten“ Ordnung als um die Wiederherstellung von Ordnung überhaupt. Zum anderen war bei vielen nationalökonomen eine deutliche Radikalisierung zu beobachten. Ein sozialistischer Ökonom wie adolf löwe, der in den 1920er Jahren noch bereit war, sich auf den Boden der kapitalistischen Ordnung zu stellen, forderte ab 1931 offen die Umgestaltung. Bei den sogenannten Ordoliberalen wie Walter Eucken oder alexander Rüstow war die herausbildung eines „autoritären liberalismus“ (Dieter haselbach) zu beobachten.34 Ihnen zufolge musste der Staat kraft seines Machtmonopols Großunternehmen und Kartelle zerschlagen, um auf diese Weise die freie, kleinbetriebliche Verkehrswirtschaft des 19. Jahrhunderts wieder herzustellen.35 Insgesamt setzte sich im Fach zunehmend die Meinung durch, man habe es hier mit einer strukturellen, finalen Krise der freien Verkehrswirtschaft zu tun. Was immer folgen würde, die neue Wirtschaftsordnung würde und musste anders aussehen. 4. Ordnungskonzeptionen und „Systeme“ Wie lässt sich diese erstaunliche Vielzahl an konkurrierenden Ordnungsentwürfen erklären? Die einfachste Erklärung ist sicherlich, hierin ein Spiegelbild der politischen Zerrissenheit dieser Jahre zu sehen, gewissermaßen der wissenschaftliche ausdruck einer „Demokratie ohne Demokraten“, wie die 33 fRitz taRNoW: Warum arm sein?, Berlin 1928; caRL BaLLod: Der Zukunftsstaat. Produktion und Konsum im Sozialstaat, Stuttgart 31920; johaNN PLeNge: Johann Plenges Organisations- und Propagandalehre, eing. v. haNNs LiNhaRdt, Berlin 1965. 34 dieteR haseLBach: autoritärer liberalismus und soziale Marktwirtschaft. Gesellschaft und Politik im Ordoliberalismus, Baden-Baden 1990. 35 WaLteR eucKeN: Staatliche Strukturwandlungen und die Krisis des Kapitalismus, in: Weltwirtschaftliches archiv 36 (1932), S. 297–321. alexander Rüstow an adolf löwe, 25.11.1932, in: Bundesarchiv Koblenz. nl Rüstow 169, 6.
nationalökonomie und ordnungspolitische Diskussion in der Weimarer Republik 53
Weimarer Republik so oft bezeichnet worden ist.36 Das soll hier nicht grundlegend in abrede gestellt werden, zugleich erscheint eine solche aussage aber als zu einfach. Sie reduziert wissenschaftliche Debatten zu ableitungen von Entwicklungen in der Politik, ohne die Besonderheiten des Faches in die Betrachtung einzubeziehen. Verschiedene Sachverhalte müssen in Rechnung gestellt werden. Ein erster, wichtiger Gesichtspunkt ist zunächst, dass das Fach in einem gefestigten Zustand sicher nicht in dieser Weise durch die politische Debatten und Standpunkte irritierbar gewesen wäre. aus diesem Grund ist es wichtig, die Probleme der nationalökonomie nicht durch die Kontinuität der historischen Schule zu erklären, sondern durch ihr Verschwinden. Der Paradigmenverlust des Fachs im Zuge des Ersten Weltkrieges schuf Raum für zahlreiche ordnungspolitische Entwürfe, ohne dass ein etabliertes Paradigma dieser Debatte Einhalt hätten gebieten können. Zweitens war die nationalökonomie durch den gesellschaftlichen Wandel irritierbar, weil sie ihn selbst zum thema machte. Es ging darum, in welche Richtung sich die Gesellschaft entwickeln sollte, weil es so, wie es war, nicht bleiben konnte. Das Bewusstsein, in einer Zeit massiver historischer Veränderungen zu leben, war allgegenwärtig. nicht zuletzt die große Offenheit beziehungsweise Unbestimmtheit nach 1918 war es, die eine Vielzahl von Entwürfen anschlussfähig machten; auch weil es in der Disziplin keinen gesicherten Wissensbestand gab, der eingrenzend hätte wirken können. Zugleich offenbarte aber besonders die Vielzahl an ordnungspolitischen Entwürfen auch ihre Kontingenz. Ein dritter Gesichtspunkt kommt hinzu: Politische Positionen konnten im wissenschaftlichen Kontext nicht als solche vertreten werden, oder, wenn, nur unter Inkaufnahme eines Verlusts an Glaubwürdigkeit. Vielmehr mussten sie in genuin wissenschaftliche Positionen übersetzt werden. Die art und Weise, wie das geschah, lässt sich durch den bloßen Rekurs auf die Politik nicht erklären, ohne in eine Zwickmühle zu geraten: denn welche Positionen lassen sich als „politisch“ interpretieren, welche nicht? Diese Frage lässt sich möglicherweise am Ende nur noch anhand eigener politischer Vorlieben beantworten, was keine gute lösung ist. Politische Standpunkte lieferten keine Begründung ihrer selbst, sondern mussten im wissenschaftlichen Kontext durch argumente, leitunterscheidungen, Begriffsklärungen fundiert werden. In diesem Zusammenhang kommen die in den 1920er Jahren ausufernden Methodendebatten ins Bild, in denen es weniger um Verfahrensfragen, als um die methodisch-epistemologische Fundierung nationalökonomischer Erkenntnis ging. Franz Oppenheimer schrieb 1926 gar von einer „MississippiÜberschwemmung“ mit Methodologie.37 Gerade die Breite der Diskussion 36 Vgl. dazu heNdRiK thoss: Demokratie ohne Demokraten?, Berlin 2008. 37 fRaNz oPPeNheimeR: alfred amonns „Objekt und Grundbegriffe“, in: Weltwirtschaftli-
54
Roman Köster
zeigt, wie intensiv das Ringen um wissenschaftliche Begründung gewesen ist. Keineswegs zufällig verfassten gerade die Wissenschaftler, die sich am stärksten ordnungspolitisch exponierten, dicke Bände mit der epistemologischen Fundierung ihrer theorien. Spann, Gottl-Ottlilienfeld oder auch Oppenheimer selbst sind dafür gute Beispiele. als bloße camouflage politischer Interessen lässt sich das nicht erklären. In vergleichbarer Weise wurde auch das Problem sozialer Ordnung im Krisendiskurs der nationalökonomie als Wahrheitsproblem behandelt. Durch ausarbeitung der richtigen theorie, die mit den richtigen Begriffen und Kategorien operierte, verband sich zugleich die Vorstellung einer richtigen und guten Ordnung als leitbild einer Umgestaltung der Weimarer Verhältnisse. Zusammengefasst wurde das in der Forderung nach dem „neuen System“, das eine antwort auf die Probleme der Weimarer Republik geben sollte. Die Unfähigkeit der Disziplin, ein klares ordnungspolitisches leitbild zu entwickeln, das von der Mehrheit oder zumindest einer starken Gruppe innerhalb des Faches geteilt wurde, hatte also nicht allein mit politischer Fragmentierung zu tun, sondern war entscheidend durch die lage des Faches begründet. Diese Problemlagen kulminierten schließlich in der Weltwirtschaftskrise, als sich aus Sicht der Zeitgenossen endgültig das Versagen der liberalen Verkehrswirtschaft erwies, es sich nicht länger um eine „konjunkturelle“, sondern um eine „strukturelle“ Problemlage zu handeln schien.38 allein waren zu diesem Zeitpunkt die meisten Gestaltungsentwürfe intellektuell bereits durchgespielt. Dass die Debatte ab 1929 einen sehr viel stärker dezisionistischen Zug bekam, wird vor diesem hintergrund erklärlich: In dem Maße, wie sich der utopische Elan der 1920er Jahre verbraucht hatte, ging es zumeist nicht mehr um die herstellung einer besten Ordnung, sondern von Ordnung überhaupt. nur noch vereinzelt gab es noch Versuche, an die Offenheit der Debatte der letzten Dekade zu erinnern und daran anzuschließen. 5. Optimisten in der Krise? Welche Rückschlüsse lassen sich nun aus dem Beispiel der nationalökonomie hinsichtlich aktueller Debatten über die Geschichte der Weimarer Republik ziehen? als ausgangspunkt soll dabei zunächst die Beobachtung dienen, dass es eine Vielzahl sich untereinander bekämpfender ordnungspolitischer leitbilder gab, die aber auch Ähnlichkeiten aufwiesen. letztere bestanden vor allem darin, dass die herstellung von Ordnung durch den rational-gestalterischen Eingriff des Menschen vonstattengehen sollte, ohne dass sie jedoch als eine „künstliche“ vorgestellt wurde. Vielmehr ging es um herstellung bezieches archiv 27 (1928), S. 167–179, hier S. 168. 38 deRs.: Weder Kapitalismus noch Kommunismus, Stuttgart 31962 (1931), S. 21.
nationalökonomie und ordnungspolitische Diskussion in der Weimarer Republik 55
hungsweise Wiederherstellung einer natürlichen Ordnung, was sich etwa in der Forderung nach harmonie oder Milderung des Kampfcharakters des Wettbewerbs durch Organisation, Wiederherstellung einer liberalen Ökonomie oder Forderung nach einem Ständestaat offenbarte. auch wenn es ein wesentlicher Streitpunkt blieb, ob die Fehlentwicklungen der Moderne repariert werden sollten, durch die Reinstallierung der freien Wettbewerbswirtschaft des 19. Jahrhunderts etwa,39 oder ob die Moderne grundsätzlich als Irrweg angesehen wurde und deshalb ihre Überwindung zu fordern war, ging es im Wesentlichen um eine Umgestaltung durch planerische Eingriffe. an solch rationalistischen Entwürfen hat die historische Forschung im nachhinein wenig Gutes gefunden; nicht nur im Fall der nationalökonomie, sondern etwa auch am Beispiel des sogenannten Social Engineering.40 Im anschluss an Zygmunt Bauman wurde das in letzter Zeit häufig zu dem Vorwurf zugespitzt, im Rationalismus der Planung offenbare sich die Unfähigkeit, mit den ambivalenzen der Moderne zurechtzukommen. In letzter Konsequenz zeigte sich das nach Bauman in der Vernichtungslogik des nationalsozialismus, der mit der Schaffung von Ordnung die ausschließung und Vernichtung dessen vornahm, was ihr angeblich nicht zugehörte. Das Streben nach Ordnung wird somit als prekäre Bewältigungsstrategie der Moderne interpretiert.41 Ein solcher Modernebegriff impliziert zunächst, dass jede Beschreibung der Welt durch eine Gegenerzählung konterkariert wird, sich also angesichts ihrer polyzentrischen Verfasstheit eine eindeutige, allseits akzeptierte Beschreibung der Gesellschaft nicht länger aufrechterhalten lässt. Weiter wird vorausgesetzt, dass im historischen Prozess traditionelle Statuspositionen ins Wanken geraten, was sich etwa im aufkommen des Begriffs der „Masse“ manifestiert: als diese werden nicht zuletzt jene Menge Menschen gefasst, die sich anhand traditioneller Statuskriterien nicht mehr eindeutig identifizieren und differenzieren lassen.42 Die Wahrnehmung eines Ordnungsverlusts im Zuge der Durchsetzung der Moderne erweist sich also in Wahrheit als ein Vorgang historischen Wandels. Im Kontext einer solchen Fehlperzeption indes erscheint die Suche nach Eindeutigkeit als Versuch der Selbstermächtigung, um dem Ordnungsverlust zu begegnen. Ganz wesentlich ging es dabei darum, einen neuen Modus der sozialen Integration jenseits von Stand und Klasse zu finden. 39 W. eucKeN, Strukturwandlungen (wie anm. 35), S. 320f. 40 thomas etzemüLLeR: Social Engineering als Verhaltenslehre des kühlen Kopfes. Eine einleitende Skizze, in: deRs.: Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009, S. 11–39. 41 Vgl. etwa zygmuNt BaumaN: Die Moderne und der holocaust, hamburg 1992. 42 josé oRtega y gasset: aufstand der Massen (Wesentlich erweiterte und aus dem nachlass ergänzte neuauflage), Gütersloh 1963, S. 69ff.
56
Roman Köster
Diese Sichtweise hat den unbestreitbaren Vorteil, eine Problemstellung zu generieren, die einen transnationalen Vergleich von Modernisierungsprozessen und deren Verarbeitung ermöglicht. Das zu erwartende Ergebnis lautet in der Regel, Deutschland habe sich damit schwerer getan als Frankreich und andere länder.43 allerdings verführt eine solche Vorannahme auch sehr schnell zu Erklärungen, die auf die konkreten historischen Rahmenbedingungen wenig Rücksicht nehmen. Zudem stellt sich dann die Frage gar nicht mehr, ob die Moderne begrifflich so wirklich adäquat gefasst wird. Stattdessen wird mit dem Finger auf jene gezeigt, die nicht in der lage waren, „ambivalenzen“ auszuhalten.44 Konkret ist dagegen zunächst einzuwenden, dass sich die Kulturkritik in Deutschland seit 1900 nicht einfach auf „Ordnung schaffen“45 gegen einen wahrgenommen, nicht tatsächlichen Ordnungsverlust reduzieren lässt. Denn für die Diagnosen von Modernität vor dem Ersten Weltkrieg ist weniger die Wahrnehmung von Ordnungsverlust, sondern viel stärker die Wahrnehmung einer Übermacht von Ordnung signifikant. letzteres verbindet sich insbesondere mit dem Schlagwort des „Kapitalismus“, wie er von Max Weber und Werner Sombart in die Debatte eingeführt wurde.46 hier wurde gerade die Übermacht einer bestimmten Ordnung zum Problem, und der hinweis auf ambivalenzen implizierte eher die hoffnung auf – zumindest kurzfristige – auswege aus dem „stahlharten Gehäuse“.47 Im Falle der nationalökonomie jedenfalls veränderte sich der charakter der Debatte nach dem Ersten Weltkrieg fundamental. Dem für das Fin de Siècle typischen leiden an einer übermächtigen Ordnung wurde die Diagnose eines umfassenden Ordnungsverlusts gegenübergestellt, der die Verbindung zu vorangegangenen geschichtsphilosophischen Entwürfen nur noch insofern hielt, indem das gegenwärtige Drama als höhepunkt einer Krise der Moderne überhaupt gesehen werden konnte. Fast noch verbreiteter, und im Ergebnis häufig nur in nuancen unterschieden war indes die Vorstellung, die Gegenwart überhaupt als einen geschichtslosen Zustand zu betrachten. Der Ordnungsverlust konnte somit als ein Zustand historischer Indeterminiertheit betrachtet werden, der dem Menschen in zentraler Weise Gestaltungsmacht zuschrieb. 43 So z. B. stefaNie middeNdoRf: Massenkultur. Zur Wahrnehmung gesellschaftlicher Modernität in Frankreich 1880–1980, Göttingen 2009; eine interessante neuinterpretation der englischen Entwicklung bei RichaRd oVeRy: the Morbid age. Britain and the crisis of civilization, 1919–1939, london 2009, S. 59ff. 44 Z. B. aRiaNe LeeNdeRtz: Ordnung schaffen. Deutsche Raumplanung im 20. Jahrhundert, Göttingen 2008. 45 Ebd. 46 Vgl. RomaN KösteR / WeRNeR PLumPe: hexensabbat der Moderne. Max Webers Konzept der rationalen Wirtschaft im zeitgenössischen Kontext, in: Westend. Zeitschrift für Sozialforschung 2/2007, S. 3–21, 4ff; D. J. K. PeuKeRt, Max Webers Diagnose (wie anm. 22), S. 61f. 47 R. KösteR / W. PLumPe, hexensabbat (wie anm. 46), S. 12ff.
nationalökonomie und ordnungspolitische Diskussion in der Weimarer Republik 57
Es fällt äußerst schwer, die Ursache der emphatischen Betonung des Ordnungsverlusts hauptsächlich darin zu erblicken, dass die Menschen in der Weimarer Republik mit den ambivalenzen der Moderne nicht zurechtgekommen seien. Vielmehr handelte es sich um eine konkrete historische Erfahrung angesichts des Zusammenbruchs des Kaiserreichs. Wenn es in den 1920er Jahren einen gemeinsamen nenner gab, dann die Wahrnehmung, dass sich soziale Ordnung nicht automatisch herstellte, sondern durch organisierenden, planenden Eingriff zu schaffen war, während – wie bereits erwähnt – vor dem Krieg vor allem die Übermacht von Ordnung als entscheidendes Problem gesehen wurde. Signifikant ist darüber hinaus, dass trotz dieses grundsätzlichen Konsenses sich die angebotenen Möglichkeiten so stark unterschieden.48 Der durch den Ersten Weltkrieg ausgelöste Bruch in der Debatte ist somit zu drastisch, als dass ein die Kontinuität betonender, quasi-strukturalischer ansatz zu einer befriedigenden Erklärung führen könnte. Zugespitzt formuliert: so wenig man mit den Ordnungsentwürfen der 1920er Jahre sympathisieren muss, so führt eine an Baumann angelehnte Interpretation doch zu einer tendenziell überheblichen Beschreibungen „defizitärer“ Bewältigungsstrategien, ohne den historischen Kontext ausreichend zu würdigen. Eine andere lesart ist, in diesen rationalistischen Entwürfen ein spezifisches „Gestaltungsbewusstsein“ am Werk zu sehen, ein Bewusstsein und ein Gefühl für die Planbarkeit von Ordnung und die Umsetzbarkeit von Utopien. hier berührt sich das thema dieses textes mit der in der letzten Zeit erneut aufgekommenen Diskussion über die „Krise“ der Weimarer Republik, die Detlev Peukert in seiner bereits klassischen Überblicksdarstellung besonders hervorgehoben hat.49 Rüdiger Graf spricht in seiner arbeit von einem spezifischen „Optimismus“ der Weimarer Republik, die nicht das tal der Bitternis gewesen sei, als die sie häufig dargestellt wurde. In letzter Zuspitzung erscheint die Krise als eine rhetorische Figur, die sich als Folie, Rechtfertigung und Vorbedingung für das eigene Gestalten durchsetzte (ohne dass Graf damit jedoch reale Problemlagen leugnen möchte).50 Graf setzt an einigen sehr richtigen und klugen Beobachtungen an. Die Betrachtung des Fallbeispiels der deutschen nationalökonomie nötigt jedoch dazu, das Verhältnis von Krise und Gestaltung anders zu fassen. Das betrifft zunächst den Begriff der Krise: auch wenn sie in der öffentlichen Debatte der Weimarer Republik zur ubiquitären, inflationär gebrauchten Standardformel wurde, bezeichnete sie doch ein konkretes Problem, nämlich eine Gegenwart auf den Begriff zu bringen, die sich einer solchen begrifflichen Erfassung permanent zu entziehen schien. Politische Unruhen, Versorgungskrisen und ins48 Vgl. Rosa meyeR-LeViNé: leviné. leben und tod eines Revolutionärs, Frankfurt a. M. 1974. 49 detLeV j. K. PeuKeRt: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt a. M. 1987, S. 266ff. 50 R. gRaf, Zukunft (wie anm. 20).
58
Roman Köster
besondere die Inflation führten nicht allein zur Erschütterung sozialer Statuspositionen und einer extrem aufwändigen alltagsgestaltung51, sondern auch zu einem Verlust der Erwartungssicherheit, zu einer epistemologischen Erschütterung mithin. Darin lag eine wesentliche Funktion von Ordnungskonzeptionen, dass sie eine als gleichzeitig dynamisch und irrational wahrgenommene Gegenwart mit statisch-rationalen Beschreibungsmustern kontrastierten. In dem sie herausstrichen, wie sehr die Realität der Weimarer Republik diesem Bild gerade nicht entsprach, wurde sie beobachtbar. Im wissenschaftlichen Kontext waren Ordnungsentwürfe also zunächst weniger eine Form der „Zukunfts-“ als der „Gegenwartsaneignung“. Diese Überlegung muss keineswegs im Widerspruch zur OptimismusDiagnose stehen, denn schließlich ist ein klarer Begriff der Gegenwart Voraussetzung einer begründeten annahme über die Zukunft. Das Problem dieser Formen von „Gegenwartsaneignung“ war nur, dass die Vielzahl der Entwürfe auf der Ebene der Beobachtung dazu führte, die eigentlich zu behebenden Probleme zu reproduzieren. Genau das wurde im Fach als „Krise“ verhandelt, dass eine Vielzahl an Ordnungsentwürfen miteinander im Wettstreit standen, die es gerade verhinderten, dass das Fach als Ganzes die Umgestaltung der Weimarer Ordnung anleiten konnte. Das würde dann die these nahelegen, dass sich konkrete Gestaltungsentwürfe eher auf der Ebene partikulärer, gemeinschaftlicher Verbände und Bewegungen, wie etwa den von ariane leendertz untersuchten Raumplanern, oder auch innerwissenschaftlicher Gruppen wie der leipziger Schule der Soziologie52 durchsetzen konnten. Eine wissenschaftliche Disziplin wie die nationalökonomie konnte es jedoch nicht verhindern, dass es zu Prozessen der Selbstreflexion kam. Diese führten zu genau jener Problematisierung, die Detlev Peukert in seiner Interpretation der Geschichte der Weimarer Republik beschrieben hat.53 Grafs ausführungen zum Gestaltungsbewusstsein der Weimarer Republik wären möglicherweise auf diesen Gesichtspunkt hin zu differenzieren.
51 Z. B. juLius PoseNeR: heimliche Erinnerungen. In Deutschland 1904–1933, München 2004; osKaR maRia gRaf: Wir sind Gefangene. Ein Bekenntnis, München 1982 (1927). Es wäre zumindest eine Überlegung wert, ob die enormen organisatorischen anstrengungen, um den eigenen alltag zu bewältigen, einen Einfluss auf die Vorstellungen einer gesamtgesellschaftlichen Organisation ausgeübt haben. 52 Lutz RaPhaeL: „Ordnung“ zwischen Geist und Rasse. Kulturwissenschaftliche Ordnungssemantik im nationalsozialismus, in: haRtmut LehmaNN / otto geRhaRd oexLe (hg.): nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Bd. 2, Göttingen 2004, S. 115– 137, 125ff. 53 d. j. K. PeuKeRt, Weimarer Republik, (wie anm. 49).
nationalökonomie und ordnungspolitische Diskussion in der Weimarer Republik 59
SchlUSS Karl Mannheims Spätwerk hat allgemein einen schlechten Ruf. Jedoch kann man seinem 1935 im Exil veröffentlichten Werk „Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus“ zugutehalten, die Probleme der Diskussion der 1920er Jahre konsequent durchdacht zu haben, selbst wenn manche Ergebnisse in der historischen Rückschau befremdlich erscheinen mögen.54 Mannheim geht zunächst davon aus, dass in einem, von ihm nicht genauer spezifizierten Zeitalter des Wandels der Glaube an zwei Dinge verloren gegangen sei: an eine immanente Vernünftigkeit des Geschichtsprozesses und an einen unveränderlichen nationalcharakter. In dem Moment, wo es einen Selbstvollzug der Geschichte nicht mehr gab, eröffnete sich die Gesellschaft dem planenden Zugriff des Menschen. Wo Ordnung sich nicht mehr von selbst herstellte, war der rational planende Mensch gefordert. Gleichzeitig erwiesen sich durch den historischen Wandel aber auch die Menschen als formbar. Sie agierten anhand, wie Mannheim sich ausdrückte, „principia media“, also bestimmten Vorstellungen und Erwartungen, wie die Welt funktionierte. Diese wurden durch den Wandel außer Kraft gesetzt. Mannheims Buch bietet zahlreiche anregungen, die ordnungspolitische Diskussion der 1920er Jahre einzuordnen. Erstens zeigt er auf, dass die Voraussetzung von Gestaltung der zumindest graduelle abschied von einer Idee historischer Determiniertheit impliziert, damit vermittelt auch von dem so stark dem historischen Denken verhafteten Kaiserreich. Zweitens wird deutlich, dass historischer Wandel eine Situation der Offenheit schafft, die erst Voraussetzung für die Etablierung einer neuen Ordnung ist. Im historischen Wandel ist das Resultat also nicht beschlossen, womit diese Zeit dann aber zur arena von aushandlungskämpfen mit unklarem ausgang wird. Drittens zeigt Mannheim, dass im historischen Wandel auch tendenziell die Kategorien und Denkschemata zusammenbrechen, mittels derer die Welt vormals aufgefasst und begriffen wurden. Mit dem Untergang des Kaiserreichs war der nationalökonomie nicht nur ihr ordnungspolitisches leitbild abhandengekommen, sondern auch ihre Begriffe und Kategorien, die sie nun mühsam wiederzugewinnen versuchte. Insofern wurde das Problem ordnungspolitischer Gestaltung immer auch als Frage der neubegründung der akademischen nationalökonomie verhandelt. Zugleich zeigt die Fruchtlosigkeit dieser Versuche, dass man auf einem rein „rationalistischen“ Weg zu keiner lösung kam; vielmehr standen eine große Vielzahl Entwürfe gegeneinander, die eine antwort auf das Ordnungsproblem der Weimarer Republik geben wollten. In diesem aufsatz wurde den Gründen für diese Situation nachgegangen. Dabei spielte zum einen das Ende der his54 KaRL maNNheim: Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus, leiden 1935.
60
Roman Köster
torischen Schule mit dem Ersten Weltkrieg eine wichtige Rolle, aber auch die Reaktion auf eine historische Situation, die als massiver Ordnungsverlust empfunden wurde. Die „neue fremde Welt“, in der die Menschen nach 1918 erwachten, musste erst erfasst werden – und das gestaltete sich umso schwieriger, als die krisenhaften Rahmenbedingungen die Bildung von Erwartungssicherheit nicht zuließen. Insbesondere die Inflation kann in ihren desaströsen kognitiven Folgen kaum unterschätzt werden. anders als 1945 gab es auch keine Instanz, die äußere Setzungen vorgenommen hätte. alle Modelle politischer oder ökonomischer Integration erschienen potentiell legitim, damit aber auch gleichermaßen zur Diskussion gestellt. Die Kreise, Gemeinschaften und Institute, in denen sich das Ordnungsdenken materialisierte, dienten häufig gerade dazu, die selbstreflexive Problematisierung durch abschottung zu vermeiden. Zugleich lässt die lage der Weimarer Republik aber möglicherweise auch Rückschlüsse zu, warum unter den Bedingungen nach dem Zweiten Weltkrieg ein ordnungspolitisches Paradigma etabliert werden konnte. Zum einen spielte dabei sicherlich das Wirtschaftswunder eine entscheidende Rolle, das in den 1950er Jahren einen sprunghaften Wohlstandszuwachs mit sich brachte. Offensichtlich etablierte sich ein Modell ökonomischer Integration erfolgreich und es gab keine Situation, in der nach ordnungspolitischen alternativen gesucht werden musste. auf der anderen Seite passte das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft (das seine Wurzeln in den 1920er Jahren hatte) perfekt mit dem sich nun etablierende „consumerʼs capitalism“ zusammen. Es eignete sich als label für ein Modell der ökonomischen, auf Konsum basierenden sozialen Integration, das sich nicht allein auf eine bestimmte Wirtschaftspolitik reduzieren lässt. Vielmehr schlug es sich genauso ökonomisch wie städtebaulich nieder, zeigte sich in der politischen Selbstrepräsentation Westdeutschland genauso wie in der Rationalisierung der hausarbeit. Ein Modell ökonomischer Integration basiert allerdings – gezwungenermaßen – auf ökonomischem Erfolg. Es erscheint deswegen als genauso vielversprechend wie riskant.
DaS natIOnalSOZIalIStISchE WIRtSchaFtSSYStEM: InDIREKtER SOZIalISMUS, GElEnKtE MaRKtWIRtSchaFt ODER VORGEZOGEnE KRIEGSWIRtSchaFt?1 Jochen Streb 1. Problemstellung auch über sechzig Jahre nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reichs“ herrscht in der wirtschaftshistorischen Zunft Uneinigkeit darüber, wie das nationalsozialistische Wirtschaftssystem aus ordnungstheoretischer Perspektive zu charakterisieren ist. Die extremste Position wird hierbei sicherlich von den beiden amerikanischen Wirtschafts- beziehungsweise Unternehmenshistorikern Peter temin und Peter hayes eingenommen, die eine große Übereinstimmung zwischen dem nationalsozialistischen Wirtschaftssystem und dem sowjetischen Sozialismus der 1930er Jahre zu erkennen glauben. nach ihrer auffassung markiert spätestens die Verkündung des Vierjahresplans im Jahr 1936 den Beginn der vollständigen Unterordnung der deutschen Unternehmer unter den Planungswillen der nationalsozialistischen Politiker. Mittels einer umfassenden Regulierung von Produkt- und Faktormärkten sowie der zumindest latenten androhung von Enteignung und Gewalt hätten die nationalsozialisten den unternehmerischen handlungsspielraum im Zuge einer kalten Sozialisierung so sehr eingeengt, dass den Privateigentümern der Produktionsmittel gar keine andere Wahl mehr geblieben wäre, als sich den ansprüchen der Machthaber zu beugen und ihre aktivitäten an den staatlich vorgegebenen Rüstungs- und autarkieplänen auszurichten. temin kommt deshalb zu dem Schluss: „the nazi economy shared many characteristics with the dominant socialist economy of the time. the national Socialists were socialist in practice as well as in name.“2 hayes diagnostiziert, dass die Privateigentümer im „Dritten Reich“ immer weniger selbst über ihre Produktionsmittel verfügen konnten und brandmarkt in einem kürzlich erschienenen Beitrag dies als indirekten Sozialismus: „large German firms could and in some cases did lose control over their own mix of outputs to the state and thus become quasi-public or quasi-state 1 2
Für wertvolle hinweise danke ich harald Degner, tobias Jopp, Jonas Scherner und Mark Spoerer. PeteR temiN: Soviet and nazi Economic Planning in the 1930s, in: Economic history Review 44 (1991), S. 573–593, hier S. 573.
62
Jochen Streb
entities via a process of indirect socialization (…).“3 Unterstützung finden temin und hayes auch bei Richard Overy: „In the long run the movement was moving to a position in which the economic new Order would be controlled by the Party through a bureaucratic apparatus staffed by technical experts and dominated by political interests, not unlike the system that had already built up in the Soviet Union.“4 Wie die Beispiele der Enteignung von hugo Junkers 1933/34, der Gründung der Braunkohle-Benzin aG im Jahr 1934 oder der Wegnahme der Erzgruben der deutschen Stahlindustrie im Jahr 1937 zeigen, scheuten sich die nationalsozialisten tatsächlich nicht, zur Durchsetzung ihrer wirtschaftlichen Ziele auch direkten Zwang anzuwenden. christoph Buchheim und Jonas Scherner versuchen gleichwohl zu zeigen, dass derartige hierarchische Eingriffe im „Dritten Reich“ nicht die Regel, sondern eher die nur sehr zurückhaltend genutzte ausnahme darstellten. auch die nationalsozialisten seien nämlich der auffassung gewesen, dass freiwillig kooperierende Privatunternehmer generell effizienter wirtschaften als reine Befehlsempfänger oder gar Staatsbetriebe, und konnten und wollten es sich daher gar nicht leisten, die Privatindustrie durch den extensiven Einsatz von Enteignung und Gewalt in den zumindest passiven Widerstand zu treiben. Stattdessen erfolgte nach ansicht von Buchheim und Scherner die staatliche lenkung der deutschen Industrie in erster linie über das Setzen von an das ökonomische Selbstinteresse der Unternehmer appellierenden anreizen. Somit wäre das Privateigentum an Produktionsmitteln im „Dritten Reich“ keineswegs zu einer nur noch formalen hülle verkommen; vielmehr hätten die deutschen Privatunternehmer bis in den Krieg hinein insbesondere über die negative Vertragsfreiheit verfügt, das heißt das Recht besessen, staatliche aufträge ohne angst vor Repressalien verweigern zu können. Zusammenfassend wenden sich Buchheim und Scherner somit dezidiert gegen die Gleichsetzung von Sozialismus und nationalsozialistischem Wirtschaftssystem, in dem ihrer Meinung nach weiterhin die kapitalistischen Elemente dominierten.5
3 4 5
PeteR hayes: corporate Freedom of action in nazi Germany, in: Bulletin of the GhI 45 (2009), S. 29–42, hier S. 38. RichaRd j. oVeRy: War and Economy in the third Reich, Oxford 1994, S. 118. Vgl. chRistoPh Buchheim / joNas scheRNeR: the Role of Private Property in the nazi Economy: the case of Industry, in: Journal of Economic history 66 (2006), S. 390– 416.
Das nationalsozialistische Wirtschaftssystem
63
Dieser Beitrag arbeitet die Diskussion um die ordnungstheoretische Einordnung des nationalsozialistischen Wirtschaftssystems in zwei Schritten auf. Zunächst wird gezeigt, dass die Fokussierung auf die beiden Idealtypen „Zentralverwaltungswirtschaft (Sozialismus)“ und „Marktwirtschaft“ ordnungstheoretisch zu kurz greift. Das nationalsozialistische Wirtschaftssystem kann wie viele andere „gemischtwirtschaftliche“ Volkswirtschaften keinem dieser beiden Idealtypen widerspruchsfrei zugeordnet werden und ist am ehesten noch als gelenkte Marktwirtschaft mit hoher lenkungsintensität zu beschreiben. Zweitens wird die ausformung des Wirtschaftssystems des „Dritten Reichs“ nicht als eine spezifisch nationalsozialistische antwort auf die Krise des Kapitalismus in den frühen 1930er Jahren, sondern als frühzeitiger Übergang zu kriegswirtschaftlichen Strukturen gedeutet, der von Deutschlands Kriegsgegnern zwar erst später, nämlich nach ausbruch des Zweiten Weltkriegs, aber dann in durchaus ähnlicher art und Weise vollzogen wurde. 2. Gelenkte Marktwirtschaft? temin und hayes berufen sich mit ihrer charakterisierung des nationalsozialistischen Wirtschaftssystems als sozialistischen Realtypus auf die traditionelle ordnungspolitische Unterscheidung der beiden Idealtypen „Zentralverwaltungswirtschaft“ und „Marktwirtschaft“. Beide Idealtypen können anhand einer ganzen Reihe von Ordnungsmerkmalen voneinander abgegrenzt werden.6 Das nationalsozialistische Wirtschaftssystem ist mit keinem der beiden Idealtypen deckungsgleich, doch impliziert die Einschätzung von temin und hayes, dass es in den wichtigsten Merkmalen mit der Reinform der Zentralverwaltungswirtschaft übereinstimmt. tabelle 1 erlaubt uns eine vertiefende Diskussion dieser Schlussfolgerung:
6
Vgl. egoN tuchtfeLdt: Wirtschaftssysteme, in: WiLLi aLBeRs u. a. (hg.): handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft Bd. 9, Stuttgart u. a. 1988, S. 326–353, hier S. 332. tabelle 1 lehnt sich bezüglich der Ordnungsmerkmale an einige der von tuchtfeldt genannten Unterscheidungskriterien an. Die außenwirtschaftliche ausgestaltung des nationalsozialistischen Wirtschaftssystems wird im Folgenden vernachlässigt. Vgl. hierzu michaeL eBi: Export um jeden Preis. Die deutsche Exportförderung von 1932–1939, Stuttgart 2004; ecKaRt teicheRt: autarkie und Großraumwirtschaft in Deutschland 1930–1939, München 1984.
64
Jochen Streb
Zentralverwaltungswirtschaft
Nationalsozialistisches Wirtschaftssystem
Merkmal
Marktwirtschaft
Planträger
Wirtschaftssubjekte: Zentrale staatliche Polykratische Unternehmen und Planungsbehörde Planstrukturen haushalte
Koordination der Pläne
Steuerung durch Staatliche PreisbilMarktmechanismus: Planvorgaben und dung und BewirtSelbstregulierung Zuweisung von schaftungsmaßnahdurch Preissignale Produktionsfakto- men in zunehmenren dem Umfang
Anreize für Unternehmer
Gewinn/Verlust
Belohnung/Strafe
Beide Formen von anreizen beobachtbar (Gewichtung umstritten)
Eigentum an den Produktionsmitteln
Privateigentum
Staatseigentum
Dominanz des Privateigentums
tabelle 1: Vergleich von Zentralverwaltungswirtschaft, Marktwirtschaft und nationalsozialistischem Wirtschaftssystem
In einer idealtypischen Marktwirtschaft entscheiden die Unternehmer über Umfang und Struktur ihrer Gütererzeugung und den hierzu benötigten Einsatz von Produktionsfaktoren und Rohstoffen nach eigenem Ermessen auf Grundlage der Konsumwünsche, die sie von der nachfrageseite wahrnehmen. Im Gegensatz hierzu wird in einer idealtypischen Zentralverwaltungswirtschaft von einer zentralen staatlichen Planungsbehörde ein umfassender volkswirtschaftlicher Erzeugungsplan einschließlich der hierzu notwendigen InputOutput tabellen erstellt, der dann über mehrere geographische und sektorale hierarchiestufen bis auf die Ebene von betriebsindividuellen Erzeugungsquoten herunter gebrochen wird. Rainer Fremdling hat gezeigt, dass das Reichsamt für Wehrwirtschaftliche Planung auf Grundlage des Industriezensus von 1936 detaillierte Materialbilanzen und Flussdiagramme zur Quantifizierung des Bedarfs an Rohstoffen und Vorprodukten der deutschen Industriezweige erstellte, auf deren Grundlage in der tat eine volkswirtschaftliche Input-Output-tabelle für das „Dritte Reich“ rekonstruiert werden kann.7 Gleichwohl 7
Vgl. RaiNeR fRemdLiNg: the German Industrial census of 1936. Statistics as Prepara-
Das nationalsozialistische Wirtschaftssystem
65
wurde auch nach der Etablierung der Vierjahresplanbehörde unter hermann Göring niemals der Versuch unternommen, diese Informationen zur Erstellung eines vollständigen und vor allem widerspruchsfreien volkswirtschaftlichen Erzeugungsplans zu nutzen.8 Das nationalsozialistische Wirtschaftssystem wich aber nicht nur durch das Fehlen eines konsistenten Gesamtplans von dem Ideal der Zentralverwaltungswirtschaft ab. hinzu kam, dass die ökonomische Planungshoheit keineswegs bei einer zentralen Behörde konzentriert war, sondern viele verschiedene zivile und militärische Behörden mit jeweils eigenen und untereinander widersprüchlichen Einzelplänen um die knappen Ressourcen der Volkswirtschaft konkurrierten. Diese Form der polykratischen Wirtschaftsplanung wurde insbesondere von Michael von Prollius ausführlich beschrieben.9 Wie sind diese Unterschiede einzuschätzen? temin ist der auffassung, dass die nationalsozialisten ähnlich wie zeitgleich die Sowjets mit dem aufbau einer umfassenden und nie zuvor erprobten zentralen Wirtschaftsplanung schlichtweg überfordert waren, und dass deshalb die Inkonsistenzen und Mängel des realisierten Planungssystems als unvermeidbare anfangsschwierigkeiten auf dem schwierigen Weg zu der angestrebten sozialistischen Wirtschaftsordnung zu deuten sind.10 Im diametralen Gegensatz hierzu vertreten Buchheim und Scherner die ansicht, dass die staatlichen Planungseingriffe nur der unmittelbaren Kriegsvorbereitung geschuldet waren, und damit nur einen kurzfristig notwendigen Umweg zurück zu einer marktwirtschaftlichen Ordnung darstellten: „the ideal nazi economy would liberate the creativeness of a multitude of private entrepreneurs in a predominantly competitive framework gently directed by the state to achieve the highest welfare of the Germanic people.“11 Beide aussagen sind kontrafaktische Spekulationen, die sich vorzustellen suchen, wie das nationalsozialistische Wirtschaftssystem nach einem von hitler gewonnenen Zweiten Weltkrieg längerfristig ausgesehen hätte, und entziehen sich damit letztendlich der wissenschaftlichen Überprüfung. Wesentlich mehr Substanz besitzt die Einschätzung von Buchheim und Scherner, dass die eher planwirtschaftlichen Elemente des nationalsozialistischen Wirtschaftssystems der Vorkriegsjahre vorrangig der Kriegsvorbetion for the War, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (2005), S. 155–165. Vgl. auch adam tooze: the Rosetta Stone of German Industry: the Reich’s census of Industrial Production, in: chRistoPh Buchheim (hg.): German Industry in the nazi Period, Stuttgart 2008, S. 97–115. 8 Vgl. dietmaR PetziNa: autarkiepolitik im Dritten Reich. Der nationalsozialistische Vierjahresplan, Stuttgart 1968, S. 197f; aRthuR schWeitzeR: Plans and Markets: nazi Style, in: Kyklos 30 (1977), S. 88–115. 9 Vgl. michaeL VoN PRoLLius: Das Wirtschaftssystem der nationalsozialisten 1933–1939. Steuerung durch emergente Organisation und politische Prozesse, Paderborn 2003. 10 Vgl. P. temiN, Planning (wie anm. 2), S. 574. 11 c. Buchheim / j. scheRNeR, Role (wie anm. 5), S. 411.
66
Jochen Streb
reitung geschuldet waren und deshalb kaum hinweise darauf geben, wie eine zukünftige nationalsozialistische Friedenswirtschaft ausgesehen hätte. Zentrales Element einer jeden marktwirtschaftlichen Ordnung ist ein funktionsfähiger Preismechanismus, der die individuellen Pläne von Millionen von haushalten und tausenden von Unternehmen mittels Preisanpassungen koordiniert und somit idealtypisch auf allen Einzelmärkten zu einer Markträumung führt. Insbesondere gelangen auf freien Märkten diejenigen weiterverarbeitenden Unternehmen in den Besitz von Rohstoffen und Vorprodukten, die bei gegebenem angebot dazu in der lage sind, aufgrund ihrer eigenen Ertragslage die vergleichsweise höchsten Beschaffungspreise zu zahlen. Diese freie Marktpreisbildung wurde im „Dritten Reich“ in zunehmendem Maße eingeschränkt. Bezogen sich die höchstpreisvorschriften seit Sommer 1934 zunächst nur auf einzelne Güter des täglichen Bedarfs wie beispielsweise Brot, Butter oder textilien, führte der neu ernannte Preiskommissar für die Preisbildung Josef Wagner im herbst 1936 einen allgemeinen Preisstopp ein, der Güterpreise und löhne auf dem gegebenen niveau einfror. Zukünftige Preiserhöhungen bedurften der Genehmigung der staatlichen Preisbildungsstellen und wurden in der Regel nur dann erlaubt, wenn sie im rüstungs- und autarkiepolitischen Interesse der nationalsozialistischen Machthaber waren.12 Durch die Festsetzung von staatlich regulierten höchstpreisen wurde die Markträumungsfunktion der Preise aufgehoben. Deshalb entstand im Zuge des nationalsozialistischen Rüstungsbooms gerade auch auf den Rohstoff- und Vorleistungsgütermärkten eine chronische Überschussnachfrage, die den Staat dazu zwang, komplexe Bewirtschaftungssysteme aufzubauen, mit dessen hilfe die knappen Güter und Faktoren in die von den nationalsozialisten bevorzugten Verwendungszwecke gelenkt werden sollten. So wurden die höchstpreisvorschriften bald durch Kontingentierungsmaßnahmen und Verwendungsbeschränkungen sowie eine zunehmende Intensivierung und Zentralisierung der staatlichen Überwachungsstellen ergänzt. Dass diese Interventionsspirale von den nationalsozialisten nicht als konstituierendes Merkmal ihres Wirtschaftssystems angedacht war, sondern durch den mit der Preisregulierung einhergehenden beständigen Druck der Überschussnachfrage Schritt für Schritt erzwungen wurde, belegen Ulrich hensler und Ralf Banken überzeugend und anschaulich für die Stahl- beziehungsweise Edelmetallbewirtschaftung.13 Stefanie Werner, harald Degner und Mark adamo beschreiben, 12 Zur nationalsozialistischen Preispolitik vgl. aNdRé steiNeR: Von der Preisüberwachung zur staatlichen Preisbildung. Verbraucherpreispolitik und ihre Konsequenzen für den lebensstandard unter dem nationalsozialismus in der nachkriegszeit, in: aNdRé steiNeR (hg.): Preispolitik und lebensstandard. nationalsozialismus, DDR und Bundesrepublik im Vergleich, Köln u. a. 2006, S. 23–85. 13 Vgl. uLRich heNsLeR: Die Stahlkontigentierung im Dritten Reich, Stuttgart 2008; RaLf BaNKeN: Edelmetallmangel und Großraubwirtschaft. Die Entwicklung des deutschen
Das nationalsozialistische Wirtschaftssystem
67
wie mit hilfe von arbeitsbüchern versucht wurde, die deutschen arbeitskräfte unter Umgehung des dysfunktionalen arbeitsmarktes in die kriegsnotwendigen Industrien zu lenken.14 In realtypischen Marktwirtschaften finden sich häufig sektorale ausnahmebereiche, die in ihrer ordnungspolitischen ausgestaltung diesen nationalsozialistischen Bewirtschaftungssystemen sehr ähnlich sind. Beispielsweise wurde auch in der Sozialen Marktwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland mit der landwirtschaft ein gesamter Wirtschaftssektor durch zunächst nationale und dann europäische „Marktordnungen“ von der freien Marktpreisbildung vollständig ausgenommen.15 Im Gegensatz zu solchen Formen auf einzelne Sektoren beschränkter Bewirtschaftung umfasste die nationalsozialistische Bewirtschaftung aber weite teile der Volkswirtschaft. Ist man der auffassung, dass freie Marktpreisbildung das eigentliche Kernelement einer jeden marktwirtschaftlichen Ordnung darstellt, kommt man nicht umhin, dem nationalsozialistischen Wirtschaftssystem den marktwirtschaftlichen charakter abzusprechen – was es aber noch nicht zwangsläufig zu einer Zentralverwaltungswirtschaft macht. Überraschenderweise konzentriert sich die wissenschaftliche Debatte zwischen temin und hayes auf der einen Seite und Buchheim und Scherner auf der anderen trotzdem nicht auf den Preismechanismus, sondern auf das anreizsystem des nationalsozialistischen Wirtschaftssystems. In seinem explizit gegen Buchheim und Scherner gerichteten aufsatz aus dem Jahr 2009 bezichtigt hayes die beiden autoren, Verfechter eines „voluntarist turn“16 in der Wirtschaftsgeschichtsschreibung über das „Dritte Reich“ zu sein, der den Edelmetallsektors im „Dritten Reich“ 1933–1945, Berlin, 2009. Zur Rolle des Stahls als eigentlichem Engpassfaktor der nationalsozialistischen Wirtschaft vgl. auch adam tooze: the Wages of Destruction. the Making and Breaking of the nazi Economy, london 2006. Zum Widerspruch zwischen dem Steuerungsanspruch und den begrenzten Steuerungsmöglichkeiten der nationalsozialistischen Führung vgl. WeRNeR PLumPe: „Steuerungsprobleme“ in der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte des nationalsozialismus, in: geRd BeNdeR / RaiNeR maRia KiesoW / dieteR simoN (hg.): Die andere Seite des Wirtschaftsrechts. Steuerung in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2006, S. 19–30. 14 Vgl. stefaNie WeRNeR / haRaLd degNeR: hitlers gläserne arbeitskräfte. Das arbeitsbuch als Quelle von Mikrodaten für die historische arbeitsmarktforschung, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 52/2 (2011). Einen Überblick über die nationalsozialistische arbeitsmarktpolitik gibt RüdigeR hachtmaNN: labour Policy in Industry, in: chRistoPh Buchheim (hg.): German Industry in the nazi Period, Stuttgart 2008, S. 65–83. 15 Vgl. jocheN stReB: Eine analyse der Ziele, Instrumente und Verteilungswirkungen der agrareinkommenspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, holm 1996, S. 254–284. Zu den ökonomischen Folgen der nationalsozialistischen agrarpolitik vgl. stePhaNie degLeR / jocheN stReB: Die verlorene Erzeugungsschlacht: Die nationalsozialistische landwirtschaft im Systemvergleich, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (2008), S. 161–181. 16 P. hayes, Freedom (wie anm. 3), S. 30. Vgl. auch die direkte Replik chRistoPh Buch-
68
Jochen Streb
Unternehmern unterstellt, freiwillig und vorrangig aus betriebswirtschaftlichen Motiven mit den nationalsozialistischen Machthabern kooperiert zu haben. hayes ist hingegen der auffassung, dass sich die Unternehmer im „Dritten Reich“ in einer „Skinner Box“ gefangen sahen, in der Wohlverhalten zwar honoriert, Fehlverhalten aber auch drakonisch bestraft wurde.17 Insbesondere hätte die strafrechtliche Verfolgung oder Enteignung weniger, unbotmäßiger Unternehmer bereits genügt, eine allgemeine atmosphäre der Furcht zu schaffen, in der den Wünschen des Regimes oft sogar in vorauseilendem Gehorsam genügt wurde. Diese argumentation kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass zahlreiche unternehmenshistorische Beispiele belegen, dass Unternehmer im „Dritten Reich“ durchaus den handlungsspielraum besaßen, sich den Wünschen des Regimes zu widersetzen.18 Wenn Unternehmer trotzdem kooperierten, taten sie dies vor allem deshalb, weil sie sich von dieser Zusammenarbeit Wachstum und hohe Gewinne oder schlichtweg die betriebswirtschaftliche Existenzsicherung erwarteten.19 Manfred Genz, ehemaliger Finanzvorstand der Daimlerchrysler aG, führt hierzu aus: „langfristig kann sich kein Unternehmen den vom Staat gesetzten Rahmenbedingungen entziehen. Es kann nicht nachhaltig gegen ein bestehendes System arbeiten, sondern muss sich arrangieren, wenn es seine wirtschaftliche Betätigung aufrechterhalten will. Deshalb ist es in autoritären, diktatorischen Staaten unvermeidlich, dass die Wirtschaft in staatliche Maßnahmen, auch Unrechtsmaßnahmen, hineingezogen wird.“20
Selbst wenn man hayes zustimmen mag, wenn er Buchheim und Scherner vorwirft, den Zwangscharakter des nationalsozialistischen Wirtschaftssystems herunterzuspielen, muss er sich seinerseits den Vorwurf gefallen lassen, die Bedeutung des Gewinnmotivs für das unternehmerische handeln zu ver/ joNas scheRNeR: corporate Freedom of action – a Reply to Peter hayes, in: Bulletin of the GhI 45 (2009), S. 109–112. Ebd., S. 31. Vgl. joNas scheRNeR: Das Verhältnis zwischen nS-Regime und Industrieunternehmen – Zwang oder Kooperation?, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 51 (2006), S. 166–190; joNas scheRNeR: the Beginnings of nazi autarky Policy: the „national Pulp Programme“ and the Origins of Regional Staple Fibre Plants, in: Economic history Review 61 (2008), S. 867–895. Stefan lindner kann mit hilfe eines biographischen Forschungsansatzes am Beispiel von hoechst zeigen, dass auch diejenigen Manager, die den nationalsozialisten ablehnend oder zumindest reserviert gegenüberstanden, bereit waren mit dem Regime zu kooperieren, wenn sie sich hiervon betriebswirtschaftliche Vorteile für ihr Unternehmen versprachen. Vgl. stePhaN LiNdNeR: Inside IG Farben. hoechst during the third Reich, cambridge 2008. maNfRed geNz: Die Verstrickung von Unternehmen in Unrechtsstaaten. Zur Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, in: jüRgeN LiLLteicheR (hg.): Profiteure des nS-Systems? Deutsche Unternehmen und das „Dritte Reich“, Berlin 2006, S. 200–215, hier S. 204. heim
17 18
19
20
Das nationalsozialistische Wirtschaftssystem
69
nachlässigen. Wie umfassend die nationalsozialisten die betriebswirtschaftlichen Empfindlichkeiten der Privatunternehmen im Rahmen ihrer Wirtschaftslenkung tatsächlich berücksichtigten, verdeutlicht Scherners bahnbrechende Untersuchung zur Durchführung staatlich geplanter Investitionsprojekte im „Dritten Reich“, auf deren Resultate deshalb näher eingegangen werden soll.21 ausgangspunkt von Scherners analyse ist die Beobachtung, dass die deutschen Unternehmen eben keineswegs mittels hierarchischer anordnung zur Finanzierung bestimmter autarkie- und Rüstungsinvestitionen gezwungen wurden. Vielmehr konnten sich die Unternehmer der staatlichen Investitionsvorgabe sogar gänzlich verweigern oder aber, was eher der Regelfall war, das Risiko der Investition ganz oder teilweise auf den Staat wälzen. Grundsätzlich standen im „Dritten Reich“ drei verschiedene Formen der Investitionsfinanzierung zur auswahl. Im Rahmen eines so genannten Wirtschaftlichkeitsgarantievertrags übernahm das private Unternehmen die Finanzierung der zusätzlichen Produktionskapazitäten aus eigenen Mitteln und war damit natürlich auch deren Eigentümer. Im Gegenzug gewährte der Staat dem investitionswilligen Unternehmen für einen vorab vereinbarten amortisationszeitraum Preis- und absatzgarantien für eine bestimmte Menge der in der neuen Fabrik erzeugten Güter. Diesem Vorteil, das Investitionsrisiko auf den Staat übertragen zu haben, stand aus Sicht der Unternehmer auch ein nicht zu unterschätzender nachteil gegenüber. Im Rahmen des Wirtschaftlichkeitsgarantievertrags mussten sie nämlich dem nationalsozialistischen Staat umfangreiche Kontroll- und Mitspracherechte einräumen, wodurch ihr unternehmerischer handlungsspielraum erheblich eingeschränkt wurde. nach ablauf der Vertragsfrist konnte das Unternehmen allerdings wieder frei über seine Produktionsanlagen verfügen und nunmehr vollständig auf eigenes Risiko weiter betreiben. Wollte der Unternehmer den Einfluss des nationalsozialistischen Staats auf die eigene Unternehmensführung verringern, bot sich als alternative ein Risikoteilungsvertrag an, bei dessen Gültigkeit der Staat nur einen bestimmten anteil des gesamten Investitionsrisikos durch Kredite oder Bürgschaften 21 Vgl. joNas scheRNeR: Die logik der Industriepolitik im Dritten Reich. Die Investitionen in die autarkie- und Rüstungsindustrie und ihre staatliche Förderung, Stuttgart 2008. Zur Bedeutung unternehmerischer Gewinnmotive bei der ausgestaltung staatlicher Beschaffungsverträge vgl. jocheN stReB / saBiNe stReB: Optimale Beschaffungsverträge bei asymmetrischer Informationsverteilung. Zur Erklärung des nationalsozialistischen „Rüstungswunders“ während des Zweiten Weltkriegs, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 118 (1998), S. 275–294; jocheN stReB: negotiating contract types and contract clauses in the German construction Industry during the third Reich, in: the RanD Journal of Economics 40 (2009), S. 364–379; Lutz BudRass / joNas scheRNeR / jocheN stReB: Fixed-price contracts, learning and Outsourcing: Explaining the continuous Growth of Output and labour Productivity in the German aircraft Industry during World War II, in: Economic history Review 63 (2010), S. 107– 136.
70
Jochen Streb
übernahm. Preis- und absatzgarantien wurden im Rahmen von Risikoteilungsverträgen meistens nicht gewährt, dafür konnte ein Unternehmen die vertraglichen Vereinbarungen, einschließlich der wiederum vorgesehenen staatlichen Mitsprache- und Kontrollrechte, aber auch jederzeit aufkündigen. Somit bot der Risikoteilungsvertrag einem Unternehmer im Vergleich zum Wirtschaftlichkeitsgarantievertrag einen höheren handlungsspielraum zum Preis eines erhöhten Investitionsrisikos. Beide Vertragsformen hatten gemeinsam, dass das Privateigentum an den neu errichteten Produktionsanlagen beim Unternehmer verblieb. Dies war bei der dritten Möglichkeit zur Finanzierung der staatlich geplanten Investitionsprojekte, den Pachtverträgen, nicht der Fall. hier finanzierte der Staat den aufbau der Produktionsanlagen vollständig aus öffentlichen Mitteln, war damit deren Eigentümer und verpachtete diese dann für eine bestimmte laufzeit an private Betreiberunternehmen. als Pachtsumme war zwischen der hälfte und zwei Drittel des Betriebsgewinns an den Staat abzuführen. Der dem Unternehmen verbleibende Gewinn diente als Kompensation für die Bereitstellung von unternehmerischem und technologischem Know-how. nach ablauf der Pachtperiode besaß das Betreiberunternehmen keine weiteren ansprüche auf die bisher genutzten anlagen. angesichts dieser drei grundsätzlichen Vertragsalternativen mit jeweils zahlreichen Untervarianten war die konkrete ausgestaltung eines Investitionsvertrages zwischen Staat und Unternehmen im „Dritten Reich“ das Ergebnis eines komplexen abwägungs- und aushandlungsprozesses, der von den Unternehmen maßgeblich mitbestimmt wurde. Scherner postuliert, dass die Unternehmer im Falle von kurzfristig und langfristig positiven Rentabilitätserwartungen bestrebt waren, das Eigentum an den neuen anlagen zu erwerben und den Staat soweit als möglich aus der Unternehmensführung heraus zu halten, und deshalb für einen Risikoteilungsvertrag oder gar für die vollständige Übernahme des Investitionsrisikos optierten. Somit weist diese Vertragswahl nach auffassung von Scherner darauf hin, dass die betreffenden Unternehmen die Investitionen in ähnlichem Umfang auch in der kontrafaktischen Vergleichssituation einer weiter existenten Weimarer Republik durchgeführt hätten. als Beleg für diese these führt er unter anderem an, dass der aufbau der Baumwollimporte substituierenden chemiefaserkapazitäten weitgehend auf eigenes Risiko der Privatwirtschaft erfolgte und gemessen an der Entwicklung in anderen Industrieländern wohl in fast gleichem Umfang auch ohne Einflussnahme der nationalsozialisten betrieben worden wäre.22 Zu einer anderen Entscheidung gelangte der chemiekonzern I.G. Farben im Falle des ersten hydrierwerks zur Gewinnung von treibstoff aus der heimischen Braunkohle. aufgrund des niedrigen Weltmarktpreises von Erdöl schien die industrielle Braunkohlehydrierung zumindest kurzfristig keine positiven Gewinne abzuwerfen. Deshalb bedurfte es staatlicher Preis- und ab22 Vgl. j. scheRNeR, logik (wie anm. 20), S. 190–199.
Das nationalsozialistische Wirtschaftssystem
71
satzgarantien im Rahmen eines Wirtschaftlichkeitsgarantievertrages, um die I.G. Farben bald nach der nationalsozialistischen Machtergreifung im Dezember 1933 dazu zu überreden, über das Stadium von Pilotanlagen hinaus zu gehen und in leuna eine große Fabrik zur treibstoffsynthese zu errichten.23 Ein von Scherner genanntes Beispiel für ein autarkieprojekt, das aufgrund von kurzfristig und langfristig negativen Rentabilitätserwartungen der Privatunternehmer nur in Form von Pachtverträgen betrieben werden konnte, war der ausbau des deutschen Kupferbergbaus.24 Große Bedeutung kam den Pachtverträgen aber insbesondere beim aufbau von Rüstungskapazitäten seit Mitte der 1930er Jahre zu. Da sich die privaten Unternehmen in aller Regel weigerten, eigene Mittel in zusätzliche Rüstungskapazitäten für einen zukünftigen Mobilisierungsfall zu investieren, wurden diese anlagen, die oftmals fern ab der westlichen deutschen außengrenzen und Bevölkerungszentren errichtet wurden, in das von der Verwertungsgesellschaft für Montanindustrie Gmbh (Montan) verwaltete System heereseigener Industriebetriebe (hIB) eingebunden.25 Generell verfügte die Montan als treuhänderin des Reiches über die Betriebsgrundstücke der hIB und finanzierte überdies aus heeresmitteln den anlagenbau, der in aller Regel von den privaten Muttergesellschaften wie zum Beispiel den Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken, der Robert Bosch Gmbh26 oder der Dynamit nobel aG mit entsprechendem Know-how durchgeführt wurde. Eigens gegründete tochtergesellschaften dieser Privatunternehmen pachteten dann Grundstücke und Fabrikationsanlagen von der Montan gegen Zahlung eines variablen Pachtzins. Diese Konstruktion übertrug das anlagerisiko vollständig auf das Reich und schuf damit oftmals erst die freiwillige Bereitschaft der privaten Unternehmen, Produktionsanlagen für Rüstung und autarkie zu betreiben, die sich aus ihrer eigenen längerfristigen Perspektive nur als Fehlinvestitionen in Überkapazitäten darstellten. Mark Spoerer untersuchte auf Grundlage von Steuerbilanzen von über 100 Unternehmen die Gewinnentwicklung deutscher aktiengesellschaften im Zeitraum zwischen 1925 und 1941.27 Für das Dritte Reich konstatiert er überdurchschnittlich hohe Gewinne, die ihren höhepunkt in den Jahren 1936 bis 1940, also zeitgleich mit dem Vierjahresplan erreichten. Eine genauere ana23 Ebd., S. 103f. 24 Ebd., S. 257–263. 25 Vgl. BaRBaRa hoPmaNN: Von der Montan zur Industrieverwaltungsgesellschaft (IVG) 1916–1951, Stuttgart 1996, S. 71–85. Vgl. auch joNas scheRNeR / jocheN stReB: Wissenstransfer, lerneffekte oder Kapazitätsausbau? Die Ursachen des Wachstums der arbeitsproduktivität in den Werken der Deutschen Sprengchemie Gmbh, 1937–1943, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 53 (2008), S. 100–122. 26 Vgl. maNfRed oVeResch: Bosch in hildesheim 1937–1945, Göttingen 2008. 27 Vgl. maRK sPoeReR: Von Scheingewinnen zum Rüstungsboom. Die Eigenkapitalrentabilität der deutschen Industrieaktiengesellschaften 1925–1941, Stuttgart 1996.
72
Jochen Streb
lyse der Gewinnentwicklung zeigt zudem, dass vor allem Unternehmen in rüstungsnahen Branchen überdurchschnittlich gut verdienten, während die Gewinnzunahme im Konsumgüterbereich deutlich gedämpfter verlief. Was Scherner aus der ex-ante-Perspektive der Investitionsentscheidungen beschreibt, findet bei Spoerer aus der ex-post-Perspektive der Bilanzanalyse Bestätigung. Unternehmen, die im Interesse des nationalsozialistischen Staates investierten und produzierten, wurden dafür mit hohen Gewinnen belohnt. Somit ergibt sich ein Bild, das mit der Vorstellung einer vorwiegend auf Zwang basierenden Kommandowirtschaft kaum zu vereinbaren ist. anstatt die Unternehmen direkt zu zwingen, instrumentalisierten die nationalsozialisten das unternehmerische Gewinnmotiv. Es ist unstrittig, dass im nationalsozialistischen Wirtschaftssystem das formale Privateigentum an Produktionsmitteln trotz prominenter ausnahmen wie der im Juli 1937 gegründeten staatlichen a.G. für Erzbergbau und Eisenhütten hermann Göring weiterhin dominierte. auch lassen sich im Verhalten der nationalsozialisten keine hinweise darauf finden, dass man längerfristig eine Änderung dieser Situation und etwa eine großflächige Sozialisierung deutscher Schlüsselindustrien anstrebte. Selbst die nach der Bankenkrise im Staatsbesitz befindlichen Berliner Großbanken wurden im „Dritten Reich“ reprivatisiert.28 henry turner ist der Überzeugung, dass hitlers Grundsatzentscheidung für die Beibehaltung des Wettbewerbs zwischen privaten Unternehmen aus seiner auf das Wirtschaftsleben übertragenen sozialdarwinistischen Weltsicht resultierte.29 Ebenfalls unstrittig ist, dass durch die zunehmende Intensivierung staatlicher Bewirtschaftungs- und Kontrollmaßnahmen auf den Rohstoff-, arbeits-, Kapital- und Produktmärkten die handlungsautonomie der Privateigentümer immer mehr zusammenschrumpfte.30 temin deutet diese umfassende Beschränkung des unternehmerischen handlungsspielraums als eine spezifisch nationalsozialistische Form der Sozialisierung, die zwar auf die rechtliche Enteignung der Privateigentümer verzichtete, in ihren materiellen auswirkungen aber zum gleichen Ergebnis, nämlich zur staatlichen Verfügung über die Produktionsmittel führte.31 Buchheim und Scherner widersprechen auch dieser Einschätzung. Ihrer Meinung nach hätte nur ein staatlich verordneter Kontrahierungszwang zu einer faktischen abschaffung der Institution Privat28 Vgl. dieteR ziegLeR: Der Ordnungsrahmen, in: johaNNes BähR (hg.): Die Dresdner Bank in der Wirtschaft des Dritten Reichs, München 2006, S. 43–74. Vgl. auch geRmà BeL: against the Mainstream: nazi Privatization in 1930s Germany, in: Economic history Review 63 (2010), S. 34–55. 29 Vgl. heNRy ashBy tuRNeR: Die Großunternehmer und der aufstieg hitlers, Berlin 1985, S. 98. 30 Vgl. zum Beispiel auch geRd höschLe: Die deutsche textilindustrie zwischen 1933 und 1939. Staatsinterventionismus und ökonomische Rationalität, Stuttgart 2004. 31 Vgl. PeteR temiN: lessons from the Great Depression, cambridge 1989, S. 117.
Das nationalsozialistische Wirtschaftssystem
73
eigentum geführt. Stattdessen hätten die deutschen Privatunternehmer auch im „Dritten Reich“ weiterhin über das fundamentale Recht verfügt, sich Vertragsangeboten der staatlichen Planungs- und Beschaffungsstellen verweigern zu können. hieraus ziehen Buchheim und Scherner den Schluss: „Somit sind Vertragsfreiheit und Privateigentum eigentlich die zwei Seiten derselben Medaille. Gibt es sie, dann sind Unternehmen zu autonomen Produktions- und Investitionsentscheidungen gemäß ihres Ziels der Gewinnmaximierung fähig, und es existiert eine Marktwirtschaft.“32
Es ist verblüffend, dass bereits im Jahr 1944 Otto nathan das Ergebnis der bis heute andauernden Diskussion um die ordnungspolitische Einordnung des nationalsozialistischen Wirtschaftssystems zutreffend vorwegnahm: „In the six years between the Fascist victory in Germany and the outbreak of war, nazism erected a system of production, distribution and consumption that defies classification in any of the usual categories. It was not capitalism in the traditional sense: the autonomous market mechanism so characteristic of capitalism during the last two centuries had all but disappeared. It was not State capitalism. the government disclaimed any desire to own the means of production, and in fact took steps to denationalize them. It was not socialism or communism: private property and private profit still existed. the nazi system was, rather, a combination of some of the characteristics of capitalism and a highly planned economy.“33
Der eigentliche Dissens der Wirtschaftshistoriker betrifft daher auch weniger die Interpretation der konkreten Ordnungsmerkmale als vielmehr die begriffliche Einordnung dieser ungewöhnlichen ordnungstheoretischen Kombination aus den Idealtypen „Zentralverwaltungswirtschaft“ und „Marktwirtschaft“. temin und hayes beharren wie bereits ausführlich dargelegt darauf, das nationalsozialistische Wirtschaftssystem als eine Form des indirekten Sozialismus zu deuten. nach auffassung von Dietmar Petzina lässt sich dieses als „staatliche Kommandowirtschaft bezeichnen (die allerdings die liberale Marktwirtschaft niemals völlig verdrängte!)“.34 Von Prollius spricht in abgrenzung von der Zentralverwaltungswirtschaft sowohl von einer „Organisationswirtschaft“, in der sich „scheinbar ohne Ordnung aufeinander folgende Führerbefehle und -erlasse, Gesetze, Verordnungen, anordnungen, Richtlinien usw. als eine spezifisch nationalsozialistische Form des Organisierens begreifen“ lassen, als auch von einer „wehrwirtschaftlichen Bedarfsdeckungswirtschaft“.35 Buchheim und Scherner halten schließlich den Begriff 32 chRistoPh Buchheim / joNas scheRNeR: anmerkungen zum Wirtschaftssystem des „Dritten Reichs“, in: WeRNeR aBeLshauseR / jaN-otmaR hesse / WeRNeR PLumPe (hg.): Wirtschaftsordnung, Staat und Unternehmen. neue Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte des nationalsozialismus, Essen 2003, S. 81–97, hier S. 85. 33 otto NathaN: nazi War Finance and Banking, new York 1944, S. 3. 34 d. PetziNa, autarkiepolitik (wie anm. 8), S. 197. 35 m. VoN PRoLLius, Wirtschaftssystem (wie anm. 9), S. 229f.
