Der Rhythmus des deutschen Verses : Spannkräfte und Bewegungsformen in der neuhochdeutschen Dichtung

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Der Rhythmus des deutschen Verses : Spannkräfte und Bewegungsformen in der neuhochdeutschen Dichtung

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FRITZ LOCKEMANN Der Rhythmus des deutschen Verses

FRITZ LOCKEMANN

Der Rhythmus des deutschen Verses Spannkräfte und Bewegungsformen in der neuhochdeutschen Dichtung

i960

MAX HUEBER VERLAG MÜNCHEN

© i960 Max Hueber Verlag, München 13 Umschlagentwurf: Erich Hölle, München Gesamtherstellung: Friedrich Pustet, Regensburg Graphischer Großbetrieb Printed in Germany

INHALT

I. Einführung .......................................................................................... II. Prosarhythmus (Satzrhythmus) ......................................................... III. Rhythmische Prosa (Ballungsrhythmus)........................................... IV. Ballungs-Gliederungsrhythmus (Freier Rhythmus I) ...................... V. Freier Gliederungsrhythmus (Freier Rhythmus II) ....................... VI. Metrischer Gliederungsrhythmus ..................................................... VII. Metrischer Rhythmus .......................................................................... VIII. Die Strophe ...................................................................................... 1. Metrisch-rhythmische Strophenspannung ................................... 2. Die Strophenformen und ihr Rhythmus ..................................... 3. Strophenrhythmus und Satzrhythmus ......................................... 4. Überstrophische rhythmische Einheiten....................................... 5. Strophenrhythmus und Situationsrhythmus ............................... 6. Rhythmische Gliederung im stichischen Vers............................. IX. Die metrisch-rhythmische Reihe ....................................................... 1. Fuge und Schnitt............................................................................ 2. Der rhythmische Gang des Verses ............................................... 3. Akzent und Quantität.................................................................... 4. Der Gang der Verse in antiken Maßen ....................................... a) Die Odenmaße ........................................................................... b) Hexameter und Pentameter....................................................... X. Die rhythmischen Ballungen ............................................................. 1. Abstufung und Ausgleichung der Hebungsgewichte ................ 2. Vershebung und Satzbetonung ..................................................... a) Betonung in ausgeglichenen Versen ....................................... b) Betonung in abgestuften Versen ............................................. 3. Hebungen und Senkungen............................................................. 4. Gesamtschwere des rhythmischen Ganges................................... 5. Sekundäre rhythmische Züge ....................................................... Register ......................................................................................................... Verzeichnis des behandelten und erwähnten Dichter und Dichtungen . .

9 20 32 39 53 63 68 72 72 74 82 89 95 99 105 105 117 131 144 144 150 155 153 166 166 170 182 190 193 199 203

Vorwort

Einen Abriß meiner Verslehre habe ich bereits 1952 in meinem Buche »Das Gedicht und seine Klanggestalt« (Lechte-Verlag, Ems­ detten i. W.) veröffentlicht. Er mußte kurz sein, da er sich in eine Gesamtdarstellung des Dichtungsklanges einfügen sollte. Schon damals hat es sich gezeigt, daß die Fragen des Versrhythmus einer ausführlicheren Behandlung bedürfen. Diese will das vorliegende Buch geben. Trotz seiner durch neue Einsichten bedingten Neu­ fassung versucht es, die Verbindung mit der früheren Veröffent­ lichung, u. a. durch Übernahme einzelner Beispiele, aufrecht zu er­ halten, da die Verslehre trotz ihrer relativen Selbständigkeit der Ergänzung durch eine Betrachtung der dichterischen Gesamtge­ stalt bedarf, die dort zu finden ist. Auf die Schwierigkeiten einer schriftlichen Übermittlung von Erkenntnissen auf dem Gebiet des Klanges und des Rhythmus ist oft hingewiesen worden. Der Verfasser muß von seinem Leser er­ warten, daß er nicht nur stumm liest, sondern die Beispiele immer wieder nachvollzieht und nachprüft. Sollte sich Interesse dafür be­ kunden, wäre ich bereit, ein Tonband mit einigen tragenden Bei­ spielen aus jedem Kapitel herauszugeben. Dem Verlag Max Hueber danke ich für die Sorgfalt, die er auch diesem Buch zugewendet hat, meinem Sohn cand. phil. Wolfgang Lockemann für anregende Kritik und Hilfe bei der Korrektur. Nieder-Olm bei Mainz, September 1959 Fritz Lockemann

Einführung

Dieses Buch stellt sich die Frage, wie und wo im deutschen Vers Rhythmus in Erscheinung tritt. Seit der Wende der deutschen Verslehre, die sich an die Namen Eduard Sievers, Franz Saran, Andreas Heusler1 knüpft, wissen wir, daß eine Betrachtung des Metrischen zu ihrer Lösung nicht ausreicht. Rhythmus entzieht sich einer Maßlehre, einer Metrik. So sind die neueren Bemühungen um den Vers dadurch gekennzeichnet, daß sie vom Metrischen zum Rhythmischen durchzustoßen suchen. Es handelt sich für sie nicht mehr um die Frage, wie weit das Sprachmaterial die von einem Metrum geforderten Längen und Kürzen, Hebungen und Senkun­ gen tragen kann, sondern wie weit das Metrum jenem Unmeßbaren Raum gibt, das wir Rhythmus nennen. In Frage steht also das Verhältnis von Metrum und Rhythmus. Es wird oft extrem gesehen, entweder als Gleichheit beider oder als unvereinbare Gegensätzlichkeit. Der erste Standpunkt prägt sich deutlich aus in der Unterscheidung des Rhythmos von einem Rhythmizomenon: das zu Rhythmisierende, der Sprachstoff, wird in ein Maß, einen Versrahmen gefüllt. Die Rhythmisierung hat dann die Aufgabe, den Stoff zu ordnen, der als solcher ungeordnet, rhythmisch indifferent ist. Die Frage ist, wie sich der Stoff dem Rahmen einpassen läßt und wie man den Rahmen mißt, ob etwa nach Versfüßen wie es von der Antike bis ins 19. Jahrhundert üblich war, oder nach Takten, wie es vor allem Heusler in der Versbetrachtung zur Geltung gebracht hat. Für den anderen Standpunkt, von dem aus Rhythmus und Mei Eduard Sievers, Rhythmisch-melodische Studien. 1912. 1907. Deutsche Verskunst. 1934. Andreas Heusler, Deutsche Versgeschichte, 3 Bde. 1925-1929.

K Franz Saran, Deutsche Verslehre.

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trum als Gegensätze erscheinen, wird Rhythmus zur Verneinung des Metrums, zum Durchbrechen seiner Ordnung. Für den Philo­ sophen Ludwig Klages2 äußert sich in diesem Gegensatz das Widersachertum von Geist und Leben. Sein Einfluß ist in der Versbetrachtung der neueren Dichtungswissenschaft manchmal zu spü­ ren. So arbeitet Dietrich Seckel3 in Hölderlins Gedichten einen vom Metrum unabhängigen Rhythmus heraus, einen freien Rhyth­ mus im metrischen Gedicht. Und er spricht dem Rhythmus ein Merkmal ab, das selbst Klages noch als gemeinsames Merkmal von Rhythmus und Metrum ansieht, die Periodizität, die Wiederkehr eines gleichartigen Eindrucks in der Zeit4. Für Wolfgang Kayser8 bewährt sich die Kraft des Rhythmus ge­ rade darin, daß er das Metrum durchbricht; er kann sich über die Anweisungen des Metrums hinwegsetzen, braucht zum Beispiel die Akzente des Versschemas nicht auszuprägen, und wird es um so weniger, je kräftiger und eigenständiger er ist. Auch hier ist es das Widersachertum von Leben und Geist, das dem Prosaakzent das Recht gibt, das starre metrische Schema zu durchbrechen. Als Versuch, die Gegensätze zu überbrücken, ist es aufzufassen, wenn das Verhältnis von Rhythmus und Metrum gesehen wird als das einer Kurve, die durch ein Koordinatensystem gelegt ist®, oder eines Stromes, der über eine Stufenordnung fließt7, oder auch, nach de Saussures für die Sprachwissenschaft geltender Zuordnung, als das der jeweiligen Realisationen zu der ihnen zugrundeliegenden Norm8. Der Rhythmus erhält nach diesen Auffassungen Bahn und 2 Ludwig Klages, Vom Wesen des Rhythmus. 1934. ! 3 Dietrich Seckel, Hölderlins Sprachrhythmus = Palästra 207. 1934. 4 a.a.O. S. 23ff. 6 Wolfgang Kayser, Vom Rhythmus in deutschen Gedichten. Euphorion (Dichtung und Volkstum) 39, 1938, S. 487fr. ders. Kleine deutsche Versschule, 1946, S. 95 fr. 3 Otto Baensch, Rhythmus in allgemein philosophischer Betrachtung. 3. Kongreß f. Ästhetik u. allg. Kunstwiss. 1927. Bericht Zs. f. Ästhetik 21, 1927. S. 20;. ’ Gustav Becking, Der musikalische Rhythmus als Erkenntnisquelle. 1928. S. 11. 8 Felix Trojan, Prolegomena zu einer Metrik. Zs. f. Phonetik 6, 1952. Dieselbe Auffassung bei Arthur Arnholtz, Studier i poetrsk og musikalsk

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Richtung durch das Metrum und läßt sich mit dessen Hilfe erfassen. Allerdings gerät dabei der Rhythmus in Abhängigkeit vom Metrum, er ist in Gefahr, seine eigene Wesenheit zu verlieren. Im Gegensatz zu diesen Auffassungen sehen Saran sowohl wie Heusler im Metrum keine starre Norm, sondern das eigentlich rhythmusschaffende Element des Verses. Die Rolle des Rhythmizomenon, des Sprachstoffes, aber ist bei beiden verschieden. Bei Heusler verhält es sich passiv, läßt sich nur mehr oder weniger willig rhythmisieren, bei Saran trägt es aus eigenen Kräften zum Rhythmus bei. Kraft des Satzakzents ergibt sich für ihn eine span­ nungsvolle Vereinigung der Sprache mit dem ihr auferlegten me­ trischen Rhythmus, die dann den Rhythmus des einzelnen Verses ausmacht. So neigt Heusler zu einer metrischen Auffassung des Rhythmus, während Saran solche Einseitigkeit zu vermeiden sucht. Allerdings ist auch bei ihm das Metrische das eigentlich Rhyth­ musschaffende; insofern steht er der metrischen Verengung des Rhythmusbegriffes nicht fern. Den Prosasatz hält er für arhyth­ misch, weil ihm das Merkmal der »Wohlgefälligkeit« fehle. Die ausdrücklich so genannte rhythmische Prosa dagegen ist durch ein »Ethos«9 und damit durch Wohlgefälligkeit ausgezeichnet. Das gibt ihr rhythmischen Charakter. Das Ethos, das Ausdrucksge­ präge, ist ein Merkmal des Rhythmischen, das die Brücke zwischen metrischem und außermetrischem Rhythmus schlägt. Wer Metrum und Rhythmus nicht als Gegensätze auffaßt, wird auch an dem Merkmal der Periodizität für beide festhalten und wird sie als eine mehr oder weniger streng geregelte Wiederkehr eines mehr oder weniger gleichförmigen Eindrucks im Nacheinander der Zeit verstehen. Daß die Eindrücke als Wiederkehr erlebt wer­ den müssen, das setzt ihrer Variationsbreite Grenzen. Es kommt hinzu, daß diese Abfolge durchgegliedert sein muß, um als Rhyth­ mus erlebt werden zu können. Die Brandung des Meeres, der Herzrytmik. Kopenhagen 1938. Vgl. desselben Vf.s Grundzüge einer Vers-Vor­ tragslehre (Sprechkundl. Schriften, her. Walter Wittsack) Frankfurt 1942, S. 37 (»Normalisierender Rahmen und individualisierende Füllungen«), ’ Dt. Verslehre S. 120 ff. II

schlag, der Pendelschlag der Uhr sind nicht rhythmisch, weil ihrer endlosen Reihe die Begrenzung durch Einschnitte fehlt, durch die erst Glieder entstehen10. Diese geben der Abfolge der Eindrücke die Struktur, die wir als Rhythmus erleben. Eine solche Gliederung braucht in den das Rhythmuserlebnis begründenden Eindrücken nicht gegeben zu sein; der Erlebende kann eine rhythmische Struk­ tur, indem er sie erlebt, zugleich erzeugen. So pflegt man die endlos­ gleichförmige Reihe der Stöße beim Eisenbahnfähren rhythmisch zu gliedern. Rhythmisch im eigentlichen Sinne ist also nicht die Abfolge der in der Wirklichkeit gegebenen Elemente, seien es Stöße, Herz- oder Taktschläge, Akzente, sondern eine vom Erlebenden geschaffene Beziehung zwischen ihnen. Insofern ist Rhythmus eine Gestalt im Sinne der Psychologie11. Die Abfolge der Elemente kann ein be­ stimmtes rhythmisches Erlebnis nahelegen, kann verschiedene Mög­ lichkeiten zulassen oder auch der rhythmischen Produktivität des Erlebenden völlige Freiheit lassen. Durch seine Gliederung erhält der Rhythmus eine bestimmte Gestaltqualität. Und er wird unbe­ schadet seiner zeitlichen Kontinuität zu einer Ganzheit. Eine Zeit­ strecke wird zu einer Erlebniseinheit, die, obwohl sie im Flusse der Zeit schwimmt, doch als ganze gegenwärtig bleibt, vermöge dieser Präsenz also dem Fluß enthoben ist12. Die Glieder werden als Glieder eines Ganzen erlebt. Das Fortschreiten im Gange des Rhythmus hält den Blick auf das Ganze fest, so daß das Nachein­ ander zugleich ein Miteinander ist, das Frühere im Späteren gegen­ wärtig bleibt. Bis ins letzte Gliederungselement wird das Rhyth­ muserlebnis von der Ganzheit bestimmt und getragen: es ist durchstrukturiert13. Präsenz und Durchstrukturiertheit rücken den Rhythmus in die Nähe der räumlichen Proportionsordnung, deren metrischer Grenz­ fall die Symmetrie ist. Oft nennt man diese ja ebenfalls rhythmisch, 10 vgl. Baensch a. a. O. 11 Richard Hönigswald, Vom Problem des Rhythmus. 1926. S. 9 ff. u. passim 11 ebenda S. 3 8 ff. u. passim. 1S ebenda S. 73.

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ist sich aber wohl meist dabei bewußt, daß man damit eine Über­ tragung aus dem Zeitlichen ins Räumliche vornimmt. Daß eine räumliche Ordnung, 2. B. die Stüt2enordnung einer Kathedrale, oft nur im 2eitlichen Nacheinander aufgenommen werden kann, gibt ihr einen unmittelbar rhythmischen Charakter. Auch können räum­ liche Proportionsordnungen in manchen auf 2eitliche, also rhyth­ mische Gliederung angelegten Darbietungen eine (sekundäre) Rolle spielen, wie etwa im Tan2. Der antike Versrhythmus ist vielleicht sogar primär als Proportionsordnung aufzufassen14, wodurch seine mit dem zeitlichen Nacheinander gegebene rhythmische Wirkung nicht aufgehoben wäre. Beide, Rhythmus und Proportion, haben eine entsprechende Funktion: sie sondern eine Sphäre aus, in der eine bestimmte Ordnungsgesetzlichkeit gilt, die Proportion im Bereich des Raumes, der Rhythmus in dem der Zeit15. Darauf be­ ruht die Leichtigkeit der Übergänge von einer Ordnung zur an­ dern, aber auch ihre grundlegende Verschiedenheit, die sich als Verschiedenheit der Erlebnisweisen darstellt. Ein Rhythmus kann in zweifacher Weise erlebt werden: er kann intendiert und in bewußtem Überblick über seine gegliederte Ge­ stalt erfaßt und verstanden werden16. Er kann aber auch »nur« voll­ zogen werden, getanzt, geschritten, gesungen, aus einer Haltung der Offenheit, ohne ausdrückliche Intention. Das Mitmachen, Mit­ schwingen vermittelt ein vollkommenes, wenn auch unbewußtes Erlebnis des Rhythmus, das, beim Tanzen etwa, durch bewußte Intention eher gestört als gefördert wird, aber dennoch die Mög­ lichkeit in sich trägt, in bewußter Überschau verstanden zu werden. Diese Kraft, diese Dynamik des Rhythmus, die in das unmittel­ bare Mitleben seiner Gestalt hineinzwingt, darf bei seiner Bestim14 Vgl. Th. Georgiades, Der griechische Rhythmus, 1949; Musik und Rhyth­ mus bei den Griechen, rde 61. 16 Dies sieht Jost Trier als grundlegende Funktion des Rhythmus (Studium Generale 2, 1949. S. 135 ff.). 16 Hönigswald a.a.O. S. 40. H. überschätzt das bewußte Verstehen beim Erleb­ nis des Rhythmus und unterschätzt seine Dynamik. Dazu besonders a. a. O. S. 51. Daß Intendiertwerden wesenhaft zum Rh. gehöre, sucht Jost Trier mit Hilfe einer neuen Etymologie des Wortes Rh. zu beweisen. Seine Bestimmung engt ihn auf eine soziale Funktion ein. (a. a. O.).

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mung nicht außer acht gelassen werden. Sie zeigt, daß eine nur formale Auffassung ihm nicht gerecht wird. Gewiß ist er zunächst Gliederung der Zeit durch eine Ordnung. Aber vermöge der ge­ stalthaften Präsenz dieser Ordnung ist die Zeit in ihr bewältigt und aufgehoben, d. h. zugleich enthalten und überwunden. Sie ist in der rhythmischen Gestalt erlebbar; Rhythmus ist Sinnbild der Zeit. Um das zu verstehen, genügt es nicht, wie Heusler Rhythmus mit »Zeitfall« zu übersetzen und ihn zu bestimmen als »Gliederung der Zeit in sinnlich faßbare Teile«17: eine formale Bestimmung, die nur der metrischen Seite des Rhythmus genügen kann. Wenn dem­ gegenüber Klages ihn im organischen Leben gründet, seinen Aus­ druck als Äußerung des Lebens versteht, wenn ein Dichter (Richard Dehmel) ihn mit der inneren dichterischen Bewegung gleichsetzt18, wenn nach Emil Staiger sich im Rhythmus der Geist ausdrückt, der das ganze Gedicht beseelt18, so zeigt sich deutlich, daß im Rhythmus ein Sinn gestaltet ist, und es erhebt sich die Frage, was es ist, das diese Äußerungen umschreibend zu fassen suchen. Das Zwanghafte des rhythmischen Erlebnisses bestätigt uns das Recht zu dieser Frage. Eine bloße Ordnung könnte uns nicht mit so elementarer Gewalt erfassen und zum Einschwingen, zum Mit­ machen zwingen. Darum hat man den Rhythmus mit der Systole und Diastole des organischen Lebens, mit Atmung und Herzschlag, dem Wechsel von Wachen und Schlafen, von Leistung und Ruhe in Verbindung gebracht und hat demgegenüber der Abfolge me­ chanischer Reize wie dem Stampfen der Dampfhämmer, dem Pen­ delschlag der Uhr, dem Stoßen der Eisenbahn nur Takt, nur Me­ trum zugebilligt. Zwar ist, wie wir gesehen haben, Rhythmus eine vom Erlebenden geschaffene Gestalt, die von der Qualität der physikalischen Reize, die sie fundieren und anregen, unabhängig und infolgedessen transponierbar ist, also etwa von Musik auf 17 Heusler a.a.O. I, S. 17. 18 Richard Dehmel, Kunstform und Rhythmus. Gesammelte Werke 1909, Bd. VIII, S. 74. Dazu Richard Wittsack Rhythmus, und Vortragskunst. Zs. f. Ästh. S. 246ff., Friedrich Sieburg, Die Grade der lyrischen Formung. Zs. f. Ästh. 14, S. 350Ü. 18 Emil Staiger, Die Kunst der Interpretation, 1955, S. 13.14 14

Klopfgeräusche oder Taktschläge übertragen werden kann20. Den­ noch haben wir ein Recht, die organische Fundierung als die dem Rhythmus angemessene zu empfinden, die mechanische als so etwas wie ihren Ersatz, ihre künstliche Stilisierung, weil die erste zu indi­ vidueller Freiheit der rhythmischen Bewegung führt, die zweite zu Starrheit und Gebundenheit, also zum Metrum, das damit als stili­ sierter Rhythmus gekennzeichnet wäre. Das organische Fundament ist auch noch in anderer Hinsicht für das Rhythmuserlebnis wesentlich. Wie seine Dynamik beweist, ist es ein Spannungserlebnis. Die akzentuierten Glieder des Rhythmus erleben wir als Spannungen, die ihm die Bewegungsimpulse geben, die unakzentuierten als Lösungen. Das bedeutet, daß für das Er­ lebnis die Elemente, auf denen es beruht (Schläge, Akzente o. ä.), in archaisch-poetischer Weise mit Kräften geladen sind, wir emp­ finden sie als belebt und beseelt. Den organischen Tragpfeilern ist das angemessen, die mechanischen verlangen einen Akt der Über­ tragung, der Personifizierung, der nur gelingen kann, wenn ihre Gleichförmigkeit die Freiheit der rhythmischen Schwingung nicht allzu rücksichtslos niederstampft. So wird man die natürliche Grundlage des Rhythmus im Lebens­ prozeß sehen dürfen, der mit dem Verhältnis der Spannung des Lebens zur Entspannung des Todes alle Einzelspannungen und Lösungen, aus denen er besteht, in einem großen Bogen umfaßt. Aus der Zeitlichkeit des Lebens, das sich zum Tode hinspannt, erwachsen alle Spannungserlebnisse; ein zeitloses Leben wäre span­ nungslos. Spannung ist erlebte Zeit, die Zukunft, die näherrückt, ist das Spannende, der Aufast des Bogens; die Gegenwart, die da ist und wirkt, das Gespannte, die Scheitelhöhe; die Vergangenheit das Lösende, der Abast, und, wenn abgeschlossen und versunken, das Gelöste21. Im Rhythmus wird die Zeit nicht nur gegliedert, sondern ge­ staltet, d. h. in einem Mikrokosmos von Spannungen und Lösungen wird vermöge seiner aus dem Strom der Zeit herausgehobenen 20 Hönigswald a.a.O. S. 17. 21 Dazu des Verf. Das Gedicht und seine Klanggestalt, 1952, S. 56.

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Präsenz die Zeitlichkeit des Lebens, die Lebensspannung, erlebbar. Im rhythmischen Kunstgebilde, auch im Gedicht, wird sie symbo­ lisch verdichtet, also ins Geistige gehoben. Sie trägt und struktu­ riert als Sinn die rhythmische Gestalt. Jeder schaffend erlebte Rhythmus, und sei er nur die Rhythmisierung des Stoßens der Eisenbahn, trägt den Ausdruck seines Schöpfers, spiegelt seine Lebens Spannung in der Einzigkeit ihrer Qualität. Das rhythmische Kunstgebilde bezieht dank seiner Sym­ bolkraft die individuelle Artung des rhythmischen Erlebnisses auf die allgemeine Lebensspannung und macht sie auf diese Weise mit­ teilbar. Es ist gerade die Dynamik des Rhythmischen, der Zwang zum Einschwingen, der seine Mitteilbarkeit verbürgt. Wir werden in die individuelle Art eines rhythmischen Ganges hineingerissen. Erst wenn wir diese in unmittelbarem Mitschwingen erfahren ha­ ben, können wir den Rhythmus aus dem Abstand 3er Überschau über das Gestaltganze verstehen. Wer nicht im Rhythmus mitgeht, kann ihn auch nicht verstehen. Das macht die Ansicht verständlich, daß im Rhythmus das Eigenste, der individuelle Lebenskern eines Gedichtes zu fassen sei, und läßt die Versuche der Wissenschaft berechtigt erscheinen, dieses Eigene, Persönliche durch Typologien zu fassen, zu bestimmen und zum Bewußtsein zu bringen22. Eine Rhythmusuntersuchung kann also nur die rhythmische Ge­ stalt zugrunde legen, die im Erlebnis dessen gegeben ist, der in einem Rhythmus schwingt. Im Vollzüge wird der Rhythmus ge­ genständliche Wirklichkeit, und bietet sich dann auch der Über­ schau des Erlebend-Betrachtenden23. Dem nicht aus der Unmittel­ barkeit des Mitschwingens, sondern aus dem Abstand des Erkennens Untersuchenden verbirgt sich der Rhythmus. Da er seiner 33 So die Typologien der »Schallanalyse«, vgl. Ottmar Rutz, Musik, Wort und Körper als Gemütsausdruck, 1921; Ed. Sievers, Ziele und Wege der Schallanalyse, 1924; Ipsen-Karg, Schallanalytische Versuche, 1928; Becking a.a.O.; Rudolf Steglich, Über Wesen und Geschichte des Rhythmus, Studium Generale 2, H. 3. 1949; d. Verf. a.a.O. S. 172, S. 178ff. 33 Zu dieser Untersuchungsmethode vgl. d. Verf. a.a.O. S. 3. Es ist eine phänomenologische Betrachtungsweise. Dazu auch: Moritz Geiger, »Phäno­ menologische Ästhetik« in: Zugänge zur Ästhetik. 1928.

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Dynamis nicht teilhaftig wird, bietet sich ihm nur das Schema seiner Ordnung, das fälschlich oft als Metrum bezeichnet wird. Auch dem Metrum, rhythmisch aufgefaßt, fehlt ja die Dynamik nicht. Wir erleben einen Rhythmus als Verlauf, der sich in einer Folge von aufwärtstreibenden Spannungen und sinkenden Lösungen ver­ wirklicht. Dieser Verlauf ist gegliedert: durch Einschnitte werden Einheiten ausgegliedert, die in ihrer Abfolge wieder im Verhältnis von Spannung und Lösung zueinander stehen. Sie können wieder von einer gleichartigen, aber größeren rhythmischen Gliederung überspannt werden. Die gliedernden Einschnitte wirken im rhyth­ mischen Verlauf als Stauungen: der Strom drückt gegen ein Wehr. Das ergibt eine Ballung des Flusses; in ihr gipfelt die Spannung des jeweiligen rhythmischen Gliedes. Ein solches System dynamischer Glieder und Ballungen bildet eine rhythmische Ganzheit, wie sie etwa in einer Liedstrophe vorliegt. Unsere Absicht ist, den Rhythmus des Verses zu erfassen. Der Vers tritt im Gedicht auf, in einem Werk der Sprache. So ist die Frage, wie weit er in der Sprache gegründet ist, wie weit diese rhythmische Züge aufweist, aus denen der Vers gebaut werden könnte. Wir fragen also zunächst, ob die für unsere Sprache normale Struktur, die des Prosasatzes, rhythmisch verstanden werden kann. Die Frage richtet sich hier wie in unserer gesamten Untersuchung an den Erlebenden. Haben wir ein rhythmisches Erlebnis, wenn wir einen Prosasatz, wenn wir einen Vers lesen? Und wie ist die jeweilige rhythmische Gestalt beschaffen? Wir haben auf Grund von rhythmischen Erfahrungen verschie­ denster Art, eigenen und fremden, und daran anknüpfenden Über­ legungen eine Wesensbestimmung des Rhythmus zu geben ver­ sucht. Es ergab sich uns der Gestaltcharakter des Rhythmus, seine ganzheitliche Präsenz bei zeitlicher Abfolge seiner Glieder. Das rhythmische Erlebnis stellte sich dar als Spannungserlebnis und damit als Erlebnis der Zeit im Sinne der Zeitlichkeit. Diese Wesenszüge des Rhythmus werden sich an der Wirklich­ keit des Sprachrhythmus zu bewähren und zu bestätigen haben. 17

Da diese Wirklichkeit Werke der Sprache, ja im allgemeinen Dicht­ werke umfaßt, ist sie geschichtlicher Art. Der Vers ist ein tragender Gestaltzug der Dichtung und unterliegt als solcher einer dichtungs­ geschichtlichen Betrachtung. Unsere Frage geht aber nicht auf den Vers, sondern auf den Rhythmus des Verses. Rhythmus aber ist das ganz Individuelle und damit zugleich das allgemein Menschliche und darum Übergeschichtliche, das nur an den der Geschichtlich­ keit unterworfenen Formen greifbar wird. Eine geschichtliche Be­ trachtung dieser Formen lenkt den Blick auf sie und vom Rhyth­ mus ab. Für uns handelt es sich um eine Analyse dieser Formen auf ihre rhythmischen Qualitäten hin. Wir betrachten sie daher nicht in ihrem geschichtlichen Werden, sondern als gewordene, so wie sie sich heute dem Blick auf die neuhochdeutsche Dich­ tung in ihrem Gesamt darbieten24, behalten uns aber vor, ein­ zelne Formen in ihrer geschichtlichen Entwicklung darzustellen, wenn das zum Verständnis ihrer rhythmischen Qualitäten beitragen kann. Das wird vor allem bei den sogenannten »freien Rhythmen« der Fall sein. In ihnen haben wir eine Form, die nicht aus älterer und fremder Dichtung in unsere übernommen, sondern erst innerhalb des neuhochdeutschen Zeitraums aus den rhythmischen Bedürf­ nissen eines Dichters, einer Epoche erwachsen ist und sich mit ih­ nen gewandelt hat. Bei den eigentlichen Versformen wird man seit der Konstituierung des neuen deutschen Verses im 17. Jahrhundert nur in sehr begrenztem Sinne von einer Entwicklung sprechen dürfen. Sie sind aus individuellen oder epochalen rhythmischen Bedürfnissen übernommen, variiert, gelegentlich aufgegeben und neu ergriffen und jeweils in den verhältnismäßig engen Grenzen größerer Freiheit oder Gebundenheit rhythmisch gestaltet worden. Oft finden wir in einer Epoche, ja bei einem Dichter fast alle diese “ Auch Rudolf Blümel (Der neuhochdeutsche Rhythmus in Dichtung und Prosa, 1930, S. jf.) betont, daß Rhythmus unveränderlich und geschichtslos sei, und daß nur eine Sprache, in der wir leben, uns die richtige Auffassung des Rhythmischen verbürge. Daß die Auffassung der gegenwärtigen Formen aus der Sicht der geschichtlichen Vergangenheit zu Täuschungen führen kann, zeigen Heuslers Bemühungen.

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Möglichkeiten genutzt. So ist eine geschichtliche Darstellung in Gefahr, in eine Entwicklung umzufälschen, was nur Variation ist. Der geschichtliche Ort eines Versrhythmus läßt sich nur im Rah­ men des ganzen Gedichtes bestimmen, dem er angehört. So läßt sich die Geschichte des Verses nicht isoliert, sondern nur innerhalb der Geschichte der Dichtung, speziell der Lyrik darstellen. Unsere Untersuchung geht also aus von dem in der dichteri­ schen Gestaltung gegründeten Rhythmuserlebnis. Sie fragt nach dem Strukturgesetz der rhythmischen Gestalten der Dichtung, kraft dessen sich aus dem Zeitverlauf sprachlicher Wirklichkeit Zeit­ strecken eigener Gesetzlichkeit aussondern, die gestalthafte Präsenz gewinnen und dank ihrer künstlerischen Bedeutsamkeit auf das Zeiterlebnis der Wirklichkeit bezogen sind.

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Prosarhythmus (Sat^rhythmus)

Die Frage, ob der Prosasatz Grundlage rhythmischer Erlebnisse werden kann, ob es also einen Prosarhythmus gibt, ist umstritten. Heusler unterscheidet vom Versrhythmus einen Rhythmus der Prosa: in ihm sind die rhythmusbildenden Größen Stärke und Dauer ungeregelt, auch die Pausen sind ungleich lang, während die takthaltige Sprache des Verses die Verhältnisse zwischen diesen Größen regelt und sie dadurch ordnet28. Saran hält gewöhnliche Prosa für rhythmisch indifferent, weil sie dem Kriterium der Wohl­ gefälligkeit nicht entspricht. Nur durch ein Ethos kann sie zu ästhetischer und das heißt zu rhythmischer Wirkung gelangen. Das ist nur bei rhythmischer Prosa im eigentlichen Sinne der Fall, für die er als Beispiel die Ossianstelle aus Goethes »Werther« anführt26. Als prosarhythmisch im strengen Sinne gelten manchmal auch nur Stellen, an denen, mit oder ohne Absicht des Verfassers, die Akzente eines Prosatextes vorübergehend metrische Regelmäßig­ keit zeigen, wo es also zu einem jambisch-trochäischen oder anapästisch-daktylischen Gange kommt; so etwa in den Schlußszenen von Goethes »Egmont« oder in der Prosafassung der »Iphige­ nie«. An solchen Stellen kann ein Ethos in Sarans Sinne wirken; anderseits muß aber das Ethos nicht zu metrischer Regelung der Prosa führen. Eine solche findet sich vor allem in den sogenannten Satzklau­ seln, den aus dem Altertum überkommenen, oft auch noch in mit­ telalterlichen Texten vorliegenden kunstvollen Satzschlüssen. Sie nutzen bewußt die Gewichtigkeit des Satzfalles aus und steigern sie zu eindringlicher Wirkung. Die verschiedenen Klauseltypen (Cur­ sus planus, tardus, velox) ergeben sich aus einer bestimmten Ab26 Heusler, Deutsche Versgeschichte I, S. i8f., S. 5off. 2· Saran, Deutsche Verslehre, S. 13 3 f. 20

folge verschiedener Versfüße27. Offensichtlich handelt es sich hier nicht um einen echten Prosarhythmus, sondern um einen metrischen Rhythmus innerhalb eines Prosatextes. Wer das Prinzip der Satzgliederung und des Satzakzentes für ausschließlich oder vorwiegend logisch hält, wer das Satzganze als Gedankeneinheit, die Satzglieder als Denkschritte, die Satzbeto­ nungen als Hervorhebungen des für den Satzgedanken Wichtig­ sten, der »dominierenden Vorstellung« auffaßt, muß den Satz als rhythmisches Gebilde verfehlen. Anders, wenn man anerkennt, daß der Satz nicht nur einen Gedanken, sondern auch eine Situation ausdrückt. Dann erhalten sein Aufbau und seine Gliederung stili­ stischen Wert. Sprachstil bedeutet ja nichts anderes, als daß die Gesamtheit der Umstände, aus denen ein Sprecher spricht und die sich beim lauten Sprechen unmittelbar in Klang und Gebärde äußern können, dem Geschriebenen durch das Mittel der Stilfor­ mung eingeprägt werden. Schon die ältere, aus der Antike überkommene Stilistik sah die Satzgliederung nicht nur logisch-syntaktisch, sondern auch stili­ stisch. Sie verwendete dafür den Ausdruck »Numerus«. Nach R. M. Meyer bedeutet Numerus für die Prosa, was das Metrum für den Vers ist28. Friedrich Beissner hat den Ausdruck aufgegriffen und ihn bestimmt als die Relation, die sich zwischen Wörtern und Wortgruppen, Satzpausen, Fugen, Wortstellungen ergibt. Damit scheint er ihm mit dem Sprachrhythmus gleichbedeutend zu sein28. Das entscheidende Merkmal des Numerus ist die Gliederung. Da­ gegen fehlt ihm das eigentlich Rhythmische, die Dynamik des Spannens und Lösens, wie denn auch Beissner im Prosarhythmus kein Zeiterlebnis anerkennt. So enthebt uns auch der Begriff des Nu27 Konrad Burdach, Uber den Satzrhythmus der deutschen Prosa. Vorspiel I, 2, S. 223fr. 1925. vgl. dazu auch: Johannes Brömmel, Rhythmus als Stilelement in Mörikes Prosa. 1941. 28 Richard M. Meyer, Deutsche Stilistik. 2. Aufl. 1913. S. 67. 29 Friedrich Beissner Unvorgreifliche Gedanken über den Sprachrhythmus. . Festschrift Kluckhohn-Schneider 1948. Ähnlich faßt A. Arnholtz den Prosarhythmus als »Proportionsrhythmus«, also undynamisch (wie in Bild- oder S\ Bauwerken). Studier usw. und »Grundzüge einer Versvortragslehre« S. 3if-

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merus nicht der Aufgabe, von unserer Rhythmusauffassung her die Frage nach dem rhythmischen Erlebnis der Prosa neu zu stellen30. Wir befragen folgenden Satz: Die eherne Bildsäule eines vortrefflichen Künstlers | schmolz durch die Hitze einer wütenden Feuersbrunst in einen Klumpen. Die Spannung dieses Satzes können wir uns an syntaktisch und inhaltlich indifferentem Sprachmaterial deutlich machen. Wenn wir bis io zählen, also eine gleichmäßig fortlaufende Reihe von Wör­ tern hersteilen, so haben wir keinerlei Spannungserlebnis. Gliedern wir aber die Reihe durch einen Einschnitt, so wird es anders: 12345/6789 io// Im Gegensatz zur fortlaufenden Reihe, die endlos weiterlaufen könnte, erleben wir hier ein Ganzes. Im ersten Teil erleben wir Anspannung, Anstieg, im zweiten Lösung, Abstieg. Die Reihe rundet sich zum Spannbogen. Am Ende jedes Astes vor dem Ein­ schnitt oder dem Einhalt des Schlusses, auf 5 und 10, entsteht eine Ballung, ein Stärkeakzent. Verlaufsspannungen (Anstieg und Ab­ stieg), Einschnitte oder Pausen und Ballungen bedingen sich ge­ genseitig und schaffen eine rhythmische Gestalt. Das bestätigt sich, wenn wir den Schnitt etwa hinter der 4 machen. Die dann ungleiche Länge der Glieder wird durch schnelleres Zeitmaß des längeren zweiten ausgeglichen: der Rhythmus sucht seine Gestalt zu wahren. Und wenn wir die Zählbewegung bis 20 fortsetzen, so muß sie ebenfalls im Bogen, spannend-lösend, verlaufen: wir spüren den Zwang, im gleichen Rhythmus weiterzuschwingen. Wenn wir von vornherein die 20 als Endzahl ins Auge fassen, können wir auch beide Bogen in eine große rhythmische Ganzheit vereinigen. Dann tritt der zweite Bogen zum ersten in das Verhältnis des lösenden zum spannenden Aste. Die Glieder, die vorher Auf- und Abast waren, werden zu Teilästen. Ihre rhythmische Eigenbewegung wird in der Bewegung der übergreifenden Äste aufgehoben; im Vgl. zum Folgenden die Darstellung der Satzspannung in d. Verf.s Das Gedicht und seine Klanggestalt. S. 5 8 ff.

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Anstieg wird die vorher lösende spannend, im Abstieg die vorher spannende lösend: 12345 ' 6 7 8 9 10 / ix 12 13 14 15 1 16 17 18 19 20 // Die weitere Spannung überlagert die engere, ohne sie damit un­ wirksam zu machen. Die gleiche Gestalt hat unser Beispielsatz. Der spannende Ast geht bis zu dem Wort »Künstlers«; es ist durch die kleine Stauung geballt, die der Einschnitt hinter ihm bewirkt. Dieser fällt zwischen die Subjekts- und die Prädikatsgruppe, ist also syntaktisch bedingt. Zugleich aber hat er rhythmischen Sinn; er markiert die Wende vom spannenden zum lösenden Ast. Dieser findet in dem Wort »Klumpen« seine Ballung und sein Ende. Spannungston und Lö­ sungston entsprechen einander als Spannungspole. Der Lösungs­ akzent aber überwiegt, da ja die Pause am Satzschluß stärker staut als der Einschnitt innerhalb des Satzverlaufs. Er gibt gleich­ sam die Antwort auf die Frage des spannenden Astes. Wir bezeich­ nen ihn entsprechend seiner Gewichtigkeit als Schwerpunkt oder nach seiner Bedeutung für die Satzmelodie als Tiefpunkt des Satzes gegenüber seinem spannenden Höhepunkt. Auch hier wird wie in unserm Schema die verschiedene Länge der Äste durch Beschleu­ nigung des Zeitmaßes im längeren Abast ausgeglichen: eine Be­ währung der gestaltenden Kraft des Rhythmus. Ein weiteres Beispiel: Ein Mann hatte einen trefflichen Bogen von Ebenholz 1 mit dem er sehr weit und sehr sicher schoß | und den er ungemein wert hielt. |1 Das rhythmische Gefühl legt die Wende vom spannenden zum lö­ senden Ast in den Einschnitt hinter »schoß«, der damit der tiefste des rhythmischen Bogens wird. Der hinter »Ebenholz« wird dann flacher, man wird in ihm nicht atmen, während der hinter »schoß« ein Auffüllen des Atemvorrats erlaubt, ja, um den Sinn des Satzes auszuschöpfen, geradezu fordert. Der Einschnitt hinter »Ebenholz« teilt den Anstieg in zwei Teiläste. Er fällt an die syntaktisch wich­ tigste Stelle des Satzes, zwischen Haupt- und Nebensatz, während der rhythmisch wichtigste die beiden von »Bogen« abhängigen 23

Relativsätze trennt, also eine grammatisch weniger ausgezeichnete Stelle innehat. Rhythmische und syntaktische Gliederung fallen demnach nicht immer zusammen. Die Gewichte der Ballungen entsprechen der Tiefe ihrer Ein­ schnitte: am schwersten ist »wert (hielt)« vor der Schlußpause; »schoß« ist etwas leichter, aber schwer genug, um den Gegenpol darstellen zu können. »Ebenholz« ist wieder um eine Stufe leichter. Die Spannungsgestalt des Satzes stellt sich also folgendermaßen dar (das schwerste Gewicht bezeichnet die Ziffer i): 2 schoß Ebenholz 3 wert hielt Schlösse der Satz bereits mit seinem zweiten Gliede, müßte dieses die Lösung tragen: der rhythmische Bogen sucht sich in jedem Falle zu schließen: Ein Mann hatte einen trefflichen Bogen von Ebenholz | mit dem er sehr weit und sehr sicher schoß. || In der dreigliedrigen Gestalt ist die lösende Kraft des zweiten Gliedes in der übergreifenden Spannung aufgehoben. Unterhalb des Satzes und seiner Glieder kennt die Sprache noch eine rhythmische Kleingliederung. Die Worteinheiten, wie sie sich jeweils um eine hauptbetonte Silbe gruppieren, stellen eben­ falls die drei rhythmischen Spannungsmöglichkeiten dar81; sie können anspannend steigen: »ein Männ«, »sehr weit«; lösend fal­ len: »hätte«, »Bögen«; oder sich spannend-lösend, steigend-fallend bewegen: »einen trefflichen«, »von Ebenholz« usw. Im Anstieg des Satzbogens werden die fallenden, im Abstieg die anspringend­ steigenden Silben in ihrer rhythmischen Wirkung abgeschwächt, ohne daß das kleine Auf-Ab innerhalb des großen Bogens dabei verloren geht. Auch der Satz, der sich in Lessings Fabel »Der Besitzer des Bo­ gens« an den eben besprochenen anschließt, stellt sich in Spannung 81 vgl. zu den drei Möglichkeiten rhythmischer Bewegung Eduard Sievers, Zur Rhythmik und Melodik des nhd. Sprechverses, in: Rhythmisch-Melo­ dische Studien, S. 42 ff.

und Lösung als rhythmischer Bogen dar, dessen Bewegung aber gegenüber der seines Vorgängers verändert erscheint. Die rhythmi­ sche Energie will weiterschwingen, aber sie wird jedesmal in eine neue Bahn gelenkt. Der weiterstrebende Verlauf kommt erst zum Erliegen, wenn ein Abschnitt oder das Ende des Textes Halt ge­ bietet : Einst aber,1 als er ihn aufmerksam betrachtete, | sprach er:' ein wenig zu plump bist du doch. 11

Die syntaktisch sehr ungleichartigen Einschnitte hinter »aber« und »sprach er« erhalten rhythmisch die gleiche Funktion: sie unterteilen die beiden Hauptäste. Dadurch gleichen sie sich in ihrer Tiefe aneinander an; auch die Ballungen vor ihnen erhalten etwa gleiches Gewicht. Diese fallen hier nicht ausschließlich, wie in unseren bisherigen Beispielen auf das letzte Wort vor dem Ein­ schnitt, sondern rücken um ein oder zwei Wörter von ihm weg. Offensichtlich sind die vom Rhythmus aus zu beschwerenden Worte in ihrem Aussagewert zu schwach: sie tragen zur Aussage des Satzes nichts Neues bei. Es zeigt sich, daß der Satzakzent nicht nur vom Satzrhythmus, sondern auch von der Satzaussage be­ stimmt wird. Betont kann in unserer Sprache nur werden, was Aussagewert hat, was der Aussagesituation des Satzes ein neues Moment hinzufügt. Bei mehreren Aussagen erhält nicht etwa die wichtigste den Hauptakzent, sondern, wie es der Rhythmus ver­ langt, die dem Einschnitt zunächst stehende. So werden in unserm ersten Beispiel (Anfang von Lessings Fabel »Die eherne Bild­ säule«), da es sich um einen Anfang handelt, alle vier Vorstellungen (Bildsäule, Künstler, Feuersbrunst, Klumpen) neu in die Situation eingeführt. Über ihre Wichtigkeitsabstufung kann man verschie25

dener Meinung sein, nicht aber über ihre Betonung; sie ergibt sich aus dem rhythmischen Bogen des Satzes: 2 Künstlers i Klumpen Wenn die Stauung am Einschnitt, d. h. der Rhythmus allein den Satzakzent bestimmte, dann müßte immer die letzte, nicht die nach den Regeln der Wortbetonung beschwerte Silbe des Wortes vor dem Einschnitt den Ton tragen. Wäre der Aussagewert bestim­ mend, so müßte das wichtigste Wort des Satzes, seine »dominie­ rende Vorstellung«, am schwersten werden. Unsere Beispiele zei­ gen, daß beide Kräfte nicht einzeln, sondern zusammen wirken. Dafür ein weiteres Beispiel (J. P. Hebel, Seltsamer Spazierritt): Ein Mann reitet auf seinem Esel nach Haus | 1 und läßt seinen Buben zu Fuß nebenher laufen. 1| Hauptakzent auf dem Spannungsast (Höhepunkt) ist »Haus«, weil es am Einschnitt steht, nicht das wohl sinnwichtigere »Esel«; auf dem Lösungsast (Schwerpunkt) »nebenher«, nicht »laufen«, das in »zu Fuß« bereits ausgesagt ist, und dieses nicht, weil es dem Ein­ schnitt zu fern ist. Noch andere Spannungen können in die rhythmische Gestalt des Satzes eingreifen: i s Nur wenn das Erhabene mit dem Schönen sich gattet,' und unsere Empfänglichkeit für beides in gleichem Maße 2 ausgebildet worden ist, | 3

sind wir vollendete Bürger der Natur,' 1 ohne deswegen ihre Sklaven zu sein. 1|

(Schiller)

