Im Januar 1923 besetzten französische und belgische Truppen zunächst Essen und dann große Teile des Ruhrgebiets, um rück
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German Pages [369] Year 2004
Gerd Krumeich / Joachim Schröder (Hg.)
Der Schatten des Weltkriegs Die Ruhrbesetzung 1923
RUHR
Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens
begründet von Peter Hüttenberger
Band 69 herausgegeben von Hans-Joachim Behr · Jürgen Brautmeier · Kurt Düwell Ulrich Heinemann · Hansgeorg Molitor · Christoph Nonn Dietmar Petzina · Heinz Günter Steinberg · Falk Wiesemann
Redaktionsanschrift: Heinrich-Heine-Universität Historisches Seminar VI Universitätsstraße 1 D-40225 Düsseldorf
Gerd Krumeich / Joachim Schröder (Hg.)
Der Schatten des Weltkriegs: Die Ruhrbesetzung 1923
Diese Publikation wurde mitfinanzieller Unterstützung durch die Gerda Henkel Stiftung herausgegeben.
1. Auflage September 2004 Satz und Gestaltung: Klartext Medienwerkstatt GmbH Druck und Bindung: Koninklijke Wöhrmann, Zutphen (NL) © Klartext Verlag, Essen 2004 Alle Rechte vorbehalten ISBN 3-89861-251-1
Inhalt
Vorwort....................................................................................................................
I.
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Die Ruhrbesetzung als historischer Ort
Gerd Krumeich Der „Ruhrkampf' als Krieg: Überlegungen zu einem verdrängten deutsch-französischen Konflikt..............
9
Christoph Cornelißen Vom „Ruhrkampf' zur Ruhrkrise: Die Historiografie der Ruhrbesetzung ...
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Gertrude Cepl-Kaujmann Zwischen „Ruhrbesetzung“ und „Ruhrkampf'. Schriftsteller im Spannungsfeld der Politik..........................................................
47
II.
Absichten und Wahrnehmung
Georges-Henri Soutou Vom Rhein zur Ruhr: Absichten und Planungen der französischen Regierung ....................................
63
Anna-Monika Lauter Die öffentliche Meinung in Frankreich im Vorfeld der Ruhrbesetzung .........
85
Laurence van Ypersele Belgien und die Ruhrbesetzung: Wagnisse und Erwartungen...........................
99
Gilbert Merlio Die Wahrnehmung des Ruhrkampfes bei französischen Intellektuellen .........
119
III.
Aktion und Reaktion
Christian Kleinschmidt Rekonstruktion, Rationalisierung, Internationalisierung. Aktive Unternehmensstrategien in Zeiten des passiven Widerstandes..............
133
Conan Fischer Soziale Verwerfungen im Ruhrkampf durch Hunger und Evakuierung.........
149
Joachim Schröder Deutsche und französische Kommunisten und das Problem eines gemeinsamen Widerstandes gegen die Ruhrbesetzung ....
169
Hans Hecker Karl Radeks Werben um die deutsche Rechte: Die Sowjetunion und der „Ruhrkampf"...............................................................
IV.
187
Gewalt
Stanislas Jeannesson Übergriffe der französischen Besatzungsmacht und deutsche Beschwerden . . .
207
Gerd Krüger „Wir wachen und strafen!“ - Gewalt im Ruhrkampf von 1923 .......................
233
Annette Becker-Deroeux Das Begräbnis des Leutnants Cölpin in Lille am 21. März 1923 ....................
257
Klaus Wisotzky Der „blutige Karsamstag“ 1923 bei Krupp..........................................................
265
Angelika Schnorrenberger Der Düsseldorfer „Blutsonntag“, 30. September 1923 ......................................
289
V.
Folgen
Hans Mommsen Die politischen Folgen der Ruhrbesetzung..........................................................
305
Wilfried Loth Die Ruhr im europäischen Kontext.....................................................................
313
Bilddokumente zur Ruhrbesetzung
Französische Dokumente....................................................................................... Deutsche Dokumente ............................................................................................ Separatistische / antiseparatistische Flugblätter...................................................
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Anhang Abkürzungen............................................................................................................ Abbildungsverzeichnis ............................................................................................ Autorinnen und Autoren.......................................................................................
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„Das Jahr 1923 begann mit einer patriotischen Hochstimmung fast war es eine Wiedergeburt von 1914. Poincare besetzte das Ruhrgebiet, die Regierung riefzum passiven Widerstand auf und bei der deutschen Bevölkerung über wand das Gefühl nationaler Erniedrigung und Gefahr — wahrscheinlich ech ter und ernster als 1914 — die angehäufien Bürden der Müdigkeit und Ent täuschung. Das Volk .erhob sich', es machte eine leidenschaftliche Seelenanstrengung undzeigte seine Bereitschaft—ja wozu? Zum Opfer? Zum Streik? Es war nicht ganz klar. Nichts wurde von ihm erwartet. Der .Ruhrkrieg' war kein Krieg. Niemand wurde eingezogen. Es gab keine Kriegsberichte. Ohne ein Ziel ließ die kriegerische Stimmung nach. (...) Einige Monate später bekam der .Ruhrkrieg', der so vielversprechend mit dem Rütli-Schwur begonnen hatte, den unverkennbaren Geruch der Korruption. Bald regte er niemanden mehr auf. Keiner kümmerte sich um das Ruhrgebiet, weil viel verrücktere Sachen zu Hause sich ereigneten. " Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914—1933
Vorwort Dieser Band ist aus einer interdisziplinären Tagung anlässlich des 80. Jahrestags der französisch-belgischen Ruhrbesetzung von 1923 entstanden. Sie wurde gemeinsam mit dem Ruhrlandmuseum in Essen, im Zentrum der damaligen Ereignisse, abgehal ten. Ziel der Veranstalter war zunächst eine Bestandsaufnahme der Forschung. Gleich zeitig sollte mittels zweier im Ruhrlandmuseum und in der Universitäts- und Landes bibliothek Düsseldorf organisierten Ausstellungen auch Interesse lokalhistorischer Art geweckt werden, auch um eventuell noch vorhandene Objekte und Erinnerungen von Zeitzeugen für Museum und Wissenschaft festzuhalten. Entstanden ist etwas anderes und mehr. Der heutige men|alitätshistorische Trend und die Wiederentdeckung des Ersten Weltkrieges sowie des ihm folgenden „Krieges in den Köpfen“ haben dazu geführt, dass die Ruhrkrise des Jahres 1923 - viel stärker als es in der Forschung bislang der Fall war — in die Perspektive des Ersten Weltkrieges geriet. Dieser Fokus wurde noch verstärkt (bzw. bestätigt) durch die Evidenz der ikonografischen Materialien aus den Beständen der Bibliothek für Zeitgeschichte (Stuttgart), des Ruhrlandmuseums und des Düsseldorfer Stadtarchivs. Dessen erst kürzlich erschlos senen Bestände aus dem Nachlass des seinerzeitigen Leiters, Paul Wentzcke, sind von großem Reichtum und harrten geradezu wissenschaftlicher Bearbeitung - sie bildeten auch den Grundstein für die Ausstellung in der Universitäts- und Landesbibliothek. Die Diskussion zwischen Germanisten, Kulturwissenschaftlern und Historikern auf der Tagung und hinterher zeigte mit großer Deutlichkeit, dass der „Ruhrkampf1 anderes und viel mehr gewesen ist, als die - bislang ohnehin rare — deutsche und internationale 7
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Forschung angenommen hatte. Diese war ganz überwiegend entweder dem Problem der deutsch-französischen Beziehungen in der Nachkriegszeit oder den Ursachen der Hype rinflation von 1923 gewidmet gewesen. Die genaue Untersuchung sowohl der Motive als auch der Besatzungspraxis, zeigt aber, dass über der Konfrontation von 1923 „der Schatten des Weltkriegs“ lastete. Für die Menschen von damals war der Krieg gerade erst vergangen und ein bei weitem noch nicht überwundenes DramaAVie eine Art traumati scher Erfahrung durchwirkte diese unbewältigte Vergangenheit die gesamte Auseinan dersetzung von 1923, bei Franzosen und Belgiern mindestens ebenso stark wie bei den Deutschen. Nicht allein in den schriftlichen Quellen, sondern auch — vielleicht mehr in der sehr ergiebigen Ikonografie der Besetzung, in den vielfältigen Zeugnissen exzessi ver Propaganda und allgemeiner Empörung, lassen sich diese Verbindungslinien am leichtesten auffinden, die in der Historiografie noch keine hinreichend große Rolle gespielt haben. Der Grund hierfür war wohl, dass sich wissenschaftliche Geschichte lange scheute, das Feld zu betreten, welches die „Ruhrkampf'-Polemik der Zwanziger und Dreißiger Jahre fest besetzt hielt. Mit dem wachsenden Abstand hat sich dies gründ lich verändert. Die Ruhrbesetzung von 1923 ist heute ein rein historisches Faktum. Glücklicherweise kommt niemand mehr auf die Idee, etwa deutsch-französische Bezie hungen an deren Elle zu messen. Viele haben an der Ausstellung, an dem Kolloquium und schließlich diesem Buch mitgearbeitet. Großen Dank schulden wir der Gerda Henkel Stiftung für die großzü gige Förderung sowohl'des Kolloquiums als auch dieses Bandes. Bei einem auf den ers ten Blick so „sperrigen“ Thema war dies nicht von vornherein zu erwarten. Wir dan ken Prof. Dr. Ulrich Borsdorfund Dr. Mathilde Jamin vom Ruhrlandmuseum für die effiziente Kooperation. Prof. Dr. Gerhard Hirschfeld und Irina Renz von der Biblio thek für Zeitgeschichte in Stuttgart sei für viel sachliche Hilfe und die Überlassung von seltenen Bilddokumenten für die Ausstellungen herzlich gedankt. Prof. Dr. LoozCorswarem, Leiter des Düsseldorfer Stadtarchivs, hat uns ganz ungewöhnlich großzü gig den Gesamtbestand des Nachlasses Wentzcke zur Verfügung gestellt, durch den die Perspektivierung auf den Ersten Weltkrieg erst möglich wurde. Bedanken möchten wir uns auch bei den Herausgebern, insbesondere bei Prof. Dr. Falk Wiesemann, für die Aufnahme des Bandes in die Reihe „Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landes geschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens“ und bei Dr. Ludger Claßen vom Klartext Verlag, der dieses Projekt von Anfang an mit viel Interesse und in gewohnt kooperativer Weise begleitet hat. Dank gebührt auch dem Leiter des Archivs der Universitätsbibliothek, Dr. Max Plassmann, der die Organisation der Ausstellung ermöglichte und in zuvorkommender Weise unterstützte, und Nicole Trösken, die unermüdlich die Digitalisierung der vielen Flugblätter und „Papillons“ aus dem Stadt archiv besorgte, sowie Sibylle Hirschfeld und Oliver Schulz für die Übersetzungsarbei ten. Herzlich danken möchten wir auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Historischen Seminars, insbesondere - zuletzt, und deshalb ganz besonders - Nina Jakobs für aufopferungsvolle und effiziente Hilfe bei der Drucklegung. Düsseldorf, Juni 2004
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Gerd Krumeich / Joachim Schröder
Gerd Krumeich
Der „Ruhrkampf‘ als Krieg: Überlegungen zu einem verdrängten deutsch-französischen Konflikt Die Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen im Januar 1923 war ein Bruchpunkt der internationalen Beziehungen der unmittelbaren Nach kriegszeit. In gewisser Weise fand erst mit Abschluss der Ruhrbesetzung — im Hinblick auf Deutschland, Belgien und Frankreich — der Erste Weltkrieg sein Endej Die Formen (auch die symbolischen Formen) dieser Besetzung waren eine Art fortführende Wie derholung, ein charakteristisch umgeformtes Echo dessen, was Frankreich und Bel gien unter der deutschen Kriegsbesetzung von 1914 bis 1918 erlebt hatten.1 Anders lässt sich die frappierende Konsequenz und exemplarische Härte der Besetzung des Ruhrgebiets nicht erklären. Aber die Deutschen, die mehrheitlich keine Ahnung davon hatten, mit welcher Brutalität deutsche Truppen die Kriegsbesetzung Belgiens und Nordfrankreichs durchgeführt und darüber hinaus das Land auch ohne unbe dingte Kriegsnotwendigkeit zerstört hatten,12 sahen das Besatzungsregime von 1923 als reine Willkürherrschaft an, als typischen französischen Herrschaftsanspruch über Teile Deutschlands, in der Tradition Ludwigs XIV. und Napoleons.3 In keiner Weise haben sie die Kriegs- und Friedensbesatzungen miteinander verglichen. Sie haben auch keine Einsicht in die Notwendigkeit gezeigt, dass Frankreich und Belgien fur den Wiederaufbau der kriegszerstörten (besser: der von den Deutschen zerstörten) Gebiete entscheidend von deutschen Zahlungen und Sachleistungen abhängig waren. Was die Franzosen und Belgier als ökonomischen Existenzkampf und als geschuldete Wieder gutmachung zugefügten Unrechts empfanden, war in der Interpretation der Deut schen reine Willkür und brutale Machtpolitik auf dem Rücken eines ohnehin durch die Niederlage, die Reparationen und die „Kriegsschuldlüge“ über Gebühr belasteten Volkes. Es bleibt eine der grundsätzlichen Verwerfungen der Weltkrieg I-Verarbeitung in Deutschland, dass sich dieser Krieg quasi „vor den Toren“ des Reiches abgespielt
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John Horne/Alan Kramer: Deutsche Kriegsgreuel 1914: Die umstrittene Wahrheit, Hamburg 2004; Annette Becker: Oubliés de la Grande Guerre: humanitaire et culture de guerre 1914-1918. Populations occupées, déportés civils, prisonniers de guerre, Paris 1998. Bislang gibt es keine monografische Aufarbeitung, siehe einstweilen: Gerd Krumeich: Der Krieg als großer Arbeitsplatz. Frühjahr 1917: Der deutsche Rückzug und die Folgen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (Beilage: Bilder und Zeiten), 21.3.1998, S. 6. Vgl. exemplarisch Hermann Oncken: Napoleon III. und der Rhein. Der Ursprung des Krieges von 1870/71, Berlin (u.a.) 1926; zur Haltung der deutschen Historiker vgl. den Beitrag von Christoph Cornelißen in diesem Band.
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Gerd Krumeich
hatte; dass die Informationen über Kriegs- und Besatzungswirklichkeit nur durch Pro paganda gefiltert an die deutsche Bevölkerung herangekommen waren - so hatte man im Grunde keinerlei Vorstellung von der Tatsache, dass beispielsweise zehn französi sche Departements von Grund auf zerstört waren. Wenn in Deutschland diese Frage überhaupt diskutiert wurde, dann war die Ausrede schnell gefunden: Nicht die deut schen Soldaten sondern „der Krieg“ habe das Gebiet an der Somme, den Vogesen, dem Artois zerstört. Zudem wurde argumentiert, dass nicht zuletzt die Franzosen selber ihre Städte und Dörfer vernichtet, die deutschen Soldaten hingegen die Kunstschätze und historischen Bauten - wo irgend möglich — gesichert hätten. So zutreffend dies im ein zelnen war, so bleibt doch unbenommen, dass die Deutschen ihren „Verteidigungs krieg“ nicht etwa am Rhein sondern an der Somme durchgeführt hatten und dass sie international isoliert waren in ihrer (in Deutschland erstaunlicherweise unbedingt konsensfähigen) Auffassung, dass dies nichts gewesen sei als eine örtlich vorgezogene, aber tatsächliche Vaterlandsverteidigung,) Die Möglichkeit, dass Frankreich gezwungen sein könnte, die Mittel zum Wieder aufbau der im Krieg und beim Rückzug der deutschen Truppen 1918 zerstörten Gebiete notfalls mit Gewalt zu holen, ist in der deutschen Öffentlichkeit nicht disku tiert worden. Allein einige wenige Sozialisten und Pazifisten wiesen gelegentlich auf diesen Zusammenhang hin. Es gelang ihnen aber nicht, eine öffentliche Diskussion dieses Themas zu erreichen. Gemeinhin wurden solche Vergleiche niedergeschrien. Insgesamt muss man feststellerl, dass auch regierungskritische oder oppositionelle Publizisten der bürgerlichen Linken niemals auf die Idee kamen, die Verbindung zwi schen deutschen Kriegszerstörungen in Frankreich und Belgien und den Besetzungs praktiken während des Krieges in einen Zusammenhang mit der Ruhrbesetzung zu bringen. So schrieb Richard Lewinsohn, späterhin bekannt als Wirtschaftsfachmann der Vossischen Zeitung, bereits im Januar 1923 in der linksintellektuellen Weltbühne: „Vier Jahre nach einem - immerhin - nach einem Friedensschluss rücken fremde Soldaten, feldmarschmäßig, mit Artillerie und allen Mitteln des modernen Krieges ins Land, bemäch tigen sich der Verwaltung, verhängen den Belagerungszustand, lassen deutsche Privatleute zusammentrommeln wie Rekruten und spielen, wenn schon nicht Krieg, so doch Etappe.“4 5
Die Historiografie hat sich dieser Verschränkung der Ruhrbesetzung von 1923 mit den belgischen und französischen Weltkriegs-Erfahrungen bislang nicht zugewandt.6 Sie war lange beherrscht von den Problemen der diplomatischen und ökonomischen
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Vgl. Gerd Krumeich: Der deutsche Soldat an der Somme 1914-1916: Zwischen Idylle und Entsetzen, in: Siegfried Quandt/Horst Schichtei (Hg.): Der Erste Weltkrieg als Kommunikationsereignis, Gießen 1993, S. 45-62. Zit. nach: Morus (d.i. Richard Lewinsohn): Der Kohlenkrieg, in: Die Weltbühne, Jg. XIX (1923), S. 61. Vgl. aber den interessanten Neuansatz über eine vergleichende Besatzungsgeschichte bei: MoritzFöllmep'Der Feind im Salon. Eliten, Besatzung und nationale Identität in Nordfrankreich-urid Westdeutschland 1914-1930, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift, 61 (2002), S. 1-24.
Der „Ruhrkampf1 als Krieg
Motive und Relevanz der Ruhrbesetzung. Walter MacDougall, Jacques Bariéty und andere haben die Differenz zwischen den rein ökonomisch und sicherheitspolitisch motivierten Aktivitäten der Regierung Poincaré einerseits und andererseits den darü ber hinaus gehenden machtpolitischen Absichten führender Militärs und Teilen der nationalistischen Öffentlichkeit in Frankreich betont.7 Die neuere Arbeit von Stanislas Jeannesson hat das macht- und sicherheitspolitische Kalkül nachgewiesen, welches die französische Politik seit 1922 bestimmte.8 Die Ruhrbesetzung sollte möglichst fortge führt werden bis zur Erledigung aller Reparationen und darüber hinaus als Fundament französischer Macht- und Sicherheitspolitik gegenüber Deutschland dienen. Auch die deutsche Historiografie hat sich - trotz aller Forschungen in Teilbereichen - nicht der Frage angenommen, ob und in welcher Weise das „Kriegserlebnis“ der Franzosen und Belgier für die Art und Weise des Vorgehens und der militärischen Besetzung der Ruhr zumindest mitverantwortlich gewesen ist.9 Der völkerrechtlich so vage Terminus der „Friedensbesetzung“ mag dazu beigetragen haben, dass der Bezug der Ruhrbesetzung zur erlebten Besetzung während des Weltkrieges in der Historio grafie nicht beachtet worden ist. Zudem war das lange nachhallende Feldgeschrei der deutschen nationalistischen „Ruhrkampf'-Propaganda einer „kriegskulturell“ orien tierten historiographischen Fragestellung wohl nicht förderlich.1011 Zur Klärung: Völkerrechtlich gibt es zwei Kategorien von Friedensbesetzung, näm lich einerseits die vertragsmäßigzugestandene (wie etwa die Rheinlandbesetzung nach 1919 aufgrund des Versailler Vertrages); andererseits die auf einem Gewaltakt beru hende „Zwangsbesetzung“ (occupation coercitive). Im ersteren Fall bleibt die Souverä nität des besetzten Staate^ erhalten. Der Okkupant ist berechtigt, „die für die Sicher heit, Unterbringung und Verpflegung seiner Truppen [...] erforderlichen Maßnah men zu treffen“.11 Im Falle einer in Friedenszeiten stattfindenden Zwangsbesetzung, wird die Gebietshoheit der einheimischen Regierung suspendiert.. Die Stellung des 7
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Vgl. Walter A. MacDougall: Frances Rhineland diplomacy, 1914-1924. Thelastbid for a balance of power in Europe, Princeton 1978; Jacques Bariéty: Les relations franco-alle mandes après la Première guerre mondiale. lOnov. 1918-lOjan. 1925, de l’exécution à la négociation, Paris 1977. Stanislas Jeannesson: Poincaré, la France et la Ruhr (1922-1924). Histoire d’une occupa tion, Strasbourg 1998. Dies gilt auch für die mentalitätshistorisch so sensible Arbeit von Barbara Müller: Passi ver Widerstand im Ruhrkampf. Eine Fallstudie zur gewaltlosen zwischenstaatlichen Konfliktaustragung und ihren Erfolgsbedingungen, Münster 1995 (Studien zur Gewalt freiheit, Bd. 1). Beispielsweise die Arbeit von Ludwig Zimmermann: Frankreichs Ruhrpolitik von Ver sailles bis zum Dawesplan, Göttingen 1971; zum Kriegskultur-Ansatz vgl. Stéphane Audoin-Rouzeau/Annette Becker, 14-18: retrouver la guerre, Paris 2000; Jean-Jacques Becker/Jay Μ. Winter/Gerd Krumeich/Annette Becker/Stéphane Audoin-Rouzeau (Hg.), Guerre et cultures 1914—1918, Paris 1994; Roger Chickering/Stig Förster (Hg.): The shadows of total war. Europe, East Asia, and the United States, 1919-1939, Cam bridge 2003. Hans-Jürgen Schlochauer: Wörterbuch des Völkerrechts, Berlin 1960, Bd. 1, S. 194.
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Gerd Krumeich
Okkupanten „gleicht [...] in der Zwangsbesetzung in mancher Hinsicht derjenigen eines kriegführenden Okkupanten “.1213 Es steht außer Frage, dass wegen des gewaltsa men Eindringens der Franzosen und Belgier in das Ruhrgebiet die Besetzung zwar eine Friedensbesetzung war, aber von vornherein einen gewaltsamen Eingriff in die deut sche Souveränität darstellte. Von daher hatte sie auch von Beginn an einen viel „kriege rischeren“ Aspekt als die vorgängige Besetzung des Rheinlandes. Und im Fall der Ruhrgebietsbesetzung eskalierte dieser kriegerische Gestus noch proportional zum aktiven oder passiven - Widefstäfidgegen Maßnahmen und Anordnungen der Besat zungsbehörden. Wenn es also völkerrechtlich einen grundsätzlichen Unterschied zwischen „Kriegs besetzung“ und jjFriedensbeseigiing“ durchaus gibt, so zeigt sich in der konkreten Aus~cfifferenzierung, wicschwierig diese Grenzen zu ziehen sind. Die Franzosen und Bel gier legitimierten ihre Besetzijßgstets als vertraglich zugestandene echte Friedensbeset zung: „Die Französische Regierung legt Wert darauf, zu erklären, daß sie gegenwärtig nicht daran denkt, zu einer militärischen Operation oder zu einer Besetzung politischer Art zu schreiten. Sie entsendet einfach ins Ruhrgebiet eine Mission von Ingenieuren und Beamten, deren Zweck deutlich umschrieben ist. Sie muß dafür sorgen, daß Deutschland die im Vertrag von Versailles enthaltenen Verpflichtungen achtet. Sie läßt ins Ruhrgebiet nur die zum Schutze der Mission und zur Sicherstellung der Ausführung ihres Auftrages erforderlichen Truppen einrücken.“11
Die Deutschen hingegen protestierten immer wieder gegen den ihrer Meinung nach völkerrechtlich nicht legitimie?terrUewärtäEt.InThrer Antwortnote vom 12. Januar 1923 bezeichnete die deutschen Regierung den Einmarsch als „denkbar schwerste Ver letzung der deutschen Hoheitsrechte“.14 Und weiterhin: „Vergeblich versucht die Französische Regierung, die Schwere des Vertragsbruchs dadurch zu verhüllen, daß sie der Aktion eine friedliche Benennung gibt. Die Tatsache, daß eine Ar mee in kriegsmäßiger Zusammensetzung und Bewaffnung die Grenzen des unbesetzten deutschen Gebiets überschreitet, kennzeichnet das französische Vorgehen als eine militäri sche Aktion.“
pic.französische Regierung versuchte bis zum Ende der Besetzung, diese als vertraglich legitimierte „Friedensbesetzung" zu klassifizieren und untersagte deshalb auch ihren Beamten und Militärs jede Bezugnahme auf die deutsche Besetzung im Ersten Welt krieg.15 Aber in Frankreich und Belgien war gleichwohl die Erinnerung an die deut12 13
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Ebd. So die Note der französischen Regierung vom 10.1.1923, in: Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutsch lands in der Gegenwart. Eine Urkunden- und Dokumentensammlung zur Zeitgeschich te, hrsg. von Herbert Michaelis/Ernst Schraepler, Bd. V: Die Weimarer Republik. Das kritische Jahr 1923, Berlin 1961, Dok. 998a, S. 16-18, hier: S. 17. Ebd., Dok. 999e, S. 27. Vgl. hierzu den Beitrag von Stanislas Jeannesson in diesem Band.
Der „Ruhrkampf1 als Krieg
sehe Besatzung während des Weltkrieges noch durchaus lebendig.16 Und die Intransi genz bzw. Brutalität der Besatzungspraxis an der Ruhr war von dieser Weltlqrjegserjahrung geprägt. Qies kommt in Stellungnahmen französischer und belgischer Politiker, Publizisten und Militärs im Verlauf des „Ruhrkampfs“ immer wieder zum Vorschein. Wie sie die Besetzungen miteinander verglichen (und ihre „Friedensbesetzung“ damit quasLsekiindär noch einmal legitimierten) und wie die Deutschen darauf reagierten, soll im Folgenden dargestellt werden. Bereits im zitierten Streit der deutschen und französischen Regierung über die völ kerrechtliche Legalität der Besetzung und ihres demonstrativ militärischen Gepräges spiegelt sich das Problem einer zutiefst asymmetrischen Kriegserinnerung_beider Sei ten und deren Einfluss auf die Perzeption der Ruhrbesetzung. Schon in der am 2. Januar 1923 überreichten französischen Denkschrift bezuglich der Nichterfüllung der deutschen Holz- und Kokslieferungen gemäß dem Versailler Vertrag wurde betont, dass diese Lieferungen Frankreich als Ausgleich für die „Zerstörung der Bergwerke in den Departements Nord und Pas de Calais“ in den Jahren 1914-1918 zustünden. Diese Zerstörungen wurden in demselben Dokument sogar noch näher beschrieben. Es handele sich um eine beinahe vollständige „Zerstörung der unterirdischen Anlagen der Bergwerke, die mehrere Jahre ersoffen waren“.17 Die deutsche Gegenerklärung ging auf solche Argumente nicht ein, sondern verstieg sich zu der polemischen Behauptung, „[...] daß sich die französische Industrie, deren Konkurrenzfähigkeit im wesentlichen nicht auf ihrer Leistungsfähigkeit, sondern auf dem Bezüge des billigen deutschen Reparations kokses beruht, mit allen Kräften gegen die Möglichkeit wehrt, die Zwangslieferungen des Friedensvertrages durch Lieferungen im freien Verkehr gegen Barzahlung ersetzt zu erhal ten.“18 >
Ein weiteres Beispiel für die asymmetrische Einschätzung der Situation: Als die deut sche Regierung sich am 15. Februar zum wiederholten Mal über die Unverhältnismä ßigkeit einer de-facto-Kriegsbesetzung beschwerte und diese - auf französische juristi sche Fachliteratur aus der Zeit vor 1914 gestützt — als völkerrechtswidrig kritisierte, erging folgende Antwort der französischen Regierung: „Im übrigen haben wir seit der Veröffentlichung dieses Werkes19 im Jahre 1913 einen Krieg erlebt, währenddessen Deutschland Verwüstungen verursacht hat, die in der Geschichte ohne Vorgang sind. Die Regelung der Okkupation des linken Rheinufers und der besetzten
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Vgl. hierzu besonders den Beitrag von Annette Becker in diesem Band. Denkschrift der französischen Regierung für die Reparationskommission über die Aus führung der deutschen Sachlieferungen, 2.1.1923, in: Aktenstücke über den französisch belgischen Einmarsch in das Ruhrgebiet, Nr. 2, Berlin 1923, S. 6-15, hier: S. 9. Gegenerklärung der Deutschen Regierung zu der vorstehenden Denkschrift, 6./7.1.1923, in: ebd., S. 15-20, hier: S. 16. Bezug genommen wird auf: Raymond Robin: Des occupations militaires en dehors des occupations de guerre: Étude d’histoire diplomatique et de droit international, Paris 1913.
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Gerd Krumeich Gebiete, die einen ganz besonderen Charakter hat und sich aus der eigenen Haltung Deutschlands während des Krieges ergibt, konnte nur unabhängig von jeder juristischen Schulmeinung, wie sie vor diesem Kriege und dem Vertragsschluss geäußert worden sind, durch den Friedensvertrag geregelt werden, der diesen Krieg beendet hat.“20
Aber die Deutschen verstanden nicht, was gemeint war, bzw. wollten es nicht verste hen. In der Antwort auf das eben zitierte Dokument hieß es am 10. März 1923 ganz lakonisch, dass die Darlegungen der französischen Note den „seltsamen Einwand“ ent hielten, der auch „unlogisch“ sei, „daß das Verhalten der Okkupationsarmee eine Folge der deutschen Kriegführung in Frankreich sei“.21 Einen weiteren klaren Hinweis auf den Zusammenhang zwischen Ruhrbesetzung und der erlebten Besetzung während des Weltkrieges gibt die offizielle Begründung des belgischen Außenministers Henri Jaspar für den Einmarsch ins Ruhrgebiet, die er am 9. Januar 1923 vor der Deputiertenkammer in Brüssel darlegte: „Wenn unsere großen Nachbarn uneinig sind, so ist Deutschland daran schuld, das sich wei gert, das gegen die Zivilisation begangene Verbrechen wieder gutzumachen. Nicht ohne Bit ternis sieht sich Belgien zu dem Einschreiten gezwungen, um zu erlangen, was ihm geschul det wird. Wir hofften, dass Deutschland sich moralisch erneuerte. Diese Hoffnung verwirk lichte sich nicht. [...] Wir sind fest entschlossen, das zu erlangen, was uns zusteht, wenn nicht auf friedlichem Wege, wenn nötig, durch Gewalt.“22
Während der gesamten Besatzungszeit kamen Tn offiziellen und propagandistischen Schriftstücken und Bildern die Besatzer immer wieder auf den Vergleich der Situation von 1923 mit der von 1914-1918 zurück. Als paradigmatisches Beispiel sei hier der auch als Maueranschlag verbreitete Brief eines französischen „Poilu“ an den deutschen Michel erwähnt, in welchem ein französischer Soldat auf durchaus sympathische Weise versucht, den Deutschen klarzumachen, dass die von ihnen im Krieg zerstörten Ortschaften zum Teil immer noch unbewohnbar seien, dass die Menschen unter Arbeitslosigkeit litten und auch den Schrecken der erlebten Besetzung und Verschlep pung nach Deutschland keineswegs überwunden hätten. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die von den französischen und belgischen Besetzern massenhaft verbreiteten „Papillons“, kleine Flugzettel und Maueranschläge, auf denen nichts anderes abgebildet war als das Faksimile deutscher Besatzungsanordnungen während des Weltkrieges.23 Ein besonders schlagkräftiges Beispiel war der faksimilierte Mauer anschlag aus der Kriegszeit, in welchem die deutsche Militärverwaltung der Bevölke rung genaue Vorschriften über „Das Grüssen der Offiziere“ machte. In mentalitäts- und symbolgeschichtlicher Hinsicht ist hier auch die Frage nach den Gründen für die so ganz außergewöhnlich starke und demonstrative militärische 20
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Erwiderung der Französischen Regierung (Havas) vom 7.3.1923, in: Aktenstücke, Nr. 3, S. 40—46, hier: S. 44. Gegenerklärung der Deutschen Regierung (WTB) vom 10.3.1923, in: ebd., S. 47—49, hier: S. 49. Hier zit. nach: Ursachen und Folgen, Bd. V, Dok. 997, S. 15. Vgl. Dokumente im Anhang des Buches.
Der „Ruhrkampf' als Krieg
ANTWORT
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Abb. 15: Von sozialdemokratischer Seite, wie hier im „Vorwärts“ (8.2.1925), wurden die großzügigen Entschädigungszahlungen der Reichsregierung an die Ruhrindustrie scharf kritisiert.
Mit steigender Produktion erhöhte sich auch der Beschäftigungsgrad der Unterneh men. Die Steinkohlenförderung des Jahres 1924 erreichte fast wieder den Stand von 1922. Ein Teil der zuvor entlassenen Arbeitskräfte wurde wieder eingestellt. Doch für weitere notwendige Rationalisierungsmaßnahmen und Investitionen fehlte den Unternehmen weiterhin das Kapital. In dieser Situation sprang wieder einmal das Reich als „Retter in der Not“ ein. Unter Reichsfinanzminister Luther gewährte es der Schwerindustrie an Rhein und Ruhr für die erlittenen Schäden eine Entschädigung von insgesamt 700 Millionen Reichsmark. Im Zuge der zweiten Steuernotverordnung hatte sich die Finanzlage des Reiches trotz erheblicher Steuererleichterungen für die Unternehmen in der Zwischenzeit deutlich verbessert, so dass eine solche, in der Öffentlichkeit stark umstrittene, „Ruhrentschädigung“ in dieser Höhe überhaupt erst möglich geworden war. Während die Kritik der Sozialdemokratie an der Reichsent schädigung sich vor allem an der Tatsache festmachte, dass diese ohne Zustimmung des Reichstags gewährt worden war, rechtfertigte die Reichregierung diesen Schritt mit
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Christian Kleinschmidt
den erheblichen „Reparationslasten und Schäden der Privatwirtschaft“, die eine Erstattung durch das Reich erforderten.31 Doch konnten weder die privatrechtlichen MICUM-Verträge noch die Ruhrent schädigung der Ruhrindustrie eine längerfristige Perspektive für eine wirtschaftliche Stabilisierung und eine befriedigende Lösung des Reparationsproblems geben. Diese kündigte sich erst mit der Londoner Konferenz in Form einer öffentlich-rechtlichen Regelung der Reparationsfragen und mit dem Abschluss des Dawes-Abkommens an. Dabei zeigte sich, dass eine solch umfassende Regelung nicht in Form eines bilateralen deutsch-französischen Abkommens getroffen werden konnte, sondern dass die wirt schaftliche Rekonstruktion des Ruhrgebiets wie auch Deutschlands insgesamt von internationalem Interesse war und insbesondere Großbritannien und die USA, die die Ruhrbesetzung mit deutlicher Distanz und Kritik betrachtet hatten, ihre Interessen nun wieder stärker berücksichtigt wissen wollten. Die britische Regierung hatte nach der Ruhrgebietsbesetzung gewarnt, dass Deutschland damit seine Kreditwürdigkeit vollends einbüßen und eine internationale Anleihe zur wirtschaftlichen Stabilisierung des Reiches in weite Ferne rücken würde. Das wiederum hätte die Unmöglichkeit wei terer Reparationszahlungen zur Folge. Großbritannien fürchtete darüber hinaus die Abtrennung der linksrheinischen Gebiete durch Frankreich und dessen wirtschaftli che Machtausdehnung sowie eine langfristige deutsch-französische Übereinkunft hin ter dem Rücken Großbritanniens. Die MICUM-Verhandlungen schienen diese Befürchtungen zu bestätigen. Dies wiederum zog eine deutliche Verschlechterung der britisch-französischen Beziehungen nach sich.32 Die amerikanische Politik verhielt sich zunächst abwartend. Einige amerikanische Industriezweige wie die Kohle- und Stahlindustrie erhofften sich Konkurrenzvorteile durch die französisch-belgische Besatzung und die damit verbundenen deutschen Pro duktionsausfälle. Doch spätestens im Sommer 1923 änderte sich die Haltung sowohl der amerikanischen Regierung als auch der Mehrheit der US-Industrie. Ähnlich wie in Großbritannien fürchtete man in den USA eine deutsch-französische Wirtschaftsalli anz, die für die amerikanische Industrie erhebliche Konkurrenznachteile mit sich brin gen konnte. Auch im amerikanischen Interesse musste die Ruhrbesetzung deshalb beendet werden, und so kam es schließlich nach zunächst abwartender Haltung zu einer aktiven politischen Einrlussnahme der Amerikaner zugunsten einer Lösung des
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Rycken.S. 112, 115; Bernd Weisbrod: Schwerindustrie in der Weimarer Republik. Inter essenpolitik zwischen Stabilisierung und Krise, Wuppertal 1978, S. 147; Bitter, S. 59f.; Claus-Dieter Krohn: Steuerpolitik und Industrie in der Stabilisierungsphase: Von der Steuernotverordnung im Winter 1923 zur Finanzreform im August 1925, in: Hans Mommsen/Dietmar Petzina/Bernd Weisbrod (Hg.): Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1974, S. 426-438, hier: S. 428ff. Klaus Schwabe: Großbritannien und die Ruhrkrise, in: ders. (Hg.): Die Ruhrkrise 1923, S. 53-87, hier: S. 57f., 68-71; Hans-Werner Würzler: Großbritanniens Interesse an der westeuropäischen Stahlverständigung und die Gründung der Internationalen Rohstahl gemeinschaft (1923/24—1926/27), Bochum 1991, S. 295ff., 303FF.