74
Jochen Streb
„gelenkte Marktwirtschaft“ für die zutreffendste Bezeichnung des nationalsozialistischen Wirtschaftssystems.36 Der Vorteil des letztgenannten Begriffs ist seine anschlussfähigkeit an eine von norbert Kloten entwickelte typologie, mit deren hilfe er die traditionelle ordnungstheoretische Verengung auf die beiden Idealtypen „Zentralverwaltungswirtschaft“ und „Marktwirtschaft“ zu überwinden sucht.37 Kloten kommt auf Grundlage der Unterscheidung der drei Wirtschaftssysteme „Freie Verkehrswirtschaft“, „Gelenkte Marktwirtschaft“ und „Zentralgeleitete Wirtschaft“ sowie der drei Eigentumsordnungen „Priorität: Privateigentum“, „Privates und öffentliches Eigentum“ und „Priorität: öffentliches Eigentum“ zu dem Ergebnis, dass gelenkte Marktwirtschaften mit einem nebeneinander von privatem und öffentlichem Eigentum die überwiegende Mehrheit der historisch relevanten Wirtschaftsordnungen darstellen. Gleichwohl unterscheiden sich auch diese realtypischen Mischformen deutlich hinsichtlich ihrer jeweiligen lenkungsziele und lenkungsintensitäten. hier interessiert, ob das nationalsozialistische Wirtschaftssystem tatsächlich als gelenkte Marktwirtschaft mit hoher lenkungsintensität zu deuten ist. Zur Beantwortung dieser Frage betrachten wir die drei lenkungsziele: (1) makroökonomische Krisenbekämpfung, (2) sektorale Regulierung und (3) kriegswirtschaftliche Restrukturierung, die in aufsteigender Reihenfolge mit einer zunehmenden Intensität der staatlichen lenkungseingriffe verbunden sind.38 Dem Keynesianismus verdankt die staatliche Wirtschaftspolitik das lenkungsversprechen, durch den Einsatz fiskal- und geldpolitischer Instrumente akute Wirtschaftskrisen zu überwinden (oder gar im Sinne des Stabilitätsgesetzes von 1967 eine Feinjustierung zentraler makroökonomischer Zielgrößen wie Wechselkurs, Preisniveau oder arbeitslosenrate herbeiführen zu können).39 Oftmals wurde vermutet, dass die nationalsozialistische antikrisenpolitik zwischen 1933 und 1936 als frühe und erfolgreiche Umsetzung keynesianischer Konzepte gedeutet werden muss.40 John Maynard Keynes 36 Vgl. c. Buchheim / j. scheRNeR, anmerkungen (wie anm. 31), S. 97. Vgl. auch c. Buchheim / j. scheRNeR, Role (wie anm. 5), S. 411. Vgl. auch michaeL schNeideR: Unterm hakenkreuz: arbeiter und arbeiterbewegung 1933 bis 1939, in: geRhaRd a. RitteR (hg.): Geschichte der arbeiter und der arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 19. Jahrhunderts Bd. 12), Bonn 1999, S. 289. 37 Vgl. NoRBeRt KLoteN: Zur typenlehre der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen, in Ordo 7 (1955), S. 123–143. 38 auch nach auffassung von Daniela Kahn stellt die Wehr- oder Kriegswirtschaft einen Extremfall der gelenkten Marktwirtschaft dar. Vgl. daNieLa KahN: Die Steuerung der Wirtschaft durch Recht im nationalsozialistischen Deutschland. Das Beispiel der Reichsgruppe Industrie, Frankfurt am Main 2006, S. 21. 39 Vgl. heRBeRt gieRsch / KaRL-heiNz Paqué / hoLgeR schmiediNg: the Fading Miracle. Four Decades of Market Economy in Germany, cambridge 21992, S. S. 147. 40 Wolfgang Schivelbusch deutet die antikrisenpolitiken in den USa, Italien und Deutschland als inhaltlich durchaus vergleichbare Reaktionen auf das trauma der Weltwirt-
Das nationalsozialistische Wirtschaftssystem
75
selbst wies im Vorwort seiner 1936 erschienenen deutschen auflage seiner „General theory of Employment, Interest, and Money“ darauf hin, dass „die theorie der Produktion als Ganzes, die den Zweck des folgenden Buches bildet, viel leichter den Verhältnissen eines totalen Staates angepasst werden [kann] als die [klassische] theorie der Erzeugung und Verteilung einer gegebenen, unter Bedingungen des freien Wettbewerbes und eines großen Maßes von laissez-faire erstellten Produktion.“41
Es ist das Verdienst von Rene Erbe, schon 1958 ausführlich dargelegt zu haben, dass die nationalsozialistische antikrisenpolitik in zentralen Punkten von der Konzeption einer keynesianischen Wirtschaftspolitik abwich. Insbesondere weist Erbe darauf hin, dass die nationalsozialisten nichts dafür taten, die private Konsumneigung zu erhöhen, sondern ganz im Gegenteil das (Zwangs-) Sparen der haushalte förderten, weshalb die eigentlich wünschenswerte Multiplikatorwirkung der erhöhten Staatsausgaben so erstaunlich niedrig war. In Erbes Worten war auch dies „eine beachtliche leistung, jedoch keine beschäftigungspolitische, sondern eine kriegswirtschaftliche.“42 Wir werden auf diese Einschätzung zurückkommen. Keynesianische Wirtschaftslenkung beschränkt sich im allgemeinen auf prozesspolitische Interventionen, die zwar die Preisbildung auf den einzelnen Märkten beeinflussen, aber weder das Funktionieren des Preismechanismus noch die handlungsautonomie der Wirtschaftssubjekte einschränken. Eine höhere lenkungsintensität weist die sektorale Regulierung auf, die insbesondere durch Marktversagen begründet wird und im Gegensatz zur makroökonomischen Krisenbekämpfung auch mit ordnungspolitischen Eingriffen verbunden sein kann. Beispielsweise kann es bei Vorliegen von natürlichen Monopolen gerechtfertigt erscheinen, den Preissetzungsspielraum der Monopolisten durch staatliche höchstpreisvorschriften zu begrenzen.43 Oftmals begründen Politiker regulatorische Maßnahmen aber auch durch das auftreten gesellschaftlich unerwünschter Ergebnisse auf eigentlich funktionstüchtigen Märkten. In diese Kategorie fallen beispielsweise die bereits oben angesprochenen, staatlich verordneten Mindest- und höchstpreise in der zunächst naschaftskrise. Vgl. WoLfgaNg schiVeLBusch: Entfernte Verwandschaft. Faschismus, nationalsozialismus, new Deal 1933–1939, München 2005. Vgl. auch WeRNeR PLumPe: Wirtschaftskrisen. Geschichte und Gegenwart, München 2010, S. 84–91. 41 johN mayNaRd KeyNes: allgemeine theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, München/leipzig 1936, S. IX. 42 ReNe eRBe: Die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik 1933–1939 im lichte der modernen theorie, Zürich 1958, S. 163. Vgl. auch aLBRecht RitschL: Deutschlands Krisen und Konjunktur 1924–1934, Berlin 2003, S. 41–106. 43 Zur Begründung der Regulierung von Stromnetzen vgl. thoRsteN PRoetteL / jocheN stReB / saBiNe stReB: Die Produktivitätsentwicklung in der deutschen Stromwirtschaft in langfristiger Perspektive, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik 10 (2009), S. 309– 332.
76
Jochen Streb
tionalsozialistischen und später europäischen agrarpolitik. allen diesen regulatorischen Eingriffen ist gemeinsam, dass sie (zumindest vorgeblich) im Interesse der Konsumenten getätigt werden, die vor überhöhten Preisen geschützten werden sollen oder deren Versorgungssicherheit man zu gewährleisten beabsichtigt. Wie sich bereits in der Beurteilung der nationalsozialistischen antikrisenpolitik durch Erbe andeutete, genießen die Wünsche der Konsumenten im Verlauf der kriegswirtschaftlichen Restrukturierung einer Volkswirtschaft nicht mehr die oberste Priorität. Ganz im Gegenteil ergreift der Staat prozess- und ordnungspolitische Interventionen zur Zurückdrängung des privaten Konsums, um Ressourcen für den aufbau und die nutzung von Rüstungskapazitäten freizusetzen. Willi Boelcke führt hierzu aus: „Der Krieg dagegen beraubt die nunmehr ‚kriegsverpflichtete‘ Wirtschaft mehr oder weniger ihrer primär auf die ausdehnung der zivilen Konsummöglichkeiten orientierten ökonomischen Funktionen und zwingt ihr, staatliche Machtvollkommenheiten dabei ausnutzend, eine den Gesetzen des Krieges unterworfene Zweckbestimmung auf.“44
Der Schluss liegt damit nahe, das nationalsozialistische Wirtschaftssystem als Marktwirtschaft im kriegswirtschaftlichen (und damit zeitlich begrenzten) ausnahmezustand zu verstehen, in der die lenkungsintensität hoch und zentrale marktwirtschaftliche Institutionen aus Sachzwang suspendiert waren. Diese auffassung ist in der tat weit verbreitet. avraham Barkai und Erbe sind sich einig, die deutsche Volkswirtschaft schon ab 1934 als „vorbereitende Kriegswirtschaft“45 zu interpretieren. auch nach Boelcke begann bereits Ende 1934 die erste Etappe „der Umformung zur Kriegswirtschaft“.46 Overy eröffnet eine international vergleichende Perspektive, wenn er feststellt, dass sich die nationalsozialistischen lenkungseingriffe kaum von den kriegswirtschaftlichen Maßnahmen unterschieden, die während des Zweiten Krieges von den westlichen alliierten ergriffen wurden.47 Buchheim und Scherner teilen diese Einschätzung: „the main difference between the nazi war-related economy and Western war-related economies of the time can be detected only by an analysis that transcends economics.“48 Im nächsten abschnitt werden wir daher untersuchen, inwieweit das nationalsozialistische Wirtschaftssystem 44 WiLLi a. BoeLcKe: Rüstungswirtschaft I: Kriegswirtschaft, in: WiLLi aLBeRs u. a. (hg.): handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft Bd. 6, Stuttgart u. a. 1988, S. 503–513, hier S. 503. 45 aVRaham BaRKai: Das Wirtschaftssystem des nationalsozialismus. Ideologie, theorie und Politik 1933–1945, erweiterte neuausgabe, Frankfurt am Main 1998; S. 8. Vgl. auch R. eRBe, Wirtschaftspolitik (wie anm. 41), S. 4. 46 WiLLi a. BoeLcKe: Die Kosten von hitlers Krieg: Kriegsfinanzierung und finanzielles Kriegserbe in Deutschland 1933–1948, Paderborn 1985, S. 9 47 Vgl. RichaRd j. oVeRy: the nazi Economic Recovery 1932–1938, cambridge 21996, S. 67. 48 c. Buchheim / j. scheRNeR, Role (wie anm. 5), S. 412.
Das nationalsozialistische Wirtschaftssystem
77
schon in den Vorkriegsjahren als gelenkte Marktwirtschaft im kriegswirtschaftlichen ausnahmezustand zu charakterisieren ist. außerdem werden wir zeigen, dass sich die Kriegswirtschaften der alliierten und der nationalsozialisten in der tat in wichtigen Ordnungsmerkmalen ähnelten. 3. Vorgezogene Kriegswirtschaft Generell gilt, dass es zur Vorbereitung eines materialintensiven und langwierigen Krieges gegen wirtschaftlich starke Gegner49 einer vorausplanenden kriegswirtschaftlichen Umstrukturierung der Volkswirtschaft bedarf. Rechtzeitig vor ausbruch des Krieges müssen zunächst umfangreiche Investitionen in den ausbau der Rüstungskapazitäten getätigt werden, da die Erstellung von neuen anlagen und Fabriken mitunter mehrere Jahre in anspruch nimmt. außerdem muss durch aufbau eines entsprechenden lenkungsapparats sichergestellt werden, dass die volkswirtschaftlich verfügbaren arbeitskräfte und Rohstoffe im Bedarfsfall schnell und effizient in der Rüstungsproduktion konzentriert werden können. Diese kriegswirtschaftlichen Weichenstellungen gehen zwangsläufig zu lasten der Konsumenten. Jede für die Kriegsvorbereitung eingesetzte Ressource steht nicht mehr für die zivile Produktion zur Verfügung und verknappt damit das gesamtwirtschaftliche angebot an Konsumgütern. Die im Zuge der Rüstungskonjunktur vollbeschäftige Bevölkerung wird hingegen bestrebt sein, ihre nachfrage nach Konsumgütern ausdehnen, so dass die anwachsende Überschussnachfrage auf freien Konsumgütermärkten zu stark steigenden Preisen führen würde. Diese Entwicklung muss der Staat vor allem deshalb verhindern, weil von steigenden Konsumgüterpreisen ein starker anreiz auf die Privateigentümer an den Produktionsmitteln ausgehen würde, sich von der kriegswirtschaftlichen Investitionen abzuwenden und sich stattdessen verstärkt in der Konsumgüterproduktion zu engagieren. Um sicherzustellen, dass der private Konsum zurückgedrängt und die volkswirtschaftlichen Produktionsfaktoren vorrangig für den aufbau (und die spätere nutzung) von Rüstungskapazitäten genutzt werden, ist während einer kriegswirtschaftlichen Restrukturierung die aussetzung der freien Marktpreisbildung deshalb über kurz oder lang unumgänglich. Dieser Preisstopp muss unweigerlich zur Einführung ergänzender Bewirtschaftungsmaßnahmen führen, welche anstelle des nunmehr dysfunktionalen Preismechanismus die Markträumungsfunktion übernehmen.50 In Übereinstimmung mit diesen Überlegungen definiert Barkai zwei Kriterien, anhand derer die Existenz einer kriegswirtschaftlichen Wirtschaftsord49 adam tooze zeigt, dass im Jahr 1944 das kombinierte Bruttoinlandsprodukt der alliierten mehr als Dreimal so hoch war wie das der achsenmächte. Vgl. a. tooze, Wages (wie anm. 13), S. 641. 50 Vgl. W. BoeLcKe, Rüstungswirtschaft (wie anm. 44).
78
Jochen Streb
nung nachgewiesen werden kann. Diese sind, erstens, die ordnungspolitische Etablierung von „institutionellen Kontroll- und lenkungsmechanismen“ und, zweitens, „quantitative Parameter“51, welche den ausbau der Rüstungsanstrengungen zu lasten des privaten Konsums belegen. Im Sinne des ersten Kriteriums kann der schrittweise ausbau von Preiskontrollen, von Devisen- und Rohstoffbewirtschaftung sowie von arbeitskräfte- und Investitionslenkung seit 1934 als ordnungspolitische transformation des deutschen Wirtschaftssystems in eine Kriegswirtschaft gedeutet werden.52 Spoerer und Scherner liefern die quantitativen Belege. Spoerer zeigt, dass der reale Prokopfkonsum der deutschen Bevölkerung zwischen 1933 und 1938 selbst dann nicht mehr das Vorkrisenniveau aus dem Jahr 1928 erreichte, wenn man zur Preisbereinigung den sehr wahrscheinlich zu niedrig angesetzten amtlichen Index der lebenshaltungskosten verwendet.53 angesichts des auseinanderlaufens von stagnierendem Konsum und steigendem Bruttonationaleinkommen von einer Deformation des Wachstumsprozesses54 im „Dritten Reich“ zu sprechen, ist nur dann gerechtfertigt, wenn man als Maßstab zur Beurteilung dieser Wirtschaftsordnung wie für „normale“ Marktwirtschaften üblich den lebensstandard der Konsumenten heranzieht. hingegen war es, Erbe folgend, in einer vorgezogenen Kriegswirtschaft durchaus als Erfolg zu verbuchen, dass es seit der Mitte der 1930er Jahre ge-
51 a. BaRKai, Wirtschaftssystem (wie anm. 45), S. 206. 52 aus ordnungstheoretischer Perspektive ist bereits die Einführung von Preisstopps und Bewirtschaftungsmaßnahmen zum Zwecke der kriegswirtschaftlichen Restrukturierung konstituierend für eine (vorgezogene) Kriegswirtschaft. Die quantitativen Parameter beschreiben lediglich Geschwindigkeit und Umfang des volkswirtschaftlichen Umbaus. Insoweit widerspricht selbst die manchmal auf Grundlage quantitativer Daten vertretene these, das „Dritte Reich“ habe zu Beginn des Zweiten Weltkriegs eine „Friedenswirtschaft im Kriege“ betrieben, nicht der hier vertretenen auffassung, dass das nationalsozialistische Wirtschaftssystem spätestens seit 1936 die wesentlichen Ordnungsmerkmale einer Kriegswirtschaft aufwies. Zur Debatte um die „Friedenswirtschaft im Krieg“ vgl. zum Beispiel R. oVeRy, War (wie anm. 4), S. 259–314. 53 Vgl. maRK sPoeReR: Demontage eines Mythos? Zu der Kontroverse über das nationalsozialistische Wirtschaftswunder, in: Geschichte und Gesellschaft 31 (2005), S. 415– 438. Zum Rückgang des biologischen lebensstandards vgl. jöRg BateN / aNdRea WagNeR: Mangelernährung, Krankheit und Sterblichkeit im nS-Wirtschaftsaufschwung (1933–1937), in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (2003), S. 99–123. Diese Befunde stehen in klarem Gegensatz zu alys Behauptung, die nationalsozialisten hätten sich politische Zustimmung durch eine Erhöhung des lebensstandards breiter Bevölkerungsschichten erkauft. Vgl. götz aLy: hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt am Main 32005. 54 Vgl. m. sPoeReR, Demontage (wie anm. 53), S. 434. Vgl. auch chRistoPh Buchheim: Die Wirtschaftsentwicklung im Dritten Reich – mehr Desaster als Wunder. Eine Erwiderung auf Werner abelshauser, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 49 (2001), S. 653–664.
Das nationalsozialistische Wirtschaftssystem
79
lang, die Konsumausgaben systematisch zu Gunsten der Kriegsvorbereitung zu drosseln.55 Scherner schätzt auf Grundlage bisher ungenutzter Quellen die Investitionsaktivitäten im „Dritten Reich“ neu.56 Er kommt zu dem Ergebnis, dass die bisher herangezogenen Zeitreihen den Umfang aller industriellen Investitionen um etwa ein Viertel unterschätzen. außerdem stellt Scherner fest, dass die kriegsvorbereitenden Investitionen in die autarkie- und Rüstungskapazitäten bereits zwischen 1936 und 1939 einen anteil von etwa zwei Dritteln an allen industriellen Investitionen aufwiesen. Deshalb hält auch er es für angebracht, das „Dritte Reich“ bereits in den späten 1930er Jahren als „war-like peace economy“57 zu charakterisieren. Zusammenfassend erscheint es also tatsächlich gerechtfertigt, das nationalsozialistische Wirtschaftssystem schon seit 1934/36 primär als Kriegswirtschaft zu deuten. Vor diesem hintergrund verdeutlicht auch ein internationaler Vergleich58, dass ordnungspolitische Interventionen, die oftmals als besonders charakteristisch für das nationalsozialistische Wirtschaftssystem gedeutet werden, wohl eher durchaus übliche Maßnahmen moderner Kriegswirtschaften darstellen. Diese hypothese soll nun abschließend anhand von drei Beispielen begründet werden. Durch die androhung eines Strafrechtsverfahrens auf Grundlage eines eigentlich unhaltbaren Vorwurfs des landesverrats gelang es den nationalsozialisten, den Flugzeugbauer hugo Junkers in den Jahren 1933/34 dazu zu zwingen, seine aktienmehrheit an der Junkers Flugzeugwerke aG an den Staat abzutreten. lutz Budraß ist der auffassung, dass die schrittweise Enteignung von hugo Junkers ein Ereignis darstellt, „das an sich einen zentralen Stellenwert für die Beurteilung des Verhältnisses zwischen Staat und Wirtschaft im ‚Dritten Reich‘ einnehmen sollte“.59 In der tat kann dieser Fall als ein herausragender Beleg für die these von hayes und temin gedeutet werden, dass die nationalsozialisten nicht davor zurückschreckten, unbotmäßige Unternehmer notfalls durch Gewalt auszuschalten. Wichtigste kriegswirt55 Zur Wohlfahrt senkenden staatlichen lenkung des nahrungsmittelkonsums im „Dritten Reich“ vgl. maRK sPoeReR / jocheN stReB: Guns and Butter – but no Margarine: the Impact of nazi Economic Policies on German Food consumption, 1933–38, FZID Discussion Papers 23 (2010). 56 Vgl. joNas scheRNeR: nazi Germany’s Preparation for War: Evidence from Revised Industrial Investment Series, in: European Review of Economic history 14 (2010), S. 433–468. 57 Ebd., S. 443. Scherner wendet sich mit dem Begriff „Kriegswirtschaft im Frieden“ gegen die entgegen gesetzte Idee einer „Friedenswirtschaft im Krieg“. Vgl. anm. 52. 58 Einen Vergleich der makroökonomischen Entwicklung der kriegsführenden nationen bietet maRK haRRisoN (hg.): the Economies of World War II: Six Great Powers in International comparison, cambridge 1998. 59 Lutz BudRass: Flugzeugindustrie und luftrüstung in Deutschland 1918–1945, Düsseldorf 1998, S. 320.
80
Jochen Streb
schaftliche Erklärung für die Enteignung von hugo Junkers war, dass das Reichsluftfahrtministerium ihn nicht dafür geeignet hielt, die im so genannten aBc-Programm geplante kooperative arbeitsteilung60 zwischen den verschiedenen deutschen luftrüstungsunternehmen unter Führung der Junkers Flugzeugwerke zu organisieren, weil er sich bereits zuvor nur durch erheblichen Druck davon hatte überzeugen lassen, seine technologischen Kenntnisse mittels Patentübertragungen mit seinen Konkurrenten zu teilen.61 Ein Blick nach Großbritannien zeigt, dass die Enteignung von Flugzeugunternehmern gleichwohl kein alleinstellungsmerkmal des nationalistischen Wirtschaftssystems war. auch der britische Staat verstaatlichte in der zweiten hälfte des Zweiten Weltkrieges mit Short Brothers ltd. und Power Jets zwei privatwirtschaftliche luftrüstungsunternehmen. Im Fall des erstgenannten Unternehmens wurde diese Zwangsmaßnahme durch die geringe Effizienz der Produktion und somit letztendlich durch schlechte Managementleistung begründet. Der zweite Fall erinnert insoweit an die Verstaatlichung der Junkers Flugzeugwerke, als man es auch in Großbritannien einem Privatunternehmen nicht zutraute, ein mehrere selbständige Unternehmen umfassendes Entwicklungs- und Produktionsprogramm (hier im Bereich der Strahltriebwerkstechnologie) zu koordinieren.62 Im zweiten abschnitt wurde auf Grundlage der Untersuchung von Scherner beschrieben, wie im „Dritten Reich“ der forcierte aufbau der Rüstungskapazitäten seit 1936 am Widerstand der Privatunternehmen zu scheitern drohte, die umfangreiche Fehlinvestitionen in Überkapazitäten nach Möglichkeit zu vermeiden suchten. Die nationalsozialisten lösten dieses Problem durch die Errichtung staatlicher Rüstungsbetriebe (und die Bereitstellung reichseigener Maschinen), die vom Staat finanziert und von den Unternehmen als Pachtanlagen betrieben wurden. auch diese Vorgehensweise stellt keine nationalsozialistische Besonderheit dar. Um zusätzliche Produktionskapazitäten insbesondere für die luftrüstung vorzuhalten, etablierte man in Großbritannien ebenfalls bereits im Jahr 1936 das „Shadow Factory System“, das nach den gleichen Prinzipien wie die staatlichen Rüstungsbetriebe nazideutschlands aufgebaut war.63 Eine ähnliche Parallele findet sich zwischen Deutschland und den USa auf dem Gebiet der Kautschukproduktion.64 60 Zur Durchführung der späteren überbetrieblichen arbeitsteilung unter Führung der Junkers Flugzeugwerke vgl. auch L. BudRass / j. scheRNeR / j. stReB, contracts (wie anm. 21). 61 Vgl. L. BudRass, Flugzeugindustrie (wie anm. 59), S. 324. 62 Vgl. d. e. h. edgeRtoN: technical Innovation, Industrial capacity and Efficiency: Public Ownership and the British Military aircraft Industry, 1935–48, in: Business history 26 (1984), S. 247–279. 63 Ebd., S. 256–259. 64 Vgl zu den folgenden ausführungen jocheN stReB: technologiepolitik im Zweiten Weltkrieg. Die staatliche Förderung der Synthesekautschukproduktion im deutsch-amerikanischen Vergleich, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 50 (2002), S. 367–397;
Das nationalsozialistische Wirtschaftssystem
81
adolf hitler selbst hatte in seiner geheimen Denkschrift aus dem Jahr 1936 der industriellen Erzeugung eines qualitativ hinreichenden synthetischen Kautschuks besondere Bedeutung zugemessen. Wörtlich heißt es: „Es ist ebenso augenscheinlich die Massenfabrikation von synthetischem Gummi zu organisieren und sicherzustellen. Die Behauptung, dass die Verfahren vielleicht noch nicht gänzlich geklärt wären und ähnliche ausflüchte haben von jetzt ab zu schweigen. […] Es ist vor allem nicht die aufgabe staatlich-wirtschaftlicher Einrichtungen, sich den Kopf über Produktionsmethoden zu zerbrechen. […] Die Frage des Kostenpreises dieser Rohstoffe ist ebenfalls gänzlich belanglos, denn es ist immer noch besser, wir erzeugen in Deutschland teurere Reifen und können sie fahren.“65
Folgerichtig wurde im Rahmen eines im Sommer 1937 abgeschlossenen Risikoteilungsvertrags der aufbau der ersten deutschen Synthesekautschukfabrik in Schkopau nahe dem Synthesebenzinstandort leuna zu einer hälfte aus eigenen Mitteln der I.G. Farben und zur anderen hälfte durch ein zu fünf Prozent zu verzinsendes Reichsdarlehen finanziert. Dank Scherners analyse wissen wir bereits, dass die I.G. Farben durch ihre Bereitschaft, Eigenmittel für den Kapazitätsaufbau aufzuwenden, eine im Grundsatz positive Einschätzung der zukünftigen Marktchancen von Synthesekautschuk signalisierten.66 Die USa waren mit einem anteil von 53 Prozent am Weltkonsum des Jahres 1939 der mit abstand größte Verbraucher von naturkautschuk, welcher gemessen an seinem Einfuhrwert zugleich auch das wichtigste amerikanische Importgut war. Gleichwohl existierten am Vorabend des Zweiten Weltkriegs in den USa im Gegensatz zu Deutschland keine staatlichen Pläne, durch den aufbau einer einheimischen Synthesekautschukindustrie die aus militärischer Sicht gefährliche abhängigkeit von den naturkautschukimporten aus Südostasien zu reduzieren. tatsächlich schnitten der angriff auf Pearl harbor am 7. Dezember 1941 und die nachfolgende japanische Invasion des südostasiatischen Raums im Januar 1942 die USa überraschend und innerhalb von nur zwei Monaten weitgehend von den naturkautschukmärkten dieser Region ab. Erst diese Ereignisse bewogen die amerikanische Regierung, ähnlich wie die nationalsozialisten schon lange vor Kriegsausbruch, den aufbau einer importsubstituiejocheN stReB: can Politicians Speed Up long-term technological change? Some Insights from a comparison of the German and US-american Synthetic Rubber Programs Before, During and after World War II, in: Essays in Economic and Business history 21 (2005), S. 33–49. 65 WiLheLm tReue: hitlers Denkschrift zum Vierjahresplan 1936, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 3 (1955), S. 184–210, hier S. 208. 66 Die industrielle Großanlage in Schkopau (Werk Buna I) erreichte im Jahr 1939 mit 20.800 Jahrestonnen erstmalig eine den Begriff Massenfertigung rechtfertigende Größenordnung. Mit Werk Buna II in hüls bei Krefeld (Baubeginn 1938, Massenproduktion ab 1941), Werk Buna III in ludwigshafen/Oppau (Baubeginn 1940, Massenproduktion ab 1943) und Werk Buna IV in auschwitz (Baubeginn 1941, nicht fertig gestellt) wurden in den Folgejahren noch drei weitere I.G. Farben Werke zur Synthesekautschukproduktion errichtet.
82
Jochen Streb
renden einheimischen Synthesekautschukproduktion einzuleiten. Im Gegensatz zu den I.G. Farben waren die amerikanischen Unternehmen allerdings nicht bereit, eigene Mittel in den aufbau von Produktionskapazitäten für Synthesekautschuk zu investieren. Daher griff man auch in den USa auf das bereits in Deutschland und Großbritannien bewährte System der öffentlich finanzierten und privat betriebenen Fabriken zurück: In den so genannten „agreements of lease“ verpflichteten sich die amerikanischen Reifenhersteller, die insgesamt 15 geplanten Synthesekautschukfabriken so schnell wie möglich zu errichten und mit den notwendigen Maschinen auszustatten. Die staatliche Defense Plant corporation erwarb durch die vollständige Finanzierung dieses Kapazitätsaufbaus das Eigentum an den neuen Produktionsanlagen. Diese wurden den Privatunternehmen auf zunächst fünf Jahre für die symbolische Summe von einem Dollar je Jahr verpachtet.67 Die Errichtung staatlich finanzierter und von Privatunternehmen betriebener Unternehmern war offensichtlich ein international gebräuchliches Mittel der Investitionslenkung, um vor und während des Zweiten Weltkriegs einen schnellen und reibungslosen aufbau kriegsnotwendiger Kapazitäten herbeizuführen. Schließlich verdeutlicht der Blick auf die amerikanische (und britische) Kriegswirtschaft auch, dass die Einführung von Preiskontrollen und Bewirtschaftungsmaßnahmen nicht einer bestimmten Ideologie geschuldet war, sondern von der ökonomischen notwendigkeit diktiert wurde. So erließ beispielsweise auch die amerikanische Regierung im Zuge ihrer kriegswirtschaftlichen Umstrukturierung der amerikanischen Volkswirtschaft im april 1942 einen allgemeinen Preisstopp, beschränkte die Produktion langlebiger Konsumgüter wie Maschinen oder Elektrogeräte und verteilte Rohstoffe wie Stahl, aluminium oder Kautschuk vorrangig an die Produzenten von Rüstungsgütern.68 Die „Deformation des Wachstums“ zu lasten von Konsumgüterindustrie und Konsumenten fand also auch in den USa statt, allerdings nicht wie im „Dritten Reich“ schon Jahre vor Kriegsausbruch, sondern erst während des Zweiten Weltkriegs. Zusammenfassend bestätigen schon diese wenigen Beispiele die von Overy, aber auch Buchheim und Scherner vertretene auffassung, dass das nationalsozialistische Wirtschaftssystem große Ähnlichkeiten zu den Kriegswirtschaften der alliierten aufwies. Wesentliche Unterschiede ergeben sich erst, wenn man die nur teilweise wirtschaftlich motivierten Verbrechen der nationalsozialisten wie Gewaltandrohungen an unbotmäßige Unternehmer, 67 Vgl. j. stReB, technologiepolitik (wie anm. 64), S. 386. 68 Vgl. josePh cuLLeN / PRice fishBacK: Did Big Government’s largesse help the locals? the Implications of WWII Spending for local Economic activity, 1939–1958, nBER Working Paper W12801 (2006); geofRey miLLs / hugh RocKoff: compliance with Price controls in the United States and the United Kingdom During World War II, in: Journal of Economic history 47 (1987), S. 197–213.
Das nationalsozialistische Wirtschaftssystem
83
„arisierung“, Zwangsarbeiterbeschäftigung oder holocaust in den internationalen Vergleich mit einbezieht. 4. Zusammenfassung Da die nationalsozialisten vor der Machtübernahme kein umfassendes und konsistentes Konzept für ein, wie auch immer geartetes, genuin nationalsozialistisches Wirtschaftssystem erarbeitet hatten, stützen sich die verschiedenen charakterisierungen dieser Wirtschaftsordnung auf die analyse und Bewertung der in der nur sechsjährigen Friedensphase getroffenen ordnungspolitischen Maßnahmen. angesichts des nebeneinanders von marktwirtschaftlichen und planwirtschaftlichen Ordnungsmerkmalen ist die these, dass es sich beim nationalsozialistischen Wirtschaftssystem um eine Form des indirekten Sozialismus gehandelt habe, nur haltbar, wenn man sich auf das spekulative Gedankenexperiment einlässt sich vorzustellen, dass das „Dritte Reich“ nach gewonnenem Krieg eine ähnliche Entwicklung wie die Sowjetunion genommen hätte. hier wurde im Gegensatz zu dieser Spekulation die auffassung vertreten, dass das nationalsozialistische Wirtschaftssystem einer Marktwirtschaft im vorgezogenen kriegswirtschaftlichen ausnahmezustand entsprach. Die seit 1934/36 ergriffenen Preisstopps und Bewirtschaftungsmaßnahmen widersprechen zwar im Grundsatz der marktwirtschaftlichen Konzeption, finden sich jedoch in ähnlicher Weise (und jeweils nur übergangsweise) auch in den Kriegswirtschaften der alliierten, die ebenso wie die nationalsozialisten zur Intensivierung ihrer Rüstungsproduktion den privaten Konsum zurückdrängen mussten. Wir werden niemals wissen, ob hitler nach einem gewonnen Krieg tatsächlich zu einer Marktwirtschaft mit geringerer lenkungsintensität zurückgekehrt wäre, in der die Erfüllung der Wünsche der Konsumenten wieder den eigentlichen Zweck des Wirtschaftssystems dargestellt hätte. Was wir jedoch aus der westdeutschen nachkriegsgeschichte wissen, ist, dass die tatsächlich erfolgte Re-transformation des Wirtschaftssystems im Zuge der Einführung der Sozialen Marktwirtschaft unter ludwig Erhard ohne langanhaltende Verwerfungen gelang. Offensichtlich hatten im „Dritten Reich“ wesentliche Kernelemente einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung überlebt, die in der frühen Bundesrepublik nach Währungsreform, Preisfreigabe und aufhebung der Bewirtschaftungsmaßnahmen schnell wieder aktiviert werden konnten.69
69 Zur institutionellen Kontinuität zwischen „Drittem Reich“ und Bundesrepublik Deutschland vgl. aLBRecht RitschL: Der späte Fluch des Dritten Reichs: Pfadabhängigkeiten in der Entstehung der bundesdeutschen Wirtschaftsordnung, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik 6 (2005), S. 151–170.
WIRtSchaFtSPOlItISchE ORDnUnGSVORStEllUnGEn IM DEUtSchEn WIDERStanD GEGEn DaS „DRIttE REIch“ Michael Kißener als der hitlerattentäter Johann Georg Elser am 21. november 1939 von der Geheimen Staatspolizei nach den Motiven für seinen anschlagsversuch auf adolf hitler gefragt wurde, gab er an, dass neben der Furcht vor einem neuen grausamen Krieg, in den hitler die nation stürze, es die lage der arbeiterschaft sei, die ihn dazu gebracht habe, den Versuch zu unternehmen, den „Führer“ des Deutschen Reiches zu ermorden. Seiner ansicht nach hatten sich „die Verhältnisse in der arbeiterschaft nach der nationalen Revolution in verschiedener hinsicht verschlechtert. So z. B. habe ich festgestellt, dass die löhne niedriger und die abzüge höher wurden.“ außerdem, meinte Elser, „steht die arbeiterschaft nach meiner ansicht seit der nationalen Revolution unter einem gewissen Zwang. Der arbeiter kann z. B. seinen arbeitsplatz nicht mehr wechseln wie er will, er ist heute durch die hJ nicht mehr herr seiner Kinder und auch in religiöser hinsicht kann er sich nicht mehr so frei betätigen.“
Deswegen, so diagnostizierte Elser, gebe es in der „arbeiterschaft gegen die Regierung ‚eine Wut‘“, die er für sich eben in den attentatsplan gewendet habe.1 Einer der Protagonisten der 1942 aufgedeckten Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“, arvid harnack, hatte bereits 1931 in Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise eine arbeitsgruppe mit dem namen aRPlan gegründet, in der wirtschaftspolitische Fragestellungen diskutiert wurden. Die hier entwickelten anschauungen über einen neuen auf sozialen ausgleich zielenden, planwirtschaftlich organisierten deutschen nationalstaat, der zwischen Ost und West vermitteln sollte, spielten für die politischen Ordnungsvorstellungen der dann wesentlich erweiterten, heterogenen Widerstandsgruppe eine Rolle, die unter anderem mit Flugblattaktionen und anschlägen gegen das Regime vorgehen wollte, sich mit dem kommunistischen Widerstand verbündete und schließlich auch Kontakte zum sowjetischen Geheimdienst aufbaute.2 1 2
PeteR steiNBach / johaNNes tucheL: Georg Elser, Berlin 2008, Dokumentenanhang S. 192f. haNs coPPi / jüRgeN daNyeL / johaNNes tucheL (hg.): Die Rote Kapelle im Widerstand gegen den nationalsozialismus, Berlin 1994, vgl. in diesem Band bes. den aufsatz von jüRgeN daNyeL: Die Rote Kapelle innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung, S. 12–38, hier S. 26–29.
86
Michael Kißener
Und auch als 1942/43 Münchner Studenten um hans Scholl und alexander Schmorell daran gingen, unter dem namen „Weiße Rose“ Flugblätter zu verbreiten, in denen zum passiven Widerstand, schließlich zum Sturz des Regimes aufgerufen wurde, fehlte es nicht an wirtschaftspolitischen Perspektiven und argumenten. Schon im dritten Flugblatt wurde zur „Sabotage in Rüstungs- und kriegswichtigen Betrieben“ aufgerufen und der Regierung vorgeworfen, eine unverantwortliche Geldpolitik zu betreiben, indem sie „jede beliebige Menge von Papiergeld“ herstelle, um den Krieg zu finanzieren. Es sei das Ziel hitlers, die Menschen unter anderem auch wirtschaftlich zu versklaven. am Ende des fünften Flugblattes skizzierte die Gruppe ihre Zukunftsvorstellungen: „Das kommende Deutschland kann nur föderalistisch sein. nur eine gesunde föderalistische Staatsordnung vermag heute noch das geschwächte Europa mit neuem leben zu erfüllen. Die arbeiterschaft muss durch einen vernünftigen Sozialismus aus ihrem Zustand niedrigster Sklaverei befreit werden. Das truggebilde der autarken Wirtschaft muss in Europa verschwinden. Jedes Volk, jeder Einzelne hat ein Recht auf die Güter der Welt!“3
Schon diese wenigen, prominenten Beispiele zeigen: Der deutsche Widerstand gegen den nationalsozialismus hat seine Motivation nicht zuletzt auch aus der ablehnung der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik geschöpft und eine neue wirtschaftspolitische ausrichtung in seine Planungen für eine Zukunft nach hitler einbezogen. Dabei sind, auch das zeigen die genannten Beispiele, zwar in aller Regel keine regelrechten wirtschaftspolitischen Ordnungsmodelle entstanden, immerhin aber antithesen zu den bestehenden, als krisenhaft empfundenen Zuständen formuliert worden. Im Umfeld des Widerstandes vom 20. Juli 1944 allerdings haben sich die Vorstellungen zu einem komplexeren wirtschaftspolitischen Ordnungsdenken verdichtet, dessen Ursprünge in den sogenannten Freiburger Kreisen zu suchen sind. Daher soll im Folgenden zunächst von wirtschaftspolitischen Diskussionen die Rede sein, die in den 1940er Jahren in den „Freiburger Kreisen“ stattfanden. Diese Diskussionen strahlten in verschiedene Gruppen des Widerstandes vom 20. Juli 1944, vor allem in den sogenannten Kreisauer Kreis, dessen Bedeutung für die wirtschaftspolitischen Ordnungsvorstellungen des deutschen Widerstandes vor allem darin liegt, dass hier über Parteigegensätze hinweg auch wirtschaftspolitische Kompromissformeln gefunden werden mussten. Schließlich soll anhand eines Vergleichs mit den wirtschaftspolitischen Vorstellungen der französischen Résistance die Bedeutung des im deutschen Widerstand entwickelten aufbruchs eruiert werden.
3
RudoLf LiLL (hg.): hochverrat? neue Forschungen zur „Weißen Rose“ (Portraits des Widerstands 1), Konstanz 1999, Dokumente S. 200f, 206.
Wirtschaftspolitische Ordnungsvorstellungen im deutschen Widerstand
87
I. Wer immer das wirtschaftspolitische Denken des deutschen Widerstandes um den 20. Juli 1944 in den Blick nehmen möchte, wird unweigerlich auf die „Freiburger Kreise“ von Professoren, vornehmlich der nationalökonomie, verwiesen, denen gemeinhin das Verdienst zugesprochen wird, die soziale Marktwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland im Widerstand vorausgedacht und geplant zu haben.4 Das ist, wie Daniela Rüther in ihrer umfassen4
Die Freiburger Kreise werden in jüngster Zeit wieder vermehrt im In- wie im ausland von der Forschung wahrgenommen: detLef j. BLesgeN: constantin von Dietze (1891– 1973) – agrarpolitiker aus Freiburg, in: güNteR BuchstaB / BRigitte Kaff / haNs-otto KLeiNmaNN (hg.): christliche Demokraten gegen hitler. aus Verfolgung und Widerstand zur Union, Freiburg i. Br. u. a. 2004, S. 123–130; PatRicia commuN: Fondements religieux d’un renouverau de la pesée économique. les économistes de Fribourg et la résistance protestante (1933–1945), in: emmaNueL Béhague (hg.): Une germanistique sans rivages. Mélanges en l’honneur de Frédéric hartweg, Strasbourg 2008, S. 347– 356; uWe dathe: „Zu sehr hatte ich mich auf die Begenung mit dem großen Denker gefreut“. Walter Euckens Weg zu Edmund husserl, in: haNs-heLmuth gaNdeR / NiLs goLdschmidt / uWe dathe (hg.): Phänomenologie und die Ordnung der Wirtschaft. Edmund husserl – Rolf Eucken – Walter Eucken – Michel Foucault (Studien zur Phänomenologie und Praktischen Philosophie 13), Würzburg 2009, S. 19–27; chRistiaN LudWig gLossNeR: the Making of the German Post-War-Economy. Political communication and Public Reception of the Social Market Economy after World War II (International library of twentieth century history 25), london u. a. 2010; NiLs goLdschmidt (hg.): Freiburger Schule und christliche Gesellschaftslehre. Joseph Kardinal höffner und die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Untersuchungen zur Ordnungstheorie und Ordnungspolitik 59), tübingen 2010; deRs.: Wirtschaft, Politik und Freiheit. Freiburger Wirtschaftswissenschaftler und der Widerstand, tübingen 2005; deRs. / michaeL WohLgemuth (hg.): Grundtexte zur Freiburger tradition der Ordnungsökonomik (Untersuchungen zur Ordnungstheorie und Ordnungspolitik 50), tübingen 2008; deRs.: Der Freiburger universitäre Widerstand und die studentische Widerstandsgruppe KaKaDU, in: joachim schoLtysecK / chRistoPh studt (hg.): Universitäten und Studenten im Dritten Reich. Bejahung, anpassung, Widerstand. XIX. Königswinterer tagung vom 17.-19. Februar 2006 (Schriftenreihe der Forschungsgemeinschaft 20. Juli 1944 e. V. 9), Münster 2008, S. 143–157; deRs.: Die Geburt der Sozialen Marktwirtschaft aus dem Geiste der Religion. Walter Eucken und das soziale anliegen des neoliberalismus, in: michaeL stefaN assLäNdeR (hg.): 60 Jahre Soziale Marktwirtschaft. Illusionen und Reinterpretationen einer ordnungspolitischen Integrationsformel, Bern u. a. 2009, S. 27–44; deRs. / heRmaNN schuhmacheR: nur ein weiterer Erbe Schmollers oder der erste Ordoliberale? anmerkungen zu einem ‚missing link‘ zwischen der historischen und der Freiburger Schule, in: jüRgeN g. BacKhaus (hg.): historische Schulen, Münster 2005, S. 53–93; deRs.: Verfolgung und Widerstand. Die Freiburger Kreise, in: dieteR meRteNs (hg.): 550 Jahre albert-ludwigs-Universität Freiburg. Festschrift, Bd. 3, Freiburg i. Br./ München 2007, S. 503–519; hauKe jaNsseN: nationalökonomie und nationalsozialismus. Die deutsche Wirtschaftslehre in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, Marburg 32009; michaeL KLeiN: Westdeutscher Protestantismus und politische Parteien. anti-Parteien-Mentalität und parteipolitisches Engagement von 1945–1963 (Beiträge zur historischen theologie 129), tübingen 2005, bes. Kap. 6.4; ViKtoR j. VaNBeRg:
88
Michael Kißener
den Studie „Der Widerstand des 20. Juli auf dem Weg in die Soziale Marktwirtschaft“ dargelegt hat, nicht ganz falsch, aber in dieser Verkürzung auch nicht ganz richtig.5 Die wirtschaftspolitischen Vorstellungen des Freiburger nationalökonomen Walter Eucken, des Finanzwissenschaftlers adolf lampe und des Juristen Franz Böhm wie auch die des agrarökonomen constantin von Dietze – um nur diese pars pro toto für ein noch weiter gespanntes Gesprächsnetz zu nennen – resultierten ursprünglich nicht aus einem affekt gegen etwaige Entartungen der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik,6 sondern vielmehr aus der herausforderung, vor die die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre die Wirtschaftswissenschaftler gestellt hatte.7 Das kapitalistische Wirtschaftssystem und der scheinbar schrankenlose Wirtschaftsliberalismus hatten sich in den augen vieler seit dem berühmten „Schwarzen Freitag“ diskreditiert, auf der anderen Seite empfahl sich die kommunistische Planwirtschaft wie sie in der UdSSR betrieben wurde und gewann interessierte Zuhörer. Man kann diese Situation durchaus im Sinne hansjörg Siegenthalers als Verlust von „Regelvertrauen“ interpretieren und die hier wie dann im Widerstand entstandenen Modelle als Versuch werten, ein solches Regelvertrauen wiederherzustellen.8 Dem entspricht auch ein starkes volkspädagogisches Element in den Planungen, auf das noch zurückzukommen sein wird. In dieser Situation entstand die Idee eines „dritten Weges“, einer gleichsam gezügelten kapitalistischen Wirtschaft, die in den Freiburger Professorenkreisen auf den Begriff „leistungswettbewerbstheorie“ gebracht wurde – so jedenfalls interpretiert Rüther die Schriften der Ökonomen, wobei jedoch
5
6 7 8
l’école de Fribourg. Walter Eucken et l’ordoliberalisme, in: PhiLiPPe Nemo (hg.): histoire du libéralisme en Europa, Paris 2006, S. 911–936; coRNeLia WeBeR: Der Freiburger Kreis und die ‚Judenfrage‘, in: Unterdrückung, anpassung, Bekenntnis. Die Evangelische Kirche in Baden im Dritten Reich und in der nachkriegszeit (Veröffentlichungen des Vereins für Kirchengeschichte in der Evangelischen landeskirche in Baden 63), Karlsruhe 2009, S. 83–103. daNieLa RütheR: Der Widerstand des 20. Juli auf dem Weg in die Soziale Marktwirtschaft. Die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der bürgerlichen Opposition gegen hitler, Paderborn u. a. 2002. Rüther kommt das Verdienst einer umfassenden und kontextualisierten Untersuchung des themas zu, freilich sind weit zuvor schon wichtige teile des Denkens der Freiburger Schule analysiert worden. Zu den frühen arbeiten gehört chRistiNa BLumeNBeRg-LamPe: Das wirtschaftspolitische Programm der „Freiburger Kreise“. Entwurf einer freiheitlich-sozialen nachkriegswirtschaft. nationalökonomen gegen den nationalsozialismus (Volkswirtschaftliche Schriften 208), Berlin 1973. Vgl. dazu iVaN t. BeReNd: Markt und Wirtschaft. Ökonomische Ordnungen und wirtschaftliche Entwicklung im Europa seit dem 18. Jahrhundert, Göttingen 2007, bes. S. 74–76, 94, 97ff, 112. D. RütheR, Widerstand (wie anm. 5), S. 37ff. haNsjöRg siegeNthaLeR: Regelvertrauen, Prosperität und Krisen. Die Ungleichmäßigkeit wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung als Ergebnis individuellen handelns und sozialen lernens, tübingen 1993, S. 149f.
Wirtschaftspolitische Ordnungsvorstellungen im deutschen Widerstand
89
umstritten ist, ob es sich dabei wirklich um einen „dritten Weg“ handelte und ebenso, ob der Begriff „leistungswettbewerb“ die theorie angemessen erfasst. andere halten zum Beispiel den Begriff des „neoliberalismus“ oder der „Verkehrswirtschaft“ für treffender – und erkennen dann auch wenig bis gar keine Beeinflussung der späteren sozialen Marktwirtschaft durch die im Widerstand in Freiburg entstandenen Konzepte.9 Diese auffassungsunterschiede über herkunft, Inhalte und Folgen der „leistungswettbewerbstheorie“, rührten nicht zuletzt daher, dass diese nicht frei von Widersprüchen und Inkonsistenzen sowie von begrifflichen Unschärfen war. Sie fand bei ihren verschiedenen Vertretern spezifische ausprägungen und wurde in den Diskussionen der 1930er und 1940er Jahre mehrfach modifiziert. Immerhin aber lassen sich einige ihrer Merkmale definieren, die zugleich als ein Reflex auf die scheinbar aus dem Ruder gelaufene, liberal organisierte Wirtschaftsstruktur zu verstehen sind. Zunächst und vor allem geht die theorie von einem starken Staat aus, der der „freien kapitalistischen Volkswirtschaft“ (Eucken) zwar ihre Freiheit lässt, aber eben doch Eingriffsrechte besitzt, wenn, durch wen auch immer, das freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte behindert oder das Gemeinwohl geschädigt wird. Dieser Eingriff sollte dann so erfolgen, als ob ein regulärer Wettbewerb stattfände (F. Böhm). Die der theorie zugrunde liegende sozialharmonische Gesellschaftsvorstellung mit einer klaren Orientierung auf den Mittelstand wandte sich deutlich gegen die Rolle von hier negativ konnotierten „Interessentenkreisen“, die aus Eigensucht die wirtschaftlichen Prozesse ausbeuten wollten. Solche „Interessenten“ waren etwa nach der Vorstellung Walter Euckens schrankenlos agierende profitgierige Individuen gleichermaßen wie Interessenverbände der Industrie, etwa in Form von Monopolen, Konzernen oder trusts, die vornehmlich für die ökonomische Krise der 30er Jahre verantwortlich gemacht wurden. hinter dieser Vorstellung stand eine kulturkritisch getragene Skepsis gegenüber der „Vermassung“ der Gesellschaft, die durch ziemlich negativ konnotierte demokratische Regierungsformen vorangetrieben werde und so die Bildung von solch schädlichen Interessentenkreisen fördere.10 Demgegenüber setzte die „leistungswettbewerbstheorie“ auf die Überwindung des Masseneinflusses durch Schaffung von „Gefolgschaften“, wobei die daraus folgenden sozialpolitischen Implikationen zumeist nur wenig Beachtung fanden. Im Zentrum der Freiburger theorien steht die Vorstellung von einem gleichsam sportlichen Wettbewerb der anbieter auf dem Markt um das beste Produkt mit dem besten Preis. Die Siegestrophäe stellt dabei der Kauf durch den Kunden dar. Der Markterfolg führt zu einer hierarchisierung der Gesellschaft nach leistung – eine Konsequenz, die dem elitären Denken der Profes9
Siehe beispielhaft fRitz RittNeR: Der „leistungswettbewerb“ als wirtschaftspolitisches Programm, in: Zeitschrift für Wettbewerbsrecht 2 (2004), S. 305–322. 10 D. RütheR, Widerstand (wie anm. 5), S. 22–37.
90
Michael Kißener
soren durchaus entsprach und dem Faktor Wirtschaftskompetenz zu einer besonderen Bedeutung verhalf. leistungskonkurrenz ist mehr oder minder jeder kapitalistischen Wirtschaftstheorie inhärent, sie wurde nunmehr aber im Zeichen der Krise zum zentralen Punkt wirtschaftlichen handelns gemacht, gleichsam ethisiert.11 Diesem Denken und der damit verbundenen Vorstellung von einem freien Welthandel war die nationalsozialistische autarkiepolitik völlig entgegengesetzt. auch die auf Überschuldung fußende hochrüstung des nationalsozialismus, die durch Kriegsgewinne gedeckt werden sollte, widersprach der volkswirtschaftlichen Idee der Freiburger. Offenbart sich in solchen auffassungsunterschieden schon ein Dissens zum Regime, so erhielt dieser aber wohl erst durch die weitere Einbindung der Freiburger Ökonomen in regimekritische Gesprächskreise von Freiburger evangelischen Bekenntnischristen, wie dem sogenannten Freiburger Konzil, eine weitere antinationalsozialistische Stoßrichtung. Ohne den hintergrund dieses seit Dezember 1938 konstituierten bekenntnischristlich ausgerichteten Gesprächskreises des „Konzils“, dem unter anderem auch der historiker Gerhard Ritter, der Jurist Freiherr Marschall von Bieberstein und deren Ehefrauen angehörten, lässt sich das Denken der Freiburger Professoren schwerlich richtig einordnen. Dies gilt auch mit Blick auf das wirtschaftspolitische Programm, für das sicherlich entscheidend war, dass die Professoren ihre anschauungen und theorien in ausschüssen des Reichswirtschaftsministeriums12 und insbesondere in der akademie für Deutsches Recht13 diskutieren und weiterentwickeln konnten. Denn dabei kamen sie in engen Kontakt mit anderen Juristen und Ökonomen, die sich zum teil schon Kreisen des sich formierenden Widerstandes angeschlossen hatten: So unter anderem mit Mitarbeitern aus der Behörde des Reichspreiskommissars carl Friedrich Goerdeler, der ohnehin regimekritisch eingestellte Wirtschaftsfachleute an sich gezogen hatte. auf diesem Weg gelangten diese volkswirtschaftlichen Vorstellungen in das Denken von immer mehr regimekritisch eingestellten Kreisen und umgekehrt konnten sich die Freiburger Professoren ihrer Deutung der ökonomischen und politischen lage selbst vergewissern. Doch es sollte nicht bei den genannten Diskussions- und Gesprächszusammenhängen bleiben, vielmehr verzweigte sich in den 1940er Jahren das 11 Dass die „leistungswettbewerbstheorie“ mit verschiedenen politischen Systemen kombinierbar gewesen sei und die Freiburger Professoren auch dem nationalsozialismus damit hätten dienen wollen, wie Rüther insinuiert, ist heftig umstritten. Siehe etwa die Kritik von heLge PeuKeRt: Die wirtschafts- und sozialpolitischen Zielsetzungen des Freiburger Kreises, in: N. goLdschmidt (hg.), Wirtschaft (wie anm. 4), S. 267–287, hier S. 271, der allerdings auch die Unentschiedenheit bzw. Widersprüchlichkeit der Euckenschen thesenbildung anmerkt. 12 D. RütheR, Widerstand (wie anm. 5), S. 102–115, 117. 13 Ebd., S. 122, 133.
Wirtschaftspolitische Ordnungsvorstellungen im deutschen Widerstand
91
netz von Kontakten und Begegnungen weiter, wobei wechselnde, teils überlappende Personenkonstellationen und themenschwerpunkte zu beachten sind und sich auch Fernwirkungen und Beeinflussungen über den Kreis von Dietze, lampe, Eucken und Böhm hinaus einstellten. Mit Blick auf die Entwicklung des wirtschaftspolitischen „Programms“ und dessen Rezeption im Widerstand des 20. Juli erscheinen insbesondere drei Gesprächszusammenhänge interessant: Sehr akademisch und in der Programmatik radikal diskutierte man die Wirtschaftsordnung für eine Zeit nach hitler in der arbeitsgemeinschaft des Bonner Ökonomen Erwin von Beckerath, in der ganz einfach eine arbeitsgruppe der akademie für Deutsches Recht weitergeführt wurde, die 1943 aufgelöst worden war und die sich 1943/44 insgesamt acht Mal in Freiburg traf. Ihr gehörten unter anderem auch Dietze, Böhm und lampe an. Die Vorstellungen dieser Gruppe basierten auf einer völligen ablehnung des nationalsozialistischen Wirtschaftssystems, für das man nicht einmal einen treffenden namen finden konnte: Die gängigen termini „Befehlswirtschaft“ oder „zentrale Verwaltungswirtschaft“ hielt man für ungenügend. Der ausgangspunkt aller Überlegungen war die mit Gewissheit erwartete große wirtschaftliche not nach dem Ende des Regimes. Schon in dieser Zeit, so meinte man, sei alles zu tun, um „den abbau der Zwangswirtschaft“ und den „aufbau einer auf echtem leistungswettbewerb beruhenden Markwirtschaft“ zu ermöglichen. Der Staat sollte dabei regulierend eingreifen, Monopolbildungen verhindern und vor allem Rechtssicherheit garantieren. hoffnung auf Gesundung der Wirtschaft sah man nur, wenn eine „gesunde Gesellschaftsstruktur“ geschaffen werde und dabei den Gefahren der „Vermassung“ der Gesellschaft begegnet werde, unter anderem durch ein Verbot von Reklame. Damit sich die Kräfte des Marktes möglichst schnell frei entfalten und damit eine für alle angestrebte Besserung der wirtschaftlichen lage eintrete, wurde sogar an Einschränkungen der arbeitnehmerrechte gedacht, an lohnsenkungen und die abschaffung von tarifverträgen. Einige sahen sogar die abschaffung der Gewerkschaften als zielführend an. Damit solche Maßnahmen, die auf einer streng wirtschaftswissenschaftlichen Betrachtung der Verhältnisse ohne sonderliche Berücksichtigung politischer Rahmenbedingungen beruhten, auch in der Breite der Bevölkerung akzeptiert würden, setzte man auf wirtschaftspolitische Schulung und aufklärung, die man für die Durchsetzung einer solchen Ordnung für unerlässlich hielt.14 Während man solchermaßen in diesen Kreisen diskutierte und im „Freiburger Konzil“ sich weiterhin Gedanken über Maßnahmen gegen die christentumsfeindliche Politik des nationalsozialismus machte, war im Spätsommer 1942 bereits der Berliner Bekenntnispfarrer Dietrich Bonhoeffer im auftrag der „Vorläufigen leitung der Bekennenden Kirche“ auf die Freiburger 14 D. RütheR, Widerstand (wie anm. 5), S. 159–189.
92
Michael Kißener
Professoren zugekommen und hatte gebeten, eine Programmschrift über eine zukünftige Politik, die auf christlichen Grundsätzen beruhen sollte, auszuarbeiten. Diese Programmschrift sollte einer nach dem Krieg einzuberufenden Weltkirchenkonferenz zugeleitet werden, aber auch den alliierten einen Einblick in das Denken protestantischer Bekenntnischristen ermöglichen. Integraler Bestandteil dieser Denkschrift sollte eine wirtschaftspolitische Standortbestimmung sein. Beteiligt waren an dieser arbeit neben den Freiburger Ökonomen der historiker Gerhard Ritter, carl Goerdeler, der Generalsuperintendent der Kurmark Otto Dibelius, der Unternehmer Walter Bauer und der theologe helmut thielicke, später auch die theologen hans asmussen und hans Böhm sowie der Jurist Justus Perels. In die hier erarbeitete Schrift „Politische Gemeinschaftsordnung. Ein Versuch zur Selbstbesinnung des christlichen Gewissens in den politischen nöten unserer Zeit“ wurde als anlage 4 ein von Dietze, Eucken und lampe formulierter text zur „Wirtschafts- und Sozialordnung“ aufgenommen. Darin wurde vor dem hintergrund eines klaren Bekenntnisses zum Privateigentum ein Weg zwischen den Extremen des ungezügelten Wettbewerbs einerseits wie der Planwirtschaft andererseits in der Form der Wettbewerbswirtschaft formuliert, wobei einem „starken Staat“ ordnende, Regeln setzende Eingriffsrechte zugestanden wurden. Überhaupt wurden durchaus auch wettbewerbsfremde Elemente in diese Überlegungen aufgenommen, was mit der christlichen, auf das Gemeinwohl ausgerichteten Grundstimmung der Schrift zusammenhängen mag, die freilich in der Forschung umstritten ist.15 Grundsätzlich aber sollte ein freies wirtschaftliches handeln in einer freien Marktwirtschaft und bei freier Preisgestaltung aus der erwarteten not der nachkriegszeit herausführen. Machtkonzentrationen, die der Entwicklung eines gesunden Mittelstandes schaden würden, sollten unbedingt vermieden werden. Wichtig war den Ökonomen die Sicherung einer soliden staatlichen Finanzpolitik, deren erste aufgabe der Schuldenabbau nach dem Krieg sein sollte. In sozialpolitischer hinsicht dachte man wiederum an „echte Gemeinschaften“, statt Interessenvertretungen. Grundlage für alles war die Etablierung eines Rechtsstaates.16 Dies war auch eines der zentralen anliegen des ehemaligen Reichspreiskommissars carl Friedrich Goerdeler, der zum vielleicht aktivsten, zivilen arm der Verschwörung des 20. Juli 1944 wurde. Er hatte die Diskussionspapiere des arbeitskreises von Beckeraths erhalten und die Freiburger Professoren um Zuarbeit für eine „Wirtschaftsfibel“ gebeten, die er selbst publizieren 15 Siehe hier beispielsweise D. RütheR, Widerstand (wie anm. 5), S. 258 und im Gegensatz dazu NiLs goLdschmidt: Verfolgung und Widerstand, in: haus deR geschichte BadeN-WüRttemBeRg iN VeRBiNduNg mit deR LaNdeshauPtstadt stuttgaRt (hg.): „Ich habe es getan“. aspekte des Widerstands aus heutiger Sicht (Stuttgarter Symposion 14), leinfelden-Echterdingen 2011, S. 130–154, hier S. 142. 16 Siehe hierzu vergleichend D. RütheR, Widerstand (wie anm. 5), S. 200–269 und n. goLdschmidt, Verfolgung (wie anm. 15), S. 142–144.
Wirtschaftspolitische Ordnungsvorstellungen im deutschen Widerstand
93
wollte. auch Goerdeler ging es nämlich um eine volkswirtschaftliche Schulung breiter Bevölkerungskreise, die er für das Funktionieren einer freien Wirtschaft für unerlässlich hielt. Zwar griff Goerdeler die anregungen aus Freiburg letztlich kaum auf, doch immerhin fand auf diesem Weg ein weiteres Mal die volkswirtschaftliche Idee der Freiburger Eingang in die wirtschaftspolitischen Überlegungen des deutschen Widerstandes. Denn auch die Wirtschaftsfibel Goerdelers propagierte bei scharfer Zurückweisung der nationalsozialistischen Zwangswirtschaft und der dadurch verursachten Rohstoffknappheit sowie der Überschuldungspolitik, einen anderen Weg zwischen zügellosem Kapitalismus und Planwirtschaft. Sie begründete dies aber weniger aus theoretischen volkswirtschaftlichen Überlegungen, sondern vielmehr aus der Wirtschaftspraxis. Dabei ging Goerdeler von unabänderlichen naturgesetzen der Wirtschaft aus, die man im harten Existenzkampf des Menschen kennen müsse, um sich volkswirtschaftlich richtig zu verhalten. Zu diesen zählte er auch die völlige ablehnung des staatlichen „Deficit Spending“ (Keynes), das gleichsam als absoluter Irrweg gebrandmarkt wurde. Staatliche Eingriffe in die am besten frei und weltweit ungehemmt agierende Wirtschaft lehnte Goerdeler weitestgehend ab. Eben deshalb sah Goerdeler den Staat nur in minimaler Weise zuständig für die Sozialpolitik. Diese war in seinen Vorstellungen den Gewerkschaften zu übertragen, die damit in eine neue Rolle im Wirtschaftsleben geraten sollten. Denn die vom nationalsozialismus durch die treuhänder der arbeit und die DaF angestrebte aufhebung des Gegensatzes von arbeitgeber und arbeitnehmer sah er als ein durchaus brauchbares, weiterzuentwickelndes Modell an. Vor allem sei dem freien Spiel der Kräfte des Marktes Raum zu lassen und dabei in notzeiten auch unentgeltliche arbeitsleistung hinzunehmen. Um in solchen Zeiten die Versorgung der arbeiter sicherzustellen, wurde die Förderung von noterwerbslandwirtschaften empfohlen – ein Punkt, der für die Bewältigung der ökonomischen Krise der Weimarer Republik im deutschen Südwesten nicht ganz unwesentlich gewesen war.17 II. Während in dem von ökonomischem Sachverstand geprägten arbeitskreis Erwin von Beckeraths, im Freiburger Bonhoeffer-Kreis oder bei dem ehemaligen Reichspreiskommissar Goerdeler die in Freiburg vertretene Idee des „leistungswettbewerbs“ in ziemlich elaborierte Konzepte eingebaut wurde, wurde sie in dem politisch wie sozial sehr heterogen zusammengesetzten Kreisauer Kreis von helmuth James Graf von Moltke im Rahmen von größe17 D. RütheR, Widerstand (wie anm. 5), S. 315–371. Zur Rolle der nebenerwerbslandwirtschaft siehe thomas schNaBeL: Württemberg zwischen Weimar und Bonn 1928 bis 1945/46 (Schriften zur politischen landeskunde Württembergs 13), Stuttgart 1986.
94
Michael Kißener
ren politischen neuordnungsentwürfen diskutiert.18 Seit 1942 traf sich dieser im Kern etwa zwanzig Personen umfassende Gesprächskreis auf Moltkes schlesischem Gutsbesitz Kreisau, teils auch zum Schutz der Mitglieder in wechselnden Zusammensetzungen andernorts, um ebenfalls politische Zukunftsvorstellungen für die Zeit nach hitler zu diskutieren, wobei hier die durch das hitlerregime hervorgerufene, unvergleichliche politische, moralische, aber auch ökonomische Katastrophe bemerkenswert hellsichtig erkannt wurde. Vor allem mussten aber hier Kompromisse gefunden werden, im Gespräch etwa mit ehemaligen sozialdemokratischen Politikern wie Julius leber und carlo Mierendorff, mit einem katholischen Sozialethiker wie alfred Delp oder auch fortschrittlich-sozial denkenden konservativen Juristen wie Peter Graf Yorck von Wartenburg, über den wesentlich die Kenntnis der Freiburger theorien vermittelt wurde. Ihr Ziel war es, ökonomische leitlinien zu definieren, denen man politische Zukunftsfähigkeit zubilligen konnte. Zu welchem Ergebnis das führte, zeigt vielleicht am anschaulichsten der am 18. Oktober 1942 im Rahmen der zweiten Kreisauer tagung (16.-18. Oktober 1942) vereinbarte Beratungstext, der zur Grundlage auch für die von Moltke am 9. august 1943 formulierten „Grundsätze für die neuordnung“ wurde, in denen konkrete Weisungen für den neubeginn auch auf wirtschaftlichem Gebiet gegeben wurden.19 In einer Präambel hielten die Kreisauer 1942 zunächst die gesellschaftliche Funktion der Wirtschaft fest: Sie diene der Gemeinschaft wie dem Einzelnen. Damit war bereits der Weg zwischen Kollektivismus und schrankenlosem Individualismus vorgezeichnet, denn so wie die Wirtschaft eine Grundversorgung mit nahrung, Kleidung und Wohnung zu sichern habe, solle der Einzelne sich und seine Familie darin frei entfalten können. Dabei solle dann eine „sinnvolle Beziehung der Einzelnen und der Gemeinschaften zur arbeit angestrebt werden.“ Was das konkret bedeuten sollte, wird im nachfolgenden text deutlicher: Die Kreisauer gingen von Selbstverwaltungen der Betriebe aus, in denen die arbeiter Mitbestimmungsrechte haben sollten. In beschränktem Maße wurde auch dem Staat ein Interventionsrecht in die Wirtschaft zugeschrieben, wenn es gelte, für „einen möglichst reibungslosen ablauf des wirtschaftlichen Prozesses zu sorgen.“ Gleiche Rechte und gleiche Freiheiten 18 neuere Publikationen zum Kreisauer Kreis behandeln die wirtschaftlichen Positionen leider nur am Rande, s. insbes. uLRich KaRPeN (hg.): Europas Zukunft. Vorstellungen des Kreisauer Kreises um helmuth James Graf von Moltke, heidelberg 2005, S. 14, 144, 171; güNteR BRaKeLmaNN: helmuth James von Moltke 1907–1945. Eine Biografie, München 2007; VoLKeR uLLRich: Der Kreisauer Kreis, Reinbek 2008, S. 75–78. 19 texte in geR VaN RooN: neuordnung im Widerstand. Der Kreisauer Kreis innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung, München 1967, S. 547–550, 566f. Die verschiedenen Standpunkte der in Kreisau versammelten Diskutanten und ihr jeweiliges Einwirken auf die Entwürfe zeigt aLBRecht VoN moLtKe: Die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Vorstellungen des Kreisauer Kreises innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung (Wirtschafts- und Rechtsgeschichte Bd. 16), Köln 1989, S. 140–170.