Syntaktische und rhythmische Gliederung stimmen zusammen. Die Wende liegt da, wo nach den beiden vorangestellten Nebensätzen der Hauptsatz beginnt: die Bedingungen wirken spannend, das Bedingte lösend. Weitere Einschnitte von geringerer Tiefe, anz6

nähernd gleichem rhythmischen, aber sehr verschiedenem syntak­ tischen Rang liegen hinter »gattet« und »Natur«. »Sklaven« wird dementsprechend am schwersten (Schwerpunkt), »ausgebildet« hält ihm die Waage, ist aber entsprechend seiner Stellung auf der Satzhöhe leichter (Höhepunkt), die Ballungen der Teiläste fallen auf »Schönen« und »Bürger«, nicht auf »gattet« und »Natur«, weil in jenen beiden eine Gegensatzspannung wirk­ sam ist (zu »Erhabene« und »Sklaven«), die die Akzente verschiebt, ihnen auch größeres Gewicht gibt, als die bloße Stauung. Zu der rhythmischen Spannung des Satzes kommt damit eine neue, an­ dersartige, eine Spannung gegensätzlicher Begriffe. Sie greift in jene gleichsam von außen ein, kann die Ballung auf das von ihr hervorgehobene Wort verschieben, kann auch seine Schwere er­ höhen und kann sogar neue Akzente schaffen (»Erhabene«). Der ganze Reichtum rhythmischer Möglichkeiten entfaltet sich erst im Großsatz; so in folgendem aus Kleists Novelle »Der Zwei­ kampf« : 4

Es war am Montag nach Trinitatis, 4

als der Graf Jakob der Rotbart, 4

mit einem glänzenden Gefolge von Rittern, 4

der an ihn ergangenen Aufforderung gemäß, 3

in Basel vor den Schranken des Gerichts erschien,1 B e und sich daselbst, mit Übergehung der ersten, ihm, wie er 4

vorgab gänzlich unauflöslichen Frage, 5

in Bezug auf die zweite, welche für den Streitpunkt 4

entscheidend war, B

2

folgendermaßen faßte: Edle Herren! | 4

und damit stützte er seine Hände auf das Geländer, 5

und schaute aus seinen kleinen blitzenden Augen, 27

5

von rötlichen Augenwimpern überschattet, 1 die Versammlung an. 11 Der Spannungsast steigt in zwei großen Teilästen (i. es war - er­ schien, 2. und sich - Herren); diese sind in Unterteiläste gegliedert, der erste in fünf, der zweite in drei. Diese letzten sind wieder unter­ teilt (Unteräste). Der zweite dieser Unteräste ist nochmals geteilt. Alle diese Glieder führen in zunächst größeren, dann immer klei­ neren Antrieben die Spannung zur Höhe, von der sie in kräftig ge­ gliedertem Fall (zwei Unterteiläste, der zweite noch dreimal unter­ geteilt) herabstürzt. Die syntaktische Gliederung wird dafür in sehr freier Weise benutzt. Von dem Hauptsatz »Es war. ..« ist das Folgende in dem großen Ais-Satz abhängig gemacht (bis »Edle Herren«). Dann folgt, überraschend durch »und damit« mit diesem Nebensatz verbunden, ein Hauptsatz. Der Spannbogen übergeht die erste, syntaktisch wichtige Wende vom Haupt- zum Nebensatz, steigt bis »Edle Herren« und fällt in dem angeschlos­ senen Hauptsatz, ohne daß von der Syntax her dafür ein Zwang vorliegt. Wie anders der Rhythmus in folgendem Satz aus Gottfried Kel­ lers Novelle »Pankraz der Schmoller«: 3

Auf dem Wege hatte er bedacht,' 3

wie dunkel einst das armselige Tranlämpchen gebrannt1 und wie oft er sich über die kümmerliche Beleuchtung 3

a geärgert,' wobeier kaumseine müßigen Siebensachen handhaben gekonnt,1 4



ungeachtet die Mutter, die doch ältere Augen hatte,1 3

ihm immer das Lämpchen vor die Nase geschoben,1 2 wiederum zum großen Ergötzen Estherchens, | 1 die bei jeder Gelegenheit ihm die Leuchte wieder wegzuprakti­ zieren verstanden. 11 28

Die Spannung des Satzes ist schwach, die rhythmischen Glieder folgen sich in fast ebenem Verlauf; sie sind aneinander gereiht, man könnte ihre Kette beliebig verlängern. Das letzte Glied über­ nimmt die Lösung, nicht aus innerer Notwendigkeit, sondern nur, weil es das letzte ist. So ist der Einschnitt vor dem letzten Relativ­ satz, der die Wende bringt, weder syntaktisch noch dem Sinne nach bedeutend. Daß er tiefer ist als die anderen, verdankt er nur seiner rhythmischen Funktion. Die rhythmische Form ist gefüllt, ohne daß ihre Ausdrucksmöglichkeiten wirklich genutzt wären; so blei­ ben die Stauungen und Akzente schwach. Die einzelnen Glieder sind lang, aber schwach gespannt, sie haben nicht die Stoßkraft der Kleistischen Kola. Das für das Ganze wichtigste Wort »Tranlämpchen« hat, weil es nur Gipfel eines Teilastes ist, schwache Ballung und ist darum verhältnismäßig leicht. Im fünften Teilast des Aufastes erhält »ältere« den Akzent durch eine Gegensatzspan­ nung; es wird dadurch ein wenig über die gleichrangigen Akzente hinausgehoben. Der Vergleich der Sätze Kleists und Kellers zeigt, daß ihre rhythmischen Unterschiede auf Verschiedenheiten ihres syntakitsch-stilistischen Baus beruhen, die man als hypotaktische und parataktische Ordnung zu bezeichnen pflegt. Demnach wird das Verhältnis von Stil und Rhythmus dem der fundierenden Elemente zum rhythmischen Erlebnis entsprechen. Durch den Satzbau ent­ steht eine bestimmte Ordnung der Glieder und Akzente, die eine entsprechende Verwirklichung im rhythmischen Erlebnis nahe­ legt, also Anweisungen gibt für den Verlauf der Spannungen und Lösungen des rhythmischen Bogens. Der syntaktische Aufbau des Satzes erschöpft sich zwar nicht in seiner Bedeutung für den Rhythmus; er stellt in jedem Falle eine bestimmte Möglichkeit sprachlicher Gedankenverbindung dar. Unsere Beispiele zeigen aber, daß der rhythmische Wille des Dichters sich der syntaktischen Schemata nach seinem Bedürfnis bedient. Diese Großsätze sind Perioden, also rhythmische Einheiten, die mehrere kleinere Spannungseinheiten als Glieder unter ihrem Bo­ gen vereinigen. Jedes Glied, das isoliert eine eigene Spannungs29

Lösungseinheit darstellt, fügt sich dem Zuge des großen Bogens, an dem die Periodizität und die Präsenz der rhythmischen Gestalt faßbar wird. Die melodische- Kurve des Satzes ist ein Ergebnis seiner Span­ nung, ein sekundäres Merkmal der Satzgestalt32. Bei wachsender Spannung steigt die Melodie, bei nachlassender sinkt sie; je stärker die Spannung, desto steiler der melodische Anstieg, je stärker die Lösung, desto jäher der Fall. Wie sich in den Ballungen, den Ak­ zenten, die Spannung oder Lösung ihrer jeweiligen Glieder ver­ dichten, so wiederholt sich die melodische Bewegung der Äste und Teiläste in der melodischen Bewegung ihrer Betonungsgipfel in konzentrierter Form. In der Ballung eines auf dem Spannungsast liegenden Gliedes schleift sie bogig von unten nach oben, in einer Abstiegsballung umgekehrt von oben nach unten: lösend: Deutlich sind diese Gipfelbewegungen zu spüren, wenn wir sie beim Sprechen mit entsprechenden Bewegungen der Hand beglei­ ten : mit gestrecktem Zeigefinger zeichnen wir eine aufwärts oder abwärts führende Kurve. In umgekehrtem Sinne, also steigend in der Lösung, fallend in der Spannung, läßt sich die Kurve nicht schlagen, ohne daß die Freiheit und Natürlichkeit des Sprechens leidet. An unsern Beispielen sind die Melodiebewegungen der Akzente leicht festzustellen, etwa: Ein Mann hatte einen trefflichen Bogen von Ebenholz, J mit dem er sehr weit und sehr sicher schoß, j und den er ungemein wert hielt. · Die Spannungsbewegung der Worteinheiten, die rhythmische Kleingliederung des Satzes, macht sich in der Satzmelodie durch 32 Zur Satzmelodie (ohne ausdrückliche Beziehung zum Rhythmus) vgl. Walter Kuhlmann, Die Tonhöhenbewegung des Aussagesatzes, 1931; Chri­ stian Winkler, Lesen als Sprachunterricht, 2. Aufl. 1952; Otto von Essen, Hochdeutsche Satzmelodie, Ztschr. f. Phonetik 1940, S. 63 ff.; Grundzüge der hochdeutschen Satzintonation, 1956.

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kleine melodische Wellenbewegungen bemerkbar, die jeweils in den betonten Silben der Wörter gipfeln (vgl. S. 24)82a. Zusammenfassend ist über den Satzrhythmus zu sagen: Der Satz, rhythmisch erlebt, ist ein Spannbogen, der aus einem spannenden und einem lösenden Ast besteht. Beide können sich mehrfach gliedern: der Rhythmus benutzt die syntaktische Glie­ derung in seinem Sinne. Auch die kleineren und kleinsten Glieder bis zu den Worteinheiten sind in Spannung und Lösung vollstän­ dige rhythmische Bögen, nur daß auf dem Spannungsast die klei­ neren Lösungen, auf dem Lösungsast die kleineren Spannungen nicht zur Wirkung kommen. Die Tiefe eines Einschnitts richtet sich nach dem rhythmischen Range des Gliedes, das er abschließt. Den ganzen Satz beendet die Pause. Der tiefste Einschnitt inner­ halb des Satzes liegt an der Stelle, wo Spannung und Lösung sich scheiden, an der Wende des Satzbogens. Die Einschnitte haben stauende und ballende Wirkung; je tiefer der Einschnitt, desto stärker die Ballung des Wortes, in dem das rhythmische Glied gipfelt. So ist die Ballung vor dem Satzschluß die schwerste, die vor der Wende die zweitschwerste des Satzes; sie entsprechen ein­ ander wie Spannung und Lösung, wie Frage und Antwort: der Satz ist polar gespannt. Den Spannungsbewegungen der Äste ent­ sprechen ihre Tonhöhenbewegungen; auch diese verdichten sich in den Ballungen. Soweit der Rhythmus die Betonung bestimmt, fällt sie auf das letzte Wort vor dem Einschnitt. Wenn dies Wort keine genügende Aussagekraft besitzt, wenn es nichts sagt, was im Vorhergehenden, in der Sprechsituation nicht schon enthalten ist, so rückt der Ak­ zent auf das dem Einschnitt nächste aussagekräftige Wort. So greift die Satzaussage in den Satzrhythmus modifizierend ein, ohne aber seine Wirksamkeit aufzuheben. Noch andere Spannungen können eingreifen, können Akzente verschieben oder verstärken: so Ge­ gensatzspannungen und, wie im folgenden Abschnitt zu zeigen ist, Ausdrucks-, Wirkungs- und Zeigspannungen. 321 vgl. Kuhlmann, a. a. O. S. 68.

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Rhythmische Prosa (Ballungsrhythmus)

Wir versuchen, den Rhythmus einer Stelle aus Hölderlins »Hyperion« mit Hilfe dessen, was sich uns bei der Betrachtung des Satzrhythmus ergeben hat, zu erfassen: O selige Natur 1 Ich weiß nicht, wie mir geschiehet, wenn ich mein Auge erhebe vor deiner Schöne, aber alle Lust des Himmels ist in den Tränen, die ich weine vor dir, der Geliebte vor der Geliebten. Zunächst die Gliederung: ein kurzer Spannbogen geht vorauf, der trotz seiner Kürze spannend-lösenden Verlauf hat, also in sich geschlossen ist. Die Wende hinter »selige« ist, da ihr ein syntakti­ scher Einschnitt nicht zur Verfügung steht, als Halt nicht spürbar. Den zweiten Satz darf man als einen Bogen auffassen, der bis »Schöne« aufsteigt, also in zwei Teilästen, von denen der erste un­ tergegliedert ist, und der in drei Teilästen fällt. Den Einschnitten entsprechen die Ballungen: Im ersten rhythmischen Bogen fällt der Schwerpunkt auf »Natur«, der Höhepunkt auf »selige«, im zweiten der Schwerpunkt auf »Geliebten«, der Höhepunkt auf »Schöne«. Teilgipfel sind »geschiehet« im Aufstieg, »Tränen« und »dir« im Abstieg. Wir erhalten also folgendes Schema: 2 selige

Schöne 2 geschiehet 3 weiß 4

1 Natur 1 Geliebten Man kann die Stelle auch in drei Bogen lesen, also bei »Schöne« einen Schluß und danach einen neuen Aufstieg ansetzen. Es wäre damit nichts Wesentliches geändert, denn die rhythmische Wir­ kung der Stelle wird durch die Satzspannung nur teilweise erfaßt. Sie beruht offenbar vor allem darauf, daß die Ballungen dichter 32

fallen, als die Stauungen der Satzeinschnitte es vorschreiben. Die Wortakzente, die im normalen Prosasatz nur geringe rhythmische Bedeutung haben, beginnen zu sprechen, so daß sie die rhythmi­ sche Wirkung wesentlich bestimmen. Stellenweise erhält fast jeder Wortakzent rhythmischen Wert: »wenn ich mein 'Auge er'hebe vor 'deiner 'Schöne«, »aber ‘alle 'Lust des 'Himmels 'ist in den 'Tränen«. Dabei bleiben die Gipfel, die durch Stauung am Ein­ schnitt gehoben sind, schwerer, doch wirken auch die bloßen Wortgipfel ausgesprochen geballt. Offenbar ist es nicht die Satz­ spannung, die sie heraustreibt, sondern eine andere Spannung, deren Art aus der Gesamthaltung der Stelle deutlich hervorgeht. Schon der Ausruf, mit dem sie beginnt, verrät es: ein Gefühl will sich äußern, es drängt nach lösender Entladung, und diese voll­ zieht sich in den Ballungen. Dabei begnügt es sich nicht damit, den Nachdruck der Satzgipfel zu verstärken, es treibt auch die Wort­ gipfel heraus, soweit sie irgend fähig sind, Gefühlsausdruck zu tragen. Ein stilistisches Merkmal, die gelegentlich vom Üblichen abweichende Wortstellung, bestätigt und unterstützt diese Ballun­ gen; vor allem die Nachstellung der normalerweise von der ver­ balen Fügung umklammerten Bestimmungen »vor deiner Schöne« und »der Geliebte vor der Geliebten«. Ganz deutlich wird es hier, daß nicht der Stil, sondern der Rhythmus das Primäre ist: auch ohne solche Stilmerkmale, also bei normaler Wortstellung, führt die Gefühlsent­ ladung zu rhythmischer Ballung der Wortakzente. Da die dichten und starken Ballungen das Bild dieses Rhythmus bestimmen, bezeichnen wir ihn im Unterschied zum Satzrhythmus als Ballungsrhythmus. Daneben prägt diesen Rhythmus noch eine kennzeichnende, auch in der Melodie faßbare Bewegung, die zu seinen Ballungen empor oder von ihnen herabschwingt. Sie ist weder mit der stei­ gend-spannenden noch mit der fallend-lösenden Kurve zu fassen, verlangt vielmehr eine schwingend-kreisende Mitbewegung, die in einem Schwünge auf- und wieder absteigt, in der also Spannung und Lösung Zusammenwirken: Der Nachdruck liegt auf dem Aufstieg, das Ergebnis ist Lösung, den rhythmischen Eindruck aber bestimmt das Schwingen.

o

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Eine dank der Art und der Häufigkeit der Ballungen ähnliche rhythmische Wirkung hat folgende Stelle aus Goethes »Werther«: Ich bin so 'glücklich, mein Bester, so 'ganz in dem Ge'fühle von 'ruhigem 'Dasein ver'sunken, daß meine 'Kunst darunter 'leidet. Ich 'könnte jetzt nicht 'zeichnen, nicht 'einen 'Strich, und bin 'nie ein 'größerer 'Maler gewesen als in 'diesen 'Augenblicken. Anders ist die Bewegung und damit dasAusdrucksgepräge des Rhyth­ mus der Stelle des Werther, die der eben angeführten voraufgeht: Eine 'wunderbare 'Heiterkeit hat meine 'ganze 'Seele 'eingenom­ men, gleich denen 'süßen 'Frühlingsmorgen, die ich mit 'gan­ zem 'Herzen ge'nieße. Ich bin al'lein und 'freue mich meines 'Lebens in 'dieser 'Gegend, die für 'solche 'Seelen ge'schaffen ist, wie die 'meine. Auch hier der von der Satzspannung unabhängige Ballungsrhyth­ mus, der sich aus der Häufung der durch Ausdruck gehobenen Gipfel ergibt. Aber der Schwung fehlt; nicht die kreisende, son­ dern eine lösend-abwärtsgleitende Bewegung ist ihm gemäß und zwar bei allen Gipfeln in gleicher Weise, nicht nur bei denen der absteigenden Äste, sondern auch im Aufstieg, der dadurch kaum noch als solcher wirkt. Wieder anders ist die melodische Bewegung und damit das Ausdrucksgepräge des Rhythmus in den Ballungen folgender Sätze aus dem »Hyperion«, die ebenfalls den durch Dichte der Ballungen gekennzeichneten Ballungsrhythmus haben. Dieser liegt auch hier wieder über dem Satzrhythmus, der in Gliederung und Stauung der im Anstieg gestreckten, im Abstieg wuchtigen Bögen weiter wirksam bleibt: Ein 'Volk, wo 'Geist und 'Größe 'keinen 'Geist und 'keine 'Größe mehr er'zeugt, hat 'nichts mehr ge'mein mit 'andern, die noch 'Menschen sind, hat 'keine 'Rechte mehr, und es ist ein 'leeres 'Possenspiel, ein 'Aberglauben, wenn man 'solche 'willen­ lose 'Leichname noch 'ehren will, als wär ein 'Römerherz in ihnen. 'Weg mit ihnen! Er 'darf nicht 'stehen, wo er 'steht, der 34

'dürre 'faule 'Baum, er 'stiehlt ja 'Licht und 'Luft dem 'jungen ‘Leben, das für eine 'neue 'Welt her'anreift. Die Gipfelbewegung ist weder mit der kreisenden, noch mit der lösenden Kurve zu fassen. Sie verlangt eine steigend-spannende, die hier nicht, wie in den meisten Fällen eine bogige Gestalt hat, son­ dern steil aufwärts weist. Eine heftige, zornige Stimmung äußert sich darin. Aber diese Äußerung führt nicht zur Lösung, vielmehr erwartet sie die Lösung erst von der Tat, auf die sie zielt. Neben der Gefühlsäußerung bestimmt diesen Rhythmus der Wille zur Wir­ kung auf andere; diese sollen zu der Tat oder zu der Haltung geführt werden, von der die Lösung der Spannung erwartet wird. Es sind die drei rhythmischen Grundbewegungen, die sich in den Ballungsrhythmen ausprägen, die spannend-steigende, die lösendfallende und die beide vereinigende spannend-lösende, schwin­ gende. Gelegentlich, wenn auch selten, findet sich auch eine lösendspannende, also in umgekehrter Richtung kreisende. Rhythmische Motive in gehobener Prosa sind öfter beobachtet worden. So findet Johannes Klein33 in Hölderlins Hyperion »musi­ kalische Leitmotive«, denen rhythmische Bewegungen zugrunde liegen. Er unterscheidet ein daktylisch-kreisendes Motiv (EinheitsMotiv) von einem gedehnt verlaufenden (Hyperion-Motiv) und einem energisch stoßhaften (Alabanda-Motiv). Man kann sie un­ schwer auf die drei rhythmischen Grundbewegungen zurückfüh­ ren. Aus Kombinationen dieser Grundmotive leitet Klein noch weitere Motive ab. Dietrich Seckel34 unterscheidet im Hyperion fünf rhythmische Typen, die sich, wie es schon ihre metaphorischen Namen verraten, ebenfalls aus den rhythmischen Grundbewegungen verstehen las­ sen. Seckeis »wellenhaft-pulsierender« Rhythmus hat lösend-fallende Bewegung, sein »drängend-wuchtiger« spannend-steigende, sein »schwingend-springender« steigend-fallende. Auch der »stoßhaft-gespannte« Rhythmus hat steigenden Charakter, während der 88 Johannes Klein, Die musikalischen Leitmotive in Hölderlins Hyperion. GRM 23, 1935, S. ιγγίΓ. 84 Dietrich Seckel, Hölderlins Sprachrhythmus, S. 246 ff.

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»schreitend-ebene« verhältnismäßig indifferent erscheint und der rhythmischen Wirkung der Satzspannung Raum läßt. Solche Ballungsrhythmen entstehen aus der Unmittelbarkeit des Ausdrucks; sie streben zu Gipfelungen der Spannung, haben da­ her etwas Gegenwärtiges, Zupackendes, das sie auf Dichtungen überwiegender Ausdruckshaltung einschränkt, deren es in Prosa nicht allzu viele gibt. Ihre große Zeit ist das spätere 18. Jahrhundert, die Epoche der Empfindsamkeit und des Sturms und Dranges. Als immer wieder wirksames Vorbild kann Luthers Psalmenüberset­ zung gelten. Herder hat diesen Rhythmus gefordert, in dem er das Kennzeichen des jugendlichen Sprachalters sah: »Man sang im ge­ meinen Leben, und der Dichter erhöhte nur seine Akzente in einem für das Ohr gewählten Rhythmus. Die Sprache war sinnlich und reich an kühnen Bildern, sie war noch in den Verbindungen unge­ fesselt; die Periode fiel auseinander, wie sie wollte! Seht! das ist die poetische Sprache, die poetische Periode I«3B Goethe ist dem in seinen Jugendschriften gefolgt; vor allem ha­ ben viele Stellen des »Werther« ballungsrhythmische Prägung, am dichtesten ist sie in der eingefügten Ossianstelle, wie überhaupt der Ossian ein Muster dieses Rhythmus abgab. Auch andere Stürmer und Dränger finden auf diese Anregungen hin den Ballungsrhyth­ mus, so Reinhold Michael Lenz an einzelnen Stellen seines »Wald­ bruders«. Folgende Stelle etwa schwingt spannend bogig aufwärts bei weitgespannten Satzbögen: Wenn ich mir noch den Augenblick 'denke, als ich sie das 'erste­ mal auf der Maske'rade 'sah, als ich ihr gegen'über am 'Pfei­ ler 'eingewurzelt 'stand und mir's 'war, als ob die 'Hölle sich zwischen uns beiden 'öffnete und eine 'ewige 'Kluft unter uns be'festigte. 'Ach, 'wo ist ein Ge'fühl, das 'dem 'gleichkommt, so viel 'unaussprechlichen 'Reiz vor sich zu sehen mit der 'schrecklichen Ge'wißheit, 'nie, 'nie davon Be'sitz nehmen zu dürfen. Ix'ion an 'Jupiters 'Tafel hat 'tausendmal 'mehr gelitten als 'Tantalus in dem 'Acheron. 35 Joh. Gottfried Herder, Sämtliche Werke, her. v. Bernhard Suphan 1877-1913. »Von den Lebensaltern einer Sprache« Bd. I, S. 153.

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Wir finden diesen Rhythmus in Maler Müllers Idyllen, wie er schon in Salomon Gessners Idyllen in lösender, abwärts schwingender Art verwirklicht ist. So aus seiner Idylle »Daphnis«: Da 'saß er der 'Hütte gegen'über in 'schwermütiger Entzückung, und 'sah nur mit 'vestgeheftetem 'Blick das 'Fenster der 'Kam­ mer, wo sein 'Mädchen 'schlief. 'Halb ge'öffnet wars den 'kühlen 'Winden und des 'Mondes 'sanftem 'Licht. Mit 'sanfter 'Stimme hub er itzt 'diesen Ge'sang an: 'Süß sei dein 'Schlummer, du 'meine Ge'liebte! Er'quiekend wie der 'Morgentau! 'Sanft und 'ruhig 'liege 'dort, wie ein 'Tropfen 'Tau im 'Lilienblatt, wenn die 'Blumen kein 'Hauch be'wegt; denn sollte 'reine 'Unschuld nicht 'ruhig 'schlummern? Hölderlin hat dann im »Hyperion« die Möglichkeiten dieses Rhyth­ mus ausgeschöpft wie keiner vor und nach ihm. Jean Paul benutzt ihn gelegentlich, manchmal auch die Romantiker, so E. T. A. Hoff­ mann in den früheren Erzählungen, Stifter in den unter Jean Pauls Einfluß stehenden ersten Studien (Der Condor, Feldblumen). Noch Wilhelm Raabe macht gelegentlich Gebrauch von ihm. Der große Erneuerer der rhythmischen Prosa ist Nietzsche in seinem »Zarathustra«.3Sa In seinen Ballungsrhythmen überwiegt bei weitem spannend-steigende Tendenz. Auch wo sie ausdruckhaft schwingen, wenden sie sich kaum zur Lösung. So im »Nachtlied«, in dem auch die abwechselnd weiter und enger gespannten Satz­ bögen mit großer Intensität sprechen: 'Nacht ist es: nun 'reden 'lauter 'alle 'springenden 'Brunnen. Und auch 'meine 'Seele ist ein 'springender 'Brunnen. 'Nacht ist es: 'nun erst er'wachen 'alle 'Lieder der 'Liebenden. Und auch 'meine 'Seele ist das 'Lied eines 'Liebenden. Ein 'Ungestilltes, 'Unstillbares ist 'in mir; 'das will 'laut wer­ den. Eine Be’gierde nach 'Liebe ist 'in mir, die redet 'selber die 'Sprache der 'Liebe. vgl. Otto Olzien, Nietzsche und das Problem der dichterischen Sprache. Neue dt. Forschungen Bd. 32. 1941, S. n6ff.

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Offenbar treibt diesen Rhythmus nicht nur der Gefühlsausdruck, sondern auch der Wille, auf andere zu wirken; vor allem daher nimmt er seine Gespanntheit. Diese wird stärker, auch starrer, wo die Wirkung, das Rhetorische, im Vordergrund steht. Das rhyth­ mische Steigen der Gipfel verliert den bogigen Schwung, es wird steil; dementsprechend die kurzen, mit Wucht und Bestimmtheit gesetzten Satzbögen: Und 'nun 'wollte ich, ihr be 'rühmten 'Weisen, ihr 'würfet 'endlich das 'Fell des 'Löwen 'ganz 'von euch! Das 'Fell des 'Raubtiers, das 'buntge'fleckte, und die 'Zotten des 'Forschenden, 'Suchen­ den, Er'obernden! 'Ach, daß ich an eure »Wahrhaftigkeit« 'glauben lerne, 'dazu müßtet ihr mir erst euren ver'ehrenden 'Willen zer'brechen. Wahr'haftig - 'so heiße ich 'den, der in 'götterlose 'Wüsten geht und sein ver'ehrendes 'Herz zer'brochen hat. Die Ballungen sind hier in ihrer Gewichtigkeit stärker abgestuft, als in den Beispielen reinen Gefühlsausdrucks. Die Intensität der wirkenden Spannung versammelt sich vor allem auf den Satz­ gipfeln, die hoch über die benachbarten Ballungen emporragen. Die rhythmische Bewegung erhält dadurch etwas Gerichtetes, Auf­ gipfelndes, das der steil aufwärts steigenden melodischen Gipfel­ bewegung entspricht. Dabei erhalten die Satzgipfel, auch die der lösenden Äste, durchweg steigende Bewegungsrichtung, wie ja überhaupt ein ausgesprochener Ballungsrhythmus die satzrhyth­ mische Bewegungsrichtung, soweit sie ihm nicht entspricht, sich anzupassen pflegt. So können sich ballungsrhythmische Einheiten bilden, die den satzrhythmischen, den Sätzen, nicht zu entsprechen brauchen. Es sind Abschnitte, in denen die Ballungen durchgehend gleiche Rich­ tung haben, also durchweg steigen oder fallen oder kreisen, in denen also eine einheitliche Spannung herrscht. Unsere Beispiele aus dem »Werther« (Brief vom io. Mai) können, in umgekehrter, also richtiger Folge gelesen, den Übergang von einer ballungs­ rhythmischen Einheit zur andern zeigen. 58

Ballungs-Gliederungsrhythmus (Freier Rhythmus I) Ein Ballungsrhythmus, ähnlich dem unserer Beispiele aus dem »Hyperion« und dem »Werther«, herrscht offenbar auch an folgen­ der Stelle aus Klopstocks »Frühlingsfeier«: Er'geuss von 'Neuem 'du, mein 'Auge, 'Freuden'tränen! 'Du, meine 'Harfe, 'Preise den 'Herrn! Um'wunden 'wieder, mit 'Palmen 'Ist meine 'Harf um'wunden; ich 'singe dem 'Herrn! 'Hier 'steh ich. 'Rund 'um mich Ist 'Alles 'Allmacht und 'Wunder 'Alles! Mit 'tiefer 'Ehrfurcht 'schau ich die 'Schöpfung 'an, Denn 'du, 'Namenloser, 'du 'Schufest 'sie! Wieder fallen die Gipfel dicht; ihre Spannungsbewegung ist, wie die Begleitgeste zeigt, schwingend-kreisend. Aber ein neues Glie­ derungsprinzip ist wirksam, die satzrhythmische Gliederung herrscht zumindest nicht allein. Reihen werden gebildet, die mit den Gliedern der Satzbögen nicht immer zusammenfallen. Manch­ mal sind mehrere Satzglieder in einer Reihe vereinigt (»Ist meine Harf umwunden; ich singe dem Herrn«), manchmal bildet ein Teil eines Satzgliedes eine Reihe (»Namenloser, du«). Wie die Reihen abgesetzt sind, so muß der Lesende Satzglieder zusammenfassen, auflösen oder bestehen lassen. Im Ballungsrhythmus der rhyth­ mischen Prosa ist die Satzgliederung ungebrochen Mitträgerin des Rhythmus. Auch in der »Frühlingsfeier« ist sie nicht unwirksam, aber sie ist mit einem anderen Gliederungsprinzip im Streite; es entstehen Spannungen verschiedener Art und verschiedenen Gra­ 39

des dadurch, daß es sie durchbricht oder aufhebt oder bestehen läßt. Besonders in den Enjambements oder Brechungen verdichtet sich diese Spannung: Namenloser, du Schufest sie I Der Satz drängt weiter, während die Reihengliederung einen Halt setzt. Diese wirkt rhythmisch vor allem auch durch den Wechsel von kurzen und langen Zeilen gemäß dem auch für den Satzrhythmus geltenden Gesetz, daß ein langes rhythmisches Glied leichter, flie­ ßender, ein kurzes schwerer, geballter ist, so daß der Wechsel kurzer und langer Zeilen einen Spannungs-Lösungswechsel bedeutet. Alle Einzelballungen wirken in den kurzen Zeilen gewichtiger als in den langen. Doch können beim Wechsel der Zeilen die Ballungen ihre Spannungsrichtung beibehalten, so daß die schwereren kurzen nicht weniger als die leichteren langen im Grundgepräge lösend wirken können. Im Verlauf von Klopstocks »Frühlingsfeier« ändert sich die Bewegungsrichtung der Ballungen oft. Neben rhythmischen Ein­ heiten steigender, fallender oder kreisender Bewegung finden sich Stellen, an denen der Spannungs-Lösungsverlauf des Satzbogens herrscht, die also satzrhythmische Einheiten darstellen. Das mag hier ein Zeichen rhythmischer Unsicherheit sein; der Dichter wagt den Gesetzen des von ihm neugeschaffenen freien Rhythmus noch nicht durchweg zu folgen. Im Jahre 1754, in dem Gedicht »Dem Allgegenwärtigen«, hat er ihn zum erstenmal angewendet. Seitdem erscheint er von Zeit zu Zeit immer wieder in seinem Werk, meist in Gruppen zeitlich und gegenständlich zusammengehöriger Gedichte. Er wächst aus den antiken Odenmaßen heraus - die aber daneben beibehalten werden um dem gewaltigen ins Hymnische drängenden Ausdruckswillen des Dichters eine angemessene Verwirklichungsmöglichkeit zu geben. Die rhythmische Unsicherheit, die angesichts der Kühnheit die­ ser Neuschöpfung verständlich ist, hat Klopstock auch veranlaßt, 40

die strophenartigen Gruppen seiner ballungsrhythmischen Zeilen, die ursprünglich verschiedene Länge hatten, später in Angleichung an die Odenstrophen durchweg auf vier Zeilen zu bringen. Die älteren Gedichte hat er daraufhin überarbeitet, so daß sich z. T. auch die Zeilenlänge und damit der Rhythmus änderte. Die Verbindung der Zeilengliederung mit den Ballungen der Wortgipfel macht ja die Wirkung dieses von Klopstock in die deutsche Dichtung einge­ führten Rhythmus aus, den wir nach seinen wesentlichen Merkma­ len als Ballungs-Gliederungsrhythmus bezeichnen. Es ist nun durchaus möglich, einen Ballungs-Gliederungsrhyth­ mus, wie er in unserer Stelle aus der »Frühlingsfeier« vorliegt, me­ trisch aufzufassen. Es ergibt sich dabei eine oft von Zeile zu Zeile wechselnde, aber metrisch ausgeglichene Rhythmisierung, d. h. die Abstände der Hebungen sind innerhalb der einzelnen Zeilen im wesentlichen gleich. Das würde Heuslers Auffassung des freien Rhythmus bestätigen. Er hält ihn für durchweg takthaltig; das unterscheide ihn von der Prosa36. Im Unterschied vom gebunde­ nen Rhythmus al5er wechsle bei ihm das Metrum oft von Zeile zu Zeile; es sei also kein vorbestimmtes Grundmetrum vorhanden. Saran dagegen macht keinen Unterschied zwischen rhythmischer Prosa (die wir Ballungsrhythmus genannt haben) und freien Rhyth­ men mit Zeilenabteilung (Ballungs-Gliederungsrhythmen)37. Er hält beider rhythmische Struktur für gleich; ihr Ethos erhebe den Prosaakzent zu rhythmischer Wohlgefälligkeit. Auch nach der hier vertretenen Auffassung ist es ein Ethos, vor allem Gefühlsausdruck, das die Akzente steigert und vermehrt. Diese dann metrisch aufzufassen und zu lesen, ist fast immer mög­ lich, wenn man sie in ihrem Gewicht und ihren Abständen mehr oder weniger ausgleicht. Damit schwächt man aber ihre Intensität, die zackige Gipfellinie wird geglättet, das Überragende und Ver­ einzelte auf mittleren Abstand und mittlere Höhe gedrückt. Daß se Andreas Heusler, Deutsche Versgeschichte, Bd. III, S. 28off. Vgl. auch Otto Paul, Deutsche Metrik, S. 123. Auch L. Benoist-Hanappier (Die freien Rhythmen in der deutschen Lyrik, 1903, S. 11) glaubt, daß Taktigkeit für den freien Rhythmus wesentlich sei. 37 Franz Saran, Deutsche Verskunst, S. 17ff.

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Klopstock solche Dämpfung und Mäßigung gemeint habe, darf bezweifelt werden; sie paßt nicht zu der hymnischen und eksta­ tischen Haltung seiner freirhythmischen Gedichte und widerspricht dem Sinn ihrer Befreiung vom Zwang des Odenmaßes. Es bleibt aber das Grundproblem des freien Rhythmus, ob er als metrischer oder als Prosarhythmus aufzufassen sei. Die beiden durch Heusler und Saran vertretenen Meinungen stehen sich auch bei anderen Verfassern gegenüber; ja, zwischen den freien Rhyth­ men der großen Hymniker werden manchmal noch Unterschiede gemacht. Klopstock etwa wird ein echter freier Rhythmus, d. h. eine prosarhythmische Struktur zugebilligt, während Goethe und Höl­ derlin zu metrischer Bindung neigen sollen. So sieht es etwa Edu­ ard Lachmann38. Er schreibt Goethes und Hölderlins Hymnen im Gegensatz zu denen Klopstocks Versnatur zu. Während aber bei Goethe der Rhythmus durch das ganze Gedicht derselbe bleibe, soll er bei Hölderlin im Rahmen des metrischen Charakters wechseln, der auf den alkäischen Odenvers zurückzuführen sein soll. Ernst Busch39 hält dagegen die freien Rhythmen von Klopstock bis Heine durchweg für außermetrisch. Er geht bei seinen Untersuchungen vom Merkmal der »harten Fügung« (nach Norbert von Helling­ rath40) aus, das er allen diesen Rhythmen zuschreibt, wodurch eine prosarhythmische Auffassung zumindest nahegelegt wird. Dietrich Seckel umgeht das Problem, weil er die Frage nach dem eigentüm­ lichen rhythmischen Charakter der Hymnen Hölderlins gar nicht stellt. Rhythmus ist ihm von vornherein etwas Außermetrisches; auch in den streng metrischen Dichtungen, den Oden und Elegien, findet er ihn außerhalb des Metrums. In einigen Hymnen Goethes glaubt Heusler41 nicht eine wech­ selnde, sondern eine streng durchgeführte Metrisierung, einen ein­ 38 Eduard Lachmann, Hölderlins Hymnen, 1937, S. 333ff. 33 Ernst Busch, Stiltypen der deutschen freirhythmischen Hymne aus dem religiösen Erleben. Diss. Bonn 1934. 40 Norbert v. Hellingrath, Hölderlins Pindarübertragungen. Prolegomena zu einer Erstausgabe. Diss. München 1910. 41 Heusler a.a.O. III, S. 298ff., S. 3891!. Dazu auch Ulrich Pretzel, Deutsche Verskunst. Stammlers Dt. Philologie im Aufriß, Sp. 2436ff. (P.

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heitlichen Takt, feststellen zu können, nämlich in »An Schwager Kronos«, »Ganymed«, »Grenzen der Menschheit«, »Das Gött­ liche«, »Meine Göttin«. Den drei letztgenannten billigen auch wir, wie auch anderen nur scheinbar freirhythmischen Gedichten Goe­ thes (»Adler und Taube«, »Gesang der Geister über den Wassern«), keinen Ballungs-Gliederungsrhythmus zu. Dazu ist ihr Ausdruck zu gehalten, sind ihre Ballungen infolgedessen zu schwach. Ihre rhythmische Struktur wird an anderer Stelle zu untersuchen sein. »An Schwager Kronos« und »Ganymed« dagegen haben wie u.a. auch »Wanderers Sturmlied«, »Mahomets Gesang«, »Prometheus«, »Harzreise im Winter« dank ihren natürlichen Ausdrucksspannun­ gen echten Ballungs-Gliederungsrhythmus, ganz gleich, ob es mög­ lich ist, in ihnen den Abstand der Ballungen auszugleichen oder nicht. Die Gewaltsamkeit, mit derHeusler seine Metrisierung durch­ führt, spricht nicht gerade für seine Auffassung, läßt sich doch mit gutem Willen und Gewalt jeder Prosasatz metrisieren. Es kommt ja auch für einen freien Rhythmus in erster Linie darauf an, daß die Ballungen nicht aus metrischen, sondern aus natürlichen Spannun­ gen erwachsen. Ob sie in verhältnismäßig gleichen Abständen auf­ einander folgen oder nicht, ist für den Charakter dieses Rhythmus nicht entscheidend. In Goethes Ballungs-Gliederungsrhythmen, z. B. im »Ganymed«, sind die Zeilenlängen im allgemeinen nicht so reich abgestuft wie in Klopstocks »Frühlingsfeier«. So unterscheiden sich die Zeilen meist auch nicht wesentlich nach der Zahl ihrer Ballungen: oft sind es zwei, manchmal auch drei oder nur eine. Dennoch ergibt sich eine reich abgestufte rhythmische Wirkung, die vor allem dadurch zustande kommt, daß die Ballungen manchmal dicht ne­ beneinander fallen, manchmal durch leichtere Silben voneinander getrennt sind. Wie verschieden kann die rhythmische Spannung zweier Reihen sein, die je drei Ballungen haben, etwa folgender: ändert an einigen Stellen die Zeilenabsetzung von Goethes Prometheus und greift damit in die Rhythmisierung des Dichters ein.) Vgl. auch Gott­ fried Fittbogen, Die sprachlich-metrische Form der Hymnen Goethes. Diss. Halle 1909.

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. . . 'Liebend nach 'mir aus dem 'Nebeltal. . . . . . Hin'auf! Hin'auf 'strebts . . . Wenn man mit Heusler Viertakter daraus macht, verwischt man diese rhythmischen Unterschiede. Zweifellos war Goethe ein Bedürfnis nach Harmonisierung eigen, das der Ausbildung reiner Ballungs-Gliederungsrhythmen nicht günstig war. So beschränken sie sich auf die großen Hymnen seiner Frühzeit, zu denen der »Ganymed« uneingeschränkt zu zäh­ len ist. Seine Ballungen sind freirhythmischer, d. h. natürlicher Art: kein metrisches System, sondern die Gefühlsspannung, die sich entladen will, treibt sie heraus. Die melodische Bewegungsrichtung der Ballungen ist im »Gany­ med« nicht durchgehend die gleiche. Ihr Wechsel deutet auf wech­ selnde innere Spannungen. Er schaßt eine Abfolge rhythmischer Einheiten, die die Gliederung des Gedichts bestimmen. Es beginnt mit einer Einheit steigender, drängender rhythmischer Bewegung: Wie im 'Morgen'glanze Du 'rings mich 'anglühst, 'Frühling, Geliebter! Mit 'tausendfacher 'Liebeswonne Sich an mein 'Herz 'drängt Deiner 'ewigen 'Wärme 'Heilig Ge'fühl, Un'endliche 'Schöne! Die steigende Bewegung wird noch steiler, gespannter in der fol­ genden rhythmischen Einheit: eine innigere Vereinigung wird er­ strebt als die bisher erreichte: 'Daß ich dich 'fassen möcht In 'diesen 'Arm! 'Ach, an 'deinem 'Busen 'Lieg ich, 'schmachte, Und deine 'Blumen, dein 'Gras 'Drängen sich an mein 'Herz. 44

Im Folgenden leicht fallende Gipfel, schwache Lösung. Die Be­ gleitgebärde hat nicht bogig schwingende, sondern schräg abwärts geneigte Gestalt: Du 'kühlst den 'brennenden 'Durst meines 'Busens, 'Lieblicher 'Morgenwind! Es ist nur Kühlung, nicht Lösung. Aber die neue Spannung ist leicht, mehr fragend als drängend, ein bogiges Aufwärtsschwingen, das zum Kreisen werden möchte: Ruft 'drein die 'Nachtigall 'Liebend nach 'mir aus dem 'Nebeltal. Im Folgenden beginnt es sich zu runden. Zunächst überwiegt noch Spannung, die Begleitbewegung hat eine langrunde, aufwärtsge­ streckte Form: Ich 'komm, ich 'komme! Wo'hin? 'Ach, wo'hin? Die Frage birgt schon die Gewißheit. Mit dem Aufschwung des Folgenden ist die schwingende Bewegung erreicht, die die Begleit­ gebärde kreisen läßt: der All-Einheitsrhythmus, dem wir in der Hymnik immer wieder begegnen: Hin'auf! Hin'auf 'strebts. Es 'schweben die 'Wolken ‘Abwärts, die 'Wolken 'Neigen sich der 'sehnenden 'Liebe. 'Mir! 'Mir! In 'eurem 'Schoße 'Auf'wärts 1 Um'fangend um'fangen! Zum Schluß eine rhythmische Einheit lösender Tendenz: Sinken in die Erfüllung: 'Aufwärts an 'deinen 'Busen 'All'liebender 'Vater! 45

In Goethes »Prometheus« ist die Ballungsbewegung, die Bewe­ gung zu den Gipfeln hin oder von ihnen fort, anspannend, stei­ gend. Im allgemeinen hat sie eine steile, hochgereckte Form, ist aber nicht starr, sondern hat bogigen Schwung. Rhythmische Ein­ heiten gliedern sich hier durch verschiedene Stärke der Spannun­ gen, nicht durch Änderung ihrer Bewegungstendenz heraus. Das Lösen, das Entladen, tritt darum in den Ballungen zurück gegenüber dem An- und Eindringen. Sie spannen sich vorwiegend nach außen, auf ein Gegenüber hin, auf den Gott, der überwunden werden soll. Eine solche Außenspannung wird, anders als die innere Spannung des Gefühls, durch Äußerung nicht gelöst. So schließt das Ge­ dicht nicht lösend, sondern mit spannender Tendenz der Ballungen: Und 'dein 'nicht zu 'achten, 'Wie 'ich! Die Zeilengliederung des »Prometheus« ist reicher als die des »Ga­ nymed«. Zeilen verschiedener Länge sind gegeneinandergestellt. Sie wirken wie leichtere und schwerere Stöße, auch wie wuchtige Schläge. So in Folgendem: Wer 'half mir Wider der Ti'tanen 'Übermut? Wer 'rettete vom 'Tode mich, Von 'Sklave'rei? Wo die Außenspannung nachläßt, wird die Gipfelspannung schwä­ cher, kann sogar zu kreisendem Schwingen werden, allerdings mit starkem Nachdruck auf dem spannenden Teil der Bewegung: der kreisende Bogen reckt sich hoch. So in der auf das eben Zitierte folgenden rhythmischen Einheit: 'Hast du nicht 'alles 'selbst voll'endet, 'Heilig 'glühend Herz? Und 'glühtest 'jung und 'gut. . . Dann wieder vorwiegend außengespannt mit steil steigenden Bal­ lungen : 46

Be'trogen, 'Rettungs'dank Dem 'Schlafenden da 'droben? Eine andere Tendenz ist in diesem Rhythmus wirksam als in Klopstocks »Frühlingsfeier« oder Goethes »Ganymed«, nicht in­ nere Spannung die sich im Ausdruck lösen will, sondern Außen­ spannung, die eine Wirkung erzielen will. Im »Prometheus« bleibt sie in der Sphäre der Dichtung, eine Auseinandersetzung des Pro­ metheus mit Zeus als Situation des unvollendeten Dramas. Die Dichtung kennt aber auch, wenn auch nur in Einzelfällen, ballungs­ gliederungsrhythmische Gestaltungen, die aus echten, nach außen gerichteten Wirkungsspannungen kommen. Die Prosa von Nietzsches »Zarathustra« hat uns bereits Beispiele eines wirkungsgespannten Ballungsrhythmus gegeben. Die in ihn eingefügten »Dionysos-Dithyramben« sind zu einem Teil wohl nur frei gegliederte Prosa, einige aber haben echten Ballungs-GliederungsrhythmusausnatürlichenSpannungen.412 Meist sind es,im Ge­ gensatz zum Prosatext des »Zarathustra«, Ausdrucksspannungen, die durch die sinnbildliche Bedeutung, die Nietzsches Ausdrucks­ metaphern meist eigen ist, eine Intensivierung durch zeigenden Nachdruck erhalten. So in Folgendem (aus »Nur Narrl Nur Dichter!«): Der 'Wahrheit 'Freier - 'du? So 'höhnten sie 'nein! 'nur ein 'Dichter! ein 'Tier, ein 'listiges, 'raubendes, 'schleichendes, das 'lügen muß, das 'wissentlich 'willentlich 'lügen muß, nach 'Beute 'lüstern, 'bunt ver'larvt, sich 'selbst zur 'Larve, sich 'selbst zur 'Beute, 'das - der 'Wahrheit 'Freier 1 'Nur 'Narr! 'Nur 'Dichter! 413 vgl. Helmut Rehder, Leben und Geist in Nietzsches Lyrik. Euphorien 37, 1936, bes. S. 2ooff., auch Olzien a.a.O. S. 134fr.