Rekonstruktion, Rationalisierung, Internationalisierung
Reparationenproblems und der Konsolidierung des europäischen Marktes mit dem Ziel eines dauerhaften wirtschaftlichen Aufschwungs des Welthandels.33 Mit den Untersuchungen des Dawes-Komitees zur Situation der deutschen Zahlungsfähigkeit und der Verabschiedung des auch von Frankreich schließlich akzeptierten DawesPlans zur vorläufigen Lösung des Reparationsproblems war die französische Besat zungspolitik und damit die Politik der erzwungenen Reparationen gescheitert. Der Dawes-Plan vom August 1924 entsprach schließlich mit seinem Konzept des „economic peace“ und der relativen wirtschaftlichen Stabilisierung in Deutschland und Europa vor allem den anglo-amerikanischen Vorstellungen. Für Deutschland bedeu tete der Dawes-Plan die Berücksichtigung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit durch eine Verringerung der jährlich zu leistenden Reparationsrate und eine erhöhte Planungssicherheit für die öffentlichen Finanzen.34 Darüber hinaus begannen bereits seit der Londoner Konferenz wieder ausländische Kredite ins Land zu fließen, und die Dawes-Anleihe erleichterte schließlich den Beginn der Reparationszahlungen. Zwar dauerte es noch bis zur Mitte des Jahres 1925, ehe in größerem Umfang in erster Linie amerikanische Anleihen an deutsche Unternehmen vergeben wurden, doch bildeten diese dann ein wichtiges Rückgrat für die Investitionen und Rationalisierungsanstren gungen der deutschen Industrie in der Boomphase bis 1929.35 Mittelfristig erwies sich die auf amerikanischem Kapital basierende Stabilisierung der deutschen Wirtschaft („American Reparations to Germany“36), von Albrecht Ritschi als „Geiselnahme ame rikanischen Kapitals in der Reparationenfrage“37 bezeichnet, jedoch als janusköpfig. Die deutsche Leistungsbilanz blieb ständig im Defizit, „Deutschland prosperierte auf Pump“ (Ritschi) und die kreditfinanzierten Reparationsverpflichtungen erwiesen sich als schwere Bürde, so dass die jüngste wirtschaftshistorische Forschung in ihr eine erhebliche Belastung für die Weimarer Wirtschaft sieht. Mittelfristig gab es noch ein weiteres, international ausgerichtetes Projekt zur Stabi lisierung vor allem der Schwerindustrie: die Gründung der Internationalen Rohstahlgemeinschafi. Nicht zuletzt die Erfahrungen der Ruhrbesetzung in Form des Scheiterns
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Werner Link: Die Ruhrbesetzung und die wirtschaftspolitischen Interessen der USA, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 17 (1969), S. 375ff·, 378-380; ders.: Die Vereinig ten Staaten und der Ruhrkonflikt, in: Schwabe (Hg.): Die Ruhrkrise 1923, S. 39-51, hier: S. 41, 48. Petzina, S. 78f.; Gerold Ambrosius: Von Kriegswirtschaft zu Kriegswirtschaft 1914— 1945, in: Michael North (Hg.): Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Ein Jahrtausend im Überblick, München 2000, S. 273-340, hier: S. 308, 311. Harold James: Deutschland in der Weltwirtschaftskrise 1924—1936, Stuttgart 1988, S. 141; ausführlich zum Dawes-Plan und zu amerikanischen Anleihen der deutschen In dustrie: Clemens Verenkotte: Das brüchige Bündnis. Amerikanische Anleihen und deut sche Industrie 1924—1943, Diss. Freiburg 1991. Zit. nach: Albrecht Ritschi: Deutschlands Krise und Konjunktur 1924-1934. Binnen konjunktur, Auslandsverschuldung und Reparationsproblem zwischen Dawes-Plan und Transfersperre, Berlin 2002, S. 18. Ebd., S. 237.
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Christian Kleinschmidt
einer auf Konflikt und Konfrontation setzenden Lösung hatten den Beteiligten gezeigt, dass eine wirtschaftliche und politische Stabilisierung in Europa nur auf der Basis wirtschaftlicher Zusammenarbeit gelingen konnte. Die nationalen Schwerindu strien litten unter Überproduktion und Absatzschwierigkeiten und fürchteten eine ruinöse Konkurrenz auf dem europäischen Markt. Die französische Schwerindustrie war zudem an einer umfassenden Lösung des Austauschs von Koks, Minette, Halb zeug sowie an Preis- und Produktionskontrollen interessiert und sah darin zudem eine Möglichkeit der Kontrolle der deutschen Schwerindustrie auf friedlichem Wege. Die ersten deutsch-französischen Kontakte ergaben sich im Sommer 1924 am Rande der Londoner Konferenz. Im weiteren Verlaufwünschten die Franzosen Albert Vogler und Fritz Thyssen als Verhandlungspartner, doch wirkten hier die Verletzungen der Ruhr besetzung auf deutscher Seite zunächst noch nach. Die deutschen Schwerindustriellen weigerten sich, die Verhandlungen weiterzuführen, solange in Frankreich deutsche Industrielle als Kriegsverbrecher betrachtet wurden. Erst auf Intervention des deut schen Auswärtigen Amtes gelang es, die Schwerindustriellen unter Führung Fritz Thyssens zur Fortsetzung der Verhandlungen zu bewegen.3839 Der „Thyssen-Plan“ sah schließlich eine umfangreiche Neuregelung des europäischen Stahlmarktes unter Ein beziehung Deutschlands, Frankreichs, Belgiens, Luxemburgs und Großbritanniens vor. Der Plan ging von einer radikalen Einschränkung der Rohstahlproduktion in Westeuropa und einer Zuweisung von Produktionsquoten aus, die schließlich zu einer Erhöhung der Weltmarktpreise, einer Einschränkung des ruinösen Wettbewerbs und damit zu einer Verbesserung der wirtschaftlichen Situation der Stahlindustrie in den beteiligten Ländern führen sollte.-19 Um auf deutscher Seite dafür die Voraussetzungen zu schaffen, plädierte Thyssen zunächst für die Errichtung einer Deutschen Rohstahlgemeinschafi, die bereits im November 1924 zustande kam. Eine weitere Folge davon war die notwendige nationale Verständigung der deutschen eisenschaffenden mit der eisenverarbeitenden Industrie im so genannten „AVI-Abkommen“ (AVI = Arbeitsge meinschaft der eisenverarbeitenden Industrie), welches die verarbeitende Industrie verpflichtete, keine Rohstoffe außerhalb der Deutschen Rohstahlgemeinschaft zu kau fen, während die Stahl herstellende Industrie sich verpflichtete, die Differenzen zum Weltmarktpreis für Exportprodukte der weiterverarbeitenden Industrie rückzuvergü ten.40 Im Anschluss an die nationale Verständigung gelang nach intensiven Verhandlun gen in den Jahren 1925/26 auch auf internationaler Ebene eine Einigung, die schließ lich in die Unterzeichnung der Internationalen Rohstahlgemeinschaf {VffG) am 30. Sep-
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Jacques Bariety: Das Zustandekommen der Internationalen Rohstahlgemeinschaft (1926) als Alternative zum mißlungenen „Schwerindustriellen Projekt“ des Versailler Vertrages, in: Mommsen/Petzina/Weisbrod (Hg.), S. 552-568, hier: S. 562. Würzler, S. 166ff. Bariety, S. 562f.; Weisbrod, S. 112f.; Ulrich Nocken: Inter-Industrial Conflicts and Alliances as Exemplified by the AVI-Agreement, in: Mommsen/Petzina/Weisbrod (Hg.), S. 693-704.
Rekonstruktion, Rationalisierung, Internationalisierung
tember 1926 mündete. Beteiligt waren neben Deutschland und Frankreich auch Bel gien, Luxemburg und das Saarland, während Großbritannien nach anfänglichen Kon takten der IRG nicht beitrat. Mit der Unterzeichnung des deutsch-englischen Han delsvertrages vom Dezember 1924 war auf englischer Seite das Interesse an einerweite ren Zusammenarbeit mit Frankreich und Deutschland erloschen/1 Für die deutschen Stahlproduzenten bedeutete die Gründung der IRG und der Abschluss von internationalen Kontingentsabkommen zusammen mit dem AVIAbkommen eine wirtschaftliche Stabilisierung nach einer Zeit der Unsicherheit und Instabilität. Auch wenn diese Phase nur von begrenzter Dauer war und sich mit der beginnenden Weltwirtschaftkrise und der Aufkündigung der IRG im Jahr 1929 die Gegentendenzen zur Internationalisierung immer stärker bemerkbar machten,41 42 so zeigen sich doch hier neben einer deutlichen „Westorientierung“ der Weimarer Republik (Jacques Bariety) auch erste Bemühungen der deutschen und französischen sowie der belgisch-luxemburgischen Eisen- und Stahlindustrie, „von der Konfronta tion zur Integration“43 im europäischen Maßstab zu gelangen, die langfristig zu einer „Europäisierung des Ruhrgebiets“44, zum Schuman-Plan und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaftfür Kohle und Stahl führten.
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Würzler, Großbritanniens Interesse, S. 403. Dort auch ausführlicher zur Rolle Großbri tanniens bei den IRG-Verhandlungen. Weisbrod, S. 109. Daran konnte auch die 1933 gegründete Internationale Rohstahlex portgemeinschaft wenig ändern. Dietmar Petzina: Von der Konfrontation zur Integration. Die Schwerindustrie in den deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen 1900-1950, in: Peter Hüttenberger/ Hansgeorg Molitor (Hg.): Franzosen und Deutsche am Rhein 1789-1918-1945, Essen 1989 (Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nord rhein-Westfalens, Bd. 23), S. 161-182. John Gillingham: Die Europäisierung des Ruhrgebiets: Von Hitler zum Schuman-Plan, in: Kurt Düwell/Wolfgang Köllmann (Hg.): Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter, Bd. 3: Vom Ende der Weimarer Republik bis zum Land Nordrhein-Westfalen, Wupper tal 1984 , S. 179-189, hier: S. 179.
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Conan Fischer
Soziale Verwerfungen im Ruhrkampf durch Hunger und Evakuierung1 In dem Stellvertreterkrieg zwischen Deutschland und Frankreich, den die Ruhrbeset zung zweifelsohne darstellte, bildeten Arbeiter, Beamte und Unternehmer die vor derste Front. Doch auch und gerade die Frauen und Kinder des Ruhrgebietes waren als Zivilisten von der Besatzung und ihren Folgen betroffen - ein Umstand, der von der Forschung bis heute wenig beachtet worden ist. Während um sie herum die Schlacht tobte, wurden viele von ihnen direkte und sogar beabsichtigte Opfer des Konflikts, statt in relativer Sicherheit hinter der Front zu leben. Die Region war während des Krieges vom Hunger heimgesucht worden und blieb danach chronisch unterversorgt, doch die Invasion von 1923 drohte eine wirkliche Hungersnot auszulösen.
Nahrungsmittelversorgung und der Kampf um Souveränität
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Nicht nur die Versorgung mit Nahrung sondern auch mit Gas und Elektrizität wurde im besten Fall zeitweise möglich, da Gas- und Elektrizitätswerke geschlossen wurden. Haushaltskohle war kaum noch zu bekommen, was zu Plünderungen sämtlichen ver fügbaren Feuerholzes in Parks und Wäldern führte.1 2 Die Armut verstärkte sich. Viele Kinder und Erwachsene besaßen nicht einmal mehr eine einzige Garnitur brauchbarer Kleidung. Die Kleinkriminalität, die Plünderungen von Lebensmitteln einschloss, nahm immer größere Ausmaße an und wurde zur akzeptierten Methode, Familien mit dem Nötigsten zu versorgen.3 Überraschenderweise verbesserte die Besatzung des Ruhrgebiets die Lebensqualität dennoch in mancherlei Hinsicht. Sobald der passive Widerstand die Schwerindustrie praktisch zum Stillstand gebracht hatte, ging die Luftverschmutzung zurück, das Pflanzenwachstum erholte sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit, und die Kleinbau ern hatten plötzlich unerwartete Überschüsse, die sie auf dem Markt verkaufen konn ten.4 Viele Industriearbeiter des Ruhrgebiets fanden sich bei zwei Dritteln ihres Lohns an ihrem Arbeitsplatz ohne Beschäftigung oder bei vollem Lohn mit relativ leichten 1
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Es handelt sich bei diesem Aufsatz um eine gekürzte Fassung des 5. Kapitels meines Bu ches: The Ruhr Crisis, 1923-1924, Oxford u.a. 2003, S. 108-135. Franz-Josef Brüggemeier/Thomas Rommelspacher: Blauer Himmel über der Ruhr. Ge schichte der Umwelt im Ruhrgebiet 1840-1990, Essen 1990, S. 51. Karin Hartewig: .Anarchie auf dem Warenmarkt“: Die Lebenshaltung von Bergarbeiter familien im Ruhrgebiet zwischen Kriegswirtschaft und Inflation (1914—1923), in: Klaus Tenfelde (Hg.): Arbeiter im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1991 (Industrielle Welt, Bd. 51), S. 241-274, hier: S. 272. Brüggemeier/Rommelspacher, S. 51.
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Instandsetzungsarbeiten und Erhaltungsmaßnahmen beschäftigt. Das führte zu einer deutlichen Verbesserung ihres Gesundheitszustands.5 Größere und sogar auch zahlrei che kleinere Firmen versuchten, die chronische Nahrungsmittelknappheit auszuglei chen. Einige verkauften während der Zeit der Hyperinflation ihrer Belegschaft Kartof feln und andere Grundnahrungsmittel zum Selbstkostenpreis oder noch billiger,6 oder sie entlohnten sie nur teilweise in Bargeld und zahlten den Rest - in ausreichender Menge zur Erhaltung der Arbeitskraft - in Lebensmitteln aus.7 Viele Firmen boten ihren Angestellten zinsfreie Darlehen, um Schuhe, Stoffe und ähnliche Dinge zu kau fen. Sie ließen es auch zu, dass Kohle entwendet und nach Hause geschmuggelt wurde - vorbei an feindlichen Patrouillen, die nach den geringsten Mengen an Brennstoffen für den Eigenbedarf Ausschau hielten.8 Diese Großzügigkeit kam bei der Arbeiter schaft gut an und verstärkte den passiven Widerstand; sie war allerdings nicht überall vorhanden. Der Bergbauverband war ursprünglich gegen die Verteilung zusätzlicher Nahrungsmittel gewesen, mit der Begründung, dass keine Vorräte vorhanden seien.9 Das abnehmende Körpergewicht und die zerlumpten Kleider der Ruhrgebietskinder legten ein trauriges Zeugnis von der Unterernährung und der Unzulänglichkeit der Ein kommen im Allgemeinen ab. Sobald der passive Widerstand zusammengebrochen war und Berlin aufhörte, für die Löhne und Gehälter der Unternehmen zu bürgen, fanden sich die meisten Arbeiter des Ruhrgebiets wirklich arbeitslos und mit sehr geringer Unterstützung wieder. War die Lage vorher schon schlimm genug gewesen, so sollten die Familien im Winter 1923/24 fürchterlicher denn je unter Hunger und Kälte lei den. Als großes Industriezentrum war das Ruhrgebiet stark abhängig von Lebensmitteln aus den umliegenden Gebieten des Rheinlands und Westfalens ebenso wie von weiter entfernt liegenden Orten. Das Ruhrgebiet war (und ist) bei weitem nicht nur eine reine Stadtlandschaft. Die Städte Duisburg, Essen, Bochum und Dortmund standen zwi schen kleineren Industriestädten und einer seltsamen Mischung industrialisierter und agrarischer Siedlungen. Felder, Nebenerwerbsbetriebe und sogar Wälder überlebten in Sichtweite der größten Zechen und Fabriken, lieferten Nahrungsmittel und Brenn holz und glichen ein wenig die nachteiligen Lebensbedingungen der Schwerindustrie
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Staatsarchiv Münster (hiernach: StAM), Reg. Arnsberg 6, Nr. 512. Bericht des Ober regierungs- und Gewerberates, T.Nr. 88 R G., Arnsberg, Februar 1925, II B. Gesund heitsschädliche Einflüsse, S. 114f. StAM, Reg. Arnsberg 6, Nr. 512. Bericht des Oberregierungs- und Gewerberates, T.Nr. 88 RG., Arnsberg, Februar 1925, III. Wirtschaftliche und sittliche Zustände, S. 158f. StAM, Reg. Münster, Besatzung (hiernach: Bes.) Nr. 19. Abschrift: Interalliierte Kon trollkommission für Bergwerke und Hütten. Löhne der Bergarbeiter, 5.9.1923. StAM, Reg. Arnsberg 6, Nr. 512. Bericht des Oberregierungs- und Gewerberates, T. Nr. 88 R G., Arnsberg, Februar 1925, III. Wirtschaftliche und sittliche Zustände, S. 159-161. Ebd., S. 159f. Vgl. dagegen Bergbau-Archiv Bochum (hiernach: BBA), Bestand 55 (Gel senkirchener Bergwerks AG, Essen)/123. 8. Sitzung der Bergwerksabteilung zu Rheinel be, 2.2.1923.
Soziale Verwerfungen im Ruhrkampf durch Hunger und Evakuierung
aus. Die belgische und die französische Besatzungszone erstreckten sich über das eigentliche Ruhrgebiet hinaus ins freie Land, von wo mehr Lebensmittel zu bekom men waren. An den Zonengrenzen wurden jedoch am 25. Januar 1923 Zollposten errichtet, um Einnahmen zu erzielen und um die de facto-Souveränität über das Gebiet zu behaupten. Diese Posten waren Teil eines fast allumfassenden Zoll- und Steuersystems im Rhein-Ruhr-Gebiet, das sein Hauptquartier in Koblenz hatte und ein Netzwerk von Büros über die gesamten Territorien errichtete.1011 Nur in der briti schen Zone um Köln war die Serie der von Frankreich ausgehenden Auflagen etwas gelockert.11 Jedoch unterstützten die deutschen Autoritäten die Anstrengungen der preußischen Beamten und der Wirtschaft, die alliierte Steuererhebung auf jede erdenkliche Weise zu unterminieren. Als sich die Kampagne des passiven Widerstands verstärkte, begann ein ungleicher Willenskampf, der auf Dauer unbeabsichtigte und unangenehme Folgen hatte. Lebensmittelimporte waren von den meisten Zollformalitäten befreit, und in den letzten Januartagen erwirkte Regierungspräsident Grützner verbale und schriftliche Zusicherungen von den Besatzungsbehörden, dass die Nahrungsmittelversorgung auf keinen Fall unterbrochen würde. Am 6. Februar jedoch, als sich die Schlacht um die Frage der Souveränität intensivierte, befahl er den Hafenverwaltungen an Rhein und Ruhr, jegliche Zusammenarbeit mit den französischen und belgischen Zollbehörden zu verweigern. Da das Eisenbahnwesen im Chaos versank, war der Rhein eine wichtige Lebensader für die Nahrungsmitteltransporte ins Ruhrgebiet geworden. Grützner bestand jedoch auf der Einhaltung der nationalen Politik des passiven Widerstands, sogar wenn Lebensmittel- und Rohstofflieferungen dadurch zeitweilig unterbrochen oder sogar völlig blockiert würden.12 Der Ton seines Erlasses verriet, dass er Arger vor aussah, womit er nicht allein stand. Innerhalb weniger Tage konstatierte der Deutsche Industrie- und Handelstag die unter seinen Mitgliedern weit verbreitete Sorge, dass Lebensmittellieferungen an die Ruhr an den Zollposten konfisziert oder auf Abstell gleisen verderben würden, und versprach Entschädigungszahlungen nach den Richtli nien des Okkupationsleistungsgesetzes.13 In Übereinstimmung mit dem Reichsver band der Deutschen Industrie verbot die deutsche Regierung im März ausdrücklich jeg liche Mitwirkung bei den alliierten Zollformalitäten. Da die örtlichen Handelskam-
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Hans Spethmann: Zwölf Jahre Ruhrbergbau. Aus seiner Geschichte vom Kriegsanfang bis zum Franzosenabmarsch 1914—1925, Bd. III: Der Ruhrkampf 1923 bis 1925 in sei nen Leitlinien, Berlin 1929, S. 327-330. Ebd., S. 332f. Hauptstaatsarchiv Düsseldorf (hiernach: HStAD), Reg. Düsseldorf 16606, BI. 6. Schrei ben des Regierungspräsidenten an den Rhein-Ruhr-Hafenbetriebsverein e. V. Düsseldorf vom 6.2.1923. HStAD, RW 49/61, Bd. 1, Bl. 35. Industrie- und Handelskammer Düsseldorf. Schrei ben des Deutschen Industrie- und Handelstages (Berlin) an die Mitglieder vom 12.2.1923. Betrifft: Lieferungen nach dem besetzten Gebiet.
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mern diese Weisung fortan im Allgemeinen unterstützten, wurde somit ein harter Konfrontationskurs eingeschlagen.14 Damit ergab sich natürlich die Frage der Rechtsprechung. In dieser Atmosphäre reiner Konfrontation ließen sich die alliierten Befehlshaber alle Arten von Schikanen einfallen und errichteten bei den umständlichen Verhandlungen um die Freigabe von Lebensmittellieferungen immer wieder unüberwindliche Hürden. Manchmal wurden deutsche Beschwerdeführer von Pontius zu Pilatus geschickt, während in anderen Fäl len ein örtlicher Garnisonskommandant spezielle Zugeständnisse verlangte. So wurde dem Bürgermeister von Osterfeld mitgeteilt, dass für Duisburg bestimmte Nahrungs mittel den Bahnhof Osterfeld-Süd nur verlassen dürften, falls die örtlichen Händler den Verkauf an die französischen Truppen wieder aufnähmen, die den Bahnhof besetzt hielten. Er sah sich außer Stande dies zu garantieren.15 Während sich deutsche Beschwerdebriefe auf den Schreibtischen der französischen und belgischen Offiziere immer höher stapelten, antworteten diese - falls überhaupt - nur nach tage- oder sogar wochenlangem Hinhalten, wonach sie dann offensichtlich die Ladungen verfaulender Lebensmittel möglichst schnell loswerden wollten.16 Zu Beginn des Frühjahrs warnte Grützner General Denvignes, den Chef der Zivil administration, dass jede weitere Unterbrechung der Nahrungsmitteltransporte Unru hen größeren Ausmaßes in der Zivilbevölkerung auslösen könnte und forderte, alle Zoll- und Transitformalitäten umgehend einzustellen.17 Zu diesem Zeitpunkt hatte sich bereits ein erbitterter Machtkampf über den Getreideimport ins Ruhrgebiet ent wickelt. Am 23. Februar verhinderten französische Truppen im Duisburger Hafen die Löschung von Weizen aus Lastkähnen, woraufhin Grützner wiederholt wegen der Gefahr einer unmittelbar bevorstehenden Nahrungsmittelknappheit protestierte und vor akut drohenden Unruhen in Duisburg warnte.18 Denvignes Antwort war vorher sehbar, wenn auch etwas unaufrichtig: während er auf die Lebensmittellieferungen
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Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik, hrsg. von Karl Dietrich Erdmann u.a., Bd. 6: Das Kabinett Cuno, 22. November bis 12. August 1923), Berlin 1968, Nr. 111, Kabinettssitzung vom 29.3.1923, S. 349f.; HStAD, Reg. Düsseldorf 16606, Bl. 34f. Schreiben der Van den Bergh’s Marine-Gesellschaft (Cleve) an das Landratsamt Cleve, 12.3.1923; Reg. Düsseldorf 16899, Bl. 7. Abschrift. Schreiben der Handelskammer für die Kreise Essen, Mülheim-Ruhr und Oberhausen zu Essen an das Reichswirtschaftsmi nisterium vom 18.4.1923. HStAD, Reg. Düsseldorf 16342, Bl. 28. Schreiben des Duisburger Oberbürgermeisters vom 13.2.1923. Betrifft: Lebensmittelversorgung; vgl. auch ebd., Bl. 29. Antwortschrei ben des Regierungspräsidenten vom 23.2.1923. HStAD, Reg. Düsseldorf 16596, Bl. 23. Region de Düsseldorf. Contrôle de l’Administration Allemande, Düsseldorf, 26.4.1923 (Antwort auf das Schreiben des Re gierungspräsidenten vom 11.3.1923, in: ebd., Bl. 21f.) Ebd.; vgl. auch ebd., Bl. 25. Schreiben des Regierungspräsidenten an die Zollverwaltung der französisch-belgischen Behörde vom 13.3.1923. HStAD, Reg. Düsseldorf 16342, Bl. 31. Schreiben des Regierungspräsidenten vom 23.2.1923; ebd., Bl. 35. Schreiben des Regierungspräsidenten vom 28.2.1923.
Soziale Verwerfungen im Ruhrkampf durch Hunger und Evakuierung
weder Zoll erheben noch sie unterbrechen wollte, verlangte er jedoch, dass Getreide transporte von einer formalen Zollerklärung begleitet würden, dass SchifFsmanifeste also die für die Verzollung benötigte Aufstellung der geladenen Waren - vorhanden und Stichproben erlaubt seien, um den Schmuggel verbotener Waren zu verhindern. Solche Formalitäten, bemerkte er, seien auch für den deutschen Zoll ausgeführt wor den, dem beglaubigte Zollerklärungen vorgelegt worden seien.19 Aus Sicht der preußi schen Verantwortlichen bedeutete diese Praxis nichts anderes als den Beginn einer offe nen Jagdsaison für französische Zollbeamte auf deutschem Gebiet. Einige Tage später beklagte sich die Handelskammer Duisburg-Wesel, dass französische Beamte vor dem Löschen von Getreide die Zahlung einer „Schätzungsgebühr“ verlangten, und da die Lebensmittelknappheit bereits akut war, fühlte Grützner sich jetzt zum Nachgeben gezwungen. Manifeste wurden den französischen Autoritäten unter der Bedingung vorgelegt, dass die Schätzungsgebühr abgeschafift würde.20 Denvignes antwortete, dass es allein um die Einhaltung alliierter Zollformalitäten ginge, eine Behauptung, die auch von dem belgischen Militärkommandanten in Duisburg wiederholt wurde.21 Ein ähnlicher Streit flammte im Mai auf, als Importeure von niederländischem und ameri kanischem Schmalz, das für die Arbeiterschaft des Ruhrgebiets ein Grundnahrungs mittel darstellte, Rechnungen für „Schätzungen und Gesundheitskontrollen“ erhiel ten. In Übereinstimmung mit den offiziellen deutschen Grundsätzen verweigerten die betroffenen Gesellschaften die Zahlungen, aber wieder bestand Denvignes darauf, dass solche Gebühren üblich seien. Die Importeure sahen sich mit der Alternative konfron tiert, ihre Ladungen ranzig werden zu lassen oder den französischen Forderungen nachzukommen.22 Die französischen Behörden waren auch dazu übergegangen, Lebensmitteltransportfahrzeuge innerhalb der Besatzungszonen festzuhalten, wo eigentlich keine Zollformalitäten bestanden. Offensichtlich beabsichtigte Denvignes, den Widerstand auf jede erdenkliche Weise zu unterminieren und sicherzustellen, dass der deutsche Trotz große menschliche Opfer kosten würde. Grützner musste indes ver geblich auf eine definitive Aussage darüber warten, wo die Zollgrenzen lagen und wel che Waren unverzollt passieren durften.23
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Ebd., Bl. 40f. Ebd., BI. 42. Schreiben der Niederrheinischen Handelskammer Duisburg-Wesel vom 8.3.1923. Betrifft: Löschung von Getreideschiffen; ebd., Bl. 45. Schreiben des Regie rungspräsidenten vom 8.3.1923. Ebd., Bl. 44. Regierungsbezirk Düsseldorf. Kontrolle der deutschen Verwaltung, Nr. 1722 vom 18.3.1923; HStAD, Reg. Düsseldorf 16598, Bl. 79. Besatzungsabschnitt Duisburg-Ruhrort, Generalstab 2, Büro Nr. 4793/2400, Hauptquartier, 25.4.1923. Ebd., Bl. 61 f. Schreiben der Firma Tietgens & Robertson (Hamburg) an den Regierungs präsidenten vom 14.5.1923; ebd., Bl. 65. Regierungsbezirk Düsseldorf. Aufsicht der deutschen Verwaltung, 23.5.1923; siehe auch: ebd., Bl. 68, Regierungsbezirk Düssel dorf. Überwachung der deutschen Verwaltung, Nr. 3018, 16.5.1923. Ebd., Bl. 30. Schreiben des Regierungspräsidenten vom 16.3.1923.
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Solche Ereignisse waren typisch für die verlorene Schlacht, die deutsche Behörden und Transportgesellschaften gegen die Besatzer kämpften. Die Alliierten brauchten als letztes Mittel immer bloß Gewalt anzuwenden und begannen im Juni, Straßen- und Schmalspurbahnen im gesamten Rheinland und an der Ruhr stillzulegen, mit der Begründung, dass die Behinderungen durch die Deutschen der eigentliche Grund des Problems seien. Den deutschen Pendlern blieb kaum etwas anderes übrig, als die unter französischer Verwaltung stehende Eisenbahn („Regie“) zu benutzen.24 Am 20. Juni wurden zusätzliche Steuern aufWaren erhoben, die ins Ruhrgebiet importiert wurden, und sogar davon ausgenommene Produkte wie Nahrung und Kohle mussten auf den Regielinien transportiert werden oder wurden konfisziert.25 Die Beschränkung der Bewegungsfreiheit der Menschen innerhalb des Ruhrgebiets und an den Grenzen war sogar noch einschneidender. Im April hatte die Rheinland kommission entschieden, allen Personen, die keinen von den Alliierten ausgestellten Passierschein besaßen, jegliche Entfernung von ihrem Wohnort zu untersagen, und von da an setzten vor allem die französischen Behörden extrem scharfe Passierschein bestimmungen durch.26 Am 30. Juni wurde durch einen besonders blutigen und effek tiven Sabotageakt ein belgischer Truppentransport in die Luft gesprengt, während er die Hochfeldbrücke bei Duisburg passierte. Es gab neun Tote und viele Verletzte, und das Ereignis lieferte Frankreich und Belgien den nötigen Vorwand, den letzten Rest des wirtschaftlichen Lebens im Ruhrgebiet auszulöschen.27 Am 2. Juli, als Soldaten die Bahnhöfe von Westhofen und Schwerte im bis dahin freien Gebiet besetzten, verbaten die Alliierten vierzehn Tage lang sämtliche Fahrzeugbewegungen und untersagten den Personenverkehr zwischen dem Ruhrgebiet und dem unbesetzten Deutschland mit Ausnahme der Kinder-Landverschickung und einiger Lebensmittelgroßhändler. Die lokale Presse suchte die Schuld für die Lebensmittelkrise teilweise bei den unzurei chenden Gehältern und dem Versäumnis der deutschen Behörden, die Großhändler mit harter Währung zu versorgen, verurteilte aber vor allem die französisch-belgische Blockade aufs schärfste. Die Läden waren jeden Tag nur kurz, wenn überhaupt, geöff net, und die Frauen standen um das Notwendigste zum Leben stundenlang an. Die Szenen erinnerten an die schlimmsten Kriegsmonate. Im April, als es immer wieder zu Tumulten um Lebensmittel kam, hatte das Ministerium für Ernährung und Landwirt-
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StAM, Reg. Münster, Bes. Nr. 65. Lagebericht Nr. 90 der Generalbetriebsleitung West der Deutschen Reichsbahn (Elberfeld) vom 29.6.1923; vgl. StAM, Zentrale Nord, Nachrichtenstelle (hiernach: ZN) Nr. 54, Bl. 27. Aufruf vom 6.7.1923: Arbeiter des Ruhrgebietes. Spethmann, Bd. III, S. 139. BBA, Bestand 32 (Hibernia Bergewerksgesellschaft, Herne)/4364. Gelsenkirchener All gemeine Zeitung, 30.4.1923, Passzwang für den Verkehr zwischen dem besetzten und dem unbesetzten Gebiet; BBA 32/4365- Herner Zeitung, 1.6.1923, Über das Passvisum; ebd. Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung, 22.6.1923, Verschärfte Passkontrolle. Michael Ruck: Die Freien Gewerkschaften im Ruhrkampf 1923, Frankfurt a. Μ. 1986 (Schriftenreihe der Otto Brenner Stiftung, Bd. 39), S. 406.