Wirtschaftspolitische Ordnungsvorstellungen im deutschen Widerstand
95
stünden jedem Menschen zu, aber auch gleiche Pflichten, zu denen Ehrlichkeit und Sauberkeit in der Wirtschaftsführung und arbeitstreue im Rahmen abgeschlossener Verträge gehöre. Umgekehrt sollte jedem Menschen und seiner Familie ein menschenwürdiges Existenzminimum gesichert werden. Unter dem Punkt „Grundsätze des Wirtschaftens“ definierten die Kreisauer: „Das Grundprinzip der Wirtschaft ist der geordnete leistungswettbewerb, der sich im Rahmen staatlicher Wirtschaftsführung vollzieht und hinsichtlich seiner Methoden ständiger staatlicher aufsicht unterliegt“. Da, wo Monopole, Kartelle und Konzerne diesem Grundprinzip widersprächen, müsse der Staat einschreiten. Insbesondere bei den Schlüsselindustrien, etwa des Bergbaus oder der Eisen- und Metallindustrie, waren Verstaatlichungen vorgesehen. Der Betrieb als „Wirtschaftsgemeinschaft der in ihm schaffenden Menschen“ sollte durch eine Betriebsgewerkschaft, gebildet aus Eigentümer und Mitarbeitern, geführt werden und der Belegschaft ein gerechter „anteil (…) an Gewinn und Wertzuwachs des Betriebes (…) vertraglich“ zugesichert werden. andere Organe der wirtschaftlichen Selbstverwaltung sollten die nach ländern gegliederten Kammern darstellen, für die bereits eingehende Ordnungen bestimmt wurden. als Zentrale der staatlichen Wirtschaftsregulierung wurde das Reichswirtschaftsministerium vorgesehen und zu dessen Information und fachlicher Unterstützung die Kammern und fachlichen landesbehörden bestimmt. am Ende der Denkschrift steht ein kurzer abschnitt über die Deutsche Gewerkschaft, der zwischen den Gewerkschaftsvertretern einerseits und Moltke sowie Delp andererseits heftig umstritten war. Die Gewerkschaften werden als Mittel zur Durchsetzung des skizzierten Programms angesehen, ihre langfristige Existenz allerdings von der Realisierung der in der Denkschrift vorgesehenen Mitbestimmungsorgane abhängig gemacht, das heißt, das Problem wurde zunächst aufgeschoben.20 Unschwer lässt sich hier der fortschrittliche Kompromisscharakter der Planungen erkennen, die insbesondere durch den Einfluss des Jesuitenpaters alfred Delp eine soziale Komponente bekamen. alle Vorschläge speisen sich aus der Krisenerfahrung der 30er Jahre wie aus der Erfahrung der nS-Zwangswirtschaft und setzen an bei der Bildung einer neuen, humanen Gesellschaft. angesichts des vollständigen, nicht nur politischen und ökonomischen, sondern vor allem auch moralischen Zusammenbruchs, den die herrschaft des nationalsozialismus herbeigeführt hatte, ging man davon aus, dass es allem voran darum gehen müsse, die gesellschaftlichen Grundlagen gleichsam völlig neu zu legen. Moltke ging sogar davon aus, dass nach den Verbrechen des nationalsozialismus überhaupt erst „das Bild des Menschen in den herzen unserer Mitbürger“ wieder aufgerichtet werden müsse, wie er seinem englischen Freund lionel curtis schrieb.21 20 D. RütheR, Widerstand (wie anm. 5), S. 408. 21 Moltke an lionel curtis, Mai 1942, abdruck in: WaLteR LiPgeNs (Bearb.): Europa-
96
Michael Kißener
hinzu kam ein am 14. Juni 1943 im Rahmen der dritten Kreisauer tagung (12.-14. Juni 1943) beschlossenes Papier, in dem sich die Kreisauer zu freiem Welthandel und europäischer wirtschaftlicher Zusammenarbeit bekannten. Die hier gemachten Vorschläge zielten auf eine Überwindung nationalen Wirtschaftens und projektierten bereits eine „innereuropäische Einheitswährung“ sowie den „Wegfall der Zollschranken“.22 Das war bemerkenswert weitsichtig gedacht und angesichts der ja noch immer existenten nationalsozialistischen Wirtschaftsführung alles andere als selbstverständlich. Doch wie innovativ waren solche Gedanken damals im europäischen Vergleich? III. auf diese Frage lässt sich derzeit keine hinlängliche antwort formulieren, weil eine solche komparative Sicht bislang in der geschichtswissenschaftlichen Forschung noch nicht eingehend behandelt worden ist. Es können daher im Folgenden nur erste anhaltspunkte durch einen vergleichenden Blick auf die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der französischen Résistance formuliert werden. Diese sind durch einige frühe Quellenpublikationen in ihren Grundzügen bereits dokumentiert. Diesem Quellenmaterial zufolge ist die Frage nach einer neuen Wirtschaftsverfassung für die Zeit nach der Befreiung von der deutschen Besatzung durchaus intensiv in der Résistance diskutiert worden.23 Im Programm des zentralen conseil national de la Résistance nahm die Frage, wie in Zukunft eine „ordre social plus juste“ gewährleistet werden könne, den größten Raum ein. allerdings verdichteten sich die Überlegungen zu keinem Zeitpunkt zu einer geschlossenen neuen Ordnungsvorstellung für die Wirtschaft, sondern stellten zumeist ein Kompendium praktischer Maßnahmen dar, die, mal mehr, mal weniger mutig, die herkömmliche Wirtschaftspolitik reformieren sollten. Dazu sollte nach dem Krieg ein „conseil interprofessionell“ gebildet werden, der unter starker Beteiligung der Gewerkschaften die zukünftige Wirtschaftsordnung diskutieren und beschließen sollte. allerdings ist nicht zu verkennen, dass sich die Vorschläge unter anderem aus den Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise speisten und auch als Reaktion auf das den Franzosen von den Deutschen auferlegte Wirtschaftssystem zu Föderationspläne der Widerstandsbewegungen 1940–1945. Eine Dokumentation, München 1968, S. 128–130, hier S. 130. 22 G. v. RooN, neuordnung (wie anm. 19), S. 552f. 23 jeaN-PieRRe Le cRom: Monde du travail, in: fRaNçois maRcot (hg.): Dictionnaire historique de la Résistance, Paris 2006, S. 647; heNRi micheL / B. miRKiNe guetzéVitch: les idées politiques et sociales de la Résistance, Paris 1954, S. 359–374; heNRi micheL: les courants de pensée de la Résistance, Paris 1962, S. 392–399.
Wirtschaftspolitische Ordnungsvorstellungen im deutschen Widerstand
97
werten sind. Da die innerfranzösische Résistance politisch überwiegend links orientiert war, kann es nicht verwundern, dass dem zügellosen Kapitalismus eine unzweideutige absage erteilt wurde. Dies hängt auch damit zusammen, dass oft Konzepte aus der Vorkriegszeit revitalisiert wurden, die in Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise von den Sozialisten oder den Gewerkschaften entworfen worden waren. Schon damals waren die trusts der größte Stein des anstoßes gewesen. In der Résistance wurden die großen kapitalistischen Konzernverflechtungen allerdings nun zum Verursacher nahezu aller Katastrophen erklärt, die Frankreich seit 1939 erlebt hatte: Sie wurden als totengräber der Republik, als verlängerter arm des „Erbfeindes“ Deutschland und nicht zuletzt als unmoralisches und zersetzendes Element jeder humanen Wirtschaftsverfassung gebrandmarkt. Deshalb, darin war man sich sogar parteiübergreifend einig, sollten sie als erstes verschwinden. auch in der Résistance sah man die notwendigkeit, einen Weg zwischen den alternativen des Kapitalismus und der Planwirtschaft zu finden. Selbst politisch weit links stehende Gruppierungen distanzierten sich bei dieser Suche allerdings vom rein planwirtschaftlichen Modell der Sowjetunion, das man für fehlgesteuert und zumindest verbesserungsbedürftig hielt. Das Wirtschaftsprogramm des cnR schlug vor, die Wirtschaft in drei Zonen einzuteilen und in diesem Rahmen Eingriffsrechte eines starken, regulierenden Staates zu formulieren: Einen völlig nationalisierten Bereich, der unter anderem die Eisenbahnen und die Rüstungsindustrie umfassen sollte, der allerdings nach Meinung führender Wirtschaftstheoretiker wie René courtin,24 keinesfalls auf junge, innovative Wirtschaftszweige ausgedehnt werden dürfe, weil ansonsten ein Übermaß an Bürokratie die produktiven Kräfte und innovativen technologien behindern könnte. Der zweite Bereich sollte eine Zone gelenkter Wirtschaft umfassen, deren Kontrolle der Staat über seine finanzielle Beteiligung ausüben sollte. Gedacht war hier an Großunternehmen, kapitalstarke Firmen, die so zu sozialem und gemeinschaftsverträglichem wirtschaftlichen handeln gezwungen werden sollten. Der größte Bereich der Wirtschaft sollte jedoch frei und ohne staatlichen Einfluss bleiben; er sollte mit möglichst wenig Regulierung der freien wirtschaftlichen Betätigung aller Franzosen offenstehen.25 Sehr kontrovers wurde schließlich die Stellung der französischen Wirtschaft zum außenhandel diskutiert: Während einige eine autarke Wirtschaft propagierten, warnten andere vor dem hintergrund gerade des deutschen Beispiels, dies könne zu einem totalitären Regime führen und favorisierten einen 24 René courtin (1900–1964), Mitglied der Résistancegruppen liberté und combat, radikaler Föderalist, der für die europäische Einigung und den freien handel eintrat. Vgl. z. B. ReNée BédaRida: comité des oeuvres sociales des organisations de Résistance, in: F. maRcot, Dictionnaire (wie anm. 23), S. 178, J.-P. Le cRom, Monde (wie anm. 23), S. 647ff. 25 h. micheL, les courants (wie anm. 23), S. 392–399.
98
Michael Kißener
möglichst freien europäischen oder gar globalen handel. Für einen rechtsstehenden, gaullistischen Résistant wie Maxime Bloq-Mascart26 von der Organisation „civile et Militaire“ jedenfalls war, den Vorstellungen im Kreisauer Kreis in mancher hinsicht nicht unähnlich, klar, dass die Überwindung der kriegsbedingten Wirtschaftskrise nur über eine europäische Wirtschaftskooperation möglich werde, die zur Vorbedingung einer politischen Einheit werde. Im ersten seiner cahiers stellte er 1942 fest: „Die wirtschaftliche Kooperation Europas muss auch ohne politische Einheit möglich sein, oder sie ist überhaupt nicht möglich.“27 hier, bei den Vorstellungen über eine europäisch ausgerichtete Wirtschaftspolitik, zeigen sich vielleicht besonders deutlich Parallelen zwischen dem Denken der französischen Résistance und dem deutschen Widerstand. aber auch die Suche nach einem Weg zwischen zügellosem Kapitalismus und Planwirtschaft, inspiriert vor allem durch die Weltwirtschaftskrise und die ablehnung von Konzernen und Monopolen, finden sich in den Planungen der deutschen wie der französischen Widerstandsbewegungen. Die relative Geschlossenheit und Differenziertheit der Überlegungen im deutschen Widerstand sowie der politische Kompromisscharakter, der der Kreisauer Denkschrift ihr besonderes Gepräge gegeben hat, lässt sich in den bekannten Schriften aus der Résistance so wohl nicht finden. hier scheint der deutsche Widerstand eine gewisse tiefenschärfe und einen relativen Weitblick entwickelt zu haben.
26 Maxime Blocq-Mascart (1894–1965), Experte der Pariser handelskammer, 1937 leiter der sozialen Dienste der confédération des travailleurs intellectuels (ctI), initiierte 1940 ein Widerstandsnetzwerk unter Mitgliedern der ctI, das sich mit der Organisation civile et militaire (OcM) zusammenschloss, wo unter der Ägide Blocq-Mascarts Reformen für die Zeit nach der libération konzipiert wurden. Vgl. guiLLaume PicKetty: Blocque-Masract, Maxime, in: F. maRcot, Dictionnaire (wie anm. 23), S. 366–367, hier S. 366. 27 W. LiPgeNs, Europa-Föderationspläne (wie anm. 21), S. 195.
II. Das geteilte Deutschland
lUDWIG ERhaRDS SOZIalE MaRKtWIRtSchaFt alS RaDIKalE ORDnUnGSInnOVatIOn UnD DIE REalItÄt DES BUnDESREPUBlIKanISchEn „WIRtSchaFtSWUnDERS“ Joachim Scholtyseck niklas luhmann hat einmal systemtheoretisch lakonisch bemerkt: „Es wird gleichzeitig immer alles besser und immer alles schlechter.“1 Die Zeit nach 1945 in der Bundesrepublik ist sicherlich ein gutes Beispiel dafür, dass auch luhmann nicht immer Recht hatte, denn nach dem chaos und Elend des Zweiten Weltkrieges wurde, zumindest nachdem die hungerkrisen 1946/47 beendet waren,2 wirklich alles nur besser. Die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik war und ist bis heute „trotz aller Strukturprobleme eine große Erfolgsgeschichte“.3 Wie jedoch wurde in jenen Jahren nach 1945 das Verhältnis von Staat und Ordnung bestimmt, und welche konkurrierenden Modelle hätten theoretisch zur Verfügung gestanden? Warum hat sich das Erhardʼsche Modell durchgesetzt, warum sind alternative Vorstellungen nicht zum Zuge gekommen? Diese Fragen sollen in zehn Schritten zu beantworten versucht werden. 1. In den Jahren von 1933 bis 1945 war unter den Bedingungen des nS-Staates zunächst eine ganz eigene Ordnung bestimmend gewesen. Es kann an dieser Stelle nicht die grundsätzliche Frage beantwortet werden, ob überhaupt von einem nationalsozialistischen Wirtschaftssystem gesprochen werden kann, zumal einige berechtigte Zweifel daran bestehen. Unbestritten ist, dass im „Dritten Reich“ der Staat der wichtigste akteur des Wirtschaftslebens wurde. Die Wirtschaft hatte für hitler einen rein funktionalen charakter – Wettbewerb und die Gesetze des Marktes waren für ihn Mittel, um Deutschland gewaltsam 1 2 3
WoLfgaNg hageN (hg.): Warum haben Sie keinen Fernseher, herr luhmann? letzte Gespräche mit niklas luhmann, Berlin 2005, S. 38. chRistoPh KLessmaNN / PeteR fRiedemaNN: Streiks und hungermärsche im Ruhrgebiet 1946–1948, Frankfurt a. M. 1977. WeRNeR PLumPe: Industrieland Deutschland 1945 bis 2008, in: haNs-PeteR schWaRz (Koord.), Die Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz nach 60 Jahren, München 2008, S. 379–404, hier S. 380.
102
Joachim Scholtyseck
die Vormachtstellung in Europa zu sichern.4 Zumindest für die Zeit des „tausendjährigen Reiches“ hatte daher napoleon Recht, als er gegenüber Goethe festgestellt hatte: „Die Politik ist das Schicksal“,5 und Walther Rathenau hatte Unrecht, als er 1921 ausgeführt hatte: „Die Wirtschaft ist das Schicksal“.6 allerdings blieb der 1933 vollmundig angekündigte grundlegende Umbau des bisherigen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems aus. Spätestens seit dem Ende der „braunen Revolution“ im Jahr 1934 und der Zurückdrängung der radikalen Elemente innerhalb der nSDaP wurde dieses Ziel nicht konsequent weiterverfolgt. nur in manchen aussagen hitlers und seiner Satrapen lebte das antikapitalistische Sentiment noch fort. Manche Entwicklung der Kriegsjahre – etwa die geplante Verstaatlichung der privaten Großbanken – deutete darauf hin, dass diese Utopie noch nicht vergessen, sondern lediglich auf die Zeit nach dem „Endsieg“ verschoben worden war. als der stellvertretende Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium, SS-Brigadeführer Otto Ohlendorf, in einer ansprache vor Mitarbeitern des SD am 31. Oktober 1944 äußerte, es sei ein Fehler gewesen, die traditionellen Eliten nach 1933 in ihren Funktionen belassen zu haben,7 war diese Sichtweise in ihrer Radikalität die konsequente Fortsetzung der ideologischen Wirtschaftsauffassung des nationalsozialismus. Mit der androhung des technokratischen nS-Intellektuellen, jetzt nicht allein die Wehrmacht zu revolutionieren, sondern das „Gebiet der Wirtschaft“ in diese Entwicklung einzubeziehen, wurde die extremistische und letztlich „ideale“ Variante des nS-Staates skizziert, in dem die ökonomischen Steuerkräfte gänzlich dem Primat der Politik untergeordnet werden sollten – eine Rückkehr zur Unbedingtheit des frühen nationalsozialismus, der in der trümmergesellschaft der Jahre 1944/45 allerdings nur noch ein Untergangsphänomen war. Unter der doppelten Bedrohung des absehbaren militärischen Zusammenbruchs und des angekündigten ideologischen Zugriffs trug die deutsche Wirtschaft hingegen in den letzten Jahren des Krieges Vorsorge dafür, die nationalsozialistischen Drohungen ins leere laufen zu lassen. Die Privatunternehmer waren bestrebt, unter den Fittichen von nationalsozialisten vom Schlage albert Speers Schutz zu suchen. angesichts der Kriegsanstrengungen hatte die4
5 6 7
Vgl. aLBRecht RitschL: Zum Verhältnis von Markt und Staat in hitlers Weltbild. Überlegungen zu einer Forschungskontroverse, in: uWe BacKes / ecKhaRd jesse / RaiNeR ziteLmaNN (hg.): Die Schatten der Vergangenheit. Impulse zur historisierung des nationalsozialismus, Frankfurt a. M./Berlin 1990, S. 243–264. ReiNeR WiLd (hg.): Johann Wolfgang von Goethe, autobiographische Schriften der frühen Zwanzigerjahre, München/Wien 1986, S. 579. WaLtheR RatheNau: Rede auf der tagung des Reichsverbandes der deutschen Industrie, gehalten in München am 28. September 1921, in: deRs.: Gesammelte Reden, Berlin 1924, S. 243–264, hier S. 264. Zit. nach LudoLf heRBst: Der totale Krieg und die Ordnung der Wirtschaft. Die Kriegswirtschaft im Spannungsfeld von Politik, Ideologie und Propaganda 1939–1945, Stuttgart 1982, S. 345.
ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft als radikale Ordnungsinnovation
103
ser das Konzept einer „industriellen Selbstverwaltung“ entworfen und damit der Privatindustrie neue Einflussmöglichkeiten gewährt, die diese nun zu bewahren hoffte. Obwohl damit den Privatunternehmen neue handlungsmöglichkeiten eröffnet wurden und auch Gewinne möglich blieben, blieben sie gegenüber staatlichen und halbstaatlichen Unternehmen wie etwa den hermann-Göring-Werken oder, im Bankbereich, der Bank der deutschen arbeit in einer durchaus prekären Situation. Mit anderen Worten: Der Staat setzte den privatwirtschaftlichen Unternehmen in den Jahren nach 1933 einen handlungsrahmen, dem sie sich nicht entziehen konnten und der letztlich ihre ökonomische Existenz gefährdete. Dies war zugleich an staatliche Eingriffe gekoppelt: Unter heranziehung keynesianischer Mittel wurde in den Friedensjahren bis 1939 die arbeitslosigkeit im Banne der kriegerischen aufrüstung beendet. Die Preis- und Devisenkontrollen wurden sodann nach 1939 zunächst durch die rüstungsbürokratischen Maßnahmen planerisch dynamisiert. Dies ermöglichte zwar im Weltkrieg noch einmal ein „Rüstungswunder“, aber zugleich wurde den Unternehmen die auf lange Sicht offenkundige Ineffizienz der nS-Planungsbürokratie drastisch vor augen geführt. Der Wirtschaftsdirigismus des „Dritten Reiches“ als „radikale Form der regulierten Marktwirtschaft“ war 1945 vollständig gescheitert.8 am Ende hatten die massiven und bis dahin unbekannten staatlichen Eingriffe der lenkungswirtschaft das gesamte lohn- und Preissystem durcheinandergebracht und die deutsche Wirtschaft ruiniert. 2. nach diesem Desaster bislang unbekannten ausmaßes war nach menschlichem Ermessen zu erwarten, dass das Pendel in die entgegengesetzte Richtung ausschlagen und Staatseingriffe grundlegend abgelehnt werden würden. Das verkennt jedoch die Beharrungskräfte der Menschen, die an bekannt-bewährten Modellen, so ineffektiv sie auch sein mögen, in der Regel festhalten, weil sie sich daran gewöhnt haben. Im konkreten Fall war es die korporative Interessenpolitik beziehungsweise eine produktive Ordnungspolitik, kurzum die Vision einer bereits vertrauten korporativen Marktwirtschaft, an der viele Deutsche nach dem Untergang des „Dritten Reiches“ festzuhalten wünschten. Schließlich war Deutschland geradezu „das land der Kartelle und des Protektionismus“.9 Uneingestanden spielte auf deutschem Boden eine Rolle, dass trotz aller dirigistischer Eingriffe hitlers Regime bis zum Mai 1945 im Innern gerade nicht kollabiert war. Es hatte weiten Bevölkerungsschichten 8 9
iVaN t. BeReNd: Markt und Wirtschaft. Ökonomische Ordnungen und wirtschaftliche Entwicklung in Europa seit dem 18. Jahrhundert, Göttingen 2007, S. 114. PeteR gRaf KieLmaNsegg: nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland, Berlin 2000, S. 435.
104
Joachim Scholtyseck
teilhabe und materielles Fortkommen ermöglicht, und zwar nicht nur in Form von gemeinsamen Erbseneintopfessen, sondern auch in der Gestalt pekuniärer Partizipation. Die Deutschen waren also in einer weiteren Regierungsform – der totalitären Diktatur – mit Maßnahmen staatlicher Sozialpolitik vertraut gemacht worden, und es war in diesem Zusammenhang zunächst einmal nebensächlich, dass der nS-Staat diese gewährt hatte, um seine herrschaft zu legitimieren und zu stabilisieren. Man muss die thesen von Götz aly über hitlers „Volksstaat“ nicht in toto übernehmen,10 aber es ist nun einmal ein Faktum, dass die Bevölkerung trotz der extremen Kriegsentbehrungen dem Regime bis zum bitteren Ende, wenn nicht die treue gehalten, so doch auf jede Form des aufbegehrens verzichtet hatte. andererseits waren die sozialstaatlichen Ideen bereits „teil eines breiten, internationalen Debattenstroms“, und wer sich wie adenauer diesen Ideen zuwandte, „war daher keineswegs auf braune Schrittmacher angewiesen.“11 Die sattsam bekannte Mischung aus Sozialpartnerschaft, Risikovorsorge und Konsensgesellschaft hatte selbst unter hitler funktioniert, wenn auch das Subsidiaritätsprinzip als traditionelles Element in den Jahren von 1933 bis 1945 keine prominente Rolle gespielt hatte. Mit anderen Worten: In der westdeutschen Wirtschaftsordnung wurden nach dem Untergang des hitler-Regimes „Pfadabhängigkeiten“ erkennbar, die auf gewisse ordnungspolitische Kontinuitäten seit dem Kaiserreich deuten.12 3. Die Wahl einer Wirtschaftsordnung stand den Deutschen 1945 nicht frei, weil sie in einem besetzten land lebten, dem die Souveränität zunächst noch fehlte. Es waren die USa, die in Westdeutschland für die entscheidenden ordnungspolitischen Vorgaben sorgten. In der anfangszeit standen sich in der US-administration unterschiedliche, sogar konträre Konzepte gegenüber. Vor allem in der sogenannten Finance Divison der Besatzungsbehörde waren zunächst noch Offiziere und Beamte tätig, die ganz im Banne des new Deal standen und auch in Westeuropa die Wirtschaftsvisionen Franklin D. Roosevelts durchzusetzen versuchten. hier wirkte die new Deal-Politik der zweiten 10 götz aLy: hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a. M. 2005. 11 haNs güNtheR hocKeRts: Einleitung, in: deRs.: Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011, S. 7–21, hier S. 10. 12 aLBRecht RitschL: Der späte Fluch des Dritten Reichs: Pfadabhängigkeiten in der Entwicklung der bundesdeutschen Wirtschaftsordnung, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik 6 (2005), S. 151–170. Grundsätzlich zu diesen Kontinuitäten im 20. Jahrhundert auch haNs-jüRgeN PuhLe: Die „Konstruktion“ neuer Sozialstaaten in der auseinandersetzung mit alten Modellen: Pfadabhängigkeiten, Entscheidungen und lernprozesse, in: uLRich BecKeR / haNs güNteR hocKeRts / KLaus teNfeLde (hg.): Sozialstaat Deutschland. Geschichte und Gegenwart, Bonn 2010, S. 197–212, bes. S. 202f.
ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft als radikale Ordnungsinnovation
105
amtszeit des amerikanischen Präsidenten nach, in der dieser schärfer gegen das Big Business vorgegangen war. Mit seinem pragmatischen Vorgehen hatte er den Vereinigten Staaten ermöglicht, nach der Weltwirtschaftskrise durch umfassende staatliche Eingriffe die Demokratie zu erhalten und am Ende des Zweiten Weltkrieges als Weltmacht nummer Eins dazustehen – wobei von seinen anhängern die Frage ausgeblendet wurde, in welchem Maß erst die konjunkturellen Effekte der aufrüstung des Zweiten Weltkrieges das Ende der wirtschaftlichen Misere bedeutet hatten. Denn faktisch hatten die USa, aber auch Großbritannien, mit lenkungsmodellen in den 1930er Jahren und dank massiver Militäraufträge in den 1940er Jahren die „Great Depression“ erst wirklich überwunden.13 Roosevelt war damit zugleich der Begründer eines „Big Government“ geworden, und seine USa glichen am Ende des Zweiten Weltkrieges in mancher hinsicht jenem „Fiscal-Military State“, den schon alexander hamilton verwirklicht wissen wollte.14 In den frühen 1940er Jahren agitierten und agierten die new Deal-anhänger in den USa gegen das Big business und besonders gegen Kartelle und trusts aller art, was seit Beginn des 20. Jahrhunderts unter dem Stichwort der „trust Buster“ eine tradition hatte. Ihre unter anderem im sogenannten Kilgore-commitee des US-Kongresses ventilierten Bestrebungen muteten mitunter kreuzzugartig an und verrieten ein großes planerisches Interesse. Zudem vermittelten ihre anhänger den Glauben an einen starken Staat als wohlwollender Ordnungsmacht. nur so waren die zahlreichen Pamphlete und Schriften jener Jahre zu verstehen, die geradezu antikapitalistisch anmuteten und grundsätzlich die Machtkonzentration in der Wirtschaft als eine „challenge to a Free World“ betrachteten.15 Ein weiterer Weltkrieg, so lautete die weiterführende argumentation, könne nur durch staatliche Eingriffe und Sanktionen wirksam verhindert werden. Zugleich müsse man große Konzerne entflechten, dezentralisieren und manche Banken ganz liquidieren – das alles in einem ziemlich eifernden und heilsgewissen Duktus, der zwar auf der einen Seite typisch amerikanisch war, auf der anderen Seite jedoch manchen marxistischen Parolen verblüffend ähnlich schien, die jenseits der westlichen Besatzungszonen zu hören waren, selbst wenn deren Stoßrichtung im Machtbereich Stalins eine ganz andere war. Diese „antikapitalistische“ Schule stieß in den USa schon Ende 1945, anfang 1946 auf vielfachen Widerspruch und wurde bald von denjenigen Diplomaten und Wirtschaftsfachleuten an die Seite gedrängt, die als sogenannte „Business Internationalists“ eine grundlegende Verbindung zwischen new 13 Vgl. WoLfgaNg schiVeLBusch: Entfernte Verwandtschaft. Faschismus. nationalsozialismus, new Deal 1933–1939, München/Wien 2005. 14 Vgl. goRdoN s. Wood: alexander hamilton and the Making of a Fiscal-Military State, in: deRs.: Revolutionary characters. What Made the Founders Different?, new York 2006, S. 119–140. 15 WeNdeLL BeRge: cartels. challenge to a Free World, Washington 1944.
106
Joachim Scholtyseck
Yorker hochfinanz und Washingtoner Politik repräsentierten. Dieser Gruppe, die von hans-Peter Schwarz aufgrund ihrer weltpolitischen Vorstellungen als Schule der „antikommunistischen Realpolitik“ bezeichnet worden ist,16 war von anfang an auch daran gelegen, Deutschland in anknüpfung an die Vorkriegsordnung und unter ausschaltung der totalitären Führungsstruktur zur Stabilisierung des europäischen Macht- und Wirtschaftsgefüges heranzuziehen.17 Die Protagonisten dieser Denkschule, die von der leistungsfähigkeit des Kapitalismus überzeugt waren und aufgrund ihrer noch auf die Vorkriegszeit zurückgehenden „Bekanntschaft mit den wirtschaftlichen Führungsschichten Europas (…) Verständnis und Solidaritätsgefühl für diese ihnen in Mentalität und gesellschaftlicher Interessenlage so nahestehenden Gruppen“ aufbrachten,18 konnten sich im innenpolitischen Machtkampf der USa schließlich durchsetzen. 4. nach der Zurückdrängung der „Roosevelt-Boys“ verordneten die USa ihrer Einflusszone, die sich vor dem hintergrund des Kalten Kriegs nicht auf Deutschland beschränkte, sondern auch Griechenland und die türkei einbezog, konsequent ihre Variante der kapitalistischen Weltordnung. Ihnen stand mit dem auf den Dollar ausgerichteten Weltwährungssystems von Bretton Woods seit 1944 ein plausibler und überzeugender hebel für die Umsetzung ihrer Pläne zur Verfügung. Damit waren zentrale Eckpfeiler des politischökonomischen Systems markiert und ein Rahmen vorgegeben, innerhalb dessen die Wahlmöglichkeiten vergleichsweise beschränkt waren, zumal fortwährend weitere ordnungspolitische Pflöcke eingeschlagen wurden: Das Zollabkommen Gatt, das European Recovery Program, die OEcD, schließlich wenig später die EGKS und die EWG. Mit dem Marshall-Plan, einem der erfolgreichsten Finanz- und Wirtschaftsoperationen der Geschichte, konnte in Westdeutschland zunächst die Währungsreform durchgeführt werden. Die Rekonstruktion Westeuropas war an politische und ökonomische Reformen gekoppelt, was wiederum die dauerhafte Kooperation mit den USa unter den Bedingungen der Demokratie gewährleistete.19 neben die „außenpolitische 16 haNs-PeteR schWaRz: Vom Reich zur Bundesrepublik. Deutschland im Widerstreit der außenpolitischen Konzeptionen in den Jahren der Besatzungsherrschaft 1945–1949, neuwied/Berlin 1966, S. 63–72. 17 Vgl. zu den geistigen hintergründen dieser Schule auch Lutz NiethammeR: Entnazifizierung in Bayern. Säuberung und Rehabilitierung unter amerikanischer Besatzung, Frankfurt a. M. 1972, S. 34–36. 18 h.-P. schWaRz, Reich (wie anm. 16), S. 66. 19 Zur ökonomischen Bedeutung des Marshall-Plans KNut BoRchaRdt / chRistoPh Buchheim: Die Wirkung der Marshallplan-hilfe in Schlüsselbranchen der deutschen Wirt-
ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft als radikale Ordnungsinnovation
107
Revolution“ (Klaus hildebrand) trat somit ein bemerkenswerter Wandel des ökonomischen Denkens. Der Strukturbruch und der abrupte Wandel der leitideen, der Wirtschaftsordnung und der Wirtschaftspolitik erfolgten letztlich in „verblüffend kurzer Zeit“.20 Diese Entwicklungen führten dazu, dass sich das neue Ordnungsmodell der Sozialen Marktwirtschaft nahezu reibungslos durchsetzen konnte. 5. Selbst liberale nationalökonomen und Staatsrechtler wie alfred Müller-armack, Franz Böhm und Walter Eucken hatten in der ausnahmesituation der nS-Zeit nicht gezögert, manche Dogmen des Wirtschaftsliberalismus über Bord zu werfen. Um nur ein Beispiel von vielen zu nennen: Müller-armack hatte in seiner 1933 erschienenen Schrift „Staatsidee und Wirtschaftsordnung im neuen Reich“ recht offen seiner Sympathie für den Korporativstaat Mussolinis ausdruck verliehen und zugleich hitler seine Reverenz erwiesen.21 Die merkwürdig anmutende Orientierungslosigkeit der Zwischenkriegsära resultierte nicht zuletzt aus den zeitgenössischen Sorgen einer Phase, in der der „Zeitgeist“ die bisherigen wirtschaftlichen Konzepte und Rezepte in Zweifel zog, aber keine neue verbindliche Ordnung erkennen ließ. Die Entwicklung, überkommene liberale tendenzen über Bord zu werfen, war nach 1918 europaweit in Mode. Weil besonders in der Weltwirtschaftskrise das Vertrauen in die Selbstheilungskräfte der Wirtschaft verloren ging, führte dies zu einem immer „stärkeren Eingreifen des Staates in die Wirtschaft.“22 Der italienische schaft, in: haNs-jüRgeN schRödeR (hg.): Marshallplan und westdeutscher Wiederaufstieg: Positionen – Kontroversen, Stuttgart 1990, S. 119–149. Die Bedeutung des Marshall-Plans in wirtschaftlicher hinsicht und als Motor für das „Wirtschaftswunder“ wird hingegen von Werner abelshauser als überbewertet betrachtet: WeRNeR aBeLshauseR: hilfe zur Selbsthilfe: Zur Funktion des Marshallplans beim westdeutschen Wiederaufbau, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 37 (1989), S. 85–113. Vgl. daneben caRLo sPagNoLo: Reinterpreting the Marshall Plan: the Impact of the European Recovery Program in Britain, France, Western Germany and Italy (1947–1952), in: domiNiK gePPeRt (hg.): the Postwar challenge. cultural, Social and Political change in Western Europe, 1945–58, london 2003, S. 275–298; michaeL j. hogaN: the Marshall Plan. america, Britain and the Reconstruction of Western Europe, 1947–1952, cambridge Ma u. a. 1987; geRd haRdach: Der Marshall-Plan. auslandshilfe und Wiederaufbau in Westdeutschland 1948–1952, München 1994; axeL LehmaNN: Der Marshallplan und das neue Deutschland: Die Folgen amerikanischer Besatzungspolitik in den Westzonen, Münster u. a. 2000. 20 haNs-uLRich WehLeR: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5: Bundesrepublik und DDR 1949–1990, München 2008, S. 52. 21 Vgl. dieteR haseLBach: autoritärer liberalismus und Soziale Marktwirtschaft. Gesellschaft und Politik im Ordoliberalismus, Baden-Baden 1991, S. 122. 22 haRtmut KaeLBLe: Kalter Krieg und Wohlfahrtsstaat. Europa 1945–1989, München
108
Joachim Scholtyseck
Faschismus schien als neuartiges Ordnungsmodell mit seinen korporatistischen Elementen angesichts mancher Erfolge in der Zeit der Weltwirtschaftskrise zu triumphieren. Weil dies publizistisch ausgeschlachtet wurde, ließen sich selbst Denker des interventionsfreien liberalen Staates verunsichern und andere waren sogar regelrecht fasziniert. Europa wurde geradezu eine Spielwiese für Plantheoretiker, die neue lösungen für die Ungleichheiten, Ungerechtigkeiten und Ineffizienzen des Kapitalismus zu finden hofften. angesichts der tiefen Krise des liberalismus und seiner ökonomischen leitlinien wäre es erstaunlich gewesen, wenn das nicht auf diejenigen theoretiker tiefe auswirkungen gehabt hätte, die sich als nationalökonomen mit dem Verhältnis von Staat und Wirtschaft beschäftigten. Der Ruf nach einem „starken Staat“ wurde allenthalben lauter. Während sich im sozialistischen und kommunistischen lager die Gewissheit verfestigt hatte, dass sich der liberale Staat überlebt habe,23 war die kanonische Überzeugung, dass staatliche Interventionen in den Wirtschaftsablauf ein grundsätzliches Übel seien, selbst bei liberalen Wirtschaftsdenkern verloren gegangen und geradezu eine Mindermeinung geworden. Im konservativen Milieu, traditionell den etatistischen Vorstellungen enger verbunden, hatten sich ähnliche dirigistische Ideen herausbilden können und blieben über die Zeit des „tausendjährigen Reiches“ hinaus wirksam. Bei der großen Volkspartei cDU lohnt sich ein Blick auf die Spuren dieses Denkens im 1947 verabschiedeten „ahlener Programm“, das, befeuert durch die Ideen der christlichen Sozialethik, zugleich mit charakteristischen Schlagworten geradezu gespickt war: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. (…) Inhalt und Ziel (einer) sozialen und wirtschaftlichen neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert.“24 Der Vorwurf der mangelnden „gemeinschaftsbildenden Ethik“ des „Konkurrenzprinzip(s) des Marktes“ bildete den continuo basso dieser katholisch-sozialen Kritik, die letztlich weniger 2011, S. 34. 23 WeRNeR aBeLshauseR: Markt und Staat. Deutsche Wirtschaftspolitik im „langen 20. Jahrhundert“, in: ReiNhaRd sPRee (hg.): Geschichte der deutschen Wirtschaft im 20. Jahrhundert, München 2001, S. 117–140, hier S. 122. 24 Vgl. ahlener Wirtschafts- und Sozialprogramm der cDU in der britischen Zone (1947), in: RaiNeR KuNz / heRBeRt maieR / theo stammeN (hg.): Programme der politischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, München 1979, Bd. 1, S. 69–72. Zur Genese und Idee vor allem RudoLf ueRtz: Das ahlener Programm. Die Zonenausschusstagung der cDU der britischen Zone vom 1. bis 3. Februar 1947 und ihre Vorbereitungen, in: Die Politische Meinung 52 (2007), S. 47–52.
ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft als radikale Ordnungsinnovation
109
wirtschafts- als sozialpolitisch erfolgreich war.25 Der im Grundgesetz verankerte hinweis auf die Sozialpflichtigkeit des Eigentums war insofern ein Echo dieser auf das Volk – de facto den Staat – abzielenden grundlegenden neuordnung der Verhältnisse zwischen arbeit und Kapital, das dann allerdings durch das Konsensmodell von tarifautonomie, Betriebsverfassung und Mitbestimmung geregelt wurde. Das setzte aber auch absicherungen für die schwächeren Mitglieder der Gesellschaft voraus: Im Sinne des Subsidiaritätsprinzips sollte im notfall der Staat eingreifen, um soziales Unheil abzuwenden. 6. Ein behutsamer Staatsinterventionismus war daher nach 1945 in den westlichen Zonen ziemlich alternativlos. ludwig Erhard war der deutsche Prophet der amerikanischen Marktwirtschaftsvariante, die einerseits die in der Zwischenkriegszeit vorübergehend diskreditierten liberalen Ideen wieder hoffähig machte, mit der Rhetorik der „sozialen“ Marktwirtschaft aber auch den in Deutschland noch vorhandenen Glauben an die Steuerungspflicht des Staates bediente. Dieses Recht und sogar die Pflicht des Eingriffs des Staats in die Belange der Wirtschaft waren, wie bereits ausgeführt worden ist, durch das totalitäre Regime so stark verinnerlicht worden, dass ein kompletter Verzicht auf diese Sicherungsmechanismen kaum vorstellbar war. nach dem Ende des „Dritten Reiches“ war die Gesamtlage allerdings um ein Vielfaches dramatischer als sie in der Bismarckzeit und selbst der Zeit der Weltwirtschaftskrise der frühen 1930er Jahre gewesen war. Der nS-Staat war, wie sich nun zeigte, eine einzige Geldvernichtungsmaschine gewesen. Deutschland war eine trümmerlandschaft mit zehn Millionen Flüchtlingen, Millionen von ausgebombten, Witwen und Waisen, Evakuierten, Spätheimkehrern und daneben 13 Millionen Soldaten der ehemaligen Wehrmacht, die irgendwie wieder in die Gesellschaft und den Wirtschaftskreislauf eingegliedert werden mussten – und es herrschte angesichts der zusammengebrochenen sozialen Sicherungssysteme eine geradezu hysterische angst vor der Zukunft. Eine „Zeitbombe“, wie hans-Peter Schwarz die Stimmung einmal beschrieben hat.26 auch daher war es nachvollziehbar, dass der Staat herangezogen wurde, um das verlorene „Regelvertrauen“27 wieder herzustellen: Erfolg25 haNs güNteR hocKeRts: Integration der Gesellschaft: Gründungskrise und Sozialpolitik in der frühen Bundesrepublik, in: maNfRed fuNKe (hg.): Entscheidung für den Westen, Bonn 1988, S. 23–42, hier S. 29. 26 haNs-PeteR schWaRz: Die Ära adenauer. Gründerjahre der Republik 1949–1957, Stuttgart 1981, S. 120. 27 haNsjöRg siegeNthaLeR: Regelvertrauen, Prosperität und Krisen. Die Ungleichmäßigkeit wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung als Ergebnis individuellen handelns und sozialen lernens, tübingen 1993.
110
Joachim Scholtyseck
reiche staatliche Sozialpolitik „galt unter den extrem restriktiven Bedingungen der nachkriegsproblematik mehr denn je zuvor als nachhaltiger legitimationsspender, der sich mit seiner Geltungskraft sogar neben das ‚Wirtschaftswunder‘ schob.“28 Die „bürgerliche Revolution“, so formuliert es thomas Mann ein Jahr nach Gründung der Bundesrepublik, müsse sich „ins Ökonomische fortentwickeln, die liberale Demokratie zur sozialen werden.“29 Der „Ordoliberalismus“ als Gegenentwurf zum laissez-Faire-Kapitalismus oder dem Manchesterkapitalismus war daher eine art „dritter Weg“ zwischen den Extremen des reinen Kapitalismus und des Sozialismus, der von Ökonomen wie Walter Eucken, Friedrich von hayek und Wilhelm Röpke gesucht wurde. hayek hatte in seiner programmatischen Schrift aus dem Jahr 1944 „Der Weg zur Knechtschaft“ zwar die Utopie einer „sozialen Gerechtigkeit“ verworfen, und er lehnte auch den Begriff der „sozialen Marktwirtschaft“ ab, aber er konzedierte durchaus noch andere Möglichkeiten als die bloße alternative zwischen der Freiheit des Wettbewerbs und dem totalitären Planungsstaat: „Ob der Staat ‚handeln‘, ob er ‚eingreifen‘ soll oder nicht, ist eine ganz falsche Fragestellung, und der Begriff des Laissez-Faire ist eine höchst zweideutige und irreführende Bezeichnung der Grundsätze, auf denen eine liberale Politik beruht. natürlich muss jeder Staat handeln, und jedes handeln des Staates bedeutet irgendwo einen Eingriff.“30 Es gab also anschlussmöglichkeiten nicht nur in der Kritik an den sozialistischen Planungsideen. Während hayek jedoch auf die Gewaltenteilung setzte und der „Rule of law“ als ausreichender Sicherung gegen Machtmissbrauch vertraute, reichte das den Ordoliberalen nicht aus. Bei Walter Eucken, der 1940 seine Ideen in seinem hauptwerk „Grundlagen der nationalökonomie“ niedergelegt hatte, fanden sich manche Gedanken, denen erstaunlicherweise sowohl die „trust Busters“ aus dem Roosevelt-lager wie auch manche der nationalsozialistischen Großplaner zugestimmt hätten. auch Eucken hatte sich in seinen Schriften besorgt gezeigt über ausufernde Machtballung in Monopolen und Kartellen. Unternehmenskonzentrationen sollten zukünftig vermieden werden, weil diese den Staat zu instrumentalisieren drohten. Der „Politisierung der Wirtschaft allmählich zum Wirtschaftsstaat“, so Eucken, müsse entgegengetreten werden. Ein unabhängiger Staat müsse durch eine sorgsame Politik eine Rahmenordnung schaffen, in der sich die Unternehmer in freier Konkurrenz entfalten und dadurch den „wealth of nations“ mehren sollten. nicht anders sah das alfred Müller-armack, der Schöpfer des Begriffs „soziale Marktwirtschaft“, der bekanntlich schon vor 1945 mit staatlichen Maßnahmen geliebäugelt hatte, die dem menschlichen Egoismus einen Riegel vorschieben sollten. 1946 hatte sich an dieser Überzeugung nichts geändert: Um sozial zu sein, benötige die 28 h.-u. WehLeR, Gesellschaftsgeschichte (wie anm. 20), S. 258. 29 thomas maNN: Meine Zeit (1950), in: deRs.: Gesammelte Werke in 13 Bänden, Bd. 11: Reden und aufsätze, Frankfurt a. M. 1990, S. 302–324, hier S. 322f. 30 fRiedRich VoN hayeK: Der Weg zur Knechtschaft, München 2007, S. 11.
ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft als radikale Ordnungsinnovation
111
Marktwirtschaft gerade in der Wirtschafts- und Kreditpolitik eine „stahlharte Ordnung.“31 Erhard wiederum war zwar kein Ordoliberaler im strengen Wortsinn, akzeptierte jedoch deren Gedankengut zumindest als ideelle Basis seiner Wirtschaftspraxis.32 Er übernahm diese ordoliberalen Ideen, wenn er formulierte, dass auch die Zeiten einer „freien Marktwirtschaft des liberalistischen Freibeutertums“ nun einer „vergangenen Ära“ angehörten33 – und es machte ihm offenbar nichts aus, dass die Vokabel „liberalistisch“ auch zum antikapitalistischen arsenal der nationalsozialistischen Unworte gehört hatte. Freiheit ohne wirtschaftliche Freiheit war für Erhard nicht vorstellbar. Der Staat müsse eine entsprechende Wettbewerbsordnung garantieren, die eine Voraussetzung für wirtschaftliche Freiheit sei. Von Franz Böhm stammt der ausdruck, Wettbewerb sei das genialste „Entmachtungsinstrument“ der Geschichte34 und dieser bedürfe daher des Schutzes des Rechtsstaats. allerdings sollte das System der „Sozialen Marktwirtschaft“ auch in Zukunft nur die Standardrisiken abdecken, und das wirkte zeitgenössisch schon deshalb plausibel, weil im nachkriegsdeutschland ein Denken in den Kategorien eines Wohlfahrtsstaates illusionär war. Unter Erhard kehrte Deutschland daher wieder „auf den klassischen Entwicklungspfad der deutschen Sozialordnung“ zurück, ohne den Sozialstaat durch eilfertigen Interventionismus überdehnen zu wollen. auch in der Demokratie sollte eine positive Verbindung der Marktwirtschaft mit Elementen der Regelung geschaffen werden. Erhard fürchtete den „sozialen Untertan“. Der selbstbestimmte Mensch, so lautete sein Mantra, bleibe das übergeordnete Ziel, und er erntete mit dieser – durchaus berechtigten – Überlegung selbst bei vielen Gegnern Zustimmung. 7. Das psychologische Moment und der Wunsch Vertrauen zu schaffen, spielten in Erhards Rhetorik der Sozialen Marktwirtschaft eine zentrale Rolle. Der Begriff selbst war, wie heute argumentiert wird, eine „leerformel“ (Mark Spoerer), deren eigentliche Bedeutung eher „in der integrativen Kraft ihrer 31 aLfRed müLLeR-aRmacK: Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, hamburg 1946, wiederabgedruckt in: deRs.: Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik. Studien und Konzepte zur Sozialen Marktwirtschaft und zur Europäischen Integration, Freiburg 1966, S. 19–170, hier S. 63. 32 Vgl. iRis KaRaBeLas: Freiheit statt Sozialismus. Rezeption und Bedeutung Friedrich august von hayeks in der Bundesrepublik, Frankfurt am Main 2010, S. 102–112. 33 Zit. nach domiNiK gePPeRt: Die Ära adenauer, Darmstadt 22007, S. 24. 34 Zit. nach P. KieLmaNsegg, Katastrophe (wie anm. 9), S. 437. Vgl. fRaNz Böhm: Die Bedeutung der Wirtschaftsordnung für die politische Verfassung (1946), in: deRs.: Die staatliche Einwirkung auf die Wirtschaft. Wirtschaftsrechtliche aufsätze 1946–1970, hg. v. Ulrich Scheuner, Frankfurt a. M. 1971, S. 85–107.
112
Joachim Scholtyseck
politischen Semantik zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt“ lag.35 Erhard selbst war zweifellos nicht der theoretische Mann hinter der Wirtschaftsneuordnung. hermann Josef abs, der ihn von anfang an unterstützte, hat bezeichnenderweise von der geradezu „schlafwandlerischen Sicherheit“ gesprochen, mit der Erhard sein kühnes Projekt verfolgt habe.36 Was genau unter seinem Modell zu verstehen war, blieb auch bei Erhard merkwürdig unbestimmt.37 So viel stand immerhin fest: Staatliche Ordnungspolitik sollte nicht mit dem Interventionsstaat oder den korporativen Selbstverwaltungskörperschaften erreicht werden. Es waren daher eher ausschlusskriterien, die zur Definition der neuen Marschrichtung dienten. Freilich lag dies auch daran, dass sich die Väter der Sozialen Marktwirtschaft selbst unklar und uneinig waren, wie groß denn die Prise des „Sozialen“ in der Marktwirtschaft sein sollte. Praktisch erwies sich diese Verschwommenheit eines schillernden Begriffs jedoch bald als irrelevant, denn die Soziale Marktwirtschaft wurde vergleichsweise schnell „auch von ihren eigenen anhängern als eine Symbiose von Marktwirtschaft und klassischer Sozialpolitik beschrieben.“38 Sicherlich wirken heute manche Floskeln, mit denen zu Eigenverantwortung, freier Konkurrenz und marktkonformen Eingriffen des Staates aufgerufen wurde, allzu pathetisch. aber das Rezept der liberalen Reformer, die Deutschland wieder auf die Beine bringen wollten, also Eigenvorsorge soweit wie möglich, Fremdvorsorge (durch den Staat) nur wenn unbedingt nötig, bot nach den materiellen und geistigen Verheerungen des „Dritten Reiches“ neue Perspektiven: Der Glaube an die Marktwirtschaft, bei der aber trotz aller Verheißungen der Selbstheilungskräfte der Märkte und der Gesellschaft die soziale Komponente keinesfalls vernachlässigt werden würde, war für geraume Zeit die geradezu ideale Zauberformel, die einen durchschlagenden Erfolg garantierte. Dies war daher die andere, die sozusagen „staatsfreie“ Seite der Medaille bei Erhard, die seine Vorgabe an die Privatwirtschaft in der Bundes35 maRK sPoeReR: Wohlstand für alle? Soziale Marktwirtschaft, in: thomas heRtfeLdeR / aNdReas RöddeR (hg.): Modell Deutschland. Erfolgsgeschichte oder Illusion?, Göttingen 2007, S. 28–43, hier S. 28; Vgl. WeRNeR BühReR: Der traum vom „Wohlstand für alle“: Wie aktuell ist ludwig Erhards Programmschrift?, in: Zeithistorische Forschungen 4 (2007), S. 256–262. 36 LothaR gaLL: Der Bankier. hermann Josef abs. Eine Biographie, München 2004, S. 239. 37 Erhard-kritisch besonders VoLKeR heNtscheL: ludwig Erhard. Ein Politikerleben, München 1998; deRs.: ludwig Erhard: Vater der Sozialen Marktwirtschaft. legende oder Wirklichkeit?, in: PeteR hamPe (hg.): 50 Jahre Soziale Mark(t)wirtschaft. Eine Erfolgsstory vor dem Ende?, München 1999, S. 17–33; positiver die neueren Beurteilungen bei aLfRed c. mieRzejeWsKi: ludwig Erhard. Der Wegbereiter der Sozialen Marktwirtschaft, München 2005; udo WeNgst: ludwig Erhard im Fokus der Zeitgeschichtsschreibung, in: PeteR giLLies / daNieL KoeRfeR / udo WeNgst (hg.): ludwig Erhard, Berlin 2010, S. 73–121. 38 W. aBeLshauseR, Markt (wie anm. 23), S. 134.
ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft als radikale Ordnungsinnovation
113
republik war. In den Jahren des nationalsozialismus war die Privatindustrie vom Marktmechanismus bereits stark entwöhnt worden. Jetzt zwang Erhard sie in der Bundesrepublik, „ihre Erwartungsbildung wieder an regulären Märkten zu orientieren“,39 anfänglich sogar noch gegen die US-Besatzungsmacht, die auf das Bewirtschaftungsregime wie die Preisbindung noch nicht gänzlich verzichten wollte40 und die er mit einem „handstreich“ (theodor Eschenburg) mit den tatsachen konfrontierte. Manfred Görtemaker hat in diesem Zusammenhang vom „gelungenen Wagnis der Marktwirtschaft“ gesprochen,41 und der Soziologe alfred Weber hat es schon zeitgenössisch als einen großen Fehler der Sozialdemokratie bezeichnet, dass sich die SPD diese Wortverbindung von sozial und Marktwirtschaft habe entgehen lassen. Das immer wieder geschwungene Schwert der Enteignung war ohnehin unscharf, weil sich diese alternative, wie in der SBZ und der DDR tagtäglich vor augen geführt wurde, als desaströser Fehlschlag entpuppte und die Bundesrepublik gerade im Vergleich mit dem Steinzeitkommunismus sowjetischer Prägung als „positive Vergleichsgesellschaft“ punkten konnte.42 8. Für einen hochentwickelten Industriestaat war das, was den Zeitgenossen als das „Wirtschaftswunder“ erschien, ein normaler Vorgang eines „catching up“ nach der ausnahmeperiode der Schwächezeit der Weltwirtschaftskrise und des Zweiten Weltkrieges. In der longue durée des gesamteuropäischen Kontextes war das „Wirtschaftswunder“ weniger exzeptionell, wenn man es vor 39 WeRNeR PLumPe: Unternehmen im nationalsozialismus. Eine Zwischenbilanz, in: WeRNeR aBeLshauseR / jaN-otmaR hesse / WeRNeR PLumPe (hg.): Wirtschaftsordnung, Staat und Unternehmen. neue Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte des nationalsozialismus. Festschrift für Dietmar Petzina zum 65. Geburtstag, Essen 2003, S. 243–266, hier S. 266. 40 Erhard verkündete eigenhändig die weitgehende aufhebung der Preisbindung. lucius D. clay, an und für sich ein Befürworter der Marktwirtschaft, stellte Erhard pflichtgemäß zur Rede, wie dieser auf die Idee kommen könne, einfach in die alliierten Rechte einzugreifen und die Bewirtschaftungsvorschriften abzuändern. Scheinbar ganz naiv antwortete Erhard, er habe sie nicht abgeändert, sondern schlicht aufgehoben. WeRNeR aBeLshauseR, ansätze „korporativer Marktwirtschaft“ in der Koreakrise der frühen fünfziger Jahre. Ein Briefwechsel zwischen dem hohen Kommissar John Mccloy und Bundeskanzler adenauer, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 30 (1982), S. 715– 756, hier S. 736. 41 maNfRed göRtemaKeR: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, München 1999, S. 119. 42 m. RaiNeR LePsius: Die teilung Deutschlands und die deutsche nation, in: LothaR aLBeRtiN / WeRNeR LiNK: Politische Parteien auf dem Weg zur parlamentarischen Demokratie in Deutschland, Düsseldorf 1981, S. 417–449, hier S. 436.
114
Joachim Scholtyseck
dem ökonomischen hintergrund des „kurzen“ 20. Jahrhunderts betrachtet.43 Die Bundesrepublik profitierte jedoch auch von den Vorteilen, als moderner Industriestaat trotz aller politischen Einbrüche und wirtschaftlichen Retardierungen in technologischer hinsicht anschlussfähig zu sein.44 In den 1920er und 1930er Jahren waren unter den Stichworten Fordismus und taylorismus erfolgreiche anpassungen an globale trends erfolgt, und die damit einhergehenden Modernisierungen und Rationalisierungen hatten selbst nach den Phasen der ökonomischen Schwäche der Wirtschaft eine gute ausgangsposition für einen Wiederaufstieg verschafft, zumal sich herausstellte, dass trotz aller Zerstörungen und Demontagen ein ausreichender Maschinenpark als industrielle Basis zur Verfügung stand beziehungsweise wieder rekonstruiert werden konnte. Das gab der Wirtschaft und dem Privatunternehmertum nach 1945 das Grundvertrauen in das eigene Potential zurück, verbunden mit der selbstbewussten Überzeugung, ähnlich wie nach 1918 alleine, ohne staatliche Eingriffe den Wiederaufbau bewältigen zu können. Erleichtert wurde diese Disposition durch die Erfahrungen und das Vertrauen auf eine Sozialgesetzgebung, die bis 1945 eine der fortschrittlichsten ganz Europas gewesen war und durch die Kooperationsbereitschaft einer leistungsbereiten arbeiterschaft. Die hohe arbeitsmoral der Beschäftigten ging mit einer relativen lohnbescheidenheit der Gewerkschaften einher. Mit Blick auf die Verteilungsgerechtigkeit mochte das ein zweischneidiges Schwert sein, aber für die Entwicklung der industriellen Kapazitäten erwies sich dies als „ökonomisch ausgesprochen wirkungsvoll.“45 Das „kooperative Gleichgewicht“ zwischen Gewerkschaften und Unternehmern ermöglichte in einer ausgeklügelten Balance für alle Seiten vergleichsweise risikolose Übereinkommen. Die erfolgreiche nachkriegsordnung basierte somit gleichermaßen auf der „lohnzurückhaltung und einer ausgeprägten Bereitschaft zu investieren.“46 9. Die Orientierung an den Grundsätzen einer liberalen Wettbewerbsordnung, wie sie bereits der Frankfurter Wirtschaftsrat vorgezeichnet hatte, wirkte sich für den ökonomischen Wiederaufstieg vorteilhaft aus. Die staatlich gut vorbereitete Wirtschaftsreform wirkte schon zeitgenössisch als Initialzündung des Wirtschaftswunders. Diese Interpretation schien mit dem Blick auf die Produktionsentwicklung und die enormen Zuwachsraten berechtigt, obwohl das bereits erreichte beträchtliche Produktionsniveau, das mit dem Wirtschafts43 Vgl. LudgeR LiNdLaR: Das mißverstandene Wirtschaftswunder. Westdeutschland und die westeuropäische nachkriegsprosperität, tübingen 1998. 44 h.-u. WehLeR, Gesellschaftsgeschichte (wie anm. 20), S. 50f. 45 W. PLumPe, Industrieland (wie anm. 3), S. 383. 46 i. BeReNd, Markt und Wirtschaft (wie anm. 8), S. 162f.
ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft als radikale Ordnungsinnovation
115
aufschwung des Jahres 1947 einsetzte, lange Zeit unterschätzt worden ist. Insofern verliert die Währungsreform in mancher hinsicht ihre herausragende Bedeutung. Sie beschleunigte den aufschwung zwar nicht wesentlich,47 aber sie bot eine stabile Basis für die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte. Sie schuf zugleich die „chance des Vorankommens“, übte klare anreize auf die Unternehmensaktivität aus, begünstigte die angebotsbedingungen der Unternehmen, förderte durch die Steuergesetzgebung die Kapitalbildung der Unternehmen und trug daher maßgeblich zu den „exorbitant hohen Investitionsquoten“ jener Jahre bei.48 anders als häufig in den Jahrzehnten zuvor geschehen, wurden diese Ziele jedoch auf friedlichem Weg auf einer gemeinsamen westeuropäischen Ebene erreicht: Der „deutsche Weg in den Westen“49 bedeutete in der Konsequenz Vollbeschäftigung, auslastung der Produktionskapazitäten, stabile Preise, wachsende Einkommen auf Basis von Produktionszuwächsen und eine ausgeglichene Zahlungsbilanz.50 Mit der auf die langfristige Zukunft ausgerichteten Wirtschafts- und Sozialpolitik sollte die Zeit des nationalsozialismus zugunsten einer innergesellschaftlichen Solidarität hinter sich gelassen werden. Der „wohlwollende“ gleichsam patriarchalisch auftretende Staat behielt daher eine wichtige Funktion. Die Deutschen akzeptierten es deswegen, weil sie es gar nicht anders kannten, sei es in der gutartigen Form unter Bismarck, sei es in der bösartigen Form unter hitler. Der lerneffekt war jedenfalls unübersehbar, zumal überall in Westeuropa der Staat eine ausgeprägte Überwachungsfunktion übernahm – von der Kontroll- und lenkungsfunktion in den Staaten unter sowjetischer herrschaft gar nicht zu sprechen. auf ein ungeregeltes und sich selbst überlassenes Wirtschaftsmodell wollte sich im nachkriegseuropa offenbar kaum jemand verlassen, und die korporativen Elemente, die von den Staatsführungen als volkswirtschaftliche akteure eingebracht wurden, sollten die Wettbewerbsfähigkeit des Staates vorantreiben. In der Bundesrepublik wurden durch diese Initiativen, ebenso wie durch Steuervergünstigungen, Gelder aus dem Staatshaushalt unter anderem für die Energiewirtschaft und die Bundesbahn zur Verfügung gestellt, um die Wirtschaft wieder anschlussfähig zu machen. Paradoxerweise waren diese Investitionshilfen in mancher Weise mit den massiven anschubfinanzierungen vergleichbar, die auch der nationalsozialistische Staat im Zuge der Kriegsrüstung in verschiedenen Formen bereits erprobt hatte.
47 W. aBeLshauseR, Wirtschaftsgeschichte (wie anm. 23), S. 127. 48 W. PLumPe, Industrieland (wie anm. 3), S. 392f. 49 BeRNhaRd LöffLeR: Ein deutscher Weg in den Westen. Soziale Marktwirtschaft und europäischer neoliberalismus, in: fRiedRich KiessLiNg / BeRNhaRd RiegeR (hg.): Mit dem Wandel leben. neuorientierung und tradition in der Bundesrepublik der 1950er und 60er Jahre, Köln u. a. 2011, S. 29–61. 50 I. BeReNd, Markt und Wirtschaft (wie anm. 8), S. 165.
116
Joachim Scholtyseck
10. Überall dort, wo im nachkriegseuropa Wahlmöglichkeiten bestanden, das heißt westlich des Eisernen Vorhangs, setzten sich, mit jeweiligen nationalen Spezifika, nach 1945 vergleichbare Konsens- und Planungsmodelle durch, die problemlos an vergleichbare tendenzen der Vorkriegszeit anknüpfen konnten. In Großbritannien und Frankreich wurden zum Zwecke einer Modernisierung der Wirtschaft Großbanken, Konzerne der Schwer- und automobilindustrie, des Verkehrs und der Kommunikation verstaatlicht. Die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien – und damit die Überantwortung von unternehmerischen aufgaben an den Staat – war nicht nur eine Bestrafungsaktion gegen die Privatwirtschaft, der in den Staaten Kontinentaleuropas vielfach vorgeworfen wurde, der Steigbügelhalter der Diktatoren gewesen zu sein beziehungsweise in den von der Wehrmacht besetzten Staaten kollaboriert zu haben. Es gab vielmehr in ganz Westeuropa eine weit verbreitete etatistische Überzeugung, der Staat sei der Privatindustrie in sozialökonomischer hinsicht überlegen. Der britische historiker a. J. P. taylor, später einer der bekanntesten, aber wegen mancher kühnen these auch umstrittener Geschichtswissenschaftler seines landes, hat diese Stimmung im november 1945 seinen Zuhörern in der BBc so kundgetan: „nobody in Europe believes in the american way of life – that is, private enterprise; or, rather, those who believe in it are a defeated party which seems to have no more future than the jacobites in England after 1688.“51 heute erscheint die Vorstellung, durch eine umfassende planerische Versorgung werde der Staat schon alles richten, als „die große Illusion des Jahrhunderts“, aber für die damalige Generation schien „ein ausgewogenes Verhältnis zwischen demokratischen Freiheiten und vernünftigen staatlichen Eingriffen der einzig sinnvolle Weg aus dem chaos.“52 hierzu zählte neben dem vielfach als „Wertegemeinschaft“ überstrapazierten Europabegriff im Sinne eines supranationalen „atlantischen Europa“53 auch die fortentwickelte und ausdifferenzierte „Sozialpartnerschaft“ in europaweit verschiedenen Formen, die bis zum Wohlfahrtsstaat in skandinavischem Gewand reichen konnte. nach den Unruhephasen der Zwischenkriegsperiode und des Zweiten Weltkrieges sollten im Wunsch nach Sekurität der wirtschaftliche Wettbewerb eingeschränkt und die Formen eines „Raubtierkapitalismus“ ausgeschlossen werden. Die Motivationen blieben dabei vielfältig: Erstens die durch die Kriegsereignisse bedingte völlige gesellschaftliche Ermattung und Unfähigkeit, überhaupt wieder in eine massive Konkurrenz treten zu können – vergleichbar der Phase am Ende des Dreißigjährigen Krieges, als es zu einem 51 Zit. nach toNy judt: Postwar. a history of Europe since 1945, london 2005, S. 69. 52 Ebd., S. 98. 53 VaNessa coNze: Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920–1970), München 2006, S. 342.
ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft als radikale Ordnungsinnovation
117
Erschöpfungsfrieden gekommen war.54 Daneben trat zweitens der Umstand, dass gerade in den Kriegsjahren die staatlichen und behördlichen Planungstraditionen weiter eingeübt worden waren. Überall in Europa war durch verschiedene notstandsgesetze der Staat als Planer und Organisator des Krieges aufgetreten, und diese tradition wurde nach 1945 fortgesetzt. In Italien blieb die Wirtschaft beispielsweise auch nach dem Ende des Faschismus unter staatlicher aufsicht, und in Frankreich wurde seit 1946 in einem dem Regierungschef zugeordneten „commissariat général du Plan“ sogar ein „Vierjahresplan“ aufgestellt – ausgerechnet unter Jean Monnet, der später für die Europapolitik eine große Rolle spielen sollte. Daneben konnte drittens der Wunsch eine Rolle spielen, ein auf Subsidiarität beruhendes christliches Modell zu etablieren, eine Idee, die häufig mit dem allerdings umwölkten Begriff des „abendlandes“ verbunden wurde. Schließlich viertens, dies war die skandinavische Variante, wurde das „überkommene liberale Ideal des Fair Play (…) zunehmend als Forderung verstanden, löhne, Preise, Einkommen und Gewinne in diversen Kollektivverhandlungen durch die gesellschaftlichen Kräfte“ aushandeln zu lassen, wobei dem Staat eine „Schiedsrichterfunktion“ für die Schaffung annehmbarer Bedingungen zukommen sollte. In den Steuerungsphantasien eines Gunnar Myrdal beispielsweise war es der wohlwollende Staat, der zugleich als Stadtplaner wie als Sozialpolitiker auftrat.55 Die starke Stellung des Staates blieb auch daher in den wichtigen Jahren legitimiert, in denen die Bundesrepublik wieder nach beunruhigenden und erschreckenden Exzessen auf den angestammten Pfad einer modernen Zivilgesellschaft zurückkehrte. Erst mit dem Ende der Industriegesellschaft 1973 wurde deutlich, dass dieser erfolgreiche Weg auf die Sonnenseite langfristig auch in den Schatten führen konnte. Inwiefern die in den späten 1940er und 1950er Jahren gefundenen wirtschaftlich-politischen lösungen verantwortlich sind für die heutige Überbürdung des Sozialstaats, für den ausufernden Planungsenthusiasmus, für manche mit dem Europagedanken verbundene Regelungsbürokratie sowie dafür, dass „vom Staat heute nicht nur gutes Recht, sondern immer mehr gutes Geld“ erwartet wird56 und dadurch Staat und Gesellschaft an den Rand der Belastbarkeit gebracht werden, ist eine ganz andere Frage.
54 chRistoPh KamPmaNN: Europa und das Reich im Dreißigjährigen Krieg. Geschichte eines europäischen Konflikts, Stuttgart 2008. 55 guNNaR myRdaL: Jenseits des Wohlfahrtsstaates, Stuttgart 1961, S. 34. Vgl. hierzu auch thomas etzemüLLeR: Die Romantik der Rationalität. alva & Gunnar Myrdal. Social Engineering in Schweden, Bielefeld 2010. 56 PauL KiRchhof: Der freie oder der gelenkte Bürger. Die Gefährdung der Freiheit durch Geld, Informationspolitik und durch die Organisationsgewalt des Staats (theodorheuss-Gedächtnis-Vorlesung 2009), Stuttgart 2010, S. 12.
WachStUM UnD KEIn EnDE. DIE ÄRa DES KEYnESIanISMUS In DER BUnDESREPUBlIK1 Alexander Nützenadel In der wirtschaftshistorischen literatur wird meist betont, der Keynesianismus habe in Deutschland nie richtig Fuß fassen können. Während andere westliche Industriestaaten ihre Wirtschaftspolitik seit der großen Krise der dreißiger Jahre, spätestens aber seit Ende des Zweiten Weltkrieges an den Ideen von Keynes ausgerichtet hätten, habe man in Deutschland andere Wege beschritten.2 abgesehen von einer kurzen Blüte des Keynesianismus in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren sei der ökonomische Mainstream durch andere Konzepte geprägt worden: Während in den zwanziger und dreißiger Jahren noch die späten Protagonisten der historischen Schule das Fach beherrschten, hätten sich ab etwa 1936 die Planungsvorstellungen der nS-Ökonomen durchsetzt. In der Bundesrepublik hätten, gleichsam in abgrenzung dazu, ordoliberale und neoklassische Konzepte die wirtschaftswissenschaftliche Diskussion dominiert. „Die Keynesianische Revolution findet nicht statt“, urteilte etwa Werner abelshauser in seiner „Deutschen Wirtschaftsgeschichte seit 1945“.3 Diese these eines bundesdeutschen „Sonderwegs“4 in der Wirtschaftspolitik erscheint allerdings aus zweierlei Gründen wenig überzeugend: Zum einen hat es eine „Keynesianische Revolution“ nirgends gegeben, der Begriff überzeichnet den realen Einfluss dieses wirtschaftspolitischen Konzepts eklatant. trotz seiner Prominenz war John Maynard Keynes in den meisten ländern umstritten. In den USa gab es während der Großen Depression der drei1 2
3 4
Dieser Beitrag basiert auf meiner Studie: Stunde der Ökonomen. Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949–1974, Göttingen 2005. chRistoPheR s. aLLeN: the Underdevelopment of Keynesianism in the Federal Republic of Germany, in: PeteR a. haLL (hg.): the Political Power of Economic Ideas. Keynesianism across nations, Princeton 1989, S. 263–289, hier S. 288; vgl. auch WeNdy caRLiN: West German Growth and Institutions, in: NichoLas f. R. cRafts / giaNNi toNioLo (hg.): Economic Growth in Europe since 1945, cambridge/new York 1996, S. 455– 497. WeRNeR aBeLshauseR: Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, München 2004, S. 297. Vgl. z. B. KeNNeth h. f. dysoN: German Economic Policy after Fifty Years, in: PeteR h. meRKL (hg.): the Federal Republic of Germany at Fifty: at the End of a century of turmoil, london 1999, S. 219.
