Der SED-Staat: Geschichte und Nachwirkungen. Gesammelte Schriften
 9783412338121, 9783412360054

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DER SED-STAAT Geschichte und Nachwirkungen

Manfred Wilke

DER SED-STAAT Geschichte und Nachwirkungen

Gesammelte Schriften Zu seinem 65. Geburtstag zusammengestellt und herausgegeben von Hans-Joachim Veen Redaktion: Daniela Rüge

§

2006

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: 2. Oktober 1990 | © ulistein bild

© 2006 by Böhlau Verlag G m b H & Cie, Köln Ursulaplatz 1, D-50668 Köln Tel. (0221) 913 90-0, Fax (0221) 913 90-11 [email protected] Alle Rechte vorbehalten Satz: Satzpunkt Ewert, Bayreuth Druck und Bindung: Strauss G m b H , Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-36005-4 / ISBN-10 3-412-36005-8

Inhalt

Vorwort des Herausgebers

VII

Aufsätze 1991 bis 2006 1991: Die bundesdeutschen Parteien und die demokratische Revolution in der DDR - oder: Die Bewährung des demokratischen Kernstaates . . . .

3

1996: DDR-Schlussbilanz. Verfallene Städte, ruinierte Infrastrukturen, schrottreife Industrieanlagen

19

1996: Die SED und Konrad Adenauer

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1997: Die deutsche Einheit und die Geschichtspolitik des Bundestages

37

1998: Die Diktaturkader Andre Brie, Gregor Gysi, Lothar Bisky und das MfS . . 47 1998: Heinz Brandt - in Selbstzeugnissen

77

1999: „Der Beweis eines Verrats lässt sich nicht erbringen." Robert Havemann und die Widerstandsgruppe Europäische Union (mit Werner T h e u e r ) . . . . 91 2001: Das Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus

111

2003: Die Etablierung der „neuen Klasse" und Stalins Tod 123 2003: Die Etablierung einer Okkupationspartei. Ergebnisse des Projektes zu Struktur, Funktion und Entwicklung des zentralen Parteiapparates der KPD/SED (mit Michael Kubina) 133 2003: Die Grünen als Objekt der Westarbeit der SED in der Friedensbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss

163

2003: Die „zweite Staatsgründung" der DDR 1953

169

2004: Erinnerung an den Kommunismus nach seinem Sturz

181

VI

Inhalt

2005: MfS-Akten: Offenlegung statt Verwaltung. 1989 ging es um Transparenz - nicht um eine neue Behörde

195

2005: Die „Westarbeit" des FDGB. Die DDR-Gewerkschaft und die innerdeutschen Beziehungen (1945-1990)

209

2006: Der Mauerfall am 9. November 1989 und der Beginn der Vereinigungspolitik von Bundeskanzler Helmut Kohl

235

2006: Die Solidarnosc und die SED

245

2006: Die SED-Gründung und ihre Bedeutung für die deutsche Teilungsgeschichte

263

Anhang Leben mit und gegen die deutsche Teilung. Hannes Schwenger und Manfred Wilke im Gespräch

297

Alexandra Herrmann: Ein standfestes Provisorium. Der Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin

327

Auswahlbibliografie

335

Vorwort des Herausgebers

Natürlich ist das wissenschaftliche und publizistische Werk Manfred Wilkes, zu dessen 65. Geburtstag wir diese Sammlung seiner Aufsätze zur Anatomie, Geschichte und zu den Nachwirkungen des SED-Staates zusammengestellt haben, weitaus breiter und vielfältiger als die hier versammelten Schriften. Mindestens vier große Themenkomplexe sind zu nennen: die Gewerkschaftsbewegung, der organisierte Kommunismus in Deutschland und Europa, Dissidenz und Widerstand gegen die kommunistische Herrschaft und nicht zuletzt die Aufarbeitung der deutschen Teilungs- und Diktaturgeschichte. Doch mit der Geschichte der Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands ist der wissenschaftliche und publizistische Weg Manfred Wilkes seit Jahrzehnten auf das Engste verbunden. Seit den späten sechziger Jahren hatte er Kontakt zu wichtigen Köpfen der DDR-Opposition wie Robert Havemann, dessen politische Biografie er 1978 herausgab, und Wolf Biermann, gegen dessen Ausbürgerung 1976 er im Westen Protest mobilisierte. Nach der Wiedervereinigung wirkte er als sachverständiges Mitglied in den beiden Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages - „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" (1992-1994) und „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit" (1995-1998) - aktiv mit. Der Deutsche Bundestag wählte ihn zum Beiratsmitglied der Behörde der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, er wurde zum Mitglied des Stiftungsrates der „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur" bestellt und ist im Beirat der „Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen" sowie als stellvertretendes Mitglied im Kuratorium der „Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv" tätig. Kurz nach der Wiedervereinigung war er Mitbegründer des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin und ist seither einer der beiden wissenschaftlichen Leiter dieser Forschungseinrichtung, in deren Schriftenreihe bis heute rund 25 Bände erschienen sind. Wenn sich der Herausgeber dieses Sammelbandes gleichwohl auf eine Auswahl jener Aufsätze konzentriert hat, die zwischen 1991 und 2006 von Manfred Wilke zu den Realitäten des SED-Staates, seinem Herrschaftsapparat, seinen wesentlichen Institutionen und seinen internationalen Verflechtungen einerseits und zu den Nachwirkungen der kommunistischen Herrschaft im wiedervereinten Deutschland andererseits verfasst wurden, dann vor allem deshalb, weil die Erinnerung an die kommunistische Diktatur in Deutschland bis heute defizitär geblieben ist. In der Auseinandersetzung über ihren Diktaturcharakter, ihre Herrschaftsinstitutionen, ihre Opfer und ihre Folgen besteht Nachholbedarf. Das gewalttätige Gesicht der SED-Diktatur verflüchtigt sich mehr und mehr in fürsorgliche, friedliebende, antifaschistische und sozial gerechte Beschönigungen. Dazu haben verharmlosende

VIII

Vorwort

TV-Reminiszenzen ebenso beigetragen wie die hinhaltende Verweigerung der Auseinandersetzung in vielen Familien und Schulen. Erst der Kinofilm „Das Leben der Anderen", dessen wissenschaftlicher Berater Manfred Wilke war und der eine Zäsur in der filmischen Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit darstellt, hat die Brutalität, den Zynismus und den Opportunismus der herrschenden Funktionärsklasse und der Staatssicherheit im Frühjahr 2006 wieder in grelles Licht gerückt. Der Hang zu nachträglicher Beschönigung ist nicht nur ärgerlich oder moralisch empörend, er ist vielmehr tendenziell antidemokratisch, weil er die jüngeren Generationen desensibilisiert, statt sie zu immunisieren gegenüber den ideologischen und populistischen Gefährdungen, denen die freiheitliche Demokratie in postkommunistischen Staaten in besonderer Weise ausgesetzt ist, und weil die Relativierung des Diktaturcharakters der D D R der Fundierung einer demokratischen Ethik und Einübung einer demokratischen politischen Kultur in den neuen Ländern zuwider läuft. Gegen diese Tendenzen hat sich Manfred Wilke von Anfang an leidenschaftlich und streitbar zu Wort gemeldet. Ihm ging es immer um normative Klarheit, um das Grundsätzliche der Unterschiede zwischen Demokratie und Diktatur und die Schärfung des Blickes für das Totalitäre des kommunistischen Denkens und des organisierten Kommunismus der SED-Diktatur. In dieser Auseinandersetzung verstand Wilke sich nie nur als Wissenschaftler, sondern immer auch als Akteur im aktuellen Meinungsstreit. Einen Widerspruch zwischen wissenschaftlicher und politischer Existenz gab es für ihn nicht. Als Bürger mit wissenschaftlichem Rüstzeug griff und greift er bis heute immer wieder in aktuelle Auseinandersetzungen mit Presseartikeln, Interviews und publizistischen Zwischenrufen ein, manchmal polemisch, aber immer authentisch. Seine Aufsätze zur SED-Diktatur und ihren Spitzenkadern, zum MfS und zur PDS sind von hoher kritischer Intensität und großer Detailkenntnis, von Eindeutigkeit und Prägnanz gekennzeichnet. Sie sind entlarvend im besten Sinne und geeignet, wohlfeilen Relativierungen der kommunistischen Herrschaft und der SEDNachfolgepartei entgegenzuwirken. Dabei hatte er immer das Ganze der SED-Diktatur im Blick. Stets hat er sich gegen die Reduzierung des Herrschaftssystems der D D R auf das MfS, die flächendeckend organisierte, grenzenlose Staatssicherheit gewandt. Stattdessen hat er immer auf einer Öffnung und Ausweitung der Stasi-Debatte zu einer Systemdebatte bestanden, in dessen Zentrum die Partei in ihrer engen Verflechtung mit der Moskauer KP-Führung stand. Er hat das Verdienst, wie kaum ein anderer in seinen Arbeiten daran erinnert zu haben, dass die Stasi eben nur „Schild und Schwert der P a r t e i " war - nicht weniger, aber auch nicht mehr. Wichtiger war es ihm, die Spitzenkader, das Zusammenspiel der Funktionäre und die absolute Herrschaft und Kontrolle der Partei mit ihren Massenorganisationen über das System zu thematisieren. Wilke geht es stets um die langen Linien der Eroberung von Machtpositionen, die personellen Kontinuitäten, personelle und institutionelle Verflechtungen, die langfristigen Strategien, die in den Apparaten und mit ihnen verfolgt werden. Die historischen Details, die frühen Weichenstellungen sind ihm in seinen Analysen wichtig. Wissenschaftlich saß er damit fast immer zwischen den Stühlen. Den Zeithistorikern war er zu soziologisch, den Soziologen zu sehr Historiker, das ist wohl das Schicksal interdisziplinär arbeitender Wissenschaftler. Tatsächlich ist Manfred Wilke gelernter Soziologe, in diesem Fach auch 1981 an der F U Berlin habilitiert, und seit 1985 als Professor für Soziologie an der Fachhochschule für Wirtschaft in Berlin tätig. Manfred Wilke verbindet klassisch soziologische Fragestellungen nach der Macht,

IX

Vorwort

ihrer Eroberung, Erhaltung und ihrem Zerfall häufig mit historischen Forschungsmethoden und mit der Rekonstruktion politischer Biografien, mit der Fokussierung auf die Akteure, ihre Netzwerke, ihre Karrieren und ihre personalpolitischen und ideologischen Weichenstellungen. Die informellen Strukturen interessieren ihn als guten Soziologen mehr als die formellen. Das, was sich hintergründig als „the story behind the scene" in den kommunistischen Machtapparaten abspielte und mit langem Atem betrieben wurde, wird von ihm sorgsam analysiert und mit geradezu kriminalistischem Gespür aufgedeckt. Von dieser Art Blick hinter die Kulissen leben seine Aufsätze zum SED-Staat, in denen er auch das ganze Ausmaß der Verstrickung der SED in die Unterdrückung der Oppositionsbewegungen in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei und ihre vielfältigen Interventionen in die inneren Angelegenheiten der östlichen Bruderstaaten und natürlich der Bundesrepublik enthüllt. Im geschichtspolitischen Diskurs über den Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit gehört er bis heute zu den großen Mahnern wider das Vergessen, der gründlichen Auseinandersetzung mit der Diktatur, ihren Protagonisten und nicht zuletzt der Erinnerung an die Dissidenten, von denen er in ganz Ostmitteleuropa viele persönlich kannte, unterstützte und mit denen er über viele Jahre hinweg in Verbindung stand und steht. So ist er im Laufe der Jahrzehnte auch mehr und mehr zum Zeitzeugen jener Diktatur- und Widerstandsgeschichte geworden, mit der er sich wissenschaftlich beschäftigt. Von dieser Zeitzeugenschaft in einem bewegten und widerstreitenden, spannungsreichen und immer unangepassten Leben profitieren viele seiner Arbeiten. Die zahlreichen Brüche in seinem politischen und beruflichen Leben haben wohl dazu beigetragen, dass er schon früh zu den Eckigen und Kantigen des politisch-wissenschaftlichen Diskurses gehörte, der oft unbequeme Ansichten vertrat und politisch nicht immer korrekt war, während eleganter Konformismus und rhetorisch unverbindliche Verbindlichkeit ihm immer fremd geblieben sind. In dem großen biografischen Interview, das wir an den Schluss der Aufsatzsammlung gestellt haben und das sein alter Freund und Weggefährte aus den turbulenten Zeiten des „Schutzkomitees Freiheit und Sozialismus", Hannes Schwenger, mit ihm zum Thema „Leben mit und gegen die deutsche Teilung" führt, wird dieses widerstreitende, unangepasste, bunte und reiche Leben des Wissenschaftlers, Autors, Politikers und Zeitzeugen Manfred Wilke noch einmal in vielen Facetten eindrucksvoll resümiert. Wir haben die Aufsätze aus den Jahren 1991 bis 2006, von denen rund zwei Drittel verstreut und bisweilen entlegen publiziert worden sind und ein weiteres Drittel aus neuen, noch unveröffentlichten Arbeiten besteht, chronologisch geordnet, um auf diese Weise die Veränderungen der politischen Agenda seit der Wiedervereinigung ein Stück weit widerzuspiegeln und auch Entwicklungen im Urteil Wilkes sichtbar zu machen. Alle Beiträge des Bandes wurden in Orthografie, Zitierweise und Kapitelnummerierung vereinheitlicht. Ebenso wurden Druckfehler der Erstausgabe stillschweigend korrigiert. Die nachgedruckten Beiträge enthalten in der jeweils ersten Fußnote einen bibliografischen Nachweis zum Ort der Erstpublikation. Ich danke allen Verlagen für die Abdruckgenehmigung und meiner Mitarbeiterin Daniela Rüge sehr herzlich für die umsichtige, kluge und geduldige Redaktion des Bandes.

Weimar, zum 2. August 2006

Hans-Joachim

Veen

Die bundesdeutschen Parteien und die demokratische Revolution in der DDR - oder: Die Bewährung des demokratischen Kernstaates (1991)*

1. Zusammenbruch oder Revolution? Beginnen will ich mit dem 9. November, dem Anfang vom Ende der D D R , um die Frage zu beantworten: Ist die SED-Herrschaft zusammengebrochen oder wurde sie durch eine demokratische Revolution beseitigt und welchen Anteil hatten daran die bundesdeutschen Parteien? Das Ende der D D R als Staat begann unwiderruflich am 9. November 1989. An diesem Tag setzt die 10. Tagung des SED-Zentralkomitees ihre Beratungen vom Vortag fort. Die Regierung Stoph und das alte Politbüro waren zurückgetreten. Gewichtiger für die künftige Entwicklung: Das „Neue Forum" wird durch das DDRInnenministerium offiziell zugelassen. Das Machtmonopol der SED bröckelt, ihre Staatsorgane müssen erstmals eine legale Opposition zulassen. Besonders schwer lastet auf der SED-Führung die Flüchtlingsfrage. Seit dem 3. November konnten DDR-Bürger aus der CSSR direkt in die Bundesrepublik ausreisen. Bis zum 9. November machten davon etwa 45.000 Deutsche aus der D D R Gebrauch.1 Die Demonstranten auf den „Montagsdemonstrationen" - am 6. November sind es in Leipzig Hunderttausende - fordern ein Reisegesetz ohne Einschränkungen, die Aufgabe des Führungsanspruches der SED und freie Wahlen.2 Das Politbüro des ZK der SED ist aber vor allem mit der Forderung der tschechoslowakischen Führung konfrontiert, das Flüchtlingsproblem direkt zu lösen, andernfalls müssten die Prager die Grenze zur D D R schließen.3 Die Prager Genossen um Husäk befürchten das „Leipziger Fieber" im eigenen Land - ihre Regentschaft dauert noch drei Wochen. Nach dem Bericht von Cordt Schnibben im „Spiegel" trafen sich am Morgen des 9. November im Innenministerium der D D R der Hauptabteilungsleiter Pass- und Meldewesen und der Leiter der Hauptabteilung Innere Angelegenheiten mit zwei Obristen der Staatssicherheit, um eine Beschlussvorlage zur Ausreise für das Zen* 1 2

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Zuerst erschienen in: Konrad Low (Hg.): Ursachen und Verlauf der deutschen Revolution 1989 (= Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung, 33), Berlin: Duncker & Humblot 1991, S. 105-122. Vgl. Zeno und Sabine Zimmerling: Neue Chronik DDR, 1—4/5 Folgen, hier 2. Folge, 19. Oktober - 23. November 1989, Berlin (Ost) 1990, S. 80. Vgl. Peter Winters: Die DDR-Führung präsentiert ihr Reisegesetz. In den letzten Tagen 20.000 Flüchtlinge, zit. nach: „Daß ich das noch erleben darf..." Eine Zusammenstellung der Berichte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frankfurt am Main 1990, S. 307 f. und Zeno und Sabine Zimmerling: Neue Chronik DDR, 2. Folge, a. a. O., S. 72 f. Vgl. Cordt Schnibben: „Diesmal sterbe ich Schwester", in: Der Spiegel, Nr. 41/1990, S. 102 ff. und Claus Dümde: Wie kam es zum Sturm auf die Mauer?, in: Neues Deutschland vom 3./4. November 1990, S. 9.

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Aufsätze 1991 bis 2006

tralkomitee zu erarbeiten. DDR-Bürger sollen ohne Umwege über das Ausland „übersiedeln" können. Die vier Sicherheitsexperten erweitern die Ausreisevorlage eigenmächtig um eine nicht verlangte Reiseregelung: „Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen beantragt werden." Dieser Satz sollte an diesem Tag das Signal zum Sturm auf die Mauer werden. Wie der „Spiegel" weiter schreibt, behandelt gegen 17 Uhr das ZK abweichend von seiner Tagesordnung den fraglichen Beschluss. Generalsekretär Krenz verliest das Papier, und keinem der 213 Mitglieder und Kandidaten des Zentralkomitees fällt auf, dass sie nicht nur einer Ausreiseregelung zustimmen, sondern der geforderten Reisefreiheit. Schabowski, Mitglied und Pressesprecher des Politbüros, ist laut „Spiegel" nicht im Saal, als Krenz die Beschlussvorlage vorträgt. Als er gegen 18 Uhr die Sitzung verlässt, um zu seiner Pressekonferenz zu eilen, übergibt ihm Krenz ein Papier, das er auch bekannt geben soll. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Regierung den vom ZK der SED verabschiedeten Beschluss zur Ausreiseregelung noch nicht als Verordnung des Ministerrates intern abgestimmt; er war somit noch nicht in Kraft. Ohne den Sperrvermerk 10. November, 4 Uhr, der beigefügten Pressemitteilung zu beachten, verkündet Schabowski um 18:57 Uhr: Die SED gestattet ihren Bürgern die Reisefreiheit. Stunden später wurde sie in den grenznahen Regionen zur Bundesrepublik und vor allem in Berlin praktisch umgesetzt. Noch in der Nacht beginnt in Berlin ein mehrtägiges Volksfest. Rückblickend gibt es keinen Zweifel an der Bedeutung dieser Wiedersehensfeste in Deutschland: Die Nation vergewissert sich über die Teilstaatsgrenzen hinweg ihrer Existenz. Nach diesen Wiedersehensfeiern wurde die Frage der nationalen Einheit zur Schlüsselfrage der weiteren politischen und gesellschaftlichen Umwälzung in der DDR. Die Art und Weise, in der der Beschluss über die Reisefreiheit in der Partei- und Staatsführung der DDR zustande kam, entsprach dem administrativen Zentralismus, offenbarte aber gleichzeitig die Panik der SED-Spitze, ein deutliches Zeichen vom Zusammenbruch ihres despotischen Machtwillens. Rückblickend können wir feststellen: Mit dem 9. November begann das Ende des SED-Staates. Aber 1989 war das zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausgemacht. Noch waren die beiden deutschen Staaten fest eingefügt in die gegensätzlichen europäischen Blöcke, die Europa seit der Konferenz von Jalta 1945 spalteten, und die Regelung der äußeren Aspekte der deutschen Einheit lag noch in weiter Ferne. Für den Verlauf der demokratischen Revolution in der DDR spielen die Flüchtlinge eine besondere Rolle. Die Massenflucht aus der DDR schafft den vielfältigen oppositionellen Zirkeln in der DDR Raum, sich zu artikulieren und erstmals offen landesweit zu organisieren. Als am 10. September die ungarische Regierung bekannt gibt, am nächsten Tag können die DDR-Bürger in ein Land ihrer Wahl ausreisen, veröffentlicht das „Neue Forum" seine politische Plattform für die DDR. 4 Das war aber nicht die einzige Aktion, die die Flüchtlinge auslösten. Beginnend mit der Massenflucht über Ungarn und den Botschaftsbesetzungen in Warschau und Prag wurde die Bundesrepublik Deutschland außenpolitisch in den Prozess einbezogen. Die Re-

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Vgl. Zeno und Sabine Zimmerling: Neue Chronik DDR, 1. Folge, 7. August - 18. Oktober 1989, a. a. O., S. 32 ff. und „Daß ich das noch erleben darf...", a. a. O., S. 97 ff.

Die bundesdeutschen Parteien und die demokratische Revolution in der D D R (1991)

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gierung der Bundesrepublik musste sich unmittelbar in die äußeren Angelegenheiten der D D R einmischen.5 Die panische Grenzöffnung vom 9. November ist charakteristisch für eine Staatsführung, die mit einer revolutionären Situation konfrontiert ist. Lenin hat sie durch drei Merkmale definiert, und wir können das Schema durchaus auf die SED anwenden: 1. Die unterdrückten Klassen sind nicht mehr bereit, auf alte Weise zu leben, 2. die herrschenden Klassen sind nicht mehr in der Lage, in alter Weise zu regieren, und 3. die unzufriedenen Massen entwickeln eine bis dato nicht bekannte Eigenaktivität und politische Selbstständigkeit.6 Lenin und die bolschewistische Partei fügten in ihrem Revolutionsverständnis dann noch hinzu, eine Revolution könne nur siegen, wenn die revolutionäre Partei die Führung übernehme, die alten Herrschaftsstrukturen konsequent zerschlage und eigene Machtorgane etabliere. Nach Lenins Kriterien bestand vor dem 9. November eine revolutionäre Situation in der D D R . Aber die SED-Diktatur war apparativ noch intakt. Erst mit ihrer panikartigen Entscheidung verlor die SED endgültig die politische Initiative. Diese ging über an die Bürgerbewegungen, die Destruktion des Unterdrückungsstaates begann und fand seinen sichtbaren Ausdruck im Rücktritt des SED-Zentralkomitees am ersten Dezemberwochenende 1989. Die Selbstaufgabe der erneuerten SED-Führung war für viele Aktivisten der Bürgerbewegung der eigentliche Tag der Revolution. Und im soziologischen Sinn des Begriffs, wie ihn Theodor Geiger definierte, war es eine solche. Geiger versteht unter Revolution „eine grundsätzliche Veränderung der Fundamente einer historischen Gesellschaft überhaupt und in allen ihren einzelnen Teilen, Erscheinungen, Schöpfungen."7 Das genau geschah in der D D R nach dem 9. Oktober 1989. An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass die Protagonisten der politischen Umwälzung in der D D R sehr vorsichtig waren im Umgang mit diesem Begriff. Als am 4.11.1989 mindestens eine halbe Million Menschen auf dem Berliner Alexanderplatz demonstrierten, kam das Wort nur beiläufig vor. So beschwor Stefan Heym den aufrechten Gang, „und das, Freunde, in Deutschland, wo bisher sämtliche Revolutionen danebengegangen und wo die Leute immer gekuscht haben, unter dem Kaiser, unter den Nazis und später auch." Seine Kollegin Christa Wolf übernahm Gorbatschows Wort von der revolutionären Erneuerung, und der Generaloberst des Ministeriums für Staatssicherheit a. D. Markus Wolf lobte die Besonnenheit „unserer Menschen", denn „seit dem 9. Oktober ist kein Blut mehr geflossen, und wir wollen es dabei belassen." 8 Damit hat er den Kern dessen ausgesprochen, was die Umwälzung in der D D R so unangreifbar macht: ihre Gewaltlosigkeit! 5

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Vgl. „Daß ich das noch erleben darf...", a. a. O., S. 51 ff., besonders Friedrich Karl Fromme: Die Bundesrepublik hat Deutschen aus der D D R Schutz zu gewähren als deutschen Staatsangehörigen, S. 65 f. Vgl. Leszek Kolakowski: Die Hauptströmungen des Marxismus, 3 Bde., Bd. 2, München 1978, Lizenzausgabe Zürich 1982, S. 551 f. Theodor Geiger: Revolution, in: Alfred Vierkandt (Hg.): Handwörterbuch der Soziologie, Neudruck, Stuttgart 1959, S. 512. Die zitierten Reden sind abgedruckt in: tageszeitung-Ookumentition, 9. November 1989, zit. nach: taz: DDR-Journal zur Novemberrevolution, Frankfurt am Main 1989, S. 74 ff.

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Aufsätze 1991 bis 2006

2. D i e demokratische Revolution in der D D R Rückblickend kann der 9. November als Endpunkt der demokratischen Revolution in der D D R bestimmt werden, da mit diesem Datum unumkehrbar der Weg in die deutsche Einheit beginnt, der mit dem Beitritt der D D R zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 endet. Nur in einem Monat des Jahres 1989 ging es streng genommen um eine demokratische Revolution in der DDR. Er beginnt am 9. Oktober mit der Durchsetzung der Demonstrationsfreiheit in der D D R durch die Leipziger Montagsdemonstration und endet mit der Maueröffnung. Auslöser der SED-Staatskrise sind 1989 die Flüchtlinge. Die durch die schwere Krankheit des Generalsekretärs sich in Agonie befindliche SED-Führung, und die seit dem Ende der siebziger Jahre im Umfeld der evangelischen Kirche existierenden Friedens-, Umwelt-, Dritte-Welt-, Menschenrechts- und Minderheitsgruppen geraten unter politischen Handlungszwang. Die „tageszeitung" schätzt die Zahl dieser Basisinitiativen im August 1989 auf etwa 500.9 Die Programmatik der in sich noch undifferenzierten Opposition rückt vor dem 9. Oktober die Demokratisierung der D D R in den Mittelpunkt ihrer Forderungskataloge, wie das die gemeinsame Erklärung tut, die Vertreter der Bürgerbewegungen, des Neuen Forums und der Initiativgruppe Sozialdemokratische Partei in der D D R am 4. Oktober abgaben: „Uns verbindet der Wille, Staat und Gesellschaft demokratisch umzugestalten. Es kommt darauf an, einen Zustand zu beenden, in dem Bürgerinnen und Bürger dieser Gesellschaft nicht die Möglichkeit haben, ihre politischen Rechte so auszuüben, wie es die Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen und die KSZE-Dokumente verlangen."10 Die Forderung nach von der U N O kontrollierten freien Wahlen erinnert an die erste große politische Aktion der Opposition - sie führte im Mai 1989 den Nachweis, dass die Ergebnisse der Kommunalwahlen in der D D R gefälscht wurden." Die Aufdeckung der Wahlfälschungen hatte 1989 im Unterschied zu der 40 Jahre lang eingeübten Praxis deshalb eine solche Bedeutung, weil nach der X I X . Parteikonferenz der KPdSU im Sommer 1988 in der Sowjetunion wirklich Wahlen zum Kongress der Volksdeputierten stattfanden. Es war somit eine Provokation, als nach diesem Ereignis in der Sowjetunion die SED-Führung im Rahmen ihrer Blockadepolitik gegen Glasnost und Perestroika diese Wahlen nach altem Stil veranstaltete. Die Reformpolitik Gorbatschows war nicht nur die Voraussetzung für die demokratische Revolution in der D D R , sie lieferte auch die programmatischen Vorgaben für die Opposition, die sich weiterhin am Leitbild eines reformierten Sozialismus orientierte. Dies wird im Gründungsaufruf der Bürgerbewegung „Demokratie jetzt" vom 12. September 1989 klar ausgesprochen: „Eingeleitet und gefördert durch die Initiative Gorbatschows, wird in der Sowjetunion der Weg der demokratischen Umgestaltung beschritten. [...] Der Sozialismus muß nun seine eigentliche, demokratische Gestalt finden, wenn er nicht geschichtlich verlorengehen soll. Er darf nicht verlorengehen, weil die bedrohte Menschheit auf der Suche nach

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Taz: DDR-Journal zur Novemberrevolution, a. a. O., S. 7. Zit. nach: Zeno und Sabine Zimmerling: Neue Chronik DDR, 1. Folge, a. a. O., S. 72. „Daß ich das noch erleben darf...", a. a. O., S. 15.

Die bundesdeutschen Parteien und die demokratische Revolution in der D D R (1991)

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überlebensfähigen Formen menschlichen Zusammenlebens Alternativen zur westlichen Konsumgesellschaft braucht, deren Wohlstand die übrige Welt bezahlen muß."12 Dieser Perspektive entsprach notwendigerweise das Festhalten an der deutschen Zweistaatlichkeit, und erst nach einer Reform der Bundesrepublik mochte sich „Demokratie jetzt" eine neue deutsche Einheit vorstellen: „Wir laden die Deutschen in der Bundesrepublik ein, auf eine Umgestaltung ihrer Gesellschaft hinzuwirken, die eine neue Einheit des deutschen Volkes in der Hausgemeinschaft der europäischen Völker ermöglichen könnte. Beide deutsche Staaten sollten um der Einheit willen aufeinander zu reformieren."' 3 Öffentliche Reputation und damit Durchsetzungsfähigkeit bekam die Bürgerbewegung in der DDR durch ihr strikt eingehaltenes Bekenntnis zur Gewaltfreiheit. Der gewaltlose Aufstand für Demokratie und Menschenrechte wurde zum Markenzeichen der friedlichen Revolution in Deutschland. Das programmatische Dokument für diesen Weg der Umgestaltung der DDR im Dialog mit der Staatsmacht ist der Aufruf des Chefdirigenten des Gewandhauses, Prof. Dr. Kurt Masur, und Sekretären der SED-Bezirksleitung Leipzig am 9. Oktober. In ihm heißt es: „Wir alle brauchen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land. Deshalb versprechen die genannten Leute allen Bürgern, ihre ganze Kraft und Autorität dafür einzusetzen, daß dieser Dialog nicht nur im Bezirk Leipzig, sondern auch mit unserer Regierung geführt wird. Wir bitten Sie dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich wird."14 An diesem 9. Oktober unterblieb in Leipzig die gewaltsame Konfrontation zwischen Demonstranten und den einsatzbereiten Sicherheitskräften. Das „Wunder von Leipzig" war geschehen, unabhängig von den noch nicht ganz aufgeklärten Umständen und Hintergründen, wer seitens der Partei- und Staatsführung vorliegende Einsatzbefehle korrigiert hat. Wichtig in diesem Zusammenhang ist das Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit, dem Masur und seine Mitstreiter hier Ausdruck geben. Wie bei den politischen Forderungen der Opposition im Herbst 1989 wurzelt auch der Weg des gewaltlosen Bruchs in den Verhältnissen: Erst im Winter 1989/90 wird das personelle Ausmaß des Staatssicherheitsdienstes bekannt, aber die Demonstranten brauchten nicht diese erschreckenden Zahlen, sie mussten jahrelang unter dem stählernen Sicherheitsnetz leben. Mit anderen Worten: Das Kräfteverhältnis zwischen der Bürgerbewegung und dem hochgerüsteten Sicherheitsapparat verwies mit Nachdruck auf den Weg des Bittgangs, um nicht die Repression provozierend herbeizuführen, zumal die SED-Parteiführung es 1989 nicht unterließ, dem Staatsvolk vor Augen zu führen, was sie über die Gewalt in der Innenpolitik dachte. A m 4. Juni richtete die chinesische „Volksbefreiungsarmee" auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking ein Massaker an. Die chinesischen Kommunisten unterdrückten die Demokratiebewegung mit Gewalt. Die Volkskammer aber beglückwünschte die Machthaber in Peking demonstrativ zur Niederschlagung der vermeintlichen Konterrevolution,

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Zit. nach: Zeno und Sabine Zimmerling: Neue Chronik DDR, 1. Folge, a. a. O., S. 37. Ebd., S. 38. Taz: DDR-Journal zur Novemberrevolution, a. a. O., S. 44.

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Aufsätze 1991 bis 2006

und das DDR-Fernsehen strahlte dreimal einen chinesischen Propagandafilm aus. Sein Titel: „Der konterrevolutionäre Aufruhr in Peking am 3. und 4. Juni 19δ9".15 Am 5. Juni wählten die Polen ein neues Parlament und die von der Gewerkschaft Solidarität unterstützten Kandidaten erzielen hohe Mehrheiten. Der Weg, die Reform der Gesellschaft im Dialog mit der Staatsführung herbeizuführen, war nicht DDR-spezifisch. In der Sowjetunion löste Gorbatschow den Prozess von oben aus, er schuf Freiraum für das Auftreten eigenständiger politischer Gruppierungen. In Polen verlief der Prozess der Ablösung der kommunistischen Partei durch Solidarnosc über die Einigung am „Runden Tisch". Was den revolutionären Prozess in der D D R von dem in den anderen Randstaaten des sowjetischen Imperiums unterschied: Der von den Bürgerbewegungen eingeforderte demokratische Rechtsstaat existierte bereits auf deutschem Boden in Gestalt der Bundesrepublik. Der Zeitraum von vier Wochen, den die Oppositionsbewegung in der D D R hatte, um die demokratische Erneuerung in ihrem Staat durchzusetzen, reichte nur, um sich selbst zu organisieren, durch den Druck der Massendemonstrationen einen Führungswechsel an der Spitze der SED herbeizuführen und mit dem Dialog zu beginnen. Die „Erneuerung" der über 40 Jahre mit der SED verbundenen Blockparteien begann zwar in dieser Zeit, aber zum Beispiel wählte der Hauptvorstand der C D U erst am 10. November Lothar de Maiziere zum neuen Vorsitzenden der Partei.16 Erst Anfang Dezember beendeten die C D U und die Liberal-Demokratische Partei ihre Mitarbeit im „Zentralen Demokratischen Block", durch den die SED die Blockparteien über vier Jahrzehnte geführt hat.17 Um den Demokratisierungsprozess unumkehrbar zu machen, wollte die C D U mit anderen politischen Kräften am „Runden Tisch" zusammenarbeiten.18 Mit der Neugründung der Sozialdemokratischen Partei begann die Rekonstruktion eines demokratischen Parteiensystems in der D D R im Oktober 1989.19 Die Entscheidungen von C D U und LDPD setzten diesen Weg mit der „Erneuerung" der Blockparteien fort. Vor den ersten freien Volkskammerwahlen im März 1990 kooperierten dann die DDR-Parteien mit ihren „Schwestern" in der Bundesrepublik, was zur Übertragung deren parteipolitischer Landschaft auf die D D R im Zuge der Vereinigungspolitik führte. 3. Die Reaktion der bundesdeutschen Parteien Die im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien unterstützten die Demokratiebewegungen in der D D R einhellig. Das entsprach der öffentlichen Meinung über die Vorgänge im anderen Teil Deutschlands. Wie weit auch der emotionale Konsens ging, zeigte der Bundestag am 9. November: Bis auf die Abgeordneten der Grünen stand das Plenum auf und sang erstmals die Nationalhymne. Die SED war auch in der Bundesrepublik politisch isoliert. Das wurde in der Debatte um den „Bericht zur Lage

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„Daß ich das noch erleben darf...", a. a. O., S. 22 ff., besonders Monika Zimmermann: Wie weit ist China von der D D R entfernt?, S. 33 f. Zeno und Sabine Zimmerling: Neue Chronik D D R , 2. Folge, a. a. O., S. 85. „Daß ich das noch erleben darf...", a. a. O., S. 536. Zeno und Sabine Zimmerling: Neue Chronik D D R , 3. Folge, 24. November - 22. Dezember 1989, a. a. O., S. 50. Vgl. Gerhard Rein (Hg.): Die Opposition in der D D R , Berlin 1989, S. 89.

Die bundesdeutschen Parteien und die demokratische Revolution in der DDR (1991)

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der Nation im geteilten Deutschland" 2 0 sehr deutlich, die am 8. November 1989 im Bundestag stattfand. Unter dem Beifall von Abgeordneten aller Fraktionen würdigte der Bundeskanzler den „Freiheitswillen" der Landsleute in der D D R , „der auch nach 40 Jahren Diktatur nicht erloschen ist", um daran anschließend die weltpolitische Bedeutung dieses Vorganges hervorzuheben: „Diese Ereignisse haben der ganzen Welt vor Augen geführt, daß die Teilung unseres Vaterlandes widernatürlich ist, daß Mauer und Stacheldraht auf Dauer keinen Bestand haben können. Diese Bilder haben deutlich gemacht, daß sich die deutsche Frage nicht erledigt hat, weil sich die Menschen in Deutschland mit dem bestehenden Zustand nicht abfinden werden. Unsere Landsleute in der D D R verlangen die Achtung ihrer bürgerlichen und politischen Grundfreiheiten. Sie bestehen auf ihrem Recht auf Selbstbestimmung. Sie schweigen nicht länger zu dem Zwangssystem der Einparteienherrschaft."21 Indem der Bundeskanzler die Frage der Teilung Deutschlands als Problem akzentuierte, markierte er zugleich eine Differenz zwischen der Regierungskoalition und der Opposition. Der Partei- und Fraktionsvorsitzende der S P D , Dr. Vogel, warnte davor, die „Frage der Staatlichkeit" in den Vordergrund der Debatte zu rücken. E r wiederholte die Position seiner Partei zur Frage der deutschen Einheit: „Sie beruht auf der uneingeschränkten Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts. Das Selbstbestimmungsrecht ist die zentrale Antwort auf die deutsche Frage. Deshalb ist es zunächst einmal Sache der Deutschen in der DDR, dann, wenn sie dazu imstande sind, [...] darüber zu befinden, für welche Form des Zusammenlebens mit uns sie sich entscheiden wollen. Für die deutsche Sozialdemokratie sage ich: Wie immer sich die Deutschen dort entscheiden werden, wir werden die Entscheidung respektieren."22 Zur Begründung dieser Position stützte sich Dr. Vogel auf die Bekundungen zur Zweistaatlichkeit aus der Programmatik der Bürgerbewegungen in der D D R . In den gesellschaftlichen Vorstellungen der Bürgerbewegung sah er eine Absage an Gesellschaftsmodelle „neokonservativer Prägung" und eine „Wiedergeburt" des demokratischen Sozialismus, die auf ganz Westeuropa ausstrahlen wird. Ließ Vogel die Frage der deutschen Einheit offen, so bezeichnete Dr. Vollmer für die Grünen die „Rede von der Wiedervereinigung" als „historisch überholter denn j e " . Für die Grünen wurde durch die demokratische Bewegung in der D D R dieser zweite deutsche Staat neu begründet: „Solange es drüben ein totalitäres Regime gab, hatte die Nichtanerkennung der D D R und ihrer Staatsbürgerschaft eine scheindemokratische Rechtfertigung: Keine Anerkennung für ein Regime, das seiner Bevölkerung elementare Grundrechte verweigert. Tatsächlich hat es die SED nicht geschafft, eine eigene Vorstellung vom guten Leben zu entwickeln, die sich von der westlichen unterschieden hätte. Jetzt aber gibt es eine Reformbewegung, die vehement auf ihrem Eigensinn, ihrer Eigenständigkeit und auf ihrer eigenen Geschichte beharrt und die ihren eigenen Raum dafür braucht. Zum ersten Mal entsteht hier eine eigene DDR-Identität. Jetzt, ausgerechnet in dieser Lage, von Wiedervereinigung zu sprechen, heißt, das Scheitern der Reformbewegung zu postulieren und vorauszusetzen. [...] Wenn aber die demokratische Reform in der D D R gelingt, dann

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Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll 11/173 vom 8. November 1989. Ebd., S. 13010. Ebd., S. 13023.

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kann die Mauer weg, und dann kann die D D R bleiben und ihren eigenen Weg zum europäischen Haus suchen." 23

Der Verzicht der SED auf ihr Machtmonopol und die Durchführung freier Wahlen einten Opposition und Regierungskoalition im Bundestag. Der Bundeskanzler sah in der Erfüllung dieser Forderungen die Voraussetzung für „eine völlig neue Dimension unserer wirtschaftlichen Hilfe" 24 für die DDR. Er war es auch, der eindringlich auf die Chancen und Risiken hinwies, die im Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums in Europa steckten. Erstmals nach dem Krieg gibt es, so Bundeskanzler Kohl, „eine begründete Hoffnung auf die Uberwindung des Ost-West-Konflikts. Auch wenn wir erst am Anfang einer solchen Entwicklung stehen und niemand von uns die Risiken eines Scheiterns der sich daraus ergebenden Gefahren übersehen oder unterschätzen darf: Es gibt jetzt eine Perspektive für einen wirklichen Wandel in ganz Europa, eine wirkliche Chance für eine europäische Friedensordnung, f ü r ein Europa der Freiheit und der Selbstbestimmung." 25

In diesen Sätzen steckte die Selbstverpflichtung der Bundesregierung, das Ihrige zu tun, um den Ost-West-Konflikt zu überwinden. Dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, Momper, war es vorbehalten, in dieser Debatte die Frage der weiteren Kooperation mit der SED zu erörtern. Sein Standpunkt: „Die SED hat Α gesagt, und sie wird auch Β sagen müssen. Ihr Anspruch auf das Machtmonopol im Staat zerbröckelt. [...] Die SED ist nicht das ganze Volk. Sie ist ein Teil des Volkes. Deshalb wird sie die Ausübung der Staatsgewalt mit anderen teilen müssen. Wie dieser Ubergang in Pluralismus und Demokratie ausgestaltet wird, ist die Schlüsselfrage der inneren Entwicklung in der D D R in den kommenden Tagen. Dabei darf man eins nicht vergessen: Wie man jetzt auch den öffentlichen Diskussionen entnehmen kann, gibt es in der SED-Mitgliedschaft eine Vielfalt v o n Meinungen und Strömungen. Es wäre töricht, mit dieser Partei nicht im Gespräch bleiben zu wollen." 26

Die Ausführungen des Regierenden Bürgermeisters von Berlin verbanden die aktuelle Diskussion über die Veränderung in der DDR mit der in der SPD schon zur Tradition gewordenen sozialliberalen Deutschlandpolitik, die unter Bundeskanzler Brandt das Nebeneinander zweier deutscher Staaten vertraglich regelte und zu diesem Zweck mit der despotischen Staatspartei der DDR verhandeln musste, wie das dann auch die Regierung Kohl getan hat. Momper blieb bei diesem Ansatz, der gerade von den Ereignissen in der DDR außer Kraft gesetzt wurde und er demonstrierte damit zugleich, wie offen und unübersichtlich das Terrain an diesem Tag vor der Maueröffnung noch war. Momper wollte die Brücke zur SED noch nicht abbrechen. Es muss noch einmal wiederholt werden: Die Differenz zwischen Regierungskoalition und Opposition bei der Bewertung der Vorgänge in der DDR bezog sich an diesem Tag im Wesentlichen auf die Frage der nationalen Einheit der Deutschen. Die Grünen lehnten eine Vereinigung ab, die Sozialdemokraten schlossen sie nicht aus und wollten auf das Votum der Bürger in der DDR warten. Der Bundeskanzler da-

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Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S.

13031 f. 13016. 13010 f. 13038 f.

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gegen thematisierte bewusst die „widernatürliche Teilung", und sein Außenminister Genscher unterstrich, „daß das Wort von der Nation und ihrer Einheit keine Leerformel ist und [...] die Einheit und die Solidarität der Nation - ob wir in zwei Staaten leben oder staatlich auch wieder zueinander finden - umfaßt die gemeinsame Verantwortung für die Vergangenheit, für die Gegenwart und für die Zukunft."27 Genschers Optimismus in der Vereinigungsfrage der Deutschen bezog sich implizit auf die Positionsänderungen der sowjetischen Führung unter Gorbatschow zur Frage des Rechts auf Selbstbestimmung, das jedem Volk zusteht. Und im Juli 1989 hat der Warschauer Pakt in einem offiziellen Kommunique diese Position übernommen und das Recht jedes Mitgliedsstaates auf seinen eigenen Weg bestätigt. Die Ungarn und die Polen wollten eine Garantie, dass sich „brüderliche Hilfen" wie in Prag 1968 nicht wiederholen. Der Warschauer Pakt forderte 1989 „die strikte Achtung der nationalen Unabhängigkeit, der Souveränität und Gleichberechtigung aller Staaten, der Gleichberechtigung der Völker und des Rechts eines jeden Volkes auf Selbstbestimmung, auf freie Wahl seines sozialpolitischen Entwicklungsweges, die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, die vorbehaltlose Enthaltung von jeglicher Anwendung oder Androhung von Gewalt."28 Eingedenk der Erfahrungen des 17. Juni 1953 in der DDR war der Abschied von der Breschnew-Doktrin, mit der die sowjetische Führung den Einmarsch in Prag 1968 und den Uberfall auf Afghanistan 1979 legitimierte, die sicherheitspolitische Voraussetzung für die Demokratiebewegung in der DDR. Ein weiterer Aspekt muss bei Genschers Position berücksichtigt werden, der bundesdeutsche Außenminister wurde in Budapest, Prag und Warschau von den Flüchtlingen als ihr Repräsentant angesehen und nicht die Diplomaten der DDR. Und die Regierungen dieser Länder akzeptierten - entgegen gültiger Verträge mit der DDR - die Bundesregierung als autorisierten Verhandlungspartner in der Flüchtlingsfrage. Damit verfiel auch die außenpolitische Souveränität der Ostberliner Führung und zur inneren Isolation trat die äußere. Entgegen seinem Ruf als vorsichtig agierender Politiker richtet er indirekt an die Adresse der Sozialdemokraten eine deutliche Warnung, die nationale Frage nicht außer Acht zu lassen. Genscher: „Es gibt weder eine kapitalistische noch eine sozialistische deutsche Nation. Nationen gründen sich nicht auf Ideologien. Die Deutschen in der DDR schreiben ein neues Kapitel deutscher und europäischer Geschichte. Nach dem, was jetzt in der DDR geschieht, wird nichts mehr so sein, wie es vorher war: Nicht dort, auch nicht bei uns, und nirgendwo in Europa. Wer das auf unserer Seite verkennt, könnte sehr schnell - wenn auch in anderer Weise - in Gegensatz geraten zu der Entwicklung in Europa, wie das der DDRFührung geschehen ist."29 Die Debatte zum Bericht zur Lage der Nation am 8. November 1989 zeigt: 1. Die demokratischen Parteien in der Bundesrepublik erkennen die Politik der Demokratiebewegung in der DDR in ihrer Eigenständigkeit an und unterstützen sie.

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Ebd., S. 13049 f. Abschied von der Breschnew-Doktrin, in: „Daß ich das noch erleben darf...", a. a. O., S. 38. Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll 11/173, S. 13048 f.

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2. Die Bundesregierung schließt bereits die Möglichkeit der deutschen Wiedervereinigung nicht mehr aus im Rahmen der Überwindung des Ost-West-Konflikts und der Etablierung einer europäischen Friedensordnung. Die Parteien unterschieden sich in ihrer Haltung zur nationalen Frage. Die Unterschiede zwischen ihnen in dieser Debatte beruhten auf den verschiedenen Positionen, die sie zu dem vom Grundgesetz geforderten Staatsverständnis der Bundesrepublik als dem demokratischen Kernstaat der Deutschen in den letzten Jahrzehnten entwickelt hatten. Die Konsequenz dieses Staatsverständnisses war die Forderung nach Wiederherstellung eines deutschen Nationalstaates. Und genau dieses Staatsziel der Bundesrepublik Deutschland wurde vor 1989 immer fraglicher. Im Namen der endgültigen Anerkennung der deutschlandpolitischen Realitäten und mit dem Blick auf die europäische Integration und das „gemeinsame Haus" Europa wuchs die Zahl derjenigen Publizisten und Politiker, die eine Revision dieses „antiquierten" Staatsziels forderten. 4. Die Bewährung des demokratischen Kernstaats Mit dem Abschluss des Grundlagenvertrages gab 1972 die Bundesrepublik ihren Alleinvertretungsanspruch für Deutschland auf. Der deutschlandpolitische Streitpunkt zwischen und in den Parteien nach 1972 betraf das Staatsverständnis der Bundesrepublik als demokratischer Kernstaat der Deutschen. Je länger die Teilung dauerte, umso überzeugender wurden die Argumente für den Verzicht auf die Perspektive der Wiederherstellung eines deutschen Nationalstaats. Der Sprecher der Grünen, Dr. Lippelt, hat diese in der Debatte um den Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland 1988 dargelegt. Gestützt auf die Dauer deutscher Zweistaatlichkeit forderte er für die Grünen von der Bundesregierung „die Aufgabe der Wiedervereinigungspolitik". Dr. Lippelt behauptete, die Geschichte der deutschen Nation endete 1945. Und er fragt: „Ist es nicht ehrlicher zu akzeptieren, daß 40 Jahre Bundesrepublik, 40 Jahre DDR, 50 Jahre seit dem Kriegsausbruch, seit dem Uberfall auf Polen und die Verwirkung nationaler Einheit zusammengehen?"30 Er warf der Bundesregierung vor, mit ihrer überholten Wiedervereinigungspolitik sowohl die Schaffung einer europäischen Friedensordnung zu blockieren, als auch immanent die reformfeindlichen Kräfte in der D D R zu stabilisieren. Diese Argumentation fußte auf einer Annahme über die Identifikation der Menschen in der D D R mit ihrem Staat. Prof. Heimann, stellvertretender Obmann der SPD im Bundestagsausschuss für innerdeutsche Beziehungen, behauptete noch im Sommer 1989: „Ich glaube, daß es viel mehr Menschen in der D D R gibt, die den Staat auch als den ihren betrachten - mehr, als wir glauben."31 Die Annahme über die DDR-Identität der Deutschen, die dort eingegrenzt leben mussten, war der eine Pol der Argumentation für den Verzicht auf das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes. Der andere Pol bezog sich auf die europäische Spaltung als Folge des Ost-West-Konflikts, die durch die beiden Militärkoalitionen N A T O und Warschauer Pakt atomar verfestigt wurde. War eine Wiedervereinigungspolitik nicht schon angesichts der weltpolitischen Realitäten irreal geworden? Bürgerrechtler aus Polen und der Tschechoslowakei fanden in der Bundesrepublik in den

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Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll 11/113 vom 1. Dezember 1988, S. 8108. Starke Sprüche schaden, in: metall. Zeitung der IG Metall, Nr. 17 vom 25. August 1989, S. 8.

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letzten Jahren kaum Gehör, wenn sie fragten: Wie soll sich Europa vereinen, wenn seine Mitte gespalten bleibt und den Deutschen das Recht auf Selbstbestimmung verwehrt bleibt? Diese Frage stellte 1985 die Charta 77 in ihrem „Prager Aufruf". 3 2 Jiri Dienstbier, einer ihrer damaligen Sprecher, wurde 1989 in Prag Außenminister. Das herausragendste Ereignis in den Beziehungen der beiden deutschen Staaten war der Arbeitsbesuch von SED-Generalsekretär Honecker in der Bundesrepublik Deutschland im September 1987. E r schien ein demonstratives Zeichen für die Endgültigkeit der deutschen Zweistaatlichkeit zu sein. Anlässlich dieses Besuchs wurden noch einmal Grundsatzpositionen ausgetauscht und diskutiert, die durch den Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der D D R in ein unwirkliches Zwielicht gerückt waren. Beide Staaten hatten sich zu normalen, gutnachbarlichen Beziehungen zueinander auf der Grundlage der Gleichberechtigung verpflichtet. Beide Staaten gingen davon aus, dass keiner den anderen international vertreten oder in seinem Namen handeln kann, und sie respektierten die Unabhängigkeit und Selbstständigkeit in ihren inneren und äußeren Angelegenheiten. Aber der Grundlagenvertrag änderte nichts an dem Dissens zwischen beiden Staaten in der offenen nationalen Frage, und das wurde in der Präambel ausdrücklich vermerkt. 33 Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil am 31. Juli 1973 aufgrund der vom CSU-Vorsitzenden Strauß durchgesetzten Klage der bayerischen Staatsregierung gegen den Grundvertrag 34 das Wiedervereinigungsgebot für die Bundesrepublik ausdrücklich festgeschrieben. Die Karlsruher Richter stellten fest: „Kein Verfassungsorgan der Bundesrepublik Deutschland darf die Wiederherstellung der staatlichen Einheit als politisches Ziel aufgeben, alle Verfassungsorgane sind verpflichtet, in ihrer Politik auf die Erreichung dieses Zieles hinzuwirken - das schließt die Forderung ein, den Wiedervereinigungsanspruch im Inneren wachzuhalten und nach außen beharrlich zu vertreten - und alles zu unterlassen, was die Wiedervereinigung vereiteln würde."35 Die SED-Führung hat diese Grundsatzposition niemals auf sich beruhen lassen. Als die D D R im Zuge ihrer Abgrenzungspolitik im O k t o b e r 1980 die Mindestumtauschsätze erhöhte, was zu einem erheblichen Rückgang des Reise- und Besucherverkehrs in die D D R führte, verband SED-Generalsekretär Honecker diesen Schritt mit der Forderung nach voller Respektierung der DDR-Staatsbürgerschaft, der Umwandlung der Ständigen Vertretungen in Botschaften, der Grenzziehung in der Strommitte im Elbe-Abschnitt der innerdeutschen Grenze und der Abschaffung der Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter. O h n e Erfüllung dieser „Geraer Forderungen" sollte es keine weiteren Fortschritte in den innerdeutschen Beziehungen geben. 36

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Dokumente der unabhängigen Friedensbewegung Ost-West. Listy, Rom, Nr. 5/April 1985, S. 5 ff. Vgl. auch Jiri Pelikan: Die Deutschen und Osteuropa, in: Deutschland Archiv, Heft 12/1988, S. 1279 ff. Vgl. Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik (Grundvertrag), Berlin, 21. Dezember 1972, in: Dietrich Rauschning (Hg.): Rechtsstellung Deutschlands. Völkerrechtliche Verträge und andere rechtsgestaltende Akte, München 1985, S. 163 ff. Vgl. Franz Josef Strauß: Die Erinnerungen, Berlin 1989, S. 449 ff. Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973 über die Verfassungsmäßigkeit des Grundvertrages, in: Dietrich Rauschning (Hg.): Rechtsstellung Deutschlands, a. a. O., S. 173. Vgl. Gebhard Diemer (Hg.): Kurze Chronik der deutschen Frage, München 1990, S. 101.

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Anlässlich des Besuchs Honeckers im September 1987 wurden die jeweiligen Grundsatzpositionen demonstrativ wiederholt. Bundeskanzler Kohl: „Die Präambel unseres Grundgesetzes steht nicht zur Disposition, weil sie unserer Überzeugung entspricht. Sie will das vereinte Europa, und sie fordert das gesamte deutsche Volk auf, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Das ist unser Ziel. Wir stehen zu diesem Verfassungsauftrag, und wir haben keinen Zweifel, daß dies dem Wunsch und Willen, ja der Sehnsucht der Menschen in Deutschland entspricht."37 D e m entgegnete der Generalsekretär des Z K der S E D Honecker: „Die Entwicklung unserer Beziehungen, der Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland, dessen sind wir uns bewußt, ist von den Realitäten dieser Welt gekennzeichnet, und sie bedeuten, daß Sozialismus und Kapitalismus sich ebenso wenig vereinigen lassen wie Feuer und Wasser."38 1987 erschienen diese Sätze als notwendige Pflichtübung, die die Unterzeichnung der Abkommen über Zusammenarbeit auf dem Gebiet von Wissenschaft und Technik und dem Umweltschutz umrahmte. Als deutschlandpolitisches Lehrstück wertete dann auch der sozialdemokratische Abgeordnete Dr. Schmude im Bundestag 1987 in der Debatte um den „Bericht zur Lage der Nation" 3 9 den symbolischen Gehalt des Staatsbesuchs, „der in dem Abspielen der Hymnen und in der Präsentation der Flaggen beider deutscher Staaten besonders augenfällig wurde. Diese Bilder werden im Gedächtnis aller Betrachter haften bleiben. Wir Sozialdemokraten haben sie uns nicht gewünscht; der Kampf der SPD gegen den außenpolitischen Kurs Konrad Adenauers in den 50er Jahren war ausdrücklich von dem Bestreben geleitet, eine verfestigte Teilung Deutschlands zu vermeiden. Das Bemühen ist gescheitert. Zwei selbständige deutsche Staaten existieren. Nur wer das in Rechnung stellt, kann retten, was an Einheitlichkeit der Nation noch nicht verloren ist, und neue Verbindungen hinzugewinnen. Für alle, die diese Realitäten nicht wahrhaben wollen, die an ihnen vorbei politische Wege suchen, waren die protokollarischen Äußerlichkeiten der Begegnung notwendiges Erlebnis." 40 D e r Partei- und Fraktionsvorsitzende der S P D , Dr. Vogel, plädierte in der gleichen Debatte für eine deutsch-deutsche „Kooperation auf qualitativ neuem Niveau. Dazu gehört die Vertiefung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit; dazu gehört die Belebung des kulturellen Austausches; dazu gehört die Vervielfältigung der Kontakte zwischen den Institutionen und Organisationen." 41 Die einzelnen Menschen kamen in dieser Aufzählung nicht vor, dem stand unter anderem das damalige politische Strafrecht der D D R im Weg, darin gab es den Tatbestand der „ungesetzlichen Verbindungsaufnahme". Dr. Vogel forderte die Aufnahme normaler Beziehungen zwischen der Volkskammer und dem Deutschen Bundestag und

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Presse- und Informationsamt der Bundesregierung: Bulletin: Offizieller Besuch des Generalsekretärs des Zentralkomitees der SED, Nr. 83, Bonn, 10. September 1987, S. 705. Ebd., S. 707. Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll 11/33 vom 15. Oktober 1987. Ebd., S. 2183. Ebd., S. 2170.

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die Beseitigung der Erfassungsstelle Salzgitter. Als Beispiel für die Chance einer „systemöffnenden Zusammenarbeit" pries Vogel das zwischen der Grundwertekommission der SPD und der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED ausgearbeitete Ideologie-Papier, das wenige Tage vor dem Honecker-Besuch in Bonn veröffentlicht wurde.42 Nur zwei Jahre vor der Staatskrise der D D R orientierten sich zumindest die Sozialdemokraten eindeutig auf eine lang andauernde, qualitativ neue Kooperation mit der SED. Auch in der C D U gab es Politiker, die diesem Weg folgen wollten. Im Februar 1988 publizierte der CDU-Generalsekretär Dr. Geißler den von einer Kommission erarbeiteten Entwurf „Christlich-demokratische Perspektiven zur Außen-, Sicherheits-, Europa- und Deutschlandpolitik" für den 36. Bundesparteitag der C D U im Juni 1988 in Wiesbaden. In diesem Entwurf wird zutreffend festgestellt: „Die Überwindung der Teilung Europas und damit Deutschlands setzt eine Uberwindung des West-Ost-Konflikts voraus." Daraus wird dann gefolgert: „Die Lösung der deutschen Frage ist daher gegenwärtig nicht zu erreichen." Mit dieser Feststellung wird die Notwendigkeit unterstrichen, die Politik vertraglicher Abmachungen mit der D D R fortzusetzen, und die Aufnahme von Kontakten zwischen Bundestag und Volkskammer begründet. Der Begriff der Wiedervereinigung fehlte in dem Papier.45 Dieser Versuch der Revision deutschlandpolitischer Grundsatzpositionen der C D U löste heftige innerparteiliche und öffentliche Kritik aus. Dr. Maetzke kommentierte in der Frankfurter Allgemeinen, ob die C D U die Absicht habe, „die Präambel des Grundgesetzes zu einem unanständigen Text" zu erklären und in einem Moment, da sich die Verhältnisse im Ostblock und in der D D R offensichtlich bewegen, fragte er: Sei es nicht klüger, „den Atem anzuhalten und gar nichts zu sagen?" 44 Die Kritik führte zur Veränderung des Entwurfs durch den Bundesvorstand der C D U . Der angenommene Beschluss in Wiesbaden begann demonstrativ schon in der Uberschrift mit der Aufzählung der Deutschlandpolitik an erster Stelle und im Text mit einem Zitat Konrad Adenauers: „Die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit war und ist das vordringlichste Ziel unserer Politik. [...] Auf uns allein gestellt würden wir nichts erreichen, mit dem Westen vereinigt, würden wir [...] unsere Freiheit behalten und die Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit im Lauf der Zeit verwirklichen."45 Dieser Rückgriff auf die Legitimation der westdeutschen Staatsgründung 1949 durch den ersten Bundeskanzler erschien 1988 trotzdem nur als innerparteiliche Taktik und pure Deklamation; sie traf aber den Kern der deutschlandpolitischen Grundsatzdebatten nach Abschluss des Grundvertrages 1972. Es ging dabei immer um die Versuche zur Revision des Anspruchs der Bundesrepublik, Kernstaat eines demokratischen Deutschlands zu sein. Vor allem der Parteivorsitzende Kohl soll im Sommer 1988 der Versuchung widerstanden haben, sich dem Zeitgeist anzupassen. Die C D U hielt am Ziel der deutschen Einheit ebenso fest wie an der Westbindung. Dadurch bewahrte sich der Bundeskanzler die programmatische Klarheit, um international und national 42 43 44 45

Ebd. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. Februar 1988. Ernst-Otto Maetzke: Deutschland aus dem Sinn, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. Februar 1988. „Unsere Verantwortung in der Welt. Christlich-demokratische Perspektiven zur Deutschland-, Außen-, Sicherheits-, Europa- und Enrwicklungspolitik", 36. Bundesparteitag der C D U 13.-15. Juni 1988, Wiesbaden, Protokoll, S. 485.

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in der SED-Staatskrise 1989 handlungsfähig zu sein. 46 Die Bundesregierung konnte das Ende der S E D - D i k t a t u r nutzen, um gestützt auf die Westbindung im Dialog mit der Sowjetunion einen konstruktiven Beitrag zur Uberwindung des Ost-West-Konflikts zu leisten und in diesem Rahmen die deutsche Einheit zu verwirklichen. In der SED-Staatskrise 1989 wurde das von vielen politischen Kräften in der Bundesrepublik bereits aufgegebene Staatsverständnis der Bundesrepublik als demokratischer Kernstaat der Deutschen revitalisiert. Das Festhalten an der einheitlichen Staatsbürgerschaft war die Voraussetzung, damit die Bundesrepublik den Flüchtlingen in Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei Schutz gewähren und ihre Ausreise in zwischenstaatlichen Verhandlungen durchsetzen konnte. Die Bewahrung und der Ausbau des demokratischen und sozialen Rechtsstaates Bundesrepublik in vier Jahrzehnten bot 1989 den Parteien im Bundestag die Basis, um gemeinsam die Brechung des Machtmonopols der S E D und die Durchsetzung freier Wahlen in der D D R einzufordern. Der Verlauf der deutschen Vereinigung 1990 bewies in der Praxis nach mehr als einer Generation die „Magnettheorie", in deren Namen sich Adenauer und Schumacher zur Gründung der Bundesrepublik entschlossen, als die westlichen Besatzungsmächte 1948 auf die staatliche Konsolidierung ihrer Besatzungszonen drängten. Die beiden Parteiführer der Christ- und Sozialdemokraten waren sich 1948 darüber einig: N u r im Bündnis mit den Westmächten lässt sich deutsche Souveränität zurückgewinnen, die Demokratie in Deutschland begründen und das durch Hitlers ruchlosen Krieg verwüstete Land wieder aufbauen. Als im Dezember 1947 die alliierten Deutschland-Konferenzen scheiterten, schrieb Hans-Peter Schwarz in seiner bahnbrechenden Studie „Vom Reich zur Bundesrepublik", „da waren alle Konzeptionen, die sich um die Zentralidee der Blockfreiheit und der Einheit Deutschlands drehten, gescheitert. Das kommende Jahr stand im Zeichen des westeuropäischen Zusammenschlusses und des Kalten Krieges. Jetzt war Adenauer der Mann der Stunde. [...] Zu entwickeln war nun eine Konzeption, die die unvermeidlich gewordene politische Sonderentwicklung im Westen bejahte und zugleich Möglichkeiten der Wiedervereinigung eröffnete. Adenauer fand sie ebenso wie andere - etwa Kurt Schumacher und Ernst Reuter - in der Feststellung, eine Konsolidierung im Westen werde die sowjetische Herrschaft in der Ostzone von selbst zum Einsturz bringen." 47 Adenauer in der Gründungsphase der Bundesrepublik 1949: „Was nun die deutsche Bevölkerung in der Ostzone anlangt, so glaube ich, daß sie bei einer durch die Westmächte unterstützten Aufwärtsentwicklung des westdeutschen Staates schwerlich der geplanten Sowjetisierung erliegen wird. Am Beispiel Westdeutschlands wird sie sich aufraffen und diesem System der Unfreiheit und Verelendung entschlossen Widerstand entgegensetzen. So werden endlich die Russen gezwungen sein, ihre Besatzungszone mit dem westdeutschen Bund zu vereinigen."48

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Zur Bedeutung von Bundeskanzler Kohl im Prozess der deutschen Vereinigung siehe: Jakob Schissler: Aspekte der politischen Kultur im Deutschland der Gegenwart, in: Beiträge zur Konfliktforschung, 20. Jg., Heft 3/1990, besonders S. 8 ff. Hans-Peter Schwarz: Vom Reich zur Bundesrepublik. Deutschland im Widerstreit der außenpolitischen Konzeptionen in den Jahren der Besatzungsherrschaft 1945-1949,2. erweiterte Aufl., Stuttgart 1980, S. 478. Zit. nach ebd., S. 479.

Die bundesdeutschen Parteien und die demokratische Revolution in der D D R (1991)

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Es ist hier nicht der Ort, um auf den Streit zwischen Adenauer und den Sozialdemokraten um seine Außenpolitik näher einzugehen. Der Konflikt ging ebenfalls um die nationale Perspektive: Gefährdet die Politik der westeuropäischen Integration, die Wiederbewaffnung und der Beitritt zur N A T O das Ziel Wiedervereinigung oder nicht? 1990 hat die Geschichte diesen Streit zu Gunsten Adenauers entschieden. Im „Deutschland-Vertrag" von 1952 zwischen der Bundesrepublik und den drei Westmächten, der das Besatzungsregime beendet, verpflichteten sich schließlich die Westalliierten auch in Artikel 7, Absatz 2: „Bis z u m Abschluß der friedensvertraglichen Regelung werden die Unterzeichnerstaaten zusammenwirken, u m mit friedlichen Mitteln ihr gemeinsames Ziel zu verwirklichen: Ein wiedervereinigtes Deutschland, das eine freiheitlich-demokratische Verfassung, ähnlich wie die Bundesrepublik, besitzt und das in die europäische Gemeinschaft integriert ist." 4 9

Wilhelm Grewe, der den Vertrag maßgeblich aushandelte, schrieb 1979 rückblickend: „ E s soll hier nicht behauptet werden, daß die Westmächte zwanzig Jahre lang unter Verdrängung ihrer innersten Gefühle und Wunschvorstellungen alles daran gesetzt hätten, die Wiedervereinigung Deutschlands herbeizuführen. Kein Vertrag konnte das bewirken oder gewährleisten."

Aber, so fügt er hinzu: „Wäre es einer Bundesregierung gelungen, positive Erfolge auf einem Wege zur Uberwindung der Spaltung zu erzielen, so hätten die Unterzeichner des Deutschland-Vertrages sich dem kaum widersetzen können." 50 Der Deutschlandvertrag war Ende 1989 keine Archivalie. Das wird an einem ganz anderen Vorgang deutlich. Als auch die SED sich im Dezember 1989 zur SED-PDS erneuerte, glaubten ihre Protagonisten noch, die deutsche Zweistaatlichkeit werde weiterhin von den Weltmächten garantiert.51 Die SED musste nach den Worten von Gysi als PDS erneuert werden, um die D D R und den „Sozialismus in diesem Land" 52 zu retten. Zusammenfassend: Die 1989 revitalisierte Staatsräson der Bundesrepublik, als demokratischer Kernstaat der Deutschen zu handeln, war die gewichtigste westliche Hilfe zum Gelingen der demokratischen Revolution gegen die SED-Diktatur. Und erst im Rückblick erkennen wir die schicksalhafte Bedeutung der deutschlandpolitischen Grundsatzdebatten nach dem Abschluss des Grundlagenvertrages.

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Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten, in: Dietrich Rauschning (Hg.): Rechtsstellung Deutschlands, a. a. O., S. 48. Wilhelm Grewe: Rückblenden 1876-1951, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1979, S. 213. Hans Modrow am 8. Dezember 1989: „Beim Treffen mit Michail Sergejewitsch Gorbatschow [in Malta am 3.12., M. W.] hat meines Wissens auch Präsident Bush bekräftigt, daß die USA an den bestehenden Grenzen, am Bestehen zweier deutscher Staaten, an den Realitäten der Nachkriegszeit festhalten und, wenn ich das richtig interpretiere, nicht die Absicht haben, die Ereignisse in der D D R in Richtung Wiedervereinigung zu forcieren." - Hans Modrow: Souveräne D D R muß ein solider Beistein für europäisches Haus sein, in: Außerordentlicher Parteitag der SED/PDS: Materialien, Berlin (Ost) 1990, S. 9. Gregor Gysi am 3. Dezember 1989, zit. nach: Zeno und Sabine Zimmerling: Neue Chronik D D R , 3. Folge, a. a. O., S. 38.

DDR-Schlussbilanz. Verfallene Städte, ruinierte Infrastrukturen, schrottreife Industrieanlagen (1996)*

Am 18. Mai 1990 unterschrieb Walter Romberg, Finanzminister der DDR, für sein Land den Staatsvertrag mit der Bundesrepublik über die Währungs-, Wirtschaftsund Sozialunion. Mit diesem Vertrag wurde nicht nur die D-Mark, sondern auch die Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik auf die DDR übertragen. Die Auszahlung der D-Mark in der DDR am 1. Juli 1990 wurde in der Bevölkerung mit Sekt und Feuerwerk gefeiert. Beide deutschen Regierungen würdigten diesen Tag als einen historisch bedeutsamen und unumkehrbaren Schritt in Richtung deutsche Einheit. Mit diesem Tag begann aber auch für die Menschen in der DDR eine dramatische Veränderung ihrer Lebensperspektiven. Viele erlebten den Verlust von sicher geglaubten Arbeitsplätzen, die Entwertung ihrer in der DDR erworbenen Qualifikationen und ihres Erfahrungs- und Orientierungswissens. Im vereinten Deutschland gibt es somit heute nicht nur ein Wohlstandsgefälle zwischen West und Ost, sondern auch ein unterschiedliches Betroffensein von dem gesellschaftlichen Transformationsprozess „Deutsche Einheit". Im Osten des vereinten Deutschlands ist die Frage noch virulent, ob es 1990 nicht Alternativen zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zwischen DDR und Bundesrepublik gegeben hätte. Fünf Jahre nach seiner Unterschrift unter den Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion übte Walter Romberg heftige Kritik an der ökonomischen Vereinigungspolitik. Seine These: Durch die „neoliberale Auffassung" der Bundesregierung vom Vorrang der Privatisierung und Deregulierung der verstaatlichten Wirtschaft der DDR seien die Interessen der Ostdeutschen im Vereinigungsprozess ins Hintertreffen geraten. Romberg stützt seine These mit dem Hinweis auf drei fundamentale Fehlentscheidungen: Erstens: Bezogen auf die von der SED enteigneten Grundstücke, Immobilien und Betriebe räumte der Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR dem Prinzip Rückgabe Vorrang ein vor einer Entschädigungszahlung an die früheren Eigentümer. Zweitens·. Die Bundesregierung weigerte sich 1990, ein Strukturanpassungskonzept für die Wirtschaft der DDR zu erarbeiten. Drittens: Die von der Treuhandanstalt betriebene Privatisierung des Industrievermögens und der verstaatlichten Landwirtschaft führte in vielen Fällen zur Deindustrialisierung ostdeutscher Regionen. Mit dieser kritischen Bewertung der ökonomischen Ergebnisse des Vereinigungsprozesses in Ostdeutschland steht Romberg nicht allein. Der 13. Deutsche Bundestag hat im Juni 1995 erneut eine Enquete-Kommission eingesetzt, die sich mit der Ge-

Zuerst erschienen in: Die politische Meinung. S. 23-29.

Monatsschrift zu Fragen der Zeit, Nr. 315/1996,

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schichte und den Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit befassen sollte. Der stellvertretende SPD-Vorsitzende Wolfgang Thierse hat versucht, die Aufgabenstellung dieser Kommission dahingehend zu verändern, dass sie nicht allein die Folgen der SED-Diktatur untersuchen soll, sondern auch die „unterschiedlichen Entwicklungen in Ost- und Westdeutschland im Prozeß der deutschen Einheit". Er begründete sein Vorhaben mit der Feststellung, dass zu den aktuellen Nachwirkungen der SED-Diktatur „im Zuge des Transformationsprozesses weitere Schäden hinzugetreten sind". Romberg und Thierse lösen in ihrer Kritik der ökonomischen Folgen des Vereinigungsprozesses für die Ostdeutschen seine Ergebnisse von seiner Ursache: dem ökonomischen Bankrott der sozialistischen Planwirtschaft in der DDR. Die Diskussion über die ökonomischen Fehlentscheidungen im deutschen Vereinigungsprozess ist gewiss notwendig und unabweisbar; aber dabei sollten Ursachen und Folgen nicht voneinander getrennt werden. Gehörten doch zu den ökonomischen Hinterlassenschaften der SED-Diktatur nicht nur schrottreife Industrieanlagen, ökologische Rückständigkeit, sondern auch verfallene Städte und eine ruinierte Infrastruktur. In dieser Diskussion um die ökonomischen Ergebnisse des Vereinigungsprozesses besitzt die ökonomische Schlussbilanz der DDR besonderes Gewicht, die die führenden Wirtschaftsfunktionäre der SED dem Politbüro am 31. Oktober 1989 vorlegten. Diese Analyse und die Aktivitäten, die der neue Generalsekretär der SED, Egon Krenz, auf der Basis dieser Schlussbilanz neun Tage vor dem Fall der Berliner Mauer entfaltete, sind Gegenstand dieser Ausführungen. Es ist der Beitrag des Zeithistorikers zu dieser wirtschaftspolitischen Transformationsdebatte. Schürers Auftrag Am 24. Oktober 1989 leitet Egon Krenz die erste Sitzung des Politbüros. Im Verlauf dieser Sitzung wird der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission, Gerhard Schürer, beauftragt, eine Arbeitsgruppe zu bilden, der Außenhandelsminister Gerhard Beil, sein Staatssekretär, der Leiter der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik, Finanzminister Ernst Höfner und der Leiter des Bereichs Kommerzielle Koordinierung, der MfSOffizier im besonderen Einsatz Alexander Schalck-Golodkowski, angehören. Schürer bekommt den Auftrag, eine Analyse der tatsächlichen volkswirtschaftlichen Situation zu erarbeiten. Eine Woche später liegt sie dem Politbüro vor. Hans-Hermann Hertie hat ihren Text bereits im Oktober 1992 im Deutschland-Archiv publiziert. Die Bilanz der Situation der DDR-Wirtschaft ist niederschmetternd. Ihre wichtigsten Befunde: -

Die Arbeitsproduktivität der DDR liegt um vierzig Prozent hinter der der Bundesrepublik zurück. Die Verschuldung im Westen ist auf eine solche Höhe gestiegen, die die Zahlungsfähigkeit der DDR in Frage stellt. Die Investitionsrate ist seit 1970 im produktiven Bereich kontinuierlich gesunken und hat zu einem abnehmenden Wachstumstempo des Nationaleinkommens geführt. Die Zunahme des durch eigene volkswirtschaftliche Leistungen nicht gedeckten Verbrauchs führte zu einer steigenden Verschuldung im Westen, und diese hatte sich von zwei Milliarden Valuta-Mark, das heißt D-Mark, 1970 auf 49 Milliarden 1989 erhöht.

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Die Autoren errechneten, dass allein zur Aufrechterhaltung der Zahlungsfähigkeit der D D R für die Jahre 1990 bis 1995 Exportüberschüsse in Höhe von insgesamt 44 Milliarden Valuta-Mark erzielt werden müssten. „Für einen solchen Exportüberschuß besteht unter den jetzigen Bedingungen keine reale Voraussetzung." Die Analyse prognostiziert den bevorstehenden wirtschaftlichen Konkurs der DDR. Erforderlich wäre, um nur die Verschuldung im Jahre 1990 zu stoppen, eine sofortige Senkung des Lebensstandards um 25 bis 30 Prozent, und damit würde die DDR „unregierbar". Die Wirtschaftsexperten der SED-Führung forderten eine durchgreifende Wirtschaftsreform, die eine sich an den Weltmarktbedingungen orientierende sozialistische Planwirtschaft herbeiführen sollte. Diese Zielstellung ist für die heutige Diskussion im vereinten Deutschland von untergeordneter Bedeutung. Wichtiger ist die Forderung der Wirtschaftsfunktionäre, zur Sicherung der Zahlungsfähigkeit 1991 „mit der Regierung der BRD über Finanzkredite in Höhe von zwei bis drei Milliarden Valuta-Mark über bisherige Kreditlinien hinaus zu verhandeln". Um die Bundesregierung für diese Kredithilfe zu gewinnen, sollte ihr gegenüber - aber ausdrücklich unter Ausschluss jeder Idee von Wiedervereinigung oder der Schaffung einer Konföderation beider deutscher Staaten - erklärt werden, „daß durch diese und weitergehende Maßnahmen der ökonomischen und wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit DDR - BRD noch in diesem Jahrhundert solche Bedingungen geschaffen werden könnten, die heute existierende Form der Grenze zwischen beiden deutschen Staaten überflüssig zu machen." Mit anderen Worten, die SED sollte einen Tauschhandel versuchen: die Öffnung der Mauer gegen wirtschaftliche und finanzielle Hilfe der Bundesrepublik, um die Macht der SED in und über die DDR neu zu stabilisieren. Aber bevor dieser Weg von der neuen SED-Führung beschritten werden konnte, musste Krenz ausloten, was seitens der Sowjetunion zu erwarten war. Gorbatschows Prioritäten Mit der Perspektive eines drohenden ökonomischen Bankrotts der D D R vor Augen flog Krenz zu seinem Antrittsbesuch nach Moskau, um Rat und Hilfe bei der sowjetischen Vormacht einzuholen. Krenz erläuterte dem Generalsekretär der KPdSU, dass er es politisch nicht verantworten könne, die Wahrheit über die volkswirtschaftliche Lage der D D R vor dem Zentralkomitee ungeschminkt darzulegen, denn das könne zu einem Schock mit unabsehbaren Folgen führen. Gorbatschow gab Krenz zu verstehen, dass die sowjetische Seite über den realen Zustand der DDR-Wirtschaft im Bilde sei. Er beteuerte, die Sowjetunion sei immer bemüht gewesen, ihre Pflichten gegenüber der D D R zu erfüllen. Man habe stets verstanden, „daß die D D R ohne die Sowjetunion nicht funktionieren kann". Krenz referierte dann die Rahmendaten des ökonomischen Desasters der DDR: den Rückgang der Investitionsrate für produktive Investitionen, das Sinken des Wirtschaftswachstums, die Nichterfüllung des Planes, die schleichende Inflation, die Stützung der aufwendigen Entwicklung der Mikroelektronik mit jährlich drei Milliarden Mark, Auslandsschulden in Höhe von 49 Milliarden Valuta-Mark und ein Defizit in der Bilanz konvertierbarer Devisen. Krenz kündigte an, wenn man das Lebensniveau der DDR-Bevölkerung ausschließlich auf die eigene Leistungsfähigkeit der DDR gründen wollte, „müsse man es sofort um dreißig Prozent senken. Dies sei jedoch politisch nicht zu verantworten." Der

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SED-Generalsekretär konnte aber auf eine wirtschaftliche Unterstützung angesichts der eigenen Nöte der Sowjetunion nicht ernsthaft hoffen. Gorbatschow versprach, die Sowjetunion werde alles daransetzen, die bereits eingegangenen Verpflichtungen zur Rohstofflieferung zu erfüllen, konnte dieses Versprechen aber nicht garantieren: Viele Republiken der Sowjetunion, so Gorbatschow, „die vorwiegend Rohstoffe lieferten, [stellten] die Frage der Neuaufteilung des Nationaleinkommens mit den Republiken, wo die Finalproduktion konzentriert sei. Sie drohten, wenn diese Proportionen nicht verändert würden, könne es zu einer Einstellung der Rohstofflieferungen kommen." Gorbatschow riet Krenz, die eigene Bevölkerung darüber zu informieren, dass man in den letzten Jahren über seine Verhältnisse gelebt habe. Da ökonomische Hilfe für die D D R von Moskau nicht zu erwarten war, blieb allein die außenpolitische Existenzsicherung der D D R durch die Sowjetunion. Krenz erbat von Gorbatschow eine klare Auskunft, „welchen Platz die SU der B R D und der D D R im gesamteuropäischen Haus einräumt [...]. Die D D R sei in gewisser Weise das Kind der Sowjetunion, und die Vaterschaft über sein Kind müsse man anerkennen." Gorbatschow vertröstete Krenz mit einer für die SED bedrohlichen Perspektive: Die Sowjetunion strebe eine engere partnerschaftliche Bindung zur B R D an, und davon werde dann auch die D D R profitieren. Aber Gorbatschow ließ keinen Zweifel an der richtigen Reihenfolge in dieser Dreiecksbeziehung, und er fügte erläuternd hinzu, die Bundesrepublik sei zu einer breiteren Zusammenarbeit mit der Sowjetunion bereit, erwarte jedoch, dass die Sowjetunion bei der Wiedervereinigung Hilfestellung leiste. Für die D D R , so Gorbatschow, sei es wichtig, ihre Beziehungen zur B R D zu erhalten und kontinuierlich weiterzuentwickeln. Dabei sei Vorsicht geboten. Im Übrigen stehe die deutsche Frage nicht auf der Tagesordnung der internationalen Politik. Krenz verließ Moskau mit der Gewissheit, von dort habe er keine ökonomische Hilfe zu erwarten. Der KPdSU-Generalsekretär wusste für die SED keinen anderen Rat, als sich an Bonn zu wenden, um den Sozialismus in den Farben der D D R mit der D-Mark zu sanieren. Der innerdeutsche Handel Der Vorschlag von Schürer, die Zahlungsunfähigkeit der D D R durch Kredite aus Bonn abzuwenden, ging von der Praxis des innerdeutschen Handels aus. 1945 hatten die alliierten Mächte in Potsdam vereinbart, Vier-Zonen-Deutschland solle ein einheitliches Wirtschaftsgebiet bleiben. Als die beiden deutschen Staaten 1949 entstanden, blieb eine einzige gemeinsame Klammer: der innerdeutsche Handel. Entstanden war er aus dem ursprünglich als Interzonenhandel bezeichneten Warenaustausch zwischen den drei westlichen und der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Seine Rechtsgrundlage bekam er bereits durch das alliierte Berlin-Abkommen von 1951. Bei Beendigung der Berlin-Blockade verknüpften die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion den freien Zugang nach Westberlin mit dem unbehinderten Interzonenhandel. Deutschlandpolitisches Kernstück des Berliner Abkommens war sein Geltungsbereich. Da dieser nach den Währungsgebieten D-Mark-West beziehungsweise D-Mark-Ost definiert wurde, waren beide Teile Berlins auf jeder Seite einbezogen. Begleiterscheinungen des innerdeutschen Handels waren seit dem Transitabkommen von 1971 unentgeltliche Leistungen der Bundesrepublik zur finanziellen Stabilisie-

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rung der DDR. Vor allem ist hier an die „Transitpauschale" zu erinnern, die für die Straßenbenutzung durch die DDR von der Bundesregierung bezahlt wurde. Hinzu kamen für die DDR Deviseneinnahmen aus dem Mindestumtausch von Besuchern aus dem Westen. In Form privater Paketsendungen aus der Bundesrepublik profitierte die DDR darüber hinaus von einem Netto-Warenzustrom von einigen Hundertmillionen D-Mark pro Jahr. Die Bundesregierungen hatten den innerdeutschen Handel immer wieder genutzt, um durch ökonomische Zugeständnisse an die DDR menschliche Erleichterungen namentlich im innerdeutschen Reiseverkehr durchzusetzen. Auch der Freikauf von Häftlingen ist hier zu erwähnen. Die zwischenmenschlichen Beziehungen bildeten über die Jahrzehnte der Teilung das eigentliche Fundament für das überdauernde nationale Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen. Kontakte zu Verwandten und/oder Bekannten in der Bundesrepublik unterhielten 65 bis 70 Prozent der DDR-Bewohner, umgekehrt pflegten etwa ein Drittel der Westdeutschen persönliche Kontakte in die DDR. Vor allem aber die Fluchtbewegungen aus der DDR bewiesen das Fortbestehen eines nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls im geteilten Deutschland, auf das sich die Flüchtenden verließen. Es sind beeindruckende, aber auch bedrückende Zahlen; aus der DDR flohen bis 1961 zirka 2,7 Millionen und in den folgenden 28 Jahren verließen noch einmal rund 900.000 Einwohner die DDR. Der Abschlussbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" würdigt das politische Verdienst der Flüchtlinge für das Offenhalten der deutschen Frage: „Vor allem die aus der SBZ/DDR Geflüchteten bzw. Ausgereisten stellten innerhalb der westdeutschen Gesellschaft jene qualifizierte Minderheit, welche die Bindungen und Verbindungen in die DDR trug und damit an der Wahrung der nationalen Einheit wesentlichen Anteil hat."

Willkür der DDR-Verwaltung Solange die Sowjetunion militärisch und politisch die Existenz der DDR garantierte, konnte sich die SED-Führung auf das Tauschgeschäft gegen Reiseerleichterungen einlassen. Allerdings registrierte das Politbüro bereits im Februar 1988 mit großer Besorgnis die destabilisierenden Folgen des Besucher- und Reiseverkehrs von Ost nach West. Die Praxis der Genehmigung von Westreisen stiftete obendrein neuen Unfrieden in der DDR, da es keine klaren Regelungen durch ein „Reisegesetz" gab. Es herrschte die Willkür der DDR-Staatsverwaltung. Der Westen Deutschlands behielt auch nach vierzigjähriger Teilung seine Anziehungskraft in der DDR, und das spürte die SED an der Erhöhung der Ausreiseanträge: Gegenüber 70.000 Anträgen im Jahr 1986 war die Zahl 1987 auf 112.000 angestiegen, alarmierend: 87 Prozent der Antragsteller waren jünger als vierzig Jahre. Die große Fluchtwelle des Sommers 1989, die die Existenzkrise der DDR auslöste, bereitete sich vor. Das Politbüro der SED war sich am 31. Oktober 1989 einig, dass die Mitglieder des Zentralkomitees der SED mit den Fakten über den drohenden ökonomischen Bankrott nicht schockiert werden dürften. Krenz sollte die Lageanalyse moderat und in geschönter Form vortragen. Hinter diesem Beschluss verbarg sich außerdem ein als „geheime Kommandosache" deklariertes Zusatzmaterial zur Zahlungsunfähigkeit der DDR, in dem die Arbeitsgruppe ausschließlich den neuen SED-Generalsekretär

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darüber aufklärte, auf welch tönernen Füßen bereits die laufende Kreditgewährung stand. Gefährdete doch bereits die Veröffentlichung der dem Politbüro vorgelegten Verschuldungszahlen die internationale Kreditwürdigkeit der D D R . Aus diesem Grund rieten die Ökonomen dringend zur Geheimhaltung dieses Materials. In seiner Expertise über den „9. November 1989 in Berlin" für die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages hat Hans-Hermann Hertie die Verhandlung zwischen der Bundesregierung und Schalck-Golodkowski über Finanzhilfe für die D D R unmittelbar vor dem Fall der Mauer dargestellt. Bereits am 24. Oktober sondierte Schalck-Golodkowski im Gespräch mit den Bundesministern Rudolf Seiters und Wolfgang Schäuble im Bundeskanzleramt deutsch-deutsche Perspektiven nach dem Sturz Honeckers. Schalck offerierte ein umfassendes Kooperationsangebot, informierte über die innenpolitischen Reformen und betonte zugleich ihre Grenzen: Weder die sozialistische Ordnung der D D R noch die führende Rolle der S E D stünden zur Disposition. Schalck erklärte, Bedarf an neuen politischen Organisationen wie dem „Neuen F o r u m " oder der kurz zuvor gegründeten Sozialdemokratischen Partei (SDP) bestehe nicht. Als Schalck-Golodkowski am 6. November erneut mit den beiden Bundesministern zusammentraf, hatte sich die Verhandlungsposition der SED-Führung weiter verschlechtert. Von der Sowjetunion war keine wirtschaftliche Hilfe zu erwarten, und auf der großen Demonstration am 4. November in Berlin wurden die Presseund Meinungsfreiheit ebenso eingefordert wie freie Wahlen und die Abschaffung aller Privilegien der SED-Nomenklatura. Schalck trug in Bonn vor, was sich die S E D konkret unter wirtschaftlicher Zusammenarbeit vorstellte: „Die D D R wäre bereit, in den nächsten zwei Jahren objektgebundene langfristige Kredite, die aus den neuzuschaffenden Kapazitäten zu refinanzieren sind, bis zur Höhe von zehn Milliarden Verrechnungseinheiten, das heißt D-Mark, aufzunehmen." Zudem benötigte die D D R „die Bereitstellung zusätzlicher Kreditlinien in freien Devisen, die beginnend im Jahre 1991 jährlich zwei bis drei Milliarden D-Mark betragen könnten".

Fragen nach dem politischen Preis Die Konklusion von Hertie: „Seiters und Schäuble waren die Augen für den Abgrund geöffnet, in den die DDRWirtschaft zu versinken drohte. Mit einmaligen Milliarden-Krediten wie in den Jahren 1982 und 1984 war der D D R nicht mehr zu helfen. Der Vorschlag Schalcks lief auf nichts weniger als eine dauerhafte Beteiligung der Bundesregierung an der Regulierung des Schuldendienstes der DDR hinaus - und mit seinem Vorschlag hatte er dezent die Frage nach dem politischen Preis der Bundesregierung in den Raum gestellt." Als Schalck-Golodkowski von Seiters erfuhr, dass die Bundesrepublik bereit sei, einen D-Mark-Reisezahlungsfonds für die D D R einzurichten, musste er sich zugleich die politischen Forderungen der Bundesregierung an die D D R anhören: Zulassung von oppositionellen Gruppen, die Zusage von freien Wahlen und Verzicht der S E D auf ihren absoluten Führungsanspruch. Der Plan von SED-Generalsekretär Krenz, durch Hilfe der Bundesregierung die Macht der S E D gegenüber dem aufbegehrenden Staatsvolk zu sichern, war gescheitert. Die Bundesregierung solidarisierte sich mit

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den Forderungen der Opposition gegen die SED. Der Fall der Berliner Mauer durchkreuzte alle Hoffnungen der SED-Führung, die D D R gegen das eigene Volk mit finanzieller Hilfe durch die Bundesregierung zu stabilisieren. Für die Diskussion um Ergebnisse und Fehlentscheidungen bei der Rekonstruktion einer deutschen Volkswirtschaft nach 1990 ist der ökonomische Offenbarungseid der SED, den die „Analyse der ökonomischen Lage der D D R " darstellt, von großer Bedeutung. Die Analyse der führenden Wirtschaftspolitiker der SED zeigt, die D D R war ökonomisch am Ende, die sozialistische Planwirtschaft hatte den Ruin des Landes organisiert. Es war das SED-Politbüro, das zu dem Schluss kam, Hilfe kann nur noch aus dem Westen Deutschlands kommen. Das sah das DDR-Staatsvolk ebenso, und im Dezember 1989 skandierten die Montagsdemonstrationen: „Wir sind ein Volk!"

Die SED und Konrad Adenauer (1996)*

„Herr Bundeskanzler, die Zukunft in Deutschland, das sind nicht Sie, das ist die D D R . " (Nikita Chruschtschow)

Die Übernahme der obersten Regierungsgewalt durch den Alliierten Kontrollrat am 5. Juni 1945 steht am Anfang der deutschen Teilungsgeschichte nach Hitlers Krieg. Deutschland war faktisch und rechtlich zum Objekt der vier Siegermächte geworden, und ihre widerstrebenden Interessen machten es unmöglich, eine gemeinsame Lösung für das Deutschlandproblem zu finden. Während des Kalten Krieges wurden die beiden Teile Deutschlands, die westlichen Besatzungszonen und die sowjetisch besetzte Zone, in die Wert- und Ordnungsvorstellungen der Besatzungsmächte eingebunden. Ihre widersprechenden deutschlandpolitischen Zielsetzungen konnten die Besatzungsmächte nur in Kooperation mit deutschen Politikern realisieren. In der sowjetischen Besatzungszone beauftragte Generalissimus und Generalsekretär Jossif W. Stalin die Moskauer Exilführung der KPD mit dem Wiederaufbau ihrer Partei. Sie sollte die Massenpartei der deutschen Arbeiterbewegung werden und im neu entstehenden Parteiensystem eine hegemoniale Stellung erobern, um die Ostorientierung Deutschlands durchzusetzen. Zeitgleich mit den Moskauer Entscheidungen bezüglich der KPD begann in Hannover Kurt Schumacher den Wiederaufbau einer SPD, die in der KPD nicht zuvorderst eine deutsche Klassen-, sondern eine russische Staatspartei sah. In Berlin und anderen Orten gründeten christliche Politiker die „Christlich-Demokratische Union", und als von der britischen Besatzungsmacht ein- und abgesetzter Oberbürgermeister von Köln kehrte Konrad Adenauer in die deutsche Politik zurück. Adenauer, Schumacher, Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht waren maßgeblich am Aufbau der beiden deutschen Staaten beteiligt, die in den weltpolitischen Systemkonflikt einbezogen wurden. Die Auseinandersetzung um die Lösung der deutschen Frage in der Teilungsgeschichte nach 1945 wird durch diesen Konflikt zwischen dem westlichen und dem sowjetischen Gesellschaftssystem geprägt. Politische Demokratie und totalitäre Diktatur standen sich - in Kernstaaten organisiert - in Deutschland vierzig Jahre lang gegenüber, bis die europäische Herbstrevolution 1989 gegen das sowjetische Imperium diese Auseinandersetzung zu Gunsten der Demokratie entschied. Die Auseinandersetzung der SED mit Konrad Adenauer ist von diesem Systemkonflikt in und um Deutschland nicht zu trennen. Erst nach Öffnung der D D R Archive wird es möglich, Ziele und Methoden der Kommunisten in ihrem Kampf

Z u e r s t erschienen in: Die politische S. 79-88.

Meinung.

M o n a t s s c h r i f t zu Fragen der Zeit, N r . 318/1996,

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Aufsätze 1991 bis 2006

gegen den Widersacher Adenauer zu erforschen. Im Rahmen dieser Forschung wird es erneut nötig sein, die Rolle der SED als gesamtdeutscher Faktor während der Teilungsgeschichte jenseits von Propaganda und Verdrängung genau zu bestimmen. Eine erste zielgerichtete Recherche im SED-Archiv ergab als letztes Wort der DDR-Historiker über Konrad Adenauer eine im „Biographischen Lexikon zur Weltgeschichte" aus dem Jahre 1989 vorgenommene Wertung seiner Rolle in der deutschen Nachkriegsgeschichte: „Seit 1945 und besonders 1948/49 als Präsident des Parlamentarischen Rates betrieb Adenauer die Restauration des deutschen Imperialismus, die Spaltung Deutschlands und die Einbeziehung der Westzonen in das westliche Bündnissystem. [...] Adenauer betrieb die Remilitarisierung der B R D und deren Eintritt in die N A T O sowie eine autoritäre antikommunistische Innenpolitik. Er war maßgeblich an der Entstehung von EGKS und E W G beteiligt und stellte ein enges Bündnis der B R D mit den USA her."

Dieses Bild von Adenauer in der DDR ist nicht vornehmlich das Ergebnis der Arbeit von Historikern oder historischen Parteiarbeitern der SED, sondern es entstand aus den politischen Auseinandersetzungen mit der Politik des ersten Bundeskanzlers und Parteivorsitzenden der CDU. Die Recherche zur Auseinandersetzung der SED mit Adenauer konzentrierte sich folglich auf die politische Entscheidungsebene der totalitären Staatspartei der DDR. Bernd-Rainer Barth hat in den letzten Monaten einige Nachlässe durchgesehen, und zwar von folgenden Personen: Walter Ulbricht, SED-Generalsekretär, Albert Norden, verantwortlich für Agitation und Propaganda, Hermann Matern, ab 1949 Vorsitzender der Zentralen Parteikontrollkommission (ZPKK), Otto Grotewohl, Ministerpräsident, Franz Dahlem, im Politbüro für Westarbeit verantwortlich, und nicht zuletzt von Erich Glückauf, Leiter des Arbeitsbüros des ZK der SED in den fünfziger Jahren und damit direkt zuständig für die Anleitung der KPD und der Westarbeit. Diese Ausführungen sind somit ein Bericht über diese Recherche, sie sind eine erste Annäherung an ein Forschungsdesiderat. Das wird auch durch die längeren Zitate unterstrichen, die präsentiert werden. „Veteran des Landesverrats" Im Vorfeld der Wahlen zum ersten Deutschen Bundestag erschien im SED-Zentralorgan ein Porträt Adenauers aus der Feder von Albert Norden. Das Neue Deutschland titelte „Konrad Adenauer - ein Veteran des Landesverrats". Bereits nach dem Ersten Weltkrieg habe Adenauer im Bunde mit Frankreich die „Losreißung der Rheinlande" betrieben. Von zentraler Bedeutung war für Norden die klassenpolitische Einordnung der CDU. Die von Adenauer geführte Union war aus der Sicht der SED die Partei des wiedererstandenen deutschen Finanzkapitals, personifiziert im Kölner Bankier Robert Pferdmenges. Die politische Chance Adenauers liege vor allem im Gegensatz zwischen den Alliierten. Wörtlich heißt es: „Mit den zunehmenden Gegensätzen zwischen den Alliierten sah und sieht Adenauer eine neue Chance für jene deutschen imperialistischen Kräfte, die östlich der Elbe endgültig das Spiel verloren haben. Wieder, zum dritten Male in seinem Leben, entfaltet er das Banner des Separatismus."

Norden vergaß nicht, Adenauers Attacken gegen „Tendenzen christlicher Politiker in der Ostzone für die Errichtung eines einheitlichen demokratischen Deutschlands"

Die SED und Konrad Adenauer (1996)

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zu verurteilen. Nordens Warnung fruchtete freilich nichts: Adenauer wurde Bundeskanzler. Für ADN kommentierte Norden, gewissermaßen für die Regierung der DDR, am 22. Oktober 1949 die Regierungserklärung des Bundeskanzlers, der als „Leiter des Bonner Separatistenregimes" abqualifiziert wird. Den Besuch Adenauers im April 1950 in Westberlin nutzte die Tägliche Rundschau, das Organ der sowjetischen Besatzungsmacht, zu einem Artikel über den Bundeskanzler. Sein Autor ist wiederum Albert Norden. Die agitatorische Tonlage ist schrill und zeugt von Verunsicherung auf Seiten der SED über die Politik der Bundesregierung. Adenauer bekam ein neues Etikett angeheftet, er sei der Mann der Amerikaner. Wörtlich heißt es: „Der Landesverrat ist im Leben Adenauers nicht nur eine historische Kategorie. Er betreibt ihn heute eifriger noch als in den Jahren 1919 bis 1923. Er ließ sich an die Spitze einer Gruppe von Politikanten stellen, die McCloy nicht mit den Machtvollkommenheiten, sondern nur mit den Titeln von Ministern ausstattet. Er, der schon am 13. Juli 1947 erklärt hatte: ,Die Besatzung Deutschlands ist durch die Alliierten für lange Zeit hinaus dringend notwendig', trat an die Spitze eines Kabinetts, dessen Existenz nur auf der Zerrissenheit Deutschlands beruht. Er trat auf den Boden des Ruhr-Statuts, das die Produktion und die Verteilung der Erzeugnisse des industriellen Herzens der Nation den Deutschen entzieht. Er trat auf den Boden des Besatzungsstatuts, durch das alle entscheidenden politischen und wirtschaftlichen Funktionen Westdeutschlands dem Diktat großkapitalistischer Ausländer unterstellt sind. Er akzeptiert jetzt auch den Raub des von Deutschen bewohnten Saargebietes und liefert es durch den Beitritt zum Europarat an Händen und Füßen gebunden denen aus, die aus den Deutschen Opferlämmer auf dem Altar der Götter des anglo-amerikanischen Finanzkapitals machen wollen. Und dieser Prototyp des nationalen Verrats, der Nachfolger Wilhelms II. und Hitlers, der Deutschland in den Dritten Weltkrieg hetzen will, hat die Stirn, in Berlin als Advokat der Einheit Deutschlands aufzutreten."

Dieser Artikel ist trotz seines polemischen Tons allein schon wegen seines Erscheinungsortes wichtig. Norden formulierte in diesem Artikel die wichtigsten Stereotype der SED-Sprachregelung über Adenauer, und er tat dies gewissermaßen regierungsamtlich für die DDR mit dem ausdrücklichen Einverständnis der Sowjets. Nordens Sprachregelung über Adenauer hat in der ideologischen Sprache der Kommunisten propagandistische und politische Bedeutung. 1950 ist Adenauer in die Kategorie des klassen- und weltpolitischen Hauptfeindes des um die Sowjetunion gescharten und von der SED geführten „fortschrittlichen Lagers" in Deutschland aufgerückt. Alle Stereotypen des Adenauer-Bildes der SED unterstreichen eine Aussage: Der Politik des ersten Bundeskanzlers wird große historische Tragweite zugerechnet. Norden drückt dies in seinem Vergleich mit Wilhelm II. und Hitler aus. Adenauers Politik der Westintegration richtete sich diametral gegen die deutschlandpolitischen Interessen der Sowjetunion und somit selbstredend gegen die SED. Norden hat in der Täglichen Rundschau einen Feind „entlarvt". Einheit ohne Adenauer Die SED verfügte in der Bundesrepublik als aktive Parteigänger nur über die Funktionäre und Anhänger der KPD, deren Wählerpotential bereits einem dramatischen Schrumpfungsprozess unterlag. Beide deutsche Staaten waren noch Provisorien; die alliierte Einigung über Deutschland war zwar bereits unwahrscheinlich, aber noch

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nicht gänzlich ausgeschlossen. Noch bekannten sich alle deutschen Parteien wie selbstverständlich zur Einheit Deutschlands. Die SED trat als diktatorische Staatspartei eines sozialistischen Kernstaates in der Rolle eines Anwalts der Einheit auf. Delegationsaustausch und innerdeutsche Gespräche gehörten Anfang der fünfziger Jahre zur Methodik der SED-Westarbeit. So empfing im Mai 1950 beispielsweise die Regierung der DDR eine westdeutsche Delegation zu einem innerdeutschen Zwiegespräch. Walter Ulbricht, stellvertretender Ministerpräsident, sprach im Zusammenhang mit den Beziehungen der Deutschen zu den Amerikanern und den Russen über deutsche Selbstbestimmung und Adenauer. Ulbricht behauptete, der amerikanische Präsident Truman habe gesagt, dass es das Wichtigste sei, „die Deutschen und die Russen gegeneinanderzubringen, damit sie sich die Köpfe einschlagen". Um diese Gefahr für den Frieden abzuwehren, habe sich die D D R gewissermaßen im gesamtdeutschen Interesse mit der Sowjetunion verbunden. Wörtlich heißt es: „Sollen die Amerikaner in Amerika machen, was sie wollen. Das ist Sache des amerikanischen Volkes, aber wir bitten darum, daß man dem deutschen Volk auch erlaubt, in Deutschland zu tun, was es in seinem Interesse für notwendig hält. Wir sagen den englischen und amerikanischen Besatzungstruppen, daß es besser ist, wenn sie nach Hause gehen."

Aber die innerdeutsche Verständigung sei deshalb so schwer, wandte sich Ulbricht an die westdeutsche Delegation, weil „sie einen Adenauer haben" und sich in Westdeutschland nicht endlich andere Leute fänden, „die die Verantwortung übernehmen und die sich auf den Willen der Kräfte stützen können, die die Einheit Deutschlands wollen". „Alter Separatist" Das Bekenntnis nutzte Ulbricht, um klarzustellen, mit wem die D D R nicht zu verhandeln gedenke: „Mit einem alten Separatisten wie Adenauer kann man keine Verhandlungen führen. Mit jedem anderen kann man Verhandlungen führen, aber nicht mit Adenauer und Schumacher. Wir stellen nicht die Frage vom Standpunkt des Parteiinteresses usw., aber wir sagen offen: Solche alten Separatisten sind unfähig, irgendwie auch nur in der Richtung der Einheit Deutschlands zu denken."

Und unmissverständlich stellte Ulbricht klar: „Das sind die Hauptfragen, um die es geht." Eine politische „Hauptfrage" für die SED-Westarbeit in der Bundesrepublik war formuliert: die Suche nach einer Alternative zu Adenauer. In den Unterlagen von Franz Dahlem findet sich aus dem Oktober 1950 ein Bericht über Differenzen im Kabinett Adenauer. Hervorgehoben wird hier vor allem die Auseinandersetzung zwischen Innenminister Gustav Heinemann und dem Kanzler. Die Differenzen, die auf dem Feld der Sicherheitspolitik, der Montanunion und des Verhältnisses zwischen den Konfessionen in Deutschland lägen, werden im Einzelnen aufgeführt. Wörtlich heißt es: „Gemeint ist hiermit die Einwirkung des Vatikans auf die Geschäfte der Adenauer-Regierung. Heinemann als Exponent des evangelischen Flügels der C D U möchte vermeiden, daß auf die Dauer der westdeutsche Bundesstaat so begrenzt bleibt, wie er es jetzt ist

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und praktisch ein katholisches Übergewicht hat. Er will den Kontakt zu den deutschen Protestanten im Osten nicht aufgeben und verlangt, daß man ihren Interessen auch in der Bonner Regierung, die sich als Sachwalter ganz Deutschlands fühlt, Rechnung tragen müsse." Im Juni 1951 informierte ein vertrauliches Papier unter Berufung auf evangelische Kreise erneut über „Gegensätze und Gruppierungen in der C D U " . Solche Berichte stammen vermutlich vom Vorläufer der Hauptverwaltung Aufklärung im Ministerium für Staatssicherheit der D D R . Die weitere Entwicklung der Auseinandersetzung zwischen Gustav Heinemann und Konrad Adenauer zeigt, dass solche Berichte für die SED-Westpolitik als Entscheidungsgrundlage dienten. Gustav Heinemann schied aus der Bundesregierung aus, verließ die C D U und gründete die Gesamtdeutsche Volkspartei; sie war in ihrer Opposition gegen die Westbindung der Bundesrepublik Deutschland bereit, in einem gewissen Maße mit der S E D zu kooperieren. Nachdem die G V P bei den Bundestagswahlen 1953 mit ihrem neutralistischen Kurs unter zwei Prozent der Stimmen geblieben war, löste sie sich 1957 wieder auf; der größte Teil ihrer führenden Mitglieder schloss sich der S P D an.

„Adenauer muss weg" Ein weiterer Hoffnungsträger für die S E D in der Bundesrepublik war 1951 der ehemalige Reichskanzler Joseph Wirth, während dessen Kanzlerschaft das Deutsche Reich 1922 den Rapallo-Vertrag mit der Sowjetunion unterzeichnet hatte. Franz Dahlem bestimmte die bündnispolitische Linie, die die S E D gegenüber Wirth verfolgte. So sollte Wirth aktiv in der Zentrums-Partei auftreten, aber vor allem sich „mit einem Kreis von politischen Persönlichkeiten aus den verschiedenen Lagern verbinden. [ . . . ] Mit einem Wort, mit den aktiven Anhängern der Verständigung zwischen O s t - und Westdeutschland". Wirth sprach mit Pieck, Grotewohl und Ulbricht, und Dahlem fasste für Ulbricht die außenpolitische Grundeinstellung von Wirth zusammen. Wörtlich heißt es: „Wirth sieht den Krieg und als seine Folge die Zerstörung Deutschlands unvermeidlich kommen, wenn die amerikahörige Politik der Bundesrepublik nicht grundlegend geändert wird.,Adenauer verkauft uns mit Haut und Haaren an die Amerikaner. Adenauer muß weg!' ,Die Russen wollen keinen Krieg!' Davon ist er nach der Aussprache mit Tschuikow und Semjonow noch überzeugter als vorher. Davon müsse man die westdeutsche Bevölkerung überzeugen. Wie seinerzeit bei Rapallo könne man mit den Russen arbeiten." Auch Wirth verhinderte die Westbindung der Bundesrepublik nicht. 1955 war die in das westliche Bündnis integrierte Bundesrepublik Deutschland wieder ein weitgehend souveräner Staat. Die Spaltung Deutschlands in zwei Teilstaaten schien perfekt, da auch die Sowjetunion im September 1955 die D D R in die Souveränität entließ. D a die Alliierten die deutsche Frage nicht lösen konnten, wurde die Ordnung des Status quo mit und zwischen den beiden Teilstaaten zum Gegenstand der internationalen Politik. Die Bundesregierung nahm zwar im September 1955 zur Sowjetunion diplomatische Beziehungen auf, erklärte aber zugleich, dass die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur D D R durch dritte Staaten, außer der Sowjetunion, als unfreundlicher Akt angesehen werde, was dann mehrfach dazu führte, dass die Bundesrepublik die diplomatischen Beziehungen zu solchen Staaten abbrach. Die

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D D R rang international um Anerkennung, und Ulbricht beharrte auf der Rolle der D D R als sozialistischer Kernstaat für Gesamtdeutschland. Sein Selbstverständnis definierte Ulbricht 1957 vor leitenden Parteiarbeitern der Nationalen Volksarmee in Abgrenzung zu Adenauer: „Die Adenauer-Regierung, zu deren Taten die Spaltung Deutschlands und die Militarisierung Westdeutschlands, die aggressive NATO-Politik und die Vorbereitungen des Atomkrieges gehören, hat jedes Recht verwirkt, im Namen des Vaterlandes aufzutreten." Im Kampf um die Wiedervereinigung Deutschlands als „friedliebender, demokratischer Staat" sah Ulbricht in der D D R und ihrer Stärkung die „erste Voraussetzung, denn sie ist die Basis des Kampfes aller friedliebenden, demokratischen Kräfte Deutschlands". Gegenüber der Bundesrepublik blieb für die SED die Aufgabe, nach westdeutschen Bündnispartnern zu suchen. Dabei konzentrierte sich die SED vor allem auf die SPD und die Gewerkschaften des DGB, aber es gab auch „bürgerliche Kreise", auf die sie ihr Interesse richtete. Erich Glückauf referierte 1959 über die Westarbeit im Politbüro. Er konnte melden, dass „die Diskussionen über eine Alternative zur Adenauer-Politik" unter der Intelligenz am Weitesten gediehen seien. Die in Hamburg herausgegebene Studenten-Zeitung Kontakt, aus der später Konkret wurde, ist ein unmittelbares Zeugnis der Finanzierung westdeutscher Aktivitäten durch die SED. Glückauf: „Aber diese Zeitung wich lange Zeit den Grundfragen einer deutschen Friedenspolitik, insbesondere einer positiven Stellungnahme zur DDR, aus. Wir hatten eine ernste Aussprache mit Verbindungsleuten zu dieser Zeitschrift. [...] Ich hatte erklärt, daß wir unter solchen Bedingungen der Studenten-Zeitung keine Unterstützung mehr geben werden. Nach einer sehr prinzipiellen Aussprache nahm dann Kontakt eine Wendung vor." Wir wissen, dass Ulbricht seine „Hauptfrage" von 1950, nämlich die Ablösung von Adenauer, nicht lösen konnte; aber gerade die zuletzt zitierten Aussagen von Glückauf verbinden die SED-Westpolitik mit politisch-kulturellen Entwicklungen in der Bundesrepublik, die in den sechziger und siebziger Jahren stark hervortraten. Das Adenauer-Bild der SED diente nicht nur allgemein der Propaganda, es war auch konkreter Ausgangspunkt für die Suche der SED nach Bündnispartnern im Westen gegen den Bundeskanzler und seine Politik. Die Fundstücke aus den Nachlässen von Dahlem und Glückauf sind somit Impulse für weitere Forschungen über die Beteiligung der SED an den innenpolitischen Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik um die West- und Sicherheitspolitik der „Ära Adenauer". Dreiecksverhältnis Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zur Sowjetunion 1955 konfrontierte die SED-Führung mit der Tatsache, dass trotz des Kalten Krieges und des westdeutschen Alleinvertretungsanspruches die Sowjetunion den Kontakt zur Bundesrepublik suchte. Walter Ulbricht hatte im Moskauer Exil den Hitler-Stalin-Pakt erlebt. Er und Herbert Wehner hatten im Oktober 1939 das Positionspapier der deutschen KP zu diesem Vorgang ausgearbeitet. Konfrontiert mit der deutschen Zweistaatlichkeit nach 1945, wurde Ulbricht tagtäglich an diese Erfahrung mit der sowjetischen Deutschlandpolitik erinnert, in der Interessen der deutschen

Die S E D und Konrad Adenauer (1996)

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Kommunisten 1939 einfach unter den Tisch gefallen waren. Als das Dreiecksverhältnis Moskau/Bonn/Ostberlin 1955 entstand, scheint die S E D umso wachsamer und in Moskau präsent gewesen zu sein. So will Glückauf nach eigenem Bekunden 1955 die Verhandlungen zwischen der sowjetischen Parteiführung und der bundesdeutschen Regierungs- und Parlamentsdelegation miterlebt haben.

„Mann aus dem Eifeldorf" „Ich war im Auftrag der Partei in Moskau, als der Adenauer mit seiner Regierungsdelegation dort war und den Vertrag über die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen [abschloß]." Seine widersprechenden Gefühle schimmern noch durch die propagandistische Überlegenheit, mit der er die Uberzeugungen und das Auftreten des Bundeskanzlers SED-Funktionären schildert. „Ja, das war eine interessante Sache. Der Adenauer, der fuhr nun nach M o s k a u sozusagen mit dem H o r i z o n t eines Mannes aus dem Eifeldorf. Ja, aus B o n n oder Rhöndorf. U n d er fuhr dort hin mit seinem Sonderzug, so als o b er den Krieg gewonnen habe. U n d er kam in M o s k a u an mit einer festen Marschroute der deutschen Imperialisten, w o z u die Amerikaner hinterher mitgeteilt haben, auf keinen Fall werden solche Beziehungen aufgenommen, sondern jetzt wird erst mal gedrückt, gedrückt. U n d in welchen Fragen gedrückt, in den Fragen der Wiedervereinigung, sozusagen durch den Ausverkauf der D D R . D a s war die Linie, mit der Adenauer, Brentano und Carlo Schmidt [sie!] alles, was d r u m hängt, und Kiesinger nach M o s k a u gefahren ist."

In diesem Stil beschreibt der Abteilungsleiter für Westarbeit der S E D die Krisenmomente der Moskauer Verhandlungen; nach seiner Ansicht setzte Adenauer die Drohung mit der Abreise als taktisches Manöver ein. Chruschtschow wird von Glückauf den Funktionären als verlässlicher Bündnispartner der D D R charakterisiert. „Als die Verträge unterzeichnet waren, war abends, wie das so üblich ist, ein großes Bankett. D a saß der Adenauer, und daneben saß der G e n ö s s e Chruschtschow. U n d der G e n ö s s e Chruschtschow steht auf, erhebt sein Glas, guckt den Adenauer an und sagt: Wir haben soeben einen Vertrag unterzeichnet. Wir sind dafür bekannt, wir halten unsere Verträge Wort für Wort. Verträge, die wir unterzeichnet haben, halten wir. Aber eines möchte ich Ihnen sagen, Herr Bundeskanzler, die Z u k u n f t in Deutschland, das sind nicht Sie, das ist die D D R . Ich habe das Schlucken gesehen von Adenauer. Der Mann weiß das."

Hans-Peter Schwarz hat dargestellt, dass sich Adenauer des internationalen Stellenwertes der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Moskau sehr wohl bewusst war. Durch diesen Schritt wurde die Bundesrepublik im westlichen Bündnis zum gleichberechtigten Partner. Die sowjetische Regierung akzeptierte einen „Brief zur deutschen Einheit", in dem die Bundesregierung den Grenzvorbehalt und den Alleinvertretungsanspruch des deutschen Volkes in internationalen Angelegenheiten festschrieb. Die sowjetischen Verhandlungen mit der Bundesregierung fanden nach der Genfer Gipfelkonferenz vom Juli 1955 statt. Auf der Rückreise von Genf hatte Chruschtschow in Ostberlin Station gemacht und hier erstmals die „Zwei-StaatenTheorie" für Deutschland verkündet. Die Zwei-Staaten-Theorie wurde von den Sowjets mit der Garantie der sozialistischen „Errungenschaften" in der D D R verbunden, und dieser Teilstaat wurde verstärkt in die wirtschaftliche, militärische und politische Integration in den sowjetischen Block einbezogen.

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Angesichts dieser deutschlandpolitischen Konstellation 1955 wäre es plausibel gewesen, wenn die sowjetische Seite die SED an ihren Moskauer Verhandlungen mit der Bundesregierung in einer Beobachterposition indirekt beteiligt hätte. Glückauf wäre als Repräsentant der SED ein geeigneter Kader gewesen. Bereits in den zwanziger Jahren hatte er in den geheimen Apparaten der KPD gearbeitet, und in seiner Kaderakte ist vermerkt, dass er von 1941 bis 1943 im schwedischen Exil „Sonderaufträge" ausführte und keine Beziehungen zur KPD unterhielt. Mit solchen Formeln umschrieben deutsche Kommunisten in ihrem Lebenslauf oft ihre direkte Tätigkeit für sowjetische Dienste. Mit Glückauf hätten die Sowjets in Moskau einen Mann zur Verfügung gehabt, der im Bedarfsfall zu Einzelheiten der westdeutschen Innenpolitik auskunftsfähig war und dem sie als „Internationalisten" vertrauen konnten. Aber ob Glückauf in Moskau bei den Verhandlungen dabei war und in welcher Eigenschaft, bleibt eine offene Frage und weiterer Forschung vorbehalten. Durch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Sowjetunion wurde der SED-Führung noch einmal demonstriert, dass sich die sowjetische Deutschlandpolitik nicht auf die Beziehungen zur D D R reduzieren ließ.

Ulbrichts Adenauer-Kommission Im Jahre 1968 stand die internationale Anerkennung der D D R als zweiter deutscher Staat bevor, hatte doch die SED nach dem Mauerbau von 1961 ihre Herrschaft stabilisiert. Ausdruck dieser Selbstsicherheit war die neue Verfassung, die Ulbricht 1968 ausarbeiten und durch eine Volksabstimmung „bestätigen" ließ. Sie definierte die D D R als sozialistischen Kernstaat für ganz Deutschland. Schuld an der deutschen Spaltung, so steht es in der Präambel, sei der „Imperialismus unter Führung der USA im Einvernehmen mit Kreisen des westdeutschen Monopolkapitals". Walter Ulbricht wusste, die wichtigste Voraussetzung, um sein strategisches Ziel, die internationale Anerkennung der DDR, durchzusetzen, waren Macht und Stärke der Sowjetunion und ihre deutschlandpolitische Interessenlage. Parallel zur Ausarbeitung der Verfassung richtete Ulbricht 1967 eine „AdenauerKommission" ein, und die historischen Parteiarbeiter der SED mussten sich in zwei Ausarbeitungen mit der Politik des Bundeskanzlers gegenüber der Sowjetunion befassen. Eine „Materialzusammenstellung" ist der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen im September 1955 gewidmet. Der Text referiert ausführlich Adenauers Erinnerungen an diese Verhandlungen und die Positionen der Bundesregierung zur Wiedervereinigung und den Grenzvorbehalt. Der Moskauer Vertrag von 1970 selbst wird als Ergebnis der Friedens- und Entspannungsoffensive der Sowjetunion gewertet und in Beziehung gesetzt zum Abschluss des Vertrages über die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der D D R vom 20. September 1955. Weiter heißt es, dass die Bundesrepublik durch die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion gezwungen gewesen sei, ihren Alleinvertretungsanspruch in Gestalt der Hallstein-Doktrin vom Herbst 1955 abzusichern. Für die SED-Historiker war diese Doktrin ein „Symbol der weltpolitischen Defensive, in die die Adenauer-Politik in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre vollends geraten war". Zugleich wird eine Sprachregelung für die sowjetische Politik entwickelt, die darauf hinausläuft, dass die Sowjetunion die erste aller alliierten Siegermächte gewesen sei, die die europäischen Realitäten, wie sie nach 1945 entstanden waren, anerkannt habe.

Die SED und Konrad Adenauer (1996)

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Eine weitere Materialsammlung der „Adenauer-Kommission" untersucht die Politik des Bundeskanzlers gegenüber der Sowjetunion in seinen letzten Amtsjahren. Die Autoren konstatieren eine für die D D R strategisch bedrohliche Kontinuität in Adenauers Politik: „Trotz aller Niederlagen und Abfuhren, die der antisowjetischen Politik Bonns zuteil geworden waren, gab sich Kanzler Adenauer bis zum letzten Tage seiner Regierungszeit der Illusion hin, mit diplomatischen Winkelzügen die Sowjetunion zu einem Kuhhandel zu bringen, der auf die ,Preisgabe' der DDR hinausliefe."

„Verfälschungen" Die 1968 in der DDR-Verfassung verankerte Suprematie der S E D hatte Walter Ulbricht durch eine vom Z K der S E D herausgegebene monumentale achtbändige „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung" ebenso legitimiert wie den Anspruch der D D R , als sozialistischer Kernstaat die Zukunft Deutschlands zu bestimmen. Es blieb noch offen, die Schuldzuweisung für die deutsche Spaltung an die Adresse des Westens historisch zu begründen. Sie wird festgemacht an den Erinnerungen Konrad Adenauers. Mit einer „Dokumentation zur Entwicklung der deutschen Frage 1945 bis 1961" sollten „die Voraussetzungen für eine Erwiderung auf jene Verfälschungen" geschaffen werden, „die Konrad Adenauer in seinen Erinnerungen vornimmt". Die Koordination dieser Arbeit sollte durch das Institut für Marxismus-Leninismus beim Z K der S E D erfolgen; verantwortlicher Sekretär war Günter Benser. Von ihm stammt auch der Entwurf eines Briefes an den Direktor des Instituts für Geschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften, Ernst Engelberg, vom 28. Februar 1968. Sein Inhalt illustriert auf treffliche Weise die hierarchischen Realitäten in der Geschichtswissenschaft der D D R , die als ideologische Parteiarbeit organisiert war. Bensers Briefentwurf fand sich im Nachlass Ulbrichts; er lautet: „Die Mitarbeiter Ihres Instituts, Genösse Prof. Dr. Heinz Heitzer und Genösse Dr. Rolf Badstübner, wurden von Genossen Walter Ulbricht in eine Kommission berufen, die beauftragt worden ist, eine Dokumentation über die Auseinandersetzung um die Lösung der deutschen Frage in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg zu erarbeiten. Wir bitten Sie, diese Aufgabe im Arbeitsplan des Genossen Prof. Dr. Heinz Heitzer und des Genossen Dr. Rolf Badstübner zu berücksichtigen und ihnen die erforderliche Unterstützung in ihrer Arbeit zu gewähren. Wir möchten Sie außerdem bitten, die in Ihrem Institut bestehende Arbeitsgruppe ,Ζ weiter Weltkrieg' mit der Bereitstellung einiger Materialien zu beauftragen, die den Übergang der imperialistischen deutschen Bourgeoisie von der Kriegsniederlage zur Restaurationspolitik der Nachkriegszeit belegen. Die Einzelheiten dieses Auftrages können die betreffenden Mitarbeiter mit Dr. G. Benser vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED besprechen." Bereits am 29. April 1968 übersandte Benser Ulbricht eine erste Aufbereitung des Materials, „mit dem wir Genossen Walter Ulbricht demonstrieren möchten, wie wir uns die Anlage der Materialien vorstellen". Schon in der Konzeption war die Festlegung getroffen worden, dass nur drei Exemplare des Manuskriptes hergestellt werden, eines für Ulbricht, eines für das Institut für Marxismus-Leninismus und das dritte schließlich für die Bearbeiter. Bernd-Rainer Barth hat nur Splitter über die Vorbereitung dieser „Adenauer-Kommission" gefunden. Wir wissen noch nicht, wer den Anstoß zu ihrer Bildung gab, das erste Dokument ist ein Brief von Außenminister

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Otto Winzer an den Ersten Sekretär des ZK der SED vom Oktober 1967. Winzer schickte Ulbricht eine Liste von zehn Historikern, darunter auch die Namen von Badstübner und Heitzer, die sich mit der Entwicklung in Deutschland nach 1945 befasst haben. Die „Adenauer-Kommission" hat ihre Arbeit nicht beendet; geblieben ist ein Torso, der aber noch einmal unsere Kernaussage unterstreicht: Das AdenauerBild der DDR entstand unmittelbar aus der politischen und propagandistischen Auseinandersetzung der SED mit dem Bundeskanzler. Als die „Adenauer-Kommission" ihre Arbeit aufnahm, war die SED-Führung damit befasst, ihren Beitrag zur gewaltsamen Unterdrückung der tschechoslowakischen Systemkrise zu leisten. Der Reformprozess im Nachbarland beruhte auf dem von den Reformkommunisten in Anspruch genommenen Recht auf nationale Selbstbestimmung. In diesem Punkt war die SED besonders sensibel, war ihr Sozialismus doch einer in einem halben Land. Die entscheidende Begründung, die die SED für die Besetzung der Tschechoslowakei durch Truppen des Warschauer Paktes am 21. August 1968 lieferte, bezog sich auf die neue Ostpolitik der Bundesregierung. Nach Ansicht Ulbrichts zielte sie in letzter Konsequenz auf die Beseitigung der DDR. Nach der Entmachtung Ulbrichts durch den sowjetischen Generalsekretär Leonid I. Breschnew 1971 betrieb sein Nachfolger im Amt, Erich Honecker, demonstrativ die nationale Abgrenzung zur Bundesrepublik. Die Frage, wer Schuld habe an der deutschen Spaltung, trat in den Hintergrund; aber die von Ulbricht eingeführten Sprachregelungen über Adenauer blieben in Kraft, wie das eingangs zitierte Lexikon aus dem Jahre 1989 belegt. Die Wirkung des Adenauer-Bildes der SED blieb nicht auf die DDR beschränkt, die SED tat politisch und propagandistisch alles, um „Alternativen" zu Adenauer in der Bundesrepublik zu unterstützen. Was manche im Westen Deutschlands immer noch nicht wahrhaben wollen: Die diktatorische Staatspartei der DDR betrieb aktiv die Systemauseinandersetzung in und um Deutschland, und sie war in der Teilungsgeschichte ein gesamtdeutsch wirksamer Faktor. Das zeigt sich nicht zuletzt in ihrer Auseinandersetzung mit Konrad Adenauer.

Die deutsche Einheit und die Geschichtspolitik des Bundestages (1997)*

1. Die Enquete-Kommission Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland und ihre Ergebnisse Die vom 12. Deutschen Bundestag im März 1992 eingesetzte Enquete-Kommission unternahm einen ersten umfassenden Versuch, Strukturen und Geschichte der S E D Diktatur und der Deutschlandpolitik der Bundesrepublik aufzuarbeiten. In relativ kurzer Zeit gelang es, durch Anhörung von Zeitzeugen und Vergabe wissenschaftlicher Expertisen viele Quellen zur Geschichte der D D R und zur Teilung Deutschlands zu erschließen. Der wissenschaftliche Wert der vorliegenden 18 Bände, in denen der Bundestag die Materialien der Kommission veröffentlichte, ist unbestritten. Die wissenschaftliche und publizistische Würdigung lässt aber ausgerechnet die eigentliche Bedeutung der Kommission als ein Instrument der Geschichtspolitik des ersten gesamtdeutschen Bundestages in den Hintergrund treten. Die Verhandlungen über die Entstehung der SED-Diktatur, ihre Strukturen, ihre Opfer und die Unterscheidung zwischen den politisch und moralisch verantwortlichen Funktionsträgern und der ihnen unterworfenen Menschen sollte eine erste historische Einordnung der D D R in die deutsche Teilungsgeschichte ermöglichen. Hierzu gehörten auch die U n tersuchung der internationalen Rahmenbedingungen der deutschen Teilung und die Geschichte der innerdeutschen Beziehungen. Schließlich mussten Opposition und Widerstand gegen die SED-Herrschaft und die friedliche Revolution des Herbstes 1989 gewürdigt werden. Der Einsetzung der Kommission lag die Vorstellung zugrunde, über ein gemeinsames Geschichtsbild, in dem die deutsche Teilung als nationales Schicksal verstanden wird, einen Beitrag zu ihrer Uberwindung zu leisten. Die geschichtspolitische Intention des Bundestages lässt sich anhand der Einsetzungsdebatte von 1992 ebenso zeigen wie am Abschlussbericht, den das Parlament am 17. Juni 1994 annahm. Der Einsetzungsbeschluss für die Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit", auf die abschließend kurz eingegangen wird, betont ausdrücklich die politische Bedeutung der weiteren „Aufarbeitung von Geschichte, Folgen und aktuellen Nachwirkungen der SED-Diktatur" im Transformationsprozess. „Der Deutsche Bundestag betrachtet es daher als notwendig, an die Arbeit der vorherigen Enquete-Kommission anzuknüpfen, um sie mit neuen Schwerpunktsetzungen fortzuführen. Die Aufarbeitung der SED-Diktatur ist ein gesamtgesellschaftlicher Prozeß."

Zuerst erschienen in: Deutschland

Archiv, H e f t 4/1997, S. 607-613.

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Der Kommission wird aufgetragen, „Parlament und Regierung politische Handlungsempfehlungen für den Umgang mit Folgen und Hinterlassenschaft dieser Geschichte zu geben" 1 . 2. Die Einsetzungsdebatte im Bundestag 1992 Der Bundestagsabgeordnete Markus Meckel, Mitbegründer der Sozialdemokratischen Partei der D D R im Herbst 1989, schlug 1991 die Einsetzung einer EnqueteKommission zur DDR-Geschichte vor: „Der Deutsche Bundestag, als höchstes gewähltes Gremium, mit Abgeordneten aus ganz Deutschland, trägt besondere Verantwortung für die Aufarbeitung dieser Geschichte." 2 Sein Vorschlag fand Zustimmung in den anderen Fraktionen, und der erste gesamtdeutsche Bundestag übernahm es selbst, über die D D R als untergegangenen Staat und sein politisches System zu verhandeln.3 Mit der Einsetzung der Enquete-Kommission zur Untersuchung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur im Frühjahr 1992 fällte das Parlament eine wichtige Grundsatzentscheidung für den weiteren historischen Umgang mit der DDR: Sie ist Teil der deutschen Geschichte und kann angesichts der weltpolitischen Qualität der innerdeutschen Systemauseinandersetzung nicht isoliert betrachtet und verstanden werden. Rainer Eppelmann (CDU), Bürgerrechtler aus der D D R und Vorsitzender der Kommission, unterstrich ihre gesamtdeutsche Aufgabe in der parlamentarischen Debatte um ihre Einsetzung, die wenige Wochen nach der Öffnung der Akten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) stattfand: „Die Erfahrung, die wir in und mit 45 Jahren DDR gemacht haben, hat unser ganzes Leben und alle Menschen umfaßt und nicht nur die vielleicht 500.000 offiziellen und inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit und ihre unmittelbaren Opfer. Darum wünsche ich mir, daß sich möglichst viele der 80 Millionen Deutschen mit den Fragen und Problemen unserer Vergangenheit intensiv befaßten."4 Die MfS-Problematik lieferte wenige Wochen nach der Öffnung der Akten den roten Faden für diese Debatte. Gerd Poppe (Bündnis 90/Die Grünen) sprach über erste persönliche und politische Erfahrungen im Umgang mit der Stasi-Überlieferung. Nachdrücklich verteidigte er das Stasi-Unterlagengesetz. In seiner Rede kam die emotionale Reaktion eines Betroffenen zum Ausdruck. Konfrontiert mit dem inter1 2

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Antrag der Fraktionen C D U / C S U , Bündnis 90/Die Gründen und FDP: Einsetzung einer Enquete-Kommission „Uberwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit", Deutscher Bundestag, 13. Wahlperiode, Drucksache 13/1535 vom 31. Mai 1995, S. 3. SPD-Bundestagsfraktion, Rundbrief, Bonn, 28. November 1991: Der SPD-Bundestagsabgeordnete Markus Meckel fordert die Einsetzung einer Enquete-Kommission zur politischen Aufarbeitung von 40 Jahren Vergangenheit der DDR, zit. nach: Petra Bock: Von der Tribunal-Idee zur Enquete-Kommission, in: Deutschland Archiv, Heft 11/1995, S. 1176. „Einmalig für die Zeit nach dem 2. Weltkrieg war das Unterfangen, daß ein deutsches Parlament sich selber die Aufgabe der,Vergangenheitsbewältigung' stellte." Dirk Hansen: Befreiung durch Erinnerung. Zur Arbeit der Enquete-Kommission .Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland' des Deutschen Bundestages, in: Deutsche Studien, Heft 125/1995, S. 71. Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), 9 Bde. in 18 Teilbänden, hrsg. vom Deutschen Bundestag, Baden-Baden/Frankfurt am Main 1995, Bd. I, S. 26. (vgl. die Rezension von Gerd-Rüdiger Stephan in: Deutschland Archiv, Heft 1/1997, S. 145 ff.).

Die deutsche Einheit und die Geschichtspolitik des Bundestages (1997)

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essengeleiteten Umgang mit den Ergebnissen der Akteneinsicht der Opfer der D i k tatur in den Medien, wehrte er sich gegen Versuche, die Glaubwürdigkeit der Akten generell anzuzweifeln. In dieser Rede wurde nicht nur der inhaltliche Zusammenhang der Öffnung der Stasi-Akten mit der Einsetzung der Enquete-Kommission sehr deutlich, sie ist auch ein zeitgeschichtliches Dokument: „Es ist seit der Öffnung der betreffenden Akten einige Unruhe entstanden. Hysterische Uberreaktionen sind ebenso zu bedauern wie die mitunter zu vermutende bewußte Vernebelung von Fakten. Neue Legenden entstanden, wie ζ. B. die von der angeblichen Steuerung der Wende durch die Stasi. Unerträglich finde ich es, wenn die Opfer von einst nunmehr zu Denunzianten erklärt werden, einige Erfüllungsgehilfen des Regimes sich dagegen ihrerseits als Opfer darstellen. Unerträglich finde ich es auch, wenn StasiTäter als Kronzeugen aufgerufen werden, um je nach Interessenlage andere zu be- oder entlasten, wenn sie als glaubwürdig gelten, die von ihnen selbst angelegten Akten aber als unglaubwürdig, oder wenn sie sich andererseits unter Berufung auf eine ihnen von anderen Tätern auferlegte Schweigepflicht weiterhin in ihren Villen verschanzen. Die Fortsetzung der öffentlichen Auseinandersetzung darf nicht behindert werden. Jedoch sind eindeutigere Feststellungen und zugleich eine sehr viel differenziertere Betrachtungsweise als bisher nötig. Nach der Durchsicht meiner mehr als 10.000 Blatt umfassenden .Sammlung' in den letzten zehn Wochen darf ich sagen, daß das Stasi-Unterlagen-Gesetz vorerst hinreichende Voraussetzungen für die Aufarbeitung dieser Akten bietet." 5 Die Ausführungen des Bürgerrechtlers Gerd Poppe gipfelten in dem leidenschaftlichen Appell an die westdeutsche Öffentlichkeit, eine Wahrheit über ihre Landsleute aus der D D R nicht zu vergessen: „Wir waren kein Volk von Widerständlern, aber noch weniger eines von Denunzianten." 6 Insgesamt demonstrierte die Einsetzungsdebatte im März 1992 den Konsens unter den demokratischen Parteien, dass die Geschichte der D D R nicht auf die StasiThematik reduziert werden dürfe. Aber sie zeigte auch, „wie eng Geschichte und ihre ,Bewältigung' als Thema politischer Kommunikation mit Tagesfragen und aktuellen Auseinandersetzungen verbunden sind" 7 .

3. Parlament gegen Diktatur: der gesamtdeutsche Auftrag der EnqueteKommission und die Interessenlagen der Parteien Aus der Perspektive des republikanischen Staatsmannes beschrieb Willy Brandt die Aufgaben der Kommission. „Aufdeckung und Aufklärung" über Strukturen und Methoden der SED-Diktatur und somit die Verantwortlichen an der Spitze der totalitären Staatspartei sollten im Mittelpunkt ihrer Verhandlungen stehen, „zumal wo es um die Machtzentren von Partei, Staat und sogenannter Staatssicherheit geht, und wo es sich um das Ausmaß der unterschiedlich festzumachenden Verantwortung handelt" 8 .

5 6 7 8

Ebd., S. 50 f. Ebd., S. 53. Petra Bock: Von der Tribunal-Idee zur Enquete-Kommission, a. a. O., S. 1183. Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", Bd. 1, a. a. O., S. 32.

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Brandt vor allem betonte den geschichtspolitischen Beitrag der Kommission zum Vereinigungsprozess, sie müsste folglich „als gesamtdeutsche Aufgabe verstanden werden, auch als Beitrag zu jener Aussöhnung, die Wahrhaftigkeit voraussetzt". Er forderte den demokratischen Konsens, wo es „um das Unglück geht, das dem anderen Teil Deutschlands widerfuhr, als wir miteinander die Nazi-Herrschaft hinter uns hatten. [...] Es kann jetzt schon gar nicht angehen, daß die Landsleute in den mißverständlich so genannten neuen Ländern alleingelassen werden, w o es darum geht, das ihnen unter sowjetischer Herrschaft und kommunistischer Diktatur auferlegte bedrückende Kapitel deutscher Geschichte aufzuarbeiten und so ordentlich wie möglich hinter sich zu bringen."9

Eine klare Absage erteilte Brandt allen Versuchungen, einen politischen Schlussstrich zu ziehen. „Ich halte gerade nach den Jahren 1933 bis 1945 wenig oder nichts von der Therapie des Gras-wachsen-Lassens. Es kann aber auch nicht darum gehen, Schuld dort abzuladen, wo sie nicht hingehört." 10 Im Beitrag von Bundeskanzler Helmut Kohl und in der Auseinandersetzung zwischen den Abgeordneten Günther Müller (CSU) und Jürgen Schmude (SPD) kam die Westpolitik der SED zur Sprache. Eine kritische Bilanz der westlichen Entspannungspolitik wurde eingefordert. 11 Die Mitbegründerin des Demokratischen Aufbruchs, Angela Merkel (CDU), fragte nach den westlichen Illusionen über die DDR: „Verwundert waren wir im Osten oft darüber, welche Illusionen man sich im Westen über die D D R machte. Auch darüber müssen wir, so meine ich, diskutieren. Wie war es denn möglich, daß im Westen die sogenannten fortschrittlichen Gruppierungen den Diktaturen im Osten einen Bonus einräumten [...]? War es ein Beitrag zur Überwindung des totalitären Zwangssozialismus, als von führenden Persönlichkeiten im Westen die Forderung nach Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft erhoben wurde?" 12

Die internationalen Rahmenbedingungen der deutschen Teilung und die Bedeutung der sowjetischen Politik für die Stabilität der DDR standen nicht im Zentrum der Debatte. Wolfgang Mischnick (FDP) sah sich genötigt, ausdrücklich davor zu warnen, die internationale Dimension der deutschen Frage zu übersehen: „Es sollte eine wichtige Aufgabe der Kommission sein, auch die Gesamtzusammenhänge aus den letzten 40, 45 Jahren mit sichtbar zu machen. Wir müssen uns davor hüten, daß die Kommission in erster Linie oder ausschließlich den innenpolitischen Teil - den ich für den wichtigsten halte - betrachtet. Sie muß sich vielmehr darüber im klaren sein, daß das Ergebnis dieser Enquete-Kommission auch international gesehen und beachtet wird." 13

Dem Mehrheitswillen des Bundestages, diese Enquete-Kommission einzusetzen, widersprach entschieden der Abgeordnete Uwe-Jens Heuer von der PDS. Für ihn war die DDR ein völkerrechtlich durch den Grundlagenvertrag von 1972 auch von der Bundesrepublik anerkannter souveräner Staat, und der Bundestag habe somit kein Recht, über die DDR zu urteilen. Inhaltlich setzte Heuer zudem einen anderen Ak-

9 Ebd. 10 Ebd. 11 Ebd., S. 117 ff. 12 Ebd., S. 110. 13 Ebd., S. 90.

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zent für die Aufarbeitung, als dies die demokratischen Parteien taten. Wollten diese die Diktatur untersuchen, so ging es Heuer um das Scheitern des Sozialismus in der DDR. Ihm war es wichtig, „die Ursachen des Scheiterns des Versuchs zu ergründen, auf deutschem Boden einen sozialistischen Staat zu errichten" 14 . Heuer war der einzige Redner, der nach der Bedeutung der D D R für die zukünftige Entwicklung Deutschlands fragte: „Zum Sozialismusversuch in der DDR gehören zahlreiche positive Erfahrungen im Kampf um soziale Gerechtigkeit, um ein solidarisches und friedliches Gemeinwesen auf deutschem Boden. Dazu gehören aber auch Fehler, Irrwege, Versäumnisse und Unrecht. Warum gelang es nicht, den Weg zu Demokratie und Rechtsstaat im Rahmen des Sozialismusversuchs in der DDR zu gehen?"15 Die Legitimität der SED-Herrschaft in der SBZ/DDR begründete er mit der innerdeutschen Systemauseinandersetzung. In der SBZ sei nach 1945 der Versuch unternommen worden, eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen - bewusst als eine fortschrittliche Alternative zur Entwicklung in den westlichen Besatzungszonen, in denen die Westalliierten den Kapitalismus restauriert hätten. Heuer leistete mit dieser Argumentation einen Beitrag zur Geschichtspolitik seiner Partei: Die politisch-ideologische Untersuchung der Gründe für das Scheitern des DDR-Sozialismus sollte den Politikern der PDS auch dazu dienen, Argumente für eine künftige sozialistische Politik in der Bundesrepublik zu finden.16 Die Debatte um die Enquete-Kommission im Bundestag spiegelte somit die widersprüchlichen Interessen und politischen Absichten wider, die die Parteien in der parlamentarischen Geschichtspolitik verfolgten. Ihren gesamtdeutschen Auftrag betonte besonders der Einsetzungsantrag der Regierungskoalition: „Die Aufarbeitung der Geschichte ist eine gemeinsame Aufgabe aller Deutschen. Die erzwungene äußere Teilung konnte unsere innere Zusammengehörigkeit nicht durchschneiden; sie teilt nicht unsere Verantwortung füreinander und für einen sorgfältigen Umgang mit unserer gemeinsamen Geschichte."17 Die Anträge von SPD und Bündnis 90/Die Grünen rückten die Machtstrukturen und die Repressionsmechanismen der Diktatur in den Vordergrund. 18 Die Initiative zur Einsetzung dieser Kommission zur Untersuchung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland ging von ostdeutschen Abgeordneten aus, die aus der Bürgerrechtsbewegung der D D R kamen und im Bundestag unterschiedlichen Parteien angehörten. Der Auftrag der Kommission war ein ge-

14 15 16

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Ebd., S. 88. Ebd. Dietmar Keller, der die PDS in der Enquete-Kommission als Abgeordneter vertrat, hat dies in der Einsetzungsdebatte deutlich ausgesprochen: „Ich bin im Interesse unseres eigenen Lebens, unserer eigenen Geschichte und auch im Interesse der Geschichte unserer Kinder und Kindeskinder für eine rückhaltlose Aufarbeitung der Geschichte. Ich brauche sie auch als demokratischer Sozialist, um zu wissen, was die Ursachen des Scheiterns des Sozialismus im 20. Jahrhundert sind. Ich brauche sie, um zu wissen: Sind Ideen des demokratischen Sozialismus brauchbar, sind sie gut, und was muß als Antwort auf die gegenwärtige Bundesrepublik Deutschland gegeben werden? Ist sie die letzte Antwort der Geschichte? Wo ist sie verbesserungsbedürftig, und in welchen Fragen braucht sie neue Alternativen, neue Antworten?" Ebd., S. 116. Ebd., S. 23. Ebd., S. 3 ff.

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samtdeutscher, aber auf Seiten der insgesamt 32 Abgeordneten, die ihr als ordentliche Mitglieder oder deren Stellvertreter angehörten, waren die „gelernten DDR-Bürger", wie sich einige von ihnen gerne bezeichneten, überproportional vertreten.19 EnqueteKommissionen unterscheiden sich von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen auch durch ihre Zusammensetzung. Ihnen gehören neben den Abgeordneten mit Stimmrecht ausgestattete externe Sachverständige an, die auf Vorschlag der Fraktionen und Gruppen vom Bundestag berufen werden. Der Kommission gehörten elf Sachverständige an, im Laufe der Legislaturperiode gab es unter ihnen eine Veränderung, der Schriftsteller Walter Kempowski schied aus, und seinen Platz nahm HansAdolf Jacobsen ein.20 Im Unterschied zu den Abgeordneten kam die Mehrheit der Sachverständigen aus dem Westen und nur vier aus dem Osten. Die vom Bundestag eingesetzte Kommission einigte sich im Konsens auf den Text des Enquete-Auftrags, den der Bundestag billigte, und der sich auf sechs Themenfelder konzentrierte: 1. 2. 3. 4. 5.

Machtstrukturen und Entscheidungsmechanismen im SED-Staat Rolle und Bedeutung der Ideologie Recht, Justiz und Polizei im SED-Staat Innerdeutsche Beziehungen und internationale Rahmenbedingungen Rolle und Selbstverständnis der Kirchen in den verschiedenen Phasen der SEDDiktatur 6. Möglichkeiten und Formen abweichenden und widerständigen Verhaltens und oppositionellen Handelns, die friedliche Revolution im Herbst 1989, die Wiedervereinigung Deutschlands und das Fortwirken von Strukturen und Mechanismen der Diktatur. 21

Schon die Akzentuierungen der Aufgabenstellung der Kommission in den Anträgen der Parteien spiegelten die unterschiedlichen west- oder ostdeutschen Erfahrungen und die ihnen entsprechenden Themen wider. Aber es galt, die Geschichte der Spaltung als nationales Schicksal der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg zu begreifen und die Untersuchung so anzulegen, dass die innere Vereinigung im Geist von Freiheit und Demokratie gelingt. In der Arbeit der Kommission zeigte sich sehr schnell, nur wenige Mitglieder waren in der Lage, bedingt durch das eigene Lebensschicksal und den damit verbundenen „doppelten Film" im Kopf, eine integrative Perspektive der Teilungsgeschichte zu entwickeln. Die Sachverständigen verfügten über einen solchen „doppelten Film" und/oder hatten sich durch ihre wissenschaftliche Arbeit eine gesamtdeutsche Perspektive angeeignet. 4. Die Ergebnisse der Enquete-Kommission Am 17. Juni 1994 legte die Kommission dem Parlament ihren Abschlussbericht und eine gemeinsame Entschließung vor, in der die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst sind und in der ausdrücklich betont wird, die Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur sei nicht allein die Sache von Historikern und Journalisten,

19 20 21

Ebd., S. 195 ff. Ebd., S. 198. Ebd., S. 154 ff.

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sondern ein „bedeutsamer politischer Beitrag zur inneren Einheit Deutschlands" 22 . Weiter heißt es: „Die Erarbeitung einer historisch fundierten Beurteilung von Ursache und Strukturen der zweiten Diktatur in Deutschland gehört nicht nur zur Bewältigung der Folgen der SED-Herrschaft und der Teilung Deutschlands, sondern ist zugleich eine grundlegende ständige Aufgabe bei dem Bemühen um die Weiterentwicklung der demokratischen politischen Kultur im wiedervereinigten Deutschland."23 Allein die PDS stimmte gegen die Entschließung, sie hatte bereits in der Kommission ein Sondervotum zum Bericht abgegeben.24 Der Bundestag wollte ein historisch fundiertes Urteil über das politische System in der D D R , und die Enquete-Kommission hatte einen vom Parlament beschlossenen politischen Auftrag, sie war kein Gremium von Fachhistorikern. Die Kernaussagen ihres Berichts differenzieren zwischen der Verantwortung der SED-Nomenklaturkader für die Diktatur und der ihr unterworfenen Menschen. Demonstrativ gedenkt der Bundestag des Widerstands gegen die Diktatur und der überragenden Bedeutung der demokratischen Herbstrevolution von 1989 in der D D R , der entscheidenden Voraussetzung für die Überwindung der deutschen Spaltung. Die Erkenntnisse über die noch fortwirkende Geschichte der zweiten Diktatur verbindet das Parlament mit der Forderung nach einem antitotalitären Konsens in der Gesellschaft, der einzigen Garantie für die Zukunft der deutschen Demokratie. In den Kernaussagen der Entschließung spiegelt sich das normative Selbstverständnis einer republikanischen Staatsverfassung wider, die der Urteilsbildung der Enquete-Kommission des Bundestages zugrunde liegt: 1. „Der SED-Staat war eine Diktatur. [...] Die wirkliche Grundlage der äußerlichen Stabilität des Systems war die von der Sowjetunion gegebene Existenzgarantie, als sie zurückgezogen wurde, stand das Regime der aufbegehrenden Bevölkerung haltlos gegenüber und brach zusammen." 2. „Die Hauptverantwortung für das Unrecht, das von diesem System begangen wurde, trägt die SED." (Das MfS war als „Schild und Schwert der Partei" ein Machtinstrument der SED und somit nicht Staat im Staate.) 3. „Die politisch-moralische Verurteilung der SED-Diktatur bedeutet keine Verurteilung der ihr unterworfenen Menschen, im Gegenteil. Die Deutschen in der S B Z / D D R haben den schwereren Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte zu tragen gehabt. [...] Unvergessen blieb der Versuch der Aufständischen vom Juni/ Juli 1953, unter Einsatz von Leib und Leben dieses System zu beseitigen, der nur durch sowjetischen Gewalteinsatz niedergeworfen werden konnte. Es ist das bleibende Verdienst der Deutschen in Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und im Ostteil Berlins, daß sie das SED-Regime stürzten und den Weg zur Demokratie und damit zur Vereinigung Deutschlands freigemacht haben." 4. Die innere Einheit Deutschlands hängt von der „Beseitigung der materiellen und immateriellen Folgeschäden der SED-Diktatur" ab, die eine „herausragende Aufgabe der bevorstehenden Jahre" bleibt.

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Ebd., S. 779. Ebd. Ebd., S. 680 ff.

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5. Die grundlegende Konsequenz aus den Erfahrungen mit der SED-Diktatur für die künftige deutsche Politik besteht in der Grundüberzeugung, dass zu den geistigen Grundlagen einer innerlich gefestigten Demokratie „ein von der Gesellschaft getragener antitotalitärer Konsens" gehört. „Nichts rechtfertigt Entmündigung und Unterdrückung von Menschen. [...] Das Credo demokratischer Politik nach 1945 ,Nie wieder Krieg von deutschem Boden, nie wieder Diktatur auf deutschem Boden!' bleibt bestehen. Dies bedeutet die Absage an jedwede Form totalitärer Ideologien, Programme, Parteien und Bewegungen."25 Der Deutsche Bundestag beschloss die Veröffentlichung des vorgelegten Berichtes sowie der Materialien, die „in dieser Form von keiner anderen politischen oder wissenschaftlichen Institution hätten hervorgebracht werden können".26 5. D a s demokratische Selbstbewusstsein der Deutschen und die Erfahrung der Diktatur Die historische Aufarbeitung der nationalsozialistischen Diktatur war im Westen nach dem Krieg verbunden mit der Systemauseinandersetzung mit dem SED-Staat. Mit der Verabschiedung des Grundgesetzes durch den Parlamentarischen Rat und der Gründung der Bundesrepublik 1949 bestritten die demokratischen Parteien der Sowjetunion ihr „Siegerrecht", mit Hilfe der deutschen Kommunisten in der sowjetischen Besatzungszone erneut eine Diktatur gegen die Mehrheit des eigenen Volkes zu errichten und damit Deutschland zu spalten. Die Bundesrepublik wurde als demokratischer Kernstaat gegründet, und dieser Übergangscharakter wurde in der Präambel des Grundgesetzes zum Ausdruck gebracht, in der das gesamte deutsche Volk aufgefordert wird, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands herbeizuführen, was 1989/90 geschah. Das demokratische Selbstbewusstsein der Deutschen blieb ambivalent, es ist tief geprägt von dem Wissen um das gewaltsame Ende der ersten deutschen Republik durch die nationalsozialistische Machtübernahme 1933 und die Hinnahme von 45 Jahren Diktatur der deutschen Kommunisten in einem Teil des Landes. Nach der deutschen Vereinigung standen erneut die Fragen, die die Deutschen nach Hitler Umtrieben, im Mittelpunkt: Warum unterlagen so viele der totalitären Verführung, wie steht es mit der Verantwortung der diktatorischen Funktionseliten, und welche Bedeutung kommt der Erinnerung an das widerständige Verhalten gegen den totalitären Machtanspruch der Diktaturen zu, das untrennbar zur politischen Kultur der Demokratie in Deutschland gehört? Aber die entscheidende historische Voraussetzung für die Errichtung der SEDDiktatur und die damit verbundene Sowjetisierung von Rumänien, Bulgarien, Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei waren die nationalsozialistische Diktatur und der von ihr entfesselte Zweite Weltkrieg. Die Kommission wich diesem Zusammenhang zwischen den beiden deutschen Diktaturen nicht aus, mit ihm beginnt sie ihren Bericht: „Wesentliche Grundlage der über vierzigjährigen SED-Diktatur war der totalitäre Machtanspruch der sowjetischen und deutschen Kommunisten. Die entscheidende Vor-

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Ebd., S. 781-783. Ebd., S. 785.