Soziale Verwerfungen im Ruhrkampf durch Hunger und Evakuierung
schäft den Produzenten Kreditgarantien angeboten, um die Versorgung des Ruhrge biets mit Kartoffeln zu sichern, aber sogar dieses einfachste aller Grundnahrungsmittel wurde bald immer rarer und unerschwinglich teuer. Kartoffeln, die am 20. Juli 3.000 Mark das Pfund kosteten, erzielten am 24. Juli 6.000 Mark und sollten Gerüchten zufolge am 25. voraussichtlich 10.000 Mark kosten.28Auch nach Ablauf der vierzehn Tage verhängten die Alliierten solche verheerenden Sanktionen von Zeit zu Zeit erneut. In jedem Fall blieben die Eisenbahnen nicht mehr aktionsfähig, und Lebens mitteltransportfahrzeuge waren ständig in Gefahr, konfisziert zu werden.29 Die Vertei lung von Lebensmitteln wurde gleichermaßen durch die Auflösung der deutschen Währung behindert, und auch hier vergrößerten die französischen Behörden das Chaos, indem sie die Filialen der Reichsbank in Bochum, Dortmund, Essen und Gel senkirchen schlossen, über die die Großhändler ihre Geschäfte abgewickelt hatten.30 Anfang August 1923 warnten die Behörden in Bochum Berlin, dass die Nahrungs mittelversorgung an der Ruhr fast völlig zusammengebrochen war,31 und die Berg werksgesellschaften vermerkten die ruinösen Auswirkungen der Lebensmittelengpässe in Kombination mit den niedrigen Löhnen auf die Disziplin und Arbeitsmoral.32 Die Situation wurde im Laufe des August immer bedrohlicher, und Berichte von verbreite ten politischen Unruhen mit kommunistischem Hintergrund verrieten die zuneh mende Schwäche der Kampagne des passiven Widerstands. Margarine und Speiseöl vorräte verschwanden vom Markt, nachdem ausländische und einheimische Lieferan ten aufhörten, Reichsmark zu akzeptieren, während deutsche Groß- und Einzelhänd ler keine Möglichkeiten sahen, an die notwendigen ausländischen Währungen zu kommen. Am 11. August befanden sich die Gemüsevorräte am Essener Großmarkt auf einem Fünftel des Vorjahresstandes, und die Kartoffelvorräte reichten - trotz der schwindelerregenden Preise, die für ausländische Lieferungen erzielt werden konnten - nur noch für acht Tage. Klägliche Milchvorräte, von denen ein Viertel bereits sauer waren, erreichten Essen durch die alliierte Blockade, und nur 1.649 Tiere wurden am 6. August 1923 auf dem Essener Viehmarkt angeboten, verglichen mit 6.438 Stück Vieh am 20. Juli 1914 und 3.507 am 17. Juli 1922. Andernorts war es nicht besser: in
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BBA 32/4365. Kölnische Zeitung, 25-7.1923, Erschreckende Wirkungen der Verkehrs sperre. Die Lebensmittelversorgung hört auf; zu den Kartoffel-Krediten im April 1923 vgl. HStAD, RW49/68 (1). Schreiben des Reichsminister für Ernährung und Landwirt schaft, 9.4.1923; ein Beispiel für die Lebensmittelunruhen (hier: in Castrop): StAM, ZN Nr. 16. Betrifft: Innenpolitik, Bericht Nr. 8 vom 23.4.1923, S. 4. StAM, ZN Nr. 16. Wirtschaftlicher und innenpolitischer Bericht Nr. 20, vom 27.7.1923: Ernährungslage im besetzten Gebiet; vgl. auch Ruck, S. 230f. BBA 32/4365. Kölnische Zeitung, 6.8.1923, Englische Kohlen im Ruhrgebiet. Ebd. BBA 55/411. Betriebsabteilung B II. Zollern und Germania. Wochenbericht über die Zeit vom 10. bis einschließlich 16. August, Somborn, 16.8.1923.; vgl. BBA 55/411. Be trifft: Stimmungsbericht für ver. Hamburg und Franziska. Mitteilung an die Direktion. Schächte Franziska I/II, Witten, 12.9.1923.
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Dortmund war der Grad der Unterernährung so weit fortgeschritten, dass sich unter älteren Leuten und Kindern Krankheiten ausbreiteten, und in Bottrop waren Fette und Kartoffeln überhaupt nicht mehr erhältlich. Die Behörden warnten sehr kurz angebunden, dass vermehrte zivile Unruhen unausweichlich seien, wenn die Lebens mittelvorräte nicht schnell wieder aufgefüllt würden.33 Während die Arbeiter an der Ruhr die Kampagne des passiven Widerstands mit gemischten Gefühlen betrachten konnten, waren ihre Frauen und Kinder echte Verlie rer, da sich die Frauen mit der immer zeitraubenderen Aufgabe konfrontiert sahen, genug Essen und Kleidung zum Überleben heranzuschaffen.3'' Die französischen Besatzungsbehörden nutzten dieses Elend aus, indem sie die moralische Grundlage des passiven Widerstands innerhalb der Familien angriffen. Wenn Deutschland das Ruhr gebiet nicht ernähren konnte, so konnte Frankreich es tun, und innerhalb weniger Tage nach der Invasion errichtete das Militär ein Netzwerk improvisierter Läden und Suppenküchen in der gesamten Region. Im April gab es beispielsweise Lebensmittel märkte in Bochum und Herne, die ihre Waren mit einem Nachlass von 25 Prozent ver kauften und großen Zulauf hatten, sowie eine gut besuchte „Volkskantine“ in Steele.35 Dies scheinen entweder örtliche Initiativen gewesen zu sein, wo der Wechsel eines Gar nisonskommandanten die Schließung eines Lebensmittelmarkts zur Folge haben konnte,36 oder sie waren als Bestechung für die Bergarbeiter und ihre Familien gedacht, wenn sie den passiven Widerstand zu brechen bereit waren. Für die deutschen Behörden war es sehr schwierig, diese Situation zu kontrollieren. Lehrer wiesen Kinder zurecht, die Mahlzeiten von französischen Suppenküchen annahmen, und man verständigte sich darauf, jede Teilnahme an französischen Mas senverpflegungen zu verweigern, der französischen Armee möglichst keine geeigneten Einrichtungen zur Verfügung zu stellen und gegebenenfalls mit dem gleichzuziehen, was die Besatzungsmächte anzubieten hatten.37
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HStAD, Reg. Düsseldorf 16345, Bl. 1-12. Schreiben Dr. Hokhöfer (Bielefeld) an den Regierungspräsidenten (z. Zt. in Barmen) vom 15.8.1923. Bericht über die Lage im Ein bruchsgebiet vom 11.8.1923; für Bottrop: StAM, Reg. Münster, Bes. Nr. 19. Tagesbe richt vom 13.8.1923 und Bericht Nr. 4, 14.8.1923. Zum gender-spezifischen Charakter von Schlangen vor Lebensmittelgeschäften vgl. Bernd Widdig: Culture and Inflation in Weimar Germany, Berkeley/Los Angeles 2001, S. 197-199. StAM, Reg. Münster, Bes. Nr. 65. Schreiben der Generalbetriebsleitung West, Betriebs lage Nr. 27, der Deutschen Reichsbahn (Elberfeld) vom 5.4.1923; StAM, ZN Nr. 16. Betrifft: Innenpolitik, Bericht Nr. 8, 23.4.1923. Vgl. HStAD, Reg. Düsseldorf 16599, Bl. 8. Schreiben des Landrates des Landkreises Es sen vom 25-5-1923. Betrifft: Verkauf von Marketenderwaren an die Zivilbevölkerung seitens der Besatzung. Ebd., Bl. 1. Schreiben des Landrates des Kreises Hattingen vom 22.1.1923. Betrifft: Maßnahmen der Besatzungstruppen; StAM, Reg. Münster, Bes. Nr. 30. „In der Ressort besprechung in der Reichskanzlei...“, Berlin. 9.2.1923; HStAD, Reg. Düsseldorf 16592, Bl. 4. Abschrift. Essener Steinkohlebergwerke AG, Essen, 13.2.1923.
Soziale Verwerfungen im Ruhrkampf durch Hunger und Evakuierung
Alles in allem setzten sich die Alliierten im Kampf um die Lebensmittelversorgung durch. Versuche der deutschen Behörden, den Zollformalitäten etwas entgegenzuset zen, schlugen fehl und trugen stark zu den ernsthaften Nahrungsmittelengpässen im Ruhrgebiet bei. Das Kabinett beschloss gegen Ende März, dass man die Verordnungen zum passiven Widerstand zwar weiterhin im Prinzip aufrechterhalten wollte, lokale Übereinkünfte aber, die ihnen zuwider liefen, wohl oder übel stillschweigend ignoriert und somit toleriert werden müssten.38 Französische Bemühungen, Lebensmittel für die hungrige Bevölkerung bereitzustellen, brachten die deutschen Behörden zusätzlich in Verlegenheit, da die immer verzweifelter reagierenden Hausfrauen sich ungern eine Chance entgehen ließen, Vorräte zu vernünftigen Preisen zu erlangen. Jedoch konnten die von den Besatzern angebotenen Lebensmittelmengen bei weitem nicht den Man gel ausgleichen, der durch den passiven Widerstand erzeugt wurde, und alliierte Gegenmaßnahmen und sogar die Annahme des wenigen bei den Franzosen verfügba ren Essens schienen die anderen Dimensionen der Kampagne des passiven Wider stands nicht zu unterlaufen. Schließlich wurden die Beschäftigten weiterhin dafür bezahlt, dass sie weniger arbeiteten, und unter diesen Umständen sah sich Poincarés Regierung auf einen brutalen Zermürbungskrieg festgelegt, der erst enden sollte, als die deutsche politische Ordnung insgesamt vor dem Zusammenbruch stand.
2.
Die Evakuierung der Kinder aus dem Ruhrgebiet
Inzwischen begannen viele Kinder im Ruhrgebiet zu hungern. Schon vor der Besat zung hatten Armut und Unterernährung als Folge der Hungersnot der Kriegszeit und den Nahrungsengpässen der Nachkriegszeit die Region heimgesucht. Obwohl ein Regierungsbericht vom Januar 1923 eher die Auswirkungen der Inflation als den Man gel an Lebensmittelvorräten als eine unmittelbare Gefahr ansah,39 hatte die Ernte menge des Brotgetreides in Deutschland weniger als 50 Prozent der entsprechenden Menge von 1913 (um die deutschen Gebietsverluste in Folge des Krieges bereinigt) betragen, und sogar die Kartoffelernte von 1922 war um 39 Prozent geringer als die von 1913. Die Einfuhr ausländischer Nahrungsmittel war 1922 ebenfalls bedeutend geringer als 1913, wobei die Menge des ins Land kommenden Brotgetreides nur zwei Drittel so groß war. Während 16 Millionen Tonnen Brotgetreide im Jahr 1913 ver braucht worden waren, wurden 1922 nur 9,3 Millionen Tonnen konsumiert. Die Fleischversorgung war zusammengebrochen, und Deutschlands unterernährte Milch kühe produzierten 43 Prozent weniger Milch als 1913.40 Im Sommer 1922 erhielt eine
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Akten der Reichskanzlei, Bd. 6, Nr. 111. Kabinettssitzung vom 29.3.1923, S. 350; ebd., Nr. 112, Kabinettssitzung vom 29.3.1923, S. 352—356. Ebd., Nr. 48, Aufzeichnungen Staatssekretär Hamms über notwendige Maßnahmen der nächsten Zeit, 17.1.1923, S. 162 (Ernährungsfrage). E. Jüngst: Zur Abwehr, in: Glückauf. Berg- und Hüttenmännische Zeitschrift, 59 (1923), H. 9, S. 220f.
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typische, aus zwei Erwachsenen und zwei Kindern bestehende Bergmannsfamilie täg lich Nahrungsmittel im Wert von 10.863 Kalorien/1 aber der Kumpel allein benötigte mindestens 5.000 Kalorien zur Bewältigung seiner Schicht.41 42 Die Situation spitzte sich nach dem Ausbruch des Ruhrkampfes zu. Das Kabinett war sich zu einem sehr frühen Zeitpunkt einig, dass der Zustand am Rande einer Hun gersnot strenge Maßnahmen gegen den Konsum von Nahrungsmitteln in der Öffent lichkeit erforderte, und beschränkte drastisch die Auswahl an Gerichten und die Art der Speisen, die Restaurants anbieten durften.43 Dies war jedoch vor allem eine kosme tische Maßnahme und konnte das grundsätzliche Problem bei weitem nicht beseiti gen. Eine verringerte Entwicklung der Lungen, vermehrte Fälle von Hautkrankheiten und Tuberkulose (die durch die rapide Verschlechterung der Lebensbedingungen jetzt wieder für viele Todesfälle verantwortlich war) wurden durch einen Mangel an Kran kenhausbetten verschlimmert. Viele Kinder mussten ohne saubere Kleidung auskom men und Fahrradfahrten von bis zu 30 Kilometern zu den letzten geöffneten Schulen zurücklegen.44 Die Behörden reagierten auf diese Krise mit der Evakuierung hunderttausender Kinder im Frühjahr und Sommer 1923. Hunger leidende Stadtkinder waren 1917 und 1918 auf Bauernhöfen und in anderen ländlichen Familien untergebracht worden. Nach dem Krieg hatte man das Programm in geringerem Umfang mit finanzieller Unterstützung des Amerikanischen Roten Kreuzes fortgeführt, und jetzt lieferte es ein Regelwerk für die Rahmenbedingungen und wertvolle Präzedenzfälle für die Evakuie rung von 1923.45 Im Februar begann das Deutsche Rote Kreuz die Hilfsmaßnahmen für alle Flüchtlinge zu koordinieren,4647 aber das Kinderprogramm selbst wurde von einer Reihe von staatlichen Agenturen durchgeführt, u.a. vom Verein Landaufenthalt für Stadtkinder und der Zentralstelle für Kinderhilfe im Ruhr- und Rheingebiet.^
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Hartwig, S. 268—270. Bei einer zurückhaltenden Annahme eines Verbrauches von 10-12 Kalorien pro Minute. Akten der Reichskanzlei, Bd. 6, Nr. 46, Der Reichskanzlers an die Landesregierungen, 16.1.1923. Betrifft: Maßnahmen gegen Schlemmerei und Alkoholmissbrauch, S. 155 (Ernährungslage). HStAD, Reg. Düsseldorf 16585, Bl. 2—4. Abschrift. Schreiben des Regierungspräsiden ten vom 7.7.1923. Betrifft: Verschlechterung des Gesundheitszustandes. StAM, Provinzialstelle für Landaufenthalt (hiernach: PfL) Nr. 3. Rundschreiben des preußischen Ministers für Volkswohlfahrt vom 18.1.1923. Betrifft: Aufnahme von Kin dern der städtischen und Industriebevölkerung in ländlichen Familien; Richtlinien für die Unterbringung von Kindern der städtischen und I ndustriebevölkerung auf dem Lan de (Henceforth Volkswohlfahrt/Richtlinien). HStAD, RW49/60, Bd. II, Bl. 151. Zentralfürsorge des Deutschen Roten Kreuzes (Düs seldorf), Rundschreiben Nr. 213 vom 26.2.1923. StAM, PfL Nr. 3. Rundschreiben des Preußischen Ministers für Volkswohlfahrt vom 18.1.1923. Betrifft: Aufnahme von Kindern der städtischen und Industriebevölkerung in ländlichen Familien; ebd., Schreiben der Zentralstelle für Kinderhilfe im Ruhr- und Rheingebiet (Berlin), Abt. Aufnahme, vom 31.3.1923.
Soziale Verwerfungen im Ruhrkampf durch Hunger und Evakuierung
Eine spezielle Zentrabtellefiir Kinderhilfe im besetzten Gebietvmrde im Februar ein gerichtet, welche die Hilfsmaßnahmen im gesamten Ruhrgebiet koordinieren sollte. Unter anderem arbeitete sie mit den örtlichen Behörden zusammen, um die Evakuie rung kranker Kinder in geeignete Heime andernorts in Deutschland zu organisieren, und ermutigte private Initiativen unter der Bedingung, dass die Behörden benachrich tigt wurden/8 Diese Heimplätze wurden von der Abteilung II der Provinziabtellefiir Landaufenthalt zur Verfügung gestellt. Diese berichtete im Juni, dass von ungefähr 46.500 chronisch kranken Kindern 10.473 bereits in Herbergen oder Kinderheimen untergebracht worden waren. Die Verhandlungen zwischen den Behörden und fünf undzwanzig weiteren Heimen waren noch nicht abgeschlossen.48 49 Die Provinziabtelle fiir Landaufenthalt mit Sitz in Münster50 agierte als Hauptakteur des Programms, indem sie Durchführungsrichtlinien entwarf, die genauen Einzelheiten der Evakuie rung überwachte und vor Ort das Reichsbüro in Berlin vertrat.51 Ein großer Teil der Anschubfmanzierung für die Evakuierungen kam von dem Hilfiprogrammfiir Rhein und Ruhr, das in Ermangelung zusätzlicher nationaler Steuern private Spenden aus dem unbesetzten Deutschland in die umkämpften westlichen Provinzen leitete. Innerhalb der besetzten Gebiete war die Ausbeute gering, da die Alli ierten Sammlungen für die Ruhrhilfe generell verboten und drohten, sämtliche Erträge zu konfiszieren. Sie behaupteten, dass diese dem passiven Widerstand Auftrieb geben könnten.52 Nichtsdestoweniger ergoss sich eine wahre Flut von Spenden aus anderen Gebieten in die Reichsbank und private Bankfilialen, und in Essen wurde eine Agentur gegründet, die die Bemühungen der örtlichen Behörden, Gewerkschaften und des Landbundes innerhalb des Ruhrgebiets koordinieren sollte. Unter anderem kaufte die Agentur Lebensmittel, besonders Fette, um Flüchtlingen aus den besetzten Gebieten beizustehen, und machte im Februar Pläne, gespendete Kleidung zu vertei len.53 Die Zentralstelle schätzte am 31. März, dass rund 200.000 Kinder evakuiert werden müssten und organisierte eine Reihe von Regionalkonferenzen zur Koordina tion der Transport- und Unterbringungspläne.54 Diese gewaltige Aufgabe wurde durch anfängliche Schwierigkeiten in der Öffentlichkeitsarbeit noch kompliziert. Das Evakuierungsprogramm war 1922 ins Stocken geraten, weil auf dem Land die Mei-
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Ebd., Betrifft: Verschickung von Kindern aus dem Einbruchsgebiet, Hagen/Westf., 28.2.1923. Ebd. Provinzialstelle für Landaufenthalt von Stadtkindern (Münster), Abteilung II, Heimunterbringung, Tagebuch Nr. 1007, Münster, 9.6.1923, Bl. lf. Ebd. Schreiben der Provinzialstelle für Landaufenthalt von Stadtkindern (Münster) vom 27.1.1923. Ebd. Merkblatt für die Entsendung von Landkindern (ohne Datum). HStAD, Reg. Düsseldorf 16162, Bl. 25. Befehl Simon Nr. 979/2 vom 12.3.1923; ebd., Bl. 5. Abschrift: Haute Commission Interalliée, Zone Beige, Neuss, 14.3.1923. StAM, Reg. Münster, Bes. Nr. 9, Sitzung des Ausschusses vom 6.2.1923. StAM, PfL Nr. 3. Schreiben der Zentralstelle für Kinderhilfe im Ruhr- und Rheingebiet (Berlin), Abt. Aufnahme, vom 31.3.1923.
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nung vorherrschte, dass die schlimmste Hungersnot vorüber sei,55 aber mit der Ruhr krise veränderte sich die Stimmung dramatisch, und schließlich boten die deutschen Bauern mehr Plätze an, als eigentlich gebraucht wurden. Die Wohlfahrts- und Jugend ämter in den jeweiligen besetzten Kreisen waren verantwortlich für die Auswahl und Verschickung einer bestimmten Anzahl von Kindern ins nicht-besetzte Deutschland. Wohlfahrtsverbände, Kirchen, Gewerkschaften, politische Parteien und Privatleute wurden ebenfalls aufgefordert, für Plätze zu werben, dann aber die lokalen Behörden zu informieren, anstatt selbst Kinder zu evakuieren.56 Die meisten der ausgewählten Kinder wurden also von ihrem örtlichen Amt auf Listen gesetzt und mit einem Reisepassierschein ausgestattet, dem von der Provinzial stelle oder der entsprechenden staatlichen Behörde Rechtskraft verliehen wurde. Dadurch waren die Kinder automatisch Unfall- und die Pflegeeltern haftpflichtversi chert, wenn auch von den Eltern ein kleiner Beitrag zur Versicherungsprämie erwartet wurde.57 Die Ortslisten wurden zu Kreislisten zusammengefasst, wobei die Stadt- und Landkreise die Gesamtverantwortung für die Durchführung des Projekts trugen.58 Die Eltern wurden gebeten, jedem Kind eine Grundausstattung an Kleidungsstü cken mitzugeben, und es wurde angeregt, dass wohlhabendere Familien einen Beitrag zur Einkleidung der ärmeren Kinder leisten sollten. Außerdem sollten die Kinder drei freigemachte Postkarten mit der Adresse ihrer Eltern, eine Bescheinigung der Abmel dung von Rationskarten, ihre Schulbücher und -hefte und das letzte Schulzeugnis mit nehmen, obwohl evakuierte Sekundarschüler bis zu drei Monate zusätzliche Ferien hat ten. Man erwartete auch von ihnen, dass sie sich auf der Reise, die einen ganzen Tag oder länger dauern konnte, selbst verpflegten,59 aber die örtlichen Behörden merkten schnell, dass die gesamte Aktion durch die sich rapide verschlechternden Lebensbedingungen gefährdet war. Manche Familien im Ruhrgebiet konnten ihre Kinder nicht einmal mit der einfachsten nötigen Kleidung ausstatten, und die von wohlhabenderen Familien gespendete Kleidung glich einem Tropfen auf den heißen Stein. Das Wohlfahrtsamt in Recklinghausen fürchtete, dass 90 Prozent seiner für die Evakuierung vorgesehenen 800 bis 1.000 Kinder wegen des generellen Mangels an Bekleidung ausgeschlossen zu werden drohten, und bat die Provinzialstelle dringend um Unterstützung.60 Die Stahlstadt Hattingen führte detaillierte Sozial- und Finanzakten ihres Evakuie rungsprogramms. Die ersten Kinder wurden im März verschickt,61 und bis zum 18. Mai
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Ebd. Volkswohlfahrt/Richtlinien: II. Aufklärung der Landbevölkerung. Ebd. Merkblatt für die Entsendung von Kindern zum Landaufenthalt (ohne Datum). Ebd. Ebd. Volkswohlfahrt/Richtlinien: V. Orts- und Kreislisten der Abgabegebiete. Ebd. Merkblatt für die Entsendung von Kindern zum Landaufenthalt (ohne Datum): „Was hat das Kind mitzubringen?“. StAM, PfL Nr. 24. Schreiben des Städtischen Wohlfahrtsamtes Recklinghausen, Allge meines Fürsorgeamt, vom 20.2.1923. Ebd. Schreiben des Magistrates der Stadt Hattingen (Ruhr) vom 17.3.1923. Betrifft: Schreiben vom 15.2.1923.
Soziale Verwerfungen im Ruhrkampf durch Hunger und Evakuierung
hatten die Beamten 2.821 Minderjährige in privaten Haushalten untergebracht - davon viele im Kreis Wolfenbüttel - zu Gesamtkosten von 9,45 Millionen Mark und weitere 227 für 592.000 Mark in Kinderheimen. Ungefähr 15 Prozent dieser Kinder hatten Unterwäsche, zwei Hemden und ein Paar Hosen erhalten, fünf Prozent hatten Socken und 2,3 Prozent Schuhe gebraucht. Für die Zukunft schätzte man, dass zehn Prozent der Kinder Unterwäsche benötigen würden, acht Prozent Socken und fünf Prozent Schuhe, was zirka 21 Millionen Mark kosten würde. Man rechnete mit Transportkosten von rund 10 Millionen Mark, wovon die Regierung nur die Hälfte bereitgestellt hatte.62 Berichte aus anderen Klein- und Großstädten zeigten im Frühjahr 1923 einen erschreckenden Anstieg der Zahl potenziell zu Evakuierender. Anfang Februar gelang ten keine Lebensmittellieferungen von außerhalb des Ruhrgebiets mehr nach Gelsen kirchen, und da die Milchversorgung praktisch versiegt war, verschlechterte sich die Gesundheit der kleinen Kinder rapide.63 Die Beamten fanden schnell Plätze in Her bergen für 300 Kinder aus kinderreichen Familien, mussten jedoch weitere 4.000 eva kuieren, von denen vielen die nötige Kleidung fehlte.6465 Im umliegenden Kreis kamen am 7. Februar 300 bis 400 Kinder für die Landverschickung in Frage, aber am 12. März bereits die unglaubliche Anzahl von 8.500. Wieder zeigte es sich, dass den meisten angemessene Kleidungsstücke fehlten.63 Am 10. Februar waren 750 Kinder in Herne zur Evakuierung vorgesehen — am Ende des Monats war die Liste auf 5.000 angewachsen.66 Bochum plante Anfang Februar 2.000 Kinder zu evakuieren, doch als am 6. März bereits 1.500 aufs Land abgereist waren, hatten bereits weitere 12.000 bis 15.000 ihre Plätze eingenommen.67 Im umliegenden Landkreis, der in Wirklichkeit durch seine Kohlengruben und metallverarbeitende Industrie geprägt war, wuchs die Warteliste vom 14. Februar bis zum 13. März von 1.500 auf6.500 Kinder an, und das Wohlfahrtsamt erwartete sogar noch ein weiteres Ansteigen der Zahlen.68 Beamte in 62
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Ebd. Kreiswohlfahrtsamt Hattingen, Tgb. II, 18.5.1923; siehe auch: StAM, PfL Nr. 19, Denkschrift der Provinzialstelle für Landaufenthalt von Stadtkindern (Münster), Abtei lung I, vom 16.4.1923. Ebd. Schreiben des Gelsenkirchener Oberbürgermeisters vom 7.2.1923. Betrifft: Unter bringung von Kindern des besetzten Gebietes. Ebd. Schreiben des Gelsenkirchener Oberbürgermeisters vom 2.3.1923. Ebd. Schreiben des Kreis-Ausschusses des Kreises Gelsenkirchen (Land) vom 7.2.1923. Betrifft: Unterbringung von Kindern auf dem Lande; ebd. Schreiben des Landrates Gel senkirchen vom 12.3.1923. Betrifft: Kleidungsbeihilfen für die aufs Land zu entsenden den Kinder. Ebd. Schreiben des Magistrates der Stadt Herne vom 10.2.1923. Betrifft: Unterbringung von Kindern des besetzten Gebietes; Schreiben der Stadtverwaltung Herne an die Provinzialstelle für Landaufenthalt von Stadtkindern (Münster) vom 27.2.1923. Betrifft: Unterbringung der Kinder in Münster. Ebd. Tagebuch (La VHIb) des Magistrates der Stadt Bochum (Jugendamt), 3.2.1923. Betrifft: Unterbringung von Kindern des besetzten Gebietes; ebd. Schreiben des Jugend amtes der Stadt Bochum vom 6.3.1923. Ebd. Schreiben des Wohlfahrtsamtes des Landkreises Bochum vom 14.2.1923. Betrifft: Unterbringung von Kindern aus dem besetzten Ruhrgebiet in ländlichen Kreisen; ebd.
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der Stahl- und Bergwerksstadt Hörde stellten am 2. Februar die Prognose, dass ohne frische Luft und ausreichende Nahrung eine große Anzahl Kinder aus dem umliegen den Landkreis mit Sicherheit sterben würden,69 und warnten im März, dass rund 6.000 Kinder aus diesem hoch industrialisierten Landkreis Symptome akuter Unterer nährung zeigten, und sich ihr Zustand voraussichtlich noch verschlechtern würde.70 Der Stadt selbst fehlte das Geld für die nötigste Kleidung, und man bat die Provinzial stelle, bei der Verteilung von Finanzen ihren außergewöhnlich proletarischen Charak ter (90 Prozent Arbeiterschaft) zu berücksichtigen.71 Zugladungen von Kindern, von denen jedes ein Namensschild mit seinem Bestim mungsort trug, begannen ihre lange und ungewisse Reise aus dem Ruhrgebiet-sprich wörtlich eine Reise ins Unbekannte, bei der ein Besuch von den Eltern nur dann mög lich war, wenn sie ernsthaft erkrankten.72 Viele Eltern empfanden die Trennung als herzzerreißend, sogar als Tragödie. Die katholische Hilfsorganisation Caritas berich tete der Provinzialstelle mit Anteilnahme von den emotionalen Kosten der Evakuie rung. Viele Eltern wollten ihre Kinder nur widerwillig fahren lassen, da sie sich an schlechte Erfahrungen während der Evakuierung im Krieg erinnerten. Außerdem hatte man das Gefühl, dass die Anwesenheit von Kindern im besetzten Gebiet die Franzosen zu einem Minimum an Zurückhaltung zwang — aber wenn die Kinder die Gegend verließen, würden sich die Franzosen um so rücksichtsloser verhalten kön nen.73 Es war, als ob ihre Kinder Plätze in den Rettungsbooten eines sinkenden Schiffes hätten, auf dem sie selbst Zurückbleiben müssten. Nur wenn Kinder Verwandte außer halb der besetzten Zone hatten, von denen sie schriftlich zu Aufenthalten von minde stens vier Wochen eingeladen worden waren, schauten die Eltern etwas beruhigter in die Zukunft.74 Die Evakuierungen glitten allzu leicht in ein ziemliches Chaos über, was eigentlich nicht verwunderlich war. Im Krieg waren sie außerhalb direkter Einflussnahme des Feindes erfolgt, aber 1923 waren die Alliierten bestrebt, jede Handlung der Zivil Ver waltung mehr oder weniger zu behindern. Die Ausweisung vieler Beamter bewirkte, dass die übrigen Beamten überarbeitet waren und in ständiger Furcht vor Inhaftierung oder Vertreibung lebten. Das hatte zur Folge, dass Details häufig nicht beachtet wur den. Transportfragen beispielsweise benötigten sorgfältige Planung und Verhandlun gen. Sobald ein Stadt- oder Landkreis einen Transport geplant hatte, wurde erwartet, dass er die Behörde am Bestimmungsort benachrichtigte und, wenn die Reise lang war,
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Wohlfahrtsamt des Landkreises Bochum, Tgb. W. I. Nr. 272, 13.3.1923. Ebd. Schreiben des Kreisausschusses des Landkreises Hörde vom 2.2.1923. Betrifft: Un terbringung von Kindern des besetzten Gebietes. Ebd. Schreiben des Kreiswohlfahrtsamtes des Landkreises Hörde vom 15.3.1923. Ebd. Schreiben Uebereck, Wohlfahrtsamt, Abteilung II, vom 19.3.1923. StAM, PfL Nr. 3. Volkswohlfahrt/Richtlinien: XIII. Elternbesuche. StAM, PfL Nr. 17. Schreiben des Caritas-Verbandes für das Bistum Paderborn an die Provinzialstelle für Landaufenthalt von Stadtkindern (Münster) vom 19.2.1923. StAM, PfL Nr. 3. Volkswohlfahrt/Richtlinien: X. Verwandtenbesuche.
Soziale Verwerfungen im Ruhrkampf durch Hunger und Evakuierung
die Verpflegung auf der Strecke durch das Deutsche Rote Kreuz oder andere Hilfsorga nisationen organisieren ließ.75 Unglücklicherweise bedeutete dies, dass wegen der Unterbrechungen der Post- und Telegrafendienste durch die Alliierten76 diese Benach richtigungen nicht immer rechtzeitig erfolgen konnten, so dass Zugladungen schwa cher und hungriger Kinder oft einen Tag oder noch länger mit wenig Essen und Wasser auskommen mussten.77 Allein die für die Massenevakuierung nötige Menge an Nah rung und Transportplätzen stellte unerfüllbare Anforderungen an die Budgets der Hilfsorganisationen, bis sich gegen Ende Mai die Regierung bereit erklärte, die Kinder kostenlos zu verpflegen.78 Die deutschen Bauernverbände und viele Familien auf dem Lande zeigten einen Altruismus und eine Großzügigkeit ihren städtischen Landsleuten gegenüber, die in scharfem Kontrast zu der Wut standen, wenn in den unmittelbaren Nachkriegsjahren Lebensmittel beschlagnahmt oder einfach von Horden hungriger Städter gestohlen wurden.79 Zweifellos existierte bezüglich der Vorstellungen von Tarifpolitik und der immer spannungsgeladeneren Frage der Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse eine riesige Kluft zwischen Städtern und Landbevölkerung, aber während des nationa len Notstands und der menschlichen Katastrophe von 1923 traten diese in den Hinter grund. So appellierte am 13. Februar der Vorsitzende der Badischen Landwirtschafts kammer an deren Mitglieder, dass sie alle die Pflicht hätten, die Familien in den besetz ten Gebieten von ihrer größten Sorge zu befreien, nämlich der des Unterhalts ihrer Kinder, und ihnen so das Durchhalten zu erleichtern. Um das zu erreichen, müssten so viele Kinder wie möglich in den unbesetzten Regionen untergebracht werden. Die Landwirtschaftskammer rufe daher jeden Bauern auf, dem es möglich sei, ein oder mehrere Kinder entschädigungslos aufzunehmen, sich bei ihr unter Nennung der Anzahl und des gewünschten Alters der Pflegekinder registrieren zu lassen.80 Es stellte sich heraus, dass die Bauern kein zweites Mal gebeten werden mussten, solchen Aufforderungen Folge zu leisten, und am 22. Februar meldete der Bauernver band den Behörden, dass in ganz Deutschland eine halbe Million freier Plätze verspro chen worden waren. Während massenweise detaillierte Angebote von örtlichen und
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StAM, PfL Nr. 11. Schreiben der Zentralstelle für Kinderhilfe im Ruhr- und Rheingebiet (Berlin), März 1923; ebd. Schreiben des Oberpräsidenten der Provinz Pommern (Stet tin) an das Provinzialwohlfahrtsamt vom 23.3.1923; ebd. Schreiben der Provinzialstelle für Landaufenthalt von Stadtkindern (Münster) an den Oberpräsidenten in Magdeburg vom 20.4.1923. Siehe: BBA, 32/4364. Kölnische Zeitung, 9.2.1923, Die Verkehrslage im Ruhrgebiet. StAM, PfL Nr. 11. Schreiben der Zentralstelle für Kinderhilfe im Ruhr-und Rheingebiet (Berlin) vom 20.4.1923. StAM, PfL Nr. 17. Schreiben des Katholischen Gesellenhospizes Münster vom 25.4.1923; StAM, PfL Nr. 11. Schreiben der Reichszentrale für Kinderhilfe im Ruhr und Rheingebiet (Berlin) vom 28.5.1923. Vgl. Richard Bessel: Germany after the First World War, Oxford 1993, S. 214—216. StAM, PfL Nr. 16. Aufruf des Vorsitzenden der Badischen Landwirtschaftskammer (Karlsruhe), Gebhard, vom 13.2.1923.
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regionalen Stellen des Bauernverbands in Münster eintrafen,81 bemerkte die Provin zialstelle, es würde, abgesehen von Gesundheitsbedenken, nicht nötig sein, die Zahl der potentiell zu Evakuierenden unnötig zu begrenzen.82 Ob aus Nächstenliebe oder in der Hoffnung, zusätzliche Arbeitskräfte zu gewin nen,83 hatten die deutschen Bauern wesentlich mehr Plätze angeboten, als in absehba rer Zeit gebraucht wurden. Das führte in einigen Gemeinden zu Enttäuschungen, wo Bauernfamilien Unterkünfte eingerichtet hatten und nun fanden, dass das neu tape zierte freie Zimmer weder erwünscht war noch benötigt wurde.84 Dortmund wurde von der Provinzialstelle beschuldigt, sich mit der Organisation der Evakuierung von Kindern nach Lebus Zeit zu lassen.85 Aus den Akten geht allerdings hervor, dass eine bedeutende Anzahl von Kindern ab Mitte Februar aus der Stadt in verschiedene ländli che Gebiete verschickt wurden, obwohl es Schwierigkeiten gab, die benötigte Klei dung zu besorgen.86 Das Chaos der Besatzung war wenig hilfreich. Der Bauernverband in Beeskow-Storkow machte sich Gedanken, ob die Unterbrechung der Postzustellung durch die Franzosen verhindert hatte, dass ihr Angebot freier Unterbringung Buer überhaupt erreicht hatte, da man keine Nachricht von dort bekommen hatte.87 Zu dem Zeitpunkt hatte Buer allerdings schon ohne die Erlaubnis der Provinzialstelle 800 Kinder nach Gandersheim verschickt, woraufhin der Provinzialstelle nichts anderes übrig blieb, als diese Initiative zu sanktionieren und Buer den Kreis Gandersheim rückwirkend zuzuteilen.88 Als die Kinder eintrafen, tauchten neue Probleme auf. In vielen Teilen Ostdeutsch lands sahen sich die örtlichen Beamten und der Bauernverband mit zerlumpten, Hun ger leidenden und zutiefst verstörten Kindern konfrontiert, die ihnen im wahrsten Sinne des Wortes vor die Tür gesetzt worden waren. Sie zurückzuschicken kam nicht
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Ebd. Schreiben des Landrates Schwelm an die Provinzialstelle Westfalen für Landaufent halt für Stadtkinder vom 14.3.1923; ebd. Schreiben des Kreis-Bauernverbandes Cottbus (Land) vom 22.3.1923. Betrifft: Unterbringung von Ruhrkindern; Schreiben des Spremberger Landbundes (Spremberg-Lausitz/Reuthen) vom 13.4.1923; Schreiben des Kreislandbundes Züllichau-Schwiebus-Bomst. (Schwiebus) vom 21.4.1923. StAM, PfL Nr. 19. Konzept der Provinzialstelle für Unterbringung der Kinder, Nr. 70, Münster, 23.2.1923. Speziell weibliche Jugendliche waren rar in der bäuerlichen Gesellschaft der Nachkriegs zeit und deshalb besonders gesucht. Vgl. Elizabeth Bright Jones: A New Stage of Life? Young Farm Women’s Changing Expectations and Aspirations about Work in Weimar Saxony, in: German History, 19 (2001), H. 4, S. 549-570. StAM, PfL Nr. 19. Abschrift. Schreiben des Brandenburger Landbundes vom 28.5.1923. Ebd., Konzept der Provinzialstelle für Landaufenthalt, Abteilung I, Nr. 811, Münster, 16.4.1923. StAM, PfL Nr. 24. Schreiben der Stadtverwaltung Dortmund vom 19.2.1923. StAM, PfL Nr. 19. Schreiben des Kreislandbundes Beeskow-Storkow (Beeskow) vom 1.5.1923. Ebd., Konzept der Provinzialstelle für Landaufenthalt, Abt. I, Nr. 811, Münster, 16.4.1923.