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Doch findet sich gelegentlich auch ein Vorherrschen des Wirkungs­ willens. Dabei sind die Ballungen, die mit besonderer Eindringlich­ keit wirken wollen, oft sogar im Druckbild hervorgehoben. So in folgenden Abschnitten aus »Ruhm und Ewigkeit«: Diese 'Münze, mit 'der 'alle 'Welt be'zahlt, 'Ruhm,mit 'Handschuhen 'fasse ich diese 'Münze 'an, mit 'Ekel trete ich sie 'unter mich. 'Wer will be'zahlt sein? Die 'Käuflichen . . . Wer 'feil steht, 'greift mit 'fetten 'Händen nach diesem Aller'welts 'Blechklingklang 'Ruhm! 'Willst du sie 'kaufen? Sie sind 'alle 'käuflich. Aber 'biete 'viel! 'Klingle mit 'vollem 'Beutel! - du 'stärkst sie sonst, du 'stärkst sonst ihre 'Tugend . . . Über der Entladung innerer Spannungen, Zorn, Haß, Hohn, erhebt sich die Außenspannung und wirft jene gleichsam auf den Hörer. Solche Rhythmen haben meist weniger dichte Ballungen als innen­ gespannte. Oft sind nur die Satzgipfel eindringlich verstärkt. Auch die mehr gefühlsgetriebenen Ballungen wie »Handschuhen«, »Ekel« werden nach außen geworfen und haben an der schroff steigenden rhythmischen Bewegung teil. Einige Worte sind dadurch, daß sie am Zeilenende stehen, also durch Stauung, hervorgehoben; sie haben eindringlich hinweisendes Gepräge: »mit 'der | alle 'Welt be'zahlt. . .«, »'greift | mit 'fetten Händen.« Da die Tonbewegung der Ballungen durch das ganze Gedicht im wesentlichen gleich bleibt, bilden sich keine klar absetzbaren bal­ lungsrhythmischen Einheiten heraus. Die Satzbogen erhalten hier wieder ihre gliedernde Funktion, wie ja überhaupt ein aus wirken­ 48

der Spannung erwachsener Rhythmus die Satzspannung stärker ausnutzt als ein Ausdrucksrhythmus. Wieder aus anderer Haltung ist der Ballungs-Gliederungsrhyth­ mus zu verstehen, den wir häufig in Hölderlins späten Hymnen finden42. Dafür eine Stelle aus der Rheinhymne: Ein 'Rätsel ist 'Reinentsprungenes. 'Auch Der Ge'sang kaum darf es ent'hüllen. 'Denn Wie du 'anfingst, wirst du 'bleiben, So 'viel auch 'wirket die ‘Not, Und die 'Zucht, das 'meiste ‘nämlich Ver'mag die Ge'burt, Und der 'Lichtstrahl, 'der Dem 'Neuge'bornen be'gegnet. 'Wo aber ist 'einer Um 'frei zu 'bleiben Sein 'Leben lang, und des 'Herzens 'Wunsch Al'lein zu er'füllen, 'so Aus 'günstigen ‘Höhn, wie der 'Rhein, Und 'so aus 'heiligem 'Schoße 'Glücklich ge'boren, wie 'jener? Es ist mehrfach beobachtet worden, daß hier, wie auch an anderen Stellen der späten Hymnen Hölderlins, die Satzzusammenhänge durch die Zeilenabteilung mit rücksichtsloser Schroffheit gebro­ chen werden, viel schroffer, als etwa bei Klopstock oder Goethe. Stärker als bei diesen spricht darum auch die Spannung des En­ jambements, der Brechung. Da beide rhythmischen Spannungen sich durchsetzen wollen, die weiterstrebende Satzspannung und der einen Halt setzende Gliederungsrhythmus, wächst die Stauung und der Druck dagegen in gleichem Maße an. Das letzte Wort vor dem 4a vgl. dazu Dietrich Seckei a.a.O., bes. S. 212; Eduard Lachmann a.a.O.; Heusler, a.a.O. III S. 309; Rudolf Krieger, Sprache und Rhythmus der späten Dichtung Hölderlins, bes. S. 272ff. Zs. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissch. XXII, 1928. Hans-Werner Bertallot, Hölderlin-Nietzsche. Untersuchungen zum hymnischen Stil in Prosa und Vers. 1933.

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Einschnitt wird dadurch kräftig gehoben. Und da sich nach Über­ windung der Stauung der Strom des wieder befreiten Satzverlaufs in die folgende Zeile ergießt, muß auch deren erste Ballung einen besonderen Nachdruck erhalten. In unserem Beispiel stehen nun vor solchen schroffen Einschnitten mehrfach Konjunktionen und Artikel, Wörter, die im allgemeinen nicht betont werden, aber die Kraft haben, auf anderes zu verweisen. Bei Klopstock und Goethe wären starke Ballungen von Wörtern wie »auch«, »denn«, »näm­ lich« kaum möglich, hier offenbaren sie uns gerade das Wesen dieses Rhythmus, dessen Ballungen aus intensiver Deute- oder Zeigtendenz wachsen. Sie sind, wenn auch sparsamer als im Aus­ drucksrhythmus, stark und dicht genug, einen Ballungsrhythmus zu schaffen. Ihre Bewegung erhält durch die Zeigtendenz einen einheitlichen Zug: sie schwingen nicht, weder lösend noch span­ nend noch kreisend, vielmehr reckt oder schiebt sich ihre Begleit­ gebärde in der Horizontale nach vorn. Sie deutet auf etwas, das nicht offen dazuliegen scheint, auf etwas Verborgenes. Das be­ stätigt die Langsamkeit, ja fast Gehemmtheit der Gebärde, wie auch der geheimnisvolle Ton dieser und anderer Stellen. Auch die Zei­ lengliederung wird durch diese Tendenz bestimmt: sie wirkt wie ein Wechsel von gestreckterem und geballterem Zeigen in immer neuen Stößen, ohne Lösung, ohne Ruhe. Die Akzente haben ja nicht, wie die Ausdrucksballungen, lösende Wirkung. Doch findet manchmal die mühsame Zeiggebärde freieren Schwung ohne ihre deutende Art zu verlieren. So im zweiten Teil unserer Stelle, von »Wo aber« bis zum Schluß; er hebt sich dadurch als neue rhyth­ mische Einheit vom ersten ab. Die Zeigtendenz der Zeilengliederung wie auch der Ballungen mag noch an einer Stelle der Hymne »Patmos« verdeutlicht werden. Hier wirkt das Deuten noch hintergründiger, als ob durch das Genannte auf Unnennbares gewiesen würde. Deutend wirkt selbst die Frage, mit der unsere rhythmische Einheit endet ohne zu einer Lösung zu finden. Auch die Satzschlüsse lösen nicht, sondern wei­ sen weiter, darum liegen sie meist innerhalb der Zeilen, als bloße Einschnitte im rhythmischen Verlauf: 5°

'Wenn aber 'stirbt als 'denn, An dem am 'meisten Die 'Schönheit hing, daß an der Ge 'stalt Ein 'Wunder war, und die 'Himmlischen ge'deutet Auf 'ihn, und 'wenn, ein 'Rätsel 'ewig fürein 'ander Sie sich nicht 'fassen 'können Ein'ander, die zu'sammenlebten Im Ge'dächtnis, und nicht den 'Sand nur 'oder Die 'Weiden es hin'wegnimmt und die 'Tempel Er'greift, wenn die 'Ehre Des 'Halbgotts und der 'Seinen Ver'weht, und 'selber sein 'Angesicht Der 'Höchste 'wendet, Dar'ob, daß 'nirgends 'ein Unsterbliches 'mehr am 'Himmel zu 'sehn ist 'oder Auf 'grüner 'Erde, 'was 'ist 'dies? Selbst die Schlüsse der Hymnen finden oft keine Lösung, die Gipfel sind bis zuletzt zeigend gespannt, sie scheinen weiter -, und damit über das Gedicht hinauszuweisen. So der Schluß der Hymne »Der Rhein«: . . . und 'nimmer ist 'dir Ver'borgen das 'Lächeln des 'Herrschers Bei 'Tage, 'wenn Es 'fieberhaft und 'angekettet 'das Le'bendige 'scheinet oder 'auch Bei 'Nacht, wenn 'alles ge'mischt Ist 'ordnungslos und 'wiederkehrt 'Ur'alte Ver'wirrung. Dasselbe gilt vom Schluß der Hymne »Der Einzige«: Die 'Dichter 'müssen 'auch Die 'geistigen 'weltlich 'sein. Oder der Schluß von »Patmos«: 51

. . . der 'Vater aber 'liebt, Der 'über 'allen 'waltet, Am 'meisten, daß ge'pfleget werde Der 'feste 'Buchstab, und Bestehendes 'gut Ge'deutet. 'Dem 'folgt 'deutscher Ge'sang.

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Freier Gliederungsrhythmus (Freier Rhythmus II) Es ist oft betont worden, daß die freien Rhythmen, die wir als Ballungs-Gliederungsrhythmen bezeichnen, durch eine eigentüm­ liche Stilformung getragen werden. Schon an Klopstocks Rhyth­ mus43 wird das deutlich. Durch Ausrufe, Fragen, Inversionen weicht der Satzbau vom Üblichen ab; er wirkt zerklüftet, unruhig wogend. Ungewöhnliche Worte, Wortformen und Wortstellungen isolieren das Einzelwort und heben es hervor. Das ergibt die rauhe oder harte Fügung, die seit Norbert v. Hellingrath vor allem für Hölderlins Späthymnik in Anspruch genommen wird. Mit einem solchen Terminus ist allerdings noch nicht viel gesagt. Wir haben gesehen, daß die Fügung bei Klopstock anderer Art ist als bei Goethe; anders ist sie wieder bei Hölderlin, anders bei Nietzsche. Der Primat des Rhythmischen wird hier deutlich; der Rhythmus schafft sich den Sprachstil, der ihm als Stütze und Fundament die­ nen kann, Ballungen können sich aber, wie wir gesehen haben, bei starker innerer Spannung auch an verhältnismäßig glatt gefügten Stellen durchsetzen. Dann ist es vor allem die Zeilenabsetzung, die den Wortakzenten die Möglichkeit gibt, sich zu ballen und so ihre rhythmische Aufgabe zu erfüllen. Abgesetzte Zeilen, je kürzer, desto stärker, lassen jede Betonung geballter wirken als fortlaufende. Der Prosaabdruck von Hölderlins Patmoshymne, den Arnim 1825 ver­ anlaßt hat, läßt von ihren rhythmischen Ballungen kaum etwas spüren. Der echte Ballungs-Gliederungsrhythmus ist im wesentlichen auf die drei großen Hymniker Klopstock, Goethe, Hölderlin und einen schon veräußerlichten Nachklang bei Nietzsche beschränkt44. Klop­ stock hat wohl durch die rhythmische Prosa von Luthers Psalmen“ vgl. Ernst Busch a. a. O. Μ. H. Jellinek, Bemerkungen über Klopstocks Dichtersprache. Walzel-Festschrift 1924. C. C. L. Schuchard, Studien zur Verskunst des jungen Klopstock, 1927.

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Übersetzung die Anregung empfangen, den metrischen Zwang der Odenstrophe abzustreifen, ohne aber die Zeilenabsetzung aufzu­ geben. Goethe hat sich durch Pindars Oden in seinen freirhyth­ mischen Gestaltungen bestätigt gesehen, wie vor allem eine ihrer frühesten, »Wanderers Sturmlied«, zeigt. Hölderlins Ballungs-Glie­ derungsrhythmen finden, so gewiß sie Klopstock und Goethe vor­ aussetzen, ihre eigene Art durch ihre gegenstandsgerichtete Hal­ tung. Hölderlins Verhältnis zu Pindar, von dem seine Übertra­ gungen zeugen, hat bestimmend eingewirkt. Anders als Klopstock und Goethe gliedert er seine Hymnen wie die Pindarübertragungen in strophenartige Abschnitte etwa gleicher Länge. Nietzsches freie Rhythmen, soweit sie als Ballungs-Gliederungsrhythmen gelten dürfen, erhalten ihre Intensität vor allem aus der Eindringlichkeit ihres Wirkungswillens. Weitaus dem meisten, was nach Klopstock an freien Rhythmen geschaffen worden ist, fehlt die Intensität der Ballungen. Es sind Gliederungsrhythmen, oft auch metrische Gliederungsrhythmen. Diese beiden rhythmischen Prägungen sind nicht immer deutlich voneinander zu unterscheiden. Wo die Kraft der Ausdrucks-, Zeig­ oder Wirkungsspannung die Ballungen nicht heraustreibt, neigt eine in versartig abgesetzte Zeilen gegliederte Sprache, ob gewollt oder nicht, zu metrischem Ausgleich. So kann ein Gliederungs­ rhythmus leicht in metrischen Rhythmus Umschlägen, oder er kann zumindest als solcher aufgefaßt werden. Deshalb wird man unterscheiden müssen zwischen einem freien Gliederungsrhythmus, der sich der Art des Ballungsrhythmus nä­ hert, vielleicht sogar als solcher gewollt ist, dessen Intensität aber zu schwach ist, echte Ballungen hervorzubringen, und einem Glie­ derungsrhythmus, der als metrischer Rhythmus angelegt ist. Es kann sogar sein, daß sich die Art einer rhythmischen Gestaltung nur aus der Geschichte verstehen läßt; diese muß darum befragt “ Zur Geschichte des freien Rhythmus vgl. Louis Benoist-Hanappier, Die freien Rhythmen in der deutschen Lyrik. Diss. Halle 1905. Adolf Goldbeck-Löwe, Zur Geschichte der freien Verse von Klopstock bis Goethe. Diss. Kiel 1891. Arthur Closs, Die freien Rhythmen in der deutschen Lyrik. 1947.

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werden. Ein Gliederungsrhythmus kann oft geradezu einen Über­ gang von rhythmischer Prosa zu metrischem Rhythmus darstellen. Angesichts dieser Tatsache muß das strenge Entweder-Oder zwei­ felhaft werden, das sowohl Saran als auch Heusler als Schranke zwischen Vers und Prosa setzen, wenn auch jeweils an anderer Stelle. Hier scheint ein Übergang von einem zum andern zu be­ stehen: einige gliederungsrhythmische Gedichte begünstigen die Metrisierung mehr, andere weniger. Das ist schon so in den an Personen gerichteten freirhythmischen Gedichten des jungen Goethe, den drei Oden an Behrisch von 1767 und den drei Gesängen an den Darmstädter Kreis von 1772. Spätere Gedichte im hymnischen Stil legen die Metrisierung wohl noch näher: »Gesang der Geister über den Wassern«, »Meine Göttin«, »Grenzen der Menschheit«, »Das Göttliche«. Das äußert sich in den ausgeglicheneren Hebungsabständen und Hebungsgewichten, ja dem Ausgleich der Zeilenlängen. Das Grundmaß ist, wohin schon die ballungsrhythmischen Gedichte tendieren, die zweihebige Zeile, gelegentlich zur dreihebigen erweitert. Daß diese Gedichte keinen Ballungs-Gliederungsrhythmus haben, zeigt besonders deutlich die Spannungsbewegung der Akzente, die nicht in größeren rhythmi­ schen Einheiten gleichgerichtet ist, sondern mit dem Satzbogen steigt und fällt: steigend: 'Edel 'sei der 'Mensch, 'Hilf'reich und 'gut, | fallend: Denn 'das allein Unterscheidet 'ihn Von 'allen 'Wesen, 'Die wir 'kennen. Die unverkennbare Eindringlichkeit der lehrend-zeigenden Dar­ bietung genügt hier nicht, ballungsrhythmische Gipfel heraus­ zutreiben. 55

Auch den Rhythmus von »Hyperions Schicksalslied« von Höl­ derlin wird man als Gliederungsrhythmus aufzufassen haben: Ihr 'wandelt 'droben im 'Licht Auf 'weichem 'Boden, 'selige 'Genien. 'Glänzende 'Götter'lüfte 'Rühren euch 'leicht, Wie die 'Finger der 'Künstlerin 'Heilige 'Saiten. Drei-, vier-, zweihebige Zeilen wechseln miteinander ab. Innerhalb ihrer ist der Abstand der Akzente geregelt. Auch die Gewichte streben nach Ausgleich, ihre Abstufung wie auch die Bewegungs­ tendenz der Gipfel wird durch die Spannung der Sätze bestimmt. Dennoch wird man den starken Nachdruck, der auf ihnen liegt, nicht verkennen. Er kommt aus einer inneren Spannung, die sich nicht einfach entlädt, sondern auf das angeredete Gegenüber ge­ worfen wird, deren Intensität aber durch das Streben nach Aus­ gleich der Akzente gemildert wird, so daß kein Ballungsrhythmus zustande kommt. Ein echter Ballungsrhythmus läßt sich nicht machen; er ergibt sich aus höchster seelischer Gespanntheit und kann darum als na­ türlicher Rhythmus bezeichnet werden. So kann ein Rhythmus, der uns als bloßer Gliederungsrhythmus erscheint, vielleicht unter dem Einfluß eines echten Ballungsrhythmus entstanden und als solcher gemeint sein. Die Intensität seiner Ballungen ist aber zu schwach, um den Satzrhythmus, der immer versucht sich geltend zu machen, zu überwinden. Das scheint in den »Hymnen an die Nacht« des Novalis45 der Fall zu sein. Die handschriftliche Fassung hat nicht wie die ge­ druckte fortlaufende, sondern abgesetzte Zeilen, wodurch ihre Akzente wesentlich verstärkt werden. Dennoch kann sich die Satz­ spannung durchsetzen, wie auch die Absetzung sich der Satz­ gliederung im wesentlichen anpaßt. So hat die fortlaufende Schrei­ bung den Rhythmus wohl ein wenig geglättet, aber nicht grund46 vgl. Ernst Busch a.a.O. S. mff.

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legend geändert, wie es im Falle von Hölderlins »Patmos« ge­ schehen ist. Ein Beispiel aus der 2. Hymne in beiden Fassungen: Muß immer der Morgen wieder kommen? Endet nie des Irdischen Gewalt? Unselige Geschäftigkeit verzehrt Den himmlischen Anflug der Nacht. Wird nie der Liebe geheimes Opfer Ewig brennen? Zugemessen ward Dem Lichte seine Zeit Und dem Wachen Aber zeitlos ist der Nacht Herrschaft, Ewig ist die Dauer des Schlafs. Muß immer der Morgen wiederkommen? Endet nie des Irdi­ schen Gewalt? Unselige Geschäftigkeit verzehrt den himmlischen Anflug der Nacht. Wird nie der Liebe geheimes Opfer ewig brennen? Zugemessen ward dem Lichte seine Zeit; aber zeitlos und raumlos ist der Nacht Herrschaft. - Ewig ist die Dauer des Schlafs. Die Rhythmen von Heines »Nordseebildern«48, die zu den Schul­ beispielen des »freien Rhythmus« gehören, sind als Gliederungs­ rhythmen aufzufassen, die mehr oder weniger zur Metrisierung neigen. Deutlich wird dies Schwanken zwischen freiem und ge­ bundenem Rhythmus etwa in folgenden Versen (I, 8): Es wütet der Sturm, Und er peitscht die Wellen, Und die Well'n, wutschäumend und bäumend, Türmen sich auf, und es wogen lebendig Die weißen Wasserberge, Und das Schifflein erklimmt sie, Hastig, mühsam, Und plötzlich stürzt es hinab In schwarze, weitgähnende Flutabgründe. 48 vgl. Busch a.a.O. S. 120ff.

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Die Bewegungsrichtung der Ballungen wird durch die Satzspan­ nung bestimmt. Durch die Zeilenabsetzung werden einige Glieder, die im Satzverlauf leicht wären, gewichtiger. So wird das Auf und Ab des Schiffes, mit dem die Wellen spielen, durch den Wechsel kurz-geballter und lang-leichter Zeilen dargestellt; auch das Auf und Ab des Satzbogens ist für diese Schilderung genutzt: Auf: ab:

Und das Schifflein erklimmt sie, Hastig, mühsam, Und plötzlich stürzt es hinab In schwarze, weitgähnende Flutabgründe.

Dieser Art sind auch die freien Rhythmen, die Mörike im zweiten seiner Peregrina-Gedichte anwendet: Aber die Braut noch wartet verborgen In dem Kämmerlein ihres Hauses. Endlich bewegt sich der Zug der Hochzeit, Fackeln tragend, Feierlich stumm. Und in der Mitte, Mich an der rechten Hand, Schwarz gekleidet, geht einfach die Braut; Schöngefaltet ein Scharlachtuch Liegt um den zierlichen Kopf geschlagen. Lächelnd geht sie dahin; das Mahl schon duftet. Wieder paßt sich die Zeilenabsetzung der Satzgliederung weitge­ hend an. Einige Glieder, die im Satzbogen niedrigen Rang und darum schwache Spannung haben, werden durch Isolierung ge­ wichtig. »Fackeln tragend, feierlich stumm«, fortlaufend geschrie­ ben, würde wenig von der kultischen Feierlichkeit des Hochzeits­ zuges enthalten. Anderseits sind satzrhythmisch selbständige Glie­ der in eine rhythmische Reihe zusammengefaßt, wie in der letzten Zeile unseres Beispiels. Ihr leichter rhythmischer Gang entspricht der schwebenden Anmut der Braut und der Gelöstheit des Mahles und bildet einen Gegensatz zur Strenge des Zuges. Durchweg aber herrscht die Satzgliederung mit ihren Spannungs-Lösungsbögen. 5»

Das bestätigt vor allem auch die melodische Bewegung der Gipfel; Sie wird durch deren Lage auf dem Satzbogen bestimmt. Steigende Gipfel hat: Aber die 'Braut noch wartet ver'borgen fallende dagegen: In dem 'Kämmerlein ihres 'Hauses. Steigend wieder: 'Endlich be'wegt sich der 'Zug der 'Hochzeit, und wieder entsprechend der Satzgliederung fallend: 'Fackeln 'tragend, 'Feierlich 'stumm. Es wurde schon erwähnt, daß Nietzsches Dionysos-Dithyramben nicht immer echten Ballungs-Gliederungsrhythmus erreichen. Oft beschränken sie sich auf einfachen Gliederungsrhythmus, der ge­ legentlich, so etwa in »Die Sonne sinkt«, zur Metrisierung neigt, sie oft aber auch bewußt zu vermeiden scheint. »Unter Töchtern der Wüste« stellt die extremen Möglichkeiten dieses Rhythmus ne­ beneinander : Ha! Feierlich! Ein würdiger Anfang! Afrikanisch feierlich! eines Löwen würdig oder eines moralischen Brüllaffen . . . - aber nichts für euch, ihr allerliebsten Freundinnen, zu deren Füßen mir, einem Europäer unter Palmen, zu sitzen vergönnt ist. Sela. Wunderbar wahrlich! Da sitze ich nun, der Wüste nahe und bereits so ferne wieder der Wüste, auch in Nichts noch verwüstet: 59

nämlich hinabgeschluckt von dieser kleinen Oasis - sie sperrte gerade gähnend ihr liebliches Maul auf, das wohlriechendste aller Mäulchen: da fiel ich hinein, hinab, hindurch - unter euch, ihr allerliebsten Freundinnen! Sela. Zu Anfang ein Ballungs-Gliederungsrhythmus, dessen steigend­ fallende Ballungen sich in die Höhe zu recken scheinen. Die stoß­ artig kurzen Zeilen unterstützen die spannende Tendenz. Die Größe des Schwunges wirkt übertrieben: sie scheint den Ballungsrhyth­ mus zu ironisieren. Nach der fünften Zeile schlägt er in einen sehr prosanahen Gliederungsrhythmus um, der durch seine Saloppheit die Ironie des Anfangs unterstreicht. »Sela« vollendet die schon im Satzbogen gegebene Lösung. Auch die Zeilenabsetzungen, die Arno Holz in seinem »Phan­ tasus«47 vornimmt, schaffen einen freien Gliederungsrhythmus. Die Gruppierung der Glieder um eine Mittelachse zeigt allerdings, daß der Dichter selbst seinen Rhythmus nicht als zielende Bewegung erlebt hat, sondern als statische symmetrische Ordnung. Auch die Zahlenverhältnisse, denen er ihn unterwirft, deuten auf Konstruk­ tion, nicht auf unmittelbares rhythmisches Erlebnis. Ausdrücklich setzt er seinen Rhythmus dem »klappernden« metrischen Rhythmus entgegen. Das bedeutet, daß er die andere Möglichkeit des Gliede­ rungsrhythmus ergreift, daß er den Rhythmus des Prosasatzes fest­ zuhalten sucht. Doch verfällt er, besonders in den ersten Fassungen der Gedichte, der verpönten Metrisierung immer wieder. Sein be­ rühmtes Beispiel für den neuen Rhythmus in seiner Schrift »Revo­ lution der Lyrik«: »Hinter blühenden Apfelbaumzweigen steigt der Mond auf« 47 vgl. Heusler a.a.O. III, S. 313{., Benoist-Hanappier a.a.O. S. 69; auch H. L. Stoltenberg, Arno Holz und die deutsche Sprachkunst. Zs. f. Ästhetik XX, 1926.

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neigt zum Metrum im Gegensatz zu der abgelehnten prosarhyth­ mischen Fassung »Der Mond steigt hinter blühenden Apfelbaum­ zweigen auf«. Ein Beispiel für den reifen Phantasus-Rhythmus: Unten im Dorf hinter der Kirchhofsmauer schläft der Müller. Die Mühle steht still. Auf ihrem morschen Gebälk kriechen Marienkäferchen, über sie fliegt der Kuckuck hin . . . . . . Kuckuck . . . Kuckuck . . . Den steilen Weg durchs Korn her kommen Kinder, lachen, schwatzen und stopfen Gras durch die Ritzen. Eins guckt durch. . . . Kuckuk . . . Innen Sonnenstrahlen und Schmetterlinge. Wieder bestimmt der Wechsel gewichtiger kurzer und leichter langer Zeilen die rhythmische Wirkung. Die schildernd darstellende Haltung des Gedichts gibt den rhythmischen Gliedern eine mehr oder weniger starke zeigende Intensität, doch bilden sich keine Zeigballungen, sondern nur Stauungsakzente, die in den Grenzen der Satzbetonung bleiben. Das gilt selbst für das spannende »in­ nen« der vorletzten Zeile. Die Zeiggebärde hat ja auch nicht die Hintergründigkeit Hölderlins, sie weist nur auf das Erscheinungs­ bild der Gegenstände, leicht, gleichsam mit der Fingerspitze. Alle Einzelballungen fügen sich in die rhythmische Bewegung der Satz­ bögen ein, die ihre Spannungsrichtung durchweg bestimmt. Arno Holz1 statische rhythmische Ordnung ist ohne Nachfolge geblieben. Die Neigung zu gliederungsrhythmischer Gestaltung aber setzt sich in der Lyrik des 20. Jahrhunderts immer stärker durch. Lange und überlange Zeilen geben ihr einen strömenden, dynamischen Charakter. Der Einfluß des amerikanischen Lyrikers Walt Whitman ist darin spürbar, dessen hymnischer Naturseligkeit die Dichtung der Zeit besonders offen war. So finden wir den lang­ 61

zeiligen Gliederungsrhythmus in den hymnischen Gedichten Momberts, Stadlers, Trakls, Werfels und anderer. Die ihm eigene Nei­ gung zur metrischen Ordnung wird oft bewußt und geradezu ge­ waltsam durch prosarhythmische Zeilen zunichte gemacht. So an folgender Stelle aus Alfred Momberts »Der himmlische Zecher«: Auf der Meer-Terrasse meines Hauses sitzend bin ich ein Sänger im Gebraus der Wogen, der malt auf die gespannte Leinwand, was in der frühen Seele ruht und altert. Und hinter mir entbrennt das ganze Haus, es strahlt im Feuerschein, lebendig Wesen hinter der Glastüre, seiner Augen Glut liegt auf mir, es blickt mir über die Schulter in das Bild, es spielt mit meinen weißen dünnen Haaren. Es singt so leise, Bis ich gluttrunken ins Brennende hineineile Besonders ausgeprägt ist die Neigung zur gliederungsrhythmi­ schen Langzeile bei Ernst Stadler. Bei ihm verbindet sie sich oft mit Endreim und sogar mit Strophengliederung: eine Zusammen­ fügung nicht recht vereinbarer Elemente48; so in folgendem Bei­ spiel (»Vorfrühling«): In dieser Märznacht trat ich spät aus meinem Haus. Die Straßen waren aufgewühlt von Lenzgeruch und grünem Saatregen. Winde schlugen an. Durch die verstörte Häusersenkung ging ich weit hinaus Bis zu dem unbedeckten Wall und spürte: meinem Herzen schwoll ein neuer Takt entgegen. Die Dynamik des Strömens wirkt so stark, daß ein Satzschluß inner­ halb der Zeile kaum stauende Wirkung hat. 48 vgl. Heusler III, S. 315.

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Metrischer Gliederungsrhythmus Es hat sich gezeigt, daß der Gliederungsrhythmus dank seiner versartigen Zeilenabsetzung dazu neigt, seine prosarhythmische Struktur aufzugeben, einen Ausgleich der Akzente zu gewinnen, die dann nicht mehr frei, sondern gebunden, also metrisch fallen. Manche Gedichte scheinen eine Entscheidung über die Art der Rhythmisierung, ob metrisch oder unmetrisch, offen zu lassen, ja, prosa- und versrhythmische Einheiten können in einzelnen Ge­ dichten miteinander abwechseln. Allen bisher betrachteten Ge­ dichten gliederungs- und ballungs-gliederungsrhythmischer Art ist aber gemeinsam die freirhythmische Wurzel. Alle sind direkt oder indirekt durch Klopstocks große Neuerung angeregt, ob sie nun seine freien Rhythmen mehr vom Prosa- oder vom Versrhythmus her verstanden haben. Von diesen müssen unterschieden werden gliederungsrhythmi­ sche Gestaltungen, die unabhängig von den freien Rhythmen Klop­ stocks und seiner Nachfolger entstanden sind. Sie sind dadurch ge­ kennzeichnet, daß sie unzweifelhaft metrischen Charakter haben. Durch ihren streng gemessenen Gang unterscheiden sie sich deut­ lich von den dem freien Rhythmus verpflichteten Gedichten me­ trischer Neigung, wie Goethes »Grenzen der Menschheit«, wenn es auch einzelne Fälle geben mag, in denen nicht mehr eine systemati­ sche, sondern nur noch eine geschichtliche Scheidung möglich ist. Es handelt sich vor allem um die sogenannten Madrigalverse, die aus dem italienischen Singspiel stammen und auch in deutschen Singspielen, Opern und Oratorien verwendet wurden. Sie hatten zunächst eine schwach ausgeprägte Strophengliederung, die allmäh­ lich zurückgetreten ist. Ihnen sind gleich zu setzen die »freien Verse« (vers libres), die die deutsche Dichtung des 17. und 18. Jahr­ hunderts aus der französischen übernommen hat. Sie haben un­ gleiche Zeilen, aber ein strenges, sich gleichbleibendes, meist jam­ bisches Maß und Endreim. In vielen Fällen kann als Grundmaß der Lieblingsvers der Zeit, der Alexandriner gelten. Er füllt be­ sonders bedeutsame lange Zeilen aus, andere sind Verkürzungen 63

dieses Grundmaßes. Als Beispiel eine Stelle aus Barthold Heinrich Brockes »Kirschblüte bei der Nacht«: Indem ich nun bald hin, bald her Im Schatten dieses Baumes gehe, Sah ich von ungefähr Durch alle Blumen in die Höhe Und ward noch einen weißem Schein, 5 Der tausendmal so weiß, der tausendmal so klar, Fast halb darob erstaunt, gewahr. Der Blüte Schnee schien schwarz zu sein Bei diesem weißen Glanz. Es fiel mir ins Gesicht Von einem hellen Stern ein weißes Licht, 10 Das mir recht in die Seele strahlte. Wie sehr ich mich an Gott im Irdischen ergötze, Dacht ich, hat er dennoch weit größre Schätze. Die größte Schönheit dieser Erden Kann mit der himmlischen doch nicht verglichen werden. Immer wieder wird auf den Alexandriner zurückgegriffen, so in Zeile 6, 9, 12, 15 unseres Beispiels, dessen letzte Zeile die Schluß­ zeile des ganzen Gedichtes darstellt, das also bezeichnenderweise mit einem Alexandriner endet. Die Eigentümlichkeit der metrisch-rhythmischen Struktur kann hier noch nicht herausgearbeitet werden, auch Einzelfragen, wie die nach dem Wesen des Alexandriners, können erst im Rahmen der im zweiten Teil des Buches folgenden Untersuchung des me­ trischen Rhythmus behandelt werden. Hier handelt es sich aus­ schließlich um die Absetzung des metrischen vom freien Gliede­ rungsrhythmus . Bevor Klopstock seine Ballungsrhythmen schuf, mußte der me­ trische Gliederungsrhythmus gelegentlich dazu dienen, die Form der Oden Pindars nachzubilden. Vor allem Andreas Gryphius hat ihn in seinen »Pindarischen Oden« zu diesem Zwecke verwendet. Es sind Nachdichtungen biblischer Psalmen; aber auch höfische Preisgedichte der Zeit suchen mit Hilfe des metrischen Gliede64

ngsrhythmus hymnischen Schwung zu erreichen. Im 18. Jahrundert wird er oft für pointiert erzählende Gedichte, vor allem für Fabeln, verwendet, so von Hagedorn, Geliert, Lessing, Lichtwer, Pfeffel und anderen. Noch Schiller entwickelt den metrischen Gliederungsrhythmus, den er vor allem in dem großen Gedicht »Die Künstler« verwendet, aus dem Grundmaß des Alexandriners. So an folgender Stelle: Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben, Bewahret sie! Sie sinkt mit euch! Mit euch wird sie sich heben! Der Dichtung heilige Magie Dient einem weisen Weltenplane, Still lenke sie zum Ozeane Der großen Harmonie! Die Stürmer und Dränger stehen im allgemeinen unter dem Ein­ fluß von Klopstocks und Goethes Ballungs-Gliederungsrhythmen, doch wird der Unterschied zum älteren metrischen Gliederungs­ rhythmus nicht immer deutlich gefühlt. Ihn finden wir mehrfach in Friedrich Leopold von Stolbergs hymnischen Gedichten, die doch anderseits deutlich das Bestreben zeigen, den großen Vor­ bildern nahezukommen. So in seinem Gedicht »Der Felsenstrom«, das sich allerdings vom Grundmaß des Alexandriners und vom Reim frei gemacht hat49: Wie bist du so schön In silbernen Locken! Wie bist du so furchtbar Im Donner der hallenden Felsen umher! Dir zittert die Tanne, Du stürzest die Tanne Mit Wurzel und Haupt! Dich fliehen die Felsen. Du haschest die Felsen Und wälzest sie spottend, wie Kiesel, dahin. 49 vgl. Busch a.a.O. S. 78 ff.

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Der durchgehende metrisch-rhythmische Gang scheint den Rhyth­ mus zu fesseln, so daß sich die wohl erstrebten natürlichen Ballun­ gen nicht durchsetzen können. Goethes metrische Gliederungsrhythmen sind deutlich zu unter­ scheiden von seinen freien Gliederungsrhythmen, auch wenn diese manchmal zu metrischer Bindung neigen. »Lilis Park« ist ein Bei­ spiel für den von ihm gern verwendeten Madrigalvers: Denn ha! steh ich so an der Ecke Und hör von weitem das Geschnatter, Seh das Geflitter, das Geflatter, Kehr ich mich um Und brumm Und renne rückwärts eine Strecke Und seh mich um Und brumm Und laufe wieder eine Strecke Und kehr doch endlich wieder um. Die Hebungsabstände sind ausgeglichen, die Zeilenlängen aber reich abgestuft. In Verbindung mit der saloppen Sprachgebung führt das zu einem lockeren rhythmischen Charakter, der aber me­ trisch gebunden bleibt. Die Sprechweise ist pointiert, nicht schwin­ gend wie in Goethes ballungsrhythmischen Gedichten. Der Versuch, Pindars Odenrhythmus nachzubilden, hat im 19. Jahrhundert in Platens »Festgesängen« zu einem neuartigen me­ trischen Gliederungsrhythmus geführt. Im Gegensatz zu Goethe und Hölderlin faßt Platen Pindars Rhythmus streng metrisch auf. Er gibt das jeweilige Metrum, das strophisch wiederholt wird, in einem dem Gedicht vorgesetzten Schema ausdrücklich an. Da er aber bei strenger Befolgung der antiken metrischen Gesetze dem deutschen Sprachakzent oft nicht gerecht wird, lesen sich die me­ trisch gemeinten Verse oft wie freie Gliederungsrhythmen. Als Beispiel die erste Strophe des hymnischen Gedichts »Abschied von Rom«: 66

Wer vorbeiziehn darf an dem Appischen Weg, südwärts gewandt, Wem aus des Sumpflands Wiese der magischen Göttin Vorgebürg ragt (welche dereinst dem Odysseus reichte den Becher, indem sie Süßen Gesang an dem Webstuhl sanft erhob), Nenne beglückt sich, er hat Die umwölkt schwermütige Fieberluft Roms hinter sich! Auch im 20. Jahrhundert wirkt bei einigen Dichtern der Zwang des Metrischen so stark, daß er auch Gedichte bestimmt, die bal­ lungsrhythmisch gemeint sind. So ist es z. B. bei dem Expressio­ nisten August Stramm in vielen seiner Gedichte. Das ausgleichend Metrische setzt sich in ihnen durch und zieht selbst Einzelworte, die, um eine Ballung zu erzielen, isoliert in eine Zeile gestellt sind, in die metrische Einheit der folgenden Zeile hinüber. So in »Un­ treu«: Dein 'Lächeln 'weint in 'meiner 'Brust Die 'glutver'bißnen 'Lippen 'eisen Im 'Atem 'wittert 'Laub-'welkl Dein 'Blick ver'sargt Und 'Hastet 'polternd 'Worte 'drauf Ver'gessen 'Bröckeln 'nach die 'Hände! Frei 'Buhlt dein 'Kleidsaum 'Schlenkrig 'Drüber 'rüber!

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Metrischer Rhythmus Sowohl Saran wie Heusler suchen den metrischen Rhythmus genetisch zu verstehen. Heusler hält die Lust an der Ordnung für die treibende Kraft. Wie die Bewegungen des Rumpfes und der Glieder, so waren auch die der Sprechorgane zunächst ungeordnet »bis der göttliche Funke der Ordnung sie durchzuckte«50. Saran dagegen glaubt nicht an ein solches triebhaftes Ordnen der Bewe­ gungen, er erklärt es aus dem Hinzukommen eines Neuen, Anders­ artigen zu den ungeregelten Marsch- oder Arbeitsbewegungen, das er das »Orchestische« nennt51. Die Tanzbewegung ist von vorn­ herein rhythmischer Art, weil sie keine Zweck-, sondern eine Aus­ drucksbewegung ist, also Ethos besitzt. Ihr Rhythmus wird in die Musik, dann über spezifische Bewegungslieder in die Dichtung übernommen: Ich 'hatt einen 'Käme 'ra - 'den, Einen 'bessern 'lindst du 'nit. Die 'Trommel 'schlug zum 'Strei - 'te, Er 'ging an 'meiner 'Sei - 'te In gleichem 'Schritt und 'Tritt. Hier ordnet sich der Sprachakzent dem orchestischen unter. Beide unterscheiden sich durchaus und gehen in jedem Gedicht eine Ver­ bindung ein, die in jedem Falle zu einem anderen Ergebnis führt. So sieht sich Saran veranlaßt, eine Reihe von Gedichten in eine Stufenfolge zu ordnen, die vom orchestisch gebundenen zum sprechmäßig sehr freien Rhythmus geht52. Saran wie Heusler versuchen offenbar, ihre aus unmittelbarer Anschauung der Phänomene gewonnene Überzeugung durch ihre 60 Heusler a.a.O. I, S. 18. 51 Saran, Deutsche Verskunst, S. 19 ff. 52 Saran, Dt. Verskunst, S. 24fr. Arnholtz (Studier usw. und Grundzüge usw. S. 3 3 ff. unterscheidet von dem »Proportionsrhythmus, dem er die Prosa zu­ ordnet, den »Serienrhythmus«, dem die Sing- und die eigentliche Sprechpoesie zugehören sollen. In der letzteren handle es sich um eine Mischung der beiden Grundrhythmen. Das variable Verhältnis dieser im Sprechrhythmus kommt aber nicht zum Ausdruck.

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Vermutungen über die Genese zu stützen. Doch kann wohl nur eine unmittelbare »phänomenologische« Untersuchung zum Ver­ ständnis des metrischen Rhythmus führen. Man wird zugeben, daß mit dem Maß, dem Metrum, ein Prinzip wirksam wird, das aus den natürlichen Spannungen sprachlichen Ausdrucks nicht zu verstehen ist. Diese führen nicht zum Maß, sondern zu seiner Verneinung. Weder die Beziehung des Sprechers zum Gegenstand seiner Aussage, die darstellend-zeigende Haltung, noch die zu seinem Hörer, die wirkende, noch die zu sich selbst zurück, die ausdrückende, ganz gleich ob in einer Äußerung die eine vorherrscht oder ob alle gleichmäßig beteiligt sind, führen zu einem Ausgleich, wie ihn das Metrum mit sich bringt. Auch aus dem Satzrhythmus ergibt er sich nicht. Wie die natürlichen Span­ nungen hat auch er das Bestreben zu differenzieren; die Wirksam­ keit aller dieser rhythmischen Kräfte beweist sich gerade in der Stärke der Abstufungen. Der Sprache, sofern sie Aussage ist, ist der metrische Rhythmus fremd. Aber Sprache ist ja auch eine in der Zeit verlaufende Bewegung eines tönenden Materials; als solche hat sie die Neigung, sich einem Maß, dem metrischen Rhythmus, zu fügen, ohne daß dabei die anderen Rhythmen unwirksam zu werden brauchen. Im Gedicht wirken drei rhythmische Systeme in verschiedener Weise zusam­ men: der Satzrhythmus, der natürliche, innere oder Situations­ rhythmus und der metrische Rhythmus. Wenn einer von ihnen über­ wiegt, drängt er die anderen in verschiedenem Maße zurück. Unsere Betrachtung der Gliederungsrhythmen hat uns gezeigt, wie der metrische Rhythmus hervortritt, sobald die Intensität der Bal­ lungen nachläßt, wie anderseits die Ballungsintensität von Goethes großen Hymnen die metrischen Tendenzen nicht aufkommen läßt. Keines der drei beteiligten Prinzipien darf isoliert werden; wirk­ sam wird es erst zusammen mit den anderen rhythmischen Kräf­ ten: ein spannungsvolles Verhältnis, in dem jedes sich durchzu­ setzen und die anderen zurückzudrängen sucht. Betrachten wir in einem Gedicht nur den metrischen Rhythmus, so erhalten wir eine Abstraktion, einen taktmäßigen Gang, der dem hineingegossenen 69

Sprachstoff Gewalt antut, beschränken wir uns auf den Situations­ oder Satzrhythmus, so erhalten wir etwas nicht minder Unwirk­ liches, einen freien Rhythmus in einem metrischen Gedicht. Wir fragen also, um den Rhythmus eines Gedichts zu bestim­ men, nicht nach dem Verhältnis eines abstrakten Metrums zu einem konkreten Rhythmus im Sinne einer Norm und ihrer Reali­ sation, sondern nach dem jeweiligen Verhältnis der drei rhyth­ mischen Kräfte zueinander. Die Sprache eines Gedichts ist keine bloße Füllung und das Metrum kein leerer Rahmen. Man übersieht gar zu gern den Eigenrhythmus des Metrums. Wenn es auch nicht aus dem natürlichen Sprechausdruck fließt, so ist es doch nicht aus­ druckslos; es hat sein eigenes »Ethos«. Mit seinem nicht schema­ tischen, aber geregelten Wechsel von Spannungen und Lösungen wendet es sich an das Erlebnis des Aufnehmenden, es berührt seine tiefsten seelisch-vitalen Schichten. In seinem Auf und Ab muß er mitschwingen, mitschreiten, mittanzen. Auch der Dichter erlebt ein Metrum vermöge seiner Spannkraft, d.h. rhythmisch. Wie könnte ihn ein totes Schema reizen, mit ihm und in ihm zu bilden? Aussage und Metrum sind für ihn eine Einheit. Oft ist der Rhyth­ mus das erste, was ihm aufgeht, er enthält bereits das Ganze, wenn auch noch nicht in individualisierter Form. Aber er kann dem Dich­ ter helfen, die Worte zu finden, die zum individuellen Sein des Gedichts führen. Auch wenn die Aussage eher vorhanden zu sein scheint als der metrische Rhythmus, wenn sie nach ihm erst suchen, ja mehrere Stadien der Rhythmisierung durchmachen muß, so ist es der ihm von vornherein bestimmte Rhythmus, den es sucht. Im Schaffensprozeß des Dichters müssen sich beide, Aussage und Rhythmus, früher oder später zusammenfinden. Dabei entsteht dann der wirkliche Rhythmus des einzelnen Gedichts als ein völlig neues Ganzes, in dem die einzelnen rhythmischen Kräfte, die aus­ gleichende, weil verallgemeinernde metrische und die differen­ zierenden, weil individualisierenden satz- und situationsrhyth­ mischen spannungsvoll Zusammenwirken63. ” vgl. Saran a.a.O. S. 2jf.; Leonhard Beriger, Poesie und Prosa, DVjS. 2i, 1943, bes. S. 152.



Aufgabe der Verslehre ist es, allgemein die Möglichkeiten des Zusammenwirkens der rhythmischen Kräfte und die typischen rhythmischen Gestalten, die sich daraus ergeben, zu bestimmen. Die Rhythmusanalyse und -deutung hat dies Zusammenwirken und seine Bedeutung für die Gestalt des einzelnen Gedichts zu unter­ suchen.

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Die Strophe x. Metrisch-rhythmische Strophenspannung Die Ausdrücke »Strophe« und »Vers« haben bezeichnender­ weise dieselbe Bedeutung; sie bezeichnen das in der gegliederten rhythmischen Gestalt regelmäßig Wiederkehrende. Wir pflegen aber den lateinischen Ausdruck für die metrische Zeile, den griechi­ schen für die in sich geschlossene metrische Gruppe zu gebrau­ chen. Heusler nennt die über den Vers hinausgehenden metrischen Einheiten Versgruppen oder Perioden54; die Periode höchster Ord­ nung ist die Strophe. Saran sucht die kleineren und größeren Grup­ pen durch eigene Namen deutlicher voneinander abzusetzen56. Da­ durch hat er erst die Möglichkeit geschaffen, die Strophe als metrisch-rhythmisches Gebilde klar zu erfassen. Es hätte die Be­ griffsklarheit der neueren Verslehre nur fördern können, wenn Sarans Termini allgemein angenommen wären. Wir bedienen uns ihrer im Folgenden und stellen die Gruppierung der achtzeiligen Normalstrophe nach Saran an einem Beispiel dar : Das Wasser rauscht, das Wasser schwoll, | Ein Fischer saß daran, 11 Sah nach dem Angel ruhevoll, | Kühl bis ans Herz hinan. || Und wie er sitzt, und wie er lauscht | . Teilt sich die Flut empor, || Aus dem bewegten Wasser rauscht | Ein feuchtes Weib hervor, ff Die Strophe besteht aus acht Zeilen von je vier Hebungen (in den geraden Zeilen ist eine Hebung pausiert). Den Abschluß der Strophe bezeichnet Saran als »Strophenschluß« (ff). Der tiefste Einschnitt innerhalb der Strophe findet sich nach der vierten Zeile. H Heusler a.a.O. I, S. 28f. i5 Saran a.a.O. S. 68ff.

