Der Regionalkrimi: Ausdifferenzierungen und Entwicklungstendenzen [1 ed.] 9783737014366, 9783847114369

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Der Regionalkrimi: Ausdifferenzierungen und Entwicklungstendenzen [1 ed.]
 9783737014366, 9783847114369

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Andersheit – Fremdheit – Ungleichheit Erfahrungen von Disparatheit in der deutschsprachigen Literatur

Band 9

Herausgegeben von Paweł Zimniak und Renata Dampc-Jarosz

Wolfgang Brylla / Maike Schmidt (Hg.)

Der Regionalkrimi Ausdifferenzierungen und Entwicklungstendenzen

Mit einer Abbildung

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Universität Zielona Góra. © 2022 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Ewa Popiłka Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2699-7487 ISBN 978-3-7370-1436-6

Inhalt

Wolfgang Brylla / Maike Schmidt Ausdifferenzierungen und Entwicklungstendenzen des Regionalkrimis. Zur Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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(Historischer) Überblick über das Genre Regionalkrimi Jochen Vogt (Universität Duisburg-Essen) Regionalität und Modernisierung in der neuesten deutschsprachigen Kriminalliteratur (seit 1990). Nebst einigen Lektüreempfehlungen . . . .

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Werner Jung (Universität Duisburg-Essen) Von Essen nach Dortmund und wieder zurück. Ein kleiner Überblick über den Ruhrgebietskrimi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kartierungen des Regionalkrimis: Genretheoretische Überlegungen Thomas Kniesche (Brown University, Providence/Rhode Island) Das Grauen auf dem lächelnden Land: Erkundung des Kritischen Regionalkrimis am Beispiel von Uta-Maria Heims Glücklich ist, wer nicht vergißt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Andrea Kreuter (Universität Wien) Überlegungen zu einer Genrepoetologie des Regionalkriminalromans

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. .

Ina Schenker (Universität Bremen) Spuren der Globalisierung: Ein transkultureller DNA-Abgleich zwischen den Schweinfurter Kriminalromanen von Lothar Reichel und Ulrike Barows Baltrum-Krimis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

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Inhalt

Wolfgang Brylla (Universität Zielona Góra) Morde im Grenzland. Gattungstheoretische Überlegungen zum deutsch-polnischen »Grenzkrimi« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

Tatort: Dorf Bettina Wild (Johannes-Gutenberg-Universität Mainz) / Melanie Wigbers (Pädagogische Hochschule Heidelberg) »Du erfährst nichts, gar nichts.« Das Schweigen in Dorfgeschichte und Dorfkriminalroman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Cezary Lipin´ski (Universität Zielona Góra) Frühe deutsche Kriminalgeschichten mit fingiertem Regiotouch am Beispiel von Karl von Holteis Schwarzwaldau (1856) . . . . . . . . . . . . 189

Globalisierung im Regionalkrimi Sandra Beck (Universität Mannheim) Ermitteln, was der Fall ist: Rassismus. Noah Sows Die Schwarze Madonna. Afrodeutscher Heimatkrimi (2019) . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Bruno Arich-Gerz (RWTH Aachen University) Der andere Tatort, oder: Von Leipzig und Namibia. (Neo-)Koloniale Afrika-Topoi in deutschen TV-Krimiserien . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Melanie Stralla (Bergische Universität Wuppertal) Von Nostradamus bis Mistral: Provence-Krimis zwischen Stereotypisierung und Kulturtransfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Jennifer Grünewald (Universität Freiburg) / Hanna Rinderle (Universität Freiburg) Wodka, Wein und Antiquitäten. Zur unterschiedlichen Darstellung fremder und vertrauter Regionen bei Jan Mårtenson . . . . . . . . . . . . 263

Stadt als Akteur Hanspeter Affolter (Universität Bern) Kein Mitleid für das Opfer. Felix Mettlers Der Keiler (1990) als Zürcher Regionalkrimi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

Inhalt

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Nikolas Buck (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel) Im Dschungel von Spree-Chicago. Zur handlungskonstitutiven Bedeutung des Raums in Volker Kutschers historischem Berlin-Krimi Der nasse Fisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Elisa Garrett (Universität Bayreuth) Harzkrimi – Lokalität und Lokalpolitik unter dem Deckmantel der Narration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Leopoldo Domínguez (Universidad de Sevilla) / Eva Parra-Membrives (Universidad de Sevilla) Jenseits von Stierkampf und Flamenco: Sevilla, Traditionssubjekte und Räume der Erinnerung in Julio Muñoz Gijóns El asesino de la regañá . . 371 Autorenverzeichnis

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391

Wolfgang Brylla / Maike Schmidt

Ausdifferenzierungen und Entwicklungstendenzen des Regionalkrimis. Zur Einleitung

Einige werden sich noch an die Fernsehserie »Stadt, Land, Mord!« erinnern, die in der zweiten Hälfte der Nullerjahre vom deutschen Privatsender Sat.1 mit produziert wurde und von der sich die Macher einen sehenswerten PrimetimeErfolg erhofften.1 Dieser blieb jedoch aus: die Zuschauerzahlen ließen zu wünschen übrig. Letztendlich entschied man sich – nach nur zwei abgedrehten Staffeln – das deutsch-österreichische TV-Regiokrimi-Projekt fallen zu lassen. Auf den ersten Blick muss dieser Misserfolg verwundern, denn 2006/2007 deutete nichts darauf hin, dass eine Krimiserie, die im ländlichen Murnau spielt, weit entfernt vom urbanen Glamour, schlichtweg zum Scheitern verurteilt sein würde. Schließlich nahm die deutsche Kriminalliteratur seit den 1980er Jahren eine rasante Entwicklung und sei das Brandmahl »kriminalistische Wüste« – O-Ton Jochen Schmidt2 – los. Die nachträgliche »nachholende Modernisierung«3 rief eine neue Generation von Schriftsteller:innen auf den Plan, die mit neuartigen Erzählstoffen, -motiven und -weisen zu experimentieren begannen und der Weltkriminalliteratur nachzueifern versuchten. Da der moderne Kriminalroman des 20. und 21. Jahrhunderts im Grunde vielmehr darstelle als nur eine Erzählung und durch eine symptomatische SpielSystematik unterfüttert sei4, muss er sich einem ständigen Wandlungsprozess 1 »Stadt, Land, Mord!«, Erstausstrahlung am 10. Oktober 2006 auf ORF 1. Es liegen acht Episoden in zwei Staffeln vor (2006–2007). Regie: Dennis Satin, Thomas Nennstiel, Drehbuch: Dinah Marte Golch, Ralf Löhnhardt, Sylvia Haider, Uwe Kossmann. 2 Schmidt, Jochen: Gangster – Opfer – Detektive. Eine Typengeschichte des Kriminalromans. Frankfurt (M.)/Berlin: Ullstein 1989, S. 551. 3 Vogt, Jochen: Der deutsche Schäferhund und sein Innerer Monolog. Einige Bemerkungen zur nachholenden Modernisierung des Erzählens im neueren Kriminalroman. In: Ernst, Thomas/ Mein, Georg (Hg.): Literatur als Interdiskurs. Realismus und Normalismus, Interkulturalität und Intermedialität von der Moderne bis zur Gegenwart. München: W. Fink 2016, S. 511–520. 4 Caillois, Roger: Der Kriminalroman oder: Wie sich der Verstand aus der Welt zurückzieht, um seine Spiele zu spielen, und wie darin dennoch die Probleme der Gesellschaft behandelt werden. In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München: W. Fink 1998, S. 157–180, hier S. 163–171.

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Wolfgang Brylla / Maike Schmidt

unterwerfen und eine gewisse »Integrations- und Anpassungsfähigkeit« unter Beweis stellen.5 Dieses Anpassungspotential des Genres6 ist kaum verwunderlich, sondern fest ins Gattungscredo eingeschrieben, dem die Variabilität in puncto Schreibkonventionen eigen ist. Der englische Krimiexperte Julian Symons attestierte deswegen dem Kriminalroman eine »Zwitter«-Form7, mit der die Anschlussfähigkeit der crime fiction an andere literarische Gattungen vorweggenommen wird (›parasitäre Eigentümlichkeit‹).8 Zieht man den gegenwärtigen Kriminalroman mit all seiner Vielfalt von Spielarten als »mehrfach kodierte[n] Text« in Erwägung9, kommt man nicht umhin, ihn unter dem Gesichtspunkt einer synkretischen Schreibpoetik aufzufassen, wie es beispielsweise die polnische Literaturwissenschaftlerin Violetta Wróblewska vorschlägt.10 Zu dieser Verzahnung von Erzählmodellen, -traditionen, -ästhetiken und -gattungen gehört einmal mehr der Regionalkrimi, der, um sich nicht den Vorwurf der Kitschigkeit und billiger Unterhaltungsliteratur auszusetzen, Volker Neuhaus apostrophierend vorgeben muss, »gar keiner zu sein«.11 Dabei gäbe es, Raymond Chandler zitierend, keine »langweiligen Sujets, nur langweilige Köpfe«.12 Auch Chandler, der in seinem berühmt gewordenen Essay mit der englischen Detektivliteratur hart ins Gericht geht, verfasste, wenn man so will, Regionalkriminalromane, die an der US-Westküste situiert sind, in denen der Ich-Erzähler die Alltagstristesse von Los Angeles, das soziale Abrutschen und die Labilität von Normalbürgern schildert, die aus einfachsten Gründen zum Verbrechen verleitet werden. Einer der größten Bewunderer der Chandler’schen Prosa, Fredric Ja5 Nünning, Vera: Britische und amerikanische Kriminalromane: Genrekonventionen und neuere Entwicklungstendenzen. In: Nünning, Vera (Hg.): Der amerikanische und britische Kriminalroman. Genres – Entwicklungen – Modellinterpretationen. Trier: WVT 2008, S. 1–26, hier S. 19. 6 Vgl. Marsch, Edgar: Die Kriminalerzählung. Theorie – Geschichte – Analyse. München: Winkler 1983, S. 22. 7 Symons, Julian: Am Anfang war der Mord… Eine Kultur- und Literaturgeschichte des Kriminalromans. Eher amüsant als akademisch. München: Goldmann 1972, S. 11. 8 Vgl. Wróblewska, Violetta: Kryminał – mie˛dzy sztuka˛ (słowa) a kiczem. In: Dalasin´ski, Tomasz/Markiewka, Tomasz Szymon (red.): Kryminał. Gatunek powaz˙(a)ny. Bd. 1: Kryminał a medium (literatura–teatr–film–serial–komiks). Torun´: ProLog 2015, S. 25–38, hier S. 31. 9 Regiewicz, Adam: Pomie˛dzy zbrodniami. Komparatystyka na tropach kryminału. Gdan´sk: Katedra 2017, S. 34. 10 Wróblewska, Violetta: Gatunkowy synkretyzm czy eklektyzm? O nowej formule polskiego kryminału po 1989 roku. In: Gemra, Anna (red.): Literatura kryminalna. Bd. 1: S´ledztwo w sprawie gatunków. Kraków: EMG 2014, S. 129–150, hier S. 140. 11 Siehe Neuhaus, Volker: »Zu alt, um nur zu spielen«. Die Schwierigkeiten der Deutschen mit dem Kriminalroman. In: Moraldo, Sandro M. (Hg.): Mord als kreativer Prozess. Zum Kriminalroman der Gegenwart in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Heidelberg: Winter 2005, S. 9–19, hier S. 9. 12 Chandler, Raymond: Die simple Kunst des Mordes. In: Chandler, Raymond: Die simple Kunst des Mordes. Briefe, Essays, Notizen, eine Geschichte und ein Romanfragment. Zürich: Diogenes 1975, S. 318–342, hier S. 333.