Soziale Verwerfungen im Ruhrkampf durch Hunger und Evakuierung
in Frage, sie in diesem bedauernswerten Zustand zu belassen ebenso wenig. Der Bezirk Guben war eine arme Bauerngegend, die sich bereit erklärt hatte, dem Ruhrgebiet nach besten Kräften zu helfen. Den Mitgliedern des örtlichen Bauernvereins blieb nun nichts anderes übrig, als Recklinghausener Kinder aus eigener Tasche einzukleiden. Der Verein bat das Wohlfahrtsamt in Recklinghausen dringend, die Kosten der Klei dung zu tragen, aber dieses konnte nur versprechen, das Geld zu einem unbestimmten Zeitpunkt zu überweisen.89 Als am Ende des Sommers für die Kinder die Zeit zur Heimkehr gekommen war, entstanden durch die von den Besatzungsbehörden verhängten Reisebeschränkungen im Ruhrgebiet weitere Probleme. Häufig wurden Züge an der Zonengrenze festgehal ten, und oft scheiterten die Bemühungen preußischer Beamter, zu den Grenzbahnhö fen zu reisen, die Kinder in Empfang zu nehmen und sie sicher nach Hause zu beglei ten. Diese Züge mussten im Voraus angemeldet werden, aber ob durch die Nachlässig keit der gastgebenden Behörden oder durch Intervention der Besatzungsmächte fan den sich viele Kinder weit von zu Hause in einer Zone gestrandet, in der praktisch Krieg herrschte. Das Wohlfahrtsamt des Landkreises Dortmund drängte die gastge benden Behörden und die Provinzialstelle, die übrigen Kinder in Sondertransporten zurückzusenden, die für Ende September und Anfang Oktober geplant waren.90 Trotz all dieser Mängel und Probleme erreichte das Landverschickungsprogramm seine wichtigsten Ziele: gefährdete Kinder aus dem Ruhrgebiet zu entfernen und eine Verbesserung ihres allgemeinen Gesundheitszustands herbeizuführen. Bis Anfang Juni waren 110.000 Kinder aus dem besetzten Westfalen evakuiert worden, und bis Okto ber, als das Programm von 1923 zu Ende ging, hatten 214.087 westfälische Kinder eine vorübergehende Zuflucht vor den Schrecken der Besatzung gefunden. Jeweils über 100.000 Protestanten und Katholiken hatten von dem Programm profitiert, dazu 7.455 Kinder aus nicht kirchlich gebundenen Familien und 120 jüdische Kinder.91 Man darf annehmen, dass innerhalb der Rheinprovinz allein der Regierungsbezirk Düsseldorf, der Duisburg und Essen einschloss, mindestens 100.000 Kinder ver schickte, womit sich insgesamt eine Summe von mehr als 300.000 ergibt. Auf jeden Fall machten die aus Westfalen evakuierten Kinder weit über 10 Prozent der Bevölke rung im besetzten Teil der Provinz aus.92 89
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StAM, PfL Nr. 24. Schreiben des Landbundes Guben an die Provinzialstelle für Landauf enthalt Münster vom 29.6.1923. Weitere Beispiele: ebd. Kreisausschuss des Kreises Plön, Kreiswohlfahrtsamt, Tgb. Nr. 3270, 11.7.1923. Betrifft: Landaufenthalt der Ruhrkinder. StAM, PfL Nr. 3. Kreiswohlfahrtsamt des Landkreises Dortmund, Volksbildungs- und Jugendamt, Tagebuch Nr. 1573, 4.9.1923. StÄM, PfL Nr. 24. Entsandt sind bis heute: Regierungsbezirk Arnsberg, Regierungsbe zirk Münster (Juni 1923); StAM., PfL Nr. 3. Schreiben der Provinzialstelle für Landauf enthalt (Münster), Abteilung I, vom 4.6.1923; StAM., PfL Nr. 24. Nachweisung über die durch Vermittlung der Provinzialstelle Münster zum Landaufenthalt entsandten Kinder vom 29.10.1923. StAM, PfL Nr. 3. Schreiben der Provinzialstelle für Landaufenthalt (Münster), Abtei lung I, vom 4.6.1923.
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Conan Fischer
Bis zum März und April 1924 waren die Gesundheitsbeurteilungen des Programms von 1923 abgeschlossen. Das Gesundheitsamt in Eickel wog Kinder 14 Tage und noch einmal drei Monate nach ihrer Rückkehr an die Ruhr, mit unterschiedlichen Ergebnis sen. Alle hatten von ihrem Sommer auf dem Land profitiert, und zwischen den Tests nahmen 438 weiter zu und 143 blieben unverändert. Einer nicht unbedeutenden Minderheit ging es allerdings weniger gut: 382 verloren Gewicht, unter ihnen 175, die fünf Prozent oder mehr ihres Körpergewichts verloren hatten. Jugendliche und junge Erwachsene, die ihre Schule bzw. Ausbildung abgeschlossen hatten, waren zur Landverschickung nicht zugelassen, aber sie hatten innerhalb weni ger Tage nach der Besetzung begonnen, das Ruhrgebiet in Scharen zu verlassen. Eine weit verbreitete Furcht ergriffdie männliche Bevölkerung, dass die Franzosen passende Opfer unter Druck setzen würden, in die Fremdenlegion einzutreten, denn einige deutsche Kriegsgefangene hatte dieses Schicksal schon ereilt. Bei einer Gelegenheit war ein Kindertransport am Grenzposten Dortmund-Brackel angehalten worden, bis alle 18-jährigen Gymnasiasten herausgeholt worden waren; der örtliche französische Befehlshaber beschuldigte sie, der deutschen Armee beitreten zu wollen. Andere junge Leute ließen einfach ihre Arbeit im Stich, um in die Sicherheit der unbesetzten Mitte Deutschlands auszuwandern. Diese Flüchtlinge zu verpflegen und Arbeit für sie zu finden war nicht leicht. Die großen Braunkohlekonzerne in Mittel deutschland weigerten sich prinzipiell, Arbeiter zu beschäftigen, die jünger als 21 Jahre alt waren, da sie als die Hauprverantwortlichen für den Aufstand von 1921 in der Region angesehen wurden. Die mitteldeutschen Höfe waren gerne bereit, Kinder aus den besetzten Gebieten aufzunehmen, hatten aber keine Arbeit für ältere Flüchtlinge. Da die Gefahr von Unruhen und politischer Radikalisierung viel zu groß war, wurden die Behörden in den besetzten Gebieten gedrängt, ihr Äußerstes zu tun, um die Flut junger Flüchtlinge einzudämmen.93 Die Folgen der Besatzung trafen die Kinder des Ruhrgebiets besonders hart. Zuerst hatten die Besatzer nicht geplant, die Region auszuhungern; eher war das Gegenteil der Fall gewesen. Nachdem jedoch die anfängliche Machtdemonstration der Franzosen und Belgier passiven Widerstand statt Fügsamkeit hervorgerufen hatte, entwickelten die Ereignisse ihre eigene Dynamik. Während die französischen Befehlshaber Schritt für Schritt, Zug um Zug versuchten, eine de facto-Souveränität in den besetzten Gebieten zu etablieren, wurde die Kontrolle der Lebensmittelimporte nur eines von vielen Schlachtfeldern in diesem Kampf. Jedoch rief der passive Widerstand gegen die daraus resultierenden Zollformalitäten immer repressivere Gegenmaßnahmen der Alliierten auf den Plan, was erheblich zur drohenden Hungersnot im Ruhrgebiet bei trug. Trotz dieses Leidens und trotz der daraus resultierenden Massenevakuierung von 93 Ebd. Schreiben der Fürsorgekommission (Halle) an den Landeshauptmann Münster, durch Vermittlung der Zweigstelle „Rotes Kreuz“ Magdeburg, vom 6.2.1923; für die Rücknahme der 18-jährigen vgl. StAM, Reg. Münster, Bes. Nr. 65. Lagebericht Nr. 103 der Generalbetriebsleitung West der Deutschen Reichsbahn (Elberfeld), Teil I (Allge meines).
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Kindern stand die Bevölkerung in ihrer Gesamtheit hinter der Kampagne des passiven Widerstands. Den französischen Beamten muss ihre eigene Propaganda zu denken gegeben haben, die den passiven Widerstand als einen Auftrag darstellte, der den gut gläubigen Bewohnern des Ruhrgebiets von oben aufgedrängt worden war. Übersetzung: Sibylle Hirschfeld
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Deutsche und französische Kommunisten und das Problem eines gemeinsamen Widerstandes gegen die Ruhrbesetzung In jüngster Zeit findet die Ruhrbesetzung verstärktes Interesse in der historischen For schung. Der kriegerische Charakter dieser von der französischen Regierung als „Frie densbesatzung“ deklarierten militärischen Operation erfährt eine Neubewertung und ebenso die Frage, in welchem Maße sie den Prozess einer zunehmenden Verfeindlichung zwischen Deutschen und Franzosen gefördert hat. Das Erstarken des Nationa lismus während der Ruhrbesetzung, möglicherweise auch die Intensität der nationalen Einheitskampagne, die von den Sozialdemokraten und Freien Gewerkschaften bis hin zu den Gruppierungen der extremen Rechten geführt worden war, haben den Blick dafür verstellt, dass die „nationale Abwehrfront“ nicht nur sehr brüchig war, sondern von Kräften der radikalen Linken zum Teil vehement bekämpft worden ist. Für die Wortführer dieser radikalen Linken, die gerade im Ruhrgebiet über eine große, wenn auch parteipolitisch heterogene Anhängerschaft verfügte,1 bedeutete der Einmarsch der französisch-belgischen Truppen eine Kriegserklärung des „EntenteImperialismus“. Eine Beteiligung an dem von der Regierung proklamierten passiven Widerstand kam jedoch weder für die Kommunisten, noch für die mit ihnen konkur rierenden Syndikalisten, deren Hochburgen in Städten des Ruhrgebietes lagen, in Frage. Die Ursache für diese strikte Ablehnung war die tiefe Kluft zwischen diesem radikalen, militanten Teil der Arbeiterschaft und dem Bürgertum im Ruhrgebiet, die besonders auf die Erfahrungen des Krieges und der Nachkriegszeit zurückzufuhren war.1 2 Der Einmarsch wurde als Kulminationspunkt einer Konfrontation empfunden,
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Vgl. Hans Manfred Bock: Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918-1923. Zur Geschichte und Soziologie der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (Syndikalisten), der Allgemeinen Arbeiter-Union Deutschlands und der Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands, Darmstadt 21993; Klaus Tenfelde: Linksradikale Strömungen in der Ruhrbergarbeiterschaft 1905 bis 1919, in: Hans Mommsen/Ulrich Borsdorf (Hg.): Glück auf Kameraden! Die Bergarbeiter und ihre Organisationen in Deutschland, Köln 1979, S. 199-223; Larry Peterson: German Communism, Worker’s Protest and Labor Unions. The Politics of the United Front in Rhineland-Westphalia 1920-1924, Dord recht u.a. 1993 (Studies in Social History, Bd. 14). Vgl. außerdem die Beiträge von Hans Mommsen, Siegfried Bahne, Jürgen Reulecke und Martin Martiny in: Jürgen Reulecke (Hg.): Arbeiterbewegung an Rhein und Ruhr. Beiträgezur Geschichte der Arbeiterbewe gung in Rheinland und Westfalen, Wuppertal 1974. Vgl. Jürgen Kocka: Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914-1918, Frankfurt a. Μ. 21988 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 8); Gerald D. Feldman u.a.: Die Massenbewegungen der Arbeiterschaft am Ende des Ersten Welt-
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die möglicherweise in einen neuen „imperialistischen“ Krieg zu münden drohte. Anders als 1914 aber, so schwebte es den Kräften der radikalen Linken vor, sollte ein solcher Konflikt dazu genutzt werden, den „imperialistischen“ in einen revolutionären Krieg zu verwandeln - die Ruhrkrise war aus dieser Perspektive nur das letzte Glied in einer Kette von revolutionären Auseinandersetzungen, an deren Ende der endgültige Sturz des überlebten kapitalistischen Systems stehen würde. Der offene Ausbruch der Ruhrkrise eröffnete für sie also die Option des revolutionären Kampfes, der an zwei Fronten geführt werden musste: gegen die französische und deutsche „Bourgeoisie“. Natürlicher Verbündeter war dagegen das französische Proletariat, das gegen sein ur eigenstes Interesse in ein neues „imperialistisches Abenteuer“ gehetzt worden sei. Angesichts der schweren Wirtschaftskrise in Deutschland und der blutigen Unru hen der Jahre 1919 und 1920 im Ruhrgebiet3 waren solche Erwartungen einer revolu tionären Entwicklung als Folge einer eskalierenden Ruhrkrise - erhofft oder gefürchtet - keineswegs aus der Luft gegriffen. Auch die internationale Konstellation bestärkte manchen in dieser Überzeugung, bestand doch mit der nach den Jahren des Bürger kriegs sich allmählich konsolidierenden Sowjetunion - anders als 1914 - ein sich als sozialistisch definierender Staat, der sich zudem als Basis und Ausgangspunkt der kom menden und nicht aufzuhaltenden Weltrevolution verstand. Mit der dritten, kommu nistischen Internationalen (Komintern), deren Sektionen die kommunistischen Par teien Deutschlands (KPD) und Frankreichs (PCF) waren, gab es sogar eine äußerst aktive Organisation, deren originäre Aufgabe die Planung und Durchführung des revolutionären Umsturzes war.4 Eine Untersuchung des gemeinsamen Widerstandes der deutschen und französi schen Kommunisten im besetzten Ruhrgebiet ruft nicht nur ein wenig bekanntes Kapitel deutsch-französischer Geschichte in Erinnerung. Sie fragt - frei von ideologi schen Implikationen und Legitimationszwängen3 - danach, inwieweit diese Strategie
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krieges (1917-1920), in: Politische Vierteljahresschrift, 13 (1972), H. 1, S. 84-105; Ka rin Hartewig: Das unberechenbare Jahrzehnt. Bergarbeiter und ihre Familien im Ruhr gebiet 1914-1924, München 1993. Vgl. hierzu Heinrich A. Winkler: Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918-1924, Berlin/Bonn 21985; Erhard Lucas: Märzrevolution im Ruhrgebiet. Vom Generalstreik gegen den Militärputsch zum bewaffneten Arbeiteraufstand. März-April 1920, Frankfurt a. Μ. 1970. Zur Haltung der Sowjetunion vgl. den Beitrag von Hans Hecker in diesem Band. Mit welcher Entschlossenheit die Komintern und vor allem die sie immer mehr dominieren de russische Partei diese Planung in Angriff nahmen, verdeutlicht die jüngst herausgege bene Dokumentenedition: Deutscher Oktober 1923. Ein Revolutionsplan und sein Scheitern, hrsg. von Bernhard Bayerlein u.a., Berlin 2003 (Archive des Kommunismus Pfade des XX. Jahrhunderts, Bd. 3). Auf einige in dieser Edition vorgenommene Bewer tungen wird später noch zurückzukommen sein. Die meisten vor 1989 entstandenen Arbeiten zum deutschen Kommunismus - in der DDR wie in der BRD (hier v.a. die Arbeiten von HermannWeber) - unterlagen solchen Zwängen, wenn auch natürlich in unterschiedlichem Ausmaß. In der bisher einzigen Darstellung zum Thema zeichnete Heinz Köller das Bild einer weitgehend friktionslosen
Deutsche und französische Kommunisten
des revolutionären Internationalismus, der sich ja als legitimer Nachfolger des 1914 gescheiterten sozialistischen Internationalismus verstand, erfolgreich gewesen ist und eine realistische Alternative zur Regierungspolitik des passiven (oder: nationalen) Widerstandes darstellte. Sie fragt, inwieweit diese Strategie von den kommunistischen Parteien Deutschlands und Frankreichs tatsächlich praktiziert wurde und schließlich, in welchem Maße sie bei ihren Anhängern auf Akzeptanz stieß.
Der Beginn der Ruhrbesetzung Der Einmarsch der belgisch-französischen Truppenverbände am 11. Januar 1923 kam auch für die kommunistischen Parteien Frankreichs und Deutschlands keineswegs überraschend. Schon auf einer gemeinsamen Konferenz im August 1922 hatten sie angesichts der zunehmend intransigenten Haltung der französischen Regierung in der Reparationsfrage einen gemeinsamen Aufruf veröffentlicht, in dem sie vor einer mili tärischen Besetzung des Ruhrgebiets gewarnt hatten. Als sich die Situation im Dezem ber 1922 zuzuspitzen begann, intensivierten PCF und KPD ihre Beziehungen und organisierten für den 6./7. Januar 1923 eine internationale Konferenz in Essen, an der sich auch Vertreter der kommunistischen Parteien Belgiens, Großbritanniens, Italiens und der Tschechoslowakei beteiligten. Die drohende Besatzung, so der Tenor des gemeinsamen Aufrufs, der in allen kommunistischen Zeitungen der beteiligten Län der veröffentlicht wurde, verdeutliche den Bankrott des „Versailler Raubfriedens“, unter dem vor allem die Arbeiterschaft Europas zu leiden habe. Die Besetzung werde aufs neue nationalistische Leidenschaften entfachen, beschwöre also die Gefahr eines neuen Krieges und den Aufstieg des Faschismus herauf. Während die internationale Arbeiterschaft dazu aufgerufen wurde, den Versailler Vertrag und ihre kapitalistischen Regierungen zu bekämpfen, hieß es, an die deutsche Arbeiterschaft gewandt: „Euer Feind ist nicht der französische Soldat, auch nicht der französische Arbeiter noch der französische Kleinbauer, die gleich Euch Ausgebeutete und Opfer der Bourgeoisie sind. Euer gemeinsamer Feind ist der deutsche und der französische Kapitalist. [...] Solange der Versailler Vertrag nicht durch den gewonnenen Kampf des internationalen Proletariats zer rissen sein wird, zwingt Eure Bourgeoisie, die Lasten des Krieges auf sich zu nehmen, die sie bis jetzt auf Euch abgewälzt hat.“6
Aus Sicht der Kommunisten war diese Position nur folgerichtig, schließlich handelte es sich bei der Ruhrbesetzung ihrer Ansicht nach lediglich um ein Machtspiel zwischen deutschen und französischen Kapitalisten, bei dem es in erster Linie um den ungehin derten Zugriff auf die Kohle des Ruhrgebietes ging. Nachdem die Reichsregierung den
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Zusammenarbeit der beiden Parteien und sah in ihr ein „Hohelied des proletarischen In ternationalismus“. Vgl. ders.: Kampfbündnis an der Seine, Ruhrund Spree. Der gemein same Kampf der KP^ und KPD gegen die Ruhrbesetzung 1923, Berlin (Ost) 1963, S. 317. Die Rote Fahne, 9.1.1923; Humanite, 10.1.1923.
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„passiven Widerstand“ ausgerufen hatte, konterte die KPD mit der Parole: „Gegen Poincare und Cuno an der Ruhr und an der Spree!“7 Der nationalen Einheitsfront stellte die KPD also die „revolutionäre Solidarität“ der internationalen Arbeiterschaft entgegen. Die erste konkrete Strategie, die die KPD vorschlug, die Ausrufung eines Generalstreiks, schlug fehl. Freie Gewerkschaften und SPD lehnten dies in der nicht unbegründeten Furcht ab, eine Eskalation im besetzten Gebiet würde zu Zusammen stößen mit der Besatzungsmacht und zu einem unkontrollierbaren Chaos, mithin zu revolutionären Ausschreitungen führen.8 Eine offizielle Teilnahme am passiven Widerstand kam für die KPD nicht in Frage, da er aus ihrer Sicht wie 1914 zu einer Iso lation der deutschen Arbeiterschaft führen würde. Deswegen verlegte sich die KPD zunächst vor allem darauf, den neuen „Burgfrieden“ und die ab dem 20. Januar eskalie renden nationalistischen Stimmungen propagandistisch zu bekämpfen. Die internationale Arbeiterklasse, an die sich das Manifest der Essener Konferenz gerichtet hatte, blieb aber passiv. Auch eine durchschlagende Aktion der französischen Arbeiterschaft zur Verhinderung der Ruhrbesetzung, die von der PCF angekündigt worden war, fand nicht statt, abgesehen von einigen Protestkundgebungen und einer massiven Pressekampagne in der Humanite, dem Organ der französischen Kommu nisten. Die PCF war ebenso wie die KPD durch ihren internationalistischen und revo lutionären Kurs in der französischen Politik vollständig isoliert. Wegen ihrer Teil nahme an der Essener Konferenz und wegen ihrer intensiven antimilitaristischen Pro paganda in Presse und Versammlungen wurden zahlreiche Mitglieder der Führung der PCF wegen des Verdachts des Landesverrates verhaftet. Die fortgesetzte Repressions politik gegenüber den Kommunisten wurde allerdings nicht von allen französischen Parteien unterstützt und nach einigen Wochen mussten die Inhaftierten wieder freige lassen werden. Ein größeres Problem indes war das sinkende Interesse der erdrücken den Mehrheit der französischen Arbeiterschaft an der Ruhrbesetzung. Während der Beginn der Besetzung noch zahlreiche Gemüter zu erregen vermocht hatte, verhallten die fortdauernden Aufrufe zur Solidarität mit dem unterdrückten deutschen Proleta riat weitgehend ungehört. Dies wurde innerhalb der PCF-Führung selbst erkannt, auch wenn es offiziell nicht zugegeben wurde: „Die Arbeiter hier interessieren sich nur wenig für die Ruhrbesetzung“, ließ Jules Humbert-Droz, Instrukteur der Komintern in der französischen Parteizentrale, seinen Vorgesetzten Grigorij Zinov’ev bereits im April 1923 wissen.9
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Die Rote Fahne, 22.1.1923. Zur Politik der Freien Gewerkschaften vgl. die umfassende Untersuchung von Michael Ruck: Die Freien Gewerkschaften im Ruhrkampf 1923, Frankfurt a. Μ. 1986 (Schrif tenreihe der Otto Brenner Stiftung, Bd. 39), S. 124ff. Zur Haltung der SPD vgl. ebd., so wie Winkler, S. 553ff. Archives de Jules Humbert-Droz, Bd. 1: Origines et debuts des partis communistes des pays latins (1919-1923), hrsg. von Siegfried Bahne, Dordrecht 1970, Dok. 154, S. 465. Bericht von Jules Humbert-Droz vom 3.4.1923.
Deutsche und französische Kommunisten
sur les bords de la ont abouti à ce réalisé leurs désirs vont augmenter
êtes entrés dans la Pulrr sur frères prolétaires allemands
ne iullez pas contre le prolétariat un mensonge.
CONTRE LE PROLETARIAT! Ne croyez pas que la bourgeoisie allemande va souffrir français. Le trust du Comité des Forces français ei du sera réalisé dès que la répartition des profits sera pour les capitalistes des deux côtés* de la frontière, que Sunnes, Schneider aussi bien que Thyssen, vont réaliser sur allemand des bénéfices fabuleux en vue de renforcer leur pouvoir: Thyssen obtiendra la journée de 10 heures qu’il réclame depuis des pourra prendre possession des chemins de fer. FRANÇAISI De l'accroissement de misère qui vu en résulter pour le allemand, vous vous serez faits les complices. va sévir ici, comme en France. La bourgeoisie allemande, crai^nanl prolélarial français et allemand ne s'unisse, veut proclamer l étal du siè^c, veut tout le pouvoir aux organisations d'Orguesch, Possbach. etc. . . SOLDATS FRANÇAIS! Instruments du capitalisme français, de la réaction frarp kçaise qui jette en prison les prolétaires français qui osent élever leur voix en laveur de leurs frères allemands, vous devenez par confre-coap, instruments de la réaction allemande^ à laquelle vous permettez, par l'occupation, le renforcement de ses campagnes diauvtnistsp» SOLDATS FRANÇAIS, on vous emploie non seulement confie vos frères aMe* tnands, mais contre vous-mêmes, contre vos frères français, car les bas salaires des ouvriers allemands vont abaisser les salaires eri France, el augmenter le chôinage« Les maîtres de Forges français auront du cha bon à bon marché. tandis que les rois de la mine allemande se ton! déjà dédommagir par des impôts accablants que supporte le prolétariat allemand. SOLDATS FRANÇAIS! Voire place est aux côtés des ouvrier allemands.
FRATERNISEZ AVEC LE PROLETARIAT ALLEMAND! SOLDATS FRANÇAIS! Voire lulie doil se diriger en commun avec le prolétariai allemand, contre vos bourgeoisies unies, Pour la suppression des traités de paix nouvelles guerres; Pour rétablissement dans tous les pays, ouvriers qui mettront lin à la guerr« et â reronl la paix et la liberté du travail. ■ L'Internationale Communiste des Jeunet se set qu elle: a toujours menée contre tes gueMjffrtpdalistes, oc million ■ ch teunes ouvriers ei i>av£àîi& limes de l’impérialisme, si la 0u< i »Hate, -f qui ne i du la réaction internationale. Vos frères de tous les paysg^urnenl leàs regards
La FRATERNISATION de tan les prolétaire, en blow
Abb. 16: Aufrufder Kommunistischen Jugendinternationale (in den Farben der Trikolore) an die französischen Soldaten, mit dem deutschen Proletariat zu fraternisieren.
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Poincaré c'est la guerre
Le ioldat Rouge défend la Revolution
Abb. 17 und 18: Solche „Papillons" (etwa 7*10 cm) wurden zu Zehntausenden unterfranzösischen Besatzungssoldaten verteilt.
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Deutsche und französische Kommunisten
Antimilitaristische Zersetzungsarbeit in der französischen Armee Es gelang also beim Einbruch der Truppen ins Ruhrgebiet weder den deutschen noch den französischen Kommunisten, größere Massen der Arbeiterschaft für ihre Ziele zu aktivieren. Gleichwohl führte das Zusammenrücken der beiden Parteien zu konkreten gemeinsamen Aktionen. Abgesehen von einer abgestimmten Propaganda in der Par teipresse und ständigen Berichten über die Aktionen der jeweils anderen Partei war dies vor allem die gemeinsame Organisation der antimilitaristischen Zersetzungsarbeit innerhalb der französischen Armee. Diese war schon vor dem Beginn der Besatzung geplant worden, maßgeblich initiiert von Mitarbeitern der Kommunistischen Jugend internationale, die für den Druck tausender Plakate und Flugzettel (französisch: Papil lons) verantwortlich waren. Während der Essener Konferenz beschäftigte sich eine geheime Arbeitsgruppe mit dieser Frage und traf konkrete Vorbereitungen. Schon als die ersten Truppen am 11. Januar 1923 einmarschierten, prangten vielerorts Aufrufe an die französischen Soldaten, sich mit der deutschen Arbeiterschaft zu solidarisieren und keinesfalls auf diese zu schießen, für den Fall, dass diese sich erheben, ihre eigene Regierung stürzen und durch eine .Arbeiterregierung“ ersetzen würde. Die deutsche Arbeiterschaft wurde ihrerseits beschworen, sich gegenüber den Besatzungstruppen nicht zu Gewalttaten hinreißen zu lassen und in ihnen nicht einen Feind zu sehen, son dern missbrauchte und fehlgeleitete „Klassengenossen“. Träger der antimilitaristischen Zersetzungsarbeit waren vor allem die beiden kom munistischen Jugendorganisationen. Französische Kommunisten reisten illegal in das besetzte Gebiet, kamen bei Gesinnungsgenossen unter und verteilten gemeinsam mit diesen Flugblätter und „Papillons“, die auch auf unterschiedlichste Weisen ihren Weg in die Kasernen fanden. In einigen Einheiten der französischen Armee gab es Sympa thisanten und Verbindungsleute des Jugendverbandes oder der PCF, die für die Ver breitung des Materials sorgten.1011 Das Material wurde zumeist in Frankreich produ ziert, illegal in das besetzte Gebiet transportiert, und dort bei KPD-Mitgliedern oder den Verbindungsleuten in der Armee gelagert.11 Es wurden zudem eigens drei Zeitun gen produziert, „L’Humanité du Soldat“, „La Caserne“ und „Le conscrit“, die sich neben politischen Fragen auch alltäglichen Problemen der Soldaten widmeten. Kom munistische Soldaten versuchten, innerhalb der Armee „Zellen“ zu bilden und auf diese Weise die Armee von innen heraus zu „zersetzen“. Es existiert keine genaue Untersuchung darüber, wie umfangreich diese Zerset zungspropaganda gewesen ist, auch über die tatsächliche Wirkung lässt sich bis heute nur wenig sagen. PCF und KPD behaupteten zwar immer wieder, dass es aufgrund der Propaganda vielerorts zu Meutereien und Befehlsverweigerungen gekommen sei, auch berichteten sie in ihrer Presse und in eigens hergestellten Broschüren von Fraternisie
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Vgl. z.B. Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundes archiv (hiernach: SAPMO-BA), Sg Y 30/0483. Erinnerungen Heinz Knaut. Vgl. SAPMO-BA, Sg Y 30/1275/1, Bl. 188. Erinnerungen Heinrich Formferra.
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rungen zwischen der deutschen Bevölkerung und Soldaten.12 Ganze Regimenter hät ten aufgrund dieser Zersetzungserscheinungen ausgetauscht und verlegt werden müs sen. Insgesamt hat sich die Wirkung jedoch in einem ziemlich bescheidenen Rahmen gehalten, was in internen Lageanalysen auch eingeräumt wurde. Interessant ist in die sem Zusammenhang, dass einige Funktionäre der KPD die Ursache für diesen Misser folg in erster Linie bei der PCF suchten. Diese sei von Anfang an nie in der Lage gewe sen, die für eine effiziente antimilitaristische Arbeit ausreichende Zahl französischer Mitglieder ins besetzte Ruhrgebiet zu entsenden.13 Marcel Cachin, Mitglied der Zen trale der PCF, gab Radek recht, als dieser während einer Besprechung im Exekutivko mitee der Komintern in Moskau im September 1923 diese Kritik an der PCF erneu erte: „Die Partei hat unter den Soldaten wenig arbeiten können, sie hat weder in der Partei, noch in der Jugend genügend Leute gefunden, die deutsch sprechen und zu die ser Arbeit verwendbar wären.“14 Inwieweit diese Einschätzung von anderen französi schen Kommunisten geteilt wurde, ist allerdings nicht bekannt. Von Seiten der deutschen15 und französischen Behörden16 wurden diese Aktivitä ten dennoch sehr genau registriert. Gerade die französische Militärverwaltung sah in der Propaganda eine Gefahr für die Besatzungstruppe und verfolgte sie energisch. Ihr größter Schlag gelang ihr im November und Dezember 1923, als sie in einer Aktion 135 deutsche und französische Kommunisten, darunter 15 Soldaten, festnahm. Sie wurden im Mai 1924 von einem französischen Militärgericht in Mainz zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt. Die Vernehmungen der oft noch jugendlichen Aktivisten erfolgten zum Teil mit großer Brutalität, der französischen Polizei wurden von kom munistischer Seite Misshandlungen und sogar systematische Folter vorgeworfen. Tat sächlich nahm sich ein Aktivist nach einem Verhör das Leben, ein weiterer starb wäh rend der Untersuchungshaft aufgrund mangelhafter medizinischer Betreuung an Tuberkulose. Nur einen Monat nach Verkündung des Urteils tagte eine Revisionskom mission und hob die Urteile wieder auf. Auch der Mainzer Prozess wurde als Anlass genommen, die französische „Klassenjustiz“ und die internationale Zusammenarbeit der deutschen und französischen „Bourgeoisie“ anzuprangern, die — wenn es darum
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Vgl. z. B. die Publikation des Vorsitzenden der Kommunistischen Jugendinternationale, Voja Vujovic, der maßgeblich als Organisator an der Zersetzungsarbeit beteiligt war: L’I.C.J. [Internationale Communiste de la Jeunesse] En lutte contre l’occupation de la Ruhr et la guerre, Moskau 1924. Vgl. beispielsweise SAPMO-BA, RY 1/1 2/3/212, Bl. 160f. Schreiben Brandlers und Radeks an die Zentrale der PCF vom 1.6.1923. SAPMO-BA., RY 5/1 6/10/76, Bl. 100. Protokoll der Besprechung im Exekutivkomitee der Komintern, 21.9.1923. Vgl. Hauptstaatsarchiv Düsseldorf (hiernach: HStAD), Regierung Düsseldorf 16910, Bl. 102. Schreiben des Oberpräsidenten Mertens an den Reichskommissar zur Überwa chung der öffentlichen Ordnung vom 31.1.1923. Vgl. die Bestände einschlägiger Überlieferungen der französischen Besatzungsverwal tung im Rheinland und im Ruhrgebiet („Papiers Tirard“) in den Archives Nationales (Pa ris), AJ9 3866, 4242, 5285.
Deutsche und französische Kommunisten
ging, den gemeinsamen Feind, das Proletariat, zu bekämpfen - über alle nationalen Gegensätze hinweg kooperierte.17
Der Kursschwenk der KPD und sein Hintergrund Für genauso wichtig erachtet wie die Infiltrierung und propagandistische Bearbeitung der französisch-belgischen Besatzungstruppen wurde die Beeinflussung der Mehrheit der Ruhrarbeiterschaft im kommunistischen Sinne. Dies sollte sich in den ersten Wochen der Ruhrbesetzung als sehr schwierig erweisen, denn die Arbeiterschaft im besetzten Gebiet war nicht für den von den Kommunisten beschworenen „Kampf nach zwei Seiten“ zu gewinnen. Den Freien und Christlichen Gewerkschaften gelang es, gegen den Widerstand der radikalen Linken eine ausreichende Unterstützung für den passiven Widerstand zu organisieren.18 Nach der ersten nationalen Welle der Ent rüstung, die zunächst auch manche kommunistische Anhänger erfasst hatte,19 beru higte sich die Lage im besetzten Gebiet. Für die passive Haltung der Ruhrarbeiter schaft, die die KPD fortdauernd zu durchbrechen suchte, waren mehrere Gründe ver antwortlich: Die wirtschaftliche Lage blieb im Februar und März 1923 stabil. Es kam vorerst zu keinen Massenentlassungen und auch der Verfall der Reichsmark wurde zunächst gestoppt. Gleichzeitig versuchten die Besatzungstruppen weitgehend erfolgreich, unnötige Konfrontationen zu vermeiden. Hierzu waren sie vor dem Einmarsch von Oberbefehlshaber Degoutte ausdrücklich angewiesen worden: „Man muss bedenken, dass die Arbeiterschaft des Ruhrgebiets grausam unter der blutigen Repression gelitten hat, die in dieser Region durch die deutschen Truppen im Frühling 1920 ausgeübt worden ist; das vorsichtige Verhalten der französischen Truppen muss sich von die sen Erfahrungen klar abgrenzen.“20
Durch eine intensive Propaganda versuchten die Besatzungsmächte darüber hinaus, die Gegensätze zwischen der Ruhrarbeiterschaft und den Unternehmern zu schüren. Der wichtigste Grund war jedoch der passive Widerstand selbst, der zunächst eine beruhigende Wirkung auf die Arbeiterschaft hatte. Nicht nur wurde in vielen Betrie ben die Arbeiterschaft angewiesen, das Arbeitstempo zu drosseln und gegebenenfalls lediglich Notstandsarbeiten auszuführen, wobei die Zahlung des Lohns durch die Reichsregierung garantiert wurde. Auch die Arbeitgeber zeigten in Lohnfragen oftmals eine ungewohnte Nachgiebigkeit, um den neuen Burgfrieden nicht zu gefährden. In 17
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Vgl. Der Mainzer Antimilitaristenprozeß, hrsg. von der Kommunistischen Partei Deutschlands, Berlin 1924 (Dokumente der Klassenjustiz, Bd. 2). Vgl. Ruck, S. 124ff„ 154ff. Vgl. SAPMO-BA, RY 1/1 2/2/3, Bl. 83. Besprechung mit der Opposition der rheini schen Bezirke (Anfang April), Rede Walter Stoecker. Instruktion vom 10.1.1923. Zit. nach: Ruck, S. 83. Siehe auch die einzelnen Denkschrif ten Degouttes (vom 1.6.1922, 26.11.1922) und des Leutnants Schweisgut (1.12.1922) (zit. in: ebd.)