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Saran nennt ihn »Absatz«( 11); er teilt die Strophe in zwei Gruppen von je vier Zeilen, die »Gesätze«, auch »Halbstrophen« heißen. Diese sind durch flachere Einschnitte nach der zweiten und sech­ sten Zeile, »Kehren« genannt (| |), in je zwei zweizeilige »Ketten« gegliedert. Jede Kette ist durch einen noch flacheren Einschnitt, die »Lanke« (|), in zwei »Reihen« geteilt. Es handelt sich hier um eine schematisch-metrische Einteilung, deren Bedeutung darin besteht, daß sie einer Rhythmusuntersuchung die entsprechende Terminologie bereitstellt. Betrachten wir die Strophe und ihre Gruppierung in Hinblick auf das Rhythmuserlebnis, das sie vermittelt, so erscheint sie, ähn­ lich wie der Satz, nicht als ein ruhendes, sondern als ein sich in einer Richtung bewegendes, dynamisches Gebilde, als ein Bogen, der sich in Spannung und Lösung vollendet. Das erste Gesätz spannt an, die Wende zur Lösung »tritt nach der vierten Reihe im Einschnitt des Absatzes ein. Im zweiten Gesätz vollzieht sich dann die Lösung. Diese Bewegung braucht vom Satzverlauf oder von der Situation nicht bestätigt zu werden; der hier zunächst be­ trachtete metrische Rhythmus kann mit den anderen rhythmischen Systemen in Spannung stehen. Das ist hier der Fall: vom Satz aus sind die beiden Halbstrophen in sich geschlossene rhythmische Einheiten, vom Situationsrhythmus aus kehrt sich die Bewegung um: das erste Gesätz ist gelöst, das zweite bringt Spannung. Den­ noch bleibt der Strophenrhythmus spürbar: er bewirkt, daß wir das zweite Gesätz als Lösung, als Antwort auf das erste erleben. Aber auch innerhalb des Gesätzes vollzieht sich eine rhythmische Bewegung. Da sie von dem stärkeren Strophenrhythmus über­ spannt wird, kann sie sich nur auswirken, wenn wir das Gesätz als selbständige rhythmische Einheit nehmen, wenn wir es isolieren. Dann spüren wir deutlich, daß die erste Kette des Gesätzes spannt, die zweite löst. In beiden Gesätzen unseres Beispiels entspricht die Satzspannung, im zweiten auch die Situationsspannung, genau der metrischen Spannung. Sie setzt sich darum auch innerhalb der Ge­ samtspannung der Strophe durch. Aber auch, wo das nicht der Fall ist, verschwindet sie für das Rhythmuserlebnis nicht völlig. 7J

Wenn die überspannende Strophe die lösende Kette des ersten Gesätzes in den Aufstieg hineinreißt, die spannende Kette des zweiten umgekehrt in die Lösung, so ergibt sich eine Spannung, die zu der schwebenden Gespanntheit des rhythmischen Gebildes der Strophe wesentlich beiträgt. Und auch die Ketten bewegen sich rhythmisch, spannend-lö­ send, von der steigenden ersten zur fallenden zweiten Reihe. Auch ihre Bewegung bleibt im Zuge der größeren wirksam. Alle diese rhythmischen Gebilde sind, wenn wir sie isolieren, in sich gerundete Einheiten, die für sich allein stehend selbständige Strophen bilden könnten. Wie achtreihige, so gibt es vierreihige und auch zweireihige Strophen. Diese haben dann die rhythmische Gestalt eines Gesätzes oder einer Kette. Auch sechsreihige, fünf­ reihige und dreireihige Strophen sind nicht selten. Ihre rhythmi­ schen Formen bedürfen besonderer Betrachtung.

2. Die Strophenformen und ihr Rhythmus56 Der normale metrische Rhythmus einer achtzeiligen Strophe kann in bestimmten Strophenformen von einem anderen, ebenfalls metrischen Strophenrhythmus überschnitten werden. Ein Beispiel für eine solche Form bietet die Stanze67, für die hier die erste Strophe aus Goethes Zueignung zum Faust stehen soll: Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten, | Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt. 1| Versuch ich wohl, euch diesmal festzuhalten? | Fühl ich mein Herz noch jenem Wahn geneigt? || Ihr drängt euch zu! nun gut, so mögt ihr walten, | Wie ihr aus Dunst und Nebel um mich steigt; || Mein Busen fühlt sich jugendlich erschüttert | Vom Zauberhauch, der euren Zug umwittert. 5“ Über Strophenformen vgl. Friedrich Kauffmann, Deutsche Metrik, j. Aufl. 1912, S. 224ff.; auch Wolfgang Kayser, Kleine deutsche Versschule, S. 35ff. 67 vgl. Gerhard Bünte, Zur Verskunst der deutschen Stanze. Halle 1928.

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Die Spannungen des metrischen Rhythmus verlaufen der acht­ reihigen Strophe gemäß in dem großen Bogen der ersten spannen­ den und der zweiten lösenden Halbstrophe, Innerhalb dieser voll­ zieht sich Spannung und Lösung in den Ketten, und von diesen hat jede wieder eine spannende und eine lösende Reihe. Aber ne­ ben diesem normalen Strophenrhythmus wirkt der Eigenrhythmus der Stanze, der sich besonders deutlich in der Reimordnung (ab/ab/ab/cc) ausdrückt. Die drei ersten Ketten reimen kreuzweise mit zwei durchgehenden Reimen, die letzte reimt paarig mit neuem Reim, hebt sich also von den anderen Ketten deutlich ab. Dadurch wächst durch die drei ersten Ketten eine Spannung, die in der letz­ ten gelöst wird. Wir erleben also ein Neben-, ja Gegeneinander von zwei Spannungssystemen, die beide innerhalb des metrischrhythmischen Bereichs liegen. Der rhythmische Verlauf der Stanze erhält seine besondere Eindringlichkeit und Kraft dadurch, daß er den in ihr weiterwirkenden der achtreihigen Strophe bricht. Der Absatz nach der vierten Reihe, der die Wende bringen müßte, erhält nun eine eigentümliche Doppeldeutigkeit. Die Wende kommt nicht voll zur Auswirkung; ein zweiter rhythmischer Zug führt die Spannung dann doch weiter bis zu der endgültigen Wende nach der sechsten Reihe. So wird der Absatz (nach R. 4) zum Brennpunkt eines intensiven rhythmischen Geschehens; die dritte Kette erhält eine besonders starke Spannung, die die Löse­ kraft der beiden letzten Reihen erhöht. Das ergibt einen bestimmten Abschluß, der die Strophe sehr geschlossen erscheinen läßt, wie ja eine kurze Lösung endgültiger wirkt als eine lange. Wie die Stanze, so sind auch ihre zahlreichen Verwandten meist aus der italienischen Dichtung in die deutsche übernommen wor­ den. Es soll hier noch die Siziliane auf ihren Rhythmus untersucht werden, eine im Gegensatz zur vorwiegend in epischen Gedichten verwendeten Stanze auch in ihrem Ursprungslande rein lyrische Strophe. Dadurch, daß sie viermal das Reimpaar ab aneinander reiht, wird ihr Spannungsverlauf meist in der Weise bestimmt, daß die Kettenspannung das Übergewicht erhält, die Strophen- und Gesätzspannung ihr gegenüber zurücktritt. Die drei Kehren haben 75

dann eine in gleicher Weise abschließende Wirkung, der Absatz ist unter ihnen kaum ausgezeichnet, weder als Wende einer Strophenspannung, noch als Schluß einer Gesätzspannung. Es er­ geben sich dann vier verhältnismäßig in sich geschlossene, hinter einander gereihte Spannungseinheiten, die der Strophe etwas Kurz­ atmiges geben. Diese Struktur wird manchmal noch dadurch be­ tont, daß die jeweils zweite, lösende Reihe wörtlich wiederholt wird. Ein Beispiel, das die Kürze der rhythmischen Glieder durch seine übergreifende Situationsspannung ausgleicht, ist Detlev von Liliencrons »Schwalbensiziliane«: Zwei Mutterarme, die das Kindchen wiegen, Es jagt die Schwalbe weglang auf uAd nieder. Maitage, trautes Aneinanderschmiegen, Es jagt die Schwalbe weglang auf und nieder. Des Mannes Kampf: Sieg oder Unterliegen, Es jagt die Schwalbe weglang auf und nieder. Ein Sarg, auf den drei Handvoll Erde fliegen, Es jagt die Schwalbe weglang auf und nieder. Neben den meist aus den romanischen Literaturen übernomme­ nen Strophenformen, die einen im allgemeinen durch die Reim­ ordnung festgelegten Spannungsverlauf haben, kennt die Dichtung eine Fülle von individuellen Strophengestaltungen, die den Rhyth­ mus der Normalstrophe beliebig abwandeln und bereichern. Hier einige Beispiele aus Goethes Balladendichtung, die besonders gern die siebenzeilige Strophe verwendet. Dabei bleibt die letzte Reihe oft ohne Reimentsprechung. So die Strophe der Ballade »Der Sänger«: Was hör ich draußen vor dem Tor, Was auf der Brücke schallen? Laß den Gesang vor unserm Ohr Im Saale widerhallen! Der König sprachs, der Page lief; Der Knabe kam, der König rief: Laßt mir herein den Alten! 76

Man kann diese Strophe als verkürzte achtreihige oder als ver­ längerte sechsreihige auffassen. Im ersten Fall wäre die letzte Zeile eine Kette, die auf eine Reihe verkürzt ist, um ihren lösenden Fall zu verstärken. Im anderen Fall bildeten die drei letzten Reihen eine erweiterte Kette, so daß sich eine aus drei Ketten bestehende Strophe ergäbe. Die letzte Kette hätte einen erweiterten, zwei­ reihigen Spannungsast und eine einreihige Lösung. Diese Auf­ fassung entspricht hier dem Strophenrhythmus am besten. In der siebenzeiligen Strophe der Ballade »Die Braut von Ko­ rinth« erscheinen dadurch, daß die siebente Reihe durch Reim eng an die ganze Strophe gebunden ist und daß die Reihen 5 und 6 ver­ kürzt sind, die letzten drei Reihen unzweifelhaft als erweiterte Kette. Manchmal entfaltet Goethe im zweiten Gesätz seiner Balladen­ strophen größeren rhythmischen Reichtum als im ersten. So ist in der neunzeiligen Strophe des »Hochzeitsliedes« die erste Kette des zweiten Gesätzes um eine Reihe erweitert, die mit den beiden anderen reimt. Das gibt dieser Kette einen starken Spannungsan­ trieb, der noch durch Einsilbigkeit ihrer reimenden Ausgänge be­ tont wird. Im Gegensatz dazu endet die Schlußkette mit zweisilbi­ gen Reimen; ihre Zeilen aber sind verkürzt, nicht vier-, sondern dreihebig. Das gibt ihnen nach der starken Spannung der vorher­ gehenden Kette einen besonders wirksamen abschließend lösenden Charakter, dem hier allerdings in ihrer Vorderreihe die Situations­ spannung entgegenwirkt. Das erste Gesätz mit seinen einfach ge­ kreuzten Reimen wirkt dagegen rhythmisch schlicht: Wir singen und sagen vom Grafen so gern, Der hier in dem Schlosse gehauset, Da, wo ihr den Enkel des seligen Herrn, Den heute vermählten, beschmauset. Nun hatte sich jener im heiligen Krieg Zu Ehren gestritten durch mannigen Sieg, Und als er zu Hause vom Rösselein stieg, Da fand er sein Schlösselein oben; Doch Diener und Habe zerstoben. 77

Sechszeilige Strophen können verschiedenen rhythmischen Ver­ lauf haben, je nachdem, ob sie aus drei zweireihigen oder aus zwei erweiterten dreireihigen Ketten bestehen. Das erste ist der Fall im Atemspruch aus dem Buch des Sängers des westöstlichen Divans: Im Atemholen sind zweierlei Gnaden: Die Luft einziehen, sich ihrer entladen. Jenes bedrängt, dieses erfrischt; So wunderbar ist das Leben gemischt. Du danke Gott, wenn er dich preßt, Und dank’ ihm, wenn er dich wieder entläßt. Die letzte der drei nebeneinander geordneten Ketten verdankt ihre Lösekraft nicht dem metrischen Rhythmus, sondern dem rhythmi­ schen Verlauf der Aussage. Den Typus der aus zwei erweiterten Ketten bestehenden sechs­ zeiligen Strophe bietet »Der Musensohn«: Durch Feld und Wald zu schweifen, Mein Liedchen wegzupfeifen, So gehts von Ort zu Ort! Und nach dem Takte reget, Und nach dem Maß beweget Sich alles an mir fort. Der rhythmische Verlauf der Strophe geht von der spannenden ersten zur lösenden zweiten Kette. Innerhalb der Ketten löst jeweils die dritte Reihe den verlängerten Spannungsanstieg der beiden ersten. Der metrische Rhythmus der sechszeiligen Strophe ist manchmal so unentschieden, daß die Individualisierung durch den satz- und situationsrhythmischen Verlauf bei ihr größere Freiheit hat; es kann sich dann für jede Strophe ein anderes Rhythmusbild ergeben. So ist es in Goethes Gedicht »Schadenfreude« : In des Papilions Gestalt Flattr’ ich, nach den letzten Zügen, 78

Zu den vielgeliebten Stellen, Zeugen himmlischer Vergnügen, Über Wiesen, an die Quellen, Um den Hügel, durch den Wald. Die Reimordnung (abcbca) verschränkt die Reihen so fest ineinan­ der, daß sich die Ketten nicht recht aussondern; es bleibt also un­ entschieden, ob die Strophe aus drei einfachen oder zwei erweiter­ ten Ketten besteht. Damit wird auch der metrisch-rhythmische Verlauf unklar; einzig R. 6 erhält dadurch, daß sie das Reimwort zu R. i bringt, eindeutigen Lösungscharakter, der nach dem Ver­ lauf der Satzspannung bereits mit R. 5 beginnt. In anderen Stro­ phen kommt durch die innere Spannung ein klarerer rhythmi­ scher Verlauf zustande; die Wende liegt dann in der Mitte, nach R.j: "Ich belausch ein zärtlich Paar; Von des schönen Mädchens Haupte Aus den Kränzen schau ich nieder; Alles was der Tod mir raubte Seh ich hier im Bilde wieder, Bin so glücklich wie ich war. Fünfreihige Strophen bestehen im allgemeinen aus zwei Ketten, von denen eine, meist die zweite, lösende, erweitert ist. So in Goethes Gedicht »Der neue Amadis«, in dem die fünfte, nicht reimende Reihe die Lösung besonders kräftig unterstreicht. Diese Reihe ist meist nur lose mit dem Vorhergehenden verbunden; sie wirkt wie angehängt. Läßt man sie aber weg, wird die Lösung wesentlich schwächer; die charakteristische Schlußwirkung fehlt dann: Als ich noch ein Knabe war, Sperrte man mich ein; Und so saß ich manches Jahr Über mir allein, Wie in Mutterleib. 79

Dieselbe Reimordnung hat Weinhebers »Sinfonia Domestica«: die Wirkung der reimlos angehängten R. 5 ist hier überraschend­ humoristisch; sie beruht auf ihrer radikalen Schlußwirkung: Da sitzen wir in der Halle und wochenlang kommt kein Gast. Mit Brutzeln und lautem Knalle bersten Scheiter und Knast im mächtigen Kachelofen. Die Strophe bietet dem metrisch-rhythmischen Verlauf viele Variationsmöglichkeiten, die meist an der Reimordnung abzulesen sind. Theodors Storms Gedicht »Die Stadt« hat die Reimordnung abaab. Die mit R. 1 reimverbundenen Reihen 3 und 4 führen die Spannung der ersten durch die zweite erweiterte Kette weiter, so daß erst R. 5 die Lösung bringen kann: Am grauen Strand, am grauen Meer Und seitab liegt die Stadt; Der Nebel drückt die Dächer schwer, Und durch die Stille braust das Meer Eintönig um die Stadt. In Weinhebers »Andante« ist die Wirkung im wesentlichen die gleiche, obwohl die Reimbindung etwas lockerer ist. Die Spannung von R. 3 und 4 wird durch ihre Identität, die eine Inhaltsspannung ausschließt, ausdrücklich in ihrem metrisch-rhythmischen Charak­ ter bestätigt; Lösung bringt wieder R. 5: Ich ging. Ich ging vorüber, Liebkoste meinen Schritt. Ich teilte mich den Tagen, Ich teilte mich den Tagen Wie eine Geige mit. Dreizeilige Strophen können als erweiterte Ketten oder ver­ kürzte Gesätze aufgefaßt werden. Auch in ihnen hat die Reimord­ nung oft rhythmische Bedeutung, weil sie auf den Spannungsver­ 80

lauf hinweist. In Uhlands »Morgenlied« reimen die innerhalb der Strophen reimlosen dritten Reihen untereinander. Das erhöht und bestätigt ihre Löse- und Schließkraft: Noch ahnt man kaum der Sonne Licht, Noch sind die Morgenglocken nicht Im finstern Tal erklungen. Wie still des Waldes weiter Raum! Die Vöglein zwitschern nur im Traum, Kein Sang hat sich erschwungen. Ich hab mich längst ins Feld gemacht Und habe schon dies Lied erdacht Und hab es laut gesungen. Die reimlose dreizeilige Strophe von Goethes Gedicht »Gegen­ wart« läßt den Spannungsverlauf unentschieden. Er verschiebt sich nach dem Satz- und Situationsrhythmus. In der i. Strophe spannen R. i und 2, während R. 3 löst: Alles kündet dich an! Erscheinet die herrliche Sonne, Folgst du, so hoff ich es, bald. In Str. 2 spannt R. 1, R. 2 und 3 lösen: Trittst du im Garten hervor, So bist du die Rose der Rosen, Lilie der Lilien zugleich. Eindeutig ist dagegen der Spannungsverlauf in Klopstocks eben­ falls reimlosem »Rosenband«, weil die Situationsspannung aus­ schließlich der 3. Reihe Lösungskraft gibt: Im Frühlingsschatten fand ich sie, Da band ich sie mit Rosenbändern. Sie fühlt es nicht und schlummerte. Sie sah mich an; ihr Leben hing 81

Mit diesem Blick an meinem Leben, Und um uns wards Elysium. Eine dreizeilige Strophe mit einem durch die vorgeschriebene Reimordnung festgelegten metrischen Rhythmus ist das Ritornell, das aus dem Italienischen stammt. Es ist mit der Terzine verwandt, die als eine überstrophische Form hier noch nicht zu betrachten ist. Im Gegensatz zu dieser erreicht es den Strophenabschluß da­ durch, daß es die mittlere Reihe reimlos läßt, während die beiden umschließenden Reihen reimen. Die reimlose Reihe erhält dadurch eine Spannung, die durch die reimende 3. Reihe gelöst wird. So in Weinhebers Ritornell »Erste Geige«: Als das Frühlicht sich im Osten hob, Trat ein schlanker Jüngling aus dem Wald. Edelschöner Leib, sich selbst zum Lob. Über blauen Hügeln stand noch fern, Und der Jüngling sah ihn stolzer Stirn, Stand noch fein und fern der Morgenstern.

3. Strophenrhythmus und Satzrhythmus Als das richtige und normale Verhältnis pflegen wir es zu be­ trachten, daß sich der Satz mit seinem Eigenrhythmus dem Stro­ phenrhythmus ohne Bruch einfügt. Dabei gehen wir mit Recht davon aus, daß Satz und Strophe im Entstehungsprozeß des Ge­ dichts nicht aneinander angepaßt, sondern daß sie mit- und fürein­ ander geschaffen werden. Die Strophe erscheint wie ein stilisierter Satz; dieser ist in jener aufgehoben. Dem widerspricht es, daß der Satz sich durchaus mit eigenen rhythmischen Ansprüchen gegenüber dem Strophenrhythmus gel­ tend machen kann. Vers und Satz bleiben dann in einem Gegen­ einander, in ungelöster Spannung. Man wird solche Fälle nicht damit abtun können, daß man dem Dichter ein unsicheres Rhyth­ musgefühl unterschiebt; die rhythmische Wirkung, die aus solcher Spannung erwächst, kann beabsichtigt sein. 82

Wir haben gesehen, daß es Strophen gibt, in denen die Durch­ gliederung durch den metrischen Rhythmus so schwach ist, daß sie dem Satzrhythmus bis zu einem gewissen Grade nachgeben. Vor allem, wenn die Reimordnung die metrisch-rhythmische Ord­ nung nicht markiert, ergeben sich solche Fälle. Es gibt aber auch Strophenformen, die bei entschiedener metrisch-rhythmischer Durchgliederung doch dem Satzrhythmus einen verhältnismäßig großen Spielraum zu eigener Wirksamkeit lassen. Das sind die vor­ wiegend im 18. Jahrhundert aus der antiken in die deutsche Oden­ dichtung übernommenen Formen der alkäischen, asklepiadeischen und sapphischen Strophe. Auch sie kennen, wenigstens in der reinen Form, in der sie sich seit Klopstock durchgesetzt haben, den Reim nicht. Sie sind vierzeilig, ihre rhythmische Bewegung voll­ zieht sich also in zwei Ketten, einer spannenden und einer lösen­ den. Die Eigenform dieser Strophen betont im allgemeinen diesen normalen metrisch-rhythmischen Verlauf; so die kleine asklepiadeische Strophe (Hölderlin, »Dichtermut«): Sind denn dir nicht verwandt alle Lebendigen, Nährt die Parze denn nicht selber im Dienste dich? Drum, so wandle nur wehrlos Fort durchs Leben, und fürchte nichts I Gegenüber den sechshebigen Reihen der ersten, spannenden Kette wirken die drei- und vierhebigen Reihen der lösenden Kette ver­ kürzt. Das steigert ihre Lösekraft zu kräftigem Fallen. Die gehal­ tene Spannung des Anstiegs steht dazu in Gegensatz. Sie wird be­ sonders betont durch die Zäsur, die den Verlauf der Reihen jedes­ mal nach der dritten Hebung aufhält. Auch die alkäische Strophe bestätigt in ihrem Bau den Strophen­ rhythmus. Als Beispiel die erste Strophe aus Hölderlins Ode »Empedokles«: Das Leben suchst du, suchst, und es quillt und glänzt Ein göttlich Feuer tief aus der Erde dir, Und du in schauderndem Verlangen Wirfst dich hinab, in des Ätna Flammen. »3

Die beiden fünfhebigen Reihen der ersten Kette betonen in der Gleichheit ihres Baus - anspringende Senkung und einsilbige Aus­ gänge - den Anstieg der Spannung, obwohl die Kette in sich wie­ der eine kleinere versrhythmische Spannungs-Lösungsbewegung vollzieht. Die zweite Kette löst stufenweise. Die dritte Reihe hat noch anspringende Anfangssenkung, sie ist aber verkürzt, nur vierhebig, und hat zweisilbigen Ausgang. In der vierten Reihe wird die Lösung zu jähem Fall vor allem dadurch, daß die Anfangs­ senkung fehlt. Der wieder zweisilbige Ausgang sowie die Ver­ mehrung der Senkungen im Versinnern tragen zur gleitenden Be­ wegung der Reihe bei. Einen weniger klaren metrisch-rhythmischen Verlauf hat die sapphische Strophe. Als Beispiel dafür Klopstocks Ode »Furcht der Geliebten«: Cidli, du weinest, und ich schlummre sicher, Wo im Sande der Weg verzogen fortschleicht; Auch wenn stille Nacht ihn umschattend decket, Schlummr’ ich ihn sicher. Da die erste Reihe der zweiten Kette den beiden Reihen der ersten Kette im Bau gleich ist, fünfhebig ohne Anfangssenkung, hat sie die Neigung, sich in den Anstieg der ersten Kette hineinziehen zu lassen, zumal sie sich so scharf gegen den jähen Fall der verkürzten Schlußreihe absetzt. In unserm Beispiel bleibt, da die Satzspannung sich dem metrischen Rhythmus einfügt, der ausgeglichene Span­ nungs-Lösungsbogen der Strophe gewahrt. Doch geht die eigent­ liche Lösung erst in der Schlußreihe vor sich, während die dritte Reihe mehr in der Schwebe bleibt. Trotz ihrer metrisch-rhythmischen Entschiedenheit verlangen diese Strophen, um zu voller Auswirkung ihrer rhythmischen Möglichkeiten zu kommen, daß die Satzspannung sich der Stro­ phengliederung nicht durchaus fügt, sondern ihren eigenen rhythmischen Verlauf nimmt, der beide Kräfte mindestens an eini­ gen Brennpunkten spannungsvoll gegeneinanderführt. Selbst ein in der asklepiadeischen und alkäischen Strophe so ausgeprägter 84

metrisch-rhythmischer Einschnitt wie die Kehre, die die Wende der Strophenspannung bringt, wird häufig vom Satzrhythmus übergangen. Dabei kommt es dann oft zu der Erscheinung des Enjambements oder (mit Heuslers Ausdruck) des Zeilensprungs68. Ihrem rhythmischen Wesen wird wohl Sarans Bezeichnung »Bre­ chung« am besten gerecht69: der metrische Rhythmus sucht das Satzkolon zu brechen, dieses dagegen den Verseinschnitt zu über­ strömen. Strömen und Halten im Widerstreit ergeben eine be­ sonders starke Ballung auf dem letzten Wort vor dem Einschnitt, das dabei gehoben und gelängt wird, und damit einen Brennpunkt des rhythmischen Geschehens bildet. Nach der Stauung aber er­ gießt sich der Strom mit gesteigerter Kraft, die der ersten Hebung der folgenden Reihe zugute kommt. Ob diese Bewegung zu neuer Spannung oder zur Lösung führt, entscheidet der rhythmische Verlauf des Ganzen. So gibt es spannende und lösende Brechun­ gen. Auch wächst die Spannkraft der Brechung mit der Tiefe des metrisch-rhythmischen Einschnitts, der überströmt, und vor allem mit der Enge des sprachlichen Zusammenhangs, der gebrochen wird. Es gibt Reihen-, Ketten-, Gesätz-, ja Strophenbrechungen, in denen jeder sprachliche Zusammenhang gebrochen werden kann bis zu dem zwischen Artikel und Substantiv, ja zwischen den Silben eines Wortes. Eine Brechung höherer Ordnung, eine Gesätz- oder Strophenbrechung etwa kann noch spannkräftig wirken, wenn sie einen nur lockeren Sprachzusammenhang bricht, der zu einer Reihenbrechung nicht genügen, vielleicht nur eine besonders enge Verbindung der Reihen bewirken würde. Mehrere rhythmische Möglichkeiten der Brechung sollen an Hölderlins alkäischer Ode »Der gefesselte Strom« gezeigt werden60: Was schläfst und träumst du, Jüngling, gehüllt in dich, Und säumst am kalten Ufer, Geduldiger! Und achtest nicht des Ursprungs, du, des Ozeans Sohn, des Titanenfreundes! 58 Heusler a.a.O. I, S. 40. 58 Saran, a.a.O. S. 133ff., S. 145ff. 80 Über die Brechung bei Hölderlin vgl. Seckel a.a.O. S. 2ioff.

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Die metrisch-rhythmische Lösung nach der zweiten Reihe kann sich nicht auswirken, weil die Satzspannung noch über die dritte Reihe weiterwirkt. Die starke Brechung am Ende dieser Reihe, die das dem fallenden Satzglied angehörende »des« schroff von seinem Zusammenhang trennt, es, obwohl es in der Verssenkung steht, ballt und in den Aufstieg hineinzieht, verstärkt die Lösung der auch versrhythmisch fallenden letzten Reihe, deren Strom sich nach der Stauung kräftig auf »Ozeans« ergießt. Die zweite Strophe hat einen ähnlichen rhythmischen Verlauf: Die Liebesboten, welche der Vater schickt, Kennst du die lebenatmenden Lüfte nicht? Und trifft das Wort dich nicht, das hell von Oben der wachende Gott dir sendet? Die versrhythmische Wende nach der ersten Kette setzt sich als Einschnitt durch, danach aber geht die Satzspannung weiter, bis sie dank der Brechung, die einige Worte des lösenden Satzgliedes in den Aufstieg zieht, in R. 4 zu kräftiger Lösung kommt. Aller­ dings kann sich vermöge der Frage die Lösung nicht bis zuletzt auswirken. Spannung weist in die folgende Strophe hinüber: Schon tönt, schon tönt es ihm in der Brust, es quillt, Wie, da er noch im Schoße der Felsen spielt, Ihm auf, und nun gedenkt er seiner Kraft, der Gewaltige, nun, nun eilt er, Die Satzspannung verschiebt hier vermöge der Kettenbrechung die Wende in die 3. Reihe, wo nach dem Spannungshöhepunkt »ihm auf« die Lösung einsetzt, die zur neu anhebenden Spannung der 4. Strophe leitet: Der Zauderer, er spottet der Fesseln nun, Und nimmt und bricht, und wirft die Zerbrochenen, Im Zorne, spielend, da und dort zum Schallenden Ufer, und an der Stimme, Die Spannung steigt, der Satzspannung folgend, durch drei Reihen und überströmt dabei die versrhythmische Wende. Mit der Bre­ 86

chung nach R. 3 setzt kräftige Lösung ein, die wieder durch Stro­ phenbrechung aufgefangen wird, die mit neu anhebender Span­ nung in die folgende Strophe führt: Des Göttersohns erwachen die Berge rings, Es regen sich die Wälder, es hört die Kluft Den Herold fern, und schaudernd regt im Busen der Erde sich Freude wieder. Die Spannung steigt vermittels der Kettenbrechung über die versrhythmische Wende hinaus bis in die Mitte von R. 3. Nach »fern« beginnt die durch stauende Brechung nochmals hinausgezögerte, darauf verstärkt fallende Lösung, in der sich Satz- und Versrhythmus vereinigen und die der letzten Strophe einen Neuanhub er­ laubt: Der Frühling kommt; es dämmert das neue Grün; Er aber wandelt hin zu Unsterblichen; Denn nirgends darf er bleiben, als wo Ihn in die Arme der Vater aufnimmt. Hier stehen metrischer und Satzrhythmus nicht in Spannung, son­ dern in Übereinstimmung, und so ergibt sich ein harmonisch lösen­ der Abschluß des Gedichts. Die die bereits begonnene Satzlösung ein wenig hintanhaltende Brechung zwischen R. 3 und 4 verstärkt den Fall von R. 4 und gibt ihm seine Endgültigkeit. Aus dem Wechsel von spannendem Gegeneinander und lösen­ dem Miteinander entsteht der rhythmische Strophenverlauf der deutschen Gedichte in antiken Odenmaßen. In den gereimten Lied- und Gedichtstrophen ist dies Gegeneinander seltener, es beschränkt sich auf einzelne, besonders gespannte Stellen. In der Regel fügt sich, auch dank der schließenden Kraft des Reimes, der Satzrhythmus dem Vers. Verschiebungen stellen sich meist als einfache Reihenbrechungen dar, die als kräftige, aber meist nur augenblickliche, Spannungs- und Lösungsantriebe wirken. So in Goethes Fischer: 87

Aus dem bewegten Wasser rauscht Ein feuchtes Weib hervor. Oder C. F. Meyers: Aufsteigt der Strahl, und fallend gießt Er voll der Marmorschale Rund . . . In beiden Fällen wird die Lösung durch Stauung von Worten, die syntaktisch zur folgenden Reihe gehörten, kräftig hintangehalten, um dann um so stärker einzusetzen. In der Kehre kann ein flacher Satzeinschnitt, der der Lanke noch genügen würde61, schon die Spannkraft einer Brechung ha­ ben. So in Goethes »Fischer«: Sie sang zu ihm, sie sprach zu ihm: Was lockst du meine Brut Mit Menschenwitz und Menschenlist Hinauf in Todesglut. Ebenso kann ein Satzeinschnitt, der einer Kehre genügen würde, im Absatz starke Spannung bewirken. Aus Schillers Gedicht »Das Eleusische Fest«: Windet zum Kranze die goldenen Ähren, Flechtet auch blaue Cyanen hinein! Freude soll jedes Auge verklären, Denn die Königin ziehet ein, Die Bezähmerin wilder Sitten, Die den Menschen zum Menschen gesellt Und in friedliche feste Hütten Wandelte das bewegliche Zelt. Dem Strophenschluß entspricht der Schluß des Satzbogens. So ist jeder Satzeinschnitt im Strophenschluß von spannender Wirkung. So in Goethes »An den Mond«: Rausche, Fluß, das Tal entlang, Ohne Rast und Ruh, el Saran spricht in solchen Fällen von »Verbindung«.

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Rausche, flüstre meinem Sang Melodien zu, Wenn du in der Winternacht Wütend überschwillst, Oder um die Frühlingspracht Junger Knospen quillst. Nur bei einzelnen Dichtern - und erst in neuerer Lyrik in weite­ rem Ausmaß - hat sich die Spannung von Satz- und Strophen­ rhythmus, die zur Brechung führt, auch in gereimten Lied- und Gedichtstrophen als ein wesentliches rhythmisches Gestaltungs­ mittel durchsetzen können. Rainer Maria Rilke vor allem hat den Reiz solcher rhythmischen Verschiebung konsequent, fast bis zum Übermaß^ ausgekostet. Als Beispiel das Gedicht »Archaischer Torso Apollos«: Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt, darin die Augenäpfel reiften. Aber sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber, in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt, sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug der Brust dich blenden, und im leisen Drehen der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen zu jener Mitte, die die Zeugung trug. Der Reiz der Verunklärung der Form verbindet sich mit dem der Spannung der rhythmischen Kräfte, die in den Brechungen be­ sonders fühlbar wird. Eine solche strophenrhythmische Differen­ ziertheit ist in der deutschen Dichtung kaum wieder erreicht, im allgemeinen aber auch nicht gesucht worden.

4. Überstrophische rhythmische Einheiten Ein durch übergreifende Satzspannung differenzierter Rhythmus entwertet die Strophe, ohne sie aufzugeben. Er bedarf gerade ihres rhythmischen Eigengewichts, um die Spannungsantriebe zu er­ 89

zielen, die daraus erwachsen, daß sie mit der überströmenden Kraft des Satzrhythmus in Konflikt gerät. Konsequente rhythmische Gestaltung dieser Art führt dann oft dahin, daß das ganze Gedicht zu einer Spannungseinheit wird, in der die metrisch-rhythmischen, wie die satzrhythmischen Einschnitte die Spannung nicht lösen, sondern weitertreiben. Die antiken Odenmaße begünstigen solche Einheit vor allem, ja, sie scheinen in ihr ihre rhythmische Eigenart erst völlig zu erfüllen. Schon Klopstock findet diesen rhythmischen Bogen in der Fanny-Ode von 1748. Hier soll uns Weinhebers Ode »An den antiken Vers«, die in sapphischem Maß steht, als Beispiel dienen: Bogen, groß gespannt über Meer und Inseln, Herzschrein, holder, adlig Gefäß des Lichts, ge­ geben jener lieblichsten Stimme, die dem Abendland vorsang: Der du, unversehrt im Verfall der Zeiten, und im Ausgang Richte dem Sänger, fernher bliebest, was du warst: der verwaisten Größe Wappen und Zuflucht Der du in den Urgrund zurück und über vieler Völker Sprachen hinaus, hinan das Wort in letzte Heiligkeit hebst, bis an die Lippen der Götter Der du ruhig führst durch den Schrecken, durch das Übermaß der Welt, wie den Blinden eine sichre Hand; nach deinem Gesetz, und keinen Schritt ohne jenes: Komm auch mir! Komm heut und erlös mich Armen aus der Drangsal! Füll mir die Brust mit jener Fülle Heimat, die sie begehrt. Sei wieder Bruder im Kampf mir! In Str. 1 wird vermöge der schroffen, das Wort zerteilenden Bre­ chung die metrisch rhythmische Lösung nach der Kehre durch den 90

weitergespannten Satzbogen übergangen. Selbst über die verkürzte Schlußreihe mit ihrer starken Lösekraft steigt der Satz hinweg, mit erhöhter Spannung, da er ihrem fast unausweichlichen Fall Wider­ part halten muß. So wirkt die Spannung in die 2. Strophe hinüber, die sie bis in die Mitte der 3. Reihe weiterführt, wieder über die metrisch-rhythmische Lösungstendenz hinweg. Die Teillösung, die in R. 3 einsetzt, läßt zwar den Fall der Strophe in R. 4 zur Geltung kommen; im Großen aber geht die Satzspannung darüber hinweg durch die 3. Strophe, wird in der 4. Strophe nochmals aufgenom­ men, die ähnlich wie die 3. verläuft, jedesmal mit starker Spannungs­ steigerung durch das Gegeneinander von Satz- und Strophen­ rhythmus in den Brechungen nach R. 3. In Str. 4 führt die Span­ nung über das durch die Brechung geballte »keinen« und das durch Lösung der Stauung gehobene »Schritt« zu dem Höhepunkt des Gedichts »jenes«, dem die durch den Doppelpunkt angedeu­ tete Wende der Satzspannung eine äußerste Ballung gibt. Die letzte Strophe löst dann die Satzspannung so kräftig, daß die metrisch-rhythmische Spannung der ersten Kette kaum zur Gel­ tung kommt. Auch die Situationsspannung, die sich in mehreren Anrufen äußert, kann sich dagegen nicht durchsetzen. Die Anrufe werden zu Lösungsschritten, sie haben fallende Gipfelbewegung. Die Brechungen verstärken durch verhaltende Stauungen den Fall, die metrisch-rhythmische Lösung der zweiten Kette bestätigt ihn. Zu demselben Ergebnis, zum Gedicht als Spannungseinheit, führt Rilkes Bestreben, die Strophe als geschlossene rhythmische Einheit aufzugeben, ohne daß sie dabei ihre Spannkraft verliert; diese wirkt sich auch hier vor allem in vielen spannenden Strophen­ verbindungen aus. Als Beispiel für die Spannungseinheit eines ganzen Gedichtes »Die Treppe der Orangerie« aus den »Neuen Gedichten«: Wie Könige, die schließlich nur noch schreiten fast ohne Ziel, nur um von Zeit zu Zeit sich den Verneigenden auf beiden Seiten zu zeigen in des Mantels Einsamkeit -: 91

so steigt, allein zwischen den Balustraden, die sich verneigen schon seit Anbeginn, die Treppe: langsam und von Gottes Gnaden und auf den Himmel zu und nirgends hin; als ob sie allen Folgenden befahl zurückzubleiben, - so daß sie nicht wagen, von ferne nachzugehen; nicht einmal die schwere Schleppe durfte einer tragen. Die Satzspannung steigt durch die erste Strophe, so daß der Stro­ phenschluß keine Lösung, sondern den Höhepunkt der Spannung bringt; ihre Lösung füllt unbekümmert um deren versrhythmische Funktion, die i. Kette der 2. Str., und weiter die 3. R. bis »Treppe« aus. Sie löst aber nicht völlig, sondern entläßt einen neuen Spannungs­ anstieg aus sich, der über den Strophenschluß hinweg bis in die 2. R. der 3. Str. reicht. Hier setzt mit »so daß « Lösung ein, die in zwei Stufen zum Schluß des Gedichtes führt. Dieser rhythmische Verlauf ist durch Gedankenstriche an den beiden Wendepunkten klar bezeichnet. Die Brechungen sind nicht besonders schroff, sie bewirken eine in un­ aufhaltsamer Spannung weiterführende Verbindung der Reihen. Das Bestreben, über die Strophe hinaus das ganze Gedicht als rhythmische Einheit zu gestalten, hat Rilke schon früh zur Form des Sonetts geführt, in dem die überstrophische Einheit schon im metrischen Rhythmus angelegt ist; und zwar prägt sich der Span­ nungsverlauf so deutlich aus, daß er der vereinheitlichenden Satz­ spannung nicht bedarf. Die zwei vierzeiligen und dreizeiligen Gruppen, die Quartette und Terzette, zwischen denen der Haupt­ einschnitt, die Spannungs-Lösungswende liegt, sind nicht als Stro­ phen aufzufassen, sondern, wie es ja auch die Reimordnung sagt, als rhythmische Teileinheiten. Die Quartette reimen bei strenger Formung abba/abba, die Terzette cdc/dcd oder cde/cde oder ede /ede, sind also jeweils untereinander verbunden. Auch in freieren Ge­ staltungen, die die Reimbeziehung lösen, bleibt die Verbindung erhalten. Rilke vollzieht sie vor allem aber wieder mit Hilfe der Satzspannung, so in folgendem Gedicht der »Sonette an Orpheus«: 92

O erst dann, wenn der Flug nicht mehr um seinetwillen wird in die Himmelsstillen steigen, sich selber genug, um in lichten Profilen, als das Gerät, das gelang, Liebling der Winde zu spielen, sicher schwenkend und schlank, erst wenn ein reines Wohin wachsender Apparate Knabenstolz überwiegt, wird, überstürzt von Gewinn, jener den Fernen Genahte sein, was er einsam erfliegt. Die Satzspannung bestätigt hier die metrisch-rhythmische Span­ nungseinheit. Die Wende nach dem zweiten Quartett wird aller­ dings vom Satz noch nicht mitvollzogen; im ersten Terzett wird dadurch eine Spannung erzielt, die sich als Intensivierung der Aussage geltend macht. Satz- und metrischer Rhythmus zusammen bringen dann die Lösung im zweiten Terzett. Das Sonett ist die einzige überstrophische Gedichtform, die sich in der deutschen Dichtung für die Dauer durchgesetzt hat. Wie alle derartigen Formen ist es aus fremder Dichtung, aus der italienischen des Petrarca, übernommen, und zwar schon im 16. Jahrhundert, wurde im 17. Jahrhundert die herrschende lyrische Form, dann, nach zeitweiligem Verschwinden im 18. Jahrhundert, von G. A. Bürger und von den Romantikern wieder aufgenommen, und ist noch heute die Form, die dem in Deutschland nicht eben häufigen Streben nach kunstvoller lyrischer Gestaltung am meisten entgegenkommt. Vor allem hat die Aufgabe, die metrisch-rhythmi­ sche Wende zwischen Quartett- und Terzettgruppe durch die innere Spannung zu erfüllen, die Dichter immer wieder gereizt. Hier ein Sonett von Paul Fleming, das ihr in vertiefter Weise gerecht wird: 93

Ich war an Kunst und Gut und Stande groß und reich, des Glückes lieber Sohn, von Eltern guter Ehren, frei, meine, kunte mich aus meinen Mitteln nähren, mein Schall floh über weit, kein Landsmann sang mir gleich, von Reisen hochgepreist, für keiner Mühe bleich, jung, wachsam, unbesorgt. Man wird mich nennen hören, bis daß die letzte Glut diss alles wird verstören. Diss, deutsche Klarien, diss alles dank ich euch. Verzeiht mir, bin ichs wert, Gott, Vater, Liebste, Freunde, ich sag euch gute Nacht und trete willig ab. Sonst alles ist getan bis an das schwarze Grab. Was frei dem Tode steht, das tu er seinem Feinde. Was bin ich viel besorgt, den Othem aufzugeben? An mir ist minder nichts, das lebet, als mein Leben. Hier tritt die Satzspannung bei der rhythmischen Gestaltung zu­ rück. Der metrische Rhythmus ist bestimmend, die innere Span­ nung bestätigt ihn. Andere überstrophische Formen, die die romanischen Literaturen geschaffen haben, sind von deutschen Dichtern nur vereinzelt und gelegentlich übernommen worden. Die Romantik hat uns einige Beispiele der aus Spanien stammenden Glosse geschenkt. Sie be­ steht aus sogenannten Dezimen, zehnzeiligen Strophen, denen eine vierzeilige Strophe als Thema voraufgeht, das nun in den vier Dezimen, die als Schlußzeile je eine Zeile des Themas bringen, glossiert wird. Die Einheit ist also im wesentlichen thematisch, nicht rhythmisch, doch haben die Schlußreihen natürlicherweise ausgeprägte Lösungstendenz, die sich in der Wiederholung des Themas vollendet. So Tiecks Glosse am Schluß des Prologs zum »Kaiser Octavianus« über das Thema: Mondbeglänzte Zaubernacht, Die den Sinn gefangen hält, Wundervolle Märchenwelt Steig auf in der alten Pracht! 94

Die Teillösungen in den Schlußreihen der vier Dezimen vereinigen sich zu der großen Gesamtlösung des allgemeinen Chors, der das Thema wiederholt. Die kunstvollen Formen des Rondeaus (französisch) und der Sestine (provencalisch) erreichen die überstrophische Einheit durch geregelte Wiederholung bestimmter Zeilen in allen Strophen. Da­ mit ist eine überstrophische Spannungs-Lösungsbeziehung ver­ bunden. Das aus dem Persischen stammende Ghasel, das vor allem Rükkert und Platen verwendet haben, bildet eine Reihung von verhält­ nismäßig in sich geschlossenen Ketten, über die hinaus sich eine übergreifende rhythmische Einheit kaum durchsetzt. Es steht auf der Grenze zu den unstrophischen, stichischen, Versen. Die Run­ dung der Gestalt gibt einem solchen Gedicht nur die innere Span­ nung. Verbindung zwischen den Ketten schafft der einheitlich durchgehende Reim, der von den Zeilen i, 2, 4, 6, 8 usw. getragen wird, während die übrigen Zeilen reimlos bleiben. Die Form hat etwas wellenhaft Offenes. So Rückerts Ghasel nach Dschelaleddin Rumi: Wohl endet Tod des Lebens Not, Doch schauert Leben vor dem Tod. Das Leben sieht die dunkle Hand, Den hellen Kelch nicht, den sie bot. So schauert vor der Lieb ein Herz, Als wie von Untergang bedroht. Denn wo die Lieb erwachet, stirbt Das Ich, der dunkele Despot. Du laß ihn sterben in der Nacht, Und atme frei im Morgenrot.

5. Strophenrhythmus und Situationsrhythmus Neben den Strophen- und satzrhythmischen Spannungen haben sich in den betrachteten Gedichten immer wieder auch natürliche, aus der Situation der Gedichte erwachsende Spannungen geltend 95

gemacht. Auch sie können gegliederte rhythmische Einheiten schaffen, deren Glieder sich manchmal der Strophen- oder satz­ rhythmischen Gliederung fügen, manchmal aber auch mit dieser in Widerstreit treten. In diesem Falle erhalten sie im allgemeinen das Übergewicht und reißen die anderen rhythmischen Kräfte in ihren Zug. So geht durch Goethes Mignongedicht »Kennst du das Land . . .« eine Situationsspannung, die jede Strophe vom Anfang bis zum Schluß durchzieht und in der refrainartigen Schlußkette in Widerstreit mit deren metrisch-rhythmischer Lösungsfunktion erst ihre Höhe erreicht: Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn, Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn, Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht, Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht, Kennst du es wohl? Dahin! Dahin Möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn. In jeder Strophe setzt die Spannung neu an, steigert sich aber im Gesamtverlauf des Gedichtes, so daß die letzte Strophe, und zwar wieder in der Schlußkette, die höchste Spannung erreicht: Kennst du ihn wohl? Dahin! Dahin Geht unser Weg! O Vater, laß uns ziehn! Eine Lösung innerhalb des Gedichts ist dieser Spannung natürli­ cherweise versagt. Doch bleibt der strophenrhythmische Verlauf ja nicht unwirksam; die natürliche Spannung steigert sich dadurch, daß sie sich gegen seine Tendenzen durchsetzen muß. Anders verlaufen die situationsrhythmischen Spannungen in Goethes Lied »An den Mond«82:62 * * 62 Der Spannungsverlauf, den Julius Petersen (DVjS. I, 1925, S. 75 ff.) dem Gedicht zuschreibt, ist nicht vollziehbar. Vgl. meine Analyse in: Das Gedicht u. s. Klanggestalt, S. i2of.)