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aussetzung für die Errichtung der kommunistischen Diktatur in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und damit für die Teilung Deutschlands schuf jedoch die nationalsozialistische Kriegs- und Vernichtungspolitik des Zweiten Weltkrieges. [...] Die deutsche Expansionspolitik zwang die Großmächte Großbritannien, Sowjetunion und U S A im Jahre 1941 zu jenem,seltsamen' Bündnis, dem es schließlich vier Jahre später gelang, den deutschen Aggressor und seine Verbündeten niederzuwerfen. [...] Deutschland hatte 1945 nicht nur eine militärische Niederlage erlitten, sondern muß auch mit Gebietsverlusten im Osten rechnen, die mit einer massenhaften Vertreibung der deutschen Bevölkerung eingeleitet wurden. Es war von der NS-Diktatur befreit, aber auch den Besatzungsmächten bedingungslos ausgeliefert. Die in der Ä r a Bismarck gewonnene Großmachtstellung, die bereits durch den Ersten Weltkrieg geschwächt worden war, hatte es selbstverschuldet vollends verspielt. A m 5. Juli 1945 übernahm der Alliierte Kontrollrat die oberste Regierungsgewalt in Deutschland (,Berliner Erklärung'). Deutschland war damit zwar nicht als Völkerrechtssubjekt ausgelöscht, aber faktisch und rechtlich z u m Objekt der vier Siegermächte geworden." 2 7

Durch diese Aussage stellte die Kommission zugleich klar, dass ihre Verhandlungen über die SED-Diktatur und die deutsche Teilungsgeschichte sich nicht von dieser zentralen Katastrophe der deutschen und europäischen Politik trennen lassen. Die Feststellung zum geschichtlichen Zusammenhang beider Diktaturen enthebt die deutschen Historiker nicht der Aufgabe, ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu klären. Einen wesentlichen Grundsatz für diesen Diktaturenvergleich formulierte Dirk Hansen (FDP) bereits in der Einsetzungsdebatte. Er forderte, die Verbrechen einer Diktatur dürften nicht gegen die der anderen ausgespielt werden.28 Die Einsetzung der Enquete-Kommission zu Geschichte und Folgen der SED-Diktatur wurzelt in den Erfahrungen, die die Deutschen in der Auseinandersetzung mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit gesammelt haben. Dies ist ein schwieriger und langwieriger Lernprozess der individuellen Bewusstseins- und der öffentlichen Meinungsbildung gewesen, der immer noch andauert. In der Reflexion über beide Diktaturen in Deutschland geht es daher immer auch um die demokratische Zukunft des Landes. Nach dem Willen der Enquete-Kommission soll aber gerade die Geschichte der Teilung auch „den Blick für die Überlegenheit des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates" 29 schärfen, um die Bürger gegen künftige Gefährdungen der Demokratie zu wappnen. 6. Weiterführung der Aufarbeitung und die Erinnerung an die O p f e r und den Widerstand Der geschichtspolitische Auftrag der zweiten Enquete-Kommission, die der 13. Bundestag 1995 eingesetzt hat, konzentriert sich auf zwei Schwerpunkte: „1. Sicherung der Weiterführung des Aufarbeitungsprozesses der SED-Diktatur"; und 2. einen Beitrag zu leisten für die „Entwicklung gesamtdeutscher Formen der Erinnerungen an die beiden deutschen Diktaturen und deren Opfer". 5 0

27 28 29 30

Ebd., S. 208 f. Ebd., S. 132. Ebd., S. 745. Antrag der Fraktionen C D U / C S U , Bündnis 90/Die Gründen und F D P : Einsetzung einer Enquete-Kommission, a. a. O., S. 3.

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Die Diskussion um die Weiterführung der Aufarbeitung der SED-Diktatur konzentriert sich auf die Gründung einer Stiftung, die die entsprechenden Initiativen finanziell fördern und die Erinnerung an das SED-Unrecht wach halten soll. Die Beratungen über die Eckpunkte für eine solche Stiftung und ihre Aufgaben sind in der Kommission weit gediehen, um ein entsprechendes Gesetz, das sich auf die Empfehlungen der Kommission stützt, noch in dieser Legislaturperiode zu verabschieden. Im Einsetzungsbeschluss wird der Kommission aufgetragen, eine „Gedenkstättenkonzeption" 3 1 vorzulegen: „Die Erinnerung an die Opfer von Unrecht und Gewalt, an Widerstand und Mut in den Diktaturen sowie den Prozeß der Ablösung der SED-Herrschaft 1989 soll für das öffentliche Bewußtsein und die nationale Kultur wachgehalten werden. Gleichzeitig müssen die seinerzeit in beiden deutschen Staaten entwickelten unterschiedlichen Formen und Inhalte der Würdigung des Widerstands gegen den Nationalsozialismus sowie die Instrumentalisierung des Antifaschismus als Legitimationsideologie in der SBZ/DDR bedacht werden."32 Eine Herausforderung für eine solche Gedenkstättenkonzeption stellen die Lager Sachsenhausen und Buchenwald dar, die, errichtet von der SS, für ungezählte Opfer beider Diktaturen zum Friedhof geworden sind. Der zentrale Grundsatz der Gedenkstättenkonzeption der Enquete-Kommission ist bereits formuliert: Die Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur dürfen nicht relativiert und die der kommunistischen nicht bagatellisiert werden.

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Ebd., S. 4. Ebd., S. 3.

Die Diktaturkader Andre Brie, Gregor Gysi, Lothar Bisky und das MfS (1998)*

1. Die Wiederkehr sozialistischer Macht Die deutschen Wähler werden bei der kommenden Bundestagswahl darüber entscheiden, ob die SED-Fortsetzungspartei PDS erneut in den Deutschen Bundestag einzieht. Die SPD dagegen wird entscheiden, ob sie nach der Wahl in Sachsen-Anhalt, in Mecklenburg-Vorpommern und in Thüringen mit der PDS als Partner Koalitionsregierungen bilden wird. Bedenkt man das Ende der SED-Herrschaft 1989, als die totalitäre Staatspartei in der friedlichen Revolution ihre Macht verlor, so ist Biskys Selbstzufriedenheit verständlich, wenn er auf dem Rostocker Wahlparteitag im April 1998 erklärt: „Die Wandlung von der SED zur PDS, von einer Staatspartei, in der die große Idee des Sozialismus nur noch in den Köpfen und Herzen vieler ihrer Mitglieder, aber längst nicht mehr in der politischen und gesellschaftlichen Realität lebt, hin zu einer modernen sozialistischen Partei, die heute in Deutschland, in einem der mächtigsten Länder der Welt, eine relevante linkssozialistische Kraft ist - das ist eine beeindruckende Leistung seit 1989!"1 In der Tat ist dieser Wiederaufstieg aus den Trümmern der SED-Diktatur eine politische Leistung, sie ist kein zufälliges Produkt der Umstände, sondern beruht auf zielstrebiger Politik gegen widrige Verhältnisse. Es sind vor allem drei Personen, die diese Erfolgsgeschichte verkörpern: Lothar Bisky, Andre Brie und Gregor Gysi. Alle drei gelten in der öffentlichen Diskussion über die PDS als Reformer, die eine moderne linkssozialistische Partei repräsentieren und mit dem marxistisch-leninistischen Ungeist der kommunistischen Plattform, aber auch mit den Praktiken der totalitären Machtausübung der SED persönlich nichts zu tun gehabt hätten. Es ist wahr, sie waren keine hauptamtlichen SED-Parteifunktionäre, und sie dienten auch nicht als Offiziere in Erich Mielkes Ministerium für Staatssicherheit. Gleichwohl waren sie Diktaturkader, die auch mit dem MfS zusammenarbeiteten. Um das Selbstbewusstsein von Bisky im Jahre acht der deutschen Einheit zu verstehen, bedarf es einer Rückblende auf die „Wandlung von der SED zur PDS", die 1989/90 nicht freiwillig geschah.

* 1

Zuerst erschienen in: Politische Studien, Nr. 360/1998, S. 39-69. Rede des Vorsitzenden der PDS, Prof. Lothar Bisky, auf dem Wahlparteitag der PDS in Rostock am 3. April 1998.

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2. Von der S E D zur PDS: Kaderkontinuität nach dem Ende des SED-Parteiapparats Der Sturz der SED-Diktatur im Herbst 1989 traf eine Parteiführung, die mit Hilfe ihres Apparates die Macht über das eigene Partei- und Staatsvolk seit 1945 als Protagonist der deutschen Spaltung behaupten konnte. Gewöhnt an den äußeren Schutz durch die Sowjetunion und das Funktionieren des MfS im Inneren, war die SED 1989 unfähig zur Selbstreform, sogar dann, als sie von der sowjetischen Führung dazu ermuntert wurde. Erst im Herbst 1989, als ihre sozialistischen Untertanen auf den Straßen und Plätzen ihrer Dörfer und Städte sich zu Bürgern emanzipierten und nachdem die Leipziger Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 die Demonstrationsfreiheit in der D D R durchsetzte, zwang das SED-Zentralkomitee seinen Generalsekretär Erich Honecker zum Rücktritt. Sein Nachfolger wurde der ZK-Sekretär für Sicherheit, Egon Krenz. Ihm gelang es nicht mehr, die Lage für die Partei zu stabilisieren. Nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. November wandelte sich der demokratische Aufbruch in der D D R zur deutschen Einheitsbewegung, in der es nun um die Auflösung der D D R als Staat ging. Die Montagsdemonstranten skandierten „Wir sind ein Volk!". Erst in dieser Situation wagten die veränderungsbereiten Kader in der SED, offen für die Veränderung ihrer Partei einzutreten. Nach dem Rücktritt von Willi Stoph als Ministerpräsident Anfang November bildete Hans Modrow ein Reformkabinett. Seit langem galt auch im Westen der erste Sekretär der Bezirksleitung Dresden der SED, Modrow, im Gegensatz zu Honecker und Krenz als ausgemachter Reformer. Er trat als Ministerpräsident an die Spitze der neugebildeten Regierung der DDR. Die SED musste nun um ihre Politik werben, sie brauchte Kader, die öffentlich auftreten und argumentieren konnten. Aber die Parteisekretäre waren nur an Befehl und Gehorsam gewöhnt, sie konnten kommandieren, aber nicht debattieren. Modrow wusste dies und sprach das auch aus: „Wir werden auf manchem Gebiet uns mit jungen Leuten zusammenfinden müssen, die in der zweiten und dritten Reihe bis jetzt gearbeitet haben, und unter denen kluge Köpfe sind, die darauf warten, daß man sie mobilisiert. Wer hat denn Gregor Gysi vorher groß gekannt, wer hat ihn wirklich ernst und zu Rat genommen. Das sind aber heute Leute, mit denen man reden kann."2 Die Agonie der SED-Führung in der Endkrise der Diktatur lähmte auch ihren zentralen Parteiapparat und setzte seine wichtigste Kompetenz außer Kraft, durch eine einheitliche Personalpolitik in der SED, im Staatsapparat, in der Volkswirtschaft, der Kultur und den Medien die „führende Rolle der Partei" durchzusetzen. Die Nomenklaturordnung der SED zerbrach. Parteisekretäre wurden in dieser revolutionären Phase der DDR-Entwicklung funktionslos, ihre Macht war am Ende. Die SED-Kader mussten die Improvisation lernen; sie brauchten neue Kader, die in der Lage waren zu debattieren und nicht mehr offen den Versuch unternahmen, den bereits verlorenen diktatorischen Machtanspruch der Partei restaurativ wiederherzustellen. 2

Ausführungen von Ministerpräsident Hans Modrow anlässlich der Diensteinführung von Generalleutnant Wolfgang Schwanitz als Leiter des Amtes für Nationale Sicherheit in Berlin am 21. November 1989, in: Gerd-Rüdiger Stephan (Hg.): Vorwärts immer, rückwärts nimmer! Interne Dokumente zum Zerfall von SED und D D R 1988/89 (unter Mitarbeit von Daniel Küchenmeister), Berlin 1994, S. 261.

Die Diktaturkader Andre Brie, Gregor Gysi, Lothar Bisky und das MfS (1998)

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Mit der Bildung der Regierung Modrow gewann die SED über den Staatsapparat einen Teil ihrer verlorenen Handlungsfähigkeit zurück, zumal die Opposition weder willens noch in der Lage war, die Regierungsverantwortung in der DDR sofort zu übernehmen. Die Opposition setzte auf einen Runden Tisch, um diese Regierung zu kontrollieren, und konzentrierte sich auf die bevorstehenden Volkskammerwahlen im Jahre 1990. Die Kader bekamen Zeit, ihre Partei neu zu formieren. Zum damaligen Zeitpunkt hatte die SED zirka 2,3 Millionen Mitglieder und einen hauptamtlichen Funktionärsapparat von über 40.000 Beschäftigten. Die Masse der Mitglieder begann die SED zu verlassen, zurück blieben die Kader, von denen die meisten in der Folgezeit ihren Arbeitsplatz verloren. Damit war eine dramatische Veränderung des Machtgefüges in der DDR verbunden, das vorher vollständig von der zentralen Personalplanung der Partei geprägt wurde. Alle wichtigen und verantwortlichen Positionen im Sicherheitsbereich, der staatlichen Verwaltung, in der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Bildung, der Kultur, den Medien sowie in den Massenorganisationen FDGB und FDJ besetzte die SED mit Angehörigen der Kadernomenklatur, einem Verzeichnis von Funktionären, die für die Besetzung von Schlüsselfunktionen geeignet waren. Nach dem Muster der zentralen Personalverwaltung durch die KPdSU in der Sowjetunion wurde seit 1950 auch in der DDR offen nach den Regeln dieses Nomenklaturkadersystems verfahren. Die zentrale Personalplanung durch den Parteiapparat war eines der Wesensmerkmale der totalitären kommunistischen Diktatur. Die Kader waren somit Leitungskräfte und wissenschaftlich ausgebildete Spezialisten ohne Leitungsbefugnisse, sie waren das entscheidende Potential, mit dem die Ziele der SED, vor allem die Sicherung ihres Machtmonopols, durchgesetzt wurden. „Die Nomenklaturkader bildeten das Rückgrat des SED-Staates." 3 Diese Feststellung im Abschlussbericht der Enquete-Kommission „Uberwindung der Folgen der SED Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit" trifft den Kern. Die Karriere all dieser Nomenklaturkader stand unter ständiger Kontrolle des zentralen Parteiapparates der SED und war systematisch geplant. Jeder Aufstieg von Kadern in höhere, leitende und verantwortliche Positionen in der DDR war an politisch-ideologische, fachliche und sicherheitspolitische Anforderungen gebunden. Im Mittelpunkt stand die unbedingte Treue zur „Partei der Arbeiterklasse". Die Kaderlaufbahnen wurden mit den systematisch ausgewählten Nachwuchskadern am Ende ihrer Ausbildung seitens des Parteiapparates geplant und führten die Auserwählten systematisch über die weitere Qualifizierung in Parteihochschulen - an deren Spitze Einrichtungen der KPdSU standen - an Leitungsfunktionen heran. Der Parteiapparat hatte somit genügend Zeit, um die zukünftigen Führungskräfte über einen langen Zeitraum zu beobachten, zu prägen und zu beurteilen. Die SED betrachtete Kaderfragen ausschließlich aus der Perspektive der Machtsicherung. Diese Kadersozialisation gab den Reformkräften aus der zweiten Reihe der Nomenklaturkader die Kraft, um den Erhalt und die Veränderung der SED zu kämpfen, zunächst mit dem Ziel, die DDR und damit die deutsche Zweistaatlichkeit gestützt auf die Sowjetunion zu behaupten.

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Schlussbericht der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit", Deutscher Bundestag, 13. Wahlperiode, Drucksache 13/11.000 vom 10. Juni 1998, S. 80.

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Modrow führte erstmalig in der Geschichte der D D R eine Koalitionsregierung mit den Parteien des zentralen demokratischen Blocks. Die Wortwahl signalisierte eine wichtige Verschiebung in der Machtstruktur der noch bestehenden D D R . Nicht mehr der Generalsekretär, das Politbüro und sein ZK-Sekretariat bestimmten die Richtlinien der Politik, sondern erstmals wurden die Regierung und ihr Ministerpräsident zum wirklichen Zentrum der politischen Entscheidungen. Eine der zentralen Fragen, mit der diese Regierung konfrontiert war, betraf das Ministerium für Staatssicherheit und seine Zukunft. Die Montagsdemonstrationen in der Mehrzahl der Städte der D D R führten an den Kreis- und Bezirks Verwaltungen des MfS vorbei. Die Motivation der Demonstranten war nicht nur der Hass, sondern auch „die jahrzehntelang erfahrene Ohnmacht gegenüber dem gesamten Unterdrückungs- und Disziplinierungsapparat im SED-Staat" 4 . Armin Mitter hat zu Recht darauf hingewiesen, dass sich die Demonstranten kollektiv von dieser Ohnmacht befreiten, „indem sie die Stasi-Zentralen zunächst belagerten und schließlich stürmten. Diese innere Befreiung dürfte für die einzelnen weitaus wichtiger gewesen sein als Rachegelüste gegenüber den Mitarbeitern des MfS." 5 Aber im Gegensatz zu dem Ziel der sich formierenden politischen Opposition und der Demonstranten in den Straßen der Städte der D D R hielt die Koalitionsregierung Modrow, „alle Blockparteien eingeschlossen" 6 , an dem Ziel der Aufrechterhaltung des MfS in gewandelter Form als „Amt für Nationale Sicherheit" (AfNS) fest. Modrow war nicht bereit, „das Hauptinstrument des DDR-Totalitarismus, den Staatssicherheitsapparat, als offiziellen Apparat kompromißlos aufzulösen. Es kann und muß gesagt werden, daß Modrow sich darin mit den Blockparteien bis zum 8. Januar 1990 durchaus einig war. Daß die Auflösung dennoch geschah, ist eines der Verdienste der Opposition."7 Die Sicherung des MfS war das eine strategische Ziel der SED, das andere betraf die Rettung der Partei. Am 3. Dezember 1989 fand die letzte Sitzung des SED-Zentralkomitees statt, auf der unter anderem der Ausschluss der vormaligen Führung beschlossen wurde. Dieser traf unter anderem den ehemaligen Generalsekretär der Partei, Erich Honecker, den früheren Ministerpräsidenten Willi Stoph und den Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke. Rituelle Opfer, die der Tradition des Führungswechsels in kommunistischen Parteien seit Stalins Tagen entsprachen und die nach außen Tatkraft und Reformfähigkeit der SED demonstrieren sollten. Egon Krenz formulierte im Namen der Parteifunktionäre die Anklage gegen die ehemaligen Parteiführer, und er tat dies mit einem Gestus, als habe er nicht dazugehört: „Wenn ein Staat bis an den Ruin geführt wird, dann ist das Verbrechen. Ich

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Armin Mitter: Die Aufarbeitung der DDR-Geschichte, in: Eckhard Jesse/Armin Mitter (Hg.): Die Gestaltung der deutschen Einheit. Geschichte - Politik - Gesellschaft, Bd. 308 der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1992, S. 371. Ebd. Uwe Thaysen: Fortwirkende Maßnahmen der Regierung Modrow, in: Materialien der EnqueteKommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", 9 Bde. in 18 Teilbänden, hrsg. vom Deutschen Bundestag, Baden-Baden 1995, Band VII/2, S. 2001. Ebd., S. 2001 f.

Die Diktaturkader Andre Brie, Gregor Gysi, Lothar Bisky und das MfS (1998)

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glaube, ein größeres kann es nicht geben."8 Verhindert wurde der Untergang der SED in diesen Dezembertagen des Jahres 1989 durch die zweite Führungsebene der Partei. Ohne Beachtung des Parteistatuts setzte sie im Rahmen der ZK-Tagung den Rücktritt von Politbüro und Zentralkomitee der SED durch und bildete einen „Arbeitsausschuss". Damit war eine provisorische Parteiführung etabliert, deren wichtigste Aufgabe darin bestand, einen außerordentlichen „Erneuerungs"-Parteitag für die SED vorzubereiten. Zu seinen Mitgliedern gehörten Markus Wolf, jahrzehntelang Chef der Hauptverwaltung Aufklärung im MfS und zugleich Stellvertreter von Minister Mielke, Gregor Gysi und Lothar Bisky. Als dieser „Arbeitsausschuss" durch die Bezirkssekretäre der SED gebildet wurde, ging es in der internationalen Politik bereits um die Wiedervereinigung Deutschlands. 3. Parteierhalt, Volkskammerwahlkampf und Andre Brie Wenige Tage vor Etablierung des Arbeitsauschusses als provisorische Parteiführung hatte Bundeskanzler Helmut Kohl seinen Zehn-Punkte-Plan zur deutschen Einheit im Bundestag vorgetragen. Ihm antworteten Künstler und Wissenschaftler aus der D D R mit einem „Appell für unser Land". Der Aufruf verlangte, „eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln"9. Die Sicherung der Existenz der D D R war das zentrale Argument, mit dem der „Arbeitsausschuss" die Delegierten des außerordentlichen Parteitages der SED (8. Dezember) überzeugte, die Partei nicht aufzulösen, wie ein Teil der Delegierten vorschlug. Gysi und Modrow waren die Wortführer im Kampf um die Rettung der Partei. Gysi fragte die Parteitagsdelegierten, wem bei einer Auflösung das Vermögen der Partei gehören soll, wer die Mitarbeiter des Parteiapparates noch bezahlen - es sind zu diesem Zeitpunkt 44.000 - und welche Nachfolgepartei im juristischen Sinn die Rechtsnachfolge der SED antreten soll.10 Die Lösung der Krise suchten Gysi und Modrow in einer Umwandlung der SED, und so entstand die „Partei des Demokratischen Sozialismus" aus der SED heraus, die zunächst noch den Doppelnamen SED-PDS führte. Die im Vergleich mit Ungarn und Polen zu spät gekommene Adaption sozialdemokratischer Programmatik und Semantik durch die SED geschah zu einem Zeitpunkt, als in der D D R bereits eine neue sozialdemokratische Partei entstanden war, zu der nun die SPD Parteibeziehungen herstellt und die zur SED-PDS abbricht. Unabdingbare Voraussetzung der „Erneuerung" der SED war für den „Arbeitsausschuss" der demonstrative Bruch „mit den stalinistisch geprägten Grundstrukturen der SED" 11 . Auf der Tagesordnung stand vor allem die Änderung der Parteikonzeption der SED. Eine marxistisch-leninistische Parteiorganisation ließ sich im Dezember 1989 angesichts der revolutionären Prozesse in der D D R und der Vereini8 9 10 11

Gerd-Rüdiger Stephan (Hg.): Vorwärts immer, rückwärts nimmer!, a. a. O., S. 286. Text des Appells in: Zeno und Sabine Zimmerling: Neue Chronik D D R , Folgen 1-7/8, 3. Folge, Berlin (Ost) 1990, S. 16. Vgl. Gregor Gysi: Wenn wir alle für die neue Partei streiten, wird sie stark bleiben!, in: Außerordentlicher Parteitag der SED/PDS. Partei des Demokratischen Sozialismus, 8./9. und 16./17. Dezember 1989, Materialien, Berlin (Ost) 1990, S. 25. Für einen alternativen demokratischen Sozialismus. - Diskussionsstandpunkt des Arbeitsausschusses zu der von der Basis ausgehenden Neuformierung der SED als moderne sozialistische Partei, in: Manfred Behrend/Helmut Meier (Hg.): Der schwere Weg der Erneuerung. Von der SED zur PDS. Eine Dokumentation, Berlin 1991, S. 250.

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gungspolitik der Bundesregierung nicht mehr aufrechterhalten. Im formalen Aufbau der Partei und der Rückkehr zur geheimen Wahl der Vorstände diente die Satzung der sozialdemokratischen Partei als Vorbild, um den Parteiaufbau der SED zu reorganisieren. Die Kader aus der zweiten und dritten Reihe der SED wussten bereits, dass vor ihnen der sichere Machtverlust in der D D R lag, schlimmer noch, es drohte der Untergang des „Arbeiter-und-Bauern-Staates". Dieser wurde zur Gewissheit, als die sowjetische Parteiführung Ende Januar 1990 ihren Widerstand gegen die deutsche Vereinigung aufgab und Modrow selbst für die Vereinigung beider deutscher Staaten eintrat. Nach dem Verlust der Existenzgarantie durch die Sowjetunion hing die weitere Existenz der SED-PDS von ihrem Abschneiden bei den Volkskammerwahlen im März 1990 ab. Somit musste sich die Partei 1990 erstmals auf einen wirklichen Wahlkampf vorbereiten, in dem die Abgeordneten der Volkskammer nicht wie gewohnt vom zentralen Parteiapparat der SED bestimmt, sondern von den Bürgern gewählt wurden. In dieser Situation meldete sich Andre Brie mit einer Wahlkampfkonzeption für die SED-PDS zu Wort. Es war absehbar, dass im Mittelpunkt des Wahlkampfes der anderen Parteien die Haltung zur deutschen Einheit stehen würde. Brie dagegen rechnete noch mit der sowjetischen Existenzgarantie für die D D R und schlug vor, die SED-PDS solle für die „Erneuerung der D D R " , verbunden mit einer „Vertragsgemeinschaft" zwischen beiden deutschen Staaten, eintreten.12 Mit dieser Konzeption zog die parlamentarisch gewendete totalitäre Staatspartei in den Wahlkampf. Brie wurde Leiter des Wahlkampfbüros. Rückblende: Andre Brie war auf die Lösung dieser neuen Herausforderung vorbereitet; er gehörte mit seinem Bruder Michael und dem Politökonomen Dieter Klein zu einer Projektgruppe an der Berliner Humboldt-Universität, die bereits vor dem Herbst 1989 konzeptionell an einer Reform des Sozialismus gearbeitet hatte. Ihre Ideen wurden im Dezember 1989 konzeptionelle Grundlage für die Sicherung der Existenz der SED. 1 3 Hintergrund für Bries Wahlkampfkonzept scheint sein Entwurf für eine neue Außenpolitik der D D R zu sein, den er im Dezember 1989 publizierte. Die Orientierung der D D R auf die Sowjetunion war für ihn „die außenpolitische Existenzfrage" 14 , während die zweite Hauptachse einer künftigen DDR-Außenpolitik sich auf ein Sonderverhältnis mit der Bundesrepublik stützen musste. Bries Argumente von 1989 sind auch heute noch als Denkansatz für die ostdeutsche Interessenpolitik der PDS im vereinigten Deutschland von Belang und sollen deshalb hier noch einmal in Erinnerung gerufen werden. Unter den Bedingungen deutscher Zweistaatlichkeit: „1. ist das internationale wie das Kräfteverhältnis in der D D R dergestalt, daß auf eine deutsch-deutsche Annäherung realistischerweise nicht verzichtet werden kann (auch wenn man sie negativ bewertet), zumal sich die gemeinsamen nationalen Wurzeln als außerordentlich stark erweisen;

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Vgl. Andre Brie: Wahlkampf nicht gegen andere Parteien, sondern für unsere Ziele. Demokratischen Wandel der Partei mit demokratischen Mitteln entschieden fortführen, zit. nach: Manfred Behrend/Helmut Meier (Hg.): Der schwere Weg der Erneuerung, a. a. O., S. 351 f. Vgl. Christian von Ditfurth: Ostalgie oder linke Alternative. Meine Reise durch die PDS, Köln 1998, S. 13. Andre Brie: Thesen zu einer neuen Außenpolitik, in: Hubertus Knabe (Hg.): Aufbruch in eine andere DDR, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 245.

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2.

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kann die B R D eine beträchtliche ökonomische und finanzielle Quelle für die Erneuerung der D D R darstellen; die D D R kann dabei an die Interessen einflußreicher B R D - K r e i s e anknüpfen;

3.

entspricht es der historischen Verantwortung und den Möglichkeiten der D D R , zur Einbindung der B R D in eine entmilitarisierte und kooperative Entwicklung Europas beizutragen." 1 5

Diese Sätze des SED-Politikwissenschaftlers zeugen nicht von Aufgabe, vielmehr forderte er seine Partei auf, sich auf die neue Lage einzustellen und ihre Möglichkeiten aktiv zu nutzen. Illusionslos ist er sich darüber im Klaren, dass die Existenz der D D R auf der Sowjetunion und deren hegemonialer Stärke in Europa beruht. Bries Konzept kann auch als Baustein für eine neue sowjetische Deutschlandpolitik interpretiert werden, die darauf hinauslief, den Deutschen Sonderbeziehungen untereinander zuzugestehen, die ökonomische Leistungskraft der Bundesrepublik für den Wiederaufbau der D D R zu nutzen und sicherheitspolitisch das transatlantische Bündnis zu schwächen sowie die N A T O zu überwinden. Letzteres wird bei Brie durch die Adjektive „entmilitarisiert" und „kooperativ" angedeutet. Aber im Februar 1990 war dieses außenpolitische Konzept zur Rettung der D D R hinfällig. Die Partei hielt sich in ihrer Wahlkampfstrategie und Selbstdarstellung an den Rat von Brie, sie nannte sich fortan nur noch PDS, stilisierte sich als Partei der Opposition gegen die westdeutsche Vereinigungspolitik und trat als Interessenwahrer der Ostdeutschen auf. Der Erfolg gab Brie Recht, bei den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 erreichte die PDS DDR-weit 16,3 Prozent aller Stimmen und zog mit 66 Abgeordneten in das Parlament ein. Die PDS hatte mit Andre Brie einen Wahlkampfmanager, der Konstellationen zu analysieren und konzeptionell zu denken versteht. Sein Lebenslauf ist geeignet, um uns eine Vorstellung von der Qualifikation der Kader aus der dritten Reihe der Nomenklaturkader zu geben, auf die Modrow setzte und die nach dem Ende der totalitären Staatspartei die Geschichte des deutschen Kommunismus in Gestalt der PDS fortführten. Der Vater von Andre und Michael Brie ist Horst Brie, er emigrierte 1933 nach England, war dort einer der Mitbegründer der Freien Deutschen Jugend (FDJ), in deren Zentralrat er von 1947 bis 1955 saß. Ab 1958 gehörte er zum diplomatischen Dienst der D D R , er arbeitete an der Botschaft der D D R in der Volksrepublik China und war anschließend Botschafter in Nordkorea, Japan und Griechenland. 16 Der 1950 geborene Andre Brie wuchs somit als Diplomatenkind in China und Nordkorea auf, machte 1968 in Berlin sein Abitur und diente bei der NVA. Anschließend studierte er am Institut für Internationale Beziehungen der Akademie für Staat und Recht in Potsdam-Babelsberg, sein Studienschwerpunkt war die Außenpolitik. In seiner Dissertation beschäftigte er sich mit Fragen der Sicherheitspolitik der Bundesrepublik und Problemen des militärischen Gleichgewichts in Europa. 1981 erhielt Brie ein UNO-Stipendium, um über Abrüstungsfragen zu arbeiten. Von 1976 bis 1990 war er Mitarbeiter am Institut für internationale Beziehungen. 1985 und 1986 gehörte er der DDR-Delegation bei der Genfer Abrüstungskonferenz an. Mitglied

15 16

Ebd., S. 246. Günther Buch: Namen und Daten wichtiger Personen der DDR, 4. Überarb. Aufl., Berlin/Bonn 1987, S. 34.

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der SED wurde Brie 1969.17 Schon diese knappen Daten aus dieser „ostdeutschen Biografie" zeigen, der Horizont von Brie war nicht durch die Mauer begrenzt, er hatte China und Nordkorea erlebt und die D D R im Westen vertreten. Brie wurde Mitglied des Parteivorstandes und leitet bis heute das zentrale Wahlbüro der PDS. Das Wahlbüro ist ein Arbeitsgremium des Parteivorstandes und der Landesverbände, die eigene Wahlbüros unterhalten. Das zentrale Wahlbüro muss als organisatorischer und strategischer Kernbereich in der Parteiführung gewertet werden. Brie versucht seit 1989, die SED/PDS in einer tendenziell noch immer feindseligen Gesellschaft politikfähig zu machen. Das führt immer wieder zu Konflikten innerhalb der eigenen Partei mit den kommunistischen „Heimatvertriebenen"18 aus den alten Strukturen vergangener totalitärer Staatsmacht der SED. Er fordert eine politische Konzeption, die die politische Wirklichkeit in Europa und im vereinten Deutschland zur Kenntnis nimmt. Nach seiner Uberzeugung muss die PDS als parlamentarische Partei agieren, um das politische Kräfteverhältnis in Deutschland zu beeinflussen. Dabei vertritt er nach wie vor einen klaren politischen Machtanspruch, wie er es als Nomenklaturkader der SED gelernt hat. Sein Ziel ist die geistige und politische Hegemonie der Linken unter Einschluss der PDS in der Bundesrepublik. „Er will die,kulturelle Hegemonie der Konservativen brechen', sich also mit der bundesdeutschen Gesellschaft einlassen, um sie demokratisch umzubauen. Dafür braucht es ein breites Bündnis, inklusive Sozialdemokraten und Grüne."19 1989 war Brie in der SED ein wissenschaftlicher Spezialist für Außen- und Sicherheitspolitik, der aber bereits vor dem Fall der Mauer bezogen auf den Westen bündnispolitisch denken musste. Im Gegensatz zu Brie standen der Justizkader Gregor Gysi und der Kulturfunktionär Lothar Bisky bereits in der zweiten Reihe. 4. Gregor Gysi und die Oppositionspartei PDS Der Rechtsanwalt Dr. Gregor Gysi war 1989 Vorsitzender des Ostberliner Anwaltskollegiums, und in dieser Funktion saß er dem Rat der Vorsitzenden der 14 bezirklichen Rechtsanwaltskollegien der D D R vor. Die Kollegien waren „die sozialistische Form der Organisation der Arbeit der Rechtsanwälte" 20 . Der Einzelanwalt war in der D D R ein begründeter Einzelfall. „1988, also in der Endzeit der DDR, waren von 606 Anwälten 580 Mitglieder eines Kollegiums - mithin waren noch 26 als Einzelanwälte tätig, Rechtsanwalt Wolfgang Vogel zum Beispiel, der ein Vierteljahrhundert ein Mandat der DDR-Regierung in Sachen Häftlingsfreikauf inne hatte, und der als Inoffizieller Mitarbeiter des MfS enttarnte Rechtsanwalt Wolfgang Schnur."21

17 18 19 20

21

Vgl. Jürgen P. Lang/Patrick Moreau: PDS - Das Erbe der Diktatur, in: Politische Studien, ausgabe, München 1994, S. 136. Christian von Ditfurth: Ostalgie oder linke Alternative, a. a. O., S. 19. Ebd. Friedrich Wolf: Der Weg zur sozialistischen Rechtsanwaltschaft, in: Neue Justiz, Nr. S. 683, zit. nach: Karl Wilhelm Fricke: Der Rechtsanwalt als „Justizkader". Zur Rolle teidigers in politischen Strafverfahren der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. S. 11. Ebd.

Sonder-

13/1959, des VerΒ 38/95,

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Das Amt des Vorsitzenden des Ostberliner Anwaltskollegiums war somit eine Schlüsselfunktion für die parteiliche Organisation der Rechtsanwälte in der D D R , sein Inhaber hielt die Kontakte zur Abteilung Staats- und Rechtsfragen im Zentralkomitee der SED und zum Ministerium der Justiz. Genau diese Schlüsselfunktion hatte Gysi inne. Öffentlich bekannt wurde Gregor Gysi im November 1989. Nach seinem Eintritt in den Arbeitsausschuss der SED porträtierte ihn Peter Jochen Winters in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Das von Winters entworfene Porträt des „Reformers Gysi" prägte fortan dessen Erscheinungsbild in den westlichen Medien. „Für eine Erneuerung des Rechtswesens in der D D R hat sich Gysi [...] nicht erst in den letzten Wochen stark gemacht. Doch seit der ,Wende' hat sein Wort an Gewicht gewonnen. Unermüdlich plädiert er für die Änderung der Verfassung, damit die Grundund Menschenrechte stärker zur Geltung gebracht werden; die Einrichtung eines Verfassungsgerichtshofs; die Reduzierung des Strafrechts auf wirklich kriminelles Verhalten; für Gesetze zur Gewährleistung höherer Rechtssicherheit hinsichtlich der Tätigkeit von Volkspolizei und Staatssicherheit und nicht zuletzt für wirklich freie Wahlen. Auf der großen Demonstration am 4. November in Ost-Berlin, zu der mehr als eine halbe Million Menschen kamen, war Gysi einer jener Redner auf dem Alexanderplatz, die ein neues Versammlungs-, Vereinigungs- und Demonstrationsrecht sowie Pressefreiheit forderten. Als der alte Innenminister Dickel seinen Entwurf des Reisegesetzes präsentierte, da war es Gysi, der öffentlich die schärfste Kritik erhob und zusammen mit seinen Rechtsanwaltskollegen einen rechtsstaatlichen Alternativentwurf vorlegte. Wenn man ihn reden hört, glaubt man, einem westlich geschulten Anwalt zuzuhören, der in einem Rechtsstaat aufgewachsen ist und dessen Strukturen verinnerlicht hat." 22

In dieser journalistischen Momentaufnahme - geschrieben, als Gysi im Arbeitsausschuss die Parteigeschäfte der SED in die Hand nahm - wird sichtbar, wie notwendig die SED zu dieser Zeit Kader brauchte, die öffentlich argumentieren konnten, Anerkennung fanden und in der Lage waren, auf veränderte Situationen neue Antworten zu finden. Auffällig ist, dass Winters Gysi als einen Anwalt des Rechtsstaates vorstellte und besonders sein Eintreten für die Demonstrations- und Versammlungsfreiheit am 4. November hervorhob. In diesen anerkennenden Worten gingen die eigentlichen Akteure in Leipzig, Pirna und anderen Städten bereits vollständig unter, die diese Demonstrations- und Versammlungsfreiheit in der D D R erkämpften. Zur Nebensache wird in diesem Porträt, dass Gysi noch im Dezember 1989 am MfS als Institution festhielt. Was nun Gysis Verdienste um den Rechtsstaat in der D D R vor dem Fall der Mauer angeht, so war dem Berliner FAZ-Korrespondenten für die D D R bekannt, dass Gysi Robert Havemann, Rudolf Bahro und Bärbel Bohley als Mandanten vertreten hatte. Grundsätzlich konnten die Mandanten in der D D R ihre Rechtsanwälte frei wählen, aber im Regelfall bestand angesichts der vergleichsweise wenigen Rechtsanwälte, die es überhaupt gab, nur eine enge Auswahl. Das galt besonders für den Strafverteidiger in politischen Verfahren, hier gab es in der D D R keine Unabhängigkeit des Anwalts, er musste ebenso wie der Staatsanwalt und der Richter als zuverlässiger Justizkader des sozialistischen Staates funktionieren.

22

Peter Jochen Winters: Anwalt und Ahnder, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. Dezember 1989.

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Nach der internationalen Anerkennung der DDR und der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 verstärkte die DDR ihre Bemühungen, bei der politischen Verfolgung der Opposition ein rechtsstaatliches Verfahren vorzutäuschen. Das ging nicht ohne eine anwaltschaftliche Verteidigung der Angeklagten vor Gericht. „Selbst im MfS begriffen die führenden Köpfe, wie politisch nützlich, weil dem Image des sozialistischen Rechtsstaates' zuträglich, die Mitwirkung eines Verteidigers im Strafprozeß sein konnte, wenn er nur fortschrittlich gesinnt war. Häufig waren das Rechtsanwälte, die auf Empfehlung des MfS zu ihrem Mandat gekommen waren." 23 Bei dieser strukturellen Einbindung der Rechtsanwälte in den Justizapparat des SEDStaates verwundert es nicht, dass es auch Rechtsanwälte gab, „auf die sich die Staatssicherheit verlassen konnte, ohne daß sie zu Inoffiziellen Mitarbeitern verkommen waren. Sie wurden als Strafverteidiger geschätzt und gefördert, weil ihre politische Nützlichkeit erkannt worden war. [...] Und kein geringerer als Erich Mielke, der Minister für Staatssicherheit höchstpersönlich, äußerte in einem Referat vor Untersuchungsführern des MfS, die offenbar ihre Anwaltsfeindlichkeit noch nicht überwunden hatten, die Auffassung: ,Die Institution der Verteidigung ist doch eine Waffe für uns zur Festigung der sozialistischen Gesetzlichkeit'. Das Recht auf Verteidigung war aus der Sicht des MfS eine Frage der politischen Zweckmäßigkeit." 24 Karl Wilhelm Fricke illustriert das apparative Zusammenspiel von Staatssicherheit, Staatsanwaltschaft und Gericht am Beispiel von Robert Havemann, der am 20. Juni 1979 vom Kreisgericht Fürstenwalde unter der Beschuldigung eines Devisenvergehens zu einer hohen Geldstrafe verurteilt wurde. Hintergrund des Verfahrens waren ungenehmigte Publikationen Havemanns im Westen. „Der Wahlverteidiger, den sich der Angeklagte in der Person des Madrider Rechtsanwalts Enrique Gimbernat ausgesucht hatte, wurde ihm aus formalen Gründen verweigert. Havemann hatte sich für den spanischen Juristen entschieden, nachdem drei Jahre zuvor sein Anwalt Götz Berger [...] aus dem Ost-Berliner Anwaltskollegium ausgeschlossen und mit Berufsverbot belegt worden war. Statt dessen wurde Robert Havemann durch Gerichtsbeschluß einen Tag vor der Urteilsverkündung Rechtsanwalt Gysi als Pflichtverteidiger beigeordnet." 25 Das grundsätzliche Resümee, das Karl Wilhelm Fricke über die Rechtsanwälte in politischen Strafprozessen der DDR zieht, bezieht er auch auf Gysi: „Wer bestimmte politische Strafprozesse in der DDR daraufhin untersucht, welche Rechtsanwälte zu Offizialverteidigern bestimmt wurden, der stößt auf Namen, die sich häufig wiederholen. Tut ihnen Unrecht, wer sie als Vertrauensanwälte der Staatssicherheit charakterisiert?" 26 All diese strukturellen Zusammenhänge über die Rechtsanwälte als Justizkader der SED blieben im Dezember 1989 der Leserschaft der FAZ verborgen. Peter Jochen Winters behauptete stattdessen, Gysi habe sich „nicht erst in den letzten Wochen [...] für eine Erneuerung des Rechtswesens in der DDR [...] stark gemacht". Einmal mit

23 24 25 26

Karl Wilhelm Fricke: Der Rechtsanwalt als „Justizkader", a. a. O., S. 15. Ebd. Ebd., S. 15 f. Ebd., S. 16.

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dem Image als engagierter Verteidiger Havemanns, Bahros und Bohleys ausgestattet, glaubte man diesem Nomenklaturkader aus der zweiten Reihe der SED auch seine neuen Rollen als Parteivorsitzender einer gewandelten SED-PDS und sozialistischer Oppositionsführer in der Volkskammer sowie im Bundestag. Die Namensänderung der SED-PDS Anfang Februar 1990, ab sofort führte sie allein den Namen PDS, war verbunden mit der Annahme einer neuen Rolle als Oppositionspartei in der Volkskammer der noch bestehenden DDR. Nachdem ihr Vorhaben der „Erneuerung der DDR" gescheitert war, mauserte sie sich zum selbsternannten Anwalt der DDR-Interessen im Vereinigungsprozess. Selbstkritisch räumte Gysi ein, dass er und die neue SED-Führung im Dezember 1989 bei der Reform der Partei einer doppelten Fehleinschätzung unterlagen: Der Einigungswille der Mehrheit der Bevölkerung wurde unter- und die „Stärke der sowjetischen Position" überschätzt. 27 Die angemaßte Vertretung ostdeutscher Interessen durch die PDS setzte eine Bewertung des Verhältnisses von totalitärer Staatspartei SED und ihrem Staatsvolk voraus. Der eigenen Klientel zugewandt, behauptete Gysi nun mitten im Vereinigungsprozess, als es um die Auflösung der DDR ging, dass es über „weite Strecken der Geschichte der DDR eine Grundakzeptanz dieser Partei und dieses Staates gab". Diese Akzeptanz sei nicht unberechtigt gewesen: „Für mich gab es wichtige Punkte, die mein ganzes Engagement auf dies Land fixierten. Dazu gehörte, daß man immer das Gefühl hatte, in dem Deutschland zu leben, das zumindest im Vergleich mit dem anderen eine aktivere Friedens- und auch Abrüstungspolitik betrieb; auch das Gefühl, in dem Deutschland zu leben, in dem die Produktionsmittel vergesellschaftet sind, so daß bei allen Schwächen doch bessere Ausgangsbedingungen zur Lösung zukünftiger Fragen gegeben sind. Und man lebte in der Tat in dem Deutschland, in dem zumindest das finanzielle Bildungs-, Kultur- und Sportprivileg gebrochen war, was auch eine gewisse Werteverschiebung zugunsten solcher qualitativen Lebensfaktoren hervorbrachte. Und die immer wieder erfahrene Bestätigung, in einer Gemeinschaft zu leben, in der die sozialen Unterschiede doch zusammengeschmolzen waren." 28

Mit der versuchten Verschiebung des DDR-Bildes von der SED-Diktatur zur behüteten und bevormundeten Gesellschaft mit gesicherten Arbeitsplätzen und gebrochenen bürgerlichen Bildungsprivilegien konstruierte Gysi jene sozialistisch fundierte „Ostidentität", die die Lebensgeschichte der DDR-Bewohner mit der der SED verbindet und der PDS ihre Zukunft als ostdeutsche Regionalpartei mit gesamtdeutschem Anspruch garantieren sollte. Mit der Erfindung der „ostdeutschen Identität", in die die PDS das DDR-Staatsbewusstsein der SED-Kader transformierte, setzte sie zugleich einen Kontrapunkt gegen die westlich geprägte Vereinigungspolitik und setzte in modifizierter Form die Spaltungspolitik der SED fort. Es sind viele Gründe, die es der PDS in den letzten Jahren erlaubten, sich in Thüringen, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und dem Ostteil von Berlin als größte Oppositionspartei zu behaupten. Aber ohne den politischen Machtwillen, der bei Kadern wie Brie, Gysi und Bisky ungebrochen ist, wäre ihr Erfolg nicht möglich gewesen. Der Lebenslauf

27 Irene Runge/Uwe Stellbrink: Gregor Gysi: „Ich bin Opposition". Zwei Gespräche mit Gregor Gysi, Berlin (Ost) 1990, S. 82. 28 Vgl. ebd., S. 74.

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von Gregor Gysi zeigt aber auch die Kontinuität kommunistischer Milieus in der deutschen Gesellschaft. Der 1948 in Berlin geborene Gregor Gysi stammt wie Andre Brie aus einer kommunistischen Familie. Sein Vater, Klaus Gysi, trat 1931 in die KPD ein. Nach dem Krieg arbeitete er im Kulturbund, war von 1952 bis 1957 Abteilungsleiter im Verlag „Volk und Wissen", um danach bis 1966 den Aufbau-Verlag zu leiten. Er war Nachfolger des 1956 verhafteten Walter Janka. 1966 wurde Klaus Gysi Kulturminister, dieses Amt übte er bis 1973 aus, danach war er der erste Botschafter der DDR in Rom. 1979 wurde Klaus Gysi wieder auf einen für die Innen- und Kulturpolitik der DDR wichtige Regierungsposition berufen: Er wurde Staatssekretär für Kirchenfragen und übte dieses Amt bis zu seiner Pensionierung 1988 aus. Sein Sohn Gregor besuchte 1962 bis 1966 die Erweiterte Oberschule, absolvierte nach seinem Abitur eine „Ausbildung zum Facharbeiter für Rinderzucht", um danach an der Berliner Humboldt-Universität Jura zu studieren. 1967 wurde er Mitglied der SED.29 1990 gelang der PDS bei den ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlen der Einzug in das Parlament mit 17 Abgeordneten. Gysi gewann in Berlin-Hellersdorf/Marzahn das einzige Direktmandat für seine Partei und übernahm den Vorsitz der Bundestagsgruppe. Im Januar 1991 wurde er mit großer Mehrheit als Parteivorsitzender wiedergewählt, dieses Amt hatte er bis zum dritten Parteitag der PDS im Januar 1993 inne. Im Bundestag bleibt er Vorsitzender der Bundestagsgruppe. Gysi konsolidiert die PDS als Opposition und vertritt sie eloquent und schlagfertig in den Medien und der Öffentlichkeit. 5. Lothar Bisky, der Stolpe-Untersuchungsausschuss und der Weg zurück zur Regierungsmacht im Osten Lothar Bisky wurde 1993 auf dem dritten Parteitag zum Parteivorsitzenden gewählt. Wie Gysi gehörte er 1989 als Rektor der Hochschule für Film und Fernsehen der DDR in Potsdam-Babelsberg und als Vizepräsident des Verbandes der Film- und Fernsehschaffenden dem Arbeitsausschuss der SED an. 1990 wurde er Fraktionsvorsitzender der PDS im Landtag von Brandenburg, von 1991 bis 1993 war er außerdem Landesvorsitzender. Aus den Landtagswahlen 1994 ging die PDS in den neuen Ländern durchgängig als drittstärkste Partei hervor. In Sachsen-Anhalt tolerierte die PDS die Minderheitsregierung des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Reinhard Höppner, die dieser mit Bündnis 90/Die Grünen bildete. Somit war sie bereits fünf Jahre nach dem Sturz der SED-Diktatur in einem ostdeutschen Bundesland an der Regierungsverantwortung beteiligt. Vier Jahre später brüstete sich Gysi mit dem Einfluss seiner Partei auf die Landespolitik in Sachsen-Anhalt. Er behauptete: „Fast alles, was Ministerpräsident Höppner heute als Erfolg seiner Landesregierung preist, kam gegen seinen Willen und auf Druck der PDS zustande."30 Für das gesamtdeutsche Parteiensystem bedeutete Magdeburg 1994 einen wichtigen Einschnitt. Der Konsens der demokratischen Parteien der alten Bundesrepublik - niemals mit Unterstützung einer extremistischen bzw. antidemokratischen Partei eine Regierung zu

29 Vgl. Jürgen P. Lang/Patrick Moreau: PDS - Das Erbe der Diktatur, a. a. O., S. 140. 30 Gregor Gysi: Organisiertes CDU-Chaos nicht ausgeschlossen, in: Neues Deutschland 17. April 1998, S. 14.

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bilden - wurde von der SPD durchbrochen. Höppner setzte in Sachsen-Anhalt auf das Konzept einer ostdeutschen Eigenentwicklung, die - gestützt auf die „Schicksalsgemeinschaft" D D R - die gewendeten Diktaturkader der SED als Partner in demokratischen Landesregierungen einbeziehen sollte. Realistischerweise kann die PDS auch in den neuen Ländern noch nicht mit Mehrheiten bei Landtagswahlen rechnen, sie kann nur in Koalitionsregierungen mit den Sozialdemokraten Regierungsverantwortung erlangen. Umgekehrt braucht die SPD nach dem Absinken der Bündnisgrünen in die parlamentarische Nichtexistenz die PDS, um in den ostdeutschen Ländern Koalitionsregierungen ohne die C D U zu bilden. In beiden Parteien kam es vor und nach Magdeburg zu Diskussionen über die Formen, in denen eine Zusammenarbeit zwischen beiden Parteien stattfinden soll. So wurde Ende 1996 ein Thesenpapier aus den Landesverbänden der SPD im Osten bekannt, das bei einem Treffen mit dem stellvertretenden Bundesvorsitzenden der SPD, Wolfgang Thierse, diskutiert wurde. In diesem Papier ging es um eine Zusammenarbeit der SPD mit der PDS in den ostdeutschen Bundesländern bei entsprechenden Wahlergebnissen. „Die SPD könne - wie es wörtlich im Papier heißt - einer .Zusammenarbeit mit der PDS im Osten nicht ausweichen*. Konkrete Aussagen über Koalitionen und Bündnisse sollten jedoch erst nach dem Vorliegen konkreter Wahlergebnisse gemacht werden, Festlegungen in der Öffentlichkeit generell aus wahltaktischen Gründen bis 1998 vermieden werden. Wörtlich heißt es: ,Alle vorhergehenden festlegenden Äußerungen schaden eher und sollten sich vielmehr durch eine Flexibilität auszeichnen, die zwei Fehler vermeidet: daß wir durch frühe Festlegung den jeweils anderen Teil unserer potentiellen Wähler und Wählerinnen abschrecken, die von uns eine genau entgegengesetzte Festlegung erwarten würden; daß wir durch vorzeitige Festlegungen unsere späteren Handlungsoptionen einengen'. Dies bedeutet: Das Ziel ist klar, aber in der Öffentlichkeit soll darüber nicht gesprochen werden!" 3 1

Allein der sächsische Landesvorsitzende der SPD, Karl-Heinz Kunkel, verweigerte dieser Taktik seine Zustimmung. Nur wenige Wochen später schloss die PDS auf ihrem Schweriner Parteitag 1997 eine Beteiligung der Partei an Regierungen in Ländern und Bund nicht mehr aus.32 Der Weg zurück an die Schwelle von Regierungsämtern begann aber bereits 1992 in Brandenburg und ist mit dem Namen von Bisky verbunden. Damals setzte der Landtag von Brandenburg einen Untersuchungsausschuss ein, um die MfS-Verstrickungen des Konsistorialpräsidenten im Wartestand, Dr. h. c. Manfred Stolpe, Ministerpräsident des Landes Brandenburg, zu überprüfen. Vorsitzender des Untersuchungsausschusses wurde der Fraktionsvorsitzende der PDS. Stolpe war zum damaligen Zeitpunkt der einzige sozialdemokratische Ministerpräsident in den neuen Ländern. Er führte eine „Ampel-Koalition" aus SPD, F D P und Bündnis 90/Die Grünen. In diesem Untersuchungsausschuss war die SPD auf die kritische Solidarität der PDS angewiesen, als sie sich entschloss, trotz aller Aktenfunde über die engen MfS-Kontakte von Stolpe an ihm als Ministerpräsidenten festzuhalten.

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Gerhard Hirscher: Das Verhältnis von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur PDS - Von der Konkurrenz über die Tolerierung zur Kooperation?, in: Patrick Moreau: Die PDS: Profil einer antidemokratischen Partei, in: Politische Studien, Sonderausgabe, München 1998, S. 36 f. Vgl. ebd., S. 24.

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Um diese Entscheidung zu verstehen, ist eine Rückblende auf die Rolle von Stolpe vor dem Fall der Mauer notwendig, die Günter Nooke überzeugend beschrieben hat: „Ende der achtziger Jahre stand der Kirchenjurist Manfred Stolpe an der politischen' Spitze der evangelischen Kirche in der DDR. Er war die Autorität in dieser einzigen, politisch relevanten Struktur, die zu DDR-Zeiten nicht korrumpiert war und durch den Herbst '89 sogar noch aufgewertet wurde. Er hatte schon, bevor er als Ministerpräsident gewählt wurde, politische und Medienerfahrung in Ost und West gesammelt, er verstand sich mit West-Journalisten genauso gut wie mit der SED-Nomenklatur. Es kann hier nicht deutlicher ausgeführt werden, aber in Manfred Stolpe vereinten sich meines Erachtens wie in keiner anderen Person sowohl Amtsautorität im Sinne von Zuständigkeit, funktionale Autorität, also Sachkompetenz, und personale, charismatische Autorität all das verkörperte er zu DDR-Zeiten, und all das wurde ihm auch jetzt zugeschrieben. Diese Wahrnehmung wurde in die ostdeutsche Bevölkerung schon vor der Wende und während des Vereinigungsprozesses über Westmedien und westdeutsche Politiker, die über hohe Autorität in der DDR verfügten, zurückgekoppelt."33 Bereits 1990 existierte im damaligen Ministerium für innerdeutsche Beziehungen eine Materialsammlung über Stolpe, die ihm vorwarf, „er habe gemeinsam mit anderen Kirchenmännern wie den Bischöfen Christoph Demke und Gottfried Forck das alte System der DDR .nicht generell verurteilt'. Er habe früher ,ohne Not' immer wieder betont, daß ein besserer Sozialismus möglich und wünschenswert sei."34 Das Papier wurde im Vorfeld des brandenburgischen Landtagswahlkampfes bekannt und „mit Empörung aufgenommen. Stolpe selbst sprach gegenüber dem Berliner Tagesspiegel von einer ,schamlosen Zusammenstellung von Verleumdungen'" 35 . Die öffentliche Diskussion zwang den Staatssekretär im innerdeutschen Ministerium, Walter Priesnitz, zum öffentlichen Rückzug. Er erklärte, „es handele sich um eine Arbeit, die nicht in Auftrag gegeben worden sei.,Sowohl die Anfertigung des Papiers als auch der Inhalt würden mißbilligt'. Die Folgen hatte die Referentin zu tragen." 36 Eineinhalb Jahre später änderte sich das Bild. Um der Veröffentlichung der ihn belastenden Dokumente aus den Aktenbeständen des MfS zuvorzukommen, die das ARD-Fernsehmagazin Report aus München plante, räumte Stolpe im Spiegel ein, „seit Ende der 60er Jahre im Auftrag der Kirche und in deren Interesse ,umfangreiche Kontakte zum MfS gehabt zu haben'. Er habe den SED-Staat mit dessen eigenen Machtmitteln ,überlisten' und ,politische Ziele gezielt auch über den Umweg über die Staatssicherheit' erreichen wollen."37 Zu diesem Zeitpunkt war die nationale Euphorie über die deutsche Vereinigung im Osten vorüber. Mit der Wirtschafts-, Sozial- und Währungsunion mit der Bundesrepublik im Sommer 1990 wurde noch vor der Vereinigung von heute auf morgen das

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Günter Nooke: Aufklärung und Verklärung, in: Christian Striefler/Wolfgang Templin (Hg.): Die Wiederkehr des Sozialismus. Die andere Seite der Wiedervereinigung, Berlin/Frankfurt am Main 1996, S. 80. Ralf Georg Reuth: IM „Sekretär". Die „Gauck-Recherche" und die Dokumente zum „Fall Stolpe", Frankfurt am Main/Berlin 1992, S. 23. Ebd. Ebd., S. 24. Ebd., S. 25.

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ganze Wirtschafts-, Sozial- und Rechtssystem ausgewechselt, wie es zuvor schon mit der politischen Ordnung geschah. Die Ostdeutschen mussten die Sorgen eines neuen Alltags - der über Nacht eine völlige Veränderung von Lebensperspektiven, den Verlust von sicher geglaubten Arbeitsplätzen, die Entwertung erworbener Qualifikationen und von Erfahrungs- und Orientierungswissen mit sich brachte - verkraften. Hinter den Problemen der ökonomischen und sozialen Transformation verschwand im Osten der Zorn über das vergangene Unrecht der SED und wuchs in vielen Fällen auch der über westdeutsche Beutemacher und Ignoranten, zumal die Deutschen im Westen von den Folgen der Einheit nur wenig berührt waren. Die Geschichte der SED-Diktatur, vor allem die quälende Stasi-Diskussion und die Frage, wie der Rechtsstaat mit den Tätern der zweiten deutschen Diktatur umgehen sollte, schienen nur die neuen Bundesbürger anzugehen. Die voyeuristisch geführte Debatte über die MfS-Verstrickungen von einigen zehntausend früheren Staatsbürgern der D D R stand unter dem Motto: Es geschah in der D D R , aber nicht in Deutschland. Es wurde offenkundig und spürbar: Nach vierzig Jahren der Teilung muss das deutsche Volk sich als Nation erst wiederfinden; ein gesamtdeutsches Geschichtsbild der Teilung von 1945 bis 1990 existierte noch nicht einmal in Umrissen. In dieser Situation 1992 wurde verstärkt nicht das Einende der Deutschen wahrgenommen, sondern sie bemerkten wechselseitig ihre Unterschiede. Nooke: „ D i e Menschen in der ehemaligen D D R hatten weit mehr andere Lebensgewohnheiten entwickelt, als sie sich selbst und anderen eingestehen wollten. Sie erkannten sich allein an der Sprache. In vierzig Jahren D D R entstanden andere, eigene Identifikationsfiguren, die gerade ins öffentliche Bewußtsein zurückkehrten. E s ist diese emotionale Befindlichkeit, die in Manfred Stolpe ihre Symbol- und Leitfigur schlechthin findet. Auf dem emanzipatorischen Weg in eine demokratische Gesellschaft geschieht der Rückfall in die ostdeutsche Schicksalsgemeinschaft." 3 8

Diese Schicksalsgemeinschaft wurde für Stolpe mobilisiert, als der Moderator von Report und Fernsehchef des Bayerischen Rundfunks, Heinz-Klaus Mertes, in einem journalistischen Kommentar in seiner Sendung dem live zugeschalteten brandenburgischen Ministerpräsidenten das bevorstehende Ende seiner Amtszeit prophezeite. 3 ' Der Großteil der Brandenburger stand nach dieser Münchener Provokation solidarisch zu ihrem Ministerpräsidenten. Ab diesem Zeitpunkt ging es im Fall Stolpe nicht mehr um die historische Wahrheit, sondern um politische Macht. Nooke hat auch diese emotionale Reaktion vieler Menschen in den neuen Ländern festgehalten: „Mit der Wende waren zwar die S E D - M a c h t h a b e r gestürzt worden. Aber es kann sich doch keiner von den alten westdeutschen Revanchisten aus der E c k e eines Franz Josef Strauß' anmaßen, uns Ostdeutschen vorzuschreiben, wer in der neuen Demokratie unser Vertrauen verdient." 4 0

Doch die Vorwürfe gegen den brandenburgischen Ministerpräsidenten waren öffentlich und mussten geklärt werden. Im Abwehrkampf gegen diese „westlichen Zumutungen" etablierte sich erstmals eine ostdeutsche „Schicksalsgemeinschaft", in die notwendigerweise auch die PDS einbezogen werden musste. Am Stolpe-Unter-

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Günter Nooke: Aufklärung und Verklärung, a. a. O., S. 81. Vgl. Ralf Georg Reuth: IM „Sekretär", a. a. O., S. 25. f. Günter Nooke: Aufklärung und Verklärung, a. a. O., S. 80.

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suchungsausschuss lässt sich das N e t z w e r k der K r ä f t e zeigen, die die P D S n u t z e n k o n n t e , u m w i e d e r regierungsfähig z u w e r d e n . N o o k e , damals K o a l i t i o n s p a r t n e r v o n Stolpe, erinnert sich, dass es diesem z u n ä c h s t u m Z e i t g e w i n n ging: „Die ,Verschleppungsidee' eines Untersuchungsausschusses hatte intern, als erste Vorwürfe gegen Manfred Stolpe schon 1991 laut wurden, der ehemalige Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in der D D R , der Brandenburger Justizminister Bräutigam. Parlamentarisch wurde sie vom damaligen C D U - F r a k t i o n s v o r s i t z e n den Peter-Michael Diestel in die Diskussion gebracht. Vorgesessen hat diesem Untersuchungsausschuß der PDS-Landesvorsitzende Lothar Bisky, weil die P D S demokratisch an der Reihe war - welche Naivität von uns. Diese Namen sind entscheidend für eine die bundesweite Öffentlichkeit bestimmende Debatte zu Stasi, Staat-Kirche-Verhältnis und DDR-Vergangenheit. O h n e daß Absprachen nötig gewesen wären, ergänzen sich die einzelnen Interessenlagen. Verständlicherweise kämpft Manfred Stolpe in seinem eigenen Interesse und für so manchen Oberkirchenrat und Bischof. 4 1 Schließlich entzieht sich sein Fall ja wirklich allen herkömmlichen Klischees und verdient eine differenzierte Beurteilung. D a die Brandenburger hinter ihm stehen, sieht auch seine Partei, die S P D Verantwortung hin, Verantwortung her - keinen Grund, kritische Stimmen zuzulassen. D e r letzte Innenminister der D D R , Peter-Michael Diestel, steht wie damals zu seinen Leuten und jetzigen Mandanten. Prof. Bisky, zu D D R - Z e i t e n an der Babelsberger F i l m hochschule, weiß, wenn Stolpe bleibt, bleiben meine Partei und die Genossen. Als Partei konnte nur die P D S die neu konstituierte ostdeutsche Schicksalsgemeinschaft und die Gefühle von Larmoyanz und vermeintlicher Benachteiligung, der ,Erniedrigung' durch d i e , b ö s e n Westdeutschen', wahltaktisch nutzen und in Stimmengewinne ummünzen." 4 2 D i e erfolgreiche K o n s t r u k t i o n einer biografischen O s t - u n d d a m i t g e s a m t d e u t s c h e n L e g e n d e ü b e r die D D R - Z e i t des b r a n d e n b u r g i s c h e n Ministerpräsidenten w a r n u r m ö g l i c h u n t e r der tätigen Mithilfe w e s t d e u t s c h e r J o u r n a l i s t e n u n d Politiker. E i n e b e s o n d e r e B e d e u t u n g scheint in diesem Beziehungsgeflecht der b r a n d e n b u r g i s c h e J u s t i z m i n i s t e r B r ä u t i g a m gespielt z u haben, w e r d e n d o c h m i t der erfolgreichen Verteidigung v o n Stolpe zugleich „die vielen w e s t d e u t s c h e n F r e u n d e u n d P o l i t i k e r " gerechtfertigt, „die, selbst als G o r b a t s c h o w s c h o n regierte, lieber mit der S E D T e r m i n e verabredeten, als sich a u c h für die A n s i c h t e n der O p p o s i t i o n z u interessieren". 4 3 1 9 9 4 beendete der U n t e r s u c h u n g s a u s s c h u s s des L a n d t a g e s v o n

Brandenburg

seine A r b e i t . D i e M e h r h e i t , bestehend aus S P D , F D P u n d P D S , s p r a c h Stolpe v o n d e m V o r w u r f frei, dass er sich „gegenüber d e m M f S schriftlich o d e r in anderer F o r m

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Der Abschlussbericht der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" stellt über die Erfolge des MfS in der geheimdienstlichen Durchdringung der evangelischen Landeskirchen durch inoffizielle Mitarbeiter fest: „Die IM wurden auf allen Ebenen in den Kirchen eingesetzt. Besondere Bedeutung kam selbstverständlich solchen IM zu, die in Leitungsfunktionen Zugriff auf interne Informationen hatten, die von der SED bei ihrer differenzierenden Gesprächspolitik verwendet werden konnten. Diese wirkten sich auf kirchliche Entscheidungen und auch auf die Personalpolitik innerhalb der Kirchen maßgeblich aus. Besonders interessant war deshalb für das MfS vor allem die Gruppe der leitenden Kirchenjuristen und der kirchlichen Verwaltungsbeamten, bei denen inzwischen eine besonders starke geheimdienstliche Durchdringung nachgewiesen worden ist. Seit Mitte der 50er Jahre ist eine ausgedehnte IM-Tätigkeit leitender Kirchenjuristen in fast allen Landeskirchen festzustellen." In: Bericht der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", Deutscher Bundestag, 12. Wahlperiode, Drucksache 12/7820 vom 31. Mai 1994, S. 162.

42 43

Günter Nooke: Aufklärung und Verklärung, a. a. O., S. 84 f. Ebd., S. 85.

Die Diktaturkader Andre Brie, Gregor Gysi, Lothar Bisky und das MfS (1998)

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ausdrücklich zur Mitarbeit verpflichtete" 44 . Ehrhart Neubert, der für die Fraktion Bündnis 90 im Landtag Brandenburg das Minderheitengutachten erstellte, kam zu einem anderen Schluss: „Der Hergang der Werbung Stolpes als IM kann wegen der Vernichtung der IM-Akte nicht mehr vollständig aufgeklärt werden. In jedem Fall aber muß als gesichert gelten, daß das MfS die Vereinbarung mit Stolpe als Werbung betrachten konnte. Von nun an hat Stolpe dauerhafte MfS-Kontakte und erfüllt bis 1990 auch die wichtigste Anforderung an einen IM: die Einhaltung der Konspiration." 45

Bitter resümiert Günter Nooke: „Heute ist deutlich, von Brandenburg ging ein Rechtfertigungskartell aus, das alle jene begünstigt, die an die Ewigkeit der D D R glaubten und sich deshalb so verhielten, wie sie sich verhalten haben. Daß Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die wiedererlangte Einheit der Nation einen unschätzbaren Wert haben, erreicht das öffentliche Bewußtsein dagegen nicht mehr. Störende Akten und Fakten werden nach Belieben uminterpretiert. [...] Wir erleben die Konstruktion einer Wirklichkeit." 46

Bisky operierte im Stolpe-Untersuchungsausschuss gegenüber der SPD mit einer Doppelstrategie, der sich die Sozialdemokraten nur bedingt entziehen konnten, wollten sie einen Freispruch für Stolpe durchsetzen. Bisky war bereit zur Kooperation, ohne im Konfliktfall auf politischen Druck auf die Sozialdemokraten zu verzichten. Regelmäßig hat der PDS-Vorsitzende die Sozialdemokraten an seine Verdienste im Stolpe-Untersuchungsausschuss erinnert. Seine Funktion als Vorsitzender des Untersuchungsausschusses nutzte Bisky geschickt, um die politische Achtung der PDS aufzubrechen. Dies war Voraussetzung für eine potentielle Koalition der PDS mit Sozialdemokraten. Bisky war für seine politische Funktion in diesem Untersuchungsausschuss ebenfalls gut vorbereitet. 1941 geboren, studierte er in Leipzig Kulturwissenschaften, promovierte dort 1969, war Mitarbeiter am Zentralinstitut für Jugendforschung in Leipzig, wo er empirische Untersuchungen über die Einstellungen von Jugendlichen in der D D R durchführte. Von 1980 bis 1986 lehrte er Kulturtheorie an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED und war zudem als Honorarprofessor an der Berliner Humboldt-Universität beschäftigt. Schließlich wurde er 1986 als ordentlicher Professor für Film- und Fernsehwissenschaft an die Hochschule für Film und Fernsehen Potsdam-Babelsberg berufen, deren Rektor er bis 1990 war.47 Bisky gehörte auch zu denjenigen Mitgliedern der Akademie für Gesellschaftswissenschaften, die in die Gespräche mit der Grundwertekommission der SPD einbezogen wurden, die im Ergebnis zu der gemeinsamen Erklärung über den „Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit" vom August 1987 führten.

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SPD-Landtagsfraktion: Der Bericht. Der Stolpe-Untersuchungsausschuß. Ergebnis - Analysen Argumente, Potsdam 1994, S. 53. Ehrhart Neubert: Untersuchung zu den Vorwürfen gegen den Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg, Dr. h. c. Manfred Stolpe, Potsdam 1993, S. 30. Günter Nooke: Aufklärung und Verklärung, a. a. O., S. 85. Vgl. Lothar Bisky, in: Disput, Pressedienst PDS, Nr. 3/4-1993, Sonderheft zum 3. Parteitag, S. 48 sowie Jürgen P. Lang/Patrick Moreau: PDS - Das Erbe der Diktatur, a. a. O., S. 134.

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6. Die Stasi-Frage im Vereinigungsprozess In der friedlichen Revolution des Herbstes 1989 in der D D R und in den Debatten um die deutsche Vereinigung 1990 standen das MfS und namentlich seine Inoffiziellen Mitarbeiter im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte. Die eigentlich Verantwortlichen für die Diktatur, die Nomenklaturkader der S E D , blieben weitgehend unbeachtet. U m diese mentale Reaktion nachzuvollziehen, ist es notwendig, sich die hypertrophe Dimension des Uberwachungsapparates des MfS vor Augen zu führen. 1989 hatte das Ministerium 91.000 Mitarbeiter, einschließlich der Offiziere und Soldaten seines Wachregimentes Feliks E. Dzierzynski. Das Rückgrat der Überwachung der Gesellschaft bildeten ungefähr 13.000 MfS-Offiziere, 4 8 die kurz vor dem Ende der D D R ein verdeckt operierendes, konspirativ abgesichertes Informationsnetz von zirka 170.000 Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) und sonstigen Zuträgern führten. Sie sollten Gegner und Feinde der S E D unter den 17 Millionen Einwohnern melden, ihre zwischenmenschlichen Beziehungen „aufklären" und gegebenenfalls „zersetzen". Die Bürgerbewegung der früheren D D R , die Mehrzahl der politischen Parteien und eine breite demokratische Öffentlichkeit waren sich 1989/90 in Einem einig: Wer in der D D R Mitarbeiter oder inoffizieller Zuträger des Ministeriums für Staatssicherheit war, sollte in einer demokratischen Republik weder ein Abgeordnetenmandat ausüben dürfen noch Mitarbeiter in verantwortlicher Position im öffentlichen Dienst sein. Aktensicherung und ihre Öffnung waren somit ein Akt der Selbstbefreiung von den diktatorischen Strukturen, die nicht öffentlich erkennbar, aber für jeden, der in der D D R individuelle und selbstbestimmte Wege gehen wollte, spürbar waren. Es war eine nachholende Transparenz über die geheimdienstliche Struktur der Diktatur, die jeglicher, auch getarnter, kommunistischer Restaurationspolitik begegnen wollte, indem sie die tatsächlichen Biografien der Mitarbeiter des MfS im Konfliktfall offen legte. Gerade die Vertreter der sich neu konstituierten Oppositionsgruppen im Herbst 1989 wussten aus eigener leidvoller Erfahrung, wie dicht das N e t z der Inoffiziellen Mitarbeiter des MfS geknüpft war. Aber sie kannten selbstredend die Spitzel in ihren Reihen nicht. „Spätere Enttarnungen offenbarten jedoch in nahezu allen Gruppen die Mitwirkung von ,Genossen des MfS' in führenden Positionen. Selbst am Runden Tisch saßen mindestens fünfzehn Personen, die in irgendeiner Form mit dem alten Staatssicherheitsdienst zusammengearbeitet hatten. Selbst wenn sie nicht mehr operativ tätig gewesen sein sollten, waren sie doch erpreßbar und nur in engen Grenzen politisch handlungsfähig. Ein Antrag von Martin Gutzeit auf Uberprüfung der Teilnehmer des Runden Tisches auf MfS-Mitarbeit lehnte das Gremium gegen nur zwei (!) Stimmen ab, wobei neben dem Antragsteller noch sein Parteikollege Ibrahim Böhme (IMF des MfS ,Paul Bonkarz') dafür votierte. Der für das Neue Forum an den Runden Tisch delegierte Reinhard Schult wies diesen Antrag mit den Worten zurück: ,Wir können ja nicht zum Stasi-Spitzel-Jagen aufrufen von diesem Tisch hier. Also, ich halte das wirklich für völlig widersinnig'."49 Die systematische Aktenvernichtung im MfS begann bereits durch Mielke im N o vember 1989. Zunächst ging es um die Verwischung von Spuren, wie im Fall der Plä-

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Vgl. Helmut Müller-Enbergs: Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, Berlin 1996, S. 14. Klaus Schroetter: Der SED-Staat. Geschichte und Strukturen der D D R (unter Mitarbeit von Steffen Alisch), München 1998, S. 339 f.

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ne zur Errichtung von Internierungslagern für die Opposition im Krisenfall. In der MfS-Spitze herrschte auch nach dem Rücktritt von Mielke Einigkeit hinsichtlich „der weiteren Vernichtung von belastendem Material. Die Mitarbeiter wurden aufgefordert, diese Angelegenheit ,sehr klug und sehr unauffällig' zu handhaben, schließlich hätte es keinen Zweck, ,einen Haufen Papier mitzuschleppen, der uns in der gegenwärtigen und künftigen Zeit nicht nützt.'" 50 Die Aktenvernichtung bezog sich im Zusammenhang mit der Auflösung des Amtes auch auf den Schutz wichtiger Inoffizieller Mitarbeiter des MfS, und es ist gewiss kein Zufall, dass zum Beispiel die IM-Personalakte von Stolpe nicht mehr existiert. Mit den Fragen der Aktensicherung des MfS und ihrer Öffnung für die Opfer, die historische Forschung und die Justiz verbanden sich viele politische Probleme im Vereinigungsprozess, auf die hier kurz eingegangen werden muss. Im Frühjahr 1990 wurden zirka 178 Kilometer laufende MfS-Akten vor der Vernichtung gesichert. Die Frage, was mit ihnen geschehen soll, trat damals zurück hinter der Vorbereitung auf die erste freie Volkskammerwahl in der D D R , die im März 1990 stattfand. Die Mehrheit der Abgeordneten in der Volkskammer war willens, die deutsche Teilung durch den Beitritt der D D R zur Bundesrepublik Deutschland zu beenden. Der Verlauf der Debatte um den Umgang mit den MfS-Akten bei der Verhandlung des Einigungsvertrages offenbarte die Asymmetrie, die in beiden deutschen Gesellschaften und in der Politik hinsichtlich der eigenen Betroffenheit von der Geschichte der zweiten deutschen Diktatur bestand. N o c h nie hatte ein Staat die Akten eines Geheimdienstes freiwillig geöffnet, und viele verantwortliche Politiker aus der Bundesrepublik fürchteten, mit den MfS-Akten würde eine Büchse der Pandora geöffnet. An einem Randproblem entzündete sich im Sommer 1990 der erste Streit um den Umgang mit dem Erbe des MfS durch das vereinigte Deutschland. Zu entscheiden war die Frage: Sollen westliche Agenten der Hauptverwaltung Aufklärung des MfS der D D R weiterhin in der Bundesrepublik wegen ihrer Agententätigkeit vor Gericht gestellt werden? Bundesinnenminister Schäuble wollte eine Amnestie für diese „teilungsbedingten Straftaten", und der Bundesjustizminister legte auch einen entsprechenden Gesetzesentwurf vor.51 Der Plan scheiterte, der Innenminister hatte die Widerstände gegen eine solche Teilamnestie von Agenten unterschätzt. Entscheidend für die A k tenöffnung war allerdings der Versuch von beiden deutschen Regierungen, im Einigungsvertrag „eine restriktive Nutzung der Stasi-Akten festzulegen" 52 . Sie planten, die Unterlagen des MfS dem westdeutschen Bundesarchiv zu überstellen, um eine endgültige Regelung über die Modalitäten ihrer Öffnung dem gesamtdeutschen Gesetzgeber zu überlassen. Als diese Absicht bekannt wurde, kam es in der noch bestehenden D D R zu heftigen Reaktionen. Bürgerrechtler besetzten Räume in der früheren Zentrale des MfS in Berlin, um die Öffnung der Akten für die betroffenen Opfer und die historische Forschung zu erzwingen. Die Volkskammer beschloss, nicht zuletzt vor dem Hintergrund dieser Aktion, ein Gesetz, nach dem die Akten auch nach der Vereinigung auf dem Gebiet der D D R zu bleiben haben. Schließlich einigten sich die beiden Regierungen auf eine Zusatzvereinbarung zum Einigungsvertrag. Der 1990 zu

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Ebd. Vgl. Wolfgang Schäuble: Der Vertrag, Stuttgart 1991, S. 2 6 9 ff. Ebd., S. 274.

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wählende erste gesamtdeutsche Bundestag sollte eine gesetzliche Regelung beschließen, die den betroffenen Opfern des MfS ein Auskunftsrecht über den Inhalt der von der Staatssicherheit über sie angelegten Akten einräumt und die politische, historische und juristische Aufarbeitung der Tätigkeit des MfS ermöglicht. Am 20. Dezember 1991 wurde mit dem Stasi-Unterlagen-Gesetz die „Bundesoberbehörde des Beauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen D D R (BStU)" mit Sitz in Berlin errichtet. Wichtigster Zweck dieser Behörde, deren Gründung auf einen Beschluss der letzten DDR-Volkskammer zurückgeht, ist es, den Opfern der MfS-Repression und -Bespitzelung Akteneinsicht zu gewähren und Beschäftigte im öffentlichen Dienst der neuen Länder und Abgeordnete in ihren Landtagen daraufhin zu überprüfen, ob sie inoffiziell für das Ministerium für Staatssicherheit gearbeitet haben. Heute wird der Akt der Selbstbefreiung durch Akteneinsicht, der in der Öffnung der Stasi-Akten für die betroffenen Opfer lag, zunehmend auch im Westen verstanden und anerkannt. 1996 bekannte sich Bundeskanzler Helmut Kohl zu seinem Lernprozess in dieser Frage: „Wenn ich heute zurückschaue, dann halte ich diese Entscheidung von damals für richtig, wenngleich ich zeitweise daran gezweifelt habe, ich fürchtete, der ganze Unrat, der da hochkommen würde, könnte das Klima in Deutschland vergiften. Dies ist nicht eingetreten, weil es die Opfer verstanden haben, mit dieser düsteren Hinterlassenschaft verantwortungsbewußt umzugehen."53 Das Zögern der Bundesregierung, durch Öffnung der MfS- und SED-Akten eine schnelle öffentliche Auseinandersetzung um die zweite deutsche Diktatur herbeizuführen, hatte 1989/90 auch mit den langen Schatten der Hitler-Diktatur zu tun. Die Überwindung der Teilung des Landes war damals Gegenstand der praktischen Politik. Weder die Bundesregierung noch die Parteien und auch nicht der Bundestag hatten Zeit und Sinn für die deutsche Teilungsgeschichte. War doch die Bundesregierung damit beschäftigt, das Land zu einen und die 1945 in Potsdam zwischen den alliierten Siegermächten offen gebliebene deutsche Frage international abschließend zu regeln. Dieser historischen Aufgabe angemessen befasste sich die damalige internationale Debatte um die Folgen der Rekonstruktion eines deutschen Nationalstaates mehr mit Analogien zur Politik des Deutschen Reiches zwischen 1871 und 1945 als mit der Geschichte der SED-Diktatur. Besonders an der Frage der Anerkennung der polnischen Westgrenze wurden die Erinnerungen an die nationalsozialistischen Verbrechen reaktiviert und die deutsche Politik daran erinnert, dass die Teilung des Landes eine direkte Folge des vom Deutschen Reich 1939 vom Zaun gebrochenen Zweiten Weltkrieges war. Die Erinnerung an diese Epoche der deutschen Geschichte diente als Folie für Ängste vor der künftigen Politik eines neu entstehenden souveränen deutschen Nationalstaates in der Mitte Europas. Diese historische Debatte war für die Bundesregierung damals von weitaus größerer politischer Bedeutung als die über die kommunistische Diktatur auf deutschem Boden. Besonders gegenüber der Sowjetunion, die der Auflösung der D D R zustimmen musste, galt es seitens der Bundesregierung, Rücksicht zu nehmen auf deren Status als Siegermacht des Zweiten Weltkrieges, der die Voraussetzung für die Stationierung sowjetischer Truppen in

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Helmut Kohl: „Ich wollte Deutschlands Einheit", dargestellt von Kai Dieckmann und Ralf Georg Reuth, Berlin 1996, S. 463 f.

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Mitteleuropa schuf. Wenn auch die Einbeziehung eines vereinten Deutschland in die N A T O in der amerikanischen Deutschlandpolitik nach dem Fall der Berliner Mauer oberste Priorität besaß und das Weiße Haus die Wiedervereinigungspolitik der Bundesregierung nachhaltig unterstützte, auch in der amerikanischen Öffentlichkeit war die nationalsozialistische Vergangenheit der Deutschen nicht vergessen. Aber der amerikanische Präsident George Bush vertraute auf die Kraft der gefestigten Demokratie in der Bundesrepublik. Er war der Ansicht, dass Deutschland „für seine Sünden Buße getan hatte und daß es irgendwann einmal genug sein mußte'". 54 Die Bundesregierung war gezwungen, die innen- und außenpolitischen Fragen, die mit der deutschen Einheit zusammenhingen, unter unerhörtem Zeitdruck zu klären und im Rahmen des Zwei-plus-Vier-Prozesses international zu lösen. Namentlich die außenpolitischen Rahmenbedingungen ließen das moralisch-politische Problem, wie das vereinigte Land mit verantwortlichen Nomenklaturkadern der SED-Diktatur strafrechtlich umgehen soll, in den Hintergrund treten. Erneut erwiesen sich die MfS-Akten als Katalysator in dem Prozess der politischhistorischen Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur. Abgesehen von den Parteisekretären der SED, den Offizieren und Mitarbeitern des MfS und dem größten Teil der Berufssoldaten der Nationalen Volksarmee der D D R wurden die Angehörigen der Verwaltung, die Lehrer und die Polizisten in den öffentlichen Dienst der in der D D R neu gebildeten Länder übernommen. Deren Uberprüfung auf inoffizielle Tätigkeit für das MfS diente nicht nur der historischen Delegitimierung der totalitären Herrschaft der SED, sondern sollte auch eine demokratisch zuverlässige Verwaltung in den neuen Bundesländern sichern helfen. Der Schlussbericht der Enquete-Kommission „Uberwindung der Folgen der SEDDiktatur im Prozess der deutschen Einheit" kommt hinsichtlich der Lösung dieser Aufgabe zu folgendem Ergebnis: „Bei der Ü b e r p r ü f u n g von Bewerbern für den öffentlichen Dienst im Rahmen der Errichtung neuer Behörden, der Übernahme von Personal aus fortgeführten Behörden und der Behördenverschmelzung bei Bund, neuen Ländern und K o m m u n e n stand neben der fachlichen Qualifikation der Bewerber deren persönliche Eignung im Vordergrund. Die in großer Eile geschaffenen Sonderkündigungstatbestände des Einigungsvertrages haben kein von A n f a n g an für die Verwaltung einheitlich zu praktizierendes System der Personalauswahl und des Personalabbaus geschaffen. Die außerordentliche K ü n d i g u n g der durch Tätigkeiten für das M f S belasteten Personen und auch die ordentliche K ü n d i g u n g ehemaliger Systemträger haben zunächst Probleme aufgeworfen. Für die außerordentliche K ü n d i g u n g hat der Einigungsvertrag das Tatsachenmerkmal der Unzumutbarkeit des Festhaltens am Arbeitsverhältnis für den Arbeitgeber normiert. Während die Voraussetzungen (Abs. 5, Nr. 1 - Verstoß gegen die Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit - bzw. A b s . 5, Nr. 2 - Tätigkeit für das M f S / A f N S ) durch Unterlagen des B S t U nachweisbar bzw. durch § 6 Stasi-Unterlagengesetz ( S t U G ) in der Praxis handhabbar waren, wurde die Feststellung der Unzumutbarkeit unterschiedlich gehandhabt." 5 5

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Philip Zelikow/Condoleezza Rice: Sternstunde der Diplomatie. Die deutsche Einheit und das Ende der Spaltung Europas, Berlin 1997, S. 59. Schlussbericht der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit", a. a. O., S. 72.

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Schon die SED und erst recht die PDS konnten nach der Zerschlagung des MfS nur noch hinhaltenden Widerstand leisten, den sie zunehmend mit den Mitteln des Rechtsstaates organisierten. Für die SED-PDS war das MfS ein legitimer Teil des DDR-Staatsapparates. Die Taktik hieß, geordnet zurückweichen. „Die klügeren kommunistischen Kader zogen sich unter dem Zwang der Verhältnisse in die Gesellschaft zurück. Dort hatten sie Verbündete in jenem Personenkreis, der während der SED-Diktatur in allen öffentlichen Bereichen korrumpiert worden war. Tausende IM haben bis zum letzten Moment für das MfS gearbeitet, und als dies nicht mehr möglich war, wußten sie immer noch, daß sie in einem Boot mit den alten Machthabern saßen. Die in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft eingeschleusten hauptamtlichen Mitarbeiter und die ,Offiziere im besonderen Einsatz' (OibE) konnten ihr Treiben oft noch lange fortsetzen." 56 Die PDS schwieg zunächst verständlicherweise zu diesem Thema. 7. D i e P D S u n d die M f S - F r a g e Das MfS war innerhalb der Machtstrukturen des SED-Regimes zweifellos der zentrale Macht- und Disziplinierungsapparat der SED in der Gesellschaft der DDR. Im Unterschied zu den Oppositionsgruppen, den Kirchen, aber auch den „befreundeten Parteien" LDPD, NDPD, DBD und C D U konnte das MfS in der SED selbst nicht operativ tätig sein und schleuste keine Inoffiziellen Mitarbeiter ein. „Erst wenn das Politbüro oder die zentrale Parteikontrollkommission oder nachgeordnete Führungs- und Kontrollinstanzen ,Abweichler' oder ,Parteifeinde' in der SED als solche entlarvt und gebrandmarkt hatten, durfte und mußte die Stasi tätig werden. Die Stunde der Staatssicherheit schlug erst, nachdem die betreffenden Genossen ins Visier der Herrschenden geraten waren. Nie hat das MfS eigenmächtig gehandelt, ohne Wissen, ohne Zustimmung der Parteibürokratie. Generell basierten alle Richtlinien, Dienstanweisungen und Befehle des MfS auf Beschlüssen der Parteiführung. Das war auch Mielkes Maxime in MfS-internen Dienstkonferenzen. So erklärte er am 16. Januar 1986 laut Tonband-Protokoll f...] auf einer Delegiertenkonferenz der SED in der Hauptabteilung Aufklärung: ,Die zielklare Führung durch die Partei der Arbeiterklasse, das konsequente Handeln auf der Grundlage und in Durchsetzung ihrer Beschlüsse war und bleibt für uns Tschekisten das entscheidende Unterpfand für die Erfüllung unseres Klassenauftrages. Die Beschlüsse der Partei sind für uns der zuverlässige politische Kompaß. Das wichtigste für unseren Kampf ist die führende Rolle, ist die Einheit und Geschlossenheit unserer Partei'." 57 Dieses Dienstverhältnis zwischen MfS und Partei verwandelte sich für die SED-PDS während des Vereinigungsprozesses in der öffentlichen Stasi-Debatte in einen strukturell-politischen Vorteil gegenüber ihren Konkurrenten, da die viel bedeutsamere Rolle der SED-Nomenklaturkader für die Aufrechterhaltung der Diktatur in der Diskussion nicht angemessen berücksichtigt wurde. Von der Sozialdemokratie über den Demokratischen Aufbruch bis zu den Christdemokraten gab es immer wieder

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Ehrhart Neubert: Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 346, Bonn 1997, S. 896. Karl Wilhelm Fricke: „Schild und Schwert": Die Stasi, Funkdokumentation, hrsg. vom Deutschlandfunk, Köln 1993, S. 14.

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Rücktritte im Zusammenhang mit belegter I M - T ä t i g k e i t für das MfS. D i e einzige Partei, die zunächst von solchen Vorgängen verschont blieb, war die P D S . E i n gutes Beispiel für die strukturellen Zusammenhänge zwischen S E D und M f S lieferte ausgerechnet B i s k y höchstpersönlich. 1995 wurden Aktensplitter in der Behörde des Bundesbeauftragten gefunden, die auf eine aktive Zusammenarbeit Biskys mit der Hauptverwaltung Aufklärung des M f S hinwiesen. Bei einer solchen Zusammenarbeit zwischen höheren Parteikadern und dem M f S ging es weniger um gewöhnliche Spitzelei. Vielmehr ergab sich die K o o p e r a t i o n mit den „Tschekisten" bei der Erfüllung des gemeinsamen Kampfauftrages geradezu naturgemäß. In dem Vorschlag zur Werbung eines I M S der Leipziger MfS-Dienststelle, in dem es um die Ehefrau Biskys ging, heißt es über die Ergebnisse der Recherche zu ihren elektronisch gespeicherten D a t e n im M f S : „Der Kandidat war bis Mitte 1980 für die H V A / S W T [Sektor Wissenschaft und Technik, d. Verf.] X V / 4 erfaßt. Der Grund für die Erfassung bestand in der Kenntnis und Absicherung der inoffiziellen Zusammenarbeit des Ehepartners mit unserem Organ. Bedingt durch die Ablage des IM-Vorgangs des Ehepartners - Grund keine bestehende operative Perspektive - erfolgt auch die Freigabe des Kandidaten und seine Erfassung durch unsere Diensteinheit auf Sicherungsvorgang der D E [Diensteinheit, d. Verf.]. Bei dem Ehepartner handelt es sich um einen Zuzug aus der B R D . " U n t e r dem Gliederungspunkt Verbindungen, Verwandte und Bekannte steht dann der N a m e (Prof. Dr. Bisky, Lothar), Geburtstag und Beruf, abschließend heißt es: „ E r ist leitender Mitarbeiter des Instituts für Gesellschaftswissenschaften beim Z K der S E D . Häufig führen ihn Dienstreisen in N S W - S t a a t e n [Nicht-Sozialistisches W i r t schaftsgebiet/Währungsgebiet, d. Verf.]." 5 8 Biskys A k t e über seinen „ I M - V o r g a n g " ging in das Archiv, als er seinen Dienst in der Z K - A k a d e m i e antrat. Natürlich bestritt der Parteivorsitzende, jemals I M gewesen zu sein. N a c h seiner Meinung ging es in den Veröffentlichungen auch gar nicht in erster Linie um ihn, sondern um Stolpe. „Indem versucht wird, mich als ehemaligen Vorsitzenden des Stolpe-Untersuchungsausschusses des Brandenburger Landtages zu disqualifizieren, soll das Ergebnis der Tätigkeit dieses Ausschusses angegriffen und der C D U die Möglichkeit zur Wiederholung des Verfahrens gegeben werden." 59 D i e Sorge war unbegründet. Drei J a h r e später kam der Vorsitzende der P D S in seiner Rede auf dem Wahlparteitag in R o s t o c k erneut auf das T h e m a zurück, um die S P D unter D r u c k zu setzen. Anlass waren MfS-Verstrickungen von P D S - A b g e o r d n e t e n im Sächsischen L a n d tag und im Deutschen Bundestag, die in beiden Parlamenten aufgedeckt wurden. „Zweieinhalb Jahre habe ich als Vorsitzender des Stolpe-Untersuchungsausschusses im Landtag Brandenburg in aller Öffentlichkeit für einen differenzierten Umgang mit den sogenannen Stasi-Verstrickungen gestritten. Ich stehe nach wie vor zu den Feststellungen, die im Abschlußbericht des Ausschusses getroffen wurden - und genauso zur Ent-

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Bezirksverwaltung für Staatssicherheit, Abt. X X / 7 , Leipzig, 25. Juli 1981. Vorschlag zur Werbung eines IMS im Schwerpunktbereich „ausgewählte profilierte Schriftsteller, Künstler und Kulturschaffende sowie operativ-relevante Personen" der Bezirksverwaltung Leipzig des MfS vom 24. Juli 1981, S. 5 f. Bisky weist MfS-Vorwürfe zurück, in: Neues Deutschland vom 27. November 1995, S. 4.

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Aufsätze 1991 bis 2006 Schließung, die im Brandenburger Landtag im Zusammenhang damit von allen Parteien angenommen wurde und die menschliches Maß und differenzierte Einzelfallprüfung einfordert. Gerade weil ich dazu stehe, frage ich die SPD, warum sie in dieser Frage wieder mit gespaltener Zunge agiert und wieder einmal zwei sich ausschließende Konzepte des Umgangs mit der Stasi-Problematik vertritt - gleichzeitig und nach blanker Opportunität. Die Brandenburger SPD steht zur genannten Entschließung. Die sächsische SPD strebt mit der CDU gemeinsam eine juristisch sehr fragwürdige Abgeordnetenklage gegen die PDS-Abgeordneten Bartel, Kosel und Durchschmidt an. Und im Bundestag verwandelt die SPD in trauter Einheit mit der CDU/CSU und den Bündnis-Grünen den Immunitätsausschuß in einen Wahlkampfausschuß. [...] Und ich frage mich, wohin das führen soll. Ich werde jetzt nicht in den SPD-Stil verfallen, um meine Haltung zur Biographie Stolpes wahlkampftaktisch zu verändern."60

Bisky bemühte also auch in der MfS-Frage die DDR-Schicksalsgemeinschaft, die natürlich erst recht für die eigenen Parteimitglieder galt. Eine erste Richtlinie zum innerparteilichen Umgang mit einer MfS-Mitarbeit beschloss der zweite Parteitag der PDS im Juni 1991. Vorlage war ein Beschluss des Berliner Landesparteitags zu diesem Thema: „Die Tätigkeit für das MfS als ein ,zentrales Element' der Sicherheitskonzeption müsse in eine ,differenzierte Auseinandersetzung mit der DDR-Gesellschaft' eingebunden werden. Dazu gehöre, sich einer pauschalen' Verurteilung und Ausgrenzung ehemaliger MfS-Mitarbeiter ebenso zu widersetzen wie einer pauschalen Entschuldigung. Eine Pflicht zur Offenlegung wird den Genossen an der Basis nicht auferlegt."61 N u r Parteimitglieder, die bereits Abgeordnete waren oder sich um ein parlamentarisches Mandat bewarben, oder Funktionäre, die die Partei öffentlich repräsentierten, sollten ihre Stasi-Mitarbeit angeben. Sollten sich Abgeordnete oder Funktionsträger in der Partei nicht an diesen Beschluss halten, so sollten sie nicht automatisch Mandat oder Parteifunktion verlieren. In einem solchen Fall sollten sie von den jeweilig zuständigen Vorständen bzw. Gremien von ihrer Funktion entbunden werden und der Vorgang in den wählenden Delegiertenkonferenzen oder Mitgliederversammlungen verhandelt werden, sodass diese über eine eventuelle Abwahl des entsprechenden Genossen entscheiden können. 62 Der Ernstfall traf den Berliner Landesverband, der den Beschluss auch anwandte. Im August 1991 trat der Berliner Landesvorsitzende der PDS, Wolfram Adolphi, zurück, als seine MfS-Mitarbeit bekannt wurde, Nachfolger wurde Andre Brie. Dieser musste im Oktober 1992 erklären, fast zwanzig Jahre lang für das MfS gearbeitet zu haben. So verfasste die Bezirksverwaltung Potsdam am 10. Juli 1984 eine Beurteilung des IM „Peter Scholz" alias Andre Brie. Hervorgehoben wird seine Zuverlässigkeit, seine Kontakte zu Personen aus dem „Kunst- und Kulturleben der DDR, führenden Personen aus staatlichen und wissenschaftlichen Einrichtungen in der DDR" 6 3 . Brie

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Lothar Bisky: Rede des Vorsitzenden der PDS auf dem Wahlparteitag der PDS in Rostock am 3. April 1998, Manuskript. Patrick Moreau: Was will die PDS? (in Zusammenarbeit mit Jürgen Lang und Viola Neu), Frankfurt am Main/Berlin 1994, S. 135. PDS (Hg.): Zweiter Parteitag, zweite Tagung, Berlin, 21.-23. Juni 1991, Reden, Beschlüsse und Dokumente, ohne Ort und Jahr, S. 169. Zit. nach: Jürgen P. Lang/Patrick Moreau: PDS - Das Erbe der Diktatur, a. a. O., S. 136.

Die Diktaturkader Andre Brie, Gregor Gysi, Lothar Bisky und das MfS (1998)

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betreute auch i m A u f t r a g des Zentralrats der F D J Delegationsreisen verschiedener J u g e n d v e r b ä n d e aus der B u n d e s r e p u b l i k in der D D R und erstattete darüber d e m M f S regelmäßig Bericht, dies tat er auch, w e n n er i m A u s l a n d Dienstreisen absolvierte. „Die Treue Bries zum MfS veranlaßte Stasi-Chef Mielke im Namen des Ministeriums der DDR (Auszug aus dem Befehl Nr. Κ 110/87, Berlin, den 8. Februar 1987) zu folgendem Lob: ,In Anerkennung langjähriger Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit, der dabei bewiesenen hohen Einsatzbereitschaft und Zuverlässigkeit sowie der Verdienst bei der Lösung von operativen Maßnahmen, zeichne ich zum Anlaß des 37. Jahrestags der Bildung des MfS aus: Genossen Dr. Andreas Brie mit der Verdienstmedaille der NVA in Bronze. Gezeichnet Mielke, General.'" 64 Brie w u r d e z u m Prüfstein f ü r die Ernsthaftigkeit des MfS-Beschlusses der PDS. Er w u r d e in Berlin nicht sofort von seiner F u n k t i o n als Landesvorsitzender entbunden, sondern der Vorstand bat ihn ausdrücklich, „im Amt zu bleiben. Gregor Gysi mußte einräumen, Brie habe ihn bereits im Sommer 1990 über seine IM-Tätigkeit informiert. Gysi habe sein Wissen nicht nur für sich behalten, sondern Bries Parteikarriere sogar nach Kräften unterstützt. Erst auf den öffentlichen Druck hin trat Brie wenig später zurück. Gleichwohl schmälerte dies seine Macht in der Partei nicht, im Gegenteil: Er blieb Chef der Grundsatzkommission, die für die Programmarbeit und Ideologie verantwortlich zeichnet." 65 Brie blieb auch weiterhin verantwortlich für das zentrale Wahlbüro. Der dritte PDS-Parteitag übte danach in B e z u g auf den MfS-Beschluss tätige Selbstkritik. Die Partei warf sich vor, „die F ö r d e r u n g u n d Initiierung des d e m o k r a tischen Widerstandes gegen alle F o r m e n der pauschalen politischen D i s k r i m i n i e r u n g u n d sozialen A u s g r e n z u n g von hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeiterinnen u n d Mitarbeitern des ehemaligen M f S " nicht hinreichend „unterstützt" zu haben. „Die PDS hat aus Furcht, als ,Stasi-Partei' diffamiert zu werden, die staatsbürgerlichen Rechte und berechtigten sozialen Interessen ehemaliger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des MfS - wie auch anderer bewaffneter Organe und Bereiche des öffentlichen Dienstes der ehemaligen DDR - nicht nachdrücklich genug artikuliert und verteidigt. Das hat sie vor der Etikettierung als bloße SED-Fortsetzerin durch politische Gegner und Massenmedien nicht bewahrt, ihr aber sogleich einen enormen Vertrauensverlust bei ehemaligen MfS-Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Armee- und Polizeiangehörigen usw. eingebracht. Das hat insgesamt zu einer Schwächung der Partei und ihrer Politikfähigkeit geführt." Die P D S besann sich auf ihre Pflicht: „Es wäre unsere Aufgabe gewesen, die berechtigten Interessen ehemaliger MfS-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter wie auch anderer öffentlicher Bediensteter der ehemaligen DDR entschiedener zu verteidigen. Wir hätten mehr um sie kämpfen müssen, um sie mitzunehmen auf dem Weg der Gewinnung demokratisch-sozialistischer Positionen." 66 Diesen Beschluss legten Parteivorstand u n d Parteirat gemeinsam vor. Er v e r k n ü p f t e verschiedene A s p e k t e der M f S - F r a g e , die die P D S zu bedenken hatte. Das klare

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Ebd., S. 136 f. Patrick Moreau: Was will die PDS?, a. a. O., S. 136 f. Zur konsequenten offenen und öffentlichen Auseinandersetzung der PDS mit der Problematik der Staatssicherheit, in: Disput, Nr. 3/4-1993, Sonderheft zum 3. Parteitag, S. 12.

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Aufsätze 1991 bis 2006

Bekenntnis zur sozialen Interessenvertretung der MfS-Angehörigen wurde als demokratische Kärrnerarbeit der PDS dargestellt. Die SED hätte die Angehörigen des MfS, der NVA und der Volkspolizei mit einem Politikverständnis indoktriniert, das die bewaffnete Macht des Staates sowie die Bereitschaft der politischen Führung, sie einzusetzen, überbetonte. Die PDS forderte nun die Uberwindung dieses Politikverständnisses, „weil es auch einen Resonanzboden f ü r demokratiefeindliches und inhumanes Denken sein kann. Die Gewinnung von ehemaligen Angehörigen bewaffneter Organe - einschließlich ehemaliger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des M f S - f ü r das Engagement in einer demokratischen sozialistischen Partei liegt im Interesse der Stärkung der demokratischen Substanz einer Gesellschaft." 67

Dieser Position kann vernünftigerweise nicht widersprochen werden, sie würde allerdings eine rückhaltlose Offenheit der PDS gegenüber ihrer diktatorischen Vergangenheit und den Opfern der kommunistischen Repression voraussetzen. Vor allem aber würde sich die Tätigkeit von MfS-Mitarbeitern in der Parteiführung und als Abgeordnete im Bundestag oder den Länderparlamenten verbieten. Das Gegenteil wird von der PDS praktiziert, wie der Fall Gysi zeigt. Seit Januar 1992 überprüfte der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages in beiden Legislaturperioden den Verdacht, Gysi habe als Rechtsanwalt inoffiziell mit dem MfS zusammengearbeitet. In seiner 87. Sitzung am 8. Mai 1998 hat der Ausschuss nach den Richtlinien des Überprüfungsverfahrens mit der dort vorgesehenen „Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder eine inoffizielle Tätigkeit des Abgeordneten Dr. Gregor Gysi für das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik als erwiesen festgestellt". 68 Gysi bestreitet diese Feststellung vehement. Er behauptet: „Insgesamt ist es dem Ausschuß nicht gelungen, die Vorwürfe zu belegen, die er gegen mich erhebt. Ein solcher Nachweis kann auch nicht gelingen, weil ich zu keinem Zeitpunkt inoffiziell mit dem M f S zusammengearbeitet habe." 69

Die Antwort auf diese Rechtfertigungsversuche bekam Gysi von einer Reihe von Mandantinnen und Mandanten wie Bärbel Bohley, Katja Havemann, Gerd und Ulrike Poppe. Sie erklärten: „Wir wissen schon lange, daß Gregor Gysi ein Vertrauensanwalt des M f S war. Die Belege dafür fanden seine Mandanten in den von der Staatssicherheit über sie akribisch angelegten operativen Vorgangsakten. Statt weiter zu bestreiten, was längst nicht mehr zu bestreiten ist, sollte sich Gregor Gysi endlich zu den Tatsachen bekennen. Seine unablässigen Versuche, sich mit formalen Klagen in juristischen Winkelzügen der Wahrheit

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Ebd. Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (1. Ausschuss) zu dem Überprüfungsverfahren des Abgeordneten Dr. Gregor Gysi gemäß § 44b Abs. 2 Abgeordnetengesetz (Uberprüfung auf eine Tätigkeit oder eine politische Verantwortung für das Ministerium für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik), Deutscher Bundestag, 13. Wahlperiode, Drucksache 13/10893 vom 29. Mai 1998, S. 3. Ebd., S. 68.

Die Diktaturkader Andre Brie, Gregor Gysi, Lothar Bisky und das MfS (1998)

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zu entziehen, sind sinnlos [...] Auf Dauer führt auch für Gregor Gysi kein Weg an der Wahrheit vorbei." 70 Der Bundestags-Ausschuss beginnt seinen Abschlussbericht mit der Feststellung, das MfS sei das zentrale Instrument der S E D bei der Bekämpfung der politischen O p p o sition in der D D R gewesen. Für Rechtsanwälte und Verteidiger von Oppositionellen in Strafprozessen sei eine offizielle Zusammenarbeit nur mit der Hauptabteilung I X des MfS möglich gewesen. Diese „war gemäß § 88 der Strafprozeßordnung der DDR offizielles Untersuchungsorgan in strafrechtlichen Ermittlungsverfahren. Sie war für sogenannte Staatsverbrechen' und ,politisch-operativ bedeutsame Straftaten gegen die staatliche Ordnung' zuständig." 71 Der wesentlichste Teil der Gysi betreffenden MfS-Unterlagen, die der Ausschuss zu bewerten hatte, stammte aber aus der Hauptabteilung X X , in der alle Aktivitäten des MfS konzentriert waren, die auf die Bekämpfung des „politischen Untergrundes" zielten, wie es in der Sprache des MfS hieß. Offiziell war die H A X X kein Ansprechpartner für die Verteidigung. Kontakte mit ihr konnten nur inoffiziell aufgenommen werden. Nach der Dienstanweisung von Mielke, Nr. 2/85, war die H A X X ermächtigt worden, „gegenüber anderen operativen Diensteinheiten - u. a. auch der für strafprozessuale Maßnahmen zuständigen HA IX, dem sogenannten,Untersuchungsorgan' des MfS - die Federführung bei der Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit wahrzunehmen. Die Tätigkeit der HA X X erschöpfte sich dabei nicht nur in der Beschaffung von Informationen, sondern umfaßte auch die Einleitung von operativen Personenkontrollen, das Anlegen von operativen Vorgängen oder auch ,Maßnahmen der Zersetzung'." 72 Wie Bisky hatte Gregor Gysi aber zunächst von 1975 bis 1977 Kontakt zur Hauptverwaltung Aufklärung (HVA), die für die Auslandsspionage des MfS zuständig war. „Nach der Beendigung der inoffiziellen Zusammenarbeit mit der HVA arbeitete Dr. Gysi ab 1978 mit der für die Bekämpfung der politischen Opposition zuständigen Hauptabteilung X X / O G , der späteren HA XX/9 des MfS, inoffiziell zusammen. Nach Überzeugung des ersten Ausschusses dauerte diese inoffizielle Zusammenarbeit zumindest bis 1986 an."73 Es ging der S E D um die Bekämpfung und Ausschaltung politischer Opposition in der D D R . U m dieses Ziel zu erreichen, besaß das Regime viele Möglichkeiten. Hierzu zählten drakonische Haftstrafen wie im Fall von Rudolf Bahro, Zersetzung von Freundschaftskreisen und Gruppen durch den Einsatz Inoffizieller Mitarbeiter und zunehmend die Abschiebung in die Bundesrepublik mit und ohne Haft. Welcher Weg beschritten wurde, um vorbeugend oppositionelle Tätigkeit zu verhindern oder auszuschalten, war eine Frage der Zweckmäßigkeit. N u r im Rahmen dieser von der Partei vorgegebenen Zielsetzung agierten in den politischen Verfahren die Vertrauensanwälte des MfS. Hierzu nun einige Ergebnisse aus dem Ausschussbericht:

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„Stasi-Spitzel nicht ins Parlament". Ehemalige DDR-Oppositionelle zur Klage Gregor Gysis, in: Frankfurter Rundschau vom 30. Juni 1998, S. 4. Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (1. Ausschuss) zu dem Uberprüfungsverfahren des Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, a. a. O., S. 10. Ebd., S. 9. Ebd., S. 50.

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Aufsätze 1991 bis 2006 „Dr. Gysi hat nach Überzeugung des Ausschusses seine Anwaltstätigkeit für Robert Havemann, Rudolf Bahro, Franz Dötterl sowie Gerd und Ulrike Poppe dazu benutzt, um im Rahmen seiner inoffiziellen Zusammenarbeit dem MfS Informationen über seine Mandanten zu liefern und Arbeitsaufträge des MfS auszuführen. [...] Im Zusammenhang mit der Anwaltstätigkeit von Dr. Gysi für Robert Havemann und Rudolf Bahro hat der erste Ausschuß jeweils in mehreren konkreten Einzelfällen die inoffizielle Zusammenarbeit von Dr. Gysi mit dem MfS nachweisen können. Die vom Abgeordneten Dr. Gysi vorgetragene Erklärung, wonach er ausschließlich mit dem ZK der SED Kontakt gehabt habe, ist als nicht stichhaltige Schutzbehauptung widerlegt."74

Im Zusammenhang mit der Prüfung der Frage, ob Gysi inoffiziell mit dem MfS zusammengearbeitet hat, war dessen Einlassung eine Schutzbehauptung. Aber in der Sache benennt Gysi damit selbst den Herrn in all den politischen Verfahren gegen die Opposition: die Parteiführung und ihren zentralen Apparat, in den besprochenen Fällen zeichnete die Abteilung Staat und Recht verantwortlich. 8. D i e S c h l u s s s t r i c h - P a r t e i Es ist nicht zu bestreiten: Modrows SED-Nomenklaturkader aus der zweiten und dritten Reihe - der Vorsteher der DDR-Rechtsanwälte, der Medienwissenschaftler und wichtige Kulturfunktionär sowie der Politikwissenschaftler, der sich als Wahlkampfmanager bewährte - haben es vermocht, die Partei vor dem Untergang zu bewahren und in weiten Bereichen die politische Achtung zu überwinden, der die P D S unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Diktatur noch ausgesetzt war. Aber die Erblasten der S E D , die sie ökonomisch, politisch und moralisch hinterließ, sind zu groß, um ihrer Fortsetzungspartei ein demokratisches Gütesiegel auszustellen, zumal die von der P D S propagierte „ostdeutsche Identität" geeignet ist, die Spaltung Deutschlands politisch zu verlängern. Kein Zweifel, die gestrigen S E D - K a d e r halten die Zeit für gekommen, um in den neuen Ländern Regierungsverantwortung zu übernehmen. Dabei stört sie die Erinnerung an die Realgeschichte der zweiten deutschen Diktatur in diesem Jahrhundert. Diese Geschichte soll um der eigenen Zukunft willen entsorgt werden. Bisky verlangte auf dem Rostocker Wahlparteitag 1998 den politischen Schlussstrich: „Wir kämpfen weiter für einen differenzierten Umgang mit ostdeutschen Biographien. Es muß Schluß gemacht werden mit der Diskriminierung und Diffamierung der Ostdeutschen und mit der völlig unnötigen Demütigung tausender Menschen im Osten. Wir fordern Gleichbehandlung. Wir fordern das Ende politischer Ausgrenzung."75 Wenn der Parteivorsitzende auch im Namen der Ostdeutschen sprach und den differenzierten Umgang mit „ostdeutschen Biographien" einforderte, so sind damit keineswegs alle Bewohner der früheren D D R gemeint: Bisky bezieht sich auf die „Lebensleistungen" der Nomenklaturkader der S E D , deren Macht im Herbst 1989 gebrochen wurde. All diesen Tendenzen zum Schlussstrich unter die SED-Diktatur hat der Bundespräsident Roman Herzog auf dem Bürgerrechtler-Kongress der K o n rad-Adenauer-Stiftung in Leipzig deutlich widersprochen:

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Ebd. Lothar Bisky: Rede des Vorsitzenden auf dem Wahlparteitag der PDS in Rostock am 3. April 1998, Manuskript.

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„Nichts wäre fataler, als die friedliche Revolution von 1989 und den Beitrag der Bürgerrechtler zur Uberwindung der Diktatur ausschließlich in die Rubrik ,historische Ereignisse' einzuordnen: Das wäre ein sicherer Weg, sie schnell in Vergessenheit geraten zu lassen. Und manch einer hat an einem schnellen Vergessen großes Interesse: Vor allem natürlich diejenigen, die für Diktatur und Spitzelsystem, für Repression und Pressezensur verantwortlich waren. Sie sind mit dem Ruf nach einem Schlußstrich schnell bei der Hand. Daneben gibt es andere, die gegen diesen Vorschlag nichts einzuwenden haben, weil er die Konfrontation mit Unbequemen vermeidet. Aber hier erhebe ich Widerspruch - und nicht zum ersten Mal. Wer der Vergangenheit ausweicht, belügt sich selbst und kann auch die Zukunft nicht gewinnen. Wir haben in Deutschland schon einmal in der verständlichen Freude über die wiedergewonnene Freiheit und den Wunsch, uns schnell und unbelastet neuen Aufgaben zu stellen, die Verantwortlichkeiten für eine diktatorische Vergangenheit nur halbherzig in den Blick genommen - und das war eine Flucht, die nicht gelingen konnte. Meine Schlußfolgerung daraus lautet: Nichts vertuschen, nichts vergessen, Verantwortlichkeiten benennen und klare Konsequenzen für die Zukunft ziehen. Dieser Versuch, Wahrheit und Klarheit zu gewinnen, betrifft das Licht und die Schatten der Vergangenheit."76

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Rede von Bundespräsident Roman Herzog auf dem Bürgerrechtler-Kongress der KonradAdenauer-Stiftung am 23. Juni 1998 in Leipzig, Mitteilung für die Presse, Bundespräsidialamt, Berlin, 23. Juni 1998, Manuskript.

Heinz Brandt - in Selbstzeugnissen (1998)*

16. Juni 1961: Der Gewerkschaftsjournalist Heinz Brandt wird bei einem Kongress in Westberlin von Agenten des MfS in den Ostteil der Stadt verschleppt und in der DDR wegen Spionagetätigkeit zu 13 Jahren Haft verurteilt. Er wird in Bautzen II inhaftiert, bis eine internationale Protestkampagne 1964 seine Freilassung erwirkt. Der jüdische Kommunist Brandt hatte bereits im Dritten Reich Jahre in Konzentrationslagern verbracht. Nach Kriegsende hatte er sich zunächst in der SBZ/DDR engagiert, sich jedoch nach dem Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 mehr und mehr vom SEDRegime entfernt und war 1958 nach Westberlin geflohen. Bis zu seiner Pensionierung war Brandt als Redakteur der Gewerkschaftszeitung „ metall" tätig. Er starb am 8. Januar 1986 in Frankfurt am Main. Die Entführung und der 17. Juni 1953 Am Abend des 16. Juni 1961 wollte Heinz Brandt, Redakteur der Gewerkschaftszeitung metall, bei seinem Freund, Professor Ossip Flechtheim, übernachten. Aber die Familie Flechtheim wartete vergebens auf seinen Besuch. Am Nachmittag hatte Brandt eine Bekannte im Westberliner Bezirk Steglitz besucht. Vor ihrem Haus wirkte das Betäubungsmittel, das dem Whisky beigemischt war, den er zuvor getrunken hatte. Er brach zusammen und konnte noch wie im Nebel erkennen, dass bereits „hilfreiche Gestalten" auf ihn warteten, bevor er das Bewusstsein verlor. Dieses erlangte er erst wieder im Zentralen Untersuchungsgefängnis Berlin-Hohenschönhausen des MfS in Ostberlin. Der Zeitpunkt der Entführungsaktion der Staatssicherheit war von symbolischer Bedeutung. Sie geschah am Vorabend des Tages der Deutschen Einheit, der zum Gedenken an den Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953 in der Bundesrepublik ein gesetzlicher Feiertag war. Der 16. Juni 1953 war ein Dienstag, und routinemäßig tagte das Politbüro der SED. Brandt arbeitete zu diesem Zeitpunkt als Agitationssekretär in der Berliner Bezirksleitung der Partei. Nachdem er den Demonstrationszug der Bauarbeiter am Alexanderplatz gesehen hatte, handelte er. Er setzte im Sekretariat der Bezirksleitung den Antrag durch, das Politbüro aufzufordern, die Normenerhöhung sofort zurückzunehmen. Er fuhr selbst zum Politbüro, das nach langen Debatten diesem Antrag der Bezirksleitung zustimmte. Die Rücknahme der Lohnsenkung durch das Politbüro,

Zuerst erschienen in: Silke Kiewin/Kirsten Wenzel (Bearb.): Wege nach Bautzen II. Biografische und autobiografische Porträts (= Lebenszeugnisse - Leidenswege, 8), Erstausgabe 1998, 3. korrigierte u. ergänzte Aufl., Dresden 2003, S. 4 5 - 5 9 .

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die der Rundfunk bekannt gab, konnte aber die Volkserhebung gegen die SED-Diktatur am nächsten Tag nicht mehr verhindern. Auch am darauf folgenden Tag mischte sich Brandt in die Geschehnisse ein. In seiner Autobiografie „Ein Traum, der nicht entführbar ist" hat er seine Rolle an diesem Tag beschrieben: „Als ich morgens zu dem mir zugeteilten volkseigenen Großbetrieb Bergmann-Borsig in Berlin-Wilhelmsruhe kam, wurde dort keine Hand gerührt. Die Arbeiter diskutierten am Arbeitsplatz und führten in den Hallen kleine Versammlungen durch. [...] Vor kurzem war hier ein so genanntes Kulturhaus mit einem riesigen Saal fertig gestellt worden, der allen Belegschaftsangehörigen Platz bot. Interessant war meine Begegnung mit dem Parteisekretär des Betriebes. Er meinte, im Betrieb würde es ,ruhig bleiben'. An Arbeit sei allerdings kaum zu denken. Ich veranlasste ihn, die gesamte Belegschaft durch den Lautsprecher in den großen Saal des Kulturhauses zu rufen. In wenigen Minuten war der Riesenraum von einem einzigen Brodeln erfüllt. In diesem Moment, da die Arbeiter hier in Aktion versammelt waren, so fuhr es mir durch den Kopf, und nur für die Dauer dieser Aktion, gehört dieser Betrieb wahrhaft ihnen. Genau das sagte ich auch: .Heute ist dieser Betrieb euer Betrieb geworden, aber damit steht ihr auch in eurer Verantwortung, was aus ihm wird. Erstens: nichts zerstören; zweitens: hier und sofort einen Betriebsausschuss wählen!' Dieser Vorschlag wurde ohne Diskussion angenommen und unmittelbar verwirklicht." Es folgte eine elementare, leidenschaftliche Auseinandersetzung. Brandt wurde Zeuge einer historischen Abrechnung der Arbeiter mit dem SED-Regime. „All das, was sich bisher gestaut hatte, nie offen in Versammlungen ausgesprochen worden war, brach sich jetzt Bahn. Aus eigenem Erleben, in der drastischen, ungekünstelten Sprache des erregten Menschen, der von seinen persönlichen Erfahrungen ausgeht, wurden zahllose empörende Beispiele von Rechtswillkür angeführt. Namen von Arbeitskollegen aus dem Betrieb wurden genannt, die verhaftet, verurteilt, misshandelt worden waren, deren Angehörige nichts mehr von ihnen gehört hatten. Es wurde eine Entschließung angenommen, die den gewählten Arbeitsausschuss bevollmächtigte, die wirtschaftlichen und politischen Interessen der Belegschaft zu vertreten und sich mit ähnlichen Ausschüssen in anderen Betrieben in Verbindung zu setzen. Als politisches Hauptziel wurde die Wiedervereinigung Deutschlands durch freie demokratische Wahlen gefordert." Nachdem die sowjetische Besatzungsmacht in der D D R in den nächsten Tagen wieder „Ruhe und Ordnung" hergestellt hatte, rechnete Walter Ulbricht mit unbotmäßigen SED-Funktionären ab. Er begann mit Wilhelm Zaisser und Rudolf Herrnstadt, den gewichtigsten Gegnern im Politbüro der SED; sie wurden aus dem Gremium entfernt. Danach wurde die Berliner Bezirksleitung reorganisiert. Hans Jendretzky wurde als erster Sekretär der Bezirksleitung abgesetzt, und Brandt gehörte dem neuen Sekretariat nicht mehr an. In den Westen floh er erst 1958, und der Chefredakteur der metall, Kuno Brandel, gab ihm als Journalist eine neue Chance. Das MfS plante die Entführung von Brandt sorgfältig und führte sie mit Hilfe seiner Agenten im Westen durch. Eine Schlüsselrolle spielte dabei Hans Beyerlein aus der Vorstandsverwaltung der IG Metall. Brandt vertraute ihm, und beide wohnten im gleichen Haus. Während eines Urlaubs vertraute Brandt Beyerlein Unterlagen an, aus denen eindeutig hervorging, dass er schon vor seiner Flucht mit der IG Metall und dem Ostbüro der SPD in Verbindung stand. Beyerlein leitete diese Unterlagen an die Ostberliner MfS-Zentrale weiter. Sein Führungsoffizier in der MfS-Zentrale, Paul

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Laufer, leitete dieses Material des MfS-Residenten „Bayer" am 4.2.1960 an Generalmajor Markus Wolf, Leiter der Hauptverwaltung Aufklärung, weiter. Es handelte sich um die persönlichen Aufzeichnungen von Brandt über die Führungskonflikte in der SED, die durch den Kurswechsel ausgelöst wurden, den die sowjetische Führung gegenüber dem Generalsekretär Walter Ulbricht und dem Ministerpräsidenten Otto Grotewohl Anfang Juni in Moskau anordnete. Brandt beschrieb in seiner nun dem MfS vorliegenden 43-seitigen Aufzeichnung unter anderem die „Missgeburt" des „Neuen Kurses" in der D D R , die direkt zur Volkserhebung am 17. Juni 1953 geführt hatte. Laufer ließ von diesen Aufzeichnungen nur eine Kopie herstellen und bat in seinem Schreiben an Wolf aus Gründen des Quellenschutzes mit diesem Material „vorsichtig" umzugehen. Im Hauptvorstand der IG-Metall verortete Laufer „unter Leitung von Siggi Neumann ein gefährliches Feindnest mit wahrscheinlichen Agenten-Verbindungen in unsere Partei. Zu erwähnen ist, dass Siggi Neumann und Heinz Brandt vor und nach 1933 der Fraktion der Versöhnler, d. h. der Bucharin-Fraktion angehörten."

Nikolaj Bucharin wurde 1938 im letzten der drei Moskauer Schauprozesse zum Tode verurteilt und erschossen. Seine deutschen Anhänger wurden in der KPD ebenfalls als „Parteifeinde" behandelt und soweit sie sich als Emigranten in der Sowjetunion befanden, verhaftet. Nach dem Vermerk auf der Kopie des Briefes leitete Wolf Anschreiben und Anlage am gleichen Tag direkt an den Genossen „Minister" Mielke weiter. Ein Jahr später in den Vernehmungen in Hohenschönhausen hat das MfS Brandt seine eigenen Aufzeichnungen vorgehalten und der „Resident" Beyerlein hatte ihn auch „unter tausend Kniffen mit jener Frau, jener ,literaturbeflissenen' Eva Walter zusammengebracht, die mir dann Monate später, am 16. Juni 1961, den Whisky mit dem Betäubungsmittel kredenzte". Die Entführung von Brandt im Juni 1961 - mitten in der zugespitzten Atmosphäre der zweiten Berlin-Krise - war seitens der SED-Führung nicht ohne politisches Risiko. Es bleibt die Frage offen, warum sich die SED zu dieser riskanten Operation im amerikanischen Sektor von Berlin entschloss? Die Antwort hat zu tun mit der Rolle von Brandt am 16. und 17. Juni 1953 und der Veröffentlichung dieser SED-Parteigeheimnisse nach seiner Flucht in den Westen 1958. Bis zur Öffnung der SED-Akten nach 1989 war das Zeugnis von Brandt eine erstrangige Quelle nicht nur für alle Zeithistoriker, sondern auch für das politische Urteil über die Bedeutung dieser Tage im Juni 1953 für das geteilte Deutschland und das gespaltene Europa. Brandt: „Der 17. Juni hatte vor aller Welt offenbart, dass die SED keine Basis im Volk hatte, sich nicht ohne den bewaffneten Schutz der Sowjettruppen an der Macht halten konnte. Er hatte gezeigt, dass die Partei hohl war: Sie barst, als das Volk sich erhob."

Die Löschung seines Namens Erich Mielke, Minister für Staatssicherheit, war Berichterstatter, als sich das SED-Politbüro mit dem Verfahren gegen Brandt im Februar 1962 befasste. Es verfügte, dass gegen Brandt und seine Mitangeklagten Karl Raddatz und Wilhelm Fickenscher eine Anklageschrift auszuarbeiten ist, in deren Mittelpunkt die Tätigkeit der Angeklagten für westliche Agentenorganisationen stehen sollte. Nach Vorlage der Anklageschrift sollte entschieden werden, ob der Prozess öffentlich oder nichtöffentlich geführt werden kann. Ende März wurde die Anklageschrift vom Politbüro „bestätigt", Brandt

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wurde wegen „Agententätigkeit" und für seinen „Kampf gegen die Arbeiter- und Bauernmacht" angeklagt. Das Politbüro wies zugleich das Presseamt beim Ministerrat der DDR an, dem Generalstaatsanwalt den Brief des Vorsitzenden der IG Metall, Otto Brenner, zur Beantwortung zu übergeben. Dem Generalstaatsanwalt wurde aufgegeben, wie er zu antworten hatte: „Die Anklageschrift gegen Brandt wird vorbereitet. Brandt ist ein Bürger der DDR, er hat zwölf Jahre lang Agententätigkeit in der D D R für Westdeutschland und für ausländische Geheimdienste geleistet. Diese Mitteilung erfolgt auf der Grundlage der der Anklagebehörde vorliegenden Materialien."

Am 10. Mai 1962 wurde Brandt in einem Geheimprozess vor dem 1. Strafsenat des Obersten Gerichts der DDR zu 13 Jahren Zuchthaus verurteilt. Seine Einzelhaft in Bautzen II begann im Oktober 1962. Er wurde zum Strafgefangenen 558, sein Name wurde ihm erneut genommen. Zwanzig Jahre zuvor hatte er das schon einmal erlebt. Im Oktober 1942 war Brandt in einem Viehwaggon mit anderen jüdischen Häftlingen aus dem KZ Sachsenhausen nach Auschwitz verbracht worden. „,Räder rollen für den Sieg', verkündete die Lokomotive. Aber die Räder an den Viehwaggons, in denen wir zusammengepfercht transportiert wurden, rollten für den Mord. Sie rollten nach Auschwitz, und das eingeladene Vieh waren wir. Wieder ging es durch ein KZ-Tor. Der Torbogen verkündete:, Arbeit macht frei' -,Sklaverei verzögert Vergasung' wäre die sinngemäße Ubersetzung dieses SS-Deutsch. Die ewig gleichen Lagerstationen: Entlausung, Bad; aber dann etwas Neues. Nachdem wir überall am Körper geschoren worden waren, wurden uns Nummern in den linken Unterarm eingeätzt.,Damit wir die Leichen besser sortieren können', höhnte die SS. Fortan war ich die Nummer 69912."

Brandt trug nun den „Sklavenstempel", denn „wo der Mensch zur Sache degradiert ist, zum Werkzeug, tritt die Nummer sinngemäß und durchaus logisch an die Stelle des Namens". Der Sklavenstempel von Auschwitz war für die betroffenen Menschen nicht allein eine Frage des Uberlebens, es ging auch um ihre Menschenwürde unter den Bedingungen eines erbarmungslosen Lagerregimes, in dem Arbeitsunfähige selektiert und vergast wurden. In dieser Hölle sicherten solidarische Hilfe von Mitgefangenen oder die rücksichtslose kriminelle Energie dem Einzelnen Uberlebenschancen. Der gewaltsame Tod, willkürlich vollstreckt, war unberechenbar allgegenwärtig. Das Ende gedanklich vorzubereiten war die Methode, mit der sich Brandt der eigenen Angst widersetzte. In Bautzen kehrt die Todesnähe zurück und mit ihr die bedrückende traumatische Erinnerung: „Wie oft habe ich damals in Nazi-Haft und nun im SSD-Verlies meine Hinrichtung trainiert - völlig fiktiv, sie drohte mir nie. Aber falls sie mir drohte, wie würde ich das bestehen? Im Training kam ich mit knapper Not durch; aber die Wirklichkeit musste unvorstellbar, unausdenkbar grausig sein."

Zwei Jahre vor seinem Tod hat er in einer seiner letzten autobiografischen Arbeiten mit dem bezeichnenden Titel „Im Loch von Bautzen - Selbstbildnis aus der ZellenPerspektive", die 1984 erschien, andeutungsweise diese quälenden Traumerlebnisse beschrieben: „Manchmal schreckte ich des Nachts mit einem Entsetzensschrei auf: Ich habe in der Bautzener Zelle vom K Z geträumt. Sonst fühlte ich mich - wach werdend - frei, erlöst. So aber bin ich aus dem Alptraum K Z in die Wirklichkeit Isolierungshaft gerissen - kein schönes Erwachen. Zuweilen rufe ich auch im Schlaf um ,Hilfe', dann befinde ich mich

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im Traum (aus der Betäubung zu mir kommend) plötzlich in den Fängen der DDR-Kidnapper - und durch meinen Schrei erwachend in der Zelle. Vergleiche ich im nächtlichen Grübeln meine Lage hier in der DDR-Isolation mit der im Nazi-KZ, so kommen mir zunächst Fetzen aus einem Brief in den Sinn, den Paulus einst an die Korinther schrieb: ,Ich bin in Gefahr gewesen durch die Mörder [...] in Gefahr unter den falschen Brüdern'. In der Tat, ich bin - zunächst - in Gefahr gewesen unter den Mördern, in Gefahr unter den echten, den erkannten Feinden, den höchst aufrichtigen Mördern. [...] Hier in meiner Bautzener Einzelzelle bin ich durchaus nicht in unmittelbarer Lebensgefahr." Der Nachgeborene bekommt durch die Beschreibung dieser Alpträume eine Ahnung von der quälenden Ungewissheit des Lebens in Isolationshaft, das sich zwischen den Polen widerständiger Hoffnung und verzweifelter Ausweglosigkeit an einem Abgrund bewegte. Aber seine Ängste, Empfindungen, Überlegungen, seine Selbstzweifel musste der Strafgefangene 558 in Bautzen mit sich selbst abmachen. Für den Isolationsgefangenen gab es keine Gemeinschaft der Häftlinge. Gegründet auf gelebter Gefangenschaft verglich Brandt die Haftbedingungen von Bautzen mit denen der Konzentrationslager und Zuchthäuser der Nationalsozialisten: „Im Übrigen erscheint mir aus der Bautzener Zellenperspektive, so entsetzlich, so absurd es auch klingt, selbst Auschwitz noch in einem entscheidenden Punkt überlebenserträglicher als diese infame, verdammte strikte Isolierung hier. Bei nüchternem Vergleich lerne ich einen wesentlichen Umstand schätzen, der es mir erleichterte, selbst dem Tod von Auschwitz von der Schippe zu springen: die Gemeinschaft. Als Zuchthäusler lag ich in Drei-Mann-Zellen und arbeitete mit vielen anderen gemeinsam in großen Hallen; als SS-Sklave lag ich in Barackengemeinschaft und kam auf Außenkommandos; so war ich weder von den Menschen gelöst noch von der Natur." Der Uberlebenswille von Brandt setzte in Sachsenhausen, Auschwitz und Buchenwald auf die Gemeinschaft, während er in Bautzen auf sich selbst angewiesen war. In Auschwitz ist Brandt als politischer Häftling beteiligt an der Dokumentation der Todesfabrik, die von den Häftlingen erstellt, aus dem Lager geschmuggelt und über einen Sender der polnischen Widerstandsbewegung aus Krakau nach London gefunkt wurde. Brandt berichtete darüber in seiner Autobiografie: „Was wir schreiben, sind keine Milieuschilderungen'. Es sind knappe Angaben: Taten, Täter, Namen, Termine, Opfer, Zahlen, Herkunft der Todestransporte, präzise Darstellungen, wie die Gaskammern, wie die Krematorien funktionieren', welches Beutegut in die Lust- und Raubmord-Zentrale Berlin geht. Es sind vor allem die Ungarn-Transporte, von denen wir berichten können. Viele von ihnen gehen geschlossen ins Gas'. Das ,Reich', das da mit preußischer Perfektion mordet, führt mit gleicher preußischer Präzision korrekte Mordstatistik. Unsere Verbindungen reichen in jedes Zweiglager, reichen ins Stammlager, auch in die Schreibstuben. Der illegalen internationalen Häftlingsorganisation im KZ sind auch die Details der großen Todesfabriken zugänglich. Was der BBC da an exakten Einzelheiten über Auschwitz meldet [...], ist so präzis, so aktuell, dass die .politische Abteilung' (die SD-Zentrale im Lager) fest davon überzeugt ist, die Informanten seien leitende SS-Offiziere, ,Schweinehunde', die sich rückversichern wollten sie sind auf falscher Fährte. Sie suchen vergeblich." Den Schutz der Häftlingsgemeinschaft erlebte Brandt, als er 1945 den Todestransport von Auschwitz nach Buchenwald überlebte. Dort erkannten ihn zwei ihm bekannte politische Gefangene. Sie waren Kapos, Funktionshäftlinge, und sie entschieden, dass er, der kommunistische Genösse und Jude, leben sollte. Der entkräftete und dem

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Tode nahe Brandt wurde in Buchenwald noch vor der Befreiung des Lagers wieder aufgepäppelt. Welcher Unterschied zu Bautzen! Hier, in der Isolationshaft, fühlte er sich als „Kosmonaut, gewissermaßen, im schweigenden Weltall". Vor ihm stand die bange Frage, wie kann ich das überleben ohne aufzugeben? Es blieb der eigene Kopf, die Erinnerung und der Aufbau einer eigenen imaginären inneren Gegen weit jenseits der Zellenwirklichkeit. In seiner Autobiografie heißt es: „In meinem Kopf tanzen die seligen Dämonen; er ist mein,großes Schauspielhaus'; immer ausverkauftes Haus natürlich. Ich bin Intendant, Ensemble und Publikum in einem." Johann Wolfgang von Goethe und Georg Büchner sind bevorzugte Autoren in diesem Theater, in dem namentlich ,Dantons Tod' oft auf dem Spielplan steht. Ausdrücklich zitiert Brandt den Schluss des Dramas, in dem „die verzweifelte, durch den Terror wahnsinnig gewordene Revolutionärin, [...] mit dem Selbstmordruf ,Es lebe der König!' den Sinn der erkämpften Republik in Frage stellt". Eine nahe liegende Analogie zur politischen Biografie des Gefangenen. In seinem Selbstbildnis aus der Zellen-Perspektive zieht er die selbstkritische Konklusion über den erkannten eigenen Irrweg in der kommunistischen Partei: „Allzu lange habe ich - teils auch durch unzureichende Informationen in den zehn Jahren der Nazi-Haft - das Wesen des Stalinismus verkannt, Kritik nur an Teilbereichen geübt. Es bedurfte eines bitteren Lernprozesses, um mich radikal von ihm zu lösen, mich vom kritischen Kommunisten zum Anti-Realkommunisten zu wandeln, der strikten Widerstand leistet. Eine schlimme Realität gab sich als die Verwirklichung - dazu noch die einzig denkbare - jener faszinierenden Idee aus, der ich anhing. Die Lüge behauptete sich durch Terror, der Terror durch die Lüge. Der Moment, da man sich stark genug fühlt, den Trennungsstrich zu ziehen, entbindet ein unbeschreibliches Glücksgefühl." Die faszinierende Idee, auf die sich Brandt immer wieder bezog, ist der kategorische Imperativ von Karl Marx, der forderte, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist". Diese sozialistische Vision, die in der jüdisch-christlichen Kultur wurzelt, verlieh ihm „Lebenskraft". An ihr hielt er fest auch nach seinem Bruch mit der kommunistischen Partei. E r übernahm eine Lebensmaxime von Manes Sperber, der bereits 1937 angesichts der Moskauer Prozesse mit den Kommunisten brach: „Ich bin ein alter Revolutionär, der den Hoffnungen, die er begraben musste, treu geblieben ist."

Der Schwur von Buchenwald In der Bautzener Einzelzelle hatte Brandt endlos Zeit, um sich seines Lebensweges immer wieder prüfend zu vergewissern. Das Schlüsselerlebnis war für ihn ohne Frage der Erste Weltkrieg. Das fünfjährige Kind erlebte bewusst 1914 die Mobilmachung in der Garnisonsstadt Posen. Schmerzhaft erfuhr er danach den Tod von Anverwandten und Freunden der Familie auf den Schlachtfeldern des Krieges. Aber, so fragte er 70 Jahre später: „Was zwang mich in meine Bahn? Hatte ich das nötig? Klug genug war ich ja, um zu wissen, wie ich das doppelte Risiko - erst den Nazi-Kerker, dann den DDR-Knast - hätte vermeiden, umschiffen können. Doch bin ich von Anbeginn lebensgefährlich lebensaktiv. Immer erneut imaginierte ich mir Bilder von einst. Die totale Einsamkeit dehnte die Zeit und gebiert eine Art Wiederholungszwang. Das grübelnde Fragen, das Gespräch

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mit sich selbst, die innere Auseinandersetzung, sind zellenbedingt, zellenverstärkt - über meinen Hang (auch da draußen) zum Tagträumen hinaus. Zugleich - und als Gegenmittel - zwingt es mich, das große Welttheater in ein höchst subjektives Kopfdrama zu verwandeln, in eigene Regie zu nehmen." Es ist ein endloses Im-Kreis-Grübeln, dem er sich ausliefern muss. Er besteht diese Prüfung und kann in Bautzen wichtige Stationen seines eigenen Lebensweges für sich klären, sodass er nach seiner Haftentlassung zügig seine Autobiografie schreiben kann, die 1967 erscheint. Eine für seinen Weg nach Bautzen wichtige Entscheidung traf Brandt im Jahr 1928. Er wurde Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes und der roten Studentengruppe an der Berliner Universität, an der er Volkswirtschaft studierte. „Ich war 19 Jahre alt, und alles war mir klar." Er war begeistert und voller Hoffnung: „Der Sozialismus, der Kommunismus, die klassenlose Gesellschaft, die Menschheit befreit von Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg; Frieden und Humanismus als Grundlage der neuen, der wahrhaft menschlichen Gesellschaft." Als er 30 Jahre später aus der DDR floh, wusste Brandt, „Mittel, Weg und Ziel stimmten nicht mehr überein. Mittel und Weg löschten das Ziel aus, anstatt es zu verwirklichen. Die Praxis widerlegte die Theorie." Aber zuvor half ihm sein Glaube gegen die Nationalsozialisten zu kämpfen und die Jahre in ihren Zuchthäusern und Konzentrationslagern zu überleben. Brandt blieb zeitlebens ein gläubiger Aufklärer. Er wusste, Menschen können sich irren, sich aber auch immer wieder neu entscheiden und begangene Irrtümer erkennen und korrigieren. Das menschliche Verhalten ist nicht genetisch festgelegt, es ist veränderbar. Das bewies der lebensaktive Jungkommunist bereits 1931, kurz nach seinem Eintritt in die KPD. Damals kreuzten sich die Schicksalslinien von Brandt, Ulbricht, damals politischer Leiter des Bezirks Berlin-Brandenburg der KPD, und Mielke zum ersten Mal. Eine wichtige Station auf dem Weg zum Untergang der Weimarer Republik war der von NSDAP und KPD gemeinsam betriebene Volksentscheid gegen die sozialdemokratisch geführte preußische Landesregierung am 9. August 1931. Der Volksentscheid scheiterte. Aber um die politische Niederlage der Kommunisten zu kaschieren, starben auf dem Berliner Bülow-Platz an diesem Tag zwei Polizeioffiziere. Sie werden niedergestreckt von einem Kommando des Parteiselbstschutzes der KPD - Mielke war unter den Mördern. Brandt widersetzte sich in der KPD dieser Politik der Aktionseinheit mit der NSDAP. Er schloss sich den „Versöhnlern" an, der letzten Fraktion innerhalb der Partei nach deren Stabilisierung. Die Versöhnler versuchten, den Kurs der KPD von innen zu verändern, sie widersetzten sich der damals geltenden so genannten ultralinken Linie. Die Kommunistische Internationale, die von einer bevorstehenden Revolution in Deutschland ausging, erklärte die Sozialdemokratie zum Hauptfeind innerhalb der Arbeiterbewegung. Mit diesem Kurs waren Abkommen zwischen den Führungen der sozialdemokratischen und kommunistischen Partei zum Schutz der Republik für die Kommunisten ausgeschlossen. Die Versöhnler in der KPD dagegen befürworteten solche Bündnisse gegen die drohende nationalsozialistische Gefahr. Laufers Brief von 1960 zeigt, die SED hatte diese politische Abweichung weder vergessen noch war sie vergeben. Solidarität, die gegenseitige Hilfe in der Nachbarschaft und im Betrieb, war in der sozialistischen Arbeiterbewegung die grundlegende ethische Norm. Ohne die Bedeutung dieses Leitbildes sind in der politisch und ideologisch immer zerstrittenen

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sozialistischen Bewegung weder Brüche in Lebensläufen noch Parteienwechsel oder die uneigennützige Hilfe für in Not geratene Kollegen oder Genossen zu erklären. Im Leben von Brandt gab es viele Beispiele für solidarisches Verhalten. Eine herausragende Bedeutung für sein Leben hatte Sigmund (Siggi) Neumann. Als Brandt 1933 die Prügel in der SA-Kaserne Hedemannstraße überlebt hatte und freigelassen wurde, beschwor ihn Neumann zu emigrieren, mit ihm nach Paris zu gehen. „,Hier kommst Du um, kommst Du mit Sicherheit um', hatte er gesagt, ,Wenn Du ihnen noch einmal in die Hände fällst, bist Du verloren. Du weißt, dass sie noch lange an der Macht bleiben werden. Früher oder später haben sie Dich wieder'. Ich hatte nicht auf ihn gehört - hatte meinen Frontfimmel. Berlin, das war der Kampfplatz, den ich mir bestimmt hatte." Neumann ging allein in die Emigration, aber Brandt informierte ihn bis zu seiner eigenen Verhaftung im Dezember 1934 über aktuelle Ereignisse im Dritten Reich, die dieser Freund veröffentlichte. Brandt selbst organisierte in Berlin eine illegale Betriebszeitung, den „Siemens-Lautsprecher". Als ihn die Gestapo verhaftete, bereitete er sich auf eine Reise nach Moskau vor, um die Lenin-Schule zu besuchen. Von dem Lehrgang des Jahres 1935 an der Kommunistischen Internationalen Schule sind die meisten Kursanten der Stalin'schen Kommunistenverfolgung ebenso zum Opfer gefallen wie die deutschen „Versöhnler", die sich vor Hitlers Verfolgung im Moskauer Exil sicher wähnten. Genauso sicher glaubten sich seine Geschwister Richard und Lili, die er 1932 in ihrer Absicht bestärkt hatte, in die Sowjetunion zu fahren, um dort zu arbeiten. Der Bruder kam durch den Stalin'schen Terror ums Leben, seine Schwester Lili wurde für 17 Jahre nach Sibirien verbannt. Im Selbstbildnis von 1984 schilderte Brandt seine Alpträume in der Bautzener Zelle, die sich mit dem Schicksal seines Bruders Richard beschäftigen: „Vergleiche ich meine Lage in Isolationshaft und als KZ-Sklave, drängt sich mir zugleich die Erinnerung an Richard auf, meinen jüngeren Bruder. Er emigrierte - und tat das auf meinen Rat - aus Berlin nach Moskau, flüchtete vor dem erkannten Feind, dem Nationalsozialismus, zum vermeintlichen Freund, ins ,Vaterland aller Werktätigen'. Richard wurde im Jahre 1938 - es war die Hoch-Zeit der stalinschen ,Säuberungen' - verhaftet, gefoltert und vom Moskauer Militärgericht unter den landesüblich-absurden Beschuldigungen zur schwersten Haftform: zehn Jahre ,ohne Schreiberlaubnis' verurteilt, was der Todesstrafe gleichkam: Er ist im Gulag verschollen [...] Heute habe ich ein Kanzleipapier der Chruschtschow-Ära in Händen, wonach Richard im Jahre 1956 .postum' (d. h. nach seinem Tode) rehabilitiert' wird. [...] Was ist mit, wäs ist in meinem Bruder vorgegangen? Er ahnte, dass ich im KZ war, und wird mich doch beneidet haben - wusste ich doch, wofür und bei wem ich saß. Wann erkannte er, dass er in Gefahr war unter den falschen Brüdern, in Feindeshand? Ich habe ihm leichtfertig, fahrlässig einen tödlichen Rat erteilt. Vergleiche ich unser, geographisch getrenntes, gleichzeitiges Sklavendasein ich in Auschwitz, er irgendwo im Gulag - , so ist nur eines sicher: Ich bin durchgekommen, er ist untergegangen; ich war einen jeden Tag im Leben als SS-Sklave bei allem und auf meine Art immer noch glücklich dran - er war jeden Tag im Gulag-Leben allein im Unglück, im Unglück allein." Die Verhaftung durch die Gestapo war für Brandt im Nachhinein auch eine Lebensrettung. Es ist ein mörderischer Diktaturenvergleich, der ihm aufgegeben war. Das Schicksal seines Bruders Richard und seiner Schwester Lili in der Sowjetunion war nicht die einzige Bürde im Gedächtnis des Strafgefangenen 558 in Bautzen. Da war noch das Schicksal der Eltern und des jüngsten Bruders Wolfgang, die zu den Opfern

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des Völkermordes an den europäischen Juden gehörten. Die Eltern wohnten 1939 mit seinem kranken jüngeren Bruder Wolfgang noch in Posen und damit in Polen. A m 1. September begann Hitler seinen Krieg gegen das Land, und nach dem deutschen Sieg im „Polenfeldzug" wurden die Angehörigen von Brandt „der Endlösung entgegen aus Posen ins Ghetto Ostrow Lubelski getrieben. Sie verstehen nicht, was ihnen geschieht, wissen nicht, was ihnen bevorsteht, lassen sich ihre Illusionen über das deutsche Kulturvolk nicht nehmen", schreibt Brandt in seinem Selbstbildnis aus der Zellen-Perspektive. Und er räumt ein, es ging ihm damals nicht viel anders. „Auch ich übrigens, der doch den Nationalsozialismus zu kennen glaubte, hatte die generalstabsmäßige industrielle Ausrottung nicht vorausgesehen, deren Zeuge ich dann in Auschwitz wurde. Auf der Spur verschollener Briefe meiner Mutter aus dem Ghetto bin ich auf eine Widerstandsgruppe im Ruhrgebiet gestoßen, einen Bund, der sich Gemeinschaft für sozialistisches Leben' nannte. [...] In ihren Briefen (einige sind erhalten geblieben) berichtet meine Mutter kaltblütig und warmherzig vom Schreckensort. Sie zeigt zugleich, wie sie dort - und unter zunehmend tödlichen Bedingungen - den Kindern eine kärgliche Oase sichert. Es gibt stets - in welcher Lage auch immer - die Chance zum Humanverhalten. Und wer wollte sagen, dass es umsonst war, nutzlos, was meine Mutter an Liebe, Trost, an Wärme gab, nur weil diese Kinder ohnehin rettungslos verloren waren, ihr grausiges Ende unabwendbar? Als meine Mutter ihre Briefe schreibt, sind mein Vater und mein Bruder Wolfgang bereits im Ghetto umgekommen; sie weiß mich im KZ und meinen Bruder Richard im Gulag. Sicherlich hoffte sie verzweifelt, dass wir überleben und einst ein Zeugnis von ihr vorfinden, so ist ihre Botschaft - zuletzt ein Notschrei - indirekt auch an uns gerichtet. Mich hat sie erreicht. Wir drei Menschen einer Familie, eines Ideenkreises - meine Mutter, mein Bruder Richard und ich - sind zu gleicher Zeit an gleich bösem, doch ungleichem Ort: voneinander getrennt, von der Gesellschaft ausgestoßen, isoliert und doch - ohne voneinander zu wissen - miteinander im Geist verbunden. Nur ich überlebte. Die beiden anderen, hingemordet, sterben für sich allein." Seine Befreiung aus Buchenwald und Bautzen benannte Brandt mit einem Wort aus dem Neuen Testament, das die Hoffnung gläubiger Christen ausdrückt: Auferstehung. Die erste erfolgte im April 1945 in Buchenwald. In seiner Autobiografie beschrieb er den Schwur der befreiten Häftlinge als Hoffnung auf ein Leben in Frieden und Freiheit: „Es gibt wenige Lager, die sich selbst befreiten. Es gibt kein Lager, das sich so organisiert befreite wie Buchenwald. Der,Buchenwaldschwur' wird zum Symbol, zum Befreiungsgelöbnis schlechthin. Wir stehen da oben, fahlhäutige Skelette, auf dem Appellplatz, die dürren Arme empor gestreckt, die spitzen Finger stechen den Eid in den Himmel. Wir sind zusammengeströmt, Eidgenossen, nicht angetreten, nicht aufmarschiert, nicht ausgerichtet. Gestern noch waren wir Sklaven, kommandiert zum Appell: Moribundi zum .Block' geordnet, todesstarr formiert in ,Reih und Glied'. Heute stehen wir in der lebendigen Ordnung der Freiheit und appellieren an die Welt. Wir haben wieder eine Gegenwart. Unser Schwur - in die Zukunft gerichtet, beschwört die Vergangenheit. Was hinter uns liegt, bindet uns, so meinen wir, für immer. Trunken verweilen wir im Augenblick. Und so fragen wir uns nicht, was eigentlich nie wiederkehren soll. Auschwitz? Unbewusst verstehen wir dies ,Nie wieder' allumfassend, so total wie das, was uns in den vergangenen zwölf Jahren begegnete. Alles scheint einfach heute." In diesen Zeilen wird das Gefühl der Auferstehung nachvollziehbar, das die Häftlinge in diesem April 1945 einte. Aber nach seiner Rückkehr aus Bautzen kannte Brandt

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auch das Trennende, das in den letzten zwei Jahrzehnten zwischen die befreiten Häftlinge getreten war. Er fährt fort: „Morgen schon wird alles fraglich sein. Niemand von uns ahnt das Entsetzliche. In wenigen Monaten schon wird die Bombe auf Hiroshima fallen; wie bald wird Workuta in aller Munde sein; wenige Jahre nur, dann hängen Rajk, Kostoff und Slänsky, ereignet sich die Tragödie des 17. Juni, wird die ungarische Revolution im Blut erstickt, brennen die Dörfer Vietnams - entlaubte Wälder, geflutete Felder. Heute eint uns der gemeinsame Abscheu vor den Verbrechen der Vergangenheit. Morgen wird uns die unterschiedliche Beurteilung der neuen Verbrechen trennen."