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den ersten drei Monaten der Besatzung schlugen sämtliche Versuche der KPD, die Ruhrarbeiterschaft zu Aktionen oder Streiks anzustacheln, fehl. Die Politik der Partei kritisch bilanzierend, räumte der damalige Vorsitzende der KPD, Heinrich Brandler, am 16. April 1923 in einer Rede vor Parteifunktionären in der Berliner Parteizentrale ein: „Wir haben uns hier geirrt und einen schweren Fehler gemacht. Die rasche Zuspitzung der sozialen Gegensätze im Ruhrgebiet ist nicht eingetreten. Wir standen hier zum ersten Mal einer neuen Situation gegenüber. Zum ersten Mal bewilligte der Unternehmer dem Ruhr proletarier eine lOOprozentige Lohnerhöhung und erklärte ihm gleichzeitig, geh in den Be trieb, aber mach Dir die Hände nicht schmutzig. Als Desorganisation der Produktion ist der Abwehrkampf der deutschen Bourgeoisie gegen die französische Invasion geführt worden. Und was tat der Franzose? Auch er ging nicht aggressiv gegen die Arbeitermassen vor. Der Ruhrarbeiter ist durch diese französische Invasion und durch die Art der Abwehr der Invasi on vom deutschen und französischen Bourgeois poussiert worden. [...] Als Noske 1919 die Ruhrarbeiter aus den Betrieben warf, kam er mit dem blutigen Militärstiefel. Beim KappPutsch trat Watter sehr blutig dem Ruhrarbeiter entgegen. Und der französische Militärstie fel kam gegenüber dem Ruhrarbeiter mit dem Glace-Handschuh. Diese 3. Invasion war die mildeste, die er jemals erlebt und durchgemacht hat.“21
Es fiel auch nicht leicht, die Besatzungsmächte zu einem härteren Vorgehen zu provo zieren, um auf diese Weise die Arbeiterschaft zu aktivieren. So gestand der Bezirksse kretär des Ruhrgebietes, Walter Stoecker, auf einer Besprechung mit rheinischen KPD-Funktionären Anfang April 1923 ein: „Wir hätten es zu mehr Verhaftungen kommen lassen müssen, wir haben dies mehrmals versucht, indem ich sehr scharfe Reden hielt in Düsseldorf und die Franzosen haben nichts getan.“22 Die Aussage Brandlers über die vergleichsweise milde Besatzungspraxis der Franzo sen zu diesem Zeitpunkt mag überraschen, denn immerhin traf er sie zwei Wochen nach den blutigen Ereignissen in Essen am 31. März 1923, die internationales Aufse hen erregten und als „Essener Blutsamstag“ in die Geschichte eingegangen sind. Beim Versuch, bei der Firma Krupp mehrere Lastwagen für die Besatzungsmacht zu requi rieren, hatten elf französische Soldaten, offenbar weil sie sich bedroht fühlten, in die protestierende bzw. schaulustige Menschenmenge geschossen, die sich vor einer Werksgarage gebildet hatte. 13 Tote und 28 Verletzte waren die Folge.23 Dieser Vorfall diente vor allem der deutschen Seite als — schwer zu wiederlegender — Beweis für die brutale, kriegsmäßige Okkupationspraxis der Franzosen, und auch die Kommunisten nahmen diesen Zwischenfall zum Anlass, ihre Tonart gegenüber der französischen Besatzungsmacht zu verschärfen. Die wechselhafte Darstellung des Vorfalls in der Par teipresse verdeutlicht den Umschwung der Politik der KPD. In einem ersten Artikel hatte das kommunistische Ruhr-Echo noch für die französischen Soldaten Partei ergrif-
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SAPMO-BA, RY 1/1 2/2/3, Bl. 209 f. Ebd., Bl. 84. Besprechung der Opposition der rheinischen Bezirke (Anfang April): Rede Walter Stoecker. Vgl. hierzu den Beitrag von Klaus Wisotzky in diesem Band.
Deutsche und französische Kommunisten
fen.24 Verhetzte Nationalisten hätten diese bedroht und die Schüsse seien nur gefallen, weil die Soldaten um ihr Leben gefürchtet hätten. Dieser Artikel gab offensichtlich die mehrheitliche Meinung des kommunistischen Teils der Krupp-Belegschaft wahrheits getreu wieder. Doch in der KPD-Zentrale hatte man das Potenzial dieses Vorfalls für eine aktivere Propaganda gegen die Besatzungsmacht deutlich erkannt, und so veröf fentlichte das Ruhr-Echo nur wenige Tage später eine gänzlich andere Bewertung des Vorfalls.25 Nunmehr geißelten die Kommunisten den verbrecherischen französi schen Militarismus. Diese neue Linie, in der die „antifranzösische Note“26 stärker betont werden sollte, wie es ein Mitglied der Zentrale der KPD ausdrückte, war inner halb der Partei keineswegs unumstritten. Gerade aus dem Ruhrgebiet, wo die inner parteiliche linke Opposition stark war, gab es Proteste gegen die zunehmend nationa listischen Töne, mit der die KPD nun versuchte, die Ruhrarbeiterschaftaus ihrer Passi vität zu reißen. Diese Politik scheint aber, wenn man der Kernthese der sicherlich polemisch zuge spitzten Aussagen Brandlers Glauben schenken darf, zumindest im April 1923 keinen Erfolg gehabt zu haben. Während einer Sitzung des Exekutivkomitees der Komintern Ende April 1923 in Moskau, auf der die Differenzen zwischen der Zentrale und der linken Opposition beseitigt werden sollten,27 beklagte er erneut die vorhandene Passi vität der Ruhrarbeiterschaft, selbst nach den Ereignissen in Essen: „Sogar bis in unsere Parteikreise hinein sind aufgrund der geschilderten Ursachen die Arbei ter in der Stimmung des lachenden Dritten. Sie sagen, so gut ist es uns überhaupt noch nicht gegangen, und wenn bloß diese Ruhrbesetzung noch recht lange dauern würde: Das ist eine reale Stimmung dort. [...] Wir haben große Mühen gehabt, wegen der Erschießung der 13 Arbeiter den 24stündigen Proteststreik durchzusetzen. Wir haben geradezu gewaltsam ver sucht, Provokationen der Franzosen zu organisieren, haben Offiziere entwaffnen lassen, um Zusammenstöße herbeizuführen. Aber Faschisten, wenn sie sich als Kommunisten ausgege ben haben, sind sofort von den Franzosen wieder freigelassen worden, wenn sie ein Mit gliedsbuch vorzeigten. Es wurden Läden geplündert, die Internationale gesungen, die Fran zosen griffen nicht ein.“28
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Vgl. Ruhr-Echo, 2.4.1923. Vgl. Ruhr-Echo, 7.4.1923. Vgl. auch die unterschiedliche Bewertung dieser beiden Arti kel - negativ die erste, positiv die zweite - durch Walter Stoecker in seiner Rede auf einer Konferenz der Opposition im Ruhrgebiet Anfang April, in: SAPMO-BA, RY 1/1 2/2/3, Bl. 85. SAPMO-BA, RY 1/1 2/3/3, Bl. 141. Wilhelm Koenen in der Sitzung der Zentrale vom 2.5.1923. Vgl. hierzu Hermann Weber: Die Wandlung des deutschen Kommunismus. Die Stalinisierung der KPD in der Weimarer Republik, 2 Bde., Frankfurt a. Μ. 1969, hier: Bd. I, S. 48, sowie Werner T. Angress: Die Kampfzeit der KPD 1921-1923, Düsseldorf 1973, S. 345 ff. Heute ist auch das stenographische Protokoll der insgesamt dreitägigen Ver handlungen (27-/28.4. und 4.5.1923) zugänglich, vgl. SAPMO-BA, RY 5/1 6/3/67. Ebd.
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Waren schon nach dem Vorfall in Essen nationalistische und antifranzösische Töne in der kommunistischen Propaganda zu hören, so verschärfte sich diese Tendenz im Ver lauf des Monats Mai.29 Dies geschah vor dem Hintergrund der sich ändernden, stetig verschlechternden wirtschaftlichen und sozialen Situation. Die Besatzungsmächte gingen dazu über, immer mehr Betriebe stillzulegen, was die Arbeitslosigkeit im besetzten Gebiet massiv erhöhte. Nachdem im April die Reichsmarkstützungsaktion der Reichsbank zusammengebrochen war, die den Preisanstieg bis dahin einigermaßen eingedämmt hatte, verschärfte sich die Hyperinflation, so dass der Reallohn der Beschäftigten immer tiefer sank. Die Folge dieser krisenhaften Entwicklung waren spontane soziale Unruhen und Streiks im Ruhrgebiet — mindestens 300.000 Arbeiter traten in den Ausstand.30 In diesem Zeitraum änderte die KPD auch ihre Haltung zur Politik des passiven Widerstandes. Immer offensichtlicher strebten die großen Arbeit geberverbände angesichts der wirtschaftlichen Krise danach, Errungenschaften der Novemberrevolution zurück zu nehmen, was von den Gewerkschaften und Arbeiter parteien, nunmehr auch von der KPD, als Verrat an der mühsam geschaffenen, mehr oder weniger einheitlichen Front des passiven Widerstandes — und damit als nationaler Verrat - gewertet wurde. Diese neue Frontstellung zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften versuchten die Kommunisten auszunutzen und plädierten nunmehr offen für eine Unterstützung des passiven Widerstandes, in der Hoffnung, die Front stellung zu forcieren bzw. etwa noch vorhandenes Vertrauen der Arbeiterschaft in die Regierung Cuno, die von der KPD gebetsmühlenartig als Interessenwahrerin des „Großkapitals“ identifiziert wurde, endgültig zu zerstören. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlicher, wieso sich die Kommunisten nunmehr als einzige Vertreter der wahren nationalen Interessen präsentierten. Auch die übrigen Parteien hatten den Ton ihrer Propaganda verschärft. Gegenüber dem wirtschaftlich ruinösen passiven Widerstand nahm zudem der von rechtsradikalen Gruppierungen getragene aktive Widerstand zu. Er äußerte sich vor allem in immer häufigeren Sabotageaktionen, es wurden aber auch Anschläge auf Besatzungssoldaten verübt; „Verräter“, die mit der Besatzungsmacht kollaborierten, verfielen der Feme.31 Selbst dieser fast ausschließlich von Angehörigen der nationalistischen Rechten geführte aktive Widerstand fand nun Billigung durch die KPD, wie ein Redebeitrag Walter Stoeckers während einer Politbüro-Sitzung dokumentiert: .Ausgangspunkt muß für uns sein, daß wir nicht allein im Stande sind, entscheidend in den Ruhrkampf einzugreifen. Bisher forderten wir die wirkliche Durchführung des passiven Wi derstandes im Ruhrgebiet, jetzt soll aktiver Widerstand gefordert werden. Die Franzosen
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Vgl. Louis Dupeux: „Nationalbolschewismus“ in Deutschland 1919-1933. Kommunis tische Strategie und konservative Dynamik, München 1985, S. 185f. Vgl. Ruck, S. 368fE, 378fF. Vgl. den Beitrag von Gerd Krüger in diesem Band, sowie ders.: Überwachung der Bevöl kerung und .Bestrafung“ nonkonformen Verhaltens während und nach der Ruhrbeset zung (1923-1926), in: Kulturwissenschaftliches Institut, Jahrbuch 1997/98 (1998), S. 264-284.
Deutsche und französische Kommunisten
befestigen ihre Macht von Tag zu Tag. Die Arbeiterschaft als Masse denkt nicht an einen ernsthaften Kampf gegen die Franzosen. [...] Aufkeinen Fall darf selbstverständlich schlapp gemacht werden. [...] Die Sabotageakte sind nicht nur ein Zeichen der Schwäche, sondern einzelne hatten ziemlichen Erfolg.“’2
Der Zeitpunkt dieser spontanen Radikalisierung der Ruhrarbeiterschaft im Mai 1923 deutet daraufhin, dass trotz der — nach dem Essener Vorfall gesteigerten — nationalisti schen Propaganda nicht eine prinzipiell feindliche Haltung gegenüber der französi schen Besatzungsmacht am Ursprung dieser Radikalisierung stand. Es war die sich zuspitzende soziale Krise, die große Teile der Ruhrarbeiterschaft auf die Straße trieb, weil ihre Existenzgrundlage massiv bedroht war. Ihren ersten Höhepunkt fand der neue, mit nationalistischen Parolen operierende Kurs der KPD in einer Rede von Karl Radek, dem Deutschland-Experten der sowjeti schen Partei, vor dem Exekutivkomitee der Komintern am 21. Juni 1923. Darin bezeichnete er Albert Leo Schlageter als ,,mutige[n] Soldat[en] der Konterrevolu tion“3·’. Schlageter war wegen Sabotage durch ein französisches Militärgericht zum Tode verurteilt und am 26. Mai hingerichtet worden. Radek würdigte seinen „idealisti schen Einsatz“ und gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass auch die „kleinbürgerlichen Massen“ eines Tages erkennen würden, dass die KPD die einzige Partei sei, deren Poli tik die nationalen Interessen wirklich vertrete. Über die Motive, die Radek zu dieser Rede bewogen haben, die sofort nach ihrer Veröffentlichung große Aufmerksamkeit in ganz Deutschland erregte, ist viel diskutiert worden.32 34 Die jüngst wiederholte These 33 Hermann Webers, Radek, gleichsam als ausfiihrendes Organ der Komintern, habe mit seiner Schlageter-Rede eine neue Strategie eingeleitet, die die KPD von Juli bis Sep tember 1923 angewandt habe,35 lässt sich durch die geschilderte Entwicklung der 32 33 34
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SAPMO-BA, RY 1/1 2/3/3, Bl. 156. Protokoll der Sitzung vom 15.5.1923. Die Rote Fahne, 26.6.1923. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Hans Hecker in diesem Band. Einen ersten Vorläufer dieser antifranzösischen Linie haben einige Historiker (z.B. Dupeux, S. 180; Edward H. Carr: History ofSoviet Russia, Vol. IV: The Interregnum 1923-1924, London 1954, S. 159) in einem Artikel des Parteitheoretikers August Thalheimer ausgemacht, der der deutschen Regierung im Februar 1923 bescheinigte, sie spiele mit der Politik des passiven Widerstandes aus sowjetischer Sicht eine „objektiv revolutionäre Rolle“, weil sie den deutsch-französischen Gegensatz aufrecht erhalte, der im außenpolitischen Interesse der Sowjetunion liege. Vgl. A. Thalheimer: Einige taktische Fragen des Ruhrkrieges, in: Die Internationale, 6 (1923), Nr. 4, S. 97-102, hier: S. 99. In dieser Aussage kann allerdings auch der notdürftige Versuch Thalheimers gesehen werden, die zu diesem Zeitpunkt vollkommene Wirkungslosigkeit der kommunistischen Agitation für einen General streik zu bemänteln und somit in der Niederlage auch das Positive zu sehen. Vgl. Hermann Weber: Einleitung, in: DeutscherOktober 1923, S. 19-34, hier: S. 25, so wie ders., Wandlung, Bd. 1, S. 48f. Auch der französische Historiker Louis Dupeux hat den Beginn des neuen, „nationalistischen“ Kurses auf einen früheren Zeitpunkt, Mitte Mai 1923, datiert, wobei dieser sich schon Monate vorher, u.a. durch den erwähnten Thalheimer-Artikel, angebahnt habe, vgl. ders., S. 181 fF. Er übersieht m.E. aber die katalysatorische Wirkung, die der Vorfall in Essen gehabt hat.
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kommunistischen Taktik nicht stützen. Vielmehr liegt nahe, dass Radek mit seiner Rede lediglich einen - als Reaktion auf die politische Situation im Ruhrgebiet - längst (nämlich seit April 1923) re/Z>rzaWz^eingeschlagenen Kurs der Partei in radikaler Form weitergedacht hat.36 Vor allem aber die Frage, ob Radek tatsächlich ein Bündnisange bot an die extreme Rechte im Kampf gegen die Weimarer Republik gemacht habe, oder ob es sich lediglich um eine taktische (oder strategische) Wendung gehandelt habe, um die Anhängerschaft der Nationalisten zu spalten, wurde kontrovers disku tiert.37 In dem Ansteigen des „Faschismus“, wie die KPD die rechtsradikalen Gruppierun gen bezeichnete, erblickte sie, das italienische Beispiel vor Augen, eine große Gefahr. Auf diese Gefahr reagierte sie mit einer doppelgleisigen Defensiv-Taktik. Der später so bezeichnete „Schlageter-Kurs“ war nur eine Reaktion aufdiese Entwicklung. Die KPD verknüpfte mit ihr die Hoffnung, jenseits ihrer angestammten Klientel Anhänger zu finden und sie gleichzeitig der nationalistischen Rechten zu entziehen. Die andere Reaktion auf das Anwachsen der Anhängerschaft der Nationalisten war die Bildung der paramilitärischen „proletarischen Hundertschaften“, die die Vorstufe einer späte ren Roten Armee bilden sollten. Gerade im Ruhrgebiet waren die Voraussetzungen zur Bildung dieser zunächst noch unbewaffneten Kampfiformationen überaus günstig, denn zum einen war in dieser Region ein überdurchschnittliches Potenzial an radika len, zu militanten Aktionen bereiten Arbeitern vorhanden; zum anderen wurden die proletarischen Hundertschaften durch die französische Besatzungsmacht anfangs weniger an ihrer Entfaltung gehindert als durch die deutschen Behörden im unbesetz ten Gebiet. Einer parteiinternen Umfrage zufolge gab es im Mai 1923 über 80 Hun dertschaften im Ruhrgebiet, was einer Stärke von etwa 10.000 Mann entsprach.38
Die Verschlechterung des Verhältnisses zwischen PCF und KPD Die französischen Kommunisten reagierten auf die nationalistischen Parolen der KPD mit Unverständnis und Befremden. So schrieb der Komintern-Instrukteur der PCF, Jules Humbert-Droz, an Zinov’ev, den Vorsitzenden der Komintern: 36
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Diese Frage ist insofern von Bedeutung, als Weber den Schlageter-Kurs als einen deutli chen Beleg für die absolute Kontrolle der Komintern, bzw. der russischen Partei, über die Politik der KPD wertet. Einen guten Überblick über die Diskussion, die hier nicht weiter ausgeführt werden kann, geben Dupeux, S. 187ff., sowie Angress, S. 369ff., wobei auch Angress die Annah me vertritt, es sei Radek mit seiner Rede gewesen, der den neuen Kurs eingeleitet habe, vgl. ebd., S. 373. Deutlich gegen die v.a. von Weber vertretene These des „Bündnisses“: Pierre Broue: Revolution en Allemagne, 1917-1923, Paris 1971, S. 693. Vgl. SAPMO-BA, RY 1/1 3/18—19/42, Bl. 1—6. Bericht über die proletarischen Hun dertschaften im Ruhrgebiet für den Monat April-Mai 1923. Allein die Bildung der ein deutig gegen die rechtsradikalen Gruppierungen gerichteten proletarischen Hundert schaften beweist, dass von einer tatsächlich geplanten Zusammenarbeit nicht die Rede sein kann.
Deutsche und französische Kommunisten „Die Genossen der Partei sind sehr verärgert über die nationalistischen Parolen unserer deut schen Genossen und verstehen sie nicht. [...] Sie glauben nicht nur, dass solche Parolen der deutschen Revolution schaden, sie glauben auch dass die deutschen Genossen übertrieben haben. [...] Es war uns sehr unangenehm, die Taktik unserer Genossen zu verteidigen.“39
Die neue Kampagne der KPD hatte in der französischen Partei, aber wohl auch inner halb der Arbeiterschaft also eine verheerende Wirkung, zumal es sich die Sozialisten nicht nehmen ließen, oft und ausführlich über nationalistische Entgleisungen deut scher kommunistischer Funktionäre zu berichten. Der Schlageter-Kurs wirft also auch ein bezeichnendes Licht auf die Beziehungen zwischen KPD und PCF zu diesem Zeit punkt, denn ganz offensichtlich war die PCF von der neuen Linie überrascht. Nach der zunächst verhältnismäßig intensiven Kooperation zwischen der französischen und der deutschen Parteiführung in den Anfangsmonaten der Besatzung hatte sich die Verbin dung derart verschlechtert, dass dieser doch schwerwiegende Kurswechsel der KPD nicht abgesprochen worden war. In welchem Maße die Kommunikation gestört war, belegt auch ein Brief Radeks und Brandlers an die Zentrale der PCF, in dem sie deren Passivität und ihr Unvermögen, einen wirkungsvollen Widerstand gegen die Ruhrbe setzung zu organisieren, wortreich kritisierten.40 Die so Angegriffenen verwahrten sich empört gegen diese Kritik und führten das auch von ihnen wahrgenommene Desinter esse der französischen Arbeiterschaft an der Ruhrbesetzung vor allem auf die inzwi schen als nicht mehr akut empfundene Kriegsgefahr zurück. Darüber hinaus räumten sie allerdings ein, dass ihr eigener Handlungsspielraum durch die Verhaftungen kom munistischer Spitzenfunktionäre im Frühjahr stark eingeschränkt gewesen sei, wodurch sich gewisse Mängel in den von ihnen geführten Kampagnen ergeben hätten. Angesichts dieser Verstimmungen zwischen den beiden Parteiführungen fuhren nach einander Ernst Meyer und Hans Neumann im Auftrag der Zentrale der KPD nach Paris, um sowohl der französischen Parteiführung als auch deren Basis in Versammlun gen die in der PCF auf Unmut stoßende politische Linie der KPD zu erläutern und um Sympathien für die Revolution in Deutschland zu werben - denn diese war seit Som mer 1923 nach Meinung der KPD auf die Tagesordnung gerückt.41
Der „deutsche Oktober“ und die französischen Kommunisten Die sich zuspitzenden sozialen Verhältnisse im gesamten Reich fanden ihren ersten Höhepunkt in den Berliner Streiks vom August 1923, in deren Folge die Regierung Cuno sich zum Rücktritt gezwungen sah. Die KPD nutzte diese Entwicklung zu einer immer offensiveren revolutionären Agitation. Die Ruhrbesetzung trat aus dieser Per spektive zunehmend in den Hintergrund — in den Vordergrund trat demgegenüber die 39 40 41
Archives de Jules Humbert-Droz, Dok. 178, S. 37. Bericht Humbert-Droz an Zinov’ev vom 20.9.1923. Vgl. SAPMO-BA, RY 1/1 2/3/212, Bl. 160f. Schreiben vom 1.6.1923. Vgl. ebd., Bl. 181, 182f. Schreiben Meyers aus Paris an das Polbüro der KPD vom 12.7.1923, Bericht Neumanns über seine Paris-Reise (1.-6.9.1923).
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Entwicklung in Sachsen, wo die KPD gemeinsam mit der SPD die erste „Arbeiterre gierung“ bildete. Von Sachsen aus, wo auch die Bildung der „proletarischen Hundert schaften“ am weitesten fortgeschritten war, sollte nicht nur der drohende Faschismus effektiv bekämpft werden. Sachsen sollte auch die Keimzelle eines kommunistischen Aufstandes werden, der ab August 1923 seitens der russischen Partei zur Chefsache erklärt und beschlossen wurde/2 Der Abbruch des passiven Widerstandes am 27. Sep tember 1923, der seitens der KPD als Kapitulation der neuen deutschen Regierung unter Stresemann vor der Entente gewertet wurde, bestärkte sie in ihrer Ansicht, dass eine revolutionäre Lösung der Krise immer mehr in den Bereich des Möglichen rückte. Die oben angesprochenen Differenzen zwischen den Zentralen der PCF und der KPD waren zu diesem Zeitpunkt bereits auf höherer Ebene thematisiert worden. Auf einem geheimen Treffen der russischen Mitglieder der Exekutive der Komintern mit Delegationen der deutschen, französischen und tschechoslowakischen Parteien in Moskau im September 1923 war der Ablauf des bald erwarteten „deutschen Okto bers“, des revolutionären Umsturzes, eingehend erörtert worden. Das überlieferte Pro tokoll dieser mehrtägigen Besprechungen gibt einen tiefen Einblick in die Erwartun gen und Vorstellungen der damaligen Protagonisten. Deutlich sichtbar wird die Ent schlossenheit, mit der Komintern und KPD auf den Aufstand zusteuerten, zugleich zeichnete sich aber hier schon ab, dass gerade die deutsche Parteiführung, allen voran der Parteivorsitzende Heinrich Brandler, von einer realistischen Einschätzung der Kräfteverhältnisse im Reich und im besetzten Gebiet weit entfernt war/3 Allgemein erwartet wurde nach dem Ausbrechen der revolutionären Kämpfe eine französischen Intervention, zu deren Bekämpfung Brandler nötigenfalls ein Bündnis mit der natio nalistischen Rechten zu schließen bereit war - auch wenn Marcel Cachin als Mitglied der französischen Delegation (ebenfalls anwesend: Albert Treint und Boris Souvarine) auf die Unmöglichkeit hinwies, ein solches Bündnis der französischen Arbeiterschaft
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Vgl. hierzu das Protokoll der Sitzung des Politbüros der RKP (B) vom 22.8.1923, in: Deutscher Oktober 1923, S. 130f. Der Beschluss der russischen Zentrale, die Revolution in Deutschland durchzuführen und hierfür die nötigen Mittel bereitzustellen, beruhte allerdings ganz wesentlich auf den sehr optimistischen (und unrealistischen) Analysen, die die deutschen Kommunisten der Komintern übermittelt hatten. Die von Weber und auch von Fridrich I. Firsov (ders.: Ein Oktober, der nicht stattfand. Die revolutionären Pläne der RKP (B) und der Komintern, in: Deutscher Oktober 1923, S. 35-58, hier: S. 40) gebrauchte Formulierung, die RKP hätte der KPD den revolutionären Aufstand „vorgeschrieben“, leitet in die Irre. Der Impuls, den Aufstand angesichts der als „revolu tionär“ empfundenen Situation zu wagen, kam aus Deutschland - RKP und Komintern, allen voran ihr Vorsitzender Zinov’ev, griffen ihn dann euphorisch auf. Vgl. SAPMO-BA, RY 5/16/10/76, Bl. 1-115. Protokoll vom 21.-25.9.1923. Dieses ein zigartige Dokument wurde jetzt auszugsweise veröffentlicht in: Deutscher Oktober 1923, S. 162-178 - leider ohne Brandlers Einfiihrungsvortrag am 21.9.1923, in dem er, in beachtlicher Verkennung der realen Kräfteverhältnisse, eine geradezu abenteuerliche Einschätzung der Lage in Deutschland und der Chancen eines revolutionären Aufstan des abgab, vgl. Protokoll vom 21.9.1923, Bl. 1—48.
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zu vermitteln.44 Von der PCF wurde erwartet, eine französische Intervention mit allen Mitteln zu verhindern, was angesichts der realen Kräfteverhältnisse sicherlich als reich lich naive Vorstellung anzusehen ist. Es scheint, als habe in der PCF tatsächlich die Überzeugung bestanden, dass die Revolution in Deutschland unmittelbar bevorstehe. Zumindest verstärkte sich in der Humanité ab Ende September deutlich die Bericht erstattung über die Lage in Deutschland und die bevorstehende Revolution. Nach dem Scheitern des Revolutionsversuchs im Oktober 1923 herrschte in der PCF eine große Verbitterung über die vollmundigen Ankündigungen der deutschen Kommu nisten.
Fazit Es gelang weder den französischen noch den deutschen Kommunisten, einen wir kungsvollen Widerstand gegen die Ruhrbesetzung zu organisieren. Die erwartete krie gerische Auseinandersetzung zwischen Deutschland und Frankreich, die die Kommu nisten als Ausgangspunkt der lange erwarteten revolutionären Erhebung nutzen woll ten, fand nicht statt. Statt dessen schufen sowohl die auf Zeit spielende Politik der Reichsregierung und ihr mit massiven Geldmitteln unterstützter passiver Widerstand, als auch die besonders um die Gunst der Arbeiterschaft werbende Besatzungspolitik der Franzosen eine - trotz der intensiven nationalen Propaganda der Nationalisten zunächst vergleichsweise ruhige Lage. Diese Ruhe war aber trügerisch, wie sich bald feststellen ließ: forciert durch die Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation, und aufgeheizt durch die sich mehrenden Zusammenstöße zwischen Zivilbevölkerung und der Besatzungsmacht folgte eine Verschärfung der nationalistischen Stimmung, die die Kommunisten zu instrumentalisieren versuchten, indem sie eine recht widerspruchs volle Politik verfolgten, die gleichzeitig offensive wie defensive Züge in sich trug, deren Fernziel aber immer dasselbe blieb: der (lange erwartete) revolutionäre Umsturz. Mit Hilfe des Schlageter-Kurses sollte das wachsende, nationalistische Protestpo tential innerhalb der Bevölkerung absorbiert und neue Anhänger innerhalb solcher Milieus gewonnen werden, die normalerweise nicht zur klassischen Zielgruppe der KPD-Propaganda gehörten. Gleichzeitig diente die Wendung zu einer betont anti französischen Politik als Vehikel, um die Ruhrarbeiterschaft aus ihrer bis dahin passi ven Haltung zu reißen. Auch die vordergründig offensiv wirkende nationale Taktik hatte also einen offensiven und defensiven Charakter - dies trifft ebenso auf die in Anlehnung an die Märzereignisse des Jahres 1920 parallel verfolgte Bildung der „prole tarischen Hundertschaften“ zu, die zugleich Abwehrkräfte gegen eine drohende Kon terrevolution sein sollten und die Keimzelle der zukünftigen kommunistischen Bür gerkriegsarmee. Die sich nationalistischer Parolen bedienende Politik der KPD war eine Antwort auf die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Zustände in Deutsch land und nicht eine von der Komintern ersonnene Strategie, auch wenn deren Bezeich
44 Vgl. DeutscherOktober 1923, S. 171.
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nung als „Schlageter-Kurs“ — nach der berühmten Rede des Komintern-Funktionärs Karl Radek - dies suggeriert. Die wichtigsten Richtungsentscheidungen der KPD im Jahr 1923 - die Ablehnung des neuen Burgfriedens, die Übernahme nationalistischen Vokabulars in die eigene Propaganda, schließlich die Beteiligung am passiven Wider stand und die Orientierung auf den revolutionären Umsturz - wurden in Überein stimmung mit der Komintern getroffen, waren aber vor allem, dies zeigt insbesondere der abrupte Kursschwenk in der Bewertung des Essener „Blutsamstages“, Reaktionen der KPD auf die Verhältnisse in Deutschland.45 War spätestens durch die nationale Taktik das Konzept des revolutionären Interna tionalismus gescheitert? Die Frage lässt sich nur schwer beantworten, denn anders als erwartet brach ja ein neuer „imperialistischer“ Krieg nicht aus, so dass die Situation mit 1914 nicht wirklich vergleichbar war. Der anfangs radikal geforderte internationalisti sche „Kampf nach zwei Seiten“ rückte zunehmend in den Hintergrund, wurde aber dennoch fortgeführt, was sich an der Fortsetzung der gemeinsamen deutsch-französi schen antimilitaristischen Zersetzungsarbeit einerseits, der revolutionären Agitation und der Mobilisierung gegen einen drohenden „Faschismus“ andererseits ablesen lässt. Auch richteten sich Aktionen der KPD gegen die Besatzungsmacht nicht gegen ein zelne, einfache Soldaten. Der brüchige Burgfrieden hielt, anders als 1914, nicht lange, aber er zerbrach nicht so, wie die Kommunisten es sich vorgestellt hatten, nämlich durch eine sofortige Verweigerungshaltung des deutschen und internationalen Prole tariats. Im Moment der krisenhaften Zerrüttung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse erwies sich die nationale Einheit als ein Mythos, und es war genau diese Zerrüttung, die der KPD im Sommer 1923 den Anlass bot, nunmehr mit voller Unter stützung der Komintern und der sie dominierenden russischen Partei auf den revolu tionären Umsturz hinzuarbeiten.
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Vgl. hierzu die anders lautende Einschätzung von Weber, in: ders., Einleitung, S. 23ff.
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Karl Radeks Werben um die deutsche Rechte: Die Sowjetunion und der „Ruhrkampf4 Seine berühmte „Schlageter-Rede“ auf den jungen nationalistischen Freikorps-Offi zier hielt der Deutschlandbeauftragte Lenins Karl Radek1 am 21 .Juni 1923 auf der Sit zung des Erweiterten Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale - des EKKI - in Moskau. Er gestaltete sie so, als spreche er auf der Beisetzung eines aufrech ten Soldaten, eines ehrenhaften Kombattanten von der anderen Feldpostennummer, einen ehrenden Nachruf: „Wir sind keine sentimentalen Romantiker, die an der Lei che die Feindschaft vergessen, und keine Diplomaten, die sagen: am Grabe Gutes reden oder schweigen. Schlageter, der mutige Soldat der Konterrevolution, verdient es, von uns, Soldaten der Revolution, männlich ehrlich gewürdigt zu werden.“12 Was bewog Karl Radek, Mitglied des engen Führungszirkels der Russischen Kom munistischen Partei (Bol’seviki), der linksrevolutionären Regierungspartei der sowjet russischen Diktatur, in dieser Weise über einen deutschen Rechtsradikalen, einen jun gen Freikorps-Offizier zu sprechen, den die französische Besatzungsmacht wegen sei ner Anschläge auf ihre Verkehrsverbindungen hatte hinrichten lassen? Die Rede blieb nicht im kleinen Kreis, sie wurde immerhin kurz darauf in gedruckter Form offiziell verbreitet.3 Es handelte sich also weder um eine Zufallsrede noch um die rein persönli-
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Warren Lerner: Karl Radek. The Last Internationalist, Stanford, California 1970; MarieLuise Goldbach: Karl Radek und die deutsch-sowjetischen Beziehungen 1918—1923, Bonn-Bad Godesberg 1973 (Schriftenreihe des Forschungsinstituts der Friedrich-EbertStiftung, Bd. 97); Dietrich Möller: Revolutionär, Intrigant, Diplomat. Karl Radek in Deutschland, Köln 1976; Jim Tuck: Engine of Mischief. Analytical Biography of Karl Radek, New York 1988; V.A. Artemov: Karl Radek: ideja i sud’ba [Karl Radek: Idee und Schicksal], Voronez 2000 (entgegen ursprünglicher Vermutung bietet das Buch keine neuen Archivfunde oder Interpretationen, sondern es stellt den gegenwärtigen Stand der historisch-biografischen Aufarbeitung dieser bolschewistischen Führerpersönlichkeit im postsowjetischen Russland dar, die nach ihrer Verdammung und Verurteilung in den 1930er Jahren unter Stalin zur Unperson erklärt und bis in die Perestrojka-Periode hinein mit Schweigen bedacht wurde). Die Rede ist in der kominternoffiziellen deutschen Ausgabe (Protokoll der Erweiterten Exekutive der Kommunistischen Internationale, Moskau, 12.-23. Juni 1923, Hamburg 1923, S. 240-245) zusammen mit anderen einschlägigen Texten von Radek, Paul Fröh lich, Ernst Graf zu Reventlow und Arthur Moeller van den Bruck erneut publiziert wor den in: Karl Radek: Schlageter. Eine Auseinandersetzung, Berlin o.J. (1923); da auch die se Publikation nicht in angemessener Zeit erreichbar war, wird sie, wie auch andere Texte Radeks, zitiert nach dem Dokumententeil in: Möller, S. 245-249, hier: S. 245. In der in Anm. 2 genannten Kominternpublikation.