120
alexander nützenadel
ßiger Jahre zwar einige von Keynes beeinflusste Ökonomen, aber der new Deal kann nur eingeschränkt als Umsetzung Keynesianischer Vollbeschäftigungspolitik verstanden werden. Obgleich 1946 der Employment act verabschiedet wurde, der eine Reihe von staatlichen Interventionsmöglichkeiten schuf, schwand der Einfluss von Keynes auf die Wirtschaftspolitik, sobald sich die amerikanische Volkswirtschaft erholt hatte.5 auch in vielen kontinentaleuropäischen ländern war Keynes keineswegs unumstritten. So spielte er in Italien, Spanien und den anderen südeuropäischen ländern kaum eine Rolle. Das in Frankreich etablierte System der „planification économique“, das eine umfassende lenkung aller Investitionen und eine Verstaatlichung der großen Industrieunternehmen anstrebte, war nur bedingt mit Keynes zu vereinbaren. Französische Ökonomen standen der angelsächsischen Wirtschaftstheorie generell skeptisch gegenüber. auch in den skandinavischen ländern wurden eigene wohlfahrtsstaatliche Konzepte entwickelt, die nur bedingt als keynesianisch bezeichnet werden können.6 Im internationalen Kontext war Deutschland somit kein Sonderfall. Vielmehr wurden auch hier nur für eine bestimmte historische Phase einige Elemente der Keynes’schen theorie adaptiert, ohne grundlegende Prinzipien des marktwirtschaftlichen Systems aufzugeben. Keynes spielte seit den fünfziger Jahren zunächst in der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion eine wachsende Rolle und fand seit 1957 zunehmend Eingang in die Politik. Mit dem Wachstums- und Stabilitätsgesetz von 1967 wurde die makroökonomische Vollbeschäftigungspolitik gesetzlich verankert und prägte fortan für gut ein Jahrzehnt die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung. Erklärungsbedürftig ist nicht die abwesenheit des Keynesianismus in der Bundesrepublik, sondern vielmehr sein erheblicher Einfluss in einer Epoche, die durch ein hohes Maß an wirtschaftlicher Stabilität und Wachstum geprägt war. Die these dieses Beitrages lautet, dass die Durchsetzung des Keynesianismus nach 1945 nicht allein eine Folge veränderter wirtschaftlicher Erfordernisse war. Vielmehr spielte der kulturelle und politische Wandel ebenfalls eine wichtige Rolle: Die geschichtspolitischen Debatten über die Weltwirtschaftskrise, der Systemwettbewerb des Kalten Krieges und der aufstieg einer neuen wirtschaftswissenschaftlichen Expertenkultur waren wesentliche Voraussetzung für den Siegeszug der keynesianischen Makroökonomik. Sie schufen eine einzigartige Konstellation, die sich freilich schon in den frühen siebziger Jahren wieder aufzulösen begann.
5 6
Vgl. die Beiträge in P. a. hall, Power (wie anm. 2). Vgl. ebd.
Keynesianismus in der Bundesrepublik
121
1. Erbe und auftrag: Die Erinnerung an die Weltwirtschaftskrise helmut Schlesinger, der frühere Präsident der Bundesbank, hat die these vertreten, die Deutschen hätten aus historischen Gründen eine besondere „Stabilitätskultur“ entwickelt. Der Verlust von Vermögen und Besitz durch hyperinflation, Wirtschaftskrise, Kriege und Systemumbrüche sei dafür verantwortlich, dass die Sparquote in der Bundesrepublik höher sei als in anderen ländern und einer soliden Finanzverfassung sowie einer harten Geldpolitik hohe Priorität eingeräumt werde.7 Diese these ist neuerdings von der historischen Forschung aufgegriffen und in europäisch-vergleichender Perspektive vertieft worden.8 Zweifellos verfolgen Bundesbank und andere akteure seit jeher eine stabilitätsorientierte Geld- und Währungspolitik. allerdings, so lautet die these dieses Beitrages, ist auch die adaption des Keynesianismus in Deutschland aus den spezifischen stabilitätspolitischen Bedürfnissen der Zeit zu erklären. Es spricht sogar viel für die annahme, dass die Obsession mit wirtschaftlicher Stabilität dem Keynesianismus geradezu den Weg bereitet hat. Denn die finanzpolitischen Planungstechniken der sechziger und siebziger Jahre (mittelfristige Finanzplanung, Budgetprogrammierung, nutzen-Kosten-analyse bei öffentlichen Investitionsprojekten) zielten darauf, die langfristigen Folgen öffentlicher ausgaben zu bestimmen und wurden daher auch von konservativen haushaltspolitikern befürwortet. Die Bundesbank forderte seit den späten fünfziger Jahren mit nachdruck eine konjunkturorientierte Finanzpolitik.9 Vor dem hintergrund anhaltender Vollbeschäftigung bedeutete dies allerdings, die öffentlichen ausgaben zu senken, um einen anstieg der Inflation zu verhindern. Es konnte also mit dem argument der Inflationsbekämpfung für eine antizyklische Fiskalpolitik eingetreten werden. auch im Wachstums- und Stabilitätsgesetz von 1967 wurde das Ziel der Preisniveaustabilität gleichberechtigt neben Wachstum, Vollbeschäftigung und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht gestellt. allerdings war nach 1945 nicht nur die Erinnerung an die hyperinflation lebendig, sondern vor allem das Schreckbild der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre, die viele Zeitgenossen noch persönlich erlebt hatten. Im geschichtspolitischen Diskurs der nachkriegszeit spielte dieses Ereignis eine 7 8
9
Vgl. maNfRed j. m. NeumaNN: Geldwertstabilität: Bedrohung und Bewährung, in: deutsche BuNdesBaNK (hg.): Fünfzig Jahre Deutsche Mark. notenbank und Währung seit 1948, München 1998, S. 309–346, hier S. 343. BeRNhaRd LöffLeR (hg.): Die kulturelle Seite der Währung. Europäische Währungskulturen, Geldwerterfahrungen und notenbanksysteme im 20. Jahrhundert (= historische Zeitschrift. Beihefte, Bd. 50), München 2010; vgl. auch toNi PieReNKemPeR: Die angst der Deutschen vor der Inflation. Oder: kann man aus der Geschichte lernen?, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1/1998, S. 59–84. heLge BeRgeR: Konjunkturpolitik im Wirtschaftswunder. handlungsspielräume und Verhaltensmuster von Bundesbank und Regierung in den 1950er Jahren, tübingen 1997.
122
alexander nützenadel
herausragende Rolle. „alle Probleme der Weltwirtschaftspolitik der Gegenwart“, so schrieb der in Mün ster lehrende Volkswirt andreas Predöhl 1953 in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte, „sind aus dieser Krise erwachsen, wie immer der Zweite Weltkrieg das politische Gesicht der Welt revolutioniert haben mag. Jedes Urteil in wirtschaftlichen Fragen der Gegenwart ist bewusst oder un bewusst bestimmt durch ein Urteil über die Weltwirtschaftskrise.“10 Diese Beobachtung traf für die Bundesrepublik noch stärker zu als für andere Industriestaaten wie die USa oder Großbritannien, in denen die Weltwirtschaftskrise zwar ebenfalls verheerende auswirkungen gehabt hatte, aber nicht für eine totalitäre Entwicklung verantwortlich gemacht werden konnte. Es könne, so schrieb der Volks wirt Walter Jöhr 1955, „kein Zweifel bestehen, dass die Weltgeschichte einen völlig anderen Verlauf genommen hätte, wenn die Depression in Deutschland überwun den worden wäre, bevor die arbeitslosigkeit die Drei- oder Vier-Millionen-Grenze überschritten hätte“.11 Die ursächliche Verknüpfung von wirtschaftlicher Depression und nationalsozialistischer Machtergreifung war im historisch-politischen Diskurs der westdeutschen nachkriegsgesellschaft unstrittig. Dieser interpretatorische nexus war, wie Dietmar Petzina betont hat, von „geradezu traumatischer Qualität“ und prägte das wissenschaftlich-historische Urteil wie auch das populäre Bild bis in die frühen siebziger Jahre hinein. Dies galt unter anderem für die vom Münchner Institut für Zeitgeschichte in auftrag gegebene Studie „Von der Weltwirtschaftskrise zur Staatskonjunktur“, die Gerhard Kroll 1959 publiziert hatte.12 Mehrere Faktoren waren für diese geschichtspolitische Interpretation verantwortlich. Zum einen bedeutete es im Kontext der Schulddebatten der nachkriegszeit eine Entlastung, wenn man ökonomische Ursachen für den aufstieg des natio nalsozialismus verantwortlich machen konnte. Die individuelle Verantwortung der Deutschen schien dadurch geringer. Dies erklärt die wissenschaftliche und öffentliche Popularität der Deutung. Zum anderen bemühten sich zahlreiche Ökonomen und Politiker wie etwa Rudolf Stucken oder Wilhelm Grotkopp, die in den frühen dreißiger Jahren für defizitfinanzierte Krisenprogramme eingetreten waren, um eine nachträgliche Rechtfertigung ihrer Positionen. aus ihrer Sicht hatten die Regierung Brüning sowie große teile des wirtschaftswissenschaftlichen Establishments während der 10 aNdReas PRedöhL: Die Epochenbedeutung der Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1931, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 1 (1953), S. 97–118, hier S. 97. 11 WaLteR a. jöhR: hochkonjunktur 1929 und 1955, aarau 1955, S. 3. 12 geRhaRd KRoLL: Von der Weltwirtschaftskrise zur Staatskonjunktur, Berlin 1958; vgl. auch WeRNeR ehRLicheR: Die deutsche Finanzpolitik seit 1924, Bonn 1961; vgl. ferner WiLheLm gRotKoPP: Die große Krise. lehren aus der Überwindung der Wirtschaftskrise 1929, Düsseldorf 1964.
Keynesianismus in der Bundesrepublik
123
Krise versagt.13 Diese ansicht wurde von vielen anderen Ökonomen geteilt. Scharf verurteilte etwa Werner Ehrlicher, Ordinarius an der Univer sität Freiburg, den „prozyklischen charakter“ der Finanzpolitik und die desaströ sen Folgen der Brüningschen notverordnungen. Diese hätten „zweifelsohne entscheidend dazu beigetragen“, die „abwärtsbewegung der Wirtschaft zu verschär fen“, die seinerzeit ergriffenen Maßnahmen erschienen Ehrlicher „vom heutigen Stand der theoretischen Einsicht fast grotesk“.14 nach auffassung des Präsidenten des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, hans langelütke, entsprach das „liberali stische Wunsch- und leitbild des Selbstheilungsprozesses“, welches der Wirt schaftspolitik Brünings zugrunde gelegen habe, schon damals nicht mehr dem wis senschaftlichen Erkenntnisstand. So sei es zur anwendung eines „therapeutisch fal schen Rezepts“ gekommen – mit fatalen Folgen für die Stabilität der deutschen Volkswirtschaft.15 auch alfred Müller-armack verwies auf lehren, die man aus den katastrophalen Erfahrungen der dreißiger Jahre ziehen müsse.16 „Gerade das Versa gen in bezug auf die Konjunkturpolitik hat die letzte Weimarer Regierung diskredi tiert und den herandrängenden nazistischen Mächten nach 1933 durch ihre arbeitsbeschaffung ihren anhang in breiten Schichten gesichert.“ Grundsätzlich erschien Müller-armack auch die nachkriegsgesellschaft nicht vor solchen Gefahren gefeit. angesichts drohender „Konjunkturrückschläge“ betrachtete er den „Einbau eines equilibrierenden Instrumentes als wesentliche Voraussetzung, um in einer unruhigen Wetterlage die marktwirtschaftliche Ordnung auf Dauer ertragen zu können.“17 Diese Äußerungen machen deutlich, dass die Debatte über die Weltwirtschaftskrise nicht nur akademischer natur war, sondern erhebliche wirtschaftspolitische Folgen hatte. Die historische Erfahrung diente zur legitimierung einer umfassenden staatlichen Steuerung von Wach stum und Konjunktur – bis hin zum Wachstums- und Stabilitätsgesetz von 1967, dem ein 13 Vgl. KNut BoRchaRdt: Zwangslagen und handlungsspielräume in der großen Weltwirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre. Zur Revision des überlieferten Geschichtsbildes, in: Jahrbuch der Bayerischen akademie der Wissenschaften 1979, S. 85–132; Borchardt gehörte zu den ersten, die sich kritisch mit dieser Interpretation auseinandersetzten; vgl. auch BeRNhaRd müLLeR: aussagen der nationalökonomischen literatur und der deutschen Publizistik zur Weltwirtschaftskrise 1930 bis 1933 aufgrund des Standes der damaligen Konjunkturtheorie und die daraus fließenden konjunkturpolitischen Vorschläge, Diss. tübingen 1990, S. 291–325, der ausführlich auf die von Borchardt ausgelöste Diskussion in den achtziger Jahren eingeht. 14 WeRNeR ehRLicheR: Die deutsche Finanzpolitik seit 1924, Bonn 1961, S. 8. 15 haNs LaNgeLütKe: Vierzig Jahre Konjunkturforschung in Deutschland, München 1965, S. 4. 16 aLfRed müLLeR-aRmacK: Institutionelle Fragen der europäischen Konjunkturpolitik, in: Wirtschaftspolitische chronik 3, 1958, S 7–24. 17 aLfRed müLLeR-aRmacK: Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, hamburg 1947, S. 125.
124
alexander nützenadel
langer historischer Prolog über die Große Depression und ihre Folgen vorangestellt wurde.18 Erst in den siebziger Jahren, als nicht nur der Keynesianismus an Einfluss verlor, sondern auch die historische Forschung – namentlich durch die arbeiten von Knut Borchardt – zu einem differenzierteren Urteil über Brünings Rolle während der Depression gelangte, verlor diese Meistererzählung der deutschen Wirtschaftsgeschichte an Bedeutung.19 2. Vom Ordoliberalismus zur „neuen Wirtschaftslehre“ Erleichtert wurde die Verbreitung keynesianischer Ideen durch die institutionellen, personellen und methodischen Veränderungen innerhalb der nationalökonomie. Kaum eine gesellschaftswissenschaftliche Disziplin hat nach dem Zweiten Weltkrieg einen ähnlichen Wandel erfahren. Es kam nicht nur zu einer Expansion und Professionalisierung der Wirtschaftswissenschaften an bundesdeutschen Universitäten und Forschungseinrichtungen, sondern auch zu einer weitreichenden theoretischen und methodischen neuorientierung.20 Das Fach löste sich endgültig von seinen älteren, noch vom Methodenverständnis der historischen Schule beeinflussten traditionen. Eine wichtige Rolle spielte hierbei zunächst die ordoliberale Freiburger Schule um Walter Eucken und Franz Böhm. Sie prägte in der anfangszeit der Bundesrepublik nicht nur das theoretische Selbstverständnis des Faches, sondern beeinflusste auch die wirtschaftspolitischen Konzepte und institutionellen Reformen der aufbauphase.21 allerdings verlor der Ordoliberalismus im laufe der fünfziger Jahre rasch an Einfluss, zunächst im wissenschaftlichen, dann auch im politischen Bereich. Zum einen waren die namhaften Repräsentanten dieser Richtung an den bundesdeutschen Universitäten kaum noch vertreten. Walter Eucken, alfred 18 Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft (StabG) vom 8. Juni 1967, in: BgBL i, S. 582. 19 KNut BoRchaRdt: Zwangslagen (wie anm. 12); vgl. auch aLBRecht RitschL: Knut Borchardts Interpretation der Weimarer Wirtschaft. Zur Geschichte und Wirkung einer wirtschaftsgeschichtlichen Kontroverse, in: jüRgeN eLVeRt / susaNNe KRauss (hg.): historische Debatten und Kontroversen im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2001, S. 234–244; sowie maRtiN h. geyeR: Kritik und Krise. Sprachkritik und Krisendiskurse in den 1970er Jahren, in: thomas meRgeL: Krisen verstehen, Frankfurt a. M. 2012 (im Druck). 20 Vgl. jaN-otmaR hesse: Die Wirtschaft als Wissenschaft. Bundesdeutsche Volkswirtschaftslehre zwischen Weltkrieg und Ölpreiskrise, Frankfurt a. M. 2010; vgl. auch haRaLd hagemaNN: the Post-1945 Development of Economics in Germany, in: a. W. BoB coats (hg.): the Development of Economics in Western Europe since 1945, london/ new York 2000, S. 113–128. 21 aNthoNy j. NichoLLs: Freedom with Responsibility. the Social Market Economy in Germany 1918–1963, Oxford/new York 22000.
Keynesianismus in der Bundesrepublik
125
lampe, leonhardt Miksch und hans Großmann-Doerth waren während oder kurz nach dem Krieg gestorben, andere – wie Wilhelm Röpke – lehrten im ausland. Viele anhänger der Freiburger Schule wandten sich von der ökonomischen Forschung ab und befassten sich mit kulturphilosophischen und politischen themen. Dies traf zum Beispiel auf alexander Rüstow zu, der 1950 in heidelberg auf den lehrstuhl von alfred Weber berufen worden war.22 Franz Böhm oder alfred Müller-armack wiederum engagierten sich in der Politik und waren wissenschaftlich nicht mehr so präsent wie zuvor. Zum anderen erfolgte nach 1945 eine rasche Rezeption der anglo-amerikanischen theorien, die in der nS-Zeit zwar durchaus wahrgenommen, von etablierten Fachvertretern aber mit großer Skepsis gesehen worden waren.23 nach dem Krieg versuchten die bundesdeutschen Ökonomen durch Öffnung des Faches wieder anschluss an die internationale Forschungsdiskussion zu finden. In diesem Kontext interessierte man sich vor allem für die Keynesianische Makroökonomik, in zunehmendem Maße aber auch für die von Robert Solow auf neoklassischer Basis entwickelte Wachstumstheorie. Dabei kam es weder zu Richtungskämpfen noch entstanden verfeindete Schulen. Während der Keynesianismus die wissenschaftliche Zunft in den USa in anhänger und Gegner spaltete, gingen bundesdeutsche Ökonomen eher pragmatisch damit um. Es war allerdings auch nicht die Keynessche Ursprungs lehre, sondern die von Paul Samuelson, John hicks und anderen angelsächsischen Ökonomen entwickelte „neoklassische Synthese“, welche in den fünfziger Jahren eher lautlos in die bundesdeutsche Volkswirtschaftslehre Eingang fand.24 Eine Schlüsselrolle für diesen theorie- und Wissenstransfer spielte eine kleine Gruppe von Ökonomen, die in der nS-Zeit ins ausland emigriert waren und von denen nach 1945 ei nige in führende Positionen an bundesdeutschen Universitäten und Forschungs einrichtungen zurückkehrten, etwa Fritz neumark in Frankfurt oder Erich Schneider in Kiel. Zugleich nahmen viele jüngere Ökonomen – wie herbert Giersch, carl christian von Weizsäcker, Wilhelm Krelle oder Walter hoffmann – nach dem Krieg an austauschprogrammen mit den USa teil, wo sie mit neuen wissenschaftlichen trends und Methoden in Berührung kamen. nicht zuletzt wurden in der Bundesrepublik ältere Forschungen zur Kreislaufanalyse und Input-Output-Rechnung aus den dreißiger 22 KatRiN meyeR-Rust: alexander Rüstow – Geschichtsdeutung und liberales Engagement, Stuttgart 1993. 23 haRaLd hagemaNN: Der amerikanische Einfluß auf das deutsche Wirtschaftsdenken, in: detLef juNKeR (hg.): Die USa und Deutschland im Zeitalter des Kalten Krieges 1945– 1990. Ein handbuch, Bd. 1: 1945–1968, München 2001, S. 553–563; dudLey diLLaRd: the Influence of Keynesian thought on German Economic Policy, in: haRoLd L. WatteL (hg.): the Policy consequences of John Maynard Keynes, armonk 1985, S. 116– 127; jaN-otmaR hesse: „Ein Wunder der Wirtschaftstheorie“. Zur „amerikanisierung“ der Volkswirtschaftslehre in der frühen Bundesrepublik, in: Jahrbuch des historisches Kollegs 2007, S. 79–113. 24 J.-O. hesse: Wunder (wie anm. 23).
126
alexander nützenadel
und vierziger Jahren reaktiviert, für die namen wie Ferdinand Grünig, carl Föhl oder hans Peter standen. Zwei parallele und nur auf den ersten Blick widersprüchliche Entwicklungen kenn zeichneten das methodische Selbstverständnis der Volkswirtschaftslehre in den fünfziger und sechziger Jahren: Zum einen setzte sich das mathematisch formalisierte Modelldenken durch, mit dem sich die Disziplin endgül tig von ihren vormals engen Verbindungen zu den Sozial- und Geisteswissenschaf ten löste. Viele Ökonomen fühlten sich fortan der Physik und Mathematik metho disch stärker verbunden als der Soziologie oder der Geschichtswissenschaft. Die wachsende Komplexität und der hohe abstraktionsgrad der Disziplin führten dazu, dass die theoretischen Debatten von nichtfachleuten kaum noch nachvollzogen werden konnten. Zum anderen rückten ökonomische Fragen nicht nur in das Zentrum der politischen Diskussion, sondern gewannen in fast allen gesellschaftlichen handlungsfeldern Relevanz. Die Bedeutung der wirtschaftspolitischen Beratung und angewandten Forschung nahm rasant zu. Dabei ging es zunächst um die präzise statistische Messung volkswirtschaftlicher Vorgänge und ihrer kreislaufmäßigen Zusammen hänge. Ökonometrie, Konjunkturbeobachtung und Volkswirtschaftliche Gesamt rechnung erlebten in der Bundesrepublik seit den frühen fünfziger Jahren einen unvergleichlichen Boom und wurden institutionell und personell stark ausgebaut. Vor allem die außeruniversitäre Konjunktur- und Wirtschaftsforschung gewann in die sem Zusammenhang stark an Bedeutung, so das Ifo-Institut in München, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin oder das Kieler Institut für Weltwirtschaft. Viele dieser Einrichtungen waren zwar schon früher gegründet worden, expandierten nun aber rasch und fanden durch neue Formen der Politikberatung (wie das 1950 erstmals vorgelegte „Gemeinschaftsgutachten“) große öffentliche Resonanz.25 Früher als an den Universitäten setzten sich in diesen Einrichtungen neue Formen der Projekt- und Großforschung durch, wie sie bislang nur in den naturwissenschaften üblich gewesen waren. tatsächlich gestaltete sich die tätigkeit der empiri schen Wirtschaftsforschung außerordentlich personalintensiv und bedurfte ei ner finanziellen und institutionellen ausstattung, über welche die Universitäten in den fünfziger und frühen sechziger Jahren nicht verfügten. Beschäftigte das DIW 1950 über 63 Mitarbeiter, so waren es zehn Jahre später fast doppelt so viele. Das Ifo-Institut hatte 1949 seine arbeit mit weniger als einem Dutzend Mitarbeitern aufgenommen, 1961 waren dort etwa 160 Personen beschäftigt. am Kieler Institut für Weltwirtschaft waren 1963 250 Mitarbeiter tätig, während am RWI Essen 1960 41 Personen angestellt waren. Einen starken ausbau erfuhr auch das hWWa, dessen Mitarbeiter stab von 47 Ende 1948 auf 120 im Jahre 1960 anwuchs. Insgesamt waren in den Instituten der arbeitsgemeinschaft Ende der fünfziger Jahre 25 h. hagemaNN: Development (wie anm. 19), S. 121.
Keynesianismus in der Bundesrepublik
127
etwa 330 Wissenschaftler und 1000 andere Mitarbeiter beschäftigt.26 anfängliche Bedenken einiger liberaler Ökonomen, welche in der quantifizierenden Wirtschaftsforschung eine Vorstufe totalitärer Planwirtschaft erblickten, fanden kaum noch Zuspruch. nicht nur die private Wirtschaft war an verlässlichen Daten zur konjunkturellen Entwicklung sowie an Input-Output-Matrizen für bestimmte Branchen interessiert. auch der „Datenhunger“ staatlicher Behörden, der Sozialversicherungsträger und der kommunalen Pla nungsverbünde wuchs stark an. Überdies war die Bundesrepublik verpflichtet, für die statistischen Belange internationaler Organisationen (OEEc, UnO, EWG usw.) umfassende Kreislauf- und Kontensysteme zu erstellen.27 Einen qualitativen Sprung bedeutete die Entwicklung ökonomischer Prognose verfahren, die sich in zwei Phasen vollzog. In den fünfziger Jahren domi nierte die kurzfristige Konjunkturprognose, welche vom Münchner IfoInstitut entwickelt und mit großem Erfolg praktiziert wurde. an die Stelle der in den zwanziger Jahren begründeten „Barometermethode“ trat das Konjunkturtestverfahren, das auf modernen, aus den USa übernommenen Metho den der Meinungsumfrage basierte.28 Ergänzend wurde seit Ende der fünfziger Jahre mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft komplexe ökonometrische Prognosesysteme modelliert, die einen Zeithorizont von bis zu 10 Jahren besaßen.29 Eine Vorreiterrolle spielte hierbei das sogenannte „Bonner Modell“, das der Physiker und Volkswirt Wilhelm Krelle mit hilfe 26 feRdiNaNd fRiedeNsBuRg: Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung. Beiträge zur empirischen Konjunkturforschung, Berlin 1950, S. 11–18, hier S. 16; ifo-iNstitut füR WiRtschaftsfoRschuNg: aufbau und aufgaben, o. V., München 1961, S. 5; RoLf KReNgeL: Das deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (Institut für Konjunkturforschung) 1925 bis 1979, Berlin 1985, S. 163; KNut BoRchaRdt: Denkschrift zur lage der Wirtschaftswissenschaft, Stuttgart 1960, S. 87; aNtoN zottmaNN: Die Entwicklung des Instituts für Weltwirtschaft von der Gründung bis zur Gegenwart, in: Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel 1914–1964, Bd. 1–66, Kiel 1964, S.66; heLmut LeVeKNecht: 90 Jahre hWWa. Von der Zentralstelle des hamburgischen Kolonialinstituts bis zur Stiftung hWWa, hamburg 1998, S. 38 u. 44. 27 doNaLd PatiNKiN: Keynes and Econometrics. On the Interaction between the Macroeconomic Revolutions of the Interwar Period, in: Econometrica 44 (1976), S. 1091–1123; vgl. allgemeiner auch: a. W. BoB coats (hg.): Economists in International agencies. an Exploratory Study, new York/Westport/london 1986. 28 haNs LaNgeLücKe / WiLheLm maRquaRdt: Das Konjunkturtestverfahren. aufgabe, Methode und Erkenntniswert, in: allgemeines Statistisches archiv 35 (1951), S. 34–67; vgl. auch: ifo-iNstitut (wie anm. 26); RaLf maRquaRdt (hg.): Dreißig Jahre Wirtschaftsforschung im Ifo-Institut. 1949–1979, München 1979; R. KReNgeL, Institut (wie anm. 26). 29 heRBeRt güLicheR: Ein einfaches ökonometrisches Dezisionsmodell zur Beurteilung der quantitativen auswirkungen einiger wirtschaftspolitischer Maßnahmen für die Bundesrepublik Deutschland, Köln-Opladen 1961; güNteR meNges: Ökonometrie, Wiesbaden 1961; geRd haNseN: Ein ökonometrisches Modell für die Bundesrepublik 1951– 1964, Göttingen 1966; dietRich LüdeKe: Ein ökonometrisches Vierteljahresmodell für die Bundesrepublik Deutschland, tübingen 1969.
128
alexander nützenadel
computergestützter Verfahren entwickelte.30 Krelle hat diese Projekte rückblickend als Beginn der „Big Science“ in der wirtschaftswissenschaftlichen hochschulforschung charakterisiert.31 War auch der Bonner ansatz noch weit entfernt von den Dimen sionen naturwissenschaftlicher Großforschung, so manifestierte sich in den Projekten doch eine neue Qualität der wissenschaftlichen arbeit. Der hohe auf wand an finanziellen, personellen und technischen Ressourcen sowie die lange lauf zeit war dabei nicht alles. neu war die interdisziplinäre Kooperation, der Einsatz rechnergestützter Verarbeitung, insbesondere aber die enge Verflechtung von theoretischer und empirischer arbeit. Die transformation der Ökonomie von einer vergangenheitsbezogenen zu einer prognostischen Wissenschaft hatte weitreichende Folgen, und zwar nicht nur für das disziplinäre Selbstverständnis, sondern auch für die gesellschaftliche Relevanz des Faches. Die Etablierung der ökonomischen „Zukunftsforschung“ eröffnete vollkommen neue Möglichkeiten der staatlichen Planung und bildete somit auch eine wichtige Voraussetzung für die keynesianische ausrichtung der Wirtschafts- und Finanzpolitik.32 aus Sicht der Wirtschaftswissenschaften gab es ein erhebliches professionelles Interesse an einer solchen Politik, weil damit nicht nur eine ausweitung der Forschungsressourcen verbunden war, sondern auch ein Zuwachs an öffentlicher aufmerksamkeit und wissenschaftlichem Prestige. Der 1963 gegründete Sachverständigenrat für die Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, der die keynesianische Politik in den 1960er Jahren unterstützte, zeugt von dem neuen Selbstverständnis der Ökonomen.33 Das Gremium besaß eine – auch international – einzigartige Stellung in der ökonomischen Politikberatung und war mit erheblichen For schungsressourcen ausgestattet. Der Sachverständigenrat trat vor allem in den ersten Jahren betont regierungskritisch auf und unterstrich damit nicht nur seinen anspruch als unabhängiges Beratungsgremium, sondern konnte auch die Medien für seine Ziele mobilisieren.34. 30 Insgesamt handelte es sich um 35 Definitions- und 28 Verhaltensgleichungen sowie um sieben exogene Variablen; WiLheLm KReLLe u. a.: Ein Prognosesystem für die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland, Meisenheim am Glan 1969, S. 23. 31 Ebd., Vorwort. 32 aLexaNdeR NützeNadeL: Die Vermessung der Zukunft. Ökonometrische Prognostik und empirische Wirtschaftsforschung in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg, in: heiNRich haRtmaNN / jaKoB VogeL (hg.): Zukunftswissen. Prognosen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft seit 1900, Frankfurt am Main 2010, S. 55–75. 33 otto schLecht / uLRich VaN suNtum (hg.): 30 Jahre Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Krefeld 1995; haNs g. faBRitius: Konjunkturtheoretische Vorstellungen des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Eine analyse der bis einschließlich 1972 veröffentlichten Gutachten, Berlin 1975. 34 gaBRieLe metzLeR: Versachlichung statt Interessenpolitik. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, in: stefaN fisch / WiLfRied
Keynesianismus in der Bundesrepublik
129
3. Finanzpolitik auf neuen Wegen allerdings müssen die Verschiebungen in den wirtschaftspolitischen leitbildern auch auf die veränderten wirtschaftspolitischen anforderungen zurückgeführt werden. Zum einen spielte die Ordnungspolitik seit Mitte der fünfziger Jahre keine große Rolle mehr, an ihre Stelle traten zunehmend Probleme der Prozesspolitik. hatte in der Gründungsphase der Bundesrepublik die Gestaltung der institutionellen Rahmenbedingungen im Zentrum gestanden, so ging es nun darum, die wirtschaftspolitischen abläufe zu optimieren.35 Im Bereich der Finanzplanung, die sich in Deutschland aufgrund der föderalen Struktur besonders kompliziert gestaltete, wurde mehr und mehr auf moderne, in den USa entwickelte Budgetierungsverfahren gesetzt, die mit einem mehrjährigen Zeithorizont operierten.36 Zunehmend problematischer gestaltete sich auch die Währungs- und Geldpolitik.37 nach dem Übergang zur Konvertibilität der D-Mark und der schrittweisen liberalisierung des Kapitalverkehrs Ende der fünfziger Jahre wurde es für die Bundesbank immer schwieriger, sowohl die Zahlungsbilanz auszugleichen als auch Geldwertstabilität zu garantieren. Im Bretton-Woods-System der festen Wechselkurse ließen sich beide Ziele mit dem klassischen Instrumentarium der notenbank nicht mehr gleichzeitig erreichen.38 Erhöhte die Bundesbank ihre Zinsen, so führte dies regelmäßig zu Kapitalzuflüssen aus dem ausland, womit das Ziel der Inflationsbekämpfung konterkariert wurde. Dieses Dilemma hatte zur Folge, dass sich die Bundesbank nachdrücklich für eine Verbesserung der konjunkturpo-
35
36
37 38
RudLoff: Experten und Politik. Wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive, Berlin 2004, S. 127–152. Vgl. z. B. heiNz haLLeR: Zur Frage der wirtschaftlichen Staatsintervention, in: Finanzarchiv 14 (1953/54), S. 230–242; joachim j. hesse (hg.): Politikverflechtung im föderativen Staat. Studien zum Planungs- und Finanzierungsverbund zwischen Bund, ländern und Gemeinden, Baden-Baden 1978. geseLLschaft füR WiRtschafts- uNd soziaLWisseNschafteN, VeReiN füR sociaLPoLitiK: Probleme der haushalts- und Finanzplanung, Berlin 1969; güNteR hagemaNN: Beziehungen zwischen mittelfristiger Finanzplanung und Finanzverfassung im föderativen Staat unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland, in: Beihefte der Konjunkturpolitik (15) 1968, Mittelfristige Finanzplanung, S. 47–56; aLfRed haRtmaNN: Die Finanzpolitik – ein Instrument der deutschen Wirtschafts- und Konjunkturpolitik, in: fRaNz gReiss / fRitz W. meyeR (hg.): Wirtschaft, Gesellschaft und Konjunktur. Festgabe für alfred Müller-armack, Berlin 1961, S. 189–202; KuRt heiNig: amerikanisches Budgetwesen in bundesdeutscher Perspektive, in: Finanzarchiv 16 (1955/56), S. 423–431. Vgl. moNiKa dicKhaus: Die Bundesbank im westeuropäischen Wiederaufbau. Die internationale Währungspolitik der Bundesrepublik Deutschland 1948 bis 1958, München 1996; BjöRN aLecKe: Deutsche Geldpolitik in der Ära Bretton Woods, Münster 1999. caRL-LudWig hoLtfReRich: Geldpolitik bei festen Wechselkursen (1948–1970), in: deutsche BuNdesBaNK (hg.): Fünfzig Jahre Deutsche Mark. notenbank und Währung in Deutschland seit 1948, München 1998, S. 347–438.
130
alexander nützenadel
litischen Instrumente des Staates einsetzte. antizyklische Fiskalpolitik erschien aus der Perspektive der sechziger Jahre eine wichtige Voraussetzung für die Erhaltung der Geldwertstabilität. Zwar stieß die keynesianische Finanzpolitik anfangs auf den Widerstand liberaler Wirt schaftspolitiker und Regierungsbeamter, diese Widerstände schwächten sich allerdings seit Ende der fünfziger Jahre zunehmend ab, als eine jüngere Generation von wissenschaftlich versierten Beamten und Fachpolitkern in die Schlüsselpositionen der Verwaltungen und Regierungsbehörden einrückte.39 hatten viele der ordoliberalen Ökonomen jegliche Form der quantitativen Wirtschaftsforschung abgelehnt,40 wurden moderne Prognoseverfahren und Steuerungstechniken nun ohne Vorbehalte eingesetzt.41 auch im politischen Raum gewann die vorausschauende Konjunkturpolitik zunehmend anhänger. Vor allem die oppositionelle SPD, die sich unter dem Einfluss von Karl Schiller und heinrich Deist endgültig von ihren marxistischen traditionen gelöste hatte, profilierte sich seit Mitte der fünfziger Jahre mit dem Plan eines umfassenden Konjunktur- und Wachstumsgesetzes, das sie 1956 in den Bundestag einbrachte.42 Doch auch innerhalb der Regierungsparteien setzte sich zunehmend die auffassung durch, dass eine staatliche Steuerung makroökono mischer Zielgrößen unter Einsatz monetärer und fiskalpolitischer Instrumente er forderlich sei. In der cDU traten vor allem Staatssekretär alfred Müller-armack und Finanzminister Franz Etzel für einen wirtschaftspolitischen Kurswechsel ein. Ein moderater Keynesianismus gehörte nun auch in den bürgerlichen Par teien zum wirtschaftspolitischen common Sense. ambivalent blieb die haltung Erhards, dessen Einfluss auf die Wirtschaftspolitik allerdings schon in den letzten Jahren vor seinem Wechsel ins Kanzleramt deutlich abnahm. Spätestens seit Ende der fünfziger Jahre zeichneten sich somit die Konturen jenes modernisierungspoliti schen Konsenses ab, der die Wirtschafts- und Finanzpolitik der „langen“ sechziger Jahre über Parteigrenzen hinweg prägte, allerdings erst in der Großen Koalition 1966 bis 1969 seine volle Wirkung entfalten sollte.
39 Vgl. umfassend BeRNhaRd LöffLeR: Soziale Marktwirtschaft und administrative Praxis. Das Bundeswirtschaftsministerium unter ludwig Erhard, Stuttgart 2002. 40 Vgl. z. B. WiLheLm RöPKe: civitas humana. Grundfragen der Gesellschafts- und Wirtschaftsreform, Erlenbach-Zürich 1944, S. 343; fRiedRich a. Lutz: Das Problem der Wirtschaftsprognosen, tübingen 1955, S. 10. 41 Vgl. Beiträge in: heRBeRt gieRsch / KNut BoRchaRdt (hg.): Diagnose und Prognose als wirtschaftswissenschaftliche Methodenprobleme, Berlin 1962. 42 antrag der Fraktion der SPD vom 6. 5. 1956, zu finden: deutscheR BuNdestag, anlagen zu den stenographischen Berichten, 2. Wahlperiode, Drucksache 2428B.
Keynesianismus in der Bundesrepublik
131
4. Europäische Integration und Kalter Krieg Es wäre jedoch irreführend, die Entwicklung in der Bundesrepublik isoliert zu betrachten. Vielmehr müssen internationale Entwicklungen und transferprozesse berücksichtigt werden, welche die wirtschaftspolitischen leitbilder in den fünfziger Jahren veränderten. Zwei Dimensionen sind hierbei zu berücksichtigen: auf der einen Seite prägten Westbindung und europäische Integration die Wirtschaftspolitik in wachsendem Maße. Die Einbindung der Bundesrepublik in ein enges netz internationaler Organisationen und Verträge hatte nicht nur vielfäl tige materielle, politische und rechtliche Konsequenzen, sondern setzte auch lern- und transferprozesse in Gang.43 Die Bundesrepublik war hierbei allerdings nicht nur passiver Empfänger, sondern auch Impulsgeber. Dies zeigte sich in den Jahren nach der Verabschiedung der römischen Verträge, als intensiv über eine gemeinsame Wirtschaftspolitik der EWG-Staaten nachgedacht wurde. So konnte die Bundesregierung verhindern, dass Frankreich unter seinem sendungsbewussten Präsidenten charles de Gaulle die „planification économique“ als wirtschaftspolitisches Modell des EWG-Verbundes durchsetzte.44 Um Frankreich und der nicht weniger planungsfreudigen EWG-Kommission eine alternative gegenüberzu stellen, lancierte die Bundesregierung 1958 die Idee eines europäischen „Konjunk turboards“, stellte also die makroökonomische ablaufspolitik der mikroökonomi schen Staatslenkung gegenüber.45 Diese vor allem von alfred Müller-armack konzipierte Idee wurde auf europäischer Ebene nie durchgesetzt, wirkte jedoch in erheblichem Maße auf die bundesdeutschen Diskussionen zurück.46 Die staatliche Finanzpolitik rückte ins Zentrum des rationalen, planvollen Staatshandelns, das die einzelwirtschaftlichen Dispositionen der haushalte und Unternehmen nicht direkt beeinflusste, also mit der Marktwirtschaft kompatibel erschien. hier und in anderen Bereichen (etwa bei der mittel fristigen Finanzplanung) wirkte der europäische Integrationsprozess gleichsam als Katalysator für die Durchsetzung neuer Konzepte und handlungsmuster. auf der anderen Seite spielte die Konkurrenzbeziehung zur DDR eine zentrale Rolle bei der Durchsetzung neuer wirtschaftspolitischer Ideen. Dies 43 Dies wird bereits durch die intensive Beobachtung der Wirtschaftspolitik anderer länder durch die verschiedenen Ministerien deutlich, vgl. Bundesarchiv Koblenz, B102, 17917 und 59354, B126, nr. 22311, B136, nr. 7415. 44 geoffRey deNtoN / muRRy foRsyth / maLcoLm macLeNNaN: Economic Planning and Policies in Britain, France and Germany, london 1968, S. 364; vgl. auch: BRuce R. scott / audRey t. sPRoat: national Industrial Planning. France and the EEc, Boston 1983. 45 PeteR goNschioR: hemmnisse bei der Koordination nationaler Konjunkturpolitiken in den Europäischen Gemeinschaften, Baden-Baden 1976. 46 aLexaNdeR NützeNadeL: Die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich und die Debatte über eine europäische Wirtschaftspolitik 1958–65, in: Francia 30/3 (2003), S. 73–98.
132
alexander nützenadel
betraf weniger die materiellen wirtschaftspolitischen Beziehungen, etwa durch den Interzonenhandel, sondern vor allem die wechselseitige Perzeption im Rahmen des deutsch-deutschen Systemwettbewerbs. Obwohl die geringe Effizienz der sozialistischen Planwirtschaft schon in den fünfziger Jahren offensichtlich war, gab es in Politik und Wirtschaft zahlreiche Stimmen, die einen aufholprozess der DDR-Wirtschaft vor allem durch eine systematische Investitionslenkung erwarteten. So prognostizierte der Unternehmer Otto a. Friedrich schon 1956 einen „neuartigen koexistentiellen Wettbewerb“ im Bereich der wirtschaftlichen Produktion.47 Das hauptdefizit des marktwirtschaftlichen Systems westlicher Prägung erkannte Friedrich in der fehlenden Zukunftsorientierung. Während es der zentralen Plan wirtschaft gelinge, die Konsumquote niedrig zu halten, Investitionsgüter in strate gisch wichtige Sektoren zu lenken und durch eine gezielte Forschungs- und Bil dungspolitik langfristige Entwicklungsaufgaben in den Blick zu nehmen, besitze die Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik einen zu geringen Zeithorizont und vernachlässige wichtige Zukunftsprobleme. Ohne die Grundprinzipien einer freien Ei gentums- und Verkehrswirtschaft in Frage zu stellen, hielt der hamburger Unter nehmer daher ein „größeres volkswirtschaftliches Plandenken“ für unverzichtbar. nach amerikanischem oder britischem Vorbild sollte der Staat das gesamtwirt schaftliche Prognosesystem verbessern, insbesondere aber Finanz-, Geld- und Steuerpolitik zu einer Einheit zusammenführen. Ziel sei die Vermeidung konjunktu reller Schwankungen und die Sicherung eines langfristigen Wirtschaftswachstums. Ähnlich sah dies Fritz hellwig, der wirtschaftspolitische Sprecher der cDU. auch er befürchtete einen „Wirtschaftskrieg zwischen Ost und West“, bei dem sich eine „bedrohliche Überlegenheit totalitärer Sy steme in der Frage der Produktivitätssteigerung und der Sicherung der Investitions quote“ abzeichne.48 hellwig beklagte 1956 die „Richtungslosigkeit unserer Wirtschaftspoli tik“ sowie die „hilflose Behandlung unserer internen Konjunkturde batten“. Seiner auffassung nach bestand „ein Urbedürfnis nach autorität, Führung und lenkung nicht nur bezüglich der Gemeinschafts- und politischen Willens bildung, sondern bei den heutigen internationalen Gegebenheiten unabdingbar auch im Bereich der Wirtschaft und der internationalen wirtschaftlichen Beziehungen.“49 Diese Äußerungen machen deutlich, wie sehr das Wachstumspotential der ostdeutschen Wirtschaft in der westlichen Welt überschätzt wurde.50 Diese 47 otto a. fRiedRich: Konjunkturvorsorge unter politischem aspekt, Vortrag vor dem Überseeclub in hamburg am 2.5.1956, in: Bundesarchiv Koblenz, B126, 2076. 48 hellwig an Friedrich, 19.6.1956, in: acDP, I-083, a 62. 49 Ebd. 50 Vgl. etwa WoLfgaNg stoLPeR: the Structure of the East German Economy, cambridge 1960; vgl. auch BuRghaRd ciseLa: hinter den Zahlen. Zur Wirtschaftsstatistik und Wirtschaftsberichterstattung in der DDR, in: aLf LüdtKe / PeteR BecKeR (hg.): akten. Ein-
Keynesianismus in der Bundesrepublik
133
Fehlwahrnehmung hatte weitreichende Folgen: Sowohl die Wachstumsforschung als auch die Wachstumspolitik erhielt durch den Systemwettbewerb des Kalten Krieges starke Impulse. Die Bestimmung von Wach stumsprozessen in Ost und West, aber auch die Suche nach neuen ansätzen für eine marktwirtschaftliche Wachstumspolitik war hierbei ausschlaggebend. Vor allem in den sechziger Jahren, als die Konvergenztheorie in den Sozial- und Wirtschaftswissen schaften an Einfluss gewann, wurde die systemvergleichende Forschung in der Bundesrepublik stark ausgebaut. Damit einher ging eine semantische neubestimmung und Ent ideologisierung des Planungsbegriffes, der seine negativen Konnotationen fast voll ständig verlor.51 Wenn nach den hintergründen und Motiven für die Durchsetzung wirtschafts- und finanz politischer Planungskonzepte in der Bundesrepublik gefragt wird, muss diese Veränderung des politisch-kulturellen Umfeldes berücksichtigt werden. Der heute kaum noch nachzuvollziehende Planungsoptimismus speiste sich nicht allein aus den zunehmend komplexer werdenden Betätigungen der Wirtschafts- und Gesell schaftspolitik, sondern war auch das Resultat eines sich in verschiedenen Feldern diskursiv anbahnenden Politikwandels.52 Genau dies war allerdings auch der Grund dafür, weshalb die im öffentlichen Sektor sukzessive eingeführten Planungstechniken – von der antizyklischen Fiskalpolitik über die mittelfristige Finanzplanung und die nutzen-Kosten-analyse bis hin zum Programmbudget – mit außerordentlich großen Erwartungen behaftet waren, die sich in der Praxis nur schwer erfüllen ließen. 5. Das Ende des keynesianischen Experiments Zwar stellte das als Jahrhundertwerk gefeierte Wachstums- und Stabilitätsgesetz von 1967 ein ungewöhnlich breites Instrumentarium an wirtschafts- und finanzpoliti schen Interventionsmöglichkeiten bereit, das auch international zu diesem Zeitpunkt ohne Vorbild war.53 Die lange Zeit als planungsresistent geltende Bundesrepublik hatte sich damit gleichsam an die Spitze derjenigen länder gestellt, welche die keynesianische Globalsteuerung institutionell und gaben. Schaufenster. Die DDR und ihre texte. Erkundungen zu herrschaft und alltag, Berlin 1997, S. 38–55. 51 michaeL RucK: Westdeutsche Planungsdiskurse und Planungspraxis der 1960er Jahre im internationalen Kontext, in: heiNz-geRhaRd hauPt / jöRg Requate (hg.): aufbruch in die Zukunft. Die 1960er Jahre zwischen Planungseuphorie und kulturellem Wandel. DDR, ČSSR und Bundesrepublik Deutschland im internationalen Vergleich, Weilerswist 2004, S. 289–325. 52 gaBRieLe metzLeR: Konzeptionen politischen handelns von adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn 2005. 53 aLex möLLeR / chRistoPh BöcKeNföRde: Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft und art. 109 Grundgesetz. Kommentar unter besonderer Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte, hannover 1968.
134
alexander nützenadel
rechtlich zur Grundlage ihrer Wirt schaftspolitik machten.54 Dies geschah freilich zu einem Zeitpunkt, als der Keynesia nismus in vielen westlichen Industriestaaten und namentlich in den USa seinen Ze nit bereits überschritten hatte. In wissenschaftlichen Kreisen diskutierte man dort längst über neue, vom Monetarismus und den „supply-side economics“ beeinflusste Konzepte, die an den Möglichkeiten diskretionärer nachfragesteuerung zweifelten und stattdessen eine regelgebundene Wirtschaftspolitik favorisierten. In der Bundesrepublik wurden die chancen staatlicher Konjunktur- und Wachstumsbeeinflussung zunächst noch sehr viel optimistischer bewertet, schien doch die rasche Überwindung der Rezession von 1966/67 zu beweisen, dass eine Verstetigung des krisenfreien nachkriegswachstums möglich war, sofern man die Stellschrauben der Makroökonomik an den richtigen Punkten ansetzte und von Zeit zu Zeit neu ju stierte. Diese in den Jahren der Großen Koalition von einer breiten Mehrheit der Wirtschaftspolitiker und der Ökonomen getragene Zuversicht wich jedoch späte stens Ende der sechziger Jahre einer wachsenden Skepsis.55 Mehrere Faktoren spiel ten hierbei zusammen. Erstens erwiesen sich die wissenschaftlichen Prognosesysteme als notorisch unzuverlässig. Dies galt nicht nur für die Jahresprognosen, die Sach verständigenrat, Wirtschaftsforschungsinstitute und ein eigens eingerichteter Inter ministerieller arbeitskreis unabhängig voneinander erstellten, sondern auch für die mittelfristigen Projektionen mit einem Zeithorizont von fünf Jahren, die der Finanzplanung zugrundegelegt wurden. nichts diskreditierte die projektive Wirtschafts- und Finanzpolitik mehr als die eklatanten Prognosefehler, die trotz ständiger Verfeinerung der Methoden mit großer Regel mäßigkeit auftraten. Zweitens stieß die 1967 von Schiller und Strauß eingerichtete „Konzertierte aktion“, mit der die Wirtschaftsverbände in den politischen Entscheidungsprozess eingebunden werden sollten, schon nach kurzer Zeit an ihre Grenzen.56 Ihre hauptfunktion, die Einkommensentwicklung an die wachstums- und konjunkturpolitischen Ziele anzupas sen, ließ sich aufgrund zunehmender Spannungen zwischen Gewerkschaften und ar beitgebern immer weniger realisieren. Die ständige Erweiterung des teilnehmer krei ses und die Erschließung neuer Kompetenzfelder durch das Gremium konnten die sen Grundkonflikt jeweils nur für kurze Zeit überdecken. Vor allem die Gewerkschaften gerieten Ende der sechziger Jahre gegenüber der eigenen Basis in 54 egoN tuchtfeLdt: Social Market Economy and Demand Management: two Experiments in Social Policy, in: German Economic Review 12 (1974), S. 111–133; RüdigeR zucK: Wirtschaftsverfassung und Stabilitätsgesetz, München 1975. 55 Vgl. tim schaNetzKy: Die große Ernüchterung. Wirtschaftspolitik, Expertise und Gesellschaft in der Bundesrepublik 1966–1982, Berlin 2007. 56 tim schaNetzKy: Sachverständiger Rat und Konzertierte aktion: Staat, Gesellschaft und wissenschaftliche Expertise in der bundesrepublikanischen Wirtschaftspolitik, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 3 (2004), S. 310–331.
Keynesianismus in der Bundesrepublik
135
eine legitimationskrise, da ihre Spitzen auf der Grundlage viel zu pessimistischer Projektionen durch Sach verständigenrat und Konjunkturinstitute niedrigen tarifabschlüssen zugestimmt hatten. Von der anfänglichen harmonie, die 1967 unter dem Eindruck der Rezession in dem Gremium vorgeherrscht hatte, war drei Jahre später nicht mehr viel zu spü ren. Drittens endete 1969 mit der Großen Koalition auch die Möglichkeit, das aus gabenverhalten von Bund, ländern und Gemeinden in Einklang zu bringen. Die Probleme der föderalen Finanzverfassung waren durch die Große Koalition nur vorübergehend ausgesetzt, nicht jedoch wirklich beseitigt worden. nun zerbrach zudem der parteiübergreifende Modernisierungskonsens der sechziger Jahre, zumal die sozialliberale Koalition jetzt sehr viel stärker gesellschaftspolitische Reformvorhaben in das Zentrum ihrer Regierungsarbeit stellte, während die Wirt schafts- und Finanzpolitik ins zweite Glied trat und den Fachpolitikern überlas sen wurde. Für eine Belebung der Konjunktur blieb ohnehin kaum noch Spielraum, zumal der Bund und die meisten länder seit den frühen siebziger Jahren mit wachsenden haushaltsdefiziten zu kämpfen hatten.57 Vor allem das bürgerliche lager rückte nun rasch wieder von den keynesianischen Ideen ab, denen es sich in den sechziger Jahren, dem Zeittrend folgend und einer latenten Krisenstimmung erliegend, angeschlossen hatte, ohne allerdings den Fortschrittsoptimismus der Sozialdemokraten zu teilen. Umso leichter fiel es den christlichen Volksparteien, nun aus der Opposition heraus die offensichtlichen Schwächen der keynesianischen Makropolitik anzuprangern und gegen den vermeintlich zum leviathan wuchernden Staat anzukämpfen. Viertens erwiesen sich die Instrumente der expansiven nachfragepolitik angesichts steigender Inflationsraten als unwirksam, ja sogar kontraproduktiv. Der lange Zeit unterstellte trade-off zwischen Vollbeschäftigung und Inflation, der durch die berühmte Phillips-Kurve dargestellt wurde und der gleichsam als Grundprinzip keynesianischer Wirtschaftspolitik gegolten hatte, funktionierte nicht mehr.58 Vielmehr war die bundesdeutsche Volkswirtschaft nun mit dem Phänomen der Stagflation, das heißt rückläufigen Wachstums- und Beschäftigungszahlen bei gleichzeitig steigenden Preisen, konfrontiert. auf die Ursachen der Stagflation in den siebziger Jahren kann hier nicht näher eingegangen werden. Ob es sich hierbei um eine langfristige Verschlechterung der angebotsbedingungen oder die kurzfristigen auswirkungen des Ölpreisschocks handelte, ist in der Forschung umstritten.59 Entscheidend ist, 57 heRBeRt gieRsch / KaRL-heiNz Paqué / hoLgeR schmiediNg: the Fading Miracle: Four Decades of Market Economy in Germany, cambridge/new York 1992, S. 185ff. 58 Vgl. michaeL BRuNo / jeffRey sachs: Economics and Wordwide Stagflation, cambridge (Mass.) 1985; LeoN N. LiNdBeRg / chaRLes s. maieR (hg.): the Politics of Inflation and Economic Stagnation, Washington D. c. 1985. 59 h. gieRsch u. a., Miracle (wie anm. 57).
136
alexander nützenadel
dass der keynesianische Politikansatz genau in jenem augenblick versagte, in dem er seine erste Bewährungsprobe zu bestehen gehabt hätte.60 Fünftens kam es in dieser Phase zu grundlegenden Divergenzen zwischen Bundesregierung und Bundesbank. letztere leitete unter dem Eindruck expansiver ausgabenprogramme und dramatisch zunehmender Rohstoffpreise – die Kosten für Rohöl stiegen Ende 1973 um das Zwölffache an – einen restriktiven geldpolitischen Kurs ein. Generell rückte die Bundesbank nun vom Keynesianismus ab und verfolgte einen monetaristischen ansatz – ein Paradigmenwechsel, der auch vom Sachverständigenrat und anderen politikberatenden Gremien vollzogen wurde.61 Für die Geldpolitik hieß dies, dass das mittelfristige Wachstum der Volkswirtschaft zur entscheidenden Bezugsgröße wurde. auf eine direkte Steuerung von Inflation und Konjunktur durch die notenbank wurde fortan weitgehend verzichtet.62 Sechstens fiel mit dem Ende des Bretton-Woods-Systems anfang der siebziger Jahre ein wichtiges externes Element der keynesianischen architektur weg.63 Zwar hielt die Bundesregierung in der Ära Schmidt an den Methoden keynesianischer Krisenbekämpfung fest und konnte damit vorübergehend eine gewisse konjunkturelle Stabilisierung erreichen. So war die Bundesrepublik neben Japan das Industrieland, das die Folgen des Ölpreisschocks am besten verkraftete. Im Übrigen verpufften viele Programme jedoch ohne große Wirkung, weil sie entweder zu spät begonnen wurden, ihr fiskalischer Impuls zu gering war oder ihr die entsprechende Flankierung durch die Geldpolitik fehlte.64 In der tat zeigte sich, dass der „Keynesianismus in einem lande“ angesichts wachsender weltwirtschaftlicher Verflechtungen seine Wirkung zunehmend verfehlte. Eine strukturell so offene Volkswirtschaft wie die der Bundesrepublik konnte mit nationalen alleingängen wenig bewirken.65 Von einer Stimulierung der gesamtwirtschaftlichen nachfrage profi60 RoBeRt j. a. sKideLsKy (hg.): the End of the Keynesian Era: Essays on the Disintegration of the Keynesian Political Economy, new York 1977. 61 Vgl. sachVeRstäNdigeNRat zuR BegutachtuNg deR gesamtWiRtschaftLicheN eNtWicKLuNg: Gleicher Rang für den Geldwert. Jahresgutachten 1972/73, Stuttgart/Mainz 1972. S. 131; WisseNschaftLicheR BeiRat Beim BuNdesmiNisteRium füR WiRtschaft: Gutachten vom März 1973 bis november 1977, Göttingen 1978, S. 633f. 62 Vgl. jüRgeN VoN hageN: „Geldpolitik auf neuen Wegen“, in: deutsche BuNdesBaNK (hg.): Fünfzig Jahre Deutsche Mark. notenbank und Währung in Deutschland seit 1948, München 1998, S. 438–473, hier S. 459ff.; aLexaNdeR NützeNadeL: Stunde der Ökonomen. Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949– 1974, Göttingen 2005, S. 349–350. 63 Vgl. PeteR gaRBeR: the collapse of the Bretton Woods Fixed Exchange Rate System, in: michaeL d. BoRdo / BaRRy eicheNgReeN (hg.): a Retrospective on the Bretton Woods System, chicago 1993, S. 461–495. 64 WeRNeR aBeLshauseR: Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, München 2004, S. 420–423. 65 Vgl. gieRsch u. a., Miracle (wie anm. 56), S. 150ff; zum internationalen Kontext vgl.
Keynesianismus in der Bundesrepublik
137
tierten nicht nur die heimischen Produzenten, sondern auch die ausländischen anbieter. aus dieser Erkenntnis heraus versuchten die westlichen Industriestaaten, durch internationale Kooperation die weltwirtschaftlichen Probleme in den Griff zu bekommen.66 So empfahl die OEcD 1975 eine enge internationale abstimmung konjunktur- und geldpolitischer Maßnahmen, die nicht nur deren Wirksamkeit erhöhen, sondern auch den unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Möglichkeiten der einzelnen länder Rechnung tragen sollte.67 Diese ansätze hatten aber nur begrenzten Erfolg, weil sie nicht nur eine erhebliche internationale Koordinationsleistung erforderlich machten, sondern auch die einzelnen länder unterschiedlich belasteten. So hatte die Bundesrepublik wenig Interesse, als weltwirtschaftliche „lokomotive“ andere Volkswirtschaften in Schwung zu bringen, weil dies die eigenen finanzpolitischen Probleme noch zusätzlich verschärft hätte. Ohnehin erschien eine solche Strategie angesichts der nun einsetzenden Globalisierung wenig erfolgversprechend. nicht nur in Deutschland, sondern auch international gehörte der Keynesianismus zum wirtschaftlichen theorie- und Politikarsenal einer längst vergangenen Zeit.
PeteR gouReVitch: Politics in hard times. comparative Responses to International Economic crises, Ithaca/london 1986, S. 181ff. 66 RoBeRt o. KeohaNe / josePh s. Nye jR.: Power and Interdependence. World Politics in transition, Boston 1977; RoBeRt o. KeohaNe: Beyond hegemony. cooperation and Discord in the World Political Economy, Princeton 1984. 67 Vgl. oecd: Economic Outlook, Dezember 1975, S. 9; vgl. auch RichaRd N. cooPeR: turbulance and Interdependence in the World Economy, in: RoBeRt c. BLattBeRg (hg.): the Economy in transition, new York 1978, S. 29–49; chaRLes P. KiNdLeBeRgeR: Dominance and leadership in the International Economy. Exploitation, Public Goods, and Free Rides, in: ceNtRe NatioNaLe de La RecheRche scieNtifique: hommage à François Perroux, Bd. 1, Grenoble 1978, S. 283–291.
„nEOlIBERalISMUS“ alS WIRtSchaFtSPOlItISchES ORDnUnGSMODEll? DIE BUnDESREPUBlIK DEUtSchlanD In DEn 1980ER JahREn Andreas Wirsching Zeithistorisch betrachtet stellt die Epoche des „neoliberalismus“ seit den 1980er Jahren noch ein unscharfes, analytisch wenig konturiertes Feld dar. Zwar gibt es eine art narrativ, das sich in die Erzählung vom Ende der Wachstumseuphorie einfügt. Der „kurze Sommer der konkreten Utopie“ entwickelte sich aus dem „kurzen traum immerwährender Prosperität“ (Burkart lutz).1 Mit dem Ende des aufschwungs, gekennzeichnet von Ölpreis- und Wirtschaftskrise, verlöschten der Optimismus und die Orientierung an der Planung. Der Planungskonjunktur und der hochphase des Keynesianismus folgten der „Schock des Globalen“ und die Periode „nach dem Boom“.2 In diesem narrativ, wie es etwa in der kürzlich erschienenen Geschichte Europas seit 1980 des amerikanischen historikers Ivan Berend nachzulesen ist,3 dient der neoliberalismus als wirksamer ideologischer Kitt für Marktradikalismus und Entstaatlichung, Rückzug der Politik gegenüber der Wirtschaft und die zielgerichtete Steigerung der Profitraten. Intellektuelle Kronzeugen sind wie immer Friedrich august von hayek, Milton Friedman und die chicago School. Politische Erfüllungsgehilfen sind Margaret thatcher und Ronald Reagan. nun herrscht kein Zweifel daran, dass in einigen Kernbereichen seit den 1980er Jahren tatsächlich eine durchgreifende liberalisierung politisch intendiert und faktisch durchgeführt worden ist. Das gilt zum einen für den internationalen handelsverkehr, ohne dessen fundamentale liberalisierung seit den 1980er Jahren die Globalisierung auch nicht vorstellbar wäre. Und das gilt zum anderen für die Finanzmärkte. hier besteht, wie neuere Studien eindrücklich belegen, ein essentieller Zusammenhang mit den liberalisierungen in den USa und in Großbritannien während der 1980er Jahre, der extremen Beschleunigung und Differenzierung der Finanztransaktionen weltweit und schließlich auch des crashs der new Economy im Jahre 2000 und der Ban1 2 3
michaeL RucK: Ein kurzer Sommer der konkreten Utopie. Zur westdeutschen Planungsgeschichte der langen 60er Jahre, in: axeL schiLdt (hg.): Dynamische Zeiten: Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, hamburg, 2000, S. 362–401, hier S. 398. NiaLL feRgusoN u. a. (hg.): the Shock of the Global. the 1970s in Perspective, cambridge 2010; aNseLm doeRiNg-maNteuffeL / Lutz RaPhaeL: nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen ²2008. iVaN t. BeReNd: Europe since 1980, cambridge 2010.
140
andreas Wirsching
kenkrise Ende 2008.4 Berühmt wurde der „Big Bang Day“ der londoner city am 27. Oktober 1986, eine Frucht der thatcher’schen Reformpolitik. Er veränderte auf einen Schlag die Geschäfte der londoner Börse. Dies war der tag, an dem die händler aufhörten, morgens relativ gemütlich die Börse zu betreten und sodann ihre Geschäfte per Zuruf tätigten. Die Umstellung auf computerbasierten handel und seine gleichzeitige liberalisierung setzten in Europa neue Standards und trugen maßgeblich zur Stärkung des Finanzplatzes london bei.5 aber wie nachhaltig und wie spezifisch diese Prozesse in Europa, in den einzelnen ländern und last but not least in der Bundesrepublik gewesen sind, bleibt schwer einzuschätzen. haben wir es mit einem mehr oder minder abrupten Wandel, ja geradezu einer ideologiegeleiteten, säkularen abkehr vom Keynesianismus, zu tun? Wird der neoliberalismus ein umfassendes wirtschaftspolitisches Ordnungsmodell für die Zeit nach dem Boom? Oder handelt es sich eher um eine gleichsam inkrementelle hinwendung zu neuen Rezepten im Zeichen des Krisenmanagements? antworten auf diese Fragen sind nicht einfach zu geben und tendieren zur Widersprüchlichkeit, zumal der Begriff des „neoliberalismus“ zum politischen Schlagwort geworden ist.6 Schon ein grober deutsch-britischer Vergleich anhand des kritischen Parameters der „Staatsquote“ offenbart mehr Unklarheiten als eindeutige Erkenntnisse. Zwar spiegelt hier die britische Entwicklung die Wirkung der thatcherʼschen Politik seit Mitte der 1980er Jahre deutlich wider,7 und dies auch und gerade im Unterschied zur Bundesrepublik. Richtet man aber den Blick auf die längere Zahlenreihe bis 2008, so scheint die Wirkung gar nicht besonders nachhaltig zu sein. höchstens ließe sich argumentieren, dass die Bundesrepublik in den 2000er Jahren das nachholte, was Großbritannien in den 1980er Jahren vorgemacht hatte. Wenn also Ziel und Weg einer „neoliberalen“ Reformpolitik eine Senkung der Staatsquote ist, dann haben sich auf dieser Basis die deutschen und britischen Verhältnisse in der jüngsten Vergangenheit überraschend stark angeglichen. Umgekehrt würde eine solche these die Entwicklung in der Bundesrepublik der 1980er Jahre definitiv in ein wirtschafts- und strukturpolitisches 4 5 6 7
Vgl. bes. éLie coheN : Penser la crise. Défaillances de la théorie, du marché, de la régulation, Paris 2010, S. 150ff. cohens Studie gehört zu den besten analysen der Finanzkrise. geoRge gRaham: It was ‚absolute hell with a wooden floor‘, in: Financial times 25.10.1996. als Beispiel fundiert kritischer Beiträge siehe chRistoPh ButteRWegge u. a. (hg.): neoliberalismus. analysen und alternativen, Wiesbaden 2008. Zu antriebskräften und Ergebnissen des thatcherismus vgl. domiNiK gePPeRt: abschied vom keynesianischen Konsens. Der Einsturz der britischen nachkriegsordnung und die Etablierung des thatcherismus, in: Journal of Modern European history 9 (2011), S. 170–190.
„neoliberalismus“ als wirtschaftspolitisches Ordnungsmodell?
141
Zwielicht stellen. Ist hier überhaupt eine „neoliberale“ Politik erkennbar, und wenn ja, in welchem Umfang? Man muss deutlich unterscheiden zwischen einem rhetorisch aufgeladenen Zeitgeist, der die neoliberale Sprache im Munde führte, und der tatsächlichen Wirtschaftspolitik. Unbestreitbar ist, dass sich gegen Ende der 1980er eine politische Sprache zu etablieren begann, die die neoliberalen Schlagworte in die Breite transportierte. Mit dem Siegeszug der neuen technologien waren es vor allem die Unternehmensberater, die sich, angetrieben durch anglo-amerikanische Vorbilder, als neue sozio-kulturelle Elite verstanden und diese politische Sprache des neoliberalismus verbreiteten.8 Politisch dagegen ist die Bilanz sehr viel weniger eindeutig. Die Frage eines möglichen „englischen“ Vorbildes gehörte zu den vergleichsweise wenigen innenpoli ti schen the men, zu denen helmut Kohl grundsätzlich Stellung bezog. als 1988 ein Fraktionsmitglied die „vorbild liche“ Steuergesetzgebung und Industrieförderung in Großbritannien hervorhob, antwortete Kohl: „Ich glaube nicht an Ihre Philosophie. (…) Ich bin kein anhänger der Marktwirtschaft, sondern der Sozialen Marktwirtschaft! Ich glaube nicht an jenes Stück Vorstellung von liberalismus – ich will jetzt nicht das Wort Manchester-liberalismus sagen –, daß der Reichtum einer ganzen Gruppe automatisch übergreift und immer weiter übergreift, und dadurch die Schwachen hochzieht. (…) Wir sollten wirklich damit aufhören, ausgerechnet die Briten als unser Beispiel hinzustellen.“9 8 9
Vgl. hierzu aNdReas WiRschiNg: abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982–1990, München 2006, S. 437ff. Fraktionssitzung vom 5.9.1988, acDP 08–001–1086/2, S. 108–110 (gegen die Intervention von Wilhelm Jung, ebd., S. 105).