Zur Einleitung

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meson, interpretierte das malerisch-narrativ ausgebreitete Handlungsmilieu Philippe Marlowes als »Mikrokosmos […] einer lokalen Welt«13, das stark in der Region verwurzelt ist. Und die Kategorie ›Region‹ spielt in der Kriminalliteratur seit jeher, nicht erst seit den ersten Regionalkriminalromanen, eine gewichtige, häufig jedoch übersehene und vernachlässigte Rolle; nicht nur mit Blick auf den Plotaufbau, sondern auch mit Blick auf die Strukturiertheit der verbrecherischen Handlung. Auf die Spitze getrieben ließe sich sogar behaupten, dass im Grunde jeder Krimitext, darunter fallen auch die »genrefundierenden und -formierenden Erzählvarianten«14, die klassischen Detektivgeschichten oder die Kriminalromane wie man sie heute kennt, ein Regionalkriminalroman ist, denn jeder Kriminalroman muss doch irgendwo räumlich verortet sein. Ob die Raumplatzierung in der Gattung ›Krimi‹ aus der Sicht der Region im Sinne der lokalen (Um)Welt oder aus der Sicht der (lokalen) Stadt erfolgt, ist in Wirklichkeit sekundär, insoweit der räumlichen Beschreibung nur eine Deko-Funktion zugewiesen wird, die über die grobe landschaftlich bedingte Handlungskonturierung nicht hinausgeht. Wenn der regionale Dorf- oder Stadtraum im Kriminalroman hauptsächlich als bloßer Hintergrund zum Einsatz kommt, mit dem man das Erzählte ausschmückt und somit auch bei einigen Leser:innen für Identifikationsmomente (»dat kenne ick!«, »dort war ich!«) sorgt – »to evoke vividly the place in which the story occurs«15 –, ist er entweder als (redundanter) Lückenbüßer auf der story-Ebene zu verstehen oder als PR-Gimmick zum Zwecke des Tourismusmarketings. Sobald man jedoch dem Prinzip des Regionalen im Krimi eine Erzählfunktion zuschreibt, kann sich der Regio-Raum zum relevanten Konstruktionsbaustein der discourse-Ebene mausern; aus dem Handlungstusch wird ein Handlungsakteur.16 Diese strukturelle Komponente – die Funktionalisierung der Region für den Krimi – gilt als Geburtsstunde des Regionalkrimis, die sich auf die 1980er Jahre datieren lässt. Über ihn erleben Kategorien wie Provinz, Region oder Heimat ihr Comeback, das bis heute anhält: Begangene Morde, Totschläge bzw. verübte Kapitalverbrechen in der (fiktionalen) Provinz scheinen trotz der scharfen Kritik, 13 Jameson, Fredric R.: Über Raymond Chandler. In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München: W. Fink 1998, S. 378–397, hier S. 384. 14 Beck, Sandra: Narratologische Ermittlungen. Muster detektorischen Erzählens in der deutschsprachigen Literatur. Heidelberg: Winter 2017, S. 335. Beck unterscheidet daraufhin auch zwischen den genretradierenden und -variierenden sowie den genretranszendierenden und -transformierenden Erzählvarianten (S. 335–336). 15 Frackman, Kyle: Vor Ort: The Functions and Early Roots of German Regional Crime Fiction. In: Kutch, Lynn M./Herzog, Todd (ed.): Tatort Germany. The Curious Case of GermanLanguage Crime Fiction. Rochester, NY: Camden House 2014, S. 23–40, hier S. 25. 16 Zur Rolle des Raumes in der Kriminalliteratur siehe u. a. Wigbers, Melanie: Krimi-Orte im Wandel. Gestaltung und Funktionen der Handlungsschauplätze in Kriminalerzählungen von der Romantik bis in die Gegenwart. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006.

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der sich der Regionalkrimi stellen musste17, eine enorme Anziehungskraft zu besitzen. Es existiert kaum eine Region in Deutschland und darüber hinaus, die mittlerweile nicht ihren eigenen Regionalkrimi zu verzeichnen hat. Die Literaturwissenschaft hingegen beginnt gerade erst, das Potential dieses Genres zu erkennen: Sowohl methodisch als auch erzähltheoretisch sind die Regionalkrimis bisher noch nicht angemessen literatur- und kulturwissenschaftlich in den Blick genommen worden.18 Die Beiträge der ersten Sektion des vorliegenden Sammelbandes, die sich dem historischen Überblick über das Genre Regionalkrimi widmen, schauen zurück auf die regionalen (Werner Jung) und ästhetischen (Jochen Vogt) Anfänge des Regionalkrimis, ohne dessen Gegenwart auszusparen, so dass erste Kontinuitäten und Differenzen innerhalb der Genres zum Vorschein kommen. Dass bei solchen Reflexionsprozessen der Region/des Regionalen auch das Genre Regionalkrimi selbst hinterfragt und auf den Prüfstand gestellt wird, ist nur deren logische Konsequenz. Bisher sind in Literaturwissenschaft wie -kritik bereits einige Subgenres herausgearbeitet worden wie der historische Regiokrimi19, der sozialkritisch wie psychologisch angehauchte Regiokrimi oder der Stadtteil-Regiokrimi.20 Weitere Ausdifferenzierungsprozesse des Genres führen jedoch fortschreitend zu Modifikationen, die strukturell, ästhetisch oder thematisch motiviert sein können. Aus diesem Grund widmen sich die Beiträge der zweiten Sektion der Kartierung von Regionalkrimis, indem sie mittels genretheoretischer bzw. ›genrepoetologischer‹ (Andrea Kreuter) Überlegungen Strömungen des Regionalkrimis herausarbeiten, die sich wie der »transkulturelle« (Ina Schenker), »kritische« (Thomas Kniesche) oder »no border« (Wolfgang Brylla) Regionalkrimi als Subgenre verstehen lassen.

17 Siehe beispielsweise Heinrich, Julius: Jedem Kaff sein Krimi. In: »Der Tagesspiegel« vom 30. August 2016. URL: https://www.tagesspiegel.de/kultur/regionalkrimis-jedem-kaff-sein -krimi/14470162.html / letzter Zugriff am 29. Dezember 2021; Kuppler, Lisa: Das U und E des deutschen Krimis. In: »Frankfurter Allgemeine Zeitung« vom 14. April 2015. URL: http:// www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/kriminalromane-das-u-und-e-des-deutschen-kri mis-13534198.html / letzter Zugriff am 29. Dezember 2021. 18 Erste Ansätze in diese Richtung unternimmt beispielsweise der Sammelband: Parra-Membrives, Eva/Brylla, Wolfgang (Hg.): Facetten des Kriminalromans. Ein Genre zwischen Tradition und Innovation. Tübingen: Narr Francke Attempto 2015. 19 Siehe dazu Schmidt, Maike: Der historische Regionalkrimi. In: Friedrich, Hans-Edwin (Hg.): Der historische Roman. Erkundung einer populären Gattung. Frankfurt (M.): P. Lang 2013, S. 245–256. 20 Vgl. beispielsweise Gogol, Simone: Lichterfelde ist einen Mord wert: Beate Vera veröffentlicht Krimi aus ihrem Kiez. In: »StadtrandNachrichten. Online-Zeitung für Steglitz-Zehlendorf« vom 28. Januar 2014. URL: https://www.stadtrand-nachrichten.de/lichterfelde-ist-einen-mordwert-beate-vera-veroffentlicht-krimi-aus-ihrem-kiez/ / letzter Zugriff am 29. Dezember 2021.