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ehe Meinung einer Randfigur. Das bedeutet nicht, dass man bei ihrer Bewertung von der Person des Redners absehen könnte. Immerhin wirkt es auch auf den heutigen Betrachter der Szene einigermaßen befremdlich bis komisch, wenn der polnisch-jüdi sche Intellektuelle Karl Sobelsohn aus Lemberg, bekannt unter dem Revolutio närspseudonym Karl Radek,4 dessen äußere Erscheinung alles andere als die eines Sol daten war, sich als Repräsentant soldatischer Tugenden und Ehrbegriffe gerierte.5 Indem Radek eine ganze Weile auf die nationale Tränendrüse drückte, kam er zum springenden Punkt seiner Rede. Schlageter, meinte er, gehöre zu denjenigen tapferen jungen Deutschen, die vom „Kapital“ und seinen gewissenlosen Handlangern miss braucht worden seien. Ob Schlageter jemals den Sinn seines tapferen Kampfes im Bal tikum verstanden habe? Begriffen habe, dass er verführt worden war? Mit Recht könne man ihn als einen „Wanderer ins Nichts“6 bezeichnen, als einen Helden, dessen Taten keinen wirklichen Sinn hatten. „Wenn“, und hier wurde Radek unüberhörbar deut lich, „die Kreise der deutschen Faschisten, die ehrlich dem deutschen Volke dienen wollen, den Sinn des Geschicks Schlageters nicht verstehen werden, so ist Schlageter umsonst gefallen, und dann sollen sie auf sein Denkmal schreiben: der Wanderer ins Nichts[...].“ Und der Redner fuhr fort, indem er das nationale Schicksal Deutschlands und Russlands bzw. Sowjetrusslands im Weltkrieg als Kampf gegen das „Kapital“ mit einander verband und hier den jungen Offizier Schlageter als eine Art thumhen Thor darstellte, der möglicherweise nicht gewusst habe, was er tat: „Deutschland lag am Boden, geschlagen. Nur Narren glaubten, dass die siegreiche kapitalis tische Entente das deutsche Volk anders behandeln würde, als das siegreiche deutsche Kapi tal das russische, das rumänische Volk behandelt hatte. Nur Narren und Feiglinge, die die Wahrheit fürchteten, konnten an die Verheißungen Wilsons, an die Erklärungen glauben, dass nur der Kaiser, nicht das deutsche Volk für die Niederlage zu zahlen haben würde. Im Osten stand ein Volk im Kampfe. Hungernd, frierend rang es gegen die Entente an 14 Fron ten: Sowjetrussland. Eine dieser Fronten war gebildet von deutschen Offizieren und deut schen Soldaten. Im Freikorps Medern, das Riga stürmte, kämpfte Schlageter. Wir wissen nicht, ob der junge Offizier den Sinn seiner Taten verstanden hat.“7
„Haben“, fragte Radek, „das alle deutschen Nationalisten verstanden?“ Die Ludendorffs und Stinnes seien dabei, Deutschland und seine nationalen Interessen an Frankreich und England zu Gunsten ihrer eigenen Interessen zu verraten. Nun stelle sich die Frage: 4
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Daneben verwendete Karl Berngardovic Sobelson (russische Version) noch eine Fülle weiterer Pseudonyme, vor allem für seine Publikationen, aber mit dem bekanntesten Pseudonym Karl Radek ist er zur historischen Persönlichkeit geworden. Eine lebendige Charakterisierung gibt Gustav Hilger: Wir und der Kreml. Deutsch-so wjetische Beziehungen 1918—1941. Erinnerungen eines deutschen Diplomaten, Frank furt a. M./Bonn 1964, S. 77-81. Radek griffhier den Titel des Romans „Wanderer ins Nichts“ (1920) von Friedrich Freksa auf, der das Leben eines gefallenen Freikorps-Offiziers schildert. Armin Mohler: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918-1932. Ein Handbuch. Zweite, völlig neu bearbeitete und erweiterte Fassung, Darmstadt 1972, S. 48 Anm. 33. Zit. nach: Möller, S. 245f.
Karl Radeks Werben um die deutsche Rechte „Gegen wen wollen die deutschen Völkischen kämpfen: gegen das Ententekapital oder das russische Volk? Mit wem wollen sie sich verbinden? Mit den russischen Arbeitern und Bauern zur gemeinsamen Abschüttelung des Joches des Ententekapitals oder mit dem Ententekapi tal zur Versklavung des deutschen und russischen Volkes? - Schlageter ist tot. Er kann die Frage nicht beantworten. An seinem Grabe haben seine Kampfgenossen die Fortführung seines Kampfes geschworen. Sie müssen antworten: gegen wen, an wessen Seite.“"
Das war das Angebot, ein Bündnis zwischen der radikalen Linken und der radikalen, völkischen Rechten zu schließen, und zwar unter nationalem Vorzeichen. Nationaler Befreiungskampfund Klassenkampf wurden hier zu einem Manifest des Nationalbol schewismus8 9 rhetorisch zusammengeführt. Die Rede hat im Westen, zumal in Deutschland, großes Interesse, ja Aufsehen erregt, während sie in Sowjetrussland vergleichsweise ruhig aufgenommen wurde.10 Dies mutet auf den ersten Blick als um so bemerkenswerter an, als der Redner, ein gebildeter, ideologisch beschlagener Kommunist, ganz offensichtlich mit Grundprin zipien des Marxismus, auch in seiner leninistischen Variante, zu brechen, zumindest sich darüber hinwegzusetzen schien. Das Bündnis mit der Rechten bis zu ihren äußers ten Ausläufern war doch für bolschewistische Revolutionäre, die im eigenen Lande nicht nur die Angehörigen der politischen Rechten, sondern auch die Liberalen und die linken Gruppen, mit denen sie einmal verbündet gewesen waren, bekämpft, ver trieben oder vernichtet hatten, ein äußerst erstaunliches Angebot. Die Dinge rücken in ein anderes Licht, wenn man Deutschland und Sowjetruss land getrennt betrachtet. Im Deutschen Reich sah man sich in einer zweifach singulä ren Situation: Man setzte sich mit dem Versailler Friedensvertrag auseinander, der eine bis dahin ungekannte Situation der Niederlage und des Diktatfriedens festschrieb, und man hatte es in der Kommunistischen Partei und dem revolutionären Sowjetrussland mit zwei völlig neuartigen innen- und außenpolitisch virulenten, aufs engste mitein ander verbundenen Phänomenen zu tun: einer revolutionären Partei von äußerster Radikalität, die den völligen Umsturz der politischen, gesellschaftlichen und wirt schaftlichen Verhältnisse innerhalb des Landes offen anstrebte, in engster Verbindung mit einer auswärtigen Macht, die sich als Vorkämpferin und Führungsmacht dieser Revolution weltweit deklarierte, zugleich aber als einziger Partner anbot, um die natio nale Zwangslage zu überwinden, in die man durch die Niederlage und Versailles gera
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Zit. nach: ebd., S. 246. In zeitgenössischen Texten ist häufigwechselweise von nationalem Kommunismus, Na tionalkommunismus und Nationalbolschewismus die Rede, ohne dass diese Begriffe deutlich voneinander unterschieden würden. An dieser Stelle soll nur festgehalten wer den, dass es sich um eine ideologisch-taktische Linie handelte, die unter den Bedingun gen der Zwischenkriegszeit die proletarisch-sozialistische Revolution mit nationalrevolu tionären Elementen zu verbinden suchte. Mohler, S. 47 ff; Otto-Ernst Schüddekopf: Linke Leute von rechts. Die nationalrevolutionären Minderheiten und der Kommunis mus in der Weimarer Republik, Stuttgart 1960. Goldbach, S. 122.
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ten war. Unter diesen Umständen musste der Entwurf Radeks in Deutschland hohe Aufmerksamkeit auf sich ziehen. In Sowjetrussland hingegen, zumal in der Russischen Kommunistischen Partei (Bol’seviki) und der von ihr abhängigen Kommunistischen Internationale, war Deutschland nur ein Problem von vielen, wenn auch ein sehr wichtiges. Dort hatte man mit der Doppelaufgabe fertig zu werden, einerseits die Revolution im Lande zu sichern und ihren weltweiten Fortgang weiter voranzutreiben, andererseits die außen politische und wirtschaftliche Isolierung zu durchbrechen, um dem eigenen Staat das Überleben zu sichern. Dafür musste man „Verbündete“ suchen, wo man sie finden konnte.11 Insofern liegt die Annahme nahe, dass die sowjetische Führung in Moskau die Besetzung des Ruhrgebietes durch die Ententemächte und den nationalen Wider stand in Deutschland zunächst als einen von etlichen Ansatzpunkten betrachtete, um die zentralen eigenen Probleme in den Griff zu bekommen. Es ist überdies darauf hin gewiesen worden, dass die zum Jahreswechsel 1922/1923 gegründete UdSSR sowohl als größter Vielvölkerstaat der Erde nationale Eigenarten und Interessen innerhalb ihrer eigenen Grenzen zu berücksichtigen, als auch in ihrer Ansprache an die nationa len Befreiungsbewegungen der Kolonialvölker in Asien und Afrika deren-nationale!Motive und Zielsetzungen aufzunehmen und in ihre Revolutionsideologie zu integrie ren hatte.11 12 Diese Gründe können den gewissen Gleichmut erklären, mit dem Radeks „Schlageter-Rede“ von seinen Zuhörern aufgenommen wurde. Im Folgenden soll, ausgehend von Radeks Rede aufAlbert Leo Schlageter, der Frage nachgegangen werden: Was bedeutete die Ruhrbesetzung aus der Sicht des sowjeti schen Moskau auf Deutschland und das übrige Europa, und zwar im Hinblick auf die deutsch-sowjetischen und internationalen Beziehungen, auf die Entwicklung in Deutschland und auf die Verhältnisse innerhalb der Moskauer Führung? Zu den Bol’seviki, insbesondere ihrer Führungsgruppe, sei vorausgeschickt, dass es sich bei ihnen weniger, als man annehmen könnte und als vor allem die Selbstdarstel lung dieser Partei zu suggerieren versucht hat, um einen geschlossenen Block gleichge richteter Revolutionäre handelte. Wenn sie nach Lenins Willen auch eine eher kleine, aber schlagkräftige, elitäre Partei bildeten, so gaben die unterschiedlichen, ja gegen sätzlichen Persönlichkeiten ihre Positionen keineswegs auf.13 Zwar hatte Lenin auf 11
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Wolfgang Eichwede: Revolution und internationale Politik. Zur kommunistischen In terpretation der kapitalistischen Welt 1921-1925, Köln/Wien 1971 (Beiträge zur Ge schichte Osteuropas, Bd. 8), v.a. S. 38f£; Leonid Luks: Geschichte Russlands und der Sowjetunion. Von Lenin bis Jelzin, Regensburg 2000, S. 170ff. Eichwede, S. 51 f. Ganz deutlich formulierte Lenin dies auch in seinem „Referat über die internationale Lage und die Hauptaufgabe der Kommunistischen Internationale“ auf dem II. Kominternkongress (19.7.-7.8.1920) - W.I. Lenin: Ausgewählte Werke in drei Bän den, Berlin 1961, hier Bd. 3, S. 506-524, hier: S. 508f. Siehe auch Stichwort „Nationalis mus, Nationalitätenfrage“ in Claus D. Kernig (Hg.): Sowjetsystem und demokratische Ge sellschaft. Eine vergleichende Enzyklopädie, 7 Bde., Freiburg/Basel/Wien 1966—1972. Auch zum Folgenden: Adam B. Ulam: Die Bolschewiki. Vorgeschichte und Verlauf der kommunistischen Revolution in Russland, Köln/Berlin 1965, v.a. S. 629ff; Leonard
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dem X. Parteikongress 1921 im Zusammenhang mit der Einführung der Neuen Öko nomischen Politik mit dem Verbot, innerparteiliche Fraktionen („Plattformen“) zu bilden, die politischen Zügel angezogen und die Verpflichtung auf die „Generallinie“ durchgesetzt, aber damit waren die Eifersüchteleien, die Rivalitäten, vor allem die Stel lungskämpfe in der Vorbereitung des großen Machtkampfes um die Nachfolge Lenins nicht beendet. Die Zerstrittenheit der Führungsgruppe war ein offenkundiges Pro blem, das die Jahre nach Lenins Tod bestimmte, und es gab nur einige Punkte, in denen sich alle einig waren: Der erste war die Autorität Lenins, der zweite das unbe dingte Festhalten an der Revolution, d.h. an der im Oktober 1917 gewonnenen Macht, weiterhin die Dominanz der Sowjetmacht in Russland gegenüber den anderen sozialistisch-kommunistischen Parteien und Bewegungen und das Ziel des Sozialis mus als menschheitsweite Gesellschaftsform, wie immer diese im einzelnen aussehen und zu erreichen sein mochte. Die Denkweise, das Weltbild der Bol’seviki beruhte auf den Ideen der Klassiker des Sozialismus, in der von Lenin für Russland formulierten Form und Orientierung, ohne dass damit die Realisierung im einzelnen festgelegt gewesen wäre. Um diese wurde zum Teil sehr heftig gestritten. Zu den ideologisch bedingten, unbestrittenen Grundpositionen gehörte die Sicht auf den Ersten Weltkrieg. Er bildete die Ausgangslage für alle weitere Politik, denn aus ihm war die Revolution der Bol’seviki hervorgegangen,14 durch ihn waren die unmit telbaren Voraussetzungen für den Machtgewinn dieser Randpartei zu Stande gekom men, die sie noch im Juni 1917 dargestellt, was sie aber durch offensive Propaganda zu überspielen verstanden hatten.15 Dies war ihnen allen bewusst. War dieser Krieg für die Bol’seviki jemals wirklich zu Ende gegangen? Der erste Friedensvertrag, den sie im März 1918 schlossen, war der Diktatfrieden von BrestLitovsk mit den Mittelmächten.16 Er beendete diesen Teil des Krieges, aber aus dem großen Krieg gingen weitere hervor: der Bürgerkrieg, in dem übrigens weiterhin deut sche Truppen mitkämpften, der Krieg gegen die alliierten Interventionstruppen, der Krieg mit dem wieder entstandenen Polen. Auch wenn die unmittelbaren, aktiven Kriegshandlungen zurückgingen und schließlich beendet werden konnten, blieb doch eine Stimmung der Bedrohung durch die kapitalistisch-imperialistischen Staaten von außen, durch die von ihnen geförderte Konterrevolution von innen bestehen. Zu dem ideologisch bestimmten Selbstverständnis gehörte eine Kriegstheorie, die auf dem
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Schapiro: Die Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Frankfurt a. Μ. 1961, S. 288ff.; Manfred Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion 1917-1991. Entste hung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates, München 1998, S. 159ff. In „Über unsere Revolution“ beschrieb Lenin die bolschewistische Revolution im Okto ber 1917 als eine „Revolution, die mit dem ersten imperialistischen Weltkrieg zusam menhängt“. Lenin, S. 868. Helmut Altrichter: Russland 1917. Dasjahr der Revolutionen, Paderborn 1997, S. 182f. Zum Folgenden: Dietrich Geyer: Die Voraussetzungen sowjetischer Außenpolitik in der Zwischenkriegszeit, in: ders. (Hg.): Osteuropa-Handbuch. Sowjetunion. Außenpolitik 1917-1955, Köln/Wien 1972, S. 1-85; Fritz T. Epstein: Außenpolitik in Revolution und Bürgerkrieg, 1917-1920, in: ebd., S. 86—149.
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Grundaxiom eines fundamentalen Antagonismus zwischen den gegensätzlichen Gesellschaftssystemen beruhte.17 Zwar würden die kapitalistischen Staaten im Kampf um Märkte und Einfluss ihre Kriege untereinander fortsetzen, wie der Versailler Ver trag zeigte, der nichts anderes als die Fortführung des „imperialistischen Krieges“ mit anderen Mitteln sei. Aber im Zweifelsfall würden sie sich doch gegen die Gesellschafts und Wirtschaftsordnung, durch die sie grundlegend in Frage gestellt würden, immer wieder zusammenschließen und den Staat, in dem sich diese welthistorisch neuartige Ordnung realisierte, bekämpfen und zu vernichten versuchen. Mit welchen Mitteln und in welcher Form diese Auseinandersetzung geführt wurde, war unter diesem Aspekt fast gleichgültig. Insofern setzte sich aus der Sicht der Bol’seviki der Weltkrieg, der bislang größte imperialistische Krieg, aus dem die sozialistische Revolution in Russland hervorgegangen war und der damit einen neuen Charakter bekommen hatte, so lange in Phasen unterschiedlicher Qualität und Intensität fort, bis die siegreiche Weltrevolution ihm ein Ende setzen würde.18 Der „Ruhrkampf' konnte demnach nur eine Etappe im europäisch-weltweiten Klassenkrieg bedeuten. Damit wurde nicht nur der Anspruch Sowjetrusslands, seit 1923 der Sowjetunion, auf die Unterstützung des Weltproletariats begründet, sondern auch erklärt, dass und warum alle Regelungen, Abkommen und sonstigen Schritte einer Verständigungspoli tik mit den übrigen Staaten lediglich als Zwischenschritte, als zeitweilige Regelungen zu betrachten seien, ein grundlegender, dauerhafter Konsens jedoch nicht erreicht wer den könne.19 Der zentrale Grund dafür lag in der Hauptaufgabe der bolschewistischen Revolutionäre: der Sicherung und dem Ausbau der sozialistischen Weltrevolution. Die Einschätzungen des weiteren Verlaufes der Weltrevolution und damit auch des - unmittelbar damit zusammenhängenden - „Ruhrkampfes“ fielen bei den Bol’seviki keineswegs einheitlich aus.20 In der Grundtendenz setzte Lenin seine Meinung durch, dass die Weltrevolution nicht so zügig voranschreiten werde, wie ursprünglich ange nommen. Vielmehr gehe der weltrevolutionäre Prozess unregelmäßig und sprunghaft vor sich, da die Verhältnisse, die ihn beförderten, doch sehr ungleichmäßig heranreif ten. Diese Einsichten resultierten aus den Erfahrungen des Friedens von Brest-Litovsk, der Niederlage im Krieg gegen Polen, des Scheiterns der Räterepubliken Ungarn und Bayern sowie verschiedener Umsturzversuche, unter anderem in Deutschland. Was 17
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Zur Kriegstheorie nach wie vor grundlegend: Stichwortartikel „Krieg“ in Kernig, Bd. 3, Sp. 1026—1088; eine illustrative Quelle zum bolschewistischen Verständnis des Ersten Weltkrieges und dem sich daraus ergebenden Prozess klassenbedingter Konflikte ist Nikolaj 1. Bucharin/Jewgenij A. Preobrashenskij: Das ABC des Kommunismus. Populäre Erläuterung des Programms der Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki). Mit Illustrationen von Wladimir W. Majakowskij und einer Einführung von Boris Meissner, Zürich 1985 (Nachdruck der deutschsprachigen Erstausgabe 1920), v.a. IV. Kapitel: Wie die Entwicklung des Kapitalismus zur kommunistischen Revolution führte, S. 171 -249. Lenin, S. 730fE; so auch Artemov, S. 128. Luks, S. 166ff. Ebd.
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bedeutete in diesem Zusammenhang die Besetzung des Ruhrgebietes durch die Enten temächte? Die Politik des modus vivendi mit den kapitalistischen Staaten wurde im Rahmen der offiziellen Außenpolitik betrieben. Diese Politik einer begrenzten Koexis tenz verschaffte dem Sowjetstaat die „Atempause“, die er dringend zur Klärung und Stabilisierung der inneren Verhältnisse benötigte. Stalin dehnte diese „Atempause“ aus und definierte sie neu, indem er den Fortgang des weltweiten revolutionären Prozesses auf unbestimmte Zeit verschob und so lange die Revolution auf die Sowjetunion beschränkte; dies begründete er mit der These vom .Aufbau des Sozialismus in einem Lande“, die er 1924 in die Ideologie einführte.21 Die sozialistische Revolution als Grundidee und Ziel bolschewistischer Politik war damit jedoch nicht aufgehoben. Es bedurfte allerdings eines längeren Prozesses, die Aussagen zur Weltrevolution in der Theorie wie in der Praxis, das heißt auch und vor allem in der nach außen gerichteten Propaganda, zu differenzieren, an die jeweiligen Verhältnisse anzupassen und in ihrer grundlegenden Zielrichtung zu verändern. Diese Aufgabe oblag der Kommunistischen Internationale, der Komintern, die 1919 in Moskau gegründet wurde.22 Je länger der Fortgang der Revolution aufsich warten ließ, desto mehr wurde es in der Praxis wie in der Theorie möglich, die kommunistischen Parteien in Agenturen der sowjetischen Interessen zu verwandeln. Die Begründung lautete, der Sowjetstaat als einziger Staat, der bisher aus der sozialistischen Revolution hervorgegangen sei, müsse als Hort und Basis der Revolution gegen die Angriffe der kapitalistisch-imperialistischen Mächte geschützt werden. Dieser Vorgang wurde in der Forschung als „Bolschewisierung“der kommunistischen Parteien gekennzeichnet.23 Die ideologischen Grundlagen dafür hatte Lenin geschaffen, als die politische Ent wicklung in Europa noch im Fluss war: In seiner Denkschrift vom Mai 1920 mit dem Titel „Der .linke* Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus“24 erklärte er das bolschewistische Revolutionsmodell alternativlos zum Vorbild für die sozialistisehe Revolution in aller Welt. Gleichzeitig attackierte er die „doktrinären“ Vorstellun gen von einem unverzüglichen Fortschreiten der Weltrevolution in lehrbuchartiger Form und empfahl den raschen Wechsel der Methoden und Klassenbündnisse im revolutionären Kampf.25 In den Jahren 1921 und 1922 war dann von „Vorbereitung auf die Defensive“ und Rückzugsmöglichkeiten im revolutionären Kampf die Rede. 21 22
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J.W. Stalin: Werke, Bd. 6, Stuttgart 1952, S. 353. Milorad Μ. Drachkovitch/Branko Lazitch (Hg.): The Comintern: Historical High lights. Essays, Recollections, Documents, Stanford, California 1966; Pierre Frank: Ge schichte der Kommunistischen Internationale (1919-1943), 2 Bde., Frankfurt a. Μ. 1981; Kevin McDermott/Jeremy Agnew: The Comintern: a History of International Communism from Lenin to Stalin, Basingstoke 1996; Ulam, Bolschewiki, S. 561-585; Pierre Broue: Histoire de l’Internationale communiste: 1919-1943, Paris 1997. Richard Löwenthal: Russland und die Bolschewisierung der deutschen Kommunisten, in: Werner Markert (Hg.): Deutsch-russische Beziehungen von Bismarck bis zur Gegen wart, Stuttgart 1964, S. 97-116. Lenin, S. 389^85. Ebd., S. 464.
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Diese revolutionsideologischen Wendungen vollführte Lenin, um die Neuorientie rung seiner Politik zu begründen: die Einführung der Neuen Ökonomischen Politik in Sowjetrussland, die von der blutigen Niederschlagung der altbolschewistischen Auf ständischen von Kronstadt begleitet war, sowie sein Bemühen, die außenpolitische Iso lierung seiner Regierung zu durchbrechen.26 Die als „zweigleisig“ bezeichnete, in Wirklichkeit mehr als doppelbödige Politik der Bol’seviki im Ganzen, die Haltung Moskaus zu den Entwicklungen in den kapitalisti schen Staaten, also auch in Deutschland, machen die Bestimmung des entscheidenden Grundes für die eigenartige, im Rückblick zunächst verquer anmutende Deutschland politik in den frühen Zwanziger Jahren, d.h. auch die Suche nach dem Motiv für Radeks Schlageter-Rede problematisch, weil es dieses eine Motiv nicht gibt. Denn hier verknüpften sich viele Meinungen, Absichten und Interessen unterschiedlicher Art, und wie sie ausfielen, hing vom Gang der Ereignisse und von den verschiedenen agie renden Personen ab. Wenn man die Schlageter-Rede in den Zusammenhang der bolschewistischen bzw. sowjetischen Deutschlandpolitik stellt, muss das Stichwort Rapallo fallen. In dem Seebad an der Riviera verständigten sich am 16. April 1922 die sowjetische und die deutsche Regierung, am Rande der Internationalen Wirtschaftskonferenz in Genua, über grundlegende Fragen ihrer diplomatischen sowie wirtschafts- und finanzpoliti schen Beziehungen.27 In der deutschen und westeuropäischen Öffentlichkeit, nicht zuletzt auch in der Forschung, ist der Vertrag von Rapallo meistens überbewertet wor den.28 Gewiss wirkten vielfältige Traditionen deutsch-russischer Beziehungen nach. Aber es ginge an der Wirklichkeit vorbei, wenn man eher sentimentale Motive für aus schlaggebend hielte. Vielmehr war Deutschland der einzige Staat in der Umwelt der regierenden Bol’seviki, der als Partner für eine Durchbrechung der internationalen Iso lierung in Frage kam. Umgekehrt verhielt es sich aber genauso. Genau dies waren der Sinn und der Wert des Rapallo-Vertrages. In Moskau versprach man sich außer Vortei len im Handel29 die Möglichkeit, Deutschland als Vorfeld und Partner für den Fall zu stabilisieren, dass die Ententemächte den militärischen Schlag gegen Sowjetrussland führen würden, den man immer noch und weiterhin befürchtete. Das eigentliche Ziel ihrer außen- und wirtschaftspolitischen Bemühungen war für beide Staaten die Ver ständigung mit den Westmächten. Aus Moskauer Sicht stellte Deutschland - nun mehr in einer anderen ideologischen Färbung - das dar, was es für Petersburg früher lange Zeit gewesen war: das Vorfeld russischer Westpolitik. Auf Deutschland Einfluss zu gewinnen, eröffnete den Weg nach Westen, zu den Mächten, die in der Welt den
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X. Parteitag der KPR(B), 8.-16. März 1921, in: ebd., S. 639-666; siehe auch Geoffrey Hosking: A History of the Soviet Union. The Revised Edition, London 1990, 5. Kap. (S. 119-148). Horst Günther Linke: Deutsch-sowjetische Beziehungen bis Rapallo, Köln 21972, dort auch zum Folgenden. Renata Bournazel: Rapallo: ein französisches Trauma, Köln 1976. Lenin, S. 769.
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Ton angaben, in der die sowjetische Regierung anerkannt werden wollte. Da das Deut sche Reich im Grundsatz die gleichen Absichten verfolgte, wenn auch ohne revolutio näre Implikationen, kam es in den folgenden Jahren zu einem Wettlauf zwischen bei den Mächten. Aus Gründen, die hier nicht weiter zu erörtern sind, kam Berlin dabei rascher voran, wie der Ausgleich mit den Westmächten in Locarno zeigt. Das sollte sich nach der Regierungsübernahme durch die Nationalsozialisten ändern. So, wie Deutschland fiir Sowjetrussland außen- und wirtschaftspolitisch den Zugang zum Westen darstellte, galt es den Boi 'seviki im Hinblick auf ihre revolutionä ren Wünsche, Versuche und Versuchungen als das nächstliegende, geeignete Vorfeld. Lenin brachte diese Einschätzung in seiner Rede auf dem III. Kominternkongress (22. Juni - 12. Juli 1921 )30 zum Ausdruck, als er auf die missglückten Märzereignisse in Deutschland zu sprechen kam. Die Kritik an seinem Deutschlandbeauftragten Karl Radek fiel milde aus: „Wir streiten nicht darüber mit Gen. Radek, der mit uns gemeinsam diese Thesen [die der Märzaktion zu Grunde lagen] ausgearbeitet hat. Vielleicht war es nicht ganz richtig, in Deutschland eine Diskussion über die Theorie der revolutionären Offensive anzufangen, nachdem man keine wirkliche Offensive vorbereitet hatte. Die Märzfraktion ist trotzdem ein großer Schritt vorwärts, ungeachtet der fehlerhaften Führung. Aber das macht nichts. Hunderttausende Arbeiter haben heldenhaft gekämpft.“31
Nun gelte es, meinte Lenin, die Lehren aus diesen Erfahrungen zu ziehen — was er in seinen weiteren Ausführungen dann tat. In dieser Rede wie in seinen anderen Äuße rungen jener Jahre stellte er seine Revolution als Erfolgsmodell dar: „Wir haben in Russland gesiegt, und zwar so leicht gesiegt, weil wir unsere Revolution während des imperialistischen Krieges vorbereitet hatten.“32 Die Entwicklung im westlichen Europa gab in Moskau Rätsel auf, und es galt, genauer festzustellen, womit man zu rechnen hatte und welche Möglichkeiten sich für die künftige sowjetische Politik dort ergaben. Im Weltbild der Bol’seviki waren in den kapitalistischen Ländern die bürgerlichen Regierungen Exponenten oder Instrumente des Kapitals, das einerseits sich des Nationalismus als nützlicher Ideologie bediente, andererseits weltweit dieselben Interessen - Ausbeutung, Kolonialismus — verfolgte.33 Daher fiel es schwer, eine klare Antwort auf die Frage der wirklichen Interessen und der daraus resultierenden künftigen Verhaltensweisen dieser Mächte zu finden. In konzen trierter Weise kam dies bei der Ruhrbesetzung zum Ausdruck. Die Parole „An der Ruhr gegen Poincare und gegen Cuno an der Spree“ ließ noch die Vorstellung vom gemein sam gegen das Proletariat vorgehenden Kapital erkennen.34 Andererseits galt Deutsch land unter den Bedingungen des Versailler Vertrages den Bol’seviki insgesamt als
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Ebd., S. 706-724. Ebd., S. 719. Ebd., S. 720. Kernig, v.a. Stichwortartikel: „Kapitalismus“, „Imperialismus“, „Kolonialismus“. Goldbach, S. 118; Luks, S. 184ff.
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Opfer des Imperialismus, insofern ergab sich hier eine unmittelbare Verbindung und Interessengleichheit mit dem Sowjetstaat, wie Radek zu betonen nicht müde wurde.35 Gleichzeitig zeigte sich an diesem Punkt, wie vielschichtig die Einschätzung und das Verhalten der Sowjetführung gegenüber diesem Deutschland waren, dessen unge rechte Knechtung und Knebelung sie immer wieder wortreich beklagte. Die Repara tionen, die das Deutsche Reich an die Siegermächte zahlen musste, bildeten das Druckmittel, das die sowjetischen Diplomaten bei den Verhandlungen einsetzten, die zum Rapallo-Vertrag führten. Die Sieger hatten den Russen die Möglichkeit offen gelassen, sich in der Reparationsfrage auf ihre Seite zu schlagen, eigene Forderungen gegen Berlin geltend zu machen, wenn sie dafür ihre Verpflichtungen aus der Vor kriegszeit insbesondere gegenüber Frankreich erfüllten.36 So changierte Deutschland in der Sicht der Bol'seviki zwischen der Rolle der unterdrückten, ausgebeuteten, unfreien Nation, die mit Sowjetrussland in einem Boot saß, und der Rolle des kapita listischen Systems, in dem, wie in allen anderen kapitalistischen Systemen, allein die Proletarier, die Arbeiter und die wie sie ausgebeuteten Klassen, als Verbündete und Schützlinge der revolutionären Sowjetmacht in Betracht kamen. Zusätzliche Verwirrung brachte in diese Vorstellungen der Faschismus in Italien, den Mussolini mit seiner politischen Rechtswendung zum Erfolg führte, und die Entstehung des Nationalsozialismus, der bereits in seinem Namen rechte und linke Elemente mit einander verband, in Deutschland. In der Kominternführung beschäftigte man sich mit diesen neuen Entwicklungen, und die Sitzung des EKKI, auf der Radek seine „Schlage ten-Rede“ hielt, war der Auseinandersetzung mit dem Faschismus gewidmet.37 Nach der Rede Klara Zetkins sprach Radek, und er knüpfte geschickt an die Kritik und die War nungen der großen alten Revolutionärin gegenüber dem internationalen Faschismus an, um sofort einen Bogen zu seinem Anliegen zu schlagen, der Hinwendung zu den prole tarischen Schichten, die aus nationalistischen Motiven Opfer des französischen Imperia lismus geworden seien, und vor allem zu denjenigen breiten kleinbürgerlichen Schich ten, die vom Großkapital für dessen eigene Interessen missbraucht würden, um letzten Endes selbst daran zu Grunde zu gehen. Radek begann seine Rede: „Wir haben das weit ausgreifende und tief eindringende Referat der Genossin Zetkin ange hört über den internationalen Faschismus, diesen Hammer, der, bestimmt, auf das Haupt des Proletariats zerschmetternd niederzufallen, in erster Linie die kleinbürgerlichen Schich ten treffen wird, die ihn im Interesse des Großkapitals schwingen. [...] Ich konnte sie [die Rede Zetkins] nicht [...] gut verfolgen, weil mir immerfort vor den Äugender Leichnam des deutschen Faschisten stand, unseres Klassengegners, der zum Tode verurteilt und erschossen wurde von den Schergen des französischen Imperialismus, dieser starken Organisation eines anderen Teils unserer Klassenfeinde. Während der ganzen Rede der Genossin Zetkin über die Widersprüche des Faschismus schwirrte mir im Kopfe der Name Schlageter herum und sein tragisches Geschick. Wir sollen seiner gedenken hier, wo wir politisch zum Faschismus
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So beispielsweise in seiner „Schlageter-Rede“, wie oben erwähnt. Luks, S. 183. Artemov, S. 126.