142
andreas Wirsching
Wenn man die verfügbaren Zahlen analysiert, dann findet man eine ganze Reihe von argumenten, die diese Marschrichtung Kohls untermauern. Sie offenbaren aber auch die ganze ambivalenz und im Kern widersprüchliche Signatur der 1980er Jahre. an zwei Schritten sei dies demonstriert. Erstens sollen einige Konsolidierungsdaten der 1980er Jahre betrachtet werden, an denen sich makroökonomisch eine neoliberale Politik ablesen lassen müsste (I); daran schließt sich zweitens meine these an, dass es sich faktisch nicht um eine strukturelle Konsolidierung handelte, sondern ganz überwiegend um eine scheinbare, konjunkturell bedingte Konsolidierung (II.). In einem dritten Gedankengang sollen dann noch einmal diese Befunde bewertet werden (III). I. Ein kurzer Überblick über die Konsolidierungsdaten konzentriert sich auf drei Parameter, nämlich auf die Entwicklung der Nettokreditaufnahme, also der neuverschuldung, auf die Sozialleistungsquote und die Staatsquote:
Quelle: göttRiK WeWeR (hg.): Bilanz der Ära Kohl, Opladen 1998, S. 343 u. 347f.
nach dem Regierungswechsel von 1982/83 ließ die christlich-liberale Koalition keinen Zweifel daran, dass die Sanierung des Etats und der abbau der neuverschuldung absolute Priorität besaßen. Ferner sollten die Sozialleistungs- und die Staatsquote soweit abgesenkt werden, dass auch die Steuer- und abgabenquote sinken und die bundesdeutsche Wirtschaftskraft im Sinne
„neoliberalismus“ als wirtschaftspolitisches Ordnungsmodell?
143
einer angebotsorientierten Politik dynamisiert werden konnte. alles dies waren 1982/83 entscheidende Schlagworte der ausgerufenen politischen „Wende“. Die Grafik scheint nun darauf hinzuweisen, dass die Bundesregierung ihre Ziele bis zum Ende des Jahrzehnts im Wesentlichen erreichte: Die Sozialleistungsquote wie auch die Staatsquote wurden deutlich verringert; im hinblick auf die neuverschuldung gibt zwar der ausreißer des Jahres 1988 bereits einigen anlass zum Zweifeln. Die erneut hohe neuverschuldung des Jahres 1990 lässt sich aber natürlich mit den Sondereffekten der Deutschen Einheit erklären. Insgesamt jedenfalls schien sich die Struktur des Bundeshaushalts deutlich verbessert zu haben. hierauf gründete die Ende der 1980er Jahre unverkennbar dominierende Selbstzufriedenheit in der christlich-liberalen Koalition. Man wiegte sich in Bonn in der Sicherheit, dass nicht weniger als drei „Jahrhundertreformen“ auf den Weg gebracht worden waren. tatsächlich konnte es so scheinen, als ob die Steuerreform 1986/88, die Gesundheitsreform 1988 und Rentenreform 1989 gemeinsam das bundesdeutsche Wirtschafts- und Sozialsystem grundlegend regeneriert und seine leistungskraft entscheidend gesteigert hätten.10 Zumindest unter den Politikern der Regierungskoalition hatte sich bis Ende 1989 der Eindruck eingestellt, man habe seine politischen hausaufgaben gemacht. Und unbestreitbar verfügte die Bundesrepublik über eine Vielzahl leistungsfähiger Sektoren und war daher auch dynamisch genug, die herausforderungen der Deutschen Einheit kurzfristig zu bewältigen. II. allerdings müssen diese Grobdaten, die die Regierung Kohl/Genscher immer wieder mit Stolz vortrug, hinterfragt werden. Dies führt zum zweiten Punkt und zu der these, dass es sich bei diesen Zahlen weniger um eine strukturelle Konsolidierung handelte als um eine konjunkturelle und damit lediglich vorübergehende Verbesserung. Das wird zunächst sehr deutlich, wenn man die oben abgebildeten Daten mit einigen anderen Entwicklungen korreliert. hierzu gehören insbesondere die Zinsausgaben des Staates, die Entwicklung der Gesamtverschuldung und der Verschuldungsanteil des Bundes am Bruttoinlandsprodukt.
10 ausführlicher hierzu a. WiRschiNg, abschied (wie anm. 8), S. 277ff. u. 349ff.
144
andreas Wirsching
Quelle: g. WeWeR (hg.), Bilanz, S. 343f.
Die Grafik offenbart wie stark die entscheidenden haushaltsparameter wie Gesamtverschuldung und Zinsausgaben nach 1982 weiter gestiegen sind. alleine die neuverschuldung konnte als abhängige Variable von der Konjunkturentwicklung vor allem im konjunkturellen hoch des Jahres 1989 – noch vor den Belastungen durch die Einheit – einmalig deutlich reduziert werden. Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn man den Verschuldungsanteil am Bruttoinlandsprodukt ansieht und mit den Wachstumsraten korreliert.
Quelle: g. WeWeR (hg.), Bilanz, S. 343.
„neoliberalismus“ als wirtschaftspolitisches Ordnungsmodell?
145
Für eine strukturelle Konsolidierung würde man hier einen sinkenden Verschuldungsanteil erwarten – was aber nur in der konjunkturell besten Phase von 1990 bis 1992 gelungen ist. ansonsten ist der Verschuldungsanteil kontinuierlich gewachsen bis auf 24,9 Prozent im Jahre 1997. Ähnlich verhält es sich mit dem zweiten oben genannten Parameter, der Sozialleistungsquote.
Quelle: g. WeWeR (hg.), Bilanz, S. 348 u. 353.
Zwar sank die Sozialleistungsquote leicht ab, aber die absoluten ausgabenentwicklungen ergeben ein gänzlich anderes Bild. Die Sozialausgaben insgesamt stiegen ebenso regelmäßig wie die Beitragssätze zu den Sozialversicherungen im allgemeinen. Das heißt aber nichts anderes als: auch die Sozialleistungsquote blieb eine abhängige Variable der konjunkturellen Daten. als letzten Wert sollte man die Entwicklung der Staatsquote hinterfragen und zumindest mit der Steuer- und abgabenquote vergleichen.
Quelle: g. WeWeR (hg.), Bilanz, S. 353.
146
andreas Wirsching
Wie die Grafik zeigt, ist die Steuer- und abgabenquote während der gesamten 1980er Jahre nicht nachhaltig gesenkt worden, sondern blieb vielmehr weitgehend stationär. Resümierend ist daher festzuhalten: alle ausgabenposten des Staates stiegen während der gesamten Dekade linear an. allein in den Jahren exzeptionell guter Konjunktur – 1988 bis 1990 – mit einer Steigerung des BIP von 3,6 bis 5,7 Prozent konnte es für einen augenblick so aussehen, als ob ein nachhaltiger Konsolidierungserfolg erzielt worden wäre. Faktisch aber war die gute konjunkturelle Entwicklung seit Mitte der achtziger Jahre kaum zur strukturellen Rückführung der Staatsausgaben genutzt worden. Vielmehr war das Gegenteil der Fall. Denn zu der ohnehin bereits hohen Interventionslast des Staates traten neue ausgaben und ansprüche hinzu. Sie gingen weit über die damals bereits unter Druck stehenden Sozialversicherungssysteme hinaus. hierzu gehört insbesondere die Familienpolitik der christlich-liberalen Koalition mit ihrem Kernstück dem Bundeserziehungsgeldgesetz und der erstmaligen anrechnung von Kindererziehungszeiten im Rentensystem.11 Des Weiteren erfolgte der Einstieg in den ausbau der Pflegeversicherung zur vierten Säule der Gesetzlichen Sozialversicherung. Bereits die Gesundheitsreform von 1988 formulierte innerhalb der Gesetzlichen Krankenversicherungen einen anspruch auf Sach- und Personalleistungen für die häusliche Pflege und stellte hierfür sieben Milliarden Mark jährlich bereit. Das bedeutete zum einen, dass mehr als die hälfte des durch die Reform generierten Einsparvolumens gleich wieder ausgegeben wurde; zum anderen, dass das Gesetz für die Zukunft neue ansprüche etablierte. all diese ausgaben blieben im Grunde rein konsumtive Sozialausgaben und setzten aus sich selbst heraus keine Investitionen frei. Sie haben überdies ihre Ziele klar verfehlt. Die Familienpolitik der Regierung Kohl, die ja den demographischen Rückgang zumindest abbremsen wollte, ist schlicht gescheitert; die Rentenkasse ist mit versicherungsfremden leistungen befrachtet worden; und die Pflegeversicherung ist in der tat zu dem „Kostentreibsatz“ geworden, den niemand anders als horst Seehofer bereits 1988 befürchtete.12 Weitere kontinuierliche ausgabensteigerungen ergaben sich aus den Subventionen des Bundes, das heißt aus direkten Finanzhilfen und Steuervergünstigungen.
11 Vgl. ebd., S. 340ff.; uRsuLa müNch: Gebremste Innovationen und demographische Zwänge – Familien- und Frauenpolitik auf der Suche nach der Balance von Familien- und Erwerbsarbeit, in: güNteR BuchstaB u. a. (hg.): Die Ära Kohl im Gespräch. Eine Zwischenbilanz, Köln u. a. 2010, S. 205–236. 12 Fraktionssitzung vom 26.9.1988, in: acDP 08–001–1086/3, S. 48f.
„neoliberalismus“ als wirtschaftspolitisches Ordnungsmodell?
147
Summe der Finanzhilfen und Steuervergünstigungen und ihr anteil am BIP 1970–1990 Summe der Finanzhilfen und Steuervergünstigungen 1970 1975 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990
In Mill. DM 14.272 20.642 25.524 25.908 24.199 25.984 28.680 29.089 30.025 30.260,9 31.302,5 31.988 32.294
1982 = 100 61 85 106 107 100 107 119 120 124 125 129 132 134
anteil der Finanzhilfen und Steuervergünstigungen am BIP In v. h. 2,11 2,01 1,73 1,69 1,52 1,56 1,64 1,60 1,56 1,52 1,44 1,44 1,33
1982 = 100 139 132 114 111 100 103 108 105 103 100 95 95 88
Quelle: Subventionsberichte der Bundesregierung und eigene Berechnungen.
Die beiden linken Spalten zeigen die absoluten Steigerungen. nachdem die Regierung Schmidt/Genscher anfang der achtziger Jahre die Subventionen deutlich begrenzt hatte, erfolgte bis 1990 eine erneute Expansion von rund einem Drittel. Erneut darf man sich also durch die beiden rechten Spalten, die einen Rückgang suggerieren, nicht irreführen lassen: Es handelt sich aufgrund der guten Konjunktur um eine optische täuschung. Wie in der Vergangenheit auch wurden Subventionen aus gestiegenen staatlichen Verteilungsspielräumen bestritten; zugleich freilich zementierte ihr nominaler anstieg bestehende Strukturen und ansprüche. Es ist also problematisch, wenn man allzu schlagwortartig davon spricht, Ende der siebziger Jahre hätten die westlichen Industriestaaten – und eben auch die Bundesrepublik Deutschland – eine grundlegende Wende vom Keynesianismus zum „neoliberalismus“ vollzogen. Zwar fiel der Keynesianismus als Instrument einer dynamischen Wirtschaftspolitik aus Gründen der Finanzierbarkeit aus. aber zumindest im Falle der Bundesrepublik ist es legitim, von einer art strukturellem oder systemischem Keynesianismus zu sprechen, der seit den 1970er Jahren in die westdeutsche Wirtschafts- und Sozialpolitik eingebaut war und auch im Verlauf der 1980er Jahre nicht beseitigt
148
andreas Wirsching
wurde. Das quasi institutionalisierte Deficit Spending und die kontinuierliche ankurbelung der Binnennachfrage durch staatliche transferleistungen verbieten es zugleich, von einem konsequenten neoliberalismus zu sprechen. III. Dies führt zum Schluss zum Versuch einer kurzen Bewertung, die unter drei aspekten erfolgen kann. Erstens rückt natürlich der wirtschaftliche Strukturwandel in den Vordergrund: Die 1970er und 1980er Jahre bildeten eine Phase des beschleunigten Übergangs von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. In ihrem Verlauf verlor die deutsche Wirtschaft mehr als 2,5 Millionen industrielle arbeitsplätze, was jede Regierung vor erhebliche Probleme gestellt hätte.13 tatsächlich stellte sich ja vielen Betroffenen ihre Situation verzweifelt dar. Über die ganzen 1980er Jahre hinweg begleiteten immer wieder massive Proteste gegen die Stilllegung von Betrieben in den „ewigen“ Krisenbranchen wie Stahl, Kohle und Schiffbau, aber auch in der landwirtschaft die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Bundesregierung. Brennpunkte bestanden im Saarland, wo es Ende 1982 zu Betriebsbesetzungen kam, und im Ruhrgebiet, das Ende 1987 infolge des Massenprotests gegen die Stilllegung von Duisburg-Rheinhausen geradezu „brannte“. In der Praxis also stieß die programmatisch eher formelhaft auf Modernisierung, liberalisierung und Strukturwandel festgelegte Wirtschaftspolitik der Regierung Kohl/Genscher auf verhältnismäßig enge Grenzen. Jedenfalls verknüpfte sie den geförderten und politisch ja gewollten Strukturwandel regelmäßig mit begrenzten Erhaltungssubventionen in den Krisenbranchen. In den besonders betroffenen Regionen sollte ein behutsamer Umbau den unvermeidlichen Wandel sozialverträglich gestalten. Mit dieser leitlinie unterschied sich die christlich-liberale Koalition freilich kaum von ihrer sozial-liberalen Vorgängerin, wie unter anderem der oben gezeigte Blick auf die Entwicklung der Subventionen lehrt. auch in dieser hinsicht ließ helmut Kohl übrigens keinen Zweifel an seiner Marschlinie: als 1988 in der cDU/cSU-Bundestagsfraktion einmal mehr über Subventionen gesprochen wurde, beendete Kohl brüsk die aufkeimende Diskussion: „Sagen Sie mir doch einmal, (…) wo wir jetzt viel wegnehmen können. Wollen wir jetzt im Moment die landwirtschaft völlig totmachen? Wollen wir sagen, wir brauchen sie nicht mehr? (…) Und dann erkenne ich die großen Energiepolitiker. natürlich kann man sehr gut, wenn man in einer landschaft sitzt, wo man halt einen haufen Kraftwerke hat, und wo einem lange genug andere geholfen haben, sagen: So, jetzt steigt aber aus dem 13 hierzu und zum Folgenden: a. WiRschiNg, abschied (wie anm. 8), S. 239ff.
„neoliberalismus“ als wirtschaftspolitisches Ordnungsmodell?
149
Kohlepfennig aus. (…) Wollt ihr eine ganze Region an der Saar, wollt ihr eine ganze Region in nordrhein-Westfalen einfach abkappen? Das geht nicht! Wir brauchen hier Übergangslösungen. Und wir machen es ja auch in diesem Sinn.“14
Ebenso dramatisch wie der ökonomische Strukturwandel war zweitens die seit den 1970er Jahren voranschreitende Veränderung der sozio-kulturellen Maßstäbe individueller lebensgestaltung. traditionelle, im Industriezeitalter noch hoch standardisierte lebenslaufmuster lösten sich auf. Mehr und mehr ist das Individuum seit den 1970er Jahren befreit worden von materiellen Zwängen, tradierten Rollenerwartungen, kulturellen Bindungen und gesellschaftlichen Konventionen. Wohl nie zuvor waren die Freiräume und die Optionen individueller lebensgestaltung so groß, was übrigens für die neoliberale Rhetorik ein entscheidender ansatzpunkt war. Faktisch hieß das aber keineswegs nur Freiheitsgewinn und Emanzipation, sondern eben auch Freisetzung aus tradierten Versorgungssicherheiten und normativen Gewissheiten. Wenn also die Individualisierung neue chancen bot, so verursachte sie doch auch neue Risiken. Und es gehörte zu den typischen Phänomenen seit den siebziger Jahren, dass sich eine in ihren Rechten zunehmend vollindividualisierte Gesellschaft an den Staat wendet, um ihm die Rechnungen für die gestiegenen Risiken zu präsentieren. Es war daher für wertkonservative Beobachter eine schwere Enttäuschung, dass die neue Regierung nach dem Wahlsieg von 1983 keinen augenblick daran dachte, ein gesellschaftspolitisches Rollback zu versuchen. Zwar betrachteten viele in der Union die sozial-liberalen Reformen etwa des Ehescheidungs-, abtreibungs- und Jugendstrafrechtes als die politisch induzierte Ursache moralischen Verfalls und gesellschaftlicher Krisenerscheinungen. Eine „Reform der Reform“ blieb aber aus, und das hieß nichts anderes, als dass eine Mehrheit in der Koalition die beschleunigten Prozesse gesellschaftlicher Individualisierung im Kern akzeptierte oder zumindest ihre Umkehr für politisch nicht durchsetzbar hielt. Damit ist der dritte aspekt benannt, nämlich die Widersprüchlichkeit des Konzepts der Wende: Dessen Kern bestand darin, einen neuen, auf „Modernität“ verpflichteten Fortschrittsoptimismus hervorzubringen, freilich unter gleichzeitiger Rückbesinnung auf traditionelle lebensweisen und wertkonservative Inhalte. Die Rhetorik der „Wende“ forderte daher einerseits, den technischen Fortschritt zu akzeptieren und als chance zu begreifen, den Kräften des Marktes, der Eigeninitiative und des Wettbewerbs wieder stärkere Geltung zu verschaffen. andererseits verpflichtete sie sich darauf, an einem christlichen Menschenbild festzuhalten, hiervon ausgehend gesellschaftliche Solidarität und geschichtliches Bewusstsein neu zu definieren, die Familie zu fördern und traditionelle Werte zu stärken. In eigentümlicher Weise ver14 Fraktionssitzung vom 19. 9. 1988, acDP 08–001–1086/2, S. 131–134.
150
andreas Wirsching
knüpfte das Konzept der „Wende“ also christlich-konservative, liberal-fortschrittsorientierte und individualistische Elemente miteinander. Einseitige Interpretationen der christlich-liberalen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik verbieten sich daher. Kennzeichnend war vielmehr ihr durchgängig widersprüchlicher charakter. cum grano salis gesprochen, wollte die Regierung Kohl/Genscher im Grunde alles: Sie betrieb dort „liberale“ Politik, wo sie die Dynamik des Strukturwandels befördern wollte; zugleich betrieb sie dort „christlich-soziale“, praktisch aber durchaus „sozialdemokratische“ Politik, wo die Folgen des forcierten Strukturwandels zur übermäßigen Belastung gerieten und es galt, die „soziale Symmetrie“ zu bewahren. Schließlich wollte sie dort „(wert-)konservative“ Politik betreiben, wo die Folgen der neo-liberal angetriebenen Individualisierungsprozesse den sozialen und kulturellen Zusammenhalt der Gesellschaft gefährdeten. aus dieser Diagnose erwachsen mehrere Fragen. Die erste, eher vordergründige, lautet, ob hier nicht ein Monumentalprogramm formuliert wurde, an dem jede Regierungspolitik gescheitert wäre. In längerfristiger Perspektive drängt sich freilich der Verdacht auf, dass dieses Monumentalprogramm aus der deutschen Geschichte durchaus bekannte traditionen und Pfadabhängigkeiten widerspiegelt. Wurde in ihm nicht dem Staat eine Problemlösungskapazität beigemessen – und zugewiesen –, die ihn zu überfordern drohte und zugleich einen zivilgesellschaftlichen Mangel offenbarte? Damit ist schließlich das wohl problematischste, weil kurzfristig folgenreichste Merkmal der „Wende“ und der sich aus ihr speisenden Regierungspolitik benannt. Denn die Regierung Kohl verfolgte im Grunde zwei unterschiedliche und auseinanderdriftende Pfade. Sie förderte Eigeninitiative und Individualität, Markt und Wettbewerb dort, wo dies entsolidarisierende Wirkungen nach sich zog. Den Gedanken der sozialen Verpflichtung und Solidarität förderte sie hingegen dort, wo dies die Zementierung individueller ansprüche und die langfristige Überforderung des (Sozial-)Staates nach sich zog. Während die Freiheitsdividenden der neuen Gesellschaft privatisiert wurden, verdichtete sich deren langfristiges Risikopotential erheblich. Die hieraus resultierenden haushaltspolitischen Rechnungen lassen sich an den oben vorgestellten Ziffern demonstrieren. Was uns daher fast unausweichlich wiederbegegnet, ist ein alter Bekannter aus der Geschichte des deutschen Interventionsstaates, nämlich seine aus Überforderung geborene tendenz zum bürokratischen autoritarismus. Demgegenüber drohen die vielbeschworene Zivilgesellschaft, die bürgerliche Selbstorganisation, das ehrenamtliche Engagement, schlicht auch: der Idealismus zu kurz zu kommen. Eben dieses Szenario ist seit den 1990er Jahren übermächtig geworden: Im Kern liegt ihm kein liberales Konzept zugrunde, sondern eher bürokratisch-autoritäre lösungen, häufig freilich im Mantel neoliberaler Markt- und Effizienzrhetorik. Die Grundlagen hierfür wurden bereits in den 1980er Jahren gelegt.
DIE DDR alS ÖKOnOMISchE KOnKURREnZ: DaS SchEItERn DES „ZWEItEn DEUtSchEn StaatES“ alS VERGlEIchSWIRtSchaFt André Steiner als Walter Ulbricht auf dem II. SED-Parteitag im September 1947 eine einheitliche Wirt schaftsplanung verlangte, die auch längere Zeiträume erfassen sollte, begründete er die neue Wirtschaftsordnung damit, dass „mit hilfe der Wirtschaftsplanung und der Finanzpolitik der demokratischen Verwaltung (…) die Wirtschaft so gelenkt werden [sollte], daß die Möglich keit geschaffen wird, der Gefahr von Krisen zu begegnen. Durch diese Wirtschaftspolitik“ – so Ulbricht weiter – „werden auch die Voraussetzungen für die spätere Verhinderung der Krisen geschaffen. Das heißt, die arbeiterschaft wird von der Furcht vor Massenarbeitslosigkeit be freit.“1 Deutlich klang hier der Rekurs auf die Weltwirtschaftskrise zu Beginn der dreißiger Jahre und de ren politischen und sozialen Folgen an. Dem wurde die sozialistische Utopie gegenübergestellt, die wiederum ihre Bestätigung daraus erfuhr, dass es der darauf beruhende Ordnungsentwurf – die Planwirtschaft und die damit verbundene außerkraftsetzung markt wirtschaftlicher lenkung – ermöglichte, zur gleichen Zeit in der So wjetunion mit der Sta linʼschen Indu striali sie rungspolitik beeindrucken de Wachs tums ra ten zu er ziel en und die arbeitslo sig keit zu beseitigen. nicht zuletzt galt auch der über ragende anteil der Sowjetunion an der Zer schla gung des „Drit ten Rei ches“ (zu min dest in der Wahr nehmung der Kommuni sten) als Be weis der lei stungs fä higkeit deren Wirt schaft. Die nach dem Krieg nicht nur im Osten Deutsch lands an zutreffende Fas zi na tion gegenüber dem Planungsgedanken und gegenüber staatlicher lenkung beruh te aber auch auf nichtkenntnis oder Verdrängung der hohen Men schenverluste und weiterer Kosten, die für die nach ho lende Indu strialisie rung in der Sowjetunion bezahlt worden waren. allgemein versprach man sich von der Planung eine bessere wirtschaftliche Entwicklung in der SBZ, die dann als Magnet auf den Westen wirken sollte.2 Somit war die ostdeutsche Planwirtschaft von 1 2
Protokoll der Verhandlungen des 2. Parteitages der SED 20. bis 24. September 1947 in der Deutschen Staatsoper zu Berlin, Berlin 1947, S. 320f., 324. WiLfRied Loth: Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die DDR nicht wollte, Berlin 1994, S. 78. Zu ähnlichen Überlegungen im Westen vgl. WeRNeR aBeLshauseR: Zur Entstehung der „Ma gnet-theorie“ in der Deutschlandpolitik. Ein Bericht von hans Schlange-Schöningen über einen Staatsbesuch in thüringen im Mai 1946, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 27 (1979), S. 661-679.
152
andré Steiner
vornherein als Ordnungsentwurf in Konkurrenz zur westlichen Marktwirtschaft gedacht und musste sich als ein solcher beweisen. Dem soll in dem vorliegenden Beitrag nach einer Darstellung der allgemeinen Probleme dieses Wirt schafts systems anhand der drei Entwicklungsabschnitte der DDR-Wirtschaft nachgegangen werden. Etablierung der Planwirtschaft und die daraus resultierenden Problemlagen allgemein und für die DDR speziell Zwar sahen die die Errichtung der Planwirtschaft in der SBZ/DDR vorantreibenden akteure diese von vornherein als Gegen mo dell zum liberalen und marktverfassten Sy stem und als Ver wirklichung der kommunistischen heilserwartungen, gleichwohl verlief dieser Prozess histo risch kontingent. letztlich war die Etablierung die ses Gesellschaftmodells in einem teil Deutschlands ein Er geb nis der in ter na tio na len nach kriegs ent wick lung, also des Kalten Krie ges und der da mit verbundenen deutschen tei lung. Es sollte den haupt pro tagonisten dieser trans formation – den deutschen Kommunisten – ihre im Wind schatten der sowjetischen Be sat zungs truppen errungene politische Macht sichern. auch deshalb lehn ten sie sich dabei an das Mo dell der So wjetunion an, was von dieser – ent sprechend ihrer jewei li gen deutschlandpo li ti schen In ten tio n – zurückhaltend oder intensiv ge för dert wurde. In der Kon se quenz wies die DDR – bei allen Differenzen im ein zel nen – die für alle Ostblock-Ge sell schaften typischen Sy stem merk ma le auf, die entscheidend auf den Stalinʼschen Vor stel lun gen und sowje tischen Erfah run gen basierten: staatliches Eigentum an den Produktionsmitteln (in der DDR legitimatorisch als „Volkseigentum“ bezeichnet), zentrale Planwirtschaft sowie Primat der Politik und damit der herrschenden kommunistischen Partei, hier der SED. letzten Endes waren es also Gründe machtpolitischer, visionärheilsgeschichtlicher und hi sto ri scher na tur, die zur „Konstruktion“ dieses Gesellschaftssystems führten. Dieses alternativsystem sollte, anknüpfend an die Marxʼ sche ana lyse, die negativen Seiten kapitalistischer Ökonomie beseitigen. Dazu war das priva te Eigentum an den Produktions mitteln als Ursache der „ausbeutung des Menschen durch den Menschen“ abzuschaffen u nd die Wirtschaft planvoll, ex ante zu lenken, um die vielfältigen Verlu ste und Kosten zu ver mei den, wenn sich die Ergebnisse der Produktion erst im nach hinein auf dem Markt bewähren mussten. Die so zu schaffende Voll be schäf ti gung, Krisenfrei heit, Bedürfnis be frie digung für alle mach ten den wirt schaftlichen Kern der so zia listischen Utopie aus. Da die Bedürfnisse mit ihrer Befriedigung aber steigen, waren letztlich auch Wachstum und damit Inno vatio nen sowie glei cher maßen wirtschaft liche Effizienz erforderlich. Diese ansprüche und Ziele sollten mit der Plan wirt schaft verwirklicht werden. Mit ihr waren die Volkswirt schaft
Die DDR als ökonomische Konkurrenz
153
ins gesamt und deren ein zelne teilsy ste me, also bis zu den Be trieben hinunter, im Vorhinein zu koordinieren und zu len ken. Man meinte, auf der Ebene der Volkswirtschaft die günstigste lösung für die Ressour cenallokation finden zu kön nen und zugleich sicherzustellen, dass diese Ressourcen in den Betrieben auch effizient ausgenützt würden. Das Ziel, wie es lenin formuliert hatte, war: „Die Orga ni sierung der Rech nungsführung, die Kontrolle über die Großbe trie be, die Um wand lung des ganzen staatlichen Wirtschaftsmechanismus in eine einzige große Maschine, in einen Wirt schaftsorga nis mus, der so arbeitet, daß sich hunderte Millionen Menschen nach einem ein zi gen Plan richten (…)“3 Damit erschien der Markt – als Instrument der ex post Koordinierung – ent behr lich. Die bewusste Konstruktion eines solchen Wirtschafts sy stems erfor derte einen Bau meister, der über das entsprechende Wissen und e inen Gestaltungsentwurf ver füg te. Diese Position nahm in Ostdeutsch land die in der kom mu nistischen tradition ste hende SED ein. aus der Er fül lung der be nannten an sprü che leitete sie die legiti mität ihrer herrschaft ab. In ihren augen verfügte nur sie gestützt auf die als Wissen schaft deklarierte Ideologie des Marxis mus-leninismus über das Wis sen , die zukünftige Ent wick lung der Gesellschaft und darunter der Wirtschaft zu bestim men. Damit könne auch nur sie das fort wäh rende Einlösen dieser ansprü che sichern, wo mit die se faktisch zu einem Mittel wur den, um die Macht der SED zu erhalten. Dieses „konstruktivistische“ Element des Wirtschaftssystem macht einen der we sentlichen Un terschiede zur Marktwirtschaft aus, die in einem län geren historischen Prozess – ohne eine vor he ri ge Systemvorstellung – durch das Wirken vieler Einzelakteure ent stand. Der anspruch, ein alternativsystem zu etablieren, recht fer tigte neben den po li tisch formulierten Zie len die ständi gen politischen Eingriffe in die Wirt schaft. Wirtschaftliche Rationalität war nun politischen Er wägungen nachgeordnet. Um den Gesamtplan eines solchen Wirt schafts sy stems durch setzen zu können, mussten die privaten, de zentralen Ver fü gungs- und aneig nungs rechte beseitigt wer den. In einem mehrstufigen historischen Prozess wurden in den vierziger und fünfziger Jah ren in Ostdeutschland große teile der In dustrie verstaatlicht und die Produktionsmittel in den anderen Wirtschaftsbereichen überwiegend kollektiviert.4 Bis zur Gründung der DDR 1949 war die Planwirtschaft sowjetischen typs zwar prädispo niert, aber sie war selbst im Sinne der Initiatoren noch kein funktionierendes System. Ihre Etablierung sollte zunächst vor allem der Erfüllung der sowjetischen Reparationsforderungen aus der laufenden Produktion und der Bewältigung der unmittelbaren not der nachkriegszeit die3 4
Wladimir I. lenin: Referat über Krieg und Frieden auf dem Siebenten Parteitag der KPR (B) am 7. März 1918, in: Ders.: Werke, Bd. 27, Berlin (Ost) 1960, S. 73-96, hier 76f. Vgl. auch aNdRé steiNeR: Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, akt. und bearb. neuausgabe, Berlin 2007.
154
andré Steiner
nen. Soweit waren auch die Sowjets essentiell an der nutzung der planwirtschaftlichen lenkungsinstrumente interessiert. Darüber hinaus verbanden die deutschen Kommunisten und zunächst auch (mit abstufungen) die anderen politischen Gruppierungen damit den an spruch, eine krisenfreie Wirtschaft mit Vollbeschäftigung und somit sozialer Sicherheit für alle zu schaffen. nicht zuletzt nutzte die SED die Umsetzung der Planwirtschaft, um ihre machtpolitischen ansprüche durchzusetzen. Vor allem letzteres war entscheidend dafür, dass die SED-Spitze seit 1947/48 auf dem Weg zum Sozialismus in der Wirtschaft mehr Fakten schuf als in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Dabei nutzte sie auch Spielräume, die sie gegen über der sowjetischen Besatzungsmacht hatte beziehungsweise ging teilweise weiter, als in Moskau ge wünscht. Die sowjetische Besatzungs- und spätere hegemonialmacht beeinflusste die konkrete ausgestaltung der Planwirtschaft massiv, wobei jedoch viele taktische Wendungen und Verzö gerungen aus ihren verschiedenen Optionen in der Deutschlandpolitik resultierten. Was sich die Verantwortlichen anfangs unter Planwirtschaft vorstellten, war von per fek tio ni sti schen Erwartungen und vereinfachten Vor stellungen geprägt. Ein führender Wirtschafts funk tionär stellte das 1948 so dar: „Planwirtschaft ist nur denkbar als sozialistische Bedarfs wirt schaft. Planwirtschaft, wo die Pro duk tion von oben bis unten, von vorn bis hinten durch Pläne ge regelt wird, wo je der Wirt schaftsvorgang, Rohstoffbe schaf fung, transport, Verarbei tung im Be trieb, ab satzre ge lung durch Pläne vorher bestimmt wird.“5 Die Idee derartiger „total pla nung“ einer Volkswirtschaft war allerdings schon deshalb illusionär, weil niemand die erforderlichen Informationen in ihrer gesamten Komplexität erfassen konnte. Gleich wohl be tonte man, dass eine solche so zia listische Plan wirtschaft das Ziel, aber noch nicht erreicht sei. Deshalb sollten die Pläne über die von anfang an dominierende Produktion immer mehr auch Kosten, Beschäftigte und löh ne, Investi tio nen, Vor lei stungen und ab satz er fassen. Die SED-Spitze war wiederum davon überzeugt, dass mit der Planwirtschaft sowjetischen typs eine höhere Produktivität als in der Bundesrepublik zu erreichen war. Mängel in der Funk tions wei se und in den Ergebnissen wurden als zu überwindende anfangsschwächen verstan den. letztlich sollte so die attraktivität des Systems der eigenen Bevölkerung aber auch den Westzonen beziehungsweise der Bundesrepublik bewiesen werden. Von einer sol chen Überlegenheit war die SED-Spitze auch deshalb überzeugt, weil sie in der sozialen Marktwirtschaft die Restauration der alten Verhältnisse sah und sie nach den Erfahrungen der Zwischenkriegszeit fest mit einer krisenhaften Entwicklung des Westens rechnete.6 5 6
fRitz seLBmaNN: Demokratische Wirtschaft, Dresden 1948, S. 93, 95f. Vgl. dazu im Detail: aNdRé steiNeR: „… der Gefahr von Krisen zu begegnen“. Die Etablierung der Planwirtschaft in der SBZ/DDR: ablauf und Erwartungen, in: jüRgeN eLVeRt / fRiedeRiKe KRügeR (hg.): Deutschland 1949-1989. Von der Zweistaatlichkeit zur Einheit, Stuttgart 2003, S. 119-133.
Die DDR als ökonomische Konkurrenz
155
Diese Konkurrenzsituation gehörte zu den politischen und wirtschaftlichen Rah menbedin gun gen, denen die SED bei ihrer Politik Rechnung tragen musste. Durch die deutsche tei lung und den an spruch, im Osten Deutschlands die alternative zum markt wirtschaftlichen System im Westen zu entwickeln, wurde die Bun des re pu blik quasi automatisch zur Re fe renzgesellschaft der DDR. an deren Wirtschaftskraft und vor allem an ihrem Wohlfahrtsniveau bemaß sich der Erfolg der DDR. Der Vergleich mit „dem We sten“ blieb für wirt schafts politische Entscheidun gen zu manchen Zeiten explizit, stets aber implizit ein wich ti ger, oft sogar der wich tig ste Para meter. Mehr noch: Zugleich musste die SED-Spit ze aber den Blockzu sammenhang bedenken, denn er begründete die Existenz der DDR – sowohl in po li tischer und mili täri scher als auch in öko nomi scher und ideologischer hinsicht. Otto Rein hold, einer der Vor den ker der späten SED, drückte das in der finalen Krise der DDR im Sommer, herbst 1989 mit bemerkenswerter Klar heit aus: „Ohne Sozialismus in der DDR wird es auf Dau er keine zwei deutschen Staaten geben.“7 Die SED-Spitze hatte im Interesse ihrer eige nen Macht also stets zu bedenken, in wie weit sie sich bei ihren Ordnungsentwürfen von den Vorstellungen ihrer Moskauer Schirm her ren entfernen konnte. hieraus ergaben sich nur schma le handlungsspiel räume für die Ge stal tung des eigenen Systems. Diese Rahmen be din gun gen – die wirtschaftliche her ausfor de rung durch den Westen und die durch die Blockbindung begrenzte Sy stem variabilität – stan den in einem la ten ten Widerspruch zuein an der. Das äußerte sich auch in dem Konflikt zwi schen Macht si cherung und Gewährlei stung wirtschaft licher Effizienz, wobei einerseits ohne entspre chende ökonomische Er geb nisse mittel- und langfristig die Macht nicht zu ga ran tie ren war. Schließlich war dieses System in mehrfacher Wei se nicht legitimiert. Wie in anderen Diktaturen und weit stärker als in li be ra len Gesellschaf ten bedurfte es in der DDR eines Mindestni veaus an Konsum und lebensstandard und dafür wie der um einer wirtschaftlichen Basis, um massenhaf te loyalität der Bevöl ke rung und damit Sy stem stabilität zu erzeugen. an de rer seits versprach Macht allein noch keine wirt schaftli che Effi zienz. Gleichwohl wurde die ses Dilemma von den Verantwort li chen lange Zeit als auflösbar an ge sehen. Zugleich wies das planwirtschaftliche System von anfang an zwei grundle gen de Pro bleme auf, die zwar von den Verantwortlichen nicht so benannt, aber deren Erscheinungsweisen durchaus registriert wurden: das Informations- und das anreizproblem.8 In Marktwirtschaften bilden ideal typisch die sich nach an gebot und nachfrage frei herausbildenden Preise für die Unterneh men die in ihrer Entwicklung nicht sicher vorhersagbare Informations7 8
Vgl. den Diskussionsbeitrag Reinholds auf der ZK-tagung im november 1989 und die dort angegebe nen literaturverweise in: haNs-heRmaNN heRtLe / geRd RüdigeR stePhaN (hg.): Das Ende der SED. Die letzten tage des Zentralkomitees, Berlin 1997, S. 334. Zum Folgenden liegt eine Fülle an literatur vor. Grundlegend aber: jáNos KoRNai: the Socialist System. the Political Economy of communism, Oxford 1992.
156
andré Steiner
quelle, an denen sie ihre Entscheidungen ausrich ten. Da man den wirt schaftlichen Prozess bewusst und im Vor hin ein ge stal ten woll te, sollten die Preise kei ne Quelle für Unsicherheiten mehr sein wie in einer Markt wirt schaft. Zugleich be deu tete das den Verzicht auf die Preise als un ab hän gi ge aus dem Wirtschaftsprozess selbst ge wonnene Infor mationsquelle. alternativ konnte die Zen tra le die für die wirtschaftlichen Entscheidungen er forderlichen Informationen aus dem Planungspro zess selbst ge win nen. aller dings wurden diese Informationen in dem bürokratischen und hierarchischen Prozess durch die verschiedenen Interessen der nach- und übergeordneten Ebenen verfälscht. Da es aber der Zentrale angesichts der Vielfalt und der Komplexität des Wirtschaftsprozesses un möglich war, alle erforderlichen Informationen in der notwendigen Qua lität zu erhalten, konn te sie keine wirtschaftlich optimalen Entscheidun gen treffen. So ver wundert es nicht, dass sie sich entspre chend ihrem Führungsanspruch vor nehmlich an po li tisch ge setzten Prioritäten orientierte. Das heißt, das Wirtschaftssystem war so ge stal tet, dass es politische Ent schei dungen über wirtschaftliche Belange erforderte. Darüber hinaus barg die gegebene Systemstruktur ein anreizproblem: Es war schwierig, Be trie be und Beschäftigte zu höchsten leistungen zu motivieren. Das anfänglich bemühte Ideal bild vom „neuen Menschen“ erwies sich schnell als Fiktion, denn formaler Besitz an Maschinen und Fabriken war kein Garant für eine höhere ar beitsmotivation. Daher entstand das an reiz pro blem aus dem Widerspruch zwischen dem wirtschaftlich notwen di gen leistungsdruck und den legitimationsgrundlagen des Systems. Zu letzterem gehörte der an spruch, Vollbe schäf ti gung zu realisieren. Er stand jedoch einer anwendung der Ultima Ratio bei wirt schaft lich un zu rei chen den Ergebnissen – für den Be trieb dem Konkurs und für die Beschäftigten der Ent las sung – entgegen. außerdem le gi timierte die SED-Spitze ihre herrschaft als „arbeiterund-Bauern-Macht“ und musste gleichzei tig den arbeitern aber als eine art „Gesamtunternehmer“ ge gen über treten, der immer höhere lei stun gen forderte. Jeder zusätzliche leistungszwang ge fähr dete daher potentiell die le gitimität der SED-Macht; der Verzicht auf leistungszwang gefährdete die legimität über den Verlust an wirt schaftlicher lei stungsfä hig keit aber ebenso. Das war ein weiteres Dilemma, dem versucht wurde, mit vielfältigen Mechanismen beizukommen , um so bei Betrieben und Be schäf tig ten über den bloßen Zwang und ideologisch ver bräm ten Druck hinaus höhere lei stungen zu för dern. außerdem war der Planungsmechanismus gerade in den fünfziger Jahren so ge stal tet, dass die Betriebe vor allem dafür belohnt wurden, wenn sie ihre Brutto-Produk tion quantitativ erfüllt hatten. Qualitative aspekte spielten meist eine nachgeordnete Rolle. Insofern erschien jede neuerung bei den Produkten und im Fertigungsprozess als eine Stö rung, weshalb die Betriebe kaum an Innovationen interessiert wa ren und diese eher vermieden. Das war für sie auch nicht problematisch, weil sie bei dem herrschen den all ge mei nen Mangel
Die DDR als ökonomische Konkurrenz
157
an Waren ihre Produkte ohnehin absetzen konnten. Der Man gel entstand sy ste misch durch das nicht knapp gehaltene Geld und durch die damit zusammen hängenden all ge gen wärtigen hortungserscheinungen und die geringen anreize zum spar sa men Res sour cen ein satz bei den Betrieben. Das staatliche außenhandelsmonopol, gedacht als Schutz der Volks wirtschaft vor „Störungen“ von außen, tat das seine, denn es schottete die Betriebe von der Kon kurrenz auf den außen märkten ab. Folge dieser beiden Systemelemente war die sy stemim ma nen te Innovationsschwäche. Gleichwohl konnten mit dieser Form der Planwirtschaft in den fünfzi ger Jahren die zunächst brachliegenden Produktionsfaktoren mobilisiert und hohe Wachs tums ra ten erreicht wer den. Im Zu ge dieses extensiven Wachstums wurde – verstärkt durch die inner deutschen Wande rungs ver luste – die arbeitslosigkeit reduziert und schließlich beseitigt. ab der zwei ten hälf te der fünf zi ger Jahre zeigte sich ein akuter Mangel an arbeitskräften. Damit wurde zwar die ver spro che ne Voll be schäf ti gung gewährleistet. aber da hin ter ver bar gen sich hor tungs erschei nungen der Be trie be und da mit erhebliche Pro duk ti vi tätsreserven. auch die Inve sti tionseffekti vität sank Ende der fünfziger Jahre. arbeitskräftemangel und zurückgehende Investitionseffek tivität offenbarten, dass die Grenzen des extensiven Wachstums in der DDR erreicht waren und die Wirtschaft mit dem etablierten len kungs me cha nis mus nicht auf einen intensiven Wachs tumspfad zu bringen war – also überwiegend durch Pro duk tivitäts stei gerung bewirktes Wachstum. Ein solcher Übergang konnte mit der in den fünf z iger Jahren typischen ten denz, die Pla nung möglichst auf alle wirtschaftli chen akti vitäten auszudehnen, nicht gelingen, weil das systemimmanente Informations- und das anreizproblem nur auf weitere Bereiche ausgedehnt wurden. Jedoch zogen die durchaus bekannten Schwierigkeiten auch Diskussionen unter Wirtschafts wissenschaftlern nach sich, die den bisherigen Ordnungsentwurf grundsätzlicher in Frage stell ten. Mit Fritz Beh rens an der Spitze hatten einige Wissenschaftler begonnen , sich Fra gen der Zentralisierung und De zen tra li sie rung sowie der ausarbeitung ökonomi scher Me tho den für die Wirt schaftslen kung mit tels Plan zu wid men. Sie hatten sich mit dem Verhältnis von Politik und Wirtschaft, der Stel lung und Rolle öko no mi scher Kategorien im Zusammenhang mit der Wert theo rie so wie dem für eine Planwirtschaft wichtigen Problem von „spontanen“ und „bewusst herbeigeführten“ wirtschaftlichen Prozessen be schäftigt. Sie skizzierten die ökonomischen Schwie rig kei ten in der DDR (unkontinuier li che Pro duktion, hortung, nichtab setz bare Erzeugnisse und Kauf kraft überhang) und führ ten diese auf die Wirtschaftslenkung zurück, die sie als überzentra li siert, reglementierend, administrierend und büro kratisch cha rakterisierten. Dem setzten sie ein theoretisches Konzept planmäßi ger Wirt schaftsführung mit ökonomischen Mitteln auf der Basis tat sächlicher Vergesellschaftung – von ihnen als wirt schaft liche Selbstverwaltung begriffen – ent gegen. Danach soll te die zentrale lei-
158
andré Steiner
tungsinstanz nicht mehr jede Einzelheit im auge haben, sondern nur die Rahmenbedingungen setzen, um das handeln sowohl der Betriebe als auch der Be schäf tig ten in die von der Zentrale ge wünschte Rich tung zu führen. Ein Minimum zen traler anwei sun gen und ein Ma xi mum an Ini tiative und Selbständigkeit „von unten“ sollten mit der bewussten aus nutzung wirt schaftlicher Instrumente, also einzelnen Marktka te gorien, erreicht werden. Das erfordere hand lungs spielräume für die Be triebe, um auf den sich wandelnden Be darf reagieren zu kön nen. Um angebot und nach fra ge ins Gleichgewicht zu bringen, mussten ihres Erachtens die Prei se inner halb bestimmter Bandbreiten beweg lich ge stal tet werden. Das so aktivierte wirt schaft li che In teresse bei den Betrie ben galt ihnen a ls hauptanreiz für eine sozialistische Entwicklung.9 Mit diesem Ent wurf hat ten die beiden Wirtschaftswissenschaftler zwar nicht den Boden der Marxʼschen theo rie verlassen, aber die herrschende staatssozialistische lesart in Frage gestellt. Doch auch bei ihnen gab es Widersprüche. So wäre die abkehr von Festpreisen und die Instru men talisie rung der Prei se zur Wirt schafts lenkung sicher ein Fortschritt gewesen. Das Problem der Preisbe stim mung aber blieb auch bei ihnen theo re tisch un ge löst.10 Gleichwohl nahmen sie in ihren the sen konzeptio nelle Gedanken der Wirtschaftsreform der sechziger Jahre vorweg. Ins be sondere die Wahr nehmung und Indienstnahme wirt schaft licher Interessen waren zentrale Punk te der späte ren Reform. Ihre Forderung nach einer realen Vergesellschaftung war zwar – sy stem immanent be trachtet – konsequent, berührte aber das herr schaftsmono pol der SED. Des halb wurden die zunächst theo retisch an ge legten Posi tionen von Behrens und arne Benary schon bald von Ulbricht auf einer ZK-tagung als „Revisio nis mus“ diffamiert.11 Die Bezichtigung des „Revisionismus“ richtete sich direkt und indirekt gegen alle Ver su che, reformsozialistische Ideen außer halb der SED-linie zu ver fol gen. Die von der SED-Spit ze inszenierte „Revisionismus-Debatte“ fand erst nach drei Jah ren mit mehrfach er zwungenen und entwürdigenden Selbst kritiken der Be zichtigten anfang der sech zi ger Jah re ihr Ende.12 Vor her war Behrens bereits von seinen Re gierungsfunk tionen ab ge löst und Benary 1958 „in die Pro duk tion“ versetzt worden.
9
fRitz BehReNs: Zum Problem der ausnutzung ökonomischer Gesetze in der Übergangsperiode, in: Wirt schafts wissen schaft 5 (1957), 3. Son der heft, S. 105–140; aRNe BeNaRy: Zu Grund pro blemen der politi schen Öko no mie des Sozialismus in der Übergangsperiode, in: Ebd., S. 62-94. 10 Vgl. für eine theoretische analyse: susaNNe BecKeR / heiKo dieRKiNg: Die herausbildung der Wirt schaftswissenschaften in der Frühphase der DDR, Köln 1989, S. 424-439. 11 Grundfragen der Politik der SED. Referat auf der 30. tagung des ZK der SED vom 30.1.57, in: WaLteR uLBRicht: Zur Geschichte der deutschen arbeiterbewegung. aus Reden und aufsätzen, Bd. VI, Berlin (Ost) 1962, S. 305ff. 12 Vgl.: S. Becker / h. dieRKiNg, herausbildung (wie anm. 10), S. 467-473.
Die DDR als ökonomische Konkurrenz
159
So blieb es dabei, dass das Planungssystem in seiner bisherigen Form ausgebaut wurde, indem die verschiedenen Bereiche und Sphären des Wirtschaftens zunehmend seinem Zugriff unterla gen. Wirtschaftliche anreize in Form finanzieller Boni oder ähnliches spielten weiterhin nur eine nachgeordnete Rolle und so blieben die Probleme zunächst dieselben.13 Deklarierte Konkurrenz: Vom „Überholen und einholen“ zum „Überholen ohne ein zuholen“ trotz der bekannten Funktionsprobleme wähnte sich die SED-Spitze mit ihrer Wirtschaftsord nung aber auf der Siegerseite der Geschichte und wurde nicht müde, immer wieder die Überle genheit des Sozialismus zu verkünden und den daraus letztlich resultierenden höheren lebens standard zu versprechen. als der aufbau des Sozialismus 1952 forciert werden sollte, was im Volksaufstand am 17. Juni 1953 endete, verkündete Ulbricht: „Durch den [ersten] großen Fünfjahrplan wird ein solcher aufschwung der Wirtschaft erreicht werden, daß bis zum Jahre 1955 die lebenshaltung des Volkes [der DDR] die der Bevölkerung einer Reihe kapitalistischer länder übertreffen wird.“14 auch im unmit tel ba ren Gefolge des aufstands for mulierte die SED-Spitze mit dem „neuen Kurs“ öffentlich die aufgabe: „Bei uns soll der Werk tätige mehr essen und besser mit Konsumgütern versorgt werden als in Westdeutsch land.“15 Und im März 1956 stellte Ulbricht in einem Referat, die Ordnungskonzepte des Ostens und des Westens und deren lenkungsinstrumente – die volkswirtschaftlichen Pläne versus die Marktpreise als Regulator der Produktion – sowie deren Konsequenzen – „ständige aus nutzung aller Produktionskapazitäten“ versus unvermeidliche periodische Wirtschaftskrisen – direkt gegenüber, wobei erstere als überlegen markiert wurde.16 Jedoch versuchte man wohl zu dieser Zeit noch nicht ernsthaft, dieses Ziel in den Plänen kon kret wirtschaftlich zu untersetzen, son dern es war eher 13 Siehe zu den fünfziger Jahren: jöRg RoesLeR: Die herausbildung der sozialistischen Planwirtschaft in der DDR. aufgaben, Methoden und Ergebnisse der Wirtschaftsplanung in der zentralgeleiteten volks eigenen Industrie während der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus, Berlin (Ost) 1978. 14 Die gegenwärtige lage und die neuen aufgaben der SED. aus dem Referat auf der II. Parteikonfe renz der SED, 9. bis 12. Juli 1952, in: WaLteR uLBRicht: Zur Geschichte der deutschen arbeiterbewe gung. aus Reden und aufsätzen. Bd. IV, Berlin (Ost) 1958, S. 371-499, hier 405, auch 446. 15 Der neue Kurs und die aufgaben der Partei. 15. tagung des Zentralkomitees der SED, 24. bis 26. Juli 1953, Berlin (Ost) 1953, S. 42. 16 Der zweite Fünfjahresplan und der aufbau des Sozialismus in der DDR. Referat auf der 3. Parteikonfe renz der SED 24.-30.3.1956, in: WaLteR uLBRicht: Zur Geschichte der deutschen arbeiterbewegung. aus Reden und aufsätzen. Bd. V, Berlin (Ost) 1960, S. 669–742, hier 698f.
160
andré Steiner
allgemein po li tisch gemeint. Dass man mit eigenen Mitteln nicht in der lage war, das bestehende Produktions- und Ver sor gungs ni veau der Bun des republik zu er reichen und zu über schrei ten, war der SED-Spitze bewusst und wurde von ihr ge gen über der Moskauer Führung als argument benutzt, um von dieser größere Rohstofflie ferungen, höhere Kre dite und andere leistungen zugesichert zu be kommen.17 Die sem argument konnte sich die Sowjetspit ze nicht ganz verschließen, denn schließ lich sollte die DDR zum „Schaufenster“ des Sozia lis mus gemacht wer den.18 Jedoch zeigten die 1956/57 wieder auf neue höchstwer te gestiegene Zahl von 289.954 beziehungsweise 273.716 aus der DDR nach Westen geflohenen Personen am deut lichsten,19 dass das Sy stem vielfältige ge sell schaft liche und wirt schaftliche Defizite auf wies. Um die „Republikflucht“ einzu däm men und ein Zeichen der attraktivität nach innen und außen zu setzen, ver kün dete Ul bricht schließlich Mitte 1958 die „ökono mi sche hauptaufgabe“, wo nach bis 1961 „der Pro-Kopf-Ver brauch unserer werk tä ti gen Be völ kerung mit allen wich ti gen le bens mit teln und Kon sum gü tern den Pro-Kopf-Ver brauch der Gesamt be völkerung in Westdeutsch land erreicht und über trifft“ und damit „die Überlegenheit der sozialistischen Gesell schaftsordnung der DDR gegenüber der herrschaft der imperialistischen Kräfte im Bonner Staat eindeutig bewiesen wird“.20 an lass, ein sol ches Ziel ins auge zu fas sen, dürf te auch ge wesen sein, dass die KPdSU im Februar 1956 be schlossen hat te, „die am meisten entwickelten kapi ta li stischen län der hin sichtlich der Pro duk tion je Kopf der Be völ kerung einzu holen und zu über holen“.21 Grundlage dieser auf ga be in der DDR war der Glaube an die Möglichkeiten des eigenen Systems, der sowohl auf eini gen tech ni schen Spitzenleistungen der Sowjet union (Sputnik-Euphorie) als auch auf den sich im eige nen land seit 1957 wieder günstiger gestal tenden Wirtschaftser geb nissen beruhte. Darüber hin aus sah man mit der kon junk tu rel len Zwi schen schwä che 1958 in der Bun des re publik eine durch greifen de Wirt schafts kri se heran rei fen, was das Überholen erleichtert hätte. Das Jahr 1961 war als Ziel ausgewählt 17 Vgl. u. a. Ulbricht an Bulganin und chruschtschow, 17.12.1955, in: Siftung archiv der Parteien und Mas senorganisationen der DDR im Bundesarchiv (im Folgenden: SaPMOBa) DY30 J IV 2/202/48; Büro des Po lit bü ro an die Mitglieder und Kandidaten, 3.7.1956, in: SaPMO-Ba DY30 J IV 2/202/28. 18 Vgl. michaeL LemKe: Die Berlinkrise 1958 bis 1963. Interessen und handlungspielräume der SED im Ost-West-Kon flikt, Berlin 1995, S. 46ff. 19 Ein schät zung der Verluste, die der Volkswirt schaft durch ab wer bung von arbeitskräften ent stan den sind, in: SaPMO-Ba, nY4182/972. 20 Vgl. Protokoll der Verhandlungen des V. Par teitages der SED. 10. bis 16. Ju li 1958, Berlin (Ost) 1959, S.68, 70. Mit der Fest legung auf unter schiedliche Bevölke rungskategorien woll te man sich eine stati stisches hintertür offen lassen, worauf Kleßmann schon verwies: chRistoPh KLessmaNN: Zwei Staa ten, eine nation. Deutsche Geschichte 1955-1970, Göttingen 1988, S. 310. 21 Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees der KPdSU an den XX. Partei tag, Berlin (Ost) 1956, S.175.
Die DDR als ökonomische Konkurrenz
161
worden, weil die Bundesrepublik bis dahin ihre Streit kräf te mit atom waffen aus ge rüstet haben wollte und dem mit deutlich propagan di sti scher absicht etwas auf dem Feld des Konsums ent ge gen gesetzt wer den sollte.22 Die SEDSpitze ging wohl tat säch lich davon aus, diese an spruchs vol le auf gabe be wälti gen zu kön nen. allerdings rechnete man dabei mit grö ße rer Unterstützung der Sowjetunion.23 Zwar war dieses Ziel von dort an geregt worden, aber es hatte auch eine innere logik, da sich die eigene Bevölkerung immer mit dem westlichen teil Deutschlands ver glich. Den Verantwortlichen war be kannt, dass die „ökonomische haupt aufgabe“ nur mit be trächt lichen zusätz li chen Rohstoffi m por ten auch aus dem Westen ge löst wer den konn te, wo für die hilfe der UdSSR er for der lich war.24 nur auf dieser Basis war der Pro-KopfVer brauch in wichtigen Positionen im Ver gleich mit der Bun desrepu blik schnell zu erhöhen.25 Die Vor stel lung, die Sowjetunion würde der glei chen möglich machen, erklärt auch den Wider spruch, dass mit dem 1959 beschlosse nen Sieben jahresplan die Bun des re pu blik bei der arbeits produk ti vi tät erst bis 1965 einge holt und über flü gelt werden soll te.26 Offenbar war selbst der SED-Spitze klar, dass der nach eigener Einschätzung 24 bis 28 Prozent be tragende Pro duktivitäts rückstand der Industrie27 nicht innerhalb von zwei Jah ren aufge holt wer den konn te. So unrealistisch diese aufgabe wirtschaftlich erschien, so konsequent war sie politisch. nur mit dem öffentlichen nachweis wirtschaftlicher leistungsfähigkeit waren das System sowie die DDR und damit die Macht der SED langfristig zu sichern. Die hinter diesen Vor gaben stehen de Wachs tums euphorie hatte ihre Grundlagen aber in unzulässigen Extra po lationen der im 22 Selbmann: Referat in leipzig, 9.4.1959, in: SaPMO-Ba nY4113/13; arbeits material. Einschätzung der sich aus der Entwicklung bis 1961 ergebenden auswir kun gen, 18.1.1961, in: Bundesarchiv Berlin-lichterfelde (im Folgenden: Ba) DE1/49122. 23 Ulbricht an chruschtschow, 19.1.1961, in: SaPMO-Ba DY30 J IV 2/202/30. als Dokument veröffentlicht in: aNdRé steiNeR: Politische Vorstellungen und ökonomische Probleme im Vorfeld der Errich tung der Ber liner Mauer. Brie fe Walter Ulbrichts an nikita chruschtschow, in: haRtmut mehRiNgeR (hg.): Von der SBZ zur DDR. Studien zum herr schafts sy stem in der Sowjeti schen Besatzungszone und in der Deut schen Demokratischen Re pu blik, München 1995, S. 233-268. 24 leuschner an Ulbricht, 3.3.1959, in: SaPMO-Ba DY30 J IV 2/202/29; arbeitsma te rial. Ein schät zung der sich aus der Entwicklung bis 1961 ergebenden auswir kun gen, 18.1.61, in: Ba DE1/49122. 25 laut den Planungen der SPK sollte bis 1961 in der DDR der Ver brauch Westdeutschlands von 1956/57 er reicht werden. (Vgl.: Bemerkungen zum überarbeiteten Projekt, 1.7.58, in: SaPMO-Ba nY4062/99) Bei die sem Ver gleich wiesen die Statistiken der DDR bei aus ge wähl ten nahrungs mit teln und Kon sum gü tern zum Zeit punkt des Beschlus se s bereits einen höhe ren Pro-Kopf-Ver brauch als die Bundesrepub lik aus . Vgl. statistisches jahRBuch deR ddR 1962, Berlin (Ost) 1962, S. 573. 26 Gesetzblatt der DDR 1959, teil I, S. 705. 27 Übersicht über die Entwicklung des niveaus der arbeitsproduktivität, in: Ba DE1/51761.
162
andré Steiner
Zuge extensiver Ent wick lungen erreichten Zuwachs ra ten sowie in der festen Überzeugung von der Über legen heit des eige nen Systems. Diese bestätigte sich auch noch einmal in den anfang 1960 entwickelten Vor stel lungen ab 1965 gar die USa in Produktivität und lebens standard über ho len zu wol len. Dies wurde zwar rasch zu rück ge wie sen.28 aber solche Ideen tru gen ihren teil zu dem Entschluss bei, die Ent wick lung einer sozialistischen Gesellschaft weiter vor an zu treiben und in der land wirt schaft die Kol lek ti vie rung zum abschluss zu bringen. Das führte ebenso wie die Überforderung des eigenen Potentials durch die „ökonomische hauptaufgabe“ schließlich in die Krise 1960/61. In ihr stellte die Flucht in den Westen für die SED-Spit ze das größte Problem dar: Politisch offen barte sie die ab lehnung des Systems; wirt schaftlich ver stärkte sie kurzfristig die akute Kri sen situation, weil die feh lenden arbeitskräfte die Pro duk tions aus fälle in der Indu strie erhöhten. Dar über hinaus ver hinderte die mas sen hafte Flucht in die Bundesrepublik, dass gegenüber den Beschäf tig ten konsequent leistungs for de rungen beziehungsweise -anreize durchgeset zt werden konnten. Der mit der ab wanderung ver bun dene arbeits kräf te man gel war letzt lich so wohl Fol ge als auch Ursa che der Pro duk tions rück stände, der Defizite bei Vorleistun gen in der Industrie und im Warenangebot für die Be völ ke rung. Für die Spitzen von Partei und Wirtschaft stand jeder Plan unter dem Vor behalt, wie viele Men schen im Plan zeit raum die DDR verlassen würden. auch das machte die Planung unsicher. Mit tel- und lang fri stig entzog die Fluchtbewegung der DDR-Wirtschaft außerdem Wachstums potentia le in Form von humankapital. Dies musste die Ver antwortlichen noch mehr beunruhigen. alle wirt schaftlichen aus w e ge mussten in der gegebenen lage die Fluchtbewe gung weiter verstärken. Im Inter es se des eige nen Machterhalts suchte die SED-Spitze einen außer -öko no mi schen Weg, sie zu unter bin d en und damit die gesamte Planung wieder kal ku lier bar zu machen. Danach konnte sie ver su chen, die der ab wanderung nach Westen zugrundeliegen den wirt schaftlichen Pro bleme zu lösen. Des halb ent schloss sich die SEDSpitze in abstim mung mit der Sowjet union, im august 1961 die Berliner Mauer zu er rich ten und damit die Westflucht gewaltsam zu stop pen. Intern wurde dieser akt wirt schaft lich begründet, obwohl er nach außen hin politische Probleme und vor allem die von der SED-Spitze selbst mit ange heizte Ber lin-Kri se lösen sollte.29 28 ha Perspektivplanung: the sen für die Grundlinie der Entwick lung(…), 14.1.1960, Ba DE1/49121; nie der schrift über die wichtigsten Bemerkungen in der Beratung (…), 4.3.1960, in: Ba DE1/3054. 29 Siehe die „Begründung“ in: Ulbricht an chruschtschow, 4.8.1961: Information über die Ursachen der wirt schaft lichen Schwierigkeiten der DDR, in: SaPMO-Ba DY30 J IV 2/202/30. Veröffentlicht in: a. steiNeR, Vorstellungen (wie anm. 23), S. 254-268. Zur Wirtschaftskrise 1960/61 vgl. aNdRé steiNeR: Vom Überholen eingeholt. Zur Wirtschaftskrise 1960/61 in der DDR, in: BuRghaRd ciesLa / michaeL LemKe / thomas LiNdeNBeRgeR (hg.): Sterben für Berlin? Die Berliner Krisen 1948–1958, Berlin 1999,
Die DDR als ökonomische Konkurrenz
163
Im Schutz der Mauer versuchte man zunächst eher kurzfristig orientierte lösungen für die Krise zu finden. Zugleich war aber der SED-Spitze und den Wirtschaftsverantwortlichen be wusst, dass auf die se Weise legitimation und Stabilität der eigenen Macht nicht gesichert wer den konn ten, die einer dynamischen und kri sen freien Wirt schafts entwicklung mit entspre chen den Wohlfahrts ef fek ten für die allgemeinheit be durf ten. Dazu wurde inzwischen über eine Modifikation des wirtschaft lichen len kungs me cha nismus nachgedacht. Der Ge dan ke, eine solche Re form durch zu füh ren, reifte über längere Zeit, da man sich der Inkon sistenzen bei der Wirt schafts len kung und der Schwierigkeit, die Grenzen des extensiven Wachs tumspfades zu über springen, bereits seit Ende der fünf zi ger Jahre bewusst war. ausschlaggebend dafür, dass die Reform tat säch lich in angriff genommen wurde, war jedoch die von der Parteiführung als exi sten tiell wahr genommene Wirt schafts krise 1960/61. Die Moskauer Füh rung musste nach ihrer Weigerung, die DDR stärker zu ali men tieren, einem solchen Reformver such zustimmen, zumal mit ihm die Vorherrschaft der Partei oder die Eigentumsverhältnisse nicht angerührt wer den sollten.30 In der ge ge benen deutschland- und innenpolitischen Situation blieb aber das eigentliche Ziel der Reform, sich als kon kur renzfähige alternative zum westlichen System zu prä sen tieren. aller dings sah man es jetzt – im Gegensatz zur Ende der fünfziger Jahre ver kündeten „öko no mi schen haupt auf gabe“ – als unerlässlich an, die eigene Wirtschaftsordnung so umzugestalten, dass sie die erfor derlichen an triebs kräfte freisetzte. So stell te Ulbricht am 17. novem ber 1962 fest: „Wir können den hohen lebensstandard nur erreichen, wenn wir in der arbeits pro duk tivität den Westen über tref fen. Das ist die Frage von Wis sen schaft und technik sowie der mate riel len Inter es siert heit.“31 Dazu mussten seines Erachtens die Branchenleitungen – die Ver einigungen Volkseigener Be trie be (VVB) – ihrer Rolle als leitung „eines großen Konzerns, sogar eines Mam mut konzerns“ gerecht wer den .32 Die VVB als Konzer ne zu bezeichnen, deu tete an ge sichts des in der DDR üblichen Sprach gebrauchs auf erhebliche Veränderungen hin. Um praktikab le Vor schläge zu erhalten, verlang te Ulbricht, die arbeit von Kon zernen in West deutsch land zu untersuchen. Da mit offenbarte sich jener Wider spruch, der die gesamte Re form proS. 245-262. Zur Vorgeschichte des Mauerbaus liegt eine Fülle an literatur vor. Vgl. jüngst u. a.: KLaus-dietmaR heNKe (hg.): Die Mauer. Errichtung, Überwindung, Erinnerung, München 2011. 30 Vgl. im Detail aNdRé steiNeR: Die DDR-Wirtschaftsreform der sechziger Jahre. Konflikt zwischen Effizienz- und Machtkalkül, Berlin 1999, S. 44-60. 31 niederschrift über die ausführungen des Genossen Walter Ulbricht …, 18.11.1962, in: SaPMO-Ba DY30 J IV 2/202/50. 32 Stenographische niederschrift der 2. Plenartagung des Forschungsrates am 12.11.1962, in: Ba DE4/8867. Die Rede Ulbrichts wurde zum großen teil auch im „neuen Deutschland“ veröffentlicht.