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Füllest wieder Busch und Tal Still mit Nebelglanz, Lösest endlich auch einmal Meine Seele ganz; Breitest über mein Geiild Lindernd deinen Blick, Wie des Freundes Auge mild Über mein Geschick. Hier fallen vers-, satz- und situationsrhythmische Spannungen nicht wesentlich auseinander. Die Strophen erfüllt die regelrechte Spannungs-Lösungsbewegung von der ersten zur zweiten Kette, der sich der Satzbogen fügt; die innere Haltung ist gelöst. Aus die­ ser Lösung aber erwacht mit Str. 3 eine Spannung, die dem vers- und satzrhythmischen Fall der zweiten Kette entgegenwirkt, ohne ihn ganz aufzuheben: Jeden Nachklang fühlt mein Herz Froh- und trüber Zeit, Wandle zwischen Freud und Schmerz In der Einsamkeit. Diese Spannung wächst durch die nächsten drei Strophen; sie reißt die Lösungstendenzen der Vers- und Satzrhythmen in ihren Zug: Fließe, fließe, lieber Fluß! Nimmer werd ich froh, So verrauschte Scherz und Kuß, Und die Treue so. Ich besaß es doch einmal, Was so köstlich ist 1 Daß man doch zu seiner Qual Nimmer es vergißt! Rausche, Fluß, das Tal entlang, Ohne Rast und Ruh, 97

Rausche, flüstre meinem Sang Melodien zu, Durch die Strophenbrechung aufs höchste gesteigert, wächst die Spannung weiter durch die erste Kette von Str. 7, in deren Kehre die rhythmische Wende der Strophe mit der situationsrhythmischen des ganzen Gedichts zusammenfällt. Mit »oder« beginnt die Lö­ sung, die trotz ihrer umschlagartigen Plötzlichkeit nicht unorga­ nisch wirkt, weil sie eine metrisch-rhythmische Grundlage hat: Wenn du in der Winternacht Wütend überschwillst, Oder um die Frühlingspracht Junger Knospen quillst. Die beiden letzten Strophen breiten die gewonnene Lösung gleich­ sam aus und führen sie zum Schluß. Sie wird durch die stauende Strophenverbindung - Strophen- und Satzrhythmus verlaufen hier in Gegenbewegung zur inneren Spannung - noch einmal aufgehal­ ten, um dann in der letzten Strophe völlig gelöst auszuschwingen: Selig, wer sich vor der Welt Ohne Haß verschließt, Einen Freund am Busen hält Und mit dem genießt, Was, von Menschen nicht gewußt Oder nicht bedacht, Durch das Labyrinth der Brust Wandelt in der Nacht. So sind es oft die Situationsspannungen, die dem Strophenge­ dicht, das vers- und satzrhythmisch in kleine geschlossene Einhei­ ten zu zerfallen droht, die überstrophische rhythmische Einheit geben. Die Odendichtung Klopstocks und Hölderlins zeigt die gleiche situationsrhythmische Struktur, wie das Beispiel auf S. 85L Hölderlins »Der gefesselte Strom« zeigen kann. Die satzrhythmi­ sche Einheit der Beispiele von Rilke (S. 91L) und Weinheber (S.90L) 98

ist immer auch mit einer situationsrhythmischen verbunden. In der nachklassischen Lyrik des 19. Jahrhunderts kommt es dagegen meist nicht zu einer klaren und einheitlichen situationsrhythmi­ schen Gestaltung. Die überstrophische Einheit des Gedichts si­ chert in solchen Fällen oft nur die einheitliche Grundfarbe; es handelt sich dann nicht um eine rhythmische, sondern um eine Stimmungseinheit.

6. Rhythmische Gliederung im stichischen Vers Im unstrophischen, stichischen Vers, der über die Reihe, allen­ falls im Distichon über die Kette hinaus keine metrisch-rhythmi­ schen Gruppen kennt, bestimmt neben Situationsspannungen vor allem die Satzspannung die rhythmische Gliederung. Nur die Reihe (oder auch die Kette) kann als versrhythmische Einheit Brechungen des Satzrhythmus bewirken. Da es sich bei der Reihe um eine ver­ hältnismäßig schwache rhythmische Einheit von geringer Eigen­ ständigkeit handelt, fügt sich ihr die Satzspannung oft nicht, son­ dern geht eigene Wege, so daß in stichischen Versen Brechungen besonders häufig sind. Vom Versrhythmus her ist die Spannung, da es sich um Reihenbrechungen handelt, meist nicht besonders stark; doch kann sie durch schroffe Brechung von Satzzusammen­ hängen zu kräftiger Spannungswirkung gelangen. Dem oft so prosanahen stichischen Vers, etwa dem Blankvers des Dramas, geben erst sie die für seine dramatische Wirkung unentbehrliche Spannkraft63; so werden sie oft für den Ausdruck der Situations­ spannungen genutzt. Wie viel schwächer wären folgende Dramenverse (Schiller, Don Carlos I, 2), wenn in ihnen nicht die Stauungen und Ballungen der zahlreichen Brechungen die Spannung hoch­ trieben : Wie Furien des Abgrunds folgen mir Die schauerlichsten Träume. Zweifelnd ringt Mein guter Geist mit gräßlichen Entwürfen; 68 vgl. Friedrich Zarncke, Über den fünffüßigen Jambus bei Lessing, Goethe und Schiller. Kleinere Schriften, 1. Bd. 1897, S. 360ff.; Saran, a.a.O. S. 151 ff.

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Durch labyrinthische Sophismen kriecht Mein unglücksei'ger Scharfsinn, bis er endlich Vor eines Abgrunds gähem Rande stutzt O Roderich, wenn ich den Vater je In ihm verlernte - Roderich - ich sehe, Dein totenblasser Blick hat mich verstanden Wenn ich den Vater je in ihm verlernte, Was würde mir der König sein?

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Die Stauung am Ende von R. 1 hebt deren letztes Wort und führt zu einem konzentrierten Spannungsanstieg, der in R. 2 zu satz­ rhythmischer Lösung drängt, die durch die Situationsspannung aber unwirksam gemacht wird. Am Ende von R. 2 eine neue Stauung; die über R. 3 verteilte Lösung wird durch die innere Spannung aufgehalten. R. 4 bringt neuen Anstieg mit ausdrucks­ starker Brechung und Ballung des Wortes »kriecht«. In R. 5 der gleiche Kampf von Satz- und Situationsspannung, Brechung, Lösung über R. 6 hin, gehalten durch innere Spannung (das Wort »stutzt«, der Gedankenstrich). Im Folgenden (R. 7-10) äußerste Steigerung der Satzspannung durch hintangehaltene Lösung des Wenn-Satzes mittels der Parenthese und der Wiederholung. Der Spannungsgipfel in R. 10 ist bezeichnet durch das Wort »Vater«, das als erstes Glied einer Antithese besonders hochgetrieben ist. Ihr zweites Glied »König« wird zum wuchtigen Gipfel der jähen Lösung, die als Frage neue Spannung enthält, aber durch das Be­ kenntnis des Ungeheuerlichen die seelische Spannung des Reden­ den löst, und damit den Abschluß einer satz- und situationsrhyth­ mischen Einheit bildet. Auch epische Verse ohne Strophengliederung bedürfen der rhythmischen Spannkraft, die vor allem die Brechungen geben. Stimmt der satzrhythmische mit dem versrhythmischen Verlauf allzu genau überein, so wird der Rhythmus starr und engräumig, weil er ja über die Reihe nicht hinauswirken kann. Das gibt man­ chen Dichtungen des 17. und 18. Jahrhunderts in unstrophischen Alexandrinern eine gewisse Starre, zumal in ihnen die Reihenglie­ 100

derung durch Reime hervorgehoben ist. Belebend wirkt demgegen­ über die übliche Gruppierung von je vier Alexandrinern zu höheren metrisch-rhythmischen Einheiten, sogenannten Couplets, in denen ein- und zweisilbige Reime kreuzweis oder paarig miteinander ab­ wechseln. Ein Beispiel aus Friedrich Wilhelm Zachariäs scherzhaf­ tem Heldenepos »Der Renommist« (1744): Er sagts; und stürzet sich, des hohen Siegs gewiß, Mit löwenmäßgem Mut in dicke Finsternis; Und sein Pandur erhebt zur tollen Tat die Seele: So gieng er denn beherzt zur dunklen Häscherhöhle. Das Schrecken hält ihn an, und haucht ihm ins Gesicht, Und treibt sein Haar empor; allein er fliehet nicht. Aeneas und mit ihm die Cumische Matrone, Begaben einst sich so zu Plutons schwarzem Throne. Im Alexandriner hat die Einzelreihe eine gewisse rhythmische Eigenständigkeit. Eine meßbare rhythmisch-metrische Pause teilt sie in ein spannendes und ein lösendes Glied. Sie ist ursprünglich eine Kette, und das bleibt spürbar, auch wo sie durch Verwischung der Pause sich der rhythmischen Reihe angleicht84. So bilden die Couplets achtreihige Strophen: Er sagts; und stürzet sich, Des hohen Siegs gewiß, Mit löwenmäßgem Mut In dicke Finsternis; Und sein Pandur erhebt Zur tollen Tat die Seele: So gieng er denn beherzt Zur dunklen Häscherhöhle. Saran nennt Verse solcher Mittelstellung zwischen Reihe und Kette »Riegen«. A.a.O. S. 8if., 122E, 139fr.; zum Alexandriner auch Heusler a.a.O. III, S. i6iff. Die Beobachtungen von Gerhard Storz (Ein Versuch über den Alexandriner. Festschr. Kluckhohn-Schneider, 1948, S. 230fr.) leiden dar­ unter, daß der Pausencharakter der Zäsur nicht gesehen wird. IOI

Ein solcher über die Einzelreihe hinaus gespannter metrischer Rhythmus bietet also einen Ersatz für die weitgespannten Satz­ bögen, die dem stichischen Vers sonst rhythmisches Leben geben. Der Alexandriner als Dramenvers erhält durch den Wechsel der Sprecher im Dialog stärkere Auflockerung, so daß dort die Cou­ plets nicht so stark hervorzutreten brauchen. Immerhin ergeben sich auch hier deutliche Haltwirkungen, wenn Satz und Reihe zusammenfallen. Wir vergleichen mit dem Vorigen den Anfang von Goethes epischem Gedicht in Hexametern »Achilleis«: Hoch zu Flammen entbrannte die mächtige Lohe noch einmal, Strebend gegen den Himmel, und Ilios’ Mauern erschienen Rot durch die finstere Nacht; der aufgeschichteten Waldung Ungeheures Gerüst, zusammenstürzend, erregte Mächtige Glut zuletzt. Da senkten sich Hektors Gebeine Nieder, und Asche lag der edelste Troer am Boden. Der ursprünglich wie der Alexandriner zweiteilige, also ketten­ artige Hexameter, dessen Mitteleinschnitt hier streng gewahrt ist, wird doch als Versreihe empfunden und behandelt; er wird vom Satzrhythmus immer wieder überströmt, so daß Reihenbrechungen entstehen. Die Satzkola und Satzschlüsse fallen auf diese Weise meist in die Mittelfugen. Das reißt die Spannung vorwärts, bis der Zusammenfall von Satz- und Versschluß die Bewegung auf­ hält und eine rhythmische Einheit abgrenzt. Das Distichon vereinigt Hexameter und Pentameter. Obwohl im Pentameter dank der metrischen Pause in der Mitte der Ketten­ charakter noch deutlicher hervortritt als im Hexameter, wirkt das Distichon in seinem auf- absteigenden Verlauf als Kette und wird vom Dichter als solche behandelt. Doch spürt man, besonders wenn es, als Epigramm, allein steht, die kettenartige Auf-Ab-Bewegung auch innerhalb der Reihen. Das trägt zu seiner strophenartigen Geschlossenheit bei; so in Schillers Distichon »Pflicht für jeden« : Immer strebe zum Ganzen, / und kannst du selber kein Ganzes Werden, als dienendes Glied / schließ an ein Ganzes dich an! 102

Diese strophenartige Geschlossenheit, dies Schwanken zwischen Ketten- und Gesätzwirkung, verliert das Distichon auch nicht, wenn es als fortlaufendes Maß verwendet wird, im Elegienvers. Häufiger als der Pentameter wird der Hexameter vom Satz über­ strömt, endet also in einer Brechung. Eine Brechung des Satzes durch den Pentameter hat dagegen wesentlich stärkere Spannungs­ wirkung. Ein Beispiel aus Hölderlins Elegie »Brod und Wein«: 1. Wunderbar ist die Gunst der Hocherhabnen, und niemand Weiß, von wannen und was einem geschiehet von ihr. 2. So bewegt sie die Welt und die hoffende Seele der Menschen, Selbst kein Weiser versteht, was sie bereitet, denn so 3. Will es der oberste Gott, der sehr dich liebet, und darum Ist noch lieber, wie sie, dir der besonnene Tag. 4. Aber zuweilen liebt auch klares Auge den Schatten Und versuchet zu Lust, eh es die Not ist, den Schlaf. Deutlich die Abschlußtendenz des Pentameters bei eigener Span­ nungs-Lösungsbewegung. Auch der des zweiten Distichons ver­ läuft zunächst in dieser Weise. Mit »denn so« reißt aber der Satz vermittels der Brechung die Spannung wieder hoch und führt sie in das folgende Distichon hinüber. Wieviel stärker ist diese Bre­ chung als die Hexameterbrechungen im ersten und dritten Disti­ chon, die nur eine Verschiebung der rhythmischen Wende bewir­ ken und dadurch die satzrhythmische Lösung ein wenig hinaus­ zögern. Die Terzine, der Vers der »Göttlichen Komödie«, hat sich im Gegensatz zur Stanze in der deutschen Dichtung als epischer Vers nicht recht durchsetzen können, obwohl ihr unaufhaltsamer Fluß ihr recht eigentlich episches Gepräge gibt. Dieses Fließen kommt dadurch zustande, daß die mittlere der durch die Reimordnung ab a zusammengeschlossenen Reihen ihre Reimentsprechung in der fol­ genden Dreiergruppe sucht, die also die Reimordnung beb hat. Zwar bildet die Dreiergruppe eine metrisch-rhythmische Einheit, die oft auch den Satz in ihren Verlauf zwingt; aber durch das Weiterweisen der Mittelreihe wird sie immer wieder verneint, und 103

so entsteht keine Strophenbrechung, wenn der Satz über den Schluß der Gruppe hinweggeht. Nur durch eine vereinzelte, der mittleren im Reim entsprechende Reihe kann die Bewegung zum Abschluß kommen, der also nicht durch die Form, sondern durch den Inhalt gesetzt wird. Die Lyrik hat den eigentümlichen me­ trischen Rhythmus der Terzine, diese Spannung zwischen strophen­ artigen Abschlüssen und überströmender Gesamtbewegung, ge­ nutzt, wenn es galt, das Fließen, Strömen, Fluten darzustellen. So ist das Gedicht auf Schillers Reliquien eins der wenigen Terzinen­ gedichte Goethes: Wie mich geheimnisvoll die Form entzückte! Die gottgedachte Spur, die sich erhalten! Ein Blick, der mich an jenes Meer entrückte, Das flutend strömt gesteigerte Gestalten. Geheim Gefäß! Orakelsprüche spendend, Wie bin ich wert dich in der Hand zu halten, Dich höchsten Schatz aus Moder fromm entwendend Und in die freie Luft, zu freiem Sinnen, Zum Sonnenlicht andächtig hin mich wendend.

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Die metrisch-rhythmische Reihe i. Fuge und Schnitt Die rhythmische Durchgliederung der Strophe setzt sich inner­ halb der Reihe fort. Es erhebt sich die Frage nach dem rhythmi­ schen Charakter der dabei entstehenden Glieder. Wir betrachten Goethes Gedicht »Nähe des Geliebten«: Ich denke dein,1 wenn mir der Sonne Schimmer Vom Meere strahlt; Ich denke dein,' wenn sich des Mondes Flimmer In Quellen malt. Ich sehe dich,' wenn auf dem fernen Wege Der Staub sich hebt; In tiefer Nacht,1 wenn auf dem schmalen Stege Der Wandrer bebt. Ich höre dich,' wenn dort mit dumpfem Rauschen Die Welle steigt. Im stillen Haine' geh ich oft zu lauschen, Wenn alles schweigt; Ich bin bei dir,' du seist auch noch so ferne, Du bist mir nah! Die Sonne sinkt,1 bald leuchten mir die Sterne. O wärst du da 1 In R. i und 3 jeder Strophe staut sich die Bewegung an einem Einschnitt hinter der zweiten Hebung; R. 2 und 4 schließen bereits mit der zweiten Hebung; sie haben also dieselbe metrisch-rhyth­ mische Gestalt, wie der erste Teil der langen Reihen. Daraus ergibt sich eine Art von rhythmischem Motiv: - j- - das durch die vier Strophen des Gedichts in jeder Reihe angeschlagen wird; nur ein­ mal, in R. 3 der 3. Strophe, ist der Einschnitt hinter die der zweiten Hebung folgende Senkung verschoben. Dadurch wird, was ihrer inneren Situation entspricht, die Spannung der Reihe wesentlich 105

verringert. In jedem Falle aber hat das Motiv spannenden, anstei­ genden Charakter; in den ungeraden Reihen wird es durch das dem Einschnitt folgende dreihebige Glied gelöst, in den geraden bleibt es ohne Lösung. So schließt jede Kette, jede Strophe und das ganze Gedicht in der ungelösten Spannung dieses rhythmischen Motivs. Offenbar sind diese Einschnitte durch den metrischen Rhythmus bedingt, auch ihre Stelle nach der zweiten Hebung scheint vom Vers bestimmt zu sein. Die kleine Verschiebung in Str. 5 kann das nur bestätigen. Sie kommt zustande, weil sich die Satzgliederung der metrischen nicht völlig angeglichen hat. Innerhalb der Reihe ergibt das keine Brechung, sondern eine Einschnittverschiebung, da hier die Strophengruppierung ihre gerüsthafte Festigkeit ver­ liert, die die größeren Einheiten, Strophen, Gesätze, Ketten und Reihen für den Satz unangreifbar macht. So kann sie dem Satz­ rhythmus nachgeben: der metrisch-rhythmische Einschnitt inner­ halb der Reihe kann seine Stelle wechseln. Auch für diese Erscheinung sind die Bezeichnungen in der Vers­ lehre schwankend und ungenau. Der übliche Terminus »Zäsur« umfaßt ganz Verschiedenartiges, wenn er sowohl die metrische Pause innerhalb des Alexandriners und Pentameters als auch den metrisch-rhythmischen Einschnitt des Hexameters und unseres eben behandelten Beispiels, dazu auch noch Einschnitte, die aus­ schließlich von der Satzgliederung bestimmt werden, bezeichnen will. Heusler gebraucht den Terminus »Schnitt«βδ; er bezeichnet damit ausschließlich satzbedingte Einschnitte, versrhythmische außer der Pause kennt er nicht. Sarans Ausdruck »Fuge«68 meint vorwiegend einen versrhythmisch bedingten, nicht pausierten Ein­ schnitt, ein nur satzbedingter wird nicht deutlich davon unter­ schieden, im Grunde nicht einmal anerkannt. Es erscheint aber unerläßlich, diese Unterscheidungen terminologisch festzuhalten. Wir werden im Folgenden für die metrische Pause in den ketten­ artigen Reihen (nach Saran »Riegen«) des Alexandriners oder Pen­ tameters den Ausdruck »Zäsur« beibehalten, den metrisch-rhythβ5 Heusler a.a.O. I, S. 38. ·· Saran, Deutsche Verskunst, S. 68ff.

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mischen Einschnitt werden wir als »Fuge«, den satzrhythmischen als »Schnitt« bezeichnen. Die Fuge hat, ähnlich wie die Zäsur, die rhythmische Funktion des Gliederns; sie teilt die Reihe in zwei Einheiten, die Saran »Bünde« nennt: das Vorderbund steigt und spannt, das Hinter­ bund fällt und löst. In unserm Beispiel ist der Anstieg der gefugten Reihen, weil er kürzer ist, schwerer, geballter als der Abstieg, der verhältnismäßig leicht abläuft. Hier ist eine metrisch-rhythmische Eigenart dieses Verses, des sogenannten fünffüßigen Jambus, mo­ tivisch ausgenutzt, eben die, daß er nach der zweiten Hebung ge­ fugt, d. h. zusammengesetzt ist (aus einem Zwei- und einem Vier­ heber, bzw. einem Dreiheber mit einer Pause am Schluß). Dieser Vers, der französische vers commun, ist nach gelegent­ lichen Versuchen im 16. Jhdt. im 17. durch Opitz in die deutsche Dichtung übernommen und zwar mit der in Frankreich üblichen Fuge nach der zweiten Hebung67. Eine ähnliche leitmotivische Aus­ nutzung der Fuge, wie in unserm Goethebeispiel, finden wir schon im 17. Jhdt., z.B. in Gryphius’ Gedicht »Vanitas mundi«: Was ist die Welt, Die mich bisher' mit ihrer Pracht betöret? Wie plötzlich fällt, Was alt und jung 1 und reich und arm geehret! Was ist doch alles,' was man allhier findt? Ein leichter Wind. Auch hier - und öfter im Lauf des Gedichts - verschiebt die Fuge sich einmal hinter die dritte Senkung; auch hier ergibt sich eine Gliederung: der geballte Anstieg, der, durch die Kurzreihe ver­ doppelt, zum rhythmischen Leitmotiv wird, und der leichtere Ab­ stieg. Die Spannungswirkung ist besonders stark, weil in den bei­ den ersten Ketten die Kurzzeile als Vorderreihe, in der letzten als Hinterreihe erscheint. Die diesem Vers ursprünglich eigene Fugung nach der zweiten ·’ Zur Geschichte dieses Verses vgl. Zarncke a.a.O. Zur Fugenverschiebung vgl. Saran a.a.O. S. 103fr.

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Hebung ist oft als starr empfunden worden. Eine Lockerung hat im 18. Jhdt. vorwiegend wohl der Einfluß des italienischen Stanzenverses gebracht, der die Fuge hinter die dritte Hebung oder vierte Senkung und vor allem hinter die dritte Senkung verschieben kann. In dieser Form hat vor allem Goethe in seinen Stanzen den fünffüßigen Jambus verwendet. Dabei ist nicht zu verkennen, daß die Fugung nach der zweiten Hebung auch weiterhin überwiegt und sich damit als die der metrisch-rhythmischen Struktur des Verses eigentümliche erweist. Alle anderen wirken als Verschie­ bungen der ursprünglichen Fuge unter dem Einfluß des Satz­ rhythmus. Die versrhythmische Fuge bedarf, um wirken zu kön­ nen, sozusagen einer satzrhythmischen Bestätigung. Bei fehlender Satzgliederung wird sie sich meist nur schwach, dann aber an ihrer ursprünglichen Stelle, bemerkbar machen; immer wirft sie sich auf den tiefsten Einschnitt, den der Satz ihr bietet. Eine Strophe aus Goethes »Zueignung« (zu den Gedichten), die besonders viele Fugenverschiebungen aufweist, kann zeigen, daß sich trotz dieser die ursprüngliche Fugung immer noch bemerkbar macht: Auf einmal1 schien(') die Sonne durchzudringen, Im Nebel1 ließ(') sich eine Klarheit sehn. Hier sank er leise' sich hinabzuschwingen; Hier teilt er steigend (') sich1 um Wald und Höhn. Wie hofft ich1 ihr(') den ersten Gruß zu bringen! Sie hofft ich1 nach(') der Trübe doppelt schön. Der luftge Kampf' war lange nicht vollendet, Ein Glanz umgab mich' und ich stand geblendet. 108

Die Verschiebung hinter die dritte Senkung wirkt kaum als solche. Die übrigen Fugenverschiebungen haben starke Ausdruckskraft, vor allem, wenn sie, wie hier mehrfach, eine Verkürzung und Bal­ lung des ersten Bundes bewirken. In neuerer Dichtung kommen Fünfheber vor, in denen sich trotz gelegentlicher Schnitte versrhythmische Fugen nicht durchsetzen. So in Rilkes Gedicht »Der Panther«: Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, daß er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt. Offenbar ist es die Spannung der Situation des Gedichts, das Er­ lebnis des unaufhörlich andrängenden, wenn auch langsam erlah­ menden Kreisens des Tieres, das eine Fuge nicht duldet. Und auch die Schnitte in R. z und 3 können sich gegen dies innere Drängen der Bewegung nicht recht halten; sie führen nur zu leichten Stau­ ungen, nicht zur Wende der rhythmischen Bewegung. So wird an ihnen der Unterschied satzrhythmischer Schnitte von metrisch­ rhythmischen Fugen sehr deutlich. Auch in Goethes Gedicht »An Beiinden« mit seinen Fünfhebern ohne Anfangssenkung (Trochäen) duldet der leichte, aber unauf­ haltsame Fluß keine Fugen. Gelegentliche Schnitte führen nicht zu Wenden, sondern höchstens zu Stauungen. Das Gedicht ist auf dem Gegensatz fließender, zugleich aber spannender, langer Reihen einerseits, gehaltener, aber lösender kurzer anderseits aufgebaut: Ausdruck der Zwiespältigkeit der inneren Situation: Warum ziehst du mich unwiderstehlich, Ach, in jene Pracht? War ich guter Junge nicht so selig In der öden Nacht? Bin ichs noch, den du bei so viel Lichtern An dem Spieltisch hältst? 109

Oft so unerträglichen Gesichtern Gegenüberstellst ? Auch der Hexameter, der sechshebige epische Vers Homers, durch Klopstocks Messias für die deutsche epische Dichtung ge­ wonnen, ist gefugt, und zwar ursprünglich in der Mitte, d. h. nach der dritten Hebung oder der darauf folgenden Senkung. Der Pentameter hat an derselben Stelle eine Zäsur, eigentlich eine Lanke, da er aus einer Kette entstanden ist. Sie ist durch eine pausierte Senkung markiert. Das erste Distichon aus Goethes »Rö­ mischen Elegien« mag den Unterschied verdeutlichen: Saget, Steine, mir an, 'o sprecht, ihr hohen Paläste! Straßen, redet ein Wort! / Genius, regst du dich nicht? Die metrische Regel erlaubt, daß im Hexameter die Fuge auch nach der vierten Hebung oder der ihr folgenden Senkung stehen kann; das wirkt aber wieder als Verschiebung durch Einwirkung des Satzrhythmus. Ein zweiter Einschnitt im Vers, den die Regel ebenfalls zuläßt, wirkt nur als Schnitt, nicht als Wende der rhyth­ mischen Bewegung. Das mag der Anfang von Goethes »Hermann und Dorothea« zeigen. Die Mittelfuge überwiegt, alle anderen Fugen wirken verschoben, so in R. 6 und 8. In R. 2 findet sich außer der Fuge ein Schnitt nach der auf die 5. Hebung folgenden Senkung. Obwohl satzrhythmisch stärker als der nach der 3. He­ bung, kann er an seiner Stelle keine Fugenwirkung erreichen, an­ ders in R. 6, wo der Schnitt nach der 4. Hebung, nicht der nach der 2. Senkung, die Fuge auf sich zieht: Hab ich den Markt und die Straßen 'doch nie so einsam gesehen! Ist doch die Stadt wie gekehrt! ‘wie ausgestorben! Nicht fünfzig, Deucht mir, blieben zurück' von allen unsern Bewohnern. Was die Neugier nicht tut!1 So rennt und läuft nun ein jeder, Um den traurigen Zug' der armen Vertriebnen zu sehen. 5 Bis zum Dammweg, welchen sie ziehn,' ists immer ein Stündchen, Und da läuft man hinab1 im heißen Staube des Mittags! Möcht ich mich doch nicht r ührenvomPlatz,' umzu sehen das Elend HO

Guter fliehender Menschen, 'die nun, mit geretteter Habe, Leider das überrheinische Land, 'das schöne, verlassend, io Zu uns herüberkommen' und durch den glücklichen Winkel Dieses fruchtbaren Tals' und seiner Krümmungen wandern. In vierhebigen Versen sind Fugen verhältnismäßig selten; sie sind meist, dank ihrer Kürze, nicht zusammengefügt, sondern ein­ fach. Auch wenn sich, bei kräftiger Gewichtsabstufung der He­ bungen, sogenannte Dipodien, d.h. zwei Gruppen von je einer Haupt- und einer Nebenhebung herausbilden (davon wird in einem späteren Abschnitt zu reden sein), braucht zwischen ihnen keine Fuge zu entstehen. In Goethes Ballade »Der Fischer« setzt sich in den ungeraden Reihen, in der Regel zwischen solchen dipodischen Gruppen, die Fuge durch, während durch die geraden Reihen die Bewegung glatt hindurchläuft. Diese sind nur scheinbar dreihebig, in Wirklichkeit vierhebig wie die ungeraden, nur daß in ihnen die letzte Hebung pausiert (auch darüber in einem späteren Abschnitt): Das Wasser rauscht' das Wasser schwoll, Ein Fischer saß daran, Sah nach dem Angel' ruhevoll, Kühl bis ans Herz hinan. Und wie er sitzt,1 und wie er lauscht, Teilt sich die Flut empor, Aus dem bewegten Wasser 'rauscht Ein feuchtes Weib hervor. In den gefugten Reihen steht die Fuge in der Mitte, nach der zwei­ ten Hebung oder der ihr folgenden Senkung, außer in R. 7, wo sie durch den Satzrhythmus verschoben wird. Eine ähnliche Fugenwirkung hat C. F. Meyers Gedicht »Der rö­ mische Brunnen«. Auch hier der Gegensatz der gefugten spannen­ den und der glatten lösenden Reihen: Aufsteigt der Strahl' und fallend gießt Er voll der Marmorschale Rund, III

Die, sich verschleiernd1 überfließt In einer zweiten Schale Grund; Die zweite gibt1 sie wird zu reich, Der dritten wallend ihre Flut, Und jede nimmt1 und gibt zugleich Und strömt und ruht. Die Fugen teilen die Reihe regelmäßig in der Mitte, also nach der zweiten Hebung. Die kleine Verschiebung hinter die dritte Sen­ kung in R. 3 wirkt hier stark; sie scheint eine unmittelbare Dar­ stellung des Wortinhalts »verschleiernd« zu geben. Die gliedernde und stauende Kraft der Fugen ist in diesem Gedicht so groß, daß sie das spannende Vorderbund weitgehend isoliert und vom lösen­ den Hinterbund trennt, dessen Fallbewegung sich, auch mit Hilfe enger satzrhythmischer Anschlüsse, in der folgenden fugenlosen Reihe einfach fortsetzt. So entsteht der Eindruck eines langsamen, ruhigen Fallens nach schnellem steilem Anstieg. Je mehr in neuerer Lyrik der metrische Rhythmus vor dem Satzund Situationsrhythmus zurücktritt, um so seltener werden auch Verse mit echten Fugen. Bei Stefan George finden sie sich gelegent­ lich, wie bei ihm ja der metrische Rhythmus meist noch das Über­ gewicht hat. So in folgendem Gedicht aus dem »Jahr der Seele«: Flammende wälder 1 am bergesgrat Schleppende ranken ' im gelbroten Staat! Vor ihrem Schlummer 1 in klärender haft Hebst du die traube 1 mit leuchtendem saft. Fugenverschiebungen haben, da sie das metrisch-rhythmische Gleichgewicht stören, meist starke Spannungswirkung. Ein Bei­ spiel für spannungsvolle Fugenverschiebung im vierhebigen Vers bietet Goethes Ballade »Der getreue Eckart«: O wären wir weiter, ' o wär ich zu Haus! Gleiche Bünde, harmonisch, ohne besonderen Ausdruck. Sie kommen.' Da kommt schon der nächtliche Graus; 112

Eindringliche Hebung des verkürzten ersten Bundes. Sie sind's 1 die unholdigen Schwestern. Durch Verschiebung der Fuge gleich hinter die erste Hebung wird die Eindringlichkeit der Ballung noch verstärkt. Sie streifen heran ' und sie finden uns hier, Dank der Mittelfuge ausgeglichen; doch ist »heran« stark geballt, da die Fuge die dazugehörige Senkung abtrennt. Sie trinken das mühsam geholte ' das Bier, Das zweite Bund durch Verkürzung stark (ängstlich) geballt; das verlängerte erste hat hastig-steigenden Gang. Und lassen nur leer uns die Krüge. Schlußlösung der Strophe. Ungehemmt durchlaufende Bewegung. Die nur satzrhythmisch bedingten Schnitte gliedern zunächst den Satz, können also zur Bewegung der Satzglieder über die metrisch­ rhythmischen Einschnitte hinweg beitragen. Wenn die Grenze eines Satzkolons in eine Reihe fällt, dann können sich, meist in Verbin­ dung mit Brechungen, Spannungen verschiedener Art ergeben. Folgendes Beispiel soll das deutlich machen (Rilke, »Archaischer Torso Apollos«): Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt, darin die Augenäpfel reiften. Aber sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber, in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt, sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug der Brust dich blenden, und im leisen Drehen der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen zu jener Mitte, die die Zeugung trug. Es sind fugenlose Verse, in denen aber zahlreiche Schnitte die durchlaufende rhythmische Bewegung stauen. Der Schnitt in Str. i, R. 2 (Satzschluß) bringt die Spannungsbewegung des in R. x be­ 113

gonnenen Satzes zur Ruhe. Die fallende Hinterreihe der ersten Kette und der fallende Ast des Satzes decken sich teilweise. Mit »aber« beginnt neue Satzspannung, die dies Wort vermittels der Brechung nach R. 3 hinüberreißt, eine vorwärtsweisende Bewe­ gung, eine »Brechung nach vorwärts«®8. Der Schnitt in Str. 2, R. i dagegen trennt den Anfang der Reihe ab und verbindet ihn über die Strophengrenze hinweg mit dem in Str. 1, R. 2 begonne­ nen Satzbogen, der also in Str. 2, R. 1 seine Lösung findet. Da­ durch entsteht eine rückwärtsweisende Tendenz, eine »Brechung nach rückwärts«68. Die Beruhigung, die dadurch erzielt wird, wird durch die nach dem Schnitt neu anhebende Satzspannung aufge­ hoben, die wieder zu einer vorwärtsweisenden Brechung führt. Eine gleiche Bewegung erhebt sich nach dem Schnitt in Str. 2, R. 2, während der Schnitt in R. 4 zu einer Rückwärtswendung ihres ersten Teils führt. So werden die Schnitte zu Treffpunkten ver­ schiedener rhythmischer Tendenzen. Einfacher liegen die Verhältnisse, wenn sich der Satz dem me­ trischen Rhythmus im wesentlichen fügt. Dann gliedern die Schnitte mit dem Satz zugleich die Reihe; sie können wie Fugen wirken, nur daß sie nicht die Regelmäßigkeit echter Fugen haben. Als Bei­ spiel kann Goethes Gedicht »Willkommen und Abschied« dienen, dessen vierhebige Reihen eine kräftige Bewegung fugenlos, aber durch einzelne unregelmäßig auftretende Schnitte gestaut, durch­ fließt. So gleich zu Anfang, besonders kräftig in der ersten Fassung: Es schlug mein Herz. Geschwind zu Pferde! Und fort, wild wie ein Held zur Schlacht. Bei Deckung von Satz und Vers hat der Schnitt in R. 1 die Wirkung einer Mittelfuge, während er in R. 2 die Spannungskraft einer nach vorn verschobenen Fuge hat. Im übrigen verlaufen Str. 1 und 2 im wesentlichen ohne Schnitt, während in Str. 3 und 4 der Satz einige Male kräftig einschneidet. So in folgenden Versen: Und Zärtlichkeit für mich, ihr Götter, Ich hofft es, ich verdient es nicht. ·· Saran a.a.O. S. 134.

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Oder: In deinen Küssen welche Liebe O welche Wonne, welcher Schmerz! Du gingst, ich stund und sah zur Erden Und sah dir nach mit nassem Blick. Und doch, welch Glück geliebt zu werden, Und lieben, Götter, welch ein Glück! Die Ausdruckskraft dieser Schnitte ist weder aus dem Satz­ rhythmus noch aus ihrer Fugenwirkung völlig zu verstehen. Beides ist hier nur genutzt, um mit ihnen die Spannung der Situa­ tion zum Ausdruck zu bringen. Ihre Wirkung weist diese Schnitte in erster Linie in den Bereich des Situationsrhythmus. Besonders deutlich wird das in der letzten Strophe, vor allem in R. 3: Du gingst, ich stund und sah zur Erden. Der Schnitt scheint eine Kluft aufzureißen; die Geliebte wird gleichsam in eine höhere Welt enthoben, während der Liebende im Irdischen zurückbleibt. So gibt es viele Fälle, in denen sich der Situationsrhythmus der Fugen und Schnitte bemächtigt, um sie zu Ausdrucksgebärden zu machen. Dafür noch einige Beispiele: C.F. Meyers Gedicht »Die alte Brücke« hat am Schluß von Str. 1 einen Schnitt der in anti­ thetischer Spannung gleichsam zwei Welten scheidet: Dein Bogen, grauer Zeit entstammt, Steht manch Jahrhundert außer Amt; Ein neuer Bau ragt über dir: Dort fahren sie 1 Du feierst hier. Oder der Schnitt in der letzten Strophe von Rilkes »Panther«, der sich so tief in den drängenden Fluß der Reihen einbohrt. Dadurch, daß er die Spannung der Situation zur Lösung wendet, scheint er uns den Blick in die Tiefe einer Seele zu öffnen: Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein, ID

geht durch der Glieder angespannte Stille und hört im Herzen auf zu sein. In Trakls Gedicht »Der Herbst des Einsamen« setzt der Schnitt in der vorletzten Reihe der letzten Strophe einen Halt in eine sehr fließende Bewegung. Seinen abgründigen Ausdruck erhält er da­ durch, daß er einer gelösten Situation plötzliche Spannung ent­ gegensetzt : Bald nisten Sterne in des Müden Brauen; In kühle Stuben kehrt ein still Bescheiden Und Engel treten leise aus den blauen Augen der Liebenden, die sanfter leiden. Es rauscht das Rohr; anfällt ein knöchern Grauen, Wenn schwarz der Tau tropft von den kahlen Weiden. Ein solches Zusammenwirken satz- und situationsrhythmischer Spannungen gibt oft auch den Schnitten im fünfhebigen jambi­ schen Vers des Dramas ihre Ausdruckskraft. Im Gegensatz zu den epischen und lyrischen Fünfhebern hat dieser Vers im deut­ schen Drama meist keine echten Fugen, wohl weil er nicht dem französischen vers commun, sondern dem Blankvers des englischen Dramas verpflichtet ist, der keine strengen Fugen kennt89. Die dra­ matische Situation kann, besonders wenn Satzschlüsse im Vers­ innern stehen, den Schnitten große Spannungskraft geben. So fal­ len an folgender Stelle aus Lessings »Nathan der Weise« (IV, 7) alle Wendepunkte der Rede in die Reihen und geben so den Schnit­ ten Sinn und Ausdruck: Wohl uns! Denn was Mich Euch zum Christen macht, das macht Euch mir Zum Juden! - Aber laßt uns länger nicht Einander nur erweichen. Hier brauchts Tat! Und ob mich siebenfache Liebe schon Bald an dies einz'ge fremde Mädchen band ; Ob der Gedanke mich schon tötet, daß vgl. Zarncke a.a.O. S. 323 f. und 366 ff. Il6

5

Ich meine sieben Söhn1 in ihr aufs neue Verlieren soll: - wenn sie von meinen Händen Die Vorsicht wieder fordert, - ich gehorche!

io

Schon der Einsatz des Dialogsprechers innerhalb der Reihe ergibt im Schnitt einen Wechsel der Situationsspannung. Nicht viel ge­ ringer ist aber der Spannungswechsel in den Schnitten in R. 3, R. 4, R. 9 und 10 unseres Beispiels. Die flacheren Schnitte in R. 2 und R. 7 geben den ihnen folgenden Brechungen ihren Charakter: die von R. 2/3 weist rückwärts, die von R. 7/8 dringt vorwärts.

2. Der rhythmische Gang des Verses Die Gliederung der Reihe setzt sich noch weiter fort. Die klein­ sten Glieder gerade sind für das rhythmische Gepräge eines Verses kennzeichnend, sie bestimmen die Art seiner Bewegung, seines Ganges70: der Vers geht auf seinen »Füßen«. Diese kleinen Glieder sind es, die eine Bewegung durch die Strophe tragen, die von den Einschnitten aufgehalten, von Pausen unhörbar weitergeführt, an den Grenzen der rhythmischen Glieder oft verlangsamt, bis zum Strophenschluß nicht abbricht. Ein Vers bietet verschiedene Möglichkeiten, ihn im kleinen zu gliedern, und an der Wahl einer von diesen scheiden sich in der Verslehre die Meinungen, wie an kaum einer anderen Frage. Wir machen uns diese Möglichkeiten an einem Beispiel klar. Eichen­ dorffs Gedicht »Die Heimat. An meinen Bruder.« beginnt mit folgender Reihe: Denkst Du des Schlosses noch auf stiller Höh? Es liegt nahe, eines der traditionellen Gliederungsschemata zu ver­ wenden, also etwa mit Opitz71 zu fragen, ob der Vers »iambicus« oder »trochaicus« sei. Schon Opitz hat gesehen, daß diese Bezeich70 Saran gebraucht den Terminus »Versgang«, scheidet aber die ihn be­ stimmenden rhythmischen Kräfte nicht deutlich voneinander, Dt. Verskunst, S. 21 3 ff. 71 Martin Opitz, Buch von der deutschen Poetetey, Braunes Neudrucke Nr. 1, S. 40 ff.

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nungen nicht wie in der Antike Silbenquantitäten (kurz-lang oder lang-kurz) meinen, sondern Akzentgewichte (leicht-schwer oder schwer-leicht). Diese grundlegende Klärung des akzentuierenden (wägenden) Charakters des deutschen im Gegensatz zum quantitierenden (messenden) des antiken Verses - wobei unentschieden blieb und bleibt, wieweit der eine auch mißt und der andere auch wägt - ändert aber nichts daran, daß der Vers hier wie dort nach Versfüßen gegliedert wurde. Unser Beispiel macht die Entscheidung, ob jambisch oder trochäisch, nicht leicht. Der erste Fuß scheint ein Trochäus zu sein: »Denkst Du« = Λ x; aber es geht dann jambisch weiter: »des 'Schlo -/ sses 'noch/ auf 'stil-/ler 'Höh/«. Auch in Hinblick auf den weiteren Gang des Gedichtes (»Das 'Horn/lockt 'nächt/lich 'dort/ als 'obs / dich ’rie/fe«) wird man annehmen müssen, daß der erste Fuß ein durch den Sprachakzent verschuldeter Verstoß gegen das Grundmaß, eine »Tonbeugung« (Heusler)72 darstellt, so daß also das Grundmaß tatsächlich jambisch wäre. Gegen dieses Gliederungsprinzip ist einzuwenden, daß es, da für ein quantitierendes System geschaffen, dem akzentuierenden nicht ganz gerecht wird. Dieses verlangt, daß, wie in der Musik, der Schwereakzent zum Prinzip der Gliederung gemacht wird. Das aber ist in der Taktgliederung der Fall73; ein Takt besteht ja aus einem schweren und einem leichten Teil, der gliedernde Taktstrich steht vor dem schweren. Für unsere Reihe ergibt das folgende Gliederung: I I I I I 2/4

xI xx

I X x I X X I X X I

x

Bei der Fuß- wie bei der Takteinteilung handelt es sich zunächst um ein metrisches Schema, das über die Art der rhythmischen Bewegung nichts aussagt. Man kann aber das jambische Glied als ” Heusler a.a.O. I, S. 57ff. Saran spricht von »metrischer Drückung« (a.a.O. S. 195ff.). ” Über Takt und Fuß vgl. Heusler a.a.O. I, S. 24fr.; Saran, Dt. Verskunst S. 218 ff. Gegenüber den Einseitigkeiten Sarans, der den Takt für die Verslehre überhaupt nicht anerkennt, und Heuslers, der ihn für das einzig mögliche Einteilungsprinzip hält, wird hier ein Mittelweg gesucht.

1x8

steigendes, anspannendes, das trochäische als fallendes, lösendes erleben, ebenso wie man den Niederschlag des Dirigenten auf dem schweren Taktteil als Bewegungsimpuls spüren kann, der im leich­ ten Taktteil ausläuft. In beiden Fällen hat man ein wenn auch un­ terschiedliches metrisch-rhythmisches Erlebnis, das seine Herkunft aus dem Metrum auch darin deutlich zu erkennen gibt, daß es gleich zu Anfang mit dem Sprachakzent in Konflikt gerät. Die Spannung, die hier zwischen Satzakzent und Versakzent be­ steht, läßt sich im Bereich der Takteinteilung dadurch lösen, daß man den Forderungen der Sprache dabei stärker nachgibt. Man könnte unsere Reihe etwa folgendermaßen gliedern: 4/4

U J.^IJ.J'J

IJ.JIJ.il

Schon die Notenschrift, die wir hier anwenden müssen, um ein klares Bild der gemeinten Einteilung zu vermitteln, sagt deutlich, daß es sich hier um so etwas wie eine freie rhythmische Komposi­ tion des Textes handelt von der Art, die der Musiker anwendet, wenn er einen Text vertont. Dieser pflegt dabei mehr den sprach­ lichen als den etwaigen metrischen Rhythmus zu berücksichtigen; er fragt nach Satz- und Wortakzent, nach der Quantität der Silben. Dabei gibt es, wie verschiedene Vertonungen desselben Textes zei­ gen, verschiedene Möglichkeiten der Rhythmisierung. Auch für unsere Reihe könnte man sich noch andere Möglichkeiten der Takteinteilung, der musikalisch rhythmischen Komposition, vor­ stellen. Allen liegt unser zwanglos als Prosasatz gesprochener Vers zugrunde. Es handelt sich also um eine satzrhythmische Gestal­ tung, wobei der Satz hier nicht mit seinen großen Spannungen, dem ganzen Bogen, den Ästen und Teilästen, sondern mit den kleinen, den Wortakzenten, zur Geltung kommt. Bei aller Berücksichtigung der sprachlichen Forderungen ist die Stilisierung, die der Takt dem Satz auferlegt, doch außersprach­ licher, metrischer Art. Wenn wir unsere Reihe ganz unbefangen nach Satz- und Wortakzenten gliedern, so ergeben sich etwa fol­ gende Glieder: n9

'Denkst Du/des 'Schlosses / 'noch- / auf 'stiller / 'Höh? / X x / x X x/X — / xXx/X-/ Klopstock ist es gewesen, der für den deutschen Vers eine solche Gliederung nach »Wortfüßen« verlangt hat, ohne daß man ihm dar­ in gefolgt ist74. 75 Die antike Versfußeinteilung hat die deutsche Vers­ lehre noch bis ins 20. Jhdt. hinein beherrscht. Erst neuere Theorien greifen gelegentlich, oft ohne sich dessen bewußt zu sein, auf die Wortfußgliederung zurück. Während Heusler von seiner Taktein­ teilung aus dem Sprachakzent möglichst gerecht zu werden sucht, unternimmt es neuerdings Pretzel, von Heusler ausgehend, den Zwang des Taktes ein wenig zu lockern76. Was sich ihm dabei als Gliederungsprinzip anbietet, das sind im wesentlichen Wortfüße. Wolfgang Kaysers Rhythmisierungen laufen auf dasselbe Prinzip hinaus76. Auch wenn man, wie es gelegentlich (etwa von Pretzel) versucht wird, die Wortfüße mit den antiken Versfußnamen be­ zeichnet, so ändert man das Gliederungsprinzip damit nicht. In unserm Beispiel würden die Wortfüße etwa als Trochäen und Amphibrachen gelten können. Eine Wortfußgliederung wird vor allem dadurch nahegelegt, daß die metrisch-rhythmischen Einteilungsprinzipien, sei es das Takt­ oder das Versfußprinzip, der Sprache oft Gewalt antun. Die Wort­ füße sind aber, besonders dem Takt gegenüber, insofern im Nach­ teil, als sie die rhythmische Bewegung, die die Strophe durchläuft, nicht fassen können. Sie bleiben gleichsam am Einzelwort hängen, sind statischer, nicht dynamischer Art. Die metrische Gliederung dagegen, wenn man sie als Prinzip der rhythmischen Bewegung er­ lebt, bleibt der inneren Bewegung des Verses oft fremd, ein von außen auferlegter materialer Rhythmus, der mit dem inneren Rhythmus gelegentlich zusammenstimmen, der ihm aber auch zu­ 74 vgl. Klopstock, Vom deutschen Hexameter. Klopstocks sämtliche Werke, Leipzig 1857, Bd· IO> S. 45ff· 75 Pretzel, a.a.O. Sp. 2339ff. ” Vgl. etwa Kayser, Kleine deutsche Versschule, S. 95 ff., auch »Vom Rhythmus in deutschen Gedichten. Euphorion (Dichtung und Volkstum), 39, 1938, S. 487!!.