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Stellung nehmen. Die Geschicke dieses Märtyrers des deutschen Nationalismus sollen nicht verschwiegen, nicht mit einer wegwerfenden Phrase erledigt werden. Sie haben uns, sie ha ben dem deutschen Volk viel zu sagen.“38
Darauf ließ er die eingangs zitierte Passage folgen. Was Radek hier als spontane Einge bung darstellte, die ihm angeblich während der Rede Klara Zetkins gekommen war, dafür hatte er mit seinen wiederholten Äußerungen über den Zusammenfall proletari scher und nationaler Interessen in der veränderten Fortführung des Weltkrieges gegen die imperialistisch-kapitalistischen Ententemächte die Weichen gestellt. Zuletzt tat er dies in seiner Rede vor dem EKKI vom 15. Juni 1923, mit der er seine Schlageter-Rede vorbereitete.39 Darin warf er der deutschen Bourgeoisie völliges Versagen vor, sie sei nicht zum nationalen Widerstand und noch nicht einmal zur Kapitulation gegenüber den französischen Imperialisten fähig. Stattdessen habe sie, ebenfalls vergeblich, ver sucht, die Arbeiter des Ruhrgebietes zu einem Aufstand zu provozieren, „um dann mit dem Schrei: Die Kommunisten haben Frankreich die Front geöffnet! die Kommunis ten niederzuwerfen und die Faschisten und Nationalisten, von denen sich ein Teil gegen die Regierung hätte wenden können, gegen die Arbeiterklasse zu werfen.“40 Dass Radek das Verdienst, diese Pläne der Bourgeoisie zu durchkreuzen, den deut schen Kommunisten zuschrieb, lag nahe, für unseren Zusammenhang ist es noch interessanter zu sehen, wie er Kommunisten, Faschisten und Nationalisten,41 wenigs tens Teile von ihnen, nahtlos aneinander reihte. Dies war ihm nur dadurch möglich, dass er der Arbeiterklasse die Fähigkeit und damit die Aufgabe zuschrieb, die eigentli che Hüterin der nationalen Interessen Deutschlands zu sein und den Kampf gegen Frankreich zu führen. Dabei ging er so weit, die Zukunft der deutschen Arbeiterklasse von der nationalen Zukunft Deutschlands abhängig zu machen: „[...] die deutsche Kommunistische Partei befindet sich in einer Übergangsperiode, wo sie sich sagen muss, dass jeder Schlag, der jetzt Deutschland niederwirft, zerreißt, belastet, die größte Behinderung des Sieges der deutschen Arbeiterklasse ist.“42 Diese Aufgabe der deutschen Arbeiterklasse verband Radek über Deutschland hin aus mit der Zukunft Europas, dessen völlige Zerrüttung er schon nahen sah, und mit zwei großen Gefahren: Zum einen sei angesichts der völlig verfahrenen Lage in Europa und der Steigerung der militärischen Rüstung „die Kriegsgefahr jetzt größer als 1914“, zum andern - hier sprach Radek, durchaus in Übereinstimmung mit Lenin,43 wieder
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Zit. nach: Möller, S. 245. Ebd., S. 238-240. Zit. nach: ebd., S. 239. Lerner, S. 120, weist daraufhin, dass die Kommunisten damals sehr häufig alle rechten Bewegungen in Anlehnung an Mussolinis Bewegung als „faschistisch“ bezeichneten. Radek in seinem Schlusswort, das er am Ende der auf sein Referat folgenden Diskussion sprach. Zit. nach: Möller, S. 242. „Zum vierten Jahrestag der Oktoberrevolution“, Lenin spricht hier von dem „nächsten imperialistischen Krieg, der vor unseren Augen von der Bourgeoisie vorbereitet wird“ Lenin, S. 731.
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einmal eines seiner politisch-ideologischen Leitmotive an - gehe es darum, mit Sowjet russland die Revolution zu retten, weil „[...] die einzige Macht der Revolution, Sowjetrussland, sich jetzt in Gefahr befindet. Eben weil wir stärker werden und weil die Hoffnungen der Kapitalisten, uns zu zermürben, zu nichte gemacht worden sind, sind wir in Gefahr. [...] Sowjetrussland ist stark, wird sich wehren und sich nicht niederwerfen lassen, selbst dann nicht, wenn es auf seine eigenen Kräfte angewiesen ist. Aber von dem internationalen Proletariat wird es abhängen, ob ein neuer Angriff auf Sowjetrussland nur von Sowjetrussland abgeschlagen wird oder ob das ge samte Proletariat zum Gegenangriff schreiten wird.“44
Vor dem Hintergrund dieser düsteren Aussichten und Warnungen stellte Radek wie der einen unmittelbaren Zusammenhang mit der nationalen und revolutionären Auf gabe der deutschen Arbeiterklasse her: „Die deutsche Arbeiterklasse ist in größter Gefahr und mit ihr die deutsche Revolution.“ Wenn Radek sofort anschließend dem Kominternvorsitzenden Zinov’ev in seiner Aussage - „Wir marschieren in Deutsch land mächtig vorwärts. Das ist eine Tatsache.“45 - ausdrücklich zustimmte, ging er mit der ihm eigenen Nonchalance über den offenkundigen Widerspruch zwischen den beiden, in der Rede unmittelbar aufeinander folgenden Sätzen hinweg. Vielleicht han delte es sich auch nur um eine in provokanter Offenheit ausgesprochene Beschreibung der Situation der deutschen Kommunisten, möglicherweise um beides. Bei diesem zynischen, ironischen, auf jeden Fall hochintelligenten Mann war nichts auszuschlie ßen. Für den rhetorisch wie ideologisch gewandten Demagogen kam es darauf an, die verschiedenen Zielsetzungen und taktischen Varianten — Mobilisierung der deutschen Kommunisten, sozialistische Revolution, nationale Aufgabe, Internationalismus und Nationalismus, abgrenzende Absicherung der eigenen ideologischen Positionen und zugleich Offenheit für Bündnispartner, Warnung und Aufmunterung - zusammenzu fugen und im Hinblick auf die angestrebte nationale Aktion in revolutionärer Absicht zu verdichten. Das zentrale Problem, das sich Radek und der Komintern für ihre Deutschlandpolitik in der Zeit des „Ruhrkampfes“ stellte, bestand in der Notwendig keit, die Basis der KPD in der Bevölkerung zu erweitern. Nach den Schwierigkeiten mit den Sozialdemokraten und angesichts der nationalen Konfrontation Deutsch lands mit den westlichen Siegermächten des Ersten Weltkrieges ging der Blick des Deutschlandbeauftragten Lenins dorthin, wo die begehrten „Massen“ zu finden waren. Das russische Beispiel, das Bündnis mit den Bauern als Massenbasis, das von Lenin46 immer wieder demonstrativ vorgeführt wurde, kam für Deutschland nicht in Frage. Radek setzte nachdrücklich hier, wie auch etwa in Italien, auf die Arbeiter schaft.47 Die Sozialstruktur war eine andere, die Bauern bildeten nicht die weitaus
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Zit. nach: Zit. nach: Eines von Möller, S.
Möller, S. 241. ebd. vielen Beispielen: Lenin, S. 720. 241 sowie S. 219ff.
Karl Radeks Werben um die deutsche Rechte
größte Bevölkerungsschicht wie in Russland, und sie waren nicht in gleichem Maße proletarisiert wie dort. Die Massen des Proletariats und der kleinbürgerlichen Schich ten, um die es ging, waren bei den Sozialdemokraten und bei der extremen Rechten zu finden - eben die Teile der Bevölkerung, die der III. Kominternkongress mit der Parole „Heran an die Massen!“ als Massenbasis für die kommunistischen Parteien ins Visier genommen hatte. Lenin hatte daraus die Folgerung mit der Propagierung der Einheits front gezogen, einer Taktik, mit der den rechtsextremen Strömungen wie auch den Sozialdemokraten die Massen wieder abspenstig gemacht und ins eigene Fahrwasser gelenkt werden sollten. Zu diesem Zweck hatte Lenin bereits auf dem III. Komintern kongress in seiner „Rede zur Verteidigung der Taktik der Kommunistischen Interna tionale“ den Begriff der „Masse“ derart flexibilisiert, dass er sich schließlich für jegliche Taktik eignete. Lenin führte aus: „Der Begriff Masse ändert sich, je nachdem sich der Charakter des Kampfes ändert. Zu Be ginn des Kampfes genügten schon einige tausend wirklich revolutionäre Arbeiter, damit man von der Masse sprechen konnte. Gelingt es der Partei, nicht nur ihre Mitglieder in den Kampf einzubeziehen, gelingt es ihr, auch Parteilose aufzurütteln, so ist das schon der Be ginn der Eroberung der Massen [...]. Verbreitet und verstärkt sich die Bewegung, so geht sie allmählich in eine wirkliche Revolution über [...]. Ist die Revolution schon genügend vor bereitet, so ändert sich der Begriff der Masse, einige tausend Arbeiter stellen keine Masse mehr dar. [...] Der Begriff der Masse ändert sich in dem Sinne, dass man darunter de Mehr heit zu verstehen hat, und zwar nicht nur die Mehrheit der Arbeiter, sondern die Mehrheit aller Ausgebeuteten [...].“48
Wenige Sätze weiter fügte er hinzu: „Man muss aber wissen, mit welchen Methoden man die Massen für sich zu gewinnen hat.“ Damit hatte Lenin grundsätzlich jeder Art von Taktik, jeder Methode, die Massen zu gewinnen, Tür und Tor geöffnet, mit dem letzten Satz erklärte er jedoch indirekt, aber unzweideutig, dass der Erfolg den Maßstab für die „Richtigkeit“ bildete: Wem es nicht gelingt, die Massen zu gewinnen, der hat eben nicht die richtigen Methoden gekannt, und dann hat er, gemäß der inner parteilichen Disziplin, die entsprechende Kritik mit ihren Konsequenzen zu ertragen. Radek griff die Ausweitung und Flexibilisierung des Masse-Begriffes durch Lenin in seiner Rede vom 15. Juni 1923, mit der er seine Schlageter-Rede vorbereitete, erneut auf und stellte ausdrücklich die Identität von Nationalismus und Revolution heraus, um von hier aus die national gesinnten und daher für die sozialistische Revolution mobilisierba ren „Massen“ anzusprechen, die zur Zeit noch dem Faschismus nachliefen: „Genossen, das, was sich deutscher Nationalismus nennt, ist nicht nur Nationalismus, son dern auch eine breite nationale Bewegung von großer revolutionärer Bedeutung. Breite Massen des Kleinbürgertums, die Massen der technischen Intellektuellen, die eine große Rolle spielen werden dank der Tatsache, dass sie unter dem bürgerlichen System proletari siert wurden, alle diese zertretenen, deklassierten, proletarisierten Massen äußern ihr Ver hältnis zu dem sie deklassierenden Kapitalismus in Form der nationalen Aufbäumung.“49
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Lenin, S. 722f. Folgendes Zitat ebd. Zit. nach: Möller, S. 243.
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Da sich jedoch die Parolen und die Propaganda, die das faschistische Selbstverständnis und Weltbild widerspiegelten, nicht einfach übersehen oder leugnen ließen, setzte Radek auf die nahe - auffällig ist im folgenden Zitat die Häufung des Wortes „heute“ Zukunft, auf den Weg, den die „Massen“ nach einer nationalen Kapitulation der kapi talistischen deutschen Regierung vor dem französischen Imperialismus einschlagen würden, auf den Weg zur sozialistischen Revolution: „Da sie [die proletarisierten kleinbürgerlichen Massen] verbunden sind in ihrer Vergangenheit mit der reaktionären Klasse, da sie eine nationale Ideologie haben, trägt der Faschismus heute rein nationalistische, reaktionäre Gesichtszüge. Er ist in seinem größten Teil heute das Instru ment derselben Klasse, die ein Aasgeier auf dem Schlachtfelde Deutschlands ist, der Stinnes, Klöckner und Krupp. Aber es wäre unsinnig, nur den heutigen Tagzu sehen. Die deutsche Re gierung weiß [...], warum sie die Kapitulation fürchtet. Sie weiß, dass die proletarische Masse, auf die der größte Teil der Kapitulation fallen wird, genötigt ist, sich weiterzuentwickeln, und ein großer Teil von ihnen wird ein aktives Element der Revolution sein.“
Zwar solle man, räumt Radek ein, den Nationalismus bekämpfen, um den Massen über seine wahre Natur die Augen zu öffnen. Aber letztlich, und hier legte er die Karten auf den Tisch, gehe es um nichts anderes als um die Macht, und die Arbeiterklasse müsse sie gewinnen, um die Nation - und damit die Revolution - zu retten: „Wenn wir aber nicht eine bloße oppositionelle Arbeiterpartei sind, sondern eine Arbeiter partei, die den Kampf um die Macht aufnimmt, so müssen wir den Weg zu diesen Massen finden. Und am besten finden wir ihn, wenn wir nicht Angst vor der Verantwortung haben, sondern sagen, jawohl, nur wir, die Arbeiterklasse, können die Nation retten. Und nicht nur die Arbeiterklasse, sondern die große Mehrheit des Volkes soll uns dazu helfen [...]. Aber um die Macht zu ergreifen, müssen wir erst diese Massen gewinnen, und darum müssen wir unsere Politik darauf einstellen.“50
Die Taktik, die Karl Radek hier predigte, folgte, bei allen Wendungen und Windun gen, durchaus dem Duktus seiner Linie gegenüber Deutschland und den deutschen Kommunisten. Daher lag es nahe, dass er zu den ideologischen und politischen Weg bereitern der Wende in der Taktik der Komintern gehörte. Bereits seit dem Grün dungsparteitag der KPD 1918 hatte er immer wieder darauf hingewiesen, dass die Arbeiterschaft in Deutschland sich an die Spitze der Nation stellen und die Herrschaft übernehmen müsse, um die Probleme des Landes zu überwinden und es wieder wehr haft zu machen. Dabei spielte der Gedanke, dass dafür zuerst die Massen dort gewon nen werden müssten, wo sie sich politisch befänden, dass also die Kommunisten offen zu sein hätten, um die anderweitig, vor allem die national orientierten Schichten und „Massen“ zu sich herüberzuziehen und unter ihre Führung zu bringen, eine zentrale Rolle.51
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Zit. nach: ebd. So z.B. in einem seiner zahlreichen Pamphlete, das er unter einem seiner häufiger benutz ten Pseudonyme veröffentlichte: A. Struthahn: Die Diktatur der Arbeiterklasse und der Kommunistischen Partei, o.O. 1919.
Karl Radeks Werben um die deutsche Rechte
Die Variante einer ideologieunabhängigen, allein aus der wirtschaftlich-politischen Situation entwickelten ökonomischen und politischen Interessengemeinschaft Sow jetrusslands und des Deutschen Reiches ergab sich aus den Eindrücken und Erfahrun gen, die er in seinen Kontakten mit recht unterschiedlichen Repräsentanten des besiegten Deutschland im Jahre 1919 gemacht hatte, darunter führenden Wirtschaft lern und Militärs.52 Radek galt also als Vertreter einer Deutschlandpolitik der Komin tern, die auf die Einheitsfront-Taktik hinauslief. Umso erstaunlicher mögen seine Wendungen erscheinen, als er im Juni 1923 in deren exakter Konsequenz die „Schlageter-Rede“ hielt und wenige Wochen später für die revolutionäre Aktion in Deutsch land, für den deutschen Oktober agitierte. Was Radek umtrieb, war, wie er immer wieder betonte, die Sorge, die Berliner Regierung könnte ihre Politik des Widerstandes gegen die Ruhrbesetzung aufgeben. Damit wäre der Druck aus dem Kessel entwichen, die national-nationalistische Kom ponente, die den revolutionären Impetus hatte verstärken sollen, wäre fortgefallen — und Karl Radeks Versuch, die proletarische Revolution in Deutschland durch den nationalen Explosivstoff zum Ausbruch zu bringen, wäre gescheitert. Genauso kam es aber. Mit dem Rücktritt der Regierung Cuno am 12. August 1923 ging die Wider standspolitik zu Ende, und Radek blieb nichts anderes übrig, als auf das Konzept eines kommunistischen Aufstandes zurückzugreifen und den deutschen anzusteu ern. Aber auch dieses Projekt missglückte.53 Zieht man allerdings den Diskurs innerhalb der Bol’seviki in Betracht, dann musste es sich nicht einmal um eine solche ideologische Volte handeln, als die sie auf den ers ten Blick erscheinen mag. Denn es gab unter den Bol’seviki, die in der Komintern den Ton angaben, keine Einigkeit darüber, was unter der Einheitsfront zu. verstehen sei.54 Trockij betrachtete sie als einen wesentlichen Schritt in der Fortführung des revolutio nären Prozesses: die Organisation der Massenbasis. Ähnlich sah es Zinov’ev, der damals noch Vorsitzender der Komintern war. Sie konnten sich dabei auf Lenin beru fen; er hatte immer wieder darauf hingewiesen, dass die Bol’seviki als relativ kleine Avantgardepartei der Arbeiterklasse nur deswegen erfolgreich sein konnten, weil sie
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Goldbach, S. 39fF. Es ist nicht uninteressant, welche differenzierende ideologische Annä herung ein Kapitalist wie Walther Rathenau im Gespräch mit Radek vornahm, als er ihm sagte, sein Werk sei im Unterschied zum bolschewistischen Ansatz ein „konstruktiver So zialismus“. Artemov, S. 73. Deutscher Oktober 1923. Ein Revolutionsplan und sein Scheitern, hrsg. von Bernhard Bayerlein u.a., Berlin 2003 (Archive des Kommunismus - Pfade des XX. Jahrhunderts, Bd. 3). Zum Folgenden Eichwede, S. 38-52; Goldbach, S. lOOff. In den mir erreichbaren ein schlägigen Handbüchern und Lexika fehlt das Stichwort „Einheitsfront“, des öfteren wird es mit „Volksfront“ gleichgesetzt, obwohl dieser Begriff erst später aufkommt und für die Zusammenarbeit verschiedener linker Bewegungen Bedeutung erhält. Hier fin den wir wieder eines der vielen Beispiele für die bemerkenswerte geringe begriffliche Prä zision der kommunistischen Agitatoren und Theoretiker, die ihnen jederzeit einen ideo logischen Schwenk erlaubte.
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sich - unter den speziellen Bedingungen Russlands - durch das Klassenbündnis mit den Bauern die notwendige Massenbasis gesichert hatten.55 Für Radek wie auch Nikolaj Bucharin dagegen war die Einheitsfront eine defensive Maßnahme. Und auch sie konnten sich auf Lenin berufen, der die Fehler und Misser folge der letzten Zeit in der internationalen Bewegung darauf zurückgeführt hatte, dass die Kommunisten - etwa in Italien und Deutschland - sich nicht auf die Defen sive eingerichtet und nicht rechtzeitig Bündnispartner gesucht hätten.56 Einverständ nis bestand nur darin, dass die Einheitsfront Aas Bündnis des Arbeiterproletariats mit anderen unterdrückten Klassen und Strömungen bedeutete, denen sich die Massen angeschlossen hatten, die eigentlich den Kommunisten hätten folgen müssen. Hin sichtlich der Zielrichtung der Einheitsfront gingen die Meinungen auseinander. Überträgt man diese programmatischen Ansätze auf die Deutschlandpolitik der Bol’seviki bzw. der Komintern respektive Karl Radeks im Jahre 1923, so wird erkenn bar, dass die Grundidee der Einheitsfront unterschiedliche Aktionen ermöglichte. Nun war weder Radeks Angebot an die proletarischen und kleinbürgerlichen Massen, das er ihnen in seiner Schlageter-Rede gemacht hatte, von Erfolg gekrönt, noch erreichte er mit seiner Agitation für eine revolutionäre Aktion des Klassenbündnisses sein Ziel eines „deutschen Oktobers“.57 Im Hinblick auf die rechten Gruppierungen beurteilten die Bol’seviki deren massive Ablehnung des Marxismus und die damit ver bundenen Vorurteile falsch, so zum Beispiel auch die von einem tief sitzenden Antise mitismus getragene Bewertung der Oktoberrevolution als jüdische Revolution.58 Die Angst der bürgerlichen Schichten, die durch Krieg und Inflation ihren sozialen Status verloren hatten, vor dem in Russland realisierten und von den deutschen Kommunis ten propagierten Sozialismus stellten sie ebenfalls nicht in Rechnung. Für diese breiten Mittelschichten spielte es keine Rolle, dass es der Sowjet- und Kominternführung nicht gelungen war, für die Aktionen des Jahres 1923 die KPD geschlossen hinter sich zu bringen und einzusetzen, was maßgeblich zur Schwächung der Kommunisten und zu ihrer mehrfachen Niederlage beigetragen hatte. So konnten die Moskauer Protago nisten der Weltrevolution aus den Konstellationen und Konfrontationen der Ruhrbe setzung und der nationalen deutsch-französischen Konfrontation für das Bündnispro gramm keinen Nutzen ziehen. Im Hinblick auf den Versuch, die Unruhen des Herbst 1923 zum „deutschen Oktober“ zu machen, unterschätzten die Bol’seviki die Widerstandsfähigkeit der anti kommunistischen Kräfte. Leonid Luks hat richtig auf einen an sich ziemlich banalen, deswegen aber umso schwerwiegenderen Fehler der Kominternführung aufmerksam gemacht.59 Er entsprang ihrem reichlich überbordenden Selbstbewusstsein: Nur die
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Nur eines von vielen Beispielen: Lenin, S. 722. Ebd., S. 715-724. Zum Folgenden Luks, S. 184ff. Johannes Rogalla von Bieberstein: „Jüdischer Bolschewismus“. Mythos und Realität, Dresden 2002. Luks, S. 191 f.
Karl Radeks Werben um die deutsche Rechte
Bol’seviki, die im eigenen Lande einmal erfolgreich eine Revolution gemacht hätten, seien in der Lage, an allen anderen Orten der Welt revolutionäre Aktionen erfolgreich zu organisieren und zu führen. Deswegen bildeten sie eine Kommission, um die Aktio nen in Deutschland zu führen. Tausende Kilometer von den Orten des Geschehens entfernt, waren sie jedoch - zumal bei den damaligen Kommunikationsmitteln - nicht in der Lage, sich ein realitätsbasiertes Urteil zu bilden und dementsprechend zu han deln. Im übrigen konnte man schon damals erkennen, dass diejenigen, die Radek als Bündnispartner anzuwerben versuchte, recht daran taten, auf die Offerte nicht einzu gehen. Die Schuld für das Scheitern wurde nur bei ihnen gesucht, und sie wurden wegen ihres Mangels an Revolutionsbereitschaft beschimpft. Das entsprach dem übli chen rechthaberischen Verhalten der Bol'seviki. Wer aber imstande war, zu hören und zu lesen, konnte Radeks Rede vor dem EKKI vom 13. Juli 1923 entnehmen, welches Schicksal er den „Verbündeten“ zugedacht hatte: das gleiche wie den zeitweiligen Ver bündeten der Bol’seviki in Russland: „Unter dem Begriff des Bündnisses versteht man, dass es sich um die Zusammenfassung ver schiedener Faktoren zur Behandlung konkreter Fragen handelt. Wir haben ein Bündnis ge habt mit den rechten Sozialrevolutionären bei den Wählen im Jahre 1907. Sie sitzen jetzt bei uns in der Lubjanka. Wir haben die Macht zusammen mit den linken Sozialrevolutionären übernommen. Wir haben sie niedergeworfen im Juli 1918. [...] Das Verhältnis der Klassen zueinander ist kein Liebesverhältnis, sondern ein Interessenverhältnis [...].“60
Warum sagte Radek derartige Dinge so offen? Mussten sie nicht die Umworbenen abschrecken? Zum einen handelte es sich um die Mischung aus Zynismus und Unver schämtheit, für die Radek bekannt war. Zum andern sah er sich offensichtlich gezwun gen, für seine deutschlandpolitische Linie zu werben und sie gegenüber den Gegnern und Zweiflern in den eigenen Reihen zu rechtfertigen. Das Jahr 1924, zu dessen Beginn Lenin starb, stand im Zeichen der Abrechnung.61 Im Zentrum der Kritik stand Karl Radek; er verlor daraufhin seine Posten und ver schwand für einige Zeit in der Versenkung. Wenig später folgten Sturz und Vertrei bung Trockijs, Zinov’ev musste den Vorsitz des EKKI abgeben. Zu den Vorwürfen, die man ihnen machte, gehörte ihr Versagen bei den deutschen Ereignissen des Jahres 1923. Ganz offenkundig ist das Verhalten der Bol’seviki generell in dieser Zeit nicht zu verstehen, wenn man nicht die internen Vorgänge in der Partei-, Staats- und Kominternfuhrung berücksichtigt. Der zentrale Punkt dabei ist die Krankheit Lenins, sein fortschreitender körperlicher Verfall; der Tod der Zentralfigur war nur noch eine Frage der Zeit. Es steht völlig außer Zweifel, dass alle Mitglieder des Führungszirkels dies genau wussten und schon früh, spätestens seit der Serie der Schlaganfälle Lenins im
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Zit. nach: Möller, S. 256f. Zum Folgenden Schapiro, Kap. 15 und 16; Adam B. Ulam: Stalin. Koloss der Macht, Esslingen am Neckar 1977, S. 185-226, zum Umgang Stalins mit Radek S. 223f.
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Jahre 1922, in ihr Kalkül einbezogen. Der Machtkampf der Diadochen wurde mit außerordentlicher Härte, Findigkeit und allem Macht- und Selbstbewusstsein dieser erprobten Revolutionäre und Bürgerkriegskämpfer geführt.62 Die eine Zeitlang demonstrierte Einstimmigkeit der Beschlüsse zeigte nichts anderes an, als dass sich von denjenigen, die die Nachfolge anstrebten, noch keiner aus der Deckung wagte, so lange der große Führer noch lebte. Der populäre Trockij, in dem sehr viele den Nach folger Lenins sahen, hielt sich außerordentlich bedeckt und enthielt sich auch in Fra gen, die in seinen Bereich fielen, wiederholt einer Meinungsäußerung. Offensichtlich wollte er Fehler vermeiden.63 Unter solchen Verhältnissen ist es einfaches politisches Handwerk, dem Konkur renten oder Gegner Fallen zu stellen oder ihn in eine Situation zu bringen, die es erlaubte, ihm Fehler zuzuschreiben. Nun wäre es sicherlich übertrieben anzunehmen, Stalin und seine Verbündeten hätten Radek, dem Gefolgsmann Trockijs, mit der Zustimmung zu seiner nationalbolschewistischen Linie zur Zeit der Ruhrbesetzung und seiner Revolutionsagitation für den „deutschen Oktober“ eine Falle gestellt. Dagegen spricht schon allein die Ungewissheit darüber, wie die Dinge ausgehen wür den. Es lag jedoch nahe, Radek, dessen Einschätzung der Lage in Deutschland bekannt war, in diese Richtung laufen zu lassen. Als aber sein Scheitern offenkundig wurde, bot sich eine willkommene Gelegenheit, ihn und mit ihm Trockij und seine Anhänger zu kritisieren und im Machtkampf zu schwächen. Auf der anderen Seite lässt sich auch nicht übersehen, dass Radek die Chance erkannt hat, die in einem Gelingen seiner Politik lag. Die Taktik der Einheitsfront, wie man sie immer auslegen mochte, offensiv oder defensiv, schien eine günstige ideologische Grundlage zu bieten. Ein Erfolg hätte Trockij, Radek und ihren Unterstützern einen kaum zu überbietenden Trumpf in die Hände gespielt. Fassen wir zusammen: Für die Bol’seviki hatten die diversen Friedensschlüsse, ins besondere der Versailler Vertrag, den Weltkrieg nicht beendet. Vielmehr sahen sie in dem fortdauernden Gegensatz zwischen den Kriegsgegnern, in dem das revolutionäre Russland eine völlig neuartige Sonderrolle spielte, eine Fortführung des imperialisti schen Krieges mit anderen Mitteln. Eine wirkliche Befriedung werde, so dachten sie, erst die Vollendung der sozialistischen Weltrevolution mit sich bringen, die in Russ land ihren Anfang genommen hatte. Das Jahr 1923, insbesondere die Ruhrbesetzung, bot der Moskauer Führung eine Gelegenheit, aus damaliger Sicht vielleicht für längere Zeit die letzte, die Revolution in Deutschland und über Deutschland hinaus voranzu treiben. Bei dem Bündnisangebot an die extreme Rechte, an die vom Faschismus ver einnahmten, proletarisierten Massen, handelte es sich um eine äußerste Steigerung der Einheitsfronttaktik, die schon seit längerer Zeit eine relevante, wenn nicht - in Anbe tracht der ausbleibenden Fortschritte der Revolution - die zentrale Konzeption in der 62 63
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Ulam, Bolschewiki, S. 629ff. Für die Ideologie, Politik und Haltung Trockijs immer noch wichtig Heinz Brahm: Trotzkijs Kampf um die Nachfolge Lenins. Die ideologische Auseinandersetzung 19231926, Köln 1964.
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bolschewistischen Revolutionspolitik darstellte. Da die Komintern nichts anderes als ein Machtinstrument der Bol’seviki war, wurde sie auch im inneren Machtkampf um die Nachfolge Lenins eingesetzt. Insofern kam der Ruhrbesetzung und der Rolle Radeks aus Moskauer Sicht nicht viel mehr Bedeutung zu als die einer Etappe und eines taktischen Winkelzuges bei der Machterhaltung nach außen und der Machtneu verteilung im Innern. Daran änderte es auch nichts, dass Stalin später ebenfalls natio nalbolschewistische Töne anstimmte, wenn es ihm günstig erschien. Das war auch nur Taktik in veränderten Zeiten.
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Übergriffe der französischen Besatzungsmacht und deutsche Beschwerden Der Begriff der „Besetzung“ (occupation), der sehr neutral ist und von der französi schen Historiographie stets benutzt wird, verschleiert vollkommen die oftmals tragi schen Gewalttätigkeiten im Zusammenhang mit der am 11. Januar 1923 beginnenden Stationierung von 45.000 Soldaten (im April bis zu 60.000 Mann) im damals 3,5 Mil lionen. Einwohner zählenden Ruhrgebiet. Die offizielle Sprachregelung der französi schen Regierung ist deutlich: Die Truppen sollen lediglich die 72 Ingenieure der Inter alliierten Kommission zur Kontrolle der Industrieanlagen und Kohlegruben (Mission Interalliée de Contrôle des Usines et des Mines - MICUM) schützen. Die Operation, so wie sie Poincaré juristisch legitimieren wollte, soll rein wirtschaftlicher und techni scher Natur sein. Sie ist nur provisorisch und soll „sauber“ durchgeführt werden. Mit den Begriffen „Schlacht“ (bataille) oder „Kampf' (combat) können, zumindest bis zum Ende des passiven Widerstandes am 26. September, die verschiedenen Ebenen des Konfliktes zweifellos besser erfasst werden. Es war zunächst ein realer Kampf an Ort und Stelle, in dem es zu zahlreichen, unmittelbaren und unvermeidlichen Zusam menstößen zwischen Soldaten und Zivilisten kam (es genügt hier, auf den Essener „Blutsamstag“ am 31. März mit 13 Toten während der Requirierung von Fahrzeugen bei Krupp hinzuweisen).1 Es war aber auch eine Schlacht der Propaganda und der Berichte und es war - aus deutscher Sicht - zwingend notwendig, diese für sich zu ent scheiden, um eine Bevölkerung zu mobilisieren, die angesichts der wirtschaftlichen Folgen des passiven Widerstandes immer stärker beunruhigt war. Auch wollte man die übrigen Mächte dazu bringen, Deutschlands Position zu unterstützen und somit die diplomatische Isolation Frankreichs zu verstärken. Aus dieser Perspektive musste der kleinste Vorfall ausgenutzt werden. So steht man einer beeindruckenden Menge an Publikationen, Broschüren, Beschwerden und offiziellen Protesten, Presseartikeln, erschütternden Darstellungen und „Augenzeugenberichten“ sowie Photographien gegenüber, die die Besatzungs truppen stigmatisieren und den heutigen Betrachter in Verwirrung stürzen. Was soll man von diesen systematischen Anschuldigungen und den nicht weniger planmäßigen Dementis seitens der französischen Behörden halten? Wem soll man glauben? Entspre chen diese Gewalttätigkeiten der Wirklichkeit? Sind sie bloße Propaganda und das Ergebnis einer Manipulation der nationalen wie der internationalen öffentlichen Mei nung? Muss man sie, wie John Horne es im Hinblick auf die „deutschen Gräueltaten“ in Belgien im August und September 1914 getan hat, als „kompliziertes Aufeinander treffen der kollektiven Subjektivität und der äußeren Wirklichkeit des Krieges, ein 1
Vgl. hierzu ausführlich den Beitrag von Klaus Wisotzky in diesem Band.
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Überkreuzen des Rationalen und des Irrationalen“2 betrachten? Sowohl die erwiesene Existenz von Gewalttaten als auch die durch sie ausgelösten, Schrecken verbreitenden Berichte zeigen eine andauernde und tiefsitzende Animosität sowie Verhaltensweisen, die direkt aus dem Krieg übernommen wurden. Etwas mehr als vier Jahre nach dem Waffenstillstand leben diese im Umfeld einer Krise wieder auf, welche das Aufkom men nationalistischer Diskurse und Mythen fördert.
Gewalt der französischen Truppen in den besetzten Gebieten: Versuch einer Bilanz Die offiziellen Beschwerden, die die deutsche Botschaft an das französische Außenministe rium am Quai d’Orsay richtete, unterschieden zwischen fünf verschiedenen Kategorien von Übergriffen: „Bluttaten“ (mit Todesfolge bzw. schweren Verletzungen), „Sittlichkeits verbrechen“, „Räubereien“, „Misshandlungen“ sowie „Sonstige Ausschreitungen“.3 Aus den französischen Archivmaterialien ist das Vorkommen von Gewalttaten in bestimmten Kontexten ersichtlich: Verbrechen, die aus freien Stücken begangen und nicht provoziert wurden (der Wachtposten, der nach mehrfacher Anrufung schoss, wurde hier natürlich nicht genannt, wohingegen die deutschen Quellen keine Unter scheidung vornahmen und regelmäßig feststellten, dass ohne Grund gefeuert worden war); Vergewaltigung bzw. versuchte Vergewaltigung, wenn davon ausgegangen wurde, dass eine Zustimmung des Opfers nicht vorlag; offensichtliche Gewalttaten oder bewaffneter Raub (hier war die entwendete Summe von Bedeutung, denn „klei nere Vergehen“, die sog. „petits délits“, wurden sehr häufig nicht aktenkundig). Natür lich wurde alles, was auf eine Entscheidung der zivilen oder militärischen französi schen Behörden zurückging und von deutscher Seite als Gewalttat angesehen wurde, von französischer Seite nicht als solche bewertet. Dies galt etwa für die ReichsmarkBeschlagnahmungen in Banken, die Requirierung von Schulgebäuden für die Ein quartierung von Soldaten, die Ausweisung „preußischer“ Beamter bzw. — als Repressa lie - die Verhaftung von Personen an Orten, an denen Sabotageakte verübt worden waren. Die Art und Weise, wie solche Anweisungen ausgeführt wurden, lieferte jedoch in manchen Fällen Diskussionsstoff. So war die Durchsuchung der Industrie- und
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John Home: Les „mains coupées“: atrocités allemandes et opinion française en 1914, in: Jean-Jacques Becker/ Jay Winter/Gerd Krumeich/Annette Becker/Stéphane AudoinRouzeau (Hg.): Guerre et cultures 1914—1918, Paris 1994, S. 133-146, hier: S. 134. Aktenstücke über den französisch-belgischen Einmarsch in das Ruhrgebiet, Bd. 4, Berlin 1923. Im Archiv des französischen Außenministeriums am Quai d’Orsay (hiernach: MAE), sind die wichtigsten deutschen Protestnoten überliefert. Vgl. Serie Z Europe 1940, sous-série Rive gauche du Rhin (hiernach: RG): Dossier 159, Bl. 110-119 (Note vorn 26.2.1923), Bl. 162-177 (Note vorn 24.3.1923), Bl. 230-246 (Note vorn 18.4.1923), Dossier 161, Bl. 149—177 (Note vorn 21.6.1923), Bl. 196-216 (Note vorn 24.7.1923), Bl. 252-261 (Note vorn 7.8.1923), Bl. 270-278 (Note vorn 6.9.1923) und Dossier 169 (Memorandum von 1925).