164
andré Steiner
gram matik prägen soll te . auf der einen Seite wollte man infol ge ihrer evidenten lei stungs fä hig keit den Koordi na tionsmechanismus marktwirtschaftlicher Ordnungen imi tieren, ohne auf der anderen Seite deren ordnungs po litischen Rahmen zu übernehmen, zu dem das eige ne System vielmehr nach wie vor die alternative bleiben sollte. letztlich war mit der Wirtschaftsreform – laut deren offiziellen Programms – die Volkswirt schaft wis senschaftlich und technisch zu modernisieren und damit die Produktivität permanent zu stei gern, „um im Interesse der gesamten nation die Überlegenheit unserer sozialistischen Ordnung gegenüber dem kapitalistischen System in Westdeutschland auch auf öko nomischen Gebiet zu beweisen“.33 Dazu waren Innovationen und die mit ihnen verbundenen Struk tur ver än de rungen auf der Grundlage höherer Eigenverantwortung der VVB und Betriebe unter Zu hil fenahme ihrer wirt schaftlichen Inter es sen und der „schöpfe ri schen aktivitäten der Werktäti gen“ im Rahmen eines nur Eck daten vor ge ben den zentra len, perspektivisch orientierten Planes anzuregen und durchzu setzen. Die Planung als auch die leitungstätigkeit sowie das „in sich ge schlossene System ökonomischer hebel“ sollten dem nach eine organische Ver bindung ein gehen. Jedoch blieben trotz der von den Verantwortli chen hoch ge steck ten Ziele und Erwar tungen die vor gese henen Innovationsanreize schwach. Die nach geordneten Wirtschaftsein heiten sollten „lediglich“ angeregt werden, eigenständig und mit größerer Effektivität in eine Rich tung zu wirtschaften, die von einem zen tral gesetzten Rahmen bestimmt war. aus die ser Sicht erschien es folgerichtig, nur die im lenkungsmecha nis mus wurzelnden Innovations hemm nisse zu be sei tigen, aber keine starken anreize zu schaffen, denn die Richtung sollte der Plan festleg en. außerdem unterstellte man, dass die aufga ben des Perspektivplans „wis sen schaft lich“ ohne hin besser bestimmt werden konn ten, als es wirtschaft liche Regu lative ver mochten. Die „ökonomi schen hebel“ sowie die erhöhte Eigen ständigkeit und Verantwortung der Wirtschaftsein hei ten zielten daher mehr auf eine Öko nomisierung des Ressourceneinsatzes und insoweit auch auf eine größere wirt schaftliche Ratio na li tät, weniger auf die Effizienz ihrer Vertei lung und die Frei set zung autonomer dynamischer Impulse.34 nicht nur deshalb, sondern vor allem auch wegen der stufenweise Einführung der Reform, die für beträchtliche Reibungsverluste sorgte, blieben die Resultate der Reform ambivalent: Die wirtschaftliche lage verbesserte sich zwar gegen über der Kri se 1960/61 , was wiederum in erster linie eine Folge erhöhter Investitionen war. Zugleich zeigten sich aber neue Schwierig keiten. Die lage spiegelte sich auch i n einer Ende 1965 durchgeführ ten Meinungsumfra ge wider, nach der reichlich die hälfte der in den Be trie ben 33 hier und auch zum Folgenden: Richtlinie für das neue ökonomische System der Planung und leitung der Volkswirtschaft, Berlin (Ost) 1963, S. 7, 10, 15. 34 a. steiNeR, DDR-Wirtschaftsreform (wie anm. 30), S. 65-71.
Die DDR als ökonomische Konkurrenz
165
Befragten der auffassung war, dass die DDR in den drei zurückliegenden Jahren – also seit Reformbeginn – wirtschaftlich „große Er folge erzielt“ habe, ein knappes Vier tel billigten ihr „we niger große Erfolge“ zu und etwa 15 Prozent meinten, dass sie nur geringe beziehungsweise keine Erfolge zu verzeichnen hatte. Gleichzeitig schätzten aber knapp drei Viertel reali stisch, dass die wirtschaftliche Entwicklung nicht ausreiche, „um gegen über West deutschland aufzuholen“.35 Gleich zeitig stellten die Beschäf tig ten zu nehmend so ziale Forde rungen, wie die Einfüh rung der Fünf-tage-Woche, Erhöhung des Grund ur laubs und der löh ne und Renten, wo bei die eige ne Situation mit der in der Bun des re pu blik ver gli chen wurde.36 Sie verlangten damit, das Versprechen zu erfüllen, dass mit der Reform die Wirtschaft besser funk tionieren und sich ihre persönliche lebens lage verbessern werde. auch Ulbricht war das klar und er betonte im September 1965 in Moskau gegenüber Bresch new: Es müsse die Par tei füh rer der RGW-länder doch „mit Sor ge erfüllen“, wenn im We sten „die technische Revolution konsequent und mit höherem ökonomischen nutz ef fekt durchge führt wird, als in ihren ländern.“ nur mit Zusammenar beit und Spezialisierung sei die ser her aus forderung zu begegnen. nur so sei – im Übrigen – eine größere attraktivität des Sozia lis mus zu er rei chen, was in Deutschland besonders wichtig sei, denn erst wenn der lebensstandard in der DDR dem Westdeutschlands entspreche, wären sowohl die DDR-Bevöl ke rung wie auch „breite Schich ten der west deutschen Werktätigen“ von den Vorzügen der neuen Ordnung zu überzeugen.37 Um den dafür erforderlichen Strukturwandel zu beschleu nigen, modifizierte die SED-Spitze das Reformkon zept erneut. Das war wegen der unbefriedigenden Reformergebnisse bereits seit längerem bedacht worden, wurde aber erst 1967/68 praktisch wirksam.38 Es wurde nun ein zweistufiger Mecha nismus entwickelt, in dem zen tral mit direk ten Methoden die Pro duktion und Inve sti tio nen in jenen Branchen und Erzeugnisgruppen gesteuert wer den sollte, die mit tels pro gnosti scher ana ly sen als zukunftsträchtig bestimmt worden wa ren. Die sen Bereichen waren bei der lenkung der Volkswirtschaft vorrangig Res sour cen und Finanzmit tel zuzu weisen. Die anderen wirt schaftlichen abläufe hatten die Wirtschafts einheiten unter einan der auf der Basis des Planes innerhalb bestimmter 35 In sti tut für Meinungsforschung: Bericht über eine Umfrage zu einigen Problemen der technischen Re vo lu tion und der automatisierung, 26.1.1966, in: SaPMO-Ba DY30 IV a2/2021/87. 36 VWR: 2. Information der leitung und Probleme bei der ausarbeitung des Planvorschlags 1966, 14.8.1965, in: Ba DE4-S/18-8-65. 37 Ulbricht an Breschnew, 6.9.1965: Über einige grundlegende aspekte der lage und der auseinanderset zung in Deutschland, der Entwicklung und der Politik der DDR, Material für die Beratungen auf dem öko no mi schen Gebiet, in: SaPMO-Ba DY30 J IV 2/202/341. 38 Zum Prozess der ausarbeitung, den Details der Regelungen und den Konsequenzen vgl. a. steiNeR, DDR-Wirtschaftsreform (wie anm. 30), S. 136-144, 407-441.
166
andré Steiner
Rahmenvor gaben selbst zu regeln. Die ser Rah men war aus dem Perspektivplan abzuleiten, dem in erster linie die aus ge wählten „struk turbe stim men den aufga ben“ zugrunde lagen. Die Vorgaben für die Wirt schafts ein hei ten sollten aus mittelfristig kon stant zu haltenden wirtschaftlichen nor ma tiven beste hen, die die ab ga ben an den Staatshaus halt und damit faktisch die zu erwirtschaftende Min destrentabilität sowie die Bonuslei stun gen für die Beschäftigten regel ten. Sie bildeten wie derum die Grund lage für die Jahresplanung, die für die nicht-strukturbe stim menden Berei che verein facht wur de. auf der oberen Ebene sollten also Inno vations pro zes se und die mit ihnen ver bundenen Strukturveränderungen durch zen tra len Zugriff for ciert durch ge setzt werden. auf der unte ren Ebene erhiel ten die Wirtschaftseinheiten – so weit nicht von der „strukturbestim men den Pla nung“ erfasst – mehr Spiel raum, um so die Effizienz zu steigern. Das größte Problem eines solchen Mecha nis mus lag in der auswahl der zu för dernden Prozes se und in der Begrenzung ihres Umfangs. Die Möglichkeit, mit der auf nah me in diesen Kreis vor ran gig Ressourcen zuge teilt zu bekommen, rief bei den VVB und Betrie ben in der allge mei nen Mangelsituation und bei nur unzureichend durchge setz ter har ter Budget re strik tion ein starkes Inter es se hervor, ihren Vorhaben diese zen tra le „anerken nung“ zu ver schaf fen. Die auswahl der zu för dern den Pro zes se sollte zwar durch Progno se arbeit und die Einbeziehung von Experten stär ker ver sachlicht und besser fundiert wer den. aber dafür lagen keine kla ren wirt schaftlichen Kriterien vor, weil die Preise im Prin zip keine nachfrage- und ange bots ver hält nisse wider spie geln sollten. Somit waren nach wie vor kei ne wirt schaft lich endo genen Grundlagen für Strukturentschei dun gen vorhanden, so dass diese oft auf der Basis poli ti scher Erwägungen fielen oder indem man sich an internatio nalen Entwicklungen orien tierte. Dar über hinaus musste das Inter es se der Wirtschafts ein hei ten dazu füh ren, dass der Gesamtumfang der von ihnen als beson ders wich tig erach teten Projekte die volks wirt schaftlichen Möglichkeiten übertraf. Da aber die Zen trale selbst mög lichst hohes Wachstum und raschen Struktur wan del errei chen wollte, musste der be schrie bene Mechanismus durch das Zu sammen tref fen von Res sourcenhunger von „unten“ und Wachstumsfetischismus von „oben“ ten den ziell wiederum zur Überfor de rung des volks wirtschaftlichen Po ten tials füh ren. außerdem garan tier ten die un zurei chen den Entschei dungs grundlagen keine optimale allo ka tion der tat sächlich eingesetzten Ressourcen. nicht zuletzt kon kur rierten der struk tur be stimmen de und der nicht be son ders her vorge hobene Bereich der Volks wirtschaft um die knappen Ressourcen. Des halb waren ver stärkt zen trale Ein grif fe in den nicht-struk turbestimmenden Bereich notwendig, so dass sich die ursprüng lich zumindest par tiell auf Dezentralisierung und Eigen ver antwor tung der teilsy ste me zie lende Re form wirt schaftlich selbst blockierte. hin ter dieser Modifizierung der Reform, stand die Vorstellung, auf den entscheiden den Gebie ten der wissenschaftlich-tech ni schen Entwicklung das
Die DDR als ökonomische Konkurrenz
167
jeweils in der Welt führen de land schnell zu überholen und mit sol cher forcierten anstrengung eine sprung hafte Stei ge rung der Pro duktivität zu erreichen. Dabei wurde nach Diskussion verschiedener Varianten im april 1969 davon aus gegangen, dass die Bundesrepublik im Ent wicklungs tem po und niveau sowohl der Produktivität als auch des lebensstandards bis 1977/78 zu übertreffen sei. Die dafür als erforderlich angesehenen zehn Prozent Zuwachs der Produktivität pro Jahr stellten in den augen Ul brichts bereits „genügend hohe an for de rungen“ dar.39 In diesem Kontext wurde von ihm auch der oft zitierte Slogan „Überholen ohne einzuholen“ geprägt und immer wieder propagiert.40 allerdings gab es auch mehr oder weni ger ver deck te Kri tik an Ulbrichts Konzeption. alfred neumann, eines der konservativeren Politbüromitglieder, brachte in einem Schre i ben an Ul bricht vor: „Die se Ver glei che mit kapitalistischen Spit zenlei stungen rufen bei mir immer aver sionen hervor, die mit dem auftreten des Re vi sionisten Ota Sik zusammenhängen.“ Man solle sich solche Ver glei che „politisch und ideologisch sehr gut überlegen. (…) Sollen wir etwa die losung aufstellen: ‚Die DDR muß auf ökonomischem Ge biet besser als Westdeutschland werden?‘ Das geht doch nicht!“ Es komme darauf an, die konkreten Vor züge und Vor teile der sozialistischen DDR heraus zu stel len, die sich eben nicht in den Zuwachsraten nie der schlagen.41 Dabei dachte er wohl an erster Stelle an die Beseitigung der arbeitslo sig keit. Diese Einwände machen das tiefe Unbehagen der konservativ orien tierten Spit zen funk tio nä re deutlich. Sie sahen wohl durchaus richtig, dass man nicht einerseits den alternativen charakter des eigenen Systems behaupten und gleichzeitig bedin gungs los dem „über lebten“ System hinterherrennen konnte, ohne eige ne ansprüche aufzu geben, wobei sie sich sowohl durch den „Prager Früh ling“ als auch durch die im Westen zu die ser Zeit nicht unpo pu läre Konvergenztheorie bestä tigt fühlten.42 andererseits hatte Ul bricht erkannt, wenn der Sozialis mus in Deutschland über lebensfähig und mehr noch für die Menschen in Ost und West attraktiv sein sollte, musste die wirtschaftliche leistungsfähigkeit der DDR höher als die der Bundesrepublik sein, was nicht zuletzt anhand der Produktivität zu mes sen war. Da bei konnte er sich auch auf lenin beru fen, der die arbeitsproduktivität als „in letzter Instanz das aller wichtigste, das ausschlag ge bende für den Sieg der neuen Gesellschaftsord-
39 Stenographische niederschrift der Beratung zu Problemen der weiteren arbeit am Perspektivplan am 18.4.1969, in: SaPMO-Ba DY30 IV a2/2021/450. 40 Zur Geschichte dieser Formel siehe: a. Steiner, DDR-Wirtschaftsreform (wie anm. 30), S. 445. 41 neumann: Überlegungen zu einigen Fragen des Perspektivplanes, 17.4.1969, in: SaPMO-Ba nY4182/974. 42 Vgl. dazu aLexaNdeR NützeNadeL: Stunde der Ökonomen. Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949-1974, Göttingen 2005, S. 187-197.
168
andré Steiner
nung“ be zeichnet hatte.43 Beide Sichtweisen hat ten mit hin ihre Berechtigung. Zudem gab es damals auch im Westen Stimmen, die den Wett streit der Systeme noch nicht für ausgemacht hielten.44 Jedoch verstärkte die Forcierung des Wachstums durch die SED-Spitze noch die aus dem modifizierten Reformmechanismus resultierenden Probleme: Es machten sich 1969/70 große Un gleichgewichte in der volkswirtschaftlichen Entwicklung bemerkbar. Diese Defi zi te zogen nach sich, dass der Plan streckenwei se nicht er füllt werden konnte, was wiederum neue lücken in die geplan ten Verflechtungsbe zie hun gen riss. angesichts hoher Wachstumsvorgaben be schleu nig te sich die ser Kreis lauf. außerdem waren mit der forcierten Strukturpolitik bestimm te Industriebe rei che „planmä ßig“ unter propor tio nal mit Investitionen aus gestattet wor den, so dass sie in ihrer Ent wicklung zurück blie ben und damit das gesamte Wachstum gefährdeten. Dazu gehör ten insbe son de re die Vor lei stungs pro du zen ten sowie die Ener gie erzeuger. als dann noch die ungün sti gen Witterungsbedingungen 1969/70 zu Ernteaus fällen in der land wirt schaft, Pro duktionsrück ständen in der Industrie und Störungen im Ver kehrs sy stem führ ten, ver schlech terte sich die bereits angespannte wirt schaftliche lage wei ter. Die erneute Krise war für die Betriebe in den fehlenden Vorleistungen spürbar. Dadurch konn ten die Beschäftigten während der regulären arbeitszeit oft mangels Ma te rial nicht arbeiten und soll ten dann am Wochenende die Rückstände aufholen. Die kritische Situa tion machte sich auch in wachsenden angebotsdefiziten des Ein zel han dels be merk bar, die oft die kleinen, aber wich ti gen Dinge betrafen, etwa Zahnbürsten und toilettenpa pier. Die zentralen Instanzen ver such ten zuneh mend mit ope ra ti ven Ein grif fen ins Wirtschafts ge sche hen die lage zu sta bi li sieren. Mit diesem „Kri sen ma na ge ment“ wur den die Pro ble me aber nicht gelöst, son dern be stenfalls punktuell entschärft. Dar über hinaus setzte man da mit das wirt schaft li che Regel werk der Reform immer weiter außer Kraft, so dass sie lange vor ihrem Ende bereits schleichend aus ge höhlt wurde. Die Krise diente letztlich als Grund, um 1971 sowohl Ulbricht ab- als auch die Wirtschaftsreform formal außer Kraft zu setzen.45
43 Vgl. WLadimiR i. LeNiN: Die große Initiative, in: deRs., Werke, Bd. 29, Berlin (Ost) 1963, S. 416. 44 Siehe beispielsweise haNs aPeL: Wehen und Wunder der Zonenwirtschaft, Köln 1966; joachim NaWRocKi: Das geplante Wunder. leben und Wirtschaften im anderen Deutschland, hamburg 1967. Einordnend dazu jetzt: michaeL RucK: Vom „geplanten Wunder“ zur „Pleite der Praxis“. Wahrneh mungen der DDR-Planwirtschaft in der westdeutschen Wirtschaftspresse während des Jahrzehnts der Entspannung, in: detLeV BRuNNeR / maRio NiemaNN (hg.): Die DDR – eine deutsche Geschichte. Wir kung und Wahrnehmung, Paderborn 2011, S. 389-409. 45 Vgl. a. steiNeR, DDR-Wirtschaftsreform (wie anm. 30), S. 503-550.
Die DDR als ökonomische Konkurrenz
169
Verlust der Utopie und aufgabe des Offensivgedankens angesichts der neuerlichen Krise musste die SED im Interesse ihrer Macht die la ge kon so li die ren: Dazu verfolgte der neue SED-chef Erich honecker anstelle des bisherigen Mo der ni sierungskurses ab 1971 eine Beschwichtigungspolitik, mit der zweierlei erreicht werden sollte: Die ar bei ter waren mit bes serer Ver sorgung zu sta bi len Preisen und einer ausgeweiteten So zialpolitik zu befrieden. Diese lebensstan dard wirksame Po li tik sollte wiederum die leistungen der Be schäftigten steigern. Da aber die so zial politischen Regelungen nicht als ent spre chende anreize fungierten, blieben die er hoff ten Re sul ta te aus. Vielmehr wirkte die nicht mit eige ner leistung erreichte Besserung des ma teriellen le bens niveaus, einschließlich der scheinbar ga rantierten sozialen Sicherheit auf die lei stungsmotiva tion lang fristig nega tiv. Da Einkommenszuwachs und konsumwirksame leistungen Produktion und Pro duk tivität nicht den erhofften auftrieb gaben, fehlten mittelfristig Waren und leistungen zur Be friedigung der kaufkräftigen nachfrage. Zunächst konnte zwar die wirtschaftliche lage im ersten Drittel der siebziger Jahre stabilisiert werden, aber bereits dafür wa ren zusätzliche Importe erforderlich. Das ausgedehnte Konsum- und So zial politik-Programm, das nun aufgelegt wurde, beanspruchte jedoch viel umfangreichere Mit tel und Einfuhren. Da es den DDRProdukten auf den Weltmärkten aber an Konkurrenzfähigkeit mangelte, konnten die Ex por te nicht so gesteigert werden, dass ihre Erlöse diese Importe hätten fi nanzieren kön nen. Zudem wurde nach und nach wieder verstärkt westliche technologie ein ge führt, was alles zusam men nur mit einer zunehmenden Westver schuldung zu rea li sie ren war. Das wurde durch die Ent spannungspolitik zwischen West und Ost erleichtert. Insgesamt aber war weniger die bessere Ver sor gung der Be völ kerung, sondern vielmehr die nachlassende in ter na tio na le Konkurrenzfähigkeit des Inve sti tions gütersektors und die Rohstoffabhängigkeiten für die wachsende aus lands verschuldung in den siebziger Jahren ver ant wortlich. Der man geln den Konkurrenzfähigkeit der eigenen Produkte sollte abgeholfen werden, indem man in der zweiten hälfte der siebzi ger Jahre ein Programm zur forcierten Ent wicklung der Mikroelek tronik in Gang setzte, das aber trotz ei nes immensen aufwands nicht die erwarteten Erträge brachte. Zu sammen mit dem in der zweiten hälfte der siebziger Jahre ausgeweiteten Wohnungsbau pro gramm wurden damit aber erhebliche Mittel der Volkswirt schaft gebunden.46 Mit alldem sollte auch die attraktivität des DDR-Sozialismus im Vergleich zur Bundesrepublik erhöht werden. Zugleich jedoch war die Frage, inwieweit das lenkungs system eine entsprechende leistungsfähigkeit garantieren konnte. Mit dem Machtwechsel zu honecker war der lenkungsmechanismus wieder stärker an dem so wje tischen Modell und seinen zentra li sti schen Struk46 a. steiNeR, Plan (wie anm. 4), S. 189-209.
170
andré Steiner
tu ren und güterwirtschaftlich orientier ten Instrumenten ausgerichtet worden. Damit versuchte man auch das Regelvertrauen bei den akteuren in der Wirtschaft wiederherzustellen, das in der Reformzeit durch die ständig wechselnden, teilweise experimentellen Regeln verloren gegangen war. Zugleich wurde auf diese Weise auf die Unwägbar kei ten und Eigen wil ligkeiten im Verhalten der VVB und Betriebe reagiert, die sich während der letzten Phase des Ul bricht ʼschen Reformex pe ri ments ge zeigt hatten, indem die len kung wieder mehr zentralisiert wurde. Und da die Verantwort li chen vor allem den Gütermangel als P roblem sahen, sollte die lenkung auch wieder stärker auf einzelne Erzeugnisse und weniger auf monetäre Größen o rientiert werden. Mit dies er Rückkehr zu alten Mu stern und der ab kehr von den kom plizierten Reformregeln hoff te man einen Wachs tumspfad zu fin den, der Gleich ge wich tigkeit versprach, also die „Proportio na lität der Volkswirt schaft“ ga ran tierte, auf die Ulbricht im In teresse ihrer Dynamik verzichtet hatte. Damit kamen für die Betriebe selbst die geringen Effizienzpo ten tiale der Reform nicht mehr zum tragen: Es wurde die Zahl zentral vor ge ge be ner Kenn ziffern und Güterverteilungsbi lan zen erhöht. Einen besonderen Schwerpunkt der lenkung bildeten entsprechend dem „neuen“ Ziel der Wirtschaftspolitik die Konsumgüter. ab 1973 wurden etwa 90 Prozent des Erzeugnisangebots für die Bevölkerung nach einzelnen Positionen zentral w ert- und mengenmäßig ge plant und bilanziert. Die gü terwirtschaftliche len kung er reichte damit bei den Kon sum gü tern zu dieser Zeit den höchsten Durchdringungsgrad. Mit diesem Fokus ver loren die finanzwirt schaft lich en Instru mente und anreizmechanismen die ihnen in den sechziger Jahren zu gedachte Be deutung, wurden aber nicht vollkom men be seitigt. Das bedeutete, dass nicht mehr der Ge winn – wie in der Re form zeit – als die zentrale Kennziffer fungierte, mit de r die leistungen der Be trie be be wer tet werden sollten, sondern die Warenproduktion. Ihrem Wachstum blieb alles an dere untergeordnet und da mit galt im Prinzip wieder das al te Brut toprinzip: Je auf wendiger ein Betrieb produzierte, desto mehr konn te er ab rech nen. Die verbliebenen in direkten lenkungs in stru mente wurden k on sequent an den Plan und seine Erfüllung gebunden.47 Der cha rak ter des lenkungsme cha nis mus hat te sich damit grundlegend geändert. Dafür waren auf ausdrückli ches Geheiß der SED-Spitze sowjetische Erfahrungen heran gezogen worden. 48 47 SPK, Vorsitzender: Information über die bisherige Verwirklichung der (…) festgelegten Maßnahmen zur Ver bes serung der Planung, leitung und Bilanzierung, 17.2.1971, in: Ba Berlin DE1/51851; SPK: Vor schläge zur wei te ren Durchführung der Beschlüsse des VIII. Parteitages der SED über die Pla nung und Bilanzierung (…), [14.4.1972], in: Ba Berlin Dc20-I/3-953; a. steiNeR, DDR-Wirtschaftsreform (wie anm. 30), S. 546f. Vgl. auch iaN jeffRies / maNfRed meLzeR: the new Economic System of Planning and Management 1963-70 and Re cen tra li sation in the 1970s, in: dies. (hg.): the East German Eco nomy, london u. a. 1987, S. 35ff. 48 Protokoll der Politbürositzung am 29.6.71: anlage 3: aufgaben aus den Beschlüssen
Die DDR als ökonomische Konkurrenz
171
Die Ineffizienzen konnten so allerdings nicht beseitigt werden: Die Betriebe hor teten ar beits kräfte und materielle Res sourcen aller art und neigten noch stärker als frü her dazu, sich „Pol ster“ zuzulegen. Die Be triebs leitungen meinten: „Wir kaufen teilweise höhere Be stän de ein, um tauschmaterial zu haben.“49 Die Starrheit und Dichte der zen tra len lenkung nahm im Verlauf des Jahrzehnts weiter zu. Die Infle xi bi li täten des Planungssystems wurden noch da durch verstärkt, dass nach der Machtübernahme honeckers 1972 die verbliebenen kleinen und mittleren priva ten und halb staat li chen Betriebe sowie größere gewerbliche Genossenschafts betriebe enteignet wurden, womit bewegliche Wirtschaftseinheiten beseitigt wurden, die ein Stück anpassungselastizität in der Wirtschaft gewährleistet hatten. Zugleich konzentrierte man Ende der siebziger Jahre die Industriebetriebe durch gängig in Kom bi na ten. Diesen Konglomeraten sollten jeweils entweder alle Betriebe mit glei chen Er zeugnissen, Fertigungsprozessen beziehungsweise zu verarbeitenden Rohstoffen (horizontale Inte gra tion) oder die Betriebe gekoppelter Fertigungsstufen (ver ti kal I ntegration) angehören. Sie hatten je weils die gesamte Wertschöpfungskette von der Forschung und Entwicklung bis zum absatz zu sam menzufassen. Von diesen Kombinaten erhoffte man sich neben der schnel len Um set zung von Inno vationen, verbesserte Verflechtungsbeziehun gen, ef fi zien te Ma schi nennutzung und andere Kostenvorteile, kurz Synergieeffekte. Die Be triebe blieben zwar juristisch selbständig, waren aber ökonomisch den Kombinaten, insbesondere dessen Generaldirektor, untergeord net.50 Die Kom binatsbildung steigerte somit nicht nur die Konzentration, sondern auch die Zentralisa tion. Die Kon zen tra tion war per se nicht negativ. Sie ent sprach bis zu einem ge wis sen Grad objekti ven Er for der nissen der wirtschaftlichen Ent wick lung. Durch sie konnten wachsen de Skalener trä ge realisiert und die Produktion rationeller organisiert werden. an de rerseits wurden jedoch auch Kom bi nate allein nach tech no kratischen Gesichtspunkten und ohne aus reichende ökono mische Be rech nungen gegründet.51 Offensichtlich hatte das fordisti sche Pro duktionsmodell für die Verantwortlichen eine starke anziehungskraft, weil sich mit im mer größe ren und damit weniger Produktionseinheiten für sie die Komplexität des lenkungs prozes ses verringerte. Dass die Wirtschaft mit einer solchen Organisation aber auch an Fle xi bilität verlor und deshalb international in den siebziger Jahren bereits die ab kehr von die sem Pro duktionsmodell begonnen hatte, wurde offenbar nicht gesehen. Man schuf bewusst Monopole und schal tete al les aus, was zwischen den Be trie ben oder Kom bi na ten Wettbewerb oder des VIII. Partei ta ges der SED auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik, in: SaPMO-Ba DY30, J IV 2/2a/1522 u.1523. 49 Material über die Plandurchführung 1971, [Januar 1972], in: SaPMO-Ba DY30/2733. 50 Vgl. PhiLLiP j. BRysoN / maNfRed meLzeR: the Kombinat in GDR Economic Organisation, in: i. jeffRies / m. meLzeR: Eco nomy (wie anm. 47), S. 51-68. 51 Vgl. a. steiNeR, DDR-Wirtschaftsreform (wie anm. 30), S. 461-465.
172
andré Steiner
Kon kurrenz hätte nach sich ziehen kön nen. In der Konsequenz konnten sie die lieferbedingungen diktieren und In no va tionen blieben eben so wie die Qualität auf der Strecke. Zudem entwickel ten sich die Kombinate ten den ziell zu autar ken Wirtschaftseinheiten. In der Sicht der Kom bi nate war das ganz rational, so lange es ungewiss schien, ob sie auf andere Weise die benötigten Vorleistungen erhalten wür den. Volkswirtschaftlich jedoch reduzierte dieses Verhalten den Grad der arbeitsteilung und be deu tete einen erheblichen Effizienzverlust.52 So wie bei der Gestaltung der Wirtschaftsordnung mit dem Machtantritt honeckers jegliche Innovativität verlorenging, so gestalteten sich die Perspektivvorstellungen defensiver: Es wur de weniger für die fer ne Zu kunft versprochen, lei stun gen sollten mehr im hier und heute honoriert werden; die utopisch-vi sio nä ren aspekte des Sozia lis mus-Pro jek tes gingen verloren. Zugleich wurde darauf verzichtet, im Wettstreit mit dem Westen konkrete Vorgaben zu ma chen. Gleichwohl betonte man die Vorzüge des eigenen Systems: angesichts der Weltwirt schaftskrise 1973/75 hob honecker 1976 „die Vorzüge der krisenfreien, sozialistischen Plan wirtschaft“ hervor, die (1971 bis 1975) ein höheres Wachstum gewährleisteten als in den ent wickelten kapitalistischen Industrieländern.53 Ähnlich betonte er 1981, dass „angesichts der Krisen und Rückschläge in fast allen kapitalistischen ländern“ in der DDR „Stabilität und Kon tinuität“ durch die „Vorzüge des Sozialismus“ und die „Möglichkeiten der Planwirtschaft“ gewährleistet seien.54 Zur gleichen Zeit befand sich die DDR aber bereits in einer Verschul dungskrise.55 Die als existentiell bedrohlich wahrgenommene Situation anfang der achtziger Jahre und die da mit geänderten Rah menbedingungen stellten für die SED-Spitze, aber auch für die realwirtschaftliche Entwicklung der DDR einen wesentlichen Einschnitt dar. Um dem Wandel der weltwirtschaftlichen Gegebenheiten gerecht zu werden und die eigene Wirt schaft endlich zum intensiven Wachs tum zu zwin gen, sollte seit anfang der achtziger Jahre der len kungs mechanismus wiederum – wie es hieß – „vervollkommnet“ werden. Die bessere ausnutzung aller vorhandenen Produktionsfaktoren war nötiger denn je, denn es soll ten weiter der konsum- und sozialpo li tische Schwer punkt verwirklicht, das zukünftige Wachs tumspotential garantiert und die außen ver schul dung abgebaut werden. Die Fortführung des sozialpolitischen Programms war in der SED-Spitze anfang der achtziger Jahre angesichts der sich verschlechternden Rahmenbedin52 Vgl.: güNteR Kusch u. a.: Schlußbilanz – DDR. Fazit einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik, Berlin 1991, S. 46ff., 92-99. 53 Protokoll der Verhandlungen des IX. Parteitages der SED, 18.-22. Mai 1976, Band 1, Berlin (Ost) 1976, S. 45f. 54 Protokoll der Verhandlungen des X. Parteitages der SED, 11.-26. april 1981, Band 1, Berlin (Ost) 1981, S. 51. 55 Vgl. zu Ursachen und lösung a. steiNeR, Plan (wie anm. 4), S. 217-231.
Die DDR als ökonomische Konkurrenz
173
gun gen nicht unumstritten gewesen, aber für den Fall einer abkehr von dieser Politik rechnete man mit ähn lichen Reaktionen wie in Polen. Deshalb mussten die SED-Oberen – und die meisten taten es wohl auch – weiter auf die Potenzen der Planwirtschaft vertrauen. Die Intensivierung war zwar im mer wie der gefordert, aber lediglich punktuell beziehungsweise in ansätzen durchge setzt worden. Dazu soll te nun die zentrale Planung präzi ser werden und das Kosten-nutzen-Denken bei den Führungs kräften der Betriebe und Kombi nate gestärkt werden. Mit etwa 90 Plan kenn ziffern woll te man die Wirtschaftseinheiten von der Zentrale aus steuern, wobei vier – die nettoproduk tion, der nettogewinn, Er zeugnisse und leistungen für die Bevölke rung sowie der Export – von be son de rer Bedeutung sein sollten. Damit trennte man sich wieder von der Warenproduktion als zen tralem Erfolgs kri te rium. Man hatte erkannt, dass diese als Brut tokennziffer die Res sour cen ver schwen dung tendenziell för derte und damit dem Intensivierungsziel entgegenstand. Im Bestre ben, die Ressourcenverwen dung noch stärker zu lenken und zu kontrollieren, wurden nun etwa 76 Prozent der industriellen Inputs direkt zentral gesteuert. neben dieser aufwertung zen tra ler und direkter lenkungs instrumente sollten die Kombinate aber auch wieder durch finan zwirtschaftliche Mechanismen zu effizienterem Wirtschaften ge zwun gen werden. Dem nettogewinn kam – verschämt zwar – wieder eine größere Rolle bei der Be ur teilung der leistun gen zu. In der zweiten hälfte der acht zi ger Jahre sollten die indirekten, finanz wirtschaftlich orientierten lenkungsinstrumente aus gebaut, zugleich zusätzliche Kontrollme cha nismen eingeführt und die Zahl der Plankennziffern weiter erhöht werden. Beispiels weise wurde ab 1988 erneut mit der be reits während der Reform der sechziger Jahre praktizierten „Eigen erwirtschaf tung der Mit tel“ in 16 Kom bi naten experimentiert. Dabei sollten die Betriebe und Kombinate nicht nur die laufen den aus gaben, sondern auch ihre Investitionen konsequent durch eigene Ein nah men decken. Gleich wohl blieben Betriebe und Kombinate ein gezwängt in ein zentral fest ge legtes Kor sett, sodass sich ähnliche Probleme wie schon in den sechziger Jahren zeigten und letztlich die Metho den der di rek ten lenkung weiter dominier ten.56 Ins gesamt sollten be stimm te Elemen te und In stru mente, die in den sech ziger Jahren in der Wirt schaftsreform be reits diskutiert oder an ge wen det worden wa ren, nun eine gewisse Re nais sance er leben. aber der Gesamt cha rak ter die ses Me chanismus wurde nicht ent spre chend geändert. Des halb blieben es Versatzstücke, die keinen durchgreifenden Ef fekt auf die Ra tio nalität des Wirt schaf tens und die real wirtschaftliche Er geb nis se entfalten konnten. Der len kungsmechanismus blieb auch in den achtziger Jahren zen tra listisch und da mit inflexibel. Die Grenzen des Sy stems zeig ten sich nach wie vor dort und dann, wenn es 56 maNfRed meLzeR: the Perfecting of the Planning and Steering Me cha nism, in: I. Jeffries / M. Melzer: Eco nomy (wie anm. 479, S. 99-118; PhiLLiP j. BRysoN / maNfRed meLzeR: the End of the East German Econo my. From honecker to Reunifi cation, london 1991, S. 31-47; G. Kusch u. a., Schlußbilanz (wie anm. 52), S. 100-120.
174
andré Steiner
um das hervorbringen von In no va tio nen und die Förderung inten si ver Wachstums pro zes se ging. Die bereits mehrfach erörterten Grund probleme der anreize für Be trie be und Be schäf tigte sowie der Informationen für den lenkungsprozess waren infolge der sich ins gesamt verschlechternden wirtschaftlichen lage weniger denn je zu lösen. als der – im Vergleich zu den DDR-Oberen – jüngere neue KPdSU-chef Gorbatschow Mitte der achtziger Jahre antrat, die Sowjetunion mit Perestroika und Glasnost auch wirt schaft lich aus der Stagnation herauszuführen, wähnte sich die SED-Spitze davon nicht betroffen. Schließ lich prä sentierten sich die Wirtschaft und der lebensstandard in der DDR auf deutlich höherem niveau als in der UdSSR. tatsächlich wa ren die ungelö sten Probleme der DDR an de re als die sowjetischen. aber die vermeintliche „Überlegenheit“ verhinderte in der Führungs riege um honecker selbst angesichts der augenschein lichen wirt schaft li chen Schwie rig keiten jeden Gedanken an eine Wirtschaftsreform. So ver kün dete der SED-chef im Politbüro Ende 1987: „Wir brauchen keine neue theorie für die Ent wick lung der Planwirtschaft der DDR. Be währ tes muß man weiterführen, was uns hemmt, muß man ab stoßen. Klar ist, daß wir die Bevöl ke rung hinter uns haben. Wenn wir aber die vor lie gen den Sig nale nicht verstehen, wer den wir das Vertrauen nicht erhalten.“57
Offensichtlich aber verstand man die Signale nicht. Re for men kamen nicht in Frage, weil man mögliche politische Konsequen zen fürchtete. In einer Beratung bei honecker konstatierte das für handel und Versorgung zu stän dige Politbü ro mitglied un widersprochen: „niemand [in den anderen Ostblockländern] hat mit soge nannten Wirtschaftsreformen bessere lösungen erreicht. Schulden haben sie alle, aber gleich zeitig wur de die Vertrauensbasis und der Optimismus zerstört. Wir müssen die DDR sta bil halten.“58 al ler dings wären wohl die für eine Reform erforderlichen ökonomischen Spiel räu me nur mit Unterstützung der Bundesrepublik zu schaffen gewesen, da sich die Sowjetunion in der zwei ten hälfte der achtziger Jahre zunehmend aus ihren Verpflichtungen gegenüber ihren Ver bündeten löste. außerdem war nach den Erfahrungen der sechziger Jah re ein aufschwung wohl nur durch eine konsequen te re Flexibilisierung der Systemsteuerung, durch den weitge henden Rückzug des Staates und der Zentrale zu erreichen. Doch das lag jenseits dessen, was die SED-Spitze im Interesse ihres eigenen Macht erhalts zu lassen konnte, denn es hätte das Gesamt sy stem auf gehoben. So gesehen folgte die in den achtziger Jahren zu neh mende Iso lie rung der SED-Spitze im Ostblock als hort der Orthodoxie einer gewissen logik.
57 niederschrift über die Beratung des Politbüros zum Entwurf des Volkswirtschaftsplanes und des Staatshaushaltsplanes 1988 am 17.11.1987, in: SaPMO-Ba DY30/3755. 58 [Wenzel:] arbeitsniederschrift über eine Beratung beim Generalsekretär (…), 6.9.1988, in: SaPMO-Ba DY30/3755.
Die DDR als ökonomische Konkurrenz
175
Während die DDR-Bürger angesichts von Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion auf ein verjüngtes SED-Politbüro und von ihm angestoßene Reformen hofften, blieb es beim Status quo des etablierten Systems. Das handeln der Betriebe und Kombi na te und auch in den zen tra len Instanzen konzentrierte sich daher in den achtziger Jahren in erster linie auf die Be wältigung der wechselnden binnen- und außen wirt schaft lich verursachten klei nen und großen Krisen. Je größer die Schwierigkeiten desto mehr verstärkte die Zentrale ihre Kontrolle. Das aber lud die Führungskräfte in den Betrie ben und auf den mittleren Ebenen noch mehr als früher da zu ein, ihr Zahlenwerk zu ma nipulieren, was wieder um die Effizienz der Kontrolle verringerte. Seit den siebziger Jahren kam es bereits zunehmend auf Impro vi sation an und für das Füh rungs per so nal war es eine „Pha se des ‚Durchwurstelns‘ und vielfachen Impro vi sierens, aber auch Re sig nierens“.59 Wirtschaftlich litt die DDR aber an einer zunehmenden auszehrung. Die Konzentration der vorhandenen Ressourcen auf Schwer punk te, wie das Mikroelektronikprogramm, verstärkten das, da dadurch großen teilen der Wirtschaft die Erweiterungs-, ja sogar die Ersatzmittel entzogen wurden. auch die Schäden an der Umwelt nahmen zu. Die lebenslage der Bevölke rung verschlechterte sich durch die immer größer wer denden lücken in der Versorgung. Zwar stieg die aus stattung der haus hal te mit technischen Konsumgütern, sie blieb aber im Ver gleich mit den – aus dem Westfernsehen, den Intershops oder von Reisen in die Bundesre publik bekannten – west li chen an geboten qua litativ und quan titativ entscheidend zurück. Viele moderne Konsum gü ter waren zudem überhaupt nicht zu erhalten. neue und zunehmende ansprüche der nach wach sen den Ge ne rationen konnten nicht mehr befriedigt werden.60 Die Pro duk tivität der DDR lag an ihrem Ende etwa zwei Drittel hinter der der Bun des republik zurück.61 Die Vergröße rung des Rück standes aber seit anfang der fünfziger Jahre, wo er noch ein Drittel betragen hatte, war in er ster linie dem Wirtschaftssystem zuzuschreiben. Die Start bedingungen konnten dafür nur noch sehr vermittelt verantwortlich gemacht werden. Das eine Drittel, um die sich die lücke er wei terte, gibt einen Eindruck von den dem System geschulde ten Wachstumsverlusten. Insofern war ohne durchgreifende 59 PeteR hüBNeR: Industrielle Manager in der SBZ/DDR. Sozial- und mentalitätsgeschichtliche aspekte, in: Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), S. 55–80, hier 74. 60 a. steiNeR, Plan (wie anm. 4), S. 235-251. 61 Eine Zusammenfassung des entsprechenden älteren Forschungsstandes in: aLBRecht RitschL: aufstieg und niedergang der Wirtschaft der DDR: Ein Zahlenbild 1945-1989, in: Jahrbuch für Wirtschafts geschichte 1995/2, S. 11-46, hier S. 16. neuere Versuche, die volkswirtschaftliche Gesamtleistung der DDR zu schätzen, sind problematisch. Vgl. geRhaRd hesKe: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung DDR 1950–1989. Daten, Methoden, Vergleiche, Köln 2009; jaaP sLeifeR: Planning ahead and Falling Behind. the East German Economy in comparison with West Germany 1936-2002, Berlin 2006.
176
andré Steiner
Ver än de rung der wirtschaftlichen Sy stem be dingungen der öko nomische Zusam menbruch ab zusehen. Ein sol cher Wandel aber hätte sich wohl nicht auf eine lockerung der bestehenden Rigiditäten des Sy stem beschränken dürfen, wie beispielsweise eine etwas pluralere politische herrschaft und we ni ger zentrali stische Wirtschaftslenkung bei größerer Vielfalt der Eigentumsformen. Da mit war die Plan wirtschaft nicht nachhaltig ef fi zienter zu machen und genau das war jedoch un ter den Bedin gungen der unausweichlichen Konkurrenz mit marktwirt schaftlich verfassten Syste men not wendig. Weitergehende Schritte mussten dann aber über die Grenzen der Planwirtschaft hin ausweisen. Damit aber wäre die Exi stenzberechtigung der DDR als eigener Staat neben der Bun desrepu blik aufgeho ben worden. Im Sommer, herbst 1989 war jedoch die ohnehin stets fragwürdige po li ti sche legitimität des Sy stems auch durch die mit den händen zu greifende wirtschaftliche Schwäche verbraucht. Die Un fähigkeit, den wachsenden Konsumansprüchen der Be völkerung quantitativ und qualitativ zu ge nügen, und eine Kumulation politischer Fehlentscheidungen beschleunigte den niedergang und trug mit zum politischen Um bruch des herbstes 1989 bei, der schließlich zum Fall der Berliner Mauer im november 1989 führte und damit die Exi stenz der DDR als einer (relativ) geschlossenen Volkswirtschaft beendete.
III. Bilanz und Ausblick
hat DIE DEUtSchE EInhEIt DIE SOZIalE MaRKtWIRtSchaFt VERÄnDERt? EInE ZWISchEnBIlanZ 1990–2010 Karl-Heinz Paqué Die Berliner Mauer fiel am 9. november 1989. Knapp ein Jahr später wurde Deutschland wiedervereinigt. Beides war ökonomisch ein Sieg der westdeutschen Ordnung – „Soziale Marktwirtschaft“ genannt – über die sozialistische Planwirtschaft. Es folgte über zwei Jahrzehnte lang das, was die Politik „aufbau Ost“ nennt. Dieser ist bis heute nicht abgeschlossen, aber er hat längst die ostdeutsche Wirtschaft radikal verändert und in die neue gesamtdeutsche Wirtschaft eingegliedert. Der Prozess der anpassung erhielt den namen „transformation“: Die sozialistische Planwirtschaft verschwand, die Soziale Marktwirtschaft kam. Diese anpassung war radikal und spektakulär. historiker werden vielleicht eines tages feststellen, dass es eine der schnellsten und dramatischsten Umwälzungen war, die jemals in einem Industrieland stattfanden. Ob sie auch erfolgreich war, darüber wird bis heute intensiv diskutiert – offen, laut, kontrovers. Die „transformation“ der ostdeutschen Wirtschaft und ihre Folgen sind das thema dieses Beitrags. Die zentralen Botschaften lauten: • Die transformation war erfolgreich. Sie war es jedenfalls dann, wenn man sie an dem politisch, wirtschaftlich und sozial Möglichen misst – und nicht an einer utopischen traumvorstellung, wie sie auch aus wissenschaftlichen Modellwelten entstehen kann. • Die transformation hat die Soziale Marktwirtschaft in Deutschland stark verändert. Sie hat einen Problemdruck massiv verschärft, der ohnehin durch die Globalisierung bestand. Wirtschaft und Politik haben darauf reagiert, wenn auch mit Verzögerungen. Der Beitrag besteht aus drei teilen. Im ersten teil präsentiere und bewerte ich die zentralen wirtschaftspolitischen Weichenstellungen der Deutschen Einheit. Mein Ergebnis wird sein: Sie waren richtig. Es gab keine realistische alternative, weil die Mobilität der Menschen in unmittelbarer nähe zum westlichen Wohlstand jedes zeitliche und sachliche Strecken der transformation unmöglich machte. Sodann fasse ich zusammen, wo wir heute stehen – nach gut zwanzig Jahren aufbau Ost. Mein Ergebnis wird sein: Wir haben viel erreicht, aber manches auch nicht. Vor allem: keine West-Ost-angleichung. Die ostdeutsche Industrie ist noch immer zu weiten teilen eine verlängerte Werkbank, allerdings eine mit hoher Wettbewerbsfähigkeit.
180
Karl-heinz Paqué
Im zweiten teil des Beitrags untersuche ich, in welchen zentralen Punkten sich die Soziale Marktwirtschaft im Zuge der letzten beiden Dekaden für Deutschland insgesamt verändert hat. Mein Ergebnis wird sein: Sie hat sich tatsächlich verändert, vor allem hat sie an Flexibilität gewonnen. Vereinfacht formuliert: Die Soziale Marktwirtschaft hat sich ein Stück weit dem angloamerikanischen Wirtschaftsmodell angenähert, ohne allerdings ihre Identität aufzugeben. Und dies geschah vor allem wegen des inneren Drucks der Problemlage im wiedervereinigten Deutschland, bei gleichzeitigem äußeren Druck der Globalisierung. Kernpunkte der Veränderung sind dabei die massive lockerung des Flächentarifvertrags und erste ansätze zur Reform des Sozialstaats. Diese Entwicklung hat die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft auf Dauer verbessert. Das „Modell Deutschland“ wurde dadurch revitalisiert, eine für sich genommen überaus positive Entwicklung. Im dritten, dem spekulativen teil des Beitrags prüfe ich, welche Rückwirkungen diese Entwicklung auf Europa haben könnte. Diese Rückwirkungen sind überaus zweischneidig, wie schon die derzeitige Schuldenkrise eindrucksvoll belegt. Vieles deutet darauf hin, dass dahinter eine grundsätzliche Veränderung steht, und zwar das Ende einer wirtschaftlichen Konvergenz, die über Jahrzehnte andauerte und das politische Klima maßgeblich positiv beeinflusste. I. Wiedervereinigung und aufbau Ost1 1. Der Weg Der Fall der Berliner Mauer war nicht nur ein großartiger triumph der Freiheit. Er war auch ein lautes Startsignal der Mobilität. ab diesem tag konnte jeder ostdeutsche arbeitnehmer als deutscher Staatsbürger in den nahegelegenen Westen abwandern. Die Verlockung war sehr groß, dies auch zu tun, denn es gab kaum natürliche hindernisse: gleiche Sprache, gleiche Kultur, gleiche industrielle tradition. aber im Westen gab es einen hochmodernen Kapitalstock, eine im Weltmarkt bewährte Produktpalette, recht sichere arbeitsplätze und vor allem hohe löhne, die im globalen Vergleich mit an der Spitze lagen. Der kapitalistische Westen war attraktiv für Millionen Ostdeutsche, vor allem für die Fachkräfte und leistungsträger unter ihnen. Genau dies schränkte das politisch Mögliche nach dem Mauerfall stark ein. theoretisch war es natürlich vorstellbar, eine Massenwanderung zuzulassen. Dies hätte bedeutet: „Erweiterung West“ statt „aufbau Ost“. Es hätte 1
Wesentliche aussagen des folgenden ersten teils finden sich in ausführlicherer Form und mit detaillierten angaben zur literatur in KaRL-heiNz Paqué: Die Bilanz. Eine wirtschaftliche analyse der Deutschen Einheit, München 2009.
hat die Deutsche Einheit die Soziale Marktwirtschaft verändert?
181
vielleicht sogar recht gut funktioniert, so wie die Integration der Vertriebenen in Westdeutschland in den 1950er Jahren, die ja ein Wirtschaftswunder befeuerte. Es wäre im Westen zu einem Investitions- und Bauboom gekommen – bei vorübergehendem Druck auf die Reallöhne, aber mit schneller Erweiterung der bereits vorhandenen leistungsfähigen Industrieanlagen. all dies war ökonomisch denkbar. Politisch lag es aber jenseits aller Vorstellungskraft: ein „Morgenthauplan Ost“ mit den ehemals stolzen mitteldeutschen Industrieregionen als Rentnerparadies, grünem Biotop und landwirtschaftlicher nutzfläche – das wäre eine historische und soziale Bankrotterklärung der nation gewesen. Es gab deshalb für die deutsche Politik ein ceterum censeo (frei nach cato dem Älteren): „Und im Übrigen muss eine massive abwanderung von Ost nach West verhindert werden!“ Damit hätte eigentlich jedem klar sein müssen: Die Deutsche Einheit würde extrem schwierig und sehr teuer. Denn jede wichtige politische Entscheidung hatte fortan drei Grundbedingungen zu erfüllen: Sie musste schnell sein; sie musste Vertrauen schaffen; und sie musste löhne in aussicht stellen, die nicht allzu weit unter dem westdeutschen niveau liegen. nur so lassen sich die drei großen wirtschaftspolitischen Weichenstellungen verstehen, die das Jahr 1990 mit sich brachte: die Wirtschafts- und Währungsunion, die Einrichtung der treuhandanstalt und der Beginn einer massiven Wirtschaftsförderung. Mitte 1990 wurde im Osten die D-Mark eingeführt. Von nun an gab es eine überaus stabile Währung. Dies war ein wichtiger Schritt der Vertrauensbildung, was inzwischen weithin anerkannt ist. Kritisiert wird die Währungsunion allerdings bis heute dafür, dass sie angeblich durch den Umstellungskurs von Mark (Ost) zu D-Mark von eins zu eins zu einer drastischen Erhöhung der lohnkosten im Osten führte – und damit zu einem ruckartigen Verlust der Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Industrie. tatsächlich betrug das lohnniveau des Ostens nach der Umstellung etwa ein Drittel des Westens. Ohne Zweifel hätte ein Umrechungskurs von, sagen wir, zwei Mark (Ost) für eine D-Mark rein arithmetisch die arbeit im Osten verbilligt, auf ein Sechstel des Westniveaus. Die Frage ist allerdings: Für wie lange? In Magdeburg, Erfurt und chemnitz ein lohn von einem Sechstel des niveaus von hannover, Kassel und nürnberg? Das ist, wenn arbeitnehmer mobil sind, bestenfalls träumerei. Selbst das Drittel des Westniveaus erwies sich ja schnell als unhaltbar. nur mit staatlichen lohnkontrollen und massiven Mobilitätsbarrieren wäre ein anstieg der löhne und ein anschwellen der abwanderung zu verhindern gewesen. Dies hätte bedeutet: eine neue Mauer, und das kam nicht in Frage. Insofern ist die Kritik am Umstellungskurs der Währungsunion auch im Rückblick realitätsfern. Ähnliches gilt für die Politik der zügigen Privatisierung. Die treuhandanstalt als Wirtschaftsholding des Ostens wurde nach der Wiedervereinigung mit einem Mandat zum möglichst schnellen Verkauf der staatlichen Betriebe
182
Karl-heinz Paqué
und Vermögen ausgestattet. Sie arbeitete dann auch in Rekordgeschwindigkeit. Bei ihrer auflösung Ende 1994 war der Großteil der 14.000 Unternehmen beziehungsweise Unternehmensteile privatisiert. Es war ein gigantischer Kraftakt – und nicht ohne Erfolg. Es gelang der treuhand, einen zukunftsfähigen, industriellen Kern zu schaffen. Die Investitions- und Beschäftigungszusagen wurden im Wesentlichen eingehalten, zum teil sogar übererfüllt. Die Geschäftsmodelle der Erwerber – ob auswärtige Firmen oder frühere Manager – erwiesen sich in der großen Mehrzahl der Fälle als tragfähig. Ein beträchtlicher teil der ostdeutschen Industriebetriebe, die heute rentabel arbeiten, stammt aus ehemaligen Unternehmen der treuhandanstalt. hinzu kommt eine leistung, die heute oft übersehen wird: Es gab keine massenhafte Dauersubventionierung von maroden Industriestätten. Genau vor diesem horrorszenario hatten viele Ökonomen zu Recht gewarnt. auf der negativseite der treuhandbilanz standen schließlich ein Defizit von über 200 Milliarden D-Mark zu lasten des Steuerzahlers und der abbau von etwa 2,5 Millionen industriellen arbeitsplätzen. hinzu kamen kriminelle Machenschaften und eine schwere Diskreditierung in teilen der ostdeutschen Bevölkerung. Emotional war dies verständlich, denn es lag nahe, dem wirtschaftlichen aufräumkommando die Schuld für verlorene arbeitsplätze anzulasten, zumal die Praktiken der treuhandanstalt vor Ort nicht immer den nötigen Respekt vor der lebensleistung der Menschen im Sozialismus erkennen ließen. Volkswirtschaftlich sehen die Dinge allerdings anders aus. Die treuhandanstalt übernahm einen industriellen Kapitalstock, der sich fast durchweg als marode, verschlissen und veraltet herausstellte. Viel schlimmer noch war die tatsache, dass nur wenige Industrieunternehmen Markenprodukte vorweisen konnten, die bei radikaler Modernisierung des Kapitalbestandes auf dem nationalen und globalen Markt noch eine absatzchance hatten, und zwar zu einem Preis, der die Deckung der Kosten und angemessenen Gewinn erlaubte. Wo es solche Produkte doch gab, lief der Prozess recht reibungslos. So konnten zum Beispiel in der Ernährungswirtschaft Brauereien mit berühmten Marken aus der Vorkriegszeit („Radeberger Pils“, „Köstritzer Schwarzbier“) zügig verkauft werden, und die Biere tauchten schnell und erfolgreich in modernisiertem Gewand auf dem gesamtdeutschen Markt wieder auf. In den Investitionsgüter- und Grundstoffindustrien (also von Fahrzeug- und Maschinenbau über die Feinmechanik und Elektrotechnik bis hin zur chemie) war dies sehr viel schwieriger. hier zeigte sich der Flurschaden des Sozialismus in seiner ganzen tragweite: In den vier Jahrzehnten der abschottung vom Weltmarkt hatten längst westliche Konkurrenten alle Marktnischen der technischen Spezialisierung besetzt. Selbst die besten Ingenieure waren nur selten in der lage, aus dem Bestand der Produkte in absehbarer Zeit neues und Innovatives zu entwickeln.
hat die Deutsche Einheit die Soziale Marktwirtschaft verändert?
183
tatsächlich liegt es im Rückblick nahe, das ausmaß von treuhanddefizit und Personalabbau als jenen Preis des Sozialismus zu interpretieren, den die Wirtschaft Ostdeutschlands entrichten musste, um in der laufenden Globalisierung überhaupt noch einmal am Weltmarkt Fuß zu fassen. Weil die ostdeutschen arbeitnehmer stets die alternative hatten, im Westen zu arbeiten, war es nicht möglich, in gelassener Ruhe jenen teil der Industrie zu erhalten, dessen Produktpalette am Weltmarkt nur einen sehr kleinen Bruchteil der westdeutschen Wertschöpfung pro arbeitsplatz erwirtschaftete. Dieser teil der Industrie musste – anders als in Mittel- und Osteuropa – unter dem Druck der Verhältnisse verschwinden. Es gab einfach nicht die Option des evolutionären Wandels, mit Industrielöhnen wie in tschechien, der Slowakei, Ungarn und Polen, die damals bei unter 20 Prozent des westdeutschen niveaus lagen und selbst heute noch 30 Prozent nicht überschreiten. Stattdessen musste ein revolutionärer Umbruch stattfinden. Und die treuhandanstalt war der agent dieser Revolution. Parallel zur treuhandaktivität lief die Wirtschaftsförderung an, und zwar massiv: ausbau und Renovierung der Infrastruktur sowie Förderung von neuansiedlungen und Erweiterungsinvestitionen der Industrie. Die Förderung wirkte. Es gab zunächst einen Boom der Bauwirtschaft, der zügig zur Erneuerung des Baubestands führte, dabei allerdings auch längerfristig zu hohen leerständen, weshalb die Förderung zu Recht immer stärker auf das verarbeitende Gewerbe konzentriert wurde. Ökonomen übten wiederholt Kritik an Einzelheiten der Förderung. Vor allem die starke Fixierung auf Investitionen wurde bemängelt, weil sie zu einem überhöhten Kapitaleinsatz pro arbeitsplatz verleitete. Ob sie tatsächlich zu Fehlentwicklungen führte, ist bis heute strittig; die empirische Evidenz bleibt unklar. andererseits gab es gewichtige praktische argumente für die Beschränkung auf die Investitionsförderung, denn nur sie erlaubte eine scharfe trennung zwischen einmaliger Förderung und der anschließend folgenden Produktion, die unsubventioniert blieb. Dies half, den politischen Druck in Richtung Dauersubventionen (der horrorvision) in Grenzen zu halten. Dem Bauboom folgte ein kräftiges Wachstum der industriellen Wertschöpfung, das bis 2008 anhielt und seit einigen Jahren sogar wieder die Beschäftigung ein Stück weit nach oben zog. 2. Das Erreichte Was hat der aufbau Ost gebracht? Zunächst ganz klar: eine Re-Industrialisierung des Ostens. Im Jahr 1992 wurde noch gerade mal 3,5 Prozent der gesamtdeutschen Industrieproduktion im Osten erstellt, und dies weitgehend von hoch subventionierten treuhandbetrieben. Im Jahr 2008 lag der anteil Ostdeutschlands an der gesamtdeutschen Industrieproduktion wieder bei fast
184
Karl-heinz Paqué
10 Prozent.2 Während die Bauwirtschaft seit Mitte der 1990er Jahre kontinuierlich schrumpfte, holte das verarbeitende Gewerbe auf. auch in der wirtschaftlichen leistungskraft gab es deutliche Fortschritte. Ein ostdeutscher Industriebeschäftigter erwirtschaftet heute pro Jahr fast 80 Prozent der Wertschöpfung seines westdeutschen Kollegen; 1991 waren es weniger als ein Viertel, um die Jahrtausendwende etwa Zweidrittel. Von einer Stagnation des aufholprozesses, die oft behauptet wird, kann also keine Rede sein, zumindest nicht für die Industrie. Gesamtwirtschaftlich dagegen verlief der Zuwachs der Produktivität in jüngerer Zeit schleppend, nach anfänglich rasantem tempo. Dies liegt aber vor allem an der Schrumpfung der Bauwirtschaft, der Stagnation der Dienstleistungsgewerbe und dem Rückgang staatlicher aktivität. Dabei handelt es sich um notwendige anpassungen: nur durch einen Strukturwandel weg von der binnenmarktorientierten Produktion von Bauleistungen und Diensten hin zum exportfähigen verarbeitenden Gewerbe kann der Osten aus seiner transferabhängigkeit herauswachsen. Der Motor des Wachstums muss die weltmarktorientierte Industrie sein. Die Entwicklung der letzten Jahre geht deshalb volkswirtschaftlich in die absolut richtige Richtung. Die Folgen dieser Entwicklungen zeigen sich seit einigen Jahren auch sehr deutlich in dem, was man die gesamtwirtliche „leistungsbilanz“ Ostdeutschlands nennen könnte, also die Differenz zwischen dem Wert der Produktion und des Verbrauchs. Diese „leistungsbilanz“ wies in den 1990er Jahren riesige Defizite auf, und zwar jährlich in der Größenordung von 100 Milliarden Euro. Im Jahr 2006 betrug das Defizit noch 31 Milliarden Euro, seither ist es noch weiter geschrumpft. Dieser nachhaltige Fortschritt erklärt sich in erster linie aus der kräftigen Zunahme der industriellen Produktion, aber auch aus der Konsolidierung der öffentlichen (und privaten) ausgaben in den ostdeutschen ländern. Was an Defizit derzeit noch übrig bleibt, resultiert aus den West-Ost-transfers innerhalb des Renten- und Sozialsystems, die auf Rechtsansprüchen beruhen. Bei allen Fortschritten der Industrie verbleibt derzeit noch ein zählebiges innerdeutsches Produktivitätsgefälle. Im Jahr 2008 betrug die Bruttowertschöpfung pro Erwerbstätigen 78,3 Prozent des Westens; pro arbeitsstunde waren es 71,0 Prozent, da die arbeitszeit in der ostdeutschen Industrie rund 10 Prozent höher liegt als im Westen. Wie lässt sich dieser Rückstand erklären? alle Indizien sprechen dafür, dass der hauptgrund in der art der Produkte liegt, die im Osten hergestellt werden. Diese weisen offenbar charakteristika 2
Wir wählen hier und im Folgenden, soweit möglich, stets das Jahr 2008 für eine Zwischenbilanz, da dieses das letzte Jahr ist vor der weltweiten Finanz- und Konjunkturkrise, die auch die innerdeutschen Strukturdaten vorübergehend verzerrt, und zwar zu Gunsten des Ostens, weil die großen westlichen Industriezentren besonders hart getroffen wurden. Diese sind aber schon dabei, sich besonders dynamisch von der Krise zu erholen.
hat die Deutsche Einheit die Soziale Marktwirtschaft verändert?
185
auf, die im Durchschnitt eine niedrigere Wertschöpfung pro arbeitseinsatz erzielen als ihre westlichen Gegenstücke. So bleibt die industrielle Forschung und Entwicklung (F&E) immer noch sehr stark auf den Westen Deutschlands konzentriert. Im Jahr 2006 lag der anteil der Erwerbstätigen, die in F&E tätig sind, in Ostdeutschland mit 0,43 Prozent nur etwa bei der hälfte des westdeutschen niveaus von 0,88 Prozent. Diese anteile haben sich seit Mitte der 1990er Jahre kaum verändert. Die Re-Industrialisierung des Ostens war also bisher nicht mit einer stärkeren Forschungsorientierung verbunden. auch die Exportausrichtung ist in Ostdeutschland noch immer schwächer als im Westen, wenngleich sich der abstand in den letzten Jahren deutlich verringert hat. Im Jahr 2008 lag die Exportquote im Westen bei fast 46 Prozent, im Osten bei etwa 33 Prozent, nach nur 12 Prozent noch Mitte der 1990er Jahre. Schließlich arbeitet die ostdeutsche Industrie im Durchschnitt in außerordentlich kleinen betrieblichen Einheiten. auch dies ist derzeit noch ein gravierender struktureller nachteil. all dies führt zu einer einfachen Schlussfolgerung: Die ostdeutsche Industrie ist noch immer zum Großteil eine verlängerte Werkbank des Westens. Die Direktinvestitionen westlicher Firmen haben viel gebracht an Modernität und Effizienz, aber wenig an Brutstätten des Wissens und industrieller Innovationskraft. Obendrein ist die ostdeutsche Industrie noch nicht groß genug, um den Produktivitäts- und Einkommensabstand zum Westen auch in den Bereichen lokaler Dienstleistungen deutlich zu verringern. Kurzum: Sie hat Fortschritte gemacht, aber der Weg ist noch lange nicht zu Ende. Ein teilerfolg – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Dabei bedeutet die strukturelle Schwäche der ostdeutschen Industrie keineswegs einen Mangel an Wettbewerbsfähigkeit. allerdings liegt dies vor allem an einem lohnniveau, das seit über zehn Jahren bei 67–68 Prozent des Westniveaus verharrt. Die ostdeutschen Industrielöhne sind also fast exakt dem westdeutschen trend gefolgt – und nicht dem sehr viel steileren aufwärtstrend der arbeitsproduktivität im Osten. Entsprechend sind die lohnstückkosten, definiert als das Verhältnis von arbeitskosten zu arbeitsproduktivität, relativ zum Westen kontinuierlich gesunken. Im Jahr 2008 lagen sie im verarbeitenden Gewerbe bei 86 Prozent des Westniveaus. Industriell ist also der Osten – was die lohnstückkosten betrifft – ein überaus wettbewerbsfähiger Standort geworden, trotz des fortdauernden Rückstands der Produktivität. Der hauptgrund für diese Entwicklung liegt in der Erosion des Flächentarifvertrags. Wir werden in abschnitt II.2. dieses Beitrags ausführlich darauf zurückkommen. Was ist der aufbau Ost wirtschaftlich wert? Zweifellos hat er geholfen, das ausbluten des Ostens durch abwanderung drastisch einzudämmen, wenngleich auch heute noch pro Jahr rund 50.000 Menschen mehr die Region verlassen als zuwandern. ansonsten hilft ein Seitenblick zu den mitteleuropäischen nachbarländern, um die leistung des aufbaus Ost zu ermessen. Vor
186
Karl-heinz Paqué
allem nach tschechien, einem land, das als hochentwickelte Industrieregion sowohl in der Zwischenkriegszeit als auch in den vierzig Jahren der sozialistischen abschottung die größte strukturelle Ähnlichkeit mit Ostdeutschland hatte. Wo steht die tschechische Industrie heute? Die antwort lautet für 2007: bei etwa 31 Prozent der arbeitsproduktivität von West- und 41 Prozent von Ostdeutschland, und damit wohl viel niedriger als in der Zwischenkriegszeit. Klar ist: tschechien hatte keinen „aufbau Ost“ im Sinne eines massiven staatlichen Programms und privater Direktinvestitionen durch einen benachbarten kapitalistischen Westen innerhalb derselben nation. Insofern ist der Rückstand nicht verwunderlich. allerdings zeigt er auch, wie schwierig die postsozialistische aufgabe des aufholens gegenüber dem Westen offenbar ist. Viel schwieriger jedenfalls, als anfang der 1990er Jahre erwartet wurde. Der Sozialismus wirkt wirtschaftlich überall lange und tiefgreifend nach. Ostdeutschland hat einen guten Mittelfeldplatz erobert – ein Stück weg noch vom Westen, aber ein großes Stück vor den postsozialistischen nachbarländern aus Mitteleuropa. hierin vor allem liegt der Wert des aufbaus Ost. Die Frage lautet heute: Was kann die Wirtschaftspolitik tun, um Ostdeutschland weiter voranzubringen? Sie muss versuchen, die Industrie im Osten zu stärken, und zwar in Größe und Produktivität. Dies muss die Priorität der Politik werden. Dabei bedarf es einer Umschichtung von Mitteln: weg von Projekten der Infrastruktur und arbeitsbeschaffung und hin zu Maßnahmen, die der ostdeutschen Industrie zu mehr Innovationskraft verhelfen. Es geht dabei vor allem um das Entstehen neuer Zentren der privaten Forschung im Zusammenspiel mit öffentlichen Wissenschaftseinrichtungen, die sich zu industriellen Ballungszentren verdichten können. Erste ansätze dazu gibt es, zum Beispiel in der Mikroelektronik im Raum Dresden und in der Photovoltaik im Raum Bitterfeld-Wolfen. Erheblich mehr muss folgen. Bei dieser Umorientierung sind alle politischen Ebenen des bundesdeutschen Föderalismus gefordert. Die Bundespolitik muss darauf hinwirken, dass wissenschaftspolitische Exzellenzprogramme keine negativen regionalpolitischen nebeneffekte haben. Der Osten – und im Übrigen auch der norden – dürfen nicht wegen ihrer weit schwierigeren Startposition von der Entwicklung neuer Schwerpunkte öffentlicher und privater Forschungszusammenarbeit abgehängt werden. Daneben muss das hohe Maß an Flexibilität und Betriebsnähe, das die ostdeutsche Industrie auszeichnet, als besonderer Standortvorteil erhalten bleiben. Jede Form der Re-Regulierung des arbeitsmarkts (zum Beispiel durch flächendeckende Mindestlöhne) ist dabei schädlich. Die landes- und Kommunalpolitik muss weiter standortpolitische Schwerpunkte setzen, die vielversprechende Ballungsvorteile von Industrien gewährleisten, ohne die chancen für neue Entwicklungen zu verschließen. Und sie muss die Förderung darauf richten, die private Forschung und Entwicklung in der Region zu stärken. Die kommunalen Entscheidungsträger
hat die Deutsche Einheit die Soziale Marktwirtschaft verändert?