SED-Funktionär auf Widerruf Im Sommer 1945 kehrte Brandt wieder nach Berlin zurück und schloss sich erneut der K P D an. Der Aufruf des Zentralkomitees vom 11. Juni 1945 schien der Hoffnung von Buchenwald zu entsprechen. Die Parteiführung betonte ausdrücklich, „dass der Weg, Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen, falsch wäre, denn dieser Weg entspricht nicht den gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen in Deutschland. Wir sind vielmehr der Auffassung, dass die entscheidenden Interessen des deutschen Volkes in der gegenwärtigen Lage für Deutschland einen anderen Weg vorschreiben, und zwar den Weg der Aufrichtung eines antifaschistischen, demokratischen Regimes einer parlamentarisch-demokratischen Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk." Brandt wurde Angestellter des Magistrats von Groß-Berlin und arbeitete für den Hauptausschuss „Opfer des Faschismus", der sich als zentrale Stelle mit den existentiellen sozialen Fragen der Opfer der nationalsozialistischen Diktatur zu beschäftigen hatte: Dazu zählten die Beschaffung von Wohnraum, ärztliche Versorgung und die Verteilung von Lebensmittelkarten und Kleidung. Der Berliner Hauptausschuss „Opfer des Faschismus" übernahm eine politische Leitfunktion für ähnliche Ausschüsse in der Sowjetischen Besatzungszone. Hier lernte Brandt auch Karl Raddatz kennen, seinen späteren Mitangeklagten von 1962. Auf der Leipziger Konferenz der Ausschüsse der Opfer des Faschismus der S B Z im Oktober 1945 sprach Brandt über die Notwendigkeit, neben der Anerkennung der politischen Widerstandskämpfer durch die Ausschüsse sich auch der rassisch Verfolgten anzunehmen. Elke Reuter und Detlef Hansel zitieren in ihrem Buch „Das kurze Leben der W N von 1947 bis 1953" Brandt: „Es sei unmöglich, einerseits eine Aufklärungspolitik im deutschen Volk zu betreiben, die das verbrecherische Wesen der Nazi-Ideologie gerade auch an der Vernichtungspolitik gegenüber den Juden klarmachen will, während man andererseits erkläre, die Juden als Opfer des Faschismus nicht anerkennen zu wollen." 1946 zwang die K P D mit Hilfe der Besatzungsmacht die S P D in der Sowjetischen Besatzungszone zur Fusion in die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED), Brandt wird ihr Mitglied. 40 Jahre später gab er auf einer Tagung der Friedrich-EbertStiftung Auskunft über seine auf die damaligen Erfahrungen gegründete Sicht der Dinge: „Unter allen sozialdemokratischen, gewerkschaftlichen, kommunistischen Genossen, mit denen wir diskutierten in Luckau und Brandenburg und vorher im Ubergangsge-

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fängnis Kantstraße, dann später im KZ Sachsenhausen, Auschwitz, Buchenwald - es gab ja unerhört intensive Diskussionen - unter ihnen allen habe ich nicht einen einzigen kennen gelernt, nicht einen einzigen Genossen, der mir gesagt hätte, ,Wir müssen in der Weise neu beginnen, dass ein Zusammengehen mit dem Kommunismus von vornherein ausgeschlossen ist. Das kann für uns kein Weg sein, das ist kein Weg'. Das ist mir nicht begegnet." 13 Jahre nach ihrer Trennung in Berlin traf Brandt erneut Siggi N e u m a n n . Er fordert Brandt auf, sofort die SBZ zu verlassen und mit ihm nach Hannover, dem Westen Deutschlands zu gehen, um Mitglied der sozialdemokratischen Partei zu werden. Brandt referiert in seiner Autobiografie dieses Gespräch: „,Du warst', sagte er, ,zehn Jahre vom Leben isoliert. Du hast in dieser schrecklichen Zeit Deiner Nazi-Haft den Verfall des Stalinismus, die Entartung der russischen Revolution, die Tragweite all dessen, was geschehen ist, nur mangelhaft erfahren und erkennen können. Der Stalinismus ist bankrott, der Marxismus-Leninismus endgültig kompromittiert. Also sind letzten Endes auch Lenin, auch die ,Versöhnler', auch Trotzki, gescheitert. Sozialismus ist nur auf demokratischem Wege möglich. Wir müssen von vorn beginnen'. Soweit, so gut. Wie aber sollte ich mich entscheiden? ,Du wirst', sagte Siggi, ,den Stalinisten in die Hände fallen, früher oder später. Ihr Spiel spielst Du nicht, und sie werden Dich vernichten, was immer Du auch tun wirst. Hast Du noch nicht genug? Du hast damals nicht auf mich gehört - tu es jetzt'. Fatale Wiederholung: Meine ,Front' ist Berlin - nicht Hannover. Ich werde in Berlin bleiben, aber ich werde - wie einst im Dritten Reich - die Verbindung zu Siggi nicht abreißen lassen. Ich werde ihn über alles unterrichten, was sich im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands einer demokratischen Entwicklung entgegenstellt." Die Wiederaufnahme einer unterbrochenen Freundschaft w a r ein weiterer gewichtiger Schritt, der Brandt nach Bautzen führen sollte. N e u m a n n baute im SPD-Parteivorstand das Ostbüro auf, das nach der Gründung der SED notwendigerweise illegale Verbindungen in die SBZ und spätere D D R unterhielt. Beziehungen, die seitens der SED als „Spionagetätigkeit" für einen westlichen Geheimdienst verfolgt wurden. N e u m a n n hatte sich auch diesmal in seiner Prognose nicht geirrt. Anfang 1953 w u r d e n in der SED die Personalakten der jüdischen Funktionäre eingesammelt, in M o s k a u w u r d e n die jüdischen Kreml-Arzte verhaftet. Erneut drohte eine Stalin'sche Säuberungswelle, aber diesmal starb der Despot, bevor seine Pläne auch in der D D R Wirklichkeit w e r d e n konnten. Brandt stellte sich am 17. Juni auf die Seite der streikenden Arbeiter und w u r d e dafür aus dem hauptamtlichen Parteiapparat der SED ausgeschlossen. N a c h dem X X . Parteitag der K P d S U 1956 fuhr er nach M o s k a u , u m nach Bruder u n d Schwester zu suchen. Hier lernte er sich eine Vorstellung von dem zu machen, w a s „Stalinismus" wirklich bedeutete. Erst durch die Erzählungen in M o s k a u 1957/58 begriff Brandt, „dass Stalinismus ein M i l l i o n e n - M o r d - R e g i m e gewesen ist, und nicht das, w a s ich vorher angenommen hatte". Nach der blutigen Niederschlagung der ungarischen Revolution im November 1956 schwand jede H o f f n u n g auf baldige Entstalinisierung in der D D R . Er brach mit der SED und floh 1958 in den Westen. Die Verbindung zu N e u m a n n erwies sich als tragfähig für einen Neuanfang als Journalist der Gewerkschaftszeitung metall. N e u e politische Heimat w u r d e für ihn die SPD.

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Die Kraft der Solidarität Die Kidnapper des MfS zerstörten 1961 diesen Neuanfang im Westen. Sie zwangen Brandt zum Diktaturenvergleich aus der Häftlingsperspektive. Die gelegentlichen Besuche seines Ostberliner Anwalts Dr. Wolff waren in Bautzen seine einzige dünne Verbindung zur Außenwelt. Die Isolationshaft von Brandt in Bautzen wurde schließlich nicht durch die Einsicht der Machthaber in ihr begangenes Unrecht beendet, sondern durch eine politische Kampagne erzwungen. Seine Frau Annelie begann unmittelbar nach seiner Entführung, den Kampf um die Befreiung ihres Mannes aus Bautzen zu organisieren. Brandt erfuhr Solidarität. Erich Fromm hat in seiner Einleitung zur Autobiografie von Brandt Umfang und Bedeutung der Kampagne zusammengefasst: „Seit seiner Verschleppung, während seiner drei Gefängnisjahre war es Brandt nicht erlaubt worden, mit jemandem zu sprechen, noch wusste er irgend etwas von den Bemühungen um seine Befreiung, die schon einige Tage nach seiner Entführung einsetzten. Liberale, Sozialisten, Pazifisten und Gewerkschaftler sowie Organisationen wie .Amnesty' verlangten unentwegt Brandts Befreiung. Als Bertrand Russell dieser Kampagne ihren größten Auftrieb gab, indem er einen Orden, den die ostdeutschen Kommunisten ihm verliehen hatten, zurücksandte, geschah das Wunder. Die Ulbricht-Regierung gab dem Druck der nicht-kommunistischen ,Linken' nach, begnadigte Brandt und erlaubte ihm die Rückkehr in die Bundesrepublik." Auf drei Aspekte dieser Kampagne soll noch kurz eingegangen werden. Selbstverständlich setzte sich die IG Metall nachhaltig für die Freilassung ihres Funktionärs ein. Ihr Vorsitzender Otto Brenner verlangte immer wieder öffentlich „die sofortige Freilassung unseres zu Unrecht verurteilten Kollegen!" Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) hatte ebenfalls einen gewichtigen Anteil an dieser Kampagne für die Freilassung von Brandt und trug diese Forderung auch in Ostberlin vor. Als erster Studentenverband aus der Bundesrepublik beteiligte sich der SDS im Mai 1964 mit einer offiziellen Delegation am Deutschlandtreffen der FDJ in Ostberlin. Der zweite Bundesvorsitzende des SDS, Hellmut Lessing, forderte öffentlich die Freilassung von Heinz Brandt und die Beendigung der politischen Justiz in ganz Deutschland. Nicht nur die SED war Adressat der Forderungen nach Freilassung von Brandt. Ende 1963 weilte auf Einladung der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) eine Delegation der Französischen Sozialistischen Partei in Moskau. Die französischen Sozialisten forderten die Freilassung von Brandt und übergaben eine Liste mit Namen von Sozialdemokraten, die sich noch in osteuropäischen Gefängnissen befanden. Die KPdSU sicherte die Prüfung dieser Fälle zu und betonte, die Freilassung dieser politischen Gefangenen wäre ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Entspannung zwischen Ost und West. Schließlich protestierte das Internationale Lagerkomitee von Häftlingen aus den KZ-Lagern Auschwitz und Buchenwald in Paris gegen die Inhaftierung von Brandt und Raddatz in der D D R und verlangte ihre Freilassung. Hoffnung auf die Opposition im Osten Brandt suchte auch nach 1964 weiterhin nach Mitstreitern für den Kampf um seinen Traum von einer gerechten Welt. Er solidarisierte sich kritisch mit der Studentenbewegung 1968, hoffte auf den Prager Frühling und blieb unbeirrbar solidarisch

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mit der bürgerrechtlichen Opposition gegen den realen Sozialismus in den Ländern des sowjetischen Imperiums. Abschließend zwei Beispiele für Brandts solidarisches Handeln. Als Jürgen Fuchs 1976 im Zusammenhang mit der Ausbürgerung von Wolf Biermann inhaftiert wurde, gründete sich in Berlin ein Schutzkomitee „Freiheit und Sozialismus". Heinz Brandt gehörte zu seinen Aktivisten. Als Fuchs zehn Monate später aus dem MfS-Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen entlassen wurde und nach Westberlin kam, traf sich Brandt mit Fuchs, der gerade seine erste Presseerklärung abgegeben hatte. Fuchs nahm kritisch Stellung zur Praxis des innerdeutschen Menschenfreikaufs aus DDR-Gefängnissen und sprach offen über die Rolle, die der Vertrauensanwalt des MfS, Wolfgang Vogel, dabei spielte. Der Kommentar von Brandt: „Wer noch so eine Presseerklärung nach seiner Haft abgibt, den haben sie nicht gebrochen." Der Atompazifist Brandt war ein entschiedener Gegner der militärischen, aber auch der friedlichen Nutzung der Kernenergie. Immer, wenn es um den Kampf gegen die Atomrüstung in der von der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten dominierten bipolaren Weltordnung ging, war Brandt dabei. So auch in der Protestbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss von 1979. Im Mai 1981 bereitete die westdeutsche Friedensbewegung die große Demonstration gegen die drohende Nachrüstung der N A T O im Bereich der Mittelstreckenraketen vor. Zur Vorbereitung dieser Demonstration entstand ein Komitee, dem auch Brandt angehörte, aber sein Thema widersprach dem so genannten Minimalkonsens, auf den sich die Organisatoren einigten, um die D K P nicht ausschließen zu müssen. Brandt, der ethische Gesinnungspazifist, verlangte nicht nur das Gespräch über die sowjetischen SS-20-Raketen, die bereits stationiert waren, sondern auch über die sowjetischen Panzer, die in und um Polen die polnische Freiheitsbewegung Solidarnosc bedrohten. Er ahnte, was die sowjetische Führung in Polen plante, und er wusste, dass die SED ein zuverlässiger Partner sein würde, wenn es um die Unterdrückung der polnischen Freiheitsbewegung ging. Er war verzweifelt und verbittert über diese Friedensbewegung, die so moralisch auftrat, aber leichtfertig einer doppelten Moral huldigte, indem sie wegsah, als es in Polen um Freiheit und Demokratie ging. Für Heinz Brandt gibt es keinen Grabstein. Er hatte es zu seinen Lebzeiten abgelehnt, nach seinem Tod irgendwo beerdigt zu werden, er verwies auf das Schicksal seiner Familie. Der Bruder Richard wurde in den Weiten Russlands verscharrt, die Mutter wurde in der Gaskammer ermordet. Er wollte kein Grab. Uns bleibt nur das Erinnern an sein Leben.

„Der Beweis eines Verrats lässt sich nicht erbringen." Robert Havemann und die Widerstandsgruppe Europäische Union (1999 zusammen mit Werner Theuer)*

Nach kurzer schwerer Krankheit verstarb Werner Theuer am 14. September 2005 im Alter von nur 55 Jahren. Ein Fünftel seines Lebens arbeitete er im Robert-Havemann-Archiv und hat den Archivbestand zu Leben und Wirken Havemanns aufgebaut und erschlossen. Als bleibendes Zeugnis seines Schaffens liegt ein Findbuch vor, das den Bestand für Nutzer zugänglich macht. Mit Fug und Recht lässt sich über Werner Theuer sagen, er war Robert Havemanns Archivar und er kam nicht zufällig zu dieser Aufgabe, die er in enger Absprache mit Katja Havemann gewissenhaft und fachkundig wahrgenommen hat. Er zählte zur DDR-Opposition der siebziger und achtziger Jahre und bereits 1968, im Jahr des Prager Frühlings, gehörte er zu einer Gruppe um Gerd Poppe. Mit mir und dem Forschungsverbund SED-Staat ist er durch unsere Arbeit zur Geschichte der Widerstandsgruppe „ Europäische Union " verbunden. Werner Theuer und mir wurde sehr deutlich, worin der Kern der Widerstandsarbeit dieser kurzlebigen Gruppe wirklich bestand: in der Hilfe für von Deportation und Tod bedrohte jüdische Mitbürger. Dieses „ Verbrechen" hob Freislers Anklageschrift gegen Robert Havemann, Georg Groscurth und Herbert Richter vor dem „ Volksgerichtshof" 1943 besonders hervor. Werner Theuer und ich beschlossen, das Material über die Hilfe für verfolgte jüdische Mitbürger an die Gedenk- und Forschungsstätte Yad Vashem zu senden, damit in Jerusalem geprüft wird, ob die Begründer der „Europäischen Union" mit dem Titel „ Gerechte unter den Völkern" geehrt werden können. Werner Theuer war sehr bewegt, als Yad Vashem Herbert Richter, Paul Rentsch, Georg Groscurth und seiner Frau Anneliese diese Ehrung zuteil werden ließ, die von Robert Havemann selbst hat er nicht mehr miterleben können. Ich trauere um ihn als Freund und Kollegen. Durch die Öffnung der Archive der SED und des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) kann nicht nur die Geschichte von Opposition und Widerstand in der DDR geschrieben werden, sondern wir gewinnen auch neue Erkenntnisse über Verweigerung und Widerstand im Nationalsozialismus. Diese Feststellung gilt namentlich für Personen wie Robert Havemann, die in beiden Diktaturen widerstanden und deshalb auch von der SED verfolgt wurden. Das MfS trug Materialien über ihn und die Gruppe „Europäische Union" zusammen, um eine Anklage zu konstruieren. Damit waren die Archivalien für jegliche historische Forschung gesperrt.1 * 1

Zuerst erschienen in: Deutschland Archiv, Heft 6/1999, S. 899-912. Die Berliner Historikerin Simone Hannemann hat kürzlich eine Forschungsarbeit zur Europäischen Union begonnen.

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Der Chemiker Robert Havemann, der Oberarzt Georg Groscurth, der Architekt Herbert Richter und der Dentist Paul Rentsch bildeten gegen Ende der dreißiger Jahre einen Kreis um sich, den die Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus einte. Anfang der vierziger Jahre gründeten sie aus diesem Kreis heraus die Widerstandsgruppe Europäische Union, deren geistiger Kopf Robert Havemann war. Die Gruppe leistete humanitären Widerstand und unterstützte vorrangig von der Deportation bedrohte Juden. Sie beschaffte Unterkünfte, zum Teil in ihren eigenen Wohnungen und Grundstücken, gefälschte Personalpapiere, Kennkarten, Reisebescheinigungen und Lebensmittel. Darüber hinaus gelang es der Gruppe ab 1942, Verbindungen zu illegalen Organisationen ausländischer Fremd- und Zwangsarbeiter aufzubauen, die sie mit Kurierdiensten in ihre Heimatländer unterstützten, vor Razzien in den Lagern warnten, über den Kriegsverlauf unterrichteten und mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgten. Wenige Jahre nach dem Krieg beschrieb Robert Havemann in einem unveröffentlichten Bericht Entstehung und Selbstverständnis der Europäischen Union: „Die vorläufig noch sehr tastenden Versuche, eine illegale Organisation zu entwickeln, nahmen im Jahre 1942 konkrete Gestalt an, als es meinem Freund Groscurth gelungen war, zu großen Gruppen ausländischer Zwangsarbeiter in Deutschland Beziehungen zu bekommen. Nach zahlreichen Besprechungen und Beratungen mit Vertretern organisierter Gruppen von ausländischen Arbeitern beschlossen wir die Gründung einer ausländischen Verbindungsorganisation und nannten die gesamte Bewegung Europäische Union'. Die Gruppe sah ihre Basis in den Massen der ausländischen Arbeiter und verzichtete von vornherein auf jede breitere Massenpropaganda in der deutschen Bevölkerung." 2

Georg Groscurth hatte 1942 den tschechischen Chemiker und gebürtigen Russen Konstantin Zadkevicz kennen gelernt, der, wie Havemann schreibt, bereits tschechische, sowjetische, französische und belgische Gruppen miteinander in Verbindung gebracht und Zusammenkünfte organisiert hatte. Zur Tarnung der illegalen politischen Beziehung nahmen Zadkevicz und Havemann berufliche Kontakte auf. Zadkevicz benutzte in seiner Laborarbeit als Chemiker das von Havemann konstruierte Fotozellenkolorimeter und stellte zu analytischen Methoden öfter schriftliche Anfragen an ihn. Im Frühjahr 1943 kam die sowjetische Lagerärztin Galina Romanowa hinzu, die kurzzeitig an das Krankenhaus Moabit abkommandiert worden war und dort Georg Groscurth begegnete. Sie hatte vorher im Ostarbeiterlager der Firma Schwartzkopf in Wildau die Ukrainer Nikolai Romanenko und Alexej Kalenytschenko kennen gelernt, durch die sie Anfang 1943 mit Zadkevicz in Verbindung kam. In Oranienburg, wo sie dann bei der Firma Auer als Lagerärztin arbeitete, traf sie auf die Ukrainer Alexander Chomlow, Iwan Lessik und Pjotr Sosulja und brachte sie mit Zadkevicz zusammen. Galina Romanowa nahm auch an Treffen mit der französischen Gruppe teil. Zu häufigeren Treffen der ausländischen Arbeitergruppen und den Deutschen der Europäischen Union kam es vor allem mit Georg Groscurth. Ab Juli 1943 traf sich der Oberarzt Heinz Schlag mit der französischen Gruppe, der wie Groscurth im Krankenhaus Moabit arbeitete. Der in Paris beschäftigte Franz Grüger aus Berlin war bereit, Kurierdienste nach Frankreich zu übernehmen. Im September 1943 traf

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Robert-Havemann-Archiv: NL Robert Havemann, Bd. 3, Lebensbericht 1933-45, undatiert,

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sich Zadkevicz mit dem schwedischen Empfangschef des Hotels Adlon, Sten Gullbring, der auf einer geplanten Reise nach Schweden eine Resolution der sowjetischen und französischen Gruppen an die Regierung der UdSSR und an die Exilregierung Frankreichs überbringen sollte. Dazu ist es durch die Verhaftungen im September und Oktober 1943 vermutlich nicht mehr gekommen. Außerdem hatten die deutschen Angehörigen der Europäischen Union Herbert Richter, Eduard Hinz und Paul Hatschek, der jedoch nicht in die Interna eingeweiht war, Verbindungen zur Widerstandsgruppe um Robert Uhrig. Für die Versorgung der ausländischen Arbeitergruppen mit Informationen nutzte der Kreis um Havemann ihre Dienststellen und ihre Kontakte. Unter Georg Groscurths Patienten befand sich zum Beispiel der Staatssekretär Wilhelm Keppler, der Hitler in Wirtschaftsfragen beriet. Herbert Richter hatte als Architekt und Beleuchtungsexperte gelegentlich Ausstellungsarbeiten für das Stabsamt Göring übernommen. Ab 1942 arbeitete er beim Reichshandwerksmeister zur Behebung von Fliegerschäden. Robert Havemann, der am Pharmakologischen Institut der Berliner Universität als wissenschaftlicher Assistent arbeitete, war dort 1942 zum militärischen und 1943 auch zum politischen Abwehrbeauftragten ernannt worden. Der damalige Institutsdirektor Wolfgang Heubner wollte diese Posten nicht mit einem Nationalsozialisten besetzen.3 Heubner hat sich nach der Verurteilung Havemanns zum Tode maßgeblich für dessen Lebensrettung eingesetzt. Ein Mitglied der Europäischen Union, der litauische Sprachwissenschaftler Meir (Miron, Wladimir) Broser, ging 1941 in die Sowjetische Botschaft in Berlin, um vor dem bevorstehenden Überfall der deutschen Wehrmacht zu warnen. Er gab damals Russischunterricht für Offiziere des Oberkommandos des Heeres und hatte dort von dem geplanten Angriff erfahren.4 Brosers Warnung wurde von Chruschtschow in seiner „Geheimrede" auf dem X X . Parteitag der KPdSU 1956 namentlich erwähnt, ohne ihn mit der Europäischen Union in Verbindung zu bringen. Die programmatischen Vorstellungen der Gruppe sind in vier Flugblättern überliefert, die hauptsächlich von Robert Havemann verfasst sind.5 Den Widerstandswillen gegen die Nationalsozialisten sah er vor allem bei den nach Deutschland verschleppten Zwangsarbeitern und nicht in der deutschen Bevölkerung. Eine friedliche Nachkriegsgesellschaft war für ihn nur in einer gesamteuropäischen Dimension denkbar. Diese europäische Programmatik, die den Nationalstaat als Ordnungsprinzip überwinden wollte, unterscheidet die Europäische Union besonders deutlich von anderen Widerstandsgruppen. Die von Havemann formulierte Vorstellung der Gruppe lief auf ein geeintes, sozialistisches Europa hinaus, in dem die Freiheit des Individuums und soziale Gerechtigkeit gewahrt sein sollten. Diese politische Programmatik wurde in den Veröffentlichungen in der D D R kaum erwähnt, da sie mit dem ideologischen Bild der SED vom antifaschistischen Widerstand nicht übereinstimmten. Nach Havemanns Angaben gehörten zur Europäischen Union etwa 50 bis 60 Deutsche. Die Gesamtzahl der in kleinen Gruppen organisierten Fremd- und Zwangs-

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Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen D D R (BStU), MfS-HA IX/11, AS 91/67, Bd. 45, Bl. 7: Tonbandabschrift Prof. Jung vom 24. November 1967. Robert Havemann: Ein deutscher Kommunist. Rückblicke und Perspektiven aus der Isolation, hrsg. von Manfred Wilke, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 51 ff. Robert-Havemann-Archiv: N L Robert Havemann, Bd. 5. Die Texte der Flugblätter wurden veröffentlicht in: Robert Havemann 70, in: europäische ideen, Nr. 48/1980, S. 29-32.

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arbeiter schätzte er auf 20.000 bis 50.000 Mitglieder.6 Diese Angabe erscheint sehr hoch. Sie kann eine Selbstprojektion sein oder aber das Potenzial umschreiben, das von den Mitgliedern der Europäischen Union in den Arbeitslagern erreicht wurde. In der Literatur über den deutschen Widerstand ist die Verbindung von Groscurth und Havemann zu kleinen illegalen Gruppen ausländischer Zwangsarbeiter in Deutschland zwar erwähnt, Umfang und Intensität gehören zu den Forschungsdesideraten. Auf der Basis des vorliegenden Materials ist es noch nicht möglich, die Dimension der Europäischen Union darzustellen. Das Bild der Gruppe verändert sich durch die Zahl der Volksgerichtshofprozesse und der in ihnen ausgesprochenen Todesstrafen. Allgemein bekannt war der Prozess gegen Havemann, Groscurth, Richter und Rentsch im Dezember 1943. Nun müssen weitere zwölf Prozesse hinzugefügt werden; zu den bisher bekannten vier Todesurteilen kommen weitere elf hinzu. Es sind die Tschechen Zadkevicz, Hatschek, seine Tochter Krista Lavickova und seine deutsche Ehefrau Elli, geb. Lötz, die Franzosen Boisselier und Cochon, die Ukrainer Romanenko und Romanowa und die Deutschen Müller, Westermayer und Schlag.7 Humanitäre Hilfe für J u d e n Robert Havemann berichtet: „Außer dieser Arbeit hat die,Europäische Union' auch in zahlreichen Fällen v o m Naziregime verfolgte Personen unterstützt, so besonders Juden. Wir haben hierbei auch zahlreiche falsche Ausweise beschafft und zum Teil selbst hergestellt. Die Entwicklung einer ausreichenden Praxis in der Herstellung von gefälschten Ausweispapieren war, abgesehen von der Hilfe an Verfolgten, von praktischem Wert für die Tätigkeit jeder illegalen Organisation. Zur Beschaffung von Nahrungsmitteln habe ich bei meinen Freunden in München eine ununterbrochene Sammlung von Lebensmittelkarten organisiert, die mir monatlich zugesandt wurden. So war es möglich, einen größeren Kreis verfolgter Personen mit Lebensmitteln zu versorgen. Leider waren bei dem Auffliegen unserer Gruppe einige solcher unterstützten Leute mitbetroffen." 8

Im Todesurteil gegen Robert Havemann, Georg Groscurth, Herbert Richter und Paul Rentsch vom 16. Dezember 1943 heißt es unter anderem: „Wie schamlos die Gesinnung der vier Angeklagten ist, ergibt sich auch daraus, daß sie geradezu systematisch illegal lebende Juden unterstützten, ja sogar mästeten; aber nicht nur das, sie verschafften ihnen sogar falsche Ausweise, die sie vor der Polizei tarnen sollten, als wären sie nicht Juden, sondern Deutsche." 9

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Robert Havemann: Aussage vor dem Nürnberger Gerichtshof am 10. April 1947, Protokollmanuskript, Robert Havemann-Archiv, N L Robert Havemann, Bd. 12. Zum Todesurteil gegen Heinz Schlag verweisen wir auf die Quellen: Christian Pross/Rolf Winau (Hg.): Nicht mißhandeln. Das Krankenhaus Moabit, Berlin 1984, S. 241 und Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Mitte und Tiergarten, Berlin 1994, S. 88. Die VGH-Akten zur Umwandlung der Haftstrafe in das Todesurteil nach Revision des Oberreichsanwalts konnten wir bisher nicht auffinden. Robert Havemann: Lebensbericht 1933-45, a. a. O. V G H , 1. Senat: Todesurteil gegen Robert Havemann, Georg Groscurth, Herbert Richter und Paul Rentsch vom 16.12.1943, Bl. 12. Robert-Havemann-Archiv, N L Robert Havemann, Bd. 5. Das Todesurteil wurde veröffentlicht in: Robert Havemann 70, a. a. O., S. 20-28.

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Eine erste Durchsicht der vom MfS benutzten Volksgerichtshofsakten zur Europäischen Union ermöglicht es, einige Namen jüdischer Mitbürger zu nennen - jedoch nur solche, die die Gestapo durch ihre Ermittlungen und Verhörmethoden herausfand und die vor allem in der Anklage des Volksgerichtshofes gegen Robert Havemann, Georg Groscurth, Herbert Richter, Paul Rentsch und Kurt Müller genannt wurden. Beim MfS bestand offenbar kein Interesse an dem weiteren Schicksal der von der Europäischen Union versteckten Juden. Es gibt auch keine Hinweise darauf, dass seitens der SED oder der D D R die Namen an jüdische Organisationen übermittelt worden wären. Wer über diesen Personenkreis hinaus von der Europäischen Union versteckt und unterstützt wurde, ist noch nicht bekannt. Auch liegen die Schicksale der hier Genannten noch im Dunkeln und konnten mit den uns vorliegenden Archivalien und Publikationen nicht vervollständigt werden. Die Mitglieder der Europäischen Union versteckten und unterstützten: Elisabeth von Scheven (oder Schewen), geborene Weidenreich aus Frankfurt am Main, geboren am 23.2.1906 in Straßburg: Sie lebte in Frankfurt am Main in so genannter „Mischehe" mit einem Grafiker und hatte zwei Kinder. Als sich die Verfolgung auf die in „Mischehen" Lebenden ausweitete, bat sie Georg Groscurth um Hilfe. Sie wurde in Berlin untergebracht bei Groscurths Familie, dann bei dem Ehepaar Enno und Elisabeth Kind, die auch zur Europäischen Union gehörten, und ab August 1943 im Wochenendhaus der Familie von Paul Rentsch in Diensdorf, Kreis Beeskow. Die Gruppe hatte ihr eine Kennkarte auf den Namen Elisabeth Bohnert und eine polizeiliche Abmeldung aus Wilhelmshaven beschafft, wo das Einwohnermeldeamt samt seiner Personenkarteien durch Fliegerbomben zerstört worden war. Diese Papiere besorgte Paul Rentsch von dem ehemaligen Bremer Kriminalsekretär Walter Leydecker, den er seit seiner Jugend kannte. Für das Ausstellen dieser Papiere mussten an Leydecker 1.500 RM gezahlt werden. Der Plan der Gruppe, Elisabeth von Scheven zu einer Flucht im Schlafwagen nach Italien zu verhelfen, wo ihre Schwester lebte, scheiterte. Am 5. September 1943 wurde sie gemeinsam mit Paul und Margarete Rentsch in Diensdorf verhaftet. Aus dem Untersuchungsgefängnis in der Kantstraße wurde Elisabeth von Scheven nach Auschwitz deportiert. Dort traf sie ihre Schwester wieder, die ebenfalls deportiert worden war. Beide überlebten das Vernichtungslager und wurden im Januar 1945 durch die sowjetische Armee befreit. Sie sind nach dem Krieg gemeinsam in die USA ausgewandert.10 Hertha Brasch, geborene Abraham: Robert Havemann lernte Hertha Brasch über Ursula und Konrad Mommsen im Frühjahr 1943 kennen. Er und Paul Rentsch besorgten ihr gefälschte Personalpapiere mit einer früheren Wohnanschrift in Bremen durch den Kriminalsekretär Walter Leydecker. Frau Brasch lebte dann unter dem Namen Helene Bartels bei einer Frau Stübling in Berlin-Weißensee in der Charlottenburger Straße 131. Heinz Günter Wolff und dessen Mutter Agnes Wolff, geb. Grätzer: Beide wurden bei Anna Stappenbeck, einer Tante von Kurt Müller, einem Mitglied der Widerstandsgruppe, ab März 1943 in Schönwalde bei Berlin-Spandau verborgen. Robert Havemann bezahlte im Juni 1943 für die bisherige Unterbringung 400 RM und ver-

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Vgl. Margarete Rentsch: „Erinnerungsbericht", in: Evangelischen Akademie (Hg.): In der Gestapo-Zentrale Prinz-Albrecht-Straße 8. Berichte ehemaliger Häftlinge, Berlin (West) 1987, S. 132, und Heinrich-Wilhelm Wörmann: Widerstand in Charlottenburg, Berlin 1991, S. 115.

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einbarte, für jeden weiteren Monat 100 R M zu zahlen. Außerdem wurden sie von ihm und Georg Groscurth mit Lebensmitteln und Brotmarken versorgt. Robert Havemann hat nach dem Krieg Zeitzeugen gegenüber berichtet, dass Heinz Günter Wolff von der Gestapo in der Prinz-Albrecht-Straße erschlagen wurde und dass sich seine Mutter aus dem Fenster gestürzt haben soll." Ehepaar Michailowitsch: Das Ehepaar Michailowitsch wurde in den Wohnungen von Herbert Richter und Paul Rentsch verborgen. Georg Groscurth besorgte über Walter Caro, der ebenfalls illegal lebte, gefälschte Ausweise des Oberkommandos der Wehrmacht ( O K W ) für 700 RM. Sie konnten dem Ehepaar nicht mehr ausgehändigt werden und wurden bei Herbert Richters Festnahme in seiner Wohnung gefunden. Die Gruppe hatte auch versucht, ihnen Papiere über Walter Leydecker zu beschaffen. Frau Lindemann: Georg Groscurth besorgte ihr im Frühjahr 1943 einen gefälschten Ο KW-Aus weis über Walter Caro für 350 R M . U b e r Walter Caro, der in den Volksgerichtshofsakten als Jude bezeichnet wird, ist uns nichts weiter bekannt. Antje Kind-Hasenclever, die damals mit Robert Havemann verheiratet war, schilderte die Gefahren und Schwierigkeiten des Versteckens in einem Rundfunkinterview: „Wir hatten über einem großen Flur neben dem Atelier eine Kammer, und da haben wir sie dann untergebracht. Es war natürlich für die Leute ganz schrecklich, daß sie sich nicht rühren durften, nicht auftreten durften, nicht zur Toilette gehen konnten, und ich brachte ihnen das Essen, und nur, wenn wir herumliefen, dann haben wir sie zur Toilette gehen lassen, dann waren ja unsere Schritte zu hören. Das konnte ja jemand hören, der Portier, der neugierig war und sich immer auf diesem Gang hinter der Ateliertür herumtrieb, das war eine ganz üble Person. [...] Ich kann mich entsinnen, daß bei Enno Kind eine Jüdin war und die Kinder gesagt haben: Wieso kommt die Tante ohne Koffer? Und dann sind sie losgegangen, haben einen Koffer gekauft und haben den voll Sachen gepackt, die ihr gar nicht gehörten, bloß um den Kindern zu beweisen, die hat den Koffer noch auf der Bahn gehabt. [...] Es war für die Leute, die von Anfang an Nazigegner waren, ganz selbstverständlich, solche Dinge zu tun, man hat gar nicht darüber nachgedacht, daß es lebensgefährlich war."12

Die Verhaftungswelle gegen die Angehörigen der Europäischen Union Bevor die Europäische Union ihre Aktivitäten als Vermittlungsstelle zwischen den ausländischen Gruppen weiter entfalten konnte, wurde sie im September 1943 durch einen Gestapo-Spitzel enttarnt, der auf Paul Hatschek angesetzt worden war. Hatschek war ein tschechischer Erfinder, Experte für Optik, Film- und Verstärkertechnik und leitete die Patentabteilung der Tobis-Tonbild-Syndikat G m b H Berlin. Seit 1938 hatte er über Leopold Tomschik zur Uhrig-Gruppe Verbindung gehabt, die

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Vgl. Regina Scheer: W o ist mein Leben geblieben? Das Verstummen der Gerda Victoria Wolff, in: Leben mit der Erinnerung. Jüdische Geschichte in Prenzlauer Berg, Berlin 1997, S. 169. - N a c h Auskunft der Stiftung Topographie des Terrors finden sich in ihrem Archiv keine Anhaltspunkte für den von Havemann übermittelten Tod der Familie Wolff. E r war ein Rebell. D e r Bericht der Antje Kind-Hasenclever über ihr Leben mit Robert H a v e mann 1 9 3 1 - 1 9 4 6 , Manuskript eines Features von Thomas Haunschild, Deutschlandfunk, 19. Juli 1988, S. 9 - 1 1 .

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im Februar 1942 von der Gestapo aufgedeckt worden war. In diesem Zusammenhang war auch Hatschek einige Tage in Haft, wurde jedoch wieder freigelassen. Ende 1942 hatte er durch Eduard Hinz, der ebenfalls zur Uhrig-Gruppe und später zur Europäischen Union gehörte, Havemann und weitere Mitglieder aus dessen Kreis kennen gelernt. Hatschek hatte seit Ende der zwanziger Jahre Verbindung zum sowjetischen Nachrichtendienst unter einer Kennwortvereinbarung, die durch den Krieg mit der U d S S R unterbrochen war. Mitte 1943 wurde ein sowjetischer Fallschirmagent verhaftet, der sich unter anderem auch mit Hatschek treffen sollte. Unter dem vereinbarten Kennwort meldete sich ein Gestapospitzel bei ihm. Hatschek informierte Havemann, der Interesse an einem politischen Verbindungsmann zeigte. Er riet Hatschek, die Verabredung wahrzunehmen, um zweifelsfrei festzustellen, ob es sich dabei um die Gestapo oder wirklich um einen russischen Agenten handelte. Dem Spitzel gelang es, Hatschek zu täuschen. Havemann schreibt in seinem Bericht: „ U b e r die , E u r o p ä i s c h e U n i o n ' konnte er in U n k e n n t n i s derselben nichts berichten. D o c h genügten seine I n f o r m a t i o n e n , u m die A u f m e r k s a m k e i t der G e s t a p o auf verschiedene wichtige Mitglieder der G r u p p e z u lenken. Wir w u r d e n sehr gründlich beobachtet u n d P o s t u n d Telefon überwacht. A l s i m A u g u s t 1943 bei u n s der Verdacht sehr groß g e w o r d e n war, daß H a t s c h e k s A g e n t nicht echt ist, beschloß die G r u p p e , die V e r b i n d u n g mit H a t s c h e k v o l l k o m m e n abzubrechen. D i e s w a r der A n l a ß f ü r die G e s t a p o , u m alle ihr bekannt g e w o r d e n e n Mitglieder a m 4. u n d 5. S e p t e m b e r 1943 schlagartig z u verhaften. Bei diesen Verhaftungen w u r d e n leider auch in den W o h n u n g e n bei einigen zahlreiche belastende D o k u m e n t e g e f u n d e n , die f ü r die G e s t a p o v o n g r o ß e m Wert waren. D i e Verb i n d u n g der E u r o p ä i s c h e n U n i o n ' mit den ausländischen A r b e i t e r g r u p p e n blieb der G e s t a p o aber z u n ä c h s t unbekannt. E r s t Mitte O k t o b e r machte ein Mitglied der G r u p p e v o n sich aus der G e s t a p o gegenüber A n g a b e n ü b e r die B e z i e h u n g e n z u den ausländischen Arbeitern, w a s z u Verhaftungen v o n zahlreichen Vertretern führte. D i e V e r n e h m u n g e n w u r d e n geleitet v o n d e m bekannten G e s t a p o k o m m i s s a r H a b e c k e r . " 1 3

Eine Überführungsliste des Oberreichsanwalts beim Volksgerichtshof vom 4. N o vember 1943 an das Zuchthaus Brandenburg nennt die N a m e n von 30 Untersuchungsgefangenen, gegen die wegen Zugehörigkeit zur Europäischen Union ermittelt wurde. 14 Antje Havemann, die Ehefrau Robert Havemanns, und Enno Kind, Mitglied der Europäischen Union, konnten der Verhaftung entgehen. Beide überlebten in der Illegalität das Kriegsende in Berlin.

Die Prozesse des Volksgerichtshofs gegen die Europäische Union und ihr Umfeld Robert Havemann und viele seiner Mitkämpfer in der Europäischen Union, unter ihnen sowjetische, tschechische und französische Fremdarbeiter, wurden nach bisheriger Kenntnis in 13 getrennten Prozessen vom 1. Senat des Volksgerichtshofs in Berlin abgeurteilt. In fünf Prozessen führte Roland Freisler, Präsident des Volksgerichtshofs, den Vorsitz. O b er zusätzlich auch den Vorsitz im Prozess gegen Elli

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Robert Havemann: Lebensbericht 1933-45, a. a. Ο. BStU, M f S - H A IX/11, AS 91/67, Bd. 9, Bl. 6 f.

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Hatschek hatte, ist uns nicht bekannt, da die entsprechenden Volksgerichtshofsakten noch nicht aufgefunden wurden. Insgesamt waren 37 Personen angeklagt. Von ihnen wurden 15 EU-Angehörige zum Tode und 14 zu mehrjährigen Zuchthaus- und Gefängnisstrafen verurteilt. Mangels Beweises mussten acht Angeklagte freigesprochen werden. Der ehemalige Bremer Kriminalsekretär Walter Leydecker, der auf Vermittlung von Paul Rentsch Personalpapiere für Elisabeth von Scheven und Hertha Brasch beschafft und ausgestellt hatte, ist nicht vom Volksgerichtshof, sondern durch ein SS- und Polizeigericht verfolgt worden. Der Verbleib der Prozessunterlagen ist uns nicht bekannt. In die folgende Prozessübersicht haben wir stichwortartig biografische Angaben zu den zum Tode Verurteilten aufgenommen. 15

Robert Havemann, Georg Groscurth, Herbert Richter und Paul Rentsch Todesurteil vom 16.12.1943 unter Vorsitz von VGH-Präsident Roland Freister wegen Vorbereitung zum Hochverrat u. a. Im Urteil heißt es: „Robert Havemann, Georg Groscurth, Herbert Richter und Paul Rentsch, dekadente Intellektualisten, die sich nicht scheuten, feindhörig Auslandssender abzuhören, lebten sich in feigen Defaitismus hinein, Deutschland verliere den Krieg. Um für diesen Fall die Macht an sich zu reißen, gründeten sie eine Europäische Union', deren zur Schau getragenes Programm vor Kommunismus und angelsächsischer Scheindemokratie kriecht, damit sie von beiden später anerkannt würden. In Flugblättern beschimpften sie unseren Führer, den Nationalsozialismus und unser kämpfendes Volk. Ihr Ziel, als Regierung Deutschlands nach einer Niederlage anerkannt zu werden, suchten sie vor allem auch dadurch zu erreichen, daß sie Beziehungen zu illegalen politischen Gruppen ausländischer Arbeiter in Deutschland anknüpften und pflegten. Darüber hinaus rüttelten sie an der Sicherheit unseres Reiches dadurch, daß sie Juden falsche Papiere beschafften, die sie als deutschblütig tarnen sollten. Sie haben durch diesen ihren Defaitismus dem Kommunismus Vorschub geleistet, unseren Kampfeswillen angenagt und durch das alles in unserer Mitte unseren Kriegsfeinden geholfen."16

Robert Havemann, Physikochemiker, 11.3.1910-9.4.1982 Geboren in München, Vater Lehrer und Redakteur, Mutter Kunstmalerin; 1929 Abitur in Bielefeld, 1929-33 Chemiestudium in München und Berlin, 1932-33 Praktikant und wissenschaftlicher Assistent am Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für Physikalische Chemie; Beginn der Freundschaft mit Georg Groscurth. 1933-35 Forschungsstipendium der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft am Robert-KochKrankenhaus in Berlin-Moabit, 1935 Promotion an der Berliner Universität, 1936-37 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Gastherapeutischen Abteilung der Militärärztlichen Akademie, 1937 Assistent am Pharmakologischen Institut der Universität Berlin, Erfindung und Konstruktion von Messgeräten und analytischen Verfahren zur Blutuntersuchung; 1938 wissenschaftliche Zusammenarbeit und Freundschaft

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Die VGH-, Gestapo- und MfS-Akten recherchierten Henry Leide und Werner Theuer beim BStU, im Zwischenarchiv Dahlwitz-Hoppegarten und in der SAPMO-BArch für eine Dokumentation zur Europäischen Union im Robert-Havemann-Archiv. Da die Originalakten aus dem NS-Archiv der MfS-HA IX/11 dem Bundesarchiv übergeben werden und wegen Doppelüberlieferungen im MfS-Vorgang AS 91/67 geben wir aus Gründen der Übersichtlichkeit und wegen des leichteren Zugangs im Folgenden nur die SAPMO-Signaturen an. SAPMO-BArch NJ 1720. siehe auch Anmerkung 9.

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mit Fritz von Bergmann, gemeinsamer Forschungsauftrag für das Heereswaffenamt zu Kampfstoffnebeln. Beide waren sich einig, keine militärisch verwertbaren Ergebnisse zu liefern und sich mit dem Forschungsauftrag vor der Einberufung zur Wehrmacht zu schützen. 1943 Habilitation; 1942 Ernennung zum politischen und 1943 zum militärischen Abwehrbeauftragten des Pharmakologischen Instituts. 1932-33 Tätigkeit für die Komintern, unter anderem Beherbergung des bulgarischen Kommunisten Vasiii Taneff im März 1933, der zu den Angeklagten im Reichstagsbrandprozess gehörte, 1933-35 Mitglied der Widerstandsgruppe Neu Beginnen, Teilnahme am Treffpunkt der Nazigegner im Krankenhaus Moabit („Kunzes-Kaffee-Salon"), Beherbergung und Unterstützung Untergetauchter, Verbindungen über Eduard Hinz zur Widerstandsgruppe um Robert Uhrig, 1943 Mitbegründer und geistiger Kopf der Widerstandsgruppe Europäische Union, Hauptverfasser der Flugblätter (Deckname „Henrichs"). Verhaftet am 5.9.1943 in Berlin. 1944—45 Zuchthaus Brandenburg, mehrmaliger Aufschub des Todesurteils wegen vorgeblich kriegswichtiger Forschungsarbeit für das Oberkommando des Heeres. 1944 Ernennung Fritz von Bergmanns zum Verbindungsmann des Heereswaffenamtes, der bei offiziellen Besuchen im Zuchthaus unter anderem die Bauteile für Havemanns illegalen Radioempfänger einschmuggelt. Ab Herbst 1944 gibt Havemann täglich das illegale Nachrichtenblatt „Der Draht" mit kommentierten Rundfunkmeldungen an die politischen Mithäftlinge heraus, das besonders wichtig war für die Selbstbefreiung der Gefangenen kurz vor Übergabe des Zuchthauses an die sowjetischen Truppen am 27.4.1945. Da die politischen Gefangenen befürchten mussten, beim Rückzug der Wehrmacht von der SS ermordet zu werden, stellte Havemann zur Verteidigung der Häftlinge Reizstoffschwelkerzen und Sprengstoff aus Chemikalien her, die er offiziell für seine Forschungsarbeit bestellte.17 Mai 1945 Verwaltungsdirektor im Krankenhaus Berlin-Britz, Erkrankung an Tuberkulose als Folge der Haft, Juli 1945-48 Leiter der Kaiser-Wilhelm-Institute in Berlin-Dahlem und bis 1950 Abteilungsleiter am KWI für Physikalische Chemie und Elektrochemie, ab 1946 zugleich Professor für Kolloidchemie mit Lehrauftrag an der künftigen Humboldt Universität; 1945 Mitglied des Hauptausschusses der O d F und Mitbegründer des Kulturbundes.18 Georg Groscurth, Arzt, 27.12.1904-8.5.1944 Geboren in Unterhaun, Bezirk Kassel, Eltern Großbauern; 1923 Abitur in Arolsen, 1924—29 Medizinstudium in Marburg, Freiburg, Graz, Wien und Berlin; 1930 Promotion an der Berliner Universität, 1940 Habilitation, 1930-32 Praktikum und Assistent im Berliner Urbankrankenhaus, 1932-33 Kaiser-Wilhelm-Institut für Physikalische Chemie in Dahlem, Beginn der Freundschaft mit Robert Havemann; 1934 internistischer Assistenzarzt im Robert-Koch-Krankenhaus in Berlin-Moabit, 1939 Oberarzt der I. Inneren Abteilung, 1940 zugleich Dozent an der Berliner Universität. Zu seinen Privatpatienten gehörten ranghohe Nationalsozialisten wie Hitlers

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Walter Uhlmann: Havemann im Hitler-Zuchthaus. Die Stasi verleumdet einen Antifaschisten, in: Robert Havemann 70, a. a. O., S. 16-20; ders.: Drahtlose Nachrichten, in: ebd., S. 40-46; ders.: Blick hinter die Gitter: „Gesprengte Fesseln", in: IWK, Nr. 2/1977, S. 234-244. Zum weiteren Lebensweg: Robert Havemann: Fragen, Antworten, Fragen. Aus der Biographie eines deutschen Marxisten, München 1970 (3. Aufl. 1990), und Dieter Hoffmann et al. (Hg.): Robert Havemann - Dokumente eines Lebens, Berlin 1991.

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Stellvertreter Rudolf Heß und Staatssekretär Wilhelm Keppler. Seit den dreißiger Jahren Teilnahme am Treffpunkt der Nazigegner im Krankenhaus Moabit („Kunzes-Kaffee-Salon"), Unterstützung von Kriegsgegnern mit Wehruntauglichkeit vortäuschenden Medikamenten vor deren Musterung bzw. Einberufung, Beherbergung Untergetauchter in seiner Wohnung und im Krankenhaus; 1939 Bekanntschaft mit Franz Grüger, den er später für Kurierdienste der französischen Gruppe gewinnt, Verbindungen über Eduard Hinz zur Robert-Uhrig-Gruppe, 1942 Verbindung zu dem tschechischen Chemiker Konstantin Zadkevicz, 1943 zur sowjetischen Ärztin Galina Romanowa; beherbergte unter anderen Elisabeth von Scheven und beschaffte Papiere für das Ehepaar Michailowitsch und Frau Lindemann von Walter Caro; Mitbegründer der Widerstandsgruppe Europäische Union (Deckname „Werner"). Verhaftet am 4.9.1943 in Weißenhassel (Hessen) gemeinsam mit seiner Frau Anneliese Groscurth während eines Familienurlaubs. Seine Frau wurde nach acht Wochen Untersuchungshaft freigelassen. Georg Groscurth wurde am 8.5.1944 im Zuchthaus Brandenburg hingerichtet. Herbert Richter Architekt und Beleuchtungsexperte, 5.8.1901-8.5.1944 Geboren in Halle/Saale, Vater Kunstmaler; Mittelschule in Halle, 1916 Lehre bei dem Wiener Architekten Augustin Jirke, Gründung eines Ateliers für Innenarchitektur und Malerei mit seinem Vater, 1922-23 Architekt und künstlerischer Berater bei der UFA Berlin, 1926 Beratender Architekt der Stadt Berlin für Ausstellungen und der BEWAG für Beleuchtungstechnik, Entwicklung der lichttechnischen Anlagen für den Berliner Zoo, Arbeiten für private und öffentliche Auftraggeber, unter anderem für das Stabsamt Göring, 1942 Tätigkeit für den Reichshandwerksmeister zur Behebung von Fliegerschäden. Ab Ende der dreißiger Jahre Verbindungen zur Widerstandsgruppe um Robert Uhrig, 1939 Freundschaft mit Paul Rentsch, 1943 Beherbergung des Ehepaars Michailowitsch; Mitbegründer der Widerstandsgruppe Europäische Union (Deckname „Miller"), die bei einem Treffen in seiner Dachgeschosswohnung in der Charlottenburger Rankestraße 19 gegründet wurde. In seiner Wohnung wurden die Flugblätter vervielfältigt. Verhaftet am 5.9.1943 in seinem Wochenendhaus in Diensdorf (Kreis Beeskow) zusammen mit seiner Ehefrau Maria Richter, die am 28.9.1943 aus der Haft entlassen wurde. Herbert Richter wurde am 8.5.1944 im Zuchthaus Brandenburg hingerichtet. Paul Rentsch, Dentist, 29.9.1898-8.5.1944 Geboren in Rothenburg, Vater Redakteur, Mutter Dentistin; Mittelschule in Berlin, Lehre als Zahntechniker, 1917-18 Soldat, 1920-24 Zahntechniker in Holland, 1924 eigene Praxis als Dentist in Berlin, 1924-33 Mitglied DNVP, 1928-35 Mitglied der Druidenloge, 1934 Bekanntschaft mit Georg Groscurth, 1935 Verhör zum Aufenthaltsort seiner Schwester, die mit Wilhelm Girnus zusammengearbeitet hatte, 1939 Freundschaft mit Herbert Richter, der im selben Hause wohnte, Beherbergung und Unterstützung Untergetauchter, 1943 Mitbegründer der Widerstandsgruppe Europäische Union (Deckname „Walles"), brachte Wladimir Boisselier mit Heinz Schlag zusammen. Seine Praxis in der Rankestraße 19 diente oft als Treffpunkt der Gruppe. Durch seine Bekanntschaft mit dem Bremer Kriminalsekretär a. D. Walter Leydecker war es möglich, Personalpapiere zu beschaffen. Paul Rentsch sollte das Archiv der Europäischen Union anlegen und betreuen. Verhaftet am 5.9.1943 in seinem Wo-

„Der Beweis eines Verrats lässt sich nicht erbringen." (1999)

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chenendhaus in Diensdorf (Kreis Beeskow) zusammen mit seiner Ehefrau Margarete Rentsch und mit der Jüdin Elisabeth von Scheven, die sie zu dieser Zeit in ihrem Wochenendhaus versteckt hatten. Margarete Rentsch wurde erst nach dem Prozess gegen Havemann, Groscurth, Richter und ihren Mann im Dezember 1943 aus dem Untersuchungsgefängnis Kantstraße entlassen. Paul Rentsch wurde am 8.5.1944 im Zuchthaus Brandenburg hingerichtet.

Paul Hatscbek und dessen Tochter Krista

Lavickova

Todesurteil vom 27.3.1944 unter Vorsitz von Roland Freisler wegen Vorbereitung zum Hochverrat. Aus dem Urteil: „Paul Hatschek - ein kommunistisch gesonnener, bei seiner Intelligenz und Gewissenlosigkeit besonders gefährlicher Feind unseres nationalsozialistischen Reiches - hat noch im vierten Kriegsjahr mit den staats- und volksverräterischen Kreisen der .Europäischen Union' Verbindung gehalten und hat vor allem besonders kriegswichtige Nachrichten, die geheim bleiben mussten, gesammelt und weitergeleitet, um sie den Sowjets in die Hand zu spielen. Krista Lavickova hat im Protektorat Nachrichten gesammelt, die im Interesse unserer Landesverteidigung geheim bleiben mussten, um sie einem feindlichen Agenten zu übermitteln." 19

Paul Hatschek, Jurist, Fachmann für Optik und 11.3.1888-15.5.1944

Verstärkertechnik,

Geboren in Troppau (Mähren, CSR), Vater Hofrat; Jurastudium, 1911 Promotion in Wien; 1925 Deutschland; Autor zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen und Lehrbücher über Optik, Foto-, Film- und Verstärkertechnik; Leiter der Patentabteilung und wissenschaftlicher Berater bei der Tobis-Tonbild-Syndikat GmbH in Berlin; 1938 Verbindungen über Leopold Tomschik und Eduard Hinz zur Widerstandsgruppe um Robert Uhrig, Februar 1942 kurze Haft im Zusammenhang mit der Verhaftungswelle gegen die Uhrig-Gruppe; 1927—41 Verbindungen zum sowjetischen Nachrichtendienst, Dezember 1942 Verbindungen über Eduard Hinz zu Robert Havemann und zur Europäischen Union; Juli 1943 Verhaftung eines sowjetischen Fallschirmagenten, der unter anderem zu Hatschek Kontakt aufnehmen sollte, woraufhin die Gestapo unter dem vereinbarten Kennwort einen Agenten auf ihn ansetzte. Hatschek informierte Havemann über den vermeintlichen Verbindungsmann zur UdSSR, den sich Paul Rentsch in einem Lauftreff ansah. Ein direktes Treffen nahm die Europäische Union wegen Bedenken Richters und Havemanns nicht wahr. Verhaftet am 3.9.1943. Paul Hatschek wurde am 15.5.1944 im Zuchthaus Brandenburg hingerichtet.

Krista Lavickova, geb. Hatschek, Sekretärin, 15.12.1917-11.8.1944 Geboren in Mährisch-Ostrau, Tochter von Paul Hatschek; Realgymnasium und 1937 Reifeprüfung in Prag, arbeitete unter anderem fünf Jahre als persönliche Sekretärin des Kreiswirtschaftsberaters Otto Essler in Prag, danach bis zu ihrer Verhaftung zwei Jahre als Sekretärin bei der Prager Textilfirma Günter Redlich. Krista Lavickova wurde am 11.8.1944 im Strafgefängnis Berlin-Plötzensee hingerichtet.

19

SAPMO-BArch NJ 1087, VGH/Z-Hatschek, Paul und VGH/Z-Lavickova, Krista.

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Aufsätze 1991 bis 2006

Felix Jacob Urteil vom 28.3.1944 unter Vorsitz von Roland Freisler wegen Vorbereitung zum Hochverrat. Felix Jacob wurde zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Aus dem Urteil: „Daß Felix Jacob dem Spion Hatschek bei seinem Landesverrat geholfen hat, steht nicht fest. Wohl aber hat er sich von der intellektualistisch-kommunistischen Gruppe der Europäischen Union' im vierten Kriegsjahr einmal drei Flugblätter geben lassen, sie seiner Frau zum Lesen hingelegt und dann zurückgegeben."20 Seine Ehefrau Elisabeth Jacob und Hans Gruyters wurden mangels Beweises aus der Untersuchungshaft entlassen. Elisabeth Kind, Heinrich Niesen, Meir Broser (auch Μiron bzw. Wladimir genannt) Urteil vom 15.4.1944 unter Vorsitz von Landgerichtsdirektor Stier wegen Vorbereitung zum Hochverrat. Im Urteil heißt es, dass sich die Beteiligung der Angeklagten „an den Umsturzversuchen der ,Europäischen Union'" nur zum Teil nachweisen lasse. Elisabeth Kind wurde wegen Weitergabe eines Wehruntauglichkeit hervorrufenden Mittels und dem Abhören feindlicher Rundfunksendungen zu drei Jahren und sechs Monaten Zuchthaus verurteilt, Meir Broser zu zwei Jahren Gefängnis wegen „Hörens feindlicher Sendungen als Gast in fremden Wohnungen". Heinrich Niesen wurde mangels Beweises freigesprochen. Der Haftbefehl gegen den ursprünglich Mitangeklagten Oskar Fischer wurde im Februar 1944 mangels Beweises vom V G H aufgehoben. Er wurde am 28.2.1944 vom Zuchthaus Brandenburg an die Gestapo in Berlin überstellt.21 Kurt Müller, Ruth Stenzel, Hilde Seigewasser, Charlotte Uhrig, Charlotte Breitbach Urteil vom 17.4.1944 unter Vorsitz von Kammergerichtsrat Hans-Joachim Rehse wegen Vorbereitung zum Hochverrat. Kurt Müller wurde wegen seiner Mitarbeit in der Europäischen Union und der Unterbringung von Heinz Günter Wolff und dessen Mutter Agnes Wolff zum Tode verurteilt. Hilde Seigewasser, die Flugblätter der Europäischen Union auf Matrize geschrieben hatte, wurde zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Sie kam am 15.2.1945 im Zuchthaus Cottbus während eines Bombenangriffs ums Leben. Ruth Stenzel erhielt zwei Jahre Zuchthaus wegen des Abschreibens von Flugblattentwürfen. Charlotte Uhrig und Charlotte Breitbach wurden mangels Beweises freigesprochen, eine Art Rote Hilfe im Umfeld der Europäischen Union gegründet zu haben.22 Kurt Müller, Tischler, 2.2.1903-26.6.1944 Geboren in Berlin, Vater Viehexpedient, früh verstorben, Stiefvater Tischler; Halbbruder von Ilse Stöbe, die am 14.12.1942 wegen Kundschaftertätigkeit für die UdSSR vom V G H zum Tode verurteilt und am 22.12.1942 hingerichtet wurde. Volksschule, Tischlerlehre, 1930 KPD, 1933 kurze Haft, Schleifer in einer Kugellagerfabrik; 1942 Bekanntschaft mit Helmut Kindler, den er bat, bei der Abfassung eines Gnadenge-

20 21 22

SAPMO-BArch NJ 1087. SAPMO-BArch NJ 8525. SAPMO-BArch NJ 1713.

„Der Beweis eines Verrats lässt sich nicht erbringen." (1999)

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suchs für seine Halbschwester Ilse Stöbe behilflich zu sein. Ab dieser Zeit Verbindungen über Enno Kind und Eduard Hinz zum Kreis um Havemann und Mitglied der Europäischen Union. Versteckte Heinz Günter Wolff und dessen Mutter Agnes Wolff zunächst bei sich und ab März 1943 bei seiner Tante, Anna Stappenbeck, in Schönwalde bei Berlin-Spandau und hielt zwischen ihnen und der Europäischen Union die Verbindung aufrecht. Verhaftet am 5.9.1943 in Berlin gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Ruth Stenzel. Kurt Müller wurde am 26.6.1944 im Zuchthaus Brandenburg hingerichtet. Alexander Westermayer und Wilhelm Hartke Urteil vom 17.4.1944 unter Vorsitz von Landgerichtsdirektor Stier wegen Vorbereitung zum Hochverrat. Alexander Westermayer wurde wegen agitatorischer Mitarbeit in der Europäischen Union zum Tode verurteilt. Wilhelm Hartke erhielt drei Jahre Gefängnishaft. Robert Havemann gelang es, Wilhelm Hartke mit einer Zeugenaussage zu entlasten, sodass er lediglich wegen Nichtanzeige eines Flugblatts verurteilt wurde. Wilhelm Hartke ist der Vater von Werner Hartke, der als Präsident der Akademie der Wissenschaften der D D R maßgeblich am Akademie-Ausschluss Robert Havemanns 1965/66 beteiligt war. Der in diesem Prozess Mitangeklagte Kalkulator Walter Lehmann, geboren am 1.11.1903 in Slam, Kreis Spremberg, ist am 15.4.1944, zwei Tage vor dem Prozess, in der Haft im Zuchthaus Brandenburg verstorben.23 Alexander Westermayer, Holzbaukonstrukteur, kaufmännischer Angestellter, 29.10.1894-19.6.1944 Geboren in Goslar/Harz, Vater Architekt und Bildhauer, früh verstorben; Volksschule in Breslau, 1911-13 Zögling im katholischen Kloster Falkenburg (Niederlande), danach bei Pflegeeltern in Kattowitz, Holzbaukonstruktionslehre beim Pflegevater und Arbeit bei ihm bis 1931; 1915, 1917-18 Soldat, Mitglied Spartakusbund, Autor einiger Artikel für dessen Zeitung, 1920-33 Mitglied KAP, 1926-33 Spremberg, 1933 Berlin, ab 1939 Verkäufer in einem Tabakwarengeschäft, in dem er Herbert Richter kennen lernte, August 1943 Mitglied der Europäischen Union mit der Aufgabe, weitere Mitglieder zu gewinnen und Flugblätter weiterzugeben. Verhaftet am 9.9.1943. Alexander Westermayer wurde am 19.6.1944 im Zuchthaus Brandenburg hingerichtet. Konstantin Zadkevicz, Wladimir Boisselier, Jean Cochon, James Frichot, Nikolai Sawitsch Romanenko, Galina Romanowa, Alexander Chomlow, Peter Sosulja, Iwan Lessik, Michael Santscharowsky, Rudolf Temer und Sten Gullbring Urteil vom 27.4.1944 unter Vorsitz von Landgerichtsdirektor Stier wegen Vorbereitung zum Hochverrat. Konstantin Zadkevicz, Wladimir Boisselier, Jean Cochon, Nikolai Romanenko und Galina Romanowa wurden zum Tode verurteilt. Im Urteil heißt es unter anderem: „Konstantin Zadkevicz hat im Jahre 1943, also im vierten Kriegsjahr, unter russischen Ostarbeitern und französischen Zivilarbeitern eine reichsfeindliche Organisation ins Leben gerufen. Zugleich hat er Verbindung zu der hochverräterischen Gruppe der Europäischen Union' aufgenommen und aufrechterhalten. Wladimir Boisselier, Jean Cochon, Nikolai 23 SAPMO-BArch NJ 1721.

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Aufsätze 1991 bis 2006 Romanenko und Galina Romanowa haben dieser staatsfeindlichen Organisation als Mitglieder angehört und sich in ihr zum Teil betätigt. Hierdurch haben diese 5 Angeklagten sich der Vorbereitung zum Hochverrat und der Feindbegünstigung schuldig gemacht."

Alexander Chomlow wurde zu vier Jahren, Michael Santscharowsky zu drei Jahren, Rudolf Temer zu fünf Jahren und Iwan Lessik zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Pjotr Sosulja erhielt drei Jahre und Sten Gullbring zwei Jahre Gefängnis. James Frichot wurde mangels Beweises freigesprochen. Der mitangeklagte sowjetische technische Zeichner Alexej Romanowitsch Kalenytschenko, geboren am 12.2.1908 in Charkow, ist am 23.1.1944 in der Haft im Zuchthaus Brandenburg verstorben.24 Konstantin Zadkevicz, Chemiker, 3.8.1910-30.10.1944 Geboren in Orel, Vater Rechtsanwalt in Russland und später in Prag Sprachlehrer, Mutter Zahnärztin, 1920 Emigration nach Konstantinopel, russische und französische Elementarschule, 1921 in Prag französisches und russisches Gymnasium, 1928 Abitur, Chemie- und Physikstudium an den Universitäten Löwen (Belgien) und Prag, Finanzierung des Studiums durch Arbeit als Sprachlehrer, Handelsvertreter, Bauarbeiter, Reiseführer für Cedok in Deutschland, Italien und Frankreich; 1937 tschechische Staatsbürgerschaft, 1939 Promotion ohne mündliche Examina, weil die Prager Karls-Universität geschlossen wurde, wissenschaftliche Arbeit bei den SkodaWerken in Prag, 1940 Arbeitsdienst in Deutschland bei der Firma Heidenhain in Berlin, Juni-September 1943 Vereinigte Aluminium Werke Lautawerk in der Lausitz, danach Chemiker bei der Firma Dr. Schnabel in Berlin-Neukölln; ab 1942 Aufbau von Verbindungen zwischen illegalen Gruppen tschechischer, sowjetischer, französischer und belgischer Fremd- und Zwangsarbeiter, zu denen Wladimir Boisselier, Jean Cochon, James Frichot, Nikolai Romanenko, Alexej Kalenytschenko, Galina Romanowa, Alexander Chomlow und Rudolf Temer gehörten, 1942 Bekanntschaft mit Georg Groscurth, ab Mai 1943 gemeinsame Treffen mit Georg Groscurth, Robert Havemann, Herbert Richter und Paul Rentsch, Mitglied Europäische Union (Deckname „Invar"), September 1943 Treffen mit dem schwedischen Hotelangestellten Sten Gullbring, der eine Botschaft der sowjetischen und französischen Gruppen der E U an die sowjetische Regierung und die französische Exilregierung überbringen sollte. Verhaftet am 4.10.1943. Konstantin Zadkevicz wurde am 30.10.1944 im Zuchthaus Brandenburg hingerichtet. "Wladimir Boisselier, Elektrotechniker, 19.9.1907-30.10.1944 Geboren in Moskau, Eltern Besitzer einer Fabrik für sanitäre Anlagen, 1919 Emigration nach Frankreich, Schule in Vincennes und Nancy, 1924 kaufmännische Tätigkeit, Studium an einer technischen Fachschule, September 1939 - Januar 1940 Militärdienst in der französischen Armee, anschließend Arbeit als Techniker, Oktober 1942 im Austausch mit Kriegsgefangenen zum Arbeitsdienst nach Deutschland, Arbeit als Elektriker bei der Firma Lorenz AG in Berlin-Tempelhof; Bekanntschaft mit Konstantin Zadkevicz, über den er im April 1943 Jean Cochon und James Frichot kennen lernt, Juli 1943 Treffen mit Herbert Richter, Georg Groscurth, Paul Rentsch und 24

SAPMO-BArch NJ 1395.

,Der Beweis eines Verrats lässt sich nicht erbringen." (1999)

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Robert Havemann, Mitglied Europäische Union (Deckname „Boivin"), über Paul Rentsch Treffen mit Heinz Schlag. Verhaftet am 6.10.1943. Wladimir Boisselier wurde am 30.10.1944 im Zuchthaus Brandenburg hingerichtet. Jean Cochon, Techniker, 29.7.1916-30.10.1944 Geboren in Gensac, Departement Charente, Volksschule in Paris und zwei Jahre ficole Centrale, 1934-36 Abendkurse an einer Kunstgewerbeschule, Arbeit als Techniker in einem Laboratorium für elektrische Geräte, September 1939 - Juli 1940 Militärdienst in der französischen Armee, 1942 Arbeitsdienst in Deutschland als Elektriker bei der Firma Lorenz AG in Berlin-Tempelhof, im April 1943 Bekanntschaft mit Wladimir Boisselier und Konstantin Zadkevicz, am 25. Juli Treffen mit Herbert Richter, Georg Groscurth, Paul Rentsch und Robert Havemann, Mitglied Europäische Union (Deckname „Regor"). Verhaftet am 6.10.1943. Jean Cochon wurde am 30.10.1944 im Zuchthaus Brandenburg hingerichtet. Nikolai Sawitsch Romanenko, Techniker, 1.5.1911-10.10.1944 Geboren in Blakitnoj, Bezirk Cherson (Ukraine), Vater Bauer, Verfolgung in der UdSSR als Sohn eines Kulaken, 1937 Verurteilung zu 18 Monaten Haft, 1939 Flucht aus einem Transport in Sibirien nach Woronesch, Arbeit in einem Stahlwerk; 1941 Einberufung zum Militär, ab November in deutscher Kriegsgefangenschaft, ab Mai 1942 Zwangsarbeiter bei der Firma Schwartzkopf in Wildau bei Berlin und Lagerältester des dortigen Ostarbeiterlagers, ab April 1943 Treffen mit Konstantin Zadkevicz, den er im Mai mit der Lagerärztin Galina Romanowa bekannt machte. Verhaftet am 6.10.1943. Nikolai Sawitsch Romanenko wurde am 30.10.1944 im Zuchthaus Brandenburg hingerichtet. Galina Fedrowna Romanowa, Ärztin, 25.12.1918-3.11.1944 Geboren in Romankowo, Bezirk Dnjepropetrowsk, Vater Schmied, Mutter Landarbeiterin und Näherin, 1937 Verhaftung der Eltern durch den NKWD, Mutter nach sieben Monaten Haft entlassen, Mittelschule, dreijähriges Medizinisches Technikum und anschließendes Medizinstudium in Dnjepropetrowsk, 1942 Arztdiplom; im Juli 1942 mit über 100 sowjetischen Ärzten nach Deutschland gebracht, Lagerärztin im Ostarbeiterlager und im Lager der Franzosen und Niederländer bei der Firma Schwartzkopf in Wildau, dort Bekanntschaft mit Nikolai Romanenko und Alexej Kalenytschenko, über die sie Anfang 1943 Konstantin Zadkevicz kennen lernte, Dezember 1942 Lagerärztin bei der Firma Auer in Oranienburg, ab Mai 1943 Treffen mit Georg Groscurth, Robert Havemann und dem Kreis der Europäischen Union, brachte auch Alexander Chomlow, Pjotr Sosulja und Iwan Lessik mit Zadkevicz in Verbindung. Verhaftet am 6.10.1943. Galina Fedrowna Romanowa wurde am 3.11.1944 in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Franz Grüger Urteil vom 19.6.1944 unter Vorsitz von Roland Freisler wegen Vorbereitung zum Hochverrat. Franz Grüger wurde mangels Beweises freigesprochen.25 25

SAPMO-BArch NJ 10363.

Aufsätze 1991 bis 2006

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Eduard Hinz und Bruno Grap Urteil vom 29.7.1944 unter Vorsitz von Hans-Joachim Rehse wegen Vorbereitung zum Hochverrat. Beide waren angeklagt, am Aufbau der Europäischen Union mitgearbeitet zu haben. Eduard Hinz wurde wegen Unterlassens der Anzeige der Europäischen Union zu fünf, Bruno Grap wegen Unterstützung umstürzlerischer Umtriebe zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt.26 Heinz Schlag Urteil vom 2.8.1944 unter Vorsitz von Roland Freisler wegen Wehrkraftzersetzung. Heinz Schlag wurde zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, weil er „reichsgefährliche Beziehungen zu einem französischen Zivilarbeiter" unterhielt. Seine Mitarbeit in der Europäischen Union konnte ihm nicht nachgewiesen werden. Gegen dieses Urteil legte der Oberreichsanwalt Revision ein. Als Folge der Revision wurde Heinz Schlag Ende Dezember 1944 zum Tode verurteilt und sollte am 31.1.1945 hingerichtet werden. Wegen einer schweren Hafttuberkulose im Zuchthaus Brandenburg galt er als „nicht hinrichtungsfähig" und konnte überleben.27 Heinz Schlag, Arzt, 23.10.1908-15.9.1963 Geboren in Berlin, Volksschule und Gymnasium, Medizinstudium an der Berliner Universität, 1933 internistischer Assistenzarzt im Robert-Koch-Krankenhaus in Berlin-Moabit, 1934 Mitglied SA, 1935 Arzt, 1939 Oberarzt der II. Inneren Abteilung, Bekanntschaft mit Georg Groscurth, Teilnahme am Treffpunkt der Nazigegner im Krankenhaus Moabit („Kunzes-Kaffee-Salon"), 1943 Mitglied Europäische Union, Verbindungen zu französischen Fremd- und Zwangsarbeitern. Verhaftet am 28.9.1943 auf seiner Krankenhausstation. 1945 nach der Befreiung aus der Haft wieder Oberarzt im Krankenhaus Moabit, 1951 Chefarzt der II. Inneren Abteilung, 1956 Ärztlicher Direktor. Rene Peyriguere Urteil vom 3.10.1944 unter Vorsitz von Landgerichtsdirektor Stier wegen Vorbereitung zum Hochverrat. Rene Peyriguere wurde mangels Beweises freigesprochen.28 Helmut Kindler Urteil vom 12.10.1944 unter Vorsitz von Oberlandesgerichtsrat Iiiner wegen Vorbereitung zum Hochverrat. Helmut Kindler wurde mangels Beweises freigesprochen, in der Europäischen Union mitgearbeitet oder von ihr gewusst zu haben.29 Er wurde nach 1945 als Verleger bekannt. Elli Hatschek Todesurteil vom 4.11.1944 wegen Zersetzung der Wehrkraft. In der Urteilsbegründung wurde angeführt, dass sie an der Kriegsspionage ihres Mannes teilnahm, mit Kommunisten aus dem Kreis der Europäischen Union Umsturzvorbreitungen be-

26 27 28 29

SAPMO-BArch SAPMO-BArch SAPMO-BArch SAPMO-BArch

NJ NJ NJ NJ

1063. 14180; BStU, MfS-HA IX/11, AS 91/67, Bd. 6; siehe auch Anmerkung 7. 14180. 8526.

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sprach und dass sie in der Haft zersetzend redete. Wer den Vorsitz in diesem Prozess führte, ist uns nicht bekannt.10 Elli Hatschek, geb. Lötz, 2.7.1901-8.12.1944 Geboren in Wetzlar, zweite Ehefrau des Paul Hatschek. Sie wurde am 8.12.1944 im Strafgefängnis Berlin-Plötzensee hingerichtet. Die Europäische Union, die Historiker und das MfS Die Gründe, warum es noch keine umfassende Untersuchung und Würdigung der Widerstandsgruppe Europäische Union gibt, sind vielfältig. Der überwiegende Teil der Gestapo- und Volksgerichtshofsakten zu den Mitgliedern der Widerstandsgruppe befand sich in den nur äußerst schwer zugänglichen Staatsarchiven der D D R und im Archiv des Instituts für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Ab 1967 wurden die Materialien zur Europäischen Union im Zusammenhang mit den Recherchen des MfS gegen Robert Havemann im Archiv der MfS-Hauptabteilung IX/11 konzentriert. Damit war der vorher ohnehin schon stark eingeschränkte Zugang zu den Quellen Außenstehenden absolut verwehrt. In der D D R selbst wurde das humanitäre und politische Wirken dieser Widerstandsgruppe nur in Ubersichtsartikeln in den fünfziger Jahren knapp umrissen, wobei die Namen der ausländischen Angehörigen dieser Widerstandsgruppe in der Regel nicht genannt wurden. Die Darstellung der Europäischen Union in der Widerstandsliteratur der D D R war, solange Robert Havemann ein wichtiger Nomenklaturkader der SED war und für den Kulturbund in der Volkskammer saß, auf ihn als den Uberlebenden konzentriert. Sein Name dominiert noch immer unser Bild von der Widerstandsgruppe Europäische Union. Die Geschichte der Gruppe konnte in der D D R nach Havemanns Parteiausschluss 1964 und seinem endgültigen Berufsverbot 1965 erst recht nicht mehr geschrieben werden. Havemanns Name wurde aus der Geschichte des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus gestrichen. Er fehlte nach 1965 in den biografischen Artikeln über Groscurth, Richter und Rentsch, die gelegentlich veröffentlicht wurden. Nach dem Willen der SED-Führung sollte das Totschweigen Robert Havemanns auch über die Landesgrenzen der D D R hinausgehen, aber dies ließ sich nicht immer durchsetzen. So erschien 1982 in der UdSSR ein Buch über den antifaschistischen Widerstand mit einer Textpassage über die sowjetische Ärztin Galina Romanowa, die wegen ihrer Zugehörigkeit zur Europäischen Union in Deutschland zum Tode verurteilt und hingerichtet worden war. In dieser Publikation sind Robert Havemann, Georg Groscurth, Paul Rentsch und Herbert Richter als deutsche Angehörige der Widerstandsgruppe namentlich genannt worden. Auf eine Anfrage des K G B aus dem Jahre 1984 an das MfS nach Informationen und Dokumenten über Galina Romanowa gab die HA I X in ihrer undatierten Antwort die folgende Einschätzung mit der Empfehlung, dass Robert Havemann in Publikationen zur Europäischen Union in der UdSSR nicht erwähnt werden sollte, wie es in der D D R seit Mitte der sechziger Jahre üblich war:

30

Die Urteilsbegründung ist der WN-Todeskartei entnommen (SAPMO-BArch D Y 55/V 278/5/55, Bd. 3/1). Das Todesurteil wurde bisher nicht aufgefunden.

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Aufsätze 1991 bis 2006

„Nach der Zerschlagung der unter der Leitung des Kommunisten Robert Uhrig stehenden illegalen Berliner Widerstandsorganisation im Jahre 1942 bekamen die irrealen politischen Ansichten Havemanns über Ziel und Weg des antifaschistischen Kampfes vorübergehend verstärkten Einfluß auf den Freundeskreis, der sich im Juli 1943 zur,Europäischen Union' konstituierte. Es entstanden, nicht ohne Widerspruch einiger Mitglieder der Europäischen Union', programmatische Dokumente, darunter ein Manifest und zahlreiche Flugblätter, in denen, neben richtigen politischen Erkenntnissen und vor allem richtigen praktischen Vorschlägen für den antifaschistischen Kampf, theoretische Zielstellungen und Schlußfolgerungen subjektivistischen und sektiererischen Charakters enthalten waren, die der realen Lage und den Bedingungen des Klassenkampfes im faschistischen Deutschland und in Europa nicht entsprachen. Der als Funktionär der ,Europäischen Union' bekannte Dissident Dr. Robert Havemann lebte bis zu seinem Tode am 9.4.1982 in Grünheide bei Berlin - Hauptstadt der DDR. Im Zusammenhang mit der Würdigung des Kampfes von Galina Romanowa sollte Robert Havemann namentlich nicht genannt werden."" Die Widerstandsgruppe Europäische Union konnte angesichts dieser Lage in der D D R noch nicht einmal zum Gegenstand parteiloyaler Historiker werden. Im Westen kam die Gruppe wegen der Quellenlage nicht in den Blick der Historiker. Eine Ausnahme war das Buch eines Mithäftlings aus Brandenburg. Walter Uhlmann erinnerte an Havemanns Haft und dokumentierte 1983 die „Drahtlosen Nachrichten: D e r Draht" aus dem April 1945. 32 In der D D R wurde die Geschichte der Europäischen Union zum Material für das MfS, um Anklagepunkte gegen Robert Havemann zu finden. Die S E D tilgte seine Biografie als Widerstandskämpfer. Mit dem MfS-Vorgang AS 91/67 der H A I X / 1 1 sollte strafrechtlich oder zumindest propagandistisch gegen ihn verwendbares Material aus den Jahren der nationalsozialistischen Diktatur gesucht oder notfalls mit Zeugenaussagen konstruiert werden, um seine politische und menschliche Glaubwürdigkeit als kommunistischer Kritiker der realsozialistischen Machtausübung der S E D zu erschüttern. Das MfS ermittelte mit dem Ziel, Beweise und Möglichkeiten für eine Strafverfolgung Robert Havemanns zu schaffen. Für den beabsichtigten Rufmord oder gar für eine strafrechtliche Verfolgung Havemanns sollte das MfS zweierlei beweisen: erstens, dass seine Forschungsarbeit in der Todeszelle objektiv Hitlers Krieg unterstützte, zweitens, dass er Mitgefangene an die Gestapo verriet. MfS-Major Erich Kramer kam in der „strafrechtlichen Einschätzung des H . bezüglich begangener Nazi- und Kriegsverbrechen" vom 7.8.1968 zu einem negativen Ergebnis; wollte man ein Verfahren konstruieren, musste bewiesen werden, dass H a vemann „in Kenntnis des Verwendungszwecks seines Forschungsauftrages gehandelt hat". Negativ ist auch das Resultat im Zusammenhang mit den Verhaftungen und Verurteilungen von Mitgliedern der Widerstandsgruppe Europäische Union. Kramer schrieb: „ U m strafrechtliche Maßnahmen gegen H . einleiten zu können, wäre es erforderlich, [...] den Nachweis zu erbringen, daß H . die angegebenen Personen denunzierte und aus diesem Grund die Verfolgung und Aburteilung dieser erfolgte." 3 3 Ein knappes Jahr später, in einem Bericht der MfS-Hauptabteilung I X vom 25.6.1969,

31 32 33

BStU, H A IX/11, AS 91/67, Bd. 25, Bl. 2. Walter Uhlmann (Hg.): Sterben um zu leben. Politische Gefangene im Zuchthaus BrandenburgGörden 1933-1945, Vorwort von Hermann Weber, Köln 1983. BStU, H A IX/11, AS 91/67, Bd. 1, Bl. 47-50.

,Der Beweis eines Verrats lässt sich nicht erbringen." (1999)

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stellte Hauptmann Zank fest: „Der Beweis eines derartigen Verrats läßt sich jedoch nicht erbringen." 34 Obwohl die verantwortlichen MfS-Angehörigen immer wieder feststellen mussten, dass sich derartige Beweise weder erbringen noch konstruieren ließen, weil sie nicht der Wahrheit entsprachen, wurden solche Ermittlungen und Versuche noch jahrelang fortgeführt. Die MfS-ler werteten die Materialien aller in der DDR befindlichen Archive aus, beschafften Volksgerichtshofs- und Gestapo-Akten, stellten Anfragen an den sowjetischen und bulgarischen Geheimdienst und befragten Zeitzeugen aus dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus, aber auch ehemalige Gestapo-Angehörige. Die Ermittlungen des MfS füllen 82 Aktenbände mit einem Gesamtumfang von weit über 10.000 Blatt. Erst nach Sichtung dieser MfS-Uberlieferung ist es möglich, die Geschichte der Widerstandsgruppe Europäische Union zu schreiben und die Aktivitäten ihrer Mitglieder zu würdigen. Mit dieser Arbeit wird unausweichlich verbunden sein, die Realgeschichte der Widerstandsgruppe im „Dritten Reich" zu trennen von der Interpretation, die das MfS vornahm, als seine Ermittler das Material zusammentrugen. Im Fall der Familie Hatschek könnte auch eine Spur in Moskauer Archive führen, denn in ihrem Fall haben die MfS-Akten eine auffällige Lücke.

34

BStU, HA IX/11, AS 91/67, Bd. 45, Bl. 98.

Das Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus (2001)*

I. Das Jahr 1976 ist eine Zäsur in der Geschichte der DDR. Am 10. Juni unterzeichnen 33 Einwohner von Riesa eine Erklärung, in der sie ihr durch das KSZE-Abkommen von 1975 scheinbar verbrieftes Menschenrecht auf Ausreise einfordern. Der Erstunterzeichner der Erklärung, der Arzt Karl-Heinz Nitschke, wird verhaftet und später ohne Prozess in die Bundesrepublik abgeschoben. Am 18. August setzt der evangelische Pfarrer Oskar Brüsewitz auf dem Marktplatz in Zeitz durch seine öffentliche Selbstverbrennung ein Zeichen - eine Protestform, die buddhistische Mönche in Vietnam angesichts des eskalierenden Krieges weltweit bekannt machten. Am 13. November findet in Köln auf Einladung der IG Metall das erste öffentliche Konzert von Wolf Biermann nach zwölf Jahren des Auftrittsverbots in der DDR statt. Das Konzert nimmt das SED-Politbüro zum Anlass, um Biermann auszubürgern. Erstmals protestieren zwölf Schriftsteller in einer gemeinsamen Erklärung, die von Stephan Hermlin formuliert wird, gegen seine Ausbürgerung und bitten darum, „die beschlossenen Maßnahmen zu überdenken" 1 . Zu den Erstunterzeichnern gehören Sarah Kirsch, Christa und Gerhard Wolf, Volker Braun, Franz Fühmann, Stefan Heym, Günter Kunert, Heiner Müller, Rolf Schneider, Jurek Becker und Erich Arendt. Die Erklärung wird dem „Neuen Deutschland" und der französischen Nachrichtenagentur AFP übergeben. Das SEDZentralorgan druckt sie nicht, aber AFP verbreitet sie. In den nächsten Tagen unterzeichnen weitere Künstler und Schriftsteller in der DDR diesen Protest, unter ihnen Jürgen Fuchs und Gerulf Pannach. Am 19. November wird Jürgen Fuchs aus dem Auto von Robert Havemann heraus verhaftet, zwei Tage später trifft es den Musiker Christian Kunert, den Liedermacher Gerulf Pannach und in Jena Thomas Auerbach, Reinhard Klingenberg, Bernd Markowski und andere. Alle diese Ereignisse sind Themen in westlichen Medien; über den RIAS und den Deutschlandfunk, über ARD und ZDF wird in der DDR das Verschweigen oder die Sprachregelung der SED über diese Vorgänge durchbrochen. Die Berichterstattung der elektronischen Medien der Bundesrepublik über die Vorfälle führen zu entschiedenen Reaktionen der SED. Die Korrespondenten des Hamburger Nachrichtenmagazins „Der Spiegel", Jörg R. Mettke, und der ARD, Lothar Loewe, werden ausgewiesen. Vor diesem Hintergrund findet am 10. Dezember 1976 * 1

Zuerst erschienen in: Deutschland Archiv, Heft 2/2001, S. 277-284. Peter Roos (Hg.): Exil. Die Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR. Eine Dokumentation mit einem Vorwort von Günter Wallraff, Köln 1977, S. 118.

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in der Berliner Akademie der Künste die erste Pressekonferenz des „Schutzkomitees Freiheit und Sozialismus" statt, in der Freimut Duve, Yaak Karsunke, Robert Jungk, Otto Schily, Hannes Schwenger, Jakob Moneta und Wolf Biermann dessen Ziele erläutern. Hannes Schwenger fungiert als Sprecher des Komitees und erklärt: „Der Verband deutscher Schriftsteller (VS) in der IG Druck und Papier Berlin hat eine Patenschaft für den in der DDR inhaftierten Schriftsteller Jürgen Fuchs übernommen. Auf seine Initiative hat sich ein Schutzkomitee für die wegen ihrer Meinungsäußerung beruflich, politisch und persönlich bedrohten DDR-Bürger gebildet."2 Mit diesem ersten öffentlichen Auftreten des Komitees beginnt die MfS-Aktenüberlieferung zum O V „Kontakt". 3 Wie das Komitee entstand, welche Zufälle dabei eine Rolle spielten, das entzieht sich der Kenntnis des MfS. Der Entschluss, ein solches Komitee zu konstituieren, fiel nach der Verhaftung von Fuchs, Kunert und Pannach - ihn trafen vier Personen: Margret Frosch, Jörg R. Mettke, Hannes Schwenger und ich.

II. Die Vorgeschichte des Schutzkomitees begann privat. Im Frühsommer 1976 besuchte mich in Hamburg Margret Frosch. Heinz Brandt, der Auschwitz-Uberlebende, den das MfS 1961 aus Westberlin gekidnappt hatte, hatte ihr geraten, mich aufzusuchen, ging es doch um die Publikation erster Gedichte und Prosa von Jürgen Fuchs im Westen. Kennen gelernt hatte Frosch den damals unbekannten Autor bei Robert Havemann, über den sie mit zwei Kolleginnen einen vom W D R ausgestrahlten Dokumentarfilm gedreht hatte. Der Rowohlt Verlag erklärte sich bereit, die Texte von Fuchs für eine Publikation zu prüfen. Das erste Gedicht des jungen Autors veröffentlichte Heinz Klunker im „Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt". Aus diesem Zusammentreffen in Hamburg erwuchs eine intensive Beziehung mit Margret Frosch, erst recht, als unsere Familie im Oktober 1976 nach Berlin zog. Der erste Schritt zum Aufbau des Netzwerkes Schutzkomitee war getan, ohne dass sich die Akteure dessen bewusst waren. Der zweite Schritt erfolgte um den 10. November 1976 herum in Grünheide. Frosch und ich besuchten Havemann. Am Tisch saß Jürgen Fuchs. Wir sprachen über seine Relegation von der Universität Jena kurz vor der Diplomprüfung. Fuchs war während seines Studiums auch zur Weiterbildung von Bauleitern eingesetzt worden und hatte diese über Menschenführung unterrichtet.

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Hannes Schwenger: Das Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus in Selbstzeugnissen, Dokumenten, Briefen und im Zerrspiegel der MfS-Akten. Nachwort Jürgen Fuchs (= Sonderheft europäische ideen), London/Berlin 1995, S. 7; vgl. auch Peter Roos (Hg.): Exil, a. a. O., S. 27 ff. Im Abschlussbericht der HA X X / 5 zum Operativen Vorgang „Kontakt" vom 22.9.1983 heißt es: „Auf Initiative des .Verbands deutscher Schriftsteller in der IG Druck und Papier' Westberlin [...] konstituierte sich am 10.12.1976 auf einer von ca. 200 Journalisten besuchten Pressekonferenz in der .Akademie der Künste' Berlin ein .Schutzkomitee für beruflich, politisch und persönlich bedrohte DDR-Bürger' mit der offiziellen Bezeichnung .Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus*. Die Gründung des .Komitees', die maßgeblich von dem ehemaligen Vorsitzenden des genannten Verbandes, Dr. Schwenger, Hans Erich [...] vorbereitet und organisiert wurde, erfolgte mit der Zielstellung: [...] Druck auf die Regierung der DDR dahingehend auszuüben, daß die .politischen Häftlinge' freigelassen und Sympathisanten für Biermann sowie sogenannte Regimekritiker vor staatlichen Maßnahmen .geschützt' werden und um diesen eine .Öffentlichkeit' zu verschaffen." Des Weiteren unterstellte das MfS dem Komitee die Absicht, „in der DDR eine sogenannte Bürgerrechtsbewegung zu organisieren". BStU, Zentralarchiv MfS HA XX/Nr. 130, S. 1 f.

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Ich staunte, als ich von ihm hörte, dass die Schulungsunterlagen zu diesem Thema auf Material der „Akademie für Führungskräfte der Wirtschaft", Bad Harzburg, basierten. Langjähriger Präsident der Einrichtung war Prof. Dr. Reinhard Höhn. Er war in dem 1965 in der DDR erschienenen „Braunbuch" verzeichnet: „1935-1938 Leiter der Abteilung II/2 im SD-Hauptamt. Enger Mitarbeiter Himmlers auf staatsrechtlichem Gebiet; SS-Brigadeführer und Generalleutnant der Waffen-SS." 4 Das Buch kam rechtzeitig vor der heißen Phase des Bundestagswahlkampfes im Sommer 1965 heraus und wurde von Albert Norden auf einer internationalen Pressekonferenz vorgestellt. „Durch entsprechende Fakten sollte der Nachweis einer personellen Kontinuität des Führungspersonals der Bundesrepublik und der Nazi-Diktatur erfolgen und gleichzeitig die DDR als Motor einer aktiven Vergangenheitsaufarbeitung in das internationale Blickfeld rücken."5 Das „Braunbuch" blieb in der Bundesrepublik nicht ohne Wirkung und trug dazu bei, dass in der außerparlamentarischen Opposition (APO) der nachfolgenden Jahre die Demokratie im eigenen Land abgewertet wurde, um zugleich der SED-Diktatur wachsende antifaschistische Anerkennung zukommen zu lassen. Die Informationen über Höhn und die Harzburger Akademie kannte Fuchs nicht. Im Zusammenhang mit seiner Relegation in Jena hatte ihm die SED ein Angebot unterbreitet: Er würde zur Prüfung zugelassen, wenn er sich auf die Weiterbildung der Kader in der volkseigenen Bauindustrie beschränke und aufhöre, Gedichte zu schreiben. Politisch konzentrierte sich unser Gespräch auf die Lage der Opposition in den sozialistischen Staaten. Fuchs war besonders an der Entwicklung in Polen interessiert. In Radom und dem Warschauer Industriebezirk Ursus war es im Sommer zu Streiks der polnischen Metallarbeiter gegen die mangelhafte Lebensmittelversorgung gekommen. Die polnischen Sicherheitskräfte hatten diese Streiks rücksichtslos gebrochen, dem Entsetzen folgte die Solidarität. Nach dieser blutigen Konfrontation gründeten Schriftsteller und Intellektuelle das „Komitee zur Verteidigung der Arbeiter" (KOR). Wie wir heute wissen, war dieser Schritt der polnischen Intelligenz eine Zäsur in der Geschichte von Opposition und Widerstand gegen die kommunistischen Regime im sowjetischen Imperium. In Polen organisierten sich die Gegner des Regimes und begannen um Mitsprache zu kämpfen. In der DDR war die Lage komplizierter. Zum einen gab es in jenem Jahr sehr viele Ausreiseanträge - die Antragsteller beriefen sich auf das Abkommen von Helsinki (KSZE) - , aber auch Ansätze für die Verbindung von Oppositionellen untereinander. Ein öffentliches Indiz für diesen Vorgang war der Auftritt von Wolf Biermann in einer Kirche am Prenzlauer Berg. Seiner Mutter Emma schrieb er damals über den Nutzen einer „Roten Kirche" 6 für die Entwicklung in der DDR. Solche Vergleiche oder Informationen über die Haltung der westdeutschen Linken zur Opposition im Osten interessierten damals in Grünheide ebenso wie das bevorstehende Konzert

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Nationalrat der Nationalen Front des Demokratischen Deutschland (Hg.): Braunbuch. Kriegsund Naziverbrecher in der Bundesrepublik, Berlin (Ost) 1965, 3. Aufl. 1968, S. 352. Jochen Staadt: Die geheime Westpolitik der SED 1960-1970, Berlin 1993, S. 156. Wolf Biermann: „Es gibt ein Leben vor dem Tod", in: Jiri Pelikan/Manfred Wilke (Hg.): Menschenrechte - ein Jahrbuch zu Osteuropa, Reinbek bei Hamburg 1977, S. 369.

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von Biermann in Köln. Havemann fragte besorgt in die Runde: „ O b sie Wolf wieder einreisen lassen?" In der Untersuchungshaft in Hohenschönhausen wurde Fuchs über dieses G e spräch verhört. In den „Vernehmungsprotokollen" hat er dies festgehalten: „III: Sagen Sie uns doch einiges zur publizistischen Tätigkeit von Wilke und seinen Vorstellungen vom Prager Frühling in Prag und anderswo. [...] IV: Was wissen Sie über Heinz Brandt? III: Kennen Sie Mettke? IV: Sicherlich kennt Herr Fuchs den linken Mettke vom ,SPIEGEL' unbeliebt in Ost und West [...]. Er war ja lange genug in der D D R und öfters in Grünheide, wir können Ihnen genau sagen, wann er das Grundstück betreten hat, was gesprochen wurde usw. Wir wurden also abgehört. IV: Der Einsatz spezifischer Mittel ist notwendig, auch Grünheide ist kein exterritoriales Gebiet [...] Sie geben es also zu? IV: Stellen wir uns doch nicht naiv, ich sage Ihnen doch nichts Neues. Wir leben im Zeitalter der Technik, alles geschah und geschieht zu Ihrem Schutz." 7 Mit Jörg Rainer Mettke ist der dritte Gründer des Schutzkomitees genannt. E r war der erste „Spiegel"-Korrespondent in der D D R nach dem Grundlagenvertrag von 1972. Als wir uns im November 1976 kennen lernten, befand er sich in einer prekären Lage. O b w o h l ausgewiesen, durfte er noch einige Zeit einreisen und vermittelte weiterhin Briefe und Informationen aus Grünheide an Frosch. Öffentlich trat er in der Arbeit des Komitees nie in Erscheinung, seine Solidarität galt den Verhafteten, denen er helfen wollte. Für Anhänger der Opposition in der D D R war seine Sicht auf dieses Land oft schwer erträglich. Angesichts der bipolaren Weltordnung sah er keine Chance für grundlegende Veränderungen der diktatorischen Herrschaft der S E D , in den innerdeutschen Beziehungen plädierte er für Augenmaß, zumal er die Nutzung der DDR-Verhältnisse im Machtkampf der bundesdeutschen Parteien im Blick hatte. Ü b e r die deutschlandpolitische Konstellation und die Interessenlagen von sozialliberaler Koalition und Union schrieb er 1977: „Denn solange ein .realer' Sozialismus in der D D R ist wie er ist, wird er der rechten Opposition immer wieder als Demonstrationsobjekt höchst willkommen, ja unentbehrlich sein, um hierzulande jeden Schritt in Richtung auf einen demokratischen Sozialismus massenwirksam denunzieren zu können. Und solange beim derzeitigen wirtschaftlichen West-Ost-Gefälle der D D R ihre Bürger zu Zehntausenden abhanden kämen - würden sie nicht im Namen des Sozialismus' auf höchst widerwärtige, aber höchst wirksame Weise daran gehindert - , solange wird sich in der Tat in der Bundesrepublik, anders als bei den anderen Westeuropäern, nur sehr mühsam popularisieren lassen, was den Namen .Sozialismus' zu Recht trüge. Die C D U / C S U weiß das. Die SED-Führung weiß es auch. Die SPD muß es wissen."8 Der Besuch in Grünheide im November schuf für Frosch und mich die emotionale Voraussetzung, um ein solches Komitee nach der Verhaftung von Fuchs und den

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Jürgen Fuchs: Vernehmungsprotokolle November '76 bis September '77, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 46 f. Jörg R. Mettke: „Versuch mal, aus einem Schweizer Käse die Löcher r a u s z u n e h m e n ! A n merkungen zur D D R zwischen Entspannung und Abgrenzung, in: Jiri Pelikan/Manfred Wilke (Hg.): Menschenrechte, a. a. O., S. 355.

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anderen schnell zu gründen. Mit Fuchs war ein Schriftsteller verhaftet worden, eine Solidaritätskampagne für ihn und die anderen musste seine Berufskollegen mit einbeziehen, sollte sie öffentliche Wirkung haben. Es fügte sich, dass zu diesem Zeitpunkt Schwenger Vorsitzender des Landesbezirks Berlin des Verbandes Deutscher Schriftsteller (VS) in der IG Druck und Papier war. Wir kannten uns flüchtig aus gemeinsamer gewerkschaftlicher Arbeit, und angesprochen auf das Vorhaben war er sofort bereit, ein solches Komitee mitzugründen und es mit dem VS Westberlin zu assoziieren. Damit hatten sich die vier Gründer gefunden, die nun initiativ wurden.

III. Nach seiner Ausbürgerung wurde Biermann nicht nur in der Bundesrepublik zu einem Medienereignis. Die Publizität, die er auf sich zog, ermöglichte der SED und ihrem Sicherheitsapparat, in der D D R planmäßig gegen Jugendliche und gegen nicht so bekannte Unterzeichner der Protestresolution der Schriftsteller vorzugehen. Verhaftungen, Entlassungen, Vorladungen zu Verhören, Parteirügen bzw. Ausschlüsse aus der SED und Berufsverbote wurden dabei aus- und abgewogen eingesetzt. Vor allem in der Provinz rechneten SED und MfS damit, dass sie ihre „Säuberungsarbeit" weitgehend ohne westliche Beobachtung und Kritik durchführen konnten. Der Vernehmer V zu Fuchs in Hohenschönhausen: „Wir brauchen ein Exempel. Diese NachBiermann-Generation, zu der auch ich gehöre, braucht einen Denkzettel. Leider fällt das Los auf Sie." 9 Diese Rechnung zu durchkreuzen war eine der Absichten der Initiatoren des Komitees. Im Mittelpunkt stand die Hilfe für die Bedrängten und Verhafteten. Zunächst galt es, die Öffentlichkeit auf die Vorgänge aufmerksam zu machen. Dies geschah bereits durch den Brief vom November 1976, in dem Schwenger als Vorsitzender des VS Berlin um Unterstützung für das zu gründende Komitee warb. Um seinen Namen aus heutiger Sicht zu verstehen, ist es notwendig, sich zweierlei vor Augen zu halten. Erstens: Das Komitee sollte eines der Linken sein. Zweitens: C D U und C S U hatten mit ihrem Kanzlerkandidaten Helmut Kohl gerade einen Bundestagswahlkampf unter dem Motto „Freiheit statt Sozialismus" geführt, den sie am 3. Oktober 1976 knapp gegen die von Helmut Schmidt geführte sozialliberale Koalition verloren. Mit dem Briefkopf des Berliner VS als Kontaktadresse warb Hannes Schwenger um Unterstützung für das Komitee. Wie bereits zitiert, sind in diesem Brief Ziel und Intention unseres Vorhabens präzise beschrieben: „ D i e Schutzabsicht dieser Initiative schließt jede propagandistischen oder in anderer Weise Interessen Dritter verpflichteten Aktivitäten aus. Sie versteht sich in Einklang mit den Beschlüssen von Helsinki und der Menschenrechtsdeklaration der Vereinten N a t i o nen." 1 0

Der Brief war ein Erfolg. Ende Mai 1977 hatten sich über 200 korrespondierende Mitglieder dem Schutzkomitee angeschlossen, darunter die Schriftsteller Günter Grass, der Philosoph Ernst Bloch und die Wissenschaftler Theo Pirker, Ossip K.

9 Jürgen Fuchs: Vernehmungsprotokolle, a. a. O., S. 81. 10 Hannes Schwenger: Das Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus in Selbstzeugnissen, Dokumenten, Briefen und im Zerrspiegel der MfS-Akten, a. a. O., S. 3.

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Flechtheim, Sven Papcke und Ernest Mandel. 11 In zahlreichen Gesprächen wurden Informationen über die Inhaftierten gesammelt, und auf allen Ebenen versuchten wir das L o s der Verhafteten zu erleichtern und sie frei zu bekommen. Die Arbeit vollzog sich im Stillen und führte im September 1977 zu einem wichtigen Erfolg. Das Schutzkomitee konnte seinen Mitgliedern mitteilen: „Elf unserer Freunde und Genossen aus der D D R sind frei, ihre Angehörigen auf dem Weg zu uns oder schon hier: Thomas Auerbach, Jürgen Fuchs, Kerstin Graf, Wolfgang Hinkeldey, Marian Kirstein, Christian Kunert, Gerd Lehmann, Bernd Markowski, Walfred Meier, Gerulf Pannach und Michael Sallmann. Weitere werden noch erwartet."12 Es gehörte zu den Regeln des innerdeutschen Häftlingsfreikaufs, dass die westlichen Anwälte die Freigekauften ermahnten, über ihre Hafterlebnisse Stillschweigen zu wahren. Fuchs, Kunert und Pannach ignorierten die Aufforderung durch ihre Presseerklärung, die sie unmittelbar nach ihrer Ankunft in Westberlin abgaben: „Wir sind nicht freiwillig nach Westberlin gekommen. [...] Da wir weder bereit waren, unsere künstlerischen Arbeiten zu widerrufen und als ,Hetze im verschärften Falle' zu begreifen noch Gemeinheiten gegenüber unseren engsten Freunden zu begünstigen, wurde uns eine Haftstrafe bis zu zehn Jahren nachdrücklich versprochen. Wir sind froh, nicht mehr im Untersuchungsgefängnis zu sein und wir danken allen in Ost und West, die sich mit uns solidarisierten." Ihre Sorge und Solidarität galten Havemann und Rudolf Bahro. Die Erklärung endete programmatisch: „Wohin treibt unser Land? Und wer treibt es wohin? Dabei gibt es doch zu den Absichten der Staatssicherheit nur eine Alternative: Eine menschenfreundliche, fortschrittliche sozialistische Gesellschaft, in der jeder Mensch atmen kann, kein Polizeistaat, der seine Bürger bespitzelt, einsperrt, ausbürgert oder aus ihrem eigenen Lande drängt."13 Diese Presseerklärung hob jedoch die Spannungen und das unbegründete Misstrauen der Freigekommenen über einen MfS-Spitzel in ihrer Mitte nicht auf. In dieser Situation kam Heinz Brandt nach Berlin, um aus der Lebenserfahrung eines alten Häftlings den Schock der Entlassung und der Abschiebung in den Westen mit den Beteiligten zu besprechen. Er lobte den Schritt in die Öffentlichkeit mit den Worten: „Wer nach seiner Haft noch so eine Presseerklärung formuliert, den haben sie nicht gebrochen."

IV. D a s MfS hat das Schutzkomitee als Verein aufgefasst. In der Tat gab es 1978 Überlegungen, einen „Verein zur Förderung des Schutzkomitees Freiheit und Sozialismus" zu gründen. 14 Im Zusammenhang mit diesen Plänen zog der Rechtsanwalt Otto Schily in gutem Glauben einen Kollegen aus seiner Kanzlei heran, der uns künftig

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Vgl. Manfred Wilke: Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus, in: Jiri Pelikan/ders. (Hg.): Menschenrechte, a. a. O., S. 373. Ebd., S. 375. Hannes Schwenger: Das Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus in Selbstzeugnissen, Dokumenten, Briefen und im Zerrspiegel der MfS-Akten, a. a. O., S. 37. Vgl. ebd., S. 48.

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beriet. Doch als IM „Christoph" war er Hauptagent der Staatssicherheit beim Komitee.15 Deutsche Vereine haben Vorsitzende; nach den Erkenntnissen des MfS besaß das Komitee zwei, bis zum 24. Juni 1978 war dies Schwenger, danach kam ich." Diese Wahrnehmung des Komitees im Abschlussbericht des MfS beruhte zu einem großen Teil auf den ausführlichen Berichten von IM „Christoph". Sie entsprach aber auch der zentralistisch-hierarchischen Denkweise des MfS. In Wirklichkeit war das Schutzkomitee niemals ein Verein, es gab zum Beispiel nie eine Versammlung aller korrespondierenden Mitglieder - was auch schwerlich möglich gewesen wäre um Vorstandswahlen durchzuführen. Das MfS suchte stets nach „Steuerungsinstanzen" und „Einflusszentren" für „feindliche Aktivitäten". Das Komitee war ein Netzwerk menschlicher Beziehungen, es verfolgte ein klar definiertes Ziel, an das sich die Initiatoren hielten. Die Unterzeichner des Aufrufs akzeptierten, dass Schwenger als Sprecher des Komitees fungierte, und wir nutzten das uns entgegengebrachte Vertrauen nicht aus. Wir unternahmen keine Versuche, das Komitee für politische Zwecke zu instrumentalisieren. Ein Ziel wurde allerdings bereits durch seine Gründung erreicht: In der westdeutschen Linken kam es zu Diskussionen über ihre Haltung zur Opposition in den Ländern des „realen Sozialismus". Unser Schritt beeinflusste somit die intellektuellen Debatten in der Bundesrepublik, an denen sich die Initiatoren als Personen beteiligten. Einige Beispiele sollen diese Wechselwirkungen illustrieren. Margret Frosch hatte im Frühjahr 1976 eine Auswahl von Texten von Jürgen Fuchs dem Rowohlt Verlag zur Publikation angeboten. Die Prüfung dauerte, aber nach der Verhaftung von Fuchs, Kunert und Pannach entschloss sich Freimut Duve, Mitglied des Komitees und Herausgeber der damals sehr populären Reihe „rororo-aktuell", die ihm vorliegenden Texte von Fuchs, Pannach und Kunert zu publizieren.17 Das Wichtigste daran war zu zeigen: Es gibt ihn, den Schriftsteller Jürgen Fuchs. Bis zu diesem Zeitpunkt leugneten die Offiziellen der D D R , dass in Hohenschönhausen ein Autor inhaftiert war. Die Nachricht über seine erste Buchveröffentlichung erreichte den Autor in der MfS-Untersuchungshaftanstalt: „Im Rowohlt Verlag ist ein Buch von Ihnen erschienen [...]. Immerhin, es liegt ein Buch vor, das ist schon etwas. Ich weiß nicht, was andere in diesen heiligen Hallen schon zu Ihnen gesagt haben, für mich sind Sie ein Literat, das muß gesagt werden, auch wenn es schwer fällt."18 Im Frühjahr 1977 wurde Adam Michnik in Polen verhaftet und schrieb aus dem Gefängnis einen offenen Brief, in dem er „an die Menschen der demokratischen Linken in Deutschland", gemeint war selbstredend die Bundesrepublik, im „Spiegel" appellierte: „Erhebt Eure Stimme zu unserem Schutz." Michnik begründete seinen Appell mit der Behauptung, dass Polen und ganz Europa an einem Scheideweg stünden. Entweder die Zukunft gehöre den auf demokratischen Normen gegründeten Gesellschaftsordnungen „oder ihr Name wird Totalitarismus sein - der Tod solcher Werte

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Ebd. Vgl. Abschlussbericht der H A X X / 5 zum Operativen Vorgang „Kontakt", a. a. O., S. 65 ff. Jürgen Fuchs: Gedächtnisprotokolle mit Liedern von Gerulf Pannach und einem Vorwort von Wolf Biermann, Reinbek bei Hamburg 1977. Jürgen Fuchs: Vernehmungsprotokolle, a. a. O., S. 80.

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der europäischen Kultur wie Humanismus, Wahrheit, Freiheit und Autorität"". Selbstbewusst sah sich Michnik als deren Verteidiger und war bereit, für sie ins Gefängnis zu gehen. Im Schutzkomitee wurde dieser Brief diskutiert und die Frage aufgeworfen, ob man ihn nicht beantworten müsste. Wir taten es, aber nicht im Namen des Komitees. Schwenger schrieb am 15. Juni 1977 an die Mitglieder: „Angesichts der begrenzten Zielsetzung des Komitees (DDR-Bürger) erschien es uns nicht angebracht, in Sachen Adam Michnik als Komitee tätig zu werden. Wir haben uns entschlossen, beiliegenden offenen Brief an Adam Michnik zu schicken. Der Entwurf wurde von Peter Schneider und Manfred Wilke angefertigt."20 Der Brief erschien am 18. Juli 1977 im „Spiegel" und war unterzeichnet unter anderem von Heinrich Boll, Wolf Biermann, Heinz Brandt, Freimut Duve, Ossip K. Flechtheim, Otto Schily, Heinrich Albertz und Carl Amery: „Wir hoffen, es ermutigt Sie zu hören, daß ein immer größer werdender Teil der westeuropäischen Linken jener Logik nicht mehr gehorcht, der zufolge ein Unrecht, das im eigenen Land als politische Unterdrückung bekämpft wird, in einem sozialistischen Land einen schmeichelhaften Namen verdienen soll." Der Brief endete mit der Versicherung: „Wir werden nicht aufhören, nach ihrem Schicksal und dem ihrer Mitgefangenen zu fragen, bis Sie wieder frei sind." 21 Im gewissen Sinne war dieser Briefwechsel der Prolog für die „polnische Teilung" des Verbandes deutscher Schriftsteller, die sich in der Bundesrepublik im Zusammenhang mit der Verhängung des Kriegsrechtes in Polen 1981 und dem Verbot des polnischen Schriftstellerverbandes vollziehen sollte. Im August 1983 wurde der polnische Schriftstellerverband aufgelöst. Das PEN-Zentrum der Bundesrepublik und der VS einigten sich auf einen Protest gegen das Verbot. Gemeinsam wollten sie mit einem Brief an Armeegeneral Wojciech Jaruzelski auf seine Rücknahme drängen. Das von Bernt Engelmann, dem Vorsitzenden des VS, unterzeichnete Schreiben forderte für die „polnischen Kollegen die umgehende Wiederzulassung eines Schriftstellerverbandes" 22 - dessen Gründung in Polen bereits vorbereitet wurde. Engelmann hatte in dem Protestschreiben nur ein Wort verändert: Den bestimmten Artikel in der Forderung nach Wiederzulassung hatte er in einen unbestimmten Artikel, „eines Verbandes", verwandelt. 23

19 Jiri Pelikan/Manfred Wilke (Hg.): Menschenrechte, a. a. O., S. 469 ff. 20 Hannes Schwenger: Die polnische Teilung des Verbandes deutscher Schriftsteller (VS) in Selbstzeugnissen, Dokumenten, Briefen und im Zerrspiegel der MfS (unter Mitarbeit von Martin Jander), Arbeitspapier Nr. 30 des Forschungsverbundes SED-Staat, Berlin 1999, S. 9. 21 Ebd., S. 10. 22 Ebd., S. 27. 23 Jürgen Fuchs reagierte mit einem offenen Brief an den Vorsitzenden des VS und setzte sich mit dem politischen Gehalt dieser Wortverschiebung auseinander: „Das könnte auch ein durchweg parteigelenkter sein, der dann durchaus ,die Interessen der polnischen Literatur vertritt', aber selbstverständlich, wer von den Apparatleuten hätte denn da Formulierungsschwierigkeiten! In Briefen und persönlichen Stellungnahmen erläuterten sie dann ,unter uns': Der (verbotene) Vorstand des polnischen Verbandes scheint wirklich alles getan zu haben, um die Auflösung zu provozieren, einschließlich des nicht mehr zu übersehenden Zusammenspiels mit ,Radio Free Europe'. Das ist Kalter Krieg, Bernt Engelmann, das denunziert - wieder ohne Namen wie kürzlich Stephan Hermlin, der von .Kriminellen' sprach und DDR-Schriftsteller im Westen meinte

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Am 6. November 1983 gaben 50 Mitglieder des VS, unter ihnen Günter Grass, Siegfried Lenz, Peter Schneider, Jürgen Fuchs und Hannes Schwenger, eine Erklärung ab, in der sie Bernt Engelmann in seiner Funktion als Vorsitzender des VS das Vertrauen entzogen. Sie warfen ihm vor, „Kollegen Zensuren zu erteilen und Denkverbote auszusprechen". Ausdrücklich stellten sie fest: "Der VS ist keine Gesinnungsgemeinschaft, sondern eine gewerkschaftliche Interessenvertretung. Es verstößt gegen die elementaren Interessen der Schriftsteller, wenn unabdingbare Voraussetzungen ihrer Arbeit wie das Recht auf freie Meinungsäußerung, unzensierte Publikationen und Selbstorganisation einer dubiosen Realpolitik geopfert werden.""

Engelmann trat zurück, aber durch diese Auseinandersetzungen verlor der VS an politisch-moralischem Gewicht in der Öffentlichkeit. Ganz persönlich erlebten Fuchs, Pannach und Kunert die Schutzfunktion des Komitees nach ihrer Ankunft im Westen. Wiederum nicht im Auftrag, sondern als Ausdruck der eigenen Solidarität bot Frosch Pannach und Kunert eine erste Unterkunft. Fuchs konnte in die Wohnung eines Nachbarn ziehen, um die „Vernehmungsprotokolle" zu schreiben. Für ihn war unmittelbar nach seiner Abschiebung das offene, vertrauensvolle Reden eine psychische Notwendigkeit. Zwischen ihm und mir wurde das unterbrochene Gespräch aus Grünheide fortgesetzt. Diesmal betraf es das Erlebnis der Haft. Eruptiv und emotional sprach Jürgen über den von ihm erlebten Missbrauch seiner Wissenschaft durch das MfS. Nach seinem Verständnis sollte die Psychologie Störungen der menschlichen Seele erkennen und den betroffenen Menschen mit ihren Erkenntnissen helfen. In Hohenschönhausen war er mit einem anderen Gebrauch dieser Wissenschaft konfrontiert worden: „Es gibt eine schwarze Psychologie, eine, die ihre Erkenntnisse einsetzt, um Menschen systematisch in ihrer Individualität zu brechen. Es ist Folter, die keine sichtbaren Spuren mehr hinterläßt. Es ist eine Waffe, die in der Hand einer diktatorischen Macht ebenso bedrohlich ist wie die Atombombe."

Den Begriff „Zersetzung" kannten wir beide noch nicht, aber die Sache selbst hatte Jürgen bereits damals aufgrund eigener Erfahrung erfasst und verstanden. Die „schwarze Psychologie" war kein Monopol des MfS. In den Erinnerungen von Uberlebenden der Schauprozesse gegen kommunistische Kader Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre finden sich Hinweise auf den geheimdienstlichen Missbrauch psychologischer Erkenntnisse, um ihre Opfer individuell zu brechen und für die Prozessregie gefügig zu machen. So erlebte es der Prager Germanist Eduard Goldstücker, der als Kommunist der jungen tschechoslowakischen Volksrepublik in Israel und Schweden als Gesandter diente. Aus Stockholm zurückbeordert, wurde er in Prag verhaftet und in einem Schauprozess im Mai 1953 als „jüdisch-bürgerlicher Nationalist" zu lebenslanger Haft verurteilt. Auf die Frage von Antonin J. Liehm, warum die Angeklagten der Schauprozesse der fünfziger Jahre Verbrechen gestanden, die sie nicht begangen hatten, antwortete Goldstücker, die Geständnisse seien durch den gezielten Einsatz psychologischer Erkenntnisse durch die „Organe" zu-

- unsere polnischen Kollegen, die es wirklich schwer genug haben in dieser Kriegsrechtszeit, da Polen in einen normalisierten Kasernenhof verwandelt werden soll." Ebd., S. 49. 24 Ebd., S. 52.

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stände gekommen. Zielgerichtet wurde das Wissen des Angeklagten von seiner eigenen Schuldlosigkeit konfrontiert mit dem „Gehorsam gegenüber der Autorität der Partei". Nachdem diese Bewusstseinsspaltung in den mit physischer und psychischer Gewalt durchgeführten Verhören erreicht war, war die Widerstandskraft des ausersehenen Opfers gebrochen. In Bezug auf die Psychologie, erinnert sich Goldstücker, entwickelten sich die Dinge so, „daß die Sicherheitsorgane zu jener Zeit die einzige Stelle waren, in der innerhalb unserer Gesellschaft systematisch Psychologie gepflegt wurde. Sie hatten also eigentlich ein Monopol auf die Psychologie." 25 Ein weiteres Thema zwischen Fuchs und mir blieb die Solidarität mit Havemann, der mit seiner Familie noch immer unter Hausarrest stand. Mit Duve war verabredet, einen Sammelband mit Beiträgen zur Person von Havemann bei Rowohlt herauszubringen. Erste Texte lagen bereits vor, als Fuchs mich darüber informierte, dass es für ein solches Buch eine andere Möglichkeit gebe. Anfang 1978 bestand die Chance, dem in Grünheide Abgeriegelten einen Brief zukommen zu lassen. Wir beide entschieden, Havemann vorzuschlagen, einen Interviewband aus dem Hausarrest zu veröffentlichen. Knapp 150 von mir formulierte Fragen zu seinem Leben und seiner Weltsicht erreichten ihn, auf die gestützt er seine Antworten diktierte. Eine präzise Beschreibung der Bedingungen dieses Hausarrestes gab dem Text seine besondere Authentizität. Aus den Tonbändern entstand ein Buch, das 1978 auf der Frankfurter Buchmesse für Furore sorgte und maßgeblich dazu beitrug, dass der Hausarrest im Mai 1979 aufgehoben wurde. 26 Die Solidarität mit Rudolf Bahro war die letzte Aktion, die seitens des Schutzkomitees auf den Weg gebracht wurde, bevor das Komitee am 24. Oktober 1979 den korrespondierenden Mitgliedern mitteilte, „unser Komitee bis auf weiteres ,ruhen' zu lassen"27. V. Welche historische Bedeutung kommt dem Schutzkomitee zu? Unbestritten ist seine Leistung in Bezug auf die nach der Biermann-Ausbürgerung inhaftierten „Namenlosen", deren Namen es sammelte und im Westen publizierte. Im Selbstverständnis der Akteure beruhte ihr Einsatz in diesem Komitee politisch auf einer Illusion. „Solidarität von links mit DDR-Häftlingen, das ist neu"28, äußerte der Vernehmer V. gegenüber Fuchs in Hohenschönhausen. Damit traf er im Kern unser illusionäres Selbstverständnis. Wir wollten einen demokratischen Sozialismus in West und Ost

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Antonin J. Liehm: Gespräche an der Moldau, Wien/München/Zürich 1968, S. 251. Vgl. Robert Havemann: Ein deutscher Kommunist. Rückblicke und Perspektiven aus der Isolation, hrsg. von Manfred Wilke mit einem Nachwort von Lucio Lombardo Radice, Reinbek bei Hamburg 1978. Der von Margret Frosch unterschriebene Brief erläutert die Gründe: „Bereits mit der Freilassung Rudolf Bahros war das in unserem Komitee vereinbarte Ende unserer Arbeit erreicht. Als ad-hoc-Komitee zum Schutze der im Zusammenhang mit Wolf Biermanns Ausbürgerung gefährdeten DDR-Bürger hatten wir begonnen und sahen uns bald in die Rolle einer Institution gedrängt, die zu einer Art Gesellschaft für Menschenrechte' von links hätte werden können. Das entsprach aber nicht unseren ursprünglichen Absichten." - Hannes Schwenger: Das Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus in Selbstzeugnissen, Dokumenten, Briefen und im Zerrspiegel der MfS-Akten, a. a. O., S. 56. Jürgen Fuchs: Vernehmungsprotokolle, a. a. O., S. 80.

Das Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus (2001)

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und wir wollten die Blocklogik in der internationalen Solidarität überwinden, die für den Großteil der westdeutschen Linken charakteristisch war und blieb. Gegen die Ausbürgerung von Biermann protestierten französische und italienische Kommunisten, und im Zentralorgan der KP Spaniens war zu lesen, dass „derlei Praktiken einer sozialistischen Regierung, welche auch immer das sei, im Inneren ihres Landes einen gegenteiligen Effekt [haben] und dazu angetan [sind], die Zustimmung zum System zu verringern und zu reduzieren" 29 . Das Gefühl, dass Europa nach den Ostverträgen der sozialliberalen Koalition und der Konferenz von Helsinki am „Scheideweg" stand, teilten wir mit Michnik. Die Veränderungsprozesse, die sich anbahnten, führten 1989/90 zu anderen Resultaten, als wir dies damals erwarteten, und hier war Michnik genauer in seiner Prognose. Mit der Gründung des Schutzkomitees Freiheit und Sozialismus und seiner öffentlichen Resonanz mischten wir uns ein in unsere eigenen Angelegenheiten im geteilten Land. Wir überwanden in einer Freiheitsfrage die innerdeutsche Blocklogik, und somit gehört dieses Komitee in die Vorgeschichte des Herbstes 1989. Darin liegt seine historische Bedeutung.

29 Zit. nach: Peter Roos (Hg.): Exil, a. a. O., S. 139.

Die Etablierung der „neuen Klasse" und Stalins Tod (2003)*

1. Stalins Verdienst Am Abend des 6. März 1953 trat das Zentralkomitee der SED zu einer Trauersitzung anlässlich des Todes von Jossif W. Stalin zusammen. In dem Beileidstelegramm an das Zentralkomitee der KPdSU wurden nicht nur die Verdienste des Verstorbenen für die „Arbeiterklasse Deutschlands" und das deutsche Volk gewürdigt, sondern vor allem die Rolle, die ihm beim Aufbau der DDR zukam: „Im Kampf u m den Aufbau einer neuen demokratischen Ordnung, u m die Errichtung der volksdemokratischen Grundlagen der Staatsmacht und die Schaffung der Grundlagen des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik waren und sind Rat und Hilfe J. W. Stalins die sicherste Basis der Erfolge. Die Festigung und Stärkung der Deutschen Demokratischen Republik, deren Bildung einen Wendepunkt in der Geschichte Europas bedeutete, begründen sich auf die weisen Lehren Stalins." 1

Die Sprache, mit der die Verdienste des großen Toten um die Herrschaft der neuen Klasse in der D D R gepriesen werden, ist unterwürfig. Da ist zum einen die Staatsgründung 1949, die Stalin selbst als Wendepunkt in der Geschichte Europas in seinem Glückwunschtelegramm zu diesem Ereignis hervorhob, und die Tatsache, dass er den Berliner Genossen 1952 erlaubte, die „Grundlagen des Sozialismus" in ihrem Staat zu errichten. Erst nach Öffnung der Archive der SED wurde der Brief bekannt, den das Politbüro am 2. Juli 1952 an J. W. Stalin richtete und mit dem seine Erlaubnis eingeholt wurde, diesen Schritt zu tun. Es sind drei Fragen, die ihm vorgelegt wurden. 1. Die Einschätzung der Entwicklung der SED, 2. der Charakter der „Adenauer-Regierung" und 3. „welches Entwicklungsstadium haben wir in der D D R erreicht?"2. Die Frage nach dem Charakter der SED war ebenso bedeutsam wie die nach der Einschätzung des erreichten Entwicklungsstadiums in der D D R - hervorgehoben wird der Anteil der verstaatlichten Industrie und der kollektivierten Landwirtschaft an der volkswirtschaftlichen Leistungsbilanz. Existenziell war die Frage nach der dauerhaften Existenz der DDR. Garantiert die Sowjetunion ihr Fortbestehen trotz der

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Zuerst erschienen in: Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit (Hg.): 17. Juni 1953. Der Aufstand für die Demokratie, München 2003, S. 75-84. Trauersitzung des Zentralkomitees, in: ZK der SED (Hg.): Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Bd. IV, Berlin (Ost) 1954, S. 298. Brief des Politbüros an J. W. Stalin, in: Günter Bensen Als der Aufbau des Sozialismus verkündet wurde, Berlin 2002, S. 57.

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Aufsätze 1991 bis 2006

offenen deutschen Frage? Entscheidend war, ob die KPdSU der SED zutraute, die DDR zu führen. Deshalb bezog sich die erste Frage auf das Profil der Partei: „Die SED hat sich zu einer marxistisch-leninistischen Partei entwickelt. Vor der Partei steht die geschichtliche Aufgabe, die Arbeiterklasse und die Werktätigen auf dem Wege des Aufbaus des Sozialismus vorwärts zu führen, eine Aufgabe, in der sich die SED als marxistisch-leninistische Partei, als Vorhut des deutschen Volkes bewähren muss."3 Die Partei, deren Politbüro diese Frage Stalin als der höchsten Autorität der kommunistischen Weltbewegung vorlegte, war im Selbstverständnis des Politbüros der SED vor allem der zentrale Parteiapparat. Er bildete den Kern der Machthierarchie der SED. „Dazu gehörten Anfang der fünfziger Jahre fast 2.000 zentrale Kader der SED und eine entsprechend große Zahl von Funktionären in Bezirks-, Kreis- und Ortssekretariaten, ebenso Redakteure, Propagandisten usw." 4 Geführt wurde dieser Apparat vom Politbüro und ZK-Sekretariat, beide Gremien wurden vom Generalsekretär bzw. Ersten Sekretär geleitet. „Diese beiden Gremien - in Folge von Doppelfunktionen insgesamt knapp 30 Personen stellten das eigentliche Machtzentrum in der DDR dar, dessen Befugnisse sich in der ,Kompetenz-Kompetenz' (Entscheidungsbefugnis über die Zuständigkeiten) und in der ,Personalkompetenz' (Befugnis über die Besetzung von Spitzenämtern in Partei, Staat und Gesellschaft) konzentrierten."5 Zum ideologischen Selbstverständnis einer marxistisch-leninistischen Partei gehörten 1952 und später ihr Führungsanspruch gegenüber dem Staatsapparat und der Gesellschaft. Dies bedeutete, dass die SED, wie ihr Vorbild KPdSU, zugleich Kader- und Massenpartei war. Der Führungsanspruch der Partei wurde ideologisch mit dem Endziel Kommunismus begründet und daraus abgeleitet. Nur die MarxistenLeninisten verfügten über die wissenschaftliche Einsicht in den Gang der Geschichte, mit der wiederum die jenseits aller Kritik beanspruchte „führende Rolle" zur historischen Notwendigkeit wurde, um den Sozialismus aufzubauen. Die Struktur- und Leitungsprinzipien des „demokratischen Zentralismus" bestimmten Organisation, innerparteiliche Willensbildung und den zentralistischen Führungsstil von oben nach unten. Um den einheitlichen Willen der Parteiführung im Staatsapparat und in der Gesellschaft umzusetzen, galten für die Kader und Mitglieder unbedingte Parteidisziplin und das Fraktionsverbot innerhalb ihrer Reihen. In Bezug auf die SED, die ja aus der erzwungenen Fusion von KPD und SPD hervorgegangen war, kam ein weiterer Gesichtspunkt hinzu: War der SED die Tilgung des sozialdemokratischen Erbes nach sechs Jahren schon gelungen? Dies galt, zumal die SPD in der Bundesrepublik ihre hegemoniale Stellung gegenüber den Kommunisten bei Wahlen zu diesem Zeitpunkt bereits durchgesetzt hatte und jeden Kontakt zur SED ablehnte. Welche Bedeutung die Uberwindung des „Sozialdemokratismus" für die SED besaß, lässt sich am besten am Beispiel der 4. Schlussfolgerung aus dem „Kurzen Lehrgang" der

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Ebd. Hermann Weber: Geschichte der DDR, aktualisierte und erweiterte Neuausgabe, München 1999, S. 151. Thomas Ammer: Die Machthierarchie der SED, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", Baden-Baden 1995, Bd. II, 2, S. 831.

Die Etablierung der „neuen Klasse" und Stalins Tod (2003)

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Geschichte der K P d S U illustrieren, der damals zum Pflichtprogramm der SED-Parteischulung zählte: „Die Geschichte unserer Partei ist die Geschichte der Bekämpfung und Zerschlagung der kleinbürgerlichen Parteien - Sozialrevolutionäre, Menschewiki, Anarchisten, Nationalisten. Ohne Überwindung dieser Parteien und ihre Vertreibung aus den Reihen der Arbeiterklasse wäre es unmöglich gewesen, die Einheit der Arbeiterklasse zu erreichen, ohne die Einheit der Arbeiterklasse aber wäre es unmöglich gewesen, den Sieg der proletarischen Revolution zu verwirklichen."6 O b die S E D 1952 all diesen Maßstäben genügte, das zu prüfen, war nun Stalin aufgegeben. Erst vier Tage vor der II. Parteikonferenz der S E D antwortete Moskau. A m 8. Juli 1952 stimmte das Zentralkomitee der K P d S U dem Kurs auf den beschleunigten Aufbau des Sozialismus in der D D R zu. 7 Diese Zustimmung zur Absicht der S E D , mit der Proklamation des Aufbaus der Grundlagen des Sozialismus die D D R als eines der volksdemokratischen Länder offen als Teil des sowjetischen Imperiums zu erklären, fiel der Moskauer Führung umso leichter, als die Westmächte Stalins Angebot in seiner Märznote, Deutschland auf Basis freier Wahlen wieder zu vereinen und als neutrale Mitte in eine europäische Friedensordnung zu integrieren, abgelehnt hatten. Wilfried L o t h hat die bruchstückhafte Uberlieferung der sowjetischen Reaktion auf das Scheitern ihrer deutschlandpolitischen Offensive 1952 zusammengefasst. Die westliche Antwortnote kam am 25. März, am 1. April fand im Kreml ein Treffen zwischen Wilhelm Pieck und Stalin statt. Pieck teilte Stalin mit, der SPD-Vorstand werde den SED-Vorschlag zur Bildung einer „Aktionseinheit für den Friedensvertrag" zwischen beiden Parteien wahrscheinlich ablehnen und der Westintegration der Bundesrepublik zustimmen. In der Abschlussbesprechung am 7. April notierte Pieck Stalins Bewertung der westlichen Antwortnote mit den Worten „bisher alle Vorschläge abgelehnt [ . . . ] " und weiter: „Keine Kompromisse/[...] Atlantikpakt - selbstständiger Staat im Westen". Stalin widersprach nicht der Linie der S E D , nun verstärkt zum „Sturz" der Bonner Regierung aufzurufen. „Einheit - Friedensvertrag - weiter agitieren", notierte Pieck abschließend. 8 D e m Vorsitzenden der italienischen Sozialisten Pietro Nenni gegenüber vertrat Stalin am 17. Juli die Ansicht, „er ,gehe nunmehr davon aus, dass die Teilung Deutschlands noch etliche Zeit andauern werde'. Der italienische Sozialistenführer gewann bei dem Gespräch den Eindruck, dass er die Hoffnung auf eine erfolgreiche Viermächtekonferenz, auf der Deutschland durch ein Ubereinkommen geeint werde, abgeschrieben habe."' Die Westeinbindung der Bundesrepublik beinhaltete den Aufbau westdeutscher Streitkräfte. In der Logik der Blockkonfrontation des Kalten Krieges zog Stalin die Konsequenz für die D D R :

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Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewicki). Kurzer Lehrgang, unter Redaktion einer Kommission des Zentralkomitees der KPdSU (B), gebilligt vom ZK der KPdSU (B), 1938, Berlin (Ost) 1949, S. 485. Vgl. Andreas Malycha: Die SED. Geschichte ihrer Stalinisierung 1946-1953, Paderborn/ München/Wien/Zürich 2000, S. 461. Wilfried Loth: Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die D D R nicht wollte, Berlin 1994, S. 185. Ebd., S. 186.

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Aufsätze 1991 bis 2006 „Als Pieck am 1. April vorsichtig .Schritte zur Bildung der Volksarmee statt Polizei' ansprach [...], ordnete Stalin gleich eine umfassende Bewaffnung an: ,Nicht Schritte, sondern sofort'. Sodann entwickelte er auch schon Einzelheiten: ,9-10 Armeekorps 30 Divis[ionen] - 300.000 [Mann]/Ausbildung in SU/Jugenddienst' usw. In der Schlussbesprechung vom 7. April präzisierte er nicht nur ,militärische Ausbildung für Inffantrie], Marine, Aviation, Unterseeboote', sondern drängte auch auf schnelles Vorgehen: ,Bewaffnung muss geschaffen werden, sofort russische Gewehre mit Patronen.' Als Begründung für diese Eile gab er an, die Demarkationslinie' sei eine gefährliche Grenze': ,Wir müssen mit terroristischen Akten rechnen.' [...] Wichtiger noch für die weitere Entwicklung wurde, dass Stalin, als Pieck von ,steigende[n] Aktivitäten des Feindes' berichtete und dabei insbesondere ,Großbauern' und ,Kirche' erwähnte, den Rat gab, um [die] Großbauern einzukreisen [...] auch Produktiv-Genossenschaften im Dorfe ,zu schaffen' und im Zusammenhang mit diesen,Kolchosen' zum ersten Mal ,vom Weg zum Sozialismus' sprach."10

Zu den vielen Versprechungen, die die S E D brach, gehörte auch das Gelöbnis gegenüber der K P d S U , „der siegreichen Lehre J. W. Stalins stets die Treue [zu] wahren." 11 Bereits drei Jahre später nach dem X X . Parteitag erklärte Ulbricht, dass Stalin kein Klassiker sei, nach dem X X I I . Parteitag 1961 wurde sein Denkmal in Ostberlin über Nacht abgerissen und Stalin-Stadt in „Eisenhüttenstadt" umbenannt. Sein N a m e wurde aus den Geschichtsbüchern weitgehend getilgt. Schließlich brach die S E D P D S auf ihrem außerordentlichen Parteitag im Dezember 1989 unwiderruflich mit dem „Stalinismus". 50 Jahre nach dem Ereignis ist es geboten, an Stalins Rolle bei diesem Schritt der S E D zu erinnern.

2. Der endgültige Machtantritt der „neuen Klasse" in der D D R U m die Überhöhung der II. Parteikonferenz von 1952 in der SED-Selbstlegitimation zu erklären, ist es hilfreich, sich der Analyse der „neuen Klasse" von Milovan Djilas zu erinnern. Sein Buch erschien 1957 in den U S A und danach wurde der Autor in Jugoslawien abermals vor Gericht gestellt und am 5. Oktober 1957, wie Alfred Kantorowicz in der Einleitung zu seiner deutschen Ausgabe schreibt, „wegen der in seinem Buch enthaltenen .Verleumdung und feindseliger Propaganda' gegen das jugoslawische Regierungssystem verurteilt und für weitere sieben Jahre hinter Zuchthausmauern verbannt. Dort trägt der Häftling Milovan Djilas die Gefangenennummer 6880. Es ist verlässlich berichtet worden, dass die Studenten der jugoslawischen Universitäten diese Zahl zu einem Kennwort von Symbolkraft gemacht haben, einander damit bei Begegnungen grüßen, sie an Wände und Mauern malen, sie in Kleidungsstücke einsticken."12 Die Biografie des Autors gehört auch in diesem Fall zur Wirkungsgeschichte des Werkes. E s ist das Buch eines Renegaten. Djilas war ab 1940 Mitglied der Führung

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Ebd., S. 186 f. Zum Komplex sowjetische Deutschlandpolitik und Remilitarisierung der D D R vgl. Gerhard Wettig: Bereitschaft zu Einheit in Freiheit? Die sowjetische Deutschlandpolitik 1945-1955, München 1999. Trauersitzung des Zentralkomitees, in: Z K der SED (Hg.): Dokumente der SED, Bd. IV, a. a. O., S. 298. Alfred Kantorowicz: Einführung, in: Milovan Djilas: Die neue Klasse. Eine Analyse des kommunistischen Systems, München 1958, S. 8.

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der jugoslawischen Kommunisten und am siegreichen Partisanenkrieg gegen die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg und der damit verbundenen Eroberung der Macht beteiligt. Er hat mit Stalin über die jugoslawisch-sowjetische Zusammenarbeit nach dem Krieg 1945 verhandelt. In seinen Erinnerungen an diese Gespräche hielt er Stalins Grundauffassung von der Systemgrenze fest, die Europa nach dem Sieg der Anti-Hitler-Koalition teilen sollte: „Dieser Krieg ist nicht wie in der Vergangenheit; wer immer ein Gebiet besetzt, er legt ihm auch sein eigenes gesellschaftliches System auf. Jeder führt sein eigenes System ein, soweit seine A r m e e vordringen kann. Es kann gar nicht anders sein." 1 3

Djilas hat die Selbstbehauptung der jugoslawischen Kommunisten im Konflikt mit Stalin 1948 mitorganisiert. Nach dem Tod des sowjetischen Despoten forderte er 1953 die Revision der Politik der eigenen Partei. Sein Ausschluss aus dem Bund der Kommunisten Jugoslawiens und Haft waren die Antwort von Josip B. Tito. Dieser Rechenschaftsbericht entstand somit im Gefängnis. Mit ihm beantwortete sich der Autor selbst und der Öffentlichkeit die Frage: Wofür habe ich als Kommunist gekämpft? Es ist ein existenzielles Buch, mit dem er seinen Bruch mit dem Kommunismus besiegelte und zugleich eine schlüssige und unwiderlegbare soziologische Analyse der Strukturen kommunistischer Herrschaft lieferte. Sein Ansatz wurde in den sechziger Jahren in Polen und der Tschechoslowakei von intellektuellen Renegaten und Reformkommunisten aufgegriffen. Schon der Prager Frühling der tschechoslowakischen Reformkommunisten 1968 lief im Kern auf die Beschneidung der totalitären Macht des Parteiapparates hinaus. Als 1987 der Generalsekretär der KPdSU Michail S. Gorbatschow diesen Versuch in der Sowjetunion unternahm, zerbrach die kommunistische Herrschaftsstruktur und bestätigte somit Djilas' Analyse in der gesellschaftlichen Praxis. Eingangs erinnert der Autor an die utopischen Proklamationen der kommunistischen Partei vor der Revolution von der klassenlosen Gesellschaft, der Abschaffung des Staates, der Beendigung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, die zu sozialer Gerechtigkeit und damit zur Freiheit der arbeitenden Klassen nach der siegreichen Revolution führen sollte. Aber es ging ihm nicht um eine ideologische Kritik an der Utopie von Gleichheit und Brüderlichkeit, sein Thema war die Diskrepanz zwischen den Heilsversprechungen einer politischen Religion und der Praxis kommunistischer Machtausübung. Er konzentriert sich auf die Parteien der Länder, die ihre Macht einer originären Revolution verdanken: die KPdSU, die KP Jugoslawiens und Chinas. Den europäischen Satellitenstaaten der Sowjetunion wurde das kommunistische System von außen und somit „durch fremde Bajonette und einen ausländischen Machtapparat" 14 aufgezwungen. In diesen Ländern kopierten die kommunistischen Parteien das sowjetische Modell. Djilas benennt exakt das Legitimationsdefizit der SED-Führung, die ihre Machtpositionen nur als Exekutor der sowjetischen Besatzungsherrschaft in Deutschland erringen konnte.' 5 Schon bei der Staatsgründung 1949, als die UdSSR der SBZ

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Milovan Djilas: Gespräche mit Stalin, Frankfurt am Main 1962, S. 146. Ebd., S. 31. Vgl. Manfred Wilke (Hg.): Anatomie der Parteizentrale. Die KPD/SED auf dem Weg zur Macht, Berlin 1998.

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„Staatsqualität zubilligte" 16 , hatte die SED gehofft, die Moskauer Zentrale würde ihr eigenständige Entscheidungsbefugnisse gewähren, aber wie Gerhard Wettig zutreffend festhält, wurden der DDR-Regierung „nur administrative Kompetenzen - also allein das Recht zu ausführendem Handeln - übertragen". 17 Nachdem Stalin den Moskauer Kadern in der SED erlaubte, den Aufbau des Sozialismus zu verkünden, wurde dieser Schritt nun vollzogen. Die von Stalin erlaubte Proklamation des Aufbaus des Sozialismus war im Selbstverständnis der SED-Führung nun die Stunde der eigenen Revolution und auf sie laufen alle Maßnahmen hinaus, die von der II. Parteikonferenz beschlossen werden. Nach Djilas unterscheidet sich die kommunistische Revolution von ihren bürgerlichen Vorgängern in Europa dadurch, dass in der Vergangenheit die neuen sozialen Schichten bereits vorhanden waren, die in einer begrenzten Phase ihres Kampfes um die Macht bereit waren, Gewalt und Terror anzuwenden, um das Ancien Regime zu stürzen. Die kommunistischen Revolutionäre dagegen verstanden sich als Avantgarde, die berufen sei, eine neue Gesellschaft nach ihrem Bild zu schaffen und sie gegen das Widerstreben ganzer Bevölkerungsschichten durchzusetzen. Damit wird der Terror zur Vorbedingung für die Sicherung der Macht der Partei und Garant für die weitere Entwicklung ihres Sozialismus, der in der Sowjetunion, in Jugoslawien und in China zunächst Industrialisierung des Landes und die Kollektivierung der Landwirtschaft bedeutete. Nach dem Sieg wurden aus Revolutionären totalitäre Bürokraten und in diesem Rollenwechsel sieht Djilas eine der Ursachen für die „Säuberung" der nachrevolutionären Parteien von denjenigen Kommunisten, die an der Illusion der Utopie festhielten und die sich weigerten zu sehen, um was es wirklich in der kommunistischen Revolution ging: um eine neue Form des gesellschaftlichen Besitzes und die Entstehung „einer neuen herrschenden und ausbeuterischen Klasse"' 8 . Der Kern dieser neuen Klasse sei die „politische Bürokratie", die sich aus den früheren Berufsrevolutionären rekrutierte und die nunmehr über das administrative Monopol in der Gesellschaft verfügte. Es sei die Partei, die durch ihre Machtergreifung die neue Klasse schafft, die als Parteiapparat auftritt und dadurch auch den Charakter der Partei verändert. Die Monopolpartei habe vornehmlich die Aufgabe, durch eine zentralisierte Personalpolitik mit ihren Funktionären alle Schlüsselpositionen in der staatlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Verwaltung zu besetzen, die Mitglieder der Partei werden zu Nutznießern der Macht und Kontrolleuren der Gesellschaft. Das verstaatlichte Eigentum werde somit zum „Besitzprivileg" der neuen Klasse, sie habe die alleinige Verfügungsmacht über das Nationaleinkommen und treffe die Entscheidungen über die wirtschaftliche Entwicklung. Mit dieser These widerspricht Djilas ausdrücklich der Position von Leo Trotzki, der in den dreißiger Jahren in der despotischen Herrschaft der von Jossif W. Stalin geführten Parteibürokratie in der Sowjetunion nur eine Entartung der Partei erblickte, die durch eine politische Revolution gegen den Parteiapparat korrigiert und damit erneuert werden müsse. Gleichwohl basiert das Bild der regierenden kommunistischen Partei, das Djilas zeichnet, auf einer These von Trotzki über die Wandlung der KPdSU. Trotzki schrieb 1936: „Die ehemalige kommunistische Partei ist heute nicht die Vorhut des Proleta-

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Gerhard Wettig: Bereitschaft zu Einheit in Freiheit?, a. a. O., S. 175. Ebd. A . a . 0 . , S . 59.

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riats, sondern politische Organisation der Bürokratie." 19 Djilas sieht in der administrativen Verfügung über das Kollektiveigentum das wesentliche Merkmal der neuen Klasse, die in ihrem Zugang nach unten offen ist für den Kadernachwuchs. Aber ihre Spitze wurde immer exklusiver. Der Aufstieg in die neue Klasse verlangte vom Nachwuchs Durchsetzungsvermögen, Schläue in den innerparteilichen Kämpfen, Ergebenheit und Loyalität. Im Selbstverständnis der neuen Klasse verletzte jede Gefährdung ihrer totalitären Macht ihren kollektiven Besitz. Der Schutz des sozialistischen Eigentums rechtfertigte somit jeden Kampf gegen die Forderung nach Freiheit in diesen Gesellschaften, in denen Macht und Besitz sich in derselben Hand befanden. Nachdem aber die neue Klasse die Industrialisierung in der Sowjetunion, China und Jugoslawien durchgesetzt hatte, musste sie die weitere Dynamik gesellschaftlicher Veränderung fürchten. Die neue Klasse konzentrierte sich nunmehr ausschließlich auf die Stärkung ihrer Macht. Die Propaganda vom sozialistischen Ziel der Partei wurde zur offenen Lüge. Auf die Ideologie, den Marxismus-Leninismus, konnte die Parteiführung nicht verzichten, garantierte sie doch die Einheit der Partei. Die Ideologie war die geistige Basis ihrer Diktatur. Djilas zog die Analogie zu „der alten östlichen Despotie". „Wie in ihr" interpretieren und verkünden die obersten Gremien das Dogma, „während der Kaiser der Erzpriester ist" 20 . Ebenso blieb die Partei für das Funktionieren des kommunistischen Staates unerlässlich, organisiert sich doch in ihr die neue Klasse. Die Partei bestimmte die Regierung, verfügte über den Kollektivbesitz, die Kultur, die Medien und die planmäßigen Veränderungen der Gesellschaft. Der Staat blieb in Theorie und Praxis für die Kommunisten ein Problem. Der Staat konnte nicht ausschließlich Werkzeug der Unterdrückung sein, sondern war zugleich Organisator von Wirtschaft und Gesellschaft und Repräsentant des Landes in der internationalen Politik. Unverkennbar war der Kult, den kommunistische Staaten mit der militärischen Macht trieben. Militär und Staatssicherheitsdienst waren die Institutionen, die die Existenz und die Stärke der neuen Klasse sichern und garantieren sollten. Ebenso wenig wie der totalitäre Machtanspruch der neuen Klasse die Entwicklung eines Rechtsstaates zuließ, konnte die neue Klasse sich ideologisch von dem Marxismus-Leninismus und dem kommunistischen Endziel lösen, rechtfertigte der Aufbau des Kommunismus doch weiterhin ihre totalitäre Herrschaft, diagnostizierte Djilas 1957. 3. Machtsicherung auf Widerruf In ihrem Brief an Stalin thematisierte die SED auch den provisorischen Charakter der beiden deutschen Staaten mit Blick auf die Interessenlage der sowjetischen Deutschlandpolitik. Die „Adenauer-Regierung" wird als eine „Vasallenregierung der USA" charakterisiert und es wird behauptet, dass die Entwicklung der D D R zur Volksdemokratie eine mobilisierende Wirkung auf die Arbeiterklasse in Westdeutschland haben wird. Aber die Voraussetzung hierfür sind der Aufbau des Sozialismus in der D D R und ihre „Sicherung", nur diese Maßnahmen schafften die Voraussetzungen für den Sturz der „Adenauer-Regierung", den die SED propagierte. Erklärtes Ziel der II. Parteikonferenz der S E D war es, die Überlegenheit des Sozialismus auf deutschem Boden in der D D R vorbildlich zu demonstrieren. Diesem Plan widersprach

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Leo Trotzki: Die verratene Revolution, Zürich 1957, S. 136. A . a . 0 . , S . 111.

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die innerdeutsche Realität, in der Bundesrepublik nahm der wirtschaftliche Aufstieg Gestalt an, während Versorgungsmängel und die erste große Fluchtwelle die DDR in eine Krise führten, mit der sich die sowjetische Führung nach Stalins Tod im Frühjahr 1953 befassen musste. Die SED hatte sie bereits zum Jahreswechsel 1952/53 um Hilfe gebeten. Der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission Heinrich Rau hatte in einer umfänglichen Analyse vor der Uberforderung der Leistungsfähigkeit der DDRWirtschaft gewarnt, die durch die Uberbetonung der Schwerindustrie wie des ausgedehnten Maschinenbaus hervorgerufen wird. Beide Branchen wurden verstärkt mit Ressourcen versorgt, um die sowjetischen Reparationsinteressen und die beginnende Aufrüstung zu bedienen. Ein erster Schritt der sowjetischen Regierung auf Bitten der DDR erfolgte im April, als der DDR sowjetische Hilfe in Aussicht gestellt wurde. Zum gleichen Zeitpunkt analysierten in Moskau das Außen- und das Innenministerium die Lage in der DDR und am 14. Mai beriet das Präsidium des Ministerrates der UdSSR die DDR-Fragen. „Alle Beteiligten waren sich darüber einig, dass die forcierte Sozialisierungspolitik des Regimes destabilisierend wirke und dem .Kampf u m die Vereinigung Deutschlands auf friedliebender und demokratischer Grundlage' schade. Ulbricht galt, ohne ausdrücklich genannt zu werden, als Hauptexponent des situationsverschärfenden Kurses. Man kam überein, dass er die Kollektivierung der ostdeutschen Landwirtschaft nicht weiter voran treiben solle. Die Kritik wurde deutlicher, als sich die Mitglieder der sowjetischen Führung am 20. Mai erneut mit der D D R befassten. Dabei kamen sie u. a. auf den Personenkult zu sprechen, den der SED-Generalsekretär anlässlich seines bevorstehenden 60. Geburtstages veranlasst hatte. Er wurde aufgefordert, auf Pomp zu verzichten und in bescheidenem Rahmen zu feiern." 21

Es ist an dieser Stelle wichtig zu unterstreichen, dass die sowjetische Führung, ihrer Verantwortung als Siegermacht des Zweiten Weltkrieges für Deutschland bewusst, erneut die Frage diskutierte, ob man die DDR überhaupt brauche. In der Debatte um die Vorlage des sowjetischen Außenministeriums zur Deutschlandpolitik im Präsidium des sowjetischen Ministerrates am 27. Mai wurde dies deutlich ausgesprochen. Laut den Erinnerungen von Andrej Gromyko, die er 1989 publizierte, als die DDR noch existierte, vertrat Innenminister Lawrentij Berija die Ansicht: „Die DDR? Was ist sie wert, die DDR? Sie ist ja noch nicht einmal ein richtiger Staat. Sie wird nur durch sowjetische Truppen am Leben erhalten, selbst wenn wir sie mit Deutscher Demokratischer Republik betiteln." 22 Die von Gromyko zitierte Replik von Wjatscheslaw Molotow unterstreicht die Bedeutung von Stalins Zustimmung vom Juli 1952, in der DDR die Grundlagen des Sozialismus aufzubauen: „Wir alle waren schockiert ob dieser politischen Unverfrorenheit und der Tatsache, dass er so abschätzig und mit grinsendem Gesicht von einem sozialistischen Land reden konnte. Die ernste Zurechtweisung kam von Molotow. Mit fester Stimme sagte er: ,Die Demokratische Republik steht der Bundesrepublik in nichts nach. Ich verwahre mich aufs Schärfste gegen eine derartige Haltung gegenüber einem befreundeten Land. Es hat das Recht auf Existenz als unabhängiger Staat.'"23

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Gerhard Wettig: Bereitschaft zu Einheit in Freiheit, a. a. O., S. 243. Andrej Gromyko: Erinnerungen. Internationale Ausgabe, Düsseldorf/Wien/New York 1989, S. 441. Ebd.