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widerlaufen kann. In unserm Beispiel würde die Taktgliederung, die vom Impuls des Schlages aus zum leichten Taktteil abfällt, der inneren Bewegung eher entsprechen als eine dynamisch erlebte Jambengliederung, die auf steigenden Gang deutet. In anderen Fäl­ len könnte die Fußgliederung der inneren Bewegung entsprechen, der Takt ihr zuwiderlaufen. So in folgendem Vers von Heine: Ich 'grol-/le 'nicht,/und 'wenn/ das 'Herz/ auch 'bricht/, der das Erlebnis einer anspannenden, steigenden rhythmischen Be­ wegung vermittelt. Der metrische Rhythmus, Takt oder Fuß, muß also mit dem inneren Rhythmus nicht Zusammengehen. Zwar wird der Dichter oft bei spannender innerer Bewegung Jamben, bei lösender Trochäen wählen, ein Zwang dazu besteht aber nicht. Auch die Wortfüße können dem inneren Rhythmus entgegenkommen, wie in unserm Heinevers, in dem sie vorwiegend steigen: Ich 'grolle/'nicht / und wenn das 'Herz/ auch 'bricht/ Aber wie immer im Vers können die rhythmischen Kräfte auch gegeneinander wirken; dadurch steigern sie die Gesamtspannung und damit die Eindringlichkeit des Gedichts. Der »innere Rhythmus«, oder wie wir ihn auch genannt haben, der natürliche oder Situationsrhythmus (S. 69^), stellt auch inner­ halb der Reihe neben dem metrischen und dem Satz- bzw. Sprach­ rhythmus die dritte rhythmische Kraft dar. Sein Wirken wird hier besonders deutlich spürbar, weil die Einschnitte zwischen den me­ trisch-rhythmischen Kleingliedern, Füßen oder Takten, (Saran ge­ braucht dafür den Terminus »Glied«, die betr. Einschnitte nennt er »Gelenke«) nur schwach markiert und darum durch die anderen rhythmischen Kräfte leicht verschiebbar sind. Seine innere Situation, sein Ausdruck, gibt unserm Eichendorffvers fallenden Charakter; der Sprecher wird die Grenzen der Glie­ der also vor die Hebungen setzen, wo auch die Taktstriche stehen. Dadurch, daß der Vers mit einer Senkung beginnt und auf einer Hebung schließt, ergibt sich, verstärkt durch die Fuge hinter der dritten Hebung vom metrischen Rhythmus her eine Gegenbewe­ 121

gung, die Spannung bewirkt. Der Wortrhythmus wiederum, der die Anfangssenkung zu heben versucht, kommt damit dem inneren Rhythmus entgegen, steht aber in Spannung zum metrischen Rhythmus. In unserm Heinevers dagegen wirken die rhythmischen Kräfte im wesentlichen zusammen. Jambische Versfüße und über­ wiegend steigende Wortfüße unterstützen den anspannenden Situa­ tionsrhythmus; der Impuls des Taktschlags wird dadurch gleich­ sam umgekehrt. Auch die zweite Reihe unseres Eichendorffgedichts hat fallenden inneren Rhythmus: Das / Horn lockt / nächtlich / dort,1 als/obs dich/ riefe, Wieder spannt zwar der metrische Rhythmus mit der Anfangssen­ kung und der Fuge hinter der dritten Hebung dagegen, der aufeiner Senkung auslaufende Versausgang aber gleicht aus. Diesmal wirkt auch der Wortrhythmus steigend, so sehr, daß er mit Hilfe der Fuge stellenweise herrschend wird: »'dort / ais 'obs / dich 'riefe/«: in Verbindung mit der Farbe des offenen o läßt er den lockenden Hornruf aufklingen. Die Grundbewegung bleibt aber fallend, so auch in der folgenden Reihe. Durch Verkürzung auf drei Hebungen mit pausierter vierter, mit anspringender Senkung und Ausgang auf der Hebung, gibt der metrische Rhythmus kräftigen Gegenhalt, während der Wortrhythmus sich fügt: Am Abgrund grast das Reh, In der nächsten Zeile dagegen: Es rauscht der Wald ' verwirrend aus der Tiefe — geht anfangs die starke Gegenspannung gegen die weiter fallende innere Bewegung vorwiegend vom Wortrhythmus aus, der vom metrischen Rhythmus durch die anspringende Senkung und die Fuge nach der zweiten Hebung unterstützt wird. Nach der Fuge tragen alle drei rhythmischen Kräfte die fallende Bewegung. Die lösende Grundtendenz hält sich in der fünften und sechsten Reihe: 122

O stille! wecke nicht 1 es war als schliefe Da drunten ein unnennbar Weh. Anfangssenkungen in beiden Reihen, die Fuge nach der dritten Hebung in der fünften, die Verkürzung auf vier Hebungen mit Hebungsausgang in der sechsten, wirken ihr entgegen, ohne den inneren Rhythmus brechen zu können, dessen Fallcharakter in den beiden weiteren Strophen des Gedichtes immer reiner und beherr­ schender wird. Ein steigender situationsrhythmischer Gang muß sich in deut­ schen Versen oft gegen den Widerstand der meist fallenden, weil stammsilbenbetonten Wörter durchsetzen. Daher mag es kommen, daß fallende Verse in der deutschen Dichtung häufiger sind als steigende. Der Vers bedarf schon einer sehr kräftigen situations­ rhythmischen Spannung, wenn er sie gegen einen fallenden Wort­ rhythmus aufrecht erhalten will. Das im Situationsausdruck nicht Eindeutige oder Schwankende neigt daher zu fallendem Rhythmus. Die Einheit des dichterischen Schaffensvorgangs bringt es aber mit sich, daß sich in Gedichten von steigendem inneren Rhythmus oft zahlreiche einsilbige, dreisilbige oder endsilbenbetonte, also Worte von steigendem Rhythmus finden. Ein Beispiel für ein ganz einfaches, eindeutiges, allerdings auch spannungsloses Verhältnis der rhythmischen Kräfte bietet Goethes Lied »Vanitas! vanitatum vanitas!« Das Wort »Juchhe!«, das re­ frainartig als Hinterreihe jeder Kette wiederkehrt, gibt leitmoti­ visch die Steigtendenz in seiner Vereinigung steigender metrischer, sprachlicher und innerer rhythmischer Bewegung: Ich hab / mein Sach / auf Nichts / gestellt./ Juchhe! Drum ist's/so wohl/mir in/der Welt./ Juchhe! In Lenaus Gedicht »Mein Herz« dient in ähnlicher Weise das Wort »wohlan« als rhythmisches Leitmotiv. Im übrigen muß sich hier der steigende innere Rhythmus gegen starke Widerstände des 123

Wortrhythmus durchsetzen. Kennzeichnend besonders die letzte Strophe: Wohlan! was sterblich war, sei tot! Naht Sturm, wohlan! - wie einst das Boot Mit Christus Stürme nicht zerschellten, So ruht in dir der Herr der Welten. Goethes Gedicht »Mignon« (Kennst du das Land . . .) hat aus seiner inneren Situation steigenden Gang. Das Wort, in dem sich dieser leitmotivisch verdichtet, ist »dahin«, das wieder alle rhyth­ mischen Kräfte in gleicher Tendenz vereinigt. Kennst du das Land, 'wo die Zitronen blühn, Im dunkeln Laub'die Goldorangen glühn, Ein sanfter Wind'vom blauen Himmel weht, Die Myrte still'und hoch der Lorbeer steht, Kennst du es wohl?' Dahin! dahin Möcht ich mit dir,' o mein Geliebter, ziehn. Aus dem Erlebnis des steigenden Ganges ergibt sich die Spannung des widerstrebenden Wortfußes »kennst du« in R. i und 5. Die übrigen Worte der ersten und dritten Kette stimmen in den stei­ genden Gang ein, in der mittleren Kette setzt er sich gegen fal­ lende Wortfüße durch. Die regelrechte Fuge nach der zweiten Hebung bestätigt vom metrischen Rhythmus aus den steigenden Gang. Einzig in Str. 2, R. 3 verschiebt sich die Fuge auf die der zweiten Hebung folgende Senkung. Diese kleine Lösung wird durch den Ausdruck der Stelle bestätigt: Und Marmorbilder ' stehn und sehn mich an . . . Ein weiteres Beispiel von anspannendem Situationsrhythmus bie­ tet ein Gedicht Heinrich Heines : Ich unglückseiger Atlas! eine Welt, Die ganze Welt der Schmerzen muß ich tragen, Ich trage Unerträgliches, und brechen Will mir das Herz im Leibe. 124

Du stolzes Herz, du hast es ja gewollt! Du wolltest glücklich sein, unendlich glücklich Oder unendlich elend, stolzes Herz, Und jetzo bist du elend. Der Wortrhythmus wirkt dem inneren Gang oft entgegen und erzeugt dadurch starke Gespanntheit. Auch der metrische Rhyth­ mus hat oft hinter Senkungen verschobene Fugen und Versausgänge auf Senkungen und daher nicht einhellig steigenden Charak­ ter. Leitmotivisch das Ganze beherrschend heben sich in Str. 2 die Worte »Du stolzes Herz« heraus. Die verkürzten dreihebigen Schlußreihen beider Strophen, die nach ihrer strophenrhythmi­ schen Funktion jähe Lösungen geben, wirken wie abgerissen. Das rhythmische Gefühl ergänzt sie mit zwei pausierten Hebungen zu einer auf der Hebung schließenden Fünfhebigkeit. Es ist das Leit­ motiv »stolzes Herz« (X χ X), das sich dem im Rhythmus Lesen­ den aufdrängt: Will 'mir das 'Herz im 'Leibe ('stolzes 'Herz). Und 'jetzo 'bist du 'elend ('stolzes 'Herz). Ein kräftig spannender Abschluß also, der aber die strophen­ rhythmische Lösefunktion der Schlußreihen nicht beeinträchtigt. Der rhythmische Gang einer Reihe und ihre strophenrhythmische Funktion stören sich gegenseitig nicht: eine kleine Wellenbewe­ gung kräuselt die Oberfläche der großen Wogen. Steigenden Gang vermöge des anspannenden Situationsrhyth­ mus hat Rilkes »Panther«. Oft muß er sich gegen den Widerstand der vorwiegend fallenden Wortfüße durchsetzen, was der verhal­ tenen Spannung des Gedichts zugute kommt. So vor allem in der zweiten Strophe: Der wei-/ che Gang / geschmei-/ dig star-/ker Schrit-/te, der sich / im al-/lerklein-/ sten Krei-/se dreht,/ ist wie / ein Tanz / von Kraft / um ei-/ ne Mit-/te, in der / betäubt / ein gro-/ßer Wil-/le steht. 125

Von verhaltener Spannung sind vor allem auch die Anfänge von R. 2 und j, wo der Sprachakzent nicht nur der metrischen, sondern auch der inneren Bewegung widerstreitet. Man erlebt einen Aus­ gleich der Akzente (»schwebende Betonung«) mit verstärktem Nachdruck auf dem metrischen, (vgl. unten S. i82ff.) Die gleiche Spannung hat in verstärktem Maße R. 3 und 4 von Str. 3: Dann geht / ein Bild / hinein,/ geht durch / der Glie-/ der an-/gespann-/te Stil-/le . . . Wenn auch steigender innerer Rhythmus sich am liebsten mit jambischem Maß verbindet, so finden wir ihn auch in trochäischen Versen. So in Goethes »Tischlied«: Mich / ergreift,/ ich weiß / nicht wie,/ Himm-/lisches / Beha-/ gen. Will / mich's et-/ wa gar / hinauf/ Zu / den Ster- / nen tra- /gen? Auch die Wortfüße begünstigen den steigenden Gang nicht durch­ weg; dennoch setzt er sich von der Situation her unwiderstehlich durch. Die meisten lyrischen Gedichte der klassisch-romantischen Epo­ che haben eine lösende oder gelöste Haltung, der ein fallender situationsrhythmischer Gang entspricht und der auch der Sprach­ rhythmus im allgemeinen entgegenkommt. Fallender Gang kann sich im jambischen wie im trochäischen Metrum durchsetzen; so in Goethes trochäischem Gedicht »Erster Verlust«: Ach wer /bringt die / schönen/ Tage, / Jene / Tage der / ersten / Liebe,/ Ach wer / bringt nur/ eine / Stunde / Jener / holden / Zeit zu-/ rück! Fallenden Gang hat aber auch das jambische Gedicht »Am Fluße«: Ver- /fließet, /vielge- /liebte/ Lieder,/ Zum /Meere / der Ver- /gessen-/heit! 126

Kein /Knabe / sing ent-/zückt euch/ wieder,/ Kein /Mädchen/ in der / Blüten-/ zeit. Dieser Rhythmus ist durchaus nicht an negative Stimmungen, Trauer, Schmerz, Klage gebunden. Er kann auch freudigen, ja schwungvollen Ausdruck tragen. Goethes »Bundeslied« hat fallen­ den Gang, weil die Situation Gelöstheit in einer Gemeinschaft ausdrückt: In /allen/guten/ Stunden, Er- /höht von /Lieb und /Wein, Soll /dieses /Lied ver-/bunden/ Von /uns ge-/sungen/ sein. Bei radikalem Stimmungswechsel kann es auch zur Umkehrung des rhythmischen Ganges innerhalb eines Gedichtes kommen. Doch ist das nicht eben häufig, bloße Stimmungsmodulationen wirken sich im allgemeinen nur auf die Klangfarbe, nicht auf den Rhyth­ mus aus. So behält etwa Goethes Gedicht »Willkommen und Ab­ schied« trotz ständig wechselnden Ausdrucksgepräges seinen drän­ gend anspannenden Gang von Anfang bis zu Ende bei. Anders Goethes »Auf dem See«, das ausdrücklich ganz unmittel­ bar, geradezu tagebuchartig, einen Bruch der Stimmung aufzeich­ nen will. Der erste Teil hat fallenden rhythmischen Gang; er drückt das lösende Aufgehen in der Natur aus: Und /frische/ Nahrung,/ neues/Blut Saug /ich aus/freier/ Welt; Wie /ist Na-/tur so/ hold und/ gut, Die /mich am /Busen/ hält! Die /Welle/wieget/ unsern/ Kahn Im /Ruder-/takt hin-/auf, Und /Berge/wolkig/himmel-/an Be-/gegnen/ unserm/ Lauf. Der zweite Teil hat steigenden Gang, obwohl er vom jambischen ins trochäische Metrum wechselt. Die Zwiespältigkeit der inneren Situation drückt sich darin aus; der Wortrhythmus gleicht sich an: 127

Aug',/mein Aug',/was sinkst/ du nie-/der Gold-/ne Träu-/me, kommt/ ihr wie-/der? Weg,/ du Traum!/ so Gold/ du bist:/ Hier / auch Lieb/ und Le-/ben ist./ Der letzte Teil gibt die Harmonie eines neu gewonnenen reifen Verhältnisses zur Welt im Abstand des liebend Schauenden. In seinem beruhigt lösenden Gang wirken die drei rhythmischen Kräfte harmonisch zusammen: Auf der/ Welle/blinken/ Tausend / schwebende/ Sterne,/ Weiche/ Nebel/ trinken/ Rings die/ türmende/ Ferne;/ Morgen-/wind um-/flügelt/ Die be-/schattete/ Bucht, / Und im / See be-/ spiegelt/ Sich die /reifende/ Frucht. / Ein Wechsel des rhythmischen Ganges kann darstellende Funktion haben; so in Liliencrons Gedicht »In einer großen Stadt«. Die drei ersten Reihen der Strophe haben, durch viele steigende Wortfüße unterstützt, spannenden situationsrhythmischen Gang, der sich in der vierten refrainartigen Reihe zum Fallen wendet. Die Vergäng­ lichkeit des menschlichen Treibens vor dem Hintergrund der Ewig­ keit ist dadurch eindringlich gestaltet: Es treibt vorüber mir im Meer der Stadt Bald der, bald jener, einer nach dem andern. Ein Blick ins Auge, und vorüber schon. Der Orgeldreher dreht sein Lied. Der Gang eines Verses wird vorwiegend durch seinen Situa­ tionsrhythmus bestimmt. Gegenüber den dabei entstehenden Glie­ dern treten die metrischen und sprachlichen Glieder, Vers- und Wortfüße, zurück; sie fügen sich oder spannen sich dagegen. Und doch bedarf der innere rhythmische Gang dieser Füße zum Gehen, 128

auch wenn er selbst die Gangart bestimmt. Das Steigen und Fallen des Ganges ist vorwiegend auf das jambotrochäische Metrum ange­ wiesen, das, im Gegensatz zu den dreizeitigen antiken Jamben und Trochäen, zweizeitig ist, also in einem geraden, d. h. einem 2 /4 oder 4/4 Takt steht. Die dritte rhythmische Bewegung, die spannend­ lösende ist an einen dreizeitigen metrischen Fuß gebunden, benutzt also vorwiegend Daktylen, Anapäste und Amphibrachen, die in der Antike zweizeitig, im Deutschen aber dreizeitig sind, also im 3 /4 oder 6/8 Takt stehen. Der fallende metrische Rhythmus des Dak­ tylus wie der steigende des Anapäst müssen sich dem steigend­ fallenden inneren Rhythmus fügen. Auch die Wortfüße können, wie steigenden und fallenden, auch steigend-fallenden Rhythmus haben (steigend: die 'Nacht; in der 'Nacht; fallend: 'lebend, 'lebende; steigend-fallend: ge'nesen). Auf diese rhythmischen Möglichkeiten des Sprachakzents stützt sich der metrisch-rhythmische wie der situationsrhythmische Gang, wenn er sie auch frei benutzt. So können dreisilbig fallende wie dreisilbig steigende Wortfüße in einen steigend-fallenden rhyth­ mischen Gang hineingerissen werden, ja selbst zweisilbige Wort­ füße können unter dem Zwang des inneren Rhythmus eine steigend­ fallende Bewegung annehmen. In deutschen Gedichten wird man bei dreizeitigen Metren, seien es nun Daktylen, Anapäste oder Amphibrachen, sehr oft eine stei­ gend-fallende situationsrhythmische Bewegung finden. Schon als im 17. Jhdt. der Daktylus in die deutsche Dichtung übernommen wurde, stand meist ein auf-abschwingender Rhythmus dahinter. In derartigen Gedichten, etwa Philipp von Zesens, Georg Philipp Harsdörffers, Johann Klajs, im 18. Jahrhundert etwa Friedrich von Hagedorns und der Anakreontiker bis hin zum jungen Goethe ist das Leichte, Tänzelnde, Spielende, Wiegende und Flimmernde die­ ser rhythmischen Bewegung auf daktylisch-anapästischer Grund­ lage dargestellt worden. So in Klajs »Vorzug des Frühlings«: Im Lenzen /da glänzen / die blümi-/gen Auen,/ Die Auen,/ die bauen / die perle-/ nen Tauen;/ 129

Die Nymphen / in Sümpfen/ ihr Antlitz / beschauen;/ Es schmilzet / der Schnee, / Man segelt / zur See, / Bricht gülde-/ nen Klee./ Die Wortfüße stützen und tragen den inneren Rhythmus. Daß er nicht fallend verläuft, kann der Versuch einer »daktylischen« Glie­ derung zeigen; die wiegende innere Bewegung ist damit zerstört: Im /Lenzen da /glänzen die /blümigen/ Auen . . . Beschwingter, aber ebenfalls spielerisch wirkt dieser Gang in Hage­ dorns Gedicht »Der Mai«: Der Nachti-/gall reizen-/de Lieder/ Ertönen/ und locken/ schon wieder/ Die fröhlich-/sten Stunden/ ins Jahr. / Nun singet/ die steigen-/de Lerche,/ Nun klappern/ die reisen-/den Störche/, Nun schwatzet/der gaukeln-/de Star. / Leicht und wiegend ist der Gang in Goethes anakreontischem Ge­ dicht »Wechsel«; wieder wird er von den Wortfüßen gestützt: Auf Kieseln im Bache da lieg ich, wie helle! Verbreite die Arme der kommenden Welle, Und buhlerisch drückt sie die sehnende Brust. . . Behaglich wiegend wird er dann in Goethes erzählenden Gedichten: Wir singen und sagen vom Grafen so gern, Der hier in dem Schlosse gehauset. . . Stärkere innere Spannung steigert diesen Rhythmus zu schwung­ voller Bewegung. So in Schillers »Dithyrambe«: Nimmer,/das glaubt mir,/ Erscheinen/ die Götter,/ Nimmer/ allein. / Kaum daß/ ich Bacchus,/ den Lusti-/gen, habe,/ 130

Kommt auch/schon Amor,/der lächeln-/de Knabe,/ Phöbus,/der Herrli-/che, findet/ sich ein./ Sie nahen,/ sie kommen,/ Die Himmli-/sehen alle,/ Mit Göttern/ erfüllt sich/ Die irdi-/sche Halle./ Metrisch sind es Daktylen und Amphibrachen, Wortfüße gibt es von allen Bewegungsarten, doch überwiegt bei ihnen auf-abstei­ gende Tendenz. So stützen sie den inneren Rhythmus. Es gibt Gedichte - ältere und neuere - die eine Situation stili­ sieren und sich dadurch von ihr distanzieren. Der Situationsrhyth­ mus bleibt in solchen Fällen neutral, der rhythmische Gang steigt nicht und fällt nicht. Oft finden wir das z. B. in Gedichten Stefan Georges, so in folgendem aus dem »Jahr der Seele«: Wir schreiten auf und ab im reichen flitter Des buchenganges beinah bis zum tore Und sehen außen in dem feld vom Gitter Den mandelbaum zum zweitenmal im flore. Weder der metrische noch der Wortrhythmus können den Si­ tuationsrhythmus ersetzen und dem Gang eine ausgeprägte Rich­ tung geben.

3. Akzent und Quantität Um den rhythmischen Gang des Verses in den Möglichkeiten seiner Modifikationen zu verstehen, müssen wir uns allgemein über die Bedeutung der Längenabstufungen für den deutschen Vers klar werden. Daß im antiken Vers die rhythmische Bewegung auf der Quantität, dem Wechsel von Längen und Kürzen beruht, ist wohl nicht zweifelhaft”. Dagegen ist es durchaus umstritten, wie weit die Quantität auch für den akzentuierenden deutschen Vers be­ deutsam ist, ob sie an seiner rhythmischen Prägung beteiligt ist ” vgl. Th. Georgiades, Der griechische Rhythmus. 1949; Musik und Rhyth­ mus bei den Griechen, rde 61.

131

oder nicht. Heusler betont zwar den akzentuierenden Charakter des deutschen Verses; die Takteinteilung aber, zu der er doch nur durch die konsequente Anwendung des akzentuierenden Prinzips gelangt, muß dazu führen, daß auch die Quantitätsabstufung für seine Rhythmisierung bedeutsam wird. Denn der Takt ist nicht nur durch seine Schwereabstufung, sondern vor allem auch durch seine Zeitausdehnung, den Abstand von einem schweren Taktteil zum nächsten gekennzeichnet. Im Gegensatz zu den antiken me­ trischen Gesetzen mit ihren feststehenden Silbenquantitäten läßt aber die deutsche Sprache dem Metriker eine gewisse Freiheit in der Ausnutzung ihrer Quantitäten. Dieser bedient sich Heusler ge­ legentlich bei seinen Rhythmisierungen; sie haben oft den Charak­ ter von freien musikalisch-rhythmischen Kompositionen. In dieser Art haben wir versucht (S. 119), die erste Reihe unseres Eichen­ dorffgedichtes »Die Heimat« im 4/4 Takt zu rhythmisieren, wobei wir eine Längenabstufung gewählt haben, die die Sprache zwar nicht fordert, aber doch zuläßt. In derselben Weise hat Pretzel wie vor ihm schon Heusler die Silchersche Vertonung von Kuglers Gedicht »An der Saale hellem Strande« seiner Rhythmisierung zu­ grunde gelegt und dieses schlicht alternierend, also etwa im 2/4 Takt, zu lesende Gedicht, im 3/2 Takt rhythmisiert, d.h. kom­ poniert78: xx/---- xx/--xx/--xx/An der/Saä-le hel-lem/Strände stehen/Bürgen stolz und/kühn In derselben Weise rhythmisiert Heuslers Schüler Otto Paul das 78 Pretzel a.a.O. Sp. 2342t. Nach demselben Prinzip rhythmisiert Wolfgang Mohr Goethesche Gedichte (Von Goethes Verskunst, Wirk. Wort, IV, S. 151 ff). Auch Saran arbeitet gelegentlich mit absoluten und ausdrucksvollen Quanti­ täten und kommt dann zu freien rhythmischen Kompositionen, wenn auch ohne Taktstriche. Vgl. Dt. Versk. S. 90 die Rhythmisierung von E. M. Arndts »Wer soll der Hüter sein« und des Volkslieds »Treue Liebe« (letztere durch die Vertonung bestimmt), oder S. 98 die von Goethes »Kriegserklärung«. In diesen Fällen wirkt die geschichtliche Sicht irreführend. Der musikalische Rh, der ma. Liedlyrik bestimmt die Auffassung. Besonders radikal und wohl über das Ziel hinausschießend trennt R. Blümel antiken und ma. Gesangsrh. vom neueren Sprachrh. (Der nhd. Rh. in Dichtung u. Prosa, S. 3, S. 65 ff.)

132

Glossenthema aus Tiecks »Kaiser Oktavian« mit Hilfe von Auf­ takten (bei Trochäen!) und Innenpausen im 4/4 Takt79: /

£

----/2

x

£x / £ x / £ λ

x£ x± A /

/ -< x * x / * * * x/x

±

X /

i X k

Λ /

Mondbeglänzte Zäubernächt, Die den Sinn gefängen hält, Wündervölle Märchenwelt, Steig aüf ln der älten Prächt. Doch bleiben auch für eine produktive musikalisch-rhythmische Phantasie die Möglichkeiten, die die deutsche Lyrik für derartige Kompositionen bietet, begrenzt. Die meisten neueren deutschen Verse sind nun einmal nach Opitz entweder iambici oder trochaici, d.h. schlicht alternierend und ertragen infolgedessen nur einen 2 /4 Takt. Solche rhythmischen Kompositionen offenbaren die Bedeutung der Quantität für den deutschen Vers nicht, verschleiern sie viel­ mehr. Für den Sprachrhythmus - davon wird man ausgehen müs­ sen - ist die Quantität der Silben ohne Bedeutung. Daß eine be­ tonte Silbe etwas länger gehalten werden kann als eine unbetonte, ändert daran nichts; wir erleben einen dynamischen, keinen quan­ titativen Akzent. Auch für die Glieder des metrischen Akzents, die ja auf Grund der sprachlichen Akzentuierung gebildet werden, ist die Quantität ohne Bedeutung. Eine Takteinteilung, die dem nicht Rechnung trägt, hat, wie wir gesehen haben, etwas Will­ kürliches : es ginge auch anders und zwar einfacher. Auch in der situationsrhythmischen Gestaltung tritt die Quantität hinter der Schwere zurück. Gelegentliche Dehnungen von Silben bei leiden­ schaftlichem Ausdruck sind Mittel individueller Situationsgestal­ tung eines Sprechers; sie gehören zu den Klangfarben, nicht zum Rhythmus, in dessen Gang sie allenfalls eingreifen können. ’· Paul, Deutsche Metrik, S. 102E D3

Gelegentlich und vereinzelt treten im Vers Erscheinungen auf, die der Quantität eine gewisse Bedeutung für den rhythmischen Gang geben. Bei unserer Betrachtung von Goethes »Auf dem See« (S. 128) sind wir auf eine auffallende Erscheinung zunächst nicht eingegangen. Im letzten Teil des Gedichtes erscheint in jeder zwei­ ten Reihe jeweils an zweiter Stelle unter sonst zweiteilig fallenden ein dreiteilig fallendes Glied (schwebende, türmende, (be)schattete, reifende). Sie fügen sich in den zweizeitigen Gang in der Weise ein, daß die einfache Zeit der Senkung jeweils zweigeteilt wird. Saran bezeichnet diese Erscheinung als »Auflösung«80. Entsprechend der Struktur des Verses dürfen wir annehmen, daß alle Zeiteinheiten (sprachlich sind es Silben, als metrische Glieder bezeichnet Saran sie mit dem Ausdruck »Laschen«), ob sie eine Hebung oder eine Senkung tragen, gleich lang sind. Es handelt sich dabei nicht um einen absoluten, sondern um einen relativen Zeitwert, der je nach dem Zeitmaß des Gedichtes kürzer oder länger sein kann. Wir be­ zeichnen ihn als einfache Länge (Heusler nennt ihn »More«), weil er sich in zwei, drei oder mehr Kürzen teilen kann, deren Zeitmaß, da sie zusammen eine Länge ausmachen, entsprechend beschleu­ nigt ist. Es ist der metrische Rhythmus, der der Sprache diese Tei­ lung auferlegt; denn ihr eigener Rhythmus kennt, wie wir sahen, derartige Längenabstufungen nicht. Wir müssen also auch diese Erscheinung aus einem Konflikt zweier rhythmischer Kräfte ver­ stehen. Die dritte Kraft, der innere Rhythmus, wirkt hier weniger bestimmend als sinngebend; er nutzt den leichten Schritt geteilter Zeiteinheiten für das Ausdrucksgepräge des rhythmischen Ganges. So gibt er ihm in Goethes »Auf dem See« den Ausdruckswert schwebender Leichtigkeit. Fast überirdisch-magisch wirkt die Leichtigkeit des Schrittes dank vieler zwei-, ja dreigeteilter Zeit­ einheiten in Eichendorffs Gedicht »Die Nachtigallen«; der wiegende auf-absteigende Gang wird dadurch gleichsam entmaterialisiert: 80 Dt. Verskunst, S. 95ff. Heuslers Begriff der »freien Füllung« a.a.O. I, S. 31 ff. kann sehr Verschiedenes bedeuten, kann auf Auflösungen oder stei­ gend-fallendem Gang beruhen. Er beschreibt das Phänomen vom Takt, d.h. von außen.

H4

Möcht wissen,/ was sie schlagen / So schön bei / der Nacht, / s 'ist in der Welt ja / doch niemand, / Der mit ih-/ nen wacht. / Nacht, Wolken,/ wohin sie gehen / Ich weiß es / recht gut, / Liegt ein Grund /hinter den Höhen,/ Wo meine Liebste/ jetzt ruht. / Seltener ist die Teilung der einfachen Zeiteinheit in der Hebung, wohl, weil dem Gipfel des rhythmischen Schrittes damit ein Teil seiner Kraft geraubt würde. In Zweifelsfällen wird sie darum lieber in die Senkung verlegt; also: ».. . die türmende Ferne« = -Μ—Λ-, nicht: - / —/χ-. Ein Beispiel, in dem durch Teilung die Kraft der Hebung geradezu verdoppelt wird, bietet die Ballade »Das Herz von Douglas« von Moritz Graf Strachwitz in der zweiten Strophe: λ

Der Totenwurm pickt in Scones Saal, Ganz Schottland hört ihn hämmern, König Robert liegt in Todesqual, Sieht nimmer den Morgen dämmern! Die Schlüsse von R. z und 4 sind als Ausgänge auf einer Hebung gemeint. So verlangt es die hier verwendete Chevy-Chase-Strophe und so ist es auch durch das ganze Gedicht durchgeführt. Nur in Str. 4 findet sich an entsprechender Stelle nochmals die Teilung mit einem dem wuchtigen Pochen der 2. Str. ähnlichen Ausdrucks­ gepräge. Auf der anderen Seite können auch zwei Zeiteinheiten zu einer Überlänge verschmelzen (Saran bezeichnet das als »Zusammen­ ziehung«)81. Der alternierende Versgang wird dann in charakteri­ stischer und oft ausdrucksvoller Weise durch scheinbaren Zusam­ menstoß von zwei Hebungen durchbrochen, wie an der berühmten 81 Dt, Verskunst, S. 88ff. D5

Stelle in Schillers Ballade »Der Handschuh«: Den Dank, Dame, begehr ich nicht.« In der Hebung »Dank« ist die ihr folgende Senkung gleichsam enthalten, sie ist infolgedessen auf zwei Zeit­ einheiten gelängt. Solche »Zusammenziehungen« haben für den metrisch-rhyth­ mischen Gang eines Verses besondere Bedeutung,wenn sie am Schluß einer Reihe auftreten. Ihre Funktion ist dann, die rhythmische Be­ wegung ungebrochen durch die Strophe hindurchzutragen. Als Bei­ spiel dafür soll Goethes Gedicht »Der Musensohn« dienen: Durch Feld / und Wald / zu'schwei - /'fen Ein Lied- /chen weg-/ zu'pfei - /'fen So geht's/von Ort / zu Ort. / Und nach / dem Tak-/ te 're - /'get, a

λ

Und nach / dem Maß / be ’we - /'get Sich al-/les an / mir fort./

λ

a

Der situationsrhythmische Gang ist steigend. Die Reihen haben vier Hebungen, in R. 3 und 6 ist die letzte Hebung pausiert. In den zweisilbig schließenden Reihen 1, 2, 4, 5 ist die vorletzte Silbe, eine Hebung, auf zwei Zeiteinheiten gelängt, weil die ihr folgende Sen­ kung in ihr enthalten ist82. Die Endsilbe trägt dann die vierte He­ bung der Reihe. Es ist in allen Fällen eine sprachlich schwache Silbe; gehoben wird sie in schroffem Widerspruch zum Sprach­ rhythmus ; aber nicht der metrische Rhythmus allein, sondern auch der Situationsrhythmus, der etwas tänzerisch beschwingtes hat, verlangt diese Hebung. Der gleiche metrische Bau der Reihen könnte bei gelockerterem inneren Rhythmus eine andere Bewegung der Ausgänge nahelegen. So in Eichendorffs Gedicht »Allgemei­ nes Wandern«: Vom / Grund bis / zu den / Gipfeln, / So / weit man / sehen / kann, / Jetzt / blüht's in allen / Wipfeln, / Nun / geht das / Wandern / an. / a

a

a

a

82 So faßt es auch Saran auf. Dt. Verskunst, S. 91 f. X36

a

λ

Der rhythmische Gang ist hier fallend; er entspricht der gelösten, weltoffenen inneren Situation. So kann man in R. i und 3 die dritte Hebung nicht dehnen. Die letzte Silbe wird hier Senkung, die vierte Hebung ist wie in R. 2 und 4 pausiert. Heusler hat die verschiedenen Reihenausgänge in seinen Kadenz­ typen zu fassen und zu benennen versucht83. Unser Eichendorffgedicht »Allgemeines Wandern« hat nach ihm »stumpfe« Schlüsse, da die Reihen auf Pausen enden; in der ersten und dritten Reihe ist die Kadenz zweisilbig, also weiblich stumpf, in der zweiten und vierten einsilbig, männlich stumpf. Goethes »Musensohn« hat außer in den stumpfen Reihen 3 und 6 dank der gehobenen letzten Silbe »klingende« Schlüsse. Ist die vierte Hebung sprachlich ausge­ füllt, liegt »voller« Schluß vor. So in Goethes »Willkommen und Abschied«: Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde! Es war getan fast eh gedacht. . . In diesem Gedicht bedarf es keiner Pause, um die rhythmische Bewegung ungebrochen durch die Strophe zu leiten. Dennoch ge­ rät sie scheinbar ins Stocken, weil beim Übergang der zweisilbig schließenden Reihe zur nächsten zwei Senkungen aufeinanderstoßen. Eine pausierte Hebung zwischen ihnen, die die Bewegung weitertragen könnte, duldet aber die volle Vierhebigkeit der Reihe nicht. Man wird die Senkungslänge zwischen der Schluß- und Anfangshebung der beiden Reihen teilen, so daß die Schlußsenkung der ersten und die Anfangssenkung der zweiten Reihe Kürzen werden, die zusammen eine Zeiteinheit bilden. Mit Saran könnte man es auch als Lankenverschiebung bezeichnen: die Lanke, die in R. 1 eigentlich, wie die Kehre in R. 2, hinter die vierte Hebung fallen müßte, ist um des zweisilbigen Schlußwortes willen um eine halbe Zeit verschoben84. Die rhythmische Wirkung ist eine Straf­ fung des Wortrhythmus durch die metrisch-rhythmische Bewe­ gung: 88 Heusler a.a.O. vgl. besonders I, S. 146fr. 84 Saran, Dt. Verskunst, S. in.

D7

Es schlug / mein Herz, / geschwind / zu Pfer- /de! fis war / getan / fast eh / gedacht/ . . . Auch Pausen tragen die Bewegung weiter. Sie sind metrisch­ rhythmischer Herkunft, füllen die metrischen Gestalten, wo der Satz sie ungefüllt läßt. So sind es die unregelmäßigen, die drei- und fünfhebigen Verse, die zur metrischen Regelmäßigkeit der Vierund Sechsheber ergänzt werden wollen. Auch hier also ein Gegen­ einander von Sprach- und Versrhythmus: der eine hält an, wäh­ rend der andere weiterstrebt. Für den inneren Rhythmus ergibt sich daraus der Ausdruck der Gehaltenheit oder sogar der Geballtheit. In einzelnen Fällen benutzt der Situationsrhythmus solche Modi­ fikationen des rhythmischen Ganges auch unmittelbar und im Gegensatz zu den anderen rhythmischen Kräften. In dem ersten Harfenspielerlied aus Goethes »Wilhelm Meister« hat R. 3 der 2. Strophe einige Zusammenziehungen, die den Gang langsam und schwer machen; die durchgehende Dreihebigkeit (mit pau­ sierter 4. Hebung) zwingt dazu, auch diese Reihe dreihebig zu lesen: Ja! laßt mich meiner Qual! Und kann ich nur einmal Recht'ein- /'sam / sein, Dann bin ich nicht allein. Durch Einbeziehung der ihnen folgenden Senkungen sind hier die Hebungen um das doppelte der Zeiteinheit gelängt; es entsteht eine schroffe Spannung zum Vers- wie zum Wortrhythmus, die dem klagenden Ausdruck starke Gewichtigkeit gibt. Ein weiteres Beispiel: C. F. Meyers »Römischer Brunnen«. Die verkürzte Schlußreihe hatte ursprünglich dem metrischen Gange entsprechend gelautet: »Und alles strömt und alles ruht«. Die zweite Fassung »Und strömt / < und rüht. / / « dehnt die zwei Hebungen um das Doppelte ihres Zeitwerts, so daß sie die ihnen folgenden Senkungen mit enthalten, und ersetzt die beiden übrigen 138

Hebungen durch Pausen, die hier also ebenfalls situationsrhythmi­ scher Art sind. Denn nur aus der Situation des Gedichts läßt sich die Modifikation des rhythmischen Ganges, die Dehnung und Iso­ lierung der Worte »strömt« und »ruht«, verstehen. Am häufigsten finden sich Zusammenziehungen in Rhythmen dreizeitigen, also steigend-fallenden Ganges. Sie dienen der Modi­ fikation ihrer Bewegung und zwar im allgemeinen im Sinne einer stärkeren Betonung der Spannung, des Anstiegs. Dadurch, daß die der Hebung folgende Senkung in jene einbezogen wird, fällt der lösende Teil des Gliedes weg, während der spannende durch die Längung der Hebung besonders markiert wird. Doch bleibt auch bei Überwiegen der steigenden Schritte die spannend-lösende Grundbewegung für das rhythmische Erlebnis erhalten. Oft ge­ nügen nur wenige Zusammenziehungen, um dem Gedicht stei­ gende Tendenz zu geben, wenn nämlich der innere Rhythmus sie verlangt; er macht die Lösungen der Glieder mehr oder weniger unwirksam, so daß eine schwingende Bewegungsart mit vorwie­ gender Steigrichtung entsteht. So in Annette von Droste-Hülshoffs Gedicht »Am Turme«: Ich steh

/ auf hohem j Baikone / am Turm,

/

Umstrichen / vom schreien-/den Stare / Und laß / gleich einer / Mänade / den Sturm Mir wühlen / im flattern-/den Haare; / O wilder / Geselle, / o toi- /1er Fant,

/

Ich möchte / dich kräftig / umschlingen / Und, Sehne / an Sehne, / zwei Schritte / vom Rand Auf Tod

/

/

/ und Leben / dann ringen I /

Es kommt auch vor, daß die Zusammenziehungen so sehr über­ wiegen, daß sie den steigend-fallenden Gang fast völlig verdecken. Das scheint mir in Goethes »Nachtgesang« der Fall zu sein. Eine zweizeitig-jambische Rhythmisierung wird den stark gelängten Hebungen nicht gerecht. Die Ketten sind hier eigentlich sechs139

hebige Langzeilen (Riegen), die Reihen dann selbständige Halb­ reihen (Bünde). Wenn man die Reihen als Vierheber auffaßt, er­ geben sich übermäßige Pausierungen oder Längungen (drei bzw. vier Zeiteinheiten) oder eine zweimalige Durchbrechung des doch sehr streng metrischen Ganges (diese nimmt Saranan85). O gib,

/ vom wei-

/chen Pfüh-

/le,

Träumend, / ein halb

/ Gehör!

/

Bei mei-

/tenspie-

/le

/ du mehr?

/

/nem Sai-

Schlafe 1 / was willst

Nur an zwei Stellen jeder Strophe, an den Übergängen von R. i zu 2 und von R. 3 zu 4 kommt der steigend-fallende Gang zum Vor­ schein. Die Schlußsenkungen von R. 1 und 3 werden zu An­ sprungssenkungen der folgenden Reihe. Also, wenn man so will, eine Verschiebung der Lanke oder besser der Fuge. Auf diese Weise kommt der wiegende, zugleich aber sanft drängende Charak­ ter des situationsrhythmischen Ganges zum Ausdruck. Eine Strophe von starker Steigtendenz auf steigend-fallender Grundlage ist die sogenannte Chevy-Chase-Strophe, die aus der englischen Volksballade in die deutsche Balladendichtung über­ nommen worden ist. Der Situationsrhythmus der Heldenballade erzwingt die steigende Richtung in Graf Strachwitz1 Gedicht »Das Herz von Douglas«: Graf Dou-

/glas, presse / den Helm

Gürt um / dein lichtSchnall an

/blau Schwert,

/ dein schärf-

Und sattle / dein schnell-

/stes Spo/stes Pferd!

/ ins Haar,

/

/ΛΛΛ /renpaar / Λ

λ

/

Λ

Klopstocks Gedicht »Heinrich der Vogler«, das 1749 unter dem Titel »Kriegslied zur Nachahmung des alten Liedes von der Chevy85 Dt. Verskunst, bes. S. 114.

140

chase-Jagd« erschien, verwendet die Strophe im Deutschen zum ersten Mal und zwar in zweizeitig steigendem Rhythmus: Der Feind ist da! Die Schlacht beginnt! Wohlauf, zum Sieg herbei! Es führet uns der beste Mann Im ganzen Vaterland. In derselben Weise verwendet sie Gleim in den »Kriegsliedern eines preußischen Grenadiers«. Herders Übersetzung der »Chevy-Jagd« löst die Senkungen manchmal auf, behält aber den zweizeitig stei­ genden Gang im wesentlichen bei. Bei Heine, zuerst wohl in der Ballade »Die Grenadiere« und dann immer wieder, erhält sie steigend-fallenden Gang ohne betonte Steigtendenz; kennzeich­ nend für den lockeren Gang ist, daß R. 2 und 4 zweisilbig schlie­ ßen. Die Strophe wird später von den Berliner Balladendichtern besonders gepflegt. Chr. Friedrich Scherenberg verwendet sie in »Prinz Louis Ferdinand« in zweizeitig steigendem Gang, während sie bei Graf Strachwitz und bei Fontane in den Douglas-Balladen dreizeitig steigend-fallend mit der dieser heldischen Strophe nun einmal eigenen Steigtendenz erscheint. Wie der innere Rhythmus die Auffassung des rhythmischen Ganges bestimmen kann, soll eine Gegenüberstellung zweier Ge­ dichte zeigen: Zunächst Annette von Droste-Hülshoffs »Im Grase«: Sü-/ße Ruh, sü-/ßer Taumel / im Gras, von / des Krautes /Arome / umhaucht, Tie-/fe Flut, tief /tief trunk- /ne Flut, Wenn / die Wolk am / Azure / verraucht, Wenn / auf's mü- /de, schwimmen-/de Haupt Sü- /ßes La- /chen gaukelt /herab, Lie-/be Stirn- /me säuselt / und träuft, Wie / die Lin-

/denblüt auf / ein Grab. 141

Der Situation entspricht die wiegende Bewegung des steigend­ fallenden Rhythmus, die irgendwelche Steigtendenzen nicht aufkommen läßt, sich auch über sprachrhythmische Akzente mehr­ fach hinwegsetzt. Gelegentliche Schnitte (R. i und 3) gehen in dem Schwingen unter. Die Anfangssenkung jeder Reihe bildet den Abstieg des letzten Gliedes der vorhergehenden Reihe, das erst mit ihm vollständig wird. So schwingt die Bewegung ungebrochen durch die Strophe, ja über die Strophengrenzen hinweg in die nächste. Das Glied, das am Schluß des Gedichts steht, verlangt zu seiner Ergänzung die überzählige Senkung, mit der es beginnt. So schließt sich das Ganze wie ein Ring zusammen. In dieser Weise gelesen bilden je zwei dreihebige Reihen eine sechshebige Verseinheit. Faßt man die Reihen als Vierheber auf, so läuft die Bewe­ gung am Schluß jeder Reihe durch eine Pause, und zwar ist dann die letzte Hebung gelängt, außerdem eine anspringende Senkung und deren Hebung pausiert: Sü-/ße Ruh, sü-/ßer Taumel / im Gras

/ ΛΛ

Von /des Krautes/Arome /umhaucht / Λ A............ Auf den ersten Blick scheint Stefan Georges Gedicht »Traum und Tod« einen ähnlichen Gang zu haben; der Situationsrhythmus aber sträubt sich gegen die wiegende Bewegung. Auch die sprachrhythmischen Akzente, die z. B. auf die Anfangsworte der Reihen fallen, lassen sich nicht unterdrücken; sie verlangen, daß die Reihe sechshebig gelesen wird. Nach der zweiten Hebung setzt sich eine Fuge durch. Der metrisch-rhythmische Gang ist trochäisch, 2/4 Takt, die zweite, vierte und sechste Hebung sind mit der ihr folgen­ den Senkung zu einer Überlänge verschmolzen: Glanz und / rühm!