187
brauchen Freiräume, um bei der anwerbung von Investoren mit westdeutschen und ausländischen Städten und Gemeinden konkurrieren zu können. Es geht also um eine Mischung von anspruchsvoller Innovationsförderung, einfacher anwerbung von Investoren und pragmatischer Stärkung des vorhandenen industriellen Mittelstands. Dies ist eine moderne Industriepolitik – nicht branchenspezifisch, aber branchenbewusst und zukunftsorientiert. auch von dieser Mischung darf man sich natürlich keine Wunder versprechen. Es ist eben eine langwierige aufgabe, die Flurschäden der Planwirtschaft zu beseitigen. II. Dynamik der Sozialen Marktwirtschaft 1. Das Erbe der 1980er Jahre Eine Soziale Marktwirtschaft, wie sie in der tradition des deutschen Ordoliberalismus konzipiert wurde, besteht aus einer Reihe von konstitutiven Elementen. Es lässt sich trefflich darüber streiten, welche Elemente im Einzelnen dazugehören und wie sie ausgestaltet sein sollten. Unstrittig ist allerdings, dass zwei Elemente von wesentlicher Bedeutung sind: die tarifautonomie und der Sozialstaat. In beiderlei hinsicht gab es im Westdeutschland der 1980er Jahre, also im Jahrzehnt vor der Deutschen Einheit, eine intensive Diskussion darüber, ob die Soziale Marktwirtschaft in der Krise stecke. Erinnern wir uns:3 Der stufenweise anstieg der arbeitslosigkeit im Zuge der beiden Ölkrisen 1973/74 und 1979/80, gefolgt von den weltweiten Rezessionen 1974/75 und 1981/1983, hatte den arbeitsmarkt ganz grundsätzlich verändert. In fast allen marktwirtschaftlichen Industrieländern Europas gab es fortan auf Dauer – und nicht nur in Rezessionen – eine krasse Unterbeschäftigung. am meisten Sorgen bereitete die völlig neue tatsache, dass ein beträchtlicher teil entlassener Industriearbeiter überhaupt nicht mehr den Weg in die Beschäftigung zurückfand und zum „Sockel“ der langzeitarbeitslosigkeit wurde. Es entstand eine „gespaltene Gesellschaft“ mit einem zweigeteilten, segmentierten arbeitsmarkt. Die neue lage wurde damals schnell als zentrale herausforderung erkannt – zum einen für die Wirtschaftspolitik, zum anderen für die tarifautonomie und den Sozialstaat. Was die tarifautonomie betraf, beklagten vor al3
Zur Krise der Sozialen Marktwirtschaft in den 1980er Jahren, bedingt durch die Entwicklung am arbeitsmarkt, siehe im Detail: heRBeRt gieRsch / KaRL-heiNz Paqué / hoLgeR schmiediNg: the Fading Miracle. Four Decades of Market Economy in Germany, cambridge 1994. Speziell zu arbeitsmarkt und tarifautonomie mit ausführlicher analyse der theoretischen Konzepte, die damals zur Erklärung entwickelt wurden, sowie der empirischen Evidenz: KaRL-heiNz Paqué: Structural Unemployment and Real Wage Rigidity in Germany, Kieler Studien 301, tübingen 1999.
188
Karl-heinz Paqué
lem liberale Ökonomen, dass die tarifpartner nur die Interessen derjenigen vertraten, die tatsächlich in den Gewerkschaften und den arbeitgeberverbänden Stimme und Einfluss hatten (die „Insider“). Dies waren auf der arbeitnehmerseite die tatsächlich Beschäftigten, nicht die arbeitslosen und schon gar nicht die langzeitarbeitslosen, deren Kontakt zu den Gewerkschaften oft völlig verlorenging. auf der arbeitgeberseite waren es die starken etablierten Unternehmen und nicht die jungen Start-ups, die in Verbänden noch keine lobby hatten. Die Interessen der „Outsider“ blieben also unberücksichtigt, und zwar auf beiden Seiten des arbeitsmarkts. Die Folge war ein Fehlen von (niedrigen) Einstiegslöhnen, die es strukturell benachteiligten arbeitskräften erlaubt hätten, den Weg in Beschäftigung zurückzufinden, und die es neuen arbeitgebern ermöglicht hätten, durch niedrige Kosten wettbewerbsfähig zu sein, zu wachsen und schließlich auch mehr arbeitskräfte zu beschäftigen. Üblich war damals der Vergleich des deutschen mit dem amerikanischen arbeitsmarkt. In den USa, wo der Einfluss von Gewerkschaften und arbeitgeberverbänden gering ausfiel, gelang recht schnell die Rückkehr zur Vollbeschäftigung. Der hauptgrund: Potentiell langzeitarbeitslose akzeptierten Jobs im niedriglohnsektor, und es entstand über marktwirtschaftliche Wege eine lohndifferenzierung, die es in Deutschland nicht gab, eben wegen der tarifautonomie und des damit verbundenen starren Flächentarifvertrags. Die Soziale Marktwirtschaft war also in einer Krise, zumindest was die Folgen der tarifautonomie betrifft. So jedenfalls wurde es von Wirtschaftswissenschaftlern in Deutschland und anderswo weithin diagnostiziert. Eine ähnliche Krise entstand damals im Sozialstaat, dem zweiten der erwähnten Säulen der Sozialen Marktwirtschaft. Die dauerhaft hohe arbeitslosigkeit belastete die beitragsfinanzierte arbeitslosenversicherung, die für arbeitslosigkeit bis zu einem Jahr (in ausnahmefällen auch länger) zuständig war. Die dauerhaft hohe langzeitarbeitslosigkeit sorgte zusätzlich für eine massive Belastung der allgemeinen öffentlichen haushalte: Jene arbeitslosen, die über ein Jahr keine Beschäftigung fanden, erhielten die sogenannte arbeitslosenhilfe, die im Gesetz nach einer Bedürfnisprüfung, in der Praxis aber weitgehend unkonditioniert bezahlt wurde, als fester anteil des letzten erhaltenen nettolohns (in der Größenordnung von 60 Prozent). Die arbeitslosenhilfe entwickelte sich zu einer zentralen Position der Kosten des Sozialstaats. Es entstand eine art „Sozialfalle“, die weithin als Folge der mangelhaften Konstruktionsprinzipien des deutschen Sozialstaats wahrgenommen wurde: Waren arbeitslose einmal langfristig ohne Beschäftigung, so hatten sie wenig anreiz, sich nach einer niedrig bezahlten tätigkeit umzusehen. Sie belasteten auf Dauer die Sozialkassen. auch in dieser hinsicht schien sich der amerikanische Kapitalismus von der deutschen Sozialen Marktwirtschaft positiv abzuheben, allerdings um den Preis einer relativ harten Regel der Zumutbarkeit von schlechter bezahlter tätigkeit für langzeitarbeitslose.
hat die Deutsche Einheit die Soziale Marktwirtschaft verändert?
189
tatsächlich erreichte die ordnungspolitische Krisendiskussion in Deutschland und in Europa gegen Ende der 1980er Jahre einen höhepunkt. Dies lag vor allem daran, dass sich in der Schlussphase der Regierung Reagan in den Vereinigten Staaten ein sogenanntes Jobwunder abzuzeichnen begann. Innerhalb weniger Jahre erreichte die amerikanische Wirtschaft die Vollbeschäftigung, bei gleichzeitiger Schrumpfung ihres riesigen haushalts- und leistungsbilanzdefizits. Dies stand in augenfälligem Kontrast zur zähen Erholung in Europa, die sich erst spät – in Deutschland 1988/89 – am arbeitsmarkt mit einer substantiellen Entlastung bemerkbar machte und selbst dann nicht annähernd zu einem Grad der Beschäftigung führte, wie er zwei Jahrzehnte zuvor geherrscht hatte. Zunehmend sprach man – fast resignierend – von einem tiefen transatlantischen Unterschied der Modelle: dort in den USa „Kapitalismus“, hier in Europa „Korporativismus“, wobei das europäische Modell eben wegen seines anspruchs an soziale Gerechtigkeit eine gewisse Starrheit und mangelnde Dynamik am arbeitsmarkt in Kauf nehmen müsse. Diese sollte mit ergänzenden Instrumenten der arbeitsmarktpolitik im (allerdings engen) Rahmen des Möglichen verbessert werden.4 Soweit die lage Ende der 1980er Jahre. Sie ist nicht ohne Ironie, denn der politische „Erfinder“ der Sozialen Marktwirtschaft ludwig Erhard und seine intellektuellen Mitstreiter wie Walter Eucken, alfred Müller-armack und Wilhelm Röpke waren alles andere als Freunde einer korporativistischen Wirtschaftsordnung im Sinne der Dominanz von Verbänden, denen es – auf welchen Wegen auch immer – faktisch gelang, Märkte abzuschließen und die Kosten davon in Form der arbeitslosigkeit auf den Sozialstaat abzuwälzen. tatsächlich war bereits in den frühen 1950er Jahren von liberaler Seite die zunehmende Macht der Verbände überaus scharf (und treffend) kritisiert worden.5 Die Wiedervereinigung Deutschlands drängte zunächst die Reformdiskussion der 1980er Jahre in den hintergrund. Zu brennend waren die anliegenden Fragen der transformation, als dass man sich in der Umbruchphase ab dem november 1989 eine Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft hätte vorstellen können. Im Gegenteil, ähnlich wie bei der politischen Frage nach einer neuen Verfassung griff zumindest auf bürgerlich-liberaler Seite die Befürchtung um sich, allfällige Reformen des Systems könnten eher dazu führen, dass sozialistische statt mehr marktwirtschaftliche Elemente in die Wirtschaftsordnung Einzug halten würden. tatsächlich konzentrierte sich damals die Reformdiskussion auf die Einführung eines Rechts auf arbeit, das mit den Grundprinzipien von Marktwirtschaft und tarifautonomie überhaupt nicht vereinbar gewesen wäre. hinzu kam der enorme Zeitdruck, der es nötig 4 5
So im tenor ganz explizit michaeL emeRsoN: What Model for Europe?, cambridge 1988. am wortgewaltigsten von theodoR escheNBuRg: herrschaft der Verbände?, Stuttgart 1955.
190
Karl-heinz Paqué
machte, ganz schnell auf im Wesentlichen praktisch Bewährtes und rechtlich abgesichertes zurückgreifen zu können, auch wenn es im Einzelnen seine eigenen, durchaus bekannten Schwächen aufwies. In allen Kernpunkten der Sozialen Marktwirtschaft wurden deshalb die alten westdeutschen auf die neuen ostdeutschen Verhältnisse übertragen.6 2. Die Veränderung des Systems Welche Folgen hatte die vollständige, ruckartige Übertragung der Sozialen Marktwirtschaft von West nach Ost für die tarifautonomie und für den Sozialstaat? Um diese Fragen zu beantworten, ist es nützlich, zwischen einer kurzen und einer langen Frist zu unterscheiden. Mit „kurzer Frist“ meine ich damit die aufbauphase bis in die zweite hälfte der 1990er Jahre, mit „langer Frist“ die Zeit seither. Dabei gibt es an der Scharnierstelle zwischen kurzer und langer Frist keinen klaren Bruchpunkt, der kalendarisch präzise zu identifizieren wäre. Es geht stattdessen um eine Übergangsphase von einigen Jahren, deren Beginn am besten mit dem formalen Ende der tätigkeit der treuhandanstalt zu datieren ist, also 1994, und deren Ende kurz nach der Jahrtausendwende liegt, etwa zum abschluss der neuverhandlung des Solidarpakts II (als nachfolger des Solidarpakts I) und dem Beginn der Konzeption der hartz-Reformen der arbeitslosenhilfe. In der kurzen Frist kann man fast von einem „triumphzug“ der westdeutschen Institutionen der Sozialen Marktwirtschaft reden. Sie wurden dem Osten praktisch „übergestülpt“, und zwar gleichermaßen in Bezug auf die tarifautonomie und auf den Sozialstaat. Was tarifverhandlungen betrifft, ergriffen sofort die westdeutschen Gewerkschaften die Initiative. Sie bauten – wie alle anderen Verbände auch – ihre Organisationsstrukturen im Osten schnellstmöglich auf und besetzten die zentralen Positionen mit erfahrenen Funktionären aus dem Westen. Deren erste hauptaufgabe bestand nun darin, in der Industrie den Gewerkschaftseinfluss zu sichern und für die Beschäftigten tarifverträge mit tariflichen Mindestlöhnen auszuhandeln und durchzusetzen. Dies schien nach lage der Dinge der entscheidende Weg, um im Osten die eigene Position zu stärken, die Sympathien der ostdeutschen arbeitnehmer zu erobern und dann auch mehr Mitglieder zu gewinnen. Dabei lag das Standardmotto auf der hand: gleicher lohn für gleiche arbeit; also die gewerkschaftliche Grundphilosophie des Flächentarifvertrages, wie sie in Westdeutschland über vier Dekaden zwar nicht perfekt, aber doch annähernd umgesetzt war. Wenigstens innerhalb der jeweiligen Branchen sollte es auf Dauer kein zementiertes lohngefälle zwischen West und Ost geben. natürlich auch mit Blick darauf, dass eine 6
Dazu im Detail geRhaRd a. RitteR: Der Preis der deutschen Einheit, München 2006.
hat die Deutsche Einheit die Soziale Marktwirtschaft verändert?
191
Konkurrenz aus einer niedriglohnregion innerhalb Deutschlands für die große Zahl von Gewerkschaftsmitgliedern in Westdeutschland unzumutbar erschien. Deren Interessen hatten in den großen Gewerkschaften, allen voran in der IG Metall, ein gewaltiges Gewicht. Für tarifverhandlungen braucht eine Gewerkschaft einen Verhandlungspartner, und dies konnte für die ostdeutsche Industrie im Wesentlichen nur die treuhandanstalt sein. Dies hatte allerdings geradezu groteske Konsequenzen. als holdinggesellschaft, die fast vollständig am tropf staatlicher Subventionen hing, hatte die treuhandanstalt kaum Veranlassung, wirklich hart zu verhandeln. Denn nach einer Privatisierung würde ohnehin ein neuer Eigentümer neue Daten setzen und bis dahin war es relativ leicht, etwaige Defizite dem Steuerzahler zu überantworten. Es kam deshalb so, wie ökonomische Modelle von tarifverhandlungen mit „weichen“ Restriktionen vorhersagen: Die Gewerkschaften konnten kräftige lohnsteigerungen durchsetzen. Und sie konnten dies ihren Mitgliedern oder Interessenten als einen beachtlichen Erfolg verkaufen. Soweit die historische Entwicklung, über die weitgehende Einigkeit herrscht. Wer in den frühen 1990er Jahren auf das wiedervereinigte Deutschland blickte, der konnte tatsächlich zu folgendem Ergebnis kommen: nach der deutschen Wiedervereinigung gelang es arbeitgebern und Gewerkschaften, ihr tradiertes System des Flächentarifvertrags auch auf die Industrie der neuen länder zu übertragen, trotz extrem stark steigender arbeitslosigkeit im Zuge der dort einsetzenden industriellen Krise. Dies konnte als ein geradezu bespielloser machtpolitischer Erfolg der Interessen des tarifkartells gewertet werden. So urteilte damals eine Reihe von Wirtschaftswissenschaftlern, allen voran der spätere Präsident des Ifo-Institutes München hans-Werner Sinn. In dieser Interpretation wurde die deutsche Wiedervereinigung nachgerade zu einem Gipfel der Durchsetzungsfähigkeit der tarifpartner – und vor allem der Gewerkschaften – gegenüber einem hilflosen Subventionsstaat. Dabei trugen die lohnerhöhungen, so die Sichtweise, maßgeblich zur abwertung des industriellen Kapitalbestands in Ostdeutschland bei. Sie erschwerten die industrielle Umstrukturierung; und sie verstellten der ostdeutschen Wirtschaft den Weg in eine Entwicklung mit höherer Beschäftigung, einem bescheideneren Kapitaleinsatz pro arbeitsplatz und niedrigeren löhnen. Kurzum: Sie machten es der ostdeutschen Wirtschaft unmöglich, wenigstens ein Stück weit den mittel- und osteuropäischen Weg einzuschlagen.7 Diese Sichtweise beruht auf theoretischen Überlegungen, die zum Standardrepertoire der Wirtschaftswissenschaft gehören. Sie ist insofern absolut nachvollziehbar. allerdings stellt sich die Frage, wie viel sie wirklich zur Er7
So erstmalig geRLiNde siNN / haNs-WeRNeR siNN: Kaltstart. Volkswirtschaftliche analyse der deutschen Vereinigung, München 1991 und im Rückblick haNs-WeRNeR siNN: Germany’s Economic Unification: an assessment after ten Years, in: Review of International Economics 10 (2002), S. 113–128.
192
Karl-heinz Paqué
klärung der Realität in den frühen 1990er Jahren beiträgt – zumindest jener Realität, die über die kurze Frist hinausgeht. Zwar ist unstrittig, dass höhere löhne bei den treuhandunternehmen, die ihre laufenden Kosten ohnehin nicht decken konnten, diese Kosten noch weiter nach oben trieben, und damit auch den Bedarf an Subventionen. Die Kernfrage ist allerdings, ob dies wirklich auf die chancen der Privatisierung und die Pläne der Erwerber einen nachhaltigen Einfluss hatte. Genau hier sind Zweifel angebracht. Um zu sehen warum, ist es nützlich, sich die Situation eines potentiellen Investors zur damaligen Zeit ganz konkret vor augen zu führen, je konkreter desto besser. Stellen wir uns vor, ein treuhand-Unternehmen des Maschinenbaus steht 1991 zum Verkauf. Ein Kaufinteressent – sagen wir, ein westdeutscher Unternehmer derselben Branche – plant eine neue Produktionsstätte in Ostdeutschland mit einem branchenüblichen Zeithorizont, sagen wir: fünfzehn Jahre. Er macht für diesen Zeitraum – explizit oder implizit – eine Schätzung der Kosten. Er macht auch eine grobe Prognose, mit welchem lohnniveau er im Osten zu rechnen hat. Er wird in dieser Prognose natürlich maßgeblich beeinflusst von dem, was die öffentliche Meinung sagt, und die wähnt auf mittlere Sicht den trend zur West-Ost-lohnangleichung, und zwar in erster linie wegen der hohen innerdeutschen Mobilität. Was auf kurze Sicht passiert, ist mit Blick auf den langen Zeithorizont der Investitionsentscheidung für seine Entscheidung nur von geringer Bedeutung. Ob 30 oder 50 Prozent des Westniveaus, es handelt sich ohnehin um eine vorübergehende Situation; und ob diese dann in wenigen Jahren vorbei ist, beeinflusst wohl kaum die technologie und die art des Maschinenparks, den er auf lange Sicht für die künftige Produktion wählt. hier stoßen wir wieder auf die grundlegende Signalwirkung der Deutschen Einheit: Mit dem Fall der Mauer, der Wirtschafts- und Währungsunion sowie der politischen Wiedervereinigung wurde es auch für Unternehmer völlig abwegig zu unterstellen, dass eine Ost-West-lohndifferenz von 1:3 (oder 1:2) auch nur annähernd Bestand haben konnte. Diese Erwartungshaltung war einfach da. Sie konnte nicht mehr aus der Welt geschafft werden, völlig gleichgültig, wie hoch oder niedrig der prozentuale tariflohnanstieg in den Unternehmen der treuhandanstalt nach 1990 ausfiel. tatsächlich ließ ja selbst dieser anstieg noch ein großes Maß an Freiräumen für die spätere anpassung. Es gab ja für Investoren grundsätzlich die Möglichkeit, auf eine Mitgliedschaft im arbeitgeberverband zu verzichten und eigene lohnhöhen und lohnstrukturen auf betrieblicher Ebene oder für Einzelverträge auszuhandeln. Dies geschah dann ja auch, und möglicherweise hatten dies viele Unternehmer ohnehin schon vor. Genau an dieser Stelle setzt der Übergang zwischen der „kurzen“ und der „langen“ Frist ein, der zum Verständnis der Dynamik der Wirtschaftsordnung nach der Deutschen Wiedervereinigung von zentraler Bedeutung ist. Es zeigte sich nämlich zur Verblüffung vieler Beobachter einschließlich professioneller
hat die Deutsche Einheit die Soziale Marktwirtschaft verändert?
193
Ökonomen, dass ab etwa Mitte der 1990er Jahre bei offiziellen arbeitslosenquoten von rund 20 Prozent und inoffiziellen Quoten der gesamten Unterbeschäftigung von 30 bis 40 Prozent der arbeitsmarkt im Osten ganz anders zu funktionieren begann, als dies traditionell im Westen der Fall war, wo solche Quoten niemals erreicht worden waren. Wenige Jahre nach der Wiedervereinigung wurde es nämlich für einen normalen arbeitgeber im Osten völlig unattraktiv, sich den Bedingungen eines Flächentarifvertrags zu unterwerfen, der für ganz andere Marktbedingungen geschaffen war. tatsächlich gelang es den Unternehmen im Osten ohne Mühe, arbeitslose hochqualifizierte Fachkräfte zu finden, die bereit waren, zu löhnen und arbeitsbedingungen zu arbeiten, die deutlich unter dem westlichen tarifniveau lagen. Dies führte schließlich zum faktischen Ende des Flächentarifvertrags in Mittel- und Ostdeutschland. Und es ist ein teil der Erklärung für die tatsache, dass bis heute das lohnniveau in der ostdeutschen Industrie etwa ein Drittel unter dem westdeutschen niveau liegt, und dies schon seit der zweiten hälfte der 1990er Jahre.8 Die auflösung des Flächentarifvertrags verlief dabei schleichend und wurde auch von der Wissenschaft erst allmählich wahrgenommen.9 Zunächst wurde schon in der ersten hälfte der 1990er Jahre beobachtet, dass tarifliche Bedingungen auf Betriebsebene – zumeist stillschweigend – umgangen wurden oder nicht zur anwendung kamen. Später wurde auch statistisch deutlich, dass die neu entstehende, kleinteilige Industrie Mittel- und Ostdeutschlands von vornherein nur einen sehr niedrigen Organisationsgrad aufwies, weit niedriger als Unternehmen im Westen.10 Entscheidend war dabei – entgegen der verbreiteten öffentlichen Meinung – nicht die geringe Mitgliedschaft der arbeitnehmer in Gewerkschaften, sondern vor allem die mangelnde Bereitschaft der arbeitgeber, Mitglied in tariffähigen Verbänden zu werden. nur durch eine flächendeckende Durchsetzung einer harten Regelung der allgemeinverbindlichkeit von tarifverträgen durch den Staat hätte also überhaupt der Flächentarifvertrag gerettet werden können. Gerade dazu war aber die Politik bei der hohen arbeitslosigkeit nicht bereit, denn dieser Weg hätte ganz 8
S. dazu im Detail K.-h. Paqué, Bilanz (wie anm. 1), S. 142–161, und konkret zur lohnentwicklung 1991–2008 das Schaubild 7 auf S. 151. 9 In dieser hinsicht besonders aufschlussreich sind die insgesamt 19 Berichte mit dem titel „Gesamtwirtschaftliche und unternehmerische anpassungsfortschritte in Ostdeutschland“, die von drei wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstituten – dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Berlin, dem Institut für Weltwirtschaft (IfW), Kiel, und dem Institut für Wirtschaftsforschung halle (IWh) – in den 1990er Jahren im halbjährlichen Rhythmus veröffentlicht wurden. Sie enthalten erst gegen Ende der Dekade eigens erhobene Informationen zum Organisationsgrad von arbeitgebern in der Industrie, mithin zu einem Zeitpunkt, als der Prozess der Erosion des Flächentarifvertrags längst im Gang war. 10 Vgl. dazu K.-h. Paqué, Bilanz (wie anm. 1), S. 150.
194
Karl-heinz Paqué
offensichtlich die marktwirtschaftliche Regeneration in Mittel- und Ostdeutschland maßgeblich erschwert. all dies deutet übrigens darauf hin, dass die Rechnung der Gewerkschaften auf lange Sicht überhaupt nicht aufging. Es gelang ihnen keineswegs, durch die schnellen lohnerhöhungen auf Dauer in Mittel- und Ostdeutschland eine starke Kraft zu werden. Im Gegenteil, die neuen Unternehmen und Investoren gingen in zunehmendem Maße vor Ort eigene Wege. Und die Beschäftigten machten mit, nolens volens. Sie taten eben alles, um ihren arbeitsplatz zu sichern, und dazu gehörte auch der Verzicht auf aggressive lohnforderungen, als die umstrukturierten Unternehmen begannen, wieder am Markt Fuß zu fassen. Gewerkschaftsforderungen aus dem Westen Deutschlands, man müsse härter auftreten, fanden da kaum Gehör. Die Dichotomie der Interessen – zwischen Insidern und Outsidern – verlor die frühere Brisanz. Die Entwicklung im Osten hatte natürlich Rückwirkungen auf den Westen. Der Grund liegt auf der hand: Mittel- und Ostdeutschland macht ein Fünftel der Bevölkerung und immerhin ein Drittel der Fläche des wiedervereinigten Deutschland aus. Zwischen beiden teilen des landes besteht seit 1990 eine hohe Mobilität der arbeitskräfte und des Kapitals. Es wäre völlig lebensfremd zu vermuten, dass die tarifpolitik im Westen in den letzten beiden Dekaden unbeeinflusst von der arbeitsmarktsituation im Osten ablief. tatsächlich wirkte die arbeitslosigkeit des Ostens dämpfend auf den tariflohnanstieg im Westen, ähnlich wie das Überangebot an arbeitskräften durch den Zuzug von circa sechs bis sieben Millionen Vertriebenen im Westdeutschland der späten 1940er und der gesamten 1950er Jahre. OEcD-ländervergleiche der Entwicklung der lohnstückkosten (löhne relativ zur arbeitsproduktivität) als grobes Maß für die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit belegen, dass Deutschland seit Mitte der 1990er Jahre eine überaus günstige Entwicklung aufzuweisen hat, deutlich günstiger als die länder der europäischen „Peripherie“.11 Das statistische Bild ist beeindruckend: Gegenüber Deutschland stiegen die lohnstückkosten im Zeitraum 1999–2008 in Irland um 37,7 Prozent, in Spanien um 33,5 Prozent, in Griechenland um 32,7 Prozent und in Portugal um 25,7 Prozent.12 anders formuliert: Die gesamtwirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit der Peripherie Europas verschlechterte sich gegenüber Deutschland um rund ein Drittel, eine gigantische Verschiebung, auf die wir weiter unten im dritten teil zurückkommen werden. tatsächlich hat Deutschland als einziges land der Europäischen Union in der Zeit 1999–2008 keine Zunahme der lohnstückkosten zu verzeichnen. Selbst der nachbar Österreich mit ähnlicher Wirtschaftsstruktur wie Süd11 Dazu im Detail KaRL-heiNz Paqué: Wachstum! Die Zukunft des globalen Kapitalismus, München 2010, abschnitte 5.2 und 5.3. 12 Eigene Berechnungen mit Daten aus OEcD: Main Economic Indicators, Paris 2011.
hat die Deutsche Einheit die Soziale Marktwirtschaft verändert?
195
deutschland erlebte eine – allerdings nur moderate – Zunahme um rund sechs Prozent. Dies zeigt, dass nicht allein die Kräfte der Globalisierung am Werk waren, denn die trafen Deutschland und Österreich etwa in gleichem Maße. Es zeigt stattdessen, dass „deutsche Sonderfaktoren“ wohl eine Rolle spielten, allen voran die Deutsche Einheit. Dabei ist zusätzlich zu bedenken, dass die Entwicklung in Deutschland als relativ großem land durchaus auch dämpfende Rückwirkungen auf die Kostenentwicklung der nachbarländer im Westen und Süden hatte, ähnlich wie innerhalb Deutschlands der Osten auf den Westen. Insofern mag die Deutsche Einheit durchaus substantiell zu einer art wettbewerblichen Gesundung des „industriellen Kerneuropa“ beigetragen haben. neben dem gesamtwirtschaftlichen lohndruck gab es im Westen Deutschlands einen trend zu mehr Flexibilität der tarifgestaltung. auch in dieser hinsicht wirkten Deutsche Einheit und Globalisierung gleichzeitig, mit einer klaren Dominanz der Effekte der Deutschen Einheit. tatsächlich ist seit der zweiten hälfte der 1990er Jahre zu beobachten, dass sich auch im Westen immer mehr differenzierte betriebliche Vereinbarungen durchsetzen und der Flächentarifvertrag in seiner starren Form eher auf dem Rückzug ist. Dieser Prozess vollzieht sich allerdings schleichend und ist im Einzelnen empirisch nur schwer nachzuweisen, zumal sich manches formal innerhalb des Rahmens von tariflichen Regelungen abspielt, die einfach mehr Spielräume zuließen, als dies früher der Fall war. Jedenfalls hat gerade die Erfahrung des überaus scharfen konjunkturellen Einbruchs im Gefolge der Weltfinanzkrise 2008 gezeigt, dass die deutsche Industrie längst eine Kostenflexibilität erreicht hat, die vor zwei Dekaden kaum ein Beobachter für möglich gehalten hätte, weil es sie seinerzeit eben auch nicht gab. Fazit: Was die tarifautonomie betrifft, hat sich die Soziale Marktwirtschaft in den letzten beiden Dekaden grundlegend verändert. Die Deutsche Einheit hat maßgeblich den trend zu mehr Flexibilität und Betriebsnähe gestärkt. Die Globalisierung tat ihr Übriges. Was für den Flächentarifvertrag gilt, das lässt sich in ersten ansätzen auch für den deutschen Sozialstaat erkennen. tatsächlich sorgte erst die hohe arbeitslosigkeit – und vor allem die hohe langzeitarbeitslosigkeit – für eine derart dramatische anspannung der Sozialkassen, dass nach der Jahrtausendwende erstmals intensiv über eine tiefgreifende Reform nachgedacht wurde. Es kam schließlich zu den hartz-Reformen, also zur bisher grundlegendsten Umgestaltung des Systems der arbeitslosenhilfe. Dies geschah aus der wissenschaftlichen und politischen Erkenntnis heraus, dass die Konstruktionsprinzipien des Systems bei dem herrschenden ausmaß der arbeitslosigkeit enorme Kosten verursachten und – schlimmer noch – wegen falscher anreize die langzeitarbeitslosigkeit perpetuiert.
196
Karl-heinz Paqué
Dieses Problem war längst vor der Deutschen Einheit unter arbeitsmarktökonomen bekannt.13 Eine Fülle von Studien belegte, dass eine langfristig gewährte Zahlung von arbeitslosenunterstützung zur Verfestigung segmentierter Strukturen beiträgt, weil typischerweise nach einem Jahr arbeitslosigkeit die Suchintensität von beschäftigungslosen Erwerbspersonen deutlich nachlässt. auch bekannt waren die eher mäßigen Erfolgsaussichten von Qualifizierungs- und arbeitsbeschaffungsprogrammen zur Re-Integration von langzeitarbeitslosen. In beiderlei hinsicht brachte jedoch die Deutsche Einheit eine art Qualitätssprung des Problems: Ging es im Westen traditionell „nur“ um beschäftigungspolitische Randgruppen, so nahm das Problem im Osten eine gesamtgesellschaftliche Dimension an. Der Reformdruck wurde schließlich so stark, dass es tatsächlich mit den hartz-Reformen zur abschaffung der arbeitslosenhilfe kam. Diese wurde über das sog. arbeitslosengeld II in das Sozialsystem neu integriert – als eine art „Variante“ der früheren Sozialhilfe und damit auch mit anderen, generell schärferen Regeln der Zumutbarkeit. Bis heute sind die hartz-Reformen politisch und wissenschaftlich umstritten. Insbesondere bleibt vorerst offen, inwieweit sie wirklich kausal verantwortlich sind für die überaus günstige – weil rückläufige – Entwicklung, die sich bei der arbeitslosigkeit im allgemeinen und bei der langzeitarbeitslosigkeit im Besonderen im Zuge des Konjunkturaufschwungs 2005 bis 2008 einstellte. auch ist noch offen, inwieweit sie dazu beitrugen, die negativen Wirkungen der dann folgenden Finanz- und Konjunkturkrise am arbeitsmarkt abzudämpfen. andere Kandidaten der Erklärung, vor allem die günstige Entwicklung der lohnkosten und die einsetzenden demographischen Veränderungen, sind mindestens ebenso plausibel. In jedem Fall steht fest, dass die hartz-Reformen im Zusammenwirken mit den anderen Kandidaten die positive anpassung am arbeitsmarkt eher beschleunigten als behinderten. Insofern gingen auch sie in die Richtung von mehr Flexibilität der Sozialen Marktwirtschaft. aus historischer Sicht spricht vieles dafür, die anpassung des Sozialstaats durch die hartz-Reformen in engem Zusammenhang zur Erosion des Flächentarifvertrags und der moderaten lohnkostenentwicklung als eine gemeinsame längerfristige Folge der Deutschen Einheit zu sehen. Der Druck der Problemlage wirkte auf mehreren Ebenen gleichzeitig: wirtschaftlich auf die tarifautonomie, politisch auf den Sozialstaat. Insofern hat die Deutsche Einheit die Soziale Marktwirtschaft in Deutschland auf Dauer verändert. Genauer: Sie hat in einer Zeit der Globalisierung dafür gesorgt, dass gar keine andere Wahl blieb als pragmatische Wege der anpassung zu beschreiten. Dies geschah in den arbeitsmärkten eher schleichend und dezentral; bei der Re13 Siehe z. B. das früheste umfassende lehrbuch zu diesem themenkomplex WoLfgaNg fRaNz: arbeitsmarktökonomik, Berlin 1991, das bereits die Problematik klar skizziert.
hat die Deutsche Einheit die Soziale Marktwirtschaft verändert?
197
form des Sozialstaats geschah es, wie nicht anders zu erwarten, in einem Klima der harten polemischen auseinandersetzung, die auch die politische landschaft maßgeblich verändert hat, vor allem mit der Stabilisierung der Partei Die linke (vormals PDS) und dem partiellen niedergang der für die Reform federführend verantwortlichen SPD. III. Spaltet sich Europa aufs neue? 1. Die Schuldenkrise Die Regeneration der Sozialen Marktwirtschaft ist für Deutschland ein Grund zu nationalem Optimismus. Weit zweischneidiger sind dagegen die Folgen für Europa. Vieles deutet darauf hin, dass die vergangene Dekade für lange Zeit die letzte war, in der Europa ein aufholen der länder der „Peripherie“ gegenüber dem Zentrum erlebte. Die derzeitige Schuldenkrise ist da eher das Symptom als die tiefere Ursache. Ein kurzer Blick zurück macht dies deutlich. länder wie Griechenland, Irland, Portugal und Spanien lebten seit den späten 1990er Jahren über ihre Verhältnisse; und die Kapitalmärkte erlaubten es ihnen – zu günstigen Bedingungen, ohne erkennbare Spannungen. Es war die Zeit der „Great Moderation“, mit weltweit niedrigen Zinsen sowie reichlich vorhandener liquidität. Das Muster war dabei überall ähnlich, bei allen Unterschieden im Detail: Es gab einen Boom im jeweiligen nationalen Binnenmarkt, die lokalen Dienstleistungen und Immobilien verteuerten sich und die löhne stiegen rasant an, weit schneller als die arbeitsproduktivität. Das Ergebnis: eine drastisch verschlechterte Wettbewerbsfähigkeit gegenüber dem Zentrum Europas, wie in abschnitt II.2. dieses Beitrags anhand der Entwicklung der lohnstückkosten gezeigt wurde. Dies ging lange gut, bis die Binnenmarktblase schließlich doch platzte – im Zuge der Weltfinanzkrise. Danach wurde die gesamtwirtschaftliche Schieflage schonungslos aufgedeckt: riesige Defizite im Staatshaushalt und in der leistungsbilanz, gefährdete Bankensysteme, massiver Vertrauensverlust an den Kapitalmärkten, schließlich die Schuldenkrise. Die kurzfristige Konsequenz der Krise wird derzeit überall politisch exekutiert, und zwar in aller härte: drastische Sparpakete der Regierungen mit ausgabenkürzungen, Steuererhöhungen und Verzicht auf privaten Konsum und ambitiöse Investitionsprojekte. Das alles ist in der Eurozone schwierig genug – ohne die Möglichkeit, die eigenen Produkte über eine abwertung der Währung ruckartig gegenüber dem Rest der Welt zu verbilligen und damit wenigstens einen teil der nötigen anpassung eben nicht durch mehr Verzicht, sondern durch mehr Produktion zu erreichen. Dabei geht es um Einschnitte, wie es sie jedenfalls in der Bundesrepublik Deutschland noch nie gegeben hat. Man muss schon in die schwierige Zeit der Weimarer Republik zurückgehen,
198
Karl-heinz Paqué
um hierzulande Vergleichbares zu finden. niemand kann sicher sein, dass die anpassung letztlich gelingen wird. Es bleiben große Unwägbarkeiten, selbst mit Rettungsschirm der Europäischen Union, Beistand des Internationalen Währungsfonds und bestem politischen Willen. alternativen dazu sind aber kaum erkennbar, es sei denn, die Politik wäre bereit, die Eurozone zu sprengen oder einzelne länder in die Zahlungsunfähigkeit zu entlassen. Kurzum: Der regenerierten Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland steht heute eine überaus harte Politik der austerität in der Peripherie Europas gegenüber. Selbst wenn man unterstellt, dass deren anpassung erfolgreich sein wird, bleibt die Frage, wie es dann weiter geht. 2. Die strukturelle Spaltung Zunächst gilt es festzuhalten: Seit den 1950er Jahren ist Europa wirtschaftlich zusammengewachsen, und zwar mit einer Dynamik, die keine Vorläufer kennt. Dies geschah allerdings in zwei Stufen: zunächst getrennt im kapitalistischen West- und sozialistischen Ostteil, und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ab anfang der 1990er Jahren gemeinsam in einem einzigen marktwirtschaftlichen System. nach allen historischen Maßstäben ist das Ergebnis ein gigantischer Erfolg: Europa ist heute ein Wirtschaftsraum des Freihandels, der Freizügigkeit und des freien Kapitalverkehrs, wie es ihn allenfalls auf dem höhepunkt der liberalen Ära des 19. Jahrhunderts gegeben hat, damals allerdings unter ganz anderen politischen Voraussetzungen. treibende Kraft dieses Zusammenwachsens war stets die Europäische Union bzw. ihr Vorläufer, die Europäische Gemeinschaft. Sie sorgte über Jahrzehnte für die nötige politische Dynamik: von Freihandel und Zollunion über den gemeinsamen Markt bis hin zur Einführung einer gemeinsamen Währung. Dabei war es im Wesentlichen eine Wirtschaftsgeschichte der Konvergenz: alle länder wuchsen, aber die ärmeren länder wuchsen schneller als die reicheren. Der abstand zwischen dem wohlhabenden Zentrum und der ärmeren Peripherie nahm im trend ab. Der Geist der Konvergenz beherrschte alle: die Finanzmärkte, die Wissenschaft und die Politik. Ein lange gehegter traum schien in Erfüllung zu gehen. Gerade die Entwicklung des mediterranen Raums belegt dies eindrucksvoll. Griechenland, Portugal und Spanien sind allesamt „Spätentwickler“, also industrielle aufholländer, die erst in den letzten Jahrzehnten begannen, ihren wirtschaftlichen Rückstand gegenüber dem industriellen Kerneuropa zu vermindern. Dieser Rückstand ist sehr alt. Er entstand spätestens im 19. Jahrhundert mit der Industrialisierung, zum teil sogar schon im 17. Jahrhundert, als die Iberische halbinsel die chance verpasst hatte, ihr „Goldenes Zeitalter“ zur wirtschaftlichen Entwicklung zu nutzen statt die niederlande, England und Frankreich sowie später auch Deutschland an sich vorbeiziehen zu lassen. Das aufholen des Rückstands wurde
hat die Deutsche Einheit die Soziale Marktwirtschaft verändert?
199
deshalb weithin als großer historischer Erfolg gewürdigt, eine art Rückkehr nach Europa – wirtschaftlich, gesellschaftlich, politisch. Die Konvergenz galt fast als naturgesetz, vor allem in Brüssel. Wer die Rhetorik der Kommission über die Jahrzehnte verfolgt, dem kann kaum der stets optimistische Geist des natürlichen Zusammenwachsens entgehen. Dieser Geist herrschte zunächst mit Blick auf Südeuropa, ab 1990 dann auch mit Blick auf die postsozialistischen neumitglieder Mittel- und Osteuropas. Spiegelbildlich dazu gab es in den wohlhabenden industriellen Kernländern des Kontinents eine selbstkritische Debatte über das eigene Wirtschaftsmodell. Besonders intensiv wurde sie in Deutschland geführt. Man sah sich hierzulande zunehmend umzingelt von wachstumshungrigen tigern, die mit niedrigen löhnen und gut qualifizierter arbeiterschaft riesige Wellen der Direktinvestitionen auf ihre Mühlen lenken. So ist es noch keine zehn Jahre her, dass ein viel gelesenes Buch eines namhaften deutschen Ökonomen den titel trug: „Ist Deutschland noch zu retten?“14. Bei all dem wurde etwas Wichtiges übersehen: aufholen heißt noch lange nicht Einholen. tatsächlich lehrt die Geschichte des globalen Wachstums, dass – mit ausnahme von Japan und Singapur (eines ungewöhnlichen Stadtstaats) – kein einziges außereuropäisches aufholland der Welt bisher die Kernländer der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts in Pro-Kopf-Einkommen und arbeitsproduktivität wirklich erreicht hat. Südkorea zum Beispiel, ein zweifellos erfolgreiches Schwellenland, weist nach fünf Dekaden des aufholens 70, aber nicht 100 Prozent der arbeitsproduktivität von Kerneuropa und den USa auf. auch die Kapitalmärkte verwechselten „aufholen“ mit „Einholen“, wie die jüngste Misere des mediterranen Raums deutlich zeigt. In diesen ländern wurde die letzte große Etappe des aufholprozesses in allen Erwartungen der wirtschaftlichen akteure vorweggenommen. Es kam zu einer art gigantischer abschlagszahlung auf eine antizipierte Konvergenz. Man lebte über seine Verhältnisse, aber man tat es nur deshalb, weil alle erwarteten, dass sich diese Verhältnisse in Kürze nochmals grundlegend verbessern würden. Den noch bleibenden Rückstand der arbeitsproduktivität zu Deutschland – bei Spanien etwa 20 Prozent, bei Griechenland 30 Prozent, bei Portugal über 40 Prozent –, das würden die länder schon bald schaffen, und zwar mit genau der Dynamik wie in den Jahrzehnten zuvor. Dies ist nicht geschehen, die Schuldenkrise ist der Beleg dafür. Wird es in der Zukunft geschehen? Setzt sich die Konvergenz bald fort? Große Zweifel sind angebracht. Der wichtigste Grund dafür ist die mangelnde Innovationskraft der Industrie. Es gelang zwar allen mediterranen aufholländern (plus Irland), massiv Direktinvestitionen anzuziehen und eine durchaus moderne Industrie aufzubauen, die effizient arbeitet. Weitgehend handelt es sich dabei aber um „verlängerte Werkbänke“, die wenig eigene Innovations14 haNs-WeRNeR siNN: Ist Deutschland noch zu retten?, München 2003.
200
Karl-heinz Paqué
kraft mitbringen. Es fehlt noch an einem wissenschaftlichen Umfeld, das höchstleistungen in enger Verzahnung mit der Industrie hervorbringt. Eine ingenieurwissenschaftliche Infrastruktur von hervorragenden technischen hochschulen, wie sie zum Beispiel der deutschsprachige Raum aufweist, ist nicht vorhanden. Und auch ein amerikanischer Weg mit einer Start-up-Kultur hochinnovativer junger Unternehmer zeichnet sich nicht ab. alle Maßzahlen der Forschungsintensität in der Produktion belegen den Rückstand der mediterranen länder (und auch Irlands): Ob nun der anteil der Forscher am gesamten Personalbestand, ob das Verhältnis von Forschungs- und Entwicklungsausgaben zu Wertschöpfung oder Umsatz, ob Patentanmeldungen pro Kopf insgesamt oder in hochtechnologiebereichen, stets liegt die mediterrane Peripherie deutlich hinter Deutschland bzw. den industriellen Kernregionen Europas. Sie liegt sogar noch hinter Ostdeutschland, das unter einer ähnlichen Schwäche leidet (siehe oben abschnitt I.2. dieses Beitrags). Es gibt somit ein ernstes dauerhaftes Problem, wirtschaftlich und politisch. Einen Rückstand der Innovationskraft zu beseitigen, das ist eine Sache von Jahrzehnten, manchmal sogar Jahrhunderten, jedenfalls nicht Jahren. Ohne die nötige Innovationskraft ist aber das niveau der industriellen Kernregionen Europas nicht erreichbar. Es bleibt also – wider früheres Erwarten – ein persistentes nord-Süd-Gefälle in der EU. Ein teil dessen, was schon an lebensstandard und Beschäftigung erreicht wurde, hat sich als „Blase“ erwiesen. Das Produktionspotential war künstlich aufgebläht, vor allem im Dienstleistungssektor. Ein Großteil davon verschwindet auf Dauer. Mit weitreichenden Folgen: In Spanien zum Beispiel ist der Fortschritt am arbeitsmarkt – von einer arbeitslosenquote von 20 Prozent in den frühen 1980er Jahren auf unter fünf Prozent in der letzten Dekade – vollständig rückgängig gemacht; die Quote liegt heute wieder bei 20 Prozent. Darauf müssen sich alle einstellen. Dies ist überaus schmerzhaft, zumal am Ende des tunnels der aktuellen Sparpolitik keine Rückkehr zu einem beschleunigten aufholwachstum mit aussicht auf Konvergenz steht. allenfalls wird es ein normales Wachstum geben. Das ist vielleicht genug, um die Position zu halten, aber nicht genug, um das industrielle Kerneuropa auf absehbare Zeit zu erreichen. Was an struktureller Schwäche für die südeuropäischen EU-Mitgliedsländer (und Irland) gilt, das zeigt sich in ähnlicher Form für die mitteleuropäischen. Diese leiden noch heute am langfristigen Flurschaden des Sozialismus, also der Zerstörung kapitalistischer Strukturen durch die langjährige politische Gefangenschaft in einer Planwirtschaft mit extrem innovationsfeindlicher arbeitsteilung. Einige dieser länder – allen voran tschechien – gehörten vor dem Zweiten Weltkrieg zum industriellen Kern Europas, ähnlich wie Sachsen und Mitteldeutschland, jedoch anders als der mediterrane Süden. aber ihre Innovationskraft wurde durch vier Dekaden abschottung vom Weltmarkt schwer beschädigt. Sie muss mühsam wiederaufgebaut werden. Bis dahin bleibt die Region tendenziell ebenfalls eine verlängerte Werkbank.
hat die Deutsche Einheit die Soziale Marktwirtschaft verändert?
201
auch dies lässt sich an den Statistiken ablesen: Forschung und Entwicklung spielt in der Industrie der post-sozialistischen länder eine untergeordnete Rolle. Innerhalb Mittel- und Osteuropas gibt es dabei ein Gefälle zwischen mehr westlichen und mehr östlichen Regionen, aber selbst in den westlichen liegt man noch weit hinter den industriellen Kernregionen Europas zurück. allerdings hat das postsozialistische Mitteleuropa gegenüber dem Süden der Europäischen Union zumindest kurz- und mittelfristig einen Vorteil: Der Großteil der Bevölkerung und der Staat hatten sich in ihren ausgabenplänen noch lange nicht auf eine schnelle Konvergenz eingestellt. lediglich in Ungarn hat es in jüngster Zeit eine Überschuldungskrise gegeben, während Polen, tschechien, die Slowakei und Slowenien nach den tief greifenden Reformen der 1990er Jahre den eingeschlagenen Stabilitätskurs beibehielten. Das ernüchternde Fazit lautet: Die Zeit der natürlichen Konvergenz ist vorbei, Europa bleibt vorerst wirtschaftlich ein gespaltener Kontinent. Die Spaltung verläuft dabei zweifach mitten durch die Europäische Union: zwischen nord und Süd und zwischen West und Ost, und in dieser hinsicht mitten durch Deutschland. Die Politik muss sich darauf einstellen. Es wird dabei zunehmend schwieriger, mit dieser Spaltung zu leben. Der Grund ist die Freizügigkeit, eine der ganz großen liberalen Errungenschaften innerhalb der Europäischen Union. Sie sorgt dafür, dass die Menschen innerhalb der 27 EUländer ihren aufenthalts- und arbeitsort frei wählen können. Die Freizügigkeit hat weitreichende Konsequenzen. traditionell wurde sie eher in den Empfängerländern, also in den hochindustrialisierten Zentren, mit einer gewissen Skepsis betrachtet. Vielerorts befürchtete man dort die Zuwanderung gering qualifizierter arbeitskräfte, die zur unangenehmen Konkurrenz wurden, die löhne drückten und die arbeitslosigkeit der Einheimischen erhöhten. Diese Furcht wird zunehmend der Vergangenheit angehören. Sie ist ein Relikt der letzten dreieinhalb Jahrzehnte, in denen selbst in den Zentren während der Boomzeiten noch hohe arbeitslosigkeit herrschte, seit Mitte der 1970er Jahre die Babyboom-Generation in den arbeitsmarkt hineinwuchs und die Ölkrisen zu einer dauerhaften industriellen Schrumpfung führten. Die Zukunft sieht ganz anders aus. In Deutschland und den meisten seiner nachbarländern sorgt die demographische Entwicklung dafür, dass die Zahl der Erwerbspersonen drastisch zurückgehen wird. Die Folge: arbeitgeber werden arbeitskräfte aller art händeringend suchen, allen voran natürlich gut qualifizierte. Und dies umso mehr, je robuster das industrielle Wachstum ausfällt, das sich bereits heute in den innovationskräftigen Zentren andeutet. Dem steht in der Peripherie eine neue Generation von jungen Fachkräften gegenüber, die keine große Scheu haben wird, ihre berufliche Zukunft in den Zentren zu suchen und dies vielleicht schon durch ein Studium an den dortigen Universitäten und technischen hochschulen vorzubereiten. anders als ihre Eltern und Großeltern spricht diese Generation von vornherein gut Englisch,
202
Karl-heinz Paqué
bewegt sich gewandt in einer globalisierten Welt und fühlt sich in den zunehmend kosmopolitischen Großstädten des hochindustriellen Europas viel wohler, als dies „Gastarbeiter“ oder „Exilakademiker“ zu früheren Zeiten taten. Überall steht eine mobile Facebook-Generation zum Ortswechsel bereit. aus humanitärer Sicht ist dies eine gute Entwicklung. Es geht hier um die Früchte der Freiheit in einem vereinten Europa, und die dürfen niemandem vorenthalten werden. allerdings droht damit ein ausbluten des Südens und des Ostens, zumal dort die demographische Entwicklung gleichfalls die Bevölkerungszahl schrumpfen lässt. Es bahnt sich deshalb europaweit eine Situation an, wie sie nach der deutschen Wiedervereinigung im Osten Deutschlands besonders dramatisch zu beobachten war. Die deutsche Politik reagierte mit einem beispiellosen „aufbau Ost“, einem nationalen Programm von ungeheurem ausmaß, das auf europäischer Ebene völlig undenkbar wäre. allerdings wird sich auch in Europa die Frage stellen, wie dem Wanderungsdruck politisch zu begegnen ist. Denn eines ist klar: Ein massiver „Brain Drain“ vom Süden und Osten in das westliche Zentrum mag für theoretische Ökonomen akzeptabel sein, er birgt aber für die politische Praxis enormen Sprengstoff. Es wäre wohl das Ende des traums von einem gemeinsamen Weg der europäischen nationen in die Prosperität. Was ist zu tun, um dies zu verhindern? Oberste wachstumspolitische Priorität muss das Ziel haben, die industrielle Innovationskraft in den ländern der Peripherie zu stärken. nur so können die Krisenländer – zumindest langfristig – auf einen realwirtschaftlichen Wachstumspfad zurückkehren, der dann auch wieder Fortschritte bei der Konvergenz verspricht. Dies liegt natürlich in erster linie in der hand der jeweils nationalen Wirtschaftspolitik, aber die Europäische Union hat durchaus Spielraum, den Prozess nachhaltig zu fördern. Dies gilt insbesondere dann, wenn durch allfällige Preissteigerungen an den Weltagrarmärkten der EU-haushalt insgesamt entlastet wird. Dabei gehört das gesamte Instrumentarium der regionalen Förderung der EU auf den Prüfstand. Es bedarf einer Verlagerung der Schwerpunkte – von konsumnahen Förderprogrammen hin zu regional-, wissenschafts- und bildungspolitischen Initiativen, die geeignet sind, neue Schwerpunkte der Wissensbildung in der Peripherie entstehen zu lassen. Es geht dabei, ähnlich wie in Ostdeutschland um eine art moderne wachstumsorientierte Industriepolitik: nicht branchenspezifisch, sondern innovationsorientiert; nicht „picking the winners“, sondern „paving the ground for winners“. all dies wird Zeit brauchen und Geld kosten. Denn es geht ja letztlich um das Schaffen jener Bedingungen für industrielle Qualitätsproduktion, die in ländern wie Deutschland, Österreich oder der Schweiz seit dem späten 19. Jahrhundert entstanden sind und sich offenbar bewähren – von der ausbildung von Facharbeitern bis zum Ingenieurstudium an technischen hochschulen. In der EU wird dies vor allem auch Deutschland finanziell belasten. aber nur so wird ein Kontinent entstehen können, in dem die Wirtschaftskraft sich
hat die Deutsche Einheit die Soziale Marktwirtschaft verändert?
203
nicht allein auf das westliche Zentrum konzentriert, sondern große teile der EU im Süden und Osten einschließt. Genau dies bleibt ein großes politisches Ziel. Fazit: Die Regeneration der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland ist zu beachtlichen teilen gelungen. Die zentralen aufgaben, die nun anstehen, liegen auf europäischer Ebene.
WaS Kann DER Staat, WaS DaRF DIE WIRtSchaFt?1 Karen Horn Was kann der Staat, was darf die Wirtschaft? Das ist die Frage, die mir aufgegeben ist. Diese Formulierung enthält vielfältige Reibungsflächen und bietet griffige ansatzpunkte für notwendige begriffliche Klärungen. Zunächst möchte ich mich ein wenig dem Begriffspaar „Staat und Wirtschaft“ widmen, denn daraus ergeben sich schon Erkenntnisse für alles weitere. anschließend werde ich das Spektrum um die vorgegebenen und auch um andere Verben erweitern, um mich so noch näher der eigentlichen Frage zuzuwenden. Schließlich hätte man den titel auch andersherum konstruieren können: Was darf der Staat, was kann die Wirtschaft? Man hätte auch fragen können: Was darf der Staat, was darf die Wirtschaft? Oder: Was soll der Staat, was soll die Wirtschaft? Solche Korrekturen der Wortwahl wären sicher nicht ohne Bedeutung. Und die hier nun einmal vorgenommene Wahl der Verben sagt durchaus etwas aus, möchte ich vermuten, über unsere Perspektive, über unsere Wahrnehmungen und impliziten, gesellschaftlich über Jahrzehnte eingeübten Wertungen. lassen Sie mich zunächst also die beiden Subjekte unter die lupe nehmen, Staat und Wirtschaft. Mit diesen beiden Begriffen spannt sich schon ein ganzer theorieraum auf. Staat und Wirtschaft, das sind kollektive Entitäten, und es sind vor allem gesellschaftliche Sphären. Beginnen wir mit dem Staat; mit der Wirtschaft haben wir es nachher leichter. Wenn wir vom Staat sprechen, ist dies in diesem Zusammenhang natürlich kein rein geopolitischer Begriff, auch wenn der am einfachsten zu fassen wäre. aber was ist der Staat sonst? Kaum ein Begriff schillert mehr als der Begriff „Staat“. Das Gemeinwesen? Die Summe der Bürger? Die Politik? Fürst hans-adam II. von liechtenstein, als Regent einer, der es wissen muss, bedient uns mit einer Metapher: „Der moderne Staat ist ein sehr komplexes Gebilde, das sich aus vielen Systemen zusammensetzt, die aufeinander abgestimmt sein müssen. Man kann den Staat mit einem großen Verkehrsflugzeug vergleichen. Das Verkehrsflugzeug transportiert seine Passagiere durch den Raum; der Staat seine Passagiere – das Volk – durch die Zeit.“2 1 2
Dieser Essay basiert auf einem Vortrag im Rahmen des theodor-heuss-Kolloquiums 2010, gehalten am 30. Oktober 2010 in der liederhalle Stuttgart. füRst haNs-adam ii. VoN LiechteNsteiN: Der Staat im dritten Jahrtausend. Bern 2010, S. 101.
206
Karen horn
Das Volk ist also der Kunde: Das ist schon einmal ein ansatz. aber so richtig weit führt er auch nicht. „Ich wünschte, dass man einen Preis stiftet – nicht fünfhundert Franc, sondern eine Million mit Siegerkranz und Verdienstkreuz am Band für den, der eine gute, einfache und einsichtige Definition des Wortes gibt: der Staat“3 – so seufzte einst, im Jahre 1848, Frédéric Bastiat, der geniale, wortgewaltige, scharfzüngige, witzige und bis heute erfrischende französische Ökonom, Politiker und Publizist, in seinem bissigen Essay „Der Staat“. Für ihn war der Staat nur der Vermittler in der ausbeuterischen gegenseitigen Umverteilungsorgie gieriger Bürger. Der Staat war für ihn „die große Fiktion, nach der sich jedermann bemüht, auf Kosten jedermanns zu leben.“4 Bastiat führt aus: „heute wie ehemals will jeder gern ein bisschen mehr oder weniger von der arbeit anderer profitieren. Dieses Gefühl wagt man nicht offen zu zeigen, man verheimlicht es vor sich selbst. Was macht man also? Man verschafft sich einen Vermittler, man wendet sich an den Staat (…) [und] der Staat hat nur allzu viel neigung, dem teuflischen Rat zu folgen. Denn er besteht aus Ministern, aus Beamten, aus Menschen eben, die wie alle Menschen herzlich verlangen und eifrig nach jeder Gelegenheit greifen, ihren Reichtum und Einfluss zu vermehren. Der Staat versteht also ganz schnell den Vorteil, den er aus der Rolle ziehen kann, die ihm die Öffentlichkeit anvertraut. Er wird der Schiedsrichter sein, der herr aller Geschicke: Er wird viel nehmen, also wird ihm viel für sich bleiben, er wird die anzahl seiner Beamten vervielfachen, er wird den Umfang seiner Zuständigkeiten erweitern, er wird schließlich erdrückende ausmaße annehmen. aber bemerkenswert ist, wie erstaunlich blind die Öffentlichkeit dabei ist. (…) Was müssen wir von einem Volk denken, wo man nicht zu ahnen scheint, dass die gegenseitige Plünderung nicht weniger Plünderung ist, weil sie gegenseitig ist; dass sie nicht weniger verbrecherisch ist, weil sie sich gesetzmäßig und in aller Ordnung vollzieht; dass sie nichts zum öffentlichen Wohl beiträgt; dass sie es im Gegenteil um all das vermindert, was der verschwenderische Vermittler kostet, den wir Staat nennen?“5
Bastiats Philippika zeugt von einer politökonomischen hellsichtigkeit, die die Väter der Public choice theory erbleichen lassen müsste. Ein Jahrhundert vor ihnen war Bastiat glasklar, dass Politiker, amtsträger und Bürokraten Eigeninteressen verfolgen, die mit dem – wie auch immer zu definierenden – Gemeinwohl kollidieren können; er sah, dass der Staat so abstrakt ist, dass er schließlich den Grundsatz der Reziprozität außer Kraft setzt, der das Miteinander der Menschen im normalfall regiert, im nahbereich aufgrund von Wohlwollen und im Fernbereich aufgrund einer evolutionär herausgebildeten allgemeinen Vorstellung von Gerechtigkeit, wie adam Smith, der Moralphilosoph der schottischen aufklärung und Begründer der klassischen nationalökonomie, einst herausgearbeitet hatte. Die abstraktheit des Staates macht 3 4 5
fRédéRic Bastiat: Der Staat, in: maRiaNNe diem / cLaus diem: Der Staat – die große Fiktion. Ein claude-Frédéric-Bastiat-Brevier, thun 2001, S. 61. Ebd., S. 64. Ebd., S. 64f.
Was kann der Staat, was darf die Wirtschaft?
207
ihn – den Staat, nicht Smith – zum Komplizen bei der gegenseitigen Plünderung der Bürger. Bastiat denkt damit voraus und in den politischen alltag fort, was Franz Oppenheimer später über Wesen und Ursprung des Staates sagt. nach Oppenheimer ist der Staat nämlich eine Einrichtung, „die von einer siegreichen Menschengruppe einer besiegten Menschengruppe aufgezwungen wurde mit dem einzigen Zwecke, die herrschaft der ersten über die letzte zu regeln und gegen innere aufstände und äußere angriffe zu sichern.“6 Es ist in der tat so, dass wir in der Regel weniger die einzelnen akteure meinen, die den Staat ausmachen, wenn wir vom Staat sprechen, also im einzelnen die vielen Politiker, abgeordneten, Minister, Kanzler, Präsidenten, die vielen Bürokraten in den ausführenden Organen und Behörden. Mit dem Wort „Staat“ bezeichnen wir vielmehr einen Komplex der autorität, die hoheit, früher sagte man untertänig: die Obrigkeit. Zum Staat gehört eine politische Instanz, die für die Schaffung und Wahrung von Recht und öffentlicher Ordnung in der Gesellschaft zuständig ist und diese mit hilfe einer Verwaltung, dem Staatsapparat, auch durchsetzen kann. Unter dem Staat verstehen wir damit die Verkörperung der politischen Gewalt, den Setzer und hüter von gesellschaftlichen Regeln, den hoheitlichen Entscheider und Gestalter, in der Demokratie legitimiert durch das Volk, den Souverän. Um noch einmal auf Frédéric Bastiat zurückzukommen, der seinerzeit alles so trefflich formuliert hat: „Wir unsererseits denken, dass der Staat nichts anderes ist oder sein dürfte als die institutionalisierte Kollektivgewalt – nicht als ein Instrument aller Bürger zur gegenseitigen Unterdrückung und Plünderung – sondern im Gegenteil, um jedem das Seine zu garantieren, und Gerechtigkeit und Sicherheit herrschen zu lassen.“7
Beliebig sind sie dabei weiß Gott nicht, die Grundwerte, die der Staat zu sichern hat. Sie sind die Quintessenz der westlichen Zivilisation, wie sie sich historisch auf dem Weg der kulturellen Evolution herausgebildet haben, darunter Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Gerechtigkeit. Etwa hundert Jahre nach Bastiat forderte alexander Rüstow in einer beeindruckenden Rede vor dem Verein für Socialpolitik „einen starken Staat“ genau in diesem Sinne, und damit meinte er auch „einen Staat oberhalb der Wirtschaft, oberhalb der Interessen, da, wo er hingehört.“8 Er meinte den Staat als oberste, neutrale Instanz. Und doch kann man sich daran reiben, dass der Staat, wenn man so von ihm spricht, auch zu jenem abstrakten kollektiven Subjekt wird, das man ver6 7 8
fRaNz oPPeNheimeR: Der Staat. Eine soziologische Studie, Berlin 1929, S. 14. f. Bastiat, Staat (wie anm. 3), S. 71. aLexaNdeR RüstoW: Freie Wirtschaft, starker Staat. Rede gehalten auf der tagung des Vereins für Socialpolitik, Dresden 1932, in: fRaNz Boese (hg.): Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 187, Deutschland und die Weltkrise, München, S. 69.
208
Karen horn
mittels seiner vom Volke abgeleiteten Souveränität als eigenen konsistenten akteur imaginiert. Dabei läuft doch vielmehr auf dem vielstimmigen Markt der Meinungen und der argumente ein komplexer politischer Prozess ab, der von erheblichen, oftmals kaum zu überblickenden Eigengesetzlichkeiten geprägt ist. Der Fokus auf die hoheitliche Gewalt, der in unserem Diskurs üblicherweise mitschwingt, wenn wir das Wort vom Staat gebrauchen, zeigt, wie schwer es uns fällt, den Staat nicht gleichsam organisch zu sehen, sondern ihn in unserer Wahrnehmung individualistisch aufzudröseln und auf den einzelnen Bürger zurückzuführen. Das ist ein Ergebnis seines Konstruktionsprinzips, abgelöst von der bürgerlichen Reziprozität, ganz wie es Bastiat herausgearbeitet hat, und es ist nicht zuletzt wohl auch eine Folge jahrhundertelanger Prägungen, um nicht zu sagen schlechter Gewohnheiten. Dem Staat wird in einem demokratischen Gemeinwesen gern das „Primat der Politik“ zugeschrieben. Was nun wieder ist Politik? Der ausdruck Politika bezeichnete schon in den Stadtstaaten des antiken Griechenlands alle diejenigen tätigkeiten, Gegenstände und Fragestellungen, die das Gemeinwesen, die Polis betrafen, und das ist im Grunde auch noch heute in der Moderne so. Politik ist Regierungshandeln, Politik ist Ringen um die Macht im Staat, Politik ist Ringen mit den Inhalten, die bei der hoheitlichen Gestaltung des staatlichen Gemeinwesens von Belang sind. Dem Soziologen niklas luhmann ist die Bezeichnung von Politik als jenen „Komplex sozialer Prozesse“ zugeschrieben, „die speziell dazu dienen, das akzept administrativer (Sach-) Entscheidungen zu gewährleisten. Politik soll verantworten, legitimieren und die erforderliche Machtbasis für die Durchsetzung der sachlichen Verwaltungsentscheidungen liefern.“9 Der einstige Bürgermeister Berlins, der Sozialdemokrat Otto Suhr, brachte die Dinge deutlich knapper auf den Punkt: „Politik ist Kampf um die rechte Ordnung.“10 Die in der gängigen Floskel vom „Primat der Politik“ verborgene aussage ist eine gewissermaßen erbittert legitimatorische: Wenn das, was der demokratisch verfassten Gemeinschaft widerfährt, auf der Grundlage einer regulären, demokratisch legitimierten politischen Entscheidung zustande kommt, dann hat es damit schon seine Richtigkeit. Dass es ganz so einfach nicht ist, sieht man freilich schon an der sich hinziehenden auseinandersetzung um den neuen Stuttgarter Bahnhof, an der auseinandersetzung um „Stuttgart 21“. Wie der Staat seine Entscheidungen fällt, bevor er Bäume fällt, ist offenbar auch von Belang. Mit dem „Primat der Politik“ ist nur gemeint, dass alle herrschaft vom Volke ausgehen muss, dass die Gestaltung der gesellschaftlichen Ordnung in der hand des legitimen Souveräns zu liegen hat. Man sollte meinen, in der 9 Siehe z. B. thomas meyeR: Was ist Politik? Wiesbaden 2010, S. 38. 10 Zit. nach otto heiNRich V. d. gaBLeNtz: Einführung in die Politische Wissenschaft, Köln 1965, S. 14.
Was kann der Staat, was darf die Wirtschaft?
209
Demokratie sei dies eine Selbstverständlichkeit. In der modernen Diskussion hat das „Primat der Politik“ aber noch zwei weitere, kämpferische Konnotationen, beflügelt noch von der antikapitalistischen Systemdebatte im Gefolge jener Krise, die im Jahr 2007 auf den amerikanischen Immobilienmärkten begann, dann Stück für Stück auf die Finanzmärkte übergriff und 2008 mit dem Zusammenbruch der Bank lehman Brothers auch international richtig in Gang kam. Im Zuge dieser Krise wandten sich viele Kapitalismuskritiker wie zum Beispiel der – nun einmal systemtheoretisch geschulte und naheliegender Weise auch so argumentierende – Soziologe Dirk Baecker gegen den Kapitalismus als „Wirtschaftssystem“11, das die Menschen überfordere, ihr Verhalten korrumpiere und entmenschliche und das zudem auch noch krisenanfällig sei, weshalb am Ende besser der Staat die Zügel wieder in die hand nehme. als ob blutleere „Systeme“ plötzlich organisch würden und zu gewalttätigen lebewesen mutierten, als ob Menschen all ihres freien Willens verlustig gegangen wären und nun von abstrakten und düsteren Mächten zu irgendwelchen handlungen gezwungen würden… welch seltsame, finstere Überhöhung! Das eine Postulat, das sich hinter dem Ruf nach einem „Primat der Politik“ gern versteckt, ist die bewusste abgrenzung von einem angeblichen „Primat der Wirtschaft“. Die Wirtschaft, das ist in dem hier verhandelten Zusammenhang wieder eine Sphäre, eine gesellschaftliche Sphäre, die Sphäre der Unternehmen, die im wesentlichen gewinnorientiert sind und somit vornehmlich materielle Ziele verfolgen; die Sphäre aber auch aller anderen Wirtschaftssubjekte, die sich begegnen auf einer von der Privatrechtsordnung bereitgestellten und gestalteten Plattform, dem Markt. Die Wirtschaft, das sind ja wohlgemerkt nicht nur Unternehmen und Banken. Die Wirtschaft, das ist nicht nur das Großkapital und die hochfinanz. Wir alle sind wirtschaftliche akteure, die meisten kleine, aber bis auf die Größe unterscheidet uns nichts wesentlich von den großen Fischen. Wir alle bewegen uns auf Märkten, im Rahmen der Ordnung, mit der sich die Beiträge dieses Buches beschäftigen. Über ein fehlgeleitetes, faktisches Primat der Wirtschaft zu klagen, gehört zu den gängigen Verteidigungslinien gegen den neoliberalismus, wohlgemerkt gegen den neoliberalismus in seiner heute üblichen polemischen Verkürzung und Fokussierung auf liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung, verbunden mit dem Phänomen der immer weiter voran schreitenden Globalisierung. Diese Klage bündelt sich in der Behauptung, der Staat, die Politik, die demokratisch legitimierte Gewalt habe, ideologisch fehlgeleitet von neoliberalen Empfehlungen, das heft des handelns aus der hand gegeben und die Gestaltung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Realität 11 diRK BaecKeR: Die Firma ist eine Zumutung, in: Frankfurter allgemeine Zeitung, 11. 5. 2009. Wiederabgedruckt in: fRaNK schiRRmacheR / thomas stRoBL (hg.): Die Zukunft des Kapitalismus. Berlin 2010, S. 31–35.