Zur Einleitung

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Ebenso wie das Subgenre ›Geschichtskrimi‹ als gattungsspezifische Reaktion auf den weltweiten history boom der letzten zwei, drei Jahrzehnte zu lesen ist21, ebenso verhält es sich mit dessen ›Zwillingsbruder‹, dem Regionalkrimi, zumal der Regionaldiskurs seit einigen Jahren hoch im Kurs steht. Dies erklärt zwar nicht die Motivationen und Beweggründe der Autor:innen, die in den 1980er Jahren um die Kleinverlagshäuser wie Emons oder Grafit, nur um die zwei bekanntesten zu nennen, versammelt waren und sich entschieden, Kriminalromane im Brennglas des Regionalen zu verfassen und somit das Böse aus den Ballungsgebieten in die ›Heimat‹ zu transferieren. Mit dem Verweis auf die Hochkonjunktur der Region lässt sich allerdings zumindest teilweise der gegenwärtige Lese- und Zuschauererfolg belegen. Reinhard Jahn stellt fest, dass der Regionalkrimi »etwas von der Heimat der Menschen« erzähle.22 Was dieses »etwas« in Wirklichkeit sein sollte, ist unklar, denn hinter diesem »etwas« können sich sowohl trivial-kitschige Verniedlichungs- und Glorifizierungsversuche – mit anderen Worten: die subjektive Verklärung der Heimatregion – als auch Revisionsversuche des Heimatraums verbergen. Gute Regionalkrimis – diese saloppe Wertung sei uns bitte verziehen – bilden keine »Fortsetzung der Heimatliteratur mit anderen Mitteln«23, sie demontieren den Heimattopos, um dann in einem Akt der Re- bzw. Neukonstruktion ein anderes (literarisches) Heimat- und Regionenbild zu servieren. Diesem Tatort ›Dorf‹ widmen sich die beiden Beiträge der dritten Sektion. Während Bettina Wild und Melanie Wigbers dem Motiv des Schweigens durch die (Regional-)Krimiliteraturgeschichte folgen, analysiert Cezary Lipin´ski einen (Nicht-)Krimi, der seinen Regionalbezug nur vortäuscht. Man könnte meinen, dass der Regionalkrimi mit seinem Hang zur Regionalität und Heimatlichkeit, mit seinen ›Parzellierungs- und Regionalisierungstendenzen‹, die identitätsstiftend wirken, ein typisch deutsches Phänomen ist. Allerdings werden Regionalkrimis auch in England, Frankreich, den USA oder auch in Polen geschrieben und verkauft. Überall kann man eine verdeckte Sehnsucht einerseits nach Geschichte und andererseits nach Regionalem ausfindig machen. Die übernationale Beliebtheit des Regionalkrimis lässt sich literaturgeschichtlich begründen, denn in der Entwicklung des Krimi-Genres lässt sich bereits eine ganze Reihe von Subgenres nennen, in denen vor allem die Krimi-Orte ein konstituierendes Merkmal darstellen und die als Vorläufer für den Regionalkrimi begriffen werden können. Exemplarisch anzuführen sind beispielsweise die schweizerischen Dorfkrimis von Friedrich Glauser, die schwedischen SozioKrimis des Duos Sjöwall/Wahlöö, die Florenz- und Venedig-Krimis ebenso wie 21 Siehe dazu u. a. den Sammelband von Korte, Barbara/Paletschek, Sylvia (Hg.): Geschichte im Krimi. Beiträge aus der Kulturwissenschaft. Köln: Böhlau 2009. 22 Jahn, Reinhard: Was ist ein Regionalkrimi? Eine Autopsie. URL: http://krimiblog.blogspot.com /2009/09/was-ist-ein-regionalkrimi-eine-autopsie.html / letzter Zugriff am 8. November 2021. 23 Ebd.

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Wolfgang Brylla / Maike Schmidt

die Krimis von Henning Mankell, der auf dem deutschen Krimi-Markt enorme Erfolge erzielen konnte. Ein besonderes Augenmerk soll deshalb auf die Globalisierung im Regionalkrimi gelegt werden, die sich entweder intertextuell oder auf Handlungsebene als Themenfeld etabliert. Die Beiträge dieser vierten Sektion beschäftigen sich mit Merkmalen des Kulturtransfers (Melanie Stralla), mit der Verhandlung von Selbst- und Fremdbildern (Jennifer Grünewald, Hanna Rinderle) oder mit interkulturellem Erzählen und (rassistischen) Afrika-Topoi (Bruno Arich-Gerz, Sandra Beck). Das narrative Potential des Regionalkrimis liegt weniger in der Veranschaulichung und Konservierung des Alten, sondern in der Produktion des Neuen. Darunter lässt sich beispielsweise die Ausdifferenzierung dessen fassen, was als ›Region‹ zu verstehen ist: So lässt sich derzeit vermehrt eine ›Regionalisierung der Stadt‹ beobachten24, die traditionell mit dem Krimi der hardboiled school und damit mit tendenziell gegensätzlichen Kategorien von ›Raum‹ in Verbindung steht. Die Beiträge der fünften Sektion zeigen mit dem Fokus auf die Stadt als handlungskonstitutiven Akteur auf, wie traditionelle Regionalkrimi-Themen, -Merkmale und -Motive25 – u. a. Alterität der Figuren und der Form (Hanspeter Affolter, Nikolas Buck), Lokalpolitik und -geschichte (Leopoldo Domínguez, Eva Parra-Membrives, Elisa Garrett) sowie regionale bzw. städtische Stereotype – innerhalb der Stadt-Krimis zum Tragen kommen. Als Herausgeber erhoffen wir uns, dass dieser Sammelband einen Beitrag zur gattungstheoretischen (quasi literaturintern) und gesellschaftsorientierten (quasi literaturextern) Erschließung des Regionalkriminalromans leisten wird. In den Einzelbeiträgen werden verschiedene Fragen nach dem Facettenreichtum der Regionalkategorie im Kriminalroman sowohl in diachroner als auch synchroner Perspektive aufgeworfen; es werden deutschsprachige wie nicht-deutschsprachige Krimis behandelt, aus der Gattungsgegenwart wie Gattungsgeschichte; es wird ein gewisses »Rewriting«26 des Krimigenres betrieben, um einerseits die Variantenvielfalt der Gattungsschule zu beleuchten und andererseits auf die unterschiedlichen Modelle der Gattungshandhabung aufmerksam zu machen. Die hier präsentierten Ergebnisse, die die Ausdifferenzierungen und Entwicklungen des Regionalkrimis in den Blick nehmen, sollen wiederum als Folie für

24 Vgl. Schmidt, Maike: Berlin-Krimis seit 2000. Von der Metropole zur Provinz. In: ParaMembrives, Eva/Brylla, Wolfgang (Hg.): Facetten des Kriminalromans. Ein Genre zwischen Tradition und Innovation. Tübingen: Narr 2015, S. 103–117. 25 Siehe dazu beispielsweise Bonter, Urszula: Stadt – Land – Mord. Einige Bemerkungen zu den aktuellen deutschen Regionalkrimis. In: Parra-Membrives, Eva/Brylla, Wolfgang (Hg.): Facetten des Kriminalromans. Ein Genre zwischen Tradition und Innovation. Tübingen: Narr 2015, S. 91–101. 26 Vgl. Beck, Sandra: Narratologische Ermittlungen, S. 291.

Zur Einleitung

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die Beobachtung der folgenden Strömungen und Tendenzen des Regionalkrimis dienen. Wolfgang Brylla und Maike Schmidt Zielona Góra und Kiel im Januar 2022

Literatur Beck, Sandra: Narratologische Ermittlungen. Muster detektorischen Erzählens in der deutschsprachigen Literatur. Heidelberg: Winter 2017. Bonter, Urszula: Stadt – Land – Mord. Einige Bemerkungen zu den aktuellen deutschen Regionalkrimis. In: Parra-Membrives, Eva/Brylla, Wolfgang (Hg.): Facetten des Kriminalromans. Ein Genre zwischen Tradition und Innovation. Tübingen: Narr 2015, S. 91–101. Caillois, Roger: Der Kriminalroman oder: Wie sich der Verstand aus der Welt zurückzieht, um seine Spiele zu spielen, und wie darin dennoch die Probleme der Gesellschaft behandelt werden. In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München: W. Fink 1998, S. 157–180. Chandler, Raymond: Die simple Kunst des Mordes. In: Chandler, Raymond: Die simple Kunst des Mordes. Briefe, Essays, Notizen, eine Geschichte und ein Romanfragment. Zürich: Diogenes 1975, S. 318–342. Frackman, Kyle: Vor Ort: The Functions and Early Roots of German Regional Crime Fiction. In: Kutch, Lynn M./Herzog, Todd (ed.): Tatort Germany. The Curious Case of GermanLanguage Crime Fiction. Rochester, NY: Camden House 2014, S. 23–40. Jameson, Fredric R.: Über Raymond Chandler. In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München: W. Fink 1998, S. 378–397. Korte, Barbara/Paletschek, Sylvia (Hg.): Geschichte im Krimi. Beiträge aus der Kulturwissenschaft. Köln: Böhlau 2009. Marsch, Edgar: Die Kriminalerzählung. Theorie – Geschichte – Analyse. München: Winkler 1983. Neuhaus, Volker: »Zu alt, um nur zu spielen«. Die Schwierigkeiten der Deutschen mit dem Kriminalroman. In: Moraldo, Sandro M. (Hg.): Mord als kreativer Prozess. Zum Kriminalroman der Gegenwart in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Heidelberg: Winter 2005, S. 9–19. Nünning, Vera: Britische und amerikanische Kriminalromane: Genrekonventionen und neuere Entwicklungstendenzen. In: Nünning, Vera (Hg.): Der amerikanische und britische Kriminalroman. Genres – Entwicklungen – Modellinterpretationen. Trier: WVT 2008, S. 1–26. Parra-Membrives, Eva/Brylla, Wolfgang (Hg.): Facetten des Kriminalromans. Ein Genre zwischen Tradition und Innovation. Tübingen: Narr 2015. Regiewicz, Adam: Pomie˛dzy zbrodniami. Komparatystyka na tropach kryminału. Gdan´sk: Katedra 2017. Schmidt, Jochen: Gangster – Opfer – Detektive. Eine Typengeschichte des Kriminalromans. Frankfurt (M.)/Berlin: Ullstein 1989.