/so er-/wacht

/ unsre/weit

/

Helden-/gleich /bannen/ wir / berg und /beit / Jung und / groß

/ schaut der / geist

/ ohne/vogt

Auf die /flur / auf die / flut / die um-/wogt. / 142

/

Durch die Zusammenziehungen wird die fallende Bewegung immer wieder aufgefangen und ins Steigen gewendet. Diesen Steigcharak­ ter betont auch der innere Rhythmus, er wirkt wie ein unaufhalt­ samer, sich gegen Widerstände (der metrisch-rhythmischen Fall­ neigung) durchsetzender Schritt. Neuere Gedichte behandeln manchmal den rhythmischen Gang sehr frei; das Metrisch-Rhythmische scheint, wenn es überhaupt faßbar wird, vom Satz- und Situationsrhythmus immer wieder durchbrochen zu werden. Doch wenn ein metrischer, kein Prosa­ rhythmus vorliegt, dann setzt sich seine die anderen rhythmischen Kräfte ausgleichende, stilisierende Wirkung auch durch, ohne der Freiheit der Bewegung zu schaden. Hier zwei Strophen des Ge­ dichts »Schuttablage« von Günter Eich: a

Ueber / den Brenn- /-nissein /beginnt, /

a

kei- /ner hört sie / und jeder,

/a

a a/

die Trauer / der Welt, / es rührt / der Wind / v u die Elas- /tik einer /Matrat- /zenfeder. / Wo sich verwischt /die golde-/ne Tas-

/senschrift, /

im Schnörkel/ von Blume / und Trauben/ a

wird

a

Lie- /be Hoffnung / und Glauben. /

aa a/

/mir lesbar,/- oh wie es/ mich trifft:

/

a a a

Die vierhebigen Reihen haben steigend-fallenden Gang, der durch die Unregelmäßigkeit seiner Modifikationen etwas Saloppes hat, der aber durch Zusammenziehungen und Pausen zu eindringlichen Ballungen gelangt. In dem Wort »Brennesseln« in R. i stoßen zwei Überlängen zusammen, die zweite hat, ein seltener Fall, die an­ springende Senkung einbezogen.

143

4· Der Gang der Verse in antiken Maßen a) Die Odenmaße

Auch der Gang der deutschen Odenmetren, die aus der Antike übernommen sind - das alkäische, das asklepiadeische und das sapphische kommen in Betracht - wird, so streng metrisch gebun­ den er erscheint, letztlich durch den Situationsrhythmus bestimmt. In der Antike konnten diese Verse ohne Schwierigkeiten zweiund dreizeitige Füße, also etwa Jambotrochäen und Daktylen oder Anapäste, in einer Reihe zusammenstellen; der statische antike Rhythmus ertrug einen mehrfachen Taktwechsel innerhalb klei­ ner metrischer Einheiten. Unser dynamisches Rhythmusgefühl sträubt sich dagegen, wir empfinden ihn als gewaltsame Hemmung des rhythmischen Flusses, und auf diesen kommt es vor allem an. Das muß zu einer Vereinheitlichung der Bewegung auf Kosten des Reichtums der rhythmischen Figuren führen, wir wollen auch in den antiken Maßen den einheitlichen rhythmischen Gang erleben88. Eine antike gemischte Strophe läßt uns nun die Wahl, ihren Gang durch die im Deutschen (im Gegensatz zur Antike) zweizeitigen Jambotrochäen oder durch die im Deutschen drei­ zeitigen Daktylen und Anapäste bestimmen zu lassen. Hölderlins alkäische Ode »An die Parzen« würde her zweizeitiger Gliederung fallenden Gang haben: Nur /Einen /Sommer/ gönnt, ihr Ge-/walti-/gen! Und /einen /Herbst zu /reifem Ge-/sange/ mir, Daß/willi-/ger mein / Herz, vom /süßen/ Spiele ge-/sättiget/ dann mir/ sterbe./ Auch die Daktylen in R. i, 2 und 4 würden dabei durch Zweitei­ lung der Senkung zweizeitig werden wie die Jambotrochäen. Bei dreizeitiger Gliederung erhält die Ode steigend-fallenden Gang: 86 Heusler (a.a.O. III, S. 202fr., 209t.) sucht den Odenmetren dadurch ge­ recht zu werden, daß er bei gleichem Takt wechselnde, aber für die einzelnen Takte vorbestimmte Füllungen annimmt.

144

Nur Ei- / nen Som- /mer gönnt ihr/ Gewal- /tigen! / Und ei-

/ nen Herbst

Daß wil-

/liger

/ zu reifem / Gesan/ mein Herz

Spiele /gesätti-/get dann

/ge mir, /

/ vom sü-

/ßen

/ mir sterbe./

In den steigend-fallenden Gliedern kann die Grundbewegung sich ausschwingen. Sie bleibt auf diese Weise erhalten, obwohl die Zusammenziehungen überwiegen und dem Gang eine steigende Tendenz geben. In diesen Strophen hat ja jedes Glied, und darum auch jede Zusammenziehung und jede Teilung einer Zeiteinheit, ihren vorgeschriebenen Platz. Nur kleine Umstellungen und Vari­ anten sind möglich. Das hat zur Folge, daß auch der Situations­ rhythmus nur beschränkte Möglichkeiten findet, in den metrisch­ rhythmischen Gang modifizierend oder umgestaltend einzugreifen; ebenso wie der Sprachrhythmus muß er sich jenem im wesentli­ chen fügen. Allerdings bestimmt er die Grundtendenz insofern, als nur er darüber entscheiden kann, ob der Rhythmus als zweizeitig, also fallend oder als dreizeitig, also steigend-fallend mit überwie­ gender Steigtendenz, aufzufassen ist. Die der Ode oft eigene schwungvolle, sich dem Hymnischen nähernde Haltung, legt den dreizeitigen Gang nahe. So auch in der Parzenode. Eine mehr lied­ haft-gefühlsbetonte Haltung führt zu zweizeitiger, fallender Rhyth­ misierung. So in Höltys alkäischem Gedicht »Auftrag«: Ihr /Freunde,/hänget,/wann ich ge-/storben/bin, Die/kleine/Harfe/hinter dem /Altar/auf, Wo/an der/Wand die/Todten-/kränze/ Manches ver-/storbenen/Mädchens/schimmern. / Aus einer anderen, nämlich distanziert betrachtenden Haltung, kommt es in Platens sapphischer Ode »Der bessere Teil« wie in den meisten Oden Platens ebenfalls zu fallendem Gang: Jung und/harmlos/ ist die Na-/tur, der/ Mensch nur/ Altert,/ Schuld auf-/häufend um-/her und /Elend;/ 145

Drum ver-/hieß ihm/ auch die ge-/rechte/Vorsicht/ Tod und Er-/lösung./ Der sapphischen Ode liegt dank dem Überwiegen der Trochäen der fallende Gang wohl besonders nahe. Es scheint, als könne sich der eine Daktylus, der in Reihe 1-3 jeweils an der gleichen, in der Regel der dritten, Stelle steht, nicht durchsetzen; er wird zu einem fallenden Glied mit geteilter Zeiteinheit in der Senkung. Wenn dagegen der Daktylus gegen die klassische Regel an den Reihen­ anfang, also an eine den rhythmischen Gang stärker beherrschende Stelle vorgeschoben ist, wie das bei Klopstock in jeweils der ersten Reihe seiner sapphischen Oden der Fall zu sein pflegt, so kann man das vielleicht als metrischen Hinweis auf ein steigend-fallendes Rhythmuserlebnis auffassen, das bei Klopstock auch durch den in­ neren Rhythmus zwingend nahe gelegt wird. So in der Ode »Mein Wäldchen«, aus der hier die Schlußstrophe steht (Klopstock pflegt den Daktylus in den Reihen weiterzuschieben, in der zweiten an die zweite, in der dritten an die dritte Stelle): Wenn von/dem Sturm /nicht mehr /die Eich' /hier rau- /sehet Kei

/ne Lispel/mehr wehn

Dann

/sind Lie-

/von die-

/serWei-

/der noch, die/von Her-

/zen ka-

/de, /men,

Gingen / zu Herzen./ Es kommt dabei zu vielen Zusammenziehungen; sie geben dem Gang besonders große Steigintensität. Demgegenüber läßt die Schlußreihe die Glieder in ihrem Auf-ab voll ausschwingen und betont dadurch wie durch ihre Kürze ihre strophenrhythmische Lösungsfunktion. Wieder ist die letzte Senkung jeder Reihe als anspringende der folgenden aufzufassen, die ihr voraufgehende Hebung ist also gelängt. Wenn man das auch für die Schlußreihen durchführt (»Gingen/zu Her- /zen.«), fließt der rhythmische Strom über die Strophengrenzen hinweg und verbindet schließlich das Ende mit dem Anfang: die Schlußsenkung des Gedichts ersetzt die fehlende Anfangssenkung. 146

Diese Intensität des zum Steigen gewendeten steigend-fallenden Ganges erleben wir auch in den sapphischen Oden Josef Wein­ hebers bei dem, wie übrigens auch bei Klopstock, die rhythmische Verbindung über die Strophen hinweg sehr oft auch vom Satz vollzogen wird. Das zeigt etwa die Ode »Kaisergruft«: Schweig! hier und

/Besinnst

/dem Weg /was groß

/Tritt ein in/die Nacht!

/ein Ziel. Was/befahl /war, ruht: Das/gekrön-

alle/die Händ'

/gesetzt

/ist

/beschied

/sich,

/te Haupt

/und

/der

Ta- /ten, Schwert /und Kreuz, ü-/berkomm /ne Kraft /des Zep- /ters, Schlacht /und Sieg, und/der Fah- /nenwil- /der Schwung, /und Schild /voll Prunk, und /des Ad- /lers erz- /und erbli-/ches Zei-

/chen.

Besondere Wucht erhält der rhythmische Gang hier dadurch, daß er über einige markante Schnitte der satzrhythmischen Gliederung hinwegschreitet; sie fallen oft in die Glieder, spannen sich gegen deren Verlauf und erhöhen die Spannkraft des Rhythmus. Demgegenüber haben die teilweise auch gereimten sapphischen Oden, die bereits im 16. und 17. Jahrhundert in der deutschen, vor allem geistlichen, Liederdichtung auftauchen, zweizeitig fallenden Gang. Das ist z. B. in dem Passionschoral von Johannes Heermann der Fall, obwohl die Daktylen hier durchweg an die erste Stelle geschoben sind: Herzliebster /Jesu,/was hast /du ver-/brochen,/ Daß man ein/ solch scharf/ urtheil/ hat ge-/sprochen?/ Was ist die/ schuld? in/was für/misse-/thaten/ Bist du ge-/rathen?/ Die asklepiadeischen Strophen, von denen in der deutschen Dichtung vorwiegend die kleine üblich ist, haben als besonderes Kennzeichen eine Zäsur, eine Pause von einer für eine Senkung 147

stehenden Zeiteinheit mitten in den ersten zwei (bzw. drei) Reihen. Daß dadurch zwei nicht ganz gleich gebaute, sich vielmehr spiegel­ bildlich entsprechende, dreihebige Teile entstehen, ändert nichts an dem Reihencharakter der Zeile. Während die dritte Reihe in der großen asklepiadeischen Strophe mit den beiden ersten über­ einstimmt, gleicht sie in der kleinen deren erstem Teil, nur daß sie auf einer Senkung, nicht wie jener auf einer Hebung schließt. Auch diese Strophe kann sich je nach ihrem inneren Rhythmus fallend oder steigend-fallend bewegen. Höltys asklepiadeische Oden fin­ den im allgemeinen nicht die Weite des Schwunges, die zum stei­ gend-fallenden Gang führt. Ihr Schritt ist bei aller Innigkeit meist zu leicht dafür. So die Ode »Das Landleben«: Wunder-/seliger/Mann, /welcher der /Stadt ent-/floh! / Jedes /Säuseln des /Baums, /jedes Ge-/räusch des/Bachs, Jeder/ blinkende/ Kiesel/ Predigt /Tugend und/Weisheit/ihm! / a

a

a

a/

a

Dieser schlicht fallende Gang genügt dem fast hymnischen Schwung nicht, der gerade den asklepiadeischen Oden oft eigen ist. Klop­ stocks Ode »Der Zürchersee« wird darum steigend-fallend zu lesen sein: a

Schön /ist, Mutter/Natur,

AAuf / die Fluren/verstreut, λ

Das

Dei-

/ den großen /Gedan-

/a

deiner/Erfin- /düng Pracht, / schöner/ein froh /Gesicht, /

/a

/ken

/ner Schöpfung/ noch ein-

/mal denkt.

/

Wieder tragen die Zusammenziehungen die kraftvolle Steigtendenz des Ganges, dessen steigend-fallende Grundlage dem Schwünge des Situationsrhythmus zugute kommt. Die Pause der Zäsur steht jetzt für eine anspringende Senkung; ihr entsprechen pausierte Anfangssenkungen vor R. 1-3, während R. 4 die Schlußsenkung von R. 3 als Ansprung benutzt. Diesen schwingenden rhythmischen Gang haben auch die mei­ sten von Hölderlins asklepiadeischen Oden; so »Heidelberg« (hier Str. 4): 148

λ

Und /der Jüngling,/der Strom,

a

Trau- /rigfroh, wie/das Herz, /Awennes,/ sich selbst /zuschön, /

AlleIn

/bend unter-/zu geh/die Fluten /der Zeit

/a

fort in/die Eb- /ne zog, /

/hen, / sich wirft.

/

Klopstock hat die antiken Metren mehrfach abgewandelt und weitergebildet, und zwar hat er seine Strophen im allgemeinen für ein bestimmtes Gedicht geschaffen. Darum gehen in ihnen Vers-, Sprach- und Situationsrhythmus im wesentlichen zusammen, und es kommt selten zu schroffen Spannungen zwischen ihnen, so vielfältig und formenreich diese rhythmischen Kompositionen auch sind. Wie die freien Rhythmen, nur metrisch stilisierend, suchen sie dem inneren Rhythmus Ausdruck zu geben. Das soll die Ode »Die frühen Gräber« zeigen, deren rhythmischer Gang komplizierter ist, als es das Schema, das ihr der Dichter vorangestellt hat, vermuten läßt: Willkommen, / o silber-/ner Mond, a

Schö-

/ner, stiller/Gefährt

/

/der Nacht!

/

Du ent-/fliehst? /Eile /nicht, /bleib, Ge-/danken-/freund! / a

Sehet,/ er bleibt, das / Gewölk

/a

wallte/ nur hin.

/

R. i gibt die steigend-fallende Grundbewegung an, die in R. 2 er­ halten bleibt, wenn auch die Zusammenziehungen ihr steigende Tendenz geben. Ihre Anfangssenkung ist ausgefallen, sie wird als Pause mitgefühlt. R. 3 aber bringt eine völlige Änderung des rhythmischen Ganges, einen Bruch, der zum Taktwechsel führt: statt des dreizeitigen jetzt ein zweizeitiger Takt, dazu eine fallende Bewegung, die im zweiten, vierten und letzten (siebenten) Glied durch eine Zusammenziehung aufgefangen wird und sich dabei geradezu umkehrt. Etwas Ähnliches hatten wir in Stefan Georges »Traum und Tod« (S. 142) gefunden. Der Übergang von einer rhythmischen Gangart zur anderen wirkt plötzlich und über­ raschend, ist aber dem Ausdruck der Stelle angepaßt. R. 4 lenkt in 149

weniger schroffem Übergang in die steigend-fallende Grundbewe­ gung zurück. Die fallende R. 3 ist siebenhebig, d. h. eine Kette, die aus einer vier- und einer dreihebigen Reihe mit pausierter vierter Hebung besteht: Dü ent/fliehst?

/ Elle / nicht,

Bleib Ge/dänken/freund,

/

/λ */

Diese Pause enthält die ebenfalls pausierte anspringende Senkung von R. 4 bereits in sich. R. 4 hat eine Pause nach der gelängten dritten Hebung »Gewölk«; die Ansprungssenkung zum folgenden Glied »wallte« ist ausgefallen. Die Ausdruckskraft der Modifikation des rhythmischen Ganges durch Zusammenziehungen und Pausen wird besonders deutlich, wenn man versucht, sie dadurch, daß man sie mit Wortmaterial füllt, wegfallen zu lassen und den Gang des Gedichtes auf diese Weise gleichsam einzuebnen. Das Gedicht wird dadurch, abgesehen davon, daß es in seiner Sprachgestalt zerstört wird, in seinem Rhythmus aufs äußerste geschwächt: Willkommen,/ o silber-/ner Mond, 0/ Du schöner,/du stiller/ Gefährte/ der Nächte!/ Du ent-/fliehest?/ Eile/nimmer,/bleib Ge-/danken-/freund doch/ bei mir/ O sehet,/ er bleibt, das /Gewölke/ das wallte/vorüber./ b) Hexameter und Pentameter

Der antike Daktylus ist ein zweizeitiger Fuß. Von den zwei glei­ chen Zeiteinheiten des Spondeus, die als Längen gelten, wird die zweite in zwei Kürzen untergeteilt. So kennt der aus Daktylen und Spondeen zusammengesetzte antike Hexameter im Gegensatz zu den Odenmaßen keinen Taktwechsel. Die Nachbildung des Daktylus im Deutschen ist dreizeitig; sie setzt für die Länge eine Hebung, für die Kürzen zwei Senkungen. Da jede von diesen eine Zeiteinheit, die wir Länge (S. 134) genannt haben, in Anspruch nimmt, besteht der Daktylus aus drei Zeiteinheiten. Er bestimmt, IJO

als eigentlich kennzeichnendes Glied, den Gang des deutschen He­ xameters, der damit dreizeitig wird. So sind die notwendig zwei­ zeitigen Spondeen aus ihm ausgeschlossen; sie werden aber auch nicht etwa zu Trochäen, denn auch die sind ja in der Übertragung ins Deutsche zweizeitig. Dem antiken Spondeus entspricht im deut­ schen Hexameter ein dreizeitiges Glied, das aus einer verdoppelten Länge, also einer Zusammenziehung, und einer einfachen Länge besteht. Die Unklarheit über diese Verhältnisse, besonders über die Frage des Spondeus im Deutschen, hat nicht nur die Theorie, sondern auch die Praxis des deutschen Hexameters im 18. und 19. Jahrhundert immer aufs neue auf Abwege geführt. Erst Heuslers Untersuchungen haben Klarheit darüber geschaffen87. So ist der Gang des deutschen Hexameters dreizeitig. Der Situa­ tionsrhythmus hat keine Möglichkeit, daran etwas zu ändern. Seine Bewegungsrichtung ist aber damit noch nicht festgelegt. Zwar neigen, wie wir wissen, die dreizeitigen Glieder zu steigend-fallen­ der Bewegung; diese kann aber vielfältig modifiziert werden, kann mehr Steig- oder auch mehy Fallgepräge erhalten. Der metrische Rhythmus des Hexameters wirkt, da sowohl die Füße als auch die Takte mit der Hebung beginnen und zu den Senkungen abfallen, im Sinne eines fallenden Ganges. Der Sprachrhythmus dagegen begünstigt im allgemeinen den steigend-fallenden Gang, der dem Wortrhythmus des Deutschen wesentlich näherliegt als der drei­ zeitig fallende. Gewiß kann es vom Wortrhythmus her zu fallen­ der Bewegung kommen; sie wird aber im allgemeinen nicht lange durchgehalten, strebt vielmehr immer bald in die steigend-fallende zurück, die sich oft wohl auch gegen die Absicht des Dichters und eine von dem Willen zur Nachahmung des antiken Hexa­ meters geleitete Konstruktion durchsetzt. Das ist deutlich am An­ fang von Goethes »Hermann und Dorothea« zu erkennen; fallende Wortfüße kommen nur als erste Glieder vor, weil die Reihe mit der Hebung beginnt, im übrigen sind sie steigend-fallend oder zweiund mehrteilig steigend; eine Wortfußgliederung stellt sich fol­ gendermaßen dar: 87 A. Heusler, Deutscher und antiker Vers, 1917. DI

Hab ich den Markt/und die Straßen/doch nie/so einsam gesehen!/ Ist doch die Stadt/wie gekehrt! /wie ausgestorben!/ Nicht fünfzig,/ Deucht mir,/blieben zurück/von allen/ unsern Bewohnern./ Vom Metrischen her wird diese steigend-fallende bis steigende Bewegung unterstützt durch die Mittelfuge, die bei Zusammenzie­ hungen regelrecht nach der dritten Hebung, sonst nach der dieser folgenden Senkung steht. An derselben Stelle steht im Pentameter die Zäsur, d. h. die Pause für die anspringende Senkung des vierten auf-absteigenden Gliedes; Fuge und Zäsur zerschneiden also den Daktylus, nicht dieses Glied. So im Anfang von Goethes »Römi­ schen Elegien«, in dem auch vom inneren Rhythmus her wohl steigend-fallende Bewegung anzunehmen ist: λ

Sa-

/get,Steine,/miran, /'o sprecht,

/ihr hohen/Palä- /ste!

Stra- /ßen, redet/ein Wort! / ^Geni-/us, regst du/dich nicht? / Λ Ja, es/ist alles/beseelt

/'in dei- /nen heili-/gen Mau-

/ern,

Ewi- /ge Roma!/nur mir / Λ schweiget /noch alles/ so still. / Die rhythmische Bewegung fließt vom Hexameter ohne Pause in den Pentamter über, die letzte Senkung des Hexameters wird zum Ansprung des Pentameters, die ihr voraufgehende Hebung ist ge­ längt. Vor dem Hexameter fühlen wir die anspringende Senkung als Pause; sie entspricht der Zäsurpause im Pentameter. Wohl aus dem Gefühl für den sprachbestimmten Grundrhythmus des deutschen Hexameters hat Ewald v. Kleist in seinem Gedicht »Der Frühling« (1749) die Anfangssenkungen der Reihen großen­ teils ausgefüllt. Wo das nicht geschehen ist, fühlen wir uns wieder veranlaßt, die Schlußsenkung der vorhergehenden Reihe herüber­ zunehmen : Mir we-

/he Zephir/aus euch,

/'durch Blumen/und Hecken/ noch öf-

Ruh und/Erquickung/ins Herz.

/'Laßt mich

/den Vater/des

Weltbaus,/ 152

/ter

Der Se-

/gen über/euch breitet/'im Strah-

/lenkreise /der Sonne,/

Im Tau

/und Regen,/'noch ferner/in eu-

/rer Schönheit/ verehren/

Und melden/voll heili-/ger Regung/'sein Lob

/antworten-/den

Sternen./ Und wenn,

/nach seinem/Geheiß,

/'mein Ziel

/des Lebens/

herannaht,/ Dann sei /mir endlich/in euch /'die letz- /te Ruhe/verstattet./ In der überwiegenden Zahl vor allem der epischen Hexameter wird der durch den Sprachrhythmus nahegelegte auf-absteigende Gang durch den inneren Rhythmus bestätigt. Der verhältnismäßig neutrale, ruhig wiegende Gang entspricht wohl der Distanz der Erzählhaltung. Die Unmittelbarkeit situationsrhythmischen Aus­ drucks gehört zur Lyrik, und so macht sich im lyrischen Gebrauch des Hexameters der innere Rhythmus stärker bemerkbar als im epischen. Auf der Grundlage der steigend-fallenden Bewegung kann er dem Gang des Verses steigende oder fallende Tendenz geben oder er kann die Grundbewegung situationsrhythmisch stei­ gern, so daß aus dem schreitenden Auf-Ab ein Schwingen wird. Drei Beispiele aus der Elegiendichtung der deutschen Klassik sollen das zeigen88. Die Distichen von Goethes Elegie »Euphrosyne« ha­ ben eine Neigung zu fallendem Gang, wie es dem lösenden Gefühls­ ausdruck entspricht, der ihren Situationsrhythmus bestimmt: Laß nicht/unge-/rühmt mich/zu den/Schatten hin-/abgehn!/ Nur die /Muse ge-/währt / einiges/ Leben dem/ Tod. / Denn ge-/staltlos/schweben um/her in/Persepho-/neias/ Reiche,/massen-/weis, / Schatten vom /Namen ge-/trennt. . ./ 88 Eine ausführliche Analyse dieser drei Elegien habe ich durchgeführt in: Zur Physiognomik des Gedichts (Sprechkundliche Arbeiten, her. v. Walter Wittsack) 1956. 153

Es handelt sich dabei aber nur um eine Tendenz des unverändert dreizeitigen, steigend-fallenden Rhythmus. Beide Richtungen ste­ hen in einer die Eindringlichkeit des Rhythmus steigernden Span­ nung zueinander. In derselben Weise haben die Distichen von Schillers »Nänie« aus der eindringlichen Gespanntheit ihrer Situa­ tion steigende Tendenz: Auch /das Schö-/ne muß ster-/ben! Das Men-/sehen und Göt-/ter bezwin-/get, Nicht/die e-/herne Brust/ rührt/es des sty-/gischen Zeus./ Ein-/mal nur/ erweich-/te die Lie-/be den Schat-/tenbeherr/scher, Und/an der Schwel-/le noch, streng,/ rief/ er zurück/sein Geschenk. / Hölderlins Elegie »Achill« steigert aus hymnisch-preisender Hal­ tung die steigend-fallende Grundbewegung zum Schwingen: Herrli-/cher Göt-/tersohn!/da du die/Geliebte/verlo-/ren, Gingst du/ans Meer-/gestad,/ weintest/hinaus in/die Flut, / We-/heklagend/hinab /verlangt in /den heili-/gen Ab-/grund, In /die Stille/dein Herz,/ wo, von/der Schiffe/ Gelärm / Fern,/tief unter/den Wogen,/in friedli-/cher Grotte/ die blau-/e The-/tis wohnte,/die dich / schützte,/die Göttin/des Meers./

D4

Die rhythmischen Ballungen i. Abstufung und Ausgleichung der Hebungsgewichte Der gegliederte Spannungsverlauf, den wir rhythmisch nennen, führt zu Ballungen, da er sich an den Einschnitten staut, und zwar um so stärker, je tiefer der Einschnitt ist. So hat jedes Glied eine ihm entsprechende Ballung, in der es gipfelt. Je höher der Rang eines Gliedes im Ganzen eines Spannungssystems, desto tiefer der ihm folgende Einschnitt, desto schwerer also seine Ballung. Wie wir gesehen haben, ist dieses rhythmische System im Satz verwirklicht (vgl. obenS. 22#.). Dem metrischen Rhythmus dagegen scheint es nicht zu entsprechen. Dieser ist im Gegenteil bestrebt, die Gipfel durch das Nacheinander gleichgewichtiger Teile einzu­ ebnen. Doch sind diese Teile in sich abgestuft, bilden schwere und leichte Taktteile, Hebungen und Senkungen: das rhythmische Leben des metrischen Rhythmus pulst vor allem in seinen kleinen Gliedern. Soweit der Rhythmus des Verses metrisch ist, hat er daran teil durch den geregelten Wechsel schwerer und leichter Hebungen, und zwar kann er sich einerseits als gerader oder unge­ rader Takt, anderseits als Kurz- oder Langtakt darstellen. Der im Vers übliche gerade Kurztakt ist der 2/4 Takt, der ungerade Kurz­ takt der % Takt (gelegentlich soll sich auch ein Takt als s/2 Takt (Ländlertakt) auffassen lassen; doch setzt das eine musikalisch­ metrische Rhythmisierung voraus): 2/„ χ_μ_μ_μ_

®/4 χ__μ__μ__μ__|

Langtakte sind der 4/4 und der */g Takt: V« Ζ_ί._μ_Χ_|2_±_|ζ_2._ y8 ζ__

Also sprächen die Männer sich ünterhältend. Die Mütter Ging indässen, den Sohn erst vor dem Häuse zu suchen, Aüf der steinernen Bänk, wo säin gewöhnlicher Sitz war. Als sie dasälbst ihn nicht fänd, so ging sie, im Ställe zu schäuen Ob er die härrlichen Pfärde, die Hängste, sälber besörgte, Die er als Fohlen gekäuft und die er niemand verträute. Und es sägte der Knecht: er Ist in den Gärten gegängen. Satzrhythmisch geballte Silben werden im Vers immer zu Haupt­ hebungen. Die Funktion der Nebenhebung können nur Silben übernehmen, die im Spannbogen des Satzes als unbetont gelten müssen, aber als Hauptsilben eines Wortes Träger der Wortbe­ tonung sind; es können auch Silben sein, die in längeren Worten einen Nebenakzent haben, wie in unserm Beispiel in R. i die erste Silbe des Wortes »unterhaltend«. Die Gewichtsstufe dieser He­ bungen können wir mit Saran als »halbschwer« bezeichnen; im Vers heben sie sich deutlich von den »leichten« Senkungen ab. Es empfiehlt sich, Sarans Differenzierung noch einen Schritt weiter zu folgen und von der betrachteten Gruppe der »Halbchweren« die »Kaumschweren« zu sondern. Es sind das Silben, die nur durch ihre Nebenhebungsfunktion im Vers über die Senkungen emporgehoben werden. Sprachlich sind sie unbetont, da sie keiner­ lei Wortakzent mehr tragen. Meist sind es einsilbige Wörter, Pro176

nomina, Konjunktionen, Hilfsverben u. ä., d. h. Silben, die eine gewisse Akzentfähigkeit besitzen. In Ausnahmefällen werden aber auch sprachlich nicht betonungsfähige Silben wie Endsilben von Wörtern auf diese Stufe gehoben, um die Funktion der Neben­ hebung zu übernehmen. So in Hölderlins Ode «Heidelberg«: Aber schwer in das Tal hing die gigantische Schicksalskundige Burg, nieder bis auf den Grund Von den Wettern zerrissen . . . In R. i ist die letzte Silbe eine Hebung; die sprachlich unbetonte Endsilbe »-sehe« muß daher beschwert werden; auch das sprachlich unbetonte »aber« in R. i, »auf« in R. 2, »von« in R. 3 sind gehoben. Eine immer wieder umstrittene Frage ist, ob auch in weniger streng gebundenen, mehr vom Sprachrhythmus bestimmten Versen solche sprachlich unbetonten Silben die Schwere tragen können, die sie als Hebungen kennzeichnet und von den Senkungen unterscheidet. Folgende Verse (Eichendorff, »Auf einer Burg«) sollen das Pro­ blem deutlich machen: Eingeschlafen auf der Lauer Oben ist der alte Ritter; Drüben gehen Regenschauer, Und der Wald rauscht durch das Gitter. Hebungen, die auf sprachlich unbetonte Silben fallen, finden wir in R. 1 (»auf«), R. 2 (»ist«), R. 4 (»und«, »durch«). Man pflegt diese Verse darum als tatsächlich nur drei-, bzw. zweihebige auf­ zufassen und zu lesen, wobei sich dann sogar noch ein durchgehen­ des rhythmisches Motiv x x 1 x (»auf der Lauer« usw.) ergeben würdeBe. Diese Auffassung läßt die Grenze zwischen Vers und Prosa außer acht. Den neueren deutschen Vers kennzeichnet seine me­ trische Bindung, deren Grundlage der regelmäßig von Hebung zu Senkung schreitende Gang ist. Alle Variationen und Modulationen ” Wolfgang Kayser vertritt, wie schon erwähnt, u.a. diese Auffassung. Vgl. Kl. dt. Versschule. bes. S. 103 ff. und »Vom Rhythmus in deutschen Gedichten«, Euphorion 59, S. 487ff. 177

dieses Ganges, die wir bisher kennen gelernt haben, berühren sein Prinzip nicht, diese Auffassung aber durchbricht es. Das Ergebnis kann nur sein, daß für den Versrhythmus der Rhythmus des Prosa­ satzes eintritt. Die Aufgabe dieser kaumschweren Hebungssilben ist aber gerade, dafür zu sorgen, daß der Vers nicht in die Prosa zu­ rücksinkt, daß sein Gang erhalten bleibt: eine Lückenbüßer­ funktion. Im Gegensatz zur Halbschwere und Vollschwere hat die Stei­ gerungsstufe der »Überschwere« keine metrisch-rhythmische Funk­ tion. Überschwere Silben können, wie die vollschweren, im abge­ stuften Vers als Haupthebungen dienen, doch genügen dazu in jedem Falle vollschwere Silben. Auch im ausgeglichenen Vers kön­ nen für die vollschweren Hebungen, dann aber für alle, über­ schwere eintreten; das haben wir an der Hölderlin-Strophe auf S. 169 gezeigt. Auch hier ist das weder für den metrischen noch für den Satzrhythmus notwendig. Die Funktion der Überschweren ist in jedem Falle situationsrhythmischer Art, sie dienen dem Ausdruck eines inneren Zustandes, der zeigenden Darstellung des Gegen­ standes oder der Intensität der Wirkung auf den Hörer. Je nach Art und Stärkegrad der sie tragenden Spannungen können sie sehr verschieden schwer werden; es kommt auch hier nicht auf absolute Gewichte an, sondern auf die rhythmische Funktion. Sie legen sich als Verstärkungen der Gewichte vor allem auf die satzbetonten Sil­ ben, machen also diese ohnehin vollschweren Hebungen noch schwerer, während die nur metrisch gehobenen Vollschweren, ge­ schweige denn die Nebenhebungen, nicht von ihnen betroffen wer­ den. Wir bezeichnen in Str. 1 von Schillers »An die Freude« die Schwerestufen, und zwar die Überschweren mit x, die Vollschwe­ ren mit ', die Halbschweren mit ', die Kaumschweren mit ·: s * Fr6ude, schöner Götterfunken, •

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Töchter aus Elysium, Wir betreten f6uertrunken, Himmlische, dein Hiiligtüm. 178

Döine Zäuber binden wieder, Wäs die M6de ströng getiilt: Alle Manschen werden Brüder, Wö dein sänfter Flügel wöilt. Innere Spannung will sich im Ausruf lösen; das ergibt starke Ballungen der Stauungsgipfel, die, ohne daß sich das Verhältnis ihrer Gewichte ändert, nachdrücklicher hervorgetrieben werden. Alle satzbetonten Wörter nehmen daran teil, auch die Unterteil­ astgipfel »Freude« und »Himmlische«, während die übrigen Haupt­ hebungen vollschwer bleiben. So haben R. i und 4 zwei Über­ schweren, die übrigen Reihen nur eine, dazu eine Vollschwere. Neben den halbschweren Nebenhebungen gibt es auch einige kaumschwere. Ist die Situationsspannung eines Gedichts stark genug, um über­ schwere Hebungen hervorzubringen, so pflegen sie nicht nur ein­ zeln, sondern im ganzen Gedicht aufzutreten, wenn auch nicht, wie Saran annimmt, in völlig gleicher Verteilung. Das wird nur in metrisch streng gebundenen Versen der Fall sein, die völlig regel­ mäßig durchgegliedert sind. Die Überschweren entziehen sich me­ trischer Festlegung, da sie aus natürlichen Spannungen hervor­ wachsen. Sie brechen gleichsam von außen in den gepflegten Gar­ ten des Verskünstlers ein und trotzen seiner ausgleichenden Schere. Die intensive Geballtheit, die sie dem rhythmischen Gang des Ver­ ses geben, kann ein Vergleich unserer Schillerstrophe mit einer ähnlich gebauten, abgestuften Strophe desselben Dichters ohne Überschweren dem Erlebnis vermitteln (»Der Jüngling am Bache«): An der Quelle saß der Knabe, Blumen wand er sich zum Kranz, Und er sah sie fortgerissen, Treiben in der Wellen Tanz. »Und so fliehen meine Tage Wie die Quelle rastlos hin! Und so bleichet meine Jugend, Wie die Kränze schnell verblühn!« 179

Die Überschweren schwingen in der Richtung des rhythmischen Ganges ihres Verses mit, bewegen sich steigend bei spannendem, fallend bei lösendem, kreisend bei spannend-lösendem Gange. Als natürliche, dem Ausgleich des metrischen Rhythmus nicht unter­ worfene Ballungen geben sie dem Rhythmus oft eine besondere Individualität, die sich, wie alles Individuelle, der Beschreibung entzieht. Bei gleichem Metrum und intensiv lösender Tendenz des rhythmischen Ganges ergibt sich etwa in der ersten Strophe von Goethes Divangedicht »Wiederfinden« im Vergleich zu Schillers »An die Freude« eine weniger ausladende Bewegung: Ist es möglich! Stärn der Sterne, Drück ich wieder dich ans Härz! Ach, was ist die Nicht der Fdrne Für ein Abgrund, für ein Schmärz! Ja du bist es! meiner Fr6uden Süßer, lieber Widerpart; Eingedenk vergängner Liiden Schäudr' ich vor der Gägenwärt. Die rhythmische Bewegung läuft auf die Überschweren zu; sie erhält dadurch, auch in den ausgewogenen dipodischen Typen, eine dynamische Zielstrebigkeit, die, je nach der Verteilung der Gipfel, sich auf Bünde, Reihen oder auch Ketten erstreckt. G. A. Bürgers Gedicht »An die Menschengesichter« hat aus stark, ja leidenschaftlich sich äußerndem Gefühl einen auf-ab-schwingenden Gang: Ich habe was Liebes, das hab ich zu lieb; Was känn ich, was känn ich dafür? λ Drum sind mir die Menschengesichter nicht höld : Doch spinn ich ja löider nicht Seide noch Gold, Ich spinne nur Herzeleid mir. λ

i8o

Wenn ihr für die Ldiden der Liebe was könnt, z

Gesichter, so gönnen wir's öuch. Wenn wir es nicht können, so irr es euch nicht! Wir können, ach leider! wir können es nicht, Nicht für das mogölische Reich! λ In den überschweren Hebungen drückt sich stärker als im Versgang die apologetische Haltung des Dichters aus. Sie haben einen wir­ kenden, auf die Angeredeten gespannten Nachdruck, der die Lö­ sung des steigend-fallenden Ganges großenteils unwirksam macht, ihm also gerade an seinen Gipfelpunkten eine steigende Tendenz gibt. Durch die für die rhetorische Haltung kennzeichnenden Anaphern und Antithesen werden zahlreiche Ballungen geschaffen. In R. 3 der zweiten hier zitierten Strophe erhält durch Gegensatz­ spannung zu R. i das in der Senkung stehende »nicht« den Nach­ druck, der dafür der folgenden Hebung (»kön . . .«) entzogen wird, so daß diese nur schwer, nicht überschwer wird. Auch eine Situation intensiver Gegenstandsbeziehung kann im Vers zu überschweren Hebungen führen; meist spürt man eine zeigende Tendenz in ihnen; man kann von Zeigballungen sprechen. Sie haben spannende Richtung, der Gang überwiegend gegenstands­ gerichteter Gedichte ist meist steigend. So ist es in Paul Flemings Sonett »Was ist die Liebe«: /Wie? Ist die Liebe Nichts? Was liebt man denn im Lieben? /Was aber? Alles? Νέϊη. Wer ist vergnügt mit Ihr? •

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Nicht Wässer; sie erglüht die Herzen für und für! Auch Fäuer nicht. Warümb? Was ist für Flämmen blieben? Zahlreiche Stauungen - neben der Zäsur hat jede Reihe noch Schnitte - schaffen eine Fülle überschwerer Hebungen. Manchmal werden auf diese Weise alle Haupthebungen einer Reihe über­ schwer (der Regel nach sind es vier, die beiden pausierten Hebun­ 181

gen gelten als Nebenhebungen). Die den Hörer einbeziehende Zeig­ tendenz gibt ihnen etwas ausgesprochen Pointiertes. In neuer Dichtung ist solche Zeigtendenz selten. Statt dessen ist die Gegenstandsbeziehung meist mit einer Ausdrucksballung verbunden. So in Gottfried Benns Gedicht »Ein Wort«, das so viele Stauungen hat, daß überschwere Ballungen sogar auf Neben­ hebungen fallen und so in einigen Reihen ein Hebungsausgleich zustande kommt: Ein Wdrt, ein Sätz aus Chiffern stdigen / erkanntes Läben, jäher Sinn, die Sönne stäht, die Sphären schwäigen und älles bällt sich zü ihm hin. Ein Wärt -, ein Glänz, ein Fliig, ein Fäuer, ein Flämmenwürf, ein Stirnenstrich -, und wieder Dünkel, üngehiuer, im leeren Räum um Wilt und Ich. Auch hier vollenden die überschweren Hebungen die steigende Tendenz des rhythmischen Ganges. Aber sie haben nicht die etwas starre Pointierung Flemings, sondern schwingen aufwärts.

3. Hebungen und Senkungen Die Senkungen erfüllen ihre metrisch-rhythmische Funktion, wenn sie leichter sind als die Hebungen. Die reiche sprachliche Gewichtsabstufung, die wir auch unter den Senkungssilben finden, ist für den metrischen Rhythmus ohne Bedeutung. Die Versreihe »Wandern lieb ich für mein Leben« enthält Senkungssilben ver­ schiedener sprachlicher Schwere von den sehr leichten Endsilben »-dern« und »-ben« zu den verhältnismäßig gewichtigen Pronomi­ nalformen »ich« und »mein«; vom metrischen Rhythmus werden sie gleich gewertet. Bedeutsam werden sie erst, wenn sie so schwer werden, daß sich die ihnen folgenden Hebungen ihnen gegenüber 182

nicht zu behaupten vermögen und Gefahr laufen, von ihnen in die Senkung gedrückt zu werden. Der metrisch-rhythmische Gang wäre damit durchbrochen. Als Beispiel die Anfangsreihe von Goe­ thes »Mignon«: Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn . .. Die schwere Anfangssenkung »kennst« sucht die ihr folgende leichte Hebung »du« zu drücken, ebenso die Senkung »wo« nach der Fuge die sehr leichte Hebung »die.« Der sprachrhythmische Akzent ist also mit dem metrisch-rhythmischen in Widerstreit. Würden wir dem Sprachrhythmus recht geben, so würden wir die leichtgespannte Brücke der metrisch-rhythmischen Reihe zerstö­ ren97, die Reihe würde zum Prosasatz: »Kannst du das Länd, wo die Zitrönen blühn . . .«. Metrische Betonung aber ergäbe einen gro­ ben Verstoß gegen den Sprachakzent, eine »Tonbeugung« (Heus­ ler)98: »Kennst dü das Land, wo die Zitrönen blühn ...«. Für den Ausgleich beider Forderungen hat sich schon die ältere Verslehre (Lachmann) der »schwebenden Betonung« bedient, hat also Sen­ kung und Hebung im Gewicht möglichst aneinander angeglichen. Man sollte hier aber nicht, wie es dieser Ausdruck nahelegt, Unent­ schiedenheit erleben, sondern Spannung. Das Gefühl für die me­ trisch-rhythmische Funktion dieser Silben muß darin ebenso er­ halten bleiben, wie das für den sprachrhythmischen Akzent. Unter dem Zwang des Sprachakzents hebt das rhythmische Erlebnis die Senkung bis an die obere Grenze der Senkungsgewichte und drückt die Hebung an die untere Grenze der Hebungsgewichte: kein Ausgleichs- sondern ein Spannungserlebnis, von dem der Aus­ druck »schwebende Betonung« nichts verrät, und das Sarans Ter­ minus »metrische Drückung«99 auch nur zu einem kleinen Teil bezeichnet. Heusler spricht von »Tonverschiebung« aus der Sicht des Sprachakzents oder von »Tonbeugung« vom Metrum her: gegen diese sei die deutsche Sprache besonders empfindlich; es ” So auch Saran, Dt. Verskunst S. 198. 88 Vgl. Heusler a.a.O. I, S. III, S. 145E 88 Saran, Dt. Verskunst, S. 189 ff. 185

seien »Tonverstöße«, die auf »Krankheit« der betreifenden Verse schließen ließen. In der schwebenden Betonung sieht er keine rhythmische Erscheinung, sondern ein Behelfsmittel des Vortra­ genden, den Verstoß auszugleichen100. Demgegenüber erkennt ihr Pretzel in seiner ausführlichen Behandlung dieser Erscheinung101 rhythmische Bedeutung zu, ohne aber ihrem Wesen, der in ihr wirksamen Spannung, ganz gerecht werden zu können. Er sucht ihre jeweilige Ausführung aus einer Sinninterpretation des Verses zu bestimmen, wobei sich drei Möglichkeiten ergeben: der schwe­ bende Ausgleich, die Tonversetzung im Sinne des Sprachakzents und die Beugung im Sinne des metrischen Akzents. Daraus erhebt sich für uns die Frage, ob der Situations rhythmus bestimmend auf die rhythmische Tendenz dieser Erscheinung ein­ wirken kann. An ihrer Entstehung ist er nicht oder nur indirekt beteiligt: die Spannung der beiden anderen rhythmischen Kräfte wird meist seinen Tendenzen entsprechen, da ja das einheitliche Rhythmuserlebnis des Dichters dahinter steht. So kann der Situa­ tionsrhythmus den Sinn der Drückung bestimmen, er kann die vorhandene also erfüllen, aber keinesfalls ändern oder gar auflösen. Der Interpretierende muß die Spannung als gegeben hinnehmen; er kann nur versuchen, sie aus der Situation zu deuten. Ihr Aus­ sagewert ist zweifellos verschieden, nicht aber ihr rhythmischer Charakter, die Spannung des sprachrhythmischen und metrisch­ rhythmischen Akzents. In unserm Mignonbeispiel gibt wohl der Zug der Sehnsucht der Spannung ihren Sinn, in Eichendorffs »Meeresstille« der Zug der Tiefe:

/

Ich seh von des Schiffes Rande Tief in die Flut hinein .. .

In Annette v. Droste-Hülshoffs »Mondesaufgang« (Str. 2, R. 1) ist die Gehobenheit, auch im Sinne innerer Bereitschaft, damit aus­ gedrückt: /

Hoch stand ich, neben mir der Linden Kamm . . .

100 Heusler a.a.O. I, S. 46. 101 Pretzel a.a.O. Sp. 2439fr.

184

In Mörikes »Peregrina I« erhalten die vielen Drückungen der Reihenanfänge durch die Spannung der inneren Situation ihren Sinn: Der Spiegel dieser treuen, braunen Augen / /

Ist wie von innerm Gold ein Widerschein; Tief aus dem Busen scheint ers anzusaugen, Dort mag solch Gold in heilgem Gram gedeihn. In diese Nacht des Blickes mich zu tauchen,

/

Unwissend Kind, du selber lädst mich ein -

/

Willst, ich soll kecklich mich und dich entzünden, Reichst lächelnd mir den Tod im Kelch der Sünden!