Die Etablierung der „neuen Klasse" und Stalins Tod (2003)

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Das Ergebnis der Beratungen war der „neue Kurs", den die sowjetische Führung einer kleinen Delegation des SED-Politbüros in Moskau präsentierte; sie bestand aus dem Generalsekretär Walter Ulbricht, dem Ministerpräsidenten Otto Grotewohl und dem verantwortlichen Sekretär für Propaganda des ZK und Politbüromitglied Fred Oelßner. An dieser Stelle sollen abschließend einige Passagen aus den Aufzeichnungen von Grotewohl über die Gespräche mit der sowjetischen Führung zitiert werden, die sich auf die Bewertung der II. Parteikonferenz beziehen und die deutlich machen, dass es zu diesem Zeitpunkt um die Kurskorrektur einer „Bruderpartei" ging. „Der SED-Delegation trat eine geschlossen agierende ,kollektive Führung' gegenüber. Dass im Kreml der Machtkampf keinesfalls entschieden war, spielte in der deutschen Frage offenbar keine Rolle. Die Kritik an der SED und die verhaltene Selbstkritik an der Führung der KPdSU, mit anderen Worten an Stalin, wurde anscheinend mit sorgsam verteilten Rollen vorgetragen - so der Eindruck von Grotewohl in seinen spärlichen Notizen. Hierarchisch angemessen eröffnete Ministerpräsident Malenkow die Diskussion mit der Feststellung, dass der Ausgangspunkt der gemeinsamen Überlegungen eine neue Politik in ihrer Besatzungszone sein müsse: ,Alles muss ausgehen von der Änderung der Verhältnisse in der DDR'. Auch Berija beschwichtigte, nicht ohne Selbstkritik zu üben: ,Wir alle haben den Fehler mit gemacht; keine Vorwürfe'. Molotow griff diesen Gedanken auf und zielte auf die von Moskau gewünschte Wirkung der geplanten neuen Politik auf West-Deutschland, als er sagte: ,So viele Fehler darum so korrigieren, dass ganz Deutschland] es sieht'."24 Die Kurskorrektur sollte die DDR stabilisieren, aber das Eingeständnis von SED und KPdSU, mit dem Beschluss der II. Parteikonferenz einen „Fehler" gemacht zu haben, führte zum Gegenteil, es kam zu einer unplanmäßigen Einmischung der Staatsbürger der DDR am 16./17. Juni in ihre eigenen Angelegenheiten. Es war die erste „Entstalinisierungskrise", sie fand ausgerechnet in der DDR statt. Djilas schrieb sein Buch nach dem XX. Parteitag der KPdSU und seiner Verurteilung Stalins, nach dem polnischen Oktober und der ungarischen Revolution 1956. Er sah in der Entstalinisierung eine gravierende Veränderung der ideellen Grundlagen des sowjetischen Kommunismus. Nach seiner Überzeugung gaben mit diesem Schritt die sowjetischen Kommunisten ihrer eigenen ideellen Grundlage einen „Todesstoß". War doch die Praxis der Machtausübung auf das Dogma der Unfehlbarkeit aufgebaut. Waren aber die Mittel, die Stalin anwandte, verwerflich, mussten sie Zweifel am Ziel selbst wecken. Dieser Zusammenhang zwischen Zweck und Mittel in der Politik der neuen Klasse verschob die öffentliche Wahrnehmung ihrer Politik: weg vom Ziel. Die schreckliche Wirklichkeit ihrer Mittel wurde „immer offensichtlicher und unerträglicher" 25 . Der moderne Kommunismus als Form totalitärer Herrschaft stützte sich auf die repressive staatliche Macht, den Kollektivbesitz und die Ideologie; diese Faktoren bildeten das Monopol der kommunistischen Partei, in der sich die neue Klasse organisierte. Damit unterschied sich der Kommunismus auch von anderen totalitären Regimen, von denen es keinem gelungen war, „gleichzeitig alle diese Faktoren zur Herrschaft über das Volk bis zu diesem Grad in sich zu vereinigen" 26 . Aber, so fährt Djilas fort,

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Manfred Wilke/Tobias Voigt: „Neuer Kurs" und 17. Juni - Die zweite Staatsgründung der D D R 1953, in: Andras B. Hegedüs/Manfred Wilke (Hg.): Satelliten nach Stalins Tod, Berlin 2000, S. 45. Milovan Djilas: Die neue Klasse, a. a. O., S. 222. Ebd., S. 226.

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„ich glaube, dass die Macht die Haupteigenschaft des Kommunismus bleiben wird" 27 . In den Eigeninteressen der regierenden neuen Klasse der einzelnen kommunistischen Länder liegen für Djilas die Wurzeln für ihre Konflikte untereinander und die Herausbildung des „Nationalkommunismus". Er richtete sich im Kern gegen den sowjetischen Hegemonialanspruch und etablierte sich als Begriff im Konflikt zwischen den jugoslawischen und sowjetischen Kommunisten 1948. Nach Stalins Tod und der Entstalinisierung durch die KPdSU regten sich nationalkommunistische Bestrebungen auch in den durch den Sieg der sowjetischen Armee im Zweiten Weltkrieg gegründeten kommunistischen Regimen in Osteuropa. Selbst die SED beharrte zunächst vorsichtig auf der Eigenständigkeit der DDR, die seitens der Sowjetunion international zu garantieren war. Der „Nationalkommunismus" erlaubte der regierenden neuen Klasse auch eine Politik der Integration gegenüber der eigenen Gesellschaft. Für Djilas bedrohte diese Entwicklung den Kommunismus selbst: „An den kommunistischen Parteien, die nicht an der Macht sind, wird es klar, dass der Nationalkommunismus trotz seiner Absicht, den Kommunismus voranzutreiben und sein Wesen zu stärken, das Ketzertum ist, das den ganzen Kommunismus unterminiert. Nationalkommunismus ist ein Widerspruch in sich. Dem Wesen nach ist er dasselbe wie der Sowjetkommunismus, aber er hat das Bestreben, sich in nationaler Hinsicht zu etwas Selbstständigem zu entwickeln. In Wirklichkeit ist der Nationalkommunismus bereits Kommunismus im Verfall." 28

Der Nationalkommunismus nimmt nach Djilas' Analyse in jedem Land eine besondere Form an und dies galt natürlich auch für die DDR. Die SED musste ihren Sozialismus in einem geteilten Land aufbauen, sie konnte sich somit nicht auf die Nation ihres Staates beziehen. Welche existenzbedrohende Kraft die nationale Frage für die neue Klasse hatte, war ihr am 17. Juni 1953 vor Augen geführt worden. Bei allem Streben nach Eigenständigkeit, das ihr Stalin 1952 gewährte, bedurfte die SED der sowjetischen Existenzgarantie nach außen und innen. Ihrem „Sozialismus" in einem Drittel des Landes fehlte die nationale Basis, die die DDR von Polen und den anderen „Bruderstaaten" unterschied.

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Ebd., S. 237. Ebd., S. 255.

Die Etablierung einer Okkupationspartei. Ergebnisse des Projektes zu Struktur, Funktion und Entwicklung des zentralen Parteiapparates der KPD/SED (2003 zusammen mit Michael Kubina)*

Der Parteiapparat - das erste zentrale Projekt des Forschungsverbundes SED-Staat D e r Forschungsverbund SED-Staat entstand 1992. Sein Ziel w a r es v o n Anfang an, Geschichte und Struktur dieser totalitären Herrschaft zu untersuchen. Somit lag es nahe, sich dem Machtzentrum der Diktatur, der Führung der SED und ihrem zentralen Parteiapparat, zuzuwenden. Der Antrag f ü r das Forschungsvorhaben w u r d e 1992 konzipiert und sah in der ursprünglichen Fassung eine Längsschnittanalyse f ü r die Zeit v o n 1945 bis 1989/90 vor, wie sie zu dieser Zeit f ü r die gerade untergegangene D D R populär war. Durch die Berufung von Manfred Wilke, einem der Leiter des Forschungsverbundes und Antragsteller f ü r das Projekt bei der VolkswagenStiftung sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur „Aufarbeitung v o n Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" in der 12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages - , w u r d e diese Absicht zur Erarbeitung einer Längsschnittanalyse noch verstärkt. Mitarbeiter des Forschungsverbundes waren mit Expertisen, die verschiedene Aspekte der Tätigkeit des zentralen Parteiapparates während des gesamten Zeitraums seiner Existenz zum Gegenstand hatten, an der Arbeit der Kommission beteiligt. 1

* 1

Zuerst erschienen in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat, Heft 13/2003, S. 3-30. Die Protokolle der Sitzungen, Zeitzeugenbefragungen, Expertisen etc. beider Kommissionen sind veröffentlicht und inzwischen zu einem Standardwerk und zu einer Fundgrube für die historische Forschung zum ostdeutschen Teilstaat avanciert: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", 12. Wahlperiode, hrsg. vom Deutschen Bundestag, 9 Bde., Baden-Baden/Frankfurt am Main 1995. Von den Mitarbeitern des Forschungsverbundes sind vor allem folgende Beiträge zu nennen: Martin G. Goerner/Michael Kubina: Die Phasen der Kirchenpolitik der SED und die sich darauf beziehenden Grundlagenbeschlüsse der Partei- und Staatsführung (V/1, S. 615-874); Hans-Peter Müller: Die Westarbeit der SED am Beispiel der DKP (V/2, S. 1868-1926); Jochen Staadt: Versuche der Einflussnahme der SED auf die politischen Parteien der Bundesrepublik nach dem Mauerbau (V/3, S. 2406-2600). Manfred Wilke setzte seine Tätigkeit als sachverständiges Mitglied in der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur „Uberwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit" (13. Wahlperiode) fort. Auch ihre Materialien wurden in 8 Bänden (14 Teilbände), Baden-Baden/Frankfurt am Main 1999, publiziert: Bernd-Rainer Barth: Die Archivsituation und zeitgeschichtliche Forschung in Ungarn; Karl Wilhelm Fricke: Entführungsaktionen der DDR-Staatssicherheit und die Folgen für die Betroffenen (unter Mitarbeit von Gerhard Ehlert); Walter Heering: Die Wirtschaftspolitik der Regierung Modrow und ihre Nachwirkungen; Klaus Schroeder: Die DDR-Forschung vor und nach 1989/90; Jochen Staadt: Die Westarbeit der SED und ihre Wirkungen; Manfred Wilke: Anleitung der Lagergemeinschaften durch die SED. Die angeführten Expertisen und Berichte sind alle in der Materialsammlung enthalten.

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Aufsätze 1991 bis 2006

Noch in der Antragsphase 1992/93 verhinderte ein Gutachter mit scharfem Blick für das „Machbare" unseren Ansatz für einen Gesamtüberblick mit der Begründung, dass wir am Anfang der Erforschung von Politik und Organisation des zentralen Parteiapparates der SED stünden und daher eine Begrenzung auf das erste Dezennium seiner Existenz notwendig sei. Damit rückten unvermeidlich die Entstehung der Diktaturzentrale und ihr Aufbau in den Mittelpunkt der Untersuchung, was den Beteiligten in der Konsequenz zu diesem Zeitpunkt noch nicht wirklich klar war. Unser Projekt entstand parallel zu einem vergleichbar ambitionierten Vorhaben in der Forschungsabteilung des „Bundesbeauftragten für die Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der DDR", die im selben Jahr ihre Arbeit aufnahm. Unter Leitung ihres ersten Abteilungsleiters Klaus-Dietmar Henke entstand das Vorhaben, möglichst rasch ein Handbuch zum MfS vorzulegen. Bis zum Sturz der SED-Herrschaft war auch die westliche DDR-Forschung in der Regel auf die offiziellen Beschlüsse der Partei und ihre offiziöse Interpretation durch ihren ideologischen Apparat angewiesen. Die Offenlegung der Akten der Partei infolge der friedlichen Revolution in der DDR schuf eine völlig neue Quellenlage. Jetzt war es möglich, anhand der Originalakten des Apparates den Parteigeheimnissen auf die Spur zu kommen. Gegenstand des Projektes war die Untersuchung von Struktur und Funktion der Parteiführung der KPD/SED und ihres zentralen Apparates, der Mechanismen ihrer politischen Machtausübung sowie der Durchsetzung ihrer „führenden Rolle" in zentralen Bereichen des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens im ersten Dezennium der SBZ/DDR. Die wichtigsten erkenntnisleitenden Fragen waren dabei, wie sich die Führung der KPD/SED als totalitäres Machtzentrum in der SBZ/DDR etabliert hat und welche Rolle die sowjetische Besatzungsmacht spielte. Besonderer Wert wurde gelegt auf die Analyse der Zusammenhänge zwischen Struktur und Funktionsweise der SED-Parteiführung sowie Mechanismen ihrer Machtausübung einerseits und den damit verfolgten strategischen und taktischen Zielen ihrer Gesellschaftspolitik andererseits. Die analytische Arbeit basierte in erster Linie auf der Auswertung der Bestände der zentralen Gremien der KPD/SED und der Überlieferungen einzelner ZK-Abteilungen im ehemaligen Zentralen Parteiarchiv (ZPA) der SED. Gezielt wurden zudem Uberlieferungen einiger Landesarchive, des ehemaligen Staatsarchivs der DDR, des MfS und des Ostbüros der SPD herangezogen. Die Forschung über die DDR in den fünfziger Jahren fand ihren inhaltlichen und methodischen Bezug in den verschiedenen Totalitarismustheorien (Arendt, Friedrich, Neumann und andere) 2 und ging von einer offenen „deutschen Frage" aus und, wie Horst Duhnke in seiner ersten Gesamtdarstellung der SBZ/DDR 1955 schrieb, vom „Stalinismus" in Deutschland. 3 Im Vorfeld der Entspannungspolitik fand in den sechziger Jahren eine Neuorientierung der DDR-Forschung statt, von der sich das 2

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Stellvertretend für die umfangreiche Literatur seien hier genannt: Hannah Arendt: The Origins of Totalitarianism, New York 1951 (deutsch: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt am Main 1955); Raymond Aron: Democratic et Totalitarisme, Paris 1964 (deutsch: Demokratie und Totalitarismus, Hamburg 1970); Carl. J. Friedrich: Totalitäre Diktatur, Stuttgart 1957; ders./Zbigniew K. Brzezinski: Totalitarian Dictatorship and Autocracy, Cambridge 1956; Sigmund Neumann: Permanent Revolution. Totalitarianism in the Age of International Civil War, London/Dunmore 1965. Horst Duhnke: Stalinismus in Deutschland. Die Geschichte der sowjetischen Besatzungszone, Köln 1955, S. 169 f.

Die Etablierung einer Okkupationspartei (2003)

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Projekt bewusst abgrenzte, denn dieser neuere Ansatz stellte die These auf, die totalitäre Gesellschaft der D D R hätte sich unter dem Einfluss ökonomischer Zwänge zu einer autoritären Industriegesellschaft gewandelt, die weitgehend auf terroristische Gewalt verzichten könne.4 In Anlehnung an westliche Modernisierungsmodelle wurde die Entwicklung im anderen deutschen Staat, der im „Systemwettbewerb" mit der Bundesrepublik stehe, als „nachholende Industrialisierung und Modernisierung" verstanden. Analysen der DDR-Gesellschaft verzichteten bei dieser „systemimmanenten" Forschung in der Nachfolge von Peter Christian Ludz bewusst auf den Vergleich mit der Bundesrepublik bzw. mit anderen demokratischen Staaten.5 Da auf diese Weise keine Maßstäbe von außen an die Untersuchung herangetragen werden konnten, blendete dieser Ansatz den Hintergrund der DDR-Gesellschaft, die latente und offene Gewalt des Staates gegenüber der Bevölkerung, aus.6 Noch problematischer für die DDR-Forschung war die aus empirischen Gründen vorgenommene bewusste Ausklammerung der „außenpolitischen Faktoren, vor allem [... des] Einwirken[s] der KPdSU auf die SED", was mit einer folgenschweren, das Gesamtbild verzerrenden Perspektiwerengung verbunden war.7 Beschlusslagen und reale Strukturen - den Parteigeheimnissen auf der Spur Weltpolitisch war die D D R durch ein System von Beistands- und Kooperationsverträgen in den Ostblock integriert, der nach 1945 von der Sowjetunion formiert wurde. Dieser „Ostblock" war jedoch nicht nur das Ergebnis einer machtpolitischen Formierung, sondern auch eine vom Westen mit seinen pluralen Gesellschaften unterschiedene Sozialstruktur und Werteordnung. Auch auf der Ebene der Parteien lässt sich diese Integration beobachten. Die „internationalistische Tradition" der SED geht auf die KPD zurück, die 1919 Gründungsmitglied der Kommunistischen Internationale wurde. Bereits in den zwanziger Jahren richtete ihr zentraler Parteiapparat seine Politik an der Linie der kommunistischen Partei der Sowjetunion aus, die ihrerseits zunehmend russisch-imperiale Ziele unter dem Deckmantel der kommunistischen

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Siehe Peter Christian Ludz: Entwurf einer soziologischen Theorie totalitär verfaßter Gesellschaft, in: ders. (Hg.): Soziologie der DDR. Studien und Materialien zur Soziologie der DDR, Köln/Opladen 1964, S. 11-58; auch Richard Löwenthal: Development versus Utopia in Communist Policy, in: Survey, 19. Jg., Nr. 15-1974/75, S. 3 ff. Peter Christian Ludz: Situation, Möglichkeiten und Aufgaben der DDR-Forschung, in: SBZArchiv, 18. Jg., Nr. 20/1967; ders.: Die soziologische Analyse der DDR-Gesellschaft, in: Wissenschaft und Gesellschaft, 1971, S. 11 ff. Stellvertretend für eine Fülle von „systemimmanenten" Untersuchungen seien an dieser Stelle nur erwähnt: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hg.): Bericht der Bundesregierung und Materialien zur Lage der Nation, Bonn 1972/1974; DDR-Handbuch, wiss. Leitung Peter Christian Ludz, Köln 1979. Von Ludz stammen allerdings auch sehr differenzierte Arbeiten über das Herrschaftssystem der DDR, so: Mechanismen der Herrschaftssicherung - eine sprachpolitische Analyse gesellschaftlichen Wandels in der DDR, München/Wien 1980. Siehe Klaus Schroeder/Jochen Staadt: Der diskrete Charme des Status Quo. DDR-Forschung in der Ära der Entspannungspolitik, Berlin 1992 (Arbeitspapiere des Forschungsverbundes SEDStaat, 2); Klaus Schroeder: Die DDR: eine (spät-)totalitäre Gesellschaft, in: Manfred Wilke (Hg.): Anatomie der Parteizentrale. Die KPD/SED auf dem Weg zur Macht, Berlin 1998, S. 525-562, vor allem S. 528 ff. Peter Christian Ludz: Parteielite im Wandel, Köln/Opladen 1968, S. 9.

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Weltbewegung betrieb. 8 1929 war die Stalinisierung der KPD abgeschlossen. Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht gehörten bereits ihrer Führung an. Viele Mitglieder der KPD-Führung emigrierten nach 1933 in die Sowjetunion und wurden teilweise Opfer der Stalinschen Kommunistenverfolgung in den dreißiger Jahren. 9 Die Uberlebenden wurden 1944/45 unter der Leitung von Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht in Moskau zu Kadern formiert, die die KPD in Deutschland reorganisierten und im Auftrag Stalins und unter Kontrolle der Sowjetischen Militäradministration als staatsaufbauende und -lenkende Partei „ihren" Staat aufbauten. Ohne Bezug auf die Integration der SB2/DDR in den Ostblock und die Zuordnung der SED zur von der KPdSU geführten kommunistischen Weltbewegung lassen sich Struktur und Politik des zentralen Parteiapparates der SED nicht erklären. Dies gilt besonders für unseren Untersuchungszeitraum. Theoretischer Ausgangspunkt unserer Arbeit war nicht zuletzt die revisionistische Literatur über die „Monopolbürokratie", die die herrschenden kommunistischen Parteien im sowjetischen Imperium darstellten, wie sie von polnischen und tschechoslowakischen Autoren in den sechziger und siebziger Jahren publiziert wurde.10 Die Konzentration der staatlichen und gesellschaftlichen Macht bei der kommunistischen Parteiführung wie auch die „führende Rolle der Partei" implizierten eine umfassende Bürokratisierung aller gesellschaftlichen Lebensbereiche. Ota Sik, Praktiker im und Kritiker am kommunistischen Herrschaftssystem, sieht diese Tatsache durch die absolute Alleinherrschaft der Bürokratie in der Gesellschaft charakterisiert. Er prägte dafür den Begriff des „bürokratischen Antidemokratismus". 11 Sik setzte sich am Beispiel der Tschechoslowakei mit der Frage auseinander, wie die führende Rolle der Partei gesellschaftlich umgesetzt wurde. Er unterscheidet im Wesentlichen drei Gruppen kommunistischer Herrschaftsmethoden: 1. Die Kaderpolitik mit ihrer Doppelfunktion von Rekrutierung und Disziplinierung. 2. Das Repressions- und Korrumpierungssystem. Die Koppelung von Bestrafung und Belohnung zeigt beide Herrschaftsmethoden als sich gegenseitig ergänzende Mittel zum selben Zweck. 3. Das ideologische Monopol der Partei, umgesetzt durch den Propagandaapparat der Partei. Ota §ik steht mit seinem Ansatz, das kommunistische Herrschaftssystem als zentralisierte, bürokratisierte Machtpyramide zu erfassen, nicht allein.12 Eine Arbeit, die in dieser Tradition revisionistischer Literatur einen besonderen Rang einnimmt und unmittelbare Bedeutung für die Formierung einer politischen Opposition im kommunistischen Machtbereich hatte, erschien 1965 in Polen als Samizdat-Produktion. Zwei damals noch junge polnische Sozialwissenschaftler, Jacek Kuron und Karol Modze8 9 10 11 12

Siehe Hermann Weber: Die Wandlung des deutschen Kommunismus. Die Stalinisierung der KPD in der Weimarer Republik, Frankfurt am Main 1969. Stellvertretend für viele neuere Arbeiten zum Thema siehe Reinhard Müller: Menschenfalle Moskau. Exil und stalinistische Verfolgung, Hamburg 2001. Siehe Manfred Wilke: Kommunismus in Deutschland und Rahmenbedingungen politischen Handelns nach 1945, in: ders.: Anatomie der Parteizentrale, a. a. O., S. 13—48, hier S. 13 ff. Siehe Ota Sik: Das kommunistische Machtsystem, Hamburg 1976, S. 197. Vgl. beispielsweise auch die Arbeiten von Michael Voslensky: Nomenklatura, Wien 1990; ders.: Die Lehrmeister der Nomenklatura, Erlangen et al. 1991.

D i e E t a b l i e r u n g einer O k k u p a t i o n s p a r t e i (2003)

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lewski, legten in Form eines offenen Briefes an die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei eine brillante Analyse des kommunistischen Herrschaftssystems vor. Ihre Analyse, die in Deutschland unter dem Titel „Monopolsozialismus" 13 erschien, beginnen die Autoren mit Fragen nach dem innerparteilichen Einfluss der Parteimitglieder auf den Willensbildungs- und Entscheidungsprozess in der Partei, die ihrer Meinung nach über ein politisches Machtmonopol verfüge und jede Fraktionsbildung, das Aufstellen von abweichenden ideologischen Programmen sowie das Organisieren von entsprechenden politischen Strömungen verbiete. Jedes ihrer Mitglieder habe zwar theoretisch das Recht auf eine eigene Meinung, nicht dagegen darauf, diese in Form eines Programms in den politischen Raum einzubringen und umzusetzen. Unter diesen Bedingungen würden die auf Konferenzen und Versammlungen abgehaltenen Wahlen der Parteiinstanzen zu reinen Fiktionen. Bei jedem Versuch, auf die Entscheidungen der Führung Einfluss zu nehmen, erweise sich, dass die Masse der Parteimitglieder der Möglichkeit, sich zu organisieren, beraubt, atomisiert und machtlos sei. Nur der hierarchisch organisierte Apparat könne Quelle politischer Initiativen sein. Die Parteielite sei gleichzeitig Machtelite, die alle staatlichen Entscheidungen treffe und eine Ämterkumulation betreibe. Da sie die staatliche Macht ausübe, verfüge sie gleichzeitig über die Gesamtheit der verstaatlichten Produktionsmittel, entscheide über den Anteil der Akkumulation und des Konsums, über die Ausrichtung der Investitionen sowie über den Anteil der einzelnen gesellschaftlichen Gruppen am Volkseigentum. Somit bestimme sie allein über die Aufteilung und Verwendung des gesellschaftlich erzeugten Produktes. Die Entschlüsse der Elite seien eigenmächtig, frei von jeder Kontrolle seitens der vermeintlich die Herrschaft ausübenden „Arbeiterklasse" und der übrigen gesellschaftlichen Klassen oder Schichten. Diese Machtelite an der Spitze der PVAP nennen Kurori und Modzelewski die „Monopolbürokratie". Die hier stellvertretend zitierten Arbeiten von Sik, Kuron und Modzelewski kommen in einem wichtigen Punkt zum gleichen Urteil: Das politische und gesellschaftliche Machtmonopol in den sozialistischen Staaten sei in der Spitze der kommunistischen Partei konzentriert. Damit müssen vor allem die zentralen Parteiorgane zum Gegenstand einer Analyse der Partei gemacht werden. Ihre theoretischen Analysen kommunistischer Herrschaft decken sich mit frühen empirischen Studien auf dem Gebiet der SED-Forschung. Zu nennen sind hier vor allem die Arbeiten von Carola Stern.14 Der Rückgriff auf die Arbeiten von Kurod und Modzelewski oder von §ik war zulässig hinsichtlich der Feststellung der totalitären Machtausübung der Zentrale der kommunistischen Parteien. Er barg aber zugleich die Gefahr in sich, die Spezifika der Einsetzung der deutschen Kommunisten bzw. einer Okkupationspartei durch die sowjetische Besatzungsmacht im Vier-Zonen-Deutschland aus dem Blick zu verlieren.15

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Siehe Jacek K u r o n und Karol Modzelewski: Monopolsozialismus. Offener Brief an die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei, H a m b u r g 1969. Siehe Carola Stern: Die S E D . Ein Handbuch über Aufbau, Organisation und Funktion des Parteiapparates, Köln 1954; dies.: Porträt einer bolschewistischen Partei. Entwicklung, Funktion und Situation der S E D , Köln 1957. Die von uns entwickelte Fragestellung unterschied sich zumindest in zwei wichtigen Punkten von diesem Ansatz der marxistischen Revisionisten: Erstens war es ein im Wesentlichen politologischer Ansatz, der die allgemeinen Funktionsmechanismen zu erhellen suchte und eben gerade nicht historisch-konkrete Spezifika kommunistischer Herrschaft in den verschiedenen Ländern des sowjetischen Machtbereichs in den Blick nahm. Zweitens war der wissenschaftliche Ansatz

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Durch das vom Forschungsverbund parallel zur Planungsphase des Projektes zum zentralen Parteiapparat durchgeführte Projekt zu den Planungen der Moskauer KPD-Führung vor Kriegsende besaßen wir schon eine Vorstellung von der Rolle und Funktion der KPD für die sowjetische Deutschlandpolitik und den anvisierten Methoden bei der Installierung der kommunistischen Herrschaft in Deutschland. 16 Trotzdem nahm es noch einige Zeit (und Projektkapazitäten) in Anspruch, bis die historisch-empirische Untersuchung der Etablierung kommunistischer Herrschaft in Deutschland mittels des zentralen Parteiapparates der KPD/SED unter systematischer Ausnutzung besatzungsrechtlicher Möglichkeiten der Sowjetunion zum Schwerpunkt unserer Untersuchungen im Rahmen des Projektes wurde. Grundsätzlich ist zu den vorgenommenen Korrekturen zu sagen, dass eine vor allem an formalen Aspekten (Abteilungen, Sekretariats- und Politbürobeschlüsse) orientierte Herangehensweise durch eine eher thematisch ausgerichtete (Funktionsfelder: Kader/Organisation, Sicherheit, etc.) ersetzt wurde. Die Notwendigkeit dazu ergab sich a) aus den im Arbeitsprozess gewonnenen Erkenntnissen hinsichtlich von Funktion und Arbeitsweise des zentralen Parteiapparates, b) aus der Struktur und Qualität der Archivüberlieferungen und c) aus dem mit beidem verbundenen über das erwartete Maß weit hinausgehenden Rechercheaufwand.17 zu a) Der zentrale Parteiapparat der KPD/SED war, anfangs nur intendiert, bald aber auch in der Praxis, nicht nur ein Apparat zur Steuerung und Kontrolle der Partei selbst, sondern und vor allem der gesamten gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklung in der SBZ/DDR. Seine Arbeit war darüber hinaus lange Zeit mehr oder weniger stark (auch) gesamtdeutsch ausgerichtet und insgesamt von sowjetischen Vorgaben abhängig. Es war also die Frage, inwieweit Institutionen, die formal und rechtlich nicht zum zentralen Parteiapparat zu zählen sind, unter informell-strukturellen Aspekten in die Untersuchung mit einbezogen werden müssten.

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der Revisionisten begleitet von höchst politischen Motiven: Die Analyse des kommunistischen Systems sollte letztlich jene Punkte herauszufinden helfen, an denen - wie man annahm - im Einklang mit historischen Gesetzmäßigkeiten die Hebel zur Reform bzw. zum Sturz der Monopolbürokratie angesetzt werden konnten. Das heißt, die Entmachtung des zentralen Parteiapparates der kommunistischen Partei wurde als Voraussetzung für eine wirklich kommunistische Gesellschaftsordnung angesehen. Siehe Peter Erler/Horst Laude/Manfred Wilke (Hg.): „Nach Hitler kommen wir". Dokumente zur Programmatik der Moskauer KPD-Führung 1944/45 für Nachkriegsdeutschland, Berlin 1994; Peter Erler/Manfred Wilke: „Nach Hitler kommen wir". Das Konzept der Moskauer KPD-Führung 1944/45 für Nachkriegsdeutschland, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 15, hrsg. im Auftrag der Gesellschaft für Exilforschung/Society for Exile Studies von Claus-Dieter Kohn, Erwin Rotermund, Lutz Winckler und Wulf Koepke unter Mitarbeit von Gerhard Paul, München 1997; Manfred Wilke: Kommunismus in Deutschland und Rahmenbedingungen politischen Handelns nach 1945, a. a. O., S. 29 ff. So wurden zum Beispiel weitaus umfangreichere Archivrecherchen außerhalb der Bestände der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO) vorgenommen, als zunächst für notwendig erachtet wurde, vor allem beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) oder im Archiv der sozialen Demokratie (AdsD), hier vor allem in den Uberlieferungen des SPD-Ostbüros.

Die Etablierung einer Okkupationspartei (2003)

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Die KPD/SED bezeichnete beispielsweise die Innenministerien selbst als „Parteiministerien".18 Vor dem Hintergrund einer ungeklärten Laufzeit des Projektes blieb die Diskussion zunächst in der Zwickmühle zwischen inhaltlicher Notwendigkeit und seinen praktischen Möglichkeiten. Schließlich wurde entschieden - um nicht auf reine „Beschlusslagenforschung" 19 beschränkt zu bleiben - , exemplarisch auch in die Untersuchung mit einzubeziehen: -

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das komplexe Anleitungsverhältnis der Parteispitze, ihres zentralen Apparates und seiner Gliederungen in den Ländern und Kreisen gegenüber der staatlichen Exekutive und den gesellschaftlichen Organisationen (Untersuchungen zur Rolle der Länderinnenministerien sowie zur Funktion der KPD/SED-Landesorganisation Brandenburg bei der Etablierung der zentralen Planwirtschaft), das Verhältnis von innerparteilichen Repressionsapparaten zu solchen im staatlichen Bereich und denen der sowjetischen Besatzungsmacht und die Rolle der west- bzw. gesamtdeutschen Arbeit des zentralen Parteiapparates, da der bei Antragsformulierung (1992) aus retrospektiver Sicht eher unreflektiert übernommene Rahmen S B Z / D D R sich bald als zu eng erwies.

Dies führte im Rahmen des Gesamtprojektes zum Ergebnis, dass nicht - wie aus heutiger Sicht unrealistischerweise zunächst beabsichtigt - ein alle Aspekte von Struktur, Organisation und Funktionsweise des zentralen SED-Apparates adäquat darstellendes Kompendium erarbeitet werden konnte. Die methodischen Ansätze westlicher Parteiensoziologie ließen sich nur sehr bedingt auf die K P D / S E D anwenden, zumal damit die historische Spezifik dieser „Machtergreifung" nicht erfasst werden konnte.20 Wir entschlossen uns daher, einen eher deskriptiven, den gesamten Parteiapparat in der Formierungsphase darstellenden Teil zu ergänzen durch punktuelle Analysen einzelner wichtiger Funktionsfelder, die charakteristische Mechanismen, Taktiken und Strategien deutlich werden lassen (Kader; Sicherheit; Westarbeit; Parteiensystem; Staat/Verwaltung; Wirtschaft). zu b) Eng verbunden mit dem eben angesprochenen Problem war die sich vor allem für die Zeit der SBZ komplizierter als vermutet darstellende Quellenlage, was hier an drei Punkten deutlich gemacht werden soll: A) Wichtige Entscheidungen spiegeln sich nicht oder nicht in ihren tatsächlichen Zusammenhängen in den Dokumenten des zentralen Parteiapparates wider: - Dessen Entscheidungen beruhten fast immer auf sowjetischen Vorgaben unterschiedlichster Art, was jedoch nur partiell konkret in den SED-Akten nachweisbar ist (Frage der tatsächlichen Entscheidungsträger).

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Siehe Hans-Peter Müller: „Parteiministerien" als Modell politisch zuverlässiger Verwaltungsapparate. Eine Analyse der Protokolle der SED-Innenministerkonferenzen, in: Manfred Wilke (Hg.): Anatomie der Parteizentrale, a. a. O., S. 337-411. 19 Näheres siehe weiter unten. 20 Die Untersuchungen hatten ihren Schwerpunkt zudem auf die Zeit seit Mitte der fünfziger bis in die sechziger Jahre gelegt, als die SED-Herrschaft bereits relativ etabliert war. Vgl. beispielsweise Peter Christian Ludz: Parteielite im Wandel, a. a. O., und Eckart Förtsch: Die SED, Stuttgart et al. 1969.

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A u f s ä t z e 1 9 9 1 bis 2 0 0 6

Formale Zuständigkeiten und Anweisungsstränge wurden oft durch informelle, auf persönlicher Loyalität bzw. Abhängigkeit basierende Strukturen unterlaufen bzw. überlagert. 21 Die sich in den Akten widerspiegelnden Entscheidungen wurden aus unterschiedlichen Gründen oft nicht oder nur teilweise umgesetzt. Den oft recht mühsamen Versuch der Verifizierung von Beschlüssen - bezüglich des Parteiapparates - haben wir als Uberschreiten der Grenzen der „Beschlusslagenforschung" bezeichnet.

B) Neben diesen, aus den Standards kommunistischer Parteiarbeit resultierenden Quellenproblemen standen wir noch vor einem zweiten Typ von Quellenproblemen: Bestände wichtiger Abteilungen bzw. zu untersuchender Funktionsfelder waren für die Frühphase (SBZ) (zunächst) nicht aufzufinden bzw. sehr dünn. Hierfür gab es im Wesentlichen wiederum drei Ursachen: - Wichtige, insbesondere sicherheitsrelevante bzw. mit den „sowjetischen Freunden" zusammenhängende Bereiche wurden weitgehend „papierlos" bearbeitet. - Wichtige Bestände wurden im ZK-Apparat (wohl weniger bzw. nicht im ehemaligen Zentralen Parteiarchiv (ZPA)) bereits in den fünfziger Jahren vernichtet (zum Beispiel Haid-Apparat), andere in den „Wendewirren" 1989/90 (Abt. Verkehr, zuständig für die Unterstützung und Anleitung von KPD/DKP). - Allerdings wurde nicht so viel vernichtet, wie es anfangs den Anschein hatte. Jedoch wurden archivalische Prinzipien verletzt und ein Auffinden relevanter Materialien dadurch erschwert. Zum Beispiel konnten zunächst kaum relevante Bestände der Kader- bzw. Personalpolitischen Abteilung für die Zeit der SBZ gefunden werden. Hintergrund für solche Leerstellen war jedoch oft nicht nur Aktenvernichtung, sondern die höchst schädliche Verletzung eines wichtigen archivalischen Grundsatzes, nämlich des Provenienzprinzips, durch das ZPA. Die Bestände wurden teilweise mehrmals umgeordnet und umsigniert und auf diese Weise tatsächliche Arbeitszusammenhänge zu Gunsten jeweils aktueller SED-Sichtweisen auf die Parteigeschichte verwischt. 22 Als erstaunlich ergiebig hinsichtlich formaler wie informeller Strukturen - und nebenbei gesagt, von der Forschung bisher kaum genutzt - erwiesen sich die Bestände des SPD-Ostbüros, die jedoch nur recht mühsam auszuwerten sind, da die wichtigen personenbezogenen Bestände (Personenkartei, Personenarchiv) faktisch nicht zugänglich sind und ein Findbuch im eigentlichen Sinne nicht existiert. Eine 21

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Ein russischer Kollege hat dies einmal als quasi „mafiaähnliche Connection" bezeichnet. S. A l e xe) M. Filitov: The Soviet Administrators and Their German „Friends". Referat, gehalten auf der Konferenz „The Establishment of Communist Regimes in Eastern Europe 1 9 4 5 - 1 9 5 0 : A Reassesment", Moskau, 2 9 . - 3 1 . März 1994; zit. nach Inventar der Befehle des Obersten Chefs der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland ( S M A D ) 1 9 4 5 - 1 9 4 9 (Offene Serie), zusammengestellt und bearbeitet von Jan Foitzik, Potsdam 1995 (Texte und Materialien zur Zeitgeschichte, Bd. 8). In diesem Zusammenhang sei hier nur auf die Rolle von Lotte Kühn(-Ulbricht) im Apparat, auf die in der Komintern-Tradition stehenden konspirativen Apparate oder auf die Rolle der „Moskau-Kader" hingewiesen. Beispielsweise wurden wichtige Materialien aus dem Bestand der Kaderabteilung herausgenommen und anderen, in keinerlei oder nur bedingtem Arbeitszusammenhang stehenden Beständen des ZPA zugeordnet: der Sammlung zum spanischen Bürgerkrieg, dem so genannten „Historischen Archiv der KPD", dem Bestand der erst 1949 gebildeten Z P K K . A l l dies war in keinem öffentlich zugänglichen Findbuch vermerkt.

Die Etablierung einer Okkupationspartei (2003)

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Öffnung dieser Bestände wenigstens bezüglich führender SED-Funktionäre dürfte für die Erforschung der informellen Ebene von nicht zu unterschätzender Bedeutung sein. Etliche wichtige Informationen zu den konspirativen bzw. Westapparaten der Partei konnten wir beispielsweise nur den Ostbüro-Akten entnehmen. Zwar sind diese Akten unter quellenkritischen Aspekten mit einer gewissen Skepsis zu betrachten. Da nach Öffnung der SED-Akten nun aber die Möglichkeit besteht, sie mit SED-Originalakten abzugleichen, waren viele Informationen verifizierbar bzw. konnten zumindest als plausibel eingestuft werden.23 C) Obwohl durch Kontakte zu russischen Historikern (und einigen Veröffentlichungen) auch ehemals sowjetische Archivalien genutzt werden konnten, waren wichtige Bestände (NKVD/MGB, SMAD, KPdSU, Präsidentenarchiv - hier vor allem die Aufzeichnungen zu den Moskau-Besuchen der SED-Parteiführung) uns nicht zugänglich (Problem der tatsächlichen Entscheidungsträger und -stränge). Zusammenfassend ist zum Projektverlauf Folgendes festzuhalten: 1. Eine eher formale inhaltliche Abgrenzung des Projektgegenstandes musste aufgegeben werden zu Gunsten einer komplexeren, den tatsächlichen Gegebenheiten insbesondere in der frühen Phase Rechnung tragenden Herangehensweise. 2. Insgesamt erwies sich die Frühphase der Implementierung der SED-Führung als totalitäres Machtzentrum weit komplexer und vielschichtiger als zunächst vermutet, was dieser Phase im Rahmen des Projektes ein besonderes Gewicht zukommen ließ. 3. Die für wichtige Fragen unbefriedigende Quellenlage - lückenhaft, unstrukturiert, mangelnde Aussagekraft etc. - führte zwar zu einem erheblichen Mehraufwand an Recherchearbeiten und ließ viele Fragen offen. Gleichzeitig öffnete dieses „Handikap" jedoch den Blick auf neue Aspekte der Arbeitsweise, der Funktionsfelder und komplexen Struktur des Parteiapparates. 4. Eine Analyse der SED-Parteizentrale, so stellte sich heraus, will sie nicht der Gefahr erliegen, lediglich eine autistische Parteigeschichtsschreibung fortzusetzen, wird als Rahmen stets die Entwicklung von Gesamtdeutschland in der bipolaren Weltordnung und als Bezugspunkt die Entwicklung der KPdSU nehmen müssen. Uberschreiten der Grenzen der „Beschlusslagenforschung" SED-interne Forschungsarbeiten wie auch etliche nach Öffnung der Archive erstellte Arbeiten zur SED-Geschichte tendieren dazu, Beschlüsse der Parteigremien mit deren Umsetzung in die Realität gleichzusetzen, und vernachlässigen die tatsächlichen Entscheidungen und Entscheidungsträger. So scheint es uns beispielsweise außerordentlich fragwürdig zu sein, eine Untersuchung zur „Zentrale der Diktatur" erst mit der Vereinigung von KPD und SPD zur SED im April 1946 beginnen zu lassen. Gewollt oder ungewollt wird von Monika Kaiser der Eindruck vermittelt, der zentrale

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Für erste Arbeitsergebnisse auf der Basis der Ostbüroakten siehe beispielsweise Michael Kubina: „In einer solchen Form, die nicht erkennen läßt, worum es sich handelt". Zu den Anfängen der parteieigenen Geheim- und Sicherheitsapparate der KPD/SED nach dem Zweiten Weltkrieg, in: IWK, Nr. 3/1996, S. 340-374.

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Parteiapparat der KPD/SED sei erst mit der Gründung der SED entstanden, und zwar als paritätischer KPD/SPD-Apparat. 24 Tatsächlich bestand der zentrale Parteiapparat in seinen wesentlichen Elementen aber bereits vor der Vereinigung mit der SPD (siehe unten). Kaiser beschreibt diese „Zentrale der Diktatur" zudem lediglich auf der Basis von „Beschlusslagen", ohne zu hinterfragen, ob Beschlusslage und tatsächliche Entwicklung eventuell voneinander abweichen. Verdeckte Strukturen können so von der Autorin überhaupt nicht wahrgenommen werden. 25 Ähnliches gilt auch für eine Veröffentlichung über die „Entscheidungen der SED 1948", die zwar die Tagungen des Parteivorstandes dokumentiert, das Zentralsekretariat der SED, das entscheidende Parteigremium, aber weitestgehend unberücksichtigt lässt.26 Da ausschließlich SED-Akten ausgewertet wurden, sucht man beispielsweise im Abschnitt „Der zentrale Parteiapparat der SED 1948" vergeblich nach Richard Stahlmanns „Abteilung Verkehr", dem SED-Grenzapparat. 27 Ebenfalls stark geprägt vom Ansatz der „Beschlusslagenforschung" sind zwei voluminöse Lexika mit zudem stark apologetischen Zügen. Während das eine vorgibt zu erklären, wie die DDR „funktionierte", 28 gibt das andere, teilweise von denselben Autoren erarbeitete vor, ein Handbuch zu „Geschichte, Organisation und Politik" der SED zu sein.29

24 Siehe vor allem Monika Kaiser: Die Zentrale der Diktatur - organisatorische Weichenstellung, Strukturen und Kompetenzen der SED-Führung in der SBZ/DDR 1946 bis 1952, in: Jürgen Kocka (Hg.): Historische DDR-Forschung. Aufsätze und Studien, Berlin 1993 (Zeithistorische Studien, hrsg. vom Forschungsschwerpunkt Zeithistorische Studien Potsdam, Bd. 1), S. 57-86. Kaiser, ehemals Archivarin im Zentralen Parteiarchiv der SED, wertet in ihrem Aufsatz in Bezug auf die Struktur des zentralen Parteiapparates vor allem die unveröffentlichten Arbeiten zweier ihrer Kollegen aus: S. Günter Uebel/Erich Woitinas: Die Entwicklung des Parteiaufbaus und der Organisationsstruktur der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands in den Jahren von 1946 bis 1954 (Ms., „vertraulich, nur für den inneren Dienstgebrauch im Bereich des Parteiarchivwesens bestimmt"), Berlin, Oktober 1966; Erich Woitinas: Die Entwicklung des Parteiaufbaus und der Organisationsstruktur der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands in den Jahren 1946 bis 1950 (Abschlussarbeit für die Staatsprüfung zum Diplomarchivar), Berlin, 30.12.1965. Für die damals schließlich als öffentlichkeitstauglich befundene Kurzfassung vgl. dies.: Zur Entwicklung des Parteiaufbaus und der Organisationsstruktur der SED bis zu ihrem III. Parteitag 1950, in: BZG, Nr. 12/1970, S. 606 ff. 25 Der für die „Zentrale der Diktatur" nicht unwichtige Abwehrapparat unter Bruno Haid taucht beispielsweise bei Monika Kaiser: Zentrale der Diktatur, a. a. O., S. 83, nicht einmal nach seiner „offiziellen" Einrichtung per Sekretariatsbeschluss als Referat der PPA „für die Untersuchungen aller Versuche der Zersetzung und des Eindringens feindlicher Elemente in die Partei" auf; siehe Protokoll der Zentralsekretariatssitzung am 10.6.1947, SAPMO-BArch DY 30 IV 2/2.1/98. 26 Thomas Friedrich/Christine Hübner/Herbert Mayer/Kerstin Wolf (Hg.): Entscheidungen der SED 1948. Aus den stenografischen Niederschriften der 10. bis 15. Tagung des Parteivorstandes der SED, Berlin 1995. 27 Siehe ebd., S. 524 ff., vgl. S. 22 f. 28 Siehe Andreas Herbst/Winfried Janke/Jürgen Winkler: So funktionierte die DDR, 3 Bde., Reinbek bei Hamburg 1994. Vgl. die Rezension von Klaus Schroeder: Wie funktionierte die DDR? Eine lexikalische Kampfschrift gegen Kolonisatoren, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. Februar 1995. 29 Andreas Herbst/Gerd-Rüdiger Stephan/Jürgen Winkler (Hg.): Die SED. Geschichte - Organisation - Politik. Ein Handbuch (in Zusammenarbeit mit Christine Krauss und Detlef Nakath/ Gesamtredaktion), Berlin 1997. Vgl. dazu die Rezensionen von Manfred Wilke: In Ostdeutschland nur als Stalinismus vorstellbar, in: Süddeutsche Zeitung vom 10. Dezember 1997, und Michael Kubina: Fakten und Zusammenhänge. SED-Handbuch: Eine Kampfschrift für die Geschichtsfront, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. November 1998; ausführlicher ders. in Heft 6 der Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat, S. 156-159.

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Die „Beschlusslagen" der zentralen Gremien von K P D / S E D wurden jedoch oft aus verschiedenen Gründen und in unterschiedlichem Maße - nur partiell in die Wirklichkeit umgesetzt wie sich auch wichtige Bereiche der Arbeit des zentralen Parteiapparates kaum in ihnen widerspiegeln.30 Alle wichtigen Entscheidungen wurden nach sowjetischen Vorgaben - im (Zentral)Sekretariat bzw. Politbüro und nicht im formal höchsten Gremium (Parteivorstand bzw. Zentralkomitee) getroffen. Durch zum Teil sehr mühsame Recherchen konnten „Beschlusslagen" und Umsetzung gegenübergestellt, Führungskonflikte ermittelt wie auch getarnte und konspirative Strukturen aufgedeckt werden. Die Forschung war somit konfrontiert mit der Realität der in der K P D / S E D praktizierten „Parteigeheimnisse". Ihre Offenlegung wurde vom Apparat, solange er die Macht hatte, als „Parteiverrat" geahndet. Die Offenlegung und Analyse der geschriebenen und ungeschriebenen „Parteigesetze" machte sich unser Projekt zur Aufgabe.

Neubewertung des KPD-Apparates Mit dem Projekt wurde nachgewiesen: Die Vereinigung von K P D und SPD in der SBZ zur SED ist nicht als das entscheidende Datum für den Beginn der Entwicklung der K P D / S E D anzusehen, sondern der mit Kriegsende beginnende Wiederaufbau der K P D in Deutschland unter der Perspektive der künftigen „Staatspartei".31 Dies war sie in der SBZ nach dem Willen der Besatzungsmacht - sofort in der Stunde des Neubeginns. Bereits im März 1945 analysierte Wilhelm Pieck die Lage für die Kommunisten im zu erwartenden Vier-Zonen-Deutschland folgendermaßen und dabei durchaus realistisch: „Die Organisation unserer Arbeit in der Besatzungszone der Roten Armee, sowohl was den Einsatz unserer Kader angeht, als auch die Zusammenarbeit und die Übereinstimmung in Ziel und Durchführung unserer Aufgaben", werde wesentlich einfacher sein als in den westlichen Besatzungszonen. Hier rechnete Pieck mit dem Widerstand der Besatzungsmächte, die „dort reformistischen Führern der Soziald.[emokratie] u. Gewerkschaften Gelegenheit [geben würden], sich wieder Einfluß in der Arbeiterschaft zu verschaffen - gegenüber den Kommunisten". Pieck war sich also bewusst, dass die Partei unter den Bedingungen alliierter Besetzung in zwei Rollen würde agieren müssen: In der SBZ würden ihre Kader Funktionäre der Regierungspartei sein, während sie in den Westzonen um die Beteiligung an der Macht ringen müssten oder sogar von der jeweiligen Besatzungsmacht systematisch von der Macht ferngehalten würden. Allerdings ließ Pieck schon in Moskau keinen Zweifel daran, dass die Parteiführung der K P D eine einheitliche Reichspartei unter ihrer politischen und organisatorischen Leitung aufbauen würde, um trotz Zonenteilung die grundsätzliche „Ostorientierung" Deutschlands durchzusetzen.32 In die Vereinigung mit der SPD zur SED brachte die K P D bereits einen im Wesentlichen funktionstüchtigen und in seinen Strukturen mehr oder weniger festste-

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Siehe beispielsweise die nur sehr zögerliche Umsetzung der Auflösung bzw. Umstrukturierung der Ifo-Dienste, des parteieigenen Spitzelapparates.· Michael Kubina: Ifo-Dienste und andere parteiinterne „Vorläufer" des MfS, in: Deutschland Archiv, Nr. 6/1998, S. 994-1006. Siehe ders.: Der Aufbau des zentralen Parteiapparates der KPD 1945-1946, in: Manfred Wilke (Hg.): Anatomie der Parteizentrale, a. a. O., S. 49-117. Zit. nach Manfred Wilke: Kommunismus in Deutschland und Rahmenbedingungen politischen Handelns nach 1945, a. a. O., S. 32.

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henden zentralen Parteiapparat ein. Sicherheitsrelevante Strukturteile wie etwa die Kader- bzw. Personalpolitische Abteilung oder der Westapparat blieben stets reine KP-Apparate, und zwar auch nach der mit der SED-Gründung verbundenen „Parität" von Kommunisten und Sozialdemokraten. Von Anfang an befasste sich der Parteiapparat nicht nur umfassend mit allgemein gesellschaftspolitischen Fragen, sondern wurde in Anlehnung an das sowjetische Referenzmodell (KPdSU) als Anleitungsapparat für staatliche und gesellschaftliche Organe aufgebaut. Personell hatte der zentrale Parteiapparat seine Schwerpunkte eindeutig in den Bereichen a) Propaganda, Kultur, Erziehung und Parteischulung sowie b) Kader und Organisation. Im ersten Bereich, der in etwa der vor der Vereinigung bestehenden Agitpropabteilung entspricht, waren 1947 fast 30 Prozent aller Mitarbeiter beschäftigt. Ebenfalls zirka 30 Prozent der Mitarbeiter arbeiteten im Bereich Kader und Organisation. Die restlichen Mitarbeiter verteilten sich auf die übrigen Abteilungen bzw. Arbeitsbereiche des zentralen Parteiapparates. Dies macht einerseits deutlich, auf welchen Gebieten der Arbeitsschwerpunkt dieses Apparates anfangs lag - nämlich einerseits im Bereich Propaganda (Kampagnen, Umerziehung, Bildung, Medien, Parteischulung) und andererseits im Bereich der Kaderarbeit in Partei und Staat, in den Massenorganisationen wie FDGB und FDJ und in der Verwaltung sowie bei der Konsolidierung des eigenen Apparates (Vereinheitlichung, Zentralisierung, Überprüfung). 33 SMAD und „geborgte" Autorität von KPD/SED Zwar wurde der zentrale Parteiapparat von Anfang an unter der Perspektive einer staatsaufbauenden und -lenkenden Partei konzipiert und aufgebaut. In der frühen Phase allerdings war er noch nicht die „eigentliche" politische „Macht- und Schaltzentrale" der SBZ und fungierte auch nur partiell als „staatsaufbauende" Instanz. Wie andere deutsche Parteien und Verwaltungen war auch die KPD/SED einem staatlichen Autoritätsdefizit innerhalb der militärischen Transformationsdiktatur der Alliierten unterworfen und konnte daher nur auf der Grundlage „geborgter" Autorität operieren. Die KPD/SED war die Okkupationspartei der sowjetischen Besatzungsmacht, der Sozialismus, den die deutschen Kommunisten in der SBZ/DDR aufbauten, ein „Okkupationssozialismus". Alle grundlegenden Entscheidungen über den Aufbau des zentralen Parteiapparates wurden in Moskau getroffen. Struktur und Etat wurden von Stalin persönlich genehmigt, in wichtigen Fragen griff die sowjetische Seite direkt in Aufbau und Struktur des Apparates ein.34 Die im engen Kontakt mit der SMAD bzw. Moskauer Stellen stehenden „Vertrauenskader" in der Parteiführung besaßen zwar systemimmanente und operativ notwendige Entscheidungs- und Interpretationskompetenzen, jedoch keine „Handlungsspielräume" im Sinne einer Handlungsautonomie. Allerdings wurden sie suk-

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Siehe Michael Kubina: Der Aufbau des zentralen Parteiapparates von KPD/SED in den ersten Nachkriegsjahren unter besonderer Berücksichtigung des parteieigenen Abwehrapparates, in: Heiner Timmermann (Hg.): Die DDR. Politik und Ideologie als Instrument, Berlin 1999 (Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen, 86), S. 359-388, hier S. 388. Siehe beispielsweise die detaillierte Planung und Vorbereitung des Aufbaus des KPD-Apparates im Frühjahr und Sommer 1945 in Moskau: Michael Kubina: Der Aufbau des zentralen Parteiapparates der KPD 1945-1946, a. a. O., S. 53-69.

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zessive in die Umsetzung der Besatzungspolitik mit eingebunden. Ulbricht und die anderen „Vertrauenskader" der Sowjets hatten zunächst vor allem die Aufgabe, die Direktiven aus Moskau für die konkreten Bedingungen in Deutschland „passgenau" zu machen, 35 was ihnen oft eher schlecht als recht gelang. 36 Obwohl es inzwischen als erwiesen gelten kann, dass die Politik der K P D / S E D und ihres zentralen Apparates grundsätzlich und bis ins Detail von Vorgaben aus Moskau bzw. Karlshorst abhängig und bestimmt war, ist es im Einzelfall wegen der komplizierten Aktenlage immer noch schwierig, Entscheidungswege nachzuvollziehen und Entscheidungsträger konkret zu bestimmen. Dies gilt insbesondere für die oberste Ebene, also Entscheidungen Ulbrichts oder des Sekretariats bzw. des späteren Politbüros. Dass sowjetische Offiziere regelmäßig an Sitzungen des obersten Führungsgremiums der Partei teilgenommen haben, ist nach Aktenlage eher unwahrscheinlich. 37 Die wenigen Dokumente, die über Spitzengespräche bei Stalin Auskunft geben, legen nahe, dass die Akteure oft zwischen Befehlsempfang und „Erahnen" der Erwartungshaltung in Moskau ihren Weg finden mussten. Stalin befasste sich zumindest bei wichtigen Weichenstellungen für die Politik in Deutschland bzw. der deutschen Partei bis ins Detail gehend persönlich mit allen relevanten Fragen, wie anhand der Gespräche im Vorfeld der Zulassung der Parteien im Juni 1945 und der Vereinigung von K P D und S P D zu sehen ist. Ein solcher Befund war angesichts der Geschichte der Beziehungen von Komintern und K P D auch zu erwarten. Aber auch für die Frage der Herausgabe einer gemeinsamen theoretischen Zeitschrift mit der S P D war beispielsweise eine telegrafische Anfrage bei Dimitrov notwendig. Selbst die H ö h e der Mitgliedsbeiträge, die an der Parteibasis auf starke Kritik stieß, war offenbar in Moskau festgesetzt worden. An eine Änderung wagte sich der Hauptkassierer der K P D , Alfred Oelßner, nicht heran, ohne sich zuvor im Sekretariat hinsichtlich der Haltung Moskaus abgesichert zu haben. 38 Kurt Hager, im zentralen Parteiapparat einst unter anderem zuständig für die Parteihochschule der S E D , bestätigte diese „Abstimmungs"-Notwendigkeit nach dem Machtverlust mit folgenden Worten: „Als Leiter der Abteilung Parteischulung hatte ich engen Kontakt mit der politischen Verwaltung der sowjetischen Militäradministration (SMAD). Ich war oft in Karlshorst, um mit Semjonow oder seinen Mitarbeitern über Probleme unserer Bildungsarbeit zu sprechen. Die Beziehungen waren freundlich und sachlich. Natürlich konnten die Hinweise und Ratschläge der sowjetischen Gesprächspartner nicht mißachtet werden. Bei aller Achtung, die diese uns deutschen Antifaschisten entgegenbrachten, darf nicht vergessen werden, daß die deutsche Arbeiterbewegung versagt hatte und die Partei der

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Siehe Manfred Wilke: Kommunismus in Deutschland und Rahmenbedingungen politischen Handelns nach 1945, a. a. O., S. 40 ff. Siehe am Beispiel der „Bündnispolitik" mit den bürgerlichen Parteien Friederike Sattler: Bündnispolitik als politisch-organisatorisches Problem des zentralen Parteiapparates, in: Manfred Wilke (Hg.): Anatomie der Parteizentrale, a . a . O . , S. 119-212, zum sowjetischen Kontrollapparat vor allem S. 122-128. Siehe Heike Arnos: Politik und Verwaltungsorganisation eines zentralistischen Machtapparates. Struktur und Arbeitsweise von Politbüro und Zentralkomitee der S E D 1949-1963 (Ms.), S. 34 f. Die Arbeit erscheint demnächst als Band 4 der Reihe „Diktatur und Widerstand" im L I T Verlag: Politik und Organisation der SED-Zentrale 1949-1963. Struktur und Arbeitsweise von Politbüro, Sekretariat, Zentralkomitee und ZK-Apparat, Berlin 2002. Siehe Michael Kubina: Der Aufbau des zentralen Parteiapparates der K P D 1945-1946, a. a. O., S. 103.

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Einheit, die S E D , des Rates und der Hilfe der sowjetischen Freunde bedurfte. So war es selbstverständlich, daß wir die Erfahrungen der K P d S U berücksichtigten." 3 9

Die Umsetzung der sowjetischen „Hinweise und Ratschläge" beschreibt Hermann Weber in seinen jüngst erschienenen Erinnerungen an seine Zeit auf der Parteihochschule der SED. Anlässlich der Eröffnung der Parteihochschule „Karl Marx" machte der Vertreter der SMAD, Oberstleutnant Nazarov, den Lehrern und Schülern sowie der anwesenden Parteiprominenz unmissverständlich deutlich, wohin es an der Seite der „Freunde" zu gehen hatte: „Wir leben in einer Zeit, wo alle Wege zum Kommunismus führen". Kurz: Die SED wurde auf das stalinistische Modell verpflichtet. Nazarov wünschte den Anwesenden dabei „von ganzem Herzen Erfolg" und erhielt „anhaltenden, lebhaften Beifall" 40 . Die Führer von KPD und SPD bzw. später der SED, vor allem Pieck, Ulbricht und Grotewohl, trafen relativ regelmäßig mit hohen Vertretern der SMAD zusammen. Nach Durchsicht der Notizen von Pieck, die über einige dieser Treffen vorliegen, lässt sich zumindest feststellen, dass es sich dabei eher um Unterweisungen als um einen Gedankenaustausch handelte, wobei der Themenkatalog meist sehr detailliert war und nahezu alle aktuellen, die Politik in der SBZ betreffenden Fragen aufgeworfen wurden. Gelegentlich wurde über diese Gespräche auch vor dem Sekretariat berichtet. Meist werden die Botschaften jedoch auf informellem Wege weitergegeben worden sein. Piecks Notizen von diesen Gesprächen belegen jedenfalls, dass die Arbeit des Sekretariats bis ins Detail entsprechend den Weisungen der SMAD ablief.41 Hinweise auf direkte Eingriffe in die Struktur des zentralen Apparates von KPD/SED finden sich kaum. Allerdings muss auch hier davon ausgegangen werden, dass beim Auftreten ernsthafter Probleme bei der Arbeit des Apparates Änderungen eingefordert und vorgenommen wurden.42 Die „ M o s k a u - K a d e r " im zentralen Parteiapparat Erstmals wurden im Rahmen des Projektes die „Moskau-Kader" in der NachkriegsKPD/SED systematisch in den Blick genommen und deren herausragende Rolle in den zentralen Leitungsgremien konkret nachgewiesen.43 Diese Gruppe konnte definiert, näher beschrieben, quantitativ erfasst und ihre Rolle bei der Etablierung kommunistischer Herrschaft in der SBZ/DDR genauer bestimmt werden. Die „Moskau-Kader" wurden auf zentraler und Landesebene hauptsächlich im Parteiapparat, der Verwaltung und im Kultur-, Bildungs- und Mediensektor eingesetzt, wobei schwerpunktmäßig Posten besetzt wurden, die sich mit sicherheitsrelevanten und Kaderfragen befassten. Diesen Befund bestätigen Schmeitzner und Donth, die sich insbesondere mit der Person von Kurt Fischer und seiner Rolle beim

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Kurt Hager: Erinnerungen, Leipzig 1996, S. 142. Hermann Weber: Damals als ich Wunderlich hieß. Vom Parteihochschüler zum kritischen Sozialisten. Die SED-Parteihochschule „Karl Marx" bis 1949 (in Zusammenarbeit mit Gerda Weber), Berlin 2002, S. 104 f., vgl. auch S. 198 ff. Siehe ebd., S. 102-107. Für einen ausnahmsweise gut dokumentierten Fall auf dem Gebiet der Kirchenpolitik siehe Michael Kubina: Der Aufbau des zentralen Parteiapparates von KPD/SED, a. a. O., S. 373 ff. Peter Erler: „Moskau-Kader" der KPD. Bestandsaufnahme zu einem Forschungsthema, in: Heiner Timmermann: Die DDR, a. a. Ο., S. 333-358.

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Aufbau der sächsischen Polizei befassten.44 Auch in der Blockpolitik, einem wesentlichen Element der kommunistischen Strategie zur Machteroberung in Deutschland, spielten sie eine maßgebliche Rolle.45 Von 218 für den Zeitraum 1945 bis 1947 ermittelten Remigranten übernahmen 66 sofort Funktionen in der Parteiführung oder im zentralen Apparat der Partei. Sie waren damit, verglichen mit den „Kommunisten im Lande" oder „Westemigranten", überproportional stark in der Parteiführung und deren Apparat vertreten. Eine eindeutige Domäne der „Moskau-Kader" war auch die Parteihochschule der SED. 46 In der Parteispitze sowie in den zentralen Verwaltungseinheiten und Organisationen entschieden sie weitgehend im Bereich der Ideologie (Schulung, Bildung, Kultur) über die jeweilige Kaderpolitik und über die Entwicklung der Innen- und Sicherheitspolitik. Der Gruppenkonflikt zwischen ihnen und den „Kommunisten im Lande" entwickelte sich in den folgenden Jahren zu einem Machtkampf zwischen der Clique um Walter Ulbricht und seinen jeweiligen Opponenten im Führungszirkel der SED. Nach der Reorganisation des zentralen Parteiapparates im Zuge der Gründung der D D R 1949 wurden „Moskau-Kader" vor allem in hohe Funktionen im neuen Staatsapparat eingesetzt. Unter den drei Stellvertretern des Ministerpräsidenten war mit Walter Ulbricht Moskaus permanente Präsenz an der Regierungsspitze garantiert. Von den 14 im Zuge der Regierungsbildung eingesetzten Fachministern waren sechs in der Sowjetunion geschulte Kader: Heinrich Rau, Minister für Planung, Fritz Selbmann, Minister für Industrie, Luitpold Steidle, Ministerium für Arbeit und Gesundheitswesen, Lothar Bolz, Ministerium für Aufbau, Paul Wandel, Ministerium für Volksbildung und ab Februar 1950 Wilhelm Zaisser als Staatssicherheitsminister. Auch unter den 14 Staatssekretären waren mit Anton Ackermann im Außenministerium, Paul Peschke im Ministerium für Arbeit und Sozialwesen und Erich Mielke im Staatssicherheitsministerium Moskaus Kader vertreten.47 Im Laufe der Jahre, so hat Peter Erler nachgerechnet, stellten die „Moskau-Kader" 22 Minister bzw. stellvertretende Minister. Eine maßgebliche Rolle spielten sie beim Aufbau des Ministeriums für Staatssicherheit und im Außenministerium. Später rückte auch eine „zweite Generation" von SU-Emigranten in wichtige Funktionen und Ämter in Staat und Gesellschaft auf.48 Parteiensystem und „Bündnispolitik" als gesamtdeutsches Konzept Gerade im Bereich der - zunächst gesamtdeutsch angelegten Bündnispolitik - fungierten die KPD/SED und ihr Apparat als verlängerter Arm der sowjetischen Deutschlandpolitik. Alle maßgeblichen Entscheidungen der anfangs direkt von der Parteiführung betriebenen Bündnispolitik gingen auf detaillierte sowjetische Vorgaben zurück

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Siehe Mike Schmeitzner/Stefan Donth: Die Partei der Diktaturdurchsetzung. K P D / S E D in Sachsen 1945-1952, Köln/Weimar/Wien 2002 (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung, 21), vor allem S. 153 ff., 317 ff., 361 ff. Siehe Peter Erler: „Moskau-Kader" der K P D in der SBZ, in: Manfred Wilke (Hg.): Anatomie der Parteizentrale, a. a. O., S. 229-291, hier S. 277. Siehe ebd., S. 279 ff. Horst Duhnke: Stalinismus in Deutschland, a. a. O., S. 169 f. Peter Erler: „Moskau-Kader" der K P D in der SBZ, a. a. O., S. 291. Zu ihnen gehörten beispielsweise auch Markus und Konrad Wolf.

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und waren ohne direktes Eingreifen der Besatzungsmacht von der KPD/SED allein selbst in der SBZ nicht durchzusetzen. Schon kurz nach der Wiederzulassung der KPD gelang es ihr, entsprechend ihrem bündnispolitischen Auftrag, mit den anderen Parteien institutionalisierte Formen der Zusammenarbeit zu vereinbaren (Aktionseinheitsausschuss von KPD und SPD; Einheitsfrontausschuss aller vier zugelassenen Parteien). Auf beide Gremien übte das „provisorische Sekretariat" der KPD, das sich sehr schnell auf Zuarbeiten aus dem personell und strukturell zügig ausgebauten hauptamtlichen zentralen Parteiapparat stützen konnte, in engster Abstimmung mit sowjetischen Instanzen bestimmenden Einfluss aus. Die kommunistische Bündnispolitik als gesamtdeutsch ausgerichtetes sowjetisches Konzept scheiterte aber im Kern bereits mit der SED-Gründung allein in der SBZ. Der SED-Apparat nutzte anschließend die Blockpolitik hauptsächlich zur Herrschaftsstabilisierung in der SBZ/DDR. Lange vor der 1952 gebildeten Abteilung „Leitende Organe der Parteien und Massenorganisationen" entstanden innerhalb des zentralen Parteiapparates als Reaktion auf konkrete Konflikte - zunächst wenig systematisch und in der Regel nach außen hin nicht offen erkennbar - apparative Strukturen zur Beobachtung und Kontrolle der Blockparteien. Von Anfang an spiegelte sich im Agieren der Kommunisten in der SBZ der unbedingte Wille zur Hegemonie in einem Teil Deutschlands wider, auch um den Preis des Verlustes der Einflussmöglichkeiten auf die Entwicklung im anderen Teil Deutschlands. In der bereits zitierten Analyse Piecks vom März 1945 heißt es dazu: „Wir müssen natürlich auch mit Schwierigkeiten im Reiseverkehr zwischen den Besatzungszonen rechnen, so daß die Organisierung unserer Arbeit von einer zentralen Stelle aus zuerst ziemlich schwierig sein wird. Wahrscheinlich werden wir für jede Besatzungszone eine besondere Leitung unserer Arbeit schaffen u. zwischen ihnen eine regelmäßige Verbindung sichern." Ein Jahr später, am Vorabend der SED-Gründung, präzisierte Franz Dahlem auf dem 15. Parteitag der KPD diesen Unterschied zwischen der „Tätigkeit als eine[r] staatsaufbauende[n] Partei" und der Rolle der KPD in den Westzonen, „wo der Klassenkampf mit den alten Kräften des Faschismus und der Reaktion und andere Hindernisse einer solchen Entfaltungsmöglichkeit unserer Partei hindernd im Wege stehen". Dahlem schloss damals diesen Vergleich bereits mit der Feststellung ab, „daß in der Ostzone unsere Parteiorganisation einen viel fortschrittlicheren Typus aufweist als in den Westzonen."49 Verdeckte und konspirative Strukturen des Parteiapparates Die konkreten Verhältnisse in Deutschland und der SBZ, angefangen vom allgegenwärtigen Kadermangel über die Notwendigkeit blockpolitischer Rücksichtnahmen bis hin zu den von der Vier-Mächte-Kontrolle über Deutschland bestimmten politischen Rahmenbedingungen, setzten dem Aufbau der Parteizentrale zunächst ge-

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Zit. nach Manfred Wilke: Kommunismus in Deutschland und Rahmenbedingungen politischen Handelns nach 1945, a. a. O., S. 33.

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wisse Grenzen. Bestimmte Politikfelder konnten nicht oder nur in verdeckter Form vom KPD/SED-Apparat bearbeitet werden: a) Beispiel: Innenministerien als „Parteiministerien" Die Länderinnenministerien wurden von der Partei von Anfang an in Bezug auf Kaderpolitik, Zentralisierung administrativer Funktionen und Kompetenzen und die Aushöhlung des Föderalismus als politische Schlüsselressorts betrachtet, konsequent als „Parteiministerien" aufgebaut und über die von der SED-Führung (!) einberufenen Innenministerkonferenzen gesteuert. Im Zusammenspiel von SMAD, Deutscher Verwaltung des Innern (DVdl) und Innenministerien gelang es der SED, letztere gegen die Widerstände der nichtkommunistischen Parteien und Verwaltungsfachleute zu politischen Strukturministerien und zum Modell „politisch zuverlässiger Apparate" für die ganze Verwaltung zu machen. Teilnehmer dieser Innenministerkonferenzen waren auch leitende SED-Kader der DVdl, unter deren Dach der staatliche Sicherheitsapparat zentralisiert und der Parteikontrolle unterstellt wurde.50 Diese Innenministerkonferenzen sind als „ausgelagerte" Parteistrukturen zu betrachten. Der institutionelle Kern für die Notwendigkeit der Durchführung der Innenministerkonferenzen lag in Prinzipien des Föderalismus begründet, die zunächst auch von der Sowjetunion als Besatzungsmacht anerkannt wurden. Diese mächtigen Ministerien machten sich jedoch in dem Maße überflüssig, wie sie bei der Aushöhlung des Föderalismus und der Zentralisierung der Macht in der SED-Führung - dem eigentlichen Ziel - erfolgreich waren.51 Uber Kommissionen, die die Fachkompetenz der Partei für bestimmte Bereiche zusammenführten, erreichte die KPD/SED auch in anderen Bereichen von Staat und Verwaltung, für die im zentralen Parteiapparat noch keine ausgebauten Strukturen zur Verfügung standen, eine weitgehende Kontrolle durch diesen.52 b) Beispiel: parteiinterne Sicherheitsapparate Mit dem Aufbau der parteiinternen Sicherheitsapparate schloss die KPD/SED bruchlos an Komintern-Traditionen an.53 Er begann bereits in den ersten Nachkriegsmonaten und stand im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Aufbau des zentralen Parteiapparates der KPD und dem Machtkampf zwischen Walter Ulbricht und Franz Dahlem. Diese Apparate wurden zunächst als auf den ersten Blick unverfängliche Subeinheiten verschiedenen Abteilungen zugeordnet, vor allem der Kader- bzw. Personalpolitischen Abteilung („Abwehr"- oder so genannter Haid-Apparat) und der Abteilung Werbung, Presse, Rundfunk (Spitzelapparat, so genannte Ifo-Dienste). Die Spitzel- und „Abwehr"-Arbeit wurde in enger Abstimmung mit der Besatzungsmacht bzw. deren Geheimdienst, teilweise auch als direkte „Auftragsarbeit" durchgeführt, war aber von Anfang an integraler Bestandteil der Parteiarbeit. Von ihrer 50

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Siehe Hans-Peter Müller: „Parteiministerien" als Modell politisch zuverlässiger Verwaltungsapparate, a. a. O.; Peter Erler: Zur Sicherheitspolitik der K P D / S E D 1945-1949, in: Siegfried Suckut/Walter Süß (Hg.): Staatspartei und Staatssicherheit. Zum Verhältnis von SED und MfS, Berlin 1997, S. 73-87. Siehe ebd. Siehe Michael Kubina: Der Aufbau des zentralen Parteiapparates der K P D 1945-1946, a. a. O., S. 81 ff., 113 f. Siehe Manfred Wilke: Kommunismus in Deutschland und Rahmenbedingungen politischen Handelns nach 1945, a. a. O., S. 19 ff.

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Funktion her, aber auch personell und in gewissem Maße strukturell, waren diese Dienste Vorläufer des Ministeriums für Staatssicherheit.54 c) Beispiel: offiziöse und konspirative Westapparate West- und Kaderapparat waren eine Domäne von Ulbrichts Konkurrent Franz Dahlem. Die Mehrzahl der Kader kam hier nicht direkt aus der Moskau-Emigration, sondern hatte vor 1945 zumeist in Spanien, Frankreich oder Skandinavien in den konspirativen Apparaten der Partei und teilweise direkt für sowjetische Dienste gearbeitet. 1945 wurden sofort neben dem legalen Apparat illegale bzw. konspirative Apparate aufgebaut (Westarbeit des Haid-Apparates; Wollweber und KPD-Nachrichtendienst; Stahlmanns Grenzapparat). In dem Maße, wie sich die offizielle Politik der KPD als unter freiheitlichen Verhältnissen erfolglos bleibend herausstellte und insbesondere die Kraft der SPD in den Westzonen nicht gebrochen werden konnte,55 gewannen diese konspirativen Apparate an Bedeutung. Sie schufen strukturelle und personelle Voraussetzungen für den Ausbau der nach Westdeutschland gerichteten Apparate der SED in den fünfziger Jahren, von der Westkommission beim Politbüro und den Westabteilungen der Parteien und Massenorganisationen bis zur späteren Hauptverwaltung Aufklärung des MfS. 56 Instrument einer militärischen Transformationsdiktatur Die Untersuchungen zur Entwicklung von Struktur und personeller Besetzung des zentralen Parteiapparates, dem Verhältnis zur SMAD bzw. zur KPdSU-Führung in Moskau wie auch zu den exemplarisch ausgewählten Funktionsfeldern belegen alle, dass die entscheidende Zäsur in der Entwicklung der kommunistischen Partei in Deutschland die Jahre 1945/46 bilden. Hier begann der Aufbau des zentralen Parteiapparates der KPD/SED im Sinne eines Anleitungs- und Kontrollzentrums von Staat und Gesellschaft entsprechend dem sowjetischen Vorbild. Der Aufbau des KPD-Parteiapparates 1945/46 als erster zentralistisch organisierten politischen deutschen Institution in der SBZ wurde von der sowjetischen Führungsspitze verfügt, die damit eine entscheidende Weichenstellung in ihrer Deutschlandpolitik vornahm, die die weitere Entwicklung nicht nur dieses Apparates, sondern auch der SBZ insgesamt präjudizierte. Die Vereinigung der KPD mit der SPD zur SED führte allenfalls zu einer nominellen, nicht aber zu einer substanziellen Veränderung der Apparatstrukturen. Unter den Bedingungen alliierter Besetzung funktionierte der zentrale Parteiapparat der KPD/SED noch nicht als die eigentliche politische Macht- und Schaltzentrale der SBZ, und selbst als eine staatsaufbauende Instanz spielte er nur eine Nebenrolle. Alle grundsätzlichen politischen und verwaltungsmäßigen Entscheidungen waren 54 55

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Siehe Michael Kubina: Der Aufbau des zentralen Parteiapparates von KPD/SED, a. a. O., S. 376 ff. Vgl. auch weiter unten. Siehe Manfred Wilke: Schumachers sozialdemokratischer Führungsanspruch und die Gründung der SED, in: ders. (Hg.): Anatomie der Parteizentrale, a. a. O., S. 213-228; ders.: Demokratie, Sozialismus und nationale Einheit, in: Reinhard Hübsch (Hg.): „Hört die Signale". Die Deutschlandpolitik von KPD/SED und SPD 1945-1970, Berlin 2002, S. 43-54. Siehe Michael Kubina: „Was in dem einen Teil verwirklicht werden kann mit Hilfe der Roten Armee, wird im anderen Kampffrage sein". Zum Aufbau des zentralen Westapparates der KPD/ SED 1945-1949, in: Manfred Wilke (Hg.): Anatomie der Parteizentrale, a. a. O., S. 413-500.

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im besetzten Deutschland Sache alliierter Kompetenz, und sie fielen im Kontrollrat oder auf der zonalen Ebene durch die jeweilige Militärregierung. Die politische und gesellschaftliche Ordnung in der SBZ entstand als von der Sowjetunion geschaffene militärische Transformationsdiktatur. Diese betraf zwar alle deutschen Staatsangehörigen in gleicher Weise, war aber essenziell auf das politische Umsetzungsvermögen der deutschen kommunistischen Kader angewiesen.57 In dieser Zuarbeit erwarben sie erste Eigenständigkeit. Dieser Kontext gilt insbesondere in den Politikbereichen, in denen die politische Systemtransformation auf dem Prinzip der Freiwilligkeit der Deutschen selbst beruhen oder militärischer Zwang nicht eingesetzt werden sollte. Der zentrale Parteiapparat von KPD/SED war einem von den Alliierten gewollten staatlichen Autoritätsdefizit unterworfen und konnte daher nur auf der Grundlage von Befehlen und Direktiven der Besatzungsmacht operieren. Von den Führungen der demokratischen Parteien in allen Zonen unterschied sich der Parteiapparat der KPD in einem wesentlichen Punkt: Waren diese Politiker ebenso wie die Verantwortlichen in den Kommunen und Ländern bemüht, den Rahmen deutscher Selbstbestimmung gegenüber den Besatzungsmächten in einer konfliktiven Kooperation zu erweitern, so war der Parteiapparat der KPD darauf bedacht, die politischen Intentionen der sowjetischen Staatsführung auf die deutschen Verhältnisse zu übertragen. Hierfür sind das direkte Zusammenwirken zwischen der sowjetischen und der deutschen Parteiführung bei allen zentralen Entscheidungen der Nachkriegszeit, sei es die Reorganisation der kommunistischen Partei, die Bodenreform oder die Gründung der SED, gewichtige Belege. Die oft bemühte Frage, ob das eigentliche Ziel der sowjetischen Deutschlandpolitik ein demokratisches, neutrales Gesamtdeutschland oder seine Teilung in Interessensphären war, kann auf dieser Grundlage vorläufig beantwortet werden. Die Sicherung der Besatzungsmacht in der eigenen Zone durch die K P D / S E D war die eine Ebene sowjetischer Politik, eine andere war die ihres Spiels mit „Optionen" in den Außenministerverhandlungen mit den Westalliierten, in denen die Sowjetunion als Anwalt deutscher Einheit auftrat.58 Die Schlüsselpositionen im zentralen Parteiapparat besetzten die „Moskau-Kader". Sie organisierten den Aufbau der Partei in allen vier Besatzungszonen und gaben die politische und programmatische Linie vor. In den Augen von Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht waren die Kommunisten, die in Deutschland Gefängnis, soziale Ächtung und Konzentrationslager überlebt hatten, zumeist bestenfalls gutwillige Sektierer, die ebenso wie die neu gewonnenen Mitglieder einer umfassenden Schulung unterworfen werden mussten. Wie diese Umerziehung organisiert wurde und verlief,

57 58

Siehe Manfred Wilke: Kommunismus in Deutschland und Rahmenbedingungen politischen Handelns nach 1945, a. a. O., S. 34 ff. Zu gleichen Ergebnissen kommen Schmeitzner und Donth, wenn sie in Anlehnung an Jan Foitzik und in Abgrenzung von Wilfried Loth schreiben: „Trotz gleicher weltanschaulicher Prämissen von Besatzungsmacht und Kommunisten kann von einer durchgängigen Interessenidentität beider Akteure ebensowenig ausgegangen werden. So verfolgte die Besatzungsmacht in der Deutschland-Frage über einen längeren Zeitraum eine optionale Politik, die - wie Jan Foitzik zuletzt überzeugend dargestellt hat - eine diplomatische und propagandistische Orientierung auf ein Gesamtdeutschland einerseits und die gesellschaftspolitische Umprägung der SBZ andererseits keineswegs ausschloß. Den .Spatzen' in der Hand, ließ die Besatzungsmacht die ,Taube auf dem Dach' (Gesamtdeutschland) .nicht aus dem Blick' (Foitzik)." - Dies.: Die Partei der Diktaturdurchsetzung, a. a. O., S. 531.

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hat Hermann Weber am Beispiel des 1. Lehrgangs der Parteihochschule biografisch anschaulich dargestellt.59 Auf die Zusammensetzung der KPD-Führung hatten die Mitglieder keinerlei Einfluss. Der zentrale Parteiapparat begann seinen Weg zur Macht mit der Unterwerfung und stalinistischen Ausrichtung seiner Parteimitglieder. Kommunisten aus dem Land wurden regional und kommunal oder in den Gewerkschaften und anderen, vorgeblich überparteilichen Organisationen eingesetzt.

Aus der Einsicht in die knappen Ressourcen des Projektes konzentrierte es sich in der zweiten Phase seiner Laufzeit auf zwei monografische Studien, die zwei wesentliche Aspekte von Funktion und Arbeitsweise des zentralen Parteiapparates der KPD/SED systematisch untersuchen. Wenn auch in ganz unterschiedlicher Weise, verknüpfen sie eine Betrachtung der zentralen Ebene und ihrer Entscheidungen und Beschlüsse mit der Frage der Umsetzung auf den unteren Ebenen. Der Parteiapparat als Hebel für die Etablierung einer Zentralverwaltungswirtschaft 60 Die Monografie von Friederike Sattler untersucht den Transformationsprozess der deutschen Kriegswirtschaft zur zentralen Planwirtschaft der SBZ/DDR nicht aus einer volkswirtschaftlichen Gesamtperspektive, wie sie in den Darstellungen zum Wirtschaftssystem der SBZ/DDR bislang dominierte. Sie versteht ihn als einen Prozess der Auseinandersetzung zwischen politisch Verantwortlichen und Betroffenen, zwischen sowjetischer Besatzungsmacht und KPD/SED-Führung auf der einen und der allgemeinen Bevölkerung, speziell den Bauern, Handwerkern, Gewerbetreibenden, Unternehmern, auf der anderen Seite. Als Hauptuntersuchungsebene für diesen handlungsbezogenen Ansatz wurde das Land Brandenburg ausgewählt.61 Durch den Perspektivwechsel von der zentralen auf die regionale Ebene kann der genaue Ablauf der Transformation auf einer breiten Primärquellenbasis sehr viel tief greifender als bisher analysiert werden. Insbesondere ermöglicht er es, den KPD/SED-Parteiapparat in seinem Wirken auf Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft (und den sich daraus ergebenden Rückwirkungen) zu betrachten und nicht, wie in vielen, auch neuen Untersuchungen zur Parteiengeschichte noch immer üblich, als mehr oder weniger isoliertes Gebilde zu sehen. Durch die gewählte Herangehensweise kann die wirtschaftliche Machteroberung durch die sich formierende kommunistische Herrschaftselite vielmehr in ihrem alltäglichen Vollzug, mit ihren Konzepten, Methoden und Handlungsbedingungen, mit ihren Erfolgen und Rückschlägen infolge von gesellschaftlichen Beharrungskräften und bewusst geleistetem politischen Widerstand, mit ihren Steuerungsschwierigkeiten und Folgewirkungen nachvollzogen werden.

59 60 61

Siehe Hermann Weber: Damals als ich Wunderlich hieß, a. a. O., passim. Für die Zuarbeit zu diesem Abschnitt danken die Verfasser Friederike Sattler. D i e Arbeit ist erschienen als Band 5 der Reihe „Diktatur und Widerstand" im L I T Verlag: Wirtschaftsordnung im Ubergang. Politik, Organisation und Funktion der K P D / S E D im Land Brandenburg bei der Etablierung der zentralen Planwirtschaft in der S B Z / D D R 1945-52,2 Bde., Münster et al. 2002.

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Zur kritischen Bewertung der Fortschritte und Rückschläge des maßgeblich von der K P D / S E D vorangetriebenen Transformationsprozesses hin zu einer zentralen Planwirtschaft wird dabei auf die Begrifflichkeiten der Neuen Institutionenökonomik, insbesondere das Setzen und Durchsetzen von externen sowie internen Regeln der Wirtschaftsordnung, zurückgegriffen, wodurch eine enge Verknüpfung von machtpolitischen, wirtschaftlichen und sozialen Aspekten möglich wird. Deutlich kann so gezeigt werden, dass die wirtschaftliche Transformation vom unbedingten Willen der K P D / S E D zur Macht vorangetrieben wurde, aber zu keinem Zeitpunkt tatsächlich einem planvoll und politisch umsichtig gesteuerten gesellschaftlichen Prozess gleichkam, sondern vielmehr treffend nur als eine endlose Kette von Notlösungen und selbstverschuldeten Zwangslagen beschrieben werden kann, aus der sich - bei unveränderten politisch-ideologischen Prämissen - immer neue Handlungszwänge ergaben. Die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung lassen sich zwei Themenbereichen zuordnen: a) dem wirtschaftlichen Transformationsprozess und b) der Funktion des regionalen KPD/SED-Parteiapparates im Transformationsprozess. a) Der wirtschaftliche Transformationsprozess Das in der Forschung noch immer anzutreffende, zuerst von Fritz Blaich, 62 jüngst erneut von Jürgen Schneider63 vorgetragene, oberflächlich betrachtet recht plausible Erklärungsmuster von der notgedrungenen Fortführung des aufrüstungs- und kriegsbedingten deutschen Bewirtschaftungssystems, das in der sowjetischen Besatzungszone lediglich um- und ausgebaut worden und schließlich zu einem bestimmten Zeitpunkt, nämlich im Frühjahr 1948, mit der politischen Entscheidung zur Aufstellung des ersten längerfristigen Wirtschaftsplans für das 2. Halbjahr 1948, in eine ZentralverwaltungsWirtschaft sowjetischen Typs umgeschlagen sei (was zu einem abrupten Produktivitätsbruch geführt habe), wird dem tatsächlich abgelaufenen Transformationsprozess nicht gerecht. Die Transformation war mehr als nur ein Um- und Ausbau des überkommenen Wirtschaftssystems und begann mittels zahlreicher kleiner, gezielter und weniger gezielter Schritte der Einzelordnungspolitik bereits im Sommer 1945, nicht erst durch eine Grundsatzentscheidung zur Niveauordnungspolitik im Frühjahr 1948. Grundlage der These von Blaich und Schneider ist die unzulässige implizite Gleichsetzung der ordnungspolitischen Bedeutung der Währungsreform in den westlichen Besatzungszonen einerseits und dem etwa zeitgleich erfolgten Aufstellen eines ersten langfristigen Wirtschaftsplans für die sowjetische Besatzungszone andererseits. Während die Währungsreform eine echte ordnungspolitische Zäsur darstellte, wurde mit der Aufstellung des Halbjahrplans 1948 aber nur der bereits zuvor eingeleitete und zunächst vor allem auf Landesebene vollzogene Transformationsprozess zu einer zentralen Planwirtschaft auf eine höhere Zentralisierungsebene gehoben und beschleunigt.

62 63

Siehe Fritz Blaich: Deutschland. Reformen und Transformationen zwischen 1932 und 1948, in: ders. et al. (Hg.): Wirtschaftssysteme zwischen Zwangsläufigkeit und Entscheidung, Stuttgart 1971, S. 141-151, insbesondere S. 149 f. Siehe Jürgen Schneider: Von der nationalsozialistischen Kriegswirtschaftsordnung zur sozialistischen Zentralplanung in der S B Z / D D R , in: ders./Jürgen Harbrecht (Hg.): Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik in Deutschland (1933-1993), Stuttgart 1996, S. 1-90, insbesondere S. 70.

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Dass es sich nicht nur um den Um- und Ausbau des überkommenen Wirtschaftssystems, sondern tatsächlich um eine - von Blaich und Schneider in Abrede gestellte Transformation handelte, bei der das überkommene durch ein neues Wirtschaftssystem abgelöst wurde, wird deutlich, wenn man sich die Unterschiede im Regelungsanspruch der deutschen Kriegswirtschaft einerseits, der sowjetischen Planwirtschaft andererseits vor Augen führt und außerdem einige der ersten Eingriffe der Besatzungsmacht in die bestehende Lenkungsordnung näher betrachtet. Die deutsche Kriegswirtschaft kann zwar grundsätzlich als eine staatlich gelenkte Wirtschaft gekennzeichnet werden, doch erhob sie - ganz anders als die sowjetische Planwirtschaft - niemals den Anspruch auf gesamtwirtschaftliche Planung und Lenkung. Sie blieb aber nicht nur in Hinblick auf ihre Lenkungs- und Eigentumsordnung grundsätzlich inkonsistent (hier zunehmende staatliche Eingriffe - dort weiterhin privates Eigentum), sondern zeigte außerdem in der letzten Kriegsphase in der Lenkungsordnung deutliche Auflösungserscheinungen. Die ersten Eingriffe der Besatzungsmacht setzten dann jedoch einen grundlegenden Transformationsprozess in Gang. Hervorzuheben ist vor allem das neue Ablieferungssystem für die Landwirtschaft sowie die Produktions- und Reparationsplanung in der gewerblich-industriellen Wirtschaft. In beiden Fällen war nicht - wie in der Kriegswirtschaft - die möglichst effektive und koordinierte Lenkung der vorhandenen Ressourcen, sondern der vorgegebene sowjetische Bedarf Ausgangspunkt der administrativen Planentfaltung. Auch im Hinblick auf die Lenkungsadministration sind kaum Kontinuitäten zu verzeichnen: Es wurde nicht an frühere Reichsstellen und ihren Unterbau angeknüpft, sondern den neuen Provinzial- und Landesverwaltungen ein hoher Stellenwert beigemessen. Die ersten Eingriffe in die Lenkungs- und Eigentumsordnung resultierten dabei ganz unmittelbar aus den sicherheitspolitischen und materiellen Interessen sowie den allgemeinen politisch-ideologischen Prämissen der Besatzungsmacht. Sie basierten nicht auf einem ausgefeilten Konzept zur Übertragung des sowjetischen Wirtschaftssystems und zeigten recht unterschiedliche Wirkung im Hinblick auf die Etablierung einer Zentralplanwirtschaft. Das Tempo des Transformationsprozesses blieb allerdings nicht sich selbst überlassen, sondern wurde maßgeblich durch die übergeordneten politischen Erwägungen der Sowjetunion bestimmt. Nach Bedarf, etwa aus Rücksichtnahme auf gemeinsame deutschlandpolitische Verhandlungen der Alliierten, konnte es abgebremst oder aber, etwa aus Gründen der schnelleren östlichen Blockintegration, auch forciert werden. Interne Effekte von Eigendynamik waren sowohl vor als auch nach dem Übergang zur langfristigen Wirtschaftsplanung Mitte 1948 zu beobachten. Prinzipiell blieb es den politischen Entscheidungsträgern aber möglich, diese innere Dynamik abzubremsen oder sogar ganz zu stoppen. Als Beispiel angeführt werden kann hierfür das abrupte Ende der sich zunehmend selbst radikalisierenden Gewerbebereinigung in den Jahren 1945 bis 1948. Einseitige wirtschaftspolitische Prioritätensetzungen lösten allerdings oft auch völlig unerwünschte und bald nicht mehr steuerbare Nebeneffekte aus. Der von sowjetischer Seite verlangte und mit Hilfe der ersten langfristigen Volkswirtschaftspläne von der SED-Führung konsequent durchgesetzte Auf- und Ausbau einer ostdeutschen Schwerindustrie etwa - um ein besonders markantes Beispiel zu nennen hatte eine sukzessive Verschärfung der Steuer- und Abgabenpolitik für die gesamte Privatwirtschaft in Landwirtschaft, Gewerbe und Industrie zur Folge, die nicht nur den angestrebten Bedeutungsverlust dieser Eigentumsform, sondern auch die uner-

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wünschte Verschlechterung der Konsumgüter- und Nahrungsmittelversorgung bewirkte und schließlich sogar das landwirtschaftliche Planungs- und Lenkungsgefüge massiv untergrub. Trotzdem wurde er unbeirrt weiterverfolgt, weil die militärische Aufrüstung der D D R in der angespannten weltpolitischen Lage nach Ausbruch des Korea-Krieges 1950 oberste Priorität besaß. Kehrseite der politischen Verfügbarkeit des Wirtschaftssystems war seine innere Instabilität. Die in der älteren Literatur nicht selten anzutreffende Meinung, mit dem Ubergang zu langfristigen Wirtschaftsplänen ab Mitte 1948 sei eine deutliche Konsolidierung des neu etablierten Wirtschaftssystems eingetreten, entspricht nicht den Realitäten. b) Funktion des regionalen KPD/SED-Parteiapparates im Transformationsprozess Ein weiteres wichtiges Ergebnis der Untersuchung besteht in der Erkenntnis, dass die politisch-organisatorische Entwicklung des regionalen KPD/SED-Parteiapparates - in Sattlers Studie erstmals eingehend analysiert und dokumentiert - tatsächlich ganz maßgeblich bestimmt war von seinen ausführenden Funktionen im wirtschaftlichen Transformationsprozess. Für die Besatzungsmacht und KPD/SED-Führung erwies er sich als ein geeignetes, die Verwaltung zunächst ergänzendes, dann immer stärker lenkendes Instrument, um den umfassenden kommunistischen Herrschaftsanspruch, der auf das Engste mit der Etablierung der zentralen Planwirtschaft verbunden war, bis in die Länder, Kreise und Gemeinden hinein durchzusetzen. Am gesamtgesellschaftlichen Gestaltungsanspruch mussten dabei allerdings deutliche Abstriche gemacht werden. Während Besatzungsmacht und KPD-Führung gleich bei Kriegsende dafür sorgten, dass die wichtigsten Schlüsselpositionen in der neuen Provinzialverwaltung mit Vertrauenskadern besetzt wurden, konzentrierte sich die mit Hilfe weniger bodenständiger und schon vor 1933 aktiver Funktionäre gebildete KPD-Bezirksleitung Brandenburg darauf, den organisatorischen Ausbau bis in die Kreise und Gemeinden hinein voranzutreiben und möglichst zügig eine Parallelstruktur zur Verwaltung, insbesondere ihres rasch expandierenden Wirtschaftsressorts, zu errichten. Diese Ziele, an denen nach der SED-Gründung unverändert festgehalten wurde, schlugen sich in einer starken Organisations- und Personalabteilung sowie in einer wachsenden Zahl von wirtschaftlichen Fachabteilungen nieder, die allerdings personell zunächst oft unterbesetzt blieben. Zwischen den SED-Mitgliedern in Verwaltungs- und Parteifunktion gab es eine enge Zusammenarbeit, wobei jedoch meist die Kader in der staatlichen Verwaltung den Ton angaben, denn sie waren in der Regel sehr viel besser über die Vorgaben der Besatzungsmacht informiert und bestimmten deshalb auch die Richtung der Parteiarbeit. Auf unmittelbare sowjetische Veranlassung erfuhr der SED-Parteiapparat beim Übergang zur langfristigen Wirtschaftsplanung im Frühjahr 1948 jedoch eine deutliche Aufwertung. Verantwortlich gemacht für die Umsetzung der Planziele, beanspruchte die SED nun ganz offen eine „führende Rolle", wurde allerdings zugleich selbst dem Umbau in eine „Partei neuen Typs" unterworfen. Innerhalb des regionalen Parteiapparates gewann jetzt vor allem die so genannte „Organisations-InstrukteurAbteilung" an Bedeutung, die durch den vermehrten Einsatz von Parteifunktionären vor Ort - in der Wirtschaftsverwaltung wie in den Betrieben - für die bessere Umsetzung der Planziele sorgen sollten, die sich immer klarer auf den einseitigen Ausbau der volkseigenen Industrie richteten. Während sich die Militärverwaltung im Herbst 1949 aus der direkten Kontrolle zurückzog, nahm die Zahl der vom SED-Landessekretariat gelenkten Parteiinstrukteure beständig zu. Allein das Sekretariat, ohne seine Kreisleitungen, verfügte Ende 1949 bereits über rund 250 Mitarbeiter, die Sowjetische

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Kontrollkommission (SKK) Brandenburg dagegen samt ihren drei Bezirkskommissionen nur noch über 133 Planstellen. Mit dem Anlaufen des Fünfjahrplans 1951/55 wurde schließlich der gesamte Parteiapparat auf das so genannte „Instrukteurprinzip" umgestellt und die Zahl der Mitarbeiter - nicht zuletzt in den wirtschaftspolitischen Fachabteilungen - nochmals deutlich ausgebaut. In der im Frühjahr 1952 neu geschaffenen Abteilung „Leitende Organe der Partei" waren zum Beispiel 62 Stellen zu vergeben. Doch auch mit einem ständig ausgeweiteten Stab von Funktionären, die immer straffer in die Parteihierarchie und -disziplin eingebunden wurden, konnten die Steuerungsdefizite des planwirtschaftlichen Gefüges nicht behoben werden, diese traten vielmehr immer deutlicher hervor. Die ursprünglich noch gegebene Fähigkeit des regionalen Parteiapparates, mitunter auch als Korrektiv für den zentral vorgegebenen politischen Kurs zu fungieren, wurde mit der forcierten Umwandlung der SED in eine „Partei neuen Typs" systematisch ausgeschaltet. Abgesehen von den personellen „Säuberungen", die beim Nichterreichen von Planzielen mit besonderer Intensität durchgeführt wurden,64 wurde die weitere Verschärfung des Klassenkampfes bald als vermeintlich einzige Lösung zur Krisenbewältigung angesehen und dargestellt. Durch die Umleitung der Kritik am eingeschlagenen wirtschaftspolitischen Kurs auf die vermeintlichen „Klassengegner" - in der Regel waren das gerade die besonders leistungsfähigen Träger der überkommenen Wirtschaftsordnung, seien es die erheblich zur Nahrungssicherung beitragenden Großbauern oder die beträchtlich zur Finanzierung der volkseigenen Großindustrie beitragenden Privatindustriellen - wurden die Voraussetzungen für das Funktionieren des neu etablierten Wirtschaftssystems jedoch nicht verbessert, sondern immer mehr untergraben. Den Anspruch, durch vorausschauende Planung für gleichmäßiges Wirtschaftswachstum und eine wohl überlegte Verteilung der Erträge zum Nutzen der Gesellschaft als Ganzes zu sorgen, konnte es immer weniger erfüllen. Der regionale Parteiapparat, der sich gezwungen sah, immer mehr zusätzliche Aufgaben selbst zu übernehmen, wies spätestens beim Anlaufen des Fünfjahrplans 1951/55 deutliche Anzeichen einer Überforderung auf. Als Instrument zum formellen Setzen und praktischen Durchsetzen neuer externer Regeln der Wirtschaftsordnung (Verordnungen, Gesetze) hatte er sich zwar in bestimmter Hinsicht bewährt (personelle und organisatorische Fragen), als Instrument zum Umprägen alter und Prägen neuer interner Regeln der Wirtschaftsordnung (Konventionen, Werthaltungen, Sitten etc.) insgesamt jedoch als wenig erfolgreich erwiesen. Konflikte, die sich bei der Durchsetzung neuer externer Regeln gegen bestehende interne Regeln der Wirtschaftsordnung ergaben, konnten nicht gelöst und bewältigt werden, sondern wurden lediglich zurückgestaut, sodass schwelende Krisenherde entstanden. Als Mittel zur Krisenbewältigung wurde weiterhin allein der Ausbau der Parteistrukturen, nun vor allem auf der Kreisebene, angesehen; auch die Auflösung der Länder zu Gunsten wesentlich kleinerer Bezirke und Kreise - mit entsprechenden parallelen Parteistrukturen - diente im Sommer 1952 letztlich dem Ziel, eine noch bessere Kontrolle der Partei über das Geschehen vor Ort zu gewährleisten.

64

Ein deutliches Beispiel ist die Säuberungswelle nach dem Scheitern des Zweijahrplans 1949/50 in der Landwirtschaft.

D i e E t a b l i e r u n g einer O k k u p a t i o n s p a r t e i ( 2 0 0 3 )

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Der Parteiapparat als Teil des Repressionsapparates in der SBZ Eine weitere, aus dem Projektzusammenhang hervorgegangene Monografie 65 hat den Parteiapparat als Teil des Repressionsapparates in der SBZ/DDR zum Thema und leistet zugleich einen Beitrag zur Erforschung von Opposition und Widerstand im Nachkriegsdeutschland. Auch diese Untersuchung bleibt nicht bei der Beschreibung apparativer Strukturen in der Parteizentrale stehen, sondern verfolgt die Umsetzung zentraler Vorgaben auf den bzw. durch die unteren Ebenen und die Praxis politischer Verfolgung durch parteieigene bzw. interne Sicherheitsapparate wie auch durch entsprechende, unter Kontrolle der Partei stehende Apparate auf staatlicher Ebene sowie natürlich die „Organe" der sowjetischen Staatssicherheit. Der Schwerpunkt der Studie liegt auf den Jahren 1945 bis 1950, als Alfred Weiland, ehemals Mitglied der linksradikalen, aber scharf antibolschewistischen Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD), die Uberlebenden aus den linksoppositionellen und rätekommunistischen Gruppierungen von vor 1933 vor allem in Berlin, aber auch in der SBZ sammelte und theoretisch eigenständig von KPD/SED und SPD in den „Gruppen Internationaler Sozialisten" (GIS) organisierte. Für diesen Zeitraum verbindet die Studie die Darstellung der politischen Biografie Alfred Weilands mit einer exemplarisch angelegten Untersuchung der Entwicklung der parteieigenen konspirativen Apparate in der Auseinandersetzung mit seinen Gegnern aus dem linkssozialistischen Bereich und stellt das Geschehen in den Kontext des Kalten Krieges in Deutschland. 66 Von Anfang an - und dabei voll in der Tradition der Komintern stehend - wurden neben dem legalen Apparat illegale bzw. konspirative Apparate aufgebaut. Grundlegendes Prinzip für den Aufbau sicherheitsrelevanter Institutionen in der SBZ war, ein möglichst komplexes Netz voneinander relativ unabhängiger Strukturen zu schaffen. Je nachdem, welche deutschlandpolitischen Optionen der Sowjets mit der Zeit zum Tragen kommen würden bzw. wie sich die Lage in Deutschland entwickelte, sollten spezielle Sicherheitsapparate in den Bereichen Staat, Verwaltung, Polizei, Medien etc. zur Verfügung stehen. In dem Maße, wie sich die offizielle Politik der KPD in den Westzonen als unter freiheitlichen Verhältnissen erfolglos bleibend herausstellte, gewannen diese konspirativen Apparate zusätzlich an Bedeutung. Nachdem das Konzept der „Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands" als Instrument sowjetischer Politik für ganz Deutschland als gescheitert betrachtet werden musste, gingen die Sowjets und die SED-Führung zu einer forcierten Festlegung der SED wie auch der KPD auf das Vorbild KPdSU über. Die Politik der Kommunisten in Deutschland nach 1945 offenbarte, wie schon ähnlich in der Weimarer Republik, nicht nur deren enge Anbindung an die kommunistische Führungsmacht Sowjetunion, sondern auch ihre bedingungslose Unterordnung unter die strategischen Ziele der Imperialmacht Sowjetunion. Die Anfänge der parteiinternen bzw. -eigenen Sicherheitsapparate der KPD/SED in der SBZ gehen bereits auf die ersten Nachkriegsmonate zurück und stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Aufbau des zentralen Parteiapparates der KPD und den Machtkämpfen zwischen Walter Ulbricht und Franz Dahlem. Wäh65 66

Siehe Michael Kubina: Von Utopie, Widerstand und K a l t e m Krieg. Das unzeitgemäße Leben des Berliner Rätekommunisten A l f r e d Weiland ( 1 9 0 6 - 1 9 7 8 ) , Münster et al. 2 0 0 1 . Vgl. dazu auch die Rezension v o n Michael Scholz in H e f t 12 der Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat.

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rend Dahlem mit Rückendeckung Moskaus, das eine zu starke Machtkonzentration in den Händen Ulbrichts offenbar verhindern wollte, den Zugriff auf die gesamte Kader- und Organisationsarbeit der Vierzonen-Partei zugewiesen bekam und unter seiner Kontrolle den Abwehrapparat der Partei aufbauen ließ,67 nutzte Ulbricht unter Kontrolle der sowjetischen Besatzungsmacht an der „Basis" aufgebaute Informationsapparate der Partei, die so genannten „Ifo-Dienste" in der SBZ. 68 Aus verschiedenen Gründen wurden die Ifo-Dienste wie auch der Abwehrapparat Ende der vierziger Jahre aufgelöst bzw. umorganisiert. Ulbricht konzentrierte sich der eigenen Zuständigkeit im Parteiapparat für die Anleitung des Staatsapparates in der SBZ wegen als auch infolge der generellen Ausrichtung auf Schaffung eines östlichen Teilstaates - auf die Nachrichten- und Repressionsapparate im staatlichen Bereich. Dahlem verlor durch die Entwicklung auf Teilstaatsbildung hin sukzessive an Gewicht im SED-Führungszirkel. Der staatliche Abwehrapparat wurde 1949/50 faktisch aufgeteilt. Der parteiinterne Abwehrapparat wurde in die neu geschaffenen Parteikontrollkommissionen (PKK) integriert, die dem mit Ulbricht verbundenen Moskau-Kader Hermann Matern unterstand. Der gen Westen gerichtete Teil wurde in die neu geschaffene Westkommission beim Politbüro übernommen. Stahlmanns Grenzapparat blieb von diesen Reorganisationen unberührt. 69 Der Aufbau eines parteieigenen Spitzel- und Abwehrapparates wurde also unmittelbar nach Gründung der KPD im Sommer 1945 beschlossen und lange vor Beginn der so genannten „Stalinisierung" der Partei in Angriff genommen. Initiativen dazu kamen sowohl von der Parteiführung selbst als auch von der sowjetischen Besatzungsmacht. Die Spitzel- und Abwehrarbeit wurde in enger Abstimmung mit dieser, teilweise als „Auftragsarbeit", durchgeführt, konnte sich dabei aber von Anfang an auch auf die Parteigliederungen in den Kreisen und Bezirken stützen und war integraler Bestandteil der Parteiarbeit. Wiewohl von Anfang an auf Herrschaftssicherung im Ostteil Deutschlands ausgerichtet, war die Arbeit des zentralen Parteiapparates doch auch von Beginn an darauf gerichtet, die Einflusspotenziale im Westen auszubauen. Die Geschichte der Entstehung des Westapparates bzw. der Westapparate der KPD/SED ist zugleich die Geschichte des Scheiterns kommunistischer Politik in Deutschland bzw. dem nicht von der Roten Armee und sowjetischem Geheimdienst kontrollierten Teil Deutschlands. Da dieses Scheitern nicht auf die Inhalte der Politik und die enge Anbindung an die sowjetische Besatzungsmacht („Russenpartei") zurückgeführt werden durfte, konnten die Ursachen nur in einer mangelnden Umsetzung der an sich Erfolg versprechenden politischen Vorgaben aus Moskau bzw. Berlin gesucht werden. Dieser vermeintlichen Ursache des Scheiterns versuchte die Parteiführung in Berlin durch einen ständigen Um- und Ausbau ihres Anleitungs- und Kontrollapparates entgegenzuwirken. Die Bedeutung der Westarbeit für die K P D / S E D bzw. die Sowjets (wie auch der Kaderpolitik allgemein) kommt unter anderem auch darin zum Ausdruck, dass der zentrale Westapparat nach der Fusion von K P D und SPD zur S E D ein von jeglicher Paritätsforderung unberührt agierender reiner KP-Apparat blieb. Zwar wurden eini-

67 68 69

Siehe Michael Kubina: Der Aufbau des zentralen Parteiapparates der K P D 1945-1946, a. a. O., S. 69 ff. Siehe ders.: Ifo-Dienste und andere parteiinterne „Vorläufer" des MfS, a. a. O., S. 995 ff. Siehe ders.: „Was in dem einen Teil verwirklicht werden kann mit Hilfe der Roten Armee, wird im anderen Kampffrage sein", a. a. O., S. 483 ff.

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ge Schlüsselpositionen mit Moskau-Emigranten besetzt, die Mehrzahl der Kader im Bereich der Westarbeit kam allerdings nicht direkt aus der Moskauer Emigration. Sie hatten vor 1945 zumeist in Spanien, Frankreich oder Skandinavien in den konspirativen Apparaten der Partei und teilweise direkt für sowjetische Dienste gearbeitet. Die Konzentration von Westemigranten bzw. ehemaligen KZlern hatte wahrscheinlich mehrere Gründe: Für den Kampf - wie es später beim MfS hieß - im „Operationsgebiet" waren Erfahrungen in der konspirativen Arbeit wie auch genaue Kenntnisse der Entwicklung in Deutschland bzw. der kommunistischen Kader vor 1945 unabdingbar.70 Auch der „Mangel" an bedingungslos moskauhörigen Kadern für die Unterwerfung der SBZ, die zumindest unter dem Kaderaspekt offenbar immer Priorität hatte, dürfte eine Rolle gespielt haben. In der Aufbauphase der konspirativen SED-Apparate gab es weder formal noch faktisch eine klare Kompetenzabgrenzung zwischen technischem Apparat, Abwehr und Aufklärung. Zunächst herrschte in weiten Bereichen Improvisation vor. Aber auch später waren Abwehr und Aufklärung in der Praxis kaum voneinander zu trennen. Eindeutige Aussagen über die Anbindung an sowjetische Dienste lassen sich auf der derzeitigen Quellenbasis nicht machen.71 Am Beispiel von Alfred Weiland und dessen GIS kann jedoch exemplarisch auch die konkrete Arbeit der konspirativen Apparate in der SBZ und in den Westteil Deutschlands hinein belegt werden. Weilands GIS waren eine der ersten antibolschewistischen Widerstandsgruppen nach dem Kriege und wurden so zu einer der ersten Herausforderungen für die konspirativen Apparate der KPD/SED, vor allem was die Abwehrarbeit innerhalb der Partei bzw. der SBZ anging, aber auch im Rahmen des Versuchs der Einflussnahme der SED auf die Entwicklung der Parteienlandschaft im Westen. Die parallele Betrachtung der Entwicklung der parteieigenen konspirativen Apparate und einer ihrer Gegnerorganisationen wie auch der Rolle der sowjetischen Staatssicherheit ermöglichte es, auch für dieses quellenmäßig schwierige Terrain die Ebene der „Beschlusslagenforschung" hinter sich zu lassen und die Umsetzung der von der zentralen Ebene getroffenen Entscheidungen und beschlossenen Anweisungen in der Praxis zu überprüfen und in ihren Wirkungen zu bestimmen. Der zentrale Parteiapparat stellt sich so nicht nur auf der Beschlussebene, sondern auch nachgewiesen in der politischen Praxis als Hilfssteuerapparat der Besatzungsmacht dar, der zugleich konstitutiver Teil der Repressionsapparate in der SBZ war. Er war von Anfang an auf die Errichtung einer totalitären Diktatur nach sowjetischem Muster ausgerichtet. Der sofortigen Umsetzung standen lediglich einschränkende Rahmenbedingungen (gesamtdeutsche Optionen der Sowjetunion, Viermächteverwaltung, internationale Beziehungen, Kadermangel etc.) entgegen, aber keine alternativ erwogene Konzepte einer irgendwie demokratisch organisierten Gesellschaft in der SBZ.

70 71

Darauf verweist auch Michael F. Scholz: Skandinavische Erfahrungen erwünscht? Nachexil und Remigration. Die ehemaligen KPD-Emigranten in Skandinavien und ihr weiteres Schicksal in der S B Z / D D R (HMRG Beiheft 37), Stuttgart 2000, S. 210 ff. Zu den sowjetischen Sicherheits- und Geheimdienstapparaten in Deutschland siehe Vladimir Vladimirov Sacharov/Dimitrij Nikolaev Filippovych/Michael Kubina: Tschekisten in Deutschland. Organisation, Aufgaben und Aspekte der Tätigkeit der sowjetischen Sicherheitsapparate in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (1945-1949), in: Manfred Wilke (Hg.): Anatomie der Parteizentrale, a. a. O., S. 293-336.

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Der Kampf des KPD/SED-Apparates galt dabei von Anfang an nicht nur dem „Klassengegner", sondern sozialistischen „Dissidenten" jeglicher Couleur innerhalb und außerhalb der eigenen Partei. Für in der Forschung vertretene Vorstellungen von Chancen eines demokratischen Neubeginns 1945 in der SBZ und einer erst im Zuge des sich zuspitzenden Kalten Krieges beginnenden „Stalinisierung" der SED (1948) blieb vor diesem Hintergrund kaum noch Raum. Zwar setzten Massensäuberungen in der Partei erst mit dem Jahr 1948 ein, die Schaffung der personellen, strukturellen wie informatorischen Voraussetzungen dazu begann jedoch bereits mit dem Aufbau des zentralen Parteiapparates der KPD im Sommer 1945. Als der Staat 1949 „ihrer" wurde, konnten die Kommunisten in Deutschland die verdeckt in die Partei eingebauten Spitzel- und Abwehrapparate mit den anderen entsprechenden Apparaten außerhalb der Partei zusammenführen. Dies geschah Anfang 1950 mit der Gründung des Ministeriums für Staatssicherheit, das sich fortan als „Schild und Schwert" der Partei verstand. Schluss Hermann Weber ist zuzustimmen, wenn er feststellt, „daß auch schon für die Frühgeschichte der S E D gilt, was generell über die S E D und die D D R festzuhalten bleibt: Die Verhältnisse in der S E D - D i k t a t u r waren noch schlimmer, als selbst bei kritischer Sicht von außen auf die D D R anzunehmen war." 7 2

Und man kann hinzufügen, dass das Ausmaß an Fremdbestimmung der KPD/SED noch größer war und dass entscheidende Weichenstellungen auf dem Wege zur totalitären Parteidiktatur früher vorgenommen wurden, als bisher angenommen wurde. Die zentralen Thesen bzw. Arbeitsergebnisse des Projektes haben bereits Eingang in die wissenschaftliche Literatur gefunden.73 So bauen beispielsweise die Arbeiten von Mike Schmeitzner und Stefan Donth vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung über den Parteiapparat in Sachsen auf den Arbeiten des Forschungsverbundes auf bzw. knüpfen an unsere Thesen an.74 Schmeitzner kann auf Landesebene am Beispiel der Parteischulung unsere These belegen, dass die KPD/SED von Anfang an als marxistisch-leninistische und zugleich staatsaufbauende Partei von den „Moskau-Kadern" im Auftrag der Sowjets in der SBZ installiert wurde.75

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Siehe Hermann Weber: Die Geschichte der frühen SED. Überlegungen gestern und heute, in: Gisela Helwig (Hg.): Rückblicke auf die DDR. Festschrift für Ilse Spittmann-Rühle, Köln 1995, S. 17-25, hier S. 25. In der jüngst erschienenen vierbändigen Deutschen Geschichte von Rolf Steininger heißt es unter ausdrücklichem Bezug auf den Band „Anatomie der Parteizentrale", dass der 1992 gegründete Forschungsverbund SED-Staat an der F U Berlin neben dem Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam „zu den wohl wichtigsten Orten zur Erforschung der SED/DDR-Geschichte" geworden ist. Siehe ders.: Deutsche Geschichte. Darstellung und Dokumente in 4 Bänden, Bd. 4: 1974 bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main 2002, S. 430. Siehe Mike Schmeitzner/Stefan Donth: Die Partei der Diktaturdurchsetzung, a. a. O., vor allem S. 45-60. Siehe ebd., S. 472-530, und Mike Schmeitzner: Schulen der Diktatur. Die Kaderausbildung der KPD/SED in Sachsen 1945-1952, Dresden 2001 (Berichte und Studien, 33); vgl. die Rezension dazu von Michael Kubina, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat, Heft 11/2002, S. 182-184. Auch Scholz (Skandinavische Erfahrungen erwünscht?, a. a. O., S. 180 ff.) nimmt explizit Bezug auf Peter Erlers Begriff der „Moskau-Kader".

D i e Etablierung einer Okkupationspartei (2003)

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Die These, die S E D sei zunächst durch einen weltanschaulichen „Kompromisscharakter" gekennzeichnet gewesen und erst ab 1948 allmählich in eine marxistischleninistische Partei umgewandelt worden, lässt sich kaum noch aufrechterhalten. Vertreten wurde diese These unter anderem von Andreas Malycha, der seit 1990 mit einschlägigen Arbeiten zur S E D und insbesondere zum Prozess der Vereinigung von K P D und S P D zur S E D hervorgetreten ist. Zwar vertritt Malycha auch in seinem neuesten Werk noch die These, wonach die Jahre 1946 bis 1948 als Periode einer innerparteilichen Übergangsphase anzusehen seien. 76 Unübersehbar ist jedoch, dass kommunistische Kontinuitätslinien bei ihm jetzt stärker in den Blick genommen und der Zäsurcharakter des Jahres 1948 zurückgenommen wurden. Er spricht nun für die Jahre 1946 bis 1948 von einer „schleichenden Stalinisierung", während er in einer seiner früheren Arbeiten im Jahr 1948 überhaupt erst den „Auftakt zur Stalinisierung" erkennen wollte. 77 Ein anderes Projekt des Forschungsverbundes, welches sich mit der Kulturpolitik der S E D in ihren Anfängen auseinander setzte, stellte fest, dass die Staatsgründung der D D R in kulturpolitischer Hinsicht nur eine begrenzte Bedeutung hatte, da in der S B Z und der späteren D D R die bereits von der K P D seit 1944 ansatzweise und nach 1945 ausformulierten kulturpolitischen Vorstellungen wirksam waren. D a s Jahr 1947 war hierbei - sowohl gesamt- als auch kulturpolitisch - von entscheidender Bedeutung, als von der Sowjetunion in der S B Z die institutionellen und personellen kulturpolitischen Weichenstellungen und die Verpflichtung auf den „sozialistischen Realismus" vorgenommen wurden. 78 Insofern bestätigt dieses Projekt die Kernthese des Projektes „Parteiapparat". Eine von Heike Arnos jüngst vorgelegte Arbeit knüpft unmittelbar an die Arbeitsergebnisse unseres Projektes an und untersucht die „Struktur und Arbeitsweise von Politbüro und Zentralkomitee der S E D 1949-1963", 7 9 also in der Konsolidierungsphase des SED-Apparates. Sie liefert einen Uberblick über die Struktur des Parteiapparates - wie er nach dem Willen der SED-Führung aussehen sollte. Wenn sie damit der weiteren Forschung auch ein wichtiges Nachschlagewerk und Orientierungsmittel zur Hand gibt, war ihr eine so umfassende Darstellung (1949-1963) nur möglich, indem sie sich auf die Auswertung zentraler Bestände im ehemaligen Parteiarchiv konzentrierte. Der weitgehende Verzicht auf die Auswertung einzelner Abteilungsbestände hat aber natürlich zur Folge, dass - abgesehen von der Darstellung der Machtkämpfe in der Führungsebene - die Beschlusslagenebene von ihr kaum überschritten werden kann, das Gewicht einzelner Funktionäre auf Abteilungsebene, die genauen Aufgaben einzelner Abteilungen, die Anweisungsstränge und Einflussmöglichkeiten häufig ausgeblendet bleiben müssen. Besonders deutlich wird das Problem, das von ihr durchaus benannt wird, bei der Frage der verdeckten bzw. geheimen Struktureinheiten im zentralen Parteiapparat. 76 77 78 79

Andreas Malycha: Die SED. Geschichte ihrer Stalinisierung 1946-1953, Paderborn et al. 2000, zum Beispiel S. 122 ff. Siehe Andreas Malycha/Wladislaw Hedeler: Die Stalinisierung der S E D , Mainz 1991 (Podium Progressiv, 4), S. 15. Vgl. Dagmar Buchbinder/Horst Laude/Jochen Staadt: „Die Eroberung der Kultur beginnt". Die Staatliche Kunstkommission für Kunstangelegenheiten und die Kulturpolitik der S E D (19491953), Veröffentlichung in 2003. Siehe Anm. 37. Vgl. auch ihren Beitrag in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat, Heft 13/2003.

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Aufsätze 1991 bis 2006

Die Kommunisten knüpften 1945 - unter den besonderen Bedingungen der Okkupation - an das bolschewistische Prinzip des Nebeneinanders von legalen und illegalen bzw. geheimen Apparaten der Partei an, als sie die KPD/SED im Auftrag der Sowjets als Instrument der sowjetischen Politik aufzubauen begannen. Hinsichtlich dieser verdeckten Strukturen im Parteiapparat (siehe oben) kann sie nur die wesentlich aus unserem Projekt hervorgebrachten bisherigen Kenntnisse über die SBZ-Nachkriegsjahre wiedergeben und die Weiterexistenz dieser und ähnlicher Apparate konstatieren, ohne allerdings neue Erkenntnisse für den von ihr behandelten Zeitraum hinzufügen zu können. Das erste und wichtigste Ergebnis unseres abgeschlossenen Projektes über den zentralen Parteiapparat der SED besteht in der Erkenntnis, dass die in der bundesrepublikanischen DDR-Forschung in Anlehnung an die Selbsteinteilung der Etappen der SED-Geschichte entwickelten Zäsuren zur Geschichte des zweiten deutschen Staates nicht die historische Realität wiedergeben. Die Implantierung des zentralen Parteiapparates der KPD durch die sowjetische Führung im Juni 1945 erfolgte mit der Intention, eine mit der sowjetischen Besatzungsmacht kompatible kommunistische Parteiherrschaft als politische Ordnung unter den besonderen Bedingungen einer Vier-Mächte-Verwaltung des befreiten und besetzten Deutschlands zu etablieren. Damit waren die weiteren Schritte im Aufbau dieser Diktatur unmittelbar abhängig von der Entwicklung der sowjetischen Deutschlandpolitik als Teil der Ausbildung der bipolaren Weltordnung des Kalten Krieges. Die Machtergreifung der KPD begann, was ihre Führung betraf, somit als Struktur innerhalb der sowjetischen Deutschland- und Besatzungspolitik, wobei vor allem „Moskau-Kader" Schlüsselpositionen im Parteiapparat der KPD einnahmen. Seine Etablierung stellte die entscheidende Weichenstellung für den weiteren Gang der Dinge dar und erfolgte unter Kontrolle der sowjetischen Führung. Er war dem Zugriff der Parteimitglieder der KPD ebenso entzogen wie später dem der SED-Mitglieder. Der Aufstieg der KPD erfolgte also nicht kraft eigenen Machtgewinns, sondern als Partei der Besatzungsmacht. Dies war den Zeitgenossen damals auch gegenwärtig: Vier Jahrzehnte der Existenz der DDR konnten dieses Legitimationsdefizit der kommunistischen Herrschaft, das nicht zuletzt in ihrer Entstehung begründet blieb, nicht beseitigen. Das Projekt hat auch einen Beitrag dazu geleistet, die nach Öffnung der Akten des MfS zeitweise unzulässig in den Hintergrund getretene Rolle und Bedeutung der Partei selbst für das Herrschaftsgefüge der SED-Diktatur wieder in den Mittelpunkt zu rücken. Mit den Erkenntnissen über die Implantierung der Parteizentrale der deutschen Kommunisten durch die sowjetische Besatzungsmacht ist auch eine der Voraussetzungen dafür geliefert worden, die asymmetrische Beziehungsgeschichte zwischen den beiden deutschen Staaten während der Teilung des Landes im Rahmen des Kalten Krieges darzustellen, ohne sich allein auf die Beschlusslagen-Forschung in der Uberlieferung des SED-Parteiapparates verlassen zu müssen.

Die Grünen als Objekt der Westarbeit der SED in der Friedensbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss (2003)*

Als vor Monaten die Programmkommission der German Studies Association diesen Themenvorschlag akzeptierte, war seine aktuelle politische Bedeutung nicht absehbar. Kurz vor unserer Konferenz hat Bundeskanzler Gerhard Schröder unter Berufung auf den „deutschen Weg" in der letzten Phase des Bundestagswahlkampfes in spektakulärer Weise in der Irak-Frage die nach dem 11. September 2001 proklamierte „uneingeschränkte Solidarität" mit den Vereinigten Staaten im Kampf gegen den Terrorismus aufgekündigt. Er erklärte, dass sich Deutschland nicht an amerikanischen Militäraktionen gegen den Irak beteiligen werde. Der sich im Wahlkampf in der Defensive befindliche Kanzler nutzte das Thema Krieg und Frieden zur Polarisierung, um das „Friedenslager" in der eigenen Partei zu mobilisieren und die AntiKriegspropaganda der P D S zu neutralisieren. Damit aktivierte der Kanzler gezielt Argumentationsmuster gegen die amerikanische Sicherheitspolitik, die schon in der Kampagne gegen den NATO-Doppelbeschluss 20 Jahre zuvor genutzt wurden und die sich in dem Satz zusammenfassen lassen: Die Amerikaner setzen auf Krieg. Erneut bilden sich in der Bundesrepublik „Personenbündnisse", die im Fall eines IrakKrieges seitens der Vereinigten Staaten „Widerstand" ankündigen. Der Wahlsieg bestätigte den Mobilisierungseffekt, den der Bundeskanzler vor allem mit seinem „deutschen Weg" erzielte. Er verweist zugleich auf die Bedeutung der „Friedensbewegung" gegen den NATO-Doppelbeschluss für die Leitbilder in der politischen Kultur des heutigen Deutschland. Für den Berliner Politikwissenschaftler Ulrich Albrecht, der sich publizistisch aktiv an der Formierung der Protestbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss von 1979 beteiligt hatte, war sie Teil der seit 1945 andauernden Debatte um die Neubestimmung der Rolle Deutschlands in der internationalen Politik. Was für das geteilte Land galt, gilt für das geeinte Deutschland umso mehr, da es nun eine europäische Mittelmacht darstellt. Mit dem Zitat von Albrecht möchte ich zugleich überleiten zu meinem historischen Thema: „Würde Deutschland nach der Erfahrung der Niederlage in zwei Weltkriegen zu einem Revanchekrieg antreten (so vielfache Befürchtungen im Ausland), stünde den Deutschen ein Sonderweg zu, etwa ihre Neutralisierung zwischen Ost und West (und damit womöglich die erneute staatliche Einheit, so ja eine der Optionen bis ins Jahr 1990) oder war die weitgehende Westintegration der Bundesrepublik der beste Weg?"

Vortrag im Rahmen der 26. Jahrestagung der German Studies Association vom 4.-6. Oktober 2002 in San Diego (USA). Zuerst erschienen in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat, Nr. 13/2003, S. 134-139.

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Nur vor dem Hintergrund dieser Grundfrage nach dem deutschen Standort lässt sich die Härte der innenpolitischen Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik um die Wiederbewaffnung in den fünfziger Jahren, als sich die erste außerparlamentarische Friedensbewegung formierte, erklären. Der Protest damals sah in dem Beitritt zur NATO den Verzicht auf die Wiedervereinigung Deutschlands durch die Regierung Konrad Adenauers. Dieses Thema spielte in der Auseinandersetzung um den NATODoppelbeschluss zwischen 1979 und 1983 keine zentrale Rolle mehr. In diesem Konflikt ging es nach dem KSZE-Abkommen von Helsinki von 1975 um den Status quo im geteilten Europa und zwischen beiden deutschen Staaten. Der Zeitpunkt, zu dem der Protest einsetzte, gibt Aufschluss über die westdeutsche Wahrnehmung der beiden Weltmächte, die damals an der Rüstungsspirale drehten. Die „Friedensbewegung" formierte sich nicht 1976. Damals wurden erstmals die Existenz und die Technik der sowjetischen Mittelstreckenrakete vom Typ SS-20 in der Öffentlichkeit diskutiert. Erst im Dezember 1979, als die NATO-Außen- und Verteidigungsminister in Brüssel als Antwort auf die sowjetische Vorrüstung den Doppelbeschluss des Bündnisses verabschiedeten, der grundsätzlich vorsah, das eigene Mittelstreckenpotenzial in Europa zu modernisieren, kam es zu öffentlichen Manifestationen gegen dieses Vorhaben. Der Protest zeigte sich auch unbeeindruckt vom Verhandlungsteil des Doppelbeschlusses. Erst nach dem Scheitern der Verhandlungen zwischen den Amerikanern und der Sowjetunion wollte die NATO nachrüsten. Wenige Tage nach diesem Beschluss der NATO marschierte die Sowjetunion in Afghanistan ein, und damit verschlechterten sich die weltpolitischen Rahmenbedingungen für die Entspannungspolitik in Europa dramatisch. Diese Veränderung der internationalen Konstellation traf innenpolitisch insbesondere Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD), der den NATO-Doppelbeschluss im Bündnis mit herbeigeführt hatte. Er verlor zunehmend die Unterstützung der eigenen Partei für seine Sicherheitspolitik, was im Oktober 1981 offenkundig wurde. Mit einer Großkundgebung im Bonner Hofgarten wurde die bundesdeutsche Protestbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss zu einem politischen Faktor. Besonders für die Sozialdemokraten entstand eine komplizierte Situation, die Stoßrichtung des Protestes richtete sich gegen die von der eigenen Partei geführte Bundesregierung, zumal sich im Zusammenhang mit der Friedensbewegung eine Veränderung des Parteiensystems anbahnte, die die Mehrheitsfähigkeit der SPD bedrohte. In Verbindung mit der Friedensbewegung formierte sich eine neue Partei: Die Grünen. Die Gründungsversammlung fand 1980 vier Wochen nach dem NATO-Doppelbeschluss in Karlsruhe statt. Die neue Partei bündelte unterschiedliche politische Strömungen aus dem linksalternativen und heute verschwundenen bürgerlich-konservativen Spektrum. Ihre programmatische Grundlage basierte auf vier Grundprinzipien: „ökologisch", „sozial", „basisdemokratisch" und „gewaltfrei". Der Grundsatz der Gewaltfreiheit wurde zum obersten Prinzip grüner Politik erhoben und das Ziel postuliert, eine Gesellschaft aufzubauen, „in der die Unterdrückung von Menschen durch den Menschen aufgehoben ist". Hiermit setzten die Grünen eine Tradition sozialistischer Zukunftsvision fort, die auch ihre aktuellen sicherheitspolitischen Forderungen prägte, wie zum Beispiel die nach weltweiter Abrüstung, keine Produktion und Stationierung von NATO-Mittelstreckenraketen, Vernichtung der sowjetischen SS-20, Schaffung atomwaffenfreier Zonen in Ost- und Westeuropa und schließlich Abzug aller fremden Truppen von fremden Territorien. In der Konsequenz liefen diese Positionen auf den Austritt der Bundesrepublik aus der NATO und ihre Neutralisierung hinaus.

Die Grünen als Objekt der Westarbeit der SED (2003)

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Ein Jahr später rückten die Grünen die Friedenspolitik erstmals programmatisch in den Mittelpunkt ihrer Aktivitäten. Kurz vor der Massenkundgebung der Friedensbewegung im Bonner Hofgarten im Oktober 1981 formulierte die Partei eine Politik der Äquidistanz sowohl zu den Vereinigten Staaten als auch zur Sowjetunion. Nach Auffassung der Grünen ging es in der damaligen Hochrüstung zwischen den Weltmächten um die „Aufteilung Europas unter die Hegemonialmächte USA und UdSSR und deren Kampf um die Beherrschung der Erde". Aus dieser Wahrnehmung der internationalen Lage beurteilten die Grünen auch den NATO-Doppelbeschluss und die vorgesehene Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen nicht als „Mittel globaler Abschreckung", um Krieg zu verhüten, sondern als „Teil einer veränderten US-Globalstrategie", die einen „Atomkrieg zunehmend als führbar und begrenzbar" ansieht. Die westlichen Waffensysteme, die noch gar nicht stationiert waren, betrachteten sie als offensive Erstschlagwaffen, die das strategische Gleichgewicht in Europa nicht wiederherstellen, sondern zerstören und damit die Kriegsgefahr erhöhen. Udo Baron kommt in seiner Untersuchung über den Einfluss der SED auf die Partei „Die Grünen", die in diesem Herbst in der Schriftenreihe des Forschungsverbundes SEDStaat erscheinen wird, zu dem Ergebnis: „Auch wenn die Grünen ,weit davon entfernt [waren], in der Sowjetunion einen Hort des Friedens zu sehen', sie die UdSSR ,ihrer Struktur und ihrem Umfang nach' sogar für eine zur ,Eroberung' geeignete Militärmacht hielten und in den SS-20-Atomraketen eine .verstärkte Bedrohung Westeuropas' sahen, so war für sie doch unzweideutig, von wem die Eskalation der Rüstungsspirale ausging - von den USA. Die Vereinigten Staaten stellten die ,stetig vorantreibende Macht im Rüstungskarussell' dar. Die technologisch bedeutsamsten Rüstungsschritte seit dem Zweiten Weltkrieg wurden praktisch immer zunächst von den U S A getan'. Die internationale Konstellation veranlaßte die Grünen, ,jede neue Atomwaffe in Europa' abzulehnen und sich für ein ,atomwaffenfreies Europa einschließlich seiner Randmeere' einzusetzen."

Damit verbunden war die Aufkündigung der Loyalität gegenüber dem eigenen Staat und seiner Bündnisverpflichtung; an deren Stelle wollten die Grünen eine blockübergreifende Loyalität der Völker stiften, die sich auf die Oppositionsbewegungen in den westlichen, aber auch in den östlichen Gesellschaften stützen sollte. Insofern waren die Grünen im Grundsatz auch solidarisch mit der polnischen Freiheitsbewegung und den entstehenden Bürgerrechts- und Friedensinitiativen in den Ländern des sowjetischen Imperiums. Die Grünen waren eine westdeutsche Neugründung und ohne gesamtdeutsche Wurzeln, für sie war die deutsche Teilung eine Konsequenz aus dem vom Deutschen Reich vom Zaun gebrochenen Zweiten Weltkrieg. Die deutsche Zweistaatlichkeit war für sie ein Faktum der europäischen Teilung und zugleich ein Akt der Sühne für Auschwitz. Das zeigte sich im Oktober 1981, als die Grünen als einzige Partei der Bundesrepublik die Geraer Forderungen des SED-Generalsekretärs Erich Honecker akzeptierten, mit denen er vor allem die Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft durch die Bundesrepublik einforderte. Für die Politik der Grünen in der „Friedensbewegung" ist aber die selbstverständliche Akzeptanz der deutschen Zweistaatlichkeit von besonderem Gewicht, da diese Wahrnehmung es der Partei erlaubte, die demonstrative Aktionseinheit mit den westdeutschen Kommunisten einzugehen, ohne die damit verbundenen sicherheitspolitischen Interessen der Sowjetunion am Protest gegen den NATO-Doppelbeschluss im Westen reflektieren zu müssen. Die Programmatik der Grünen prägte Weltsicht und Forderungen der Protestbewegung gegen den

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NATO-Doppelbeschluss. Dies wurde schon im Bonner Hofgarten 1981 deutlich, als Erhard Eppler, Vorsitzender der Grundwertekommission beim Parteivorstand der SPD, das Credo über die politische Zielsetzung der Bewegung formulierte: Sie sollte die Kette der Vor- und Nachrüstung aufbrechen. Die Legitimität des Protests gründete der Redner auf die kreatürlichen Überlebensinstinkte gegen eine Sicherheitsdoktrin der Bundesrepublik, die „mit dem eigenen Selbstmord" drohte. Uberleben wird somit zum Schlüsselwort dieser atompazifistischen Bewegung, die nicht mehr bereit und willens war, die Rahmenbedingungen der Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik zu akzeptieren, zu denen die beiderseits der innerdeutschen Grenze stationierten Kernwaffen gehörten. Aber was hatte die SED mit dieser westdeutschen Protestbewegung zu tun? Parallel zum NATO-Doppelbeschluss nahm die Konzeption der sowjetischen Propagandaoffensive gegen die westliche Antwort auf die SS-20-Vorrüstung Gestalt an. Der „Hauptkriegsschauplatz" des Friedenskampfes würde die Bundesrepublik sein, da hier der größte Teil der amerikanischen Systeme stationiert werden sollte. Ziel der auf die Bundesrepublik gerichteten sowjetischen Aktivitäten, deren Koordination in den Händen der SED lag, war die Erosion der Westbindung in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik. So sollte eine innenpolitische Lage geschaffen werden, in der die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen seitens der Bundesregierung nicht mehr durchzusetzen war. Eine der Voraussetzungen für eine solche Politik war die Aufweichung des antitotalitären Konsenses in der Bundesrepublik im Hinblick auf die Kommunisten. Dies geschah zunächst außenpolitisch in der Ostpolitik gegenüber der SED, dem innerdeutschen Verhandlungspartner der sozialliberalen Koalition auf der anderen Seite nach 1969. Aber auch in der Innenpolitik der Bundesrepublik vollzog sich ein Wandel. Ein Preis der Ostpolitik wurde 1968 gezahlt. Trotz des KPD-Verbots des Bundesverfassungsgerichts von 1956 konnte sich eine neue kommunistische Partei (DKP) konstituieren. In der „Friedensbewegung" wandelte sich die Duldung der Kommunisten bei vielen Sozialdemokraten und Grünen endgültig zur Akzeptanz. Die Personalakten der D K P lagen im Z K der SED. Die D K P war rechtlich eine eigenständige Partei der Bundesrepublik, aber politisch der Interventionsapparat der SED im Westen, den diese auch bezahlte. Der D K P und ihren Vorfeldorganisationen gelang es, auf die Formierung der Protestbewegung steuernden Einfluss zu nehmen. Zwei Beispiele sollen dies belegen. Ein halbes Jahr vor Verabschiedung des Doppelbeschlusses erschien in Köln das Buch des Friedensforschers Gerhard Kade über die „Bedrohungslüge". Der Autor stellte die These auf, die von westlichen Sicherheitspolitikern behauptete Gefahr, die das sowjetische Militärpotential und die SS-20Raketen darstellten, sei nicht existent, es handele sich dabei um eine „Bedrohungslüge" aus dem Propagandaarsenal der Entspannungsgegner. Das Buch wurde im Westen publiziert, aber mit Hilfe von SED-Westexperten ausgearbeitet. Jochen Staadt zitiert in seinem Essay über die „Generale für den Frieden" den Brief von Herbert Häber, ZK-Abteilungsleiter West, an seinen Generalsekretär Erich Honecker, mit dem er ihm dieses Werk überreichte: „Professor Kade ist ein uns sehr nahestehender Wissenschaftler der BRD, der eine führende Rolle im BRD-Komitee für Frieden und Abrüstung spielt." Die „Bedrohungslüge" gehörte zu den Agitationsschriften, mit denen die DKP-Kader in der Friedensbewegung die Frage nach den sowjetischen SS-20-Raketen zurückdrängten.

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Da die DKP und ihre Vorfeldorganisationen selbst nicht in der Lage waren, unter eigener Flagge eine Massenmobilisierung herbeizuführen, mussten sie ebenso wie die SPD die von den Grünen bestimmte Programmatik der Protestbewegung nutzen. Dies gelang ihnen in Gestalt des „Krefelder Appells", der im November 1980 veröffentlicht wurde. Der politische Kern des Unternehmens ging als „Minimalkonsens" in die Geschichte dieser Friedensbewegung ein: „Wir appellieren an die Bundesregierung, die Zustimmung zur Stationierung von Pershing-II-Raketen und Marschflugkörpern in Mitteleuropa zurückzuziehen." Mit diesem Satz wurde der Protest ausschließlich gegen die amerikanischen Mittelstreckenraketen gelenkt. Dies nahmen die Grünen bei aller grundsätzlichen Aquidistanz billigend in Kauf. Zu den Wegbereitern dieser Erklärung gehörte auch Professor Kade, der als IM „Super" von der Hauptverwaltung Aufklärung des MfS geführt wurde. Aber den Mobilisierungseffekt erzielte dieser als Unterschriftenaktion verbreitete Appell durch zwei andere Namen, denen von Petra Kelly, Sprecherin der Grünen, und Bundeswehrgeneral a. D. Gert Bastian. Erst durch sie wurde dieser „Minimalkonsens" zur Mobilisierungsplattform der Bewegung. Die SED konnte fürs Erste zufrieden sein. Es gelang mit ihrer Hilfe, die SPD zu einem Kurswechsel im Hinblick auf den NATO-Doppelbeschluss zu bewegen. Aber dieser Kurswechsel forderte einen hohen Preis. Da Bundeskanzler Helmut Schmidt die Unterstützung seiner Partei verlor, zerbrach die sozialliberale Koalition 1982. Die FDP bildete mit der Union unter Führung von Bundeskanzler Helmut Kohl eine neue Regierung, die die Neuwahlen 1983 gewann. Aber auch die Grünen zogen in den Bundestag ein und etablierten sich als parlamentarische Partei auf Bundesebene. Ihr Einzug war ein Erfolg der außerparlamentarischen Protestbewegung, und die Grünen nutzten in der „Friedensbewegung" auch ungeniert das logistische Potenzial des SED-Interventionsapparates in der Bundesrepublik. Bundeskanzler Helmut Kohl dagegen ließ keinen Zweifel daran, dass er uneingeschränkt zum Doppelbeschluss der NATO stehen und die Politik seines Amtsvorgängers fortsetzen werde. Nachdem die amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen in Genf 1983 gescheitert waren, beschloss der Bundestag gegen die Stimmen von SPD und Grünen die Nachrüstung und damit die Stationierung der amerikanischen Raketensysteme in der Bundesrepublik. Die Grünen versuchten aus der Opposition heraus ihrem Neutralismus Nachdruck zu verleihen, denn eines gilt es an dieser Stelle festzuhalten: Die „Friedensbewegung" war in ihrem Kern neutralistisch, aber nicht einseitig pro-sowjetisch. Es gehört zu den Verdiensten von Petra Kelly, dass sie entschlossen die Formierung einer DDR-Friedensbewegung auch mit spektakulären Aktionen in Ostberlin unterstützte und die Friedensfrage mit der nach den Menschenrechten verknüpfte. Dieser Kurs war bei den Grünen nicht unumstritten. Es gab einen „etatistischen Flügel", zu dem Otto Schily gehörte, und einen „ökosozialistischen Flügel", deren Mitglieder heute überwiegend in der PDS zu finden sind, die vor allem auf den Dialog mit den herrschenden kommunistischen Parteien setzten, ebenso wie das die SPD nach 1983 tat. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Grünen im Kalkül der sowjetischen Kampagne gegen den NATO-Doppelbeschluss in der Bundesrepublik zu Beginn der Kampagne eine Schlüsselrolle einnahmen, da ihre atompazifistische Überlebensprogrammatik das Selbstverständnis der Teilnehmer an den außerparlamentarischen Aktionen ausdrückte. Es gelang den Kommunisten, mit dem „Krefelder Appell" einen Minimalkonsens mit den Grünen zu formulieren, der politisch die Stoßrichtung des Protestes gegen die Sicherheitspolitik der NATO und der Bundesregierung lenkte. Dieser Minimalkonsens war möglich, weil auch die Grünen die Vereinigten Staaten

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als „Hegemonialmacht" begriffen, die sich mit der Sowjetunion im Kampf um die Beherrschung der Welt befinde. In der Wahrnehmung der beiden Weltmächte und ihres Wettrüstens sahen die Grünen in den Vereinigten Staaten die dynamischere Macht, deren militärisch-industrieller Komplex das Wettrüsten aus ökonomischen und militärstrategischen Gründen vorantreibe. In dieser Beurteilung des wichtigsten Bündnispartners der Bundesrepublik Deutschland trafen sich damals Kommunisten, Grüne und große Teile der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften. Erst die Unterstützung der Friedens- und Bürgerrechtsbewegung in der D D R und in den Staaten des sowjetischen Imperiums durch Petra Kelly und andere Politiker der Grünen ab 1983 zwang die Kommunisten zur Distanz von ihrem nunmehr für die eigene Herrschaft sicherheitsgefährdenden Partner.

Die „zweite Staatsgründung" der DDR 1953 (2003)*

Ein wenig beachtetes Problem der deutschen Teilungsgeschichte besteht darin, dass die politischen Zäsuren der Bundesrepublik und der D D R nicht identisch sind. Die Diskontinuität der Ereignisse in beiden Staaten erschwert noch immer eine gesamtdeutsche Perspektive außerordentlich, da bei der weiterhin geteilten Erinnerung der Erlebnisgeneration entweder die Chronologie West oder Ost dominiert, was natürlich besonders für den 17. Juni und seine Folgen im Osten und im Westen gilt. Die These von der „zweiten Staatsgründung" nach dem 17. Juni Armin Mitter hat im Rahmen einer umfangreichen Untersuchung über den 17. Juni 19531 die These formuliert, dass nach der gescheiterten Revolution seitens der SED „einschneidende Veränderungen" vorgenommen wurden, „die eine ,innere Staatsgründung' bewirkten"2. Im Kern bedeutete dies, dass die Sowjetunion der SED-Führung mehr Verantwortung für die „Aufrechterhaltung der kommunistischen Herrschaft in einem Teil Deutschlands" 3 zubilligte, ohne dass dies eine grundsätzliche Veränderung im „Unterstellungsverhältnis"4 bedeutete. Auch danach konnte die SED keine Entscheidungen in der Innen- und Außenpolitik ohne Zustimmung der sowjetischen Führung treffen. Angesichts der Vielzahl von Änderungen in der Herrschaftsordnung in der DDR, die nach diesen Tagen im Juni erfolgten, angefangen von einer Kaderüberprüfung in der SED, der differenzierten Neuordnung des StaatKirche-Verhältnisses bis zum Aufbau der paramilitärischen „Kampfgruppen der Arbeiterklasse", ist dies eine plausible historische Verortung dieser Krisenbewältigung der SED in der Geschichte der DDR. Aber die These ist unvollendet und DDR-zentriert. Es fehlt ihr die Verortung in die deutsche Teilungsgeschichte. 1952/53 waren die beiden deutschen Staaten noch nicht souverän, und die oberste Regierungsgewalt lag noch bei den Hohen Kommissaren der vier Siegermächte. Ihren politischen Stellenwert als Hüter der originären Siegerrechte in Deutschland hatte die Sowjetunion in der D D R am 17. Juni nachdrücklich mit dem Militäreinsatz und dem damit verbundenen Ausnahmezustand demonstriert. Hinsichtlich der Souveränität der beiden Teilstaaten fiel eine doppelte Richtungsentscheidung für die Bundesrepublik und die

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Zuerst erschienen in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Heft 6/2003, S. 349-359. Ilko-Sascha Kowalczuk/Armin Mitter/Stefan Wolle (Hg.): Der Tag X - 17. Juni 1953. Die „Innere Staatsgründung" der D D R als Ergebnis der Krise 1952/54, Berlin 1995, 2. Aufl. 1996. Ebd., S. 27. Vgl. ebd. Vgl. ebd.

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A u f s ä t z e 1991 bis 2006

DDR bereits 1952, die mit Blick auf die DDR nach dem 17. Juni seitens der Sowjetunion bekräftigt wurde. 1952: Deutschlandvertrag und A u f b a u der Grundlagen des Sozialismus Bundeskanzler Konrad Adenauer setzte mit dem Abschluss des Deutschlandvertrages Ende Mai 1952 die Westintegration der Bundesrepublik und damit die „kontrollierte Partnerschaft mit den bisherigen Besatzungsmächten"5 durch. Der Versuch der sowjetischen Führung, 1952 mit dem Angebot an die Westmächte einen Friedensvertrag mit Deutschland abzuschließen, um diese Westbindung der Bundesrepublik zu verhindern, scheiterte. In dem sowjetischen Vertragsangebot hieß es wörtlich: „Es versteht sich, dass ein solcher Friedensvertrag unter unmittelbarer Beteiligung Deutschlands, vertreten durch eine gesamtdeutsche Regierung, ausgearbeitet werden muss." 6 Die Bedingung für das Einverständnis der Sowjetunion zu freien Wahlen war die Neutralisierung Deutschlands. Die Westmächte lehnten dieses Angebot ab.7 Die Antwort der D D R auf den westlichen Deutschlandvertrag gab der Generalsekretär der SED, Walter Ulbricht, auf der II. Parteikonferenz seiner Partei im Juli 1952. Er verkündete den überraschten Delegierten und der Öffentlichkeit, dass man nun in der D D R dazu übergehe, die Grundlagen des Sozialismus aufzubauen, ohne auf die Entwicklung in Westdeutschland Rücksicht zu nehmen. Der Abschluss des Deutschlandvertrages und Ulbrichts Antwort vertieften die Spaltung. Beide Entscheidungen zeigten, dass für den Bundeskanzler und den Generalsekretär die Befestigung der eigenen provisorischen Staatsgründungen im Vordergrund ihrer Realpolitik standen. Teilsouveränität erlangten beide Staaten im gemeinsamen Gegeneinander. Aber die jeweils unterschiedliche Entwicklung einer deutschen Zukunft in gegensätzlichen Staats- und Gesellschaftsordnungen behielt ihre Ambivalenz. Beide Seiten gaben ihren Anspruch, als Kernstaaten für ein künftig einheitliches Deutschland zu handeln, nicht auf, zumal alle vier Mächte auf ihrer Gesamtverantwortung für Deutschland als Ganzes beharrten. Beide Staatsführungen mussten somit eine Interessenidentität zwischen ihren deutschlandpolitischen Grundsatzzielen und denen der jeweiligen Besatzungsmächte sichern. Das galt ebenfalls für die SED-Führung, denn auch der Sowjetunion ging es „immer um ganz Deutschland: Das galt im Hinblick auf die Reparationen und die Kontrolle der Ruhr genauso wie im Hinblick auf die Sicherheit vor diesem Land." 8 Adenauer handelte als Kanzler einer frei gewählten Regierung, als er den Deutschlandvertrag paraphierte. Eine solche Legitimation besaß die SED-Führung nicht. Ihre Chance zu mehr Eigenständigkeit gegenüber der sowjetischen Vormacht kam erst nach der Ablehnung des sowjetischen Deutschlandplans durch die Westalliierten. Die SED-Führung bekam ihre Chance, eine Interessenidentität zwischen der Herrschaft

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Rudolf Morsey: Die Deutschlandpolitik Adenauers, Opladen 1991, S. 25. Deutsches Institut für Zeitgeschichte (Hg.): Dokumente zur Deutschlandpolitik der Sowjetunion, Bd. I, Berlin (Ost) 1957, S. 289. Vgl. hierzu Gerhard Wettig: Bereitschaft zu Einheit in Freiheit? Die sowjetische DeutschlandPolitik 1945-1955, München 1999. Rolf Steininger: Deutsche Geschichte 1945 bis zur Gegenwart, 4 Bde., Frankfurt am Main 2002, Bd. 2, S. 321.

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der Kommunisten über einen deutschen Teilstaat und der Sowjetunion herzustellen, die so lange nicht bestand, als die vier Mächte noch über die Lösung des Deutschlandproblems verhandelten. Bis 1952 waren Ulbricht, Wilhelm Pieck, Anton Ackermann und all die anderen Moskauer Kader der Sache nach noch immer Beauftragte der sowjetischen Besatzungsmacht. Sie führten in ihrem eigenen Verständnis einen Staat auf Widerruf. Aber seit 1945 bestand trotzdem ein Widerspruch in der Interessenlage zwischen Ulbricht und Jossif W. Stalin. In der Praxis der SBZ setzte die Besatzungsmacht in Konflikten entschieden und kompromisslos den kommunistischen Führungsanspruch durch. In den alliierten Verhandlungen dagegen vertrat sie stets die Option der deutschen Einheit, die sich 1952 zerschlug. Gegenüber der optionalen Politik der Sowjetunion in der Deutschlandfrage besaß die K P D / S E D aber recht bald nur eine realistische Alternative: „die Durchsetzung ihrer kommunistischen Ziele - wenn schon nicht in ganz Deutschland, so doch zumindest in der SBZ" 9 . Die Interessenidentität zwischen der sowjetischen Deutschlandpolitik und der der SED wurde in dem Beschluss der II. Parteikonferenz hergestellt, in dem die SED sich zum Kampf für einen „Friedensvertrag" verpflichtete, der Deutschland in den Ostblock führen würde: „In Deutschland ist die zentrale Frage der Kampf um einen Friedensvertrag und um die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands. Durch das Wiedererstehen des deutschen Militarismus und Imperialismus mit Hilfe der amerikanischen, britischen und französischen Okkupationsmächte, durch den Abschluss des Separatpaktes [gemeint ist der Deutschlandvertrag, M. W.] ist der Frieden bedroht und die deutsche Nation in Gefahr."10 Dieser Beschluss verband somit das künftige mit dem realpolitischen Ziel: des eigenständigen SED-Staates, begründet mit der Schuldzuweisung an den Westen für die Spaltung Deutschlands. Die Zustimmung zum Aufbau eines sozialistischen Kernstaates erteilte Moskau. Am 8. Juli 1952 stimmte das Zentralkomitee der KPdSU dem Kurs auf den beschleunigten Aufbau des Sozialismus in der D D R zu." Die „Bestätigung" der Absicht der SED fiel der Moskauer Führung umso leichter, als die Westmächte Stalins Deutschlandplan abgelehnt hatten. Wilfried Loth hat die bruchstückhafte Überlieferung von Stalins Reaktion gegenüber der SED auf das Scheitern seiner deutschlandpolitischen Offensive 1952 zusammengefasst. Die westliche Antwortnote kam am 25. März, am 1. April fand im Kreml ein Treffen zwischen Pieck und Stalin statt. Pieck teilte Stalin mit, der SPD-Vorstand werde den SED-Vorschlag zur Bildung einer „Aktionseinheit für den Friedensvertrag" zwischen beiden Parteien wahrscheinlich ablehnen und der Westintegration der Bundesrepublik zustimmen. In der Abschlussbesprechung am 7. April notiert Pieck Stalins Bewertung der westlichen Antwortnote mit den Worten: „bisher alle Vorschläge abgelehnt [...]" und weiter: „keine Kompromisse/ [...] Atlantikpakt - selb-

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Mike Schmeitzner/Stefan Donth: Die Partei der Diktaturdurchsetzung. K P D / S E D in Sachsen 1945-1952, Köln/Weimar/Wien 2002, S. 531. Zur gegenwärtigen Lage und zu den Aufgaben im Kampf für Frieden, Demokratie und Sozialismus, in: ZK der S E D (Hg.): Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Bd. IV, Berlin (Ost) 1954, S. 76. Vgl. Andreas Malycha: Die SED. Geschichte ihrer Stalinisierung 1946-1953, Paderborn et al. 2000, S. 461.