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Wolfgang Brylla / Maike Schmidt

Schmidt, Maike: Der historische Regionalkrimi. In: Friedrich, Hans-Edwin (Hg.): Der historische Roman. Erkundung einer populären Gattung. Frankfurt (M.): P. Lang 2013, S. 245–256. Schmidt, Maike: Berlin-Krimis seit 2000. Von der Metropole zur Provinz. In: Para-Membrives, Eva/Brylla, Wolfgang (Hg.): Facetten des Kriminalromans. Ein Genre zwischen Tradition und Innovation. Tübingen: Narr 2015, S. 103–117. Symons, Julian: Am Anfang war der Mord… Eine Kultur- und Literaturgeschichte des Kriminalromans. Eher amüsant als akademisch. München: Goldmann 1972. Vogt, Jochen: Der deutsche Schäferhund und sein Innerer Monolog. Einige Bemerkungen zur nachholenden Modernisierung des Erzählens im neueren Kriminalroman. In: Ernst, Thomas/Mein, Georg (Hg.): Literatur als Interdiskurs. Realismus und Normalismus, Interkulturalität und Intermedialität von der Moderne bis zur Gegenwart. München: W. Fink 2016, S. 511–520. Wigbers, Melanie: Krimi-Orte im Wandel. Gestaltung und Funktionen der Handlungsschauplätze in Kriminalerzählungen von der Romantik bis in die Gegenwart. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006. Wróblewska, Violetta: Gatunkowy synkretyzm czy eklektyzm? O nowej formule polskiego kryminału po 1989 roku. In: Gemra, Anna (red.): Literatura kryminalna. Bd. 1: S´ledztwo w sprawie gatunków. Kraków: EMG 2014, S. 129–150. Wróblewska, Violetta: Kryminał – mie˛dzy sztuka˛ (słowa) a kiczem. In: Dalasin´ski, Tomasz/ Markiewka, Tomasz Szymon (red.): Kryminał. Gatunek powaz˙(a)ny. Bd. 1: Kryminał a medium (literatura–teatr–film–serial–komiks). Torun´: ProLog 2015, S. 25–38.

Internetquellen Gogol, Simone: Lichterfelde ist einen Mord wert: Beate Vera veröffentlicht Krimi aus ihrem Kiez. In: »StadtrandNachrichten. Online-Zeitung für Steglitz-Zehlendorf« vom 28. Januar 2014. URL: https://www.stadtrand-nachrichten.de/lichterfelde-ist-einen-mord -wert-beate-vera-veroffentlicht-krimi-aus-ihrem-kiez/ / letzter Zugriff am 29. Dezember 2021. Heinrich, Julius: Jedem Kaff sein Krimi. In: »Der Tagesspiegel« vom 30. August 2016. URL: https://www.tagesspiegel.de/kultur/regionalkrimis-jedem-kaff-sein-krimi/14470162. html / letzter Zugriff am 29. Dezember 2021. Jahn, Reinhard: Was ist ein Regionalkrimi? Eine Autopsie. URL: http://krimiblog.blogspot. com/2009/09/was-ist-ein-regionalkrimi-eine-autopsie.html / letzter Zugriff am 8. November 2021. Kuppler, Lisa: Das U und E des deutschen Krimis. In: »Frankfurter Allgemeine Zeitung« vom 14. April 2015. URL: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/kriminalroma ne-das-u-und-e-des-deutschen-krimis-13534198.html / letzter Zugriff am 29. Dezember 2021.

(Historischer) Überblick über das Genre Regionalkrimi

Jochen Vogt (Universität Duisburg-Essen)

Regionalität und Modernisierung in der neuesten deutschsprachigen Kriminalliteratur (seit 1990). Nebst einigen Lektüreempfehlungen1

Seit den frühen 1990er Jahren ist in der deutschsprachigen Kriminalliteratur, also im wiedervereinigten Deutschland, in Österreich und der deutschsprachigen Schweiz, ein enormer quantitativer Zuwachs der Produktion und eine unbestreitbare und genrespezifische Steigerung der literarischen Qualität zu beobachten, mit der sie endlich auch Anschluss an die internationalen Standards gefunden hat. Damit setzt eine bis heute anhaltende Ausdifferenzierung von verschiedenen Subgenres, thematischen Komplexen und individuellen Schreibweisen ein – ein Prozess, der sich allerdings, weitgehend gleichzeitig, auf verschiedenen literarischen Niveaustufen und mit unterschiedlich großem kommerziellen Erfolg entfaltet. Insofern ist die Entwicklung des Genres nicht auf einen festen Typus zu reduzieren und schwieriger zu fassen, als es noch bei dem sog. »Soziokrimi« der 1970er und frühen 1980er Jahre der Fall war. Im Folgenden versuche ich, einige wichtige Tendenzen unter den Stichwörtern »Regionalismus« und »Modernisierung« zu fassen und anschaulich zu machen – ohne die angesprochenen Unterschiede einzuebnen.

Ein Brief Im Jahr 2010 erhielt ich, wie andere Kritiker auch, einen Werbebrief aus dem traditionsreichen Hause S. Fischer, also dem Hausverlag von Hugo von Hofmannsthal, Sigmund Freud, Franz Kafka und Thomas Mann. Darin teilte einer der heute umsatzstärksten Autoren des Hauses, Klaus-Peter Wolf, mir ›persönlich‹ Folgendes über sich und seine Werke mit:

1 Bei dem folgenden Beitrag handelt es sich um eine korrigierte und aktualisierte Fassung von: Vogt, Jochen: Regionalität und Modernisierung in der neuesten deutschsprachigen Kriminalliteratur (1990–2015). Nebst einigen Lektüreempfehlungen. In: »Germanica« 58 (2016), S. 13– 39.

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Nur weil Klaus-Peter Wolfs Kriminalromane in Zeit und Raum sehr genau verortet sind und im Titel das Wort ›Ostfriesland‹ tragen, werden sie oft als Regionalkrimi abgetan. Wer sie aber liest, hat nie das Gefühl, einen Regio-Krimi zu lesen, sondern ein genaues Psychogramm einer Gesellschaft am Rande des Abgrunds.

Ostfriesland ist eine ruhige, geographisch etwas randständige Gegend, die vor allem für ihre Teemischung, bewährte Regenkleidung, die Wortkargheit der Einheimischen und das vielleicht beste deutsche Bier bekannt ist (und natürlich auch für die »Ostfriesenwitze«, in denen die sonstigen Deutschen jene Wortkargheit bösartig als Einfalt missdeuten). Nun gibt es also auch die Ostfriesenkrimis von Klaus-Peter Wolf, insgesamt neun Titel, vom Ostfriesenkiller (2007) bis zur Ostfriesenwut (2015), in einer geschätzten Gesamtauflage von etwa fünf Millionen Exemplaren, meist im Taschenbuch. Da ist man versucht, die Werbung auf dem Einwickelpapier einer ostfriesischen Metzgerei zu übernehmen: »Regional ist erste Wahl!« Tatsächlich nutzt der Verlag dann aber, in Verbindung mit einer lebensgroß aufgestellten Ganzkörperfotografie des Autors, in den Buchhandlungen den nicht sehr viel subtileren Slogan: »Ostfriesland hat den Superstar!« Was sagt uns dies? Das Wortfeld ›Region/regional‹ hat sich längst in der deutschen Umgangssprache etabliert. Es bezeichnet nicht nur Wurstwaren und sonstige Lebensmittel, sondern auch literarische Werke, wobei es offenbar einerseits als Marken-Merkmal und Gütesiegel in Anspruch genommen, andererseits aber als negatives Wertungskriterium gefürchtet und abgewehrt wird. »Etwas ist nicht geheuer,« möchte man da mit dem philosophischen Krimileser Ernst Bloch sagen, »damit fängt es an. […] Der Fall selber muss es in sich haben, so ganz nebenbei.«2

Was heißt Regionalität? Tatsächlich tauchen der Begriff der Region und das angelagerte Wortfeld in deutschen Wörterbüchern erst in den 1950er Jahren auf. Das legt die Vermutung nahe, dass sie traditionelle Begrifflichkeiten ersetzen, die durch den nationalsozialistischen Missbrauch kaum noch gebrauchsfähig oder zumindest beschädigt sind: Heimat, Volk, Nation (von NS-Archaismen wie »Gau« und »Lebensraum« zu schweigen). Dies wiederum ist nicht falsch, aber bei Weitem nicht hinreichend, um die Konjunktur des Regionalen zu erklären, die sich seit Mitte der 1970er Jahre eben nicht nur in der Bundesrepublik anbahnt. Sie wird, lange bevor jemand das Schlagwort Globalisierung kennt oder benutzt, aus sozialen 2 Bloch, Ernst: Philosophische Ansicht des Detektivromans (1965). In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München: W. Fink 1998, S. 38–51, hier S. 38.