R. 2, 3, 6 und 7 haben Drückungen, R. 4 und 8 sehr schwere An­ fangssenkungen, deren Spannung der der Drückungen nahekommt. Tonverschiebungen im Sinne des Sprachrhythmus würden die Ein­ dringlichkeit des gewichtigen, zum Ausgleich der Hebungen nei­ genden rhythmischen Ganges zerstören. Sprechende Drückungen hat auch Goethes Fischer; jedesmal hat ihre Spannung einen eigenen Sinn: / / /

Sah nach dem Angel ruhevoll. . . Kühl bis ans Herz hinan . . . Teilt sich die Flut empor . . .

/ Labt sich die liebe Sonne nicht. . . / Lockt dich der tiefe Himmel nicht. . . / Netzt ihm den nackten Fuß . . . Sein Herz/ wuchs ihm so sehnsuchtsvoll. . . In Rilkes Sonetten an Orpheus (II, 15) setzt sich die Spannung der Drückung durch, obwohl die Senkung mehrfach auf die Stamm­ silbe, die Hebung auf die Endsilbe eines Wortes fällt, der Sprach­ rhythmus also eine Tonverschiebung dringend nahelegte: /

Du, vor des Wassers fließendem Gesicht,

/

marmorne Maske. Und im Hintergrund X85

'

der Aquädukte Herkunft./ Weither an / Gräbern vorbei, vom Hang des Apennins, / tragen sie dir dein Sagen zu . . . / Dies ist das schlafend hingelegte Ohr . . . / redet sie also. Schiebt ein Krug sich ein . . .

Die Eindringlichkeit der Anrede in den beiden ersten Drückungen, die Darstellung der weitgespannten Bögen in den folgenden und die deutende Intensität in den letzten geben den Spannungen ihren Sinn. Ältere und neuere Gedichte bieten eine Fülle solcher Spannungen zwischen metrisch-rhythmischem und sprachrhythmischem Ak­ zent, die dem Sinnverständnis, der Beziehung auf den Situations­ rhythmus, keine Schwierigkeiten bieten. Manchmal aber ist dieses rhythmische Mittel auch gesucht worden, um einer nur formal­ metrischen Auffassung gerecht zu werden. Die Verstheoretiker der Klassik und Romantik von Johann Heinrich Voss über August Wilhelm Schlegel bis zu Platen suchen durch solche Drückungen die Wirkung des antiken Spondeus im Hexameter zu erzielen. Dies Ringen um den im Deutschen nun einmal nicht nachzubildenden Spondeus beruhte auf falschen Voraussetzungen, wie vor allem Heusler gezeigt hat102. Man war sich über das Verhältnis der antiken Quantität zur deutschen Schwere nicht klar und suchte daher mit Mitteln der Akzentuierung Wirkungen zu erreichen, die ihr nicht gemäß waren. Doch wird man zugeben müssen, daß die Gewich­ tigkeit der Drückung, wenn sie nicht als Tonbeugung oder -Ver­ schiebung, sondern als Spannung aufgefaßt wird, eine rhythmische Wirkung hat, die der des antiken Spondeus in mancher Hinsicht entsprechen mag. Allerdings fordert sie der deutsche Hexameter keineswegs, und sie bleibt auch bei den Dichtern, die ihre Verse nach dieser Theorie bauen, vereinzelt, weil die Sprache nicht genug Möglichkeiten dafür bietet. In den meisten Fällen begnügt man sich, den Spondeus mit einer verhältnismäßig vollen, gewichtigen 108 Heusler, Deutscher und antiker Vers, 1917. Vgl. oben S. 151.

186

Senkungssilbe anzudeuten. Als Beispiele mögen einzelne Verse aus dem Anfang der epischen Dichtung »Luise« von Johann Heinrich Voss dienen: Sechs

/ /Schilfsessel umstanden den Steintisch, welche der Hausknecht. . .

Mit

/ /lehrreichem Gespräch zu erfreun und mancher Erzählung . . .

Wann

/ /heiß werden die Tag', und die blühende Bohne betäubet...

Drauf

/ /antwortetest du, ehrwürdiger Pfarrer von Grünau. . .

Kaffee hier?

Trinken wir jetzt noch / /Vornehme genießen ihn gleich nach der Mahlzeit. . .

Machen Sie Karl nicht roth. / /Gut sein /ist besser denn vornehm. . . In den bezeichneten Fällen tritt hier also, vermeintlich für die zwei Senkungen des Daktylus, eine sehr schwere Silbe ein, die aber nicht die vorhergehende, sondern die ihr folgende, zum nächsten Fuß gehörende Hebung zu drücken sucht und so zu dieser in ein Spannungsverhältnis tritt. Da die Glieder des Hexameters als stei­ gend-fallende Schritte aufgefaßt werden müssen, handelt es sich um die anspringende Senkung des neuen rhythmischen Gliedes. Die vorhergehende Hebung ist gelängt, hat also die fallende Senkung einbezogen. Auch im Streit der Meinungen über die Auffassung der soge­ nannten Silbenzählenden Verse103, die vor allem im 16. Jahrhundert unsere Dichtung beherrschten, hat die Drückung eine Rolle ge­ spielt. Es standen und stehen sich dabei zwei Meinungen gegen­ über; die eine vertritt die Auffassung strengen Alternierens, das die ziemlich häufigen Verstöße gegen die Sprachbetonung in Kauf 103 Dazu vgl. Pretzel a.a.O. Sp. 2427ff. Dort weitere Literatur. 187

nimmt (»Weil noch auf Erden ging Christüs. . .«); die andere glaubt eben wegen dieser Verstöße, daß ausschließlich der Sprach­ rhythmus die Verteilung der Akzente bestimme, daß also die Zahl der Senkungen zwischen den Hebungen wechseln könne, daß nur die Zahl der Hebungen durch den metrischen Rhythmus festgelegt sei. Im sogenannten Knittelvers, den wir etwa bei Hans Sachs fin­ den, sind es bei einer Zahl von acht oder neun Silben vier Hebun­ gen (»Weil noch auf Erden ging Christus . . .«). Den Versuch Sa­ rans, durch schwebende Ausführung der sprachlichen Akzentver­ stöße zwischen den Gegensätzen zu vermitteln, pflegt man i. a. als ein Verschleiern der Problematik zu betrachten, allenfalls als eine Anweisung für den Vortrag solcher Gedichte in unserer Zeit104. Sa­ ran glaubt aber, die Notwendigkeit dieser Auffassung nicht nur für uns, sondern ganz allgemein aus der eindringlich lehrhaften Sprech­ weise der meisten Dichter des 16. Jahrhunderts, also situations­ rhythmisch, begründen zu können105. Wenn man auch zugeben wird, daß solche Drückungen der Hal­ tung von Dichtern wie Sachs, Brant, Murner, Fischart entsprechen könnte, so wird man die Auffassung einer Erscheinung des me­ trischen und sprachlichen Rhythmus nicht primär situationsrhyth­ misch begründen dürfen, so gewiß sie einer Sinngebung aus der Situation offensteht. Daß aber diese Dichter und ihre Zeitgenossen die Spannung zwischen metrischem und Sprachrhythmus erlebt und, weil sie sie als angemessen empfunden haben, bejaht haben, darf man annehmen. In den Liedern, die auf einen bestimmten »Ton« gedichtet waren, war eine Entspannung durch ausschließ­ lich sprachrhythmische Betonung ohnehin nicht möglich. Auch heute noch können wir etwa beim Singen alter Choräle diese Span­ nung als rhythmischen Reiz empfinden, wie in folgendem: I 4/4

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Nün komm, der Hei- den Hei- länd . . . 104 So Pretzel a.a.O. Sp. 2428. 108 vgl. Saran Dt. Verslehre S. 303 ff., Dt. Verskunst S. 204!.

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Dabei sucht die Ausführung in ganz natürlicher Weise diesem Spannungserlebnis gerecht zu werden, löst sie nicht etwa zugunsten des metrisch-musikalischen oder des sprachlichen Akzentes auf. Das Rhythmuserlebnis, das, wie wir wissen, allein die Wirklichkeit des Rhythmus darstellt, kann auch in Sprechgedichten, im 16. Jhdt. nicht anders als heute, die Spannung zwischen metrischem und Sprachrhythmus aufgefaßt haben, es muß sie sogar bejaht haben, sonst hätte sich, zumindest in der Praxis, Opitz' Reform unschwer schon hundert Jahre früher durchführen lassen. Daß die Ausführung den metrischen Akzent entsprechend dem musikali­ schen herausgearbeitet hat, ist kaum zu bezweifeln, daß das Span­ nungserlebnis auch die sprachlich schweren Senkungen möglichst hervortrieb, ist sehr wahrscheinlich. Es würde also dem, was wir mit dem unzulänglichen Terminus »schwebende Betonung« mei­ nen, sehr nahe kommen. Dafür unser Beispiel von Hans Sachs »St. Peter mit der Gais«: /

Weil noch auf Erden ging/ Christus Vnd auch mit im/ wandert /Petrus, Ains tags aus / eim dorff mit im ging,

/

/

Pey ainer wegschaid Petrus / anfing: »O herre got vnd maister mein Mich wundert ser der güete dein, Weil du doch got almechtig pist, Lest es doch gen zu aller frist In aller weit gleich wie es get, Wie Habacuk sagt, der prophet: Freffel/und ge-/walt get für recht, Der gottlos überforteilt schlecht Mit schalkeit den /grechten vnd frumen . . .

Daß in weitaus den meisten Fällen metrischer und Sprachakzent zusammenfallen, spricht dafür, daß Dichter und Leser das Erlebnis des Sprachrhythmus nicht ausgeschaltet haben. Es muß dann auch 189

an Stellen wirksam geblieben sein, wo der metrische Rhythmus zu ihm in Widerstreit trat, muß also zu einem Spannungserlebnis ge­ führt haben. Wie die Ausführung diesem Erlebnis gerecht gewor­ den ist, ist eine sekundäre Frage; ihre Beantwortung kann nicht mehr als eine gewisse Wahrscheinlichkeit in Anspruch nehmen.

4. Gesamtschwere des rhythmischen Ganges Die Abstufungen der Hebungs- und der Senkungsgewichte sind, wie wir gesehen haben, im wesentlichen metrisch- und sprachlich­ rhythmisch bedingt. Der Situationsrhythmus hat, außer im Falle der überschweren Hebungen, keinen unmittelbaren Einfluß darauf; nur mittelbar, sinngebend ist er beteiligt. Dagegen wirkt er be­ stimmend auf die Gesamtschwere des rhythmischen Ganges, die unabhängig vom sprachlichen oder metrischen Gewicht einzelner Hebungen ist. Saran bezeichnet die Schwere ebenso wie Lautheit, Zeitmaß, Lautung u. a. als »Sprechweise«10*, doch ist sie dort wohl nicht richtig eingeordnet, da sie durch ihren Spannungscharakter als rhythmische Erscheinung gekennzeichnet ist. Saran bestätigt das, wenn er den Schweregrad eines Gedichtes durch begleitendes Wägen mit Hebebewegungen der Hand feststellen will, deren Aus­ schlag und Anstrengung ihn anzeigen soll. Das ist ja nichts ande­ res als ein Mitmachen des rhythmischen Ganges, ein Mitgehen im Rhythmus. Dieser Erscheinung aus dem Bereich der rhythmischen Schwere entspricht im Bereich der rhythmischen Gliederung etwa die Richtung des rhythmischen Ganges, dessen Fallen, Steigen, Steigen-Fallen sich ebenfalls unabhängig von der Gestalt der Versund Wortfüße kraft des Situationsrhythmus durchsetzt. Hier wie dort sind es die inneren Spannungen, die, wie in verschiedener Richtung, so auch tiefwelliger oder flachwelliger verlaufen können. Mit dieser situationsrhythmischen Qualität kreuzt und ver­ flicht sich eine andere, die das Verhältnis von Hebungen und Senkungen betrifft. Die Senkungen können, unbeschadet einzelner schwerer oder leichter Senkungssilben, im Verhältnis zu den Heloe Saran, Dt. Verskunst, S. 235 ff. 190

bungen schwerer oder leichter wirken, d.h. der Gewichtsabstand zwischen Hebungen und Senkungen kann in der Gesamtwirkung größer oder kleiner sein. Das führt jeweils zu einer charakteristi­ schen Form des rhythmischen Ganges. Ein kleiner Hebungs-Sen­ kungsabstand macht die Bewegung getragen und gebunden, ein großer stoßartig intensiv. Im musikalischen Bereich würde dem etwa ein legato- und ein staccato-Gang entsprechen; in beiden Be­ reichen sind diese Erscheinungen offensichtlich situationsrhyth­ misch bedingt. Faßbar wird das Ausdrucksgepräge dieser rhyth­ mischen Erscheinung erst, wenn sie sich mit einem bestimmten Gesamtschweregrad der Hebungen verbindet. Dabei ergeben sich dann differenzierte rhythmische Wirkungen, die an einer Reihe von Beispielen aus Goethes Gedichten gezeigt werden sollen. Leichtes Gesamtgewicht der Hebungen, dabei verhältnismäßig großen Hebungs-Senkungsabstand hat Goethes Gedicht »An Luna«. Das gibt ihm den leichten, federnden Schritt, der außerdem durch eine Neigung zum Schwereausgleich ziemlich gleichmäßig wird; er drückt spielerische Unverbindlichkeit aus: Schwester von dem ersten Licht, Bild der Zärtlichkeit in Trauerl Nebel schwimmt mit Silberschauer Um dein reizendes Gesicht. . . Nicht wesentlich größere Gesamtschwere, aber kleineren HebungsSenkungsabstand und ebenfalls ausgeglichene Akzentgewichte hat »Erster Verlust«. Die Bewegung ist gebunden, aber leicht, schwe­ bend, der Ausdruck der Trauer ist spielend, ohne den Ernst der Wirklichkeit: Ach wer bringt die schönen Tage, Jene Tage der ersten Liebe, Ach wer bringt nur eine Stunde Jener holden Zeit zurück I Etwa den gleichen Gesamtschweregrad, aber großen HebungsSenkungsabstand und abgestufte Gewichte hat »Mit einem gemal­ i9i

ten Band«; der Schritt ist leicht, elastisch, aber von größerer Inten­ sität als in unserm ersten Beispiel, sein Ausdruck heiter, aber fest, nicht »tändelnd«: Kleine Blumen, kleine Blätter Streuen mir mit leichter Hand Gute junge Frühlingsgötter Tändelnd auf ein luftig Band. Etwas größere, also mittlere Gesamtschwere, großen HebungsSenkungsabstand, abgestufte Gewichte ergeben den kräftigen, ener­ gischen Schritt von »Willkommen und Abschied«. Er hat den Aus­ druck von Kraft und Echtheit des Gefühls, einer Heiterkeit, die nicht spielt: Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde! Es war getan fast eh gedacht; Der Abend wiegte schon die Erde Und an den Bergen hing die Nacht... Mittleren Gesamtschweregrad, ziemlich kleinen Hebungs-Senkungsabstand, ausgeglichene Gewichte, schwebend, getragene Be­ wegung mit dem Ausdruck ruhiger und zarter Besinnlichkeit hat »Wanderers Nachtlied«: Über allen Gipfeln Ist Ruh, In allen Wipfeln Spürest du Kaum einen Hauch . . . Ziemlich große Gesamtschwere, auch ziemlich großer HebungsSenkungsabstand, abgestufte Akzentgewichte ergeben in dem Ge­ dicht »An Charlotte von Stein« große Intensität des Schrittes und den Ausdruck schmerzlich bohrender Innigkeit: Warum gabst du uns die tiefen Blicke, Unser Zukunft ahndungsvoll zu schaun, Unsrer Liebe, unserm Erdenglücke Wähnend selig nimmer hinzutraun? . . . 192

Ziemlich große Gesamtschwere, großen Hebungs-Senkungsab­ stand, Neigung zum Gewichtsausgleich, getragenen Schritt mit dem Ausdruck feierlicher Bestimmtheit hat die Strophe: Alles geben die Götter, die unendlichen, Ihren Lieblingen ganz, Alle Freuden, die unendlichen, Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz. Sehr große Gesamtschwere, großer Hebungs-Senkungsabstand, abgestufte Akzentgewichte ergeben einen schweren, festen Schritt von bohrender Intensität und männlicher Klarheit in »Schillers Reliquien«: . Im ernsten Beinhaus wars, wo ich beschaute, Wie Schädel Schädeln angeordnet paßten; Die alte Zeit gedacht ich, die ergraute. Sehr große Gesamtschwere, geringer Hebungs-Senkungsabstand, abgestufte Gewichte: das schwere tiefe Strömen der »Elegie« mit dem Ausdruck abgründigen Schmerzes: Was soll ich nun vom Wiedersehen hoffen, Von dieses Tages noch geschloßner Blüte? Das Paradies, die Hölle steht dir offen; Wie wankelsinnig regt sich's im Gemüte .. .

j. Sekundäre rhythmische Züge Sekundär nennen wir rhythmische Züge, die als Folgeerschei­ nungen anderer, der primären Züge, auftreten und die infolge­ dessen auch nur mittelbar das rhythmische Gepräge eines Verses bestimmen können. Das sind im deutschen Vers vor allem Längen­ abstufung und Melodik. Während sie dem antiken Vers wohl un­ mittelbar ihre Prägung gaben, treten sie bei uns nur als Folge von Spannungen und Ballungen auf107. Eine betonte Silbe pflegt etwas 107 Auch Sievers meint, daß im deutschen Vers der dynamische den musi­ kalischen Akzent überwiege. Vgl. Metrische Studien I, S. 65.

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länger zu dauern als eine unbetonte, auch erklingt sie im allgemei­ nen in einer höheren Lage als ihre schwächer betonte Umgebung oder zeigt in sich eine melodische Auf-Ab-Bewegung. Durch den Einfluß der Beschwerung auf den Zeitwert der Silben wird der Gang des Verses, der sich, wie wir wissen, in Schritten von grundsätzlich gleicher Länge, also spondeisch, fortbewegt, leicht modifiziert. Die Hebungen erhalten je nach ihrer Schwere einen mehr oder weniger spürbaren Längenzuwachs gegenüber den Senkungen. Er bleibt aber in jedem Falle so gering, daß sie noch als einfache Längen gelten können und sich von den Zu­ sammenziehungen - den um ihren vollen Zeitwert verlängerten Einheiten - deutlich unterscheiden. Bei großer situationsrhythmi­ scher Gesamtschwere wirken die Hebungen im Gesamt länger als die Senkungen, besonders wenn diese verhältnismäßig leicht sind, wenn also auch der Hebungs-Senkungsabstand groß ist. So ist es z.B. in Rilkes »Panther«, wo durch den Ausgleich der Hebungs­ gewichte die Längenabstufung sehr gleichmäßig erscheint: Sein Blick / ist vom / Vorü- /bergehn / der Stä-/be. So müd / gewor- / den, daß / er nichts / mehr hält /... Keineswegs aber wird man in solchen Fällen ein festes Längen­ verhältnis zwischen Hebungen und Senkungen annehmen dürfen; die Länge der Hebungen schwankt auch in verhältnismäßig aus­ geglichenen Versen je nach der Stärke der Sprachbetonungen. Noch mehr differenziert sie sich bei abgestuften Hebungsgewich­ ten, vor allem, wenn einzelne überschwere Hebungen herausragen. So im Lied »An die Freude«: Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus E-ly - si- um . . . (Die Bezeichnungen können die Längenverhältnisse nur in ganz grober Annäherung andeuten). Dieses Beispiel zeigt sehr deutlich, daß ein festes Längenverhältnis zwischen Hebungen und Senkun­ gen, wie Saran es in manchen Fällen glaubt feststellen zu können, nicht besteht. 194

Saran hat versucht, den primären rhythmischen Charakter der Versmelodie nachzuweisen108. Er glaubt verschiedene immer wiederkehrende Melodietypen gefunden zu haben; jedes Gedicht soll einem dieser Typen folgen. Wir wollen nicht untersuchen, ob die von Saran angegebenen Melodieführungen tatsächlich zwingend sind. Die Täuschungsmöglichkeiten sind auf diesem Gebiet be­ sonders groß und zahlreich. Daß sie nicht als primäre rhythmische Züge gelten können, geht schon daraus hervor, daß sie nichts­ sagend sind und zur Deutung des betreffenden Gedichts nicht bei­ tragen können. Auch den Tonhöhenunterschieden zwischen He­ bungen und Senkungen, die Saran ebenfalls zu bestimmen sucht108, wird man keine primäre rhythmische Bedeutung zubilligen; es handelt sich dabei um Folgeerscheinungen der Schwereabstufung. Daß in Einzelfällen die Senkungen gleichsam in die Höhe schlagen, also in höherer Lage intoniert werden als die Hebungen, wie Saran glaubt feststellen zu können, läßt sich, wie auch die gelegentliche (mundartliche) Umkehrung des Satzbogens und der Satzakzente zu spannender Tiefe und lösender Höhe, daraus erklären, daß die Stimme auch ungespannte hohe Töne (Kopfstimme, Falsett) her­ vorbringen kann. Im allgemeinen folgt die Versmelodie dem Spannungsverlauf der Sätze, allerdings mit allen Abänderungen, die dieser durch die Versgliederung, durch rhythmische Stauungen und Brechungen erfährt. In der Weise, wie sich der Spannbogen des Satzes in die Gliederung der Strophe einfügt, verläuft die Melodie. Darum wird sich, entgegen Sarans Ansicht, eine melodische Gestalt nur selten mit der Reihe vollenden, häufig wird sie sich dem An- und Abstieg der Kette angleichen, manchmal auch größere rhythmische Ein­ heiten umfassen; sie kann sogar, mit Hilfe von Strophenbrechun­ gen, über mehrere Strophen hinweggreifen. Rilke bietet dafür viele Beispiele. So folgendes (»Die Insel«): 11)8 Saran, Dt. Verskunst, S. 254ff. 108 vgl. dazu Walter Schurig, Das Prinzip der Abstufung im dt. Vers, 1934, S. 21 ff. *95

. . . und drin die Gärten sind auf gleiche Weise gekleidet und wie Waisen gleich gekämmt von jenem Sturm, der sie so rauh erzieht und tagelang sie bange macht mit Toden. Der Strophenschluß bedeutet hier nicht das Ende, sondern die Höhe und Wende, wie des Spannbogens, so der Melodie. Im allgemeinen sind die melodischen Bögen von Versen der ausgeglichenen Schwereordnung flacher als die von Versen mit abgestuften Hebungsgewichten. Je kräftiger einzelne Gipfel aus dem Verlauf hervorragen, desto steiler oder auch unruhiger, ge­ zackter ist die melodische, d.h. im Grunde die Spannungskurve. So hat Rilkes »Abend« mit seiner Neigung zum Ausgleich der Gewichte verhältnismäßig flache Melodiebögen, die sich in der ersten Strophe über die Ketten, in der zweiten und dritten über die ganzen Strophen erstrecken. Hier nur die erste Kettenmelodie: Der Abend wechselt langsam die Gewänder, die ihm ein Rand von alten Bäumen hält;. . . Eine den Hebungsabstufungen entsprechende steilere und unru­ higere Melodie zeigt etwa die erste Kette von Rilkes »Der Tod der Geliebten«: Er wußte nur vom Tod, was alle wissen: daß er uns nimmt und in das Stumme stößt. Die schweren Hebungen »Tod«, »alle«, »nimmt«, »Stumme« geben dank ihrer kräftigen Spannung und melodischen Eigenbewegung der Gesamtspannung und -melodie im Aufstieg Auftrieb, während sie im Abstieg dem Fallen Nachdruck geben. Dabei wirkt das erste Beispiel (»Der Abend«) trotz seines flache­ ren Bogens melodiöser als das zweite mit seiner bewegteren Kurve. Im melodisch stark bewegten Gedicht spricht offenbar die primäre Spannung stärker als die sekundäre Melodie, während es im melo­ disch schwach bewegten umgekehrt zu sein scheint. Dasselbe Prin­ zip wirkt in dem Unterschied, den wir zwischen einem liedmäßigen und einem sprechmäßigen Gedicht hinsichtlich der melodischen 196

Haltung zu machen pflegen110. So sind die Spannbögen von Mörikes Gedicht »Um Mitternacht« flach und schwach, ihre Melodie aber tritt für das Erlebnis stark hervor: Gelassen stieg die Nacht ans Land, Lehnt träumend an der Berge Wand, Ihr Auge sieht die goldne Wage nun Der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn; Und kecker rauschen die Quellen hervor, Sie singen der Mutter, der Nacht, ins Ohr Vom Tage, Vom heute gewesenen Tage. Die erste Halbstrophe erfüllen zwei Kettenmelodien, die zweite ein einheitlicher großer Bogen, der in den zwei ersten Reihen steigt, in den letzten fällt. Demgegenüber wirken die steilen und in sich bewegten Kurven von desselben Dichters Idylle »Der alte Turmhahn« als Spannbö­ gen mit kräftigen Ballungen: Zu Cleversulzbach im Unterland Hundertunddreizehn Jahr ich stand, Auf dem Kirchenturn ein guter Hahn, Als ein Zierat und Wetterfahn. In Sturm und Wind und Regennacht Hab ich allzeit das Dorf bewacht.. . Noch weiter und allgemeiner wirkt dies Prinzip im Klangunter­ schied von Vers und Prosa111. Gegenüber der Prosa tritt im Vers im allgemeinen die Melodik sprechender hervor und die Spannung in ihrer unmittelbaren Wirkung entsprechend zurück. In stark aus­ druckshaltiger Prosa (Goethes »Werther«, Hölderlins »Hyperion«) 110 So auch Kurt Wagner, Stimme des Dichters. Abhandlungen der Mainzer Akademie der Wissensch. u. der Literatur. Klasse Literatur 1958, 2. S. 36 (14). 111 Nach Leonhard Beriger (Poesie und Prosa, Dt. Vj. S. 21, 1943, S. 154) ist die Versmelodie gegenüber der Prosa »monoton«, ist durch ausgeglichenes Schweben charakterisiert. Der poetische Akzent weist »weniger starke Ton­ schwankungen« auf als der prosaische. 197

kann aber auch die Melodie herrschen, wie im Gegensatz dazu in nüchtern rationalen, etwa didaktischen Versen die Spannung. Demnach ist die Situation für die Wirkung der Melodik be­ stimmend. Der Vers ist meist stärker vom Ausdruck von Gefühlen und Stimmungen, die Prosa von Sachlichkeit und Wirkungswillen getragen. Das Gefühl äußert sich schwingend, schwebend, melo­ disch, weil es sich in der Äußerung löst, Sachlichkeit dagegen und wirkende Eindringlichkeit in kräftig gespannter Akzentuierung, weil sie in der Äußerung die Spannung zum Gegenstand und zum Partner aufrecht erhält. So kann in äußersten Fällen in Gedichten von gelöster Stimmung die Melodie zum primären Gestaltungs­ mittel werden. Der innere Rhythmus sucht die metrischen und sprachlichen Spannungen in Melodie zu lösen, was ihm nie voll­ ständig, in manchen Fällen aber doch weitgehend gelingt. So in Brentanos Lied aus der »Chronika eines fahrenden Schülers«: Es sang vor langen Jahren Wohl auch die Nachtigall, Das war wohl süßer Schall, Da wir zusammen waren.

Ich sing und kann nicht weinen Und spinne so allein Den Faden klar und rein, Solang der Mond wird scheinen

Der melodische Bogen umfaßt hier wie der Satzbogen die ganze Strophe. Inden hier angeführten und weiter in den meisten Strophen des Gedichts steigt der Bogen über die Strophenmitte (Kehre) hin­ aus und bezieht, weniger durch den Satz als durch die Reimordnung veranlaßt, die dritte Reihe in den Aufstieg ein. Erst mit der vierten Reihe fällt die Melodie. Diesen Melodiebogen hat auch die Ver­ tonung des Liedes durch Louise Reichardt verwirklicht. So bestätigen auch die sekundären rhythmischen Züge, was un­ sere gesamte Darstellung zu zeigen versucht hat: daß es der innere Rhythmus ist, der die Einheit von innerer und äußerer Form, die Gestalteinheit des Gedichts, verbürgt. Ihm verdankt die innere Situation des Gedichts ihre rhythmische Struktur und damit die Möglichkeit, in die stilisierte Zeitlichkeit einer rhythmischenKunstgestalt einzugehen und künstlerisch bedeutsam zu werden.

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REGISTER

Absatz 73 fr., 88 Abstufung s. Hebungsabstufung Akzent s. auch Hebung, Rhythmus ballungsrhythmischer - 32 fr., 39 ff., 5 3 ff·, 169 metrisch-rhythmischer - 68, n8ff., 131, 133, 150, i83f., i88f. satzrhythmischer — zzff., 32, 156, 167 wortrhythmischer- 120, 126, i70f., i83f., t88f. Akzentuierendes Prinzip 118, 13 if. Alexandriner 63 ff., iooff., 106, 161, 170 Alkäische Strophe 42, 83 ff., 144 f. Alternierendes Prinzip 132, 187 Amphibrachys 120, 129 ff. Anapäst 20, 129ff., 144 Arnholtz tof., 68 Asklepiadeische Strophe 83, 144, 147 ff. Auflösung i34f., 143 Auftakt s. Senkung, anspringende Ausgleichung s. Hebungsausglei­ chung Baensch 10, 12 Ballung s. Akzent, Rhythmus Beissner 21 Becking 10, 16 Benoist-Hanappier 41, 54 Beriger 70, 197 Bertallot 49 Betonung s. Akzent; schwebende — 126, i83f., i88f. Blankvers 99, 102, n6f. Blümel 18, 132, 175

Brechung 40, 49f., 85 fr., 90fr., 99fr., 114, 117, 163, 173, 195 Brömmel 2 t Bund 107, 109, 112, 140, 180 Bünte 74 Burdach 21 Busch, Ernst 42, 53, 57, 65 Chevy-chase-Strophe 135, i4of. Closs 54 Couplet 10 if. Daktylus 20, i29ff., 144fr., 150fr., 187 Dauer s. Quantität Dehmel 14 Dipodie tu, 156fr., 170, 173fr., s. auch Hebungsabstufung Distichon 99, i02f., 110, 152fr. Drückung 183 fr. Dynamik und Statik 13 f., 16, 21, 61, 73, 120 f., 144 Einheit, rhythmische 29f., 38, 40, 44, 46, 48, 74, 76, 90fr., 96, 100, 102 Einschnitt 12, 17, 22fr., 31fr., 50, 85, 117, I72f., s. auch Fuge, Schnitt Enjambement s. Brechung Erlebnis, rhythmisches 12fr., i6f., 20, 22, 7°, 73, ”9, 139, 146, 189 Essen, O.v. 30 Ethos n, 20, 41, 68, 70 Fittbogen 43 Fuge 102, 105-115, i2iff., 140, 142, 152, 175 Fügung 42, 53

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Gebärde 30, 33, 35, 39, 44fr., 50, 61, 164, 190 Geiger, Moritz 16 Gelenk 121 Georgiades 13, 131 Gesätz 73ff., 103, 106, 171 Geschichte 18E, 54L, 63, 132 Gestalt 12, 16, 22, 30, 71, 95 Gewicht s. Schwere Ghasel 95 Gliederung uff., 17, 21 ff., 31, 32, 39ff, 53ff, 63ff, 72ff, 96, 105ff, ii7ff, 153 f-, 195 Glosse 94 f. Goldbeck-Löwe 54 Grundbewegungen, rhythmische 24, 35, I22ff, 163 Halbschwere 170, 178 f. Halbstrophe s. Gesätz Hebung -abstand 41 ff, 5 5 f., 66 -abstufung 36, 69, 155, 170-182, 190— 194, 196, s. auch Dipodie -ausgleichung 56, 63, 69, 155-170, 191- 194,196, s. auch Monopodie -Senkungsabstand 190-194 Hellingrath 42, 5 3 Herder 36, 141 Heusler 9, 11, 14, 18, 20, 4iff, 49, 55, 62, 68f., 72, 85, 101, 106, 118, 120, i32ff, 137, 144, 151, 136, 166, 173, 183L, 186 Hexameter io2f., uof., 130-154, 162, 163, 186 f. Höhepunkt (des Satzes) 23 ff., 167ff., 171fr. Holz, Arno 60 f. Hönigswald 12L, 15 Hymne, hymnisch 40,42, 45, 6if., 65, 145. J48, 134. 162 Hypotaxe 29

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Jambus 20, ioyf., 117fr., i26ff-, i?3’ 144 Jellinek 53 Ipsen-Karg 16, 157 Kadenz (Reihenausgang) 84, i°2> i36ff., 148 Kayser, Wolfgang 10, 74, 120, 177 Kauffmann 74 Kaumschwere 176 ff. Kehre 73 ff, 137, 198 Kette 73ff, 99, ioiff, 106E, 110, I5°> 172, 180, 193 Klages 10, 14 Klangfarbe 99, 127, 133 Klausel 20 f. Klein, Johannes 35 Klopstock 40, 63 ff, 120 Knittelvers 188 ff. Krieger 49 Kuhlmann 30L Kürze i34f., 137, 130 Lachmann, Eduard 42, 49 Lachmann, Karl 183 Länge 134ff., 130f., s. auch Quantität Lanke 73 ff, 110, 137, 140 Lasche 134 Legato 191 Lockemann 15L, 22, 96, 133 Madrigalvers 63, 66 Melodik (Tonhöhenbewegung) 30L, 33ff, 40, 44ff, 53ff, 39, 91, 180, 193 fr. Metrum s. Rhythmus, metrischer; Takt Meyer R. M. 21 Monopodie 135 f., 159L, 168 Mohr 132 Motiv, rhythmisches 33 f., 105 fr., 123 fr., 177

Numerus 2if. Ode 4off., 54, 64, 85ff., 90E, 144fr., 162 f. Olzien 37, 47 Opitz 107, 117, 133, 189 Parataxe 29 Pause 20, 22, 31, loiff, 106, ui, 117, 133, 136fr., 150 s. auch Zäsur Paul, Otto 41, I32f. Pentameter i02f., 106, 110, 152fr. Periode 27, 29, 72 Periodizität iof., 30 Petersen, J. 96 Platen 186 Präsenz (der rhythmischen Gestalt) I2.ff., i6f., 30 Pretzel 42f., 120, 132, 184, i87f. Proportionsordnung 12E, 60 f., 68 Prosa - rhythmische s. Rhythmus (Bal­ lungs-) - rhythmus s. Rhythmus (Sprach-) -und Vers 11, 20, 41, 55, 177E, i97f. Quantität 20, n8f., 131-154, 186, 193 f. Quantitierendes Prinzip 118, 13if. Rehder 47 Reihe 39, 73fr., 99fr., 102, 105-154, 172, 180, 185, -ausgang s. Kadenz Reim özf., 65, 75 ff., 83, 87fr., 92, 95, IOI, 105, 147, 198 Rhythmus Ballungs- (rhythmische Prosa) 11, 2°, 32-39. 41. 47. 53. 63 Ballungs-Gliederungs- 39-52, 53 fr., 59f., 63fr., 67 freier - 10, 18, 40, 57, 63, 70, 149

s. auch Ballungs-Gliederungs-, freier Gliederungs-) freier Gliederungs- 53-62, 63 ff., 165 innerer - s. Situations- und Metrum yß., 42, 63, 70 metrischer Gliederungs- 41 f., 54f., 63-67, 165 metrischer - (Vers-) 11, i7f>, 64, 68-71 und passim natürlicher - s. SituationsProsa- s. SprachSituations- (innerer-) 56, 69 f., 78f., 81, 91, 94, 95-100, 109, ii2f., 11411., 121-131, 133fr., 144fr., 151fr., 159fr., i66ff., 178fr., i84f., i88f., 190fr., 193fr. Sprach- (Satz- und Wort-) 17, 2032, 49» 56ff, 66, 69fr., 73, 8i, 82-95, 97ff-, 108, 112, 113-117, 119, I33f·,08,143,147,151,153, 155fr., i66ff, 171fr., 183-189, 195 ffRiege 101, 106, 140 Ritornell 8i Rondeau 95 Rutz 16 Sapphische Strophe 83f., 9of., 144fr., l62f. Saran 9, n, 20, 4if., 55, 68ff, 72fr., 85, 88, 99, 101, io6f., 114, H7f., 121, 132, 134fr., 157, 160, 166, 173 f·, !76,179, i83, 188,190, i94f. de Saussure 10 Schallanalyse 16 Schlegel, A.W.v. 186 Schnitt io6ff, 113-117, 167, 173 Schuchard 53 Schurig 160, 195 Schwere 24fr., 118, 133, 156fr., i66ff, I72f., 174-182, 183fr., 190-193

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Schwerpunkt (des Satzes) 2} ff., 167ff., 171 Seckel 10, 55, 42, 49, 85 Senkung 84, 86, 134, 148, 155, 176, 182-192, 195 -, anspringende 84, I2if., 140, 146, 148fr., i52f., 185, 187 Sestine 95 Sieburg 14 Sievers 9, 16, 24, 156 f., 193 Siziliane 75 f. Sonett 92ff., 161 Spannung s. auch Rhythmus Ausdrucks- 31, 33fr., 38ff, 54, 56, 69, i78f., 182 Gegensatz- 27, 29, 31, 100, 181 Satz- s. Sprachrhythmus Situations- s. Situationsrhythmus Wirkungs- 31, 33, 38, 466!., 54, 69, 181 Zeig- 31, 47, jof., 34f., 61, 69, i03f., i8if., 186 Spondeus ijof., i86f., 194 staccato 191 Stanze 74f., 103, io8f. Staiger 14 Stil 21, 29, 33, 53 Steglich 16 Stoltenberg 60 Storz 101 Strophe 17, 41, 54, 02f., 66, 72-104, 106, 146, 171, 193, 198 Strophenschluß 72ff., 88f., 92, 196 Tanz 13, 68, 70 Takt 9, i4f., 20, 41, 43, 63, 69, u8ff, 129. I32» T44, 149. !55f· Taktwechsel 144, 149, 173 Terzine 82, 103 f. Tonbeugung 118, 183 ff. Tonhöhe s. Melodik Trier, Jost 13

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Trochäus 20, 109, ii7ff., i26ff., 133, 144, 146, 131 Trojan 10 Überlänge s. Zusammenziehung Überschwere 178-182, 190, 194 Verbindung 83, 88 Vers i7ff, 72 - (vers) commun 107, 116 -, dramatischer 99f., 102, 116 -, epischer 100ff., 133 -fuß 9, 21, ii7ff., 128, 190 -gang 117-134,177» 181,183, i9of., 194 - (vers) libre 63 f., 160 - und Prosa s. Prosa -rahmen 9, 70 -rhythmus s. metrischer Rhythmus -, Silbenzählender 187 fr. -, stichischer 93, 99-104 Vollschwere i74ff., 178f. Voss, Joh.Heinr. 184 Wagner, Kurt 197 Wende 23 ff., 3if., 75 f., 83 fr., 91 ff, 103, i09f., 113, 173, 196 Winkler, Christian 30 Wittsack, Richard 14 Wortfuß (rhythmische Worteinheit) 24, 3of., 33ff, ii9ff, i28ff., i3if., 191 Zarncke 99, 107, 116 Zäsur 83, 101, io6f., i47f., 132, 170 Zeilenabteilung 39fr., 53 F-, 56fr., 6of., 63, 67 Zeilensprung s. Brechung Zeit und Rhythmus 11, X4ff., 17, 19. 21, 69 Zeitmaß 22f. Zusammenziehung 133 ff., 144fr., 151, 169

VERZEICHNIS DER BEHANDELTEN UND ERWÄHNTEN DICHTER UND DICHTUNGEN

Anakreontik 129 Benn Ein Wort 182 | Brentano Es sang vor langen Jahren 198 Hör es klagt die Flöte wieder 163 Singet leise leise leise 163, 168 Brockes Kirschblüte bei Nacht 64 Bürger An die Menschengesichter i8of. Sonette 93 Droste-Hülshoff Am Turme 139 Im Grase 141 Mondesaufgang 184 Eich Schuttablage 143 Eichendorff Allgemeines Wandern I30f. Auf einer Burg 177 Der Musikant 175, 182 Die Heimat. An meinen Bruder 117fr., 132 Die Nachtigallen i34f. Meeresstille 184 Fleming Grabschrift 94 Was ist die Liebe? i8if. Fischart 188 Fontane 141 Geliert 6j Der Fuchs und die Elster 160 George Flammende Wälder 112, 165 Stimmen im Strom 165 Traum und tod 142f., 149 Wir schreiten auf und ab 131 Gessner Daphnis 37 Gleim Kriegslieder eines preußischen Grenadiers 141 Goethe Achilleis 102 Adler und Taube 43 Alles gegen die Götter 193 Am Fluße I20f. An Beiinden io9f. An Charlotte v. Stein 192

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An den Mond 88{., 96fr. An Luna 191 * An Schwager Kronos 43, 156 Auf dem See 127t., 134 Bundeslied 127 Das Göttliche 43, 55 Der Fischer 72L, βγί., m, 183 Der getreue Eckart ii2f. Der Musensohn 78, 136 Der neue Amadis 79 Der Sänger 76 f. Der Schatzgräber 157 Die Braut von Korinth 77 Egmont 20 Elegie 193 Erster Verlust 126, 155, 139, 191 Euphrosyne 13 3 f. Faust 133, 173 Ganymed 43fr., 136 Gegenwart 81 Gesang der Geister über den Wassern 43, 55 Grenzen der Menschheit 43, 55, 63; Harfenspieler 138 Harzreise im Winter 43 Hermann und Dorothea nof., 13if., 176 Hochzeitslied 77t., 130 Hymnen 42ff., 49, 3 3 f., 66, 69 Im Atemholen sind zweierlei Gnaden 78 Iphigenie 20 Lilis Park 66 Mahomets Gesang 43 Mailied 169 f. Meine Göttin 43, 34 Mignon 96, 124, 183 Mit einem gemalten Band 192 Nachtgesang i39f. Nähe des Geliebten 105 f. Oden an Behrisch 5 5 Oden an den Darmstädter Kreis 5 5 Prometheus 43, 46 f. Römische Elegien 110, 132 Schadenfreude 78 f. 204

Schillers Reliquien 104, 193 Selige Sehnsucht ij8f. Tischlied 126 Vanitas 1 vanitatum vanitas 123 Wanderers Nachtlied 192 Wanderers Sturmlied 43, 34 Wechsel 130 Werthers Leiden 20, 34, 36, 38, 197 Wiederfinden 180 Willkommen und Abschied ii4f., 127, i37f., 192 Zueignung (zu den Gedichten) 108 f. Zueignung (zum Faust) 74 f. Gryphius An die Sternen 161, 170 An die weit 161, 168 Pindarische Oden 64 Vanitas mundi 107 Hagedorn 65 Der Mai i29f. Haller Uber den Ursprung des Übels 161 Harsdörffer 129 Hebel Seltsamer Spazierritt 26 Heermann Passionschoral 147 Heine Die Grenadiere 141 Don Ramiro 157 Ich grolle nicht i2if. Ich unglückseiger Atlas i24f. Sturm 57f. Hoffmann, E.T.A. 37 Hölderlin Achill 154 An den Äther 162 An die Parzen i44f. Brod und Wein 103 Der Archipelagus 162, 170L Der Einzige 51 Der gefesselte Strom 83 ff., 98 Der Genius der Jugend 169 Der Rhein 49, 51 Dichtermut 83 Empedokles 83 f. Heidelberg I48f., 177 Hymnen 42, 49, 53E, 66 Hyperion 32f., 34f., 37, 197

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Hyperions Schicksalslied 56 Patmos 5if., 53, 57 Hölty Auftrag 145 Das Landleben 148 Holz Phantasus 60 f. Keller Pankraz der Schmoller 28L Klaj Vorzug des Frühlings i29f. Kleist, Ewald v. Der Frühling 152 Kleist, Heinrich v. Der Zweikampf 27 f. Klopstock An Fanny 90 Das Rosenband 81 f. Dem Allgegenwärtigen 40 Der Zürcher See 148 Die frühen Gräber 149 f. Die Frühlingsfeier 39f., 43 Furcht der Geliebten 84 Heinrich der Vogler i4of. Hymnen 42, 49, 53f., 65 Mein Wäldchen 146L Messias 110 Oden 83, 98 Krolow Liebesgedicht i66f. Kugler Rudelsburg 132 Lenau Mein Herz 123 f. Lenz Der Waldbruder 36 Lessing 65 Der Besitzer des Bogens 23 fr., 30 Die eherne Bildsäule 22f., 25 f. Nathan der Weise u6f. Lichtwer 65 Liliencron In einer großen Stadt 128 Schwalbensiziliane 76 Luther Psalmen 36, 53L Meyer, C. F. Alte Schrift 164 Der römische Brunnen 88, nf., 138L Die alte Brücke 115 Eingelegte Ruder 164, 167 Mombert Auf der Meerterrasse 62 Mörike Der alte Turmhahn 197 Peregrina 58f., 185 Um Mitternacht 197 Müller, Maler 37

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Murner 188 Nietzsche Also sprach Zarathustra 37L, 47 Die Sonne sinkt 59 Dionysos-Dithyramben 47, 53, 59 Nachtlied 37f Nur Narr I Nur Dichter 47 Ruhm und Ewigkeit 48 Unter Töchtern der Wüste 39L Von den berühmten Weisen 38 Novalis Hymnen an die Nacht j6f. Paul, Jean 37 Petrarca 43 Pfeffel 65 Pindar 54, 64, 66 Platen Abschied von Rom 66 f. Aschermittwoch 163 Der bessere Teil 145 Ghaselen 95 Los des Lyrikers 162L Raabe 37 ardt, Luise Es sang vor langen Jahren (Vertonung) 198 Archaischer Torso Apollos 89, ii3f. "Das Einhorn 164 Der Abend 196 Der Panther 109, ii5f., 125 f., 164, 194 Der Tod der Geliebten 196 Die Insel II 172!., 196 Die Treppe der Orangerie 91 f., 98 Morgue 172 O Brunnen-Mund 183 O erst dann, wenn der Flug 91 Rühmen, das ists 170 Romantik Sonett 93 Glosse 94 Rückert Wohl endet Tod des Lebens Not 95 Salis-Seewis Letzter Wunsch 168 Sachs St. Peter mit der Gais 188ff. Schiller An die Freude ij7f., 169, 171, I78f., 194 Das eleusische Fest 88 Der Handschuh 136 Der Jüngling am Bache 179 Die Künstler 65 Dithyrambe 130L

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Don Carlos 99 f. Nänie 134 Über das Erhabene 26 Silcher Rudelsberg (Vertonung) 132 Scherenberg Prinz Louis Ferdinand 141 Stadler Vorfrühling 62 Stifter 37 Stolberg, Fr. L. v. Der Felsenstrom 63 f. Storm Die Stadt 80 Strachwitz Das Herz von Douglas 133, 140f. Stramm Untreu 67 Sturm und Drang 36, 6j Tieck Mondbeglänzte Zaubernacht I32f., ij6f. Trakl 62 Der Herbst des Einsamen 116 Kaspar Hausers Lied 165 f. Uhland Der gute Kamerad 68 Morgenlied 81 Voss, Joh. Heinr. Luise 187 Weinheber Andante 80 An den antiken Vers 9of., 98 Erste Geige 82 Kaisergruft 147 Sinfonia domestica 80 Werfel 62 Whitman 61 Zachariä Der Renomist toif. Zesen 129