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ständiger Staat im Westen". Stalin widersprach nicht der Linie der S E D , nun verstärkt zum „Sturz" der Bonner Regierung aufzurufen. „Einheit - Friedensvertrag - weiter agitieren", notierte Pieck. 12 D e m Vorsitzenden der italienischen Sozialisten Pietro Nenni gegenüber vertrat Stalin am 17. Juli die Ansicht, er „gehe nunmehr davon aus, dass die Teilung Deutschlands noch etliche Zeit andauern wird." D e r italienische Sozialistenführer gewann bei dem Gespräch den Eindruck, dass er „die Hoffnung auf eine erfolgreiche Viermächtekonferenz, auf der Deutschland durch ein Übereinkommen geeint werde, abgeschrieben habe". 1 3 Die Westeinbindung der Bundesrepublik beinhaltete den Aufbau westdeutscher Streitkräfte. In der Logik der Blockkonfrontation des Kalten Krieges zog Stalin die Konsequenz für die D D R . „Als Pieck am 1. April vorsichtig .Schritte zur Bildung der Volksarmee statt Polizei' ansprach [...], ordnete Stalin gleich eine umfassende Bewaffnung an: .Nicht Schritte, sondern sofort'. Sodann entwickelte er auch schon Einzelheiten: ,9-10 Armeekorps 30 Divisfionen] - 300.000 [Mann]/Ausbildung in SU/Jugenddienst' usw. [...] Als Begründung für diese Eile gab er an, die .Demarkationslinie' sei eine gefährliche Grenze': ,Wir müssen mit terroristischen Akten rechnen.' [...] Wichtiger noch für die weitere Entwicklung wurde, dass Stalin, als Pieck von ,steigende[n] Aktivitäten des Feindes' berichtete und dabei insbesondere ,Großbauern' und .Kirche' erwähnte, den Rat gab, um [die] Großbauern einzukreisen [...] auch Produktiv-Genossenschaften im Dorfe ,zu schaffen' und im Zusammenhang mit diesen,Kolchosen' zum ersten Mal .vom Weg zum Sozialismus' sprach."14 Erst nach Öffnung der Archive der S E D wurde der Brief bekannt, den das Politbüro am 2. Juli 1952 an J . W. Stalin richtete und mit dem seine Erlaubnis eingeholt wurde, auf der II. Parteikonferenz den Aufbau des Sozialismus zu verkünden. Es sind drei Fragen, die ihm vorgelegt wurden. 1. Die Einschätzung der Entwicklung der S E D , 2. der Charakter der „Adenauer-Regierung" und 3. „Welches Entwicklungsstadium haben wir in der D D R erreicht?". 1 5 Angesichts der offenen deutschen Frage war es für die S E D zwingend, Gewissheit darüber zu bekommen, ob sie Planungssicherheit für ihr Sozialismusprojekt erhält. Grundlegende Voraussetzung hierfür war, ob die K P d S U der S E D den Rang einer kommunistischen Partei zubilligte, die in der Lage war, die D D R als sozialistischen Staat zu führen. Mit der Frage nach der politischen Ordnung der Bundesrepublik wird auch der provisorische Charakter der beiden deutschen Staaten mit Blick auf die Interessenlage der sowjetischen Deutschlandpolitik thematisiert. Die „Adenauer-Regierung" wird von der S E D als eine „Vasallenregierung der U S A " charakterisiert, und es wird

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Wilfried Loth: Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die D D R nicht wollte, Berlin 1994, S. 185; vgl. auch Rolf Steininger: 17. Juni 1953. Der Anfang v o m langen Ende der D D R , München 2003, S. 29, 33. Wilfried Loth: Stalins ungeliebtes Kind, a. a. O., S. 186. Ebd., S. 186 f. Z u m Komplex sowjetische Deutschlandpolitik und Remilitarisierung der D D R vgl. Gerhard Wettig: Bereitschaft zu Einheit in Freiheit?, a. a. O . Brief des Politbüros an J. W. Stalin, in: Günter Benser: Als der Aufbau des Sozialismus verkündet wurde, Berlin 2002, S. 57.

Die „zweite Staatsgründung" der D D R 1953 (2003)

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behauptet, erst die Entwicklung der D D R zur Volksdemokratie werde eine mobilisierende Wirkung auf die Arbeiterklasse in Westdeutschland haben. Die Voraussetzung hierfür war der Aufbau des Sozialismus in der D D R und seine „Sicherung". Allein dieser Schritt schaffte erst die Voraussetzungen für den Sturz der „Adenauer-Regierung", den die S E D propagierte. Die S E D warf den „amerikanischen Imperialisten" vor, einen neuen Weltkrieg vorzubereiten und entfesseln zu wollen und erklärte: „Der Sturz des Bonner Vasallen-Regimes ist die Voraussetzung für die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands." 1 6 Erst durch diesen Schritt, erklärte Ulbricht den Delegierten der II. Parteikonferenz, könne das Ergebnis des Deutschlandvertrages revidiert und die „Eingliederung Westdeutschlands in den aggressiven Nordatlantikblock" 1 7 verhindert werden. Aber es folgte die nüchterne Feststellung: „Die patriotische Bewegung und die Arbeiterklasse Westdeutschlands haben noch nicht die Kraft, die Unterzeichnung des Bonner Separatpaktes zu verhindern." 18 Angesichts dieser Lage mussten nun die Erfolge der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung, die mit Hilfe der Sowjetunion in der D D R erzielt wurden, befestigt werden durch den Beschluss, „dass in der D D R der Sozialismus planmäßig aufgebaut wird" 1 9 . Die Eigenständigkeit gewann Ulbricht nur, wenn er die Interessenidentität mit der sowjetischen Deutschlandpolitik wahrte. So findet sich in seinem Referat auch die Prognose über die Wirkung, die diese große Vision der S E D in Westdeutschland auslösen wird: „Die zentrale Frage ist und bleibt die nationale Frage, die einen tiefen Sozialinhalt hat. Der Aufbau des Sozialismus in der DDR und in Berlin kann sich auf den Kampf um ein einiges, demokratisches, friedliebendes und unabhängiges Deutschland nur günstig auswirken. Wir halten nach wie vor an unseren Vorschlägen zur Herbeiführung eines Friedensvertrages und der Einheit Deutschlands fest. Die Frage, welche gesellschaftliche Ordnung nach der Vereinigung in ganz Deutschland errichtet werden soll, wird vom gesamten deutschen Volk ohne irgendwelche ausländische Einmischung entschieden werden."20 Ein knappes Jahr später wurde nach dem Tod Stalins in Moskau eine Zwischenbilanz dieses sozialistischen Aufbaus in der D D R gezogen und der S E D ein Kurswechsel verordnet.

Der „neue Kurs" und die sowjetische Deutschlandpolitik A m 2. Juni 1953 war eine Delegation des SED-Politbüros nach Moskau bestellt worden. Sie bestand aus dem Generalsekretär Walter Ulbricht, dem Ministerpräsidenten Otto Grotewohl und dem für Propaganda verantwortlichen Politbüromitglied Fred Oelßner. Sie erschienen zum Befehlsempfang. Die sowjetische „kollektive Führung" hatte nach dem Tod Stalins beschlossen, durch einen „neuen K u r s " den Aufbau des Sozialismus in der D D R zu korrigieren. 21

16 Ebd., S. 71. 17 Walter Ulbricht: Die gegenwärtige Lage und die neuen Aufgaben der SED, in: Protokoll der Verhandlungen der II. Parteikonferenz der SED, 9.-12. Juni 1952, Berlin (Ost) 1952, S. 36. 18 Ebd., S. 37. 19 Ebd., S. 58. 20 Ebd., S. 61 f. 21 Vgl. hierzu: Manfred Wilke/Tobias Voigt: „Neuer Kurs" und 17. Juni - Die 2. Staatsgründung der D D R 1953, in: Andras B. Hegedüs/Manfred Wilke (Hg.): Satelliten nach Stalins Tod, Berlin 2000, S. 24 ff.

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In Moskau wurde die SED-Delegation damit konfrontiert, die Orientierung auf den „beschleunigten Aufbau des Sozialismus" sei falsch gewesen, da in der D D R die Voraussetzungen dafür fehlten. Nach Rückkehr der SED-Delegation nach Berlin blieb dem SED-Politbüro knapp eine Woche, um die sowjetischen Vorgaben in Beschlüsse umzuwandeln. In der Sitzung am 6. Juni 1953 kam es zur offenen und damit kontroversen Aussprache im Politbüro der SED. Rudolf Herrnstadt ging als einziger Redner in seiner Analyse von der sowjetischen Position in der Deutschlandfrage aus. Er tat das, indem er die unterschiedlichen Ausgangspunkte des Beschlusses der KPdSU zum neuen Kurs im Mai 1953 und dem der II. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 miteinander verglich. Die neue Linie aus Moskau, die der SED aufgab, die Lebensverhältnisse in der D D R zu verbessern, um die sowjetischen Ausgangspositionen im Kampf um den Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland zu verbessern, dienten dem Redner als Maßstab, die Folgen der bisherigen Politik zu bewerten. „Wir können nicht behaupten, dass wir von diesem Ausgangspunkt ausgegangen wären, obwohl wir es den Worten nach taten. Sonst wäre es nicht möglich gewesen, dass wir uns mit 450.000 Republikflüchtlingen abfinden konnten, die 450.000 Propagandisten gegen uns drüben sind." 22

Herrnstadt hielt den Ausgangspunkt des Grundsatzbeschlusses von 1952 für „irreal", der etwa so aussah: „Wir bauen den Sozialismus auf, die Deutschlandfrage regelt sich inzwischen auf irgend eine Weise allein, oder wenn sie das nicht tut, wird sie letzten Endes von den Bajonetten der Sowjetarmee geregelt." 23 Aber der Redner beließ es nicht bei dieser Diagnose, er versuchte die mit dem neuen Kurs gesetzte Zäsur für die zukünftige Politik der SED genauer zu erfassen und dabei erinnerte er sich und seine Zuhörer daran, dass die beschleunigte Aufrüstung, die Stalin der D D R verordnete, auch Ausdruck der Sorge war, in Europa könnte es wie in Korea ebenfalls zu einem Krieg kommen: „Als im vergangen Sommer auf der II. Parteikonferenz die Losung .beschleunigter Aufbau des Sozialismus' verkündet wurde, war ich begeistert, aber ich erinnerte mich, dass eine Erwägung mir sehr zu denken gab. Wenn sich die Genossen in Moskau - sagte ich mir damals - entschieden haben, diesem Schritt zuzustimmen, so bedeutet das, dass nach ihrer Auffassung die Perspektive friedliche Einigung' in den Hintergrund zu treten hat gegenüber der Perspektive der bewaffneten Auseinandersetzung. Ihr Einverständnis für diese Losung bedeutet also gleichzeitig ein äußerst negatives Urteil über die Arbeit der KPD und der SED hinsichtlich der entscheidenden Frage, der Deutschlandfrage; es bedeutet die Feststellung, dass die K P D und die SED nicht imstande gewesen sind, in der historisch zur Verfügung stehenden, nun im Wesentlichen abgelaufenen Frist, das Kräfteverhältnis in Deutschland zu unseren Gunsten zu ändern." 24

Mit diesen Ausführungen konstatierte Herrnstadt die Niederlage der sowjetischen und deutschen Kommunisten in ihrer Deutschlandpolitik nach 1945, an deren Formulierung er 1944 in Moskau mitwirkte. Damals bekamen KPD-Kader im Moskauer

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Elke Scherstjanoi: „Wollen wir den Sozialismus?", Dokumente aus der Sitzung des Politbüros des ZK der SED am 6. Juni 1953, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 33. Jg., Heft 5/1991, S. 671. Vgl. ebd. Ebd., S. 673.

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Exil den Auftrag, die Frage zu beantworten, wohin Deutschland nach Hitler gehen werde. Wilhelm Florin eröffnete am 6. März 1944 die Beratungen dieser Arbeitsgruppe mit einem Referat zur nationalen Frage aus der Sicht der KPD im Nachkriegsdeutschland. Ziel der künftigen Politik der KPD müsse es sein, England und die Vereinigten Staaten zu hindern, „Deutschland unter ihre imperialistische Kontrolle [zu] bringen. Sie werden dabei von gewissen Liberalen unterstützt, die sagen: Schaffen wir einen Westplan, der anziehender sein muss als der Ostplan der Sowjetunion. [...] Wir stellen nicht die Frage so: Ost- oder Westorientierung, wir sagen: Frieden und Freundschaft mit allen Nachbarn und besondere Freundschaft mit der Sowjetunion. Wir müssen uns heute schon darauf einstellen, dass das Problem ,enge Freundschaft mit der Sowjetunion' morgen noch viel mehr ein Problem der Lebensexistenz des deutschen Volkes und Deutschlands ist und dass das noch viel schärfer als Scheidelinie zwischen Reaktion und Fortschritt hervortritt als heute."25

Der Chefredakteur des „Neuen Deutschland" zog also einen negativen Schlussstrich unter die historische Frist, die der KPD zur Verfügung stand, um diese Aufgabe im Nachkriegsdeutschland zu lösen. Diese Perspektive aufgegeben zu haben, darin sah er den eigentlich irrealen und metaphysischen Ausgangspunkt für den Beschluss der II. Parteikonferenz. Diese Einschätzung über den historischen Charakter des neuen Kurses, den die KPdSU der SED verordnete, beinhaltete als eine mögliche Schlussfolgerung, dass der Sozialismus in der DDR und damit der Separatstaat der SED aufgegeben werden muss, falls die Sowjetunion die internationalen Verhandlungen zur Lösung der deutschen Frage mit den Westalliierten wieder aufnimmt. Als nach dem 17. Juni Sündenböcke in der Führung der SED gesucht werden mussten und Ulbricht sie in dem Minister für Staatssicherheit, Wilhelm Zaisser, und Rudolf Herrnstadt fand, war diese mögliche Konsequenz des neuen Kurses einer von Ulbrichts Anklagepunkten: „Ein Genösse hat hier die sehr ernste Frage gestellt, ob es einen Zusammenhang der Fraktionsarbeit Herrnstadt/Zaisser mit dem Fall Berija gibt? Ein Genösse Minister hat hier erklärt, dass Zaisser ihm gesagt habe, die neue Linie bestehe in der Nachgiebigkeit gegenüber dem Westen und könne zur Wiedererlangung der Herrschaft der Bourgeoisie führen. Dieser Standpunkt entspricht der politischen Position Berijas, die wiederum mit der Konzeption Churchills im Zusammenhang steht."26

Nach der Volkserhebung: Ulbricht erkennt seine Chance Zehn Tage nachdem Herrnstadt im Politbüro die Niederlage der kommunistischen Politik bei der Lösung der nationalen Frage in Deutschland konstatierte, befand erstmals das Staatsvolk der DDR über die Legitimation dieses Teilstaates. Am 17. Juni kam es in über 700 Orten der DDR zu Streiks und Demonstrationen, an denen sich mehrere 100.000 Menschen beteiligten. Die Volksbewegung wollte spontan das Ende der SED-Diktatur und die einige demokratische Republik der Deutschen. Rücktritt

25 26

Zit. nach Peter Erler/Horst Laude/Manfred Wilke (Hg.): „Nach Hitler kommen wir." Dokumente zur Programmatik der Moskauer KPD-Führung 1944 für Nachkriegsdeutschland, Berlin 1994, S. 143 f. Aus der Geheimrede Walter Ulbrichts vor dem 15. Plenum (Juli 1953); Nadja Schulz-Herrnstadt (Hg.): Rudolf Herrnstadt. Das Herrnstadt-Dokument, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 260.

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der Regierung, freie Wahlen und Fall der Zonengrenzen waren Forderungen, die dieses Ziel zum Ausdruck brachten. In 13 Bezirks- und 51 Kreisstädten verkündeten die sowjetischen Kommandanturen den Ausnahmezustand. Nichts konnte deutlicher die Abhängigkeit der deutschen Kommunisten und ihren Status einer Satellitenregierung bloßstellen als die „fürsorgliche" Internierung des SED-Politbüros in BerlinKarlshorst, die der H o h e Kommissar der Sowjetunion am 17. Juni morgens verfügte. Erst nachdem die sowjetische Armee „Ruhe und Ordnung" in der D D R wiederhergestellt hatte, übernahm die S E D wieder die Regierungsgeschäfte - allerdings in einer gründlich veränderten Konstellation. Die Sowjetunion hatte mit militärischen Mitteln den deutschen Teilstaat in ihrem Imperium gesichert. N u n besaß die S E D die notwendige Planungssicherheit für den Aufbau des Sozialismus. Ulbricht verstand, dass die Sowjetunion mit dem Ausnahmezustand in der D D R , der die S E D - H e r r schaft gesichert hatte, Stalins Erlaubnis für einen eigenständigen sozialistischen Separatstaat bestätigt hatte. Nach dieser massiven Machtdemonstration konnte die D D R nicht einfach preisgegeben werden. Dieses neue Selbstbewusstsein demonstrierte der Generalsekretär bereits am 20. Juni in einer Besprechung in Karlshorst zwischen dem Hohen Kommissar Semjonow, dem Generalstabschef der sowjetischen Armee, Marschall Wassili D . Sokolowski, und vier Spitzenfunktionären der S E D . Herrnstadt hat als Teilnehmer das neue Selbstbewusstsein Ulbrichts festgehalten. Als Semjonow seine deutschen Gesprächspartner fragte, ob ihr Platz jetzt nicht besser in den Betrieben sei, wie dies in der Sowjetunion Lenin und Stalin in Krisenzeiten immer getan hätten, um von dort das Land zu führen, erwiderte Ulbricht „grob, aber der Sache nach völlig richtig: ,Sie haben uns ja selber verboten, in die Betriebe zu gehen!' Semjonow erwiderte gekränkt: ,So darf man nicht argumentieren, Gen[osse] Ulbricht. Das wissen Sie selbst. Mein Verbot bezog sich auf den 17.' Marschall Sokolowski wollte unsere Lage erleichtern, verschlimmerte sie aber. Er sagte sanft (w.): ,Die deutschen Genossen sind wahrscheinlich etwas erschrocken durch die Plötzlichkeit der ganzen Sache.' Mit Bezug darauf sagte Ulbricht, als wir weggingen: Jetzt sollen sie mir noch einmal kommen mit Vorschriften über mein Verhalten! Jetzt mache ich das, was ich für richtig halte!' Wir waren in der Erbitterung alle mit ihm einig."27

Die Aufwertung der D D R als Staat „Deutsche Geschichte nach 1945 ist zuallererst die Geschichte der Teilung Deutschlands in zwei Staaten mit unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen. Diese Teilung ist ein Stück Kalter Krieg, ein seit 1945 langsam fortschreitender, vielschichtiger Prozess gewesen".28 Die Knotenpunkte dieser Teilung sind die in Potsdam 1945 zwischen den drei Hauptsiegermächten vereinbarten Außenministerkonferenzen zur Lösung der Deutschlandfrage. Die gescheiterte Konferenz in London Ende 1947 löste die Konstituierungsphase beider Staaten aus, die 1949 gegründet wurden. D e r Deutschlandvertrag der Bundesrepublik mit den drei westlichen Mächten hatte 1952 die Stalin-Note zur Folge, mit der die Sowjetunion einen souveränen, in die N A T O integrierten Weststaat verhindern wollte, und nach Ablehnung dieses Angebots durfte sich Ulbricht

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Ebd., S. 87 f. Rolf Steininger: Deutsche Geschichte 1945 bis zur Gegenwart, a. a. O., Bd. 2, S. 321.

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als „Baumeister des Sozialismus" in der D D R betätigen. Alle vier Mächte hielten an diesem 1945 in Potsdam beschlossenen Weg gemeinsamer Außenministerkonferenzen hinsichtlich der Deutschlandfrage fest. D e r Tod Stalins und der Amtsantritt des neuen amerikanischen Präsidenten Dwight D . Eisenhower brachten international neue Bewegung in die deutsche Frage. Eisenhower und der britische Premierminister Winston Churchill kündigten die Vorbereitung eines Gipfeltreffens mit der neuen sowjetischen Führung an. Angesichts dieser außenpolitischen Entwicklung, die die S P D nutzte, um eine Vier-Mächte-Konferenz über Deutschland zu fordern, entschloss sich Adenauer zu einer Regierungserklärung vor dem Bundestag am 10. Juni. E r forderte ebenfalls eine „baldige Viermächte-Konferenz" und legte ein Fünf-Punkte-Programm vor, das folgende Schritte vorsah: „Freie Wahlen in ganz Deutschland, Bildung einer gesamtdeutschen Regierung, Abschluss eines frei vereinbarten Friedensvertrages, Regelung der offenen territorialen Fragen und Handlungsfreiheit nach außen" 2 9 . Die Volkserhebung in der D D R unterstützt am 17. Juni mit ihren Forderungen nach freien Wahlen, nach Rücktritt der D D R - R e g i e r u n g und nach der Einheit Deutschlands die Initiativen von S P D und Bundesregierung. In einem Runderlass des Staatssekretärs Walter Hallstein vom 20. Juni wird festgehalten, dass es nun in der westlichen Welt keinen Zweifel mehr geben kann, dass „bei freien Wahlen die Bevölkerung der sowjetisch-besetzten Zone sich für demokratische Parteien aussprechen würde" 3 0 . Nüchtern fährt Hallstein fort: „Der Rückfall der Russen in ein System der nackten Gewaltanwendung muss all denen zu denken geben, die sich in letzter Zeit in Wunschträumen gewiegt haben, dass die Voraussetzungen für eine baldige friedliche Einigung mit Sowjetrussland über die großen schwebenden Fragen Europas und Asiens bereits gegeben sind."" Aber die Bundesrepublik wollte die Volkserhebung nutzen, um die Westmächte zu drängen, eine aktive Politik zur Wiedervereinigung Deutschlands zu betreiben, „wenn die vom Sowjetregime in den letzten Tagen gezeigte Schwäche nicht ungenutzt bleiben soll. Dabei geht die Bundesregierung von der Voraussetzung aus, dass eine endgültige Lösung der deutschen Frage nicht nur dem Sicherheitsbedürfnis Deutschlands, sondern auch dem aller seiner Nachbarn, einschließlich der Sowjetunion, wird Rechnung tragen müssen."32 Nach Auffassung der Bundesregierung war die Uberwindung des Ost-West-Gegensatzes die Voraussetzung für die Lösung der deutschen Frage. Diese Position vertrat Adenauer auch in der Debatte am 1. Juli 1953 im Bundestag:

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30 31 32

Ulrich Enders/Konrad Reiser: Die Bundesregierung im Wahljahr 1953, in: Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Bd. 6: 1953, hrsg. für das Bundesarchiv von Hans Booms, Boppard am Rhein 1989, S. 55. Akten zur auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1953, 2 Bde., Bd. I, hrsg. im Auftrag des Auswärtigen Amts vom Institut für Zeitgeschichte, München 2001, S. 598. Ebd., Bd. I, S. 599. Ebd.

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Aufsätze 1991 bis 2006 „Da die Teilung Deutschlands ein Ergebnis des Ost-West-Konfliktes ist, setzt die Wiedervereinigung die Entspannung dieses Konfliktes voraus. Wiedervereinigung und europäisches Zusammenwirken sind notwendige Teile ein- und derselben Politik."33

Es gelang, die Interessenidentität zwischen der Bundesregierung und den Westmächten herzustellen. Die westlichen Außenminister formulierten Mitte Juli ein Angebot an die Sowjets, eine Konferenz über die deutsche Frage abzuhalten. Im Mittelpunkt stand die Forderung nach freien Wahlen in Gesamtdeutschland, die Einberufung einer Nationalversammlung und einer gesamtdeutschen Regierung. Entschieden sich 1952 die Westalliierten in der Ablehnung der Stalin-Note für den Weststaat, so musste nun die Sowjetunion Farbe hinsichtlich der DDR bekennen. Die sowjetische Führung brachte die Stabilisierung der DDR mit ihrer Deutschlandpolitik gegenüber den Westmächten in Einklang. Sie ließ ihre bislang vertretene Position der EinStaatlichkeit Deutschlands in ihrer Antwort auf die Initiative der Westmächte fallen. Nunmehr betonte die Sowjetunion die Notwendigkeit, in die Verhandlungen über einen Friedensvertrag die „bestehenden Regierungen" beider deutscher Staaten einzubeziehen. Diese Abkopplung eines Friedensvertrages von der staatlichen Einheit bedeutete die Festschreibung der Eigenstaatlichkeit der DDR. Zur Bekräftigung dieser Entscheidung vor der Weltöffentlichkeit empfing die sowjetische Führung vom 20. bis zum 22. August eine Regierungsdelegation der DDR mit allen protokollarischen Ehren in Moskau. Zu den 15 Teilnehmern gehörten nicht nur Grotewohl und Ulbricht, sondern auch die Vorsitzenden des FDGB und der FDJ, Herbert Warnke und Erich Honecker. Der sowjetische Ministerpräsident Georgij M. Malenkow erläuterte der DDR-Delegation am 20. August im Kreml, wie sich seine Regierung eine provisorische gesamtdeutsche Regierung vorstelle, sie sollte „durch die Parlamente der DDR und der Bundesrepublik gebildet werden" 34 . Außenminister Wjatscheslaw W. Molotow teilte mit, zum Ende des Jahres „die Entnahmen von Reparationen" einzustellen und alle 33 sowjetischen Aktiengesellschaften „der Hüttenindustrie, der Chemie und der des Maschinenbaus u. a.", die als Reparationszahlung in Eigentum der Sowjetregierung übergegangen waren, ohne Entschädigung „zu übergeben" 35 . Verteidigungsminister Nikolaj A. Bulganin teilte die Absenkung der Besatzungskosten mit. Einen besonders sensiblen Punkt sprach Außenhandelsminister Anastas J. Mikojan an: den Uran-Bergbau in der DDR, der für das sowjetische Atomwaffenprogramm unverzichtbar war. Er wurde in eine deutsch-sowjetische Aktiengesellschaft umgewandelt, da die Wismut „für die Sicherung der Verteidigung nicht nur der Sowjetunion, sondern auch für die DDR" 36 große Bedeutung habe. Mikojan verkündete auch den Umfang der zusätzlichen Lebensmittel- und Rohstofflieferungen an die DDR. Demonstrativ wurden die diplomatischen Missionen in Moskau und Ostberlin in Botschaften umgewandelt. Grotewohl umschrieb in seiner Dankesrede für die Hilfe noch einmal die Tage im Juni, die zweifelsfrei dieses Hilfsprogramm befördert hatten:

33 34 35 36

Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 122 vom 2. Juli 1953, Bonn 1953, S. 1034. Protokoll der Eröffnungssitzung vom 20. August 1953 im Kreml, in: SAPMO-BArch, Bestand Otto Grotewohl, NY 4890/471, S. 3. Ebd., S. 4. Ebd., S. 9.

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„Sie wissen, dass wir eine Periode der politischen und ökonomischen Verhältnisse in der DDR in den letzten Monaten durchgemacht haben, die zweifellos falsch war. Wir haben uns bemüht, aus diesem Kreis herauszukommen, aber es lag vollkommen klar, dass das durch unsere eigenen Kräfte vollkommen unmöglich war."37 Die sowjetische Hilfe, so hoffte Grotewohl, „wird bedeuten, dass unser Volk begreifen lernt, eine solche Hilfe können nur wahre Freunde geben" 38 . Ulbricht betonte die deutschlandpolitische Bedeutung der sowjetischen Antwortnote an die Westmächte vom 15. August 1953 und das wirtschaftliche Hilfsprogramm für die D D R . Beides versetze die S E D in die Lage, „auch in Westdeutschland wirklich vorzustoßen und aus der Defensive herauszukommen. Die westdeutschen amerikanischen und Bonner Banditen haben es fertig gebracht, eine illegale faschistische Organisation in der DDR zu organisieren; aber jetzt werden wir in der Lage sein, eine breite Bewegung für die Einheit Deutschlands zu entfalten."39 Die „äußere Staatsgründung" der D D R nahm der sowjetische Ministerpräsident Malenkow in der Unterstreichung der gesamtdeutschen Mission der D D R vor: „Die DDR ist eine Bastion und ein Staat des ganzen deutschen Volkes. Eine große Verantwortung für die Zukunft Deutschlands liegt auf der DDR. Sie ist geboren, um ein neues, großes, friedliebendes Deutschland zu schaffen, um den Frieden und die Sicherheit in Europa und in der ganzen Welt zu sichern."40 Auffällig ist, dass Ulbricht genau darauf achtete, in seiner Rede die eigenen Positionen sorgfältig mit denen seiner sowjetischen Vorredner in Übereinstimmung zu bringen. Das galt für die Stärkung der D D R ebenso wie für die „Liquidierung der westdeutschen,Agenten-Zentren' in der D D R " 4 1 und die Verpflichtung zur deutschlandpolitischen Initiative für den Abschluss eines Friedensvertrages. Stalins „Verdienst" In den nachfolgenden Jahrzehnten bis 1989 arbeiteten die Parteihistoriker der S E D ebenso wie die westdeutsche DDR-Forschung unermüdlich daran, die Zäsur der II. Parteikonferenz dem DDR-Staatsmann Ulbricht zuzuordnen. Dabei wurde eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Ulbricht'sche Staatskunst in den Hintergrund gedrängt: die Anweisung Stalins, die „Staatsgrenze West" der D D R zu befestigen. Roman Gräfe hat in seiner Chronik über die „Grenze durch Deutschland" den Weg zur Umsetzung der Weisung der sowjetischen Kontrollkommission an das Z K der S E D von Anfang Mai 1952 am Beispiel der thüringischen Stadt Probstzella dokumentiert. Hierzu gehörte auch die „Aktion Ungeziefer", durch die zirka 11.000 als unzuverlässig eingestufte Menschen aus dem Sperrgürtel an der Grenze ausgesiedelt wurden. Im Zeugnis von Klara Gerold wurde einer der wichtigsten Rohstoffe festgehalten, über den der Baumeister Ulbricht verfügte - die Angst:

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Ebd., S . l l . Ebd. Ebd., S. 14. Ebd., S. 16. Vgl. Karl Wilhelm Fricke/Roger Engelmann: „Konzentrierte Schläge", Staatssicherheitsaktionen und politische Prozesse in der D D R 1953-1956, Berlin 1998.

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Aufsätze 1991 bis 2006 „Als in Probstzella die Sperrzone eingerichtet wurde, gab es keinen öffentlichen Protest. Die Leute waren dagegen, aber still und immer mehr still. [...] So ein Abstumpfen und schließlich Ergeben. Das war diese Angst von oben und von unten, dass das hier so laufen konnte. Die Angst war das Bestimmende. Das könnte ja jemand sein, der einen verrät ,.."42

Bleibt noch an die entscheidende Instanz zu erinnern, die bis 1953 über die deutschlandpolitischen Positionen der SED bestimmte. Zu den vielen Versprechungen, die die SED brach, gehörte auch das Gelöbnis gegenüber der KPdSU, „der siegreichen Lehre J. W. Stalins stets die Treue [zu] wahren." 43 Bereits drei Jahre später, nach dem XX. Parteitag der KPdSU, erklärte Ulbricht, „Stalin war kein Klassiker", nach dem XXII. Parteitag der KPdSU 1961 wurde sein Denkmal in Ostberlin über Nacht abgerissen und Stalin-Stadt in „Eisenhüttenstadt" umbenannt. Sein Name wurde aus den Geschichtsbüchern weitgehend getilgt. Schließlich brach die SED-PDS auf ihrem außerordentlichen Parteitag im Dezember 1989 unwiderruflich mit dem „Stalinismus". 50 Jahre nach dem 17. Juni 1953 ist es geboten, an Stalins Rolle bei dem Schritt der SED zu erinnern, 1952 in der DDR die Grundlagen des Sozialismus aufbauen zu wollen.

42 43

Roman Gräfe: Die Grenze durch Deutschland. Eine Chronik von 1945-1990, Berlin 2002, S. 47. Trauersitzung des Zentralkomitees, in: ZK der SED (Hg.): Dokumente der SED, a. a. O., Bd. IV, S. 298.

Erinnerung an den Kommunismus nach seinem Sturz

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1. Die Bürde der Erinnerung M i t dem Ende der kommunistischen Diktaturen in der europäischen Herbstrevolution 1989 schienen ihre O p f e r und Gegner gesiegt zu haben. Namentlich die politischen Gefangenen erwarteten nun Gerechtigkeit und die öffentliche Anerkennung ihres Widerstandes und des damit verbundenen persönlichen Leides. In einer nachkommunistischen Transformationsgesellschaft standen die Verbände der O p f e r des K o m m u n i s m u s nun vor der Grundsatzfrage: Wie kann der K o m m u n i s m u s , der immerhin über siebzig Jahre die Geschichte Europas und der Welt geprägt hat, als Ideologie und lähmendes E r b e überwunden werden, vor allem in den Ländern, die er jahrzehntelang beherrschte? Damals schien der Sieg v o l l k o m m e n zu sein. D i e bis 1989 herrschenden k o m m u nistischen Parteien gaben eilig ihre marxistisch-leninistische Parteikonzeption auf, schworen der Diktatur als Staatsform programmatisch ab, orientierten sich an den sozialdemokratischen Parteien des Westens und verwandelten sich wie in D e u t s c h land in „Parteien des demokratischen Sozialismus". A u c h diese Wandlung gehört zu dem Charakteristikum der europäischen Herbstrevolution 1989. M i t B l i c k auf die Sühne der Verbrechen, die von der gestürzten kommunistischen Partei zu verantworten waren, beließ es zum Beispiel die S E D / P D S bei einer „Entschuldigung" und der Versicherung, man betreibe eine grundsätzliche „Erneuerung" der Partei: „Die Delegierten des Sonderparteitages sehen es als ihre Pflicht an, sich im Namen der Partei gegenüber dem Volk aufrichtig dafür zu entschuldigen, daß die ehemalige Führung der S E D unser Land in diese existenzgefährdende Krise geführt hat. Wir danken aufrichtig den mündigen Bürgern unseres Landes, die die radikale Wende durch ihren mutigen gewaltlosen Kampf erzwungen und uns damit auch die Chance zur revolutionären Erneuerung unserer Partei gegeben haben. Der Außerordentliche Parteitag hat den Bruch mit der machtpolitischen Uberhebung der Partei über das Volk, mit der Diktatur der Führung über die Parteibasis vollzogen." 1 D i e Bereitschaft, den kommunistischen Machtapparat in eine demokratische Partei zu verwandeln, die bereit ist, die Spielregeln parlamentarischer Republiken zu akzeptieren und sich dem Wählervotum zu stellen, war nicht uneigennützig, sie war die Voraussetzung für die gewendeten Diktaturkader, weiterhin politische Verantwortung ausüben zu können. A u f diese Weise wurden die O p f e r des K o m m u n i s m u s gezwun-

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Zuerst erschienen in: Deutschland Archiv, Heft 2/2004, S. 269-279. Lothar Hornbogen et al. (Hg.): Außerordentlicher Parteitag der SED-PDS, Protokoll der Beratungen am 8./9. und 16./17. Dezember 1989 in Berlin, Berlin 1999, S. 142.

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gen, sich erneut mit ihren gestrigen Peinigern politisch über ihre Rehabilitierung, ihre Entschädigung und die wahre Geschichte der Diktatur auseinander setzen zu müssen. Aus dieser Konstellation ergab sich für die Opferverbände eine bedrückende Grundfrage: Wie sollen sie und ihre Mitglieder diesen Politikern entgegentreten, die vor 1989 von den regierenden kommunistischen Parteien als Kader zur Führung ihrer Länder erzogen wurden? In Mittelosteuropa, in Russland und in Südosteuropa wird diese Problematik noch verstärkt, weil in vielen Fällen die Postkommunisten diese neuen Demokratien regieren oder in Koalitionsregierungen an der Macht beteiligt sind. Im Unterschied zu der Zeit vor 1989 sind sie heute ausgestattet mit dem Mandat ihrer Wähler.

2. Die Kraft der Erinnerung Eine Nation ist auf den Konferenzen der Opferverbände selten anwesend, von der aber die kommunistische Herrschaft 1917 ausging: die russische. Anna Achmatowa bewahrte in ihrem Gedicht „Requiem" das Leiden Russlands unter dem Terror der bolschewistischen Diktatur und hat zugleich die verändernde Kraft der Erinnerung beschworen: „Der Tag des Gedenkens ist wiederum da, Ich seh' euch vor mir, wie ich damals euch sah: Dich, die nur mit Mühe das Fenster erreicht, Und dich, die Du längst schon vom Tode gebleicht, Und dich, die so schön, die so lieblich sah aus, Die sagte: ,Ich komme hierher wie nach Haus.' Ich seh' euch, auch wenn mancher Name mir schwand (Man riß uns das kleinste Papier aus der Hand!). Ich habe für euch diesen Teppich gewebt Aus dem, was ich damals gehört und erlebt. Ich denke an euch überall, immerdar, Vergesse euch auch nicht in neuer Gefahr. Verstummt einst mein Mund, der zu sagen gewagt, Was hundert Millionen nur schweigend geklagt, Dann bitt' ich, daß ihr nun auch meiner gedenkt Am Tage, an dem in das Grab man mich senkt."2 Als sie diese Zeilen 1940 schrieb, begann im Kreml und im Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten ( N K W D ) die Vorbereitung für die Zusammmenstellung der Listen der zu Deportierenden aus Lettland, Estland und Litauen. Durch den nicht zu vergessenden Stalin-Hitler-Pakt vom August 1939 waren die baltischen Staaten der Sowjetunion überantwortet worden.

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Efim Etkind (Hg.): Anna Achmatowa: Im Spiegelland. Ausgewählte Gedichte, 2. Aufl., München/Zürich 1988, S. 188 f.

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Dalia Grinkeviciüte hat in ihrem Erlebnisbericht die Massenverhaftungen festgehalten, die am 14. Juni 1941 im gesamten Baltikum einsetzten, und die sozialen Schichten benannt, aus denen die Opfer selektiert wurden: „Von diesen Verschleppungen waren alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen betroffen: die Volksschullehrer, Gymnasial- und Hochschullehrer, Juristen, Journalisten, die Familien der Offiziere der litauischen Armee und der Diplomaten, Angestellte der unterschiedlichen Einrichtungen, Bauern, Agrarwissenschaftler, Ärzte, Unternehmer usw. Die Aktion betraf das ganze Land: die Kleinstädte, die großen Städte und die Dörfer. Ohne Unterbrechung wälzte sich ein Strom von Lastwagen in Richtung der Bahnhöfe und Verladestationen. Hier wurden die Männer, die Häupter der Familien, von ihren Angehörigen getrennt und in besondere Güterwagen gebracht; es hieß, die Trennung werde nur während des Transports vorgenommen. In Wahrheit war über ihr Schicksal schon vorher entschieden worden

Anna Achmatowa verlor 1921 ihren ersten Mann, den Dichter Nikolaj Gumiljow, er wurde als Geisel in Petrograd erschossen. 1935 wurde ihr Sohn verhaftet. Vor den Gefängnismauern der Leningrader Gefängnisse stand sie Schlange wie viele andere, um etwas über den Sohn und sein Urteil zu erfahren. Eine Frau erkannte sie und fragte, ob sie in der Lage sei, die menschliche Tragödie vor ihren Augen zu Papier zu bringen. Sie tat es, aber die Geschichte ihres Gedichtes wagte die Autorin erst 1957 aufzuzeichnen. Die Notiz leitete sie ein mit einem Vers: „Ich ließ mich nicht von meiner Heimat scheiden, Floh in die Fremde nicht vor der Gefahr. Ich blieb bei meinem Volk in seinem Leiden, Blieb, w o mein Volk zu seinem Unglück war." 4

Auf dem X X . Parteitag der KPdSU 1956 hatte Nikita Sergejewitsch Chruschtschow in seiner Geheimrede eine folgenreiche Neubewertung der Person und der Taten Stalins vorgenommen. Er, der selbst in der Ukraine in den dreißiger Jahren den Terror durchführte,5 erklärte nun den „Führer der Völker" zum despotischen Massenmörder an den Funktionären und Mitgliedern der eigenen Partei. Damit warf er im Selbstverständnis der Kommunisten die bohrende Frage auf: ob der Zweck, eine neue sozialistische Gesellschaft aufzubauen, auch die Mittel heiligt, um sie zu errichten. Diese Mittel haben das Leben der Opfer geprägt. Diese Geheimrede ist einer der Gründe, um zu verstehen, warum die Abrechnung mit den Kommunisten 1989/90 nicht auf die gleiche Weise geschah, wie die mit den Nationalsozialisten und ihren Kollaborateuren in Europa nach Kriegsende 1945. Als sich nach dem Tod des Despoten Jossif W. Stalin die Lager und Gefängnisse öffneten, kehrten die Uberlebenden des Terrors in eine gründlich verwandelte Welt zurück. Ihnen war in vielen Fällen ein Schweigegebot über das Erlebte und Durchlittene, über die toten Kameraden und die Methoden der Haft auferlegt. Wie umgehen

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Oalia Grinkeviciüte: Litauer an der Laptev-See, Söchrewald 2002, S. 41 f. Efim Etkind (Hg.): Anna Achmatowa, a. a. O., S. 180. Chruschtschow übernahm im Januar 1938 die Führung der ukrainischen kommunistischen Partei. Ein Jahr zuvor bildete er zusammen mit Wjatscheslaw W. Molotow und dem Volkskommissar für innere Sicherheit Nikolaj Jeschow eine „Säuberungs-Troika für die Ukraine, um dort die .Volksfeinde' zu liquidieren". György Palöczi-Horvath: Chruschtschow, Frankfurt am Main 1961, S. 105.

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mit dem in das Gedächtnis und das Empfinden eingebrannte Leid und der offenen Frage: Warum habe ich es überlebt? Jorge Semprun fragt sich als spanischer Kommunist und Schriftsteller, der im französischen Exil verhaftet wurde, am Tag der Befreiung aus dem KZ Buchenwald im April 1945: Kann man das Erlebte erzählen? „Der Zweifel überkommt mich schon in diesem ersten Augenblick, bei dieser ersten Begegnung mit Menschen von vorher, von draußen - aus dem Leben gekommen - als ich den entsetzten, fast feindseligen, zumindest mißtrauischen Blick der drei Offiziere sehe. Sie schwiegen, sie vermeiden es, mich anzusehen. Ich habe mich in ihrem schreckensstarren Blick gesehen, zum ersten Mal seit zwei Jahren. Diese drei Typen haben mir diesen ersten Vormittag verdorben. Ich glaubte, mit dem Leben davongekommen zu sein. Zumindest ins Leben zurückgekehrt zu sein. Aber es sieht nicht danach aus. Wenn ich meinen Blick im Spiegel des ihren errate, hat es nicht den Anschein, als befände ich mich jenseits all dieses Todes."6

Die Tötungsverbrechen der totalitären Diktaturen waren die Voraussetzung für ihre Durchsetzung und die damit verbundenen Veränderungen in der Wirtschafts- und Sozialstruktur der eroberten Gesellschaften. Nicht alle Opfer der Diktaturen wurden umgebracht. Die Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", die der Deutsche Bundestag 1992 einsetzte, zählt zur Gruppe der Opfer alle Menschen, die „diktatorischer Willkür" ausgesetzt waren. Mit Blick auf die Rehabilitierung und Entschädigung durch den deutschen Gesetzgeber unternahm es die Kommission, Kategorien der Opfer zu bestimmen, denen „Schäden an den Rechtsgütern" -

Leben, Körper und Gesundheit, Freiheit und Menschenwürde, Eigentum, Vermögen, Einkommen, berufliches Fortkommen 7

zugefügt wurden. Unabhängig von der Frage der Rehabilitierung und der Entschädigung der Opfer nach der Diktatur waren es die „Schäden" an diesen „Rechtsgütern" bei der Durchsetzung der Diktatur, die zu Opposition und Widerstand gegen die Mittel kommunistischer Herrschaft führten. Semprun hat eine der Grundfragen einer intergenerativen Erinnerungskultur aufgeworfen, die auch für die Opfer der kommunistischen Diktatur gilt: Kann das Erlebte überhaupt an Generationen weitergegeben werden, die in ganz anderen Lebensumständen auf gewachsen sind und denen kein Staatsterror widerfahren ist? Die drei französischen Offiziere, denen Semprun am Tag nach der Befreiung des KZ begegnete, sahen, aber sie verstanden nicht, obwohl der Gestank verbrannter Menschen noch in der Luft lag und die vom Hunger gezeichneten Uberlebenden vor ihnen standen. Das, was Menschen in diesen Höllen des 20. Jahrhunderts erlebt haben, ist für die Nachgeborenen, für die, die es nicht erlitten haben, so unendlich schwer zu über-

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Jorge Semprun: Schreiben oder Leben, Frankfurt am Main 1995, S. 24. Bericht der Enquete-Kommission, in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", Baden-Baden 1995, Bd. I, S. 639 f.

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setzen. Die Erlebnisgeneration des stalinistischen Terrors trifft dieser Generationenwechsel, genauer noch der Generationenbruch, besonders schmerzhaft. Sie erlebt tagtäglich das Desinteresse der Nachgeborenen und leidet darunter, das unsagbare Erlebnis nicht weitergeben zu können. Offenbar gibt es keine Sprache, die diese Leiden so bewahrt, dass der Nachgeborene empfindet, was mit den Menschen in den totalitären Diktaturen geschah, in denen der Mensch selektiert wurde, in eigene Anhänger und Feinde, die es zu unterwerfen oder gar auszurotten galt. Diese Erbschaft der totalitären Herrschaft lastet noch immer auf unseren Ländern, heute tut sie dies, weil die Nachgeborenen das furchtbare Menetekel missachten, das mit den Ortsnamen Auschwitz und Workuta und den Amtsbezeichnungen „Reichssicherheitshauptamt" und „ N K W D " verbunden bleibt. Politisch steht heute nicht die drohende Restauration der überwundenen Diktaturen auf der Tagesordnung, es geht um die negative Erbschaft, die fortwirkt, lähmt und vielfach keine Identifikation mit der demokratischen Ordnung aufkommen lässt, die auf der Eigenverantwortung der Bürger beruht. Die Biografien der heute an ihrem Lebensende stehenden Generation wurden zerstört, die sich nach 1945 der kommunistischen Diktaturdurchsetzung entgegenstellte oder die das Pech der falschen Geburt hatte, als in Litauen, Estland, Lettland, der Tschechoslowakei, Ungarn, Polen und der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) in Deutschland die Kommunisten ebenso wie in Jugoslawien die „Klassenfragen" ihrer Diktatur stellten. Die freien Bauern wurden kollektiviert, nur in Polen gelang es ihnen, nach 1956 die Partei zu zwingen, diesen Schritt rückgängig zu machen. Ebenso wurde die gesellschaftliche Stellung des Bürgertums gebrochen. Das betraf die Enteignung der Unternehmer ebenso wie die Transformation von Kunst und Kultur. Die Universitäten wurden zu Kaderschmieden der Partei und die Künstler sollten nach dem Willen von Stalin als „Ingenieure der Seele" dienen. Ebenso wurden die Kirchen verfolgt, um die geistige Tradition der Länder zu brechen. All das geschah in Mittelosteuropa, Albanien, Bulgarien und Rumänien in den ersten zehn Jahren nach 1945. Die Ukraine wurde von dem Terror im russischen Bürgerkrieg 1918-1921 und durch den Genozid an den ukrainischen Bauern während der Kollektivierung zu Beginn der dreißiger Jahre heimgesucht. Dieser Genozid ist weithin vergessen, über Ausmaß und Bedeutung dieser durch die rücksichtslose Durchsetzung der Getreideablieferung nach der Kollektivierung 1932 staatlich organisierten Hungersnot der Jahre 1932/33 an der unteren Wolga und der Ukraine, die auch als „Hungerterror" bekannt wurde, schreibt der Historiker Martin Malia: „Sie forderte, je nach Art der Zählung, sechs bis elf Millionen Menschenleben. Eines der größten Verbrechen des Jahrhunderts konnte zu seiner Zeit der Außenwelt und selbst nicht unmittelbar betroffenen Teilen der Sowjetbevölkerung weithin verschwiegen werden. Der Hunger tat seine Wirkung. Er verhalf der Partei zum späten Sieg über die Dörfer. Mit dem Widerstand der Bauern brauchte die Sowjetmacht in Zukunft nicht mehr zu rechnen."8 Der stalinistische Terror in der Sowjetunion und der in den Volksdemokratien nach 1945 zur Diktaturdurchsetzung betrafen nicht mehr die Generation, die schon im realen Sozialismus geboren wurde, in ihm heranwuchs und nach seinen N o r m e n und Regeln erzogen wurde.

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Martin Malia: Vollstreckter Wahn. Die Sowjetunion 1917-1991, Berlin 1998, S. 240.

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Die Revolution war durchgesetzt und damit war eine neue Gesellschaft entstanden, es gab keinen Weg zurück. Die einmal als Klasse „liquidierten" freien Bauern konnten nach vierzig Jahren Sozialismus 1989/90 ebenso wenig wieder zurückgeholt werden wie die enteigneten Unternehmer und die Vertreter einer freien Wissenschaft. Es waren streng genommen kommunistische Kader, die 1989 den demokratischen Neuanfang in den sozialistischen Staaten gestalten mussten. Sie taten es so, wie sie es in diesen Gesellschaften gelernt hatten, sie vollzogen einen Linienwechsel und aus Leitungskadern der Wirtschaft mussten nun im Zuge der Privatisierung wieder Unternehmer werden. Ebenso vollzog sich die rasche „Sozialdemokratisierung" der kommunistischen Parteien. In Deutschland schrieben die SED-Kader ganz schnell das Statut der sozialdemokratischen Partei ab und erklärten, sie seien keine Marxisten-Leninisten mehr. Aber wurden sie dadurch Demokraten? Die gewendeten Kommunisten benötigten mit Blick auf die eigene Vergangenheit und vor allem die ihrer Förderer und Erzieher einen Schlussstrich. Sie wurden unterstützt von Anwälten der Veränderung, die sich sorgten, der Sturz der kommunistischen Herrschaft würde in einem Rachefeldzug münden. Auf der größten Demonstration in der DDR am 4. November 1989 warnte beispielsweise der Pfarrer Friedrich Schorlemmer vor „Rachegedanken": „Reißen wir nicht neue Gräben auf, trauen wir jedem eine Wende zu, auch wenn nicht jeder in seiner alten Position verbleiben darf. Aber bitte - keine Rachegedanken. Wo persönliche Verantwortung oder Schuld vorliegt, ist strikte Gesetzlichkeit durchzuhalten. Tolerieren wir nirgendwo Stimmen und Stimmungen der Vergeltung."9 Die Opferverbände, die sich in dieser Zeit erst in den Ländern Mittelosteuropas bilden konnten, waren somit von Anfang an in der öffentlichen Meinung konfrontiert mit zwei unterschiedlichen Verdrängungsmechanismen, die einen, die aus einsichtig politischen Interessen über die Verbrechen der Kommunisten schweigen wollten, und die Nachgeborenen, die die Integration der gewendeten Kommunisten in die neue Gesellschaft nicht durch historische „Vergeltung" gefährden wollten. Die Opfer und die Uberlebenden von Opposition und Widerstand gegen die kommunistische Diktatur besitzen gegen das Vergessen und Verdrängen nur ihre Kraft der verlässlichen Erinnerung, die sie auf sich gestellt als historische Wahrheit geschichtspolitisch durchsetzen müssen. Hier liegt die bohrende Aktualität der Botschaft von Anna Achmatowa. Ihre Verse entstanden, als die Dichterin in einer ärmlichen Wohnung in Leningrad lebte, die Letzte der Dichtergruppe der Akmeisten, zu der sie, ihr Mann Gumiljow und Ossip Mandelstam gehörten.10 Gumiljow starb bereits 1921 und Mandelstam war 1938 im Lager elendig umgekommen. 11 In dem Jahr, in dem sie ihr Requiem schrieb, wurde der Dichter der „Roten Reiterarmee" Issaak Babel zum Tode verurteilt und im Keller der Ljubljanka erschossen.12 Anna Achmatowa war allein. Trotzdem besaß sie die Kraft zu diesem Gedicht. Allein seine Existenz gab Menschen Kraft, in der Wahrheit zu leben und dem totalitären Machtanspruch der Kommunisten entgegenzutreten.

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„Initiativgruppe 4.11.89" im Museum für Deutsche Geschichte, Berlin-Ost, und im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn: 40 Jahre DDR - Tschüs, SED 4.11.89. Katalog, Bonn 1990, S. 37. Nadezda Mandel'stam: Generation ohne Tränen, Frankfurt am Main 1974, S. 35 ff. Vgl. dies.: Das Jahrhundert der Wölfe, Frankfurt am Main 1971, S. 431 ff. Wladislaw Hedeler/Nadja Rosenblum: 1940 - Stalins glückliches Jahr, Berlin 2001, S. 36 ff.

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3. Stalins Tod als Zäsur Im März 1953 stirbt Jossif W. Stalin und mit seinem Tod beginnt eine neue Phase in der Entwicklung der sozialistischen Staaten. An der Spitze der KPdSU konstituiert sich eine „kollektive Führung", in der sofort der Machtkampf entbrennt: Wer wird Stalins Erbe? Es gibt mehrere Kandidaten, neben dem Ministerpräsidenten Georgij M. Malenkow sind das der Erste Sekretär des ZK der KPdSU, Nikita S. Chruschtschow, und der Verantwortliche für die innere Sicherheit und damit für die Tschekisten, Lawrentij P. Berija. Die wichtige gesellschaftliche Funktion dieser Führungskrise lag in der Differenzierung der einheitlichen Führung. In der Partei selbst entstanden zwei Lager, die „Dogmatiker" und die „Reformer". 1953 setzt sich Berija an die Spitze der „Reformer" und beginnt mit der „Entstalinisierung". Die im Januar 1953 verhafteten überlebenden „Kreml-Arzte", die unter der Folter gestanden hatten,13 sie hätten Stalin ermorden wollen, werden entlassen. In der Prawda erschien eine kleine Notiz über ihre Freilassung, die zugleich das Geheimnis der Schauprozesse oder genauer der „Konzeptionsprozesse" offen legte: Die Geständnisse der Angeklagten wurden durch Folter erzwungen. Damit gab Berija eines der wirksamsten Instrumente des stalinistischen Terrors für immer auf. Das Zentralorgan der KPdSU verurteilte die Folter als Verletzung der „sozialistischen Gesetzlichkeit". Andrej Sacharow kommentierte in seinen Erinnerungen dieses Ereignis mit den Worten: „Das schrecklichste [lag] hinter uns." 14 Nicht nur diese Arzte wurden freigelassen, der Archipel Gulag mit seinen Zwangsarbeitsarmeen wurde reduziert, der Massenterror hatte ausgedient. Trotzdem verzichteten die Kommunisten nicht grundsätzlich auf dieses konstitutive Instrument ihrer Herrschaft, wie sie 1956 zum Beispiel in Ungarn demonstrierten. Aber er wurde in Mittelosteuropa gezielter eingesetzt und auf die tatsächlichen Feinde konzentriert, die es wagten, das totalitäre Machtmonopol der Partei infrage zu stellen. Die Entstalinisierung blieb nicht auf die Sowjetunion beschränkt. Der S E D und den ungarischen Kommunisten wurde im Juni 1953 ein „Neuer Kurs" verordnet. Während die SED-Delegation über ihre Moskauer Befehlsausgabe im Juni kein Protokoll anfertigte, taten dies die Ungarn. Der ungarische Partei- und Staatsführer Mätyäs Rakosi musste sich von Berija fragen lassen: „Ist es etwa akzeptabel, daß in einem Land mit einer Bevölkerung von 9,5 Millionen Verfahren gegen 1,5 Millionen Menschen im Gange sind?" 15 Der Neue Kurs bedeutete für beide Länder, dass sich für viele Menschen die Gefängnisse öffneten. In der D D R wurde noch vor dem 17. Juni eine Amnestie von der S E D für verhaftete Unternehmer und Bauern verkündet und den in die Bundesrepublik Geflohenen die Rückkehr in die D D R angeboten. 16 Mit der Auflösung der Lager und der Rückkehr der Verfolgten in die Gesellschaft entstand in den sozialistischen Ländern ein kulturelles und politisches Problem: der Kampf um die Rehabilitierung. Er betraf Nichtkommunisten eben-

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Vgl. Reinhard Crusius/Manfred Wilke (Hg.): Entstalinisierung. Der X X . Parteitag der KPdSU und seine Folgen, Frankfurt am Main 1977. Andrej Sacharow: Mein Leben, München/Zürich 1991, S. 182. Zit. nach: Janos M. Rainer: Ungarn 1953-1956. Die Krise und die Versuche ihrer Bewältigung, in: Andräs B. Hegedüs/Manfred Wilke (Hg.): Satelliten nach Stalins Tod, Berlin 2000, S. 145. Vgl. Manfred Wilke/Tobias Voigt: „Neuer Kurs" und 17. Juni. Die zweite Staatsgründung der D D R 1953, in: ebd., S. 42 ff.

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so wie Parteimitglieder. Es muss an dieser Stelle daran erinnert werden, dass insbesondere die Führung der sowjetischen Armee darauf bestand, dass ihren 1937/38 erschossenen Kameraden die Ehre zurückgegeben wurde, hierbei ging es auch um Entschädigung und Versorgung der überlebenden Angehörigen. Die Rehabilitierung der Opfer und die Durchsetzung der Wahrheit über Macht und Willkür der Kommunisten waren in Kunst und Kultur wichtige Themen, um die ideologische Allmacht der Partei zu überwinden. Genau in dieser Konstellation entfaltete das Requiem von Anna Achmatowa seine Wirkung. Die Entstalinisierung führte auch im politischen Denken Westeuropas zu einer Hoffnung: Der Kommunismus kann sich wandeln, aber diese Veränderung muss von der Spitze der Partei selbst ausgehen. Die Reformkommunisten schienen die Garantie zu sein, dass in den sozialistischen Gesellschaften eine von Kommunisten geführte zivilisatorische Herrschaftsform entstehen könnte. Die gewaltsame Unterdrückung des Prager Frühlings 1968 durch den Einmarsch der sowjetischen Armee in die Tschechoslowakei beendete diese Hoffnung. 17 In den sozialistischen Staaten entwickelten sich Menschenrechtsinitiativen und in den intellektuellen Debatten verschwand die Hoffnung auf die Reformkommunisten. Umso größer war die Überraschung, als Michail S. Gorbatschow die politische Bühne in der Sowjetunion als Generalsekretär der KPdSU betrat. Ein Reformkommunist übernahm die Führung der Sowjetunion und die sowjetische Gesellschaft sollte nun endgültig von oben zivilisiert werden. In Westeuropa wünschten die verantwortlichen Politiker damals vor allem Gorbatschows Erfolg, von seinem Sturz und dem Ende des Kommunismus träumten wenige. Die heutigen Postkommunisten in den Ländern des früheren sowjetischen Imperiums taten ab 1989 genau das, was im Westen von den Reformkommunisten erwartet wurde. Sie brachen mit ihrer stalinistischen Herkunft und verurteilten den Terror, mit dem die kommunistische Herrschaft begründet und aufrechterhalten wurde. 4. Maßstäbe: Nationale Souveränität und Demokratie Die Mehrheit der in den sozialistischen Gesellschaften Geborenen setzte über Jahrzehnte ebenfalls auf die Reform der kommunistischen Herrschaft von oben. Verlauf und Ende des Prager Frühlings 1968 dämpften diese Erwartungen, beseitigten sie aber nicht. Auch in den darauf folgenden Jahren entschieden die regierenden kommunistischen Parteien über die Lebens- und Karrierechancen von allzu vielen Menschen. Der Prager Frühling liefert aber durchaus Kriterien für den Umgang der Opferverbände mit den postkommunistischen Parteien. Erstens erkannten damals die tschechoslowakischen Kommunisten das Unrecht des Stalinismus an, ließen eine öffentliche Debatte darüber zu und begaben sich zögerlich auf den Weg der Rehabilitierung. Der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen unterbrach diesen Prozess, stellte aber in aller Schärfe die Frage, wie die KPC sich zur Souveränität des besetzten Landes verhielt. Versuche des sowjetischen Botschafters, am Tag des Einmarsches in Prag eine „Arbeiter- und Bauernregierung" nach dem ungarischen Vorbild von 1956 zu bilden, scheiterten, obwohl sich zu diesem Zeitpunkt

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Vgl. dazu Jan Pauer: Prag 1968. Der Einmarsch des Warschauer Paktes, Bremen 1995, und Jiri Pelikan/Manfred Wilke: Opposition ohne Hoffnung? Jahrbuch zu Osteuropa 2, Reinbek bei Hamburg 1979.

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Alexander Dubcek und vier weitere Mitglieder des Präsidiums des ZK der K P C in sowjetischem Gewahrsam befanden. Ein Generalstreik legte das Land lahm und in einem Prager Betrieb trat der XIV. Parteitag der K P £ zusammen. Er tagte illegal, weil die Truppen der Sowjetunion, die das Land besetzten, ihn daran hinderten, öffentlich zusammenzutreten. Jiri Pelikan, Direktor des tschechoslowakischen Fernsehens, forderte die Verurteilung der Intervention und die „Respektierung unserer Souveränität" 18 . Das neu gewählte Zentralkomitee der K P £ , das sich nur noch aus Reformkommunisten zusammensetzte, warnte Partei und Volk, „daß die Okkupanten versuchen werden, Verräter aus den Reihen einiger ehemaliger Funktionäre anzuwerben" 19 . Dieser heute fast vergessene Parteitag der K P £ blieb nicht ohne Folgen. Die sowjetische Führung war gezwungen, Dubcek und die anderen Mitglieder seiner Führung, die sie verschleppten, in Moskau erneut als Führung einer „Bruderpartei" zu akzeptieren, um einen politischen Ausweg aus der entstandenen Lage zu suchen. Die Moskauer Verhandlungen endeten in einem Abkommen, das in der Sache ein sowjetisches Diktat war und mit dem die Besetzung der CSSR gerechtfertigt wurde. Allein Frantisek Kriegel verweigerte die Unterschrift unter diesen ungleichen Vertrag, mit dem die tschechoslowakische Delegation hoffte, eine gewisse Eigenständigkeit auch unter den Bedingungen der Okkupation zu behaupten. Pelikan wurde 1970 ausgebürgert und setzte seine Opposition gegen das Regime der „Normalisierung" aus dem italienischen Exil fort. Was immer der junge Kommunist Pelikan im Zusammenhang mit der Diktaturdurchsetzung in der Tschechoslowakei getan hat,20 am 22. August 1968 besann er sich auf seine politische Pflicht, die Souveränität der tschechoslowakischen Republik auch gegen die Sowjetunion zu verteidigen. Der Schutz der Souveränität des eigenen Landes ist aus meiner Sicht ein Maßstab, den gerade die Opferverbände in den Ländern des ehemaligen sowjetischen Imperiums anlegen müssen. Mit ihm können sie auch prüfen, wie ernst es die Postkommunisten mit der politischen Verantwortung nehmen - auch im Blick auf die eigene nationale Geschichte unter den Kommunisten. Gerade die Opfer der Diktaturdurchsetzung hatten es in den betroffenen Ländern mit Parteiführungen zu tun, die aus von Stalin eingesetzten Kadern bestanden und der Sowjetunion verpflichtet waren. Neben der Souveränität des eigenen Landes gibt es ein zweites Unterscheidungsmerkmal, an dem die postkommunistischen Parteien zu messen sind, und das ist ihre Haltung zu den Menschenrechten und zur Demokratie. Dieser Maßstab gilt für diese Politiker ganz besonders. Und nicht nur für die Tagespolitik, sondern auch für die Praxis ihres Umgangs mit der Erinnerung an die Verbrechen, die im Namen der Kommunisten verübt wurden. Können aber und dürfen Opferverbände auf die Postkommunisten zugehen? In Deutschland gab es früh eine Debatte über die Initiative von Hermann Kreutzer, der acht Jahre als Sozialdemokrat in der D D R im Zuchthaus saß. Kreutzer sprach 1989 mit der SED und forderte: „So und jetzt werdet ihr aus dem Vermögen, das ihr geraubt habt, einen Fonds bilden, um die Opfer zu entschädigen." Dieser Schritt war unter

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Jiri Pelikan (Hg.): Panzer überrollen den Parteitag. Protokoll und Dokumente des XIV. Parteitags der KPTsch am 22. August 1968, Wien 1969, S. 48. Bericht über den Parteitag und die erste Sitzung des neuen Zentralkomitees, in: ebd., S. 108. Vgl. ders.: Ein Frühling, der nie zu Ende geht. Erinnerungen eines Prager Kommunisten, Frankfurt am Main 1976, S. 65 ff.

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den politischen Häftlingen sehr umstritten, weil sie 1989/90 nicht bereit waren, sich auf ein Gespräch mit den Postkommunisten einzulassen. Die Initiative blieb ergebnislos, aber der Vorstoß von Kreutzer basierte auf zwei vernünftigen Überlegungen: 1. Die SED-PDS hatte sich damals wortreich bei dem Volk der DDR für all das Unrecht entschuldigt, das im Namen der Staatspartei begangen wurde. Kreutzer wollte prüfen, wie ernst die neue Parteiführung die eigenen Worte nahm, folgten ihnen Taten? 2. Viel grundsätzlicher und die Zukunft bedenkend war sein zweites Motiv, sowohl die Kinder der Opfer als auch die der Stasi-Leute, der Parteisekretäre und der Offiziere der Grenztruppen sollten eine gemeinsame Zukunft haben. Jozef Vicen, der Präsident des slowakischen Verbandes, hat mit Blick auf die Täter eine verpflichtende Maxime für die Politik der Opferverbände formuliert: „Wir sind ja nicht wie die." 5. Europas Spaltung und der demokratische Neuanfang 1989 Als 1989/90 die kommunistischen Parteidiktaturen gestürzt wurden, stand die Frage der Vergeltung für ihre Verbrechen nicht auf der Tagesordnung. Die Revolutionen verstanden sich selbst als friedlich, in der DDR lautete die Losung des Herbstes 1989: „Keine Gewalt!" Am deutschen Beispiel lässt sich zeigen, warum es realpolitisch unmöglich und historisch klug war, keine Vergeltung zu üben. Spätestens seit 1970 war die SED für die demokratischen Politiker der Bundesrepublik die Partei der DDR, mit der man über die Regelung des Status quo im seit 1945 geteilten Land verhandeln musste. Eine der Lektionen des 17. Juni 1953 war, das soll an der Stelle noch einmal in Erinnerung gerufen werden: Die Deutschen waren nicht diejenigen, die darüber verfügten, ob das SED-Regime gestürzt wird. Es war dem Hohen Kommissar der Sowjetunion in Deutschland, Wladimir S. Semjonow, am 17. Juni morgens um sieben Uhr schon klar, dass, wenn die sowjetische Besatzungsmacht nicht eingriffe, die Macht der SED verloren wäre. Aus diesem Grunde rollten 600 Τ 34-Panzer in Berlin ein. Die sowjetischen Stadtkommandanten verhängten in 51 Städten der DDR den Ausnahmezustand. Wir sollten aber auch nicht vergessen, dass der englische Kriegspremier, der große Winston Churchill, befand, dass die Russen sehr human in Ostdeutschland vorgingen. Man könne es schließlich nicht zulassen, dass die DDR in Anarchie versinke. Mit anderen Worten, Churchill wünschte nicht den Sturz der SED durch streikende und demonstrierende deutsche Arbeiter.21 Noch standen beide deutsche Staaten unter der Besatzungskontrolle der vier Siegermächte. Die Lektion des Jahres 1953 reichte bis 1989, sie war eine doppelte, sowohl für die West- als auch für die Ostdeutschen, die sich nun der kommunistischen Herrschaft fügen mussten. Das atomare Patt von 1958 und die Berliner Mauer von 1961 zementierten die deutsche Zweistaatlichkeit. Die internationale Politik gab den Deutschen auf, die Spaltung zu akzeptieren und ihre Folgen zu regeln. Die Ostverträge von Willy Brandt lösten für die Bundesrepublik diese Aufgabe. In den internationalen Verhandlungen der siebziger Jahre, die in der KSZE-Konferenz in Helsinki 1975 gipfelten, akzeptierte die westeuropäische Politik die Kommunisten als legitime Macht in ihren Ländern. Die Verhandlungspartner waren Leonid I. Breschnew, Erich Honecker und Gustav Husäk, aber nicht Aleksandr Solschenizyn, Andrej Sacharow, Vaclav Havel oder die Menschenrechtsgruppen aus Litauen oder Lettland, deren Namen zu dieser 21

Vgl. Hubertus Knabe: 17. Juni 1953. Ein deutscher Aufstand, München 2003.

Erinnerung an den Kommunismus nach seinem Sturz (2004)

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Zeit im Westen völlig unbekannt waren. An dieser Stelle muss an „die Lästigen" erinnert werden, die Ost-Mitteleuropäer, die im Westen im Exil waren, immer wieder ihre Stimmen erhoben und die Realpolitik daran erinnerten, dass die Frage der Freiheit im sozialistischen Lager noch offen war. Die Akzeptanz der regierenden Kommunisten als Partner der europäischen Politik gehört ebenfalls zu den Voraussetzungen für deren Transformation in sozialistische Parteien 1989/90, als sie ihre diktatorische Macht verloren. Aber auch in den Ländern selbst fand der Machtwechsel, der in diesem Fall ein Wechsel der politischen Ordnungen war, abgesehen von Rumänien, ohne Gewalt statt. Als die Bürgerrechtsbewegung in der D D R sich im Herbst 1989 formierte und eigene Organisationen wie das „Neue Forum" oder „Demokratie jetzt" gegründet wurden, war der gemeinsame Nenner ihrer Forderungen, die sie an die SED richteten, sie möge die Reformen Gorbatschows in der D D R einführen. Nicht sie waren die Avantgarde, die den Zusammenbruch der SED-Herrschaft auslöste. Dies taten die Flüchtlinge, die 1989 in großer Zahl nach Budapest oder Prag flohen. Die Flüchtlinge aus der D D R waren in all den Jahren das Unterpfand dafür, dass die deutsche Teilung von großen Teilen des Volkes in Ost und West nicht akzeptiert wurde. Von 1945 bis 1989 waren es vier Millionen, die von Ost nach West flohen.22 Im Oktober 1989 wurde Erich Honecker als Generalsekretär der SED von seinem Zentralkomitee gestürzt, an seine Stelle trat Egon Krenz. Am 1. November fuhr er zum Antrittsbesuch nach Moskau, besprach mit Gorbatschow die Lage und bat um Hilfe. Krenz wörtlich: „Die D D R sei in gewisser Weise das Kind der Sowjetunion, und die Vaterschaft über seine Kinder müsse man anerkennen." 23 Aber 1989 war nicht 1953, die Sowjetunion war vor allem nicht in der Lage, der D D R die dringend benötigte Wirtschaftshilfe zu geben. Das konnte im Rahmen des innerdeutschen Handels nur die Bundesrepublik leisten. Kurz vor dem Mauerfall ließ Krenz bei der Bundesregierung anfragen, ob die D D R mit 15 Milliarden D M Kredit rechnen könnte, zehn Milliarden brauchte sie sofort für Investitionen, mit den restlichen Mitteln sollte die Bundesregierung die Schuldzinsen der D D R auf dem internationalen Kapitalmarkt bezahlen. In dieser Situation handelte Bundeskanzler Helmut Kohl: Er stellte der SED drei ultimative politische Bedingungen für finanzielle Hilfe, die in der Konsequenz den Sturz ihrer SED-Diktatur beinhalteten und sich mit den Forderungen der Bürgerrechtsbewegung in der D D R deckten: 1. Die S E D verzichtet auf ihr Machtmonopol, 2. in der D D R werden neugegründete Parteien zugelassen und 3. die S E D sichert freie Wahlen zu.24 In der konkreten Situation, als in Berlin die Mauer fiel, kehrte die offene deutsche Frage von 1945 zurück in die Weltpolitik. Die Bundesregierung konnte zu diesem 22

23 24

Vgl. Antragsteller in den Bundesaufnahmestellen 31. Juli 1989, in: Hanns Jürgen Küsters/Daniel Hofmann: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, München 1998, S. 347 ff. Egon Krenz/Michail Gorbatschow: Niederschrift des Gesprächs am 1.11.1989 in Moskau, in: Gerd-Rüdiger Stephan (Hg.): „Vorwärts immer, rückwärts nimmer!" Interne Dokumente zum Zerfall von S E D und D D R 1989/89, Berlin 1994, S. 210. Vgl. Hans-Hermann Hertie: Der 9. November 1989 in Berlin, in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", a. a. O., Bd. VII/1, S. 835.

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Zeitpunkt noch nicht wissen, wie groß ihr internationaler Spielraum war, um die deutsche Frage im Sinne der Wiedergewinnung der Einheit zu lösen. Unbekannt war, was die Sowjetunion erlauben und wie die Verbündeten reagieren würden, die Engländer, die Franzosen und vor allem die Vereinigten Staaten. Allein schon die Anwesenheit von mindestens 350.000 Soldaten in der D D R mahnte zu einer klugen Realpolitik, die alles vermied, was die sowjetische Führung hätte demütigen können. Schon dieser Gesichtspunkt machte es unmöglich, die SED zur „verbrecherischen Organisation" zu erklären oder ihr Verbot durchzusetzen, solche Forderungen gab es. Solange die SED die D D R regierte - das tat sie bis zum April 1990 - , musste die Bundesregierung mit ihr verhandeln, um die auch gegenüber der Sowjetunion zugesagte Stabilität der Lage in der D D R zu garantieren. Die deutsche Einheit musste mit dem Generalsekretär der KPdSU Michail S. Gorbatschow verhandelt werden, der noch zusammen mit Erich Honecker im Oktober 1989 den 40. Jahrestag der D D R gefeiert hatte und dem eine Unterdrückung der deutschen „Bruderpartei" in Moskau erhebliche Schwierigkeiten bereitet hätte. Obendrein wollte fast niemand in der DDR-Opposition eine Auflösung der SED, zumal viele glaubten, die Kommunisten würden nun von allein verschwinden. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die internationale Konstellation, in die die SED im Herbst 1989 gestürzt wurde, ihr Verbot nicht zuließ. Die Bundesregierung und die Bürgerbewegung in der D D R waren bereit, eine „demokratisierte" postkommunistische Partei im Parteienspektrum der vereinigten Bundesrepublik zu akzeptieren. 6. Rehabilitierung und Erinnerung In dieser Zeitenwende waren sich die demokratischen Parteien im Bundestag einig, die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft sollten rehabilitiert und für ihre Haft entschädigt werden. Dies geschah mehr schlecht als recht. Die öffentliche Ehrung des Widerstandes gegen die kommunistische Herrschaft in der früheren D D R wurde zum Gegenstand geschichtspolitischer Auseinandersetzungen, die immer noch nicht abgeschlossen sind. Den Bürgerrechtlern gelang die Durchsetzung der Öffnung der Akten des Ministeriums für Staatssicherheit, die die Bürgerkomitees vor ihrer Vernichtung durch Angehörige des Ministeriums gesichert hatten. Dies war für die observierten und verfolgten Menschen eine Voraussetzung für ihre öffentliche Rehabilitierung als Opfer der Diktatur. Aufgrund dieser Akten konnten Schicksale geklärt, Verfolgung nachgewiesen und Vertrauen in den Nächsten zurückgewonnen werden, weil die Akten auch festhielten, wie viele Nachbarn und Freunde sich dem angetragenen Spitzeldienst verweigert hatten. Anna Achmatowa setzte 1940 gegen alle realpolitische Vernunft, gegen den Augenschein gefestigter Stabilität von Stalins Despotie auf die Kraft der Erinnerung. Die Opferverbände haben politisch keine andere Macht als die der Erinnerung ihrer Mitglieder. Die Opferverbände können und müssen verlangen, dass in allen Ländern des sowjetischen Imperiums Gedenkstätten und Museen entstehen, in denen für die Nachgeborenen an die Verbrechen des Kommunismus erinnert wird. Dies ist eine Aufgabe, die nicht allein von ihnen geleistet werden kann. Hier ist die staatliche Kulturpolitik gefordert, denn die Erinnerung an die totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts ist eine historische Sicherungsmaßnahme für die Demokratie. Diese Herausforderung ist ein Projekt für die Historiker Europas. Es ist nur bedingt möglich,

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die Geschichte des K o m m u n i s m u s und des sowjetischen Imperiums nationalstaatlich aufarbeiten zu wollen, hierzu bedarf es einer europäischen Perspektive. Ein letztes Beispiel soll diese These belegen: die Karriere von Ivan A . Serow. Von 1939 bis 1941 war er Innenminister in der Ukraine und Hauptverantwortlicher für die Durchführung der Deportationen in den baltischen Staaten 1940, 1941 waren es die Russlanddeutschen, 1943/44 die Kalmücken, Tschetschenen und Krimtataren. Als NKWD-Bevollmächtigter der ersten belorussischen Front war er maßgeblich beteiligt an der B e k ä m p f u n g der antisowjetischen Opposition in der Ukraine. 1944 überschritten seine Aktivitäten die sowjetische Grenze. In Polen war im Juli das „Lubliner K o m i t e e " gebildet worden, u m die Macht im befreiten Polen zu übernehmen. Im K a m p f gegen die Anhänger der polnischen Exilregierung in L o n d o n diente Serow als „Berater". Im Frühjahr 1945 wurde die sowjetische Besatzungszone in Deutschland sein Operationsgebiet, er wurde Stellvertretender Chef der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland ( S M A D ) . Serow übte eine Doppelfunktion aus, er war verantwortlich für die sowjetische Spionage und den A u f b a u eines Informantennetzes in der SBZ, 2 5 zugleich war er in der S M A D zuständig für die Überwachung des A u f b a u s einer deutschen Verwaltung. Somit war von Anfang an alles wohl geordnet für den A u f b a u einer neuen „ D e m o k r a t i e " in der SBZ. 1954 wurde er Vorsitzender des K G B und wechselte Ende 1958 in den Chefposten der sowjetischen Militärspionage. In Ungarn 1956 half er in bewährter Weise die Macht der kommunistischen Partei nach der Revolution zu festigen. 26 Die Biografien dieser sowjetischen Okkupations- und Terrorspezialisten sind mit der Geschichte Mittelosteuropas nach 1945 untrennbar verbunden. Sie waren die konspirativen Garanten der Macht der nationalen kommunistischen Parteien, sie müssen ebenso im Gedächtnis Europas bleiben wie die Biografien von Reinhard Heydrich und Adolf Eichmann. D a s zu leisten, ist eine Sache der Historiker. Sie müssen ihre jeweiligen nationalstaatlichen Perspektiven zu der Einsicht öffnen: Die Geschichte der kommunistischen Herrschaft in den Staaten Mittelosteuropas kann nur in multinationaler Perspektive geschrieben werden, die das Zentrum der Macht in M o s k a u nicht aus den Augen verliert. O h n e die Uberwindung des K o m m u n i s m u s in den demokratischen Revolutionen des Herbstes 1989/1990 gäbe es kein vereintes Europa. Die Erinnerung an Widerstand und Opposition gegen die kommunistischen Diktaturen gehört zu den demokratischen Traditionen des vereinten Europas, derer sich vor allem die Westeuropäer noch nicht bewusst sind. Es wäre ein ermutigendes Zeichen der Europäischen Union, im Jahr der Osterweiterung die Erarbeitung ihrer Geschichte im Rahmen europäischer Forschungsförderung zu unterstützen. Die Opferverbände selbst können einen solchen Prozess der europäischen Erinnerung dadurch befördern, dass sie in ihren Staaten dazu beitragen, dass die Gedenkstätten und Museen, die der Erinnerung an die kommunistische Diktatur gewidmet sind, grenzüberschreitend zusammenarbeiten.

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Vgl. Wladimir W. Sacharow et al.: Tschekisten in Deutschland. Organisation, Aufgaben und Aspekte der Tätigkeit der sowjetischen Sicherheitsapparate in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (1945-1959), in: Manfred Wilke (Hg.): Die Anatomie der Parteizentrale. Die K P D / S E D auf dem Weg zur Macht, Berlin 1998, S. 296 ff. Vgl. Helmut Roewer et al.: Lexikon der Geheimdienste im 20. Jahrhundert, München 2003, S. 417 f.

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Die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur plant in diesem Zusammenhang gemeinsam mit der Stiftung Ettersberg in Thüringen 2004 eine Konferenz, zu der die bestehenden Museen und Gedenkstätten eingeladen werden sollen, um einen europäischen Erfahrungsaustausch über Leistungen und Defizite zu organisieren. Solche Initiativen sollten von den Opferverbänden begleitet und unterstützt werden. Es gilt die Kraft der Erinnerung in allen betroffenen Ländern zu stärken, genau dazu bedarf es der Stimme der Opfer.

MfS-Akten: Offenlegung statt Verwaltung. 1989 ging es um Transparenz - nicht um eine neue Behörde (2005)*

JETZT BIN ICH RAUS, JETZT Kann ich erzählen, Wie es war Aber das Läßt sich nicht erzählen Und wenn Müßte ich sagen Was ich verschweige Zum Beispiel Daß ich am 17.12.1976 in meiner Zelle saß Mit dem Rücken zur Tür Und weinte Weil ich am Vormittag das Angebot abgelehnt hatte Mit ihnen zusammenzuarbeiten ... 1

Angst als Herrschaftsinstrument Jürgen Fuchs schrieb dieses Gedicht zur Selbstverständigung nach seiner Ausbürgerung und dem Ende der U-Haft im Zentralen Untersuchungsgefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in Berlin-Hohenschönhausen. Er wollte die psychisch und physisch erlebte Angst in Worte fassen, die er in der direkten Konfrontation mit den Methoden der Staatssicherheit durchlebt hatte. Die Zeilen sind 1978 in Westberlin im Bewusstsein geschrieben, dass im Ministerium der Einschüchterung und des Schreckens nur wenige Kilometer entfernt in der Ostberliner Normannenstraße der Operative Vorgang (OV) zu seiner Person fortgeschrieben wurde. Dieser OV schloss alle Familienmitglieder ein und betraf auch die Freunde, die sich nicht an der Kultur des Wegsehens beteiligten, die sich in Bezug auf den diktatorischen Charakter der DDR in der Bundesrepublik ausgebreitet hatte.

* 1

Zuerst erschienen in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat, Nr. 17/2005, S. 152-164. Jürgen Fuchs: „... und wann kommt der Hammer?", Berlin 1990, S. 6.

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Die Macht der Partei erodiert Die finale Krise der Diktatur wurde durch die Flüchtlinge der DDR im Sommer 1989 ausgelöst. Diese Bewegung der „Ausreiser" wirkte als Signal für alle die, die „hier bleiben wollten". Die Staatssicherheit war mit ihren Inoffiziellen Mitarbeitern bemüht, Fluchtabsichten rechtzeitig „aufzuklären", um sie zu verhindern. „Die IM sind die Hauptkräfte des MfS im Kampf gegen den Feind."2 In dem Lehrbuch „Bearbeitung von OV" der Juristischen Hochschule des MfS wird diese „Hauptkraft" des Ministeriums definiert als ein „Bürger oder Ausländer, der sich aus positiver, gesellschaftlicher Überzeugung oder anderen Beweggründen bereit erklärt hat, konspirativ mit den MfS zusammenzuarbeiten" 3 . Diese „Hauptkraft" kam auch zum Einsatz, als sich im Sommer 1989 Gruppen bildeten und Bürgerrechtler die Gründung von Parteien in der DDR vorbereiteten. Der Mitbegründer der Sozialdemokratischen Partei Markus Meckel vermutete in seiner Gruppe, „daß die Stasi fast omnipräsent war". Er wusste auch, dass das MfS es darauf anlegte, dass die verschiedenen Gruppen sich bei ihrer Suche nach den Spitzeln in den eigenen Reihen selbst zerstörten und dass „sich Mißtrauen zwischen den einzelnen Mitgliedern breit machte"4. Gegen diese Methode der „Zersetzung" half aus Meckels Sicht nur Öffentlichkeit, die auch das beste Mittel war, um sich gegen eine Anwerbung durch die Stasi zu wehren. In Magdalena hat Jürgen Fuchs seine Auseinandersetzung über diesen Schlüsselbegriff „Zersetzung" mit zwei MfS-Offizieren festgehalten, die im Jahre 1991 als Experten in die „Gauck-Behörde" übernommen wurden. „Zersetzung. Becker will das Wort nicht anfassen und aussprechen, mit spitzer Zunge tippt er es an, läßt es zwischen den Zähnen verschwinden, die Lippen verziehen sich kaum, Zersetzung, na ja, sagt er, es gab halt so Begriffe ... Aber in der Richtlinie 1/76 steht genau geschrieben, was zu machen ist, erwiderte ich: Ausnutzung und verstärken von Widersprüchen bzw. Differenzen, Zersplittern, Lahmen, Desorganisieren, Isolieren, Diskreditieren, systematisches Organisieren beruflicher Misserfolge zur Untergrabung des Selbstvertrauens, Erzeugung von Misstrauen, Beschäftigung mit sich selbst auslösen, Gerüchte verbreiten, gezielte Indiskretionen, anonyme Briefe ... Haben Sie das auswendig gelernt, fragte Becker. Ja, sage ich. Sie wollen uns wohl überführen [...]. Was heißt überführen, das ist doch alles längst geschehen, die Akten sind da."5 Halten wir fest: Angst vor ihrer unsichtbaren, scheinbar allgegenwärtigen Präsenz war seitens der Stasi eine zentrale Methode der Unterdrückung durch Überwachung. Sie war das Fundament für das Klima des Ungewissen und der Bedrohung, die über dem Land lag. Überschattet wurden die Vorgänge im Sommer 1989 durch ein Ereignis, das am 4. Juni im fernen Peking stattgefunden hatte. Die chinesische KP-Führung war mit Panzern gegen die vor allem von Studenten getragene Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens vorgegangen. Mit einem Blutbad hatten die Kommunisten die Forderung nach Freiheit und Demokratie beantwortet. Die Volkskammer begrüßte vier Tage später dieses Massaker als „Niederschlagung einer

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Ders.: Magdalena. MfS. Memphisblues. Stasi. Die Firma. VEB Horch und Gauck. Ein Roman, Berlin 1989, S. 160. Zit. nach: ebd. Markus Meckel/Martin Gutzeit: Opposition in der DDR, Köln 1994, S. 55. Jürgen Fuchs: Magdalena, a. a. O., S. 32.

MfS-Akten: Offenlegung statt Verwaltung (2005)

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Konterrevolution". Das Kontrastprogramm kam in diesen Junitagen aus Polen: die ersten halbdemokratischen Wahlen. Die Liste der Gewerkschaft Solidarnosc siegte. Gleichzeitig berichtete das Westfernsehen vom Besuch Gorbatschows in der Bundesrepublik, wo er als Mann des Friedens und als Reformer gefeiert wurde. Auf dieser Reise erklärte der sowjetische Generalsekretär mit Blick auf seinen Gastgeber, Bundeskanzler Kohl: „Wir ziehen den Strich unter die Nachkriegsepoche." 6 Zu diesem Schlussstrich gehörte auch, dass die Bundesrepublik und die Sowjetunion in einer gemeinsamen Erklärung als Bauelement eines Europas des Friedens und der Zusammenarbeit feststellten, „daß jeder Staat das Recht habe, das eigene politische und soziale System frei zu wählen" 7 . Im selben Monat zerschnitten Ungarn und Osterreich demonstrativ den Drahtzaun des Eisernen Vorhangs zwischen beiden Staaten. Gorbatschow gab in Bukarest auf dem Gipfeltreffen des Warschauer Paktes am 7. und 8. Juli in aller Form die Breschnew-Doktrin auf. Sie war 1968 verkündet worden und rechtfertigte das bewaffnete Eingreifen der Sowjetunion zum Schutz des Sozialismus in anderen Ländern ihres Imperiums. Auf diesem Treffen erkrankte Honecker so schwer, dass er abreisen musste. Damit verlor die S E D für Monate den Generalsekretär an ihrer Spitze. Die restliche SED-Führung verfiel in abwartende Agonie. Gegen alle diese Tendenzen einer dramatischen Veränderung der äußeren und inneren Lage der D D R setzte die Volksbildungsministerin Margot Honecker auf dem X I . Pädagogischen Kongress der D D R einen Kontrapunkt kommunistischer Selbstbehauptung. Sie äußerte ihre Sorge, dass „unter dem Motto der Vielfalt Konterrevolutionäre versuchen, ihr Süppchen zu kochen" 8 . Sie rief zum Kampf und zur Verteidigung des Sozialismus - „wenn nötig mit der Waffe in der H a n d " 9 - gegen diese erneute Aggression des Imperialismus auf und versicherte den Kommunisten der D D R , dass er es auch diesmal nicht schaffen würde. Das MfS hatte für diesen Fall vorgesorgt. „Planung von Internierungslagern, Kz. hieß die Stasi-Einteilung. Kennziffer [...] Tausende von Namen, politische Unsicherheitsfaktoren im Spannungsfall ... Dazu die Schicksale der politischen Häftlinge, die Zersetzungsmaßnahmen, die Einzelheiten des brutalen Regimes an der Grenze, das muß doch genügen, oder? Vieles kann man nachlesen, besichtigen und in Beziehung setzen ..." 1 0 Für Jürgen Fuchs war es die Sprache, in diesem Fall die Abkürzung, die an den Tag brachte, aus welchem Geist diese Notstandsplanung des MfS kam: „Ja, ja, ja, liebe Freunde, kann man, natürlich, ist möglich. Fakten sind Fakten, Ziffern sind Ziffern, Buchstaben sind Buchstaben. Das ,K' haben Sie groß geschrieben, das ,z' klein, dahinter steht ein Punkt. Aber der Buchstabe ,k' und ,Z', klein und groß geschrieben oder groß und klein, die bedeuten schon was in Deutschland. Wie Gulag in der ehemaligen Sowjetunion." 11

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Helmut Kohl: Ich wollte Deutschlands Einheit. Dargestellt von Kai Diekmann und Ralf-Georg Reuth, Berlin 1996, S. 50. Ebd., S. 48. Zit. nach: U t a Stolle: Der Aufstand der Bürger - wie 1989 die Nachkriegszeit in Deutschland zu Ende ging, Baden-Baden 2001, S. 106. Ebd. Jürgen Fuchs: Magdalena, a. a. O., S. 138. Ebd., S. 139.

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Die Stunde der Staatssicherheit Am 31. August versammelte Erich Mielke, Minister für Staatssicherheit, seine Generäle und Leiter der Bezirksverwaltungen, um die entstandene Lage zu besprechen. Zum einen ging es um die „Ungarnprobleme", zum anderen um die Bestrebungen der Bürgerrechtler, sich zu organisieren - möglichst in der gesamten D D R Zentren zu bilden. Mielke fasste die Diskussion in einer Frage zusammen: „Ist es so, daß morgen der 17. Juni ausbricht?"12 Das Bild vom 17. Juni, das Mielke vermutlich vorschwebte, war das der siegreichen Niederschlagung mit Hilfe sowjetischer Panzer, den Einsatzgruppen des MfS und der Volkspolizei. Mit Gewalt wollte er offenem Protest begegnen. Ohne Bereitschaft zu dieser Gewalt gegen „unsere Menschen" kam die SED in all den Jahrzehnten ihrer Herrschaft nicht aus. Aber dann geschah das Unglaubliche: Am 4. September entfalteten Demonstranten nach dem Friedensgebet in der überfüllten Leipziger Nikolaikirche „drei Transparente, auf denen zu lesen stand: ,Für ein offenes Land mit freien Menschen',,Reisefreiheit statt Massenflucht' und Versammlungsfreiheit - Reisefreiheit'" 13 . Die Stasi-Mitarbeiter zerrissen die Transparente. Die Ausreisewilligen unter den Demonstranten reagierten mit Sprechchören: „,Wir wollen raus!' und,Freiheit! Freiheit!'" Sie skandierten ihre Losungen direkt in die Kameras westlicher Fernsehsender, die diese Bilder auch sendeten.14 Es war der Aufbruch in eine friedliche Revolution, die die sich formierende politische Opposition gegen die SED noch gar nicht im Blick hatte. Der Moment der Gegenwehr war geschehen, den Gerulf Pannach 1974 herbeisingen wollte: „Gegen die Angst, seid nicht stille! Gegen die Angst, kommt hervor! Gegen die Angst, wir sind doch viele! Gegen die Angst, ohne Angst!"15 Die lähmende Angst so vieler Jahre, die an diesem Tag hervortrat, um den Protest zu unterdrücken, hatte einen Namen: Staatssicherheit. Die Forderung „Stasi raus" ergab sich für die Demonstranten aus der Konfrontation. Die willkürliche Macht, dieses Staatsorgan außer Funktion zu setzen, war die unabdingbare Vorbedingung für Veränderungen, die mit der Eroberung der freien Rede und der öffentlichen, nicht befohlenen Versammlung und Demonstration begannen. Diesem Ziel im Oktober stand vor allem das MfS im Weg. Die lähmenden Zweifel, wer die Inoffiziellen Mitarbeiter in den Reihen der Opposition und unter den

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Armin Mitter/Stefan Wolle (Hg.): Ich liebe Euch doch alle! Befehle und Lageberichte des MfS Januar bis November 1989, Berlin 1990, S. 125. Bernd Lindner: Die demokratische Revolution in der D D R 1989/90, Bonn 1998, S. 65. Ebd. Gerulf Pannach übersetzte 1974 diesen Text des katalanischen Sängers Raymon, als er in der D D R mit seinen Texten Schwierigkeiten bekam. Sein Freund Christian Kunert (Kuno) hat die Reaktion der Funktionäre auf diese Ubersetzung festgehalten: „Die Funktionäre waren zwar blöde, aber nicht dumm." In einer dieser Analysen heißt es, „daß Gerulfs Nachdichtungen in der Allgemeinheit ihrer Gesellschaftskritik - sofern der Name des Autors beim Vortrag nicht ausdrücklich genannt wird - auch ihren Mißbrauch gestatten, d. h. vor Publikum als Anti-DDRGedichte aufgeführt werden können. Mißbrauch hin und her, aber wo sie recht hatten . . . " (Gerulf Pannach: Als ich wie ein Vogel war, hrsg. von Salli Sallmann, Berlin 1999, S. 108).

M f S - A k t e n : O f f e n l e g u n g statt V e r w a l t u n g (2005)

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Demonstranten waren, mussten überwunden werden. Die Angst vor der Repression während und nach den Demonstrationen rückte geradezu instinktiv die Stasi-Frage in den Vordergrund der politischen Konfrontation zwischen den Bürgerrechtlern, dem Volk und der SED-Führung. Beide Seiten wussten, ohne dieses Ministerium konnte die Partei ihre „führende Rolle", mit anderen Worten, ihr Machtmonopol in der DDR nicht behaupten. Leipzig Die Entscheidung zwischen zivilem Ungehorsam und der SED, die ihr Machtmonopol zu behaupten versuchte, fiel am 9. Oktober ebenfalls in Leipzig. Aus den zirka eintausend Demonstranten am 4. September waren mittlerweile Zehntausende geworden, die jeden Montagabend um den Ring in der Innenstadt zogen. Zwei Tage nachdem die SED in Berlin mit militärischem Zeremoniell und dem FDJ-Fackelzug den 40. Jahrestag ihrer DDR gefeiert hatte, suchte sie die Entscheidung. So bekam am 9. Oktober in Leipzig die Revolution auch ihren Namen: die friedliche Revolution! Gewalt seitens der Staatsmacht lag vor der sechsten Montagsdemonstration in der Luft. Am 5. Oktober drohte ein Kampfgruppenführer in einem Leserbrief an die Leipziger Volkszeitung: „Die Genossen meiner Einheit verurteilen die konterrevolutionären Machenschaften jeden Montag in Leipzig. Wir können nicht tatenlos zusehen, wie Feinde unserer DDR nicht genehmigte Demonstrationen durchführen und unsere öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährden." 16

Diesem Kurs der Konfrontation wirkten Repräsentanten der Kirche entgegen. In den Gottesdiensten wurde noch einmal eindrücklich die Gewaltlosigkeit als Methode des Protests beschworen. Um 18.00 Uhr wurde über die Lautsprecher des Stadtrundfunks jener „Aufruf" für Dialog und gegen Gewalt verlesen, der im Rückblick als Wende zu werten ist.17 Mit dem „Aufruf" war die Entscheidung, die bewaffneten Kräfte nicht einzusetzen, aber noch nicht endgültig gefallen. Als aber die Demonstranten - es waren nicht mehr 20.000 wie eine Woche zuvor, sondern 70.000 - ihren Weg „um den Ring zogen, gab die Bezirkseinsatzleitung auf, sie gab den Befehl, sich zurückzuziehen und zur ,Eigensicherung' überzugehen" 18 . Mit dem 9. Oktober war in Leipzig die Meinungs-, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit in der DDR durchgesetzt worden, der Bann war gebrochen und die Montagsdemonstrationen überzogen das Land. Die SED befand sich in der Defensive. Die Vorgänge in Leipzig - der Erste Sekretär der Bezirksleitung organisierte die gewaltsame Niederschlagung der im Parteij argon „konterrevolutionäre Krawalle" genannten Demonstration und seine drei Sekretäre unterschrieben den Aufruf „Keine Gewalt" - zeigten die Zerrissenheit in der SED selbst. Zehn Tage später wurde

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Zit. nach: Tobias Hollitzer: Der friedliche Verlauf des 9. Oktober 1989, in: Gunther Heydemann/Gunther Mai/Werner Müller (Hg.): Revolution und Transformation in der D D R 1989/90, Berlin 1999, S. 257. Zit. nach: Walter Süß: Staatssicherheit am Ende. Warum es den Mächtigen nicht gelang, 1989 eine Revolution zu verhindern, Berlin 1999, S. 310. Vgl. ebd., S. 3 1 1 .

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A u f s ä t z e 1991 bis 2006

Erich Honecker vom ZK als Generalsekretär durch den für Sicherheitsfragen zuständigen ZK-Sekretär Egon Krenz ersetzt. Die „Gegenoffensive" war in Leipzig gescheitert, die bezirkliche Führungsebene der SED schreckte angesichts der großen Zahl davor zurück, gegen die Demonstranten gewaltsam vorzugehen. Es hätte „den Beginn einer Eskalation bedeutet, die niemand mehr unter Kontrolle gehabt hätte"19. Im Unterschied zu den Junitagen 1953 standen der SED keine sowjetischen Truppen mehr zur Verfügung, die der Partei gegen „ihr Volk" halfen. Manipulation der Opposition Der neue SED-Generalsekretär Egon Krenz versprach die „Wende" und bekundete seine Dialogbereitschaft gegenüber der Bürgerrechtsbewegung. Mielke passte sich der neuen Linie an und gab am 21. Oktober die Weisung heraus, „mit Hilfe von Inoffiziellen Mitarbeitern einzudringen in die ,antisozialistischen Sammlungsbewegungen' und sie zu manipulieren"20. Diese Weisung des Ministers wurde politische Praxis, wie die kurzzeitigen Karrieren von Wolfgang Schnur im Demokratischen Aufbruch und Ibrahim Böhme in der Sozialdemokratischen Partei zeigen sollten. Auch bei der Erneuerung der CDU-Führung galt sie, wie der Aufstieg von Lothar de Maiziere zum Vorsitzenden der Partei zeigte. Walter Süß hat die vorliegenden Akten zum IM „Czerni" überzeugend analysiert, der von 1981 bis 1989 vom Referat 4 (Kirchen) des MfS geführt wurde. Manfred Stolpe war für die C D U im Entwurf der Kabinettsliste der Regierung Hans Modrow als stellvertretender Ministerpräsident vorgesehen, ihn führte das MfS seit 1971 als IM „Sekretär". All diese Wendemanöver konnten den Verlauf der friedlichen Revolution nicht grundlegend ändern. Die aktivierten IM in den Parteien mussten die Veränderung selbst vorantreiben und waren durch den Zerfall von SED und MfS auch nicht mehr zu steuern. Sie wandelten sich, sie wurden zu Knotenpunkten von Wende-Seilschaften, die ihre eigene Zukunft jenseits der D D R in den Blick nahmen und die vom Schlussstrich unter ihre eigene Vergangenheit träumten. Die Durchsetzung der geforderten Reisefreiheit erfolgte im nächsten Monat, als in Berlin am 9. November 1989 die Mauer fiel. Mit der offenen Grenze zwischen beiden deutschen Staaten wurde die friedliche Revolution in der D D R unumkehrbar. Weltpolitisch begannen die Verhandlungen zur Lösung der „Deutschen Frage". Es war offensichtlich: „Der in der Öffnung der Mauer zum Ausdruck kommende Machtverfall der SED hatte systemsprengende Folgen. Während der Demonstrationen im November veränderten sich die Forderungen. Neben dem Ruf ,Wir sind das Volk!' erscholl immer stärker der Ruf ,Wir sind ein Volk!'"21

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Ebd., S. 314. Ebd., S. 451. Bericht der Enquete-Kommission, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der EnqueteKommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" (12. Wahlperiode), Baden-Baden 1995, Bd. I, S. 602 f.

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Beweise der Diktatur: vernichten! Noch vor dieser Zäsur befahl Mielke am 6. November seinen Diensteinheiten, sensible Unterlagen zu vernichten oder auszulagern. Die Abwicklung des MfS hatte begonnen und war trotz aller Versuche der Regierung Modrow, das MfS in ein „Amt für Nationale Sicherheit" oder einen „Verfassungsschutz" umzuwandeln, als Herrschaftsinstrument der Partei verloren. Am 3. Dezember verlor die Staatssicherheit ihre Partei. Das Zentralkomitee der SED trat zurück, und ein Arbeitsstab bereitete einen Sonderparteitag vor, auf dem aus der SED die PDS wurde. Das MfS war gelähmt und desorientiert, die Aktenvernichtung, genauer die Vernichtung von Beweismaterial, ging weiter. Nun griffen Bürger ein, um dies zu unterbinden. Gegen die Besetzung von Bezirks- und Kreisdienststellen des MfS durch Bürgerkomitees am 4./5. Dezember konnte die Regierung Modrow ihre Genossen von der unsichtbaren Front nicht mehr schützen. Die Bürgerkomitees hoben handgreiflich Mielkes Befehl zur Aktenvernichtung auf. Sie stoppten das Zerschreddern und Verbrennen und sicherten die Akten von Unterdrückung, Bespitzelung, „Zersetzung" und nicht zuletzt die über viele „Inoffiziellen Mitarbeiter". Wollte Mielke bis zum Herbst 1989 unter Einsatz geheimdienstlicher Mittel erfahren, wer ist wer in der Gesellschaft der DDR, so kehrten die Bürgerkomitees diese Frage nun um. Für sie war es überlebenswichtig und befreiend, durch Aufdeckung die IMs kennen zu lernen, die sie bespitzelt, Lebenspläne zerstört, Leid verursacht oder zum Heimatverlust gezwungen hatten. Nur so lasse sich das Misstrauen überwinden und könnte erneut Vertrauen unter den Menschen wachsen. Der Weg zu diesem Ziel schien einfach: „Die Stasi-Besetzer in Gera dachten es sich so: Unterlagen finden und veröffentlichen, dann ist alles klar."22 Klar sollte sein: 1. Wer waren die Stasi-Spitzel unter uns?, 2. Welche Verbrechen hatten sie begangen? und 3. Wer war dafür verantwortlich? D a s Unverständnis für die Befreiung im Westen Es war nicht der grüne Pfeil, sondern die Erblast dieser Akten, die von der D D R im vereinigten Deutschland vor allem gegenwärtig blieb. Über die Frage, was mit den Akten geschehen sollte, kam es im Sommer 1990 zu einem spektakulären Konflikt zwischen der Bundesregierung und den Akteuren der friedlichen Revolution des Herbstes 1989. Auslöser war die im Rahmen der Verhandlungen über den Einigungsvertrag aufgeworfene Frage, ob Agenten der Hauptverwaltung Aufklärung des MfS vor Gericht gestellt werden sollten. Der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble ( C D U ) wollte eine Amnestie für diese „teilungsbedingten Straftaten", der Bundesjustizminister legte einen entsprechenden Gesetzesentwurf vor.23 Dies war der Auftakt im Streit um die Akteneinsicht. Er eskalierte, als sich beide deutsche Regierungen - der Ministerpräsident der D D R hieß Lothar de Maiziere - im Einigungsvertrag auf eine „restriktive Nutzung der Stasi-Akten" 24 einigten und die 22 23 24

Jürgen Fuchs: Magdalena, a. a. O., S. 138. Vgl. Wolfgang Schäuble: Der Vertrag. Wie ich über die Deutsche Einheit verhandelte, Stuttgart 1991, S. 269. Ebd., S. 274.

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Akten selbst dem Bundesarchiv überstellt werden sollten. Eine endgültige Regelung sollte dem gesamtdeutschen Gesetzgeber überlassen werden. Sobald dieses Vorhaben bekannt wurde, besetzten Bürgerrechtler die frühere Zentrale des MfS in Berlin, um die Öffnung der Akten zu erzwingen. Unter diesem Druck verabschiedete die Volkskammer eines ihrer letzten Gesetze: Die Akten verbleiben auf dem Territorium der DDR. Daraufhin einigten sich beide Regierungen, dass der Bundestag eine gesetzliche Regelung schaffen sollte, die den betroffenen Opfern des MfS ein Auskunftsrecht über den Inhalt ihrer Akten einräumte. Darüber hinaus sollte die historische und juristische Aufarbeitung des MfS-Komplexes erfolgen. Mit diesem Gesetz und der Schaffung der dazu gehörenden Behörde fand eine wichtige politische Weichenstellung statt. Die Geschichte der zweiten Diktatur in Deutschland wurde und wird aufgeklärt und offen gelegt. Die Akteneinsicht symbolisiert die Selbstbefreiung der Gesellschaft von der Atmosphäre der Lüge und des Misstrauens, die eine direkte Folge der flächendeckenden Überwachung der D D R Gesellschaft durch das MfS war. Dieser Akt der Selbstbefreiung durch Aufklärung der Uberwindung der SED-Diktatur im Vereinigungsprozess ist geglückt. Das wesentliche Ziel, was mit der Schaffung der Behörde für die Stasi-Unterlagen verbunden war, wurde erreicht. Selbstbefreiung und Akteneinsicht im Rechtsstaat Jürgen Fuchs wollte die Selbstbefreiung von den individuellen und kollektiven seelischen Folgen dieser Unterdrückung durch Überwachung. Als Psychologe war er Objekt der operativen Psychologie des MfS als Untersuchungshäftling gewesen. Als Schriftsteller beschrieb er mit analytischer Präzision seine Erkenntnisse über die Methodik der äußerlich spurenlosen Torturen, die das MfS in den „Operativen Vorgängen" seinen Opfern zufügte. Seine „Vernehmungsprotokolle"25 dokumentieren die Verhörpraxis des MfS, die er selbst erleben musste. Der Imperativ der Geraer StasiAuflöser beherrschte auch ihn: Aktenöffnung, um die Verbrechen der Diktatur zu zeigen und die Verantwortlichen zu benennen. Die Juristen der Bundesrepublik hatten im Hinblick auf das Stasi-Unterlagengesetz (StUG) mit den Akten rechtssystematisch ganz andere Probleme: Das Material wurde zusammengetragen unter Bruch aller Grundrechte, die das Grundgesetz den Bürgern der Bundesrepublik garantiert. Viele Erkenntnisse und Informationen, die das MfS auf diese Weise gewann, waren vor Gericht schon alleine durch die Art ihrer Entstehung nicht zu verwenden. Eine Partei verstand sofort, welche Chance der Rechtsstaat ihr bot, um das Aufklärungsbegehren ihrer politischen Gegner einzugrenzen oder zu verhindern: die PDS. 1991 wurde im Bundestag das Stasi-Unterlagengesetz parlamentarisch beraten. Auch der Vorsitzende der PDS-Bundestagsgruppe nahm Stellung, wie mit den MfS-Akten verfahren werden sollte. Gregor Gysi hielt sich an den Vorschlag der beiden Regierungen von 1990, mit diesen Akten restriktiv umzugehen. Er wusste, dass die Debatte über Strukturen und Aufgaben des MfS unvermeidlich war. Ihm war auch klar, dass seine Partei diese Diskussion in der Sache nicht bestehen und in ihrer Mitgliedschaft nicht aushalten würde. Trotzdem war der Ausgang dieser Debatte offen. Gysi sah die Chance, durch eine restriktive Zugangs-

25

Jürgen Fuchs: Gedächtnisprotokolle/Vernehmungsprotokolle, Reinbek bei Hamburg 1990.

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regelung die eigenen Kader und sich selbst zu schützen. Noch war nicht bekannt, dass er im MfS als IM „Notar" geführt worden war. Historisch bedingt war die PDS die Partei, die den Täterschutz politisch vertreten musste und dies auch tat. Gysis Negativkatalog für den Umgang mit den Akten war nur konsequent. Der erste Punkt konzentrierte sich auf die Materialien, die als Beweismittel für Straftaten in Frage kamen: „Gegebenenfalls sind sie den Strafverfolgungsbehörden zu übergeben. Im anderen Fall sind sie für eine bestimmte Frist aufzubewahren. Zu einem späteren Zeitpunkt wird über ihre Vernichtung zu entscheiden sein. Eine Ubergabe [...] an Dritte ist zu untersagen". Die zweite Sorge, die ihn umtrieb, war die Eingrenzung des Auskunftsrechts. Antifaschistische Begründung: „Damit soll u. a. verhindert werden, daß ζ. B. Kriegs- oder andere Gewaltverbrecher, deren Handlungen Untersuchungsgegenstand des MfS waren, ihre Akten herausverlangen können." Drittens wollte er das Verbot von Auskünften „an in- und ausländische Nachrichtendienste oder den Verfassungsschutz [...], um nicht auf diese Art und Weise eine indirekte Fortsetzung der geheimdienstlichen Tätigkeit des MfS zu ermöglichen". Schließlich, viertens, gipfelte sein Forderungskatalog in dem Satz: „Ein Mißbrauch der Akten des ehemaligen MfS muß unter Strafe gestellt werden."26 Wie man sieht, übernahm die gewendete Partei der Diktatur sofort den Schutz der Demokratie. 1991 wurde die PDS-Strategie, das Aufklärungsbegehren durch die systematische politische Nutzung des Rechts zu konterkarieren, nicht weiter beachtet. Die PDS hatte aber genau den archimedischen Punkt in der Bundesrepublik erkannt, von dem aus mit Prozessen der Schutz der willigen Helfer und verantwortlichen Täter des MfS vor strafrechtlicher Verfolgung betrieben werden konnte. Gysi war sich sicher, dass es andere Betroffene wie zum Beispiel den IM „Sekretär" gab, der zu dieser Zeit als einziger sozialdemokratischer Ministerpräsident in Brandenburg regierte und wie Gysi selbst diesen Weg des Rechts beschreiten würde. Er war elegant, zielte auf das Unverständnis der liberalen Öffentlichkeit und verbannte die historische Debatte und die politische Aufklärung in die Gerichtssäle. Die Behörde Im Spannungsverhältnis zwischen Aufklärungsinteresse und Rechtsschutz für nichtbetroffene Dritte und der Abwehr des Missbrauchs der MfS-Akten, um die öffentliche Diffamierung von Opfern und damit die Fortsetzung der Zersetzungsarbeit des MfS zu verhindern, entstand die Behörde des „Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik" die „Gauck-Behörde". Ihr administrativer Schöpfer war ein brillanter Jurist aus dem Westen, Dr. Hans-Jörg Geiger, heute Staatssekretär im Bundesjustizministerium. Jürgen Fuchs misstraute ihm, denn die Interessen des Westens in dieser Behörde waren in der Tat nicht identisch mit dem Aufklärungswillen der Bürgerkomitees der friedlichen

26

Gregor Gysi: Eigene Verantwortung nicht durch Suche nach „Sündenböcken" verdrängen, in: Neues Deutschland vom 17. April 1991, zit. nach: Silke Schumann: Vernichten oder Offenlegen? Zur Entstehung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes. Eine Dokumentation der öffentlichen Debatte 1990/1991, III Α (Dokumente der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Nr. 1/1995), S. 165.

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Revolution. Geiger musste aus dem Stand eine rechtsstaatlich gesicherte Akteneinsicht für Opfer und Justiz gewährleisten, parallel die Behörde aufbauen, deren Beschäftigte sich überwiegend aus Angestellten des DDR-Staatsapparates zusammensetzten, und die rasche Auskunft über MfS-Belastung für den öffentlichen Dienst organisieren. Dem Rostocker Pfarrer Joachim Gauck fiel als Bundesbeauftragtem die Aufgabe zu, die Aktenöffnung und ihre Ergebnisse zu kommunizieren. In dieser Atmosphäre entstand auch die Abteilung Bildung und Forschung, zuständig für die Erforschung und Darstellung der Geschichte des MfS. Diese Abteilung, nicht aber die Arbeitsgruppe, an die Jürgen Fuchs gedacht hatte, ging nun an die „Stasi-Front". Die Arbeitsgruppe, die Jürgen Fuchs im Sinn hatte, sollte aus den Besetzern der ersten Stunde aus Gera, Erfurt und Suhl, dem ehemaligen Häftling und MfS-Historiker Karl Wilhelm Fricke, aus Reiner Kunze und Lutz Rathenow bestehen.27 In der vom Direktor bestimmten Recherchegruppe, die gebildet worden war, um die Anfragen aus den Behörden der Länder und des Bundes rasch zu bearbeiten, fand Fuchs als „Spezial-Rechercheure" auch die beiden MfS-Offiziere Becker und Hopfer als Mitarbeiter vor. Sein Dialog mit diesen beiden Experten verdeutlicht die Diskrepanz: „Welchen Dienstgrad hatten Sie? Oberstleutnant, sagt Becker. Und Sie sind der Einzelkämpfer, fragt er. Was habe ich ihm geantwortet? Das Gedächtnis des Einzelkämpfers läßt nach. In der Haft, in der Not, in der Niederlage frißt sich alles ein, jeder Olsockel, jedes miese Grün oder Grau, jedes Grinsen, auch jedes eigene Wort und das Gestammel dazu ... Aber danach, nach der ,Wende', in der neuen Zeit? Beim Dialog mit kooperationsbereiten ehemaligen Offizieren? [...] Was ist mit dir, denke ich, hast du Angst vor ihnen? Und das wollen wir Ihnen gleich sagen, teilt Becker mit, wir haben keinen Befehl, diese Tätigkeit hier auszuführen, wir haben ständig Arger mit bestimmten Kreisen ehemaliger Mitarbeiter. Ach so, sage ich. Wer ist Ihr Vorgesetzter, fragt Becker, Dr. Rolle? Ich nicke. Vielleicht sind Sie meine Vorgesetzten, sagte ich. Aber, aber, Becker und Hopfer lachen ihr Lachen." 28

Unversöhnlich stand zwischen dem ehemaligen Häftling und den ehemaligen MfSOffizieren ihre gemeinsame, aber gegensätzliche Vergangenheit, das Misstrauen lebte fort - ein Misstrauen, das auf Erfahrung gründete. Der Widerstand muss sich legitimieren Die Differenz zu den westdeutschen Historikern, die die Leitung der Abteilung Bildung und Forschung übernahmen, war keine moralische - hier ging es um unterschiedliche Erkenntnisinteressen. Jürgen Fuchs betrieb intentionale Forschung, über deren wissenschaftliche und politische Ziele er offen sprach. Sein psychologisches Interesse wird bei ihm oft übersehen, aber er wollte wissen, mit welcher Methodik die operative Psychologie des MfS ihr Ziel erreicht hatte, menschliche Individualität zu zerstören. Der Psychologe wollte verstehen, um individuell und kollektiv helfen zu können. Der Schriftsteller beteiligte sich an der öffentlichen Debatte, die er gleichermaßen als Einmischung in eigene Angelegenheiten und politische Notwendigkeit der Diktaturbewältigung verstand. Die akademischen Historiker und Politikwissenschaftler hatten andere Ziele. Die Arbeit in einem der größten zeitgeschichtlichen

27 Vgl. Jürgen Fuchs: Magdalena, a. a. O., S. 14. 28 Ebd., S. 15.

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Institute der Bundesrepublik mit gesetzlich gewolltem, privilegiertem Aktenzugang zu dem einzigen offenen Geheimdienstarchiv der Welt boten exzellente Chancen, ein neues Forschungsfeld zu erschließen und sich in der Wissenschaft einen Namen zu machen. In einem fiktiven Diaolog in dieser Abteilung über seinen Roman Magdalena hat Jürgen Fuchs die interne Abwertung seiner Erfahrungen mit den Widersprüchen in dieser Behörde festgehalten, die seinem Erkenntnisinteresse im Weg standen und dem gesetzlichen Aufklärungsauftrag zuwiderliefen. Kühl und zugespitzt zeigt er die Kluft, die zwischen ihm und diesen Historikern lag: „Das Manuskript ist unbekannt und ,liegt im Hause nicht ein'. Was soll schon drinstehen, sagt Dr. Suckut aus Mannheim, jetzt Berlin am Molkenmarkt, an der Stasi-Front, zu Dr. Henke, seinem Vorgänger, der aus München kam, vom Zeitgeschichtlichen Institut. Seine Bauchschmerzen, vermutet Henke. Er ist ja ein Opfer, ein Betroffener und kein ,Grüß-Gott-Historiker' aus Bayern, er hat alles selbst erlebt, ergänzt Suckut, leicht und prompt wird es ihm über die Lippen kommen: der Staatsfeind, der Oberdissident, so doli war seine Zersetzungsanalyse in der Info-Reihe der Behörde auch wieder nicht, er wird sich wohl etwas aufgespart haben, wer weiß, wohin die vielen Kopien gegangen sind, jedes Mal konnte der Pförtner nicht kontrollieren ... Er hatte einen Vertrag, da stehen Bedingungen und Pflichten drin, holt Suckut aus seinem amtlichen Gedächtnis. Plus Honorar, sagt der Dr. Henke. Plus Honorar, echot Suckut, gut soviel war es nicht, Geld ist nicht der Punkt, aber solche Leute, das haben wir immer gesagt, lassen sich einfach nicht einbinden. Beide wollen sich in Zukunft auf dem laufenden halten."29 Ja, was steht schon drin, in dem heute vergriffenen Buch Magdalena? Der 1998 erschienene Roman ist nur ein Torso, ihm sollten zwei Bände folgen, die der Autor nicht mehr schreiben konnte. Der seltene Krebs, der bei ihm ebenso wie bei seinen Freunden Gerulf Pannach und Rudolf Bahro zuschlug, hat dies verhindert. Die Untersuchung, ob das MfS diese Krankheit in der Haft durch gezielte radioaktive Bestrahlung hervorgerufen hat, verlief ergebnislos. Der eigentlich empörende Sachverhalt war die Haltung, die Jürgen Fuchs in diesem Dialog hervorhebt und die ihn emotional und intellektuell traf. Diese akademischen Sachbearbeiter an der „Stasi-Front" setzten die Forschung von ihm, dem Akteur, nachdem der eigentliche Kampf beendet war, unter wissenschaftlichen Rechtfertigungsdruck. Dies widerfuhr ihm in einer Behörde, die dem gesetzlichen Auftrag verpflichtet war, die MfS-Verbrechen und den Widerstand gegen die Diktatur zu erforschen und die Ergebnisse zu publizieren. Unausgesprochen warf dieser Dialog die Frage auf: Wie kann die Aufklärung über die Diktatur gelingen, wenn die verantwortlichen Historiker so über einen Menschen urteilen, der eben nicht nur ein „Betroffener" war, sondern der es gewagt hatte, dieser Diktatur zu widerstehen, als sie noch die Macht zum Töten besaß. In Bezug auf die Einschätzung der Bedeutung seiner Arbeit „Unter Nutzung der Angst" 3 0 sollte sich der Autor irren. 1998 sprach der nunmehrige Professor Henke vor der Enquete-Kommission des Bundestages über die historische Bedeutung der späten D D R als Beispiel für die weithin unbeachtete „leise Phase der Diktaturen". E r forderte im ehemaligen Ministerium für Staatssicherheit in der Normannenstraße, eine „Topographie des Terrors I I " einzurichten. 29 30

Ebd., S. 11 f. Der vollständige Titel lautet: Unter Nutzung der Angst. Die „leise Form" des Terrors - Zersetzungsmaßnahmen des MfS, Berlin 1994 (BF informiert 11/1994).

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Seine Forderung begründete Henke mit der Bedeutung von „Zersetzung" für die leise Form des Terrors: „Bei Diktaturen mit langer Lebensdauer vollzieht sich nach und nach eine Abkehr von offenem Terror hin zu subtilisierten Verfolgungs- und Unterdrückungsmethoden, eben zu jenem leisen Terror der Zersetzung, Deformierung, Bedrückung und Gängelung des Bürgers." 31 Dass die „Zersetzung" eines der zentralen Merkmale dieser „leisen Diktatur" war, die mittels einer operativen Psychologie nach den Regeln des verdeckten Bürgerkriegs vom MfS eingesetzt wurde, wusste Jürgen Fuchs schon nach seiner Haftentlassung 19/7.

Beschränkung der Aufklärung durch Verfahren Magdalena hält akribisch fest, wie das Aufklärungsinteresse des politischen Widerstands über die Aktivitäten der Stasi mit der Gründung der Behörde zur Verwaltung und Erschließung der Akten überlagert und das Erkenntnisinteresse der Bürgerkomitees verformt wurde. Jürgen Fuchs sah den Weg der Behörde vorgezeichnet: Das sich verselbstständigende juristische Regelwerk des Zugangs zu den Akten wird immer komplizierter, vermehrt die juristischen Regelungstechniken und führt zur Herausbildung einer Spezialdisziplin der Zeitgeschichte, die sich vor allem durch ihre „privilegierte Akteneinsicht" legitimiert. Fuchs' Prognose ist nun Realität geworden und gehört zu dieser Geschichte der Akteneinsicht, die von Bürgerkomitees 1989/90 erkämpft wurde. Trotzdem bleibt es das Verdienst der BStU, die Akteneinsicht für die Betroffenen organisiert zu haben. Dank ihrer Arbeit wurde diese Aufgabe schnell gelöst und trug entscheidend zur politischen Befriedung der neuen Bundesländer bei. Die politisch bedingte Sonderverwaltung der MfS-Akten hat damit ihre zentrale Aufgabe gelöst, die heutige Akteneinsicht hat ihre politische Sprengkraft verloren. Die Dimension der flächendeckenden Überwachung einer ganzen Gesellschaft, die die S E D durch das MfS zu realisieren versuchte, wird auch künftig ihre Bedeutung als historisches Thema behalten. Die seelischen Wunden sind tief, die das MfS als Zuchtmeister der „fürsorglichen Diktatur", wie manch ein Historiker die SED-Diktatur bagatellisierte, in den betroffenen Menschen und ihren Kindern hinterlassen hat. Für eine Fortdauer einer eigenständigen Sonderverwaltung dieser archivarischen Erblast der SED-Diktatur besteht heute keine politische Notwendigkeit mehr. Die Zeit, da die Bundesbeauftragte, gestützt auf die Akteneinsicht der betroffenen MfS-Opfer, als moralische Instanz zur Durchsetzung der Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur angesichts der starken „Schlussstrichkoalitionen" ein politisches Gewicht besaß, nähert sich ihrem Ende.

Neuordnung der Aufarbeitung der SED-Diktatur für die Nachgeborenen Fünfzehn Jahre nach der deutschen Einheit scheint der Zeitpunkt gekommen zu sein, die Ergebnisse der bisherigen Aufarbeitung der Erblast der SED-Diktatur zu bilanzieren, ihren bestehenden institutionellen Rahmen zu überprüfen, um den Platz 31

Vgl. Protokoll der 44. Sitzung der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der S E D Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit", in: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der Enquete-Kommission, Bd. VI, Baden-Baden 1999, S. 183.

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der SED-Herrschaft in der deutschen Nationalgeschichte mit Blick auf die kommenden Generationen neu zu bestimmen. Genau diese Absicht lag der Entscheidung der Bundesregierung vom 3. Dezember 2004 zugrunde, als die Staatsministerin im Bundeskanzleramt Christina Weiss die Zuständigkeit für die B S t U und die Stiftung zur Aufarbeitung der S E D - D i k t a t u r vom Bundesinnenministerium übernahm. Die Art und Weise, wie die Bundesbeauftragte vor vollendete Tatsachen gestellt wurde, ist ein Indiz für den öffentlichen Ansehensverfall der B S t U . Die Bundesbeauftragte Birthler gab dies in ihrem Brief vom 9. Dezember 2004 an den Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse selbst zu Protokoll: „Da ich weder in die Vorüberlegungen einbezogen war noch überhaupt Kenntnis von ihnen hatte, bestand für mich keine Möglichkeit, die rechtlichen, politischen und praktischen Voraussetzungen und Folgen einer solchen Entscheidung zu untersuchen und zu bewerten." In diesen Zeilen spiegelt sich auch die Verblüffung wider, dass die Bundesregierung die Zukunft der Behörde in einen größeren erinnerungspolitischen Zusammenhang einordnen will. Die „Auseinandersetzung mit S E D - U n r e c h t " sollte auf eine „neue Grundlage" gestellt werden. In der Presseerklärung zum Wechsel der Zuständigkeit heißt es weiter: „Ziel der BKM ist es, ein umfassendes Konzept zur erinnerungspolitischen Aufarbeitung der SED-Diktatur von ihrer ganzen Komplexität und zur Aufklärung über die Geschichte der D D R zu entwickeln - unter besonderer Berücksichtigung von Widerstand und Opposition." 32 Die Bundesregierung betonte anlässlich des Zuständigkeitswechsels zugleich, worin für sie künftig „der originäre Auftrag der B S t U " besteht: „die Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit nach archivarischen Grundsätzen zu verwahren, zu verwalten und zu erschließen" 3 3 . Mit anderen Worten: Die Behörde wird als bedeutsames zeithistorisches Archiv gesehen, und dies soll ihre dauerhafte Aufgabe bleiben. Ihre Arbeit sollte zukünftig unter dem Dach des Bundesarchivs erledigt werden. Im Gegensatz zur Bundesbeauftragten Marianne Birthler, die in der Verteidigung ihrer Sonderverwaltung der Stasi-Unterlagen immer wieder die Singularität dieser Uberlieferung betont, stellt sie der Präsident des Bundesarchivs, Hartmut Weber, in den Kontext der archivarischen Uberlieferung des Partei- und Staatsapparates der D D R , um seine Bereitschaft zu unterstreichen, auch den Bestand der MfS-Akten in das Bundesarchiv zu integrieren. Mit Blick auf die historische Aufarbeitung der Geschichte des SED-Staates betont er den doppelten Nutzen für Forscher und Archiv, wenn der Kontext der historischen Uberlieferung einer Diktatur beachtet wird: „Einmal steigt der Erkenntnisgewinn mit solchem Kontext, zum Zweiten steigert sich auch die Wirtschaftlichkeit, weil man dann als Nutzer weniger Aufwand hat und weil andererseits das Archiv weniger Aufwand hat, wenn die Quellen zur DDR-Geschichte geschlossen überliefert werden." 34

32 33 34

Presse- und Informationsamt der Bundesregierung: Pressemitteilung Nr. 631/04 vom 3. Dezember 2004, S. 1. Ebd., S. 2. Prof. Dr. Hartmut Weber, in: CDU/CSU-Bundestagsfraktion, 15. Wahlperiode, Fraktionsinterne Anhörung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zum Thema „Langfristiger Umgang mit den Stasi-Unterlagen" (Vorsitz: Arnold Vaatz - Moderation: Hartmut Büttner), Wortprotokoll, 2. Dezember 2004, Berlin 2004, S. 12.

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Genau dieser Kontext zum SED-Staat und seinen Institutionen fehlt in der Aufgabenbestimmung im Stasi-Unterlagengesetz von 1991. Die Zielbestimmung des Gesetzes begrenzt es auf „die historische, politische und juristische Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitdienstes" 35 . Der unterschiedliche Aktenzugang der externen Forscher im Vergleich zu denen der Abteilung Bildung und Forschung der Behörde ist seit Existenz dieses differenzierten Aktenzugangs, den das StUG geschaffen hat, ein ständiger Konflikt mit den wissenschaftlichen Nutzern von außerhalb. Ministerialdirektor Nevermann hatte dieses Problem im Blick und skizzierte in seinem internen Konzeptionspapier eine Lösung: „Die allmähliche Verselbständigung, Herauslösung und Neuverteilung der Forschungsund Bildungsaufgaben der BStU verfolgt zwei Ziele: Deutliche Verknüpfung der Forschungsarbeiten mit wissenschaftlichen Institutionen (Zentrum für Zeitgeschichte Potsdam, FU-Schwerpunkt usw.), auch um das Problem ,Ressortforschung' aufzuheben. Eine Synergie freisetzende Betreuung der Bildungsarbeit primär durch die Stiftung Aufarbeitung (und in Arbeitsteilung mit der Bundeszentrale für politische Bildung)."36 Auch wenn Staatsministerin "Weiss nach Bekanntwerden des Konzepts und dem Protest der Bundesbeauftragten Birthler dieses als eines von verschiedenen „Ideenpapieren" abqualifizierte, hat sie doch zugleich mit Nachdruck betont, dass der „Geschichtsverbund der SED-Diktatur" kommen wird. Eine entsprechende Konzeption soll im Laufe des Jahres 2005 vorgelegt werden. Warum ihr Haus die Zuständigkeit für die BStU und die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur erlangen wollte, hat sie bei dieser Gelegenheit auch klargestellt: „Weil meine Behörde eine innere Kompetenz für Erinnerungskultur besitzt. Der Umgang mit dem schwierigen DDRErbe gehört für mich zu den Fundamenten meiner Politik." 37

35 36 37

Gesetz über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (StUG), § 1, Abs. 3. Knut Nevermann: Erinnerungspolitisches Konzept zu den Gedenkstätten der SED-Diktatur in Berlin, 1. Dezember 2004, in: http://www.havemann-gesellschaft.de/infol93.htm, S. 3. Statement von Staatsministerin Dr. Weiss zu Spekulationen über die Abwicklung der „BirthlerBehörde" am 10. Dezember 2004, Manuskript, S. 2.

Die „Westarbeit" des FDGB. Die DDR-Gewerkschaft und die innerdeutschen Beziehungen (1945-1990) (2005)*

U m die Jahreswende 1943/44 erhielten die KPD-Kader im Moskauer Exil von sowjetischer Seite den Auftrag, über die Politik ihrer Partei nach dem alliierten Sieg über Hitler und unter den Bedingungen alliierter Besetzung Deutschlands nachzudenken. Sie erkannten bald, dass die Grundfrage deutscher Politik nach Hitler darin bestünde, ob sich das Land nach Osten oder nach Westen orientiert. Diese Moskauer Kader sahen ihre Aufgabe natürlich darin, die Ostorientierung durchzusetzen. Einer von ihnen, Wilhelm Florin, umschrieb dieses Ziel am 6. März 1944 folgendermaßen: „Wir sagen: Frieden und Freundschaft mit allen Nachbarn und besonders enge Freundschaft mit der Sowjetunion. Wir müssen uns heute schon darauf einstellen, daß das Problem enge Freundschaft mit der Sowjetunion morgen noch viel mehr ein Problem der Lebensexistenz des deutschen Volkes und Deutschlands ist und daß das noch viel schärfer als Scheidelinie zwischen Reaktion und Fortschritt hervortritt als heute."1 Aus dieser Frontstellung zog Florin die Schlussfolgerungen für den Aufbau und die Ausrichtung der neuen einheitlichen deutschen Gewerkschaftsbewegung. Sie sollte geprägt sein von einer grundsätzlichen Kritik an der Entwicklung der deutschen Gewerkschaften vor 1933, sich am Vorbild der sowjetischen Gewerkschaften orientieren und damit am russischen Weg des revolutionären Kampfes, der mit dem Sieg der Arbeiterklasse über die Kapitalisten geendet habe. Im Gegensatz dazu habe der deutsche Weg des Reformismus sein Ende im „Faschismus und Imperialistischen Krieg" gefunden. Aus dieser Grundsatzposition folgte zwingend, dass sich die neuen Gewerkschaften nicht auf das enge Feld der Tarif- und Lohnpolitik beschränken dürften, sondern in klarer Kenntnis der politischen Seite aller Lebensfragen sich „mit der Partei des werktätigen Volkes" 2 , sprich den Kommunisten, verbinden sollten. Die von Florin geforderte „einheitliche Gewerkschaftsbewegung" unterschied sich somit konzeptionell von einer Einheitsgewerkschaft, die auf Toleranz und Strömungspluralismus beruhte, und führte intentional bereits vor dem Neubeginn zu einer Frontstellung der Kommunisten gegen sozialdemokratische und christliche Gewerkschafter. In einer Lektion von Hermann Matern an der Parteischule der KPD (in der Sowjetunion) am 8. März 1945 wurde dieser Gegensatz offen formuliert: Die Kommu-

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Zuerst erschienen in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat, Nr. 18/2005, S. 1 1 5 - 1 3 7 . Wilhelm Florin: Die Lage und die Aufgaben in Deutschland bis zum Sturz Hitlers, in: Peter Erler/Horst Laude/Manfred Wilke (Hg.): „Nach Hitler kommen wir." Dokumente zur Programmatik der Moskauer KPD-Führung 1944/45 für Nachkriegsdeutschland, Berlin 1994, S. 144. Wilhelm Florin, zit. nach: Horst Laude/Manfred Wilke: Pläne der Moskauer KPD-Führung für den Wiederaufbau der Gewerkschaften, in: Klaus Schroeder (Hg.): Geschichte und Transformation des SED-Staates. Beiträge und Analysen, Berlin 1994, S. 32 f.

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nisten könnten es nicht zulassen, dass „die alten Gewerkschaftsleute" zurückkehrten und Anspruch „auf die Führung der Gewerkschaften mit ihrer früheren Tätigkeit" begründeten, denn „die Gewerkschaftsführer haben am 2. Mai 1933 den Faschisten die Gewerkschaften übergeben [...] und sie haben gar keinen Anspruch aus alten Traditionen abzuleiten, denn ihre Politik hat die Gewerkschaften in die Hände des Faschismus gebracht. [...] sie haben vor den Faschisten kapituliert."3 Ein solcher Anspruch stand aus seiner Sicht vielmehr den Kommunisten zu. Westoder Ostorientierung war unter den Bedingungen alliierter Besetzung auch die Grundfrage für die Wiedergründung deutscher Gewerkschaften in den einzelnen Besatzungszonen. In den westlichen Besatzungszonen trat das ein, was Florin in Moskau 1944 bereits befürchtet hatte.4 Die Westalliierten stützten sich auf erfahrene sozialdemokratische und christliche Gewerkschaftsfunktionäre von vor 1933 und ließen sie dort den Wiederaufbau deutscher Gewerkschaften organisieren, während in der SBZ und in Berlin sofort die Kommunisten die Führung übernahmen.5 Im Alliierten Kontrollrat blockierte die französische Besatzungsmacht 1945 ein gemeinsames Gewerkschaftsgesetz. Daraufhin forcierte die sowjetische Besatzungsmacht die Gründung des F D G B in der SBZ. In einem Bericht an den Militärrat der SMAD vom 26. Dezember 19456 wertete Sergej I. Tjulpanow dies als „Gegengewicht" 7 zu der französischen Entscheidung. Den vom Organisationsausschuss für die Vorbereitung des 1. FDGB-Kongresses publizierten Entwurf einer Grundsatzerklärung über die Aufgaben des F D G B , der von der KPD-Führung und vom Zentralausschuss (ZA) der SPD in der SBZ begrüßt wurde, bezeichnete der für die Kontrolle der Parteien und Massenorganisationen zuständige Oberst in der SMAD als hervorragend geeignet, die „Aktionseinheit der Blockparteien in der Gewerkschaftsfrage zu festigen" 8 . Anschließend bewertete er die politische Gewichtung der gewählten Delegierten, zeigte auf, wie in Berlin „rechte Sozialdemokraten" die „Einheitsfront" zwischen KPD und SPD zu stören versuchten, um dann die Vorbereitung der Gründung des F D G B seitens der SMAD in die eigene Deutschlandpolitik einzuordnen: „Das Gewerkschaftsstatut, dessen Bekanntgabe derzeit in der sowjetischen Besatzungszone vorbereitet wird, soll die Grundlage für einen künftigen Zusammenschluß der Gewerkschaften Deutschlands sowie für deren Aufbau auf wahrhaft demokratischer Grundlage bilden."'

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Ebd., S. 44. Vgl. Peter Erler et al. (Hg.): „Nach Hitler kommen wir", a. a. O., S. 144. Vgl. Michael Fichter: Gewerkschaften, in: Wolfgang Benz (Hg.): Deutschland unter alliierter Besatzung 1945-1949/55, Berlin 1999, S. 129-134. Theo Pirker: Die blinde Macht, 2 Bde., Gewerkschaftsbewegung in Westdeutschland, Teil 11949-1952, München 1960 (Reprint Berlin 1979). Bericht des Leiters der Propagandaverwaltung der SMAD Tjulpanov, in: Jochen P. Laufer/Georgij P. Kynin (Hg.): Die UdSSR und die deutsche Frage 1941-1948. Dokumente aus dem Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation, 3 Bde., Bd. II, Berlin 2004, S. 227-235. Ebd., S. 231. Vgl. Herbert Kuehl: Die Gewerkschaftspolitik der K P D von 1945 bis 1956. Die Rolle der Parteimitglieder in betrieblichen Konflikten im Schwerpunkt dargestellt anhand des Hamburger Werftarbeiterstreiks von 1955, Hamburg 1981. Ebd., S. 232.

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Die FDGB-Gründung selbst führte allerdings zum Konflikt unter den Besatzungsmächten. Darüber informierte Wladimir S. Semjonow, damals politischer Berater des Chefs der SMAD, im März 1946 den sowjetischen Außenminister Wjatscheslaw M. Molotow. 10 Im Februar 1946 hatte der 1. FDGB-Kongress für die sowjetische Zone getagt. Auf ihm waren auch elf Vertreter des F D G B Groß-Berlin in den Bundesvorstand gewählt worden, darunter der Kommunist Hans Jendretzky als Vorsitzender des F D G B . In dieser Wahl sahen die westlichen Alliierten eine Verletzung des BerlinStatus und „eine unrechtmäßige Verschmelzung" der Berliner Gewerkschaften mit den Gewerkschaften der SBZ. Der Vorgang war auch Beratungsgegenstand einer Sitzung der Berliner Kommandantur. Die Kommandanten der Westalliierten forderten den unverzüglichen Rücktritt Jendretzkys als FDGB-Vorsitzenden, was vom sowjetischen Kommandanten zurückgewiesen wurde. Da sich das Gremium nicht einigen konnte, wurde die Frage an den Alliierten Kontrollrat verwiesen. Semjonow zog in seinem Bericht nach Moskau dann den Schluss, dass die Auseinandersetzung um die FDGB-Gründung die allgemeine Linie der Westmächte widerspiegele, „die darauf gerichtet ist, Berlin in politischer Hinsicht von der sowjetischen Zone loszureißen und die leitenden KPD-Funktionäre von ihren Posten in Berlin zu entfernen". Im gleichen Bericht ging Semjonow auf den Verlauf der Einigungskampagne zur Gründung der SED ein, die nach seiner Meinung in ihrer politischen Bedeutung „längst weit über den Rahmen der Zone" hinausgehe. Das zeige sich am Versuch der Westmächte, die Vereinigung von K P D und SPD mittels des Kontrollrats zu erschweren. Semjonow berichtete, dass die Amerikaner von der sowjetischen Seite verlangten, eine Vereinigung von Parteien „ohne den demokratisch legitimierten Beschluß eines gesamtdeutschen Parteitages" zu untersagen.11 Wie die FDGB-Gründung führte auch die SED-Gründung zu einer Auseinandersetzung zwischen den Besatzungsmächten. In den westlichen Besatzungszonen wurde die SED nicht zugelassen und in Berlin gelang dies in den Westsektoren erst, nachdem die sowjetische Seite die Fortexistenz der SPD im Ostsektor von Berlin zugestanden hatte. Semjonow erklärte in einem weiteren Bericht an Molotow: 12 „Die Anerkennung der SEP (Sozialistische Einheitspartei) in gesamtdeutschem Maßstab und in den Westsektoren von Berlin ist derzeit eine der wichtigsten aktuellen politischen Fragen", zumal die Westmächte aktiv die „Schumacherleute" unterstützten.13 Die Konflikte unter den Besatzungsmächten um die F D G B - und SED-Gründung waren Ausdruck unterschiedlicher politischer Ordnungen, die der Sowjetunion und den Westmächten in ihrer Besatzungspolitik in Deutschland als Referenzmodelle dienten und die miteinander unvereinbar waren. In diesen frühen Konflikten formierte sich die Konstellation, die für die Westarbeit des F D G B Ausgangspunkt und Begrenzung zugleich bildete.

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W. Semjonow: Informationsbrief Nr. 1 über die politische Lage in Deutschland, 9. März 1946, in: Jochen P. Laufer/Georgij P. Kynin (Hg.): Die UdSSR und die deutsche Frage 1941-1948, a. a. O., S. 274-283. Alle Zitate ebd., S. 276 ff. W. Semjonow: Informationsbrief Nr. 5, in: ebd., S. 385-404. Ebd., S. 391.

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Zwei Staaten - zwei Gewerkschaftsbünde Auf insgesamt neun Interzonenkonferenzen versuchten die mittlerweile entstandenen zonalen Gewerkschaftsbünde vergebens, sich auf ein gemeinsames Statut und Programm für eine gemeinsame Einheitsgewerkschaft zu einigen. Die Blockade Berlins durch die Sowjets 1948 ließ diese Konferenzen endgültig scheitern. 14 Zur gleichen Zeit spaltete sich der Groß-Berliner F D G B . 1 5 In den Westsektoren von Berlin entstand aus der Unabhängigen Gewerkschaftsopposition ( U G O ) eine vom F D G B unabhängige Gewerkschaft, die sich 1950 als Landesbezirk dem Deutschen Gewerkschaftsbund anschloss. 1949 konstituierten sich mit der Bundesrepublik und der D D R die beiden deutschen Teilstaaten. Die zonalen Gewerkschaftsbünde im Westen schlossen sich 1949 in München zum Deutschen Gewerkschaftsbund ( D G B ) als Dachverband unabhängiger Einzelgewerkschaften zusammen. Auf dem Gründungskongress war es Willi Bleicher, Jugendsekretär der I G Metall und zugleich KPD-Mitglied, der die Frage der nationalen und gewerkschaftlichen Spaltung am Satzungsentwurf des Bundes thematisierte: „Ich nehme den Paragraphen 1: ,Name des zu gründenden Gewerkschaftsbundes für die Bundesrepublik Deutschland.' Mit dieser Formulierung haben wir den politisch-staatsrechtlichen Zustand, der da geschaffen wurde, ohne unseren Willen anerkannt. Damit haben wir die Spaltung unserer Nation anerkannt und haben sie übertragen - so wie ich die Dinge sehe - auf die Gewerkschaften. Ich hätte es gern gesehen, wenn man hier diese Frage offen gelassen hätte, indem man formuliert hätte:,Dieser neu geschaffene Gewerkschaftsbund der Bundesrepublik Deutschland ist ein Teil des noch zu schaffenden und von uns so sehnlich herbeigewünschten gesamtdeutschen Gewerkschaftsbundes.'" 16 Diese Position von Bleicher entsprach der Ambivalenz der eingetretenen Situation. Die Spaltung der Nation war 1949 für kommunistische Gewerkschafter ein unnatürlicher Zustand. Die politischen Ordnungen der beiden Teilstaaten waren gegensätzlich, und dies spiegelte sich auch im Selbstverständnis von D G B und F D G B wider. Der zwischenzeitlich neue Vorsitzende des F D G B , Herbert Warnke, stimmte am 7. Oktober 1949 im Namen seiner Organisation der Umwandlung des aus der Volkskongressbewegung hervorgegangenen „Deutschen Volksrates" in die provisorische Volkskammer ebenso zu wie der Bildung einer Regierung der D D R . 1 7 N a c h der aktiven Mitwirkung an der Gründung des östlichen Teilstaates schrieb der 3. F D G B - K o n g r e s s 1950 die Anerkennung der „führenden Rolle" der S E D in der Satzung fest. 18 Warnke, der zugleich Mitglied im Sekretariat des Z K der S E D war, fei-

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Vgl. Albert Behrendt: D i e Interzonenkonferenzen der deutschen Gewerkschaften. Der Kampf des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes um eine fortschrittliche deutsche Gewerkschaftspolitik auf den Interzonenkonferenzen der deutschen Gewerkschaften, Berlin (Ost) 1963, besonders S. 475 ff. Vgl. Ulrich Gill: Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund ( F D G B ) . Theorie - Geschichte - Organisation - Funktion - Kritik, Opladen 1989, S. 158 ff. Willi Bleicher: Diskussionsbeitrag auf dem Gründungskongreß in München 1949, zit. nach: G e o r g Benz et al. (Hg.): Willi Bleicher - Ein Leben für die Gewerkschaften, Frankfurt am Main 1983, S. 134 f. Vgl. Herbert Warnke: Arbeiterklasse und Gewerkschaften. Reden und Schriften der Jahre 19451952, Berlin (Ost) 1953, S. 194; Ulrich Gill: Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund, a. a. O., S. 136 f. Ebd., S. 148 ff.

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erte diesen Kongress als Meilenstein auf dem Weg zum Sozialismus, war er doch der erste, „der den Marxismus-Leninismus als richtungsweisend für die Gewerkschaftsarbeit anerkannte und die Schulung der Gewerkschaftsmitglieder im Geiste der Lehren von Marx, Engels, Lenin und Stalin forderte"19. Nationale Gewerkschaftseinheit unter Führung des FDGB Der III. Parteitag der SED beschloss 1950, den „Kampf um die nationale Einheit Deutschlands" zu führen. Gemeint war damit vor allem der Kampf gegen die Westintegration der Bundesrepublik und die damit verbundene absehbare Mitgliedschaft in der NATO. Warnke kündigte auf dem Parteitag an, besonders „die Friedensbewegung in Westdeutschland und vor allem in der Arbeiterschaft zu fördern. Wir glauben, daß dabei den Genossen im FDGB damit ein Hauptteil dieser Aufgabe zufällt" 20 . Er forderte, eine „Aktionseinheit" von unten gegen die „westdeutschen Gewerkschaftsführer" zu schaffen, die er beschuldigte, sich aktiv an der „ideologischen Vorbereitung des Krieges" zu beteiligen, und hielt ihnen „Hetze gegen die Sowjetunion, die Volksdemokratien und die DDR" vor. Das ehrgeizige Ziel war - gestützt auf die „fortschrittlichen Arbeiter", das heißt die Kommunisten in den Gewerkschaften - , letztere „zu wirklichen Instrumenten des Kampfes gegen die Kriegsgefahr zu machen". „Kriegstreiber" waren in diesem Jahr des Ausbruchs des KoreaKrieges die „amerikanischen Imperialisten". Der FDGB wertete diesen Kampf als Existenzfrage und wollte seine Stimme stellvertretend „für die gesamte deutsche Arbeiterschaft, für die gesamte deutsche Gewerkschaftsbewegung erheben", da die westdeutsche Gewerkschaftsführung „nicht im Lager des Weltfriedens steht"21. Den Westmächten warf die SED vor, Westdeutschland in eine „Kolonie" zu verwandeln, um sie als Ausgangsbasis für ihren geplanten Krieg gegen die Sowjetunion nutzen zu können.22 Diese Entwicklung, so Warnke, könne nicht bekämpft werden, „ohne daß wir gegen die westdeutschen Gewerkschaftsführer vor aller Öffentlichkeit die Anklage der Mithilfe an der ideologischen Vorbereitung des Krieges erheben"23. Diese Bewertung wurde auf dem 3. FDGB-Kongress zur Hauptlinie der gesamtdeutschen Politik dieser inzwischen vollkommen zur Massenorganisation mutierten ostdeutschen Gewerkschaft erhoben.24 Das nach dem Scheitern der Interzonenkonferenzen 1949 beim Büro des Sekretariats des FDGB-Bundesvorstandes geschaffene „Büro für deutsche Gewerkschaftseinheit" erhielt jetzt Abteilungsstatus. Angeleitet und kontrolliert wurde die Westarbeit vor Ort vor allem über so genannte Instrukteure.25 Folgende Planziele wollte der FDGB mit seiner Westarbeit im DGB erreichen:

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Herbert Warnke: Die Entwicklung der Gewerkschaftsarbeit bis zum III. FDGB-Kongreß, in: ders.: Arbeiterklasse und Gewerkschaften, a. a. O., S. 414. Protokoll der Verhandlungen des III. Parteitages der SED 20.-24. Juli 1950,2 Bde., Bd. II, Berlin (Ost) 1951, S. 141. Alles ebd., S. 141 f. Die gegenwärtige Lage und die Aufgaben der SED (Entschließung), in: ebd., Bd. II, S. 229. Ebd.,Bd.I,S. 182. Herbert Warnke: Aus dem Rechenschaftsbericht vor dem III. FDGB-Kongreß „Die Arbeit der Gewerkschaften für Frieden, Einheit und Aufbau" am 30. August 1950, in: ders.: Arbeiterklasse und Gewerkschaften, a. a. O., S. 75-81. Die Angaben in diesem Aufsatz zur strukturellen Entwicklung des Apparates des FDGBBundesvorstandes für die Westarbeit des FDGB sind, sofern nicht anders belegt, entnommen

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1. Die Arbeiterschaft sollte in der Friedensbewegung, die als nationaler Widerstand gegen die „Kriegsvorbereitungen" interpretiert wurde, zur „führenden Kraft" werden. 2. Der „Kampf für innergewerkschaftliche Demokratie" sollte geführt werden, um die „vom Ausschluß bedrohten fortschrittlichen Kollegen" zu verteidigen. 3. Anknüpfend an die Diktion der Roten Gewerkschaftsinternationale (RGI), sollte der Aufbau einer „Opposition der Massen" gegen die „verräterischen Führer" befördert werden. Besonders wichtig waren dem F D G B selbstständige Aktionen im „Friedenskampf" in den Betrieben. Sie sollten „auch gegen den Willen der verräterischen Führer" ausgeführt werden. 4. Jegliches „Sektierertum", das die „fortschrittlichen Kräfte" von den Massen isolieren könnte, sollte vermieden werden. 5. Schließlich sollte die „kräftige und entschlossenste Propagierung der Errungenschaften der D D R und des F D G B , die die entscheidenden Kraftquellen für die Werktätigen ganz Deutschlands" 26 seien, betrieben werden. Der DGB-Bundesvorstand wertete am 1. September 1950 diese FDGB-Initiative als „Störungs- und Zersetzungsarbeit kommunistischer und getarnter kommunistischer Organisationen im Gewerkschaftsbereich" und forderte von seinen Landesbezirksvorständen und den Hauptvorständen der 16 Einzelverbände, diesem Vorhaben entgegenzutreten. Durch kommunistisch gesteuerte Unterschriftenaktionen sollte aus Sicht des D G B eine ideologische „Ubereinstimmung der Gewerkschaftsmitglieder in Ost und West vorgetäuscht werden und die Absicht, das System der Ostzone auf Gesamtdeutschland zu übertragen, eine Stütze finden. Eine Unterstützung dieser und ähnlicher von der KPD, dem FDGB und der SED propagierter Maßnahmen bedeutet daher auch die Unterstützung dieser Zielsetzung und damit am Ende die Zerschlagung der freien und unabhängigen Gewerkschaftsbewegung in Deutschland."27 Die konfrontative Ausgangslage in den Beziehungen zwischen F D G B und D G B war damit wechselseitig formuliert. Es waren politische Ziele, die der F D G B in seiner Westpolitik verfolgte, sie lagen auf dem Feld der Außen- und Sicherheitspolitik, forderten eine Parteinahme des D G B für außenpolitische Ziele der Sowjetunion, wie zum Beispiel eine klare Gegnerschaft zu den Vereinigten Staaten und das westliche Verteidigungsbündnis, und vor allem die Anerkennung der D D R . Eine eigenständige Westarbeit des F D G B konnte es nach dem eigenen Selbstverständnis nicht geben, zumal es auch keine dem F D G B und dem D G B gemeinsamen gewerkschaftlichen Politikfelder gab.

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den Artikeln von Karlheinz Kuba zu „Westabteilung", „International - Informations- und Bildungszentrum e. V." und „Institut für Gewerkschaftspolitik in Westdeutschland" für das FDGB-Lexikon (hrsg. von Dieter Dowe, Karlheinz Kuba, Manfred Wilke, bearb. von Michael Kubina), das Ende 2005 erscheint. Es wird komplett und kostenlos im Internet auf der Homepage des Historischen Forschungszentrums der Friedrich-Ebert-Stiftung zur Verfügung gestellt und ist als mit der Internetversion identische C D - R O M auch käuflich zu erwerben. Alles ebd., S. 79 f. DGB-Bundespressestelle: Feinde der Gewerkschaften, Feinde der Demokratie, Düsseldorf 1950, in: IG Chemie-Papier-Keramik, Hauptvorstand (Hg.): Die Auseinandersetzung mit dem politischen Extremismus von Links und Rechts im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) und der IG Chemie-Druck-Papier (IG CPK), chronologische Darstellung, Hannover 1987, S. 52.