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und politischen Protest- und Separationsbewegungen mit antizentralistischer Stoßrichtung gespeist, zunächst vor allem in Frankreich und Spanien. Für Deutschland war der regionale, gleichzeitig aber staatsgrenzen- und klassenüberschreitende, und vor allem erfolgreiche Widerstand gegen den Bau eines Atomkraftwerks in Wyhl am Oberrhein ein Schlüsselereignis. Inzwischen ist ›Regionalität‹ eine in Alltagssprache und Alltagshandeln selbstverständliche Kategorie, aber längst auch ein Schlüsselwort für Maßnahmen und Strategien ›von oben‹ geworden, besonders in der Verkehrs- und Infrastrukturpolitik, in der Energiewirtschaft, im Tourismus und der Image- oder Konsumwerbung. Wer heute beispielsweise in Freiburg in eine Straßenbahn steigt, tut dies am besten mit der Regio-Karte, die ihn oder sie bis an oder gar über die französische bzw. Schweizer Grenze bringt. Die Tourismusmanager arbeiten an einer einheitlichen Werbestrategie für die dreistaatliche »Regio Oberrhein«, von den Münstertürmen in Freiburg, Strasbourg und Basel begrenzt, und zielen damit auf eine neue zahlungskräftige Klientel aus Fernost oder Russland, kaum noch aus den USA, dafür auf die ›regionalen‹ Nachbarn in Italien und Frankreich. Der Begriff des Regionalen ist also durchaus ambivalent: Er bezeichnet einerseits den Protest oder Widerstand gegen zentralistische Planungen, gegen die Metropolen, auch gegen Globalisierung, und andererseits ein neues, heutigen Mentalitäten und Lebensgewohnheiten angepasstes Konzept der Beeinflussung und Steuerung von Bevölkerung und Konsumenten. Das reflektiert die zunehmende Angleichung von städtischen und ländlichen Lebensformen, die durch Modernisierung und Globalisierung bewirkt werden; die ›Region‹ ersetzt so auch die traditionelle Bezeichnung ›Provinz‹ und verwischt deren Gegensatz zur ›Metropole‹. Dabei bleiben Begriffsdefinitionen für die Region als »Raum mittlerer Größe«, wie sie in der neueren Sozialgeographie und Stadtsoziologie versucht werden, relativ allgemein und unscharf wie in der folgenden Paraphrase nach dem führenden Sozialgeographen Benno Werlen von der Universität Jena: Regionen integrieren eine heterogene Population mit gestreuten Milieus, pluralen Lebensstilen, Migrationskulturen, Transnationalitäten etc. Sie können als flexible Einheiten verstanden werden, die dem Umstand Rechnung tragen, dass lokal verankerte, traditionale Lebensformen nicht mehr dominieren, sondern nur noch eine Möglichkeit neben anderen darstellen. […] Sie kommen einem subjektiven Bedarf an Zugehörigkeit entgegen, der sich jedoch weniger am Überkommenen als an [alltäglichen] Routinen orientiert, damit aber auch die prinzipielle Austauschbarkeit der Regionen voraussetzt.3 3 Ammann, Wilhelm: »Regionalität« in den Kulturwissenschaften. In: Ammann, Wilhelm/Mein, Georg/Parr, Rolf (Hg.): Periphere Zentren oder zentrale Peripherien? Kulturen und Regionen Europas zwischen Globalisierung und Regionalität. Heidelberg: Synchron 2008, S. 13–30, hier S. 19. Vgl. Werlen, Benno: Alltägliche Regionalisierungen unter räumlich-zeitlich entankerten Lebensbedingungen. In: »Informationen zur Raumentwicklung« H. 9/10 (2000), S. 611–622

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In diesem Zusammenhang können dann kollektive Diskurse und Symbole (und damit auch populäre Formen der Unterhaltungskultur wie der Krimi als Buch, Film und im Fernsehen) funktional und rezeptionsästhetisch durchaus wichtig werden. Allerdings hat auch die neuere, kulturwissenschaftlich ›gewendete‹ Literatur- und Medienwissenschaft in Deutschland das analytische Potential dieser Perspektive bisher noch kaum ausgeschöpft.

Einige Voraussetzungen für den Regionalkrimi Die Tradition einer deutschsprachigen Kriminalliteratur ist bekanntlich aus literarischen wie historischen Gründen schwach und diskontinuierlich.4 Der »Neue deutsche Kriminalroman« der frühen 1970er Jahre verdankte sich einerseits dem »sozialliberalen« Zeitgeist, insofern er vor allem auf soziale Ursachen von Kriminalität abhob, andererseits der sehr verzögert einsetzenden Rezeption der amerikanischen und europäischen Genre-Klassiker, auch hier im Buch, Film und Fernsehen. (Auch in den USA wird übrigens der Beginn einer regionalization des Genres auf die frühen 1970er Jahre datiert. Anders gesagt: Ohne TVSerien wie The Rockford Files (Detektiv Rockford – Anruf genügt, 1978–1980, in Deutschland seit 1976 in der ARD) und The Streets of San Francisco (Die Straßen von San Francisco, 1972–1977, in Deutschland seit 1974 im ZDF) hätte es vermutlich auch keinen deutschen Regionalkrimi gegeben.) Nach einer kurzen Phase des Experimentierens mit fiktiven Handlungsorten pegeln sich praktisch alle deutschen Autoren auf real existierende, wiedererkennbare und überprüfbare »Tatorte« ein. Zur gleichen Zeit, genau 1970, startet die Fernsehserie Tatort, mit über 1000 Folgen bisher die erfolgreichste deutsche Fernsehsendung, ja die wichtigste Errungenschaft der westdeutschen Alltagskultur. Für unser Thema ist sie relevant, weil sowohl in ihrer Produktionsweise als auch inhaltlich ganz regionalistisch strukturiert: Die derzeit neun unabhängigen Anstalten unter dem Dach der ARD (allgemein »Das Erste Programm« genannt) produzieren jeweils eigene (teils sogar mehrere parallele) Serien an verschiedenen Schauplätzen aus ihrem jeweiligen Sendegebiet, von Kiel bis Konstanz, von Saarbrücken bis Dresden (und sogar bis Zürich (SRF) und Wien (ORF)). Der durchschlagende Erfolg in 50 Jahren hat eine Reihe von spin-offs und Konkurrenzserien in der ARD selbst, im ZDF und bei den privaten Sendern inspiriert, die heute ein deutschlandweites und wochendeckendes Netzwerk bilden. Ganz offensichtlich spricht sowie das Standardwerk von Werlen, Benno (Hg.): Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen. 3 Bde. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 1995, 2007. 4 Detaillierter als sonst üblich wird die deutschsprachige Kriminalliteratur in der neuesten Überblicksdarstellung behandelt, die jedoch den internationalen Rahmen nicht vernachlässigt: Kniesche, Thomas: Einführung in den Kriminalroman. Darmstadt: WBG 2015.

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ein erkennbar lokaler oder regionaler Schauplatz und Handlungsrahmen die Emotionen, Erwartungen und das Orientierungsbedürfnis vieler Zuschauer an – ganz gleich ob man dies nun als kompensatorische Reaktionen auf die rasant zunehmenden Erfahrungen der Entgrenzung und virtuellen Vernetzung in einer globalisierten Welt erklären mag oder nicht. Für die Entwicklung eines eigenständigen deutschen Kriminalromans mit analytischem Anspruch und literarischem Niveau war Tatort nicht nur wichtig, weil einige ältere Autoren, die dem »Neuen deutschen Kriminalroman« zuzurechnen sind, wie etwa Felix Huby (der mehr Drehbücher für diese Reihe verfasst hat als irgendein anderer), ihre Stoffe und Stories in beiden Medien verwertet haben; sie sind allerdings inzwischen von einer jüngeren, stärker fernseh- und filmästhetisch orientierten Generation abgelöst worden. Vielmehr hat diese »Reihe von Serien« unter dem Namen Tatort5 insgesamt, trotz unvermeidlich erheblicher Niveauschwankungen zwischen einzelnen Serien und Folgen, das Fernseh- und Lesepublikum, aber auch die Autoren an handwerkliche Mindeststandards gewöhnt und damit das Krimigenre in Deutschland insgesamt breitenwirksam und salonfähig gemacht. Nicht vergessen sollte man schließlich, dass auch die deutsche mainstream-Literatur, also etwa die der Autoren und Autorinnen aus der Gruppe 47, nach 1945 durchaus regionalistisch geprägt war, denken wir nur an Heinrich Bölls Rheinland und Martin Walsers Bodensee, an Günter Grass’ Danzig oder an Uwe Johnsons Mecklenburg und auch an seine Upper West Side in New York City.

…und ein paar frühe Versuche Das heißt sicher nicht, dass die frühen Regional- oder Lokalkrimis sich bewusst an solchen hochliterarischen Vorbildern orientiert hätten. Doch ist aufschlussreich, wie sich der regionale Krimi als Typus Mitte der 1980er Jahre herausgebildet hat und zunehmend erfolgreich war. Das untersucht man am besten an einem – natürlich: regionalen – Beispiel.

5 Zu den einzelnen Folgen und Serien: Titel, Daten und Fakten. URL: www.tatort-fundus.de / letzter Zugriff am 8. Februar 2021. Zur Forschung: Vogt, Jochen: »Tatort« – Der wahre deutsche Gesellschaftsroman. Eine Projektskizze. In: Vogt, Jochen (Hg.): MedienMorde. Krimis intermedial. München: W. Fink 2005, S. 111–129; Hißnauer, Christian/Scherer, Stefan/Stockinger, Claudia (Hg.): Föderalismus in Serie. Die Einheit der ARD-Reihe »Tatort« im historischen Verlauf. Paderborn: W. Fink 2014; Hißnauer, Christian/Scherer, Stefan/Stockinger, Claudia (Hg.): Zwischen Serie und Werk. Fernseh- und Gesellschaftsgeschichte im »Tatort«. Bielefeld: transcript 2014; Buhl, Hendrik: Tatort. Gesellschaftspolitische Themen in der Krimireihe. Konstanz/München: UVK 2013.