210
Karen horn
dem Wildwuchs, dem chaos, oder schlimmer noch, den gierigen, gemeinwohlwidrigen Interessen der Wirtschaft ausgeliefert. So oder so ähnlich verläuft auch die hauptargumentation der Globalisierungsgegner, die unter dem schmerzlich so empfundenen Kontrollverlust der Regierungen erschauern, die ächzen unter dem Druck der hochreagiblen internationalen Märkte, unter der abwanderungsdrohung des scheuen Rehs, das da heißt hochmobiles Kapital. Wenn die Politik also nach Wahrnehmung der Kritiker die Gestaltungsaufgabe niederlegt, entweder weil sie „schief gewickelt“ ist oder weil der Druck der Märkte faktisch dazu zwingt, sich mit Eingriffen immer mehr zurück zu halten, dann sehen die Kritiker des Kapitalismus darin mitnichten eine sinnvolle Disziplinierungsleistung des Wettbewerbs, sondern vielmehr das Ende der demokratischen Selbstbestimmung der Völker. Der Bayreuther Soziologe Michael Zöller hat in seinem Beitrag zu der lesenswerten Serie „Die Zukunft des Kapitalismus“, die die Frankfurter allgemeine Zeitung im Jahr 2008 zur so genannten Systemdebatte auflegte, zwar seinerseits eine schlichte Frage gestellt: „haben wir denn im Kapitalismus gelebt?“12 Von einer völlig liberalisierten und deregulierten Wirtschaft konnte auch vor der Krise nicht die Rede sein, noch nicht einmal mit Blick auf das Finanzgewerbe. Von wegen „Primat der Wirtschaft“. Was es gab, das waren Fehlregulierungen, Fehlanreize, anreizinkompatibilitäten und Regulierungslücken aufgrund von technischen Innovationen. In der Politik wurde gehandelt, aber es wurden Fehler gemacht, und das aus vielen Gründen: naivität, Fehlanalysen, irreführende Ideologien, Einfluss von Partikularinteressen. Es ist hier jetzt nicht die Zeit und nicht der anlass, um den Weg in die globale Finanz- und Wirtschaftskrise noch einmal vollständig nachzuzeichnen. nur soviel hierzu: Der Kern dessen, was man erkennt, wenn man diesen Weg in die globale Finanz- und Wirtschaftskrise noch einmal nachvollzieht, ist, dass an ihrer Wurzel vor allem ein Steuerungsversagen des Staates, der Politik, der Gestaltungskräfte des Gemeinwesens stand. Das Problem war eine dysfunktionale ausformung des Ordnungsrahmens, eine üble Mischung von Fehlregulierungen, haftungsvergessenheit, Privilegienvergabe, einer hemmungslosen, anmaßenden, an Rechenhaftigkeit wenig interessierten Sozialpolitik und einer prinzipienlosen Geldpolitik – und all das war natürlich, bei lichte besehen, gewachsen auf dem Boden einer in der Politik latent immer vorhandenen Verlockung, die letztlich stärker, kürzerfristig gedacht und moralisch auch nicht weniger verwerflich ist als das viel gegeißelte Gewinnstreben und jede Orientierung an Shareholder Value in der Wirtschaft: die Wählerstimmenmaximierung; die Gier verantwortungsloser akteure auf dem politischen Markt. Das Versagen der Politik, die mit den Märkten der Wirt12 michaeL zöLLeR: haben wir denn im Kapitalismus gelebt?, in: Frankfurter allgemeine Zeitung, 3. 8. 2009. Wiederabgedruckt in: f. schiRRmacheR / th. stRoBL: Zukunft (wie anm. 11), S. 107–111.
Was kann der Staat, was darf die Wirtschaft?
211
schaft gespielt, sie manipuliert und verzerrt hat bis zur Entstellung, durchaus mit deren Einverständnis, lässt sich dabei auch nicht relativieren durch das nachfolgende, zu einem gut teil nur reaktive Fehlverhalten privater akteure. Und doch rührt man offenbar an ein tabu, wenn man hierüber spricht. Warum eigentlich? Es geht hier nicht um Schuldzuweisungen an einzelne, sondern um Korrekturen am System, und, wie wir seit der Erfindung des Public choice wissen, gibt es keinen Grund, die politische, die staatliche Sphäre von unseren Überlegungen in diesem Zusammenhang auszunehmen. Wie wichtig die Regelebene des Gemeinwesens ist, die konstitutionelle Ebene, betont auch Fürst hans-adam II. von liechtenstein in seinem bereits zitierten Buch: „Ist das Verkehrsflugzeug eine Fehlkonstruktion, die dazu neigt, dann und wann abzustürzen, so versucht man, die Konstruktionsmängel zu beheben und schiebt die Schuld nicht den Piloten oder Passagieren zu. Bei den Staaten neigt man dazu, die Schuld den Politikern in die Schuhe zu schieben oder dem Volk, das diese Politiker gewählt hat, anstatt Staatssysteme zu konstruieren, die möglichst sicher sind und, falls sie trotzdem abstürzen, den Passagieren das Überleben ermöglichen.“13
Das ist nicht nur Selbstschutz eines Regenten, der schon zwei Jahrzehnte in einer konstitutionellen Monarchie „am Ruder“ ist. Es ist auch, und vor allem, der Verweis darauf, dass an politischen Ordnungen immer weiter gefeilt werden muss, dass wir aus Fehlern der Vergangenheit lernen und unsere Erkenntnis konstruktiv nutzen sollten. Das entspricht auch im Wesentlichen dem ansatz und der Weisheit des nobelpreisträgers James M. Buchanan. Buchanan hat in seinem ganzen Werk Wert auf die Feststellung gelegt, dass Politikversagen nicht auf eigennützige Motive, sondern auf ungeeignete Beschränkungen politischen handelns zurückzuführen ist. Damit liegt der Schlüssel bei der politischen Verfassung. nur leider ist jeder, der darauf hinweist, dass es auf dem Weg in die Krise ein Steuerungsversagen des Staates, der Politik, der Gestaltungskräfte des Gemeinwesens gab, in der Regel schnell konfrontiert mit dem totschlag-Vorwurf, eine unergiebige Frontstellung entlang der linien Staat vs. Markt fortzuschreiben. Ich finde diese Frontstellung gar nicht so unergiebig, wenn es darum geht, Fehlentwicklungen zu diagnostizieren. Man muss sie schließlich auch verorten. Wenn man nun also nicht nur wie bisher Staat und Wirtschaft, sondern auch Staat und Markt voneinander abgrenzt, wovon sprechen wir dann? Wir sprechen von Plattformen, auf denen die Koordination des menschlichen Miteinanders stattfindet. Es griffe freilich zu kurz, wenn wir diese Plattformen nur als eine ökonomische (den Markt) und eine politische (den Staat) charakterisieren und voneinander abgrenzen wollten. Denn auch im Staat gibt es Markt und das, was Menschen auf dem Markt tun: austauschbeziehungen im Wettbewerb. Und auch auf dem Markt gibt es hierarchien, Regeln, Mehr13 h.-a. V. LiechteNsteiN: Staat (wie anm. 2), S. 101.
212
Karen horn
heitsbeschlüsse. Was Markt und Staat als Plattformen und damit als Erscheinungsformen menschlicher Koordinationsbemühungen unterscheidet, ist der dahinter liegende Impuls, der Modus, und im Ergebnis die Perspektive im Fluss der Zeit, der Unterschied zwischen Dynamik und Statik. Das hat zu tun mit der art und Weise, wie Entscheidungen gefällt werden. Im Markt, der durch die Privatrechtsordnung konstituiert wird, fallen Entscheidungen singulär und dezentral, auf der Ebene der einzelnen transaktion zwischen den einzelnen transaktionspartnern, freiwillig, zum beidseitigen Vorteil. Wenn es um einen schlichten Güterhandel geht, ist der Preis, zu dem die Ware über den ladentisch geht, ein spontanes Ergebnis. Über diesen und viele andere Preise werden Informationen produziert und verbreitet, und auch dies ist ein spontanes Ergebnis, das niemand im Vorhinein kennt oder simulieren kann. Dass die transaktionen auf dem Markt ablaufen können, setzt allerdings einen Rechtsrahmen voraus – die Sicherung von Eigentum, von Verträgen etc. Im Staat, in der Politik, wird über gesellschaftliche Zustände oder auch über den Rahmen, der darüber herrschen soll, mehrheitlich entschieden. Im Staat gibt es nicht ausschließlich freiwillige austauschbeziehungen zwischen den Bürgern oder zwischen Bürger und Regierung zum allseitigen Vorteil. hier gibt es stets auch Verlierer. außerdem werden hier unmittelbar Resultate gesetzt. Zwar hat die Politik zwei grundsätzlich verschiedene Register des handelns zur hand: die Ordnungspolitik und die Prozesspolitik. Die Ordnungspolitik, die nur den Rahmen setzt, sich aber der partikulären Eingriffe enthält, ist noch eher ergebnisoffen – auf gewisse Weise stellt sie selbst aber auch eine Setzung dar und keinen spontanen Prozess. hier herrscht herrschaft, und hier herrscht Statik. Was der Evolution verbleibt, wo sich noch Dynamik entfalten kann, das ist in der anpassung der Menschen an neue Zustände und Rahmenordnungen – und in der anpassung der Politik selbst hieran. Sowohl hinter dem Markt als auch dem Staat stecken freilich Menschen. Fehlbare Menschen. Wenn das Regelsystem Markt nicht das vollbringt, was es üblicherweise leisten kann, dann haben Menschen gefehlt und die Ordnung nicht so ausgestaltet, wie es nötig ist. an der Wurzel dysfunktionaler Märkte stehen immer Menschen und ihre Fehler – wir alle, je nach unserer Rolle, der einzelne akteur auf dem Markt, an seinem arbeitsplatz in einer Bank, in einem Industrieunternehmen, im Parlament oder sogar in einem Ministerium. Ursächlich verantwortlich für die Krise sind Menschen, nicht irgendetwas abstraktes wie „das System“. Damit eine Krise so groß werden kann, wie es zwischen 2008 und 2010 geschehen ist, reicht es nicht aus, dass einige wenige Menschen einen Fehler gemacht oder ihre Freiheit egoistisch missbraucht haben. Diese tatsache wiederum bedeutet aber nicht, dass „das System“ auf ganzer linie versagt und die Menschen korrumpiert habe, wie es Kurzdenker nun behaupten. Es muss
Was kann der Staat, was darf die Wirtschaft?
213
vielmehr schon eine autonome Mentalitätsentwicklung auf breiter Front in der Gesellschaft gegeben haben, die uns blind gemacht hat – die großen und kleinen akteure auf den Finanzmärkten, in den Regulierungsbehörden, in den Ministerien und auch in den Universitäten. Sich pauschal gegen „das System“ zu wenden, statt hier präzise nachzubohren, ist nichts als eine feige Verdrängungs- und Vernebelungsstrategie. Das andere Postulat, das sich hinter dem „Primat der Politik“ gern versteckt, ist eine Weiterung aus der abgrenzung vom angeblichen „Primat der Wirtschaft“. Wenn es darum geht, die hoheit der Politik wieder zurückzuerobern, wie es heißt, dann verspricht man sich zwar logischerweise auch etwas davon, den Gegenstandsbereich jener Entscheidungen, die überhaupt im politischen Prozess verhandelt werden können, mindestens prophylaktisch auszuweiten. Diese Forderung indes beruht auf einem grundlegenden Missverständnis über das Wesen und die legitimität der Demokratie, und sie führt auf gefährliche Weise in die Irre. Dass die herrschaft vom Volke ausgeht, heißt nicht, dass die mehrheitliche Entscheidung des Volkes in der direkten oder der repräsentativen Demokratie auf alles und jedes Zugriff hat beziehungsweise haben darf. Der österreichische Ökonom und Sozialphilosoph Friedrich august von hayek, der vor ziemlich genau 50 Jahren sein Opus Magnum „Die Verfassung der Freiheit“14 herausgebracht hat, grenzte sich von jenem naiven Glauben an die Demokratie, der heute zur Political correctness gehört, bewusst ab: Wo Kollektive mehrheitlich entscheiden, muss der Bereich, über den sie hierbei verfügen dürfen, durch verfassungsrechtliche Grenzen fest eingehegt sein, sonst ist die Freiheit des einzelnen gefährdet und es kommt zu akten der Willkür. Der Mensch benötigt eine Privatsphäre, er braucht Rechte, in die niemand eingreifen darf. Der Souverän darf nicht alles. Keine Macht darf absolut sein. hayek, inspiriert unter anderem von Benjamin constant und Voltaire, setzt deshalb vor allem auf die herrschaft des Rechts. Gleich, ob die herrschaft in händen eines einzelnen, weniger oder vieler liegt, immer bedarf die politische autorität einer Selbstbeschränkung durch das Recht, damit die persönlichen Freiheitsrechte gewahrt bleiben. Der Mensch braucht private Gärten, die er frei nach Voltaires berühmtem candide bebauen kann. Ich steige jetzt ein bisschen tiefer das Wesen des Staates ein. Der Freiburger Soziologe, Ordnungstheoretiker und Verfassungsökonom Viktor Vanberg sieht zwei grundsätzlich zu unterscheidende Ordnungsbereiche, auf die sich die erwähnten staatlichen Gestaltungsbemühungen beziehen können: den Bereich der Privatrechtsordnung einerseits und den Bereich der staatlichen Verbandsordnung andererseits15. Diese beiden Ordnungsbereiche intellektuell 14 fRiedRich august VoN hayeK: Die Verfassung der Freiheit. tübingen 1960. 15 Vgl. u. a. ViKtoR VaNBeRg: Markt und Staat in einer globalisierten Welt, in: ORDO 59 (2008), S. 3–29.
214
Karen horn
klar von einander zu differenzieren, auch wenn sie sich in der Realität natürlich überlappen, ist Voraussetzung dafür, dass die staatliche Ordnung gelingt – und dass konzeptionelle Unschärfen überwunden werden wie jene, die der Begriff der „Sozialen Marktwirtschaft“ widerspiegelt.16 „Soziale Marktwirtschaft“ – dieser Begriff, so sehr er uns über die Jahre ans herz gewachsen ist, ist weder Fisch noch Fleisch. Den Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ hat bekanntlich der Kölner Ökonom alfred Müller-armack erfunden, der spätere Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, und er hat ihn erstmals 1947 in einem wissenschaftlichen Werk verwendet – und ihn tatsächlich schon damals mit großen anfangslettern überhöht.17 Der name entfaltete eine ungeheuere Suggestivkraft, um nicht zu sagen Werbewirkung. Und so bürgerte er sich rasch ein, selbst ludwig Erhard übernahm ihn zähneknirschend. In Müller-armacks Sozialer Marktwirtschaft gehen das Soziale und der Markt eine Symbiose ein. Diese Symbiose sorgt in der Gesellschaft für ausgleich und stiftet Frieden. Müllerarmack nannte den Begriff der Sozialen Marktwirtschaft deshalb auch eine „irenische“, eine friedensstiftende Formel. Sinn der Sache war es, „das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem Prinzip des sozialen ausgleichs zu verbinden“18, wie er es in der schönen altmodischen Sprache der damaligen Zeit formulierte. Es ging darum, die produktiven, dynamischen Kräfte in der Wirtschaft freizusetzen, das heißt „auf der Basis der Wettbewerbswirtschaft die freie Initiative mit einem gerade durch die marktwirtschaftliche leistung gesicherten sozialen Fortschritt zu verbinden.“19 Und das harmonisch, nicht etwa durch einen triumph des einen über das andere. Was das genau heißen sollte, blieb freilich unscharf. Eine leerformel ist es deshalb noch nicht. Müller-armacks Konzept sollte „atmen“ und sich stetig fortentwickeln können. In der Praxis hat es vor allem dadurch neben vielen wahren auch mitunter falsche Freunde angezogen. Das ist gar kein Wunder. Das Soziale und die Marktwirtschaft sind zwei verschiedene Ebenen, die man zumindest konzeptionell scharf voneinander trennen muss, betont Viktor Vanberg, an den ich mich im Folgenden anlehne. Die relevante Unterscheidung ist wie gesagt jene zwischen dem Bereich der Privatrechtsordnung einerseits und den Bereich der staatlichen Verbandsordnung andererseits. „Die Privatrechtsordnung gibt den Regelrahmen ab, in dem Menschen die handlungsrechte ausüben, die in ihrer Privatautonomie liegen, und in dem sie ihr handeln untereinander auf der Grundlage freiwilliger Ver16 Vgl. KaReN hoRN: Die Soziale Marktwirtschaft, Frankfurt a. M. 2010. 17 aLfRed müLLeR-aRmacK: Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, hamburg 1947. Vgl. auch deRs.: Unser Jahrhundert der Ordnungsexperimente, in: deRs.: Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft, Bern/Stuttgart ²1981, S. 150f. 18 aLfRed müLLeR-aRmacK: Soziale Marktwirtschaft, Bern 1956, S. 390. 19 aLfRed müLLeR-aRmacK: Wirtschaftsordnung und Wirtschaftpolitik, Bern, 1976, S. 245.
Was kann der Staat, was darf die Wirtschaft?
215
einbarungen koordinieren.“20 auf den Rechtswissenschaftler Franz Böhm, neben Walter Eucken einen der führenden Köpfe der Freiburger Schule, geht die Erkenntnis zurück, dass die Marktwirtschaft jene wirtschaftliche Ordnung ist, die sich im Rahmen einer Privatrechtsordnung als ausfluss freiwilligen austauschs und freiwilliger Kooperation zwischen ihre Privatautonomie wahrnehmenden akteuren herausbildet. In der Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft begegnen die Bürger einander als autonome Rechtssubjekte. Das ist aber nur die eine Sphäre des Gemeinwesens, und hier ist der Staat der Regelsetzer, zuständig für die Setzung, Durchsetzung und Pflege der Privatrechtsordnung. Die andere Sphäre ist jene, in der sich die Menschen als Bürger im staatlichen Verband begegnen und in einer art Mitgliedschaftsbeziehung zueinander stehen. Sie sind Mitglieder, in den Worten von John Rawls, in einem „Unternehmen der Zusammenarbeit zum wechselseitigen Vorteil“, in einer „cooperative venture for mutual advantage“21. Vanberg vergleicht das demokratische Gemeinwesen gern mit einem genossenschaftlichen, mitgliederbestimmten Verband, mit einer Bürgergenossenschaft. hier versorgen sich die Bürger mit leistungen, an denen sie ein gemeinsames Interesse haben, und die sich durch staatliche Organisation besser erbringen lassen als in privatrechtlichen Vertragsformen. Dazu gehören auch „Solidarleistungen, die mit der Besonderheit des Staates als Intergenerationenverband zusammenhängen“22 – also der gesamte Komplex der sozialen Sicherung. Die Bedeutung, die den Unterschieden zwischen diesen beiden Ordnungsbereichen für die Frage des Maßstabes zukommt, an dem die tätigkeit des Staates zu messen ist, hat nicht zuletzt hayek mit seiner Unterscheidung zweier arten von Ordnung deutlich gemacht, der spontanen Ordnung einerseits und der korporativen Ordnung organisierter Zusammenarbeit andererseits. Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft sind spontane Ordnungen, deren Koordinationsleistung auf allgemeinen Verhaltensregeln beruht, die den einzelnen akteuren, also auch den Unternehmen in der Wirtschaft, äußere Beschränkungen auferlegen, ihnen aber ansonsten Wahlfreiheit belassen. hierum geht es in der Ordnungspolitik. hier fungiert der Staat als Instanz, die Regeln setzt und durchsetzt, denen alle unterworfen sind, die sich innerhalb seiner territorialen Grenzen aufhalten oder das betreffende hoheitsgebiet für ihre Zwecke nutzen wollen, seien es die eigenen Bürger in der ausübung ihrer Privatautonomie, seien es nicht-Bürger. Den Staat in dieser Funktion kann man mit Vanberg als eine art Standortunternehmen bezeichnen, als ein Unternehmen, dass einen Standort mit bestimmten Qualitäten – insbesondere den in 20 ViKtoR VaNBeRg: Ein Mängelbegriff, in: Katja geNtiNetta / KaReN hoRN (hg.): abschied von der sozialen Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 2009, S. 30. 21 johN RaWLs: a theory of Justice, Oxford 1971, S. 4. 22 V. VaNBeRg, Mängelbegriff (wie anm. 20), S. 34.
216
Karen horn
ihm geltenden Regelungen – Standortnutzern zur Verfügung stellt, und für dieses nutzungsrecht einen Beitrag erheben kann, zu deutsch: Steuern. Die Ordnungsprobleme, die in beiden Bereichen, der Privatrechtsordnung und der staatlichen Verbandsordnung, jeweils zu lösen sind, sind nicht dieselben. Die Marktwirtschaft ist das Ergebnis der Privatrechtsordnung, die von dem Staat in seiner Eigenschaft als Regelsetzer – Vanberg zieht sogar die Parallele zu einem Standortunternehmen – gesetzt und gepflegt wird, und die Menschen sind deren nutzer. hier ist Ordnungspolitik gefragt. Mehr noch: hier gilt ein klares Primat der Ordnungspolitik. Der Staat ist vor allem für die Setzung, Erhaltung und Pflege des Ordnungsrahmens zuständig, nicht zuletzt mit Blick auf die Wirtschaft. Der Eingriffe in den spontanen ablauf des Wirtschaftsprozesses, der so genannten Prozesspolitik, sollte er sich weitgehend enthalten. Sonst würde er den Preismechanismus stören und die segensreichen, Wohlstand und Wissen schaffenden Wirkungen der Wettbewerbsordnung unterlaufen. auf der anderen Seite geht es um das Soziale. Das Soziale ist Ziel und Ergebnis der Interaktion der Bürger als Mitglieder in einer Bürgergenossenschaft, die ihrerseits einer Verbandsordnung unterliegt, an die die Bürger in der Verfolgung eines gemeinsamen Zwecks Rechte delegieren. Was hier zustande kommt, ist zumindest manchmal Prozesspolitik. Ordnungspolitik, Prozesspolitik, was ist damit gemeint? Das Begriffspaar „Ordnungspolitik“ und „Prozesspolitik“ hat sich aus der Zeit der Freiburger Schule bis heute erhalten – allerdings nur im deutschen Sprachraum. Dabei scheint „Ordnungspolitik“ eingängiger und weniger missverständlich zu sein als „Prozesspolitik“; der letztere Begriff ist heute weniger geläufig. Ordnungspolitik hat, wie es der name schon sagt, mit dem Ordnungsrahmen zu tun. Mit Blick auf die Wirtschaft sucht sie die Rahmenbedingungen richtig zu setzen, sie zu erhalten, sie an immer neue Entwicklungen anzupassen und zu verbessern. Sie zielt auf den großen Zusammenhang. Prozesspolitik hingegen fußt nicht so sehr auf der Vorstellung einer atmenden Ordnung, sondern bedeutet gezielte, engmaschige Steuerung. Prozesspolitik besteht aus Eingriffen in den Marktprozess; sie verfolgt das Ziel, bestimmte Ergebnisse direkt herbeizuführen. Ordnungspolitik setzt an den allgemeinen Spielregeln an, Prozesspolitik steuert stattdessen unmittelbar die politisch für erwünscht erklärten Spielergebnisse an. Ordnungspolitik arbeitet mit universellen Gesetzen, Prozesspolitik regelt Einzelfälle. Ordnungspolitik ist grundsätzlich zurückhaltend, Prozesspolitik verfällt fast zwangsläufig einer anmaßung von Wissen. Ordnungspolitik ist langfristig orientiert, Prozesspolitik operiert nach aller Erfahrung eher kurzfristig. Gute Ordnungspolitik dient somit dem Gemeinwohl, Prozesspolitik läuft leicht Gefahr, von Sonderinteressen vereinnahmt zu werden. Ein wesentlicher Grund für das Primat der Ordnungspolitik liegt schlicht und ergreifend in den begrenzten Fähigkeiten dieser Entität und dieser autorität, die wir Staat nennen. Krisenzeiten, in denen die Regierungen das heft
Was kann der Staat, was darf die Wirtschaft?
217
des handelns wieder fest ergreifen, mögen von dieser tatsache ablenken. Dabei werden wir in Krisenzeiten noch mehr als sonst auf die ernüchternde und gern verdrängte tatsache zurückgeworfen, dass jeder Einzelne immer nur über recht wenig Wissen verfügt, so schlau er auch sein mag. Jedermann weiß zwar einigermaßen über sich selbst Bescheid, über das, was er will, und das, was er kann – aber das war es dann auch schon. Wenn die Menschen freiwillig, spontan und von außen nicht künstlich ferngesteuert miteinander handel treiben und Verträge schließen, dann bringen sie darin aber ihr privates, „lokales“ Wissen ein, um mit hayek zu sprechen23. So legen die Menschen in ihrer Interaktion miteinander ihr jeweiliges Wissen zusammen. Und auf diese Weise entsteht dann sogar neues Wissen. hayek nennt das Wissensteilung, analog zum herkömmlichen Begriff der produktiven arbeitsteilung. Das neue gesellschaftliche Wissen entsteht in diesem Prozess aber nur, wenn keine Instanz von außen vorgreift, wenn die spontane Ordnung sich entfalten und wirken kann. Die Volksvertreter und Mandatsträger der Politik können und dürfen zwar selbstverständlich eigene Vorstellungen darüber haben, wie Wirtschaft und Gesellschaft aussehen sollten. aber sie können nicht wissen, was für die aus lauter Individuen zusammengesetzte Gesellschaft aus deren eigener Sicht gut und richtig ist. Das ist etwas, was die Menschen in ihrem Miteinander immer wieder aufs neue selbst entdecken müssen. Sie müssen es mit sich geschehen lassen. Dafür sind wettbewerbliche Prozesse erforderlich, die so offen sind, dass die leute auf ganz alltägliche Weise herausfinden können, wie sie leben wollen und was gut für sie ist. Das ist es, was am Ende das Gemeinwohl ermöglicht und ausmacht – und nicht die gezählte Mehrheitsmeinung, die sich aus den zunehmend beliebten Umfragen ergibt und an der sich die Politiker mangels eigener Überzeugungen so gern orientieren. Demoskopische analysen sind immer nur Momentaufnahmen, und außerdem haben Mehrheitsmeinungen mit den Wünschen des Individuums nun einmal nur sehr wenig zu tun. Um die Offenheit der gesellschaftlichen Prozesse zu sichern, sollte sich der Staat also auf Ordnungspolitik beschränken. Er sollte mit hilfe von allgemeinen Regeln die Bedingungen dafür schaffen, dass eine solche Selbstfindung – hayek sprach von einer „spontanen Ordnung“ – möglichst frei und offen ablaufen kann. So entsteht dann ein nicht vorhersagbares soziales Erfahrungswissen. Wenn die Politik diese spontane Koordination aber verstopft, indem sie der Gesellschaft im Wege der Prozesspolitik die Endergebnisse diktiert und den Bürgern die Vielfalt nimmt, dann nimmt sie den Menschen und der Gesellschaft die Fähigkeit, sich immer wieder selbst zu erfinden.
23 fRiedRich august VoN hayeK: the Use of Knowledge in Society, in: american Economic Review 35 (1945), S. 519–30.
218
Karen horn
Wie schädlich eine politische „anmaßung von Wissen“ ist, die auf die spontanen Ergebnisse des Marktes verzichtet und die Menschen ohne Verluste bevormunden zu können glaubt, hat Friedrich august von hayek mehrfach betont. Besonders prägnant in diesem Zusammenhang ist hayeks Rede, die er im Jahr 1974 in Stockholm hielt, als er dort den Wirtschafts-nobelpreis verliehen bekam.24 hayek ermahnte dort auch seine Kollegen, die Ökonomen, zur Bescheidenheit – ebenso wie die Politik, die sich nur allzu gern auf deren Berechnungen und Empfehlungen verlasse. Was bedeutet nun die Vanbergʼsche Unterscheidung der zwei Sphären staatlicher Ordnung? Sie macht uns das leben ein bisschen schwerer. Wir können uns nicht länger auf den Standpunkt stellen, wie man das als alter neoliberaler gern tut, der Staat sei allein für die Regeln zuständig, nur Ordnungspolitik sei zulässig. Es gibt auch noch etwas neben dieser Sphäre. auch Solidarität will im Gemeinwesen organisiert und institutionalisiert sein. Das ahnten die Väter der Sozialen Marktwirtschaft, nur unterschieden sie hier noch nicht so sauber wie heute Viktor Vanberg, nach dem man das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft in dem Sinne interpretieren kann, dass der Staat in seiner Rolle als Standortunternehmen für die Pflege der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung zuständig ist, und dass er in seiner Rolle als Gemeinschaftsunternehmen der Bürger ein solidarisches Unterstützungssystem organisiert, durch das sich die Bürger wechselseitig gegen grundlegende Einkommensunsicherheiten und lebensrisiken absichern. Die Väter der Sozialen Marktwirtschaft ahnten vielleicht auch, dass dieses nebeneinander oder Miteinander schwierig werden könnte, weil sich beide Sphären überlappen, weil die eine auf die andere wirkt. Das dürfte der Grund sein, warum alfred Müller-armack meinte, dass das Soziale und die Marktwirtschaft einander nicht übertrumpfen oder korrigieren, sondern einander durchdringen sollten. Die Bürgergenossenschaft kann in ihrer Sphäre zu Regeln gelangen, die in der Sphäre der Privatrechtsgesellschaft dysfunktional, ja schädlich sind, was im Endergebnis beiden Sphären schadet – und zwar genau deshalb, weil die Regelkreise zusammenhängen. Walter Eucken, der führende Kopf der Freiburger Schule, hat hierfür das Wort von der „Interdependenz der Ordnungen“ geprägt. Weil die Väter der Sozialen Marktwirtschaft diesen Zusammenhang erkannten, bestanden sie auf Formulierungen wie jener von alfred Müller-armack, dass Staatseingriffe „den sozialen Zweck sichern (sollten), ohne störend in die Marktapparatur einzugreifen“25. Es steht auf einem anderen Blatt, dass derlei leichter gesagt ist als getan. Was soll der Staat? Was darf der Staat? Was kann der Staat? Was ist seine aufgabe, was sind seine legitimitätsgrenzen, was sind die Grenzen seiner 24 fRiedRich august VoN hayeK: the Pretence of Knowledge, unter: http://nobelprize.org/ nobel_prizes/economics/laureates/1974/hayek-lecture.html (2.9.2011). 25 a. müLLeR-aRmacK, Marktwirtschaft (wie anm. 18), S. 246.
Was kann der Staat, was darf die Wirtschaft?
219
Fähigkeit? Das ist wohl die richtige Reihenfolge und Umschreibung, in der diese Fragen aufzureihen und zu beantworten sind. Was also soll der Staat? Mit Frédéric Bastiat sehe ich den Staat als eine „institutionalisierte Kollektivgewalt“, mit der aufgabe, dem Sollen also, „jedem das Seine zu garantieren, und Gerechtigkeit und Sicherheit herrschen zu lassen.“26 Wilhelm von humboldt wiederum stellte in seinen „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Staatstätigkeit zu bestimmen“ genau diese Frage: „Zu welchem Zweck [soll] die ganze Staatseinrichtung hinarbeiten und welche Schranken [soll] sie ihrer Wirksamkeit setzen?“27 Für ihn war es das oberste Ziel des Staats, die höchste Bildung der individuellen menschlichen Kräfte zu einem Ganzen zu ermöglichen. Grundlage dieser Forderung war sein humanistisches Ideal, das unter liberalen übrigens ziemlich umstritten ist, weil es dem Menschen die Wahl seiner eigenen Ziele und Zwecke nicht offen lässt, sondern einen Zweck vorschreibt: „Der wahre Zweck des Menschen (…), welche die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt, ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.“28 auf Grundlage dieser Prämisse verlangte humboldt Freiheit und Vielfalt. Und die wichtigsten aufgaben des Staates sind demnach die Gewährung eines höchstmaßes an individueller Freiheit für die Bürger sowie die Erhaltung der inneren und äußeren Sicherheit. In der Sphäre der Privatrechtsgesellschaft soll der Staat also Regelsetzer und hüter einer Verfassung der Freiheit, der spontanen Ordnung sein, in der Sphäre der Verbandsordnung soll der Staat der hüter von materieller Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Bürgersinn sein – was auch immer den Bürgern in ihrer Eigenschaft als Mitglieder der Bürgergenossenschaft Staat und als Stimmbürger in der Demokratie wichtig ist. Die Kunst besteht darin, im alltag die beiden Sphären in ein glückliches Miteinander zu bringen und dafür zu sorgen, dass nicht das eine das andere unterläuft. Man muss also nicht so streng und so einseitig sein wie humboldt: „Der Staat enthalte sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger und gehe keinen Schritt weiter, als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst und gegen auswärtige Feinde notwendig ist; zu keinem andren Endzwecke beschränke er ihre Freiheit.“29 Bekanntlich fiel ja auch humboldt selbst seinerzeit von dieser seiner Überzeugung ab, und zwar spätestens in dem Moment, in dem er als preußischer Minister die hoheit über das Bildungswesen bekam. Was aber passiert, wenn dieser Balanceakt zwischen den ansprüchen von Privatrechtsordnung und Bürgergenossenschaft misslingt, das wusste eben Bastiat: Der Staat wird bekanntlich, um es noch einmal zu zitieren, zu der „großen Fiktion, nach der 26 f. Bastiat, Staat (wie anm. 3), S. 71. 27 WiLheLm VoN humBoLdt: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Stuttgart 1991 (erstmals 1792), S. 13. 28 Ebd., S. 22. 29 Ebd., S. 52.
220
Karen horn
sich jedermann bemüht, auf Kosten jedermanns zu leben.“30 hieraus ergibt sich, was der Staat nicht darf. Der Staat, der das soll, was wir eben beschrieben haben, der darf sich selbst und seine ureigene aufgabe nicht konterkarieren, indem er Freiheitsrechte unterdrückt, die Vielfalt der lebensentwürfe schmälert, die spontane Ordnung und ihre evolutionäre Kraft zur Generierung von neuem gesellschaftlichem Wissen ausschaltet. Er darf die Menschen nicht manipulieren oder in Versuchung führen, und er soll nicht gaukeln. Um hierfür einen Kompass zu haben, haben die ordoliberalen Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft die bereits angeführte begriffliche trennung von Ordnungspolitik und Prozesspolitik erfunden. Wie aktuell das ist, sieht man, wenn man sich vor augen führt, wie Menschen in amerika mit einer allzu lockeren Geldpolitik und entsprechenden sozialpolitischen Programmen zum Kauf von Eigenheimen verlockt wurden, und wie landesbanken jenseits ihres auftrags und ihrer Kompetenz an den Finanzmärkten um immer höhere Rendite „gezockt“ haben. noch hilfreicher ist gedanklich aber vielleicht die Struktur, die sich aus den arbeiten des nobelpreisträgers James M. Buchanan ergibt. Ähnlich wie hayek geht es Buchanan vor allem um das Regelsystem, also um die Ordnung, um die Verfassung.31 Um eine Verfassung der Freiheit. Ihm geht es um die Begründung des Staates und seiner angemessenen Funktionen aus den Interessen der Bürger. Dem methodologischen Individualismus der Buchananschen analyse entspricht sein normativer Individualismus und damit das Kriterium der freiwilligen Zustimmung der Betroffenen. Politik ist vor allem dann konsensfähig und legitimiert, wenn es nicht um spezifische Spielzüge geht, also um prozesspolitische Eingriffe, sondern um grundlegende Spielregeln und deren neutrale Durchsetzung, also um Ordnungspolitik. Grundprinzipien sind mithin: nicht-Diskriminierung oder auch allgemeinheit, Generalität beziehungsweise Universalisierbarkeit der Regeln; rückblickend zumindest potentieller Konsens aller Beteiligten. Selbst eine solche kontrakttheoretische Konstruktion ist inhaltlich nicht beliebig – auch hier landet man, wie schon gesagt, letztlich bei Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit. Diese Prinzipien bestimmen die Grenzen der legitimität staatlichen handelns. Was nun aber kann der Staat? Der Staat kann alles, und leider auch mehr als das, was er darf. Er hat das Gewaltmonopol. nur eines kann er nicht, und insofern darf man auch sagen, dass er vielleicht insgesamt doch weniger kann, als er darf: Er kann nicht Fünfe gerade sein lassen. Und das ist auch gut so, das hält den Staat und seinen Gestaltungsanspruch zumindest potentiell in Schach, das heißt im Rahmen des Möglichen und des Vernünftigen. auch der Staat 30 f. Bastiat, Staat (wie anm. 3), S. 64. 31 Vgl. KaReN hoRN: Roads to Wisdom, cheltenham 2009, S. 85–90.
Was kann der Staat, was darf die Wirtschaft?
221
kann nicht von vornherein verlorene Kämpfe doch noch erfolgreich für sich entscheiden. Das kann niemand. Ich kann mir vornehmen, die Sonne heute abend nicht untergehen zu lassen, es wird mir nicht gelingen. Die Bürger können sich als Mitglieder der Bürgergenossenschaft vornehmen, dafür sorgen zu wollen, dass ihr See sauber bleibt, doch wenn der Oberlauf des in den See einmündenden Flusses unter der hoheit eines anderen Staates steht, dem das gleichgültig ist, dann kann dies verlorene liebesmüh sein. Ein wahrhaft tragisches Beispiel hierfür ist der allmählich austrocknende, versalzende und verschwindende aral-See. Und das Klima insgesamt ist, je nach Dramatik, die man der Sache verleihen will, auch ein Beispiel. Und, vielleicht noch einschlägiger: Wir können uns auch den Märkten nicht entgegenstemmen. Man denke an den Fall Griechenland: Wer eine solche haushaltspolitik hinlegt und die Öffentlichkeit nach Strich und Faden betrügt, der muss sich über Sanktionen in Form von astronomischen Renditezuschlägen nicht wundern, und er hat sie auch verdient. Wenn sich die Politik dem entgegenstemmen will, wird das entsprechend teuer – und so ist es ja auch gekommen. Die Geschichte ist auch noch nicht ausgestanden. Wir können nun auch unsere europäischen Finanzmärkte regulieren, wie wir wollen, wenn der Rest der Welt oder zumindest eine kritische Masse nicht mitzieht, werden wir nur Kapitalanleger verlieren. als Deutschland leerverkäufe verbot, was sowieso ein nicht-sachgerechter Unsinn war, lachte man sich in der londoner city ins Fäustchen. In der Globalisierung verändert man mit alleingängen gar nichts, man schadet sich nur selbst. In der bestechenden Vanbergʼschen logik zwingt uns diese tatsache, dass wir nicht allein sind auf der Welt, die Globalisierung, die Funktionen des Staates als Gemeinschaftsunternehmen der Bürger und als Standortunternehmen in Zukunft nicht nur konzeptionell, sondern auch im politischen handeln und in dessen Kommunikation deutlicher voneinander zu trennen. Denn in einer Welt fast ungehinderter Mobilität kommt die Unterscheidung zwischen den beiden Funktionen des Staates zur vollen praktischen Entfaltung. hier können Menschen zum einen frei darüber entscheiden, welchem politischen Gemeinschaftsunternehmen sie als Mitglied angehören möchten, und sie können zum anderen ebenso frei entscheiden, in welchem staatlichen hoheitsgebiet sie mit welchen ihrer wirtschaftlichen Ressourcen tätig werden wollen. Beide Entscheidungen treffen sie in abwägung der damit jeweils verbundenen Kosten und nutzen; und das Ergebnis muss nicht dasselbe sein. Was heißt das für den Staat? Man sollte beispielsweise auf den Versuch verzichten, Standortnutzer mit den Kosten von leistungen zu belasten, die allein Bürgern als Mitgliedern des Gemeinwesens Vorteile bringen, aber nicht dazu beitragen, die attraktivität des Standorts für dessen nutzer zu erhöhen.
222
Karen horn „Der Standortwettbewerb schränkt keineswegs die Mitglieder einer Bürgergenossenschaft in ihren Möglichkeiten ein, sich mit den öffentlichen leistungen und solidarischen absicherungen zu versorgen, die sie gemeinschaftlich zu finanzieren bereit sind. Die wettbewerblichen Zwänge, die ihnen die höhere Mobilität der Standortnutzer in einer globalisierten Welt auferlegt, schränken lediglich ihre Möglichkeiten ein, die Kosten solcher Vorhaben Dritten aufzuerlegen, die daraus keine Vorteile ziehen können. anders gesagt, der Standortwettbewerb zwingt zur Kostenwahrheit in der Finanzierung der leistungen, die das Gemeinschaftsunternehmen Staat für seine Bürger bereitstellt, und er zerstört die Illusion, dass man Standortnutzer zur Finanzierung dieser leistungen über das Maß hinaus heranziehen kann, in dem sie daraus Vorteile ziehen.“32
Das klingt meines Erachtens nach größerer Rationalität des staatlichen handelns, nach größerer Effizienz und größerer Gerechtigkeit. natürlich wird es dann aber so sein, dass der Staat bestimmte Dinge nicht mehr kann – einfach weil der Preis zu hoch ist, die Sanktion der mobilen Standortnutzer in Form von abwanderung zu drastisch. Das ist es, um auf den zweiten teil der mir gestellten Frage zu kommen, was die Wirtschaft kann. Die Wirtschaft zeigt mit ihren Reaktionen untrüglich an, was vom Standort zu halten ist. Diesen Wahrheiten muss man sich dann in der Bürgergesellschaft auch stellen, statt wie bisher gern die augen davor zu verschließen. Was aber darf nun die Wirtschaft? Diese antwort fällt leicht, und ich kann mich hier auch kurz fassen. Die Wirtschaft darf alles, was nicht verboten ist. Wie jeder akteur alles darf, was von der Rahmenordnung toleriert wird, was ihm das rechtsstaatlich und demokratisch verfasste Kollektiv nicht verboten hat. Die Wirtschaft darf, wie jeder akteur, freiwillige Verträge abschließen im Rahmen des Rechts, und sie darf ihren materiellen Vorteil verfolgen. „the business of business is business“, wie es alfred P. Sloan (1875–1966), der langjährige President und chairman von General Motors einmal formulierte. Sie darf auch astronomisch hohe Managerlöhne zahlen, um kurz noch eine der beliebtesten Säue durchs Dorf zu jagen. Ob das klug ist, ist eine andere Frage. Was aber, wenn der Wirtschaft die gegebene Ordnung nicht passt? Wenn sie ihren Zwecken zuwiderläuft? Es gibt eigentlich nur drei logische Möglichkeiten, die sich hieraus ergeben. Entweder: Die Wirtschaft, also die Unternehmen oder auch andere Wirtschaftssubjekte, also auch wir, wir bemühen uns, die Schlupflöcher in der Ordnung zu finden und zu nutzen, gerade so wie jeder Bürger, der viel Zeit und Mühe darauf verwendet, seine Steuererklärung so auszufüllen, dass er zwar im Rahmen des Rechts bleibt, seine Steuerlast aber minimiert. Oder wie die Banken, die bestehenden Regulierungen dadurch ausweichen, dass sie Produkte schneidern, die den herkömmlichen Zweck erreichen, von der Regulierung aber nicht erfasst werden. Die zweite Möglichkeit: Wir brechen die Regeln. Wie ein Steuerhinterzieher. Oder wie Bernard Madoff. Oder auch: Wir bringen uns in den politischen Prozess ein, um die 32 V. VaNBeRg, Markt (wie anm. 14), S. 23.
Was kann der Staat, was darf die Wirtschaft?
223
Regeln nach unseren Vorstellungen zu ändern. In Bezug auf alle drei Optionen fragt sich: Dürfen wir das? Darf die Wirtschaft das? Das „Dürfen“, das jetzt zum tragen kommt, ist kein juristisches. Sondern ein moralisches, und es ist wie im Fall des „Staates“ aufs Engste verbunden mit dem „Sollen“. Erstens: Schlupflöcher zu suchen, ohne aus der legalität zu fallen, ist ein korrosives Verhalten. Es macht die jeweilige Regelung, um die es geht, weniger effektiv. Wie James M. Buchanan und Geoffrey Brennan in ihrem Buch „the Power to tax“33 betont haben, ist das aber genau richtig: Wenn die Staatsgewalt auf bürgerliche Resistenzen stößt, verfällt sie nicht so leicht in den trott, die wahren Interessen des Bürgers zum missachten. Wer Schlupflöcher sucht und nutzt, hält die Staatsgewalt in Schach und sichert die individuelle Freiheit. Dass die Regierung, wie im Fall der Regulierung der Finanzmärkte, den kreativen akteuren dabei immer hinterherläuft und niemals vollständig effizient proaktiv handeln kann, mag uns ärgerlich erscheinen. Doch wenn es anders wäre, befänden wir uns im totalitarismus. Zweitens: In einer legitimen, rechtsstaatlichen Ordnung ist es illegal, gesetzliche Regeln zu brechen. Regelverstoß wird geahndet. Man muss kein Mitleid mit Steuerhinterziehern haben, die auffliegen und büßen müssen, wenn man einmal von den mitunter höchst zweifelhaften Methoden zur Beschaffung der hierfür nötigen Informationen absieht. Um Friedrich august von hayek zu zitieren: „Zwang nach bekannten Regeln, der im allgemeinen die Folge von Umständen ist, in die sich die zu zwingende Person selbst begeben hat, wird auf diese Weise ein Werkzeug, das den Individuen bei der Verfolgung ihrer eigenen Ziele hilft, und kein Mittel, das zur Erreichung der Ziele anderer verwendet wird.“34
Und dennoch, und das sieht auch hayek so, muss es in einer offenen Gesellschaft möglich sein, Regeln zu brechen. anders kommt das neue nicht in die Welt, anders gibt es kein gesellschaftliches lernen. Fälle von Steuerhinterziehung sind keine Bagatelle, aber sie sind auch ein hinweis darauf, dass an der höhe der Steuersätze etwas nicht stimmen mag – und sie sind möglicherweise ein anstupser, ein „nudge“35 nicht an die Bürger, sondern vielmehr an die Politik, sich des themas noch einmal anzunehmen. aus moralischer Perspektive wird dieses terrain sehr schwierig. Es ist wieder einmal eine konzeptionelle Unterscheidung angezeigt, und zwar jene zwischen Individualethik und Ordnungsethik.36 33 geoffRey BReNNaN / james m. BuchaNaN: the Power to tax: analytical Foundations of a Fiscal constitution, new York 1980. 34 f. a. V. hayeK, Verfassung (wie anm. 14), S. 30. 35 In anlehnung an RichaRd h. thaLeR / cass R. suNsteiN: nudge, new haven 2008. 36 Vgl. KaReN hoRN: Markt und Moral, tübingen 1996. Oder auch chRistoPh Lütge: Gegen eine Ethik der Mäßigung, in: K. geNtiNetta / K. hoRN (hg.), abschied (wie anm 20), S. 99–106.
224
Karen horn
Individualethik ist tugendethik. Sie hat das Individuum im Blick und formuliert möglichst präzise handlungsanleitungen. Sie ist die lehre von den normen, handlungsregeln, Maximen, Sitten, die in der Gesellschaft immer wieder neu entstehen und das Miteinander der Menschen regulieren. Ein teil dieser normen fußt auf einer bewussten abwägung dessen, was sich im alltag für die Menschen lohnt. Ein anderer teil indes ist tradiert. Man hat gelernt, was „sich gehört“ und was nicht, und nur selten wird das hinterfragt. Dass manche normen nicht hinterfragt werden, ist kein Fehler – es spart gleichsam kognitiven aufwand. Ordnungsethik bezieht sich demgegenüber darauf, wie eine gesellschaftliche Rahmenordnung auszusehen hat. Ihre handlungsanleitungen sind antworten auf die Frage, nach welchen Prinzipien eine gute Ordnung ausgestaltet sein sollte. Wer die Ordnungsethik sauber von der Individualethik scheidet, betreibt keine haarspalterei. Wenn man individualethische Maßstäbe auf die Frage anwendet, wie die Wirtschaftsordnung gestaltet werden sollte, kommt man leicht zu falschen Ergebnissen. Das liegt daran, dass man von einem Menschen etwas anderes erwarten darf als von einem System. Von einem Menschen hofft man, dass er sich wie ein guter Mitmensch benimmt, also zum Beispiel respektvoll, anständig und hilfreich. Von einem Unternehmer oder einem Manager kann man darüber hinaus erwarten, dass er ehrlich und verantwortungsbewusst seine Geschäfte führt. Vom Verbraucher ist zu erwarten, dass er sich als mündig erweist. Von einem System hingegen ist vor allem zu verlangen, dass es funktioniert. Selbst wenn sich die Menschen nicht bewusst moralisch verhalten, muss eine gute Wirtschaftsordnung noch zuverlässig funktionieren. Sie muss den Einzelnen von der Moralität der anderen so weit wie möglich unabhängig machen. Der entscheidende Vorteil der Marktwirtschaft ist genau dies. Wie schon adam Smith schrieb: „Wir wenden uns nicht an ihre Menschen-, sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil.“37 Die Vorschriften der tugendethik sind heute nicht mehr unmittelbar auf die gesellschaftliche Ordnung übertragbar. Dies ist gleichsam der Preis der Moderne. Im Zusammenhang der traditionellen Stammesgesellschaften war die tugendethik mit ihrer Betonung der Solidarität durchaus sinnvoll und angemessen. Sie brachte im Prozess der kulturellen Evolution klare Vorteile, wie hayek betonte.38 In der heutigen ausdifferenzierten Großgesellschaft indes sind solche Verhaltensweisen, wenn sie auf der falschen Ebene angewendet werden, eher dem Gemeinwohl schädlich. hier ist der systematische Ort der Moral eher die Rahmenordnung.39 Eine moderne gesellschaftliche Ordnung 37 adam smith: Vom Wohlstand der nationen, hamburg 1977 (erstmals 1776), S. 17. 38 Vgl. u. a. fRiedRich august VoN hayeK: Die drei Quellen der menschlichen Werte, tübingen 1979; wiederabgedruckt in: deRs.: Die anmaßung von Wissen, tübingen 1996, S. 37–75. 39 KaRL homaNN / fRaNz BLome-dRees: Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen
Was kann der Staat, was darf die Wirtschaft?
225
muss in der lage sein, selbst bei unmoralischem Individualverhalten so zu funktionieren, dass sie den Menschen Freiheit und Wohlstand bietet. Das heißt freilich nicht, dass wir in individualethischer Perspektive das tun von Regelbrechern gutheißen müssten.40 aber es heißt, dass dies in gewisser hinsicht nur ein nebenkriegsschauplatz ist. Drittens: Die Wirtschaft kann sich einbringen, um die Regeln in ihrem Sinne zu ändern. Darf sie das? Der Münchner Wirtschaftsethiker Karl homann sagt ja, und er hat hierfür sogar eine Kategorie erfunden: die Kategorie der „ordnungsethischen Verantwortung“ der Wirtschaft. Die Wirtschaft soll nicht nur Gewinn erzielen und auch die Stakeholder angemessen berücksichtigen, sie soll auch nicht bloß brav die Gesetze beachten, sie soll sich auch darüber hinaus aktiv für die Ordnung des Gemeinwesens einbringen. trotz der letztlichen Maßgeblichkeit der Rahmenordnung sind Unternehmen in der homannschen Perspektive keineswegs von aller weiteren moralischen Verantwortung entlastet. So schreibt er: „Bei Defiziten der Rahmenordnung ergeht an Unternehmen der auftrag, die im normalfall an die Ordnungsebene abgegebene moralische Verantwortung wieder auszufüllen, um so das entstandene Verantwortungsvakuum zu füllen.“41 Dies kann durch den Beitritt zu freiwilligen Kodizes oder durch das Eintreten für Gesetzesänderungen geschehen. Mir ist bei dieser postulierten ordnungsethischen Verantwortung von Unternehmen mulmig, denn dafür hat die Wirtschaft kein unmittelbares Mandat. andererseits ist nicht einzusehen, warum nicht auch die Wirtschaft im Konzert der öffentlichen Meinung ihre Stimme erheben sollte. auch sie ist ein Stakeholder, ein Stakeholder des Staates in seiner Eigenschaft als Standortunternehmen, wie es Vanberg nennt. In der Konsequenz mag das Einflussnahme und lobbyismus bedeuten. Warum nicht? Die Politik behandelt lobbyisten bekanntlich regelmäßig wie lästige Störenfriede. Dabei erfüllen Interessengruppen in einer Demokratie übrigens durchaus eine wichtige Funktion. als Betroffene politischer Maßnahmen haben sie naturgemäß gewisse Informationsvorsprünge, und diese Erkenntnisse stellen sie der Politik und der Öffentlichkeit zur Verfügung. Sie teilen mit, was aus ihrer Sicht, unter anwendung ihrer eigenen Kriterien, die Vorteile und nachteile einer bestimmten politischen Maßnahme oder Weichenstellung sind. Zu beurteilen, ob diese Kriterien berücksichtigenswert sind, und ob und wie diese Vorteile und nachteile ins Gewicht fallen sollen, das obliegt dann freilich den verantwortlichen Politikern selbst. Die chancen einer lobby, Gehör zu finden, stehen dabei umso 1992, S. 113. 40 Vgl. michaeL hütheR: Ordnung und Gewissen, in: K. geNtiNetta / K. hoRN (hg.), abschied (wie anm. 20), S. 37–47. 41 K. homaNN / f. BLome-dRees, Wirtschafts- und Unternehmensethik (wie anm. 39), S. 35.
226
Karen horn
besser, je größer die teile der Gesellschaft sind, die von einer Verwirklichung ihrer Vorschläge begünstigt wären. Es geht in diesem Buch insgesamt um das Verhältnis von Krise, Krisenverlauf, Wissen, Wissensgenerierung und Krisenüberwindung. Das führt mich abschließend zu der Frage, was wir denn nun in Bezug auf das, was der Staat kann und was die Wirtschaft darf, an lehren ziehen können aus jener großen Wirtschaftskrise, die nun hinter uns zu liegen scheint, auch wenn beileibe noch nicht alles ausgestanden ist – man denke nur an den Fall der Bank „hRE“. Ich möchte warnen vor allen allzu einfachen Wahrheiten. Es kann jetzt nicht darum gehen, den eingeschlagenen Weg in eine neue Ära des Dirigismus einzuleiten unter dem Motto des „Primats der Politik“ zur abwehr eines angeblichen „Primats der Wirtschaft“. In der staatlichen Sphäre unseres gesellschaftlichen Miteinanders, in der Politik, muss es jetzt um eine angemessene Definition des Ordnungsrahmens gehen, und uns allen dürfte klar geworden sein, dass es vor allem darauf ankommen wird, dem auf dem Weg in die Krise ein wenig aus dem Blickfeld geratenen Prinzip der haftung und der Verantwortung für das eigene tun wieder Geltung zu verschaffen – also einem Prinzip, das bei allen liberalen als Kehrseite und Korrolar der Freiheit seit jeher höchsten Stellenwert genießt. So schreibt hayek: „Freiheit bedeutet nicht nur, dass der Mensch sowohl die Gelegenheit als auch die last der Wahl hat, sie bedeutet auch, dass er die Folgen seines handelns tragen muss und lob und tadel erhalten wird“.42 Und das gilt für die Menschen im Staat wie in der Wirtschaft. ansonsten fürchte ich, wir müssen uns mit der tatsache abfinden, dass eine erhebliche Krisenanfälligkeit dem Miteinander von Menschen in der Gesellschaft immanent ist, und dass wir der Klärung immer nachlaufen. Unser Dasein ist geprägt von fundamentaler Unsicherheit, von Unwissenheit, und von regelmäßigen Interessenskonflikten. natürlich, Krisen sind teuer. Man muss sie wohl begreifen als den Preis für das, was wir durch sie lernen, auch wenn immer wieder neue herausforderungen kommen, auf die wir dann immer noch nicht vorbereitet sind. aber immerhin die alten Fehler macht man nicht allzu bald wieder. Diesen lernprozess kann man leider nicht simulieren, man muss das Entdeckungsverfahren real ablaufen lassen. Es ist dies ein pathologisches lernen – aber immerhin. So schmerzlich uns das lehrgeld trifft, wir sollten froh sein, dass wir als Gesellschaft solche evolutionären lernprozesse haben, und das sie diesmal abgelaufen sind ohne physische Gewalt.
42 f. a. V. hayeK, Verfassung (wie anm. 14), S. 93.
DIE aUtOREn DES BanDES
KaReN hoRN, Dr. rer. pol., Dozentin für ökonomische Ideengeschichte und Geschäftsführerin der Wert der Freiheit gGmbh in Berlin michaeL KisseNeR, Dr. phil., Professor für Zeitgeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz RomaN KösteR, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Wirtschafts-, Sozial- und technikgeschichte an der Universität der Bundeswehr München aLexaNdeR NützeNadeL, Dr. phil., Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der humboldt-Universität zu Berlin KaRL-heiNz Paqué, Dr. sc. pol., Minister a. D., Professor für Volkswirtschaftslehre an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg WeRNeR PLumPe, Dr. phil., Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main joachim schoLtysecK, Dr. phil., Professor für neuere und neueste Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn aNdRé steiNeR, Dr. oec., leiter der abteilung Wirtschaftliche und soziale Umbrüche im 20. Jahrhundert am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und außerplanmäßiger Professor an der Universität Potsdam jocheN stReB, Dr. rer. pol., Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Mannheim aNdReas WiRschiNg, Dr. phil., Direktor des Instituts für Zeitgeschichte und Professor für neuere und neueste Geschichte an der ludwig-MaximiliansUniversität in München
PERSOnEnREGIStER abelshauser, Werner 119 abs, hermann Josef 112 adamo, Mark 66 adenauer, Konrad 113 althoff, Friedrich 32 aly, Götz 104 amonn, alfred 45 asmussen, hans 92 Baecker, Dirk 209 Ballods, carl 52 Banken, Ralf 66 Barkai, avraham 76f Bastiat, Frédéric 206–208, 219 Bauer, Walter 92 Bauman, Zygmunt 55 Beckerath, Erwin von 91–93 Behrens, Fritz 157f Benary, arne 158 Berend, Ivan 139 Bernhard, ludwig 39 Bethmann-hollweg, theobald von 35 Bieberstein, Freiherr Marschall von 90 Bismarck, Otto von 22f, 29f, 33f, 115 Bloq-Mascart, Maxime 98 Boelcke, Willi 76 Böhm, Franz 88f, 91, 107, 111, 124, 125, 215 Böhm, hans 92 Bonaparte, napoleon 102 Bonhoeffer, Dietrich 91, 93 Bonn, Moritz Julius 37 Borchardt, Knut 123f Brennan, Geoffrey 223 Brentano, lujo 28–31, 34f, 37, 45 Brüning, heinrich 122f Buchanan, James B. 211, 220, 223 Bücher, Karl 45 Buchheim, christoph 62, 65, 67f, 72f, 76, 82 Budraß, lutz 79 Bulganin, nikolai 160 Bülow, Bernhard von 35 Burke, Edmund 27
caprivi, leo von 35 chruschtschow, nikita 160–62 clay, lucius D. 113 constant, Benjamin 213 courtin, René 97 curtius, lionel 95 Degner, harald 66 Deist, heinrich 130 Delp, alfred 94f Dibelius, Otto 92 Dietze, constantin von 88, 91f Duisberg, carl 34 Ehrenberg, Richard 39 Ehrlicher, Werner 123 Elser, Johann Georg 85 Erbe, Rene 75f, 78 Erhard, ludwig 12, 83, 101, 109, 111–113, 130, 189, 214 Eschenburg, theodor 113 Etzel, Franz 130 Eucken, Walter 52, 88–92, 107, 110, 124, 189, 215 Föhl, carl 126 Fontane, theodor 9 Fremdling, Rainer 64 Friedman, Milton 139 Friedrich, Otto a. 132 Gall, lothar 26 Genscher, hans-Dietrich 143, 147f, 150 Genz, Manfred 68 Giersch, herbert 125 Goerdeler, carl Friedrich 90, 92f Goethe, Johann Wolfgang 102 Gorbatschow, Michail 174 Göring, hermann 65 Görtemaker, Manfred 113 Gottl-Ottilienfeld, Friedrich von 51, 54 Graf, Rüdiger 57f Grimmer-Solem, Eric 27f, 30 Großmann-Doerth, hans 125 Grotkopp, Wilhelm 122 Grünig, Ferdinand 126 hamilton, alexander 105
230
Personenregister
Harnack, Arvid 85 Haselbach, Dieter 52 Hasenclever, Wilhelm 31 Hayek, Friedrich August von 50, 110, 139, 213, 215, 217f, 220, 223, 226 Hayes, Peter 61–63, 67f, 73, 79 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 28 Heimann, Eduard 51 Hellwig, Fritz 132 Hensler, Ulrich 66 Hentschel, Volker 26 Hicks, John 125 Hildebrand, Klaus 107 Hitler, Adolf 12, 81, 83, 85f, 91, 94, 101–104, 107, 115 Hoffmann, Walter 125 Homann, Karl 225 Honecker, Erich 169, 171f, 174 Humboldt, Wilhelm von 219 Jöhr, Walter 122 Junkers, Hugo 62, 79f Kahn, Daniela 74 Kessler, Harry Graf 47 Keynes, John Maynard 11, 18–20, 39–42, 74, 93, 119f Kirdorf, Emil 34 Kloten, Norbert 74 Knapp, Friedrich Georg 30, 39 Knies, Karl 24, 37 Kohl, Helmut 141–43, 146, 148, 150 Krelle, Wilhelm 125, 127f Kroll, Gerhard 122 Lampe, Adolf 88, 91f, 124f Langelütke, Hans 123 Lasker, Eduard 30 Leber, Julius 94 Leuschner, Bruno 161 Liechtenstein, Hans-Adam II. von 205, 211 Lindner, Stefan 68 Lohmann, Theodor 29, 33 Löwe, Adolf 52 Luhmann, Niklas 19, 101, 208 Lutz, Burkart 139 Madoff, Bernard 222 Mann, Thomas 110 Mannheim, Karl 59 Marx, Karl 37, 39, 152, 158 McCloy, John 113 McCulloch, John R. 24 Menger, Carl 27f, 38f
Mierendorff, Carlo 94 Miksch, Leonhardt 125 Mises, Ludwig 50 Moltke, Helmuth James Graf von 93f, 95 Monnet, Jean 117 Müller-Armack, Alfred 107, 110, 123, 125, 130f, 189, 214, 218 Mussolini, Benito 107 Myrdal, Gunnar 117 Nasse, Erwin 30, 35 Nathan, Otto 73 Neumann, Alfred 167 Neumark, Fritz 125 Nipperdey, Thomas 20, 22, 25, 28f, 33 Ohlendorf, Otto 102 Oppenheimer, Franz 52–54, 207 Overy, Richard 62, 76, 82 Perels, Justus 92 Peter, Hans 126 Petzina, Dietmar 73, 122 Peukert, Detlev 57f Plenges, Johann 52 Pohle, Ludwig 39 Predöhl, Andreas 122 Prollius, Michael von 65, 73 Rathenau, Walther 102 Rawls, John 215 Reagan, Ronald 139 Reger, Erik 47 Reinhold, Otto 155 Ritter, Gerhard 90, 92 Roosevelt, Franklin 105, 110 Röpke, Wilhelm 110, 125, 189 Rosenberg, Hans 20 Rüstow, Alexander 52, 125, 207 Rüther, Daniela 87f, 90 Salz, Arthur 46 Samuelson, Paul 125 Sartorius, Georg Friedrich 11 Scherner, Jonas 62, 65, 67–73, 76, 78–82 Schiller, Karl 130, 134 Schivelbusch, Wolfgang 74 Schlesinger, Helmut 121 Schmidt, Helmut 147 Schmoller, Gustav 11, 20f, 27–31, 33–42, 45 Schmorell, Alexander 86 Schneider, Erich 125 Scholl, Hans 86 Schumacher, Hermann 45
Personenregister Schumpeter, Joseph 19f, 24, 41 Schwarz, hans-Peter 106, 109 Siegenthaler, hansjörg 88 Sik, Ota 167 Sinn, hans-Werner 191 Sloan, alfred P. 222 Smith, adam 11, 24, 27f, 206f, 224 Solow, Robert 125 Sombart, Werner 37–38, 44f, 56 Spann, Othmar 51, 54 Speer, albert 102 Spiethoff, arthur 45 Spoerer, Mark 71f, 78, 111 Stalin, Josef 151 Strauß, Franz Josef 134 Stucken, Rudolf 122 Suhr, Otto 208 tarnow, Fritz 52 taylor, a. J. P. 116 temin, Peter 61–63, 67, 73, 79 thatcher, Margaret 139f
231
thielicke, helmut 92 tooze, adam 77 torp, cornelius 26, 35 treitschke, heinrich von 31 turner, henry 72 Ulbricht, Walter 152, 158–163, 165, 167f Vanberg, Viktor 215f, 218, 221 Voigt, andreas 39 Voltaire 213 Wagenknecht, Sahra 18 Wagner, adolph 9, 29, 33, 45 Wagner, Josef 66 Weber, adolf 39, 51 Weber, alfred 113, 125 Weber, Max 37f, 44f, 56 Wehler, hans-Ulrich 20, 23, 26, 35 Weizsäcker, carl christian von 125 Werner, Stefanie 66 York, Peter Graf 94 Zöller, Michael 210
stif tung bundespräsident t heodor heuss-haus
–
wissenschaf tliche reihe
Die Bände 1–6 sind bei der Deutschen Verlagsanstalt (München) erschienen.
Franz Steiner Verlag
7.
8.
ISSN 1861–3195
Wolfgang Hardtwig / Erhard Schütz (Hg.) Geschichte für Leser Populäre Geschichtsschreibung in Deutschland im 20. Jahrhundert 2005. 408 S., 4 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08755-1 „Die Veröffentlichung von Hardtwig und Schütz leistet Grundlagenarbeit für ein bislang viel zu stark vernachlässigtes Thema.“ Stefan Jordan, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 56, 2008/1 „Den vorliegenden Sammelband möchte man mit dem Ausruf Endlich! begrüssen. […] Historisch interessierte Leser/innen und lesende Historiker/innen [werden ihn] gleichermaßen mit großem Gewinn studieren.“ Winfried Halder, H-Soz-u-Kult, 23. Juni 2006 Frieder Günther Heuss auf Reisen Die auswärtige Repräsentation der Bundesrepublik durch den ersten Bundespräsidenten 2006. 178 S., 28 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08819-0 „Günther’s study is a welcome addition to the literature on Theodor Heuss and on the Federal Republic’s relations with the wider world in the 1950s. It successfully uses the medium of state visits to provide important insights on West German society during the same era.“ Thomas W. Maulucci, jr., German Studies Review 32, 2009/1
9.
Andreas Wirsching / Jürgen Eder (Hg.) Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik Politik, Literatur, Wissenschaft 2008. 330 S., geb. ISBN 978-3-515-09110-7 „This stimulating essay collection seeks to breathe new life into the concept of Vernunftrepublikanismus.“ Eric Kurlander, www.h-net.org, 16. März 2009
10. Angelika Schaser / Stefanie Schüler-Springorum (Hg.) Liberalismus und Emanzipation In- und Exklusionsprozesse im Kaiserreich und in der Weimarer Republik 2010. 224 S., geb. ISBN 978-3-515-09319-4 „Most of the findings here complement Anglo-American research quite well, reminding us of the many complexities of class, religion, ethnicity, and place in defining the relationship between liberal theory and practice. These rich contributions provide both a useful summary of existing views and, in some cases, effective models for future research on German liberalism.“ Eric Kurlander, L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 22, 2011/209 11.
Werner Plumpe / Joachim Scholtyseck (Hg.) Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft Vom Kaiserreich bis zur Berliner Republik 2012. 231 S., 6 Abb., geb. ISBN 978-3-515-10142-4
Der Staat setzt Rahmenbedingungen für die Wirtschaft – der Staat reagiert auf ökonomische Entwicklungen – die Wirtschaft richtet sich nach den gegebenen Umständen – die Wirtschaft geht eigene, neue Wege. Dieses eigentümliche Spannungsfeld von Wirtschaftsordnung, Wirtschaftspolitik und ökonomischer Entwicklung beleuchten Wirtschaftshistoriker aus wechselnder Perspektive: Wodurch kam es zum Aufstieg des Kathedersozialismus? Der Nationalsozialismus – ein indirekter Sozialismus? War die Soziale Marktwirtschaft eine Innovation? Prägte der Keynesianismus die Bundesrepublik? Verstand sich die DDR vor allem als Vergleichswirtschaft zur BRD? Prägte der Neoliberalis-
mus wirklich das Westdeutschland der 1980er Jahre? Hat die Deutsche Einheit die Soziale Marktwirtschaft verändert? Schließlich allgemein: Was kann der Staat und was darf die Wirtschaft? Im Fokus steht die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands seit dem späten 19. Jahrhundert mit ihren Brüchen, Krisen und Boomphasen. Das Buch leistet damit auch einen Beitrag zu aktuellen Problemdiagnosen. Denn erneut stehen Fragen der politischen Gestaltung der Wirtschaft, der Regulierung ihrer Entwicklung und ihrer Handlungsspielräume im Zentrum des wissenschaftlichen und des politischen Streits.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-10142-4