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Die Rolle der KPD in der FDGB-Westarbeit Ansprechpartner der Westabteilung des F D G B (die unter wechselnden Bezeichnungen firmierte) in der Bundesrepublik war von 1945 bis 1968 die K P D und von 1968 bis 1989 die Deutsche Kommunistische Partei (DKP). Die westdeutschen Kommunisten waren in den Betrieben der Bundesrepublik beschäftigt und in den D G B Gewerkschaften organisiert. Nur mit ihrer Hilfe konnten SED und F D G B ihre Planziele in den Betrieben und im D G B und seinen Gewerkschaften umsetzen. Die K P D wurde 1945 als gesamtdeutsche Partei („Reichspartei") aufgebaut. Sie musste in den Westzonen als K P D weiterexistieren, da die Westmächte die Ausdehnung der SED auf ihre Zonen inklusive einer einfachen Umbenennung der KPD in SED untersagten. SED- wie westdeutsche KPD-Funktionäre verstanden sich als durch äußere Bedingungen getrennte Abteilungen einer gemeinsamen Partei der deutschen Kommunisten.28 Für sie war es selbstverständlich, dass im Rahmen der SED-Westarbeit die Vorsitzenden des F D G B und der K P D gemeinsam in einer „Kommission zur Herstellung der Aktionseinheit in Westdeutschland" 29 saßen. Ohne die aktive Kooperation mit Kommunisten in der Bundesrepublik blieb die FDGB-Westarbeit vor allem auf Briefpropaganda, Einladungen zu Delegationsreisen in die D D R und allgemeine Propaganda von Ost nach West beschränkt. In den Gewerkschaften aber war die K P D nach dem Krieg ein politischer Faktor. Viele hauptamtliche Funktionäre besaßen das Mitgliedsbuch der KPD. In den ersten Nachkriegsjahren waren im Bergbau und der Metallindustrie Nordrhein-Westfalens zum Beispiel mehr als 30 Prozent der Betriebsräte Kommunisten; im Sommer 1948 stellte die K P D fast ein Drittel aller Vorstandsmitglieder in den Ortsverbänden von I G Bergbau und I G Metall.30 In der Phase des Wiederaufbaus der Gewerkschaften war für ihre Stabilisierung und Durchsetzungskraft gegenüber der britischen Besatzungsmacht die Integration der Kommunisten in die Einheitsgewerkschaft unerlässlich. Sie waren damals authentische Repräsentanten einer politischen Strömung in der Arbeiterschaft. Hinter vielen von ihnen lag die Verfolgung durch die nationalsozialistische Diktatur. Der 1950 eingeschlagene Kurs des direkten Angriffs auf die gewählten Führungen im D G B endete für die KPD-Gewerkschaftspolitik in einer Katastrophe, die in ihren Auswirkungen bis zum Ende des F D G B fortwirkte. Die Durchsetzung dieser Linie des F D G B in der K P D und ihre öffentliche Propagierung führten bald zu ersten Konflikten mit der westdeutschen I G Metall. Der I G Metall-Vorstand beschloss, wer Druckschriften des F D G B in den Gewerkschaften verbreite, verstoße gegen die Grundsätze der I G Metall „und stellt sich außerhalb unserer Organisation" 31 . Im

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Michael Kubina: Was in dem einen Teil verwirklicht werden kann mit Hilfe der Roten Armee, wird im anderen Teil Kampffrage sein. Zum Aufbau des zentralen Westapparates der K P D / S E D 1945-1949, in: Manfred Wilke (Hg.): Die Anatomie der Parteizentrale. Die K P D / S E D auf dem Weg zur Macht, Berlin 1998, S. 417 ff. Heike Arnos: Die Westpolitik der S E D 1948/1949/1961. „Arbeit nach Westdeutschland" durch die Nationale Front, das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten und das Ministerium für Staatssicherheit, Berlin 1999, S. 46. Vgl. Till Kössler: Doppelte Loyalitäten. Willi Agatz, die K P D und die Durchsetzung gewerkschaftlicher Einheit, in: Karl Lauschke (Hg.): Die Gewerkschaftselite der Nachkriegszeit - Prägung, Funktion, Leitbilder, Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen, Heft 35, Bochum 2005. Vgl. Till Kössler: Abschied von der Revolution. Kommunisten und Gesellschaft in Westdeutschland 1945-1968 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 143), Düsseldorf 2005, S. 263-297.

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KPD-Parteivorstand stellten sich die Leiter der Abteilung „Arbeit und Soziales", die die Gewerkschaftspolitik der KPD koordinierte, gegen diese Neuauflage der Politik der Revolutionären Gewerkschafts-Opposition (RGO-Politik) von vor 1933. Sie warnten vor der geplanten Bildung von gegen die Gewerkschaftsführungen gerichteten Arbeiterkomitees in den Betrieben. Die beiden Funktionäre Robert Leibbrand und Hermann Nuding wurden von der KPD ihrer Funktionen enthoben und in die D D R kommandiert. Leibbrand ging und wurde SED-Funktionär, während Nuding sich weigerte und sich ins Privatleben zurückzog. 32 Im März 1951 fand in Weimar der so genannte Münchner Parteitag der K P D statt, der den Vorgaben des III. Parteitages der SED folgend, den Kampf gegen die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik zur Hauptaufgabe der Partei erklärte. In der „Die gegenwärtige Lage und die Aufgaben der KPD" 3 3 betitelten Entschließung des Parteitags wurden in der These 37 die „rechten Gewerkschaftsführer" als Beauftragte der Interessen „des amerikanischen Imperialismus" bezeichnet, die „die Gewerkschaftsorganisation in den Dienst der Kriegsvorbereitungen" stellten. Deshalb würden sie die innergewerkschaftliche Demokratie beseitigen, um die Gewerkschaften als aktiven Faktor im Kampf für die Erhaltung des Friedens und die Herstellung der Einheit Deutschlands auszuschalten. Die KPD forderte von ihren Mitgliedern in den Betrieben „Kampfhandlungen auszulösen", auch gegen den Willen „rechter Gewerkschaftsführungen" 34 . Dies war die Linie der FDGB-Westarbeit. Der KPDVorsitzende Max Reimann kritisierte auf dem Parteitag KPD-Mitglieder, die sich als Gewerkschaftsfunktionäre verpflichtet fühlten, die Beschlüsse der Vorstände, das heißt „der rechten Gewerkschaftsführung", durchzuführen, „anstatt den Kampf durch Fortsetzung der Klassenpolitik gegen die rechte Gewerkschaftsführung zu organisieren" 35 . Das war - in schlecht verhüllter Form - die Aufforderung, in der Einheitsgewerkschaft kommunistische Fraktionen zu bilden und einen parteipolitischen Kampf um ihre Führung zu organisieren. Als Antwort legte der D G B den hauptamtlichen Funktionären, die Mitglieder der KPD waren, einen Revers vor, mit dem sie sich durch Unterschrift verpflichten sollten, „keinen Weisungen einer Instanz außerhalb der Gewerkschaften zu folgen". Funktionäre, die diesen Revers nicht unterschrieben, wurden vom D G B und seinen Einzelgewerkschaften fristlos entlassen. Wer unterschrieb, blieb in der Gewerkschaft und wurde dafür von der K P D ausgeschlossen. Dieser Revers ging auf Sigmund (Siggi) Neumann zurück, Referent im SPD-Parteivorstand, zunächst als Leiter des Ostbüros und ab 1948 des Referats Betriebsgruppenarbeit. 36 Neumann hatte sich im Exil von der KPD getrennt und war nach seiner Rückkehr 1946 der SPD beigetreten.

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Josef Kaisen Der politische Gewinn steht in keinem Verhältnis z u m Aufwand. Zur Westarbeit des F D G B im Kalten Krieg, in: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung, Berlin 1996, S. 114. Vgl. Günter Judick/Josef Schleifstein/Kurt Steinhaus: Einleitung: Zu einigen Fragen der Nachkriegsgeschichte der K P D , in: dies. (Hg.): K P D 1945-1968. Dokumente, 2 Bde., Bd. 1, N e u s s 1989. Zu den Biografien von Robert Leibbrand und Hermann N u d i n g vgl. Andreas Herbst/Hermann Weber: Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918-1945, Berlin 2004. Die gegenwärtige Lage und die Aufgaben der K P D , Entschließung des Münchner Parteitags (3.-5.3.1951), in Günter Judick et al. (Hg.): K P D 1945-1968, a. a. O . Ebd., S. 355 ff. Max Reimann, zit. nach: Günter Judick et al.: Einleitung, a. a. O., S. 46 f. Vgl. ebd., S. 48 f.; Till Kössler: Abschied von der Revolution, a. a. O., S. 306 ff.

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Der Verlust des Einflusses der K P D in den Gewerkschaften setzte sich fort, als im November 1951 die Bundesregierung das Verbot der Partei beim Bundesverfassungsgericht beantragte. Das Verfahren zog sich bis 1956 hin und endete mit dem Verbot der KPD, die fortan in Westdeutschland illegal wirken musste. Der D G B Bundesvorstand bewertete in einer Erklärung zum Verbot die Politik der Partei seit 1945 insgesamt als „undemokratisch" und „destruktiv" und verwies dabei auf die Verhältnisse in der D D R . Er sprach der K P D das moralische Recht ab, sich auf die „demokratischen Grundsätze" 37 zu berufen. Erst der „Neue Kurs", der der SEDFührung angesichts zunehmender Unruhe im Vorfeld des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 von Moskau diktiert wurde, beendete diese Form der offen spalterischen Konfrontation seitens der Kommunisten im D G B und somit die erste Phase der FDGB-Westarbeit, in deren Folge der D G B seinen Funktionären ein Kontaktverbot zum F D G B auferlegt hatte. 1954 korrigierte daraufhin auch die K P D ihre Gewerkschaftspolitik. Die Spaltungsdrohung von 1951 wurde zurückgenommen. Die K P D kämpfte jetzt für die „Unabhängigkeit der Gewerkschaften". Diese Forderung war gegen die „Führung der C D U " gerichtet, die nach Meinung der KPD versuche, in den Gewerkschaften „ihre Fraktion" 38 zu stärken. Damit wurde die Linie der Differenzierung zwischen den politischen Lagern innerhalb der Einheitsgewerkschaft neu justiert und die Politik der „Aktionseinheit" auf eine neue Grundlage gestellt. Die K P D bezog sich nun in ihrer Gewerkschaftspolitik auf originäre Beschlusslagen von Gewerkschaftskongressen, wie zum Beispiel die Ablehnung der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik durch den 3. DGB-Bundeskongress von 1954. Diese Taktik wurde nach 1968 auch von der D K P fortgesetzt. Die Durchsetzung von „fortschrittlichen" Beschlusslagen wurde zu einem wichtigen Feld kommunistischer Gewerkschaftspolitik. In Bezug auf den F D G B forderte die KPD 1954 vom D G B , „daß die Gewerkschaftsmitglieder für die Verständigung der beiden großen Gewerkschaftsverbände wirken" sollten. Beide - also D G B und F D G B - sollten zudem mit den „Gewerkschaften der UdSSR" 3 9 zusammenarbeiten. Unter der Losung „Deutsche an einen Tisch" 40 betrieb nun die K P D im D G B Anerkennungspropaganda für die D D R , und der F D G B lud seinerseits 1955 erstmals zu einer gesamtdeutschen Arbeiterkonferenz ein. Der von KPD-Mitgliedern 1955 geführte spontane Hamburger Werftarbeiterstreik41 demonstrierte, dass die Basiskader der K P D damals noch immer in der Lage waren, punktuell in Großbetrieben das Vertrauen ihrer Arbeitskollegen zu erringen. In Hamburg und Kassel folgten sie ihnen sogar gegen die örtliche IG Metall in einen spontanen Streik. Die Jahre 1950 bis 1952 bilden eine tief greifende Zäsur in der Entwicklung der kommunistischen Partei in der Bundesrepublik. Damals eskalierten die seit 1945 virulenten Spannungen zwischen den Kommunisten und ihrem gesellschaftlichen Umfeld. Ausgrenzung und partielle Kriminalisierung der Partei durch die westlichen 37 38 39 40 41

Erklärung des DGB-Bundesvorstandes, zit. nach: Theo Pirker: Die blinde Macht, a. a. O., Bd. II, S. 189 f. Thesen der Kommunistischen Partei Deutschlands, beschlossen am 30. Dez. 1954 auf dem Hamburger Parteitag, in: Parteivorstand der KPD (Hg.): Protokoll des Hamburger Parteitags der Kommunistischen Partei Deutschlands (28.-30. Dez. 1954), ohne Ort und Jahr, S. 237. Ebd., S. 239. Vgl. Gert Gruner/Manfred Wilke (Hg.): Sozialdemokraten im Kampf um die Freiheit. Die Auseinandersetzungen zwischen SPD und KPD in Berlin 1945/46, München 1981. Vgl. Herbert Kuehl: Die Gewerkschaftspolitik der KPD von 1945 bis 1956, a. a. O.

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Besatzungsmächte wie auch der antitotalitäre Konsens unter den demokratischen Parteien erhöhten den Druck auf die Anhänger der KPD und führten zu deren Spaltung in verschiedene Segmente. Die Hegemonie der SED über die KPD, gesichert durch die Loyalität des von ihr sozial abhängigen KPD-Apparates, entfremdete zugleich Alt- wie Neumitglieder von der Partei. Die kommunistischen Milieus namentlich im Ruhrgebiet erodierten. Dieser Prozess der Marginalisierung der KPD in der Bundesrepublik wurde zudem von der Sozialdemokratie und dem DGB befördert, die die politische Abgrenzung von den Kommunisten als Partei kombinierten mit der Integration42 derjenigen ihrer Funktionäre und Aktivisten, die mit ihr brachen.43 DDR-Anerkennungspolitik in Westdeutschland Mit der II. Parteikonferenz der SED 1952 und dem Programm zum Aufbau der Grundlagen des Sozialismus in der DDR, das der FDGB enthusiastisch unterstützte, vollzog sich nach dem Scheitern der letzten deutschlandpolitischen Initiative Stalins die offene Eingliederung der DDR in das sowjetische Imperium. Die wechselseitige Integration der beiden provisorischen Teilstaaten in die beiden europäischen Blöcke schuf innerdeutsch eine neue Lage. Die sowjetische Führung reagierte nach Stalins Tod Anfang Juni 1953 mit dem „Neuen Kurs" auf die instabile Lage der DDR, die sich vor allem in hohen Flüchtlingszahlen nach Westdeutschland ausdrückte. Der mit diesem Kurs verbundene abrupte Kurswechsel der SED-Politik und das Eingeständnis der Partei, „Fehler" gemacht zu haben, löste den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 aus, in dem der FDGB offen als Massenorganisation der SED agierte und seitens der streikenden und demonstrierenden Arbeiter keinerlei Autorität mehr genoss.44 Nach innen und nach außen ging es nun um die Stärkung der DDR. Dem trug die Sowjetunion Rechnung, indem sie die DDR außenpolitisch aufwertete und ihre internationale Anerkennung als zweiten deutschen Staat verlangte. Für die Westarbeit des FDGB hatte dies eine neue Linie zur Folge. Nun ging es um die Verständigung mit dem DGB, um die westdeutschen Gewerkschaften für die Anerkennung der DDR zu gewinnen. Im Büro für gesamtdeutsche Gewerkschaftseinheit des FDGB-Bundesvorstandes wurde ein „wissenschaftliches Kollektiv" gebildet, das sich mit Grundfragen der Wirtschafts-, Sozial- und Lohnpolitik des DGB und seiner Einzelgewerkschaften befassen sollte. Betriebe in der DDR bekamen Patenbetriebe in der Bundesrepublik. Der FDGB lud 1955 erstmals zu einer Deutschen Arbeiterkonferenz ein. Durch die Schaffung eines aus Ost und West besetzten Ständigen Ausschusses der Deutschen Arbeiterkonferenz sollte der Eindruck von Parität und Unabhängigkeit erweckt werden. 1958 folgte der erste Gesamtdeutsche Arbeiterjugendkongress und 1959 die erste Gesamtdeutsche Arbeiterinnenkonferenz. Diese Konferenzen waren Großveranstaltungen, zu denen Arbeitnehmer und insbesondere Gewerkschafter aus der Bundesrepublik eingeladen wurden, um in Diskussionen mit Funktionären aus der DDR die Möglichkeiten einer innerdeutschen „Aktionseinheit" zwischen FDGB und DGB zu sondieren und für die Anerkennung der DDR zu werben. 42 43 44

Vgl. Till Kössler: Abschied von der Revolution, a. a. O., S. 315-356. Vgl. Manfred Wilke: Die Einheitsgewerkschaft - Veränderung eines Leitbildes im Verständnis des DGB, in: Beiträge zur Konfliktforschung, Nr. 2/1986, S. 5-33, insbesondere S. 17 ff. Ders.: Die Streikbrecherzentrale. Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) - Der 17. Juni 1953, Berlin 2004.

Die „Westarbeit" des FDGB (2005)

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Im Januar 1954 schrieb das FDGB-Präsidium einen Brief an den DGB-Bundesvorstand und bot diesem Gespräche an. Vorgeschlagen wurde eine gemeinsame Erklärung gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik. Der DGB-Vorsitzende Walter Freitag wies dieses Angebot zurück und erinnerte den FDGB daran, dass er in seiner Propaganda die gewählten Funktionäre des DGB in den letzten Jahren „wider besseres Wissen als Verräter" und „Handlanger des Monopolkapitalismus" verunglimpft habe.45 Der DGB blieb bei seiner Linie des Kontaktverbots für seine Funktionäre. 46 Westdeutsche Gewerkschafter, die zu den Gesamtdeutschen Arbeiterkonferenzen nach Leipzig fuhren, riskierten Ausschlussverfahren. Nach dem Mauerbau am 13. August 1961 verankerte der 6. DGB-Bundeskongress 1962 in der Satzung ausdrücklich als Aufgabe des Bundes die „Bekämpfung von faschistischen, kommunistischen, [...] und allen sonstigen antidemokratischen Einflüssen" 47 . Doch es gab, als in der DGB-Satzung dieser Grenzstein gegen die Kommunisten gesetzt wurde, auf dem Kongress bereits Widerspruch und die Frage, ob bzw. inwieweit eine solche Festlegung nicht die aktive Beteiligung der Gewerkschaften am sich abzeichnenden internationalen Entspannungsprozess behindern würde. 48 1971, unmittelbar vor der Aufnahme offizieller Beziehungen des DGB zum FDGB, wurde diese Abgrenzung gegen die Kommunisten wieder aus der Satzung entfernt.49 Das Kontaktverbot zum FDGB war bereits einige Jahre zuvor de facto aufgehoben worden. Der veränderten weltpolitischen Konstellation trug nach 1961 auch die SED Rechnung. Die Phase, in der die vier Mächte noch über einen Friedensvertrag mit Deutschland und damit über dessen Einheit verhandelten, gehörte endgültig der Vergangenheit an. Nach der Kuba- und der Berlin-Krise ging es nun um die Regelung des Status quo im geteilten Europa. Die internationale Anerkennung der DDR rückte realpolitisch in den Bereich des Möglichen, aber sie musste vor allem in der Bundesrepublik erst noch innenpolitisch durchgesetzt werden. Die zweite Phase der FDGB-Westarbeit diente vor allem dieser Aufgabe. Es galt, die westdeutschen Gewerkschaften als offensive Befürworter der Anerkennung der DDR zu gewinnen. Der gescheiterten „Aktionseinheit" von unten folgte nun gezielt der Aufbau von Verbindungen zwischen den Vorständen der Einzelgewerkschaften im DGB und dem FDGB. Aus dem 1953 im Apparat des FDGB-Bundesvorstandes geschaffenen „wissenschaftlichen Kollektiv" zur Erforschung des DGB und seiner Politik wurde 1960 das „Institut für nationale Gewerkschaftspolitik". Gewerkschaften im staatsmonopolistischen Kapitalismus der Bundesrepublik Nach dem Mauerbau nahm die SED eine ideologische Neubewertung der Rolle und Bedeutung des DGB und seiner Gewerkschaften in der Bundesrepublik vor. In die45 46 47 48 49

Walter Freitag, zit. nach: Josef Kaiser: Der politische Gewinn steht in keinem Verhältnis zum Aufwand, a. a. O., S. 124. Bundesvorstand des DGB (Hg.): Geschäftsbericht des Bundesvorstandes des Deutschen Gewerkschaftsbundes 1954-1955, Düsseldorf ohne Jahr [1956], S. 12. Deutscher Gewerkschaftsbund/Bundesvorstand (Hg.): Protokoll III. außerordentlicher Bundeskongreß Düsseldorf 14.-15. Mai 1971, Düsseldorf ohne Jahr, alte Satzung, S. 4. Vgl. Manfred Wilke: Einheitsgewerkschaft zwischen Demokratie und antifaschistischem Bündnis. Die Diskussion über die Einheitsgewerkschaft im DGB seit 1971, Forschungsbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung, Melle 1985, S. 82 ff. Vgl. ebd., S. 92 ff.

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se Arbeit bezog die SED sowohl die Gewerkschaftskommission beim Politbüro der illegalen KPD in Ostberlin als auch den F D G B ein. Das „Institut für nationale Gewerkschaftspolitik" wurde erweitert und nahm jetzt unter dem Namen „Institut für Gewerkschaftspolitik in Westdeutschland" auch Kontakte mit anderen wissenschaftlichen Einrichtungen in der D D R auf. Mit dieser ideologischen Arbeit reagierte die SED auch auf die Verabschiedung des Godesberger Programms der SPD von 1959, mit dem die SPD sich vom Endziel Sozialismus verabschiedet hatte. Befördert wurde diese ideologische Arbeit durch den XXII. Parteitag der KPdSU, der die Politik der „friedlichen Koexistenz" zwischen Ost und West bekräftigte. Zeitgleich gab es im D G B eine Debatte um ein neues Grundsatzprogramm. Zwei gegensätzliche Positionen standen sich in Bezug auf die vom D G B seit 1949 geforderte Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien gegenüber. Die „Traditionalisten", gestützt auf die IG Metall, wollten an dieser sozialistischen Zielsetzung der wirtschaftspolitischen Grundsätze des D G B von 1949 festhalten. Die „Modernisierer", deren Wortführer der Vorsitzende der IG Bau, Steine, Erden Georg Leber war, traten für ein „Godesberger Programm" des D G B ein. Diesen realen Konflikt nahm die SED-Westabteilung zum Ausgangspunkt für eine Neubewertung der politischen Rolle des D G B und konstruierte das Lager der „ehrlichen Reformisten" im Gegensatz zur „Richter-Gruppe". 50 Der damalige DGB-Vorsitzende Willi Richter war maßgeblich daran beteiligt, dass die Abgrenzung von den Kommunisten als politische Extremisten 1962 in die Satzung des D G B aufgenommen wurde. Was die FDGB-Westarbeit unter der nun geforderten Differenzierungspolitik im D G B verstand, illustriert ein Sammelband des F D G B aus dem Jahr 1961 mit dem Titel: „Für unabhängige Klassengewerkschaften. Gegen die Richter-Gruppe im D G B " . Den Grundtenor des Buches fasst ein Zitat von Warnke zusammen: „Unabhängige Gewerkschaftspolitik heißt, den D G B loszulösen vom Einfluß der Richter-Gruppe!" 51 Die Programmdebatte im D G B selbst endete 1963 mit einem Kompromiss in Anlehnung an das Godesberger Programm der SPD aus dem Jahre 1959. Auch der D G B gab das sozialistische Endziel auf zu Gunsten einer stetigen Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft durch gewerkschaftliche Mitbestimmung. Zu den Mitteln der Wirtschaftspolitik im Zusammenhang mit der Kontrolle wirtschaftlicher Macht zählte das DGB-Programm weiterhin den „Ausbau des Systems öffentlich gebundener Unternehmen, die Überführung von Schlüsselindustrien und anderen markt- und wirtschaftsbeherrschenden Unternehmungen in Gemeineigentum" 52 . Die IG Metall hatte programmatisch damit ihre Position gewahrt. Die verbotene KPD begann, sich innerhalb der Gewerkschaften zu reaktivieren. Ihre Ostberliner Gewerkschaftskommission sah in den Beschlüssen der IG Metall gegen Rüstungspolitik, Notstandsgesetze und soziale Demontagen die politische Grundlage für eine legale Plattform der KPD-Gewerkschaftspolitik. Zwei von der damals unter der Bezeichnung Abteilung für Arbeiterfragen in Westdeutschland firmierenden

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Vgl. Hans-Peter Müller/Manfred Wilke: SED-Politik gegen die Realitäten. Verlauf und Funktion der Diskussion über die westdeutschen Gewerkschaften in S E D und K P D / D K P 1961-1972, Köln 1990, S. 233-257. Tribüne (Hg.): Für unabhängige Klassengewerkschaften. Gegen die Richter-Gruppe im D G B , Berlin (Ost) 1961, S. 21. Grundsatzprogramm des Deutschen Gewerkschaftsbundes von 1963, in: Gerhard Leminsky/ Bernd Otto: Politik und Programmatik des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Köln 1974, S. 52.

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Westabteilung des F D G B bestätigte Kriterien für die Einladung von Funktionären der IG Druck und Papier im DGB zur Deutschen Arbeiterkonferenz nach Leipzig 1962 illustrieren noch einmal den Zusammenhang von kommunistischer Gewerkschaftspolitik in der Bundesrepublik und der FDGB-Westarbeit. Einzuladen waren: 1. Funktionäre, die „aktiv in die Vorbereitung des 6. Gewerkschaftstages eingreifen" (sie waren wichtig für die Vorbereitung von Anträgen auf diesem Gewerkschaftstag) und 2. sollte man sich bezüglich der Herkunft der Teilnehmer auf die „Druckhauptorte"" konzentrieren. Die Möglichkeit, ausgewählte westdeutsche Gewerkschaftsfunktionäre in der D D R zu versammeln, um deren Vorgehen auf einem Gewerkschaftstag festzulegen, machte die Verbreitung der legalen KPD-Plattform in den Gewerkschaften und unter ihren Funktionären allerdings nicht obsolet. Diese Aufgabe kam der seit Juni 1961 unter dem unverfänglichen Titel Nachrichten, Informationen und. Kommentare zur Wirtschafts- und Sozialpolitik erscheinenden „Monatszeitschrift mit gewerkschaftspolitischer Thematik" zu. Gegründet wurde dieses Blatt in verdeckter Form durch die KPD, 54 finanziert wurde es durch den F D G B . Diese totale Abhängigkeit offenbarte sich erst 1989, als der FDGB-Verlag Tribüne seine Abnahmeverträge kündigte und die Zeitschrift daraufhin ihr Erscheinen einstellen musste.55 Ein weiterer Schritt zum Wiederaufbau kommunistischer Gewerkschaftspolitik im D G B betraf die Verbindung der Partei in die Vorstandsebene der DGB-Gewerkschaften. Dazu nutzte die KPD persönliche Kontakte von Parteimitgliedern, die unter anderem zu drei Mitgliedern des Hauptvorstandes der IG Metall, dem Vorsitzenden der ÖTV, dem Chefredakteur der Gewerkschaftlichen Monatshefte, den Redakteuren der IG Druck und Papier und der Holzarbeiter Zeitung56 bestanden. Die Gewerkschaftskommission der KPD verlangte nun von diesen Mitgliedern, ihre persönlichen Kontakte im Auftrag der Partei zu pflegen und über die Gespräche laufend Bericht zu erstatten. Der VI. SED-Parteitag 1963 erhob die prinzipielle Neueinschätzung der Rolle der Gewerkschaften in der Bundesrepublik in den Rang einer Programmaussage: „Sie sind gegenwärtig die einzige legale Klassenorganisation in der westdeutschen Arbeiterbewegung mit großem Masseneinfluß und starker organisatorischer Kraft, die günstigste Basis für die Herstellung der Aktionseinheit von sozialdemokratischen, k o m munistischen, christlichen und parteilosen Arbeitern. Die Gewerkschaften sind in West-

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Maßnahmeplan der I G Druck und Papier im F D G B , zit. nach: Hans-Hermann Hertie/Manfred Wilke: Das Genossenkartell. Die S E D und die IG Druck und Papier/IG Medien. Dokumente, Berlin 1992, S. 96. Vgl. Hans-Peter Müller/Manfred Wilke: SED-Politik gegen die Realitäten, a. a. O., S. 291 f.; Wilhelm Mensing: Maulwürfe im Kulturbeet. DKP-Einfluß in Presse, Literatur und Kunst, Osnabrück 1983, S. 122 ff. Vgl. Marion Brabant/Hans-Peter Müller/Manfred Wilke: Die Deutsche Kommunistische Partei (DKP). Geschichte Organisation Politik, Köln 1990, S. 248. Einige Vorschläge zur Verbesserung der Arbeitsweise der Gewerkschaftskommission beim PB des ZK, 15. Mai 1962, in: Hans-Peter Müller/Manfred Wilke: SED-Politik gegen die Realitäten, a. a. O., S. 466 f.

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deutschland berufen, nicht nur die sozialen und wirtschaftlichen, sondern vor allem auch die politischen Interessen und Ziele der Arbeiterklasse zu vertreten."57 Die programmatische Festlegung war Richtschnur für die ideologische Erklärung des Bedeutungswandels der Gewerkschaften im staatsmonopolistischen Kapitalismus der Bundesrepublik. Die marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaftler der SED begründeten die Revision der bisherigen Einschätzung der Gewerkschaften mit der neuen Entwicklungsphase des Monopolkapitalismus. Angesichts der doppelten Herausforderung durch die wissenschaftlich-technische Revolution und vor allem der Existenz der sozialistischen Staaten habe er sich zum staatsmonopolistischen Kapitalismus entwickelt. Die wesentlichen Merkmale waren: „Die Verschmelzung der Macht der Monopole mit der Macht des imperialistischen Staates zu einem Gesamtmechanismus im Interesse des Profites, der Machterhaltung und -ausweitung sowie der äußeren Expansion des Monopolkapitals; die durch die vereinigte Macht von Staat und Monopolen vorangetriebene Konzentration und Zentralisation des Kapitals in den Händen der Finanzoligarchie."58 Im staatsmonopolistischen Kapitalismus galt somit das Primat der Politik über die Ökonomie, und die Gewerkschaften waren in dieser Gesellschaft strukturell Gegenmacht zu den Monopolen und einer von ihren Interessen bestimmten staatlichen Politik. Johanna Töpfer gehörte als stellvertretende Direktorin der FDGB-Hochschule, in die das „Institut für Gewerkschaftspolitik in Westdeutschland" 1964 integriert wurde, 59 und als Mitglied der Westkommission beim Politbüro der SED zu den Herausgebern eines 1968 unter dem Titel „Die westdeutschen Gewerkschaften und das staatsmonopolistische Herrschaftssystem 1945-1966" erschienenen Handbuchs zum DGB. 60 Töpfer stieg danach zur stellvertretenden Bundesvorsitzenden des FDGB auf und blieb in dieser Funktion weiterhin zuständig für dessen Westabteilung. Das Handbuch selbst behandelte die einzelnen Felder der Gewerkschaftspolitik, die DGB-Programmatik und den Organisationsaufbau in sachlicher Form. Einleitend gingen die Autoren auf zwei zentrale Fragen der marxistisch-leninistischen Gewerkschaftstheorie ein: 1. das Verhältnis von Reform und Revolution und 2. die Beziehungen zwischen SPD und DGB. 57

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Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands 1963, in: Lothar Berthold/Ernst Diehl (Hg.): Revolutionäre deutsche Parteiprogramme, Berlin (Ost) 1965, S. 248; vgl. HansPeter Müller/Manfred Wilke: SED-Politik gegen die Realitäten, a. a. O., S. 322-327. Stichwort „Staatsmonopolistischer Kapitalismus", in: Kollektiv des Dietz-Verlages (Hg.): Kleines politisches Wörterbuch, Erstaufl. 1967, zit. nach 4. Überarb. Aufl., Berlin (Ost) 1983, S. 922. Die Lexikondefinition basiert auf dem grundlegenden Werk zu dieser Thematik: Horst Hemberger et al.: Imperialismus heute. Der staatsmonopolistische Kapitalismus in Westdeutschland, Berlin (Ost) 1966, S. 137 ff.; vgl. Hans-Peter Müller/Manfred Wilke: SED-Politik gegen die Realitäten, a. a. O., S. 172-186. Den Namen des nun nicht mehr existierenden Instituts übernahm eine nach Beschluss des Sekretariats des FDGB-Bundesvorstandes vom 25. Mai 1965 geschaffene „Westabteilung II" unter Leitung von Honeckers Schwiegervater Gotthard Feist. Aufgabenstellung und Tätigkeit waren streng geheim. Sie war aber offenbar für die operative Arbeit in der Bundesrepublik zuständig. 1978 wurde diese Abteilung wieder aufgelöst und deren Aufgaben von der Westabteilung I übernommen, die nun als Abteilung „Internationale Gewerkschaftsbeziehungen" firmierte und wiederum nicht mit der Abteilung „Internationale Verbindungen" zu verwechseln ist. Albert Behrendt et al.: Die westdeutschen Gewerkschaften und das staatsmonopolistische Herrschaftssystem 1945-1966, Berlin (Ost) 1968.

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Bei der ersten Frage kamen die Autoren zum Ergebnis, im staatsmonopolistischen Kapitalismus ändere sich das Verhältnis zwischen Revolution und Reformen, sie seien keine unversöhnlichen Gegensätze mehr. Dies sei vor allem der Existenz des sozialistischen Lagers und im deutschen Fall der D D R geschuldet, sei doch das von der Sowjetunion geführte Lager des realen Sozialismus die Hauptkraft des weltrevolutionären Prozesses. Stelle man diese Außenbedingung in Rechnung, könne in der Bundesrepublik „der Kampf um echte politische und ökonomische Reformen zu einer ernsthaften Gefahr für die Monopole" werden. „Grundlegende demokratische Reformen" würden zudem die Grenze „zwischen Reformen und Revolution" immer fließender machen. Schließlich müsse der „antimonopolistische Kampf" notwendigerweise auch um die „Demokratisierung des Staates" geführt werden, „also um eine Veränderung der politischen Machtverhältnisse!"" Sie zu befördern sei die Aufgabe politisierter Gewerkschaften, die sich auf ein entwickeltes Klassenbewusstsein der Arbeiterklasse stützen könnten. Dem entgegen stehe die Wirksamkeit der „bürgerlichen Ideologie" und vor allem der „Antikommunismus". Um beide zu überwinden, sahen die SED-Autoren nur einen Weg, der bereits dem Konzept der „Aktionseinheit" zugrunde lag, nämlich in politischen Auseinandersetzungen gemeinsame Ansatzpunkte zu finden, besonders „für die notwendige Auseinandersetzung mit den bürgerlichen Ideologien" und vor allem mit dem „Antikommunismus", der ein Hindernis sei selbst für die „Popularität gewerkschaftlicher Reformvorstellungen"' 2 und daher im D G B im Eigeninteresse überwunden werden müsse. Der Antwort auf die zweite Frage, das Verhältnis von SPD und D G B , kam ungleich größere politische Bedeutung zu, was die Autoren auch selbst betonten: „Die Einschätzung der Lage im DGB verlangt unausweichlich, die Situation in der westdeutschen Sozialdemokratie in Rechnung zu stellen. [...] Ein hoher Prozentsatz der hauptamtlichen Gewerkschaftsfunktionäre sind sozialdemokratische Mitglieder. Das gleiche Bild bietet der ehrenamtliche gewerkschaftliche Funktionärskörper." Wichtiger als dieser bekannte statistische Befund war den Autoren die Differenz zwischen den programmatischen und politischen Aussagen der SPD und denen der Sozialdemokraten in den Gewerkschaften: „Viele westdeutsche Sozialdemokraten bringen heute im D G B ihre wahre, oppositionelle Meinung zur gesellschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik zum Ausdruck." Gleichzeitig würden sich „rechte sozialdemokratische Führer" darum bemühen, die Gewerkschaften zu einer „Politik der Gleichschaltung" zu bewegen. Die „Herausbildung verschiedener Gruppierungen innerhalb des D G B " und der SPD führten die Gesellschaftswissenschaftler der SED zurück auf die „objektiven Existenzbedingungen" 63 von Partei und Gewerkschaft im System des staatsmonopolistischen Kapitalismus. Ein Teil der „Reformisten", so hofften die Autoren, bewege sich durch diese Widersprüche allmählich in Richtung der Positionen „des antimonopolistischen Kampfes", und sie akzeptierten zunehmend die Kommunisten als Bündnispartner. Unter Berufung auf die Dialektik der geschichtlichen Entwicklung wird eine Neubewertung des gewerkschaftlichen Reformismus durch die SED-Gesellschaftswissenschaftler vorgenommen: Einem „bestimmten Teil" der Reformisten, der in der Vergangenheit „die herrschende, reak-

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Alles ebd., S. 21 f. Ebd., S. 145. Alles ebd., S. 29 f.

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tionäre Linie der Arbeiterbewegung" verkörpert habe, wird bescheinigt, sie seien nun zu „Vertretern einer kämpferischen antimilitaristischen und demokratischen Richtung" geworden, die sich „im Gegensatz zu den Vertretern imperialistischer Politik in der Arbeiterbewegung befinden" 64 . Diese „Reformisten" seien also die geeigneten Partner in der Politik der Aktionseinheit seitens der Kommunisten. Eine Konstante in der Wahrnehmung der verschiedenen Gruppierungen im D G B bleibt. Es seien immer wieder zwei Grundlinien, die des Kampfes gegen und die der Integration in den Kapitalismus, die die „Hauptentwicklungstendenzen der DGB-Gewerkschaften und der Sozialdemokratie" bestimmen würden. Beschlusslagenpolitik für die Anerkennung der D D R im D G B Den ideologisch begründeten „zwei Grundlinien" in D G B und SPD im staatsmonopolistischen Kapitalismus folgten auch die politischen Konzepte der KPD-Gewerkschaftskommission, namentlich Beschlüsse der IG Metall für das legale Agieren der immer noch verbotenen KPD in den Gewerkschaften zu nutzen. Die gleiche Taktik wählte der F D G B , als er 1965 für den bevorstehenden 8. Gewerkschaftstag der IG Metall einen Maßnahmeplan entwickelte, um die Beschlüsse und Entschließungen dieses Gewerkschaftstages zu beeinflussen, wenngleich sich die Westabteilung der geringen Reichweite ihres Einflusses sehr bewusst war. Wollte der F D G B mit seiner Westarbeit die Anerkennung der D D R im D G B befördern, musste der F D G B in dieser Aktion im Hintergrund bleiben. Wörtlich heißt es in diesem Maßnahmeplan: „Der mittelbare Einfluss des F D G B über westdeutsche ,legale Stimmen' und Personen hat den Vorzug, daß er westdeutschen Ursprungs ist, den Nachteil, daß seine Stärke und Reichweite noch begrenzter ist." Die Briefaktionen und Aufrufe aus der D D R an die „westdeutschen Kollegen" werden in ihrer Wirkung als sehr begrenzt bewertet. Erwünscht war die „Einflußnahme über Funktionäre der IG-Metall, die Kontakte mit dem F D G B haben". Entscheidend für das Gelingen der Aktion, in der sich der F D G B auf die Anleitung seiner westdeutschen Akteure beschränkte, war die Wahrung der Konspiration, das heißt, „nie erkennen zu lassen, daß sie auch nur die entfernteste Verbindung zum F D G B haben", vielmehr den Eindruck zu vermitteln, ihr Vorgehen sei „ein völlig legales Unternehmen ihm Rahmen der IG-Metall". 65 Im Unterschied zur ersten Phase der FDGB-Westarbeit, als der F D G B eine einheitliche deutsche Gewerkschaftsbewegung unter seiner Führung propagierte, ging es in der zweiten, aber auch in der dritten Phase um die Anerkennung der Zweistaatlichkeit, und dieses schloss eine entsprechende Verständigung von D G B und F D G B ein. Auf dem 8. Gewerkschaftstag der IG Druck und Papier funktionierte 1967 die im Maßnahmeplan der IG Metall 1965 entwickelte Taktik der Durchsetzung „fortschrittlicher Beschlußlagen". Im Vordergrund der FDGB-Planung stand die Anerkennung der D D R . Der Maßnahmeplan des F D G B zum Komplex Frieden forderte: „Normalisierung der staatlichen Beziehungen zwischen Westdeutschland und der D D R , vertraglicher Verzicht auf Gewaltausübung und vorbehaltlose Anerkennung der bestehenden Grenzen in Europa" 66 . Die angenommene Entschließung zur Politik des

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Ebd., S. 143. Alles zit. nach: Hans-Hermann Hertie/Manfred Wilke: Das Genossenkartell, a. a. O., S. 101 ff. Ebd., S. 113.

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Friedens der I G D r u c k und Papier forderte, in „Gewaltverzichtserklärungen auch die D D R einzubeziehen und ein geregeltes Miteinander mit dem anderen deutschen Teilstaat vertraglich zu erzielen" 67 . Der sprachliche Vergleich zwischen F D G B - V o r l a g e und dem Beschluss des Gewerkschaftstages zeigt, dass westdeutsche Akteure unerlässlich waren, um die geforderte politische Linie in die bundesrepublikanischen Debatten zu implantieren. Die I G Druck und Papier war mit diesem Beschluss Vorreiter im D G B , der im gleichen Jahr, 1967, seine Absicht bekannt gab, Beziehungen zu den sowjetischen Gewerkschaften und denen der anderen sozialistischen Staaten aufzunehmen, allerdings mit einer Ausnahme, dem F D G B . Dessen Vorsitzender Warnke kommentierte in einem offenen Brief diese Inkonsequenz des D G B und nahm dies zum Anlass für eine Grundsatzerklärung zu den Unterschieden zwischen den beiden deutschen Staaten und den Gemeinsamkeiten von F D G B und D G B . Beide Bünde hatten nach Warnkes Ansicht einen gemeinsamen Feind: „den deutschen Imperialismus und Militarismus. Der grundlegende Unterschied besteht jedoch darin, daß dieser Feind bei uns seit langem geschlagen und vertrieben ist, in Westdeutschland jedoch nach wie vor herrscht und erst noch besiegt werden muß." Daraus entwickelte der FDGB-Vorsitzende ein Aktionsprogramm: 1.

2. 3. 4.

5.

„Die Arbeiterklasse und ihre Gewerkschaften wollen nicht, daß der westdeutsche Imperialismus - Erbe des kaiserlichen und hitlerischen Imperialismus - noch einmal den Frieden Europas und der Welt bricht." F D G B und D G B kämpften daher „für die Ausrottung des Neonazismus, der sich heute in der Bundesrepublik breitmacht, als Erzfeind der Arbeiterklasse und des ganzen Volkes", träten für Senkung der Rüstungsausgaben, Entspannung in Europa und Abrüstung ein, forderten die „Beseitigung der Alleinvertretungsanmaßung der westdeutschen herrschenden Kreise, Verzicht auf Revision der in Europa bestehenden Grenzen und Durchsetzung der friedlichen Koexistenz zwischen beiden deutschen Staaten", betonten die Notwendigkeit gewerkschaftlicher Mitbestimmung bei der Gestaltung der wissenschaftlich-technischen Revolution.

Aus all diesen Gründen trete der F D G B , so Warnke, „für die politische, ökonomische, kulturelle und militärische Stärkung der Deutschen Demokratischen Republik ein. Er arbeitet aktiv an der Ausarbeitung und Verwirklichung der sozialistischen Perspektivplanung für die nächsten Jahrzehnte mit." 68 Der Stärkung der kommunistischen Positionen in Deutschland bzw. dann der D D R sollte von Anfang an die Westarbeit des F D G B dienen. Aber „friedliche Koexistenz" bedeutete für die Kommunisten niemals die Wahrung des Status quo, sondern Veränderungen im Kapitalismus bei Vermeidung von Krieg. U m diese Veränderungen in der Bundesrepublik zu bewirken, benötigten S E D und F D G B in der Bundesrepublik eine legale kommunistische Partei. Durch die Neukonstituierung der D K P 1968 wurde dieses Problem im Vorfeld der sozialliberalen Ostpolitik gelöst. Vorausgegangen war diesem Schritt zum einen die Debatte in der Bundesrepublik über die Aufhebung

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Ebd. Alles zit. nach: Hochschule der deutschen Gewerkschaften „Fritz Heckert", Sektion Gewerkschaftsbewegungen in Westdeutschland: Zu den Beziehungen zwischen den Gewerkschaften der D D R und Westdeutschlands von 1961 bis Mitte 1970, (I) Dokumente und Materialien, Bernau 1970.

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des KPD-Verbots, eine Reform des politischen Strafrechts und der Rat von Herbert Wehner, der auch von CDU-Politikern unterstützt wurde, die Kommunisten mögen eine neue KP in der Bundesrepublik gründen.69 Diesen Vorschlag griff Ulbricht im Sommer 1968 auf und entschied, die Forderung nach Aufhebung des KP-Verbots solle aufrechterhalten werden, in der politischen Realität aber gehe es darum, dass die KPD „als Kommunistische Partei der Bundesrepublik in die Legalität geht" 70 . Die SED behielt sich in allen ideologischen Fragen die Letztentscheidung ebenso vor wie die Kontrolle über die Kader an der Spitze der neuen Partei, ihre Finanzen und die Verwahrung ihres Archivs. Die Gewerkschaftsprogrammatik der D K P beruhte auf der von der SED und der KPD bereits vorgenommenen Neubewertung der Rolle des D G B im staatsmonopolistischen Kapitalismus. Die D K P trat sofort als entschiedene Verfechterin der Einheitsgewerkschaft auf.71 Die FDGB-Westarbeit war von ihrem Dilemma der fehlenden legalen westdeutschen „Arbeiterpartei" befreit.

Vorstandsdiplomatie zwischen D G B und F D G B 1972 nahmen D G B und F D G B offizielle Beziehungen zueinander auf. Damit begann die dritte Phase der Westarbeit des F D G B . Im Vorfeld der Verhandlungen hatte die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 noch für Irritationen im D G B gesorgt. Als der DGB-Bundeskongress 1969 eine Kontaktaufnahme zum F D G B beschloss, ging es jedoch um die Unterstützung der sozialliberalen Entspannungspolitik. Die öffentliche Wahrnehmung dieser Beziehungen nach 1972 konzentrierte sich auf die Spitzenfunktionärs-Diplomatie, die unter Ausschluss der Gewerkschaftsmitgliedschaft erfolgte. Nach dem Scheitern der Politik der deutschen Gewerkschaftseinheit in der ersten Phase und dem Bemühen, einen Beitrag zur Anerkennung der D D R in der Bundesrepublik zu leisten, in der zweiten Phase galt es in der dritten Phase der Westarbeit des F D G B nun, die Doktrin der Zweistaatlichkeit im Denken und Handeln der westdeutschen Gewerkschafter zu befördern und zu befestigen. Ein Beschluss des Sekretariats des Bundesvorstandes des F D G B zur Westarbeit von 1972 bringt dies klar zum Ausdruck. Es galt, „alles zu tun für die Stärkung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der DDR" 7 2 . Daraus ergaben sich für die Westarbeit vier Aufgaben: 1. Organisierung von Reisen der Delegationen von Angehörigen der Gewerkschaften und der „Arbeiter- und Gewerkschaftsjugend aus der Bundesrepublik" 73 in die D D R . 2. Aktive Unterstützung der Gewerkschaftsbewegung in der Bundesrepublik „im Kampf gegen die Herrschaft der Monopole, für Frieden und europäische Sicher69

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Vgl. Wilhelm Mensing: N e h m e n oder Annehmen. Die verbotene K P D auf der Suche nach politischer Teilhabe, Osnabrück 1989; Ders.: Wir wollen unsere Kommunisten wiederhaben. Demokratische Starthilfe für die Gründung der D K P , Osnabrück 1989. Hans-Peter Müller: D i e Westarbeit der S E D am Beispiel der D K P , in: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", 9 Bde. in 18 Teilbänden, Baden-Baden 1995, Bd. V/2, S. 1888. Ders./Manfred Wilke: SED-Politik gegen die Realitäten, a. a. O., S. 331-338. F D G B - B u n d e s v o r s t a n d , Beschluß des Sekretariats: Aufgaben des Arbeitsbereiches für die Westarbeit des Bundesvorstandes des F D G B , in: Hans-Hermann Hertie/Manfred Wilke: D a s Genossenkartell, a. a. O., S. 209. Ebd., S. 210.

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heit, für Demokratie und Sozialismus". Diese Aufgabe wurde auch präzisiert. Es gehe um die „Unterstützung einer marxistisch-leninistischen Gewerkschaftspolitik in der B R D ; Arbeit mit progressiven Kräften in den westdeutschen Gewerkschaften und ihren Leitungen; wissenschaftlich-analytische Arbeit zu Problemen des Kampfes der Arbeiterklasse und ihre Gewerkschaftsbewegung in der B R D . " 3. Trotz Einstellung der Gesamtdeutschen Arbeiterkonferenzen sollten weiterhin die Leipziger Messe, die Ostseewoche und die Arbeiterfestspiele genutzt werden, um „Beratungen und andere Zusammenkünfte mit Gruppen von Arbeitern und Gewerkschaftern aus der B R D über Grundfragen des Klassenkampfes zwischen Sozialismus und Imperialismus" auf Einladung des F D G B zu führen. 4. Ständige Information des FDGB-Bundesvorstandes über die Politik der Gewerkschaften in der Bundesrepublik „sowie der gegnerischen Tätigkeit gegen die D D R und den F D G B " . Die Informationssammlung sollte der „Vorbereitung politischideologischer Maßnahmen für eine offensive Politik des F D G B in der Klassenauseinandersetzung Sozialismus-Imperialismus" dienen. Aber nicht nur der D D R sollte diese Politik nutzen, sondern sie sollte zugleich auch eine „Unterstützung für die westdeutsche Arbeiterklasse" 74 und damit vor allem der D K P sein. Verbunden mit dieser Festlegung der Aufgaben der Westarbeit wurde sie organisatorisch neu strukturiert und wurden einzelne Arbeitsbereiche festgelegt, inklusive eines eigenen Sektors für Westberlin. Das apparative Beziehungsgeflecht erweiterte sich in dieser dritten Phase der FDGB-Westarbeit. Kontinuität bestand weiterhin in der hierarchischen Struktur: Das Politbüro der SED bestimmte die Richtlinien. Der F D G B musste zu Beginn eines jeden Jahres dem Sekretariat des ZK der SED seinen Plan der Beziehungen zum D G B und seinen Einzelgewerkschaften zur Bestätigung vorlegen. Die Konzeptionen für Spitzengespräche zwischen F D G B und D G B mussten dem ZK-Sekretariat bzw. Politbüro vor dem jeweiligen Treffen noch einmal zur Zustimmung vorgelegt werden. Nach der Anerkennung der D D R durch die Bundesrepublik war das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA), dem die Ständige Vertretung der D D R in Bonn zugeordnet war, an den offiziellen Gesprächen zwischen F D G B und D G B beteiligt. Auf Beschluss des ZK der SED wurde 1973 in der Ständigen Vertretung der D D R eine Stelle für einen Mitarbeiter geschaffen, der für die Kontakte und Beziehungen zu den Gewerkschaften verantwortlich war. Die Stelle wurde mit einem politischen Mitarbeiter aus der FDGB-Westabteilung besetzt, die künftig zu den regelmäßigen Empfängern seiner Aktenvermerke über Gespräche mit DGB-Funktionären gehörte.75 Im Zuge der nationalen Abgrenzungspolitik der SED nach dem Grundlagenvertrag zwischen Bundesrepublik und D D R verstand der F D G B seine Westarbeit nunmehr als Pflege internationaler Beziehungen und somit als Teil seiner internationalen Arbeit. Dieses betraf auch die Form der Zusammenarbeit mit der DKP. So fand zum Beispiel 1975 in der Ständigen Vertretung der D D R in Bonn ein Gespräch mit dem Geschäftsführer der Zeitschrift Nachrichten über die Situation in der I G Metall nach der Verhaftung von deren Vorstandsmitglied Heinz Dürrbeck als mutmaßlichem

74 75

Alles ebd., S. 210 f. Vgl. ebd., S. 128-135.

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MfS-Agenten statt.76 Vier Jahre später führte ein Sekretär des DKP-Parteivorstandes ein Informationsgespräch und übergab das Protokoll einer Diskussion im Hauptvorstand der IG Druck und Papier im D G B über den Stand der Beziehungen zu den Gewerkschaften sozialistischer Länder. Deren neuer Vorsitzender Erwin Ferlemann beschwerte sich in der Sitzung, dass sowohl die sowjetischen Gewerkschaften als auch der F D G B offenbar wenig Wert auf die Fortsetzung der guten Beziehungen legten, die sie mit seinem Vorgänger Leonhard Mahlein gepflegt hatten. Er kündigte an, dass er keine Initiativen mehr unternehmen wolle, „um Beziehungen zu beleben". 77 Die Ständige Vertretung riet daraufhin dem FDGB-Bundesvorstand baldmöglichst Kontakt zum neuen Vorsitzenden der IG Druck und Papier aufzunehmen. Um die Delegationsreisen aus der Bundesrepublik von Gewerkschaftern, namentlich der von örtlichen Funktionären, auf Einladung des F D G B in die D D R zu verschleiern, wurde Anfang 1974 als Reiseorganisation der „International - Informations- und Bildungszentrum e. V." gegründet, über den diese Reisetätigkeit bis 1989 abgewickelt wurde. Als Begründung führte der FDGB-Vorsitzende Warnke gegenüber dem 1. Sekretär des ZK der SED Erich Honecker im September 1973 an, es erscheine nach der Aufnahme offizieller Beziehungen zum D G B „nicht länger zweckmäßig, daß Vorstände und Leitungen des F D G B unmittelbar als Einlader und Veranstalter von Informations· und Studienaufenthalten für Arbeiter und Gewerkschaften aus der B R D in Erscheinung treten" 78 . Weil der F D G B jedoch durch einen Beschluss des Sekretariats des Z K der SED vom 1. Februar 1973 verpflichtet wurde, diese Tätigkeit „i. S. unserer internationalen Klassensolidarität zur Unterstützung der progressiven Kräfte in der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung der B R D " fortzusetzen, unterbreitete Warnke Honecker den Vorschlag, „diese Arbeit des F D G B in Zukunft unter der Bezeichnung internationales Bildungs- und Informationszentrum' durchzuführen". Welche grundsätzliche politische Überlegung hinter diesem Schritt stand, darüber unterrichtete der FDGB-Vorsitzende ebenfalls seinen Generalsekretär: „ S o wichtig wie die v o n uns b e g o n n e n e n B e z i e h u n g e n z u m D G B u n d seinen G e w e r k schaften i m R a h m e n unserer internationalen G e w e r k s c h a f t s b e z i e h u n g e n u n d der auf Frieden, Sicherheit u n d E n t s p a n n u n g gerichteten Politik der sozialistischen Staatengemeinschaft sind, verkennen wir nicht i m geringsten, daß uns hier als Partner sozialdem o k r a t i s c h e G e w e r k s c h a f t s f ü h r e r gegenüberstehen, die erwiesenermaßen alles d a f ü r tun, ihre Mitglieder v o r d e m E i n f l u ß des S o z i a l i s m u s a b z u s c h i r m e n . Wir verfolgen mit unseren o b e n genannten Vorhaben die A b s i c h t , u n a b h ä n g i g v o n d e n G e w e r k s c h a f t s f ü h r u n g e n mit A r b e i t e r n u n d G e w e r k s c h a f t e r n aus der B R D s o w i e aus West Berlin Bez i e h u n g e n z u pflegen, sie nutzen uns, klassenmäßigen E i n f l u ß auf die politische E n t w i c k l u n g in der Arbeiterklasse u n d in den G e w e r k s c h a f t e n z u ermöglichen u n d in den V o r s t ä n d e n u n d L e i t u n g e n des F D G B unter den neuen B e d i n g u n g e n der bestehenden offiziellen B e z i e h u n g e n z u m D G B den n o t w e n d i g e n S p i e l r a u m d a f ü r z u g e w ä h r e n . "

Honecker stimmte diesem Vorhaben zu. Finanziert wurde diese „Klassensolidarität" aus dem Solidaritätsfonds des F D G B , der aus Spenden der Mitglieder aufgebracht

76 77 78

Ständige Vertretung der D D R in Bonn, Vermerk über ein Gespräch mit dem Geschäftsführer der Zeitschrift „Nachrichten" (Gewerkschaftsspiegel Information und Kommentare), in: ebd., S. 321-323. Ständige Vertretung Bonn, 29.1.1985, Vermerk über eine Information des Genossen Cieslak, Sekretär des DKP-Parteivorstandes, in: ebd., S. 400. Zit. nach: ebd., S. 140.

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wurde. Die Besucherzahlen aus der Bundesrepublik beliefen sich nach Gründung von „International e. V." 1976 auf 5.764 und stiegen 1988 auf die Zahl von 13.165. In dieser Zahl enthalten waren auch 59 über die Sozialistische Einheitspartei Westberlins (SEW) organisierte Gruppen mit insgesamt 881 Teilnehmern.79 Im Unterschied zum F D G B waren die politischen Ziele, die der D G B mit seinen innerdeutschen Beziehungen verfolgte, bescheidener, wie die 1977 vom D G B Bundesvorstand verabschiedeten vertraulichen „Leitlinien für die Beziehungen zum F D G B " belegen. Diesem programmatischen Papier zufolge betrachtete der D G B bereits das bloße Stattfinden von Begegnungen, Kontakten und eines Meinungsaustausche auf der Ebene von Spitzenfunktionären als sinnvollen Beitrag zur Entspannungspolitik und als Beitrag zur Entkrampfung der innerdeutschen Verhältnisse. Der D G B verlangte bei der Vorbereitung von Reisen in die D D R von seinen Funktionären, sie sollten einen zeitlichen Spielraum für „unkontrollierte und unbegleitete persönliche Kontakte verabreden" und „Kontakte auch mit Arbeitnehmern sicherstellen, die keine Funktionen haben". 80 Ein solcher Versuch einer unkontrollierten Kontaktaufnahme war jedoch bereits 1975 von der DDR-Abteilungsgewerkschaft IG-Metall des F D G B spektakulär beendet worden. Nach Rücksprache mit dem ZK der SED wurde die westdeutsche IG Metall-Delegation gebeten, die D D R sofort zu verlassen.81 Diese vom Bundesvorstand am 3. Mai beschlossenen internen Richtlinien und „Leitlinien"82 des D G B lagen bereits einen Monat später dem Vorsitzenden des F D G B Harry Tisch vor. Im Begleitschreiben wurde er darüber informiert, dass der Vorsitzende der IG Druck und Papier im DGB, Leonhard Mahlein, durch seinen Einspruch verhindert habe, dass der DGB-Bundesvorstand künftig die bundesdeutschen Sicherheitsorgane über die Einreise von offiziellen FDGB-Delegationen informiert.83 An dieser Stelle wird sehr deutlich, was der Sekretariatsbeschluss zur Westarbeit unter „Arbeit mit progressiven Kräften in den westdeutschen Gewerkschaften und ihren Leitungen" verstand. Avantgarde im D G B : Die IG Druck und Papier/Die I G Medien In der Westarbeit des F D G B spielte in den siebziger und achtziger Jahren die IG Druck und Papier, die spätere IG Medien, eine besondere Rolle. Obwohl zahlenmäßig eine kleinere Gewerkschaft im DGB, wurde der IG Druck und Papier „aufgrund des Charakters des Organisationsbereiches (Presse und andere Massenmedien) große gesellschaftspolitische Bedeutung" 84 zugemessen. Das Interesse des F D G B zog sie aber vor allem auf sich, weil sie zu jenen Gewerkschaften gehörte, bei denen, wie es in einer internen Einschätzung der Entwicklungen im D G B aus dem Jahre 1971 hieß, „in wichtigen innen- und außenpolitischen Fragen Elemente einer konstruktiven, eigenständigen Gewerkschaftspolitik am sichtbarsten waren" 85 . Diese Bewertung 79 80 81 82 83 84

85

Alles ebd., S. 140 f. Interne Richtlinien für Kontakte mit dem F D G B , in: ebd., S. 235. Vgl. ebd., S. 155. Leitlinien für die Beziehungen des D G B zum F D G B , in: ebd., S. 234 f. Vgl. FDGB-Bundesvorstand, Hausmitteilung, 23. Juni 1977, in: ebd., S. 233. FDGB-Westabteilung: Information: Angaben zur Position der Industriegewerkschaft Druck und Papier im D G B und zur Position des Vorsitzenden, Leonhard Mahlein, sowie zu weiteren Delegationsmitgliedern, 18. August 1976, in: ebd., S. 333. Zit. nach: ebd., S. 171.

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bezog sich auf die Beschlüsse ihres 9. Gewerkschaftstages. Hervorgehoben wurde auch die „faktische Ablehnung des Antikommunismus". Dies wertete der FDGB auch als Erfolg der eigenen Politik. Die Teilnahme von delegierten DKP-Mitgliedern am Gewerkschaftstag umschrieb der FDGB mit „befreundete Kräfte" 86 . Maßgebliche Verdienste an dieser für den FDGB positiven Entwicklung hatte der 1968 zum Vorsitzenden gewählte Leonhard Mahlein. Die Westabteilung kannte seine Biografie gut. Zwar gehörte er der SPD an, war aber bis 1952 Mitglied der KPD gewesen, die ihn ausschloss, als er den oben erwähnten Revers des DGB unterschrieb. 1981 gehörte der Vorsitzende der IG Druck und Papier zu den Funktionären im DGB, die die Beziehungen zwischen FDGB und DGB zur politischen Zusammenarbeit ausweiten wollten. Er sprach anlässlich eines Besuchs in Ostberlin mit dem FDGB über die Frage, was angesichts des NATO-Doppelbeschlusses („NATO-Hochrüstung") getan werden müsste, um den DGB in die Friedensbewegung zu integrieren. 87 Ein Jahr später, auf dem 12. DGB-Kongress 1982 in Berlin, wurde das Problem gelöst. Neben der Wahl eines neuen Vorsitzenden und dem Skandal um die gewerkschaftliche Wohnungsgesellschaft „Neue Heimat" ging es in Berlin vor allem um die gewerkschaftliche Friedenspolitik. Dem späteren IG Medien-Vorsitzenden Detlef Hensche gelang es durch Beschlusslagenpolitik, den DGB in die Protestbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss einzureihen. Mit der Formulierung, „es darf keine Stationierung neuer Mittelstreckenwaffen in Europa geben" 88 , präsentierte er als Sprecher der Antragsberatungskommission dem Kongress die Einigungsformel, der alle zustimmen konnten, die aber die Gegner des NATO-Doppelbeschlusses nutzten, um die Gewerkschaften in die Friedensbewegung zu integrieren. Die sowjetischen SS-20-Raketen waren ja bereits stationiert, also richtete sich dieser Satz in der Konsequenz gegen den Nachrüstungsteil des Doppelbeschlusses. Diese politische Zusammenarbeit mit dem FDGB befürworteten nicht alle DGBGewerkschaften. Uber die zweite Grundlinie gibt eine Aktennotiz Werner Heilemanns, Sekretär für Westarbeit im FDGB-Bundesvorstand, vom Dezember 1983 über ein Gespräch mit dem Vorsitzenden der IG Druck und Papier, Ferlemann, Auskunft. Ferlemann habe betont, dass es für seine Industriegewerkschaft keine Änderung der Politik gegen den Raketenbeschluss gebe: „Die guten Beziehungen zur Druck und Papier im F D G B müßten noch fester geknüpft werden. Aufgrund des Ernstes der Lage sei die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Gewerkschaften und zwischen dem Bundesvorstand des F D G B und dem D G B besonders notwendig." 89

Ferlemann habe sich über „Bremser" im DGB beklagt, die einer solchen Politik entgegenstünden. Es seien die gleichen Gewerkschaften, die aus der Forderung der 35-Stunden-Woche ausgeschert seien und eine engere Zusammenarbeit mit der von

86 87 88 89

Alles ebd. Vgl. Zentralvorstand IG Druck und Papier: Erste Information über den Besuch einer Delegation des Hauptvorstandes der IG Druck und Papier im DGB unter der Leitung des Vorsitzenden Leonhard Mahlein, in: ebd., S. 371 f. XII. Ordentlicher Bundeskongreß des DGB, Berlin 16.-22.5.1982, Tagesprotokoll vom 20. Mai 1982, Manuskript, S. 396. Werner Heilemann: Information über Gespräche des Genossen W. Heilemann mit führenden Gewerkschaftsfunktionären [...] in der Zeit vom 5.-9.12.1983, in: Hans-Hermann Hertie/Manfred Wilke: Das Genossenkartell, a. a. O., S. 397.

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Helmut Kohl geführten Bundesregierung anstrebten: Die I G Chemie, die I G Bergbau und Energie, die I G Bau, Steine, Erden und die beiden Gewerkschaften Nahrung, Genuss, Gaststätten und Textil-Bekleidung. Nach Heilemanns Bericht schlug der Vorsitzende der I G D r u c k und Papier vor, zu überlegen, „wie wir stärker deren Haltung beeinflussen könnten" 9 0 . Die I G Medien war dann auch die letzte D G B Gewerkschaftsdelegation, die im O k t o b e r 1989 in Ostberlin die beiden F D G B Abteilungsgewerkschaften I G D r u c k und Papier und Gew. Kunst besuchte. In der Information der beiden FDGB-Abteilungsgewerkschaften an das Sekretariat des FDGB-Bundesvorstandes heißt es: „Die Delegation brachte ihren Unmut über die Hetzkampagne der Medien in der B R D im Zusammenhang mit der illegalen Ausreise von DDR-Bürgern zum Ausdruck. Sie unterstützten vollinhaltlich die Ausführungen des DGB-Vorsitzenden Breit, daß sich ,manches Arbeitslosenzentrum freuen würde, wenn nur ein Bruchteil der Mikrofone und Kameras auf seine Nöte gerichtet wären'. Die gegenwärtige Kampagne wird genutzt, um über die emotionale Welle von den großen eigenen Problemen abzulenken. Ferlemann informierte über sein Gespräch mit Breit vor der Abreise in die D D R zur Weiterführung des bewährten Dialogs und darüber, daß manche Gewerkschaften im D G B in dieser Zeit kein Verständnis hätten, daß eine Leitungsdelegation die D D R besucht. Ferlemann betonte, daß die Beziehungen zwischen beiden Vorständen [...] stark genug seien, um Belastungen auch in politisch schwierigen Zeiten standzuhalten."91

MfS-Operationen im DGB Der F D G B war nicht das einzige Instrument der SED-Westarbeit, wie schon Heike Arnos in ihrer Monografie über die Westpolitik der SED 9 2 und Jochen Staadt in seiner Untersuchung der SED-Westarbeit nach dem Mauerbau 93 überzeugend gezeigt haben. In der Diskussion um die SED-Westarbeit der letzten Jahre standen vor allem die Aktivitäten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) im „Operationsgebiet", wie das MfS die Bundesrepublik und Westberlin im Dienstgebrauch nannte, im Vordergrund des öffentlichen Interesses. Wie unterwandert war die Bundesrepublik durch Agenten des MfS? Diese Frage nahm Hubertus Knabe in seinem Buch auf, 94 um anhand exemplarischer Fälle zu zeigen, wie verzweigt das Agentennetz in den politischen Parteien, der außerparlamentarischen Opposition, der Osteuropaforschung, an den Hochschulen und im kirchlichen Bereich gediehen war. Aus dem Bereich des D G B nennt der Autor Wilhelm Gronau, der das Referat Wiedervereinigung im Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes leitete, das beim Vorsitzenden des D G B angesiedelt war, und der 1972 verhaftet wurde. In seiner Funktion war Gronau Mitglied des Forschungsbeirates beim Ministerium für gesamtdeutsche Fragen. „Nach einer MfS-internen Publikation beschaffte er der Staatssicherheit .äußerst wertvolle Informationen und hatte wesentlichen Anteil an der Beschaffung der Grauen Pläne'

90 91 92 93 94

Ebd., S. 398. Die Zentralvorstände der I G Druck und Papier und der Gewerkschaft Kunst: Information für das Sekretariat des Bundesvorstandes des F D G B , 9. Oktober 1989, in: ebd., S. 438. Heike Arnos: Die Westpolitik der SED, a. a. O . Jochen Staadt: Die geheime Westpolitik der S E D 1960-1970. Von der gesamtdeutschen Orientierung zur sozialistischen Nation, Berlin 1993. Hubertus Knabe: Die unterwanderte Republik. Stasi im Westen, Berlin 1999.

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Aufsätze 1991 bis 2006 - jener Ausarbeitung des Forschungsbeirates, die die im Fall einer Wiedervereinigung zu ergreifenden Maßnahmen enthielten und wegen ihres grauen Einbandes von der DDRPropaganda dergestalt bezeichnet wurden."'5

Im Fall von Gronau ging es dem MfS offenkundig vornehmlich um die Aufklärung der deutschlandpolitischen Aktivitäten der Bundesregierung und weniger um die Interna des D G B . Auch im spektakulärsten Fall einer MfS-Operation in der IG Metall, der Entführung von Heinz Brandt, Redakteur der Gewerkschaftszeitschrift metall aus Westberlin am 16. Juni 1961, ging es erst in zweiter Linie um die IG Metall als Organisation. Die SED exekutierte die demonstrative Bestrafung eines „Verräters" und wollte auch ihre Macht im Westen demonstrieren. Der Auschwitz-Häftling Brandt war am 16. Juni 1953 derjenige SED-Funktionär der Berliner Bezirksleitung, der angesichts der Demonstrationen der Bauarbeiter und ihres Streiks vom Politbüro die Rücknahme der Normerhöhung verlangte, was die Führung der SED auch zögerlich tat. 1958 floh Brandt in den Westen und bekam mit Hilfe von Siggi Neumann und dem Chefredakteur der metall, Kuno Brandel, als Journalist eine neue Chance. Das MfS plante die Entführung von Brandt sorgfältig und führte sie mit Hilfe seiner Agenten im Westen durch. Eine Schlüsselrolle spielte dabei Hans Beyerlein aus der Vorstandsverwaltung der IG Metall. Er gewann das Vertrauen von Brandt, der ihm während eines Urlaubs Unterlagen anvertraute, aus denen eindeutig hervorging, dass er schon vor seiner Flucht mit der IG Metall und dem Ostbüro in Verbindung gestanden hatte. Beyerlein leitete diese Unterlagen an die Ostberliner MfS-Zentrale weiter. Sein Führungsoffizier, Paul Laufer, gab dieses Material im Februar 1960 an Generalmajor Markus Wolf, Leiter Aufklärung, weiter. Es handelte sich um die persönlichen Aufzeichnungen über die Führungskonflikte in der SED vor und nach dem 17. Juni 1953. Die Aufzeichnungen wurden die Basis für die Anklageschrift, die der Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, ausarbeiten ließ und die Brandt zu einem Agenten westlicher Dienste stempelten. Das SED-Politbüro „bestätigte" diese Anklageschrift, und Brandt wurde mit zwei weiteren Angeklagten im Mai 1962 in einem Geheimprozess vor dem Ersten Strafsenat des Obersten Gerichts der D D R zu 13 Jahren Zuchthaus verurteilt.96 Die MfS-Operation gegen Brandt richtete sich auch gegen ein „gefährliches Feindnest" 97 , das Paul Laufer im Hauptvorstand der IG Metall unter Leitung von Siggi Neumann verortete: „Zu erwähnen ist, daß Siggi Neumann und Heinz Brandt vor und nach 1933 der Fraktion der Versöhnler, das heißt der Bucharin-Fraktion angehörten."98 Diese Bewertung von Laufer erinnert an die generationsspezifischen Brüche deutscher Kommunisten, die bis in die Zeit der Stalinisierung der KPD in den zwanziger Jahren zurückreichen. Laufer leistete seit 1927 „Abwehrarbeit" für die KPD in der SPD, gehörte also dem M-Apparat an, und wurde nach seiner Rückkehr nach Deutschland auf Weisung der KPD erneut Mitglied der SPD in Berlin. Ab April 1946 arbeitete er zusammen mit Bruno Haid als Abwehrfachmann im personalpolitischen

95 96

97 98

Ebd., S. 373. Vgl. Manfred Wilke: Heinz Brandt - in Selbstzeugnissen, in: Silke Kiewin/Kirsten Wenzel (Bearb.): Wege nach Bautzen II. Biografische und autobiografische Porträts, Dresden 2003, S. 48. Vgl. auch Heinz Brandt: Ein Traum, der nicht entführbar ist. Mein Weg zwischen Ost und West, München 1967. Paul Laufer, zit. nach: Manfred Wilke: Heinz Brandt - in Selbstzeugnissen, a. a. O., S. 47. Ebd.

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Referat der SED, in der Abteilung „Untersuchungen und Schiedsgerichte".99 1955 wurde er im MfS „zuständig für die Bearbeitung von SPD und DGB". 1 0 0 Siggi Neumann101 wurde 1934 als „Bucharinist" im Pariser Exil aus der KPD ausgeschlossen und trat nach seiner Rückkehr nach Deutschland 1946 der SPD bei. Die Auseinandersetzungen mit der regierenden „stalinistischen Fraktion" in der SED prägten sein politisches Leben ebenso wie beispielsweise das von Eduard (Edu) Wald, der 1948 aus der KPD austrat und ab 1950 beim D G B arbeitete, wo er den Informationsdienst „Feinde der Demokratie" 102 herausgab. Im Sommer 1975 wurde das Vorstandsmitglied der IG Metall Heinz Dürrbeck unter dem Verdacht festgenommen, seit 1957 die Gewerkschaften für das MfS ausspioniert zu haben. Einem Verfahren vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt entzog sich Dürrbeck durch Flucht nach Ungarn. Systematisch ist die Ausspähung des D G B und seiner Gewerkschaften durch das MfS noch nicht erforscht und somit einstweilen ein Desiderat. Der F D G B selbst war in vielfacher Hinsicht mit dem MfS verwoben. Sichtbarsten Ausdruck fand dies in der Existenz eines mit zwei hauptamtlichen Mitarbeitern besetzten Büros am Sitz des FDGB-Bundesvorstandes. Es ist jedoch kaum anzunehmen - das verboten schon die Regeln der geheimdienstlichen Konspiration - , dass die FDGB-Spitze über die geheimdienstlichen Aktivitäten des MfS zur Ausspähung des D G B und seiner Mitgliedsgewerkschaften im Bilde war. Da die FDGB-Vorsitzenden Mitglied des Politbüros waren, hatten sie aber sehr wohl Zugang zu den geheimdienstlichen Erkenntnissen über den D G B , die das MfS erarbeitete. Die Uberprüfung der vom F D G B eingeladenen Delegationen westdeutscher Gewerkschafter oblag - durch die Einreisemodalitäten - automatisch der Kontrolle durch das MfS. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die offiziellen Begegnungen zwischen D G B - und FDGB-Delegationen in Hotels und Gästehäusern in der Regel ebenfalls vom MfS „gesichert" wurden. Auch die Klärung „humanitärer Anliegen", die gelegentlich von Delegationen vorgebracht wurden und für die in der D D R die Staatssicherheit zuständig war, geschah in direktem Kontakt zwischen F D G B und MfS.103 D i e Wiederherstellung einer gesamtdeutschen Einheitsgewerkschaft Im September 1989 kam der FDGB-Vorsitzende Harry Tisch auf Einladung des D G B in die Bundesrepublik. Beide Verbände unterzeichneten am 15. September 1989 eine Vereinbarung über die künftigen Beziehungen zwischen D G B und F D G B . Vereinbart wurde unter anderem die Fortsetzung des Kulturaustauschs zwischen D G B und F D G B und die Teilnahme des F D G B mit einer Leitungsdelegation am 14. Bundeskongress des D G B im Jahr 1990. Gemeinsam wollte man in Halberstadt 1991 den 100. Jahrestag der Gründung der Generalkommission Deutscher Gewerk-

99 Michael Kubina: Zum Aufbau des zentralen Westapparates der K P D / S E D 1945-1949, a. a. O., S. 472. 100 Dieter Hoffmann/Helmut Müller-Enbergs/Jan Wielgohs (Hg.): Wer war wer in der D D R ? Ein biographisches Lexikon, Berlin 2000, S. 505. 101 Vgl. Andreas Herbst/Hermann Weber: Deutsche Kommunisten, a. a. O., S. 533 f. 102 Ebd., S. 834. 103 Hans-Hermann Hertie/Manfred Wilke: Das Genossenkartell, a. a. O., S. 133.

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schaffen feiern. 104 Zehn Wochen nach diesem feierlichen Vertragsabschluss trat Tisch infolge der friedlichen Revolution in der D D R als Vorsitzender des F D G B zurück und wurde kurz darauf unter dem Verdacht von Korruption und Amtsmissbrauch verhaftet. Der F D G B entdeckte in letzter Minute Michail S. Gorbatschows Glasnost und Perestroika für sich und versuchte, sich selbst in einen Gewerkschaftlichen Dachverband F D G B zu reformieren, um sich mit dem D G B zu einer gesamtdeutschen Einheitsgewerkschaft vereinen zu können. 105 Diese Politik scheiterte im Frühjahr 1990 mit der faktischen Entmachtung des F D G B durch die Selbstständigkeit beanspruchenden Einzelgewerkschaften, die selbst Verhandlungen mit ihren Partnern im D G B aufnahmen. Auf dem 14. Bundeskongress des D G B im Mai 1990 zog der neu gewählte Vorsitzende Heinz-Werner Meyer den Schlussstrich unter das Kapitel F D G B in der deutschen Gewerkschaftsgeschichte: Der F D G B war „die Massenorganisation der herrschenden SED und ihr Erfüllungsgehilfe in den Betrieben. Der zentralistische FDGB hat die Interessen der Arbeitnehmer nicht vertreten, sondern er hat die Politik der SED oft genug gegen die Interessen und auch gegen den Willen der Arbeitnehmer durchgesetzt. Das ist nicht nur ein Makel, das ist ein Strukturfehler, der nicht zu korrigieren ist. Der FDGB ist nicht reformfähig. Deshalb hat er keine Zeichen für den notwendigen Erneuerungsprozeß setzten können. Das ist der Grund! Er hat nicht das Vertrauen der Arbeitnehmer, und er bekommt es auch nicht. Der FDGB ist eine große Belastung für den demokratischen Neuanfang der Gewerkschaften. Das haben auch alle Gewerkschaften in der D D R erkannt und daraus die Konsequenz gezogen: Der FDGB muß aufgelöst werden. Ein Zusammenschluß von D G B und FDGB kam für uns nie in Betracht." 106 Die Westarbeit des F D G B endete mit der friedlichen Revolution in der D D R und führte in der Tat zu der von Warnke 1950 geforderten deutschen Gewerkschaftseinheit, allerdings durch Auflösung des F D G B .

104 Vgl. Hans-Peter Müller/Manfred Wilke: Zwischen Solidarität und Eigennutz. Die Gewerkschaften des D G B im deutschen Vereinigungsprozeß (Forschungsbericht der Konrad-AdenauerStiftung, 68), Melle 1991, S. 33 f. 105 Vgl. Hans-Hermann Hertie et al.: F D G B - Wende z u m Ende. Zwischen Solidarität und Eigennutz, Köln 1990, S. 53-100. 106 Werner Meyer, zit. nach: Hans-Hermann Hertie/Manfred Wilke: D a s Genossenkartell, a. a. O., S. 23.

Der Mauerfall am 9. November 1989 und der Beginn der Vereinigungspolitik von Bundeskanzler Helmut Kohl (2006)*

1. Der „gordische Knoten" der deutschen Frage Die Moskauer „Prawda" wählte in ihrem Kommentar zum Fall der Berliner Mauer ein viel sagendes Bild: Sie nannte dieses gefallene Symbol der Teilung einen „gordischen Knoten" der deutsch-deutschen Beziehungen, „der nun endlich zerschlagen sei" 1 . Das Moskauer Blatt erfasste damit nicht nur die Zäsur, die dieses Ereignis in der deutschen Frage bedeutete, es bestätigte auch die Symbolkraft, die von der Berliner Mauer ausging. Der Fatalismus, mit dem die Menschen in beiden deutschen Staaten die Teilung ihres Landes über vier Jahrzehnte hingenommen hatten, war der Einsicht geschuldet, dass die vier Hauptsiegermächte des Zweiten Weltkrieges sich nicht darüber einigen konnten, welchen Platz ein vereintes Deutschland in einer europäischen Friedensordnung einnehmen sollte. Das machtpolitische Patt zwischen ihnen war die Voraussetzung für zwei deutsche Teilstaaten. Ohne das Einverständnis und die Mitwirkung der Vereinigten Staaten, der Sowjetunion, Großbritanniens und Frankreichs, die ihre Rechte und Verantwortlichkeiten für Deutschland als Ganzes seit 1945 aufrechterhielten, war das deutsche Problem nicht zu lösen.2 In der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 trugen die Berliner mit der Selbstöffnung der Mauer dazu bei, dieses Ergebnis des Zweiten Weltkrieges zu revidieren, und der Freudentaumel von damals faszinierte die ganze Welt. Die Sternstunde im Prozess der deutschen Vereinigung war - unbestritten - die Öffnung der Berliner Mauer. Damit veränderte sich der Status quo in Europa, und die deutsche Frage kehrte erneut in die internationale Politik zurück. Die Maueröffnung verknüpfte die friedliche Revolution in der DDR, die zum Zerfall der SED-Diktatur und zur Durchsetzung einer demokratischen Republik führte, untrennbar mit der Vereinigungspolitik der Bundesrepublik und machte diese erst möglich.

* 1 2

Überarbeiteter Vortrag im Rahmen der russisch-deutschen Historikerkonferenz zur deutschen Nachkriegsgeschichte, 27.-30. Oktober 2005 in Moskau. Vgl. Rafael Biermann: Zwischen Kreml und Kanzleramt. Wie Moskau mit der deutschen Einheit rang, Paderborn/München/Wien/Zürich 1997, S. 129 f. Die vier Mächte bekräftigten ihre fortbestehenden Rechte und Verantwortlichkeiten 1972 in einer gemeinsamen Erklärung der Regierungen Frankreichs, Großbritanniens, der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten von Amerika vor dem Beitritt der Bundesrepublik Deutschland und der D D R zu den Vereinten Nationen. Vgl. Dietrich Rauschning (Hg.): Rechtsstellung Deutschlands. Völkerrechtliche Verträge und andere rechtsgestaltende Akte, München 1985.

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2. Reisefreiheit f ü r D D R - B ü r g e r Am Morgen des 9. November deutete nichts daraufhin, dass den Deutschen erneut ein Schicksalstag ihrer Geschichte bevorstand. In der Bundesrepublik wurde an den 51. Jahrestag des Judenprogroms der Nationalsozialisten von 1938 erinnert, in der DDR war hingegen keine Zeit, der deutschen Revolution von 1918 und Karl Liebknechts Aufruf zur sozialistischen Weltrevolution zu gedenken. Routine bestimmte den Tagesablauf von SED-Führung und Bundesregierung: In Ostberlin wurde die 10. Tagung des Zentralkomitees der SED fortgesetzt, und in Bonn traf Bundeskanzler Helmut Kohl letzte Reisevorbereitungen für seinen fünftägigen Staatsbesuch in Polen. SED-Generalsekretär Egon Krenz wollte an diesem Tag ein zentrales innen- und außenpolitisches Problem der DDR regeln: die Reisefreiheit. Innenpolitisch eskalierte der Konflikt um den Entwurf des Reisegesetzes, den Innenminister Friedrich Dickel am 6. November in Ostberlin vorlegte. Auf dem Tisch lag ein Gesetz, das zwar einen grundsätzlichen Rechtsanspruch auf Auslandsreisen für alle DDR-Bürger vorsah, diesen aber durch eine Visumspflicht und die zeitliche Begrenzung der Aufenthaltsdauer zugleich wieder einschränkte. Die öffentliche Kritik an diesem Entwurf war vernichtend und reichte vom Neuen Forum bis zum Verfassungs- und Rechtsausschuss der Volkskammer. Auf der Montagsdemonstration in Leipzig mit zirka 500.000 Teilnehmern wurde am selben Tag seine Rücknahme gefordert. Krenz, bestrebt sein Image als Reformer aufzubauen, wurde innenpolitisch von einer Stimmung getroffen, die zwei Transparente der Leipziger Montagsdemonstration auf den Punkt brachten: „Das Reisegesetz beweist: Es herrscht der alte Geist!" und „Visa ohne Geld, da lacht die ganze Welt!" 3 Immerhin gab der Entwurf dieses Reisegesetzes Krenz die Chance, die Führung von Partei und Staat neu zu organisieren. Am 7. November trat der Ministerrat der DDR zurück, am 8. November folgte das alte Politbüro. An diesem ersten Tag der 10. Tagung des SED-Zentralkomitees wurden neue Mitglieder in das Gremium gewählt, unter ihnen der Erste Sekretär des Bezirks Dresden, Hans Modrow, der als Reformer galt und den das ZK beauftragte, eine neue Regierung zu bilden. Doch es stieg nicht nur der innenpolitische Druck auf das SED-Regime, ebenso gewichtig war die Drohung aus Prag, die Grenze zur DDR zu schließen. Der Flüchtlingsstrom aus der DDR bahnte sich ungebremst seinen Weg in das Transitland CSSR. In Prag hatte der Funke aus der DDR bereits gezündet: Am 28. Oktober demonstrierten Zehntausende in der tschechoslowakischen Hauptstadt für eine neue Regierung. Die im Innern selbst bedrängten tschechoslowakischen Kommunisten verlangten nun von der DDR ultimativ wirksame Maßnahmen, um die Ausreisewelle zu unterbinden, und drohten mit der Schließung der Grenze zur DDR. Am Morgen des 9. November trafen sich im Ministerium des Innern der Hauptabteilungsleiter „Pass- und Meldewesen" und der Leiter der Hauptabteilung „Innere Angelegenheiten" mit zwei Obristen der Staatssicherheit, um eine Beschluss vorläge für das Zentralkomitee darüber zu erarbeiten, wie DDR-Bürger künftig ohne Umwege über das Ausland in den Westen „übersiedeln" können. Es erschien den vier Sicherheitsexperten jedoch widersinnig, zwar die Ausreise, nicht aber den normalen

3

Zit. nach Bernd Lindner: Die demokratische Revolution in der DDR 1989/90, Bonn 1998, S. 87.

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Besuchsverkehr zu regeln. D e r Beschluss, den Willi Stoph als amtierender Vorsitzender des Ministerrates dem SED-Zentralkomitee zur Bestätigung vorlegte und den E g o n Krenz um 16 U h r verlas, enthielt als „zeitweilige Ubergangsregelung für Reisen und ständige Ausreisen aus der D D R in das Ausland" auch die Bestimmung, „Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Versagungsgründe werden nur in besonderen Ausnahmefällen angewandt." 4 Als Krenz mündlich vortrug, bezog er sich einleitend auf die Demarche aus Prag und betonte die Zwangslage, in der diese Entscheidung getroffen wurde: „Was wir auch machen in dieser Situation - wir machen einen falschen Schritt." 5 Mit zwei Änderungen, die Worte „zeitweilig" und „Ubergangsregelung" wurden gestrichen, verfügte Krenz, dass der Regierungssprecher diese Reiseregelung verlesen sollte. 6 H a n s - H e r m a n n Hertie nimmt diesen Ablauf zum Anlass, um die fortbestehenden Machtstrukturen der SED-Diktatur zu verdeutlichen: „Die aufgrund des Einwandes von Hoffmann [Kulturminister, M. W.] vorgenommene Änderung eines Ministerratsbeschlusses durch das SED-Zentralkomitee veranschaulicht dessen jahrzehntelang eingespieltes Selbstverständnis, die Regierung als nachgeordnetes Organ der S E D zu behandeln. Mit dem ebenfalls die Kompetenzen des Generalsekretärs gewohnheitsmäßig überschreitenden und ihm nicht zustehenden Vorschlag, dass der Regierungssprecher die Regelung ,gleich' - und nicht erst am 10. November, wie vorgesehen - veröffentlichen sollte, hob Krenz beiläufig die Sperrfrist für die Pressemitteilung auf. 40 Jahre lang hatte diese Missachtung der Gewaltenteilung die Diktatur stabilisiert. Doch an diesem Tag entging dem SED-Generalsekretär, dass die Verordnung selbst kein Datum trug, sondern automatisch durch ihre Bekanntgabe in Kraft gesetzt werden würde (,ab sofort',,unverzüglich')." 7

3. Der Beginn der Vereinigungspolitik von Bundeskanzler Helmut Kohl Als Krenz am Vortag auf der 10. ZK-Tagung ein neues SED-Politbüro formierte und Hans M o d r o w zum neuen Ministerpräsidenten der D D R bestimmt wurde, debattierte der Bundestag den „Bericht zur Lage der N a t i o n " - es sollte die letzte Debatte dieser A r t sein. Die Parteien bilanzierten die Ergebnisse der ersten Phase der friedlichen Revolution in der D D R und bezogen Position zur Chance einer deutschen Vereinigung. Einig war sich das Parlament, diesen Kampf um Demokratie und Selbstbestimmung zu unterstützen. Bundeskanzler Kohl und sein Außenminister Hans-Dietrich Genscher ( F D P ) betonten die Konsequenz dieser Selbstbestimmung der Deutschen in der D D R : die deutsche Einheit.

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5 6 7

Hans-Hermann Hertie: Der 9. November 1989 in Berlin, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" (12. Wahlperiode), Bd. VII/1, Baden-Baden 1995, S. 840. Das Zustandekommen dieser Übergangsregelung beschrieb als erster Cordt Schnibben, in: Der Spiegel, Heft 41/1990, S. 102 ff. Hans-Hermann Hertie: Der 9. November 1989 in Berlin, a. a. O., S. 839. Ebd., S. 841. Ebd., S. 842.

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Rückblickend muss man sich vergegenwärtigen, dass sich der Prozess der Zerstörung der Diktatur in der D D R , des Aufbaus demokratischer Institutionen, die wirtschaftliche und politische Solidarität der Bundesrepublik und die internationalen Verhandlungen zur Lösung der deutschen Frage zeitgleich vollzogen. Das Zusammenspiel von Flüchtlingen, DDR-Opposition und Bundesregierung in dieser AntiSED-Bewegung gestaltete sich unkoordiniert. Es waren Ereignisse wie die Lösung der Flüchtlingsfrage in Ungarn im September, die Leipziger Demonstration vom 9. Oktober, die Zulassung des Neuen Forums und vor allem die Überwindung der Berliner Mauer, die diesen Prozess strukturierten. In den wenigen Monaten vom August 1989 bis zum Mauerfall im November entstand ein innerdeutsches Interaktionsmuster, und die Veränderungen in der D D R blieben nicht ohne Echo in der Bundesrepublik. Von besonderer Bedeutung für die Ausreisefrage war die Öffnung der ungarischen Grenze. Die Flüchtlingsdramen, an denen durch die mediale Berichterstattung eine breite Öffentlichkeit Anteil nahm, führten zu einer Welle der Hilfsbereitschaft in der Bundesrepublik. Noch mischte sich die Bundesregierung jedoch nicht direkt in die Veränderungsprozesse in der D D R ein. Dies geschah erst am 8. November, nachdem Egon Krenz durch seinen Beauftragten Alexander Schalck-Golodkowski bei ihr um Finanz- und Wirtschaftshilfe nachgesucht hatte. Es ging um zirka 15 Milliarden DM. Die Bundesregierung verknüpfte ihre prinzipielle Hilfszusage mit einer Verstärkung des Veränderungsdrucks auf die SED-Führung und solidarisierte sich mit den Zielen der DDR-Opposition. Bundeskanzler Kohl erklärte am 8. November in seiner Rede zum „Bericht zur Lage der Nation" im Bundestag: „Gegenüber der neuen SED-Führung erkläre ich unsere Bereitschaft, einen Weg des Wandels zu stützen, wenn sie zu Reformen bereit ist. Kosmetische Korrekturen genügen nicht. Wir wollen nicht unhaltbar gewordene Zustände stabilisieren. Aber wir sind zu umfassender Hilfe bereit, wenn eine grundlegende Reform der politischen Verhältnisse in der DDR verbindlich festgelegt wird. Die SED muß auf ihr Machtmonopol verzichten und sie muß freie Wahlen und damit die freie Zulassung von Parteien verbindlich zusichern. Unter diesen Voraussetzungen bin ich auch bereit, über eine neue Dimension unserer wirtschaftlichen Hilfe zu sprechen. [...] Einen grundlegenden politischen und wirtschaftlichen Wandel in der DDR zu fördern, ist unsere nationale Aufgabe."8 Der Bundeskanzler hatte mit dieser Entscheidung die Geschäftsgrundlage des innerdeutschen Handels zu Ungunsten der S E D verändert. Seit dem Grundlagenvertrag von 1972 galt: westdeutsche Kredite und damit Devisen gegen menschliche Erleichterungen im innerdeutschen Reiseverkehr; daraus wurde nun wirtschaftliche Hilfe gegen Diktaturabbau und Demokratisierung der D D R . Dies war eine Form der indirekten Einmischung, die das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen in der D D R ebenso respektierte wie die KSZE-Schlussakte von Helsinki von 1975 mit ihrem Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten.

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Bundesministerium des Innern (Hg.): Deutsche Einheit: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, bearb. von Hanns Jürgen Küsters und Daniel Hoffmann, München 1998, S. 491.

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4. Die Pressekonferenz von Günter Schabowski Es war nicht der Regierungssprecher, sondern Politbüromitglied Günter Schabowski, der auf der Pressekonferenz im Internationalen Pressezentrum die Reiseregelung vorstellte. Es gibt verschiedene Schilderungen darüber, wie es dazu kam. Hertie beschreibt den Ablauf wie folgt: „Als sich Schabowski bei Krenz gegen 17:30 Uhr zu seiner Pressekonferenz über Verlauf und Ergebnisse des ZK-Plenums abmeldete, [...] erhielt [er] von Krenz dessen Exemplar der Ministerratsvorlage über die Reiseregelung. Krenz verband die Ubergabe des Papiers mit dem Hinweis, das sei ,die Weltnachricht'. Und Schabowski behielt von Krenz im Ohr: ,Das wird ein Knüller für uns'."' Hinzufügen sollte man, dass Schabowski nicht im Tagungssaal war, als Krenz die Reiseregelung vortrug. Es war der italienische Journalist Ricardo Ehrman, der Schabowski um 18.53 U h r fragte, ob nicht der Entwurf des Reisegesetzes ein großer Fehler sei. Daraufhin gab Schabowski den Inhalt der neuen Regelung bekannt. Auf die Frage, ob denn diese Regelung der Ausreise auch für Westberlin gelte, antwortete er: „Die ständige Ausreise kann über alle Grenzübergangsstellen der D D R zur B R D bzw. zu Berlin-West erfolgen." 10 Auf die Nachfrage, wann diese Regelung in Kraft trete, antwortete er: „sofort". Die Frage, was mit der Berliner Mauer geschehen werde, konnte Schabowski zu diesem Zeitpunkt hingegen noch nicht präzise beantworten." Der Pressekonferenztermin zu dieser ZK-Sitzung war erstmals zeitlich so gewählt, dass die Hauptnachrichtensendungen der Fernsehanstalten in der DDR und der Bundesrepublik noch am Abend berichten konnten. Hertie hat diesen Fernsehabend minutiös protokolliert: „Nach dem Ende der Live-Ubertragung der Pressekonferenz eröffnete das ZDF den Reigen. In den ,heute'-Nachrichten flimmerte der Schabowski-Auftritt um 19.17 Uhr als sechste Meldung über den Bildschirm." Er beschrieb auch die Reaktionen auf die Radio- und Fernsehmeldungen über die neue Reiseregelung: „Bereits zu dieser Zeit wurden die Schalterbeamten der deutschen Reichsbahn im Leipziger und Altenburger Bahnhof unruhig, denn kurz nach neunzehn Uhr stand vor den fassungslosen Reichsbahnern in den Fahrkartenschaltern eine rasch anwachsende Zahl von Kunden, die ohne Nachweis des erforderlichen Sichtvermerks in ihrem Reisepaß mithin unberechtigt Fahrkarten in die Bundesrepublik verlangten."12 In der „Aktuellen Kamera" des DDR-Fernsehens wurde um 19.30 Uhr über die neue Reiseregelung berichtet: „,Privatreisen nach dem Ausland', verknüpfte die Nachrichtensprecherin schöpferisch die Äußerungen Schabowskis mit der ADN-Meldung, .könnten ab sofort ohne besondere Anlässe beantragt werden.' [...] Die,Tagesschau' der ARD platzierte die Reiseregelung um 20.00 Uhr als Top-Meldung an erster Stelle und blendete dazu als Schlagzeile ,DDR öffnet Grenze' ein."13

9 Hans-Hermann Hertie: Der 9. November 1989 in Berlin, a. a. O., S. 842. 10 Ebd., S. 846. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 849 f. 13 Ebd., S. 850 f.

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Nach diesen Fernseh- und Radionachrichten über die neue Reiseregelung wollten viele DDR-Bürger die Möglichkeit, in den Westen zu reisen, sofort nutzen und erproben, ob dieses Versprechen nicht doch nur ein Trick war. Mit einer solchen Spontaneität hatte die SED-Führung nicht gerechnet - ebenso wenig wie die Regierungen der vier Siegermächte dies erwartet hatten. 5. D e r Mauerfall Schabowskis Pressekonferenz überraschte alle, auch die Staatsorgane der D D R . Denn weder die Volkspolizei noch die Ministerien für Staatssicherheit und für Nationale Verteidigung waren über die neuen Reiseregelungen informiert worden, die das Zentralkomitee beschlossen hatte. Dieser Fehler der DDR-Staatsführung erklärt aber nicht die Spontaneität der Berliner in dieser Nacht, die die Entscheidung trafen, die Mauer selbst zu öffnen. Unzweifelhaft wirkten die Fernsehnachrichten über die beabsichtigte „sofortige" Maueröffnung seitens der SED mobilisierend auf eine Bevölkerung im Ostteil der Stadt, die seit Jahrzehnten auf diesen Moment gewartet hatte. Verstärkt wurde die Motivation sich selbst zu überzeugen, dass die Mauer tatsächlich passierbar war, durch das Misstrauen, das zwischen dem Staatsvolk der D D R und ihrer führenden Partei bestand. In dieser Nacht wurde die SED auch Opfer ihrer fehlenden Glaubwürdigkeit bei der eigenen Bevölkerung. Die mobilisierende Wirkung der Rundfunk- und Fernsehnachrichten fasst Hertie knapp zusammen: „Wo die Nachrichten ankamen, entvölkerten sich ganze Kneipen." 14 Eine Schlüsselrolle spielte in dieser Nacht der Grenzübergang Bornholmer Straße, an dem um 23:30 Uhr alle Kontrollen eingestellt wurden und die Grenze fiel. Der Kontrollpunkt lag in einem Arbeiterviertel, und die Wohnhäuser endeten unmittelbar an der Grenze. Hertie beschreibt den Schneeballeffekt, den die ersten hundert Menschen gegen 20:30 Uhr vor dem Kontrollpunkt auslösten, die sich dort versammelt hatten: „Die ersten, die - von Neugier getrieben - nur ,mal gucken gehen' wollten, regten durch ihre Bewegung auf der Straße die Bereitschaft derer an, sich selbst an O r t und Stelle ein eigenes Bild zu verschaffen, die bis dahin noch unsicher und rätselnd vor dem Fernseher saßen. So kam eine sich langsam aber stetig selbst verstärkende Bewegung in Richtung Kontrollpunkt in Gang." 1 5

Die Offiziere des Grenzkontrollpunktes telefonierten angesichts dieser Lage mit ihren vorgesetzten Dienststellen im Ministerium für Staatssicherheit oder den Einheiten der Grenztruppen und trafen auf Ratlosigkeit - es gab keine Instruktionen, wie sie sich verhalten sollten. Die Durchführungsbestimmungen dieser Reiseregelung waren zum Zeitpunkt ihrer öffentlichen Ankündigung den von ihr betroffenen Teilen des Staatsapparates vollkommen unbekannt. Volkspolizei, Grenztruppen und Staatssicherheit kannten weder die Regelung noch die Bestimmungen, wie sie anzuwenden war, als sich an den Grenzübergangsstellen die Menschen sammelten, die „rüber" wollten. Schließlich stellten die Offiziere der Grenzkontrollpunkte die Kontrollen

14 15

Hans-Hermann Hertie: Chronik des Mauerfalls, Augsburg 2003, S. 155. Ebd., S. 157.

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ein und öffneten den Schlagbaum. - Krenz hatte es geahnt: Was die S E D in Sachen Reisegesetz auch tat, es war immer der falsche Schritt. K a u m einer, der in dieser N a c h t die Mauer Richtung Westberlin passierte, bedachte die Konsequenz für den Viermächtestatus von Berlin und seine Veränderung durch den Mauerfall. D a s Viermächteabkommen über Berlin von 1971 legte fest, dass „die Lage, die sich in diesem Gebiet entwickelt hat [...], nicht einseitig verändert wird". 1 6 In der Tat: Keine der beteiligten Mächte hatte die Lage in diesem Gebiet, mit dem das gespaltene Berlin umschrieben wurde, „einseitig" verändert. Dies taten Berliner aus dem O s t - und Westteil der Stadt, als sie die Aufhebung der Grenzkontrollen von O s t nach West durchsetzten. A n der innerdeutschen G r e n z e herrschte Volksfeststimmung, die jedoch nicht gänzlich unbeschwert war. A u c h Rainer Eppelmann passierte in dieser N a c h t den Ubergang B o r n h o l m e r Straße. Rückblickend hat sich der Bürgerrechtler und Pfarrer an die Ambivalenz jener N a c h t erinnert und die Freude, aber auch die Angst vor einem „Jux der G e s c h i c h t e " festgehalten. 17 I m Gedächtnis blieb ihm eine junge Frau an der Grenzübergangsstelle B o r n h o l m e r Straße, die ihren Beitrag zur Gewaltlosigkeit leistete, indem sie mit einer R o s e in der H a n d auf die G r e n z e r zugegangen sei und ihnen die Blume mit einem „ D a n k e " reichte. 18 Diese Frau stand für viele in dieser N a c h t . D i e Angst, von der Eppelmann berichtet, war nicht unbegründet. D i e Gefahr einer gewaltsamen Eskalation, um die Mauer wieder zu schließen, bestand. A m 10. N o vember versetzte die N V A - F ü h r u n g über 2 0 . 0 0 0 Soldaten in Alarmbereitschaft, und der Befehl wurde erst am folgenden Tag aufgehoben. 1 9 D i e eigentliche G e f a h r aber lag in der sowjetischen Reaktion auf die Ereignisse. D e r sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse berichtet später, dass „er und Gorbatschow in dieser Zeit ,sehr aktiv zur Gewaltanwendung gedrängt' wurden. Man solle, so wurde ihnen nahegelegt, nach den Szenarien von 1953, 1956 und 1968 handeln. Konkret sei vorgeschlagen worden, an der deutsch-deutschen Grenze .Divisionen und Sperranlagen aufzustellen und die Triebwerke der Panzer anzukurbeln'. Zu jenen, die eine gewaltsame Schließung der Grenze nach dem Mauerfall erwogen, gehörten laut Sagladin viele Mitarbeiter im Außen- und Verteidigungsministerium sowie in der internationalen Abteilung. [...] Es dürfte Gorbatschows resoluter Führung am 10. November 1989 zu verdanken sein, daß das sowjetische Militär nach dem Mauerfall in Berlin in den Kasernen blieb."20 G o r b a t s c h o w geht in seinen Erinnerungen auf die innersowjetischen Auseinandersetzungen und die R e a k t i o n auf den Fall der Mauer nicht ein. E r nimmt Bezug auf den „Willen von Millionen" 2 1 , die das Schicksal der D D R und der deutschen Wieder-

16 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hg.): Das Viermächte-Abkommen über Berlin vom 3. September 1971, Hamburg 1971, S. 16. 17 Rede von Rainer Eppelmann, in: Presse- und Informationsamt des Landes Berlin (Hg.): Reden von Bürgerrechtlern aus Anlass des 10. Jahrestages der Maueröffnung auf dem Festakt des Berliner Senats am 9. November 1999, Berlin 2000, S. 19. 18 Ebd., S. 19 f. 19 Vgl. Hans-Hermann Hertie: Die Maueröffnung. Teil III, in: Deutschland Archiv, Nr. 12/1994, S. 1247 ff. 20 Rafael Biermann: Zwischen Kreml und Kanzleramt, a. a. O., S. 235 f. 21 Michail Gorbatschow: Wie es war. Die deutsche Wiedervereinigung, Berlin 1999, S. 88.

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Vereinigung entschieden, „vor allem von den Ostdeutschen, die sich zu einer wirklich demokratischen Volksbewegung vereint hatten" 22 . 6. Der Bundestag singt die Nationalhymne Der erste Runde Tisch stand 1988 in Polen. Die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PVAP) verhandelte daran mit der Gewerkschaft Solidarnosc die Modalitäten zur Demokratisierung der Volksrepublik: Man einigte sich auf Parlamentswahlen, die im Juni 1989 stattfanden und aus denen die Solidarnosc als Siegerin hervorging. Tadeusz Mazowiecki wurde Anfang September der erste nicht-kommunistische Premierminister Polens. Der Staatsbesuch des deutschen Bundeskanzlers bei der ersten nicht-kommunistischen Regierung Polens besaß hohe symbolische Bedeutung, zumal die Polen mit wirtschaftlicher Hilfe aus der Bundesrepublik rechneten. Der Staatsbesuch begann am 9. November, schon seine Dauer von fünf Tagen unterstrich das Gewicht, das beide Seiten diesem Besuch beimaßen. Der außenpolitische Berater des Bundeskanzlers Horst Teltschik erinnert sich, dass der Kanzler seine Reise mit „Unbehagen" antrat. „Der Strom der Ubersiedler ist noch einmal kräftig angeschwollen: Gestern sind mehr als 11.000 Menschen aus der DDR gekommen, fast 50.000 seit dem Wochenende, mehr als 200.000 im Verlauf dieses Jahres." 23 In seiner Tagebuchnotiz vom 9. November fügt Teltschik hinzu, dass das Ausmaß der Fluchtwelle an jene vom Sommer 1961 erinnerte, die durch den Mauerbau in Berlin seitens der DDR gestoppt wurde. Die bange Frage, wie es diesmal ausgehen werde, beschäftigte auch die polnischen Gastgeber. Lech Walesa fragte den Bundeskanzler, „was dieser tun würde, sollte die DDR die Mauer öffnen; müßte er dann nicht selbst eine Mauer errichten? Die SED sei nicht in der Lage, Reformen durchzuführen, weil ihr niemand mehr vertraue. Es gebe zur Zeit aber auch keine andere Gruppe, die einen Demokratisierungsprozeß überzeugend einleiten und gestalten könne. Der einzige Weg, den er sehe, sei, die Grenzen zu öffnen, demokratische Parteien zuzulassen und freie Wahlen auszuschreiben. Er sei, so fügte Walesa hinzu, überrascht, daß die Mauer überhaupt noch stehe. In spätestens ein bis zwei Wochen werde sie beseitigt sein. Aber was dann? Die Lage in der DDR sei sehr gefährlich und er sei voller Ängste, daß ein revolutionäres Chaos entstehen könnte." 24

Zu diesem Zeitpunkt wusste der Bundeskanzler bereits aus Bonn von Schabowskis Pressekonferenz und der Ankündigung der Reisefreiheit für die DDR-Bürger. Sein Kanzleramtsminister Rudolf Seiters trug um 20:46 Uhr im Bundestag eine mit dem Kanzler abgestimmte Erklärung der Bundesregierung zu diesem Ereignis vor. „Sachlich stellte Seiters fest, dass mit der Freigabe von Besuchsreisen und Ausreisen,erstmals Freizügigkeit für die Deutschen in der D D R hergestellt' werde. Er wiederholte die Bedingungen des Kanzlers für wirtschaftliche Hilfsleistungen an die DDR und appellierte an die Solidarität der westdeutschen Bevölkerung. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Vogel wurde deutlicher, .diese Entscheidung bedeutet, daß die Mauer nach 28 Jahren ihre

22 Ebd., S. 89. 23 Horst Teltschik: 329 Tage. Innenansichten der Einigung, Genehmigte Taschenbuchausgabe, 1. Aufl., München 1993, S . l l . 24 Ebd., S. 13.

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Funktion verloren hat.' Das Ziel in der DDR, darin stimmten alle Fraktionen überein, müsse sein, durch freie Wahlen die Bereitschaft in der DDR zu bleiben zu stärken und die Übersiedlung zu stoppen. ,Alle diejenigen, die jetzt noch schwanken', rief der FDPAbgeordnete Mischnick aus,,bitte ich herzlich: bleibt daheim!' Dann erhoben sich die Abgeordneten und stimmten die Nationalhymne an."25 Als die Mauer fiel, war der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland auf Staatsbesuch in Warschau, den er nicht einfach unterbrechen konnte, ohne seine Gastgeber zu brüskieren. Er war gewissermaßen zur falschen Zeit am falschen Ort. Für die Polen war der Besuch von zentraler Bedeutung, wollten sie doch mit dem Kanzler vor allem die Grenzfrage zwischen Polen und Deutschland endgültig völkerrechtlich regeln, wozu Kohl jedoch nicht bereit war. Dies sollte in einem Friedensvertrag zwischen den alliierten Mächten und Deutschland geregelt werden. So konnte sich der Kanzler nur auf die gültigen Rechtspositionen des Warschauer Vertrages von 1970 beziehen, in dem die Bundesrepublik die Endgültigkeit der Oder-Neiße-Grenze de facto anerkannt hatte. Kohl steckte in einem Dilemma: Die Ereignisse erforderten seine Anwesenheit in Deutschland, doch wollte er auch die Gefühle seiner polnischen Gastgeber nicht verletzen. Mit Blick auf die internationalen Reaktionen, die nun folgen würden, nahm der Bundeskanzler auf einer Pressekonferenz aus Warschau zum Mauerfall Stellung. Auf die Frage eines Journalisten, wann die deutsche Einheit komme, erwiderte er, dass in diesen Stunden tatsächlich Weltgeschichte geschrieben werde. Er hätte keinen Zweifel gehabt, dass die Einheit Deutschlands einmal Wirklichkeit werde. Allerdings drehe sich das „Rad der Geschichte" 26 schneller als auch von ihm erwartet. Mit Schweigen reagierte dagegen die DDR-Führung. 2 7 Dies war beredt und unterstrich die eingetretene Verschiebung im Kräfteverhältnis zwischen Ostberlin und Bonn. Horst Teltschik notierte: „Ost und West, so erklärte der Kanzler, beobachteten jetzt genau, ob die Deutschen aus der Geschichte gelernt hätten. Deshalb gehe es jetzt darum, besonnen zu reagieren und sorgfältig auf die Sprache zu achten. Jetzt wird Weltgeschichte geschrieben', ruft der Kanzler aus. Zwar könne niemand einen Zeitpunkt für die deutsche Vereinigung benennen, aber ,das Rad der Geschichte dreht sich schneller'."28 A m nächsten Tag unterbrach der Kanzler seinen Polen-Besuch, um in Berlin und Bonn Gespräche mit dem amerikanischen und französischen Präsidenten, der englischen Premierministerin und dem sowjetischen Generalsekretär zu führen. 29 Mitten in den Wiedersehensfeiern an der innerdeutschen Grenze begannen auf internationaler Ebene die Verhandlungen über die Lösung der seit 1945 offenen deutschen Frage. War jetzt die Stunde für eine Gipfelkonferenz der vier Hauptsiegermächte des Zweiten Weltkrieges gekommen, die an ihrer Verantwortung für „Deutschland als Ganzes" in all den Jahrzehnten der Teilung gegenüber der DDR und der Bundesrepublik

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Hans-Hermann Hertie: Chronik des Mauerfalls, a. a. O., S. 244. Helmut Kohl: „Ich wollte Deutschlands Einheit", dargestellt von Kai Diekmann und RalfGeorg Reuth, Berlin 1996, S. 128. 27 „Krenz und Schabowski, Mielke, Keßler und Dickel hüllten sich in Schweigen." Hans-Hermann Hertie: Der 9. November 1989 in Berlin, a. a. O., S. 859. 28 Horst Teltschik: 329 Tage, a. a. O., S. 15. 29 Vgl. Bundesministerium des Innern (Hg.): Deutsche Einheit, a. a. O., S. 501 ff.

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festgehalten hatten, wie sie die Sowjetunion forderte? Oder musste die Bundesrepublik beteiligt werden, worauf Washington und Bonn bestanden? Die Vereinigten Staaten setzten gegenüber Frankreich und Großbritannien, die bereit waren, den sowjetischen Vorschlag zu akzeptieren, durch, dass die Bundesrepublik sofort in die westliche Antwort auf Gorbatschows Initiative einbezogen wurde. Damit war klar: Es würde keine alliierten Gipfelkonferenzen ohne die Westdeutschen geben - und schon am 10. November war die DDR kein Faktor mehr in der internationalen Politik.

Die Solidarnosc und die SED (2006)*

1. D e r Prolog 1976: Polen und die D D R Im August 1980 wurde auf den Werften an der polnischen Ostseeküste gestreikt. Das überbetriebliche Streikkomitee formulierte 21 Forderungen für die Verhandlungen mit der Regierungsdelegation. Eine Forderung verlangte die „Wiedereinsetzung in ihre früheren Rechte von Personen, die nach den Streiks von 1970 und 1976 entlassen wurden, und von Studenten, die wegen ihrer Uberzeugungen von den Universitäten verwiesen worden sind" 1 . Diese blutig niedergeschlagenen Ausstände und Demonstrationen der siebziger Jahre waren den Streikenden präsent und bildeten eine der Wurzeln für ihre Forderung nach unabhängigen, selbstbestimmten Gewerkschaften als Interessenvertretung der polnischen Arbeiter im realen Sozialismus. Als die Arbeiter 1976 für verbesserte Lebensbedingungen kämpften, berieten zur gleichen Zeit die Funktionäre der regierenden Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) auf dem Gipfeltreffen der europäischen Kommunisten in Ostberlin über eine gemeinsame Politik für „Frieden und Fortschritt" in Europa nach der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte. Diese Vereinbarung von Helsinki markiert eine Zäsur der europäischen Nachkriegsgeschichte. Auch die beiden deutschen Staaten unterzeichneten diesen Verhaltenskodex einer „antagonistischen Kooperation" im geteilten Europa auf Basis des Status quo. Die bestehenden europäischen Grenzen galten von nun an als unverletzlich, mit der Schlussakte sollte der Krieg als Mittel der Politik in Europa dauerhaft gebannt werden. Die Konfrontation im Systemgegensatz zwischen Ost und West sollte der Kooperation weichen. Die Sowjetunion hoffte, ihren machtpolitischen Status in Europa nun mit westlicher Zustimmung wahren zu können, dem Westen kam es dagegen vor allem darauf an, die ökonomischen und kulturellen Beziehungen im gespaltenen Europa zu verdichten und im Osten die Menschenrechte sukzessive durchzusetzen. Schon einen Monat nach den Arbeitskämpfen der polnischen Metallarbeiter vom Juni 1976 wurden viele Aktive für ihre Beteiligung vor Gericht gestellt und abgeurteilt. Die polnischen Kommunisten erlebten jedoch eine unerwartete Reaktion auf ihr Vorgehen: Polnische Intellektuelle und Künstler riefen zur Solidarität mit den Verfolgten auf und gründeten das „Komitee zur Verteidigung der Arbeiter" (KOR), das

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Überarbeiteter Vortrag zum Seminar der Stiftung Ettersberg „25 Jahre Solidarnosc - Aufstieg und Widerhall einer grenzüberschreitenden Oppositionsbewegung" am 3. September 2 0 0 5 in Jena. Die 21 Forderungen der Streikenden von Danzig, in: Armin Th. Dross (Hg.): Polen. Freie Gewerkschaften im Kommunismus? Reinbek bei H a m b u r g 1980, S. 95.

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Geld und Informationen sammelte, die Öffentlichkeit aufklärte, die gemaßregelten Arbeiter und ihre Familien unterstützte und ihre Verteidigung vor Gericht organisierte. 13 namhafte Intellektuelle forderten in einem Brief internationale Solidarität mit dem Kampf um die Rechte der Arbeiter Polens. 2 Jacek Kurons „Gedanken zu einem Aktionsprogramm" waren in diesem Kontext eine Kampfansage von grundsätzlicher Bedeutung: „In meinen Augen besteht die politische Opposition aus den Einzelnen, die tätig und willentlich dem totalitären System Widerstand leisten und die für eine Unabhängigkeit der Nation und des Staates kämpfen. Ich zähle dazu nicht diejenigen, die ausschließlich eine Unabhängigkeit des Staates erreichen wollen, ohne wie wir gleich dem totalitären System Widerstand zu leisten."3 Die Streiks der Arbeiter, die Solidarität der Intellektuellen und ihre organisatorische Zusammenarbeit waren Formen des Widerstandes, die Kurod auf alle Bereiche der polnischen Gesellschaft ausgedehnt wissen wollte. Er kannte aber auch die Grenzen und sah Risiken: „Das Ausmaß an Oppositionstätigkeit wird von der Reaktion der Gesellschaft einerseits und von der Bereitschaft der UdSSR zur militärischen Intervention andererseits bestimmt. Niemand kann wissen, wann der kritische Punkt erreicht ist, und sicher ist es besser, viel zu früh als nur einen Augenblick zu spät aufzuhören. Aber würde ein Verzicht auf Widerstand uns unter den gegenwärtigen Umständen vor einem Eingreifen bewahren? Ich bin mir darüber im Klaren, daß die Drohung sehr real ist, doch glaube ich, daß nicht die Stärke, sondern die Schwäche der Opposition zu einem Eingreifen führen kann."4 Parallel zu den Streiks in Polen und der von Kuron vorgelegten grundsätzlichen Kampfansage an die totalitäre Herrschaft der polnischen Kommunisten - mit dem Ziel ihres Sturzes - stimmten in Ostberlin auf der „Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien Europas" 29 Parteien über eine Erklärung ab, mit der sie sich auf eine gemeinsame Politik in Europa nach dem Helsinki-Abkommen einigten. Im Abschlussdokument begrüßten die Parteien den Sieg der vietnamesischen Kommunisten 1975, das Ende der faschistischen Diktaturen in Spanien und Portugal sowie die Fortschritte, „die auf dem Gebiet der Entspannung erzielt wurden" 5 . Damit umschrieben sie eine Verschiebung des internationalen Kräfteverhältnisses zu Gunsten der Kräfte des „Fortschritts", den sie in Europa durchzusetzen beabsichtigten. Es ging um eine Vertiefung des Entspannungsprozesses, den Kampf gegen atomare Rüstung, die Auflösung der Militärblöcke in Europa und die Durchsetzung der friedlichen Koexistenz auf dem Kontinent. Der Kampf für Abrüstung bezog sich auf Westeuropa, die Sowjetunion selbst begann im gleichen Zeitraum ihre Mittelstreckenraketen SS-20 zu stationieren, wovon jede mit drei atomaren Gefechtsköpfen

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Der Brief der Dreizehn, in: Jiri Pelikan/Manfred Wilke (Hg.): Menschenrechte. Ein Jahrbuch zu Osteuropa, Reinbek bei Hamburg 1977, S. 321 f. Jacek Kuron: Gedanken zu einem Aktionsprogramm, in: ebd., S. 269-288, hier S. 273. Ebd., S. 284. Dokument der Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien Europas, in: Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien Europas, Berlin, 29./30. Juni 1976, Berlin (Ost) 1976, S. 20 ff.

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ausgestattet war. „Die wichtigste Aufgabe der SS-20 war aber von Anfang an die der politischen Pression." 6 Die Konferenz selbst brachte keine großen Durchbrüche, schon die Geschäftsordnung war Ausdruck der Differenzierung unter den Parteien. Alle Reden der Parteivorsitzenden oder Generalsekretäre wurden übersetzt und in den europäischen Hauptsprachen veröffentlicht. Das Neue Deutschland musste die Reden publizieren, und so wurden auch die SED-Mitglieder mit den Urteilen westlicher kommunistischer Parteien über die Verhältnisse im sozialistischen Lager konfrontiert, die gemeinhin in der D D R unter Paragraph 106 „Staatsfeindliche Hetze" des Strafgesetzbuches fielen und mit Freiheitsstrafen bedroht waren. Der spanische Parteiführer Santiago Carrillo betonte beispielsweise, es gäbe in der kommunistischen Bewegung kein Führungszentrum mehr, das eine internationale Disziplin wie in der Vergangenheit verordnen könne. Selbstkritisch räumte er nach den Erfahrungen mit der spanischen Diktatur den Fehler der Kommunisten ein, die bürgerliche Demokratie abgewertet zu haben. Seine Konsequenz: „Und in keinem Falle, unter keinem gesellschaftlichen Regime, noch viel weniger im Sozialismus, akzeptieren wir den Gedanken ihres Abschaffens." 7 Der Vorsitzende der schwedischen Linkspartei-Kommunisten Lars Werner sprach sich für Organisations- und Meinungsfreiheit aus. E r forderte von Leonid I. Breschnew und den anderen Generalsekretären der regierenden Parteien, die Entstalinisierung ebenso fortzusetzen wie die Demokratisierung des politischen Systems. Eine solche Kritik an den herrschenden Zuständen in den Staaten des sowjetischen Imperiums sei nicht negativ, vielmehr Ausdruck seiner „Sorge um die Zukunft des Sozialismus" 8 . Dieses Gipfeltreffen der kommunistischen Parteien fand erstmals in Ostberlin statt und wurde von der S E D als eine weitere internationale Anerkennung der „Errungenschaften" und eine Stärkung des internationalen Ansehens der D D R interpretiert. Verglichen mit Polen schien die Lage hier stabil zu sein. Hermann Weber, aufmerksamer Chronist der D D R - G e s c h i c h t e , bemerkte hingegen 1986 rückblickend, dass die D D R in der zweiten Phase der Ära Honecker ab 1976 durch eine „erneute Krisenhaftigkeit gekennzeichnet" 9 war. E r zeichnete zugleich ein Bild der D D R , wie es sich vor 1989 in der politikwissenschaftlichen D D R - F o r s c h u n g der Bundesrepublik etabliert hatte: „Obwohl es der D D R gelang, unter die 10 größten Industriestaaten zu kommen, und sie damit den höchsten Lebensstandard aller kommunistisch regierten Staaten erreichte und obwohl es den meisten DDR-Bürgern besser ging als in früheren Perioden der Geschichte des zweiten deutschen Staates, war die Unzufriedenheit gestiegen. Das hing einmal damit zusammen, daß die von Honecker geweckten Hoffnungen sich nicht erfüllten, also Erwartungen und Realität auseinanderklafften. [...] Die Krise entzündete sich aber nicht an ökonomischen Schwierigkeiten. Honecker hatte für die D D R an der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in Helsinki teilgenommen und die Schlussakte unterschrieben, die auch menschliche Erleichterungen versprach. Als Folge von Helsinki vermehrten sich in der D D R die Forderungen nach Menschenrechten;

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Michael Ploetz/Hans-Peter Müller: Ferngelenkte Friedensbewegung? D D R und UdSSR im Kampf gegen den NATO-Doppelbeschluss, Münster 2004, S. 79. Protokoll der Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien Europas, Berlin, 29./30. Juni 1976, Berlin (Ost) 1976, S. 121. Ebd., S. 208. Hermann Weber (Hg.): D D R - Dokumente zur Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik 1945-1985, München 1986, S. 353.

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zahlreiche Bürger verlangten nun Ausreisemöglichkeiten. A n dieser Realität gingen die programmatischen Thesen der SED völlig vorbei." 1 0

Im Stile programmatischer Leerformeln unterrichtete Honecker die „Bruderparteien" über die Lage seines Landes, wobei als Bezugspunkt die Bundesrepublik unangesprochen präsent war: „Indem wir die Überlegenheit des Sozialismus über den Kapitalismus in der Praxis beweisen, leisten wir zugleich unseren Beitrag zur internationalen Stärkung des Sozialismus." 11 Die „Lebensatmosphäre" in der DDR sei bestimmt „von revolutionärem Optimismus und hoher gesellschaftlicher Aktivität" 12 . Den Kontrapunkt zu dieser Idylle setzte Robert Havemann, der auf die kritischen Stichworte der westeuropäischen Kommunisten, mit denen sie sich von den regierenden Kommunisten abgrenzten, nur gewartet hatte. Analog zu Kurod entwickelte Havemann ein demokratisches Aktionsprogramm für die DDR: 1. „Schrittweiser Abbau der Mauer; schrittweise Herabsetzung der Altersgrenze für Westreisen." Mit dieser ersten Forderung reagierte Havemann auf die für die innere Atmosphäre der DDR so drückende hermetische Abriegelung gegenüber Westdeutschland. Reise- und Ausreisefreiheit waren ein großes innenpolitisches Thema in der DDR, in dem sich die Spezifik der deutschen Teilung zeigte. 2. „Bildung eines Reisedevisenfonds für Auslandsreisen der DDR-Bürger, in dem alle Deviseneinnahmen aus dem Zwangsumtausch der Besucher aus der Bundesrepublik, aus West-Berlin und dem kapitalistischen Ausland eingezahlt werden." 3. „Generalamnestie für alle politischen Gefangenen einschließlich der Grenzverletzer." Diese Forderung deckte sich mit der der polnischen Opposition. 4. „Aufhebung des verfassungswidrigen Paragraphen 106 des Strafgesetzbuches der DDR über die staatsfeindliche Hetze [...] alle Urteile nach Paragraph 106 sind nachträglich zu kassieren, die Betroffenen müssen entschädigt werden." Die Meinungsfreiheit in der DDR wäre die Konsequenz dieser Abschaffung gewesen. 5. „Wiedereinführung des Streikrechts, daß in der ersten Verfassung der DDR noch garantiert war, in der zweiten, jetzt gültigen, jedoch nicht mehr vorkommt." 6. „Zulassung einer unabhängigen Zeitung, in der an Partei und Regierung und allen gesellschaftlichen Erscheinungen Kritik geübt werden kann." Auf diese Weise wollte Havemann die Meinungsfreiheit etablieren. 7. „Zulassung mehrerer, von der Nationalen Front und der SED unabhängiger Bewerber für jedes Volkskammermandat" sowie 8. die „Zulassung wenigstens einer unabhängigen Oppositionspartei." 13 Als dieser Text im Oktober 1976 im Westen erschien, wurde die Ausbürgerung Wolf Biermanns seitens der SED bereits vorbereitet und im November vollstreckt. Jürgen Fuchs und andere, die gegen diese Ausbürgerung protestierten, wurden verhaftet und über Havemann und seine Familie wurde ein Hausarrest verhängt. In der Erstfassung dieser Vorschläge zur Demokratisierung der DDR, die im August, wenige Wochen

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Ebd. Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien Europas, a. a. O., S. 218. Ebd., S. 212. Robert Havemann: Volksfront im Westen - Sozialismus im Osten: Ein Widerspruch?, in: ders.: Berliner Schriften, München 1977, S. 161-163.

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nach dem kommunistischen Gipfeltreffen erschienen, erhob Havemann n o c h zwei weitere Forderungen: „Aufhebung aller Verbote, die gegen das öffentliche Auftreten bestimmter Personen gerichtet sind. Aufhebung der Genehmigungspflicht für solche Veranstaltungen (unter diesen Bedingungen könnte Wolf Biermann in der D D R öffentlich auftreten), Veröffentlichung dieses Artikels im Neuen Deutschland - möglichst mit ausführlicher Entgegnung und Eröffnung einer fortlaufenden Diskussion politischer Probleme." 14 E r schloss seine Forderungen mit einer Frage: „Glauben die Anhänger des realen Sozialismus wirklich, dass bei Befolgung dieser Vorschläge der Sozialismus in der D D R in Gefahr geriete? J a , es mag unter ihnen einige Blinde geben, die das meinen." 1 5 In der zweiten Fassung fehlen diese Passagen, stattdessen postulierte er aus sozialistischer Perspektive einen tiefen unversöhnlichen Widerspruch zwischen dem realen Sozialismus im O s t e n und einer neuen, aber anderen „Volksfront" im Westen, die auf eine „Wiederherstellung der Einheit der Arbeiterbewegung" zielt. 1 6 Wie K u r o n grenzte er seine Position von der seiner Kritiker ab: „Von außerhalb bekomme ich zu hören: Du bist ein Phantast. Denkst Du, die werden das je mitmachen? Dann können sie gleich die Bude zumachen. Das ist einfach naiv, solche Demokratie hat es nie und nirgends gegeben und wird es nie und nirgends geben, und in der D D R am allerwenigsten. Und Du denkst, das würden die Russen erlauben? Mit solchen Vorschlägen machst Du uns das Leben schwerer, nicht leichter; uns ehrlichen Fortschrittlichen, die langsam und behutsam vorgehen wollen, zu den gleichen Zielen zwar, aber ohne sie ständig herauszuposaunen." 17 Havemann erkannte ebenso wie Kurori, dass vor der O p p o s i t i o n ein harter K a m p f lag, dessen Risiken ihm bewusst waren. D e r Unterschied zu Polen war deutlich: D o r t ging es um Souveränität und die Selbstbestimmung der N a t i o n , wie sie der polnische Historiker Adam M i c h n i k 1977 in seinen „Perspektiven der O p p o s i t i o n " als Ziele formulierte. E r war gewillt, mit seinen Mitstreitern den politischen Verhaltenskodex der K S Z E - S c h l u s s a k t e für E u r o p a in seinem Land zu testen, den die Volksrepublik Polen unterschrieben hatte. D i e Strategie, die M i c h n i k der Opposition vorschlug, war die „eines unaufhörlichen Kampfes um R e f o r m e n zu G u n s t e n einer Evolution, die die bürgerlichen Freiheiten vergrößert und die Beachtung der Menschenrechte garantiert" 1 8 . Havemann dagegen hoffte unbeirrt auf die Erneuerung des Sozialismus, die diesmal aus dem Westen durch eine neue „Volksfront" k o m m e n sollte. D i e „Blind e n " führten die S E D und mit der Ausbürgerung von Biermann und der Vertreibung kritischer Schriftsteller und Künstler aus der D D R stellten sie unter Beweis, mit ihnen würde es keine Demokratisierung geben. Was 1976 innenpolitisch in der D D R galt, erhob die S E D - F ü h r u n g 1980/81 auch gegenüber der Demokratiebewegung in Polen zur Handlungsmaxime ihrer Politik der Einmischung in die inneren Angelegenheiten des „Bruderlandes".

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Ders.: Der Sozialismus und die Freiheit, in: Europäische Ideen, Heft 24-25/1976, S. 37. Ebd. Vgl. ders.: Volksfront im Westen - Sozialismus im Osten, a. a. O., S. 151. Ebd., S. 163. Adam Michnik: Die Perspektive der Opposition. Eine Evolution der Freiheit, in: Jiri Pelikan/ Manfred Wilke (Hg.): Menschenrechte, a. a. O., S. 305.

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2. Das Danziger Abkommen 1980: ein „konterrevolutionärer Sieg" Auslöser für die Streiks der polnischen Arbeiter im Sommer 1980 waren die mangelnde Lebensmittelversorgung, unzumutbare Arbeitsbedingungen und die Erhöhung der Fleischpreise. Zum Zentrum dieser Bewegung wurde die von Arbeitern besetzte Danziger Lenin-Werft. Im Unterschied zu den Streiks von 1976 gab es diesmal dank des Streikkomitees unter Führung des Elektromonteurs Lech Walesa einen organisierten Arbeitskampf. Der 10-tägige Ausstand zwang die polnische Partei- und Staatsführung zu Verhandlungen mit dem Streikkomitee. Das „Danziger Abkommen" vom 31. August 1980 kodifizierte schließlich weitgehende Zugeständnisse der Regierung. Kuron hatte in seinen „Gedanken zu einem Aktionsprogramm" als Konsequenz der Streiks von 1970 und 1976 gefordert: „Bessern läßt sich die Lage der Arbeiter dadurch, daß sie frei ihre eigenen Vertretungen wählen, die vom Staat und der Partei unabhängig sind. Ebenfalls muß das Streikrecht gewährleistet sein."19 Das Abkommen entsprach der Strategie der Selbstorganisation der polnischen Gesellschaft, die Regierung musste die Zulassung einer unabhängigen Gewerkschaft zugestehen - der Solidarnosc. Die polnischen Arbeiter setzten somit ihre Organisationsfreiheit durch. Der DDR-Botschafter in Polen, Günter Sieber, kommentierte dieses Ergebnis: „[Damit] hat die Konterrevolution ihr Maximalziel der gegenwärtigen Phase voll erreicht. Mit diesen Gewerkschaften entstehen in der V R P [Volksrepublik Polen, M. W.] starke Brückenköpfe und legale konterrevolutionäre Basen, die den Ausgangspunkt eines weiteren Aufweichungsprozesses bilden können. Dieser Prozeß wird sich zunächst in der Erscheinungsform des Pluralismus in allen Hauptbereichen des gesellschaftlichen Lebens auswirken." 20

Der Diplomat wertete das Danziger Abkommen als eine „schwere Niederlage" 21 für die polnischen Kommunisten, eine Bedrohung ihrer ungeteilten Macht. Auf der Politbürositzung am 2. September 1980 gab Erich Honecker eine Lageeinschätzung zu Polen ab, die diesem Bericht folgte. Verfasst am Tag der Unterzeichnung des Danziger Abkommens, prägte Sieber bereits mit dem Schlüsselbegriff „Konterrevolution" die Wahrnehmung der Ereignisse. Besorgnis erregend sei zudem der Einfluss von außerparteilichen Gruppen wie dem KOR auf die Meinungsbildung in der PVAP.22 Die Zulassung der Solidarnosc und das Recht auf Streiks waren für das SED-Politbüro in einer sozialistischen Gesellschaft nicht tolerabel. Die zentralen Fragen für die SED waren erstens: Wird die Führungsrolle in der PVAP selbst noch gewollt und in der Gesellschaft noch anerkannt, und zweitens: Sind die polnischen Kommunisten noch willens, um die Macht zu kämpfen? Das Referenzmodell, an dem die SED ihre Politik gegenüber Polen entwickelte, war der Reformprozess in der Tschechoslowakei 1968. Aus Sicht der SED richtete sich in beiden Fällen der Hauptangriff der „antisozialistischen Kräfte" gegen die Partei und ihre hegemoniale Macht. Das zeigt die Analyse der Entwicklung in Polen, die

19 Jacek Kuron: Gedanken zu einem Aktionsprogramm, a. a. O., S. 275. 20 Günter Sieber: Die politische Entwicklung der VR Polen zwischen dem 4. und 5. Plenum des ZK der PVAP (Woche vom 24.-30.8.80) und die Lage am 31.8.1980. Bericht des Botschafters der DDR, Günter Sieber, in: Michael Kubina/Manfred Wilke (Hg.): „Hart und kompromißlos durchgreifen". Die SED kontra Polen 1980/81, Berlin 1995, S. 52. 21 Ebd. 22 Ebd., S. 55 f.

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der ZK-Apparat dem Politbüro Ende September vorlegte. D e r Bericht differenzierte zwischen Prag 1968 und Polen 1980: „Im Unterschied zur Lage in der CSSR im Jahre 1968, als die Partei von innen heraus zersetzt war und die Führung selbst zum Organisator der Konterrevolution wurde, ist die Taktik des Vorgehens anders. Hauptgewicht legen gegenwärtig die anti-sozialistischen Kräfte in der Volksrepublik Polen auf die Isolierung der Partei in der Gesellschaft, auf eine Trennung der Partei von ihrer sozialen Basis, der Arbeiterklasse, um dann in einer weiteren Etappe mit einem zunehmenden äußeren Druck auf die isolierte Partei deren innere Wandlung herbeizuführen."23 Die Strategie der polnischen Opposition war genau verstanden worden, wie auch folgende Passage belegt: „Die oppositionelle Plattform hat antisozialistischen Charakter, der mit Empirismus, Pragmatismus und Objektivismus verschleiert wird. Sie zielt auf eine langwierige, schleichende und stufenweise Aushöhlung der sozialistischen Ordnung in der Volksrepublik Polen ab." 24 Ein weiterer sensibler Punkt war die kritische Einstellung der Opposition zur „Friedenspolitik" der Sowjetunion: „Der Sowjetunion [werden] Handlungsweisen und Aktionen unterstellt, die faktisch für Polen und für die internationale Entwicklung verhängnisvoll sein könnten. Diese Argumentation der Verfasser des Materials richtet sich direkt gegen die gemeinsame, abgestimmte Linie und Aktion der sozialistischen Staaten zur Sicherung des Weltfriedens, zum Kampf gegen die imperialistische Aggressivität und zur Fortsetzung der Entspannung. Sie bereitet den ideologischen Boden vor für spätere weitergehende Forderungen nach Herauslösung Polens aus dem Warschauer Vertrag."25 Mit dem Begriff „Aktionen" umschrieben die SED-Funktionäre auch die Befürchtungen der polnischen Opposition, von einer militärischen Intervention der Sowjetunion und ihrer Verbündeten bedroht zu sein, um die polnische Selbstbestimmung zu unterdrücken. Keine Zweifel hatten die Ostberliner Parteiarbeiter daran, w o die Opposition weltpolitisch stand und wie sie die Grundfrage der europäischen Nachkriegsordnung beantwortete: „In der Ost-West-Konfrontation fühlt man sich dem Westen verbunden." 2 6 Nach dieser Lagebeurteilung entschloss sich die SED-Führung zur Intervention zum Schutz der kommunistischen Herrschaft in Polen. Erstens wollten sie jene Kräfte in der PVAP aktiv unterstützen, die die „Konterrevolution" im eigenen Land stoppen wollten und zweitens sollte in Abstimmung mit der sowjetischen Führungsmacht äußerer D r u c k auf die polnischen Kommunisten ausgeübt werden, sich der Machtfrage im eigenen Land zu stellen. Die S E D war willens, ihren Teilstaat und seine politische Ordnung offensiv in Warschau zu verteidigen.

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Analyse „Die Entwicklung der Volksrepublik Polen seit dem VI. Parteitag der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei", in: ebd., S. 75. Ebd., S. 82. Ebd. Ebd., S. 86.

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3. Die Alternative: Kriegsrecht in Polen oder Intervention von außen Ende September 1980 stimmte das SED-Politbüro Honeckers Vorschlag zu, „sich an Genossen L. I. Breschnew zu wenden mit dem Vorschlag, eine Beratung der Generalsekretäre bzw. Ersten Sekretäre der Bruderparteien der sozialistischen Länder zu aktuellen politischen Fragen durchzuführen" 27 . Damit forderte er nichts weniger als den offiziellen Konsultationsmechanismus im Ostblock nach dem tschechoslowakischen Muster von 1968 in Gang zu setzen, um über die polnischen Angelegenheiten „kollektiv" zu entscheiden. Ende Oktober hielt sich das für Agitation und Propaganda zuständige Politbüromitglied Joachim Herrmann in Moskau auf. Gegenüber einem sowjetischen Gesprächspartner gab er die Lagebeurteilung der SED zu Polen zu Protokoll: „Die Konterrevolution ist weiter auf dem Vormarsch. Unsere Meinung ist: Die Lage in Polen ist schlimmer als 1968 in der CSSR, schlimmer als unter Dubcek." 28 Herrmann war der Bote des SED-Generalsekretärs, er erläuterte, warum die DDR den visafreien Reiseverkehr nach Polen ausgesetzt hatte und übergab in Moskau einen für Breschnew bestimmten DDR-Film, der aus Mitschnitten westdeutscher Fernsehsender bestand und angeblich das „Drehbuch der Konterrevolution" 29 enthüllte. Herrmann lenkte die Aufmerksamkeit der sowjetischen Partei auf die Rolle der Bundesrepublik in dieser Krise und behauptete: „Die BRD war und ist das Zentrum der konterrevolutionären Einmischung von außen und der Aufputschung der Kräfte der inneren Konterrevolution in Volkspolen." 30 Die Stigmatisierung der Bundesrepublik als äußere Basis der polnischen „Konterrevolution" erinnerte an die SED-Propaganda gegen die tschechoslowakischen Reformkommunisten von 1968, als sie deren Programm als „Sozialdemokratisierung" der Kommunistischen Partei denunzierte und die Gefahr einer Einkreisung der DDR durch ein Bündnis der Reformkommunisten mit der Bundesrepublik beschwor. Mit dem Argument des drohenden westdeutschen Revanchismus hatte die SED 1968 aktiv zu dem Gefahrenszenario beigetragen, mit dem der sowjetische Einmarsch im Warschauer Pakt vorbereitet und gerechtfertigt wurde. 3 ' Honeckers Brief an Breschnew wurde erst zwei Monate später abgesandt,32 nachdem am 11. November das Oberste Gericht in Warschau die Gewerkschaft Solidarnosc zugelassen hatte, ohne dass diese die führende Rolle der PVAP in ihrer Satzung anerkennen musste. Dieser Schritt der polnischen Justiz war für die SED-Führung die letzte Bestätigung, für sie war ein Eingreifen von außen unausweichlich geworden. Honecker fasste am 20. November seine Enttäuschung über die nachgiebige Haltung der polnischen Führung gegenüber dem scheidenden Botschafter des Landes in der DDR, Stefan Olszowski, zusammen: „Ehrlich, auf eine solche Idee wäre ich nicht gekommen, [...] ohne Zweifel war dieser Kompromiß ein großer Rückschlag für alle,

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Protokoll Nr. 39/80 der Politbürositzung vom 30.9.1980, in: ebd., S. 72. Information über die Gespräche zwischen Genösse Joachim Herrmann und Genösse Μ. V. Zimjanin am 27. und 31.10.1980, in: ebd., S. 97. Ebd., S. 96. Ebd. Vgl. Lutz Prieß/Väclav Kural/Manfred Wilke: Die SED und der „Prager Frühling" 1968, Berlin 1996, sowie Jan Pauer: Prag 1968. Der Einmarsch des Warschauer Paktes, Bremen 1995. Brief E. Honeckers an L. Breschnew vom 26.11.1980, in: Michael Kubina/Manfred Wilke (Hg.): „Hart und kompromißlos durchgreifen", a. a. O., S. 122.

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die die Hoffnung hegten, daß Ihr selbst die Probleme meistert." 33 Er ließ in diesem Gespräch keinen Zweifel über die Lösung aufkommen, an die die SED dachte: „Wir sind nicht für Blutvergießen. Es ist das letzte Mittel. Aber auch dieses letzte Mittel muß angewandt werden, wenn die Arbeiter- und Bauernmacht verteidigt werden muß. Das sind unsere Erfahrungen aus dem Jahre 1953, das zeigen die Ereignisse 1956 in U n garn und 1968 in der Tschechoslowakei." 3 4

Diese großen inneren Krisen der Ostblockstaaten wurden in den SED-Dokumenten jener Zeit immer wieder thematisiert. Auffällig ist, dass die polnischen Krisen 1970 und 1976 nicht einbezogen wurden, kamen sie doch in ihrer Konfliktlösung ohne militärisches Eingreifen von außen aus. Nach der Politbürositzung am 25. November wurden die Ersten Sekretäre der SED-Bezirks- und Kreisleitungen darüber informiert, dass den Beteuerungen und Beschwichtigungen der polnischen Führung „zur Verteidigung der Errungenschaften des Sozialismus" keinerlei Glauben mehr zu schenken, dass das sozialistische Gesellschaftssystem in Polen akut gefährdet und die PVAP von der Solidarnosc unterwandert sei. Alle anderen Verbündeten stimmten mit dieser Einschätzung überein.35 Nach dieser parteiinternen Vorbereitung auf eine mögliche Intervention zum Schutz der „führenden Rolle" der Kommunisten in Polen, schickte Honecker seinen Brief an Breschnew, in dem er vorschlug, „kollektive Hilfemaßnahmen" zur Uberwindung der Krise auszuarbeiten. Von der polnischen Parteiführung selbst seien keine Beschlüsse mehr zu erwarten, die die Entwicklung „gründlich werden ändern können" 36 . In dieser Einschätzung wusste er sich einig mit dem bulgarischen und dem tschechoslowakischen Generalsekretär. Am 28. November tagte das SED-Politbüro an einem ungewöhnlichen Ort - in Strausberg, dem Sitz des DDR-Verteidigungsministeriums - und billigte dort den Redeentwurf für das geplante Treffen der Parteiführer am 5. Dezember in Moskau. Zur SED-Delegation gehörten Generalsekretär Honecker, Ministerpräsident Willi Stoph, der ZK-Sekretär für internationale Verbindungen Hermann Axen sowie die Generäle Heinz Hoffmann als Verteidigungsminister und Erich Mielke als Minister für Staatssicherheit. Diese Zusammensetzung korrespondierte mit der dramatisch zugespitzten militärischen Lage um Polen. Es gab ernsthafte Anzeichen, dass zu diesem Zeitpunkt auch die sowjetische Führung - oder zumindest ein Teil von ihr - den Standpunkt vertrat, allein ein militärisches Eingreifen könne die Entwicklung in Polen noch in gewünschter Weise ändern. Verschiedene Quellen, zu denen auch die Erinnerungen des damaligen PVAP-Chefs Stanislaw-Kania zählen, versichern, dass die Intervention der Warschauer Vertragsstaaten auf den 8. Dezember festgesetzt war. Ein Indiz hierfür waren massive Truppenverschiebungen und -konzentrationen um Polen, die der amerikanische Präsident Jimmy Carter zum Anlass nahm, Breschnew am 3. Dezember 1980 in einem persön-

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Vermerk über ein Gespräch des Generalsekretärs des ZK der SED [...], Erich Honecker, mit Stefan Olszewski, Botschafter der VRP in Ost-Berlin, am 20.11.1980, in: ebd., S. 108 f. Ebd., S. 111. Vgl. Information über die gegenwärtige Entwicklung in der Volksrepublik Polen, in: ebd., S. 115. Brief E. Honeckers an L. Breschnew vom 26. November 1980, a. a. O., S. 122.

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liehen Brief davor zu warnen, Gewalt anzuwenden, „um der polnischen Nation eine Lösung aufzuzwingen" 37 . Auch die Informationen der NVA-Führung an den Generalsekretär deuteten darauf hin, dass ein „Hilferuf" aus Warschau - wie 1968 aus Prag - in Verbindung mit der Verhängung des Kriegszustandes nicht ausgeschlossen war. Hoffmann gab persönlich eine Meldung des Militärattaches aus Warschau weiter, wonach „führende Genossen der PVAP die Meinung vertreten, daß eine Konfrontation mit der Konterrevolution immer unvermeidbarer werde und sie dabei Hilfe von außen erwarteten" 38 . Hierzu war die NVA bereit, sie traf konkrete militärische Vorkehrungen, um auf alle möglichen Szenarien der Entwicklung in Polen reagieren zu können. Am 1. Dezember flog der Chef der NVA-Landstreitkräfte, Generaloberst Horst Stechbarth, im Auftrag des Verteidigungsministers und unter strengster Geheimhaltung nach Moskau, um an einer „Einweisung in eine gemeinsame Ausbildungsmaßnahme der vereinigten Streitkräfte auf dem Territorium der VRP" teilzunehmen. Marschall Nikolaj Ogarkow, Chef des Generalstabes der Sowjetarmee, erläuterte „die Idee einer gemeinsamen Ausbildungsmaßnahme" den Armeen der UdSSR, DDR, Polens und der CSSR. In dem mit der höchsten Geheimhaltungsstufe versehenen NVADokument heißt es weiter, die nationalen Kommandos hätten ihre Bereitschaft bis zum 8. Dezember 1980, 00:00 Uhr, zur Teilnahme an der Übung herzustellen.39 Am 6. Dezember erließ Minister Hoffmann den entsprechenden Befehl über die Vorbereitung und Durchführung einer solchen „Ausbildungsmaßnahme der vereinigten Streitkräfte", der bis April 1982 in Kraft blieb.40 Dies stellt eine weitere Parallele zur Tschechoslowakei 1968 dar, denn auch hier wurde die Invasion durch das Manöver „Böhmerwald" der Warschauer-Pakt-Truppen im Juni/Juli vorbereitet.41 4. D i e M o s k a u e r Entscheidung für das Kriegsrecht 1980 Auf dem Gipfeltreffen der Generalsekretäre in Moskau am 5. Dezember teilte der Gastgeber Breschnew einleitend schon das Ergebnis mit: Es würde zu diesem Zeitpunkt keine Intervention von außen in Polen geben. Die Führung der PVAP solle mit Hilfe der Verhängung des Kriegszustandes ihre Chance bekommen, die „Konterrevolution" im eigenen Land niederzuschlagen. Die Entscheidung gegen ein militärisches Eingreifen war am Vorabend gefallen. General Wojciech Jaruzelski schreibt in seinen Erinnerungen: „Und dort, angesichts der festen Haltung von Kädär und Ceaujescu, die sich jeder militärischen Intervention des Paktes widersetzten, hatte Breschnew darauf verzichtet, seinen Plan in die Tat umzusetzen." 42 Jaruzelskis Bericht deckt sich mit den Positionen der Genannten im Protokoll der Moskauer Tagung. Eine bis heute nicht endgültig geklärte Frage ist, was letztlich den Ausschlag für diese Entscheidung gab. Das Angebot des polnischen Parteichefs Stanislaw Kania an die versammelten Ostblockführer, das Kriegsrecht

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Michael Kubina/Manfred Wilke (Hg.): „Hart und kompromißlos durchgreifen", a. a. O., S. 25. Brief von Verteidigungsminister H. Hoffmann an E. Honecker vom 30. November 1980, in: ebd., S. 135. Vgl. ebd., S. 27. Vgl. Erläuterungen: Geheime Kommandosache! GKdos-Nr. A: 265 991, in: ebd., S. 136 ff. Vgl. Jan Pauer: Prag 1968, a. a. O., S. 101 ff. Michael Kubina/Manfred Wilke (Hg.): „Hart und kompromißlos durchgreifen", a. a. O., S. 29.

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zu verhängen, kann nach bisheriger Sachlage nicht ausschlaggebend gewesen sein. Zumindest vermitteln die SED-Akten sehr deutlich den Eindruck, dass weder die KPdSU noch die SED den polnischen Kommunisten zu diesem Zeitpunkt noch ein entschlossenes Handeln zutrauten. Auf dem Gipfeltreffen erläuterte Kania diese Lösung: „Unter Leitung des Premiers arbeitet ein Stab, der v o m Politbüro geschaffen wurde, und dieser Stab bereitet eine ganze Reihe von verschiedenen Maßnahmen vor. [...] Wir haben laut Verfassung nur die Möglichkeit, den Kriegszustand zu verkünden. Vorbereitet wird auch eine Operation zur Verhaftung von besonders aktiven Funktionären der Konterrevolution." 4 3

Nur der rumänische Diktator Nikolae Ceauf escu sprach klar aus, worum es ging: eine mögliche militärische Intervention in Polen. Er, der sich 1968 nicht am Einmarsch in Prag beteiligt hatte und damals selbst eine sowjetische Intervention befürchtete, unterstützte Kania demonstrativ: „Ich möchte noch einmal betonen, daß von den polnischen Genossen alles getan werden muss - das ist ihre große internationale und nationale Pflicht - , u m durch eigene K r a f t den sozialistischen A u f b a u zu sichern. M a n darf auch nicht außer acht lassen, daß die Möglichkeit einer Intervention von außen eine große Gefahr für den Sozialismus insgesamt, für die Politik der Entspannung und für die Politik des Friedens bedeuten würde." 4 4

Mit seinen Worten verwies er mahnend auf die internationalen Rahmenbedingungen der polnischen Krise. Auch der ungarische Parteichef Janos Kädar warnte eindringlich vor den Folgen eines solchen Eingreifens auf der internationalen Ebene. Der tschechoslowakische sowie der bulgarische Generalsekretär und vor allem Breschnew selbst hielten dagegen die Interventionsoption offen, hofften aber noch auf eine polnische Lösung der Krise. Einzig für Honecker war die Entwicklung in Polen an einem Punkt angelangt, der keine Hoffnung mehr auf einen solchen Weg zuließ. Der SED-Generalsekretär belehrte zunächst die Runde über die Ursachen der polnischen Krise: „ M a n kann nicht übersehen, daß die Ereignisse in der V R Polen hauptsächlich die Folge des koordinierten Vorgehens der inneren und äußeren Konterrevolution sind. Sie sind Bestandteil des imperialistischen Kurses der Konfrontation und der verstärkten Diversion gegen die sozialistischen Länder. Wichtig ist, zu erkennen, daß die P V A P einem unversöhnlichen Feind gegenübersteht. U m die Konterrevolution zu schlagen, braucht man unseres Erachtens eine klare Konzeption, eine klare Linie der Partei von oben bis unten." 4 5

Nachdem er alle Kapitulationen der PVAP vor der inneren „Konterrevolution" aufgezählt hatte, war klar: Die SED glaubte nicht mehr an den Selbstbehauptungswillen der PVAP. Honecker unterstrich dies mit dem Hinweis, „[dass] wichtige Massenmedien der V R Polen von ,Solidarnosc' unterwandert und zu ihrem Sprachrohr wurden. D a ist dann bereits unverblümt die Rede v o m Verzicht auf

43 44 45

Stanislaw Kania, in: Stenografische Niederschrift des Treffens führender Repräsentanten der Teilnehmerstaates des Warschauer Vertrages am 5. Dezember 1980 in Moskau, in: ebd., S. 147 f. Nicolai Ceaujescu, in: ebd., S. 177 f. Erich Honecker, in: ebd., S. 168.