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Im Jahr 1986 gründet der kaufmännische Angestellte Friedrich Hitzbleck in Essen einen eigenen Verlag, in dem er als »Conny Lens« einige Krimis mit komödiantischem Einschlag publiziert und unter das Seriensignet »Steeler Straße« stellt. Das war und ist eine enge und lebhafte, von sozialen Kontrasten und ethnischer Vielfalt geprägte Einkaufsstraße am Essener Wasserturm, der durch die blutigen Ruhrkämpfe von 1923 in die Zeitgeschichte eingegangen ist. Lens bleibt aber ganz gegenwärtig, verbindet Detailrealismus und regionalsprachliche Zitate mit slapstick-Elementen, publiziert später im kurzlebigen HaffmannsVerlag, bevor er sich dauerhaft als Drehbuchschreiber für TV-Vorabendserien, öfters mit Berliner Schauplatz, verdingt. Schon 1984 hatte Corinna Kawaters, Soziologiestudentin an der Ruhr-Universität in Bochum, den schmalen, anarchistisch-feministisch eingefärbten Krimi Zora Zobel findet die Leiche herausgebracht, der im alternativen Milieu zum Kultbuch wurde, obwohl (oder weil) der Szenenjargon die dürftige Handlung kaum verdecken kann. Zora Zobel war damals nur in linken Buchläden und über den »2001-Versand« erhältlich. Die Autorin hat nach vielen Jahren, die sie im südamerikanischen Untergrund verbrachte, 2010 mit ihrer Heldin Zora einen mäßig erfolgreichen Comeback-Versuch gewagt. Biederer, aber auch solider erzählt Werner Schmitz, Kriminalbeamter aus Bochum, der 1985 mit Dienst nach Vorschuß debütierte und bis heute ein beliebter Schulautor ist. Er nutzte (wie ansatzweise auch Kawaters) ein für die Region besonders charakteristisches Merkmal des Ruhrgebiets: seine gitterartige Topographie und Infrastruktur, die Nachbarschaft selbständiger Großstädte und besonders die Schnellstraßen, was der Erzählkonstruktion und Handlung eine eigene räumliche Dynamik verleiht. Heutige Autoren des »Ruhrgebietskrimis« wie Jörg Juretzka oder Norbert Horst nehmen dieses Konzept auf, wie wir noch sehen werden, auch wenn sie es dann narrativ und stilistisch völlig unterschiedlich umsetzen. Die historische Gerechtigkeit gebietet es jedoch, auf einen Sonder- und Einzelfall hinzuweisen, auch wenn er unsere Chronologie in Frage stellt. Denn schon 1975 hatte Jürgen Lodemann, einfalls- und einflussreicher Literaturredakteur beim Südwestfunk in Baden-Baden, der sich als Autor bis heute in allen Genres tummelt, einen außerordentlich witzigen, im Zitieren wie im Dekonstruieren von Ruhrgebietsklischees treffsicheren Krimi über seine Heimatstadt Essen herausgebracht: Anita Drögemöller und Die Ruhe an der Ruhr. Hauptfiguren sind eine freischaffende Sexarbeiterin für die allerhöchsten Kreise mit goldenem Herzen und besonders lockerem Mundwerk, eben Anita, sowie der aus Ostwestfalen zugezogene Kommissar Langensiepen, der sie zuerst verdächtigt, ihr dann verfällt und sie schließlich nicht zu retten vermag. Als Folie eines pikanten Mordfalles verwendet Lodemann das in dieser Stadt bis heute spürbare topographische und soziale Gefälle zwischen Süd und Nord, Oben und Unten, das sich vor allem

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in den präzise erfassten und vergnüglich eingesetzten Sprachunterschieden der Figuren ausdrückt. (Zur gleichen Zeit hatte in der Sprachwissenschaft die Soziolinguistik mit der Unterscheidung verschiedener sozial determinierter »Codes« ihre internationale Konjunktur.) Weder Lodemann, der sich dezidiert nicht als Genre- oder Serienautor verstand, noch einem anderen Autor gelang in den Folgejahren ein Gegenstück oder überhaupt ein Ruhrgebietskrimi auf dem Niveau der unvergesslichen Anita.6 Wir dürfen also trotz dieses vorzeitigen Geniestreichs an der Beobachtung festhalten: Erst Mitte der 1980er Jahre erscheinen vermehrt und gleichzeitig, auch in anderen Regionen, zumeist kurze und wenig komplexe Kriminalromane von nichtprofessionellen Autoren, teils im Selbstverlag, teils in alternativen und ›Nischenverlagen‹, für die sich die Bezeichnung »Regionalkrimi« einbürgert. Das hatte und hat immer noch Züge einer grassroots-Literatur, und derartige Texte, oft autodidaktisch oder auch in Hobby-Schreibzirkeln entstanden, gibt es heute zahlreich und flächendeckend in ganz Deutschland, auch wenn sie oft nur in der allerengsten Umgebung ihre nicht sehr zahlreichen, aber lokalpatriotischen Leser und Leserinnen finden und den überregionalen Buchhandel nicht erreichen. Dies ist einerseits eine völlig legitime und vermutlich sehr befriedigende Tätigkeit zwischen Freizeitspaß und Selbstverwirklichung – hat aber auch zum abwertenden Stereotyp des Regional-»Grimmis« (so etwa der Kritiker Thomas Wörtche7) beigetragen. Noch hat sich auf professioneller und kommerzieller Ebene das branding, also die Marke »Regionalkrimi« nicht durchgesetzt, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis auch etablierte Verlage die dort schlummernden Absatzmöglichkeiten erkennen und systematisch nutzen würden.

Durchbruch in der Eifel Die US-Army und der deutsche Regionalkrimi haben vermutlich nur eine Gemeinsamkeit: Der Durchbruch gelingt ihnen, im Abstand von etwa 45 Jahren, in der Eifel. Beim Krimi ist der (nun überregionale!) Erfolg von Jacques Berndorfs Serie von zunächst 13 Titeln zwischen 1989 und 2006 entscheidend, die alle den Landschaftsnamen im Titel tragen: von Eifel-Blues (1989) über Eifel-Schnee (1995), Eifel-Müll (2000) bis Eifel-Kreuz (2006); Gesamtauflage bis dahin etwa 3 Millionen Exemplare, danach noch zehn weitere Titel (der letzte Roman aus dieser Reihe, Eifel-Krieg, erschien 2013). Der investigative Journalist Michael Preute (*1936), so Berndorfs bürgerlicher Name, wählte für seine genrekonform und routiniert erzählten, nun auch deutlich komplexeren und durchaus span6 Zum Ruhrgebietskrimi siehe auch den Beitrag von Werner Jung in diesem Band. 7 Wörtche, Thomas: Das Mörderische neben dem Leben. Lengwil: Libelle 2008, S. 17.

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nenden Fälle also die bewaldete Gegend zwischen den Bischofssitzen von Köln, Aachen und Trier, die nach verbreitetem Vorurteil von Dauerregen, Schützenvereinen und katholischer Frömmigkeit geprägt ist, aber auch ein weiteres deutsches Spitzenbier und eine letzte US-Air Base aufzuweisen hat. Berndorf kombiniert nun, um mit Roland Barthes zu sprechen, zahlreiche »Realitätseffekte« en détail mit der eher unwahrscheinlichen Stilisierung des Landstrichs als Brutstätte von Kriminalität en gros. Damit bedient er zwei gegenläufige Erwartungen oder Stimmungen seiner Leserschaft: die Sehnsucht nach einem romantisch verklärten Landleben, wie auch die (nicht ganz falsche, aber doch sehr zugespitzte) Überzeugung, dass hinter der idyllischen Fassade ebensoviel Lug und Trug, Mord und Totschlag lauert wie seit Sodom und Gomorra in der bösen Großstadt. Publiziert hat Berndorf die frühe Serie freilich genau dort: beim Grafit-Verlag in Dortmund, einem linken Kleinverlag, zu dessen finanzieller Sanierung und weiteren Profilierung als guter Adresse für regionale wie internationale Kriminalliteratur er wesentlich beigetragen hat. Expandiert hat aber nicht nur Grafit, sondern ein neuer Verlagstypus, der sich über die Marke »Regionalkrimi« definiert und finanziert. Beispiele sind der Emons-Verlag in Köln (wo ein inzwischen so hoch geschätzter Autor wie Friedrich Ani begonnen hat), der augenzwinkernd mit dem Slogan »Neue deutsche Heimatliteratur« wirbt; sodann KBV in Hillesheim in der Eifel, dessen Verleger Ralf Kramp nicht nur Berndorfs spätere Werke, sondern auch seine eigene Eifel-Krimi-Reihe verlegt und nebenbei ein Krimi-Themen-Hotel mit Buchhandlung leitet. Schließlich der Gmeiner Verlag aus Meßkirch in Oberschwaben, der das Geschäftsmodell am konsequentesten durchgesetzt hat: eine große Zahl von einschlägigen Titeln zu verlegen, die primär nach den Handlungsorten sortiert werden, so dass der Verlagsprospekt tatsächlich als dicht besetzte Deutschlandkarte präsentiert werden kann. Dass dieses Geschäftsmodell »sich rechnet«, lässt sich auch daran ablesen, dass literarische Qualitätsverlage wie Fischer, Suhrkamp, der Deutsche Taschenbuchverlag oder Hanser nicht nur dem allgemeinen Boom der Kriminalliteratur (mit Übersetzungen und ambitionierten deutschsprachigen Autoren) Tribut zollen, sondern auch vor Regionalkrimis im engeren Sinne nicht mehr zurückschrecken. Ganz aktuell lässt sich beispielsweise ein ziemlich neues Subgenre mit großem Bestsellerpotential erkennen.

Das neueste Erfolgsmodell: Der sogenannte Alpenkrimi Zuerst einige Namen und Fakten. Erstens: Volker Klüpfel und Michael Kobr (beide *1971), ein Studienrat und ein Journalist, sind laut »Spiegel« »das erfolgreichste Autorenduo« Deutschlands. Sie haben den Kommissar Kluftinger