Übergriffe der französischen Besatzungsmacht und deutsche Beschwerden
Handelskammer in Bochum am 23. Februar in der deutschen Presse ein immer wieder aufgeworfenes Beispiel für den Vorwurf des Vandalismus, belegt durch Photographien zerstörter Möbel, durchwühlter Akten und durchgebrochener Tische. Der französi sche Bericht erkannte die Sachbeschädigung an und bedauerte diese.4 Die Besetzung von 154 Schulen durch das Militär, von der Tausende von Schülern betroffen waren, und die nach Aussage von General Dégoutté nur deswegen erfolgt war, weil die deut schen Behörden sich geweigert hatten, Auskünfte über mögliche Quartiere zu geben, wurde dagegen nicht weiter kommentiert.5 Ebenso liegen keine Stellungnahmen zur Durchführung der von Januar bis Oktober 1923 erfolgten Ausweisung von etwa 140.000 Personen - rund 37.000 Beamte mit ihren Familien, denen nur einige Tage zur Vorbereitung ihrer Abreise gegeben wurden — aus den besetzten Gebieten vor. Es handelt sich also offensichtlich um eine Frage des Standpunktes. Beim Vergleich zwischen französischen und deutschen Quellen werde ich mich auf die Beschwerden wegen tödlicher bzw. schwerer Verletzung (durch Kugel- bzw. Bajo netteinwirkung), Vergewaltigung bzw. versuchter Vergewaltigung sowie auf einige Fälle brutalen Vorgehens, die besonders von der Propaganda ausgeschlachtet wurden, beschränken. Es ist ziemlich unkompliziert, die deutschen Beschwerden zu erfassen, da diese ausführlich publiziert sind.6 Wenn man einige Doppelbeschuldigungen bei seite lässt und die französischen Übergriffe von denen der belgischen Soldaten diffe renziert hat, ist eine Quantifizierung einfach. Es bleibt nur anzumerken, dass bei die sen Beschwerden die Unfalltoten (beispielsweise Fußgänger, die von Militärfahrzeu gen überrollt wurden) nicht von den übrigen Todesfällen unterschieden wurden. Für die französische Seite allerdings verfügt man nicht über entsprechende Aufstellungen. Hierzu müssen die Archive von Fall zu Fall durchsucht werden nach Militärberichten, Aussagen der Beschwerdeführer, sofern solche existieren, Untersuchungsergebnissen sowie eventuell von Kriegsgerichten ausgesprochenen Verurteilungen. Das Ergebnis ist hier weniger gut statistisch gesichert. Die folgenden Tabellen zeigen jedoch, dass hinsichtlich der Toten und der Schwerverletzten die meisten der deutschen Beschwer den durch die französischen Quellen bestätigt werden. Daher kann man Monat für Monat eine relativ zuverlässige Bilanz erstellen. Im Hinblick auf Vergewaltigungen ist dies schwieriger. Zahlreiche deutsche Beschuldigungen schlagen sich nicht in den fran zösischen Quellen nieder, entweder weil keine Klage bei den Besatzungsbehörden ein gereicht wurde oder weil die Untersuchung zu keinem Ergebnis geführt hat.
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MAE, Série Relations commerciales, sous-série B-81 und 82. Délibérations internatio nales (hiernach: RC), Dossier 305, Bl. 11-25, „Incidents de Bochum“. Der für die Durchsuchung verantwortliche Offizier wurde nicht behelligt. MAE, RC, Dossier 323, Bl. 58-59. Die deutsche Protestnote vom 7.5.1923 sprach in diesem Zusammenhang von einer der Bevölkerung auferlegten „moralischen Blockade“; Bl. 245: Antwort Dégouttes vom 28.6.1923. Ich habe den deutschen Beschwerden die wenigen Fälle von Mord bzw. Vergewaltigung hinzugefügt, die von den französischen Behörden anerkannt wurden, in den deutschen Dokumenten aber nicht auftauchen.
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Tote
gesamt
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Ruhrgebiet
Tote
Tabelle 1: Tote und Schwerverletzte
Stanislas Jeannesson
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Übergriffe der französischen Besatzungsmacht und deutsche Beschwerden
Diagramm 1: Tote und Schwerverletzte (deutsche Quellen)
Diagramm 2: Tote und Schwerverletzte (französische Quellen)
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Dez. 1923
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Nov. 1923
Sept. 1923
August 1923
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Vergewal tigungen -
1923
Januar Februar
deutsche Qijellen
Tabelle 2: Vergewaltigungen
Stanislas Jeannesson
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rbnung. (Bnwitt: ■« 5leudern aus- dem'Hinterhalt gegen mich. heimtiickikhc 'Pfeile und blähen im ‘Dunkeln ihre giftgefcbir.'lletien Q^äudje.
2{bßiufraukßu, laßt Sud) nidrt irre mad)en! r roifet, meine Briiber. i>of? id; ein birl.es Sell intb ein eifernes Silrfleiirb, ein [rbmiestlames ‘.’iiirksitat und ;ioei frets offene öanbe Wity. Mir kann keiner f
2vf)cinf ranken, id> bleibe bei Sud)! Sieben Städte ftreiten fiel? um die ihre. i|id> loürdig ;u empfangen, ioie einft Örieriienland um den Jeldberrri Ooidius. Jn ‘Paris erwartet mich mein ‘Präfident ‘Poincare öemnächlt ?um Qkiiberkub der Ehrenlegion. ön itfehaffenburg harrt nieintt für 6 SHonate die fchlidMe Jelle eines bayrifdjen Staatsanwalts. Jn Stankfntf a. ‘Blain Hebt üerroaift ber QwbaktionsfnrM im Kaffee Slnbtanb. ... , *, veipria mallen %irt,sa«id>: irnb «eirbsanmall im* loflat auf Cebensjeit feftbalten. _ . ..... ... ....... freund i)orten über die Teilung der teilte «3n TBiesbadeu fall ith mich m meinen· oerftändigen. ■ler.^dt riiftet man eifrig, um dem oerlorenen Sohn einen ..Jo»‘Wtribura, -;,':··■*’· 9?........ warmen Empfang jii firhein. _ .
Qlber in 'Düflelborf ift iebett SumiLag oabliag in Sranken für ixbemfrauken. "Da bleibe icf>!
WinitünHeiUtö ölcilie 6uft eröalten! Solange mir Jrankreid) freigebig die Eafdwi füllt. Solange noch 'Dumme auf meinen Venukrierben. Solange mit keine deutfdje Jault den ‘.Hund ftopft sieltiitjt auf bi» fiearekben «aionettfp:c>en ber glorreirlien Mine» bes lablunjs· freudigen Jmnkreicb, w .. (v ‘Sebiilet oon meiner Ceibjiarbe aus brauen Marokkanern. frommen u galefen und meiner befebeideneu 2U)einroel)t. ox Die Halte id) in gut gefdjmierten Hand en das grun-ipeif?-n te - < ‘ Jahne aller thiinmcn und Jetgen an Qvhein und Vüihr.
"Hiebet· mit ber preiifjtjthrn Orbituitfl! Hiebet mit ber bajjrifdjen^ieberkeit! Hieber mit ber beutfcb.en Sretie!
i« it»t »ft RtftiiiBfte Rtputtli tl ‘Dnflelborf, im Oktober 1923.
Ulaittyes
Cicero-Verlag; „Quoutqae tandem, Caiiltna" Druck· VerlagaanMah Ur die Rheinlande A.-Ü. Döaj-ddoH
Abb. 70
356
Abkürzungen AN Archives Nationales (Paris) APP Archives de la Préfecture de Police de Paris AVI Arbeitsgemeinschaft der eisenverarbeitenden Industrie BBA Bergbau-Archiv Bochum Bundesarchiv Berlin BAB BA-MA Bundesarchiv-Militärarchiv (Freiburg/Br.) BPRS Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller CGT Confédération Générale du Travail Confédération Générale du Travail Unitaire CGTU Centrale Staatspolizei C.St. DNVP Deutschnationale Volkpartei HA Krupp, WA Historisches Archiv Krupp, Essen, Werksarchiv H.C.I.T.R. Haute Commission Interalliée des Territoires Rhénans (Hohe Interalliierte Rheinlandkommission) Nordrhein-Westfälisches Hauptstaatsarchiv Düsseldorf HStAD IfZf Institut für Zeitungsforschung (Dortmund) IRG Internationale Rohstoffgemeinschaft Komintern Kommunistische Internationale Kommunistische Partei Deutschlands KPD Archives du Ministère des Affaires Étrangères (Paris) MAE MICUM Mission Interalliée de Contrôle des Usines et des Mines NL Nachlass NRF Nouvelle Revue Française NRW Nordrhein-Westfalen NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei PA Personalakte PA-AA Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Parti communiste français PCF Provinzialstelle für Landaufenthalt (Münster) PfL POB Parti ouvrier belge Regierung Reg. RC Relations commerciales Rive gauche du Rhin RG RKP (B) Russische Kommunistische Partei (Bolschewiki) Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR SAPMO-BA im Bundesarchiv (Berlin) Sozialdemokratische Partei Deutschlands SPD Stadtarchiv Düsseldorf StAD Stadtarchiv Duisburg StA DUI Stadtarchiv Lünen StA LÜN StAM Staatsarchiv Münster Archiv der ThyssenKrupp AG (Duisburg) TKA UA Universitätsarchiv Union Nationale des Combattants (französische Veteranenorganisation) UNC WTB Wölfisches Telegraphisches Bureau (Presseagentur) ZN Zentrale Nord, Nachrichtenstelle
357
Abbildungsverzeichnis Titelbild Privatbesitz Gerd Krumeich Abb. 1 Stadtarchiv Düsseldorf, 01-23-97/57 ................................................... Abb. 2 Simplicissimus, 12.2.1923 ....................................................................... Abb. 3 Kladderadatsch, 76(1923), Nr. 5, 4.2.1923........................................... Abb. 4 Le Soir, 19.2.1923 (L. Raemaekers)...................................................... Abb. 5 La Nation Beige, 26.8.1923................................................................... Abb. 6 La Libre Belgique, 19.10.1923 (anonym) ............................................ Abb. 7 Le Soir, 27.1.1923 (Raemaekers)........................................................... Abb. 8 Le Soir, 25.3.1923 (Raemaekers)........................................................... Abb. 9 LeSoir, 17.12.1923 (Raemaekers)........................................................... Abb. 10 LeSoir, 4.6.1923 (Raemaekers).............................................................. Abb. 11 Pourquoi pas?, 22.6.1923 (Ochs) .......................................................... Abb. 12 LeSoir, 16.7.1923 (Raemaekers)............................................................. Abb. 13 LeSoir, 18.8.1924 (Raemaekers)............................................................. Abb. 14 Vorwärts, 8.2.1925. Abgedruckt in: Hans Spethmann: Zwölf Jahre Ruhrbergbau, Bd. IV, Berlin 1930, S. 15 .......................... Abb. 15 Abgedruckt in: Hans Spethmann: Zwölf Jahre Ruhrbergbau, Bd. III, Berlin 1929, S. 295 ................................................................................. Abb. 16 Stadtarchiv Düsseldorf, 01-23-99/6 .................................................... Abb. 17 Stadtarchiv Düsseldorf, 01—23—96/60 .................................................. Abb. 18 Stadtarchiv Düsseldorf, 01—23-75/11 .................................................. Abb. 19 L’Illustration, 13.1.1923 ....................................................................... Abb. 20 Spezialausgabe des Simplizissimus I (ohne Datum). Nanterre, Bibliothèque de Documentation Internationale Contemporaine......... Abb. 21 Spezialausgabe des Simplizissimus II (ohne Datum). Nanterre, Bibliothèque de Documentation Internationale Contemporaine......... Abb. 22 Ebd............................................................................................................. Abb. 23 Ebd............................................................................................................. Abb. 24 Ebd............................................................................................................. Abb. 25 Ebd............................................................................................................. Abb. 26 Privatbesitz Annette Becker-Deroeux .................................................. Abb. 27 Stadtarchiv Düsseldorf, 01-23-96/30 .................................................. Abb. 28 Stadtarchiv Düsseldorf, 5—4—0/796 ...................................................... Abb. 29 Stadtarchiv Düsseldorf, 01-23-96/12 .................................................. Abb. 30 Stadtarchiv Düsseldorf, 01—23—147/1, Bl. 102 ................................... Abb. 31 Ebd............................................................................................................
15 21 23 111 111 112 113 114 114 115 115 116 117 137 143 173 174 174 225
226 227 228 229 230 231 258 271 273 293 298 299
Bilddokumente zur Ruhrbesetzung
Abb. Abb. Abb. Abb.
32 33 34 35
Stadtarchiv Stadtarchiv Stadtarchiv Stadtarchiv
Düsseldorf, 01—23—76/57 .................................................. Düsseldorf, 5—4—0/827 ...................................................... Düsseldorf, 01-23-76/106 ................................................ Düsseldorf, 5—4—0/8...........................................................
323 324 325 325 359
Abbildungen
Abb. 36 Abb. 37 Abb. 38 Abb. 39 Abb. 40 Abb. 41 Abb. 42 Abb. 43 Abb. 44 Abb. 45 Abb. 46 Abb. 47 Abb. 48 Abb. 49 Abb. 50 Abb. 51 Abb. 52 Abb. 53 Abb. 54 Abb. 55 Abb. 56 Abb. 57 Abb. 58 Abb. 59 Abb. 60 Abb. 61 Abb. 62 Abb. 62 Abb. 63 Abb. 64 Abb. 65 Abb. 66 Abb. 67 Abb. 68 Abb. 69
360
Stadtarchiv Düsseldorf, 01-23-97/49 .................................................. Stadtarchiv Düsseldorf, 01-23-76/144 ................................................ Stadtarchiv Düsseldorf, 01-23-76/119 ................................................ Stadtarchiv Düsseldorf, 01-23-76/69 .................................................. Stadtarchiv Düsseldorf, 01—23—97/35 .................................................. Ebd............................................................................................................ Stadtarchiv Düsseldorf, 01-23-75/36 .................................................. Stadtarchiv Düsseldorf, 01-23-75/12 .................................................. Stadtarchiv Düsseldorf, 01-23-75/100 ................................................ Stadtarchiv Düsseldorf, 01-23-76/169 ................................................ Stadtarchiv Düsseldorf, 5—4-0/825 ....................................................... Stadtarchiv Düsseldorf, 01-23—76/149 ................................................ Stadtarchiv Düsseldorf, 5-4-0/1563 ..................................................... Stadtarchiv Düsseldorf, 01-23—76/13 .................................................. Stadtarchiv Düsseldorf, 01-23-76/275 ................................................ Stadtarchiv Düsseldorf, 01-23-96/21 .................................................. Stadtarchiv Düsseldorf, 5—4-0/1561.................................................... Ebd............................................................................................................ Stadtarchiv Düsseldorf, III 21267 ......................................................... Stadtarchiv Düsseldorf, III 21267 ......................................................... Stadtarchiv Düsseldorf, 01-23—96/63 .................................................. Ebd............................................................................................................ Stadtarchiv Düsseldorf, 01-23-96/10 .................................................. Privatbesitz Karlheinz Rabas................................................................. Privatbesitz Karlheinz Rabas ................................................................. Privatbesitz Karlheinz Rabas ................................................................. Privatbesitz Karlheint Rabas ................................................................. Stadtarchiv Düsseldorf, 01-23—96/55 .................................................. Stadtarchiv Düsseldorf, 01-23-96/52 .................................................. Stadtarchiv Düsseldorf, 01—23-96/45 .................................................. Stadtarchiv Düsseldorf, 01—23—75/100 ................................................ Stadtarchiv Düsseldorf, 01-23-76/16 .................................................. Stadtarchiv Düsseldorf, 01-23-75/85 .................................................. Stadtarchiv Düsseldorf, 01-23-76/36 .................................................. Stadtarchiv Düsseldorf, 01-23-76/283 ................................................
326 326 327 327 328 329 330 331 332 333 334 334 336 338 339 340 341 342 343 344 345 346 347 348 348 349 349 350 351 351 352 353 354 355 356
Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Annette Becker-Deroeux. Professorin für Neue Geschichte an der Université Paris-Nanterre (Paris X), Arbeitsschwerpunkte: Französische Geschichte, Kultur- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs. Neuere Veröffentlichungen u.a.: zusam men mit Stephane Audoin-Rouzeau: 14—18, retrouver la guerre, Paris 2003; Maurice Halbwachs, un intellectuel en guerres mondiales 1914—1945, Paris 2003. Prof. Dr. Gertrude Cepl-Kaufmann. Professorin fur Neuere Deutsche Literaturwis senschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Arbeitsschwerpunkte: Lite rarische Gruppenbildung, Naturalismus, Expressionismus, Kulturgeschichte Berlins und des Rheinlandes. Neuere Veröffentlichungen u.a.: (zusammen mit Antje Johan ning): Mythos Rhein. Zur Kulturgeschichte eines Stromes, Darmstadt 2003; Der „Bund rheinischer Dichter“ 1926-1933, Paderborn u.a. 2003.
Prof. Dr. Christoph Cornelißen. Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Christian-Albrechts-Universität Kiel, Arbeitsschwerpunkte: Britische und deutsche Geschichte, Historiografiegeschichte, Geschichte Europas. Neuere Veröffentlichun gen u.a.: Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert, Düs seldorf 2001; zusammen mit Lutz Klinkhammer und Wolfgang Schwentker (Hg.): Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan seit 1945, Frankfurt 2003. Prof. Dr. Conan Fischer. Professor für Europäische Geschichte an der University of Strathclyde in Glasgow, Arbeitsschwerpunkte: deutsche Geschichte und Sozialge schichte des 20. Jahrhunderts (Weimarer Republik, Nationalsozialismus). Neuere Ver öffentlichungen u.a.: The Rise of the Nazis, Manchester u.a. 2002; The Ruhr Crisis, 1923-1924, Oxford u.a. 2003.
Prof. Dr. Hans Hecker. Professor für Osteuropäische Geschichte an der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf, Arbeitsschwerpunkte: Geschichte der Geschichts schreibung, russische und polnische Geschichte, Geschichte der deutsch-osteuropäi schen Beziehungen, Geschichte der Deutschen und der Juden im östlichen Europa. Neuere Veröffentlichungen u.a.: Die Deutschen im Russischen Reich, in der Sowjet union und ihren Nachfolgestaaten, Köln 1998; zusammen mit Walter Engel (Hg.): Symbiose und Traditionsbruch. Deutsch-jüdische Wechselbeziehungen in Ostmittel und Südosteuropa (19.—20. Jahrhundert), Essen 2003. Dr. Stanislas Jeannesson. Agrégé d’histoire et maître de conférences fur Neueste und Zeitgeschichte an der Université Paris-Sorbonne (Paris IV), Arbeitsschwerpunkte: ökonomische Aspekte der französischen Außenpolitik zwischen 1914 und 1930. Neuere Veröffentlichungen u.a.: Poincaré, la France et la Ruhr. Histoire d’une occupa tion (1922-1924), Strasbourg 1998; La Guerre froide, Paris 2002. 361
Autorinnen und Autoren
Dr. Christian Kleinschmidt. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Wirt schafts- und Unternehmensgeschichte der Ruhr-Universität Bochum und Lehrbeauftrag ter an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Arbeitsschwerpunkte: Geschichte des Ruhrgebiets, internationale Wirtschaftsgeschichte. Neuere Veröffentlichungen u.a.: Rationalisierung als Unternehmensstrategie. Die Eisen- und Stahlindustrie des Ruhrge biets zwischen Jahrhundertwende und Weltwirtschaftskrise, Essen 1993; Der produktive Blick. Wahrnehmung amerikanischer und japanischer Management- und Produktions methoden durch deutsche Unternehmer 1950-1985, Berlin 2002. Dr. Gerd Krüger. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Diaspora- und Geno zidforschung an der Ruhr-Universität Bochum, Arbeitsschwerpunkte: das „vaterländi sche“ Verbandswesen in Kaiserreich und Weimarer Republik; Politische Polizeien, Geheim- und Nachrichtendienste; die alliierte Besetzung Deutschlands nach dem Ers ten Weltkrieg. Neuere Veröffentlichungen u.a: ich bitte, darüber nichts sagen zu dürfen“. Halbstaatliche und private politische Nachrichtendienste in der Weimarer Republik, in: Zeitgeschichte 27 (2000) H. 2, S. 87-107; zusammen mit Horst Schroeder: Realschule und Ruhrkampf. Beiträge zur Stadtgeschichte des 19. und 20. Jahr hunderts, Wesel 2002. Prof. Dr. Gerd Krumeich. Professor für Neuere Geschichte an der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf; Arbeitsschwerpunkte: Militär- und Kriegsgeschichte, Geschichte Frankreichs und der deutsch-französischen Beziehungen, Geschichte des europäischen Staatensystems. Neuere Veröffentlichungen u.a.: zusammen mit Ger hard Hirschfeld und Irina Renz: Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn u.a. 2003; zusammen mit Susanne Brandt: Schlachtenmythen. Ereignis - Erzählung - Erinne rung, Köln/Weimar/Berlin 2003.
Dr. Anna-Monika Lauter. Lehrbeauftragte am Historischen Seminar II der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf, Arbeitsschwerpunkte: Geschichte Frankreichs und der deutsch-französischen Beziehungen. Neuere Veröffentlichungen u.a.: Die Auseinan dersetzung deutscher Tageszeitungen mit der französischen Politik der „friedlichen Durchdringung“ im besetzten Rheinland (1918-1925), in: Thomas Beckers/Thomas Gerhards/Christoph Roolf (Hg.): Zur Erkenntnis der die Gegenwart prägenden Fak toren der Vergangenheit, Neuried bei München 2001, S. 156-175; Presse und Rhein politik (1918-1925). Die Auseinandersetzung deutscher Tageszeitungen mit der fran zösischen Politik der „friedlichen Durchdringung“ (in Vorbereitung). Prof. Dr. Wilfried Loth. Professor für Neuere Geschichte an der Universität Duis burg-Essen, Arbeitsschwerpunkte: Deutsche und französische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Geschichte des Katholizismus, Geschichte des Kalten Krieges und der europäischen Einigung. Neuere Veröffentlichungen u.a.: Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 1941-1955, München 2002; Europe, Cold War and Coexistence, 1953-1965, London u.a. 2004. 362
Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. Gilbert Merlio. Professor an der Université Paris-Sorbonne (Paris IV), Faculté d’Etudes germaniques, Arbeitsschwerpunkte: deutsche Ideen- und Gesellschaftsge schichte, Spengler, Jünger, die Konservative Revolution, Jaspers, Nietzsche, die Beziehun gen zwischen deutschen und französischen Intellektuellen, der deutsche Widerstand gegen Hitler. Neuere Veröffentlichungen u.a.: N° spécial Etudes germaniques: „Nietzsche et l’histoire“, April-Juni 2000; Les résistances allemandes à Hitler, Paris 2001.
Prof. Dr. Hans Mommsen. Professor (emeritus) an der Ruhr-Universität Bochum, Arbeitsschwerpunkte: Geschichte der Arbeiterbewegung, der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus. Neuere Veröffentlichungen u.a.: Alternative zu Hitler? Stu dien zur Geschichte des deutschen Widerstandes, München 2000; Auschwitz, 17. Juli 1942. Der Weg zur europäischen „Endlösung der Judenfrage“, München 2002.
Angelika Schnorrenberger, M.A. Promoviert an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf über die französische Besetzung im Rheinland nach dem Ersten Weltkrieg. Joachim Schröder, M.A. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar II der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, promoviert über die Beziehungen zwi schen deutschen und französischen Sozialisten/Kommunisten (1914-1923). Neuere Veröffentlichungen u.a.: Clemens von Looz-Corswarem (hrsg. in Zusammenarbeit mit Rafael R. Leissa und Joachim Schröder): Zwangsarbeit in Düsseldorf.,Ausländer einsatz“ in einer rheinischen Großstadt, Essen 2002.
Prof. Dr. Georges-Henri Soutou. Professor für Zeitgeschichte an der Université ParisSorbonne (Paris IV), Arbeitsschwerpunkte: Internationale Beziehungen im 20. Jahr hundert, unter besonderer Berücksichtigung des Ersten Weltkrieges, des Kalten Krie ges und der deutsch-französischen Beziehungen. Neuere Veröffentlichungen u.a.: La Guerre de Cinquante Ans. Les relations Est-Ouest 1943-1990, Paris 2001; La France et l’accord quadripartite sur Berlin du 3 septembre 1971, in: Revue d’histoire diploma tique 118 (2004), S. 45-73. Dr. Klaus Wisotzky. Leiter des Stadtarchivs Essen, Arbeitsschwerpunkte: Moderne Stadtgeschichte, Sozialgeschichte des Nationalsozialismus, Sozialgeschichte des Berg baus. Neuere Veröffentlichungen u.a.: zusammen mit Michael Zimmermann (Hg.): Selbstverständlichkeiten. Strom, Wasser, Gas und andere Versorgungseinrichtungen, Essen 1997; Die Jahre der Gewalt - Essen 1914 bis 1945, in: Hermann Burghard/ Ulrich Borsdorf (Hg.): Essen. Geschichte einer Stadt, Essen 2002, S. 368—467. Prof. Dr. Laurence van Ypersele. Professorin an der Université catholique de Louvain, Arbeitsschwerpunkte: politische Symbolik und Vorstellungen Belgiens in den Karika turen des 19. und 20. Jahrhunderts; die Entwicklung der belgischen Erinnerung an den Ersten Weltkrieg. Neuere Veröffentlichungen u.a.: La Question Royale ou la guerre des images, in: Michel Dumoulin (Hg.): Léopold III, Brüssel 2001, S. 303322; Imaginaires de guerre. L’histoire entre mythe et réalité, Louvain-la-Neuve 2003.
363
Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens Band 23 P. Hüttenberger/H. Molitor (Hg.)
Franzosen und Deutsche am Rhein 1789-1918-1945 328 S„ brosch., 17,50 €, ISBN 3-88474-133-0
Band 24 Bernd A. Rusinek Gesellschaft in der Katastrophe Terror - Illegalität - Widerstand. Köln 1944/45 470 S., brosch., 11,00 €, ISBN 3-88474-134-9
Band 28 Ludwig Hügen Das Gesetz „für die Wolfsschlucht“ Bodenreformpolitik in Nordrhein-Westfalen
1945-1949 232 S„ brosch., 9,95 €, ISBN 3-88474-142-X
Band 29 Ursula Rombeck-Jaschinski Die Ruhr, NRW und Europa Föderalismus u. Europapolitik 1945-1955 192 S., brosch., 8,90 €, ISBN 3-88474-354-6
Band 30 Band 25 Claudia Nölting Erik Nölting Wirtschaftsminister und Theoretiker
der SPD (1892-1953) 380 S„ brosch., 15,3O€, ISBN 3-88474-136-5
Band 26 Hein Hoebink Mehr Raum - Mehr Macht
Preußische Kommunalpolitik und Raumplanung im rheinisch-westfälischen Industriegebiet 1900-1933 420 S., zahlr. Abb., brosch., 39,90 €,
ISBN 3-88474-135-7
Band 27 Sabine Graumann Französische Verwaltung am Niederrhein
Das Roerdepartement 1798-1914 320 S., zahlr. Abb., brosch., 11,00 €, ISBN 3-88474-141-1
Heiner Wember „Umerziehung im Lager“ - vergriffen -
Band 31 Gloria Müller Die wirtschaftliche Mitbestimmung in der Eisen- und Stahlindustrie 1945—1975 Strukturwandel und Arbeitnehmerrechte 460 S., brosch., 15,30 €, ISBN 3-88474-161-6
Band 32 Manfred Faust Sozialer Burgfrieden im Ersten Weltkrieg Christliche und sozialistische
Arbeiterbewegung in Köln 352 S„ brosch., 14,00 €, ISBN 3-88474-372-4
Band 33 Franziska Wein Deutschlands Strom - Frankreichs Grenze Geschichte und Propaganda am Rhein 1919-1930 184 S., Festeinband, 8,90 €, ISBN 3-88474-371-6
Band 34
Band 40
Hein Hoebink (Hg.) Staat und Wirtschaft an Rhein und Ruhr
Der Regierungsbezirk Düsseldorf
Martina Köchling Demontagepolitik und Wiederaufbau in Nordrhein-Westfalen
1816-1991 304 S., Festeinband, 15,90 €,
398 S., Festeinband, 39,90 €, ISBN 3-88474-262-0
ISBN 3-88474-010-5 Band 41
Band 35 Christoph Weber „Eine starke, enggeschlossene Phalanx“ Der politische Katholizismus und die erste deutsche Reichstagswahl 1871
162 S., Festeinband, 9,95 €, ISBN 3-88474-034-2)
Ute Schneider Politische Festkultur Die Rheinprovinz von der französischen Zeit bis zum Ende des Ersten Weltkrieges 374 S., Festeinband, 45,00 €, ISBN 3-88474-263-9
Band 42 Alfons Kenkmann Band 36 Elisabeth Friese Helene Wessel (1898—1969) Von der Zentrumspartei zur Sozialdemokratie 316 S., Festeinband, 19,50 €,
„Wilde Jugend“ - vergriffen -.
Eine Neuauflage ist außerhalb der „Düsseldorfer Schriften " erschienen und im Klartext Verlag erhältlich.
ISBN 3-88474-064-4 Band 43
Band 37 Uwe Andrae Die Rheinländer, die Revolution
und der Krieg 1794—1798 256 S., Festeinband, 1 5,90 €, ISBN 3-88474-185-3
Anselm Faust (Hg.) 100 Jahre Arbeitsmarktpolitik in Rheinland-Westfalen
Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart
112 S„ Festeinband, 15,30 €, ISBN 3-88474-377-5
Die katholischen Arbeitervereine Westdeutschlands in der Weimarer Republik
Band 44 Barbara Schildt-Specker Die Auflösung der Frauenklöster auf dem linken Rheinufer im Zuge
274 S., Festeinband, 16,50 €, ISBN 3-88474-187-X
der Säkularisierung 258 S., Festeinband, 29,80 €,
Band 38 Claus Haffert
ISBN 3-88474-378-3
Band 39 Ackermann/Rusinek/Wiesemann (Hg.) Anknüpfungen - Gedenkschrift für Peter
Hüttenberger 520 S., Festeinband, 45,00 €,
ISBN 3-88474-184-5
Band 45 Hans-Werner Frohn Arbeiterbewegungskulturen in Köln
1890-1933 360 S., Festeinband, 39,90 €, ISBN 3-88474-569-7
Band 46 Wolfram Köhler (Hg.) Nordrhein-Westfalen - Fünfzig Jahre später 144 S., Festeinband, 19,50 €, 1SBN 3-88474-380-5
Band 47 Esch, Griese, Sparing, Woelk (Hg.) „Die Medizinische Akademie Düsseldorf
im Nationalsozialismus“ - vergriffen -
Band 52 Beate Dorfey „Die Benelux-Länder und die Internationale Ruhrbehörde“ - vergriffen -
Band 53 Breuer/Cepl-Kaufmann (Hg.) Öffentlichkeit der Moderne — Die Moderne in der Öffentlichkeit
Das Rheinland 1945-1955 610 S., Festeinband, 45,00 €, ISBN 3-88474-873-4
Band 48 Werner Mayer Bildungspotential für den wirtschaftlichen und sozialen Wandel Die Entstehung des Hochschultyps „Fachhochschule“ in NRW 1965-1971 450 S., Festeinband, 39,90 €, ISBN 3-88474-648-0
Band 49 Herbert Schmidt „Beabsichtige ich die Todesstrafe zu beantragen“ Die nationalsozialistische Sondergerichts barkeit im Oberlandesgerichtsbezirk Düsseldorf 1933-1945
Band 54 Frank Kebbedies Außer Kontrolle Jugendkriminalpolitik in der NS-Zeit und der frühen Nachkriegszeit 308 S., Festeinband, 26,50 €, ISBN 3-88474-937-4
Band 55 Bruno Kammann Carl Klinkhammer
Ruhrkaplan, Sanitätssoldat und Bunkerpastor 1903-1997 384 S., Abb., Festeinband, 22,50 €,
350 S., Festeinband, 39,90 €, ISBN 3-88474-652-9
ISBN 3-88474-910-2
Band 50 Johannes-Dieter Steinert Ein Land als Mäzen Politik und Bildende Kunst in NRW
Johannes Vossen Gesundheitsämter im Nationalsozialismus Rassenhygiene und offene Gesundheitsfürsorge
170 S., Abb., Festeinband, 29,80 €, ISBN 3-88474-651-0
546 S., Festeinband, 32,90 €, ISBN 3-88474-984-6
Band 51 Burkhard Zeppenfeld
Band 57 Ludwin Vogel
Handlungsspielräume städtischer Finanzpolitik Staatliche Vorgaben und kommunales Interesse
Deutschland, Frankreich und die Mosel Europäische Integrationspolitik in den Montan-Regionen Ruhr, Lothringen, Luxemburg und der Saar
Band 56
in Bochum und Münster 1913-1935 370 S., Festeinband, 42,00 €, ISBN 3-88474-681-2
in Westfalen 1900-1950
376 S., Festeinband, 29,50 €,
ISBN 3-89861-003-9
Band 58 Holger Berschel Bürokratie und Terror Das Jugendreferat der Gestapo Düsseldorf 1935-1945
Band 64
Suzanne Zittarz-Weber Zwischen Staat und Religion
Die jüdischen Gemeinden in der preußischen Rheinprovinz 1815-1871
478 S., Festeinband, 39,90 €, ISBN 3-89861-001-2
424 S., Abb., Festeinband, 35,00 €
Band 59
Band 65 Stefan Marx
Frank Sparing/Marie-Luise Heuser (Hg.) Erbbiologische Selektion und „Euthanasie“ Psychiatrie in Düsseldorf während des
Nationalsozialismus 356 S., Abb., Festeinband, 26,90 €, ISBN 3-89861-041-1
Band 60 Petra Recklies-Dahlmann
Religion und Bildung, Arbeit und Fürsorge Die Rheinisch-Westfälische Gefängnisgesellschaft 1826-1850
ISBN 3-89861-171-X
Franz Meyers 1896-2001 Eine politische Biografie 532 S., Abb., Festeinband, 27,90 €
ISBN 3-89861-199-X
Band 66 Wolfgang Woelk, Frank Sparing, Karen Bayer, Michael G. Esch (Hg.) Nach der Diktatur Die Medizinische Akademie Düsseldorf
246 S., Festeinband, 39,90 €,
nach 1945 464 S., Abb., Festeinband, 24,90 €
ISBN 3-89861-045-4
ISBN 3-89861-173-6
Band 61 Dieter Düding Heinz Kühn 1912-1992
Band 67 Fritz Dross Krankenhaus und lokale Politik 1770-1850
Eine politische Biographie 456 S., Abb., Festeinband, 22,90 €,
Das Beispiel Düsseldorf 400 S., Abb., Festeinband, 24,90 €
ISBN 3-89861-072-1
ISBN 3-89861-257-0
Band 62 Raphael R. Leissa/Joachim Schröder Zwangsarbeit in Düsseldorf
Band 68 Hans Stallmann Euphorische Jahre Gründung und Aufbau der
„Ausländereinsatz“ während des Zweiten Weltkrieges in einer rheinischen Großstadt
Herausgegeben von Clemens von LoozCorswarem 672 S., Abb., Festeinband, 22,90 €, ISBN 3-89861-112-4
Band 63 Donate Strathmann Auswandem oder Hierbleiben? Jüdisches Leben in Düsseldorf und Nordrhein
1945-1960 428 S., Abb., Festeinband, € ISBN 3-89862-172-8
Ruhr-Universität Bochum 288 S., Abb., Festeinband, 22,90 €
ISBN 3-89861-318-6
lim Januar 1923 besetzten französische und belgische Truppen zu
nächst Essen und dann große Teile des Ruhrgebiets, um rückständige Reparationen einzutreiben. Diese „Friedensbesetzung“ hatte einen durchaus kriegerischen Charakter: Verhaftungen und Ausweisungen, gewaltsame Übergriffe der Besatzungssoldaten auf der einen, „passi
ver Widerstand“, Sabotageaktionen, „Abrechnung“ mit Streikbre chern auf der anderen Seite. All das gab dem „Ruhrkampf“ die Prägung eines „Kriegs im Frieden“. Im Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit war plötzlich der Erste Weltkrieg wieder da - dieses Mal im eigenen Land. Tatsächlich trugen die Besatzungsmaßnahmen auch
Züge einer Revanche von Franzosen und Belgiern für die wenige Jahre zuvor erlittene Kriegsbesetzung durch die Deutschen. Belgische, deutsche und französische Historiker und Kulturwissen schaftler beleuchten in diesem Band die Ereignisse vor 80 Jahren mit neuen Erkenntnissen: die vielschichtigen Probleme der internationalen Beziehungen und der Politik der Weimarer Republik, die Auswirkungen des „Ruhrkampfes“ auf die gesellschaftliche Verfassung und politi sche Kultur der jungen deutschen Republik, und das lokale Gesche hen. Zahlreiche Dokumente aus Archiven, die in dieser Fülle bislang noch nicht präsentiert worden sind, ergänzen die historischen Analysen.
»Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein- Westfalens« Band 69