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Aufsätze 1991 bis 2006 die führende Rolle der Partei, von freier Marktwirtschaft und Konkurrenz, von ,freien Wahlen'. In wachsendem Maße wird mit Hilfe der Medien die,Abrechnung' mit solchen Kadern organisiert, die dem Sozialismus die Treue halten." 46

Weder auf das Kriegsrecht-Angebot Kanias noch auf mögliche Folgen einer Intervention für die Entspannungspolitik oder gar für die innerdeutschen Beziehungen ging er ein, sondern stellte kategorisch fest: „Wir sehen das ganze Ausmaß der Verantwortung, die auf der Führung der PVAP lastet. Aber wir haben auch eine Verantwortung vor unseren Völkern [...]. Sie rechnen damit, daß wir den polnischen Kommunisten helfen, über die Konterrevolution zu siegen. [...] Die Erwartungen, die in unserer Partei und in unserem Volk an diese Beratungen geknüpft werden, sind sehr groß." 47 O b w o h l Honecker die Chance einer innerpolnischen Lösung zweifellos skeptisch beurteilte, widersetzte er sich dieser Entscheidung nicht offen, sondern betonte nur noch einmal, dass in Polen „neben den politischen auch administrative Maßnahmen erforderlich sein werden, um die konterrevolutionäre Verschwörung zu zerschlagen und die Volksmacht zu stabilisieren" 4 8 . In dem vom Politbüro gebilligten Redeentwurf Honeckers ist zu lesen, was er schon wenige Wochen zuvor gegenüber dem polnischen Botschafter in der D D R ausgesprochen hatte: „Die Revolution kann sich friedlich oder nicht friedlich entwickeln, wie wir alle wissen. Blutvergießen ist für uns nicht das erste, sondern das letzte Mittel. Aber wenn die Arbeiter- und Bauernmacht auf dem Spiele steht, wenn sie vor konterrevolutionären Kräften geschützt werden muß, die bereit sind, aufs Ganze zu gehen, dann bleibt keine andere Wahl." 49 In seiner Moskauer Rede verzichtete Honecker auf das Wort „Blutvergießen", hier sprach er nur davon, dass keine Wahl mehr bliebe als der Einsatz der Machtorgane des Arbeiter- und Bauernstaates, wenn die „Volksmacht" auf dem Spiel stehe. „Das sind unsere Erfahrungen aus dem Jahre 1953. Das zeigen die Ereignisse von 1956 in Ungarn, über die Genösse Kädär sprach, und von 1968 in der C S S R . " 5 0 Die Gründe für die zögerliche Haltung der sowjetischen Führung im Dezember 1980 wurden in den Statements bestenfalls indirekt thematisiert. Einige Eckpunkte der internationalen Konstellation von damals liegen aber auf der Hand: 1. Seit Dezember 1979 war die Sowjetunion in Afghanistan in einen Partisanenkrieg verwickelt. 2. Die amerikanische Regierung bereitete eine Liste mit Sanktionen für den Fall einer Intervention in Polen gegenüber der Sowjetunion vor. Darüber kam es auch zum Streit mit der Bundesregierung, denn Bundeskanzler Schmidt lehnte eine solche Krisenplanung ausdrücklich ab. 3. D e r polnische Papst Johannes Paul II. war zu einem Faktor in der Auseinandersetzung in und um Polen geworden. Sein moralisch-politisches Gewicht musste der Kreml berücksichtigen.

46 47 48 49 50

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.

S. S. S. S.

169. 166 f. 169. 170.

Die Solidarnosc und die SED (2006)

257

4.

Das militärische Risiko der Operation beschrieb der O b e r k o m m a n d i e r e n d e der Vereinigten Streitkräfte des Warschauer Paktes, Sowjetmarschall V i k t o r Kulikow, gegenüber den N V A - G e n e r ä l e n H e i n z Keßler und Fritz Streletz: „Man m u ß bei der Einschätzung stets davon ausgehen, und der Wahrheit ins Auge sehen, daß ein Bürgerkrieg nicht ausgeschlossen ist." 5 1

5.

I m D e z e m b e r 1979 hatte die N A T O auf ihrer Jahrestagung den Doppelbeschluss hinsichtlich der Mittelstreckenraketen-Vorrüstung der Sowjetunion gefasst, der in seinem ersten Teil der Sowjetunion Verhandlungen mit dem Ziel anbot, ihre SS-20-Mittelstreckenraketen zu reduzieren. D e r zweite Teil kündigte die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Westeuropa, namentlich in der Bundesrepublik an, sollten diese Verhandlungen scheitern. A u f der Moskauer Tagung sprach Breschnew diese Problematik indirekt an, als er die Wahl von Ronald Reagan zum amerikanischen Präsidenten erwähnte und feststellte: „Es wird nicht leicht sein, die U S A auf den vernünftigen Dialog zurückzubringen, insbesondere zur Frage der Abrüstung." 5 2

D i e Interventionsdrohung gegenüber der polnischen Führung blieb als U l t i m a R a t i o bestehen. D e r bulgarische Generalsekretär T o d o r S c h i w k o w stellte klar, was nun von der polnischen Führung erwartet wurde, denn man lasse sich nicht weiter mit Versprechungen hinhalten: „Deswegen glauben wir, Polen muß entschlossen handeln und auch zu friedlichen und zu nicht friedlichen Mitteln greifen. [...] Wenn man das nicht tut [...], dann werden die polnischen Genossen überhaupt keinen Ausweg haben als den, an uns, an die Verbündeten, zu appellieren. Wir werden keinen anderen Ausweg haben, weder sie noch wir. Das würde sehr ungünstig sein, vielleicht die ungünstigste Variante des Schutzes des Sozialismus in Polen - ungünstig für Polen und ungünstig für uns alle." 53 Schiwkow benannte auch die Gefahr, die in Polen drohte: „Unserer Meinung nach besteht augenblicklich in Polen ein reales M o m e n t für die Änderung der Gesellschaftsordnung. Das sollen wir nicht unterschätzen!" 5 4 E r brach ein Tabu, als er diese Gefahr des Untergangs der sozialistischen Gesellschaftsordnung in Polen direkt ansprach. Es sollte n o c h ein Jahr vergehen, bis das Kriegsrecht, dass Kania in Moskau als Lösung der polnischen Krise zugunsten der P V A P angekündigt hatte, von seinem Nachfolger General Jaruzelski im D e z e m b e r 1981 ausgerufen wurde, bis die Solidarnosc verboten und ihre Führung inhaftiert wurde. 5. W a n n h a n d e l n d i e P o l e n ? F ü r die S E D blieb 1981 die Schlüsselfrage der Entwicklung in Polen: Wann handelt die P V A P ? Zunehmend stellte sie aber auch den Charakter der P V A P als k o m -

51

Zit. nach: Manfred Wilke/Reinhard Gutsche/Michael Kubina: Die SED-Führung und die Unterdrückung der polnischen Oppositionsbewegung 1980/81, in: German Studies Review, Arizona State University, No 1, Feb. 1994, S. 132. 52 Leonid I. Breschnew, in: Stenografische Niederschrift des Treffens führender Repräsentanten der Teilnehmerstaates des Warschauer Vertrages am 5. Dezember 1980 in Moskau, in: Michael Kubina/Manfred Wilke (Hg.): „Hart und kompromißlos durchgreifen", a. a. O., S. 140. 53 Todor Schiwkow, in: ebd., S. 156 f. 54 Ebd., S. 156.

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Aufsätze 1991 bis 2006

munistische Partei prinzipiell infrage. Den letzten Vorstoß zur Klärung unternahm Honecker im Mai 1981 während eines geheim gehaltenen Treffens mit Breschnew und Gustav Husäk, dem Generalsekretär der kommunistischen Partei der CSSR, in Moskau. Er setzte seine Gesprächspartner geradezu einem Trommelfeuer an Informationen über die aus SED-Sicht katastrophale Lage in Polen und der PVAP aus und forderte die Absetzung des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates, General Jaruzelski, sowie die Verschiebung des geplanten außerordentlichen Parteitages der PVAP. Honecker begründete diese Forderung mit der Gefahr, „daß die PVAP in eine sozialdemokratische Partei verwandelt wird, die eng mit der Führung der Kirche und der Solidarnosc zusammenarbeitet, mit dem einen Ziel, den Erneuerungsprozeß im Sinne der Ziele der Konterrevolution zum Siege zu führen." 55 Er schlug in Moskau die Therapie eines stalinistischen Kaders vor: „1. Die Rolle der Partei muß gestärkt werden. Das bedeutet - Säuberung der Partei - alle Mittel des Kampfes anwenden und nicht zulassen, daß der Feind weiter an Boden gewinnt. 2. Die gegenwärtige Führung der PVAP führt uns hinters Licht. Bei uns steht jetzt die Frage, wer könnte die Führung übernehmen? [...] 3. Ich bin nicht für ein militärisches Eingreifen, obwohl die Verbündeten laut Warschauer Vertrag das Recht dazu hätten. Richtig wäre, eine Führung zu schaffen, die bereit ist, den Ausnahmezustand zu verhängen, und entschieden gegen die Konterrevolution vorzugehen."56 Mit seinem Bezug auf das Recht der Verbündeten, militärisch in Polen einzugreifen, unterstrich er noch einmal, dass für die SED die Breschnew-Doktrin der begrenzten Souveränität der sozialistischen Staaten die Ultima Ratio der eigenen Staatsräson war. Darüber hinaus sah er die ernsthafte Gefahr einer kapitalistischen Einkreisung der DDR und der £ S S R durch Polen und die Bundesrepublik. Breschnew gab Honecker zwar Recht, dass „noch vor dem Parteitag etwas geschehen muß [...], doch die Hauptfrage ist das ,Wie'" 57 . Es wurde allerdings als sehr unwahrscheinlich eingeschätzt, den Parteitag im Juli noch verhindern zu können. Von Kania und Jaruzelski erhoffte man sich keine entscheidenden Schritte mehr, Breschnew stellte resigniert fest, das Hauptproblem liege darin, „daß man sich auf die jetzige Führung nicht verlassen kann, wir aber andererseits gegenwärtig keine reale Möglichkeit sehen, sie zu ersetzen. Wir müssen uns darüber Gedanken machen, wie wir geeignete Personen finden und auf außerordentliche Situationen vorbereiten."58 Nikolai Tichonow, der Vorsitzende des Ministerrates, betonte die Grenzen der eigenen Handlungsmöglichkeiten vor allem hinsichtlich eines militärischen Eingriffs: „Wir haben alle die gleiche Einschätzung, die Fakten stimmen überein. Auch wir verfügen über Informationen. ,Solidarnosc' hat jetzt sogar schon eine Bürgerwehr gebildet.

55 56 57 58

Vermerk über das Treffen der Genossen L. Breschnew, Erich Honecker und Gustav Husäk am 16. Mai 1981 im Kreml in Moskau, in: ebd., S. 275. Ebd., S. 279 f. Ebd., S. 283. Ebd., S. 285.

Die Solidarnosc und die SED (2006)

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Wie soll das weitergehen? Ein Eingreifen in der gegenwärtigen internationalen Lage geht nicht, darum muß der Widerstand der gesunden Kräfte aktiv unterstützt werden, aber diese gesunden Kräfte haben keinen herausragenden Führer."59 Die SED-Führung war in den nächsten Wochen und Monaten eifrig bemüht, solche Personen in der PVAP zu finden und jene „marxistisch-leninistischen" Kräfte in der PVAP zu sammeln, die in der Lage waren, Kania und Jaruzelski zu ersetzen ein vergebliches Bemühen, wie sich zeigen sollte. Der PVAP-Parteitag im Juli 1981 verlief wie von der SED befürchtet. Aus ihrer Sicht war die PVAP eine innerlich zerrissene Partei, die ihren kommunistischen Charakter verloren hatte. Der Parteitag „besiegelte einen Rechtsruck sowohl in den leitenden Organen als auch durch die verabschiedeten Dokumente" 60 . Einige von der SED-Führung unterstützte „Hoffnungsträger" wurden nicht in das Zentralkomitee gewählt und konnten somit auch dort keine „Wende zum Guten" herbeiführen. Im Oktober 1981 wurde Kania von General Jaruzelski an der Spitze der PVAP abgelöst. Die Sowjets sahen in diesem Führungswechsel den lang erwarteten ersten Schritt zur Niederschlagung der Solidarnosc und werteten diese Entwicklung auch als Ergebnis der eigenen Einflussnahme auf die PVAP-Führung. Honecker hielt eine solche Wende für überfällig, zumal im Herbst 1981 auch die wirtschaftlichen Auswirkungen der polnischen Krise für die D D R spürbar wurden. Der Ausfall von polnischen Steinkohlelieferungen und die Kürzung der Öllieferungen der Sowjetunion an die D D R verschärften ihre ökonomische Lage. Am 7. Dezember 1981 erhielt Honecker Informationen aus Polen, wonach in den kommenden Tagen mit entscheidenden Schritten gegen die Solidarnosc zu rechnen sei. Das PVAP-Politbüro habe auf seiner Sitzung am 5. Dezember Jaruzelski die Vollmacht erteilt, „nach eigenen Entschlüssen alles zu realisieren"61. In Ostberlin liefen gerade letzte Vorbereitungen für den zuvor bereits zweimal verschobenen Besuch von Bundeskanzler Helmut Schmidt in der D D R . Die SED-Führung scheute jedoch auch angesichts dieses Ereignisses nicht vor der Androhung einer militärischen Intervention durch die Warschauer Vertragsstaaten gegenüber Polen zurück. Der sowjetische Verteidigungsminister Marschall Dimitri Ustinow nutzte eine Routinesitzung des Komitees der Verteidigungsminister der Warschauer-PaktStaaten Anfang Dezember in Moskau, um überraschend den Entwurf einer Resolution zur Klärung der kritischen Lage in Polen zu präsentieren. Jaruzelski, der sich auf dieser Sitzung in seiner Eigenschaft als Verteidigungsminister Polens von seinem Stellvertreter vertreten ließ, habe Ustinow angeblich darum gebeten. Eine solche Erklärung, die dem offiziellen Pressekommunikee über diese Sitzung beigefügt werden sollte, hätte nach Lage der Dinge nur als Androhung einer Militärintervention gegen Polen verstanden werden können. Die Frage, ob die Intervention im Dezember 1981 für den Fall, dass die innenpolitische Lösung in Polen nicht gegriffen hätte, tatsächlich von der sowjetischen Führung ins Kalkül gezogen wurde oder ob sie ausschließlich als unterstützende Drohkulisse für Jaruzelskis Vorbereitungen zur Verhängung des Kriegszustandes 59 60 61

Ebd. Bericht der Delegation des ZK der S E D über den Außerordentlichen IX. Parteitag der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei vom 14.-20.7.1981, in: ebd., S. 324. Ergänzung zum Vermerk über das Gespräch von Genösse Ulimann mit Genösse Atlas vom 4.12.1981, in: ebd., S. 391.

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A u f s ä t z e 1991 bis 2006

gedacht war, kann auf Basis der SED-Dokumente nicht beantwortet werden. Der Bericht von Verteidigungsminister Hoffmann an Honecker vermerkt ausdrücklich, dass der Textentwurf vom Konferenzort aus mit den jeweiligen Generalsekretären abgestimmt wurde. Die Erklärung kam jedoch nicht zustande, da sie von dem ungarischen und dem rumänischen Minister und ihren Generalsekretären blockiert wurde. Nachdem auch ein zweiter Entwurf am Widerstand der Ungarn und Rumänen scheiterte, verzichteten die Verteidigungsminister am Ende ganz auf eine die Lage in Polen betreffende Erklärung. 62 Am 10. Dezember 1981 erhielt Honecker aus Warschau die Nachricht über die unmittelbar bevorstehende Verhängung des Kriegsrechts. Nach den vorliegenden Informationen soll die Entscheidung Jaruzelskis vor allem auf ein Gespräch mit Marschall Kulikow zurückzuführen sein, der sich seit dem 7. Dezember mit einem Arbeitsstab in Warschau aufhielt. Verteidigungsminister Hoffmann teilte Honecker mit, dass bis zum 15. Dezember mit der Verhängung des Kriegszustandes zu rechnen ist. Das SED-Politbüro begrüßte diese Entwicklung. Noch in der Nacht vom 12. zum 13. Dezember wurden die Teilstreitkräfte und die DDR-Grenztruppen in erhöhte Führungsbereitschaft versetzt. Es wurde gemeldet: „Für den möglichen Ubergang zur verstärkten Sicherung der Grenze nach Polen sind seit dem 13.12.81 alle erforderlichen Vorbereitungsmaßnahmen abgeschlossen worden." 63 6. Polen und die deutsch-deutsche Verantwortung für den Frieden Das Treffen zwischen Bundeskanzler Schmidt und Generalsekretär Honecker fand planmäßig statt. Als Honecker den Gast am 12. Dezember 1981 empfing, wusste er bereits, dass die Verhängung des Kriegszustandes in Polen nur noch eine Frage von Stunden war. Am Morgen des 13. Dezember setzten die Delegationen ihre Besprechungen fort. Der Bundeskanzler ging in seinem Schlusswort kurz auf die polnische Entwicklung ein und stellte fest, dass Polen nur ein Mosaikstein im Bild der schwierigen politischen Lage in Europa sei und die Gefahr bestünde, „daß sich aus Polen Entwicklungen ergeben, die uns beide stören und in Mitleidenschaft ziehen können". Umso wichtiger sei es, „daß sich die obersten Repräsentanten der beiden deutschen Staaten hier in einer solchen Atmosphäre getroffen haben" 64 . Honecker hatte am Vortag davon gesprochen, die deutsch-deutschen Beziehungen seien besser als ihr Ruf und es liege nicht im Interesse beider deutscher Staaten, „daß unser Kontinent wieder in den Kalten Krieg, geschweige denn in einen heißen Krieg gestürzt wird" 65 . Solche Äußerungen des SED-Generalsekretärs suggerierten der Bonner Delegation, die D D R beteilige sich in den gespannten Ost-West-Beziehungen im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um die SS-20-Raketen und den N A T O Doppelbeschluss an einer von der Bundesregierung angestrebten deutsch-deutschen Verantwortungsgemeinschaft für den europäischen Frieden. Honeckers Wortwahl stimmte auch mit der damals üblichen Friedensrhetorik der D D R gegen den N A T O -

62 63 64 65

Vgl. Bericht über die wichtigsten Ergebnisse der 14. Sitzung des Komitees der Verteidigungsminister der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages in Moskau, in: ebd., S. 387 ff. Zit. nach: ebd., S. 46. Zit. nach: Manfred Wilke et al.: D i e S E D - F ü h r u n g und die Unterdrückung der polnischen O p positionsbewegung 1980/81, a. a. O., S. 141. Ebd.

Die Solidarnosc und die S E D (2006)

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Doppelbeschluss überein, in der sich die D D R zum deutschen Friedensstaat stilisierte. Bezogen auf die SED-Interventionspolitik gegen die polnische Selbstbestimmung waren diese Sätze der blanke Hohn. Schmidt hat in seinen 1990 veröffentlichten Erinnerungen den Morgen des 13. Dezember 1981 beschrieben, als ihn die „bedrückende Nachricht von der Verhängung des Kriegsrechts in Polen" ereichte: „ H o n e c k e r und ich sprachen beim Frühstück darüber, ehe ich zur Pressekonferenz mit westdeutschen Journalisten fuhr, die sich in großer Zahl in der Uckermark eingefunden hatten. Honecker war offensichtlich betroffen über die Nachricht, die zu diesem Zeitpunkt noch kurz und unvollständig war. Wahrscheinlich war er jedoch auch erleichtert, daß von einem Eingreifen sowjetischer Truppen keine Rede war. Dies bedeutete jedenfalls eine große Erleichterung für mich. Im Falle einer sowjetischen Intervention wäre Honecker gezwungen gewesen, dies öffentlich zu begrüßen - wenn nicht mehr." 6 6

Die von Schmidt beobachtete Betroffenheit Honeckers kann sich aber nicht auf Polen bezogen haben - was geschah, geschah schließlich in seinem Sinne. Die innerpolnische Lösung war für Bundeskanzler Schmidt das kleinere Übel, denn, falls sich bei einer Intervention der Warschauer-Pakt-Staaten die D D R - „ob freiwillig oder von Moskau gezwungen" - an einer solchen Gewaltanwendung gegen Polen beteiligt hätte, wäre der „Prozeß der Entfaltung gutnachbarlicher Beziehungen zwischen Bonn und Ost-Berlin mit Sicherheit auf längere Zeit unterbrochen worden. Auf dieses Risiko hin war ich an den Werbellin-See gefahren." 67 Schmidt betonte, Honecker habe gewusst, dass er die Lösung der deutschen Frage nicht für ein Thema der achtziger Jahre hielt. In dieser Konstellation war es bundesdeutsche Staatsräson, den erreichten Stand der innerdeutschen Beziehungen möglichst stabil zu halten. Der Ablauf des Treffens und vor allem die Tatsache, dass der Bundeskanzler nicht vorzeitig abreiste, nutzte die SED zur Selbstprofilierung im sowjetischen Imperium. In einer im ZK-Sekretariat von Hermann Axen vorgefundenen Einschätzung des Treffens heißt es, die SED habe gehofft, es werde die „Differenzierung zwischen Westeuropa und den USA erweitern": „ D a s Treffen hat sich unmittelbar als direkte H i l f e für die V R Polen erwiesen. D i e Tatsache, daß Substanz und A t m o s p h ä r e der Verhandlungen mit Genossen E . Honecker es Kanzler Schmidt nicht ratsam erscheinen ließen, den Besuch abzubrechen, hat für andere kapitalistische Mächte am entscheidenden 13. D e z e m b e r wie eine politische Initialzündung gewirkt. Die Haltung von Schmidt hat dazu beigetragen, daß vorläufig keine einheitliche Front der U S A , Westeuropas und Japans gegen die V R Polen, die U d S S R und die sozialistische Gemeinschaft zustande gekommen ist. [...] D a s Treffen hat dem Militärrat Volkspolens einen nicht zu unterschätzenden Zeitgewinn ermöglicht." 6 8

Heute wissen wir: Der Zeitgewinn endete für die PVAP 1988 durch Selbsteinsicht und für die SED mit Nachhilfe der friedlichen Revolution 1989.

66 67 68

Helmut Schmidt: Die Deutschen und ihre Nachbarn. Menschen und Mächte II, zit. nach TBAusgabe, ohne Ort 1992, S. 85. Ebd., S. 96. Zit. nach: Manfred Wilke et al.: Die SED-Führung und die Unterdrückung der polnischen Oppositionsbewegung 1980/81, a. a. O., S. 141.

262 7.

Aufsätze 1991 bis 2 0 0 6

Fazit

Die SED-Führung wusste, dass die Herrschaft der Kommunisten in Polen mit der Unterschrift der polnischen Regierung unter das Danziger Abkommen existenziell bedroht war. Der Parteiapparat in Ostberlin interpretierte die Strategie der polnischen Opposition, wie sie in den Texten von Kuron und Michnik formuliert wurde, zutreffend als offenes Bestreben, einen Systemwechsel in Polen herbeizuführen. Daraufhin forderte die SED von der polnischen Parteiführung entschlossenes Handeln gegen diese „konterrevolutionäre" Gefahr, musste aber erleben, dass die PVAP immer wieder zurückwich und im Sommer 1981 zunehmend ihren Charakter als kommunistische Partei verlor. Die SED ihrerseits war entschlossen, die kommunistische Herrschaft in Polen auch mit den Mitteln der militärischen Intervention von außen und unter Berufung auf die Breschnew-Doktrin zu stabilisieren. Die NVA beteiligte sich als Koalitionsarmee des Warschauer Paktes aktiv an der Vorbereitung eines groß angelegten Manövers in Polen unter Beteiligung der sowjetischen und der tschechoslowakischen Armee. Angesichts der internationalen Lage entschied die sowjetische Führung jedoch, diesen Schritt in Polen 1980 nicht zu wagen. Die Interventionspolitik der S E D war die eines Vasallenstaates, der auf die Entscheidungen der sowjetischen Zentrale angewiesen war und von ihnen abhing. Dies schränkte die Handlungsfreiheit Honeckers erheblich ein, ändert aber nichts an der von ihm bekundeten Bereitschaft, die polnische Krise mit militärischer Gewalt unter Einbeziehung von DDR-Truppen zu lösen.

Die SED-Gründung und ihre Bedeutung fur die deutsche Teilungsgeschichte (2006)

Einleitung: Die unhistorischen Siege der Kommunisten Die Siege der Marxisten-Leninisten waren nach ihrer eigenen Theorie „unhistorisch": „Sie scheiterten, wo sie ihrer Meinung nach hätten siegen müssen, und sie siegten, wo sie hätten scheitern müssen. Mehr noch: Oft wurden sie geschlagen, wenn sie ,historisch' handelten; und oft, wenn sie ,unhistorisch' handelten, siegten sie. Das revolutionäre Auftreten von Industrie-Proletariern endete mit einer Niederlage nach der anderen, von Hamburg bis Shanghai."1 Diese These von Zbigniew K. Brzezinski bezog sich zwar auf die originären kommunistischen Revolutionen in Russland 1917, in China 1949 und in Jugoslawien 1945. Sie ist aber auch auf die deutschen Kommunisten übertragbar, die nach dem Zweiten Weltkrieg nicht aus eigener Kraft die Macht in einem deutschen Teilstaat eroberten. Sie war das Ergebnis des sowjetischen Sieges, die Besatzungsmacht entschied, die K P D als Okkupationspartei zu nutzen. In der sowjetischen Nachkriegspolitik in Bezug auf Deutschland müssen zwei Ebenen analytisch getrennt werden, denen unterschiedliche Ziele im strategischen Entwurf zugeordnet waren: Auf der ersten Ebene trat die Sowjetunion den Westmächten in der Anti-Hitler-Koalition entgegen, auf der zweiten erteilte das K P d S U Politbüro den exilierten Moskauer KPD-Kadern den Auftrag, die Partei neu zu gründen, um in der S B Z mit dem Aufbau eines neuen deutschen Staates zu beginnen. 2 Diese beiden Ebenen sowjetischer Politik griffen bei der SED-Gründung ineinander, die im Prozess der deutschen Teilung eine Zäsur darstellt. Den Zeitgenossen und Akteuren des Vereinigungsprozesses von K P D und S P D waren diese beiden Ebenen bewusst, wie die Bewertung der SED-Gründung durch den Sozialdemokraten Gustav Dahrendorf 1946 zeigt. Für ihn war die Vereinigung der beiden Arbeiterparteien „eine Zwangsvereinigung, eine Zerstörung der Sozialdemokratischen Partei" 3 .

1 2 3

Zbigniew K. Brzezinski: Der Sowjetblock. Einheit und Konflikte, Harvard 1960, Köln/Berlin 1962, S. 5. Vgl. Michael Kubina: Der Aufbau des zentralen Parteiapparates der K P D 1945-1946, in: Manfred Wilke (Hg.): Anatomie der Parteizentrale. Die K P D / S E D auf dem Weg zur Macht, Berlin 1998, S. 49-118. Gustav Dahrendorf: Die Zwangsvereinigung der kommunistischen und der sozialdemokratischen Partei in der russischen Zone, in: ders.: Der Mensch, das Maß aller Dinge, hrsg. von Ralph Dahrendorf, Hamburg 1955, S. 119.

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Aufsätze 1991 bis 2006

Im Vier-Zonen-Deutschland war die SED-Gründung 1946 nur mit Zustimmung der sowjetischen Besatzungsmacht möglich, für Dahrendorf war sie „ein wesentliches Teilstück der staatspolitischen Konzeption Sowjetrusslands [...]. Das russische Interesse an der Vereinigung wurde bereits deutlich durch die fortgesetzte Einmischung russischer Kommandostellen in allen Teilen der russischen Besatzungszone."4 In den folgenden Jahrzehnten fokussierte sich die Debatte unter Historikern auf die Frage, ob es tatsächlich eine Zwangsvereinigung war. In den Vordergrund rückten die deutschen Akteure des Prozesses, das Eingreifen der Sowjetischen MilitärAdministration in Deutschland (SMAD) zu Gunsten der Kommunisten erschien in den Darstellungen vorrangig als Hilfe für die KPD. Der Streit um die Zwangsvereinigung ist mittlerweile geklärt, wie das Urteil Hermann Webers zeigt: „Von der DDR-Geschichtsschreibung wurde stets behauptet, die SED-Gründung sei eine .freiwillige Vereinigung' von SPD und KPD gewesen. [...] Doch bei einer generellen Einschätzung bleibt Zwangsvereinigung der richtige Begriff. Er macht klar, daß es für die Sozialdemokraten in der SBZ damals keine Alternative gab [...] und sie wurden schließlich mit Zwang in die .Einheitspartei' gepreßt, ob sie wollten oder nicht. Genau genommen müßte der noch schärfere Begriff .Zwangs- und Betrugsvereinigung' benutzt werden. 1945/46 haben die Kommunisten ihre Ziele - Vernichtung der sozialdemokratischen Konkurrenz und Ausbau der stalinistischen Diktatur - nämlich vertuscht und verschleiert."5 Die Gründung erfolgte mit Billigung Stalins, schreibt Weber6 und nimmt hier eine entscheidende Perspektiwerschiebung in der Wahrnehmung des historischen Sachverhalts vor: Die Vereinigung von KPD und SPD wird primär als Auseinandersetzung zweier deutscher Parteien rezipiert, während die Interessen und Entscheidungen der sowjetischen Besatzungsmacht in ihrer Deutschlandpolitik den Charakter von Rahmenbedingungen annehmen. Zur Konsolidierung der SBZ war aus Sicht der sowjetischen Politik eine Festigung der Macht der KPD notwendig. Dies wiederum stand im Zusammenhang mit der Konsolidierung des durch den Zweiten Weltkrieg gewonnenen Imperiums in Ostmitteleuropa. Die SED wurde jedoch nicht allein für die SBZ gegründet, und die Tatsache, dass die westlichen Besatzungsmächten im Kontrollrat ihre Westausdehnung blockierten, zeigt auch: Dieser inneralliierte Konflikt um die Einheitspartei gehört bereits zum Prolog des Kalten Krieges in und um Deutschland. Es war eine sowjetische Entscheidung, die „Moskau-Kader" 7 der KPD zum Aufbau einer zuverlässigen deutschen Verwaltung in der SBZ einzusetzen, um der wiedergegründeten KPD sukzessive Regierungsmacht zu übertragen. Dieser Neuanfang der KPD als „staatsaufbauende Partei" 8 in der SBZ war eine direkte Folge der Vier-Mächte-Kontrolle über das vom Nationalsozialismus befreite und gleichwohl besiegte Deutschland. Die Besatzungsmächte hatten sich zwar auf einen Alliierten Kontrollrat für Gesamtdeutschland geeinigt, aber sowohl die Sowjetunion als auch

4 5 6 7 8

Ebd. Hermann Weber: Geschichte der DDR, München 1999, S. 71 f. Ebd., S. 72. Vgl. Peter Erler: „Moskau-Kader" der KPD in der SBZ, in: Manfred Wilke (Hg.): Anatomie der Parteizentrale, a. a. O. Vgl. Franz Dahlem: Die Organisationspolitik der Partei, in: Bericht über die Verhandlungen des 15. Parteitages der Kommunistischen Partei Deutschlands, 19./20. April 1946, Berlin 1946, S. 64.

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die Vereinigten Staaten bestanden darauf, dass ihre jeweiligen Befehlshaber der Militärverwaltungen das unbestrittene Verfügungsrecht über deutsche Politik in ihrer Besatzungszone ausübten und Entscheidungen des Kontrollrates nur im Konsens getroffen werden konnten. 1. S o w j e t i s c h e S t a a t s r ä s o n u n d I n t e r e s s e n s p h ä r e n p o l i t i k 1.1 Sowjetische Staatsräson und internationaler K o m m u n i s m u s U m die S E D - G r ü n d u n g in ihren historischen Kontext einzuordnen, muss sie mit einer Analyse des sowjetischen Staats Verständnisses einerseits sowie mit den sich im L a u f e des Deutsch-Sowjetischen Krieges wandelnden Vorstellungen der sowjetischen Führung zur Deutschlandpolitik andererseits verbunden werden. D a s Augenmerk liegt dabei auf den politischen Entscheidungsprozessen der beiden genannten Ebenen sowjetischer Politik und ihrem Ineinandergreifen in den sich ändernden Konstellationen des Krieges bis hin zur S E D - G r ü n d u n g . D e r Aufstieg Jossif W. Stalins v o m Generalsekretär der sowjetischen Partei z u m Despoten erfolgte nach dem Scheitern der weltrevolutionären Vision der bolschewistischen Partei 1923 in Deutschland 9 und war verbunden mit der von ihm vertretenen These: O b w o h l die kommunistischen Parteien in Ungarn und Deutschland vergeblich versucht hätten, dem bolschewistischen Beispiel zu folgen, müssten die sowjetischen Kommunisten keineswegs aufgeben. Der A u f b a u des Sozialismus könne auch in einem Land erfolgen. U m dieses Ziel zu erreichen, müsse die Partei die ungeteilte Macht über den Sowjetstaat ausüben, den die Kommunisten primär als repressiven Klassenstaat, als „Diktatur des Proletariats" verstanden. N a c h 1938 zentralisierte Stalin die Partei- und Staatsfunktionen, er selbst vereinigte die Funktion des Ministerpräsidenten mit der des Parteichefs und verband damit in seiner Person symbolisch die sowjetische Staatsräson mit dem Parteiprogramm der K P d S U als führender Partei der kommunistischen Weltbewegung. Bis Ende der dreißiger Jahre war ein auf die Person Stalins zentriertes Entscheidungssystem installiert, das bis zu dessen Tod 1953 erhalten blieb. Als Stalin nach dem Tod des Staatsgründers Lenin 1924 das Regelwerk der totalitären Diktatur der Partei dekreditierte und seine innerparteilichen Gegner ausgrenzte, um sie später zu liquidieren, war der Staat Sowjetunion weltpolitisch isoliert. Allein die Parteien der 1919 gegründeten Kommunistischen Internationale (Komintern) sahen es als ihre oberste Pflicht an, die Sowjetunion zu verteidigen. 1928 beschloß der VI. Weltkongress der Komintern ein neues Programm, in dem diese Pflicht für alle kommunistischen Parteien festgeschrieben wurde: „Die Sowjetunion ist das wahre Vaterland des Proletariats, die festeste Stütze seiner Errungenschaften und der Hauptfaktor seiner internationalen Befreiung; das verpflichtet das internationale Proletariat, dem sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion zum Erfolg zu verhelfen und das Land der proletarischen Diktatur mit allen Mitteln gegen die Angriffe der kapitalistischen Mächte zu verteidigen." 10

9 10

Vgl. Otto Wenzel: 1923. Die gescheiterte deutsche Oktoberrevolution, Berlin 2003. Vgl. Programm der Kommunistischen Internationale, angenommen auf dem VI. Weltkongress vom 1. September 1928, Hamburg/Berlin 1928, S. 69.

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A u f s ä t z e 1991 bis 2006

Mit Stalins These vom Aufbau des Sozialismus in einem Land korrespondierte 1925 der Umbau der Komintern zur „Weltpartei des Leninismus", der die nationalen kommunistischen Parteien zu deren Bolschewisierung führte, die wiederum in ihrer Stalinisierung endete. Webers Untersuchung dieses Prozesses in der KPD mündet in der Erkenntnis, die Bolschewisierung sei gleichbedeutend mit der Installierung der innerparteilichen Diktatur des Apparates. Dies war der Kern der leninistischen Parteikonzeption, die sie von sozialdemokratischen Auffassungen der deutschen und westeuropäischen Arbeiterbewegung unterschied." Insgesamt ging es der Komintern um zuverlässige Parteiapparate, mit deren Hilfe sie die Organisation der nationalen Arbeiterbewegung ihrer ideologisch-apparativen Hegemonie unterwerfen wollte. Die Bolschewisierung der KPD war auch die folgenreichste Zäsur in der Geschichte des deutschen Kommunismus. Durch diese „Wandlung" entstand eine Schicht hauptamtlicher Funktionäre, die von den Parteimitgliedern nicht mehr kontrolliert werden konnte und deren Loyalität auf die Moskauer Zentrale ausgerichtet war. Diese innerparteiliche Kaste von Bürokraten, die sich als „proletarische Internationalisten"12 verstand, war auch materiell und in ihrem beruflichen Aufstieg abhängig von ihrer Loyalität gegenüber der sowjetischen Politik, die ihr über die Komintern vermittelt wurde. Alle führenden KPD-Kader nach 1945 gehörten zu dieser Kaste stalinistischer Bürokraten aus der KPD vor 1933, die nicht nur Hitlers Verfolgungen, sondern auch die Kommunistenverfolgung Stalins im sowjetischen Exil überlebt hatten. Georgi Dimitroff zählte als Generalsekretär der Komintern zur erweiterten Führung und sollte 1943 die Internationale auch nach außen auflösen. Seine Tagebücher enthalten interne Beschlüsse, die mit Stalin und seinem Politbüro beraten wurden, in welcher Form die „Anleitung" ausländischer kommunistischer Parteien durch die sowjetische in Kontinuität zur Komintern fortgeführt werden sollte: Erstens hatte „die Registrierung der Kader der kommunistischen Parteien [...] im ZK der KPdSU (B) zu erfolgen" 13 und zweitens wurde bei Stalin am 12. Juni 1943 im Zusammenhang mit der Bildung des deutschen antifaschistischen Komitees „Freies Deutschland" beschlossen, „ i m Z K der K P d S U ( B ) eine spezieile A b t e i l u n g Internationale I n f o r m a t i o n einzurichten, der die F ü h r u n g der antifaschistischen K o m i t e e s , der illegalen nationalen R u n d f u n k s e n d u n g e n und der V e r b i n d u n g e n mit d e m A u s l a n d obliegt. [ D a m i t ] die F e i n d e nicht die Tatsache a u s n u t z e n k ö n n e n , daß D i m i t r o f f dieser A b t e i l u n g vorsteht, w u r d e b e s c h l o s sen, S c h t s c h e r b a k o w als Abteilungsleiter, D i m i t r o f f u n d M a n u i l s k i als Stellvertreter einzusetzen. D i e s e r Beschluß sei nicht z u v e r k ü n d e n , u n d die A r b e i t der A b t e i l u n g sei intern z u organisieren u n d z u f ü h r e n . " 1 4

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Vgl. Hermann Weber: Die Wandlung des deutschen Kommunismus. Leninisierung der K P D in der Weimarer Republik, 2 Bde., Frankfurt am Main 1969. Der Kern des marxistisch-leninistischen Schlüsselbegriffs „proletarischer Internationalismus" bestand in der Treue der Kommunisten zur Sowjetunion. So definierte die S E D dieses Grundprinzip der Ideologie und Politik der marxistisch-leninistischen Partei noch 1982. - Vgl. Herausgeberkollektiv Rolf Schönefeld: Wörterbuch des wissenschaftlichen Kommunismus, Berlin (Ost) 1982, S. 311. Bernhard H . Bayerlein (Hg.): Georgi Dimitroff: Tagebücher 1933-43, 2 Bde., Bd. 1, Berlin 2000, S. 702. Ebd., Bd. 1, S. 708.

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Die Kaderentscheidungen bezüglich der neuen internen Informationsabteilung im ZK der KPdSU vom Juni 1943 belegen, dass Stalin nicht die Absicht hatte, sich wirklich von der kommunistischen Bewegung als Instrument der sowjetischen Außenpolitik zu verabschieden. Die Kaderentscheidungen dienten der öffentlichen Tarnung und der internen Koordination: Der formale Leiter der Abteilung Alexander S. Schtscherbakow war Sekretär des Moskauer Komitees der KPdSU und seit 1942 Leiter der politischen Hauptverwaltung der Roten Armee. 15 Dimitri F. Manuilski leitete von 1929 bis 1933 als Generalsekretär die Komintern, wurde dann von Georgi Dimitroff abgelöst, um als sein Stellvertreter weiter zu amtieren. Ab 1937 war er für die „Überprüfung" der Mitarbeiter der Komintern und deren „Säuberung" mitverantwortlich. 1943 war er in der politischen Hauptverwaltung der Roten Armee unter anderem für die Propaganda unter den deutschen Kriegsgefangenen zuständig und maßgeblich an der Gründung des Nationalkomitees Freies Deutschland beteiligt. Seit 1924 war Manuilski Mitglied des ZK der KPdSU (B) und damit ein langjähriger Gehilfe Stalins. Dieser selbst sah in der Auflösung der Komintern die Korrektur eines Fehlers des frühen Bolschewismus, der seine Kräfte überschätzt habe; ihre weitere Existenz „wäre eine Diskreditierung der Idee der Internationale, was wir nicht wollten"' 6 . Dimitroff notierte weiter: „Es gäbe jedoch noch ein anderes Motiv für die Auflösung der K I (Komintern), von dem im Beschluß nicht die Rede sei. Es handele sich darum, daß die kommunistischen Parteien, die der K I angehörten, in verleumderischer Weise beschuldigt würden, sie seien Agenten eines fremden Staates und dies erschwere ihre Arbeit unter den breiten Massen. Mit der Auflösung der K I werde den Feinden diese Grundlage aus den Händen geschlagen." 1 7

Stalins Begründung für den nicht zu veröffentlichenden Teil des Beschlusses unterstreicht die Nachordnung der kommunistischen Weltbewegung gegenüber der Staatsräson der Sowjetunion, die auf die Kooperation mit den Vereinigten Staaten angewiesen war, um den Krieg zu gewinnen und die Nachkriegsordnung am Verhandlungstisch gestalten zu können. Die Auflösung der Komintern erfolgte nach dem sowjetischen Sieg bei Stalingrad, mit dem sich der Erfolg der Anti-Hitler-Koalition abzeichnete. Wie Richard Overy zutreffend feststellte, entschied dieser Sieg auch über „das Überleben des Kommunismus als Kraft von weltpolitischer Bedeutung" 18 . Die Entscheidung zur Auflösung der Kommunistischen Internationale 1943 fiel im Vorfeld der ersten Kriegskonferenz der Anti-Hitler-Koalition in Teheran und verfolgte drei Ziele, die Stalin öffentlich aussprach: 1. Das Misstrauen der Westmächte gegenüber den Plänen der sowjetischen Kommunisten zur Neuordnung Europas nach dem Krieg sollte zerstreut werden. Sie befürchteten, Stalin werde wie nach dem Ersten Weltkrieg erneut das Banner der Weltrevolution entrollen und zu sozialistischen Revolutionen aufrufen.

15 16 17 18

Vgl. ebd., Bd. 2, S. 623. Zit. nach: ebd., Bd. 1, S. 695. Ebd. Richard Overy: Russlands Krieg 1 9 4 1 - 1 9 4 5 , Berlin 2003, S. 471.

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2. Dieser Schritt sollte, so Stalin, „die kommunistischen Parteien als nationale Arbeiterparteien stärken und zugleich den Internationalismus der Volksmassen festigen, dessen Basis die Sowjetunion sei"19. 3. Die Auflösung der Komintern sollte dem Sieg dienen. Die Kommunisten in den mit der Sowjetunion verbündeten Staaten wurden aufgerufen, deren Kriegsanstrengungen bedingungslos zu unterstützen. In den von den Deutschen besetzten Ländern sollten sie den Widerstand gegen die Besatzung - einschließlich des Partisanenkampfes - organisieren. Für Deutschland, Italien, Rumänien und Ungarn entstanden antifaschistische Komitees. Zu ihnen zählte auch das Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD), in dem Kriegsgefangene in Verbindung mit der Politischen Hauptverwaltung der sowjetischen Armee gegen Hitler und seinen Krieg öffentlich auftraten. 1.2 Stalins imperiale Politik in Ostmitteleuropa Die Expansionspolitik Hitler-Deutschlands lieferte Stalin Gelegenheit zu imperialer Politik. Um den Angriff auf Polen gegen das Risiko eines Zweifrontenkrieges abzusichern, wie ihn das Deutsche Reich im Ersten Weltkrieg führen musste, schloss Hitler im August 1939 einen Nicht-Angriffspakt mit der Sowjetunion einschließlich eines geheimen Zusatzprotokolls zur Teilung Polens und der Abgrenzung von Einflusssphären. Mit ihm begann die imperiale Politik der Sowjetunion in Ostmitteleuropa. Sie griff in den Deutsch-Polnischen Krieg ein und besetzte die ihr im Zusatzprotokoll zugestandenen Gebiete. 50 Jahre später sollte Alexander Jakowlew 20 die Existenz dieses Zusatzprotokolls, das seitens der Sowjetunion bis 1989 geleugnet wurde, amtlich bestätigen. In seinen Memoiren stuft er das Protokoll als Wendepunkt in der Geschichte der sowjetischen Außenpolitik ein, die damit deutlich „imperialistische Merkmale" 21 annahm. In der weltpolitischen Konstellation des Jahres 1939 bedeutete der Pakt das Ende der sowjetischen Isolation in der internationalen Politik: „[Stalin] gewann in traditioneller, konsequenter und weitsichtiger Machtpolitik im Schatten des Krieges, als sich westliche Aufmerksamkeit auf das nationalsozialistische Deutschland konzentrierte, vorerst ohne großes Risiko die Möglichkeit, die Grenzen seines Imperiums unter scheinbarer Wahrung eigener Neutralität Seite an Seite mit Hitler weiträumig nach Westen zu verschieben." 22

Im Zusammenhang mit der mit dem Deutschen Reich abgestimmten Politik der Interessensphären entwickelte Stalin mit Blick auf das Baltikum seine Vorstellungen, wie das Imperium durch die Kombination der Roten Armee mit nationalen, von kommunistischen Kadern geführten Kräften wachsen könne: „Wir meinen, daß wir mit den Beistandsverträgen (Estland, Lettland, Litauen) jene Form gefunden haben, die es uns gestatten wird, eine Reihe von Staaten in den Einflußbereich

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Zit. nach: Bernhard H. Bayerlein (Hg.): Georgi Dimitroff, a. a. O., Bd. 1, S. 695. J a k o w l e w war Politbüro-Mitglied und ZK-Sekretär für Agitation und Propaganda unter Gorbatschow und Vorsitzender der Kommission zur Rehabilitierung politisch Verfolgter. Alexander Jakowlew: Die Abgründe meines Jahrhunderts, Leipzig 2002, S. 290. Jan Lipinsky: Das geheime Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag v o m 23. August 1939 und seine Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte von 1939 bis 1999, Europäische Hochschulschriften, Frankfurt am Main, S. 81 f.

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der Sowjetunion zu bringen. Aber dafür müssen wir uns zurückhalten - ihre inneren Regime und ihre Selbständigkeit strikt wahren. Wir werden ihre Sowjetisierung nicht anstreben. Es kommt die Zeit, da sie es selber tun werden!" 23 Im Juni 1940 erzwang die Sowjetunion den Systemwechsel in den drei baltischen Staaten durch die Bildung „volksdemokratischer Regierungen" 2 4 , und im August 1940 erfüllte sich Stalins Prognose vollends: Die drei baltischen Staaten „baten" um Aufnahme in die Sowjetunion. Im Juni 1941 griff das Deutsche Reich die Sowjetunion an und Großbritannien wurde zum Alliierten der Sowjets. D o c h Stalin misstraute diesem Verbündeten: In der ersten Phase des Krieges trieb ihn die Furcht vor einem Separatfrieden der Westmächte mit dem Deutschen Reich um. Die Gespräche über eine europäische Nachkriegsordnung begannen zwischen London und Moskau schon 1941 anlässlich des Besuchs des britischen Außenministers Anthony Eden in Moskau. D e r Sowjetunion ging es den Westmächten gegenüber um Einflusssphären, die sie nach dem Krieg in Europa beanspruchen wollte. Dieser Anspruch verfestigte sich nach Stalingrad in den alliierten Kriegskonferenzen. In Teheran 1943 wurden die Westverschiebung Polens und die Teilung Ostpreußens beschlossen. In Jalta einigten sich die „Großen Drei" Stalin, Roosevelt und Churchill im Februar 1945 auf die Übernahme der obersten Regierungsgewalt in Deutschland durch ihre Staaten und Frankreich. Ein Alliierter Kontrollrat sollte sie ausüben. Deutschland selbst hatte bedingungslos zu kapitulieren und sollte aufgeteilt werden. 25 U b e r welche zukünftigen Einflusssphären im sowjetischen Außenkommissariat am Ende des Krieges nachgedacht wurde, verdeutlicht eine N o t i z des Leiters der 1943 gebildeten Kommission zur Nachkriegsordnung, Maxim M. Litwinow. 2 6 Die maximale Einflusssphäre für die Sowjetunion, „besser gesagt, Sicherheitszone", sollte demnach „Finnland, Norwegen, Schweden, Polen, Ungarn, die Tschechoslowakei, Rumänien, Jugoslawien, Bulgarien und die Türkei umfassen. Zur englischen Sicherheitszone rechnete er Holland, Belgien, Frankreich, Spanien, Portugal und Griechenland. Eine neutrale Zone, in der beide Seiten auf identischer Grundlage bei permanenter Konsultation untereinander zusammenarbeiten, sollen Dänemark, Deutschland, Osterreich, die Schweiz und Italien bilden. England wird aber wahrscheinlich die Zugehörigkeit Norwegens, Schwedens, der Türkei und Jugoslawiens zur sowjetischen Zone anfechten und fordern, daß seine Zone sich auf Schweden, Norwegen, Dänemark und Italien erstreckt. Die genannten Länder werden wohl auch Gegenstand von Gefeilsche und Kompromissen sein." 27

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Bernhard H. Bayerlein (Hg.): Georgi Dimitroff, a. a. O., Bd. 1, S. 279 f. Jens Hacker: Der Ostblock. Entstehung, Entwicklung und Strukturen 1939-1980, Baden-Baden 1983, S.19. Protokoll über die Tätigkeit der Krim-Konferenz, in: Alexander Fischer (Hg.): Teheran, Jalta, Potsdam - die sowjetischen Protokolle vor den Kriegskonferenzen der „Großen Drei", Köln 1968, S. 191. Stellvertretender Außenkommissar von 1941-1946, von 1941-1943 zugleich Botschafter in Washington. Jochen P. Laufer/Georgij P. Kynin (Bearb. und Hg.): Die UdSSR und die deutsche Frage 194148, Dokumente aus dem Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation, Bd. 1, Berlin 2004, S. 522.

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Litwinow ging davon aus, dass die klassischen europäischen Mächte nach dem Krieg ihre Einflusszonen auf dem Kontinent geltend machen und die Vereinigten Staaten dem zuschauen - eine bemerkenswerte Fehlperzeption des sowjetischen Diplomaten. Nach dem „Gefeilsche" blieb nur noch Deutschland, über das beide Seiten auf Grundlage ihrer Kriegsabsprachen gemeinsame Oberhoheit ausübten - diese Prognose sollte sich allerdings bewahrheiten. 2. Europäische Nachkriegsordnung und alliierte Kontrolle Deutschlands 2.1 Jalta und das „Polnische Modell" Die „Erklärung über das befreite Europa" der Konferenz von Jalta ging vom Recht der Völker aus, ihre Regierungsform selbst zu wählen.28 Sie sollten ihre souveränen Rechte auf Selbstregierung ausüben. Zu den Maßnahmen, mit denen die drei Mächte dies zu unterstützen gedachten, gehörte nach der Befreiung durch die alliierten Armeen die Bildung von provisorischen Regierungen, „die alle demokratischen Elemente der Bevölkerung umfassend repräsentieren und die verpflichtet sind, auf dem Wege freier Wahlen möglichst bald eine Regierung zu bilden, die dem Willen des Volkes entspricht"29. Diese vage formulierten Begriffe, die für Roosevelt und Churchill zu den Schlüsselworten der parlamentarischen Demokratie zählten, interpretierten die Sowjets entgegengesetzt im Geist des Marxismus-Leninismus. Der tschechische Historiker Ivan Pfaff sieht Stalins Erfolg in Jalta vor allem darin, dass die Westmächte auf die Kontrolle der polnischen Wahlen durch die drei Mächte verzichteten und damit ihr Mitspracherecht zur Bildung und Zusammensetzung der polnischen Nachkriegsregierung aufgaben.30 Damit erkannten die Westmächte die bereits vor der Konferenz vollzogene Umwandlung des von den Sowjets gestützten kommunistischen „Lubliner Komitees"31 in eine provisorische polnische Regierung an und akzeptierten letztlich Stalins „Polnisches Modell" 32 . Das Geheimnis dieses Modells bestand darin, den militärischen Sieg der sowjetischen Armee politisch mit einem nationalen Komitee zu kombinieren, das mehr oder weniger offen von der kommunistischen Partei geführt wurde, um eine provisorische Regierung zu bilden, die wiederum die Transformation der politischen und sozialen Ordnung des Landes leiten sollte. Die Wahrung sowjetischer Interessen erfolgte personell über die Moskau-Kader, die die polnische Kommunistische Partei führten. Dieses Polnische Modell wurde auch auf die osteuropäischen Länder und die Staaten Südosteuropas ausgeweitet, die in der sowjetischen Interessensphäre lagen.

28 Vgl. Alexander Fischer (Hg.): Teheran, Jalta, Potsdam, a. a. O., S. 191. 29 Ebd. 30 Vgl. Ivan Pfaff: Die Legende von Jalta, in: Forum für Osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte, Heft 2/2004, S. 66. 31 Seit dem 22. Juni 1944 gab es zwei Regierungen, die den Anspruch erhoben, für Polen zu sprechen: „Die Exilregierung in London, die sich vergeblich in die innerpolnische Entwicklung einzuschalten versucht hatte, und die Lubliner Regierung, die zu einem Zeitpunkt gebildet worden war, als die Rote Armee den Bug überschritten hatte und zur Weichsel vorstieß." - Jens Hacker: Der Ostblock, a. a. O., S. 95. Das „Polnische Komitee der nationalen Befreiung" in Lublin setzte sich aus Mitgliedern der in Moskau gebildeten Union der „Polnischen Patrioten" und Kadern der Polnischen Kommunistischen Partei zusammen, die sich nach ihrer Auflösung durch die Komintern 1938 nun „Polnische Arbeiterpartei" nannte. 32 Zbigniew K. Brzezinski: Der Sowjetblock, a. a. O., S. 31.

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Dem russischen Historiker Leonid G. Gibianskij zufolge war die Erweiterung der Macht kommunistischer Parteien außerhalb der Grenzen der UdSSR für Stalin sowohl ein Faktor „der Gewährleistung der Sicherheit der sowjetischen Grenzen als auch gleichzeitig die Erweiterung der,Sphäre des Sozialismus', das heißt ein weiterer Schritt zur sogenannten Weltrevolution"". Die imperialen Ziele des Staates und die ideologisch-politischen Projektionen der Kommunistischen Partei waren somit in der sowjetischen Politik nicht voneinander zu trennen und „zu einem einheitlichen Ganzen verschmolzen" 34 . Diese Entwicklungen führten bei den Westalliierten zum Umdenken im Hinblick auf eine gemeinsame Zusammenarbeit mit der Sowjetunion nach der Niederlage Deutschlands. Pfaff zitiert Churchill, der im März 1945 erkannte, dass „der russische Imperialismus und die kommunistische Ideologie keine Grenzen für ihre Expansionslust und letztlich ihr Streben nach Weltherrschaft kannten und sahen" 35 . Noch vor der deutschen Kapitulation begann somit in Polen der Ost-West-Konflikt. 2.2 Vier-Zonen-Deutschland Am 5. Juni 1945 übernahmen die vier Besatzungsmächte gemeinsam die oberste Regierungsgewalt in Deutschland, das in vier Besatzungszonen aufgeteilt wurde. Der aus den vier Oberbefehlshabern der Besatzungstruppen bestehende Alliierte Kontrollrat war keine zentralistische Besatzungsverwaltung. Die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion bestanden auf zonaler Dezentralisierung, was zu einem Dualismus zwischen Zonenverwaltung und Kontrollrat führte. Die oberste Gewalt übte in den einzelnen Besatzungszonen der Kommandeur der Besatzungstruppen aus. Das Konsensprinzip im Kontrollrat und die „amerikanische Formel vom Mai 1945, bei fehlender Einigung im Kontrollrat habe jeder Zonenkommandeur das Recht zu unioder bilateralem Vorgehen, höhlte den Einigungszwang weiter aus" 36 . Gunther Mai betont in seiner Geschichte des Kontrollrats die Objektrolle der Deutschen 1945: „Gesamtdeutsche Ansprüche einzelner Staaten richteten sich gegen die anderen Besatzungsmächte, als Druckmittel und Handelsobjekt mit dem Primat zonaler bzw. nationaler Interessen. Als Selbstverpflichtung gegenüber den Deutschen waren sie nicht gemeint." 37

Diese These untermauert Mai mit der Feststellung, die Hauptsiegermächte hätten das Thema gesamtdeutscher politischen Organisationen auf ihren Konferenzen nicht behandelt. Die Sowjetunion habe in der European Advisory Commission sogar „jede Debatte über die inhaltlichen Aspekte der gemeinsamen Besatzungspolitik verweigert" 38 . Es gab somit keine gemeinsam vereinbarten Bedingungen über die Zulassung

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Leonid Gibianskij: Osteuropa: Sicherheitszone der UdSSR, sowjetisiertes Protektorat des Kreml oder Sozialismus ,ohne Diktatur des Proletariats' ? Zu den Diskussionen über Stalins OsteuropaPolitik am Ende des Zweiten Weltkrieges und am Anfang des Kalten Krieges: Frage der Quellen und ihrer adäquaten Interpretation, in: Forum für Osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte, Heft 2/2004, S. 131. Ebd. Ivan Pfaff: Die Legende von Jalta, a. a. O., S. 77. Gunther Mai: Alliierter Kontrollrat, in: Wolfgang Benz (Hg.): Deutschland unter alliierter Besatzung 1945-1949/1955, Berlin 1999, S. 229. Ebd., S. 40. Ebd., S. 118.

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von Parteien und Gewerkschaften. Umso überraschter waren die Westmächte, als die Sowjetunion am 11. Juni 1945 in Berlin für ihre Zone vier antifaschistischdemokratische Parteien und Gewerkschaften zuließ, die sich in einem „Block" zusammenschließen sollten, wie es die KPD in ihrem Gründungsaufruf forderte. 39 Dieser Schritt war im Kontrollrat zuvor nicht thematisiert worden, obwohl die vier Oberkommandierenden noch am 5. Juni in Berlin direkten Verhandlungskontakt gehabt hatten. Die Zulassung erfolgte vor der Potsdamer Konferenz, auf der grundlegende Beschlüsse über die europäische Nachkriegsordnung und die politischen und wirtschaftlichen Grundsätze einer gemeinsamen Besatzungspolitik in Deutschland erst gefasst werden sollten. 2.3 Potsdam: Kein Friedensvertrag mit Deutschland Eine der offenen Fragen zwischen den drei Mächten betraf den Zeitpunkt einer Konferenz über die europäische Nachkriegsordnung. Sollte sie nach dem Sieg über Japan oder möglichst davor stattfinden? Der stellvertretende sowjetische Außenkommissar Litwinow plädierte am 3. Juni gegenüber Molotow dafür, die Konferenz aus der Interessenlage der Sowjetunion heraus unbedingt vor dem Ende des japanischen Krieges abzuhalten: Da die Westmächte erwarteten, dass die Sowjetunion sich an diesem Krieg beteiligte, was sie auch tat, „werden sie eher zu Konzessionen neigen, als dies nach dem für sie siegreichen Kriegsabschluß im Osten der Fall sein wird" 40 . Litwinow wollte die militärisch errungene Position der Sowjets in Europa am Verhandlungstisch sichern, die Legitimität des entstandenen Imperiums sollte von den Kriegsalliierten anerkannt werden. Während der Potsdamer Konferenz, die schließlich vom 17. Juli bis 2. August 1945 stattfand, wollten die Amerikaner vor allem die Kooperation mit der Sowjetunion in der Besatzungspolitik fortführen und Frankreich einbinden, aber zugleich die „Herausbildung einer europäischen Hegemonialmacht" verhindern, die nach Ausschaltung Deutschlands nur in russischer oder französischer Gestalt vorstellbar war.41 Großbritannien war in Bezug auf Deutschland pragmatisch, es konzentrierte sich auf die Uberwindung der wirtschaftlichen Notlage und „die innere Erneuerung und Wandlung Deutschlands zu einem demokratischen Land" 42 . Die französische Politik hielt bis 1947 an der Vorstellung „eines klassischen Allianzmodells" fest und verfolgte „eine Gleichgewichtspolitik unter den alten europäischen Großmächten, insbesondere, was das französisch-sowjetische Verhältnis betraf"43. Sein Ziel war nicht nur die Sicherheit vor Deutschland, sondern „dessen Dominanz und Kontrolle" 44 . Die französische Regierung, die in Potsdam nicht am Verhandlungstisch saß,

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Vgl. Peter Erler/Horst Laude/Manfred Wilke (Hg.): „Nach Hitler kommen wir". Dokumente zur Programmatik der Moskauer KPD-Führung 1944/45 für Nachkriegsdeutschland, Berlin 1994, S. 396 f. Jochen P. Laufer/Georgij P. Kynin (Bearb. und Hg.): Die UdSSR und die deutsche Frage 1 9 4 1 48, Bd. 2, a. a. O., S. 41. Vgl. Hanns Jürgen Küsters: Der Integrationsfriede. Viermächte-Konferenzen über die Friedensregelung mit Deutschland 1945-1990, Dokumente zur Deutschlandpolitik, Studien Bd. 9, München 2000, S. 72. Ebd., S. 82. Ebd., S. 86. Ebd.

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dachte über Grenzverschiebungen im Westen, die Internationalisierung des Ruhrgebiets und die dauerhafte Niederhaltung Deutschlands nach. Die beiden neuen Weltmächte Sowjetunion und U S A setzten im Gegensatz zu den alten Kolonialmächten England und Frankreich auf die Durchsetzung ihrer G e sellschaftsordnung in ihren Einflusssphären. Die „Großen Drei" konnten sich in Potsdam aufgrund dieser gegensätzlichen Positionen nur über die Grundsätze ihrer Besatzungspolitik in Deutschland einigen, in deren Mittelpunkt die Entmilitarisierung einschließlich der industriellen Abrüstung stand, um deutsche imperiale Politik in Europa für alle Zeit auszuschließen. Die N S D A P und ihre Gliederungen wurden verboten, die Entnazifizierung des Landes wurde ebenso durchgesetzt wie die Prozesse gegen Kriegsverbrecher. Die drei Mächte einigten sich darauf, keine deutsche Regierung, sondern Zentralverwaltungen zu bilden, die den Kontrollrat in seiner Arbeit unterstützen sollten. Die französische Regierung verhinderte mit ihrem Veto im Kontrollrat jedoch die Bildung deutscher Zentralverwaltungen ebenso wie die Bildung gesamtdeutscher Gewerkschaften und die Schaffung von Reichszentralen 4 5 der vier bereits existierenden politischen Parteien C D U , LDP, K P D und S P D . Wirtschaftlich sollte Deutschland als Einheit behandelt werden. Die in Potsdam vereinbarte Reparationsregelung widersprach allerdings dieser Absicht, denn der sowjetische Vorschlag, Reparationen von jeder Regierung aus ihrer jeweiligen Besatzungszone zu entnehmen, wurde gebilligt. 46 U m die Demokratisierung und Dezentralisierung Deutschlands zu befördern, gestatteten die Sieger den Deutschen, politische Parteien und Gewerkschaften zu bilden und zunächst lokale Selbstverwaltungen aufzubauen. Wahlen sollten folgen. Der spätere amerikanische Botschafter in Moskau, George F. Kennan, verfasste einen kritischen Kommentar zu den Ergebnissen von Potsdam: „Die Idee, Deutschland gemeinsam mit den Russen regieren zu wollen, ist ein Wahn. Ein ebensolcher Wahn ist es, zu glauben, die Russen und wir könnten uns eines schönen Tages höflich zurückziehen und aus dem Vakuum wird ein gesundes und friedliches stabiles und freundliches Deutschland steigen. Wir haben keine andere Wahl, als unseren Teil von Deutschland - den Teil, für den wir und die Briten die Verantwortung übernommen haben - zu einer Form von Unabhängigkeit zu führen, die so befriedigend, so gesichert, so überlegen ist, daß der Osten sie nicht gefährden kann." 47 2.4 Die Sowjetische Militär-Administration in Deutschland Verantwortlich für die Durchführung der sowjetischen Besatzungspolitik war die im Juni 1945 gegründete Sowjetische Militär-Administration in Deutschland. Sie vertrat die Sowjetunion im Alliierten Kontrollrat und überwachte gleichzeitig die neu entstehende Verwaltung in ihrer Besatzungszone, sicherte die Reparationslieferungen und unterstützte die K P D auf ihrem Weg zur Macht in der SBZ. Nach dem Ende der Kampfhandlungen standen alle Besatzungsmächte unter Handlungsdruck. Dies verdeutlicht ein Bericht des sowjetischen Diplomaten Wladimir S. Semjonow an den Stellvertretenden Außenminister Andrej J . Wysinski vom 30. April

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Andreas Hillgruber: Deutsche Geschichte 1945-1986. Die „deutsche Frage" in der Weltpolitik, 7. Aufl., Stuttgart 1989, S. 20. Alexander Fischer (Hg.): Teheran, Jalta, Potsdam, a. a. O., S. 340. George F. Kennan: Memoiren eines Diplomaten, Stuttgart 1968, S. 262 f.

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über die von der Roten Armee besetzten Gebiete in der späteren SBZ: „Der größte Mangel bzw. das Haupthindernis bei der Umsetzung der erforderlichen Maßnahmen besteht derzeit darin, daß normal funktionierende deutsche Verwaltungsorgane fehlen." 48 Als er seinen Bericht abschickte, begann die „Gruppe Ulbricht" im Auftrag der Politischen Hauptverwaltung der sowjetischen Armee in Berlin mit dem Aufbau einer kommunalen Verwaltung. Die Richtlinie für ihre Arbeit war am 5. April in Moskau formuliert worden. 49 Jan Foitzik hat in seiner grundlegenden Arbeit zur SMAD deren staatsrechtliche Stellung als „außerordentlich komplex" und „originär" 50 bezeichnet. Die Komplexität bezog sich vor allem auf die unterschiedlichen Institutionen, die direkten Zugriff auf die Besatzungsverwaltung hatten.51 Alle Grundsatzfragen behandelten und entschieden zunächst „die ,Sieben', wie das siebenköpfige Politbüro im internen Führungsgetriebe genannt wurde, bevor der Rat der Volkskommissare/der Ministerrat die Beschlüsse des Politbüros in verwaltungsrechtlich verbindliche Weisungen umsetzte" 52 . Foitzik betont die „Allmacht Stalins", der sich auch unmittelbar in die SM AD-Arbeit einschaltete. Seine Beauftragung durch Stalin in der Nacht des 8. April 1945 schilderte Semjonow in seinem Tagebuch. Stalin eröffnete ihm, er werde als „Leiter einer Regierungsgruppe" zum Stab von Marschall Konew entsandt: „Später besuchte ich Stalin alle 2 - 3 Monate mit unseren Freunden, notierte mir sorgfältig seine Weisungen, führte jedoch wiederum kein selbständiges Gespräch, vielmehr erfüllte ich streng und genau alles, was er sagte. Dafür war ich im Z K bekannt, w o es hieß, man solle mich nicht bei der Erfüllung der Aufträge stören und von mir Entwürfe von vorläufigen Dokumenten und Beschlüssen verlangen. D o c h waren die Weisungen von J V ' so klar, daß sie vollauf genügten." 5 3

Die erwähnten Gespräche mit den „Freunden", also der K P D / S E D , sind aktenkundig und fanden vor weichenstellenden Entscheidungen statt: 1945, als es um den Wiederaufbau der K P D ging, vor Gründung der SED 1946 und des Staates D D R 1949. 54 Die Kommunikation zwischen den hierarchisch geordneten Ebenen wird von Semjonow, dem späteren politischen Berater des Chefs der SMAD, offen beschrieben. Grundsätzliche Weisungen bekam er von Stalin. Ging es um Weichenstellungen in der Deutschlandpolitik, die die Linie der SED betrafen, wurden Gesprächen mit der SED-Führung geführt. Die Entscheidungen über ihre Politik protokollierte Semjonow, um deren Durchführung anschließend zu kontrollieren und das Ergebnis nach Moskau zu melden.55 48 49 50 51 52 53

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Jochen P. Laufer/Georgij P. Kynin (Bearb. und Hg.): Die UdSSR und die deutsche Frage 194148, Bd. 1, a. a. O., S. 563. Vgl. Peter Erler et al. (Hg.): „Nach Hitler kommen wir", a. a. O., S. 380-386. Jan Foitzik: Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) 1945-1949, Berlin 1999, S. 221. Vgl. ebd., S. 221 f. Ebd., S. 225. Mit „JV" (Josef Vissariowitsch) kürzte Semjonow Stalins Namen ab. - Aus den persönlichen Tagebüchern des sowjetischen Diplomaten V. S. Semjonow, vorbereitet und kommentiert von Elena Semenova und Boris Chavkin, in: Forum für Osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte, Heft 2/2004, S. 247. Vgl. Wilfried Loth: Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die D D R nicht wollte, Berlin 1994, S. 274 ff. sowie Rolf Badstübner/Wilfried Loth (Hg.): Wilhelm Pieck - Aufzeichnungen zur Deutschlandpolitik 1945-53, Berlin 1994. Vgl. zu dieser Führungsmethodik: Jan Foitzik: SMAD 1945-1949, a. a. O., S. 249 ff.

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Das von Lawrenti P. Berija geleitete Volkskommissariat/Ministerium des Innern besaß ebenfalls direkten Einfluss auf die SMAD. Er resultierte nicht zuletzt „aus der Position von Generaloberst Iwan Serow als Stellvertreter des Obersten Chefs der Zivilverwaltung von 1945-1947" 5 6 . In Personalunion leitete er zugleich den sowjetischen Geheimdienst in der SBZ. Nach Foitzik war die K P D „abhängiger Bestandteil der Besatzungsstruktur", deren Kontrolle und Intervention sie unterstand. Zugleich war die K P D / S E D jedoch das wichtigste Verbindungsglied der SMAD zur Bevölkerung. Die Parteiführung selbst verfügte aufgrund ihrer Einbindung in die Strukturen der kommunistischen Bewegung über von der SMAD unabhängige und ihr zum Teil vorgeschaltete Verbindungslinien zum Moskauer Entscheidungszentrum. Wie sie auf der Entscheidungsebene wirkten, vertraute Semjonow ebenfalls seinem Tagebuch an. Parallel zum Anstieg des Bedarfs an der monopolartig durch die SED gewährleisteten „politischen Legitimation der Besatzungsherrschaft konnte die SED über diese Linie auf die SMAD Einfluß ausüben. Im Funktionsgeflecht des Entscheidungszentrums wie im System der Besatzungsverwaltung fungierte die KPD/SED deshalb als ein zwar durchgängig abhängiger, aber dennoch als ein relativ eigenständiger Einflußfaktor, dessen Bewegungsspielraum innerhalb des machtpolitisch eindeutig von außen definierten Rahmens allerdings nicht klar umrissen war."57 2.5 Alliierte Konflikte, die SMAD-Parteipolitik und die Gewerkschaftsfrage Die Etablierung der K P D als totalitäre Staatspartei der SBZ, die einen Block antifaschistisch-demokratischer Parteien führte, erfolgte Ende 1945. Die Fusionskampagne gegenüber der SPD in der SBZ und die SED-Gründung selbst lagen zwischen zwei Konferenzen des Rates der Außenminister über Deutschland: der von London im September 1945 und der von Paris, die von April bis Juli 1946 tagte. Die Londoner Konferenz offenbarte die tiefen Gegensätze zwischen den Westmächten und der Sowjetunion und endete ergebnislos. Molotow sprach in einem Runderlass an sowjetische Botschafter und Gesandte vom 10. Oktober ausdrücklich von ihrem Scheitern und wies die sowjetische Diplomatie darauf hin, dass sich die amerikanische Politik zu ändern begann. Als Beleg zitierte er eine Rundfunkansprache von John Forster Dulles, der die erfolglose Konferenz freudig mit den Worten kommentierte, „daß der ,Anschein der Eintracht' der drei Mächte zerstoben und daß in London der,Anfang' für eine neuartige Politik gegenüber der UdSSR gemacht worden sei" 58 . In der SMAD kam es zu administrativen Veränderungen, die dieser Konfliktkonstellation in der gemeinsamen alliierten Besatzungsherrschaft über Deutschland Rechnung trugen. So gehörte es laut Geschäftsordnung ab Oktober 1945 zu den Aufgaben der von Semjonow geleiteten Politischen Abteilung, die Politik „der alliierten Länder gegenüber Deutschland ebenso wie die Entwicklungstendenzen der

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Vgl. ebd., S. 241 und Vladimir V. Sacharow/Dimitrij N. Filippovych/Michael Kubina: Tschekisten in Deutschland. Organisation, Aufgaben und Aspekte der Tätigkeit der sowjetischen Sicherheitsapparate in der sowjetischen Besatzungszone in Deutschland (1945-1949), in: Manfred Wilke (Hg.): Anatomie der Parteizentrale, a. a. O., S. 293-335. Vladimir V. Sacharow et al.: Tschekisten in Deutschland, a. a. Ο., S. 424 f. Jochen P. Laufer/Georgij P. Kynin (Bearb. und Hg.): Die UdSSR und die deutsche Frage 194148, Band 2, a. a. O., S. 146.

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deutschen staatlichen Organe, Parteien und gesellschaftlichen Organisationen in ganz Deutschland zu analysieren" 59 . Die Informationen waren für den Obersten Chef der SMAD und die sowjetische Führung bestimmt und sollten mit politischen Vorschlägen für die sowjetische Politik verbunden werden. Für die politische Entwicklung in der SBZ selbst wurde ab dem 23. Oktober 1945 die von Oberst Sergej J. Tjulpanow geleitete Abteilung für Propaganda und Zensur zuständig. 60 Nach Laufer und Kynin lag der Stellenwert von Tjulpanows Einfluss auf die SBZ-Entwicklung in der Bedeutung seines die gesamte SBZ umfassenden Apparates. Außerdem war er auch für die „Tägliche Rundschau", die Zeitung der SMAD, verantwortlich. Gute Kontakte besaß er „zu deutschen Politemigranten, die nach ihrer Rückkehr aus der UdSSR Schlüsselfunktionen in der KPD und in den deutschen Verwaltungen der SBZ übernahmen" 61 . Die beiden SMAD-Abteilungen verkörperten unterschiedliche Felder der sowjetischen Deutschlandpolitik: Der politische Berater des SMAD-Chefs war dem Außenkommissariat zugeordnet und vertrat im Kontrollrat die sowjetischen Interessen. Die Propagandaverwaltung dagegen war dem Volkskommissariat für Verteidigung zugeordnet. Sein Leiter kam aus der politischen Hauptverwaltung der sowjetischen Armee und war somit ein KPdSU-Funktionär. 62 Nach der Londoner Außenministerkonferenz und der sich abzeichnenden Änderung der amerikanischen Europa- und Deutschlandpolitik kam es der Sowjetunion offenbar darauf an, das Fundament der sozialistischen Staatsordnung in der SBZ zu befestigen. Die Sicherung der SBZ und die Stärkung der Kommunisten blieben die Voraussetzungen für mögliche Expansionsbestrebungen der Sowjetunion in Deutschland. Ausgerechnet in der Gewerkschaftsfrage verdeutlichte Tjulpanow, dass diese Option fortbestand: „Der Entwurf eines Gesetzes zur Bildung, Kontrolle und Betätigung deutscher G e w e r k schaften ist v o m alliierten Kontrollrat aufgrund der Haltung der französischen Delegation nicht verabschiedet worden. A l s Gegengewicht dazu w u r d e zum Zwecke der M o bilisierung der Arbeitermassen eine Kampagne zur Einberufung einer zonalen Beratung der Gewerkschaften der sowjetischen Besatzungszone eröffnet, die mit geheimen Wahlen zu den Gewerkschaftsleitungen v o n unten nach oben gekoppelt wird." 63

Die Gründung des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) 1945 und die mit diesem Ereignis verbundene Vorbereitung zur Gründung der Einheitspartei sind die zentralen Themen im „Informationsbrief Nr. 1", den Semjonow im März Schu-

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Geschäftsordnung der Politischen Abteilung, in: ebd., S. 161. Vgl. Bernd Bonwetsch: Sowjetische Politik in der SBZ 1945-1949. Dokumente zur Tätigkeit der Propagandaverwaltung (Informationsverwaltung) der SMAD unter Sergej Tjulpanow, in: Bernd Bonwetsch/Gennadij Bordjugov/Norman M. Naimark (Hg.): Sowjetische Politik in der SBZ 1945-1949, Bonn 1998, S. XIX-LV. Jochen P. Laufer/Georgij P. Kynin (Bearb. und Hg.): Die UdSSR und die deutsche Frage 1 9 4 1 48, Bd. 2, a. a. O., S. X X X . Zu Tjulpanow vgl. Norman M. Naimark: Die Russen in Deutschland. Die sowjetische Besatzungszone 1945-1949, Berlin 1997, S. 403—444; Wilfried Loth: Stalins ungeliebtes Kind, a. a. O., S. 129-134. Die unterschiedliche Aufgabenstellung der beiden Abteilungen wird in den Berichten über die Entwicklung des Parteiensystems in allen vier Zonen und insbesondere in denen über die Durchsetzung der offenen Führungsrolle der Kommunisten im „Block der antifaschistischdemokratischen Parteien in der SBZ" transparent, die Kynin und Laufer dokumentieren. George F. Kennan: Memoiren eines Diplomaten, a. a. O., S. 231.

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kow und Molotow vorlegte. Sein Interesse galt vor allem den Reaktionen der westlichen Alliierten auf beide Ereignisse, die aus Sicht der sowjetischen und deutschen Kommunisten der „Einheit der Arbeiterklasse" dienten. Die Wahl von fünf Mitgliedern der Berliner F D G B - F ü h r u n g , die unter gesamtalliierter Kontrolle standen, in den Vorstand des F D G B der S B Z führte zum Konflikt. D e r französische Vertreter in der Alliierten Kommandantur in Berlin hatte der Berliner Delegation vor dem F D G B - K o n g r e s s nur einen Gaststatus zugestanden. Die Wahl von elf Personen aus ihrer Mitte in den Gewerkschaftsausschuss der sowjetischen Zone werteten die Westalliierten als Verstoß gegen einen Befehl der Alliierten Kommandantur und forderten namentlich die Bestrafung von Hans Jendretzky, der gar zum FDGB-Vorsitzenden gewählt worden war. Die westlichen Besatzungsmächte sahen in diesem Vorgehen die Verschmelzung des Berliner F D G B mit „den Gewerkschaften der sowjetischen Zone, [...] was ihrer Ansicht nach den vom Kontrollrat festgelegten Regeln widerspricht" 6 4 . In der Berliner Kommandantur forderten sie den sofortigen Rücktritt der Berliner Gewerkschaftsfunktionäre von ihren zonalen Vorstandspositionen. Das Veto des sowjetischen Vertreters verhinderte einen solchen Beschluss. Semjonow dazu: „Die scharfe Stellungnahme der Alliierten zu dieser Frage widerspiegelt ihre allgemeine Linie, die darauf gerichtet ist, Berlin in politischer Hinsicht von der sowjetischen Zone loszureißen und die leitenden KPD-Funktionäre von ihren Positionen in Berlin zu entfernen." 65 Umgekehrt sahen die Amerikaner in der F D G B - G r ü n d u n g vor allem einen sowjetischen Versuch, über den Aufbau kommunistisch kontrollierter deutscher Institutionen „Berlin in die S B Z einzugliedern" 6 6 . Nach der französischen Blockade im Kontrollrat hatte sich für die Sowjets die Gelegenheit ergeben, durch rasche Konstituierung des F D G B in der S B Z voranzugehen: „Das Gewerkschaftsstatut, dessen Bekanntgabe derzeit in der sowjetischen Besatzungszone vorbereitet wird, soll die Grundlage für einen künftigen Zusammenschluß der Gewerkschaften in Deutschland sowie für diesen Aufbau auf wahrhaft demokratischer Grundlage bilden."67 Tjulpanow berichtete weiter, dass alle grundsätzlichen Dokumente zum F D G B im Einvernehmen zwischen S P D und K P D abgestimmt wurden. Die erste „SechzigerKonferenz" zwischen je 30 Funktionären von S P D und K P D , die am 20./21. Dezember 1945 in Berlin stattfand, billigte noch einmal ausdrücklich den gemeinsamen Weg zur Bildung des F D G B . 6 8 N u r wenige Sozialdemokraten in Berlin verstanden 1945 den politischen Zweck dieser Aktionseinheitspolitik der K P D in der Gewerkschaftsfrage - wurde damit doch der Grundstein für die Umwandlung des F D G B in eine Massenorganisation der Kommunistischen Partei gelegt. Wahlmanipulationen in den Betrieben, um kommunistische Delegiertenmehrheiten zu sichern, waren nur der Anfang dieses Weges.

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Jochen P. Laufer/Georgij P. Kynin (Bearb. und Hg.): Die UdSSR und die deutsche Frage 1941— 48, Bd. 2, a. a. O., S. 278. Ebd. Ebd., S. 707 [Fußnote 276]. Ebd., S. 232. Vgl. Gert Gruner/Manfred Wilke (Hg.): Sozialdemokraten im Kampf um die Freiheit. Die Auseinandersetzungen zwischen SPD und K P D in Berlin 1945/46, München 1981, S. 195.

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Vordringlicher war zu diesem Zeitpunkt aber die symbolische Bedeutung der „einheitlichen Gewerkschaften" für die KPD: Sie waren die Vorstufe zur Einheitspartei. 69 Der Sozialdemokrat Gustav Klingelhöfer sah die Gefahr und warnte den Vorsitzenden des SPD-Zentralausschusses (ZA) Otto Grotewohl, dass der FDGB-Kongress „politische Aufgaben gestellt bekommen könnte, die eigentlich Parteien angehen, auf dem Weg über die Partei aber schwieriger zu lösen sein könnten" 70 . Abschließend kritisierte er das Verhalten der Sozialdemokraten im FDGB-Vorstand, die dort dem Vorgehen der KPD zugestimmt hätten, ohne ihre Tragweite zu übersehen. Harold Hurwitz wirft einen lakonischen Rückblick auf die damaligen Ereignisse: „Otto Grotewohl hat dann am 11. Februar auf diesem Kongreß des sowjetzonalen F D G B , dessen Zustimmung durch kommunistische Kaderarbeit abgesichert worden war, mit Bravado die Entscheidung des Z A bekanntgegeben, in Kürze die Arbeiterpartei mit der K P D gründen zu wollen." 71

Die anstehenden Wahlen zu Kommunal- und Länderparlamenten in den vier Besatzungszonen setzten die SMAD weiter unter Druck, sich der Entwicklung der deutschen Parteien zuzuwenden. Ende 1945, Anfang 1946 waren in allen Zonen demokratische Parteien zugelassen und lizenziert worden. Die Gemeindewahlen im Januar 1946 in der amerikanischen Zone waren die ersten freien Wahlen seit 1933. Diese frühe Festlegung hatte unmittelbaren Einfluss auf den Verlauf der KPD-Fusionskampagne in der SBZ. Denn der Ausgang der Wahlen in der amerikanischen Zone war für die sowjetische Seite wenig ermutigend: Von den 3,5 Millionen abgegebenen Stimmen konnte die CDU, einschließlich der CSU in Bayern, 40 Prozent auf sich vereinigen. Die SPD wurde mit 25,7 Prozent zweitstärkste Partei, während die KPD nur auf vier Prozent kam.72 Die KPD hatte offenkundig ein Akzeptanzproblem, dessen Ursache Semjonow darin sah, dass sie die einzige Partei war, „die die Schuld des deutschen Volkes am Aggressionskrieg mit all den sich daraus ergebenden Folgen des Besatzungsregimes offen anerkennt. Alle übrigen Parteien, so auch die sozialdemokratische, versuchen, die Schuld des deutschen Volkes herunterzuspielen, was zweifellos die Stimmungslage der Bevölkerungsmehrheit trifft." 73

Semjonow forderte, die in der SBZ im Herbst 1946 geplanten Wahlen möglichst rasch vorzubereiten. Er sah in den Wahlen - als Ausweis demokratischer Verhältnisse - ein Mittel der Amerikaner, um die Deutschen für sich zu gewinnen. Sie versuchten, „die Deutschen Glauben zu machen, die amerikanische Besatzungspolitik sei im Vergleich zur sowjetischen, englischen und französischen die demokratischste. Andererseits sollen die Wahlen als ein Test und als Grundlage für die Verwirklichung des amerika-

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Vgl. zu den Gewerkschaftswahlen: Karl J. Germer: Von Grotewohl bis Brandt, Landshut 1974, S. 52-83. 70 Harold Hurwitz: Demokratie und Antikommunismus in Berlin nach 1945, 4 Bde., darin: ders.: Die Anfänge des Widerstandes, Bd. 4, Köln 1990, S. 467. 71 Ebd. 72 Diese Werte zeigen einen Trend, verwischen aber regionale Unterschiede: In Hessen wurde die SPD stärkste Partei, in Württemberg-Baden die CDU und in Bayern die CSU. Die KPD erzielte in Württemberg-Baden mit sieben Prozent ihr bestes Ergebnis. 73 Jochen P. Laufer/Georgij P. Kynin (Bearb. und Hg.): Die UdSSR und die deutsche Frage 1941— 48, Bd. 2, a. a. O., S. 268.

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nischen Vorhabens dienen, einen Großteil der zivilen Verwaltungsfunktionen den Deutschen zu übertragen." 7 4

In der SBZ wurde parallel zur Vorbereitung der Fusion von SPD und K P D die Bedeutung der C D U im Block der antifaschistisch-demokratischen Parteien demonstrativ geschwächt. Der Kriegsrat der SMAD zog deutliche Grenzen für den Spielraum anderer Parteien in einem Block, den die Kommunistische Partei führen sollte. Tjulpanows Porträt der C D U verdeutlicht das Feindbild: „Die Christlich Demokratische Union ist eine Partei, die sich für die Interessen der mittleren und der Großbourgeoisie sowie der Junker einsetzt. Die Führer der Christlich Demokratischen Union Hermes und Schreiber haben versucht, die Union in einen Unterschlupf für jene reaktionären Kräfte zu verwandeln, deren Bestreben es war, allen demokratischen Maßnahmen des Blocks der vier Parteien (Bodenreform, Schulreform, Hilfe für die Neubauern usw.) entgegenzuwirken." 7 5

Tjulpanow fügte in seinem Bericht an den Kriegsrat der SMAD hinzu, dass, obwohl die C D U eine mitgliederschwache Partei sei, sie doch durchaus bei den kommenden Wahlen erhebliche Stimmenanteile auf sich vereinigen könnte. Das Thema der bevorstehenden Wahlen betraf somit nicht nur die Akzeptanz der Kommunisten in Deutschland, sondern war auch ein Instrument im Kampf um die „Seelen der Deutschen", vor allem zwischen Amerikanern und Sowjets, was sich auf der Pariser Außenministerkonferenz zeigen sollte, die drei Tage nach der SED-Gründung im April 1946 zusammentrat. Der amerikanische Außenminister James F. Byrnes legte der Pariser Außenministerkonferenz einen Plan vor, „der eine 25jährige Neutralisierung Deutschlands in Form völliger Entwaffnung und Entmilitarisierung vorsah" 76 . Der Plan nahm Rücksicht auf die Sicherheitsbedürfnisse der Sowjetunion und anderer europäischer Regierungen, kündigte eine längerfristige Präsenz der Vereinigten Staaten in Europa an und sah den Abzug der Besatzungstruppen vor. Byrnes legte ihn vor, nachdem er in einem Gespräch mit Stalin den Eindruck gewonnen hatte, ein solcher Vertrag könne abgeschlossen werden.77 Die Überlegungen zu einem solchen Abkommen reichten bis in das Frühjahr 1945 zurück, doch bereits im September 1945 hatte Stalin intern eine ablehnende Position eingenommen: „Für ihn stand fest, daß der Vertrag gegen die UdSSR gerichtete Absichten verfolge." 78 Für die SMAD war der Plan unannehmbar. Ihre Stellungnahme betonte den Zusammenhang zwischen der Entwaffnung Deutschlands und seiner Demokratisierung, wie sie in der SBZ stattfand. Die Präsenz sowjetischer Truppen in Deutschland diente beiden Zielen und war für deren Verwirklichung unverzichtbar. Diese Verknüpfung war nach Meinung von Sokolowski und Semjonow „für die Festlegung unserer Position gegenüber dem amerikanischen Entwurf insgesamt entscheidend" 79 . Küsters wertet den Byrnes-Plan und die gleich-

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Ebd., S. 265. Ebd., S. 229. Oliver Jäckel: Außenministerkonferenz Paris (25.4.-15.5. und 15.6.-12.7.1946) in: Wolfgang Benz (Hg.): Deutschland unter alliierter Besatzung 1945-1949/1955, a. a. O., S. 219. Unterredung zwischen Stalin und Byrnes, in: Jochen P. Laufer/Georgij P. Kynin (Bearb. und Hg.): Die UdSSR und die deutsche Frage 1941-48, Bd. 2, a. a. O., S. 226. Ebd., S. X L I X . Ebd., S. 265.

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zeitig anlaufende Konsolidierung der britischen und amerikanischen Zone als einen Test der sowjetischen Absichten: „Ging Stalin auf den Vorschlag ein, bedeutete dies die Aufgabe der Einflußsphärenpolitik und der Ansatz zur Fortsetzung der Großmächte-Kooperation. Seine Ablehnung hatte unweigerlich die Konsolidierung der defensiven westlichen Positionen zur Folge. Die Teilung Europas war unvermeidlich, um Westdeutschland für die eigene Einflußzone zu gewinnen und die Reparationen zu begrenzen. Die endgültige Spaltung Deutschlands war damit vorprogrammiert."80

3. Die KPD 3.1 Die Moskau-Kader der K P D und die Nachkriegsplanungen 1944 In die Planungen des sowjetischen Außenministeriums zur Deutschlandpolitik wurde die Moskauer Exilführung der K P D nicht einbezogen. „Die Planungsergebnisse der deutschen Exilanten kamen in der Litwinow-Kommission nicht zur Sprache" 8 1 , schreiben Laufer und Kynin. Angesichts ihrer Aufgabenstellung, sich mit den inneralliierten Verhandlungen über die europäische Nachkriegsordnung und mit den Kontrollmechanismen gemeinsamer alliierter Besatzung in Deutschland zu befassen, war dies nicht verwunderlich. Von der K P D war dagegen nach der Teheraner Konferenz 1943 eine Konzeption gefordert worden, die von einem unmittelbaren Zusammenwirken der Partei mit der sowjetischen Besatzungsmacht ausging. In einer N o t i z Wilhelm Florins vom November 1943 wird die Grundfrage des KPD-Programms formuliert: „Organisierung einer solchen Volkskraft, die mit Unterstützung der Sowjetmacht das neue Deutschland organisiert. Darum muß die Arbeiterklasse sich organisieren, Gewerkschaften organisieren, [...] Bauern organisieren - Mittelstand wiederherstellen. So kann ein demokratisches Volksdeutschland kommen." 82 Wilhelm Pieck bekräftigte 1944 das Festhalten an der bolschewistischen Parteikonzeption. Die Aufgabe sei, „durch die Schaffung einer mächtigen, vom Geiste des Marxismus, Leninismus, Stalinismus erfüllten einheitlichen Kampfpartei der deutschen Arbeiterklasse die Voraussetzung zum Siege unserer großen Sache zu schaffen" 8 3 . Dimitroff beauftragte im Februar 1944 die K P D , konkrete politische Planungen für die innere Umgestaltung Deutschlands unter den Bedingungen alliierter Besetzung auszuarbeiten. D e n deutschen Kadern war klar: Das Spannungsfeld von gemeinsamer Kriegskoalition einerseits und den Gegensätzen zwischen der Sowjetunion und den Westmächten als künftige Besatzungsmächte in Deutschland andererseits bildete den Hintergrund ihrer Überlegungen. Diese internationale Konstellation bestimmte auch die Reichweite der programmatischen Arbeit. Die K P D - K a d e r hielten am Ziel Sozialismus fest, mussten aber taktisch äußerst flexibel sein. „Hinsichtlich der inneren Umgestaltung Deutschlands" forderte Florin „das Weitgehendste, was

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Hanns Jürgen Küsters: Der Integrationsfriede, a. a. O., S. 278. Jochen P. Laufer/Georgij P. Kynin (Bearb. und Hg.): Die UdSSR und die deutsche Frage 1941— 48, Bd. 1, a. a. O., S. XLIV. Wilhelm Florin, zit. nach: Peter Erler et al. (Hg.): „Nach Hitler kommen wir", a. a. O., S. 73. Ebd., S. 99.

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die internationale Lage und die Kräfteverhältnisse in Deutschland selbst erlauben, zu erreichen" 84 . Ab Februar 1944 tagte in Moskau die 20-köpfige Arbeitskommission der K P D unter Leitung von Pieck und Florin. Ihre Mitglieder hatten zumeist im Apparat der Kommunistischen Internationale gearbeitet und waren aus der Stalin'schen Kommunistenverfolgung der dreißiger Jahre linientreu und diszipliniert hervorgegangen.85 Diese Kommission entwarf das Konzept zur kommunistischen Machtergreifung in dem neu zu schaffenden deutschen Staat. Die Kader verstanden sich bereits zu dieser Zeit als kommende Regierungspartei. Mit einem „Block der kämpferischen Demokratie", in dem nach Kriegsende die neu entstehenden antifaschistischen Parteien auf der Basis des Aktionsprogramms der K P D zusammengefasst werden sollten, wollten sie eine volksdemokratische Republik schaffen. Voraussetzung für die Realisierung dieser Überlegungen war für die KPD-Kader eine klare außenpolitische Grundsatzentscheidung Deutschlands. Florin formulierte sie im März 1944: „Wir stellen nicht die Frage so: Ost- oder Westorientierung? Wir sagen: Frieden und Freundschaft mit allen Nachbarn und besonders enge Freundschaft mit der Sowjetunion." 86 Die Haltung zur Sowjetunion wurde von ihm zur Scheidelinie deutscher Nachkriegspolitik zwischen dem Lager des KPD-geführten „Fortschritts" und der „Reaktion" erhoben. Die weltpolitische Blockbildung der Nachkriegszeit vorwegnehmend, benannte Florin schon die künftigen außenpolitischen Gegner der K P D in Deutschland: „[D]ie reaktionären Kreise in England und in den Vereinigten Staaten werden uns diese Politik nicht leicht machen. Sie werden darauf hinarbeiten, daß ihre Regierungen mit Speck und Krediten, mit geringen Reparationsforderungen nach Deutschland gehen, um unserem Volk die Westorientierung schmackhaft zu machen und u m es mit Hilfe der deutschen Reaktion doch wieder gegen die Sowjetunion zu mißbrauchen. Aber der Kern ihres Friedensvertrages wird ein harter sein, der Deutschlands Unabhängigkeit in Frage stellt." 8 7

Die Arbeitskommission beschäftigte sich vor allem mit der Debatte über den „Block der kämpferischen Demokratie" - ein Begriff, der auf Dimitroff zurückging. Dieser hatte, nun in seiner neuen Funktion als Leiter der internationalen Informationsabteilung des ZK der KPdSU, mit den KPD-Funktionären schon im Januar 1944 über ein Sofortprogramm diskutiert. Die Vorstellungen über diesen Block kreisten um zwei politische Notwendigkeiten: Wie kann erstens der Führungsanspruch der K P D umgesetzt werden und wie werden zweitens die „demokratischen Kräfte" in einem solchen Block verbunden, in dem auch die Einheit der Arbeiterklasse realisiert werden soll? Die Überlegungen dazu mussten vage bleiben. Der letzte, von Anton Ackermann im November 1944 formulierte Entwurf für ein Aktionsprogramm diente als Vorlage für den Aufruf des ZK der K P D vom 11. Juni 1945, nachdem in Moskau über Programmatik und Personal entschieden worden war.88 Im März 1945 erläuterte Pieck Kursanten der KPD-Parteischule die verschiedenen Bedingungen, unter denen die K P D im Vier-Zonen-Deutschland agieren müsse: In

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Ebd., S. 86. Zur personellen Zusammensetzung der Arbeitsgruppe vgl. ebd., S. 79. Ebd., S. 144. Ebd., S. 157. Vgl. Peter Erler et al. (Hg.): „Nach Hitler kommen wir", a. a. O., S. 89-99.

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den anderen Besatzungszonen rechnete er mit einer Stärkung der Sozialdemokratie in der Arbeiterschaft durch die Westmächte, um damit „ein Gegengewicht gegen den wachsenden Einfluß der SU zu schaffen". Ganz anders sah dagegen die Perspektive für die K P D in der Sowjetischen Besatzungszone aus, „sowohl was den Einsatz unserer Kader angeht, als auch die Zusammenarbeit und die Ubereinstimmung in Ziel und Durchführung unserer Aufgaben" 89 . Wenn auch die politische Macht in den Händen der Besatzungsmacht liegen sollte, so war doch die Anwesenheit sowjetischer Truppen in Deutschland für Pieck eine Garantie für die Machteroberung der KPD, freilich unter Beachtung der sowjetischen Vorgaben. Die entscheidende Voraussetzung für die künftige Rolle der K P D als Staatspartei bestand für die Moskau-Kader in der Durchsetzung ihrer Hegemonie in der deutschen Arbeiterbewegung. Eine gleichberechtigte Einbeziehung der Sozialdemokraten in diesen Prozess der Uberwindung parteipolitischer und weltanschaulicher Zersplitterung der sozialistischen Bewegung schlossen sie aus. Der Charakter einer zukünftigen Einheitspartei stand bereits fest: Es konnte sich nur um eine marxistischleninistische „Kampfpartei" nach dem Vorbild der KPdSU (B) handeln. In ihrer Einschätzung der Sozialdemokratie schwankten die Moskau-Kader zwischen der Hoffnung, dass die SPD ihren Masseneinfluss in der deutschen Arbeiterschaft nach 1933 verloren habe, und der Furcht vor erneuter Konkurrenz. Sepp Schwab sprach im April 1944 klar aus, was die K P D zu tun hatte: „Wir müssen selbst Hand anlegen in der Schaffung einer solchen Sozialdemokratie, die mit uns zusammenarbeitet." Als Realist wusste Schwab schon zu diesem Zeitpunkt, dass die Schaffung der Einheit nicht ohne Widerstand durchzusetzen sein würde, und erläuterte, wie dieser zu brechen sei: „Die Einheit der Arbeiterklasse ist mit allen Mitteln (auch mit dem Einsatz von Heer und Polizei-Position) zu verteidigen." 90 Anfang 1945 fertigte die Moskauer KPD-Spitze positive und negative Kaderlisten über emigrierte Sozialdemokraten an. Diese Selektionsmethode setzte die K P D auch in der Vereinigungskampagne 1945/46 gegen die SPD ein. Schon in Moskau rechneten die KPDPolitiker vor allem mit der Gruppe der mittleren Führungsebene aus SPD und Gewerkschaften, die sie als zukünftige Bündnispartner für ihre Einheitspartei gewinnen wollten. Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Planungen der Moskauer KPD-Kader erfolgten im Auftrag der sowjetischen Führung und müssen somit als Bestandteil der sowjetischen Nachkriegspolitik auf der zweiten Ebene gewertet werden. 3.2 Die Moskau-Kader und die Neugründung der K P D Zur Politik wurden die Moskauer Pläne und Überlegungen erst, als die Siegermacht Sowjetunion die Moskau-Kader der K P D beauftragte, in der Sowjetischen Besatzungszone den neuen Staat zu organisieren. Noch während der zweiten Gipfelkonferenz in Jalta im Februar 1945 gab Dimitroff Pieck den Auftrag, zuverlässige Kader zur Unterstützung der sowjetischen Armee in den von ihr besetzten deutschen Gebieten auszuwählen und sie auf den Einsatz vorzubereiten. Als Mitarbeiter der politischen Hauptverwaltung der Roten Armee sollten die deutschen Kader nach dem

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Wilhelm Pieck: Probleme des Kampfes für ein neues Deutschland, handschriftliche Disposition für einen 2. Lehrgang auf der Parteischule der K P D am 1. März 1945, in: ebd., S. 371. Ebd., S. 168.

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Vormarsch der sowjetischen Truppen in Mecklenburg-Vorpommern, im sächsischen Industriegebiet und in der Reichshauptstadt Berlin die Besatzungsmacht beim Aufbau antifaschistischer Verwaltungen unterstützen. Die Leitungspositionen der Personalämter sollten mit Kommunisten besetzt werden - der Anfang einer planmäßigen KPD-Personalpolitik in den neuen Verwaltungen der SBZ. Ende April 1945 wurden drei Gruppen gebildet, die wichtigste kam in Berlin unter Ulbricht zum Einsatz. Innerhalb weniger Wochen gelang es ihr, in Zusammenarbeit mit sowjetischen Offizieren die Bezirks Verwaltungen und einen Berliner Magistrat zu organisieren. Noch vor der dritten alliierten Gipfelkonferenz in Potsdam, die im Sommer 1945 über die Zukunft Deutschlands entscheiden sollte, ließ die Sowjetunion in ihrer Besatzungszone antifaschistisch-demokratische Parteien und Gewerkschaften zu. Vor dieser Entscheidung hatte Semjonow einen Bericht zur politischen Orientierung der überlebenden deutschen Kommunisten in der SBZ verfasst, worin er über die spontane „Wiedergeburt" der K P D und deren Fehlorientierung auf die „unverzügliche Errichtung des Sozialismus in Deutschland" informierte. Semjonow forderte dringend ein Zentralorgan für die KPD: „Dies wird dabei helfen, sektiererische Elemente schnellstmöglich kaltzustellen und den deutschen Kommunisten ermöglichen, die in der gegenwärtigen Phase vor ihnen stehenden Aufgaben zu begreifen." 91 Zum gleichen Ergebnis kam Ulbricht, als er Pieck von seinen Erfahrungen in Berlin berichtete: „Wir müssen uns Rechenschaft legen darüber, daß die Mehrheit unserer Genossen sektiererisch eingestellt ist und daß möglichst bald die Zusammensetzung der Partei geändert werden muß durch Hereinnahme aktiver Antifaschisten, die sich jetzt in der Arbeit bewähren."' 2

Schon im Februar 1945 hatte sich Ulbricht in Moskau mit dem Aufbau der Parteiorganisation beschäftigt und Richtlinien formuliert, wer wieder in die K P D aufgenommen werden konnte und wer nicht. Ein automatisches Aufleben der Mitgliedschaft von vor 1933 sollte es nicht geben. Aus der Perspektive der Moskau-Kader ging es intern um eine Neugründung, was Pieck und Ulbricht jedoch nicht daran hinderte, im Aufruf des Z K der K P D den Eindruck ungebrochener Kontinuität zu erwecken. Angehörigen von „parteifeindlichen Gruppierungen", die vor oder nach 1933 ausgeschlossen wurden, sollte der Eintritt verwehrt werden. 93 Sofort nach der Gründung wurde im Sekretariat die von Franz Dahlem geleitete Kaderabteilung damit beauftragt, die „Schaffung eines Abwehrapparates zur Beobachtung und Beschaffung von Informationsmaterialien" 94 vorzubereiten. Mit diesem Beschluss wurde eine umfassende Materialsammlung über das Verhalten von Parteimitgliedern während der

91 92 93 94

Jochen P. Laufer/Georgij P. Kynin (Bearb. und Hg.): Die UdSSR und die deutsche Frage 1941— 48, Bd. 2, a. a. O., S. 26 f. Aus einem Brief an Genösse Wilhelm Pieck, Berlin, 17. Mai 1945, in: Walter Ulbricht: Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. II: 1933-1946, Zusatzband, Berlin (Ost) 1966, S. 205. Vgl. Anweisungen für die Anfangsmaßnahmen zum „Aufbau der Parteiorganisation", 15. Februar 1945, in: Peter Erler et al. (Hg.): „Nach Hitler kommen wir", a. a. O., S. 327 f. Michael Kubina: Von Utopie, Widerstand und Kaltem Krieg. Das unzeitgemäße Leben des Berliner Rätekommunisten Alfred Weiland (1906-1978), Münster 2000, S. 163.

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NS-Diktatur eingeleitet, auch um Gestapo-Spitzel zu enttarnen95 und „linkssektiererische Erscheinungen" 96 zu „entlarven". Der Parteiaufbau der KPD wurde umgehend den Verwaltungsstrukturen der Provinzen und Länder angepasst, und der hauptamtliche Apparat reichte sofort bis zur Kreisebene. Ohne ihn war eine kommunistische Personalverwaltung für Staat und Gesellschaft nach dem Vorbild der Sowjetunion unmöglich. Die Sitzungen des provisorischen KPD-Sekretariats befassten sich bereits 1945 mit Personalentscheidungen (Kaderfragen) in der staatlichen Verwaltung und den Gewerkschaften. Parallel zur Übernahme der obersten Regierungsgewalt durch die Alliierten in Deutschland am 5. Juni 1945 wurde in Moskau die Wiederbegründung der KPD vorbereitet. Am 4. und 7. Juni empfing Stalin die KPD-Führung im Kreml. Durch Piecks Notizen sind wir über den Inhalt dieser Gespräche notdürftig informiert, 97 die der Zusammensetzung des provisorischen Zentralkomitees, der Redaktion ihres Zentralorgans und den Inhalten des programmatischen Aufrufs des ZK der KPD galten.98 Von den 16 Unterzeichnern des KPD-Aufrufs vom 11. Juni 1945, die zugleich als das neue provisorische Zentralkomitee fungierten, kamen 13 aus dem Moskauer Exil. Sie besetzten die Schlüsselpositionen in der Parteiführung. Hinsichtlich der Personalentscheidungen für die KPD-Spitze drängt sich die Frage auf, ob die KPdSU diese Funktionäre nicht als ihre Nomenklaturkader betrachtete. Fest steht: Über ihren Einsatz an der Spitze der deutschen Partei entschieden nicht die KPD-Mitglieder, sondern die sowjetische Führung. Der Aufruf verzichtete auf den Begriff Sozialismus, da man den damaligen Zeitpunkt für ungeeignet hielt, um in Deutschland das Sowjetsystem einzuführen. Die KPD forderte eine erneuerte parlamentarische Republik und schlug den anderen antifaschistisch-demokratischen Parteien die Bildung eines Blocks vor, der die politischen Interessen der Deutschen auf Basis einer gemeinsamen inhaltlichen Orientierung, die der Aufruf lieferte, gegenüber den Besatzungsmächten vertreten sollte. Der Ablauf der KPD-Gründung entsprach dem aus dem Moskauer Exil bekannten Muster: Die sowjetische Führung gab die Aufgabenstellung vor und die deutschen Kader formulierten daraus eine Linie für die eigene Partei - nun wieder im eigenen Land und von Moskau-Kadern geführt. Ihr Selbstverständnis unterschied sich von dem der „Kommunisten im Lande" und beruhte nach Peter Erler auf ihren Erfahrungen im

95 Vgl. Wilhelm Mensing: Vertrauensleute kommunistischer Herkunft bei der Gestapo und NSNachrichtendienst am Beispiel von Rhein und Ruhr, in: Hermann Weber et al. (Hg.): Jahrbuch für historische Kommunismusforschung, Berlin 2004, S. 98-110. 96 Michael Kubina: Von Utopie, Widerstand und Kaltem Krieg, a. a. O., S. 165. 97 Vor 1991 wurden diese Notizen von dem SED-Parteihistoriker Günter Benser (Die KPD im Jahr der Befreiung, Berlin (Ost) 1985) und dem Mannheimer DDR-Historiker Dietrich Staritz (Die SED, Stalin und die Gründung der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. B-5/91, S. 3-16) nur beiläufig herangezogen, um die Konsultation der KPD-Spitze mit Stalin zu belegen. Die Teile der Notizen Piecks, in denen er die personalpolitischen und programmatischen Festlegungen notierte, blieben unerwähnt. Sie wurden erstmals 1991 einem breiten Publikum vorgestellt: Manfred Wilke: „Es wird zwei Deutschlands geben", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. März 1991, S. 6. 98 Vgl. Michael Kubina: Der Aufbau des zentralen Parteiapparates der KPD 1945-46, in: Manfred Wilke (Hg.): Die Anatomie der Parteizentrale, a. a. O., S. 59 ff.

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„gemeinsamen Emigrationsland, die dort erhaltene Ausbildung, die politisch-emotionale Bindung an die Sowjetunion, die prinzipielle Bejahung des sowjetischen Gesellschaftsmodells auch für Deutschland und dem widerspruchslosen Gehorsam gegenüber sowjetischen Funktionären"". Hinzu kam die tabuisierte Erfahrung, dass sie Überlebende der stalinistischen Kommunistenverfolgung waren, der weit über eintausend Politemigranten der KPD zum Opfer fielen. „Diese deutschen Kommunisten waren in hohem Grade sowjetisiert und teilweise auch russifiziert. Sie waren fügsam und sensibel für Wandlungen und Wendungen der Politik Stalins." 100 Gemessen an der Zahl der Parteimitglieder von KPD oder gar SED waren die Moskau-Kader eine verschwindende Minderheit von zirka 600 Personen. Norman M. Naimark sieht in ihrer politischen Loyalität die Voraussetzung für ihre Führungsposition in der KPD und damit für ihre Unverzichtbarkeit für die sowjetische Besatzungspolitik: „Zwar vermieden es die Sowjets sorgfältig, ein Sowjetdeutschland zu schaffen, doch dafür waren sie nur allzu gern bereit, die Sowjetisierung einzelner SED-Mitglieder zu akzeptieren. Die Deutschen wurden dadurch fügsamer und flexibler, zeigten sich weniger doktrinär und mehr auf die subtilen Wandlungen Stalinscher Politik eingestellt. Es förderte eine von gegenseitiger Akzeptanz und Verständnis geprägte Kultur zwischen Sowjets und Deutschen. [...] Gewisse Fragen wurden nicht gestellt, gewisse Themen nicht angerührt."101 3.3 KPD und S M A D Die sowjetische Besatzungspolitik war auf die Kooperation mit der KPD angewiesen. Sergej I. Tjulpanow, Leiter der Verwaltung für Propaganda und Information, betont in seinen Erinnerungen, es sei ganz klar gewesen, „daß die Offiziere der Informationsverwaltung der SMAD, besonders die Mitglieder der KPdSU, den Kontakten und der Zusammenarbeit mit den Grundorganisationen der KPD sowie mit den Leitungen der Partei in den Ländern und Provinzen besondere Beachtung schenkten"102. Dieser Kontakt war insbesondere in der Personalpolitik nötig, um die „richtigen" Deutschen vor Ort auszuwählen, die wiederum die KPD vorschlug. Die Auswirkungen dieser Personalpolitik in der staatlichen Verwaltung der SBZ, die zugleich einherging mit der „Funktionsaufwertung der KPD/SED" 103 , hat Foitzik anschaulich dargestellt. 104 Eine Schlüsselrolle auf oberster Ebene in den Verbindungen der KPD zur S M A D spielte Walter Ulbricht. Nach der Rückkehr Wilhelm Piecks am 1. Juli 1945 koordinierte Ulbricht im gerade gebildeten Provisorischen Sekretariat der KPD die „Verbin-

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Peter Erler: „Moskau-Kader" der K P D in der SBZ, in: ebd., S. 231. Vgl. ebd., S. 234. Norman M. Naimark: Russen in Deutschland, a. a. O., S. 369. Stefan Doernberg (Hg.): Sergej I. Tjulpanow: Deutschland nach dem Krieg ( 1 9 4 5 - 1 9 4 9 ) . Erinnerungen eines Offiziers der Sowjetarmee, Berlin (Ost) 1986, S. 25. 103 Jan Foitzik: S M A D 1 9 4 5 - 1 9 4 9 , a. a. O., S. 425. 104 Ebd., S. 4 1 0 - 4 2 2 ; vgl. auch: Mike Schmeitzner/Stefan Donth: Die Partei der Diktaturdurchsetzung. KPD/SED in Sachsen 1 9 4 5 - 1 9 5 2 , Köln/Weimar/Wien 2002.

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düngen mit [der] Besatzungsmacht" 105 . Gerade der intensive personenbezogene Kontakt von verantwortlichen KPD-Kadern zu ihren Ansprechpartnern in der SMAD verdeutlicht, worin der erste Schritt zur Übertragung der sozialistischen Staatsform auf die SBZ im Rahmen der „sozialistischen Besatzungspolitik" 106 bestand: in der Etablierung der führenden Rolle der KPD auf allen Ebenen der SBZ-Verwaltung. Die sowjetische Besatzungsmacht war ebenso wie die westlichen Besatzungsmächte daran interessiert, auch die deutsche Bevölkerung für sich zu gewinnen. In den Worten von Marschall Schukow, die er auf einer Parteiaktivtagung im Mai den Soldaten der Berliner Garnison zugerufen haben soll: „Wir haben Berlin erstürmt, doch die Seelen der Deutschen werden wir erst erkämpfen müssen. Das wird eine schwere Schlacht sein, und nun verläuft unsere vorderste Linie gerade hier. Ich möchte glauben, daß uns auch an dieser Front ein glänzender Sieg erwartet."107 Um diesen Sieg zu erstreiten, war beim Neuaufbau des deutschen Parteiensystems, das von der SBZ ausgehen sollte, die führende Rolle der KPD unerlässlich. Doch in diesem neuen Kampf hatte die Sowjetunion eine wichtige Schlacht verloren: Ihr Weg zum Triumph war von Grausamkeiten, Plünderungen und Vergewaltigungen gesäumt. Besonders letztere „wurden zum Hauptvorbehalt der Deutschen gegen engere Bindungen an die Sowjetunion" 108 . Naimark zeigt detailliert die politischen Fernwirkungen der Vergewaltigungen auf: Im Westen wurde dieses Thema für Propagandazwecke eingesetzt, in der SBZ war eine öffentliche Erörterung hingegen verboten und die KPD/SED wurde durch ihr Schweigen als „Russenpartei" stigmatisiert. Dieses negative Image als Partei der Besatzungsmacht war eine schwere Hypothek für die Kommunisten und stärkte die SPD in der SBZ. Die KPD agierte mit einem Autoritätsdefizit in der militärisch gesicherten Transformationsdiktatur der SBZ und besaß daher nur eine geborgte Autorität. Ungeachtet dessen baute die Besatzungsmacht den zentralen Parteiapparat der KPD von Anfang an dem sowjetischen Referenzmodell folgend als Anleitungsapparat für staatliche und gesellschaftliche Institutionen und Organisationen in ihrer Zone auf. Erste personelle Schwerpunkte entsprachen dem Charakter der Transformationsdiktatur: Sie lagen im Apparat in den Bereichen Propaganda, Kultur, Erziehung und Parteischulung sowie Kaderfragen und Organisation. 109 Die in engem Kontakt mit der SMAD stehenden „Vertrauenskader" an der Spitze der KPD besaßen zwar systemimmanente und operativ notwendige Entscheidungs- und Interpretationskompetenzen, jedoch keine Spielräume im Sinne einer Handlungsautonomie. „Ulbricht und die anderen ,Vertrauenskader' der Sowjets hatten zunächst vor allem die Aufgabe, die Direktiven aus Moskau für die konkreten Bedingungen in Deutschland ,paßgenau' zu machen, was ihnen oft mehr schlecht als recht gelang."110

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Michael Kubina: Der Aufbau des zentralen Parteiapparates der K P D 1945-46, a. a. O., S. 70. Stefan Doernberg (Hg.): Sergej I. Tjulpanow, a. a. O., S. 24. Zit. nach: ebd., S. 15. Norman M. Naimark: Die Russen in Deutschland, a. a. O., S. 170. In beiden Bereichen waren 1947 im zentralen SED-Apparat jeweils etwa 30 Prozent der Mitarbeiter beschäftigt. - Vgl. Michael Kubina/Manfred Wilke: Die Etablierung einer Okkupationspartei, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat, Nr. 13/2003, S. 13. 110 Vgl. ebd., S. 14.

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4. Die SED-Gründung 4.1 Stalins „Sozialistische Einheitspartei Deutschlands" Die politisch-organisatorische Unterstützung der Vereinigungskampagne der K P D durch die SMAD lag beim politischen Mitglied des SMAD-Kriegsrates, Generalleutnant Fjodor J. Bokow. 111 Bokow informierte Pieck am 23. Januar über Stalins Wunsch, die K P D solle die Vereinigungskampagne beschleunigen und sie noch vor den Wahlen möglichst zum 1. Mai abschließen. Aus Piecks Notizen über Ulbrichts MoskauReise Anfang Februar 1946 geht hervor, dass Stalin sich mit der vorgeschlagenen Form der Vereinigung in der Sowjetischen Besatzungszone einverstanden erklärte und den KPD-Kurs billigte. „Als politisches .Minimalprogramm' habe die Möglichkeit zu gelten, in den Westzonen schlicht den Namen K P D in den der Einheitspartei zu verwandeln, um so die Einheit Deutschlands zu demonstrieren."" 2 Stalin legte auch den Namen der Partei fest: „Sozialistische Einheitspartei Deutschlands"" 3 . Im Unterschied zu Russland müssten auf dem Weg zur Macht die parlamentarischen Traditionen des Westens beachtet werden, die Partei dürfe nicht sofort Kurs auf die Errichtung der Diktatur des Proletariats nehmen. Friederike Sattler verweist darauf, dass diese programmatischen Überlegungen zur „Übergangsfrage" unmittelbar nach Ulbrichts Rückkehr von Anton Ackermann in seinem viel zitierten Artikel „Gibt es einen besonderen deutschen Weg zum Sozialismus?" ausführlich begründet wurden, 1H der durch die Interpretation von Zeitgenossen einen hohen Stellenwert erlangte: „Der Artikel wirkte wie eine Bombe. Abgesehen von einem ganz kleinen Teil hundertprozentig moskauhöriger Funktionäre, denen neue Gedanken überhaupt zuwider waren, lösten diese Thesen eine große Erleichterung aus. Nun - so schien es uns - war endlich ein Weg gefunden. [...] Eine grundsätzliche Abgrenzung von der Entwicklung von der Sowjetunion. Ackermanns These begann ihren Siegeszug durch die Partei."" 5 Der Moskau-Kader Ackermann begründete gegenüber einem Referenten der politischen Abteilung der SMAD, warum die Vereinigung noch vor den Wahlen stattfinden müsse: Würden SPD und K P D getrennt antreten und die Sozialdemokraten siegten, gäbe es keine Vereinigung. Insofern ging es um eine Spaltung der sozialdemokratischen Partei, die im Februar 1946 von SMAD und K P D durchgesetzt wurde. Schon am 23. Januar 1946 gab der Chef der thüringischen SMA, General Iwan S. Kolesnitschenko, dem SPD-Landesvorstand den „Rat",

111 Vgl. zur Biografie Jan Foitzik: SMAD, a. a. O., S. 459. 112 Friederike Sattler: Bündnispolitik als Problem des zentralen Parteiapparates der K P D 1945/46, in: Manfred Wilke (Hg.): Anatomie der Parteizentrale, a. a. O., S. 190. 113 Rolf Badstübner/Wilfried Loth (Hg.): Wilhelm Pieck - Aufzeichnungen zur Deutschlandpolitik 1945-53, a. a. O., S. 68. 114 Vgl. Friederike Sattler: Bündnispolitik als Problem des zentralen Parteiapparates der K P D 1945/46, a. a. O., S. 190. 115 Wolfgang Leonhard: Die Revolution entläßt ihre Kinder, Köln 1955, zit. nach der Aufl. 1990, S. 521.

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„nicht mehr länger auf Entscheidungen des Zentralausschusses zu warten: ,In Thüringen sei die Voraussetzung für den Zusammenschluß gegeben. [...] Thüringen müsse das Beispiel geben, dann würden die anderen Teile und auch die anderen Zonen folgen.'"116 Der General wies auch den Weg: „Wenn jemand gegen die Einheit was getan, beseitigen [...]. Gegen Elemente, die nicht mitgehen, die die Einheit der Arbeiterklasse sabotieren, habe die Presse vorzugehen." 117 In Bezug auf die Zeitungen und den Rundfunk wurde seitens der SMAD Tjulpanows Abteilung tätig. Sie kontrollierte die Medien aller Länder und Provinzen der SBZ. Unter diesem Druck brach der Selbstbehauptungswille der Sozialdemokraten an vielen Orten in der SBZ zusammen. Öffentlicher Druck, der Vereinigung zuzustimmen, ging jedoch auch vom FDGB aus, dessen Gründungskongress vom 9. bis 11. Februar stattfand. Die KPD hatte die Wahlen zu den Gewerkschaftskongressen „als Kampagne für die schnelle Vereinigung der beiden Arbeiterparteien geführt. Ulbrichts Instruktionen für die Bezirkssekretäre der KPD lauteten: ,Wir müssen die Frage der Einheit in den Vordergrund stellen, damit wir auch bei den Gewerkschaftswahlen nur solche Werktätige als Delegierte in die Leitung wählen, die für die Einheit sind.'"118 Am letzten Verhandlungstag des Kongresses, der die Einheitspartei forderte, gab Grotewohl die Zustimmung des SPD-Zentralausschusses zur zonalen Vereinigung mit der KPD bekannt. Dieser Auftritt verstärkte bei den Westmächten den Verdacht, „daß die Sowjets hinter der ganzen Angelegenheit stecken, um so die Gewerkschaften auch der Westzonen unter Kontrolle zu bringen"119. Ende Februar 1946 fand die zweite „Sechziger-Konferenz" statt, auf der der Entwurf für die Grundsätze und Ziele der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands gebilligt und ein „Organisationsausschuß zur Durchführung der Vereinigung" gebildet wurde. 120 Der in Moskau von Stalin festgelegte Name der Partei wurde auf dieser Konferenz von Pieck historisch legendiert. Er behauptete, bei der SED-Gründung würde sich nicht die eine Partei der anderen ,,anschließ[en] oder umgekehrt, sondern hier entsteht eine neue Organisation, eine neue Kraft, die aus dem starken Willen der Arbeiterschaft zur Einheit entspringt" 121 . Mit bedauernden Worten kommentierte Pieck die vergeblichen Versuche des Zentralausschusses, die Sozialdemokraten in den westlichen Zonen für die Einheit zu gewinnen. In diesem Zusammenhang thematisierte Pieck als Repräsentant der KPD auch die Schwierigkeiten in Berlin und führte sie auf die Teilung der Stadt in vier Besatzungssektoren zurück. Er empörte sich über Misstrauensanträge gegen die Berliner SPDLeitung und den Zentralausschuss und brachte diese Aktivitäten mit dem Wirken Schumachers in Verbindung, um wortreich die gegnerischen Befürchtungen in der SPD zurückzuweisen, die KPD beabsichtige, „aus dieser Vereinigung der beiden Par-

116 Zit. nach: Andreas Malycha: Die SED. Geschichte ihrer Stalinisierung 1946-1953, Paderborn et al. 2000, S. 107. 117 Ebd. 118 Friederike Sattler: Bündnispolitik als Problem des zentralen Parteiapparates der KPD 1945/46, a. a. O., S. 174. 119 Harold Hurwitz: Die Anfänge des Widerstandes, a. a. O., S. 861. 120 Organisationsbeschluss, in: Hans-Joachim Krusch/Andreas Malycha: Einheitsdrang oder Zwangsvereinigung? Die Sechziger-Konferenzen von KPD und SPD 1945 und 1946, Berlin (Ost) 1990, S. 260. 121 Stenografische Niederschrift der 2. Sechziger-Konferenz am 26. Februar 1946, in: ebd., S. 202.

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teien eine kommunistische Partei zu machen" 1 2 2 . Im Bild des Antipoden Schumacher zeichnete Pieck die eigene Situation, aus der heraus die Moskau-Kader der K P D handelten. E r bezog sich implizit auf das Primat der alliierten Militärverwaltung gegenüber den Deutschen: Für Schumachers Handeln könne es nur eine Entschuldigung geben, „daß er nicht mehr Herr über seinen eigenen Willen ist, sondern hier unter einem strikten Befehl handelt" 1 2 3 . Den Bericht über die Fusionskampagne begann Pieck mit Blick auf Westdeutschland und den Einheitsgegner Kurt Schumacher. E r nannte ihn einen „Günstling der Engländer und rechten SPD-Führer in der englischen, amerikanischen und französischen Besatzungszone". Ihm sei es gelungen, „auf den sozialdemokratischen Konferenzen in den Westzonen Beschlüsse durchzusetzen, die die Schaffung einer einheitlichen Arbeiterpartei ablehnen" 1 2 4 . Auch Semjonow enthielt seinen Adressaten die Kernsätze nicht vor, mit denen Schumacher seinen Kurs begründete: „Die kommunistische Politik ist keine Politik des deutschen Volkes und keine Politik des internationalen Sozialismus [...] die kommunistische Politik ist in Deutschland theoretisch und praktisch ebenso gescheitert, wie auch die Politik jeder anderen Diktatur gescheitert ist. Dies ist am deutlichsten in der russischen Besatzungszone sichtbar. Die Sozialdemokraten lehnen es ab, als Blutspender in Erscheinung zu treten. Ihr Blut dem schwächeren Organismus der Kommunistischen Partei zur Verfügung zu stellen."125 Auf Schumachers Wirken führte Semjonow zurück, dass es den Rechten am 1. März auf einer Berliner Funktionärsversammlung der S P D gelungen sei, eine Entschließung durchzusetzen, die die Vereinigung der beiden Parteien „vom Ausgang einer Befragung aller SPD-Mitglieder abhängig" machen wollte. Semjonow notierte abschließend, dass sowohl das Z K der K P D als auch der Z A der S P D „die Gefahr eines solchen Zusammenschlusses der rechten Sozialdemokraten in Berlin offensichtlich unterschätzt haben" 1 2 6 . 4.2 Der Fusionskampf in Berlin Der Plan zur Vereinigung von K P D und S P D und die Rolle der Sozialdemokraten dabei standen fest: Sie sollten sich „einvernehmlich" unterwerfen. „Die Sowjets haben die Einigung befohlen. Es soll - nein, es muß unsere Aufgabe sein, sie als eine freie Willensentscheidung zu tarnen" 1 2 7 , so der Thüringer Landesvorsitzende Heinrich Hoffmann. „Die neue Partei wird ein Instrument der Sowjets sein. Wir müssen jedoch uns und dem Volk klarmachen, daß die vereinigte Partei eine demokratische Partei bleibt. Die Spal-

122 Ebd., S. 200. 123 Ebd., S. 201 f. 124 Jochen P. Laufer/Georgij P. Kynin (Bearb. und Hg.): Die UdSSR und die deutsche Frage 1941— 48, Bd. 2, a. a. O., S. 275. 125 Ebd. 126 Ebd., S. 276; vgl. auch Manfred Wilke: Schumachers sozialdemokratischer Führungsanspruch und die Gründung der SED, in: ders. (Hg.): Die Anatomie der Parteizentrale, a. a. O., S. 2 1 3 228. 127 Zit. nach Erich W. Gniffke: Jahre mit Ulbricht, Köln 1966, S. 158.

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tung der SPD nach Zonen ist unaufhaltsam, eine Einigung im Reichsmaßstab für lange Zeit ausgeschlossen."128 Die Inszenierung der Einheit durchkreuzten die Sozialdemokraten in der VierSektoren-Stadt Berlin. Am 23. Februar 1946 hatte der im französischen Sektor Berlins liegende Reinickendorfer SPD-Kreisverband eine Resolution verabschiedet, die eine Urabstimmung über die Vereinigung forderte. Die Sozialdemokraten hatten noch den verhängnisvollen „ B r u d e r k a m p f " i n der Arbeiterbewegung vor Augen, der vor 1933 eine der Voraussetzungen für Hitlers Aufstieg gewesen war. Einen solchen wollten sie nicht noch einmal, gleichzeitig sprachen sie sich jedoch auch gegen eine Verschmelzung der SPD mit der K P D auf zonaler Basis aus. Die Resolution formulierte an die Mitglieder zwei Fragen: „Bist du für den sofortigen Zusammenschluß beider Arbeiterparteien? Oder bist du für ein Bündnis beider Parteien, welche gemeinsame Arbeit sichert und den Bruderkampf ausschließt?"129 Der SPD-Zentralausschuss griff die Entschließung auf und „aus purer Überheblichkeit und Uberschätzung seiner Überzeugungskraft ließ Otto Grotewohl für den 1. März eine Großberliner Funktionärskonferenz einberufen, um so erneut die Aufregung der Berliner Genossen rhetorisch aufzufangen und die aktiven Fusionsgegner zu isolieren"130. Diese Konferenz fand im Berliner Admiralspalast statt und an ihr nahmen mehr als zweitausend SPD-Funktionäre teil. „Sowjetsoldaten mit aufgepflanztem Bajonett waren nicht nur vor dem Gebäude postiert, sondern auch im Vorraum und im Sitzungssaal selbst zu sehen. Eine Unmenge von Offizieren der SMAD waren anwesend, aber auch viele Offiziere der Westmächte und Auslandskorrespondenten (die auch Uniform trugen) fanden sich ein."131 Grotewohl sprach eineinhalb Stunden und rechtfertigte die Entscheidungen des SPDZentralausschusses für eine Vereinigung von KPD und Sozialdemokraten in der SBZ. Seine Rede wurde jedoch von tumultartigen Zwischenrufen unterbrochen.132 Als er abbrechen musste, fragte er: „Wozu seid ihr dann erst gekommen?" Die Antwort erhielt er von Betriebsrat Gerhard Außner: Der Zweck dieser Versammlung sei „die Wiederherstellung der Demokratie innerhalb der SPD" 1 3 3 . Der Versammlung lag die Reinickendorfer Entschließung vor, die eine Urabstimmung über die Fusion in Berlin forderte. Vor der Abstimmung räumte Grotewohl in seinem Schlusswort ein, er habe seine Auffassung über die Einheit „unter dem Druck der Ereignisse" geändert, was wütende Reaktionen der Teilnehmer auslöste.134 Grotewohl hatte seine Autorität als Vorsitzender des Zentralausschusses der SPD in Berlin verloren. Die Mehrheit für die Resolution zur Urabstimmung war eindeutig. Harold Hurwitz resümiert: „Der Abwehrkampf der Berliner Sozialdemokraten war in ersten Linie ein Aufstand der

128 Ebd. 129 Zit. nach: Harold Hurwitz: Zwangsvereinigung und Widerstand der Sozialdemokraten in der sowjetischen Besatzungszone, Köln 1990, S. 110. 130 Ebd., S. 111. 131 Harold Hurwitz: Die Anfänge des Widerstandes, a. a. O., S. 1022. 132 Vgl. ebd., S. 1023 ff. 133 Ebd., S. 1027 f. 134 Vgl. ebd., S. 1029.

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,kleinen Leute' und fand in einer vom Krieg zerstörten Metropole statt" 1 3 5 , in den Nachbarschaften und Betrieben, in Parteigliederungen und ihren Vorständen. Hurwitz weist auf ein weiteres Erschwernis hin: „daß die vier Mächte der Bevölkerung jeden Einblick in Entscheidungsprozesse des Kontrollrates und der Kommandantur verweigerten, der dem Bild ihrer Eintracht hätte abträglich sein können [...] Andererseits konnten diejenigen Männer und Frauen, die den Aufstand an der Basis mittrugen, mit der Ahnung oder dem Wissen ihrer umfassenden Isolierung, mit den Risiken und der scheinbaren Aussichtslosigkeit ihrer Sache deshalb leben, weil sie in ihrem Kampf von zwischenmenschlichem Solidaritätsverhalten und der Resonanz vor Ort bestärkt wurden." 136 Von überragender Bedeutung war, dass die Sowjets in Berlin kein Pressemonopol besaßen und die Sozialdemokraten im „Tagesspiegel" ein Forum für ihren Abwehrkampf fanden. Die amerikanische Militärregierung erlaubte zu diesem Zeitpunkt in ihrer Zone den Zusammenschluss der politischen Parteien. Konfrontiert mit der Absicht, die Einheitspartei auch auf ihre Zone auszudehnen, bestanden die Amerikaner darauf, dass die Fusion von K P D und S P D auf der breiten Zustimmung der Mitglieder beruhte. Dies gelte auch für den amerikanischen Sektor in Berlin. 1 3 7 Dennoch bemühten sich die Westmächte in Berlin, den Streit mit den Sowjets zu vermeiden und ihre Haltung blieb noch ambivalent: „Denn eine Woche vor der Urabstimmung hatten die drei westlichen Besatzungsmächte zwar entschieden, im eigenen Sektor von Berlin das Weiterbestehen einer unabhängigen Sozialdemokratischen Partei zu garantieren, aber lediglich jede für sich. [...] Den Fusionsgegnern Sicherheit vor Ort zu gewähren, lag ganz eindeutig im Interesse der westlichen Besatzungsmächte, die nun Anlaß hatten, sich um ihre eigene Stellung in Berlin Sorgen zu machen. [...] Die Sowjets wurden nicht einmal zur Duldung der Urabstimmung in ihrem eigenen Sektor ermahnt."138 A m 28. März 1946 trat der Zentralausschuss noch einmal als Parteiführung auf: Allein der SPD-Parteitag am 19./20. April entscheide über die Vereinigung. Gleichzeitig rief er zum B o y k o t t der Urabstimmung der Berliner Sozialdemokraten auf, die er nicht mehr verhindern konnte. 1 3 9 Sie fand in den Westsektoren am 31. März statt, in Ostberlin wurde sie von den Sowjets unterbunden. Von den insgesamt 32.304 stimmberechtigten Mitgliedern in den Westsektoren gaben 23.013 ihre Stimme ab, davon votierten 18.951 gegen den sofortigen Zusammenschluss, 14.146 sprachen sich aber zugleich für das Bündnis mit der K P D aus. Da von den 25.000 Mitgliedern im sowjetischen Sektor nur wenige abstimmen konnten, verlegte eine Abteilung im Prenzlauer Berg ihr Wahllokal kurzerhand in den nahe gelegenen Wedding: 539 Mitglieder gaben ihre Stimme ab, 85 Prozent stimmten gegen die Fusion. H C Das K P D Sekretariat stellte jedoch am 2. April das Ergebnis der Urabstimmung auf den Kopf:

135 136 137 138 139

Ebd., S. 878. Ebd. Ebd., S. 1144 f. Ebd., S. 1146. Vgl. Norbert Podewin/Manfred Teresiak: „Brüder, in eins nun die Hände ..." Das Für und Wider um die Einheitspartei in Berlin, Berlin 1990, S. 124. 140 Vgl. Harold Hurwitz: Die Anfänge des Widerstandes, a. a. O., S. 141 f.

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Es sprach von einer „Niederlage der Einheitsgegner". Selbst in Westberlin, hieß es, habe sich nur eine Minderheit gegen die sofortige Vereinigung ausgesprochen, und die Ostberliner SPD-Kreisverbände hätten aus freien Stücken - und nicht durch das Eingreifen sowjetischer Offiziere - auf die Urabstimmung und deren Anmeldung bei den Kommandanturen verzichtet. 141 Schon am 7. April organisierten die Einheitsgegner in der Zehlendorfer Zinnowwaldschule einen Parteitag der Berliner SPD. Die 500 Delegierten konstituierten einen von Zentralausschuss und Bezirksvorstand unabhängigen Landesverband. Karl Germer, Franz Neumann und Curt Swolinzky wurden zu gleichberechtigten Vorsitzenden gewählt. Am gleichen Tag fanden die Vereinigungsparteitage in den Ländern der SBZ statt.142 Mit der Berliner Urabstimmung wurde die SED-Gründung zum inneralliierten Konflikt, an dem das Experiment der Vier-Mächte-Kontrolle scheitern sollte. 4.3 Die Einheit als Täuschung Satzung und Grundsätze der neuen Einheitspartei lagen bereits vor, als Ostern 1946 die Vereinigung der beiden Parteien stattfand. Die KPD hatte der SPD in den Grundsätzen eine Reihe sprachlicher Konzessionen gemacht. Die SED verstand sich ausdrücklich als „Partei des schaffenden Volkes", und in den Grundsätzen hieß es: „Diese Kampforganisation beruht auf dem demokratischen Beschlußrecht ihrer Mitglieder, der demokratischen Wahl aller Parteileitungen und der Bindung aller Mitglieder, Abgeordneten, Beauftragten und Leitungen der Partei an die demokratisch gefaßten Beschlüsse."143 Das Manifest an das deutsche Volk, das der Gründungsparteitag annahm, bezeichnete die SED als marxistische Bewegung. Ackermann gab diesem Selbstverständnis der Einheitspartei auf dem zuvor abgehaltenen 15. KPD-Parteitag seine zukunftsweisende Interpretation: „Der wissenschaftliche Sozialismus, die Lehren des konsequenten Marxismus, sind der Kompaß, der uns den richtigen Weg finden läßt. Ohne die Lehren von Marx und Engels, Lenin und Stalin würden wir im Dunkeln tappen." 144 Franz Dahlem befasste sich auf dem KPD-Parteitag auch schon mit einer der wichtigsten Aufgaben der künftigen SED: der Kaderpolitik. Indem er darüber bereits vor dem Vereinigungsparteitag referierte und die künftigen Personalabteilungen der SED verpflichtete, sich an diesen Grundsätzen zu orientieren, zeigte er der SED ihre Zukunft als marxistisch-leninistische Kader- und Massenpartei auf.145 Stalins Auftrag an die Moskauer KPD-Kader, durch Fusion mit der SPD die Hegemonie der KPD in der Führung der Arbeiterklasse durchzusetzen, wurde mit der Gründung der Einheitspartei für die SBZ erfüllt. Damit war die entscheidende Weiche für den Aufbau eines von Kommunisten regierten deutschen Teilstaates gestellt. Dieses Ziel diente der Sicherung der sowjetischen Einflusssphäre in Deutschland,

141 Norbert Podewin/Manfred Teresiak: „Brüder, in eins nun die Hände a. a. O., S. 226. 142 Ebd., S. 288; vgl. Harold Hurwitz: Die Anfänge des Widerstandes, a. a. O., S. 1232 ff. 143 Grundsätze und Ziele der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, in: Bericht über die Verhandlungen des 15. Parteitages der Kommunistischen Partei Deutschlands, 19720. April 1946 in Berlin, Berlin 1946, S. 245. 144 Anton Ackermann: Der ideologische Kampf der Partei, in: ebd., S. 100. 145 Vgl. Franz Dahlem: Die Organisationspolitik der Partei, in: ebd., S. 82 ff.

Die S E D - G r ü n d u n g und ihre Bedeutung für die deutsche Teilungsgeschichte (2006)

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war also kein selbstbestimmtes Ziel deutscher Sozialisten und Kommunisten nach dem Krieg und der Hitler-Diktatur, auch wenn Einheitssehnsucht und -illusion, die in den Erfahrungen des Scheiterns der Weimarer Republik und der gemeinsamen Verfolgung durch das nationalsozialistische Regime wurzelten, von den KPD-Strategen für ihre Einheitskampagne genutzt wurden. Die Verfügung über die Deutschen als Objekte alliierter Besatzungspolitik, wie sie die sowjetische Besatzungsmacht in der Fusionskampagne demonstrierte, war der entscheidende Gesichtspunkt für Kurt Schumacher, auf der Eigenständigkeit der SPD zu beharren, und das Motiv für Sozialdemokraten wie Hermann Brill, Gustav Dahrendorf und Hans Hermsdorf, sich der Einheitskampagne entgegenzustellen. Die sowjetische Besatzungsmacht stützte sich in der Fusionskampagne gegenüber einigungsunwilligen Sozialdemokraten jedoch nicht allein auf Repression, sie nutzte auch die Not der Zeit: So bekamen sozialdemokratische „Kader" Sonderverpflegung und Wohnungen, was im zerstörten Nachkriegsdeutschland allzu oft überlebensnotwendig war. Nach Öffnung der SED-Archive und Sichtung zugänglicher sowjetischer Dokumente hat sich der Streit über die Frage - Einheitsdrang oder Zwangsvereinigung historisch erledigt: Es war den Sozialdemokraten gegenüber eine Zwangsvereinigung.146 Die KPD hatte dabei auch Stalins deutschlandpolitischen Auftrag nicht vergessen. So hieß es im Manifest des Vereinigungsparteitages selbstbewusst: „Die Zukunft gehört der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Neben dieser Millionenpartei des Sozialismus ist auf die Dauer nirgends in Deutschland Platz für Splittergruppen." 147 Die KPD hatte als „Reichspartei" ganz bewusst auch Funktionäre aus den westlichen Besatzungszonen in den Parteivorstand der Einheitspartei gewählt, denn die SED wurde für ganz Deutschland gegründet. Uber die Konsequenzen, die die Westalliierten aus der SED-Gründung zogen und die die SED-West vereiteln halfen, informierte Semjonow im Mai das sowjetische Außenministerium.148 Die SMAD ließ die Einheitspartei am 23. Mai in der SBZ zu und informierte auch den Kontrollrat darüber. „Die Alliierten bezogen eine Position der Verzögerung und des Hinausschiebens und ließen die SEP bislang weder in Berlin noch in den Westzonen Deutschlands zu." 149 In Berlin kam in es in der Alliierten Kommandantur zu einer regelrechten Blockade. Die Westalliierten erklärten die SPD, die sich nach der SED-Gründung in den Westsektoren reorganisierte, zur anerkannten Partei. Es sei nur erforderlich, den neuen SPD-Bezirksvorstand anzuerkennen. Die SED dagegen müsse als neue Partei behandelt werden, über ihr Schicksal bestimme der Kontrollrat. „Die Anerkennung der SEP im gesamtdeutschen Maßstab und in den Westsektoren von Berlin ist derzeit eine der wichtigsten aktuellen

146 Vgl. Werner Müller: Die Gründung der SED - Alte Kontroversen und neue Positionen um die Zwangsvereinigung 1946, in: Hermann Weber et al. (Hg.): Jahrbuch für historische Kommunismusforschung 1996, Berlin 1997, S. 163-180. 147 Manifest an das deutsche Volk, in: 40. Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 19./20. April 1946 in Berlin, Berlin 1946, S. 156. 148 Der Rat der Volkskommissare wurde im März 1946 zum Ministerrat umbenannt und entsprechend wurde auch die Bezeichnung Kommissariate in Ministerien geändert. 149 Jochen P. Laufer/Georgij P. Kynin (Bearb. und Hg.): Die UdSSR und die deutsche Frage 1941— 48, Bd. 2, a. a. O., S. 391.

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Aufsätze 1991 bis 2006

Fragen" 150 , so Semjonow. Ende Mai wandte er sich an den neuen Chef der SMAD, Marschall Wassili D. Sokolowski, dieser solle die Propagandaverwaltung anweisen, „sich zusammen mit der SED-Führung Gedanken darüber zu machen, auf welchem Wege eine Zulassung der SEP-Organisation in den Westzonen erreicht werden kann. Es ist erforderlich, bereits heute eine prinzipielle Lösung der Frage zu finden, wie die Vereinigung von Kommunisten und Sozialdemokraten in den Westzonen vonstatten gehen soll: Auf dem Weg eines Referendums, wie dies die Alliierten wünschen, oder aber dem Weg der Abspaltung ohne Abstimmung, wie dies in Berlin geschehen ist, was auf nachhaltigen Widerstand der alliierten Besatzungsbehörden stoßen wird. Möglicherweise sollte man versuchen, in der amerikanischen Zone einen Präzedenzfall für die Registrierung der SEP zu schaffen, um die Vereinigung der Parteien nach allen Regeln der ,Demokratie' durchzuführen, wie dies die Amerikaner wünschen." 151

Am 31. Mai wurde die wechselseitige Blockade in der Alliierten Kommandantur beendet und die SED in den Westsektoren Berlins und die SPD im sowjetischen Sektor der Stadt zugelassen.152 Den gleichen Erfolg hinsichtlich der SED-Anerkennung in den westlichen Besatzungszonen konnten die Sowjets im Kontrollrat nicht mehr erzielen.153 Für ihre Zone war aber der Weg zum Aufbau eines sozialistischen Staates unter SED-Führung geebnet. Die Gründung der SED diente der Konsolidierung des im Krieg erkämpften Imperiums und sollte die SBZ als sowjetische Einflusszone gegenüber den Deutschen und den Westalliierten sichern. Sie fiel mit der Änderung der anglo-amerikanischen Politik gegenüber der Sowjetunion zusammen, wie sie sich mit der Truman-Doktrin vom Februar und der Rede von Winston S. Churchill in Fulton am 5. März 1946 ankündigte. Der Kampf um die SED-Gründung war zugleich ein Fundamentalkonflikt zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten in der Konstitutionsphase des deutschen Parteiensystems nach dem Zweiten Weltkrieg. Und sie wirkte sich schließlich auch auf die Entwicklung der demokratischen Parteien im Westen aus: Mit der Vehemenz, mit der sich Kurt Schumacher der Zwangsvereinigung widersetzte, wuchs seine Bereitschaft und die anderer Politiker, wie Konrad Adenauer, der das Schicksal des Berliner CDU-Parteivorstandes vor Augen hatte, im Kampf um die Zurückgewinnung deutscher Souveränität das Angebot der Westmächte zur Bildung eines Weststaates 1948 anzunehmen, um ihn zu einem demokratischen Kernstaat für alle Deutschen aufzubauen, wie ihn das Grundgesetz 1949 konstituierte. Die SED-Gründung war somit eine weichenstellende Zäsur der deutschen Teilungsgeschichte.

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Ebd. (SEP - Sozialistische Einheitspartei). Ebd., S. 468. Vgl. ebd., S. 520. Vgl. Gerhard Wettig: Bereitschaft zu Einheit in Freiheit?, München 1999, S. 103 ff.

Leben mit und gegen die deutsche Teilung. Hannes Schwenger* und Manfred Wilke im Gespräch

Hannes Schwenger (H. S.): Für Robert Havemanns politische Biografie, die du 1978 herausgegeben hast, war es sicher nicht schwierig, einen passenden Titel zu finden. Sie hieß: „Ein deutscher Kommunist". Aber was machen wir mit Manfred Wilke und seiner Biografie? Du hast ja den Eintritt in die KPD sozusagen knapp verpasst, warst lange Jahre Gewerkschafter und Sozialdemokrat und bist jetzt in der CDU. Ein Weg, der scheinbar von links nach rechts führt, wenn man in den klassischen Koordinaten der politischen Himmelsrichtungen bleiben will. Aber die sind ja gerade in unserer Lebenszeit und durch unsere politischen Erfahrungen ins Wanken geraten. Manfred Wilke (M. W.): Havemanns Biografie ist ein Beispiel für viele gebrochene deutsche Lebensläufe des 20. Jahrhunderts, sie ist von extremen Einschnitten und Neuanfängen gekennzeichnet. Als ich diesen Band 1977 auf den Weg brachte, stand Havemann unter Hausarrest und war in der D D R Staatsfeind Nr. 1. Meine Biografie ist viel undramatischer: Als der Krieg im April 1945 im nordhessischen Dorf Körle mit der Besetzung durch die amerikanische Armee zu Ende ging, war ich drei Jahre alt. Sechs Lebensjahre wuchs ich vaterlos heran, behütet von meiner Mutter Anna Wilke und meiner Großmutter Katharina Elisabeth Schneider, der starken Frau der Familie. In meiner Kindheit und Jugend in einer Handwerkerfamilie - mein Großvater Karl Schneider und mein Vater Heinrich Wilke waren Metzgermeister - war ich mit der Erbschaft des Krieges und der nationalsozialistischen Diktatur konfrontiert. Beides hatte in den mich umgebenden Menschen unauslöschliche Spuren hinterlassen. Meine Kindheit verbrachte ich in einem besetzten Land. In einer meiner ersten Kindheitserinnerungen wird mein gerade nach Hause gekommener Onkel Heinrich Schneider von den Amerikanern „abgeholt", sprich: festgenommen. Er war bei der Besatzungsmacht als ehemaliger HJ-Aktivist denunziert worden. Wie konnten wir uns in diesem Land nun zurechtfinden, in dem die Erzählungen Zuhause über Hitlers Regime, den Krieg und die öffentlichen Verurteilungen auseinander klafften? Ich glaube, dass ich auf der Suche nach Orientierung, klaren Bildern und Erklärungen für das, was in Deutschland geschehen war, die Themen fand, die meine politische und wissenschaftliche Biografie prägen sollten.

Hannes Schwenger, Dr. phil., Jg. 1941, ist als Verleger, Schriftsteller und Journalist in Berlin tätig, von 1996 bis 2 0 0 4 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsverbund SED-Staat, zuletzt für deren Studie im Auftrag der A R D über die rundfunkbezogenen Aktivitäten des MfS.

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Η. S.: Aber es fällt doch auf, dass unter den Leitsternen und Leitfiguren, die dich von Anfang an und his in deine wissenschaftliche Laufbahn hinein begleitet haben, Kommunisten der Bundesrepublik gewesen sind. Ich denke an Karl Ludwig, der in deiner Habilitationsschrift genannt wird, ebenso wie Herbert Kuehl oder Karl Grigat. Was waren das für Menschen und warum konnten sie für dich zu Leitfiguren in einer Zeit werden, in der Kommunisten in der Bundesrepublik geradezu selten wurden ? M. W.: Das will ich erklären. Mein politischer Weg begann 1960/61. An seinem Anfang stand ein Gespräch mit Karl Grigat über Hitler. Der Arbeiter hatte 1925 in unserem Dorf die KPD gegründet. Grigat war der erste, der mich über das Regime, seinen Krieg, seine Aktivisten und Mitläufer aufklärte. Sein Unterrichtsmaterial war das Dorf unterm Hakenkreuz. Er erzählte auch von der Hoffnung, die ihm Moskauer und Londoner Sender während des Krieges gaben, als sich nach Stalingrad das Kriegsglück wendete und das Kriegsende und die Befreiung von der Nazi-Diktatur näher rückten. Ich begann zu begreifen, warum unser Land diesen Krieg zwangsläufig hatte verlieren müssen und ahnte, warum die Kriegsgeneration schwieg und sich und uns, ihren Kindern, die Frage nicht beantworten konnte, wofür sie gekämpft und in Gefangenschaft gelitten hatte und wofür ihre Kameraden gestorben waren. Grigat war es auch, der mir den Weg zu den Gewerkschaften wies und mich veranlasste, 1960 als Lehrling in die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen einzutreten. Im Kasseler DGB-Haus lernte ich auch den IG-Metall-Vertrauensmann Karl Ludwig kennen, der Mitglied der verbotenen KPD war, was allgemein bekannt war. Mit ihm begann meine Ausbildung zum Gewerkschafter. H. S: Wir sind jetzt doch schnell über die fünfziger Jahre hinweggesprungen. Ich kann mir aber vorstellen, dass jene Ereignisse, die mich in meiner eigenen Kindheit als erste politisch beeindruckt haben, wie der 17. Juni und die Ungarn-Revolution, auch nicht spurlos an dir vorbeigegangen sein können. Hast du das auch schon wahrgenommen und hat es deinen politischen Weg beeinflusst? Oder ist eigentlich erst der erwähnte Bruch Anfang der sechziger Jahre in deiner eigenen politischen Biografie wirksam geworden? M. W.: Den 17. Juni 1953 habe ich sehr bewusst wahrgenommen. An diesem Tag war ich nicht vom Radio fernzuhalten und habe sowohl die kurzzeitige Hoffnung, dass diese Volkserhebung gelingt, als auch ihre rasche Niederschlagung durch die sowjetische Besatzungsmacht schmerzhaft mitverfolgt. Ebenso habe ich mich für die ungarische Revolution 1956 interessiert. Aber beide Ereignisse hatten noch den Charakter politischer Katastrophen, die ich aufmerksam registrierte, die aber noch folgenlos blieben für meinen eigenen politischen Weg. Ein weiteres Ereignis, das ich verfolgte, war übrigens der Sieg der kubanischen Revolution unter Fidel Castro 1959. H. S.: Wie haben deine kommunistischen Lehrmeister in der Arbeiterbewegung auf die ja damals nicht lange zurückliegenden Ereignisse des 17. Juni und der ungarischen Revolution reagiertf Wurde das verschwiegen, haben sie das verborgen, wollten sie darüber nicht sprechen? M. W.: Nein, meine Gesprächspartner waren Arbeiter, deren Themen sich unmittelbar auf ihre Lebenslage bezogen. Solche historischen Ereignisse waren kein Thema.

Leben mit und gegen die deutsche Teilung

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Der erste Konflikt entzündete sich 1961, als es um die Frage ging: Unterschreibst du den Solidaritätsaufruf des D G B für die Freilassung von Heinz Brandt oder nicht? Karl Ludwig warnte, es nicht zu tun. Die D D R habe mitgeteilt, Brandt sei ein überführter Agent und für Agenten gäbe es keine Solidarität. Doch ich habe unterschrieben. In der Person Heinz Brandt kam der 17. Juni in mein eigenes politisches Leben zurück. Denn er war der Bote der Berliner SED-Bezirksleitung am 16. Juni, der dem Politbüro dringend riet, den Beschluss zur Erhöhung der Arbeitsnormen sofort zu revidieren. Acht Jahre später wurde Heinz Brandt unweit meiner heutigen Wohnung vom MfS in Westberlin gekidnappt und 1962 in einem Geheimverfahren zu 13 Jahren Haft verurteilt, die durch die Solidaritätskampagne der IG Metall, des D G B und von amnesty international verkürzt wurde. An seinem ersten Arbeitstag in der Redaktion der Gewerkschaftszeitung „metall" 1964 habe ich ihn persönlich kennen gelernt. Erstmals sah ich bewusst die Sklavennummer auf dem Unterarm dieses AuschwitzHäftlings, mit ihm blieb ich bis zu seinem Tod verbunden.1 H. S.: Trat Karl Ludwig nicht 1976 aus Protest gegen die Ausbürgerung manns schließlich doch aus der DKP aus?