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(»Klufti«) aus ihrer Heimatstadt Kempten im Allgäu erfunden, der sich bisher durch elf Fälle – von Milchgeld (2003) bis Funkenmord (2020) und allerlei private, meist komische Verwicklungen »gewurschtelt« hat. Nach dem Debüt in einem regionalen Kleinverlag erscheinen ihre Titel als Hardcover des Piper Verlags mit Startauflagen bis zu 250.000 Exemplaren, sowie als Hörbücher, und sind in den Bestsellerlisten der Nachrichtenmagazine »Spiegel« und »Focus« dauerhaft weit oben platziert, ohne es hingegen in die literarisch orientierte Krimi »Zeit«-Bestenliste zu schaffen. Seit 2011 publiziert das Autorenteam im Verlagshaus Droemer Knaur. Innovativ und charakteristisch ist zweifellos, dass dieses Duo seine neuesten Titel auf Tourneen als Bühnen-Performance präsentiert, mit 80 (!) Terminen in einem Sommer, meist in Bayern, aber auch im ›preußischen Ausland‹: Köln, Hamburg und Berlin. In München haben sie im Circus Krone gastiert, den früher einmal der CSU-Vorsitzende und Ministerpräsident Franz Joseph Strauß gefüllt hat, von anderen Führerfiguren ganz zu schweigen. Zweitens: Rita Falk (*1964), Polizistengattin aus dem niederbayerischen Landshut scheute vor der Genrebezeichnung »Provinzkrimi« schon für ihre beiden ersten kalorienreichen Erzählwerke Winterkartoffelknödel (2010) und Dampfnudelblues (2011) nicht zurück. In denen berichtet »der Eberhofer Franz«, Streifenpolizist in Niederkaltenkirchen, in der Ich-Form und im Präsens von seinen Abenteuern in Beruf und Familie, teils grotesk, teils drollig, stets bei gutem Essen und Trinken und auch mit erotischen Genüssen – von schlank bis mollig – untermischt. Die narrative Konstruktion und der Sprachduktus sind ganz offensichtlich von der pseudomündlich-monologischen Erzählkunst des virtuosen Österreichers Wolf Haas inspiriert, die hier allerdings auf eine sehr plumpe Art heruntergebrochen und ihrer dekonstruktiven Schärfe zugunsten eines dumpfen Populismus beraubt wird. Ein Glossar für niederbayrische Ausdrücke und die Originalrezepte »von der Oma« sind als paratextuelles Bonusmaterial beigefügt. Beide Paperbacks vom seriösen Deutschen Taschenbuch Verlag hielten sich über viele Monaten in den Bestsellerlisten und werden fortlaufend durch neue krimi-kulinarische Köstlichkeiten ergänzt, zuletzt Kaiserschmarrndrama (2018) und Guglhupfgeschwader (2019). Auf diesen Listen findet sich, drittens, wenngleich weiter unten, auch Jörg Maurer mit bisher zwölf »Alpenkrimis«, von Föhnlage (2009) bis Am Tatort bleibt man ungern liegen (2019). Sein Serienheld, Kommissar Jennerwein, der im Hochgebirge, ja sogar in der Steilwand oberhalb von Garmisch ermittelt, signalisiert den literarischen, genauer: intertextuellen Anspruch schon namentlich: Der »Jennerwein Girgl« war ja der berühmteste bayrische Wildschütz, 1877 von einem Rivalen im Wald gemeuchelt, noch heute ein Volksmythos. Weiterhin durchziehen zahllose Motti und Zitate, Jodler, Gemsenbildchen, Musiknoten, Rätsel- und Quizfragen, aber auch Schwärzungen von ›deftigen‹ oder gar obszönen Ausdrücken den 350-Seiten-Text, dem noch ein Briefwechsel mit den

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literarischen Helfern folgt. All dies signalisiert: Hier treffen Postmoderne und szenische Virtuosität auf Oberbayern mitsamt seinen Klischees. Tatsächlich war Jörg Maurer Deutschlehrer, Theaterleiter, Rundfunkmoderator und gastiert weiterhin als vor allem regional erfolgreicher Musikkabarettist mit anspruchsvollem Programm. Der Alpen-Krimi, so könnte man in seinem Sinne kalauern, lebt anders als die Gemsen nicht nur ganz oben – und ein eindeutiges Urteil über ihn ist schwer zu fällen. Auch Grundsätzliches und Historisches muss bedacht werden: Das ehemalige Königreich, der jetzige »Freistaat« Bayern pflegt (wie auch der Fußballclub, der seinen Namen trägt) bis heute das ausgeprägteste Selbst- und Sonderbewusstsein unter allen deutschen Ländern (bzw. Vereinen). Seine Landschaften und Orte sind seit vielen Generationen beliebte und umsatzstarke Tourismusziele mit außergewöhnlichen Attraktionen (besonders gilt dies für Oberbayern: vom Münchner Hofbräuhaus ganz unten über das Märchenschloss Neuschwanstein bis hinauf zur Zugspitze, Deutschlands höchsten Berg, wo angeblich der Kommissar Jennerwein amtiert). Und die Bayern pflegen mehrheitlich stolz – und ungeachtet ihrer technologischen Avanciertheit – ihre Folklore bis hinab zum Münchner Oktoberfest, die vielen anderen Deutschen bekanntlich exotisch oder skurril vorkommt. Die von Ministerpräsident Strauß einst angestoßene und von Edmund Stoiber, einem seiner Nachfolger, mit dem Slogan »Laptop und Lederhosen« propagierte, fraglos sehr erfolgreiche Modernisierung des alten Agrarlandes und seine Transformation zu einer high-techRegion hat eine hybride Kultur hervorgebracht, die ihrer erschöpfenden Analyse noch harrt. In den erwähnten Krimis wird sie jedenfalls ganz ins Komische gewendet, daraus resultiert eine Mischform von Krimi und Komödie, um nicht zu sagen Klamauk. Die Geschichten von Rita Falk könnte man ganz leicht szenisch bearbeiten und sofort im »Komödienstadel« aufführen; diese einst sehr populäre Volkstheater-Fernsehsendung gibt es wohl nicht mehr, aber ins Erste Programm haben es die Falk-Krimis auch so geschafft. Das Duo Kobr/Klüpfel und der Kabarettist Maurer haben ihrerseits, wie gesagt, ihren performatic turn zur Bühne längst vollzogen. Auf der Strecke bleibt bei alldem nur allzu leicht der Kriminalroman. Das whodunit ist hier bloß noch ein dünner roter Faden zur Aufreihung von slapstick-Szenen und von weiterer Zerfaserung bedroht. Entertainment und event-Kultur verschlingen das literarische Genre. Oder: Der Kriminalroman wird zur universalen Erzählform, indem er sich auflöst. Zum Glück gibt es Alternativen.

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Mehr oder weniger gelungen An Jacques Berndorfs Eifel-Klassikern hat man kritisiert, dass sie durch Austausch der Ortsnamen auch in andere Regionen verlegen ließen. Dem könnte man zwar mit guten Gründen widersprechen – aber: Der entscheidende Punkt, wenn man sich denn für Kriminalromane als Literatur interessiert, ist zumindest angesprochen. Gerade weil regionale Elemente auf sehr verschiedenen funktionalen und literarischen Ebenen verwendet werden, ist es für die genrespezifische Qualität eines Krimis entscheidend, ob und wie solche Regionalismen, besonders wenn sie im Roman hervorgehoben werden, für den Gattungskern, also für den Fall oder die Ermittlung, etwas hergeben, mit ihnen plausibel verknüpft sind, sie unverwechselbar machen – oder ob sie bloße Staffage, Hintergrund oder Füllmasse bilden. Man müsste also, um ein berühmtes Aperçu von Walter Benjamin zu missbrauchen, sagen können: »Auf diesem Sofa, und nur auf diesem Sofa kann die Tante ermordet werden!« Damit stellt sich konsequenterweise die Frage, welche Regionen – oder welche Art von Regionen welche Leserbedürfnisse befriedigen. Das Wiedererkennen vertrauter Orte ist ein hübscher Effekt, bleibt aber trotz rasant gestiegener Mobilität der Leserschaft begrenzt. Die Vorfreude auf das nächste Ferienziel mag bei mancher Kaufentscheidung eine Rolle spielen und wird von den Verlagen entsprechend stimuliert – etwa auch, um über die Grenzen zu schauen, mit Provence- oder Bretagne-Krimis von französischen, britischen oder deutschen Autoren: ein transnationaler Regionalismus! Am wichtigsten scheint aber doch, zumindest für die schon erwähnten innerdeutschen Regionen, dass sie neben markanten Stereotypen (die Eifel: katholisch und verregnet, aber mit gutem Bier) genügend Raum für Projektionen lassen, die Autor und Leserschaft dann ausmalen können – plausibel oder auch nicht. Nützlich scheint es dabei, wenn die Autor:innen bei aller Vertrautheit mit der Region von außen kommen und zu einem ›doppelten Blick‹ fähig sind: Berndorf stammt aus Osnabrück, Wolf aus dem Ruhrgebiet, die derzeitige »Quoten-Queen« Nele Neuhaus mit ihren Taunus-Krimis kommt aus Paderborn. Mit solchen Erwägungen drücken wir uns aber immer noch vor der Gretchenfrage: Wie geht der regionalistische Blick mit literarischer Qualität zusammen? (Dass es gehen muss, zeigen schließlich Regionalromane wie Buddenbrooks oder Ulysses schon seit rund hundert Jahren.) Aber bleiben wir in unserer, der »Regionalliga« (wie es bezeichnenderweise auch im Fußball heißt). Was wir hier Regionalität nennen, ohne es ganz genau definieren zu können: also äußere Gegebenheiten, Traditionen und Mentalitäten, müsste den Krimiteig jedenfalls durchsäuern wie die Hefe oder aufgehen lassen wie das Backpulver. Ein positives, wenn auch nicht besonders komplexes Beispiel finden wir in einem Krimi des schon erwähnten Routiniers Felix Huby (bürgerlich Eberhard Hungerbühler,