"Wolf Bier-

M. W.: Ja, und wir beide waren ihm behilflich, seine Begründung öffentlich zu machen. Doch zurück zum Jahr 1961, in dem ich in die SPD eintrat und vom damaligen Kreisvorsitzenden in Kassel, Holger Börner, aufgenommen wurde. Dieser Schritt war die Konsequenz einer Reihe von Diskussionen mit dem Germanisten Johannes Ernst Seiffert, der in Kassel seine Doktorarbeit über Martin Buber schrieb und mit den Trotzkisten sympathisierte. Er gab mir Leo Trotzki und B. Traven zu lesen, dessen Identität als bayerischer Rätekommunist und Anarchist Ret Marut damals noch unbekannt war. Mit Trotzkis „Geschichte der Russischen Revolution" begann mein Studium des Bolschewismus und der Sowjetunion. Gleichzeitig entdeckte ich Rosa Luxemburg; ihr visionäres Bild einer sozialistischen Zukunft wurde für viele Jahre mein Leitbild, an dem ich Politik maß: „Das Wesen der sozialistischen Gesellschaft besteht darin, dass die große arbeitende Masse aufhört, eine regierte Masse zu sein, vielmehr das ganze politische und wirtschaftliche Leben selbst lebt und in bewusster, freier Selbstbestimmung lenkt." 2 Durch Seiffert fand ich Zugang zu einem linkssozialdemokratischen Zirkel, dessen Mitglieder in den Gewerkschaften und in der SPD aktiv waren. Als ich in die SPD eintrat, war der SDS gerade ausgeschlossen worden und dies traf auch den Marburger Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth. Ihn lernte ich 1963 durch Georg Schäfer kennen, der in diesem Zirkel der organisatorische Spiritus Rector war. Seine Arbeiten über die Bedeutung der Gewerkschaften für die Demokratie in der Bundesrepublik waren ebenso wie das Meisterwerk Theo Pirkers „Die blinde Macht" das theoretische Rüstzeug meiner gewerkschaftlichen Aktivitäten. Georg Schäfer gehörte in den fünfziger Jahren zu jenen Sozialdemokraten, die im Rahmen der FDGB-Westarbeit mit FDGB-Funktionären aktiv an einer innerdeutschen „Aktionseinheit" arbeiteten. Als 1959 der Kasseler ÖTV-Kreisvorsitzende Karl Eckerlin auf der Leipziger Arbeiterkonferenz mit Nikita Chruschtschow zu-

1 2

Siehe den Beitrag „Heinz Brandt - in Selbstzeugnissen" in diesem Band. Rosa Luxemburg: Was will der Spartakusbund?, in: Ossip K. Flechtheim (Hg.): Rosa Luxemburg. Politische Schriften in 3 Bänden, Bd. II, Frankfurt am Main 1966, S. 161.

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sammentraf und eine flammende Rede für die Verständigung von Sozialdemokraten und Kommunisten hielt, war es Georg Schäfer, der ihn im anschließenden Ausschlussverfahren der O T V geschickt und erfolgreich verteidigte. 1963 eskalierte der Vietnam-Krieg und das Thema Vietnam-Solidarität bewegte uns. Wir kamen auf die Idee, im Gewerkschaftshaus in Kassel für die südvietnamesische Befreiungsfront Geld zu sammeln und den Betrag der Vertretung der Befreiungsfront in Ostberlin direkt zu übergeben. Es war mein zweiter Berlin-Aufenthalt. Die Nacht im Auto vor der Mauer am Brandenburger Tor bleibt mir für immer im Gedächtnis. Die vietnamesischen Diplomaten, die uns in Pankow empfingen, waren freundlich und sehr überrascht und nahmen die Spende entgegen. H. S.: Du hast dir dein Bild vom Kommunismus doch aber nicht nur von westdeutschen Kommunisten und ihrem theoretischen Erbe gemacht, sondern bist in den sechziger Jahren auch in der DDR gewesen und hast dort ein Stück ostdeutscher kommunistischer Wirklichkeit erfahren. Das ist ja auch in deine frühe politische Arbeit eingeflossen. M. W.: Das ist richtig. Meine Erfahrungen in und mit der D D R begannen allerdings völlig unpolitisch. 1957 gab es noch innerdeutschen Sportverkehr: Das Handballdorf Körle nahm Verbindung zu Großkorbetha bei Halle auf und es kam zu einem Freundschaftsspiel. Die Gastspieler wurden auf Körler Familien verteilt und zu uns kam Erich Schumann. Der Gegenbesuch in Großkorbetha fand noch im gleichen Jahr statt. 1960 fuhr ich dann mit meinem Bruder Gerhard für eine Woche nach Großkorbetha und wurde mit der Geschichte des 17. Juni konfrontiert, wie ihn die Familie Schumann erlebt hatte. Erich war einer der streikenden Arbeiter in Leuna gewesen, seine Schwester hatte als junge Volkspolizistin den Tag in Leipzig erlebt. Die Tragik dieses Tages wurde mir von diesen Zeitzeugen ebenso vor Augen geführt wie die bedrückende Lehre, dass die sowjetischen Truppen auch zukünftig jede Veränderung mit Gewalt verhindern würden. Mein Berlin-Besuch 1966 war folgenreicher für mich. Seine Vorgeschichte beginnt 1965, als wir in Kassel Demonstrationen gegen die geplanten Notstandsgesetze organisierten und ein Mitglied der Zentralen Revisionskommission beim ZK der SED, Ernst Melis, in der Stadt Ausschau nach bündniswilligen jungen Sozialdemokraten hielt. Über Georg Schäfer kam ich zu einer Einladung nach Ostberlin, um dort den Aufbau des Sozialismus vor Ort zu erleben und politische Gespräche zu führen. Damals bereitete ich mich auf den Besuch der Heimvolkshochschule Hustedt bei Celle vor. Für mich war das ein Vorbereitungskurs für die Aufnahmeprüfung an der damaligen Akademie für Wirtschaft und Politik in Hamburg 1967. Die Akademie war meine einzige Chance, ohne Abitur studieren zu können. Kurz davor fand diese Reise hinter die Mauer statt. Mit Ernst Melis debattierte ich über den Briefwechsel zwischen der SED und der SPD um den geplanten Redneraustausch in Hannover und Karl-Marx-Stadt, den die SED abgesagt hatte. Ich werde seine Reaktion nie vergessen, als ich ihm nachwies, dass die SED-Texte in der Bundesrepublik nicht verständlich sind. Er bat mich, doch selbst einen Entwurf zu schreiben. An dieser Aufgabe scheiterte ich natürlich. Weichenstellend war für mich der Besuch des Theaterstücks von Jewgenij Schwarz „Der Drache" im Deutschen Theater. Nach der Vorstellung lernte ich im Theaterrestaurant Wolf Biermann kennen. Wir vereinbarten für den nächsten Tag ein Gespräch in seiner Wohnung, wo ich auch Robert Havemann begegnete.

Leben mit und gegen die deutsche Teilung H. S.: Du warst etwa Mitte 20. Was hast du zu diesem Zeitpunkt eigentlich gemacht, bevor du ins Studium gegangen bist?

301 beruflich

M. W.: 1963 hatte ich meine Lehre als Einzelhandelskaufmann abgeschlossen, danach habe ich als Verkäufer und Auslieferungsfahrer gearbeitet, und zwar als Keksfahrer. Karl Kuba, Bevollmächtigter der HBV in Kassel, bestärkte damals meinen Traum vom Studium. Er schickte mich auf Gewerkschaftsschulen und in die Kasseler Volkshochschule, die zum Beispiel gemeinsam mit der Reichwein-Stiftung ein deutschlandpolitisches Seminar mit Hermann Kant und dem Drehbuchautor der DEFA, Wolfgang Kohlhaas, veranstaltete. Hier lernte ich auch das Ehepaar Wüllenweber kennen. Von Hildegard Wüllenweber bekam ich 1965 das erste Biermann-Band und auch sie bestärkte mich in meinen Studienplänen. Meine Arbeit als Auslieferungsfahrer endete im Sommer 1966, als der Kurs in der Heimvolkshochschule begann. In Hustedt führte mich die Dozentin für Literatur, Gabi Witting, in die Textanalyse ein und schärfte meinen sprachlichen Ausdruck. Schließlich ist Olaf Sund zu nennen, der Politik unterrichtete und nachdrücklich auf Realismus im politischen Alltag beharrte. Hier schrieb ich meine erste eigenständige Hausarbeit über die Parteikonzeptionen von Lenin und Luxemburg. Die Kursteilnehmer waren mehrheitlich Gewerkschafter und Sozialdemokraten. Die Bildung der Großen Koalition spaltete uns: Ich lehnte sie ab, verlängerte sie doch die Regierungsbeteiligung der Union. Damals war ich zutiefst davon überzeugt, diese Partei blockiere die mögliche Hegemonie der SPD in der Bundesrepublik - es galt, den „CDU-Staat" zu beenden. Um die Jahreswende 1966/67 beteiligte ich mich deshalb an Treffen, in denen es um die Neugründung einer sozialistischen Alternative zur SPD ging, die ein Jahr später in der Gründung des „Sozialistischen Zentrums" in Offenbach mündeten, an dem auch Kader der illegalen KPD beteiligt waren. H. S.: Aber die Wege trennten sich dann 1968 endgültig, als sich die DKP konstituierte und ihren Weg allein, ohne die anderen Fraktionen der Studentenbewegung ging. Du bist in diesem Jahr noch beim SDS gewesen und hast später auch in einem Buch diesen Sonderweg der westdeutschen KPD dargestellt. Das war, glaube ich, dein zweites großes Thema neben den Gewerkschaften, über die du später deine Habilitationsschrift vorgelegt hast. M. W.: Das stimmt. 1967 war ich zunächst froh, die Aufnahmeprüfung an der Akademie für Wirtschaft und Politik bestanden zu haben. Im Oktober nahm ich dann mein Studium auf und wählte Soziologie als Schwerpunktfach. Das erste Semester wurde stark überlagert von der Studentenrevolte, die auch in Hamburg eines ihrer Zentren hatte. Ich wurde zum Vorsitzenden des SDS an der Akademie gewählt. Der Vorsitzende des Sozialdemokratischen Hochschulbundes (SHB) an der Akademie war Reinhard Crusius, der die studentische Hochschulpolitik gestaltete. Wir wurden rasch Freunde und ein Autorenteam. Nach dem Mordanschlag auf Rudi Dutschke kam es Ostern 1968 auch in Hamburg zu gewaltsamen Auseinandersetzungen um die Blockade des Axel-SpringerVerlages. Wir wollten die Auslieferung der Zeitungen des Verlagshauses verhindern. Die Polizei setzte Wasserwerfer ein und einige von uns bekamen Gummiknüppel zu spüren. Für die Deeskalation auf studentischer Seite sorgte der AStA der Hamburger Universität. Aber dieser realpolitisch gebotenen Lösung widersetzte sich der SDS-

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Vorsitzende der Hamburger Universität, Karl Heinz Roth, während der SDS der Akademie, vertreten durch mich, den AStA unterstützte. Zur offenen Konfrontation zwischen Roth und mir kam es auf der Abschlusskundgebung des Ostermarsches auf der Moorweide, als Roth versuchte, von ihm organisierte Schüler erneut als „Avantgarde" vor die Springer-Zentrale zu führen. Ich widersprach ihm auf der Kundgebung und fragte ihn, wie viele Panzer er habe, um die Polizeiabsperrungen um das Haus zu durchbrechen. Der erneute Versuch, die Springer-Zentrale zu blockieren, unterblieb schließlich. Der Protest gegen die Notstandsgesetze eskalierte kurz vor der Entscheidung im Bundestag im Frühjahr 1968. Die SPD fiel wieder einmal um, Rosa Luxemburgs Polemik gegen die „Kriegssozialisten" von 1914 war nicht nur mir gegenwärtig. Dass es der Bundesregierung nicht um Instrumente zur Errichtung eines autoritären Regimes mit Streikverbot ging, sondern dass mit diesen Gesetzen alliierte Vorbehaltsrechte abgelöst wurden, die sie im Krisenfall zur Militärdiktatur berechtigten, erreichte unsere Köpfe nicht. Die NS-Diktatur war das Referenzmodell für die Bewertung des Gesetzesvorhabens. Agitatorisch wurde es mit Hitlers Ermächtigungsgesetz verglichen. Es war ein symbolischer Protest. Im Kern ging es um unser Verhältnis zur Bundesrepublik, die wir als „CDU-Staat" apostrophierten und dessen Gegner wir waren. Diese Republik war damals nicht die unsere. Sie war für uns nicht schützenswert, wir wollten für sie keine Verantwortung übernehmen. Bei dieser Kampagne kam es zu meiner engsten Zusammenarbeit mit der KPD. Mein Partner war der Vorsitzende des Kreisjugendausschusses der O T V Wolfgang Gehrcke. Der Hamburger Uni-AStA beteiligte sich an der Gründung eines „Arbeiter- und Studentenausschusses", in dem die Proteste aus den Betrieben und den Universitäten koordiniert wurden. Vorausgegangen war seiner Gründung ein erregtes Gespräch mit dem damaligen DGB-Kreisvorsitzenden in Hamburg, Adalbert Höhne, der von studentischer Seite aufgefordert wurde, gegen die drohenden Notstandsgesetze in Hamburg Streiks auszulösen. Höhne wies in seiner Doppelfunktion, er war auch Bürgerschaftsabgeordneter der SPD, dieses Ansinnen brüsk zurück und verwies auf die entsprechenden Beschlusslagen von D G B und SPD. Nach dieser Absage war das Zusammengehen mit den Kommunisten in der Universität politisch möglich, die in Hamburg über eine eigene Zeitung verfügten. Die Flugblätter des Ausschusses druckte die Deutsche Friedensunion (DFU). Am Tag der Verabschiedung der Gesetze in Bonn zogen zirka 20.000 Demonstranten vor das Kurt-Schumacher-Haus der Hamburger SPD. Nach der Gesetzesverabschiedung und dem Ende des Pariser Mai, der die französische Republik in ihren Grundfesten erschütterte, breitete sich unter uns politischen Studentenfunktionären Ratlosigkeit aus. H. S.: Und dann kam noch Prag hinzu? M. W.: Meine Hoffnungen in diesem Frühjahr verbanden sich mit dem „Sozialismus mit menschlichem Antlitz", den die tschechoslowakischen Kommunisten in ihrem Land praktizieren wollten. Umso tiefer traf mich der Panzereinmarsch am 21. August 1968. Bei der Protestdemonstration über die Hamburger Kennedy-Brücke hatte ich das Gefühl, einen Epochenwechsel zu erleben. Ein Tor hatte sich für immer geschlossen. Breschnew beendete die Entstalinisierung und damit die Hoffnung auf Selbstreform des sowjetischen Kommunismus.

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Nach all den Demonstrationen forderte das Studium sein Recht. Von den Professoren an der nunmehr in Hochschule umbenannten Akademie will ich zwei hervorheben: Erstens Karlheinz Messelken, der die Politische Soziologie an der HWP vertrat. Er war 1956 von der Sorbonne in Paris an die Humboldt-Universität nach Ostberlin gewechselt. Das KPD-Mitglied wurde von dem FDJ-Sekretär der Universität Erich Hahn, später einer der führenden Soziologen der D D R , als Anhänger von Wolfgang Harich denunziert, danach verhaftet und zu zwei Jahren Haft verurteilt. In seinen Vorlesungen zur Politischen Soziologie analysierte er historische Ereignisse, um die zentralen Kategorien von Macht und Herrschaft, Konflikt und Kompromiss zu vermitteln. Unüberhörbar war seine Skepsis gegenüber ideologischen Heilsversprechen. Zweitens Siegfried Braun, der die Industriesoziologie vertrat. Der erste Lehrsatz, den er uns angehenden Soziologen vermittelte, war die Forderung nach Distanz zum Untersuchungsobjekt; der zweite: Die Methoden unseres Fachs sind Werkzeuge. Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft war in ihrem Erkenntnisinteresse von Natur aus Kritik am Bestehenden. Braun selbst war Mitbegründer der westdeutschen Industriesoziologie. Angestellte als soziale Schicht waren ebenso sein Thema wie das Berufsverständnis im Arbeitnehmerbewusstsein. Er war der ideale Lehrer, als Reinhard Crusius und ich 1969 im Hamburger Gewerkschaftshaus einen „Jour fixe" für junge Lehrlinge mitbegründeten und die Forderung erhoben, die Berufsbildungspolitik müsse der Kern gewerkschaftlicher Jugendarbeit sein. H. S.: In diesem Zusammenhang haben auch wir einander zum ersten Mal wahrgenommen - über unsere gemeinsame Gewerkschaft HBV, wenn ich nicht irre. Ich bin damals in der Organisation von jungen Buchhändlern und Verlagsangestellten tätig gewesen, ebenfalls in der Gewerkschaft HBV. "Wir haben uns schon damals über Gewerkschaftsarbeit ausgetauscht, um uns dann auf überraschende Weise 1976 über ein ganz anderes Thema wieder zu begegnen. Ich war inzwischen aufgerückt zum Vorsitzenden des Schriftstellerverbandes in der IG Druck und Papier in Berlin, hatte also die Gewerkschaft gewechselt, von der Buchhändlergewerkschaft zur Gewerkschaft der Schriftsteller und Journalisten der IG Druck und Papier. In diesem Amt hast du mich damals in Berlin 1976 nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann angerufen, um etwas zu unternehmen für die politischen Häftlinge, die die Staatssicherheit wegen ihrer Proteste für Wolf Biermann verhaftet hatte. M. W.: Das stimmt! Aber dazwischen lagen sechs Jahre, in denen 1970 meine Heirat mit Karin Helms und die Geburt unserer ersten beiden Kinder sowie zwei akademische Abschlüsse lagen, 1970 der Sozialwirt an der HWP und 1976 im Januar der Dr. rer. pol. der Universität Bremen. Die gewerkschaftliche Berufsbildungspolitik, die Reinhard Crusius und ich als Autorenteam und Studiengemeinschaft in diesen Jahren bearbeiteten, lieferte mir auch die Themen für meine akademische Qualifikation. 1970 schrieb ich bei Siegfried Braun meine Abschlussarbeit „Elemente einer Theorie der Gewerkschaft im Spätkapitalismus". Daraus wurde eine meiner ersten Publikationen, zu der Ernest Mandel, der Autor einer marxistischen Analyse des Spätkapitalismus, das Vorwort beisteuerte. In Hamburg war meine Verbindung zu den Trotzkisten sehr eng geworden, was nicht allein an dem Kontakt zum Chefredakteur der IG-Metall-Zeitung Jakob Moneta lag, sondern vor allem an Herbert Kuehl, einem Freund und Arbeiterintellektuellen.

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Meinen trotzkistischen Freunden verdanke ich den kritischen Blick auf die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten, in denen die Trotzkisten politische Revolutionen gegen die Parteibürokratie propagierten. Daraus ergab sich als Konsequenz: Unterstützung von Dissidenz und oppositionellen Marxisten in den „entarteten Arbeiterstaaten". Diese Schlussfolgerung teilte ich. 1970/71 kam der tschechische Student Jan Pauer nach Hamburg, er war aus Prag emigriert. Jan Pauer, Herbert Kuehl, Reinhard Crusius und ich gaben 1973 in Zusammenarbeit mit den Spiegel-Redakteuren Fritjof Meyer und Klaus Reinhardt eine Dokumentensammlung zur „Normalisierung" in der Tschechoslowakei nach der Niederschlagung des Prager Frühlings heraus, zu der Rudi Dutschke und der schleswig-holsteinische SPD-Landesvorsitzende Jochen Steffen Nachworte schrieben. Das Buch erschien rechtzeitig vor den Ostberliner Weltfestspielen. Unsere Forderung an die Jungsozialisten und die Gewerkschaftsjugend, das Thema Repression in der CSSR anzusprechen, fand Widerhall und wurde in Ostberlin thematisiert. Mit dieser Dokumentation begann meine Arbeit über und für Dissidenz und Opposition in den Staaten des sowjetischen Imperiums. Das nächste Buch, das dieses Team in Angriff nahm, war ein Diskussionsband zur Erinnerung an den XX. Parteitag der KPdSU 1956. Der Suhrkamp Verlag akzeptierte das Buchprojekt. Der Band erschien 1977 unter dem Titel „Entstalinisierung" und enthielt erstmals eine Schilderung des Ablaufs der geschlossenen Sitzung, auf der Chruschtschow seine Geheimrede hielt, aus der Feder des russischen Historikers und Dissidenten Roy Medwedew. Ein Kritiker bezeichnete den Band als „Rose auf Chruschtschows Grab". Unterdessen hatte ich mein Studium der Soziologie, Pädagogik und Politischen Wissenschaft an der Hamburger Universität fortgesetzt. Reinhard Crusius und ich arbeiteten damals bereits in einem DFG-Projekt zur gewerkschaftlichen Berufsbildungspolitik. An der Bremer Universität war ich gleichzeitig in der Arbeitsstelle „Kooperationsvertrag", einem Institut, das auf einem Vertrag zwischen der Arbeiterkammer Bremen und der Universität beruhte, als Redakteur tätig und gab die Zeitschrift „Kooperation" heraus. Die Erforschung der Lebenslage von Arbeitnehmern und die Erarbeitung von Materialien für die Arbeiter- und Erwachsenenbildung waren die Schwerpunkte dieses Instituts. Die Konzeption hatte ein weiterer Arbeiterintellektueller, der meinen Lebensweg kreuzte und beeinflusste, mitgestaltet: Adolf Brock, dessen Selbstverständnis im Linkskatholizismus wurzelte. Dieser Kontakt zur Bremer Universität führte zu der gemeinsamen Promotion von Reinhard Crusius und mir über das Thema Berufsbildungspolitik der Gewerkschaften, die im Januar 1976 abgeschlossen wurde. Am Promotionsverfahren beteiligt waren als Prüfer und Gutachter die Professoren Siegfried Braun, Claus Offe, Friedrich Edding, Wolfgang Lempert und Ulrich Böhm, der das Verfahren beantragt hatte und im Fachbereich durchsetzte. Die Möglichkeit einer kooperativen Promotion war für die Sozialwissenschaften neu und so gab es auch Gegner dieses Verfahrens. Einer war der Historiker Imanuel Geiss; seine Argumente benutzte der der DKP angehörende Vorsitzende des Promotionsausschusses, um Böhms ersten Antrag abzulehnen. Danach schaltete sich der Senatsdirektor im Bremer Kultursenat Reinhard Hoffmann ein und setzte eine erneute Prüfung des Antrages durch. Der politische Hintergrund dieser Ablehnung war eindeutig und mir persönlich von einem DKP-Dozenten an der HWP auch damals mit den Worten angedroht worden: „Den Solschenizyn-Band wirst du bezahlen!"

Leben mit und gegen die deutsche Teilung

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Das Erscheinen des „Archipel Gulag" führte damals in der westeuropäischen Linken zu einer erneuten Selbstprüfung ihres Verhältnisses zum Stalinismus und der Sowjetunion. Der von Rudi Dutschke und mir herausgegebene Band der Reihe roroaktuell war in der Bundesrepublik singulär. Die deutsche Linke einschließlich der Sozialdemokratie zog das Schweigen vor, und die Kommunisten verwiesen ablenkend auf die nationalsozialistischen Verbrechen, um diese Debatte im Keim zu ersticken. Auch in Bremen selbst hatten sie allen Grund, gegen mich vorzugehen: Mit Hilfe Peter von Oertzens hatte ich den Bremer Bürgermeister Hans Koschnick überzeugt, an der dortigen Universität eine Arbeitsstelle Osteuropa einzurichten, um die Zeugnisse der osteuropäischen Bürgerbewegungen zu sammeln. Der Vorschlag stammte von Jirx Pelikan. Das MfS wurde über dieses Vorhaben frühzeitig von seinem Agenten, dem Pressesprecher der Universität, unterrichtet. Die gemeinsame Promotion war die Voraussetzung dafür, uns an der Technischen Universität Berlin um zwei Assistentenstellen bewerben zu können, die der Berufspädagoge Wilfried Voigt ausgeschrieben hatte. Nach der Promotion wurden Crusius und ich zum Oktober 1976 an der Technischen Universität Berlin eingestellt, und Familie Wilke zog Ende September mit Tochter Sabine und Sohn Stephan nach Berlin um; hier sollten drei weitere Kinder - Andreas, Julia und Cornelia - geboren werden. Zu dieser Zeit galten Crusius und ich als „Zwillinge", derart eng verbunden waren wir als Team. An der T U lernten wir auch die Pädagogik-Professorin Helga Thomas kennen, die mir und meiner Familie eine enge Freundin und auch Beraterin wurde. H. S.: Es war also sicher kein Zufall, dass wir uns über das Thema Gewerkschaften getroffen haben. Ich hatte zwei Jahre zuvor über Schriftsteller und Gewerkschaften promoviert. Die gewerkschaftliche Solidarität war unser Motiv für den Protest gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann, dadurch war er glaubwürdig und damit wurde dieser Protest so durchschlagend. Er führte zu einer wirklichen Auseinandersetzung in der westdeutschen Linken über die Verhältnisse in der DDR. Das Thema war ja keineswegs von uns willkürlich in den Streit um die Ausbürgerung hineingetragen worden. Einige Freunde Wolf Biermanns, die die Petition gegen seine Ausbürgerung in der DDR unterschrieben hatten, hatten ja zum Teil einen gewerkschaftlichen Hintergrund. Ich entsinne mich an das schöne Protestlied von Gerulf Pannach über den Vertrauensmann, der kein Vertrauen hat, in dem er also über die Erfahrungen im FDGB gesungen hat. Für uns war das ein ganz wesentliches Mittel des Protests gegen die Ausbürgerung Biermanns, auch in den Gewerkschaften der Bundesrepublik ein Echo zu finden; übrigens ein sehr gespaltenes Echo, denn es gab ja, wie du dich erinnern wirst, Gewerkschaften, wie die IG Druck und Papier, die das rundheraus abgelehnt haben und andere, wie die IG Chemie, die uns damals unterstützten. Sie haben zum Beispiel dieses Lied von Gerulf Pannach, der wegen seines Protestes gegen die Ausbürgerung Biermanns inhaftiert wurde, in ihren Gewerkschaftszeitungen publiziert, und zum Schrecken der DDR kam die Kritik diesmal von links und schloss Teile des DGB ein. M. W.: Mein Anruf bei dir, ob du bereit wärst, auf der Ebene der Schriftstellergewerkschaft den Protest gegen die Verhaftungen in der D D R nach der Biermann-Ausbürgerung zu organisieren, fiel damit auf fruchtbaren Boden und das „Schutzko-

306

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mitee Freiheit und Sozialismus"3 entstand. Die Wirksamkeit des Komitees bestand in dem organisatorischen Konzept eines von dir geführten Sekretariats und einem breiten Unterstützerkreis, in dem naturgemäß Schriftsteller und Intellektuelle wie Ernst Bloch, Heinrich Boll oder Max Frisch überwogen, aber auch Gewerkschafter wie Erich Frister, Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Jakob Moneta und Heinz Brandt, beide IG Metall, vertreten waren. Die Jugendabteilung dieser Gewerkschaft hatte Biermann 1976 zum Konzert nach Köln eingeladen, nach elf Jahren Auftrittsverbot wurde die Reise genehmigt. Nach seiner Ausbürgerung organisierten Manfred Scharrer und die Redaktion des „Langen Marschs", eines linken Berliner Szeneblatts, ein großes Solidaritätsmeeting im Audimax der F U Berlin. Ich wollte Georg Benz, für Jugendfragen zuständiges Vorstandsmitglied der IG Metall, zu dieser Veranstaltung einladen, bekam aber eine deutliche Absage. Die IG Metall würde sich nicht an öffentlichen Auseinandersetzungen mit der SED beteiligen, da man immer noch an einer Lösung auf diplomatischem Wege arbeite. Noch schroffer war die Ablehnung des Vorsitzenden der IG Druck und Papier, Leonhard Mahlein, der rundweg erklärte, sich an keinen antikommunistischen Kampagnen gegen die D D R zu beteiligen. Aus den FDGB-Akten wissen wir heute, dass Mahlein zu diesem Zeitpunkt den Status eines Beraters der Ständigen Vertretung der D D R in der Bundesrepublik besaß und geschätzter Vertrauensmann seitens des F D G B und der „sowjetischen" Gewerkschaften im D G B war. H. S.: Dennoch, schon 1977 kamen Jürgen Fuchs und die anderen Verhafteten aus dem Jenaer Kreis frei und wurden nach Westberlin abgeschoben. Im gleichen Jahr erschien Rudolf Bahras „Alternative", er wurde verhaftet und verurteilt. In der Kampagne des Schutzkomitees für seine Freilassung spielten auch Freimut Duve und die Reihe roro-aktuell, die er herausgab, eine wichtige Rolle; dort erschien unser Solidaritätsbuch für Bahro und auch einige Bände zum Thema Menschenrechte im Ostblock, die du mit herausgegeben hast. M. W.: Freimut Duve hatte in Zusammenarbeit mit dem Schutzkomitee schon die „Gedächtnisprotokolle" und die Liedtexte von Gerulf Pannach publiziert. Für Bahro beteiligten sich auch Autoren der westeuropäischen Linken bis hin zu den Eurokommunisten, es gab aber auch Beiträge aus der entstehenden Bürgerrechtsbewegung Ostmitteleuropas. In Duves Reihe war gewissermaßen als Prolog zu meinen Aktivitäten 1975 der Band „Die Sowjetunion, Solschenizyn und die westliche Linke" erschienen. In ihm wurde die Grundfrage dieser ganzen Auseinandersetzung aufgeworfen: Wie glaubwürdig ist eine sozialistische Linke in Westeuropa, die zu den Menschenrechtsverletzungen im sowjetischen Imperium schweigt und den dortigen Künstlern und Dissidenten die Solidarität im Kampf um die Durchsetzung der Menschenrechte in ihren Ländern verweigert? Duve versuchte in seiner Reihe damals ein „Jahrbuch für Menschenrechte" als Plattform für die ostmitteleuropäische und sowjetische Opposition zu etablieren, das von dem Fernsehchef des Prager Frühlings Jiri Pelikan und mir herausgegeben wurde und von dem zwei Bände 1977 und 1979 erschienen sind.

3

Siehe den Beitrag „Das Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus" in diesem Band.

Leben mit und gegen die deutsche Teilung H. S.: Gab es 1977/78 nicht auch noch einen Konflikt um den DKP-Einfluss gewerkschaftlichen Jugendarbeit, an dem du beteiligt warst?

307 in der

M. W.: Die Differenzierung unter den DGB-Gewerkschaften in der Frage der Solidarität mit verfolgten DDR-Schriftstellern und streikenden polnischen Arbeitern wiederholte sich in den Auseinandersetzungen um den NATO-Doppelbeschluss ab 1979 und um das Leitbild der Einheitsgewerkschaft im neuen DGB-Grundsatzprogramm von 1981. Vorreiter war in dieser Lagerbildung im D G B die Gewerkschaftsjugend. Konfliktpunkte waren die Konzeption gewerkschaftlicher Jugendbildung und der ideologisch-politische Einfluss der DKP in bestimmten Einzelgewerkschaften. Parallel zu Bahros „Alternative", die in der gewerkschaftseigenen Europäischen Verlagsanstalt erschien, publizierte der von DKP-Funktionären geleitete Pahl-Rugenstein Verlag 1977 die „Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung", deren Autoren die Professoren Frank Deppe und Georg Fülberth waren. Das Buch formulierte ein neues Leitbild der Einheitsgewerkschaft. Die Einheitsgewerkschaft D G B war nach dieser Lesart 1945 aus der Tradition des antifaschistischen Widerstandes von allen politischen Strömungen der Arbeiterbewegung gegründet worden. Realpolitisch ging es dabei um die historisch legitimierte Reintegration der Kommunisten als gleichberechtigte geistig-politische Strömung neben den Sozialdemokraten und der christlich-sozialen Arbeitnehmerschaft in den DGB. Mit dem so uminterpretierten Einheitsgewerkschaftsverständnis sollten Bündnisse von Gewerkschaftsfunktionären mit den Kommunisten in außerparlamentarischen Protestbewegungen, wie zum Beispiel der Friedensbewegung, legitimiert werden. Die DGB-Jugendschule Oberursel wurde zum Kristallisationspunkt der Gegner dieses Vorstoßes. Die historische Darstellung in diesem Werk folgte grundsätzlich der SED-Interpretation der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Der Streit eskalierte, als der Schulleiter Hinrich Oetjen die Bündnispartner der DKP im und außerhalb des D G B differenziert benannte. Die Rolle der Stamokap-Fraktion unter den Jungsozialisten war dabei von besonderer Bedeutung. Den Begriff „Staatsmonopolistischer Kapitalismus" als Klassenanalyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit der Bundesrepublik übernahm dieser Flügel der Jungsozialisten samt der Strategie der „antimonopolistischen Bündnisse" von den SED-Politökonomen. Oetjen analysierte exakt und methodisch auf teilnehmender Beobachtung beruhend, die Taktik bei der Eroberung von Beschlussgremien, der Monopolisierung von Bildungsleitfäden mit dem Ziel, die Einheitsgewerkschaft in die Einlinigkeit einer „einheitlichen Gewerkschaft" zu verwandeln. Unter der These „es geht nicht um die Eroberung der Betriebe, sondern um die der Apparate" habe ich Ende 1979 diese innergewerkschaftliche Debatte über die Gewerkschaftspolitik der DKP dargestellt. Die IG Chemie-Papier-Keramik hat diesen Aufsatz innerhalb ihrer Organisation verteilt, und er wurde in das Buch „Der Marsch der DKP durch die Institutionen" aufgenommen, das von Ossip K. Flechtheim, Wolfgang Rudzio, Fritz Vilmar und mir 1980 im Fischer-Verlag herausgegeben wurde. H. S.: 1980 wurde aus dem Assistenten der TU Berlin, Manfred Wilke, über Nacht der Landesgeschäftsführer der GEW in Nordrhein-Westfalen. Was war der Hintergrund für diesen Wechsel? M. W.: Der Aufsatz über die DKP-Gewerkschaftspolitik hatte in vielerlei Hinsicht für mich weit reichende Folgen. Zunächst bekam ich nach seinem Erscheinen vom

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Landesgeschäftsführer der nordrhein-westfälischen SPD Bodo Hombach im Februar 1980 das für mich unvermittelte Angebot, seine Nachfolge als Landesgeschäftsführer der GEW Nordrhein-Westfalen anzutreten. Meinen Einwand, ich hätte keine Erfahrungen in der Führung von Organisationen, wischte er vom Tisch: Darum ginge es nicht; in Nordrhein-Westfalen wäre die Übernahme großer GEW-Stadtverbände durch die von Oetjen beschriebenen Bündnisse mit der DKP bereits so weit fortgeschritten, dass dieser Landesverband in der GEW „gekippt" sei. Meine Aufgabe sei es, einen exemplarisch notwendigen Konflikt zu fahren, um diesen Prozess im DGB öffentlich sichtbar zu machen. Er appellierte an meinen Ehrgeiz, nicht nur Beobachter, sondern selbst einmal Akteur zu sein. Schließlich willigte ich ein und war ab April 1980 Landesgeschäftsführer der GEW Nordrhein-Westfalen in Essen. Die Einstimmigkeit bei meiner Einstellung im Landesvorstand änderte sich rasch, als einige Mitglieder sich die für sie notwendigen Informationen über meine Biografie und politische Haltung beschafften und der Band über die DKP erschien. Es gab eine polemische Kritik in der IG-Metall-Zeitschrift „Der Gewerkschafter" und eine Broschüre des DKP-Vorsitzenden Herbert Mies, die die Autoren als notorische Antikommunisten stigmatisierte. Zum Bruch kam es im März 1981: Der Landesvorstand des DGB und der GEW hatte die von einigen GEW-Stadtverbänden geforderte Demonstration gegen die Bildungspolitik der nordrhein-westfälischen Landesregierung abgelehnt. Daraufhin brachen einzelne Stadtverbände, angeführt vom Kölner, demonstrativ diesen Beschluss und organisierten die Demonstration. Den Konflikt zwischen dem Landesvorstand und den Stadtverbänden sollte der damalige GEW-Vorsitzende Erich Frister schlichten. Die Aufgabe kam ihm ungelegen, da er sich gerade auf einen Funktionswechsel vorbereitete: Er wurde Arbeitsdirektor beim gewerkschaftseigenen Bauriesen „Neue Heimat". Frister wollte erkennbar keinen Streit, suchte den Kompromiss, genauer die Kapitulation bei eigener Gesichtswahrung vor den Stadtverbänden. Die Rechtfertigung, die er fand, war fadenscheinig: In einem Flächenstaat fehle neben dem Landesvorstand noch ein Zwischengremium, in dem die Stadtverbände und der Landesvorstand ihre Konflikte diskutieren und schlichten könnten. Nach diesem Abend gab es im Landesverband eine neue Mehrheit, die den amtierenden Landesvorstand nur noch geschäftsführend bis zur nächsten Landesdelegiertenkonferenz amtieren ließ. Erich Frister sah ich erst im Juni 1981 wieder, als ich mit ihm die Modalitäten meiner Rückkehr in den wissenschaftlichen Betrieb diskutierte, die zugleich mein Ausscheiden als hauptamtlicher Gewerkschaftsfunktionär bedeutete. Wir fanden eine Lösung und ich kehrte an die Freie Universität zurück, an der ich mich im Februar 1981 mit meiner Arbeit „Gewerkschaften und Beruf" als politischer Soziologe habilitiert hatte. Vorab erschien schon 1979 im Piper-Verlag mein Buch „Die Funktionäre - Apparat und Demokratie im DGB" mit einem Vorwort von Theo Pirker. Er war es auch, der mein nächstes Forschungsvorhaben beim Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen beantragte, das 1984 bewilligt wurde und in dem es um die Diskussion und Neubewertung der westdeutschen Gewerkschaften durch die SED/ KPD und DKP 1961 bis 1972 ging. Ein solches Projekt zur Westarbeit der SED war zu diesem Zeitpunkt in der bundesrepublikanischen DDR-Forschung ungewöhnlich. Noch während der Laufzeit des Projektes entstand eine Studie über die Debatte um das Leitbild der Einheitsgewerkschaft im DGB, die ich im Auftrag von HansJoachim Veen, damals Leiter des Forschungsinstituts der Konrad-Adenauer-Stiftung,

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Leben mit und gegen die deutsche Teilung

verfasste und die 1985 unter dem Titel „Einheitsgewerkschaft zwischen Demokratie und antifaschistischem Bündnis" erschien. H. S.: Wie kam mit deiner ausgewiesenen linken Biografie ausgerechnet zur Konrad-Adenauer-Stiftung zustande?

der

Kontakt

M. W.: Der Weg zur Konrad-Adenauer-Stiftung wurde mir von einigen CDU-Mitgliedern geebnet, die ich während des Konflikts um das DKP-Buch kennen gelernt hatte. 1980 war Norbert Blüm Vorsitzender der CDA, sein Büroleiter Peter Clever sprach damals mit mir über diese Auseinandersetzung und über die Frage der Solidarität für die Solidarnosc im DGB. Die Solidarität mit der polnischen Gewerkschaft Solidarnosc war für mich selbstverständlich. Ich hatte auch keine Bedenken, meine Dienstanschrift zur Verfügung zu stellen, unter der in der Bundesrepublik lebende Polen im Herbst 1980 eine Druckmaschine nach Danzig schickten und deren Empfang Lech Walesa mir gegenüber quittierte. Clever seinerseits versuchte, in der CDA die Debatte um das Leitbild Einheitsgewerkschaft im Vorfeld des DGB-Grundsatzprogrammkongresses 1981 anzustoßen. In meiner Stasiakte fand ich 1992 den Mitschnitt eines Telefongesprächs vom Oktober 1982 mit Wilhelm Mensing, Referatsleiter im Bundesinnenministerium, der mich zu einer Konferenz seines Hauses über den Einfluss der SDAJ (Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend), der Jugendorganisation der DKP, auf die Schülerpresse in der Bundesrepublik einlud. Zwischen Mensing und mir entstand eine enge Freundschaft. Nach meinem Abschied von der GEW lernte ich durch Clever den damaligen Geschäftsführer der CDA Heribert Scharrenbroich kennen, der sich für meine D G B Studie in der Konrad-Adenauer-Stiftung bei deren Generalsekretär Bruno Heck verwandte. Die CDA-Kontakte führten mich schließlich zum Leiter der Abteilung Inland im Bundespresseamt, Wolfgang Bergsdorf, der ebenfalls zu einem Freund wurde. Bei meiner späteren Berufung als sachverständiges Mitglied der EnqueteKommission des Deutschen Bundestages „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" war er es, der mich Dorothee Wilms vorschlug. Seine Telefonate mit mir hat das MfS ebenfalls mitgeschnitten. Erstmals lernte ich im Umfeld der Konrad-Adenauer-Stiftung und der C D U Menschen kennen, die zum Teil gläubige Christen waren und die die atheistische Glaubenswelt von Sozialisten und Kommunisten als solche nachempfinden konnten. Es waren Menschen, die intellektuell aufgeschlossen, wissenschaftlich redlich und vorurteilsfrei waren und die mir vor allem Solidarität erwiesen, als ich sie bitter nötig hatte. Erstaunlich war für mich Wilhelm Mensing, er verstand die DKP-Politik als SEDWestarbeit und wusste sie in die innerdeutsche Politik einzuordnen. Meine SPD-Mitgliedschaft und die linksradikale Vergangenheit wurden als gelebtes Leben akzeptiert. In Berlin war es die hochschulpolitische Sprecherin der CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus, Ursula Besser, die nach meiner Trennung von der GEW das Gespräch mit mir suchte. Ironischerweise setzte das MfS in seinem Maßnahmeplan von 1978, in dem es darum ging, meine akademische Karriere im Westen zu verhindern, auf sie als Schlüsselperson. Ihr wurden entsprechende Informationen über meine Kontakte zu Lucio Lombardo Radice, ZK-Mitglied der kommunistischen Partei Italiens, zuge-

310

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spielt, die sich im Zusammenhang mit dem von mir herausgegebenen Band „Robert Havemann - Ein deutscher Kommunist" ergaben, zu dem er das Nachwort schrieb und den er ins Italienische übersetzte. H. S.: Wie kam dieser Interviewband überhaupt zustande f

mit Havemann

während

seines

Hausarrestes

M. W.: Das Besondere an diesem Buch, das 1978 auf der Frankfurter Buchmesse Furore machte, war, dass es auf ungewöhnlichem Wege zustande kam. Jürgen Fuchs versuchte nach seiner Ankunft in Westberlin sofort Verbindung zu Katja und Robert Havemann aufzunehmen, die seit November 1976 in einem strengen Hausarrest in Grünheide isoliert waren. Allein der Gemeindepfarrer von Grünheide Meinel und seine Frau durften Katja, die Mitglied der evangelischen Kirche war, dort besuchen. Dies war auch der Weg, auf dem Havemann von mir zirka 150 Fragen zu seiner Biografie erhielt, die er auf Tonband beantwortete. Die Bänder brachte der damalige Stern-Korrespondent in der DDR, Dieter Bub, in den Westen. Havemann beschrieb in der Isolation die Bedingungen seines Hausarrestes und begründete, warum er blieb: „Ich denke ja gar nicht daran, die D D R zu verlassen, wo man wirklich auf Schritt und Tritt beobachten kann, wie das Regime allen Kredit verliert und schon verloren hat und es eigentlich nur noch weniger äußerer Anstöße und Ereignisse bedarf, um das Politbüro zum Teufel zu jagen." 4 Dieser Satz führte zu einigen Diskussionen mit dem Rowohlt-Verlag, der ihn zum Schutz Havemanns streichen wollte, denn eine solche Prognose widersprach allen Einschätzungen der westdeutschen D D R Forschung und -Publizistik. Havemann starb 1982 und hat diesen Moment von 1989 leider nicht mehr erlebt. Meine Frau Karin hat ihn nach Aufhebung des Hausarrests noch einmal besuchen dürfen, als wir glaubten, wir könnten uns jetzt wieder öfter sehen. Trotz aller Erfahrungen waren wir noch immer naiv: Karin bekam Einreiseverbot in die D D R , das ich zu diesem Zeitpunkt bereits hatte. H. S.: Welche Sozialdemokraten GEW noch Kontakt zu dirt

und Gewerkschaftsfunktionäre

hielten nach

der

M. W.: Meine Ausgrenzung aus der Linken vollzog sich schrittweise. Mit der Vergegenwärtigung des Freiheitskampfes der Berliner Sozialdemokraten gegen die Zwangsfusion mit der KPD zur SED versuchten der damalige SPD-Abgeordnete Gert Gruner und ich, unsere Partei im Berliner Wahlkampf 1981 noch zu unterstützen. Bei Piper publizierten wir erstmals das Protokoll der ersten Sechziger-Konferenz vom Dezember 1945, auf der sich die SPD in der SBZ einvernehmlich dem Einheitsdruck der KPD beugte und der offene Widerstand der Westberliner Sozialdemokraten gegen diesen Kurs begann. Es war mein erster Beitrag zum Thema SED-Gründung als Zäsur der deutschen Teilungsgeschichte. Aber die SPD empfand die beachtete Publikation als unzeitgemäß, sie störte die Gespräche mit der SED. Während und nach dem Konflikt in der G E W war ich in Kontakt mit dem Vorsitzenden der IG Chemie-Papier-Keramik, Hermann Rappe, und der Redaktion der

4

Robert Havemann: Ein deutscher Kommunist, hrsg. von Manfred Wilke, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 29.

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Leben mit und gegen die deutsche Teilung

Zeitung der IG Bergbau und Energie, vor allem mit Norbert Römer, der zusammen mit seinem Chefredakteur Horst Niggemeier die Auseinandersetzung mit kommunistischen Positionen fortführte. Niggemeier sorgte 1980 dafür, dass der Düsseldorfer Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Hugo Müller-Vogg, über den ersten Konflikt in der GEW um meine Person ausführlich berichtete. Ein Seminar an der Politischen Akademie Tutzing zum Thema „DKP-Politik im DGB und gegenüber der SPD" führte mich mit Jürgen Maruhn zusammen. Maruhn kam aus Dresden und hatte als Kind noch den 17. Juni 1953 erlebt. Er versuchte den geistig-politischen Gegensatz zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus lebendig zu halten. Am Ziel der deutschen Einheit hielt er gegen den SPD-Mainstream fest, was uns verband. Die erste Publikation, die wir gemeinsam 1984 herausgaben, trug den bezeichnenden Titel „Wohin treibt die SPD?", in ihr verteidigten einige Autoren die Politik Helmut Schmidts im Streit um den NATO-Doppelbeschluss von 1979.

H. S.: Spielte all das eine Rolle bei deiner Berufung zum Professor für soziologie an der Fachhochschule für Wirtschaft 1985?

Wirtschafts-

M. W.: Diese Bewerbung war kein hochschulinterner Vorgang, sie wurde zu einem politischen Konflikt zwischen der Mehrheit der Professoren in der Berufungskommission und dem Rektorat der Fachhochschule. Der Konflikt erreichte sogar das Abgeordnetenhaus und die Fraktion der AL erwog gar einen Untersuchungsausschuss. Aber die Professorenmehrheit bestand auf meiner Berufung, die schließlich der Wissenschaftssenator Wilhelm A. Kewenig (CDU) aussprach, ein Schritt, der von Frau Besser nachhaltig unterstützt wurde. In den darauf folgenden Jahren konzentrierten sich meine Forschungsarbeiten auf die Gewerkschaften und ihre Politik. Mit HansPeter Müller brachte ich die schon erwähnte Untersuchung der SED-Debatte über die westdeutschen Gewerkschaften ebenso zum Abschluss wie eine Studie über die DKP. Beide Bücher erschienen 1990 im Verlag Wissenschaft und Politik und verwandelten sich im Erscheinen aus politikwissenschaftlichen Analysen in Beiträge zur Zeitgeschichte.

H. S.: Wie hast du den Mauer fall erlebt? M. W.: Den Mauerfall am 9. November 1989 erlebte ich am Grenzübergang Invalidenstraße. Während die Ostberliner skandierten: „Wir wollen raus!", war die Antwort von der Westseite: „Wir wollen rein!". Um Mitternacht standen meine Frau Karin und ich trotz Einreiseverbots auf dem Kontrollpunkt. Vor meinen Augen hörten die bewaffneten Organe der DDR auf, als militärische Einheiten zu funktionieren. Offiziere der Grenztruppen sprachen offen über ihren Wunsch, auch einmal Westberlin zu sehen.

H. S.: Was waren die ersten Themen deiner Forschung über den SED-Staat? M. W.: Leider erkrankte ich nach dem Mauerfall schwer und fiel für mehrere Monate aus. Mein erster Beitrag zur Transformation des SED-Staates war die mit Hans-Peter Müller verfasste Analyse zur Selbstreform der SED-Massenorganisation FDGB und dem Gewerkschaftsgesetz, das die Regierung von Ministerpräsident Hans Modrow (SED-PDS) noch Anfang März von der alten DDR-Volkskammer verabschieden

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ließ. Dieses Gesetz war Teil des geordneten Rückzugs der Modrow-Regierung, die versuchte, vor der demokratischen Volkskammerwahl Fakten zu schaffen. Auftraggeber der Analyse war erneut Hans-Joachim Veen von der Konrad-Adenauer-Stiftung, und sie erschien unter dem Titel „FDGB - Vom alten Herrschaftsapparat zu neuer Gewerkschaftsmacht?" am 2. März 1990. Gleichzeitig schrieben Müller und ich Flugblätter zur Geschichte des F D G B und zur Auflösung der Betriebsräte in der SBZ 1948 für die IG Bergbau und Energie. Zur Industriepolitik dieser „Steinkohlegewerkschaft" bewilligte mir die Deutsche Forschungsgemeinschaft im Rahmen eines industriesoziologischen Forschungsschwerpunktes ein Projekt, das in enger Absprache mit Theo Pirker konzipiert wurde. Projektbearbeiter war Hans-Peter Müller. Es begann nach dem Ende des F D G B und erfuhr eine Perspektiwerschiebung: Im Mittelpunkt stand nun die „Braunkohlepolitik der Steinkohlegewerkschaft" in Sachsen und Brandenburg. Die Materialgrundlage der Studie bildeten Interviews mit den Betriebsräten der ersten Stunde aus den ostdeutschen Braunkohlerevieren. Das Ergebnis korrigierte die allgemeine Wahrnehmung der friedlichen Revolution, die angeblich am „Feierabend" stattfand. „In der Braunkohle" nutzte die technische Intelligenz die Stunde, um sich innerbetrieblich von der Herrschaft der Parteifunktionäre zu befreien. In vielen Betrieben wurden die „Leiter der Kaderabteilungen" entfernt und die Gewerkschaftsleitungen des F D G B abgelöst. Den SED-Kadern bot sich eine neue Chance, als die westdeutschen Berater eintrafen. Die Manager bestanden auf einer „Personalabteilung" und ihnen war unverständlich, warum jene, die zu DDR-Zeiten dafür verantwortlich waren, dies nicht auch weiterhin sein sollten, da sie doch die Belegschaft kannten. Die Helfer der IG Bergbau entdeckten somit die betrieblichen „Gewerkschaftsfunktionäre" wieder. Die westdeutschen Funktionäre wussten genau, dass die Zahl der Beschäftigten, die sich in der Gewerkschaft aktiv betätigen, immer begrenzt ist. Bitter berichteten die Betriebsräte der ersten Stunde, die nicht zuletzt aus der technischen Intelligenz kamen, von den Folgen der Ignoranz dieser westlichen Berater, die weder die Prinzipien kommunistischer Kaderpolitik kannten noch über den Charakter des F D G B als Massenorganisation der Partei informiert waren. Im Zusammenhang mit diesem Forschungsprojekt beauftragte uns die Adenauer-Stiftung, den Vereinigungsprozess der Gewerkschaften des D G B mit den gewendeten FDGB-Verbänden zu untersuchen; so entstand die Studie „Zwischen Solidarität und Eigennutz". H. S.: Diese Forschungsarbeiten entstanden ja noch aus deiner wann rückte der SED-Staat selbst in deinen Blick?

Verbandsforschung,

M. W.: Im Laufe des Jahres 1990 geriet ich immer stärker in den Sog der Aufarbeitung der Geschichte der SED-Diktatur. Es begann mit Robert Havemann, dessen Biografie und verbotene Schriften nun in der D D R publiziert wurden. Dem Neuen Forum, das in seinem Haus in Grünheide 1989 unter anderem von seiner Witwe Katja und Bärbel Bohley gegründet wurde, schien Havemann kurzzeitig als Kronzeuge für die Möglichkeit einer besseren und sozialistischen D D R zu dienen, auf den man sich beziehen konnte, um den Einheitswillen des Volkes und die restaurativen Gelüste der SED gleichzeitig abwehren zu können. Auch die SED erinnerte sich seiner: Eine der letzten Entscheidungen des Zentralkomitees vor seiner Auflösung betraf die Rehabilitierung Robert Havemanns im Dezember 1989.

Leben mit und gegen die deutsche Teilung

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Die Widersprüche im deutschen Vereinigungsprozess erfuhr ich im Februar 1990 in Grünheide im Gespräch mit Katja Havemann. Stolz berichtete sie mir, dass jetzt im Neuen Forum an einem Wahlgesetz für die Volkskammerwahlen gearbeitet werde. Ich sah sie verständnislos an: „Wieso tut ihr das, kann man nicht in Westberlin ein Wahlgesetz der Bundesrepublik kaufen, die parlamentarische Demokratie ist in Deutschland bereits erfunden. Ihr könnt es ja modifizieren." Lächelnd fragte sie mich, wen ich denn bei der Volkskammerwahl wählen würde? Meine Antwort: den Demokratischen Aufbruch. Rechtsanwalt Wolfgang Schnur, der Verteidiger der Kriegsdienstverweigerer und Friedensaktivisten, mache doch eine gute Figur und außerdem sei er für die Vereinigung. „Wer Rechtsanwalt Schnur wirklich war, wirst du in den nächsten Tagen erfahren", sagte sie. Wenig später wurde bekannt, dass Schnur als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) Vertrauensanwalt des Ministeriums für Staatssicherheit gewesen war. Mit ihm wurde erstmals eine Person mit doppelter Biografie in der Diktatur, die nun führend am demokratischen Neuanfang in der D D R beteiligt war, enttarnt. Das unterstrich die Notwendigkeit, die von Bürgerkomitees gesicherten MfS-Akten für die Betroffenen zu öffnen, um die Frage von Erich Mielke für die Gesellschaft der D D R zu beantworten: Wer war wer in der D D R ? Es galt, die Masken biografischer Doppelexistenz zu zerstören, damit die Menschen sich wieder unbefangen in die Augen sehen konnten. 5 In dieser Endphase der demokratisierten D D R drehte der Regisseur Hans-Dieter Rutsch vom DEFA-Dokfilm seinen Film über Robert Havemann. Damit begann gewissermaßen mein Leben in der Aufarbeitung. Damals war in der D D R noch die Debatte über den demokratischen Neuanfang der Jahre nach 1945 in der SBZ virulent. Das Festhalten an der Bodenreform, das heißt an den sowjetischen Enteignungsbefehlen durch die Regierung Lothar de Maizieres (CDU), als „Errungenschaft" ist dafür ein Beispiel. Die SED/PDS-Historiker konstruierten rasch die Phase von 1945 bis 1948 als eine, in der auch in der SBZ der Weg zu einer demokratischen und sozialistischen Gesellschaft noch offen gewesen sei. Erst mit der Berlin-Blockade, dem einsetzenden Kalten Krieg in Deutschland und der daraus resultierenden Stalinisierung der SED sei der Weg in die Diktatur beschritten worden. Die Frage, wie die SED-Gründung zu bewerten war, stand im Raum: Einheitsdrang von Sozialdemokraten und Kommunisten nach den Erfahrungen der Nazi-Diktatur oder eine von den Kommunisten mit Hilfe der Besatzungsmacht durchgesetzte „Zwangsvereinigung" der SPD mit der KPD? „Poker um Deutschland" hieß der Film, den der Bayerische Rundfunk bei DEFADokfilm 1990 in Auftrag gab und der den Prozess der SED-Gründung rekonstruierte. Rutsch und ich erarbeiteten gemeinsam das Drehbuch. Bei dieser Gelegenheit betrat ich erstmals das Parteiarchiv der SED im „Institut für die Geschichte der Arbeiterbewegung", in das sich das „Institut für Marxismus-Leninismus" 1989 verwandelt hatte. Unvergessen ist die Begegnung mit seinem Direktor Günther Benser, den wir um Akteneinsicht baten, die er zögerlich gewährte. Stolz verwies er darauf, dass sein Schreibtisch im Arbeitszimmer von Otto Grotewohl stehe: Meine Bitte, mir das Arbeitszimmer von Walter Ulbricht zu zeigen, dem einzigen kommunistischen Staatsmann der D D R , konnte er mir hingegen nicht erfüllen. Es war unter seinem

5

Siehe den Beitrag „MfS-Akten: Offenlegung statt Verwaltung" in diesem Band.

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Nachfolger Honecker nicht in den Rang eines Traditionsraums erhoben worden. Der Film präsentierte einen archivarischen Fund, der in der damaligen Debatte von entscheidender Bedeutung war: die Notizen Wilhelm Piecks über Gespräche, die er und Ulbricht mit Stalin und dessen Politbüro in den Junitagen 1945 führte und in denen der Gründungsaufruf des ZK der KPD festgelegt und die Führungsriege der KPD aus deren Moskau-Kadern rekrutiert wurde. H. S.: Du selbst hast schon 1991 auch DDR-Historiker zogen.

in deine Forschungen

einbe-

M. W.: Im „Institut für die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung" hatte sich unter Leitung von Lutz Prieß, der sein Studium in Moskau absolviert hatte, eine Arbeitsgruppe Stalinismus gebildet. Mit ihm und seinen Mitarbeitern Peter Erler und Horst Laude diskutierte ich ein Dokumentationsprojekt über die Planungen der Exil-Kader der KPD vor Kriegsende. Das Projekt wurde von mir beim Bundesministerium des Innern beantragt, in dem die Forschungsförderung des Ministeriums für innerdeutsche Beziehungen weitergeführt wurde. Meine Entscheidung, mit diesen Historikern aus der D D R , genauer aus dem Parteiapparat der SED zusammenzuarbeiten, stieß auf Kritik und Unverständnis. Der Gestus war im Westen überall gleich: „Wie kannst du nur?" Meine Antwort war: „Wollen wir nun die Wiedervereinigung oder wollen wir sie nicht?" Wenn DDR-Historiker nach dem Ende des SED-Staates beginnen, sich mit der Realgeschichte des deutschen Kommunismus zu befassen und sie war vom Stalinismus geprägt, was in den ersten Dokumenten der PDS auch selbstkritisch hervorgehoben wurde - , dann sollten gerade wir, die stigmatisierten Antikommunisten, ihnen die Chance eröffnen, diesen Teil unserer gemeinsamen Geschichte mit zu erforschen. In diesem Projekt erwies sich vor allem Horst Laude als ein Glücksfall. Er konnte die Handschriften von Pieck und Florin entziffern. Letzterer hatte am 6. März 1944 in Moskau die Grundfrage deutscher Politik nach Hitler unter den Bedingungen alliierter Besetzung formuliert: Wohin geht Deutschland - Ost oder West? Das Verhältnis zur Sowjetunion war für ihn Prüfstein und grundsätzliche Scheidelinie zwischen Fortschritt und Reaktion in der künftigen deutschen Nachkriegspolitik. Aufgabe der KPD sollte es sein, durch eine geschickte Bündnispolitik Deutschland auf Dauer an die Sowjetunion zu binden. H. S.: Das zweite Forschungsvorhaben betraf die Beteiligung der SED an der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968. War das eine biografische Angelegenheit für dich? M. W.: Natürlich. Die Volkskammer hatte das SED-Parteiarchiv nicht verstaatlicht, sodass die PDS weiterhin als Eigentümerin über den Zugang zu sensiblen Aktenbeständen entschied. Dazu zählten unzweifelhaft die Akten der Partei über das Jahr 1968 und ihre Interventionspolitik gegen den „Sozialismus mit menschlichem Antlitz". In einem Gespräch mit dem Parteivorsitzenden Gregor Gysi holte ich mir das Einverständnis, diesen Bestand im SED-Archiv einzusehen und ich bot ihm an, zusammen mit Lutz Prieß daran zu arbeiten. Gysi willigte ein und die „Stiftung Tagesspiegel" finanzierte den Start, hierbei half der Chefredakteur Hermann Rudolph. Erste Ergebnisse stellten wir noch 1991 auf einer internationalen Konferenz der Kommission zur Untersuchung des Reformprozesses der Jahre 1967/68 und seiner

Leben mit und gegen die deutsche Teilung

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Unterdrückung der Nationalversammlung in der CSFR vor, und zwar in Liblice, dem Ort der legendären Kafka-Konferenz von 1963. Die anwesenden Zeitzeugen waren die noch lebenden Akteure von 1968 wie zum Beispiel Alexander Dubcek. Mit Vilem Precan, dem Direktor des neu gegründeten Instituts für Zeitgeschichte, und Vaclav Kural, dem stellvertretenden Vorsitzenden der Parlamentskommission, wurde eine Zusammenarbeit vereinbart, die zu einem von der VW-Stiftung geförderten gemeinsamen Forschungsvorhaben führte. Sein Ergebnis wurde in der Schriftenreihe des Forschungsverbundes SED-Staat 1996 veröffentlicht. H. S.: So weit sind wir noch nicht. Du warst doch einer der ersten Westdeutschen, der seine MfS-Akte einsehen konnte. Hast du damals bereits Joachim Gauck gekannt? M. W.: Ja, Joachim Gauck lernte ich über Klaus Richter kennen, er war sein Mitarbeiter als Volkskammerabgeordneter. Richter und ich gehörten zu einem Autorenteam, das eine Biografie über Havemann veröffentlichte. Gauck lud mich zu einem Gespräch ein, das er Ende 1991 zusammen mit seinem Direktor Hansjörg Geiger und dem Vorsitzenden des Deutschen Historikerverbandes, Wolfgang Mommsen, sowie Hermann Weber und anderen Historikern über die Aufgabe der künftigen Forschungsabteilung der Behörde führte. Hermann Weber vertrat entschieden den Standpunkt, dass Archive nicht forschen sollten. Konsens in der Runde war, die Uberlieferung des MfS zeitnah historisch zu erschließen. Beeindruckend war die Vehemenz, mit der Mommsen die Besetzung der Abteilung durch Fachhistoriker einforderte, wenn es denn politisch sein müsse, dass eine solche Abteilung in dieser Archiv-Behörde eingerichtet wird. So geschah es, doch zwischen dem Erkenntnisinteresse der eingestellten Fachhistoriker und dem Aufklärungswillen der Bürgerkomitees, die die MfS-Archivalien 1989/90 vor der Vernichtung bewahrt hatten, kam es bald zum Konflikt in der Forschungsabteilung. Jürgen Fuchs hat ihn in seinem Roman „Magdalena" festgehalten. Unvergessen bleibt mir der 2. Januar 1992, der Tag, an dem die Behörde ihre Arbeit aufnahm und mir die über mich gesammelten MfS-Akten vorgelegt wurden. Ich saß zwischen Vera Wollenberger und Rainer Eppelmann und sah, wie bei Frau Wollenberger der Blitz einschlug, als sie die Spitzelberichte ihres Ehemanns über sich vor Augen hatte. Meine Akte war die eines Westberliners, also war die IM-Dichte, die mich „betreute", viel überschaubarer als die, mit der Rainer Eppelmann konfrontiert war, dem ich wenige Monate später als Vorsitzendem der Enquete-Kommission wieder begegnen sollte. Die Stasi-Akten enthielten auch eine mir nicht mehr präsente Lebensverknüpfung mit ihm: In der Wohnung von Margret Frosch war ich anwesend, als sein Interview mit Robert Havemann 1981 für das ZDF aufbereitet wurde. IM „Christoph" hatte mitgeschrieben - Hans-Christoph Buchholz arbeitete damals als Praktikant in der Anwaltskanzlei von Otto Schily. Meine Lebensverknüpfung mit Jürgen Fuchs dokumentierten die Akten ebenfalls: Das MfS hatte sehr wohl registriert, wie eng unser Kontakt blieb und wie wir gemeinsam an der Vernetzung der künstlerischen und intellektuellen Opposition im sozialistischen Lager arbeiteten. Letzteres bezog das MfS auch auf meine Kontakte zum tschechoslowakischen Exil, zu Jiri Pelikan und Zdenek Hejzlar, den Fernseh- und Rundfunkchefs im Prager Frühling. Beide hatten übrigens die Ehre, auf Breschnews Liste der sofort abzulösenden Kader zu stehen, als Dubcek und die anderen das Moskauer Diktat im August 1968 unterschrieben.

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Anhang

Seit diesen Tagen hat mich das Schicksal dieser Behörde nicht mehr losgelassen; als Jürgen Fuchs aus Protest den Beirat verließ, wählte mich der Deutsche Bundestag zu seinem Nachfolger. H. S.: Dein Interesse galt aber in erster Linie der Überlieferung

der SED?

M. W.: Ja, denn sie war für die politische Geschichte der D D R entscheidend. Aber gemessen an dem öffentlichen Interesse an der MfS-Erbschaft blieben die Akten der SED, die doch Herrin über das MfS war, damals weitgehend unbeachtet. Die Volkskammer hatte nicht die Kraft, das Parteiarchiv der SED zu enteignen, Eigentümerin ist bis heute die PDS. Eine der vielen Grotesken des Einigungsprozesses betrifft auch dieses Archiv: Westdeutsche Juristen diskutierten ernsthaft, diese Überlieferung zu entmischen in einen Teil, der die Parteiangelegenheiten betraf, und in einen anderen, der die Staatsakten umfasste, die das Bundesarchiv verwalten sollte. Zu Recht protestierten Historiker gegen diesen Versuch, das Archiv zu zerstören. Offen blieb aber seine Zukunft und die Antwort auf die Frage, wer für die Kosten aufkommen sollte? Reflexartig bat die PDS-Spitze zunächst um sowjetische Hilfe, da der Inhalt des Archivs auch die Staatsinteressen der Sowjetunion berührte. Dann wurde die „Vereinigung der Arbeiterbewegung" auf Basis ihrer Archive bedacht, die Überführung der SED-Akten in das Archiv für Soziale Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung. In dieser öffentlich kaum beachteten Debatte vertraten Theo Pirker, Hans-Hermann Hertie und ich die Position: „Diktaturakten können nicht privatisiert werden!" Die dann zwischen dem damaligen Innenminister Wolfgang Schäuble und dem Bundestagsabgeordneten Gregor Gysi ausgehandelte Lösung, eine Stiftung für die Überlieferungen der Parteien und Massenorganisationen der D D R im Bundesarchiv zu gründen, löste diese Frage und hat sich als tragfähig bewährt. H. S.: Mehrmals fiel schon der Name Theo Pirker; der dir als Freund und Kollege bedeutet hat. Wie stand er zur Gründung des Forschungsverbundes?

viel

M. W.: Er war für mich Lehrer und Freund. Der Streit um die SED-Akten war unsere letzte gemeinsame politische Aktion. Er gehörte zum Jahrgang 1922, der auf den Soldatenfriedhöfen des Zweiten Weltkrieges überrepräsentiert ist. Unumwunden bekannte er sich zu den Brüchen seiner Biografie: Das Arbeiterkind aus München war als Fallschirmjägeroffizier Soldat in Hitlers Eroberungskrieg, den er in Russland schwer verwundet überlebte. 1945 war er Mitbegründer des Bayerischen Gewerkschaftsbundes, arbeitete unter Leitung von Viktor Agartz für den „Politischen Verband" D G B in dessen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichem Institut (WSI), stritt im Bunde mit der KPD gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und verlor im Zusammenhang mit der Kündigung von Agartz 1955 seinen Arbeitsplatz im WSI. Er brach mit Agartz, als dieser die 1956er Streiks in Posen auf Geheiß des FDGB, der seine Zeitschrift „WISO" mitfinanzierte, als subversive Aktion amerikanischer Agenten diffamierte. Für Pirker war besonders Deutschland mit den katastrophalen Weltkriegen, dem Verlust des „Reiches" und den Besatzungsherrschaften ein Land, in dem „Bruchbiografien" normal sind. Die Kontinuität in den Brüchen interessierte ihn besonders. Als Journalist und freier Sozialforscher bereiste Pirker die Sowjetunion, den Iran und die Länder Asiens. Als er sich an der F U Berlin für eine Stelle als Gewerkschafts-

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Soziologe bewarb, fiel er durch, erfolgreich war er aber in seiner Bewerbung für den Lehrstuhl Methodenlehre. Auffällig häufig befanden sich unter Pirkers Mitarbeitern solche mit zweitem Bildungsweg. Für ihn war Soziologie eine Wirklichkeitswissenschaft von der Gesellschaft und somit undenkbar ohne deren historische und politische Dimension. Von einem politischen Soziologen verlangte er, dass er Konstellationen zu lesen versteht. Zwei Beispiele sollen illustrieren, was er darunter verstand: Erstens, in der Wahl des polnischen Papstes sah Pirker eine schwere Niederlage der Sowjetunion, denn „dieser Papst wird Breschnew Stalins Frage beantworten: Wie viele Divisionen hat der Papst?". Zweitens, als sich in der Nacht, in der Khomeini aus dem Pariser Exil nach Teheran zurückflog, parallel aus Westberlin einige Exil-Iraner auf den Weg in die Heimat begaben, um dort der „Volksrevolution" zum Sieg zu verhelfen, gab er wiederum eine Prognose ab. Beide Ereignisse wurden in einem Gesprächskreis diskutiert, der sich freute, dass die Freunde, die 1967 an der Anti-SchahDemonstration in Berlin teilgenommen hatten, nun die Früchte ihrer Exiljahre ernten würden. Pirkers Lagebeurteilung hatte in dieser Nacht prophetische Kraft und war von seinem gänzlich unsentimentalen Realismus geprägt: „Was wisst ihr über den Iran? Wer von euch hat schon einmal versucht, mit einem Mullah zu diskutierten?" Das gestürzte Schah-Regime mit all seinen Folterkellern sei ein aufgeklärtes Regime gewesen gegenüber dem, was nun kommen werde. „Die Mullahs werden eure linken Freunde ohne großes Aufheben verhaften und erschießen." Die Gefährlichkeit der Mullahs liege in ihrem persönlichen spirituellen Zugang zu Allah, sie seien rationalen Argumenten in ihrem Fanatismus nicht zugänglich. - Betroffen schwieg die Runde. H. S.: Woher so viel

Realismus?

M. W.: D a s Ende der Arbeiterbewegung in der Bundesrepublik, mit dem er zugleich die eigenen Hoffnungen auf eine solidarische Gesellschaft jenseits des Kapitalismus begrub, hat ihn zu einem aufklärerischen Einzelgänger werden lassen, der nur noch einen an Tatsachen orientierten Realismus gelten ließ. Das politische Handeln des Sozialwissenschaftlers sollte sich für Pirker in der Wahl seines Forschungsgegenstandes und in der öffentlichen Debatte vollziehen. Sein Urteil über die D D R stand seit langem fest, sie war Teil des sowjetischen Imperiums. Die entscheidende Voraussetzung für ihr Ende war für ihn auch nicht die friedliche Revolution in der D D R , sondern das Ende des sowjetischen Imperiums, das sie ermöglichte. Schon Ende 1975 hatte er in dem von Dutschke und mir herausgegebenen Band „Die Sowjetunion, Solschenizyn und die westliche Linke" eine Untersuchung über die Folgen gefordert, die der Stalinismus für die deutsche Arbeiterbewegung hatte. Für ihn stand außer Frage, dass die Aufarbeitung der zweiten Diktatur in Deutschland eine wissenschaftliche Herausforderung und eine politische Notwendigkeit im Vereinigungsprozess war. Darin waren wir uns einig. Unbeantwortet war die Frage, wie das geschehen sollte. Pirker dachte an ein Institut für Zeitgeschichte II, eine Forderung, die angesichts der Gründung der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen chancenlos blieb. Im Vorfeld der Gründung des Forschungsverbundes SED-Staat kam es zwischen ihm und mir über dieses Vorhaben zum Konflikt. Er sah wohl, dass an der F U die DDR-Forschung wegbrach und dafür verantwortliche Professoren in andere Themenfelder wechselten. Der Idee des damaligen FU-Präsidenten Johann W. Gerlach, eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe zu bilden, um die sich bietende Chance der Öffnung der Archive für die FU-Zeitgeschichtsforschung zu nutzen, betrachtete

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er mit Skepsis. E r misstraute einem Projekt, das abhängig war von zufälligen Mehrheiten der Hochschulpolitik an der F U . H. S.: Was war deine Position in diesen Überlegungen

f

M. W.: Mich hatte Bernd Rabehl über das Vorhaben des Präsidenten informiert. Nachdem ich mein Interesse bekundet hatte, vermittelte er ein Gespräch mit Klaus Schroeder, der als Leiter der Arbeitsstelle Politik und Technik am Otto-Suhr-Institut der F U Berlin eine solche vom Präsidenten gewünschte Arbeitsgruppe organisieren sollte. Auf meine Bereitschaftserklärung, mich an dieser Arbeitsgruppe D D R - F o r schung zu beteiligen, folgten Gespräche mit dem Präsidenten Gerlach, der sich von den inneruniversitären Absagen, die er erhielt, nicht beirren ließ. Der Historiker Manfred Görtemaker, der auf eine Entscheidung über seine Berufung an die Potsdamer Universität wartete, war ebenfalls bereit, sich dem Vorhaben anzuschließen. Schroeder und ich waren uns einig, dass schon der Name der Arbeitsgruppe den Schwerpunkt und Neuansatz der zeitgeschichtlichen DDR-Forschung an der F U verdeutlichen musste. Unser Vorschlag hieß „Forschungszentrum SED-Staat". Gerlach lehnte diesen Namen ab. Angesichts des interdisziplinären Charakters und seiner zeitlichen Begrenzung als Arbeitsgruppe, die direkt an das Präsidialamt angebunden war, sei der Name „Forschungsverbund" angemessener: „Ob ihr ein Zentrum werdet, müsst ihr erst noch beweisen". Anfang März 1992 wurde der Verbund offiziell gegründet und in einer Pressekonferenz von Gerlach, Görtemaker und mir öffentlich vorgestellt. Die Anwesenheit von Bärbel Bohley unterstrich unsere Position in der vor uns liegenden wissenschaftlichen Arbeit und der vorhersehbaren geschichtspolitischen Auseinandersetzung. H. S.: Der Name „ SED-Staat" signalisierte, dass es bei diesem Neuansatz der DDRForschung vor allem auf die Auseinandersetzung mit der politischen Herrschaftsordnung der DDR, der kommunistischen Diktatur, und ihrer Trägerin, der Partei, ankam. War das eine in diesem Sinne bewusste Namensgebung, die sich auch dem damaligen Zeitgeist, der Fixierung auf die MfS-Akten, entgegenstellte? M. W.: Bei mir war das sicher so. Dies bringt auch das Grundsatzpapier zum Ausdruck, in dem wir uns ausdrücklich auf die Tradition einer linken bzw. marxistischen Kommunismusforschung bezogen, unter anderem auf Ossip K. Flechtheim sowie die Polen Jacek Kuron und Karol Modzelewski, bei denen selbstverständlich die Kommunistische Partei und nicht ihr Staatssicherheitsdienst im Mittelpunkt ihrer Analysen stand. H. S.:Kurz danach beauftragte dich der Landtag Brandenburg auf Antrag der CDUFraktion mit der Durchsicht der SED-Akten zur Kirchenpolitik für den „StolpeUntersuchungsausschuss". Welchen Einfluss hatte das auf den Verbund? M. W.: Es war die praktische Bewährungsprobe und der äußere Anschub für unseren Forschungsverbund. Der Landtag Brandenburg musste 1992 einen Untersuchungsausschuss einrichten, der die MfS-Verstrickungen des Konsistorialpräsidenten der Berlin-Brandenburgischen Kirche, Manfred Stolpe, beleuchten sollte. Er war der einzige SPD-Ministerpräsident einer Koalitionsregierung in den so genannten neu-

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en Ländern. Das MfS hatte ihn unter dem Decknamen IM „Sekretär" geführt. Die CDU-Fraktion im Landtag Brandenburg beauftragte mich, die SED-Akten zu dem Juristen im Kirchendienst zu sichten. Die BStU trug die unzähligen Treffberichte von IM „Sekretär" und seinen Führungsoffizieren zusammen. Die Personalakte von IM „Sekretär" gehörte zu denen, die die Tschekisten der D D R noch im Dezember 1989 vernichteten. Ich konzentrierte mich zunächst auf die apparative Struktur der SED-Kirchenpolitik und die Grundsatzentscheidungen des SED-Politbüros. Deren Durchsetzung innerhalb der Kirche musste nicht zuletzt deshalb dem MfS übertragen werden, da die Kirchen die einzigen Institutionen in der D D R waren, deren Personalpolitik von der SED nicht kontrolliert wurde. Schon im Sommer 1992 konnte ich dem Untersuchungsausschuss in Form des ersten Arbeitspapiers des Forschungsverbundes eine Dokumentation zur „SED-Kirchenpolitik 1953-1958" vorlegen; sie begann mit der Entscheidung der sowjetischen Führung vom Juni 1953, mit dem Neuen Kurs der SED zu verbieten, sich administrativ in die inneren Angelegenheiten der Kirchen einzumischen. Die Konsequenz dieser Linienänderung war eine Vereinbarung mit den Kirchen und die Etablierung einer Abteilung Kirche im ZK der SED samt ihrer Entsprechung beim MfS. Der Versuch, mit dem Bundesbeauftragten Joachim Gauck eine gemeinsame Forschung zu verabreden, welche die kirchenpolitischen Aktivitäten des MfS mit der Politik des SED-Politbüros verknüpfte, scheiterte. Politikwissenschaftliche Diktaturforschung und das damals vorherrschende moralische Schwarz-Weiß-Schema von Tätern und Opfern ließ sich für den Bundesbeauftragten nicht vereinbaren. Der ehemalige Pfarrer scheute vielleicht auch die Antwort auf die Frage, wie weit sich seine eigene evangelische Kirche auch dieser Diktatur in Deutschland in weiten Teilen unterworfen hatte.6 H. S.: Mich interessiert noch ein anderes Thema in diesem Zusammenhang. Im Rahmen deiner Arbeit für den Untersuchungsausschuss hat der Forschungsverbund doch auch Akten über die Interventionspolitik der SED in der polnischen Krise 1980/81 gefunden und publiziert. Geschah dies eigentlich im Einverständnis mit dem Vorsitzenden des Untersuchungsausschusses Lothar Bisky, damals Fraktionsvorsitzender der PDS im Brandenburger Landtag? M. W.: Als Peter Erler, Horst Laude und ich auf ein Gespräch zwischen Bischof Schönherr, Stolpe und dem Staatssekretär für Kirchenfragen aus dem Jahr 1980 stießen, in dem die Kirchenvertreter der DDR-Regierung versicherten, man habe nicht die Absicht, Polnisch zu lernen, und als in den MfS-Unterlagen der Auftrag an IM „Sekretär" vom Sommer 1981 auftauchte, er möge bei seinem Gespräch mit Bundeskanzler Helmut Schmidt aufklären, welche Position die Bundesregierung zu der erneuten Zuspitzung der polnischen Krise bezog, suchten wir systematisch nach SED-Akten zu Polen. Wir wurden fündig und vor unseren Augen lagen die Zeugnisse einer Interventionspolitik der SED gegenüber der polnischen Demokratiebewegung.7 Die SED war offenbar bereit, erneut deutsche Soldaten mit Kampfauftrag

6 7

Siehe dazu auch den Beitrag „Die Diktaturkader Andre Brie, Gregor Gysi, Lothar Bisky und das MfS" in diesem Band. Siehe den Beitrag „Die Solidarnosc und die S E D " in diesem Band.

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nach Polen zu schicken. Im Gegensatz zur CDU-Fraktion im Landtag, die diesen Fund gelassen entgegennahm, waren sich Lothar Bisky ebenso wie Günter Nooke von der Fraktion Bündnis 90 der Tragweite sofort bewusst. Bisky entschied, dass die Dokumente - mit Ausnahme jener, die den Fall IM „Sekretär" direkt betrafen - vom Forschungsverbund in Form eines Arbeitsheftes veröffentlicht werden können. Er war auch damit einverstanden, dass FU-Präsident Johann W. Gerlach die Dokumente einem Vertreter der Solidarnosc und dem Gesandten der Republik Polen, Jerzy Sulek, seitens der FU offiziell übergab. Nach der Präsentation dieser Dokumente hielt es die SPD-Fraktion im Landtag für geboten, meine Tätigkeit als Sachverständiger für den Untersuchungsausschuss zu beenden. Die Weiterarbeit, die sich auf das Staat-Kirche-Gespräch von 1978 konzentrieren sollte, wurde von Günter Nooke und Lothar Bisky durchgesetzt - auf den ersten Blick eine unnatürliche Koalition, die erklärt werden muss. Meine Motivation, wie auch die von Nooke, war klar: Die IM-Problematik musste eingeordnet werden in die SED-Kirchenpolitik, sie setzte den diktatorischen Rahmen. Der Weg, den Gerhard Besier damals ging, sich bei den MfS-Verstrickungen von Christen auf das moralische Problem des Glaubensverrats zu konzentrieren, war nicht meiner. Mir ging es vor allem um die Aufklärung der Kirchenpolitik der Diktaturpartei. Lothar Bisky hatte im Fall der Polen-Akten klug reagiert, der historischen Aufarbeitung wollte er sich nicht offen in den Weg stellen; seine Entscheidung folgte einer strategischen politischen Option. Der PDS-Politiker sollte im Ergebnis des Untersuchungsausschusses den IM „Sekretär" des MfS in eine Fiktion der Staatssicherheit auflösen, um den Ministerpräsidenten von dem IM-Makel zu entlasten. Wir sprachen offen über unsere entgegengesetzten Motivationen, die sich aber in der Uberzeugung der Notwendigkeit trafen, die SED-Kirchenpolitik zu dokumentieren, die 1978 das StaatKirche-Verhältnis im Geist der „Kirche im Sozialismus" neu regelte. Der Kernsatz unseres Gesprächs lautete sinngemäß: Je mehr Dokumente Wilke findet, die die Verstrickung des Konsistorialpräsidenten Stolpe mit der Politik der SED belegen, umso höher wird der politische Preis, den die SPD der PDS für die Entlastung Stolpes zu zahlen hat. Der Preis wurde bezahlt, und mit dem Untersuchungsausschuss begann die Rückkehr der SED-Fortsetzungspartei in die Regierungsverantwortung in ihren „Stammlanden" mit Hilfe der SPD. Bisky, der die Mechanismen der SED-Herrschaft als Nomenklaturkader kannte, war wenig überrascht, dass in den von Michael Kubina und Martin Goerner zusammengetragenen Akten über das Staat-Kirchen-Gespräch sehr deutlich das unterschiedliche Gewicht von SED-Akten im Vergleich zu denen des MfS sichtbar wurde. Das MfS hatte in der Kirche vor dem Gespräch Aufklärungsarbeit zu leisten, bei der die Quelle IM „Sekretär" selbstverständlich zuständig war für die Auswertung der innerkirchlichen Ergebnisse. Die Agenda des Gesprächs bestimmte das für die Kirchenpolitik zuständige Politbüro-Mitglied Paul Verner, auf der Arbeitsebene waren Stolpe für den Bund der Evangelischen Kirchen und der Abteilungsleiter für Kirchenfragen im ZK-Apparat zuständig. Aus dieser Arbeit für den brandenburgischen Untersuchungsausschuss entstand ein DFG-Projekt zur SED-Kirchenpolitik der Jahre 1945 bis 1958. Projektmitarbeiter war Martin Goerner, der mit seinem Forschungsbericht an der Universität Potsdam von Manfred Görtemaker promoviert wurde.

H. S.: Wie weit überschnitt sich deine Tätigkeit für den Untersuchungsausschuss des Brandenburger Landtags mit der als Sachverständiges Mitglied in der Enquete-Kom-

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L e b e n mit und gegen die deutsche Teilung

mission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur land", in die dich der Bundestag berufen hatte f

in Deutsch-

M. W.: Die Arbeit für den Untersuchungsausschuss in Brandenburg hatte gerade begonnen, als mich die ehemalige Ministerin für Innerdeutsche Beziehungen, Dorothee Wilms, als Obfrau der Unions-Fraktion in dieser Kommission fragte, ob ich bereit sei, als Sachverständiger für ihre Fraktion mitzuarbeiten. Nach meiner Zusage wurde ich vom Deutschen Bundestag berufen. Die erste Entscheidung, an der ich beteiligt war, betraf den Namen der Enquete-Kommission. Ich unterstützte den Antrag des FDP-Obmannes Dirk Hansen, der eine Namensergänzung in Form einer territorialen Zuordnung der SED-Diktatur „in Deutschland" forderte. Dem stimmte die Kommission zu. Mit Martin-Michael Passauer, dem Vorsitzenden Rainer Eppelmann, dem SPD-Obmann Markus Meckel und dem geistigen Vater der Kommission, Martin Gutzeit, saßen in ihr vier evangelische Pfarrer, die auch die SED-Kirchenpolitik als Themenfeld vorgesehen hatten. Insofern waren die Erkenntnisse aus den SED-Akten, die für den Landtag Brandenburg erhoben worden waren, eine wichtige Quelle für die Arbeit der Kommission, die Goerner und Kubina in einer in die Materialien aufgenommenen Expertise systematisierten. Diese Enquete-Kommission verstand sich als ein „gesamtdeutsches Pilotunternehmen", was im Themenfeld Kirche geradezu exemplarisch praktiziert wurde. Diese Arbeitsgruppe wirkte in großem Einverständnis zusammen, was nicht zuletzt an ihrem Sekretär Peter Maser lag, einem Mann mit „doppeltem Film", der in Bad Kösen aufwuchs, in der D D R studierte und 1977 in den Westen übersiedelte. Das interne Motto der Arbeitsgruppe lautete: Die Kirchen leben als Institution weiter und sind für die Gesellschaft Deutschlands unverzichtbar. Somit bedarf es eines differenzierten Bildes kirchlichen Lebens in der D D R , das nicht allein von den Spitzelberichten des MfS und der Unterwerfungspolitik der SED bestimmt sein darf. Die Bedeutung der Kirchen im geteilten Deutschland als Klammer zwischen West und Ost, um das Auseinanderdriften der Deutschen als Volk einzugrenzen, wurde im Bericht der Kommission ausdrücklich hervorgehoben. H. S.: Die Enquete-Kommission hat aber auch Vertreter der polnischen und slowakischen Opposition gehört f

tschecho-

M. W.: Es war den Bürgerrechtlern in der Kommission wie Gerd Poppe, Stephan Hilsberg, Markus Meckel und mir ein Bedürfnis und Gebot der historischen Wahrheit, die Vertreter des Prager Frühlings, der Charta 77 und der polnischen Solidarnosc einzuladen, um den Beitrag der ostmitteleuropäischen Opposition für die Überwindung der Spaltung Deutschlands zu würdigen.8 H. S.: Hat der Forschungsverbund nicht noch weitere Expertisen für diese Kommission geliefert? Etwa über die Westarbeit der SED und die Gründung der DKP, dargestellt aus den Akten des SED-Politbüros?

8

Siehe den Beitrag „Die deutsche Einheit und die Geschichtspolitik des Bundestages" in diesem Band.

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Anhang

Μ. W.: Das ist richtig. Jochen Staadt schrieb eine erste Analyse der SED-Westarbeit nach dem Mauerbau, und Hans-Peter Müller erarbeitete die von dir genannte Analyse, die eindrücklich klarstellte, dass die DKP für die SED ihr legaler Interventionsapparat in der Bundesrepublik war. In diesem gesamtdeutschen Zusammenhang muss noch eine andere Expertise erwähnt werden, die von Hans-Hermann Hertie über den Mauerfall, um deren Durchsetzung ich mich in der Kommission besonders intensiv bemühte, war doch der Mauerfall für mich der Anfang des Vereinigungsprozesses.9 H. S.: In der Kommission wirkten doch auch die Altmeister der SED- und DDRForschung, Karl Wilhelm Fricke und Hermann Weber, mit. Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit mit ihnen? M. W.: Beide genossen auf unterschiedliche Weise parteiübergreifende Autorität. Fricke war als Parteiloser von der Unionsfraktion nominiert worden. Sein Wort zählte nicht nur in MfS-Fragen - er war mehr, er war eine moralische Autorität, ein Unbestechlicher. Unvergessen der Moment, als wir beide im Zuchthaus Waldheim nebeneinander standen, in dem sein Vater Anfang der fünfziger Jahre in der Haft gestorben war. Weber, der Chronist der D D R , war dagegen die fachliche Autorität in allen Fragen, welche die SED und die DDR-Geschichte betrafen. Er blühte auf, wann immer er den „gelernten DDR-Bürgern" die Geschichte dieses Teilstaates erklären konnte, die ihnen die SED mit ihren Legenden verstellt hatte, die zu entschlüsseln sein Lebenswerk war. Er genoss den Lohn seiner Mühe. Die Gemeinsamkeiten in puncto SED waren groß, Streitpunkt war dagegen die innerdeutsche Politik der SPD nach den Ostverträgen. Webers Widerpart war Alexander Fischer, der ebenfalls von der CDU/CSU-Fraktion als Sachverständiger für die Kommission gewonnen wurde und an den ich erinnern möchte. Der Osteuropahistoriker besaß auch den „doppelten Film" im Kopf: Er begann beruflich als Russischlehrer in der D D R und floh im Zusammenhang mit der Verfolgung der Jungen Gemeinde Anfang der fünfziger Jahre in den Westen. Sein Verdienst in der Kommissionsarbeit bestand vor allem darin, dass er die SEDzentrierten Ausführungen des Sozialdemokraten Weber um die sowjetischen Bezüge der SED-Politik ergänzte. H. S.: Du hattest doch auch von Anfang an mit der Gründung Hohenschönhausen zu tun?

der

Gedenkstätte

M. W.: Das ist richtig, der Berliner Kultursenator beauftragte Stefan Wolle, Siegfried Suckut und mich, eine Konzeption für die künftige Gedenkstätte zu schreiben, was wir auch taten. Seit Gründung der Gedenkstätte bin ich Mitglied des Beirats. H. S.: Du hast auch der zweiten Enquete-Kommission „ Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit", die 1995 vom Deutschen Bundestag eingesetzt wurde, als sachverständiges Mitglied angehört. Was unterschied sie von der ersten ?

9

Siehe den Beitrag „Die bundesdeutschen Parteien und die demokratische Revolution in der DDR" in diesem Band.

Leben mit und gegen die deutsche Teilung

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M. W.: Das Untersuchungsprogramm der ersten Enquete-Kommission hatte inhaltlich zwei Schwerpunkte: der eine betraf die Täter-Opfer-Beziehung in der Diktatur und der zweite konzentrierte sich auf die innerdeutsche Politik der Bonner Republik. In dieser Hinsicht erwies sich die von Dirk Hansen durchgesetzte Ortsbestimmung „in Deutschland" als ausgesprochen hilfreich, um etwa das Thema „SED-Westarbeit" überhaupt in die Verhandlungen der Kommission einzubringen und damit die SED als gesamtdeutsche Akteurin wahrzunehmen. Die zweistaatlich geprägten Erfahrungen und Wahrnehmungshorizonte waren in der Arbeit der ersten Kommission massiv spürbar, als es um die innerdeutsche Politik zwischen beiden Staaten ging, als vor allem die Sachverständigen Hans-Adolf Jacobsen und Alexander Fischer, unterstützt von der faktischen Leiterin des Kommissionssekretariats Marlies Jansen, die Einbeziehung der weltpolitischen Konstellation in die Betrachtung der innerdeutschen Politik durchsetzten. Die zweite Enquete-Kommission sollte sich nun neben der Bilanz der rechtlichen Aufarbeitung der Diktatur und der Rehabilitierung ihrer Opfer mit zwei für den Vereinigungsprozess weiterhin wichtigen Themen befassen: zum einen mit der Geschichte der DDR-Wirtschaft einschließlich der wirtschaftspolitischen Entscheidungen der letzten SED-Regierung unter Ministerpräsident Modrow und zum anderen mit dem „geteilten Deutschland im geteilten Europa". Selbstkritisch räumte Markus Meckel Jahre später ein, dass wir uns in der Kommission viel zu wenig mit den internationalen Abhängigkeiten deutscher Politik während der Teilung befasst hätten. Schon in der ersten Kommission war das Urteil über den SED-Staat konfrontiert worden mit der Frage nach dem „eigenen Handlungsspielraum" der SED gegenüber der imperialen Vormacht Sowjetunion. Es gab außerdem die Position, den sowjetischen Einfluss nicht zu überhöhen, um damit die Verantwortung der deutschen Kommunisten für ihre Diktatur in der D D R nicht zu relativieren. Eine rein moralische Betrachtung der Außenpolitik beider Teilstaaten verbot sich, da ihre Staatsräson bestimmt wurde von der Systemgrenze des Ost-West-Konflikts, der nach dem Untergang des Deutschen Reiches und dem Verlust der nationalstaatlichen Souveränität der Deutschen 1945 die beiden Teilstaaten konstituierte. Erst als das sowjetische Imperium in seine finale Krise eintrat, eröffnete sich die Chance für die friedliche Revolution in der D D R , die Einigungspolitik der Bundesrepublik und damit für die Zurückgewinnung der Einheit und Souveränität eines im europäischen Einigungsprozess verankerten Deutschlands. Die Kommission öffnete somit den Blick für die internationalen Zusammenhänge des Endes der SED-Diktatur und der deutschen Vereinigung. Sie würdigte die Bedeutung der sowjetischen Reformpolitik von Generalsekretär Michail Gorbatschow, unterstrich den Anteil der Reformprozesse in Polen und Ungarn und hob die entscheidende Bedeutung der amerikanischen Hilfe für die Vereinigungspolitik von Bundeskanzler Helmut Kohl hervor. Die inhaltliche Arbeit dieser Kommission fand übrigens weit weniger Beachtung in der Öffentlichkeit als die ihrer Vorgängerin. Für mich war diese Arbeitsgruppe der Kommission von besonderer Bedeutung und die enge Zusammenarbeit mit HansAdolf Jacobsen, der immer auf der Beachtung der unterschiedlichen Wahrnehmung der beteiligten Akteure bestand, mit Karl Wilhelm Fricke und Marlies Jansen, deren Stil diesen Berichtsteil prägte, waren intellektuelles Vergnügen und Erweiterung des Horizonts in einem. Die Kommission leistete zwei wichtige Beiträge für die Behandlung der nationalsozialistischen und der kommunistischen Diktatur in der republikanischen Er-

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innerungskultur. Der Bundestag beauftragte sie, eine Gedenkstättenkonzeption zu erarbeiten, in der jene Gedenkstätten beider Diktaturen bestimmt wurden, die von gesamtstaatlicher Bedeutung sind und dauerhaft durch den Bund gefördert werden sollen. In diesem Zusammenhang formulierte die Kommission einen zentralen Grundsatz für den Umgang mit beiden Diktaturen: Die Verbrechen der einen dürfen die der anderen weder relativieren noch bagatellisieren. Um den Prozess der Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte zu verstetigen, organisierten Hartmut Koschyk (CSU) und Markus Meckel (SPD) eine breite parlamentarische Mehrheit für die Gründung einer „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur". Das Bundeskanzleramt unterstützte diese Initiative und im Zusammenhang mit dem Schlussbericht der Kommission wurde das Gesetz zur Gründung dieser Stiftung vom Parlament verabschiedet; ich wurde vom Bundestag in den Stiftungsrat gewählt. H. S.: Und zwar mit deiner inzwischen wohl bekannten Biografie. Kommen wir also noch einmal zur ersten Frage zurück: Was bewog dich 1998 noch in die CDU einzutreten? M. W.: Vor dem Eintritt stand der Austritt. Er erfolgte 1994 aus der SPD, der ich über drei Jahrzehnte angehörte. Nachdem die von Bisky geführte Mehrheit im Untersuchungsausschuss des Landtages Brandenburg den Juristen im Kirchendienst Stolpe vom Vorwurf freisprach, als IM „Sekretär" dem MfS zu Diensten gewesen zu sein, war für mich klar, dass es über kurz oder lang in Ostdeutschland zu rotroten Landesregierungen kommen würde. Damals war die PDS dezidiert eine Partei der inneren Spaltung. In ihrem Parteiprogramm von 1993 stand ganz klar, sie wolle die „Verwestlichung des Ostens" verhindern, und dementsprechend schürte sie in ihrer politischen Agitation die im Vereinigungsprozess unvermeidlichen Ost-WestKonflikte. Die demokratischen Parteien blieben diesem Spiel gegenüber in der Kommunikation defensiv und hilflos. Das lag an den Ambivalenzen des Vereinigungsprozesses, der einerseits die Zerstörung der Institutionen der SED-Herrschaft zur Voraussetzung hatte und anderseits die Integration der SED-Fortsetzungspartei in das gesamtdeutsche Parteienspektrum gebot. Längst war mir klar, dass es bei allen Irrtümern und Brüchen meiner eigenen Biografie eine Konstante gab, das war die Lösung der deutschen Frage in meiner Zeit, das heißt: die Einheit Deutschlands als souveräner Nationalstaat. Die Distanz zur SPD und der Ideologisierung ihrer Ostpolitik wuchs bei mir in den publizistischen und politischen Konflikten um die DKP-Gewerkschaftspolitik und in der Auseinandersetzung um den NATO-Doppelbeschluss bis hin zum SED-SPD-Papier, das ich als kurzsichtige geschichtslose Realpolitik öffentlich geißelte. Der PDS nach dem Ende des SED-Staates hinterherzulaufen, obwohl - wie Stephan Hilsberg und Markus Meckel richtig diagnostizierten - dies auf eine Schwächung der SPD im Osten hinauslief, dies wollte ich nicht mehr mittragen. Ich hatte nicht vergessen, welche Partei mich als Sachverständigen für die Enquete-Kommission nominiert hatte, und auch in der konkreten Kommissionsarbeit wuchs meine Nähe zu Unionspolitikern. Das Gelingen der friedlichen Revolution in der D D R war auch Ergebnis der Vereinigungspolitik der Regierung Kohl. 10 Herties Expertise über den 9. November 1989 10

Siehe den Beitrag „Der Mauerfall am 9. November 1989 und der Beginn der Vereinigungspolitik von Bundeskanzler Helmut Kohl" in diesem Band.

Leben mit und gegen die deutsche Teilung

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zeigte in aller Deutlichkeit die Dramatik eines unkoordinierten Interaktionsmusters zwischen der Bürgerbewegung in der D D R einerseits, der das Verdienst der friedlichen Revolution als kollektiver Akteur gebührt, und der Bundesregierung andererseits, die durch die Flüchtlinge aus der D D R Stück um Stück ihr deutschlandpolitisches Mandat in der internationalen Politik zurückgewann. Fünf Jahre nach dem Ende der D D R besuchte Bundeskanzler Kohl Bärbel Bohley und weitere Bürgerrechtler. Es ging noch einmal um die Vereinigung, aber vor allem um das Bewahren des Erbes der friedlichen Revolution angesichts des Wiedererstarkens der PDS in Ostdeutschland. Die Union als Partei der Einheit vergewisserte sich ihrer historischen Bündnispartner von 1989, ohne die sie niemals diese Rolle hätte spielen können. Im Vorfeld des Treffens wurde ich seitens des Kanzleramtes befragt, ob man Jürgen Fuchs dazu laden solle, was ich mit Nachdruck befürwortete. Das Neue Forum mit seiner Frontfrau Bärbel Bohley, nicht jedoch die Block-CDU, wagte den Aufbruch gegen die SED im Herbst 1989. Diese Rolle würdigte Helmut Kohl mit seinem Besuch und bot diesem antitotalitären Teil der Bürgerrechtler eine politische Heimat in der Union. 1998, als die Demoskopen bereits frühzeitig die Wahlniederlage der Union prognostizierten, war es der sächsische Bundestagsabgeordnete Arnold Vaatz, der noch einmal unter den Bürgerrechtlern dafür warb, mit ihrem Eintritt in die C D U ein Zeichen zu setzen gegen mögliche rot-rote Landesregierungen. Im Rahmen dieser Werbeaktion sprach er auch mich an, da meine Biografie ja untrennbar mit der Geschichte der DDR-Opposition verbunden sei. Zu denen, die auf dem Bremer Parteitag 1998 in die C D U eintraten, gehörte auch Thomas Auerbach. Dieser ehemalige Jugendvikar aus Jena, der 1976 nach der Biermann-Ausbürgerung verhaftet und vom „Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus" betreut wurde, verlas die Begründung für unseren Eintritt. Sie hat für mich bis heute Bestand.

Alexandra Herrmann'''

Ein standfestes Provisorium. Der Forschungsverbund SEDStaat an der Freien Universität Berlin

Die Nachfrage bestimmt das Angebot. Dieses Prinzip galt von Anbeginn, das heißt seit 1992, für die schnell voranschreitende Entwicklung des Forschungsverbundes SED-Staat. Welcher Art war jedoch dieses wissenschaftliche Angebot und wer fragte es nach? Mit der tragenden Unterstützung des damaligen Präsidenten der Freien Universität Berlin (FU) Johann W. Gerlach und des Berliner Wissenschaftssenators Manfred Ehrhardt wurden die Projekte verschiedener Wissenschaftler an der F U unter dem Namen „Forschungsverbund SED-Staat" zusammengefasst. Die Freie Universität Berlin sah sich der Aufarbeitung der SED-Herrschaft in besonderer Weise verpflichtet, war sie doch 1948 aus Protest gegen die kommunistische Ausrichtung der Berliner Humboldt-Universität durch die SED gegründet worden. Präsident Gerlach betonte, die wissenschaftliche Arbeit des Forschungsverbundes sollte sich von der seit Mitte der sechziger Jahre betriebenen DDR-Forschung unterscheiden. Diese hatte sich auf die immanente Darstellung sozialer Strukturen und Prozesse einer aus bundesrepublikanischer Sicht „alternativen" Industriegesellschaft beschränkt, hatte dabei die Betrachtung der politischen Ordnung vernachlässigt und auf einen wertenden Vergleich verzichtet. Ideologie und Terror als Basis des SEDRegimes standen bei dem Bemühen, den anderen deutschen Staat „objektiv-neutral" zu sehen, ebenso wenig im Mittelpunkt wie die auf latente Gewalt gegründete Parteiherrschaft, willkürliche Verhaftungen, die Verfolgung der Opposition, der Ausbau von Spitzelsystem und Sicherheitsapparat, die Schließung der Grenzen und Reiseverbote oder die Aggression gegen die CSSR. 1 Nun nach der Wiedervereinigung wollte die Freie Universität die - erst jetzt mögliche - „auf den Grund gehende Erforschung des DDR-Systems" 2 mittragen. Zur Zielsetzung konstatierte Manfred Wilke im März 1992: „Die Projekte des Verbundes sollen dazu beitragen, eine Wiederholung des Fehlers zu vermeiden, der nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes mit der allzu zögerlichen, wenig umfassenden und unzureichenden wissenschaftlichen und politischen Behandlung des Dritten Reiches gemacht wurde. Die Geschichte kann zwar nicht,bewältigt'

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Alexandra Herrmann, Dipl. Pol., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Forschungsverbundes SED-Staat. Vgl. Vier Jahrzehnte SED-Staat. FU richtet neuen Forschungsverbund ein, in: FU-INFO, Nr. 3-4/1992, S. 5. Karl Wilhelm Fricke/Hans Günter Hockerts/Wolfgang Schuller/Uwe Thaysen: Bericht der Kommission zur Evaluierung des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin, Köln et al. 1997, S. 5.

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werden, doch ihre Verdrängung ist ebenfalls keine Lösung, wie die Erfahrung nach 1945 in beiden deutschen Teilstaaten zeigt."3 Gleichzeitig wandte sich Wilke gegen den damals vorherrschenden Trend, den SEDStaat als „kommode Diktatur" 4 zu qualifizieren. Auch die Evaluierungskommission, die 1997 die Arbeit des Verbundes beurteilte, bestätigte: Die vormals an der FU betriebene DDR-Forschung habe „bestimmte Forschungsfelder, die den harten, repressiven Kern der SED-Diktatur betreffen", nicht oder nur nachrangig thematisiert.5 Skeptisch merkte allerdings der Soziologe Theo Pirker in der Gründungsphase an, man könne eine derartige Einrichtung nicht auf dem „Flugsand hochschulpolitischer Mehrheiten" 6 gründen. Die Abhängigkeit des Verbundes von der jeweiligen Führungsmannschaft im Präsidialamt der FU war ihm suspekt. Bis heute ist der Forschungsverbund SED-Staat keinem Fachbereich angegliedert, was Vor- und Nachteile hat. Die Leiter waren in der Frühphase seines Bestehens neben den Politikwissenschaftlern Klaus Schroeder und Manfred Görtemaker der an der Berliner Fachhochschule für Wirtschaft tätige Soziologe Manfred Wilke. Schroeder leitete 1992/93 die Forschung über den „Wandel der Arbeitsbeziehungen in Ostdeutschland", Görtemaker führte bis Ende 1994 das Projekt „SED und Stasi - Zum Verhältnis von Partei und Staatssicherheit in der DDR" und schied nach seinem Ruf an die Universität Potsdam aus dem Verbund aus. Wilke brachte das Projekt „Die Gründung der SED - dargestellt aus den Akten der KPD" ein, das die Moskauer Planungen der KPD-Emigranten vor Kriegsende offen legte. Diese anfangs eher mosaikartig zusammengetragenen Projekte entsprachen den nachfolgend aufgeführten sieben Themenbereichen, die alle von der führenden Rolle der SED in Staat und Gesellschaft der DDR ausgingen. Sie manifestierten nach der Evaluierung des Verbundes 1997 den grundlegenden Maßstab für die wissenschaftliche Bearbeitung des Forschungsgebietes und setzten einen programmatischen Gegenakzent zur zweistaatlichen westlichen DDR-Forschung: 1. Errichtung und Aufrechterhaltung der Diktatur in der DDR durch die SED-Führung und ihren zentralen Parteiapparat 2. Deutschlandpolitik der SED 3. SED-Kirchenpolitik gegenüber der evangelischen Kirche 4. Die SED in den Systemkrisen des sowjetischen Imperiums 5. Wissenschafts- und Kulturpolitik der SED 6. Widerständiges Verhalten und Opposition im SED-Staat 7. Vereinigungs- und Transformationsforschung

3 4 5 6

Manfred Wilke: Interventionspolitik. Die SED und der Prager Frühling 1968 und die polnische Demokratiebewegung 1980/81, Referat, S. 1. Ebd. Karl Wilhelm Fricke et al.: Bericht der Kommission zur Evaluierung des Forschungsverbundes SED-Staat, a. a. O., S. 5. Zitat überliefert von Manfred Wilke im Gespräch mit der Autorin am 16. Januar 2006.

Ein standfestes Provisiorium

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Dimensionen des Forschungsverbundes und ausgewählte Forschungsarbeiten 1991 bis 2006 Als einzige universitäre Einrichtung in Berlin-Brandenburg, die sich ausschließlich auf die DDR-Forschung konzentrierte, entwickelte sich der Forschungsverbund rasch: 25 bis 30 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeiten gegenwärtig in verschiedenen Projekten, die vorrangig drittmittelfinanziert sind. Die Universität bezahlt Sachmittel, studentische Hilfskräfte und stellt Arbeitsräume zur Verfügung. Über die Qualität der Projektförderung urteilten die Evaluierungsgutachter: „Insgesamt überwiegen eindeutig die Zuwendungen, deren Drittmittelvergabe allgemein als Indikator für die Anerkennung hoher Forschungsqualifikation gilt." So wurden die Projekte in den ersten fünf Jahren des Bestehens unter anderem aus Geldern der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Fritz Thyssen Stiftung, der VolkswagenStiftung und des Bundesinnenministeriums verwirklicht. Der Forschungsverbund hatte bis 1997 elf Drittmittelgeber in 27 Projekten. Bis zum Jahr 2003 wurden 35 Forschungs- und Publikationsprojekte mit einem finanziellen Gesamtvolumen von 3,84 Millionen Euro gefördert.7 Von 1993 bis 2002 erschienen 14 Bände der von Schroeder und Wilke herausgegebenen Schriftenreihe „Studien des Forschungsverbundes". Manfred Wilke konnte als Herausgeber seit 2001 in der Reihe „Diktatur und Widerstand" elf Werke veröffentlichen. Bis heute konnte der Verbund darüber hinaus 36 Arbeitspapiere vorstellen,8 außerdem sind seit 1996 18 Ausgaben der vierteljährlichen Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat (ZdF) erschienen. Daneben wurden zahlreiche Artikel, Glossen, Kommentare, Leserbriefe, Repliken und Rezensionen in die öffentliche Diskussion eingebracht. Schon 1991 hatten Lutz Prieß und Manfred Wilke ihre Forschungsarbeit „Die SED und der ,Prager Frühling' 1968" aufgenommen, die 1996 in der Schriftenreihe des Verbundes publiziert wurde. Das Buch kann als erste internationale (deutschtschechische) Kooperation des Verbundes mit weiterwirkenden Arbeitsbeziehungen bezeichnet werden. Von 1992 bis 1994 war Wilke als Gutachter im Auftrag des Landtages Brandenburg tätig, um die einstigen SED-Kontakte des brandenburgischen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe zu beleuchten, und untersuchte in diesem Rahmen die SED-Archivalien zur Kirchenpolitik. Ein wichtiges Ergebnis dieser Forschungsarbeit war, dass nicht das MfS, sondern die „Arbeitsgruppe Kirchenfragen" im ZKApparat die wichtigste Schaltstelle für die SED-Kirchenpolitik in der D D R war. Martin Goerners Promotion „Die Kirche als Problem der SED. Strukturen kommunistischer Herrschaftsausübung gegenüber der evangelischen Kirche 1945 bis 1958" bestätigte Wilkes Ergebnisse. 2004 folgte die Arbeit von Christian Sachse „Mündig werden zum Gebrauch der Freiheit", eine Dokumentation der politischen Zuschriften an die Ökumenische Versammlung 1987 bis 1989 in der DDR. Die beiden Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" und „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit" brachten Wilke als sachverständi-

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Klaus Schroeder: Forschungsverbund SED-Staat, interner Entwurf, Berlin 2003, S. 1. Eine Ubersicht der Schriftenreihen und Arbeitspapiere ist auf der Homepage des Forschungsverbundes SED-Staat abrufbar: http://www.fu-berlin.de/fsed.

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gem Mitglied der Kommission und dadurch auch dem Forschungsverbund weiteres Renommee. Als Zwischenbericht gilt der 1994 von Klaus Schroeder herausgegebene Sammelband „Geschichte und Transformation des SED-Staates. Beiträge und Analysen" 9 . Er enthält Analysen und Fallstudien von 19 Historikern, Politologen und Soziologen zur Geschichte der KPD/SED und der DDR. Zwei Artikel „mehr oder minder polemischen Charakters" 10 darin von Klaus Schroeder und Jochen Staadt kritisieren „in scharfen Worten" 11 die Verharmlosung und teils auch Verklärung des SEDStaates durch westliche DDR-Forscher. 12 Im gleichen Jahr erschien die Publikation „Nach Hitler kommen wir" von Peter Erler, Horst Laude und Manfred Wilke. Darin wurden die wichtigsten, bis dahin zumeist unveröffentlichten Dokumente über die strategischen Planungen der Moskauer KPD-Führung 1944/45 vorgestellt. Dezidiert wurden das Wirken der Moskau-Kader in der SBZ und ihr fremd- und selbstbestimmtes Handeln beleuchtet.13 1995 veröffentlichten Michael Kubina und Manfred Wilke ihre Arbeit „,Hart und kompromißlos durchgreifen!' Die SED kontra Polen 1980/81. Geheimakten der SED-Führung über die Unterdrückung der polnischen Demokratiebewegung". Es zeigt, mit welchem Nachdruck die DDR von der sowjetischen Führung den militärischen Einmarsch in Polen forderte.14 Moskau scheute jedoch angesichts der internationalen Lage und des Risikos eines polnischen Bürgerkriegs vor diesem Schritt zurück. Der Sejm-Ausschuss zur Untersuchung des Kriegsrechts in Polen lud Wilke 1995 als Zeugen vor, um ihn in Anwesenheit von General Wojciech Jaruzelski zum Inhalt der SED-Akten zu befragen. Einen beachtlichen Schub erhielt der Forschungsverbund 1994 durch das von Schroeder und Wilke beantragte und von der VolkswagenStiftung geförderte Projekt „Die Parteiführung der SED und ihr zentraler Apparat. Zur Struktur, Funktion und Entwicklung der politischen Machtzentrale in der SBZ/DDR in den Jahren von 1945 bis 1955 und vergleichsweise 1961"15. Es beanspruchte über fünf Jahre und kann als grundlegend für die wissenschaftliche Leistungsfähigkeit des Verbundes und seine inhaltliche Aussagekraft angesehen werden. Erste Ergebnisse daraus wurden in dem von Wilke herausgegebenen Band „Anatomie der Parteizentrale" vorgestellt. Deutlich wurde darin die Rolle der KPD/SED als Okkupationspartei unter der Regie der sowjetischen Besatzungsmacht herausgearbeitet. Die Umsetzung ihrer Politik konnte der Sowjetunion in der SBZ nur durch die Etablierung der SED als bestimmendes Macht-

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Klaus Schroeder (Hg.): Geschichte und Transformation des SED-Staates. Beiträge und Analysen, Berlin 1994. Karl Wilhelm Fricke et al.: Bericht der Kommission zur Evaluierung des Forschungsverbundes SED-Staat, a. a. O., S. 13. Ebd. Es handelte sich um die Beiträge „Der diskrete Charme des Status quo: DDR-Forschung in der Ära der Entspannungspolitik" und „Die Kunst des Aussitzens". Im Evaluierungsgutachten heißt es zu diesen beiden Aufsätzen: „Diese Beiträge enthalten neben diskussionswürdigen Beobachtungen nicht nur Elemente stilistisch überzogener Polemik, sondern auch Behauptungen, die empirischen Nachprüfungen nicht standhielten. Darin bleiben die Autoren unter ihrem ansonsten in diesem Evaluationsbericht referierten Niveau." Ebd., S. 19. A . a . 0 . , S . 13. A . a . 0 . , S . 18. Gabriele Camphausen: Forschen und Gedenken. Bestandsaufnahme von zeithistorischen Forschungseinrichtungen in Berlin und Brandenburg, Berlin 2002, S. 148.

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Zentrum gelingen.16 Im Rahmen dieses Projekts entstanden zwei Dissertationen: Michael Kubinas „Von Utopie, Widerstand und Kaltem Krieg. Das unzeitgemäße Leben des Berliner Rätekommunisten Alfred Weiland 1906-1978", Band 1 der Reihe „Diktatur und Widerstand" im Jahr 2001, und Friederike Sattlers „Wirtschaftsordnung im Übergang. Politik, Organisation und Funktion der K P D / S E D im Land Brandenburg bei der Etablierung der zentralen Planwirtschaft in der S B Z / D D R 1945-1952", das 2002 erschien. Bemerkenswert ist auch das viel diskutierte Werk über die verfemte Kunst in der D D R , das von 1996 bis 1998 entstand: „Eingegrenzt - Ausgegrenzt. Bildende Kunst und Parteiherrschaft in der D D R 1961-1989". Es wurde von Hannelore Offner und Klaus Schroeder herausgegeben und erregte bei einstigen „Staatsmalern" der D D R einigen Unmut. 1999 legte Schroeder unter dem Titel „Der SED-Staat" eine Gesamtdarstellung der SED-Diktatur vor, die von der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit gefördert wurde und auch auf Forschungsergebnissen des Verbundes basierte. 2001 erschien als Ergebnis einer deutsch-ungarischen Zusammenarbeit „Satelliten nach Stalins Tod" unter Beteiligung von Manfred Wilke, Andräs B. Hegedüs, Jänos Rainer, Tobias Voigt und Bernd-Rainer Barth. Das Projekt verglich den Arbeiterausstand in der D D R 1953 mit der ungarischen Revolution 1956. Der ungarische Staatspräsident Ärpäd Göncz zeichnete Wilke für diese bilaterale Aufarbeitung gemeinsamer Geschichte mit der Goldmedaille des Staatspräsidenten der ungarischen Republik aus. Göncz und Hegedüs gehörten zu den jungen Aktivisten von 1956, die ihren Freiheitswillen mit Gefängnisstrafen bezahlten. Das Projekt von Udo Baron zur Einflussnahme der SED und ihrer westdeutschen Verbündeten auf die Partei „Die Grünen" war Teil einer Reihe von Arbeiten zum Thema „NATO-Doppelbeschluss als Zäsur des Kalten Krieges". Barons Promotion erschien 2002 unter dem Titel „Kalter Krieg und heißer Frieden". 2003 gaben Wilke und Jürgen Maruhn den Sammelband „Raketenpoker um Europa" heraus, der verschiedene Aspekte der Auseinandersetzung um den NATO-Doppelbeschluss beleuchtet. Hans-Peter Müller und Michael Ploetz, die an dem Sammelband mitwirkten, publizierten 2004 die Dokumentation „Ferngelenkte Friedensbewegung", in der die internen sowjetischen Linien und die aktive Einflussnahme auf die westliche Friedensbewegung als Partner im „Raketenpoker" vorgestellt wurden. Zum 50. Jahrestag des 17. Juni 1953 porträtierte Wilke den F D G B als „Die Streikbrecherzentrale" und dokumentierte die spezifische Rolle der SED-Massenorganisation bei der Niederschlagung der Arbeiterstreiks in den Betrieben. Doch auch dem Forschungsverbund SED-Staat ist ein interner Differenzierungsprozess nicht erspart geblieben, wie er sich in vielen Institutionen nach einer gewissen Zeit durch das Auseinandergehen von Meinungen vollzieht. Im Jahr 2000 wurde daher der Verbund in zwei Abteilungen gegliedert: die von Wilke in Lankwitz geleitete zeithistorische Abteilung und die Transformationsforschung, die von Schroeder in Dahlem geführt wird.

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Klaus Schroeder/Manfred Wilke: Der Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin, in: Arbeitsgemeinschaft außeruniversitärer historischer Forschungseinrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland e. V. (Hg.): Jahrbuch der historischen Forschung in der Bundesrepublik Deutschland, München 2000, S. 51.

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Wilke warb gemeinsam mit Jochen Staadt 2001 das öffentlich sehr beachtete ARD-Projekt ein.17 Der Abschlussbericht wurde 2004 von den ARD-Intendanten abgenommen, die Publikation ist in Arbeit. Im August 2005 zogen Staadt und Schroeder in die Koserstraße um, wo sie das 1995 unterbrochene Projekt „Einfluss von SED, F D J und MfS auf die Berliner Universitäten" unter neuer Fragestellung wieder aufnahmen. Ergebnis der Frühphase dieses Projektes war Staadts Arbeit „Die geheime Westpolitik der S E D 1960-1970". Umstritten blieb die institutionelle Position des Verbundes, der bis in die Gegenwart keinem Fachbereich der F U Berlin angehört, sondern direkt dem Präsidium zugeordnet ist und vom Kanzler der F U administrativ betreut wird. Diese Stellung gilt der Leitung des Verbundes einerseits als herausgehoben, andererseits als angreifbar. Die Kritik der vier Gutachter Karl Wilhelm Fricke, Uwe Thaysen, Wolfgang Schuller und Hans Günter Hockerts scheint in diesem Punkt berechtigt. Ihr Vorschlag, den Verbund „nicht nur wegen seiner Produktivität, sondern auch seiner Verantwortlichkeit in sich" 18 zu institutionalisieren, wurde nicht umgesetzt. Das Universitätspräsidium verlängerte das Provisorium um weitere fünf Jahre. 2003 wurde erneut über die Zukunft des Forschungsverbundes beraten - diesmal ohne externe Gutachter. Das Fortbestehen bis 2008 wurde zugesichert, die Zuschüsse der F U werden allerdings jährlich herabgesetzt, was die Beschäftigung von Wissenschaftlern erschwert. Doch Angebot und Nachfrage sind noch immer groß. So betreut Manfred Wilke 2006 drei Drittmittelproj ekte: 1. Das Wiedervereinigungsministerium in Seoul gab eine Studie über den Entwicklungsprozess von der deutsch-deutschen Teilung zur Vereinigung in Auftrag, woraus eine Arbeit zum Thema „Die deutsche Frage" entsteht. 2. Unter der Projektleitung von Michael Kubina wurde ein Lexikon über den F D G B mit Stichworten und Aufsätzen erarbeitet, das vom Bundesarchiv finanziert und vom Forschungsverbund SED-Staat fertig gestellt wird. Die erste Fassung des Lexikons wird 2006 auf der Homepage der Friedrich-Ebert-Stiftung verfügbar sein und vom Verbund als Arbeitsheft in Form einer C D - R O M publiziert. 3. Heike Arnos ist Projektleiterin für das erst wenige Monate alte Forschungsvorhaben „Die SED-Vertriebenenpolitik in der D D R 1949-1990". Während sich Schroeder neben seinen Forschungsarbeiten der politischen Bildungsarbeit zugewandt hat und als Hochschullehrer am Otto-Suhr-Institut der F U tätig ist, leistet Wilke intensive Stiftungs- und Gedenkstättenarbeit bzw. -beratung, insbesondere im Stiftungsrat der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und in den Beiräten der Gedenkstätte Hohenschönhausen und der BStU. Er berät fachbezogene Drehbücher, zum Beispiel das Filmprojekt „Das Leben der Anderen" (2006), leitet Tagungsinitiativen wie die Moskauer Tagung deutsch-russischer Historiker 2005 und nimmt jährlich am Kongress der German Studies Association in den USA teil.

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Das Projekt untersuchte die Tätigkeit des MfS in den Rundfunk- und Fernsehanstalten der Bundesrepublik und der D D R . Karl Wilhelm Fricke et al.: Bericht der Kommission zur Evaluierung des Forschungsverbundes SED-Staat, a. a. O., S. 7.

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Die Auseinandersetzung um den SED-Forschungsverbund 1997/98 Im Jahr 1995 entbrannte um das Arbeitspapier des Forschungsverbundes „Im Westen nichts Neues?" 19 ein universitätsinterner Streit vor allem mit dem Otto-Suhr-Institut. Dieses Papier zum Einfluss von SED, FDJ und MfS auf die Freie Universität Berlin ließ bereits weitere Differenzen erahnen. 1997 eskalierte schließlich die Kontroverse zwischen westdeutschen Wissenschaftlern der „systemimmanenten Analyse", die bis zum Mauerfall eine von der Zweistaatlichkeit ausgehende DDR-Forschung vertraten, und den Wissenschaftlern des Forschungsverbundes SED-Staat, die eine Betrachtung der Realitäten forderten und einen gesamtdeutschen Blick auf die D D R ins Zentrum ihrer Arbeit stellten und stellen. Der Streit entzündete sich an der Darstellung des kommunistischen Widerstandes gegen das NS-Regime in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin. Die Auseinandersetzung zwischen dem Verbund und dem damaligen FU-Professor Peter Steinbach, auch Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, legte grundsätzliche politische Haltungen offen: Der Forschungsverbund forderte, die kommunistischen Widerständler gegen den Nationalsozialismus - etwa Walter Ulbricht, Wilhelm Pieck, Wilhelm Florin und Herbert Wehner - in ihrer Gesamtpersönlichkeit differenzierter darzustellen und auch ihre Verstrickung in die Verfolgung der eigenen Genossen und in die sowjetische Politik zu thematisieren. Außerdem sollten in der Gedenkstätte Widerständler wie Robert Havemann stärker gewürdigt werden, die gegen beide deutschen Diktaturen aufstanden. Dem Forschungsverbund wurde daraufhin vorgeworfen, er wolle eine Verharmlosung der NS-Verbrechen durch die „Dämonisierung" der D D R erreichen, und ihm wurde eine Gleichsetzung des Nationalsozialismus mit dem Kommunismus unterstellt. Eine hitzige Debatte entbrannte, die Wilke und Staadt in einem Arbeitspapier des Verbundes dokumentierten.20 Wilke blieb dabei: „Der Fortschreibung des von der SED verordneten Antifaschismus' muss durch dessen Delegitimierung begegnet werden. Dieses Ziel ist aber nur durch eine differenzierte Darstellung des kommunistischen Widerstandes gegen die NS-Diktatur zu erreichen."21 Er hatte das Gedenkstättenkonzept der Enquete-Kommission mit formuliert, das der Deutsche Bundestag angenommen hat und das sich für ein wechselseitiges Relativierungsverbot der Verbrechen beider Diktaturen aussprach. Dass der Verbund die NSDiktatur relativiere, bezeichnete Schroeder zu Recht als „falsch und infam" 22 . Der Forschungsverbund geriet zunehmend in Kontroverse zu den traditionellen westdeutschen DDR-Forschern, die, so der Leiter des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) Christoph Kleßmann, Schwierigkeiten hatten, „den frü19

Klaus Schroeder/Jochen Staadt: Im Westen nichts Neues? Dokumentation zur Diskussion um den Einfluß von SED, FDJ und MfS auf die Freie Universität Berlin, Arbeitspapiere des Forschungsverbundes SED-Staat, Nr. 18/1995. 20 Jochen Staadt/Manfred Wilke: Nichts Neues im Westen? Kommentierte Dokumentation einer Auseinandersetzung um Geschichtspolitik und Geschichtsbilder vor und nach 1989 am Beispiel der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Arbeitspapiere des Forschungsverbundes SED-Staat, Nr. 28/1998. 21 Manfred Wilke: Als die Verfolger zu Verfolgten wurden, in: Welt am Sonntag vom 15. Juni 1997, in: a. a. O., S. 37. 22 Klaus Schroeder: Die SED und „die nützlichen Idioten", in: taz, die tageszeitung vom 15. August 1997, in: a. a. O., S. 86.

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her ungewohnten Diktaturbegriff zu akzeptieren" 23 . Er kritisierte aber die Arbeit des Verbundes unter anderem als „journalistische Enthüllungstheorie". Den Vorwurf zu starker Personalisierung wies der Historiker und Journalist Götz Aly zurück und wertete diese im Gegenteil als wichtigen Bestandteil guter Zeitgeschichte, „zumal wenn sie sich mit Diktaturen beschäftigt, die niemals von anonymen Verhältnissen und Strukturen erzeugt, sondern von Menschen gemacht und beeinflußt werden" 24 . Der Ton verschärfte sich auf beiden Seiten schnell und stetig, die Debatte wurde zum Streit zwischen angeblichen neoliberalen und linksliberalen Forschern stilisiert. Aly mahnte zu Recht, dass die „durch und durch politisierte Zunft deutscher Zeitgeschichtler, die in Gedenkstätten, partei- und staatsnahen Beiräten ununterbrochen staatliche Geschichtspolitik mitgestalten" 25 , auch politische Kritik hinnehmen müssten. Selbstkritisch muss sich jedoch auch der Forschungsverbund fragen, ob der eigene Diskussionsstil in diesen Auseinandersetzungen angemessen war und ob man mit derart scharf gewürzten Repliken, wie sie Staadt des Öfteren formulierte, beim Kontrahenten und in der Öffentlichkeit die gewünschte Offenheit für die eigene Position gefunden hat. Andererseits bleibt festzuhalten, dass die Kritiker des Verbundes schon bei seiner Gründung Vorbehalte hatten, insofern bestanden hier bereits Ressentiments, bevor überhaupt eine Forschungsarbeit vorgelegt wurde. Die DDR-Forschung an der FU war während der Jahrzehnte der deutschen Teilung sicher institutionalisiert und privilegiert ausgestattet. Warum sollte diese Verankerung nicht auch dem Forschungsverbund zuteil werden? Sowohl das Evaluierungsgutachten 1997 als auch das Gutachten Gabriele Camphausens für den Berliner Wissenschaftssenator Christoph Stoelzl aus dem Jahre 2003 empfahlen eine Institutionalisierung. Diese Empfehlungen wurden jedoch nicht umgesetzt, und die Nachfolger von Präsident Gerlach, Peter Gaethgens und Dieter Lenzen, hielten mit Unterstützung des FU-Kanzlers Peter Lange an der Fortführung des Verbundes als Provisorium fest. Es bleibt also abzuwarten, wie lange die Nachfrage nach Erkenntnissen über die Rolle der DDR in der deutschen Teilungsgeschichte und die Folgen der Diktatur noch anhält. Schließlich besteht noch immer erheblicher Forschungsbedarf, und ein offeneres Klima für einen gesamtdeutschen Forschungsansatz nach den verständlichen Aufgeregtheiten und Betroffenheiten der neunziger Jahre wird gerade erst spürbar.

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Christoph Kleßmann/Martin Sabrow: Zeitgeschichte in Deutschland nach 1989, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. Β 39/96, S. 11. Götz Aly: Kampfgelehrte an der Geschichtsfront, in: Berliner Zeitung vom 9./10. August 1997, in: Jochen Staadt/Manfred Wilke: Nichts Neues im Westen?, a. a. O., S. 77. Ebd.

Auswahlbibliografie von Manfred Wilke

1. Monografien Die Streikbrecherzentrale. Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund F D G B und der 17. Juni 1953, Münster 2004,306 S. Einheitsgewerkschaft zwischen Demokratie und antifaschistischem Bündnis. Die Diskussion über die Einheitsgewerkschaft im D G B seit 1971, Melle 1985,302 S. Die Funktionäre - Apparat und Demokratie im Deutschen Gewerkschaftsbund, München 1979, 256 S.

2. Buchpublikationen mit Koautoren „Hart und kompromißlos durchgreifen". Die SED kontra Polen 1980/81. Geheimakten der SED-Führung über die Unterdrückung der polnischen Demokratiebewegung (hrsg. zusammen mit Michael Kubina), Berlin 1995, 419 S. „Nach Hitler kommen wir". Dokumente zur Programmatik der Moskauer KPD-Führung 1944/45 für Nachkriegsdeutschland (hrsg. zusammen mit Peter Erler und Horst Laude), Berlin 1994, 426 S. Das Genossen-Kartell. Die SED und die IG Druck und Papier/IG Medien (zusammen mit Hans-Hermann Hertie), Frankfurt am Main/Berlin 1992, 459 S. Zwischen Solidarität und Eigennutz. Die Gewerkschaften des D G B im deutschen Vereinigungsprozeß (zusammen mit Hans-Peter Müller), Forschungsbericht 68 der KonradAdenauer-Stiftung, Melle 1992, 302 S. Der Staatsbesuch. Honecker in Bonn: Dokumente zur deutsch-deutschen Konstellation des Jahres 1987 (zusammen mit Hans-Hermann Hertie und Rainer Weinert), FU Berlin, Informationen aus Lehre und Forschung Nr. 2, Berlin 1991, 212 S. Die Deutsche Kommunistische Partei (DKP). Geschichte - Organisation - Politik (zusammen mit Hans-Peter Müller und Marion Brabant), Köln 1990, 302 S. F D G B : Vom alten Herrschaftsapparat zu neuer Gewerkschaftsmacht? (zusammen mit Hans-Peter Müller), Interne Studien der Konrad-Adenauer-Stiftung Nr. 17, Sankt Augustin 1990, 73 S. SED-Politik gegen die Realitäten. Verlauf und Funktion der Diskussion über die westdeutschen Gewerkschaften in SED und KPD/DKP 1961 bis 1972 (zusammen mit HansPeter Müller), Köln 1990, 495 S. Totalitäre Träumer. Die SDAJ - Der unbekannte Jugendverband (zusammen mit Marion Brabant), München 1988,125 S. Der Marsch der DKP durch die Institutionen. Sowjetmarxistische Einflußstrategien und Ideologien (zusammen mit Ossip K. Flechtheim, Wolfgang Rudzio und Fritz Vilmar), Frankfurt am Main 1980, 272 S.

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3. Forschungsberichte und Arbeitspapiere Die vergessenen Opfer der Mauer. Flucht und Inhaftierung in Deutschland 1961-1989 (hrsg. zusammen mit Hubertus Knabe), Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Berlin 2001, 63 S. Robert Havemann und die Widerstandsgruppe Europäische Union (zusammen mit Werner Theuer), Arbeitspapiere des Forschungsverbundes SED-Staat der Freien Universität Berlin, Nr. 29/1999, 23 S. Die Anleitung der Lagerarbeitsgemeinschaften durch die SED (unter Mitarbeit von Gerhard Ehlert und Tobias Voigt), in: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der Enquete-Kommission „Uberwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit", 15 Bde., Bd. VI, Baden-Baden 1998, S. 623-764. Abschlußbericht der Fachkommission zur Erarbeitung einer Konzeption für die Errichtung einer Gedenkstätte auf dem Gelände der ehemaligen Haftanstalt Hohenschönhausen vom 18. Januar 1995 (zusammen mit Siegfried Suckut und Stefan Wolle), Manuskript, Berlin 1995, S. 1-27. Kanzlei des Sejm, Informationsbüro: Nr. 1445/11 kad.; Bulletin aus der Sitzung der Kommission für verfassungsrechtliche Verantwortung, Nr. 28 vom 7. April 1995 (Polnisch), Anhörung des Zeugen Professor Manfred Wilke, Warschau 1995, S. 1-40. Die Gründung des Bundes der evangelischen Kirchen in der DDR. Materialien aus dem Zentralen Parteiarchiv der SED und dem Archiv der Ost-CDU (zusammen mit Peter Maser, unter Mitarbeit von Martin G. Goerner und Michael Kubina), Arbeitspapiere des Forschungsverbundes SED-Staat der Freien Universität Berlin, Nr. 7/1994, 165 S. Die SED-Führung und die Unterdrückung der polnischen Oppositionsbewegung 1980/81 (zusammen mit Reinhardt Gutsche und Michael Kubina), Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien Nr. 36, Köln 1994, 34 S. Dokumente zur Steuerung und Kontrolle der Akademie der Künste der DDR durch die SED (zusammen mit Jochen Staadt), Arbeitspapiere des Forschungsverbundes SEDStaat der Freien Universität Berlin, Nr. 4/1993, 12 S. Die SED-Führung und die Unterdrückung der polnischen Oppositionsbewegung 1980/81 (zusammen mit Reinhardt Gutsche und Michael Kubina), Arbeitspapiere des Forschungsverbundes SED-Staat der Freien Universität Berlin, Nr. 6/1993, 38 S. SED-Politbüro und polnische Krise 1980-82 (zusammen mit Peter Erler, Martin G. Goerner, Michael Kubina, Horst Laude und Hans-Peter Müller), Arbeitspapiere des Forschungsverbundes SED-Staat der Freien Universität Berlin, Nr. 3/1993 (2 Halbbände), 775 S. SED-Kirchenpolitik 1953-1958. Die Beschlüsse des Politbüros und des Sekretariats des ZK der SED zu Kirchenfragen 1953-1958 (zusammen mit Martin Goerner und Horst Laude), Arbeitspapiere des Forschungsverbundes SED-Staat der Freien Universität Berlin, Nr. 1/1992, 391 S.

4. Herausgabe von Sammelbänden, Lexika und Jahrbüchern FDGB-Lexikon. Funktion, Struktur, Kader und Entwicklung einer Massenorganisation der SED (1945-1990) (hrsg. zusammen mit Dieter Dowe und Karlheinz Kuba, bearb. von Michael Kubina), Arbeitsversion abrufbar unter http://library.fes.de/FDGB-Lexikon/ rahmen/lexikon_frame.html, Berlin 2005. Jahrbuch für historische Kommunismusforschung 2005 (hrsg. zusammen mit Hermann Weber, Ulrich Mählert, Bernhard H. Bayerlein, Horst Dähn, Bernd Faulenbach, Jan Foitzik und Ehrhart Neubert), Berlin 2005, 464 S. Jahrbuch für historische Kommunismusforschung 2004 (hrsg. zusammen mit Hermann Weber, Ulrich Mählert, Bernhard H. Bayerlein, Horst Dähn, Bernd Faulenbach, Jan Foitzik und Ehrhart Neubert), Berlin 2004, 462 S.

Auswahlbibliografie

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Die verführte Friedensbewegung. Der Einfluss des Ostens auf die Nachrüstungsdebatte (hrsg. zusammen mit Jürgen Maruhn), München 2002, 255 S. Raketenpoker um Europa. Das sowjetische SS-20-Abenteuer und die Friedensbewegung (hrsg. zusammen mit Jürgen Maruhn), München 2001, 348 S. Lexikon Opposition und Widerstand in der SED-Diktatur (hrsg. zusammen mit HansJoachim Veen, Peter Eisenfeld, Hans Michael Kloth, Hubertus Knabe, Peter Maser und Ehrhart Neubert), Berlin/München 2000, 456 S. Satelliten nach Stalins Tod. Der „neue Kurs". 17. Juni 1953 in der DDR, ungarische Revolution 1956 (hrsg. zusammen mit Andräs B. Hegedüs), Berlin 2000, 316 S. Die Anatomie der Parteizentrale. Die KPD/SED auf dem Weg zur Macht, Berlin 1998, 584 S. Berlin (hrsg. zusammen mit Karl Eckart), Berlin 1998, 141 S. Probleme des Zusammenwachsens im wiedervereinigten Deutschland (hrsg. zusammen mit Alexander Fischer), Referate der Jahrestagung 1992 der Gesellschaft für Deutschlandforschung, Berlin 1994, 81 S. Sozialdemokraten im Kampf um die Freiheit. Die Auseinandersetzung zwischen SPD und KPD in Berlin 1945/46 (hrsg. zusammen mit Gert Gruner), 2. überarb. Aufl., München 1986, 223 S. Wohin treibt die SPD? Wende der Kontinuität sozialdemokratischer Sicherheitspolitik (hrsg. zusammen mit Jürgen Maruhn), München 1984,190 S. Opposition ohne Hoffnung? Jahrbuch zu Osteuropa II (hrsg. zusammen mit Jiri Pelikan), Reinbek bei Hamburg 1979, 265 S. Robert Havemann - ein deutscher Kommunist. Rückblick und Perspektiven aus der Isolation, Reinbek bei Hamburg 1978, 159 S. Entstalinisierung. Der XX. Parteitag der KPdSU und seine Folgen (hrsg. zusammen mit Reinhard Crusius), Frankfurt am Main 1977, 537 S. Menschenrechte. Ein Jahrbuch zu Osteuropa (hrsg. zusammen mit Jiri Pelikan), Reinbek bei Hamburg 1977, 478 S. Die Sowjetunion, Solschenizyn und die westliche Linke (hrsg. zusammen mit Rudi Dutschke), Reinbek bei Hamburg 1975, 318 S. CSSR - Fünf Jahre „Normalisierung", 21.8.1968/21.8.1973, Dokumentation (hrsg. zusammen mit Reinhard Crusius, Herbert Kuehl und Jan Skala [das ist: Pauer]), Hamburg 1973, 349 S.

5. Aufsätze Wieslers Umkehr, in: Florian Henckel von Donnersmarck: Das Leben der anderen, Frankfurt am Main 2006, S. 205-217. Anmerkung zur ungeschriebenen Geschichte der SED, in: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung, Berlin 2004, S. 321-332. „Der Tag der deutschen Einheit" in den Gedenkreden des Deutschen Bundestages, in: Hans-Joachim Veen (Hg.): Die abgeschnittene Revolution. Der 17. Juni 1953 in der deutschen Geschichte, Schriften der Stiftung Ettersberg, Bd. 2, Köln/Weimar/Wien 2004, S. 109-128. Wer zu spät kommt, wird bestraft - oder: Die versuchte Rettung der Deutschen Demokratischen Republik, in: Gerbergasse 18, Nr. 35/2004, S. 2-6. Woran dürfen sich Deutsche noch erinnern? Deutungsmacht über Geschichte?, in: Gerbergasse 18, Nr. 34/2004, S. 30 f. sowie unter http://www.netzeitung.de/295056 vom 12. Juli 2004. Der 17. Juni 1953 - „Tag der Deutschen Einheit" (I), in: Die Politische Meinung, Nr. 403/2003, S. 11-19.

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Anhang

Der 17. Juni 1953 - „Tag der Deutschen Einheit" (II), in: Die Politische Meinung, Nr. 404/2003, S. 86-95. Die DDR - Wandlungen der historischen Deutung, in: Rainer Eppelmann/Bernd Faulenbach/Ulrich Mahlert (Hg.): Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung, Paderborn 2003, S. 27-37. Deutschlandpolitische Positionen der SED vor dem 17. Juni 1953, in: Heiner Timmermann (Hg.): Juni 1953 in Deutschland. Der Aufstand im Fadenkreuz von Kaltem Krieg, Katastrophe und Katharsis, Münster 2003, S. 235-252. Stalins Macht. Ein Kommentar zu Oleg W. Chlewnjuk. Das Politbüro - Mechanismen der Macht in der Sowjetunion der 30er Jahre, in: Zeitschrift des Forschungsverhundes SEDStaat, Nr. 13/2003, S. 131-132. Demokratie, Sozialismus und nationale Einheit, in: Reinhard Hübsch: „Hört die Signale!" Die Deutschlandpolitik von KPD/SED und SPD 1945-1970, Berlin 2002, S. 43-54. „Nur wer sich ändert bleibt sich treu". Die Ausbürgerung Wolf Biermanns und die Folgen im Westen, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat, Nr. 11/2002, S. 29 -37. Der Schwur von Buchenwald - Zwei Wege aus der Katastrophe, in: Manfred Agethen/ Eckhard Jesse/Ehrhart Neubert (Hg.): Der missbrauchte Antifaschismus, Freiburg/ Basel/Wien 2002, S. 40-62. Die Stasi-Akten. Zur Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur, in: Die Neue Ordnung, Heft 3/2002, S. 197-209. Begegnungen mit Eduard Goldstücker, in: Europäische Ideen, Heft 122/2001, S. 6-11. Die neue Klasse. Eine Analyse des kommunistischen Systems (zusammen mit Milovan Djilas), in: Sven Papcke/Georg W. Oesterdiekhoff (Hg.): Schlüsselwerke der Soziologie, Wiesbaden 2001, S. 109-112. Sternstunde der deutsch-amerikanischen Allianz: 9. November 1989, in: Wolfgang-Uwe Friedrich (Hg.): Germany and America. Essays in Honor of Gerald R. Kleinfeld, New York/Oxford 2001, S. 196-228. Der 9. November 1918 - Ein Rückblick auf Kriegsende und Republik, in: Zeitschrift des Forschungsverhundes SED-Staat, Nr. 8/2000, S. 137-145. Aufgaben zeitgeschichtlicher DDR- und Deutschlandforschung, in: Heiner Timmermann (Hg.): Die DDR - Politik und Ideologie als Instrument, Berlin 1999, S. 879-886. Demokratie ist nicht gleich Demokratie, in: Hermann Schäfer (Hg.): 50 Jahre Deutschland, Ploetz, Ereignisse und Entwicklungen, Freiburg 1999, S. 22-27. In Memoriam Jürgen Fuchs, in: Europäische Ideen, Heft 115/1999, S. 14—16. Lebensverknüpfung - Zum Tode von Jürgen Fuchs, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat, Nr. 7/1999, S. 98-103. Opposition aus dem Geist des Prager Frühlings - Jiri Pelikan und die Zeit des Exils, in: Gerbergasse 18, Nr. 3/1999, S. 26-31. Ein ostpreußischer Sozialdemokrat - Rückblick auf Hugo Haase, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat, Nr. 7/1999, S. 108-112. Walter Ulbricht (1893-1973), in: Torsten Oppelland (Hg.): Deutsche Politiker 1949-1969, 2 Bde., Bd. 1, Darmstadt 1999, S. 72-82. Die Bewertung von Opposition und Widerstand in Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei. Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" des 12. Deutschen Bundestages, in: Doris Liebermann/Jürgen Fuchs/Vlasta Wallat (Hg.): Dissidenten, Präsidenten und Gemüsehändler. Tschechische und ostdeutsche Dissidenten 1968-1998, Essen 1998, S. 227-235. Der Historiker und die Politik. Alexander Fischer als Sachverständiges Mitglied der Bundestags-Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", in: Karl G. Kick/Stephan Weingarz/Ulrich Bartosch (Hg.): Wandel durch Beständigkeit. Studien zur deutschen und internationalen Politik. Jens Hacker zum 65. Geburtstag, Berlin 1998, S. 79-99.

Auswahlbibliografie

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Karl Radek: „Er war ja ein Jud", in: Die neue Ordnung, Nr. 2/1998, S. 135-143. Opposition und Widerstand in der Tschechoslowakei und Polen in ihrer Bedeutung für die deutsche Einheit, in: acta contemporanea, Festschrift für Vilem Precan, Prag 1998, S. 429-442. Zäsur in der Teilungsgeschichte, in: Bernd Faulenbach/Heinrich Potthoff (Hg.): Sozialdemokraten und Kommunisten nach Nationalsozialismus und Krieg. Zur historischen Erinnerung der Zwangsvereinigung, Essen 1998, S. 111-113. Die begrenzte Souveränität der SED und ihres sozialistischen Staates. Wortprotokoll der öffentlichen Veranstaltung zum Thema „Das politische System in der D D R " am 24. Februar 1996 in Pasewalk, in: Landtag Mecklenburg-Vorpommern (Hg.): Aufarbeitung und Versöhnung II: Zur Arbeit der Enquete-Kommission „Leben in der DDR. Leben nach 1989 - Aufarbeitung und Versöhnung", Schwerin 1996, S. 79-166. Interventionspolitik: Die SED und der Prager Frühling 1968 und die polnische Demokratiebewegung 1980/81, in: Heiner Timmermann (Hg.): Diktaturen in Europa im 20. Jahrhundert - der Fall D D R . Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen, Bd. 79, Berlin 1996, S. 623-643. Kurt Schumachers Anspruch auf die politische Führung Deutschlands durch die SPD und die Gründung der SED, in: Hermann-Josef Rupieper/Rüdiger Fikentscher (Hg.): Zwischen Zwangsvereinigung und unfreiwilligem Zusammenschluß: KPD-SPD in der Provinz Sachsen 1945/46, Gesellschaft für Demokratie- und Zeitgeschichte Sachsen-Anhalt der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle/Saale 1996, S. 17-32. Zusammenschluss oder Zwangsvereinigung?, in: Die politische Meinung, Nr. 319/1996, S. 45-64. Heinz Brandt: Verfolgt unter Hitler und Stalin, in: Friedrich-Ebert-Stiftung/Büro Leipzig (Hg.): Wahrheit - Gerechtigkeit - Versöhnung - Menschliches Verhalten unter Gewaltherrschaft, Dokumentation, 6. Bautzen-Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung, 9./10. Juni 1995, Leipzig 1995, S. 79-82. DDR-Vergangenheit oder deutsche Teilungsgeschichte? Das Beispiel Polen 1980/81, in: Politische Studien, Sonderheft: Vier Jahre nach dem Fall der Mauer. Aufarbeitung und Bewältigung des Sozialismus in der DDR, Nr. 10/1993, S. 65-76. Konzeptionen der KPD-Führung 1944/45 für das Parteiensystem in der SBZ und der Beginn der Umsetzung, in: Deutschland Archiv, Heft 2/1993, S. 248-255. Thesen zum Thema „Blockparteien", in: Die politische Meinung, Nr. 285/1993, S. 49-53. Von der Aussagekraft der Akten (zusammen mit Michael Kubina), in: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur, Nr. 120/1993 (= Feinderklärung Literatur und Staatssicherheitsdienst), S. 89-97. Entstehung und Entwicklung der PDS, in: Peter Eisenmann/Gerhard Hirscher: Die Entwicklung der Volksparteien im vereinten Deutschland, München et al. 1992, S. 147-190. Antifaschismus als Legitimation staatlicher Herrschaft in der D D R , in: Bundesministerium des Innern (Hg.): Bedeutung und Funktion des Antifaschismus, Bonn 1990, S. 52-64. Deutsche Gewerkschaftseinheit, in: Außenpolitik, Heft 4/1990, S. 365-375. Ist die „Partei des demokratischen Sozialismus" (PDS) noch eine kommunistische Partei?, in: Politische Studien, Nov./Dez. 1990, S. 695-705. Die Krise der Deutschen Kommunistischen Partei, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. Β 46-47/90, S. 27-37.

Europäische Diktaturen und ihre Überwindung Schriften der Stiftung Ettersberg

Band 1: N a c h der Diktatur. Demokratische Umbrüche in Europa - zwölf Jahre später. Hrsg. v. Hans-Joachim Veen. Redaktion Markus Pieper. 2003. IV, 225 S. Br. ISBN-10 3-412-03603-X ISBN 978-3-41 2-03603-4 Band 2: Die abgeschnittene Revolution. Der 1 7. Juni 1953 in der deutschen Geschichte. Hrsg. v. Hans-Joachim Veen. 2004. IV, 248 S. Br. ISBN-10 3-412-17103-4 ISBN 978-3-412-17103-2 Band 3: Ehrhart Neubert, T h o m a s Auerbach: » E s kann a n d e r s w e r d e n « . Opposition und Widerstand in Thüringen 1945-1989. 2005. 296 S. 85 s/w-Abb. Br. ISBN-10 3-412-08804-8 ISBN 978-3-412-08804-0 Band 4: Alte Eliten in jungen Demokratien? Wechsel, Wandel und Kontinuität in Mittel- und Osteuropa. Hrsg. v. Hans-Joachim Veen. 2004. 408 S. Br. ISBN-10 3-412-08304-6 ISBN 978-3-41 2-08304-5

Band 5: Henning Pietzsch: Jugend z w i s c h e n Kirche und Staat. Geschichte der kirchlichen Jugendarbeit in Jena 1970-1989. 2005. 390 S. 1 s/w-Abb. Br. ISBN-10 3-412-17204-9 ISBN 978-3-412-1 7204-6 Band 6: Der K o m m u n i s m u s im Museum. Formen der Auseinandersetzung in Deutschland und Ostmitteleuropa. Hg. v. Volkhard Knigge und Ulrich Mahlert. 2005. 312 S. 40 s/w-Abb. Br. ISBN-1 0 3-41 2-20705-5 ISBN 978-3-412-20705-2 Band 7 erscheint nicht. Band 8: W o r a n erinnern? Der K o m m u n i s m u s in der deutschen Erinnerungskultur. Hg. v. Peter März und Hans-Joachim Veen. 2006. Ca. 248 S. Br. ISBN-10 3-412-37405-9 ISBN 978-3-41 2-37405-1 Band 9: Eva Ochs: » H e u t e kann ich d a s ja s a g e n « Lagererfahrungen von Insassen sowjetischer Speziallager in der SBZ/DDR. 2006. Ca. 352 S. Br. ISBN-10 3-412-01006-5 ISBN 978-3-412-01006-5

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Zeithistorische Studien Herausgegeben vom Z e n t r u m für Zeithistorische F o r s c h u n g P o t s d a m e.V. - Eine A u s w a h l 29: Christian Th. Müller, Patrice G. P o u t r u s (Hg.): A n k u n f t - Alltag A u s r e i s e . Migration und interkulturelle B e g e g n u n g in der DDR-Gesellschaft. 2005. 341 S. Gb. ISBN-10 3-412-14605-6 ISBN 978-3-412-14605-4 30: Sylvia Klötzer: Satire u n d Macht. Film, Zeitung, Kabarett in d e r DDR. 2005. 261 S. Gb. ISBN-10 3-412-15005-3 ISBN 978-3-412-15005-1 31: Peter Hübner, Christoph Kleßmann, Kiaus Tenfelde (Hg.): Arbeiter im Staatssozialismus. Ideologischer A n s p r u c h und s o z i a l e Wirklichkeit. 2005. 515 S. 43 färb, und 4 s/wAbb. auf 4 Taf. Gb. ISBN-1 0 3-41 2-1 8705-4 ISBN 978-3-412-18705-7 32: Jan C. B e h r e n d s : Die e r f u n d e n e F r e u n d schaft. P r o p a g a n d a für d i e S o w j e t u n i o n in P o l e n und in der DDR (1944-1957). 2006. 437 S. 8 s/w-Abb. auf 8 Taf. Gb. ISBN-10 3-412-23005-7 ISBN 978-3-412-23005-0 33: T h o m a s L i n d e n b e r g e r (Hg.): M a s s e n m e d i e n im Kalten Krieg. Akteure, Bilder, R e s o n a n z e n . 2006. 286 S. 15 s/w-Abb. auf 12 Taf. Gb. ISBN-10 3-41 2-23105-3 ISBN 978-3-412-23105-7

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34: B u r g h a r d Ciesla: Als der O s t e n d u r c h d e n W e s t e n fuhr. Die G e s c h i c h t e der D e u t s c h e n R e i c h s b a h n in Westberlin. 2006. 356 S. 20 s/w-Abb. auf 16 Taf. Gb. ISBN-10 3-412-30505-7 ISBN 978-3-412-30505-5 35: A n d r 6 Steiner (Hg.): Preispolitik u n d L e b e n s standard. Nationalsozialism u s , D D R und B u n d e s r e p u blik im Vergleich. 2006. Ca. 224 S. Gb. ISBN-10 3-412-30405-0 ISBN 978-3-412-30405-8 36: A n n e t t e S c h u h m a n n : Kulturarbeit im sozialistis c h e n Betrieb G e w e r k s c h a f t l i c h e Erzieh u n g s p r a x i s in d e r S B Z / D D R 1946 bis 1970 2006. Ca. 320 S. Gb. ISBN-10 3-412-02706-5 ISBN 978-3-41 2-02706-3 37: Michael L e m k e (Hg.): S c h a u f e n s t e r der S y s t e m k o n k u r r e n z . Die R e g i o n Berlin-Brandenburg im Kalten Krieg. 2006. Ca. 424 S. ca. 8 s/w-Abb. auf 8 Tafeln Gb. ISBN-10 3-41 2-02606-9 ISBN 978-3-412-02606-6 38: T h o m a s Klein: »Frieden u n d Gerechtigkeit!« Die Politisierung d e r Unabhängigen Friedensb e w e g u n g in Ost-Berlin w ä h r e n d d e r a c h t z i g e r Jahre. 2006. Ca. 376 S. Ca. 8 s/w-Abb. auf 8 Taf. Gb. ISBN-10 3-412-02506-2 ISBN 978-3-412-02506-9

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