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*1936) mit dem Titel Bienzle und das Narrenspiel (1988). Schauplatz ist die fiktive Kleinstadt Venningen, hinter der das für seinen »Narrensprung« berühmte Rottweil in Württemberg jedoch leicht zu erkennen ist, wo eine weltweit erfolgreiche mittelständische Industrie ebenso blüht wie das regionale Traditionsbewusstein. Ausgerechnet hier kommt es während der alemannisch-schwäbischen »Fasnet« (dem hier seit Jahrhunderten auf alte Weise gefeierten Karneval) zu einem Mord, den nun der Stuttgarter Kommissar Bienzle aufklären muss, der doch eigentlich nur den folkloristischen »Narrensprung«, also die Parade der schweren Holzmasken genießen wollte. Für die Dramaturgie des Romans wie auch der sehenswerten Tatort-Adaption von 1994 (die nach Protesten in Rottweil allerdings in Ravensburg gedreht werden musste!) bietet dies die Chance, unschuldig Verdächtige wie auch den tatsächlichen Täter bis zum finalen Showdown unter den archaischen Masken zu verstecken. Gleichzeitig werden die Konflikte innerhalb des weltweit erfolgreichen, insofern ›typisch schwäbischen‹ high-tech-Familienbetriebs offensichtlich – vielleicht ein Krisensymptom in Zeiten beginnender Globalisierung? Ein Gegenbeispiel bietet die bereits erwähnte Nele Neuhaus (bürgerlich Cornelia Löwenberg, *1967) mit ihrer Serie von bisher neun Bänden und einer Gesamtauflage von über fünf Millionen Exemplaren. Besonders beliebt war wohl Schneewittchen muss sterben (2010); zuletzt erschien Muttertag (2018). Alle Bände spielen, wie der Untertitel bzw. die Serienkennung Ein Taunus-Krimi sagt, im bergigen Hinterland von Frankfurt am Main, nach wie vor der deutschen, wenn nicht sogar europäischen Finanz- und Luftverkehrsmetropole. Treffend gezeichnet ist diese Region, mit exklusiven Kleinstädten wie Bad Homburg oder Kronberg, Wohnorten der wohlhabenden Frankfurter Prominenz, und weiteren Orten, wo sich neben den Villen und modernen Bürogebäuden noch alte Dorfkerne und eine bodenständige, meist am hessischen Dialekt (gelegentlich auch in einer serbokroatisch getönten oder sonst hybriden Variante) erkennbare Urbevölkerung hält – was immer wieder zu netten, teils komischen ›interkulturellen‹ Szenen und Effekten führt. Charakteristisch für Neuhaus ist aber eine eher lockere Verbindung zwischen diesem Setting und den jeweiligen Kriminalfällen, die eben auch ›woanders‹ vorgefallen sein könnten. Zugleich ist die Autorin sichtlich bemüht, möglichst viele verschiedene und möglichst aktuelle soziale, politische, ökologische, und vor allem zwischenmenschliche Konflikte und Probleme im Rahmen der Kriminalgeschichte und ihres regionalen Rahmens einzubinden und ›abzuhandeln‹, auch wenn sie mit dem Fall an sich nichts oder nur wenig zu tun haben. Der ist lediglich noch ein narratives Transportband für Zeitgeistthemen, die dann gern mit einem erklärenden oder didaktischen Unterton dargelegt werden: Frau Neuhaus war und ist zugleich eine beliebte Autorin von Pferde- und Mädchenbüchern. Ihre Taunus-Krimis finden – dennoch oder deswegen? – ein außerordentlich breites Leserinteresse, treffen aber – besonders

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in den texttreu verfilmten Fassungen des Zweiten Deutschen Fernsehens – auch regelmäßig auf scharfe und spöttisch formulierte Ablehnung, beispielsweise in den fundierten und meinungsbildenden Fernsehkritiken der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«.

Closing the gap? Neue Rahmenbedingungen für den deutschen Krimi Neben dem Lokal- und Regionalkrimi von nicht- und halbprofessionellen Verfassern und den eben vorgestellten Bestsellern gibt es aber drittens eine beträchtliche Gruppe von Autoren und Autorinnen, für deren Kriminalromane der Begriff »Regionalkrimi« entschieden zu eng und auch völlig verfehlt wäre, obgleich oder vielmehr weil sie regional oder lokal differenzierte Schauplätze nicht nur als Handlungsrahmen, sondern als topographische, soziale, historisch-kulturelle Handlungsräume mit erkennbarer »Eigenlogik« nutzen. Von ihnen wird abschließend noch die Rede sein; zuvor sind jedoch einige Informationen und Überlegungen zu Veränderungen im deutschen Literaturbetrieb, speziell im Sektor der Kriminalliteratur, nötig und hilfreich, die für sie und ihre Bücher besonders relevant sind. Den Begriff von der »Eigenlogik der Städte« hat die Literaturwissenschaftlerin Julika Griem aus der Urbanistik übernommen und auf Kriminalromane, -filme und -fernsehserien übertragen (zunächst bezeichnender Weise wieder am Beispiel Tatort).8 Um einen Raum in der erwähnten Vielschichtigkeit »sprechend« zu machen, oder gar, nach der schönen Formulierung des Historikers Karl Schlögel, »im Raum die Zeit lesen« zu können, ist allerdings ein sehr viel weiteres Repertoire an narrativen Formen und Strategien erforderlich, als es die Pioniere des »Neuen deutschen Kriminalromans« zur Verfügung hatten. Die jetzt angesprochenen Autoren und Autorinnen, mit wenigen Ausnahmen aus einer mittleren Generation, haben bereits an einem Prozess partizipiert und von ihm profitiert, den ich – unter Bezug auf eine ähnliche Beobachtung von Pierre Bourdieu – an anderer Stelle »nachholende Modernisierung« der Kriminalliteratur genannt habe.9 Dies bezieht sich darauf, dass die Kriminalliteratur zwar seit 8 Vgl. Griem, Julika/Scholz, Sebastian: Beweisaufnahme: Zur medialen Topographie des TATORT. In: Griem, Julika/Scholz, Sebastian (Hg.): Tatort Stadt. Mediale Topographien eines Fernsehklassikers. Frankfurt (M.): Campus 2010, S. 10–29, hier S. 20–22. 9 Vogt, Jochen: Ist der Deutsche Schäferhund des Inneren Monologs fähig? Nachholende Modernisierung des Erzählens im gegenwärtigen deutschen Kriminalroman. Vortrag beim Deutschen Germanistentag, Kiel 2013 (ungedruckt). Vgl. Bourdieu, Pierre: Le marché des biens symboliques. In: »L’année sociologique« 22 (1971), S. 49–126. Gekürzte englische Fassung in: »Poetics« 14 (1985), H. 1/2, S. 13–44.

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ihren Anfängen Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts als eine Literatur der gesellschaftlichen Moderne verstanden wurde, zugleich aber aufgrund ihrer früh kodifizierten narrativen Spielregeln auf die technischen und damit darstellerischen Errungenschaften verzichtete, welche die avantgardistische oder ›modernistische‹ Erzählliteratur seit 1900, verstärkt aber nach 1920, entwickelt hat. So steht der Kriminalroman (wie auch der Spionage- oder Agentenroman) für eine moderne Literatur, die sich vormoderner Techniken bedient, für »modernity without modernism«, wie man in Anlehnung an eine Überlegung von Peter von Matt sagen darf.10 Dies gilt international, auch im anglophonen Bereich – man vergleiche in den 1920er Jahren nur die etwa zeitgleich publizierten Romane von Virginia Woolf und der jungen Agatha Christie. In Deutschland hat sich die Adaption modernistischer Erzähltechniken und -formen, z. B. des nichtlinearen oder polyperspektivischen Erzählens, der stream-of-consciousness-Technik, einer forcierten Intertextualität und Selbstreferenzialität, der Hybridisierung von Genres usw. durch die historischen Umstände gleich mehrfach verzögert. Eher mühsam wurde sie in den 1950er und 1960er Jahren in der mainstream-Literatur, auch von den namhaften Autoren der Gruppe 47, erarbeitet; im ohnehin rückständigen deutschsprachigen Krimi erst eine Generationsspanne später. Dabei spielten neben dem inzwischen erreichten state of the art der internationalen, besonders der angloamerikanischen, westeuropäischen oder skandinavischen Kriminalliteratur auch Anregungen durch weltweit erfolgreiche, mehr oder weniger postmoderne »Beinahe-Krimis« (so Sigrid Thielking) wie Der Name der Rose von Umberto Eco (1980), Paul Austers New York Trilogy (1985/86) oder Patrick Süskinds Parfum (1985) ein wichtige Rolle.11 Dies liegt nun aber bereits wieder um eine Generationsspanne zurück, und im Blick auf die heute produktive Autorengeneration darf man durchaus sagen, dass sie den deutschsprachigen Kriminalroman inzwischen auch im internationalen Vergleich konkurrenzfähig gemacht hat. Und dies, ohne spezifisch deutsche (oder österreichische oder deutschschweizerische) Aspekte – also auch Regionalismen – einem globalisierten Standard- oder Bestsellermodell zu opfern. Die grundsätzliche Frage, die hinter diesem Adaptionsprozess modernistischer Schreibweisen im Kriminalroman steht, lautet ganz analog zu der aus Anlass des »Regionalismus« diskutierten: Kommen sie der Spezifik des Genres, der Erwartung der Leserschaft an einen Kriminalroman, also der »Spannung« zwischen Fall und Aufklärung 10 Vogt, Jochen: Modern? Vormodern? Oder Postmodern? Zur Poetik des Kriminalromans und seinem Ort im literarischen Feld. In: Liard, Véronique (Hg.): Verbrechen und Gesellschaft im Spiegel von Literatur und Kunst. München: Meidenbauer 2010, S. 17–29, hier S. 23. Vgl. Matt, Peter v.: Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist. München: Carl Hanser 2006, S. 453– 465. 11 Thielking, Sigrid/Vogt, Jochen (Hg.): »Beinahekrimis« – Beinahe Krimis? Bielefeld: Aisthesis 2014, darin besonders die Einleitung von Sigrid Thielking, S. 7–19.

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zugute, bereichern, erneuern und differenzieren sie das Genre – oder überschreiten und sprengen sie seine Grenzen und führen zu neuen Themen, Formen und Positionen im literarischen Feld? Dies bleibt vorerst eine offene Frage, die an unterschiedlichen Beispielen gründlich zu diskutieren wäre. Im Rückblick darf man allerdings sagen: Die genannten Anregungen und Impulse waren ihrerseits Symptome und zugleich Verstärker einer ganz allmählichen Überwindung oder doch Überbrückung des legendären gap zwischen Hochkultur und Massenkultur, den Leslie Fiedler 1969 beschworen hatte.12 Es ist bekannt, dass diese Kluft in der deutschen Literatur besonders tief und nachhaltig ausfiel und sich bis zur Literaturpolitik der Weimarer Klassik zurückverfolgen lässt. Hier soll exemplarisch aber nur das Literatursystem in der Bundesrepublik betrachtet werden. Eine kategorische Geringschätzung und massive, teilweise geradezu bösartige Abwertung des Kriminalgenres durch die normsetzenden Instanzen des literarischen Systems – wie den schulischen Deutschunterricht, die akademische Literaturwissenschaft, die Literaturkritik in der sog. Qualitätspresse, die Vergabe von Preisen durch Akademien und andere Gremien, nicht zuletzt durch die Praxis der öffentlichen Bibliotheken und die Polemik der Bibliothekarsverbände – lässt sich bis in die 1950er und 1960er Jahre breit dokumentieren und hat sich zaghaft erst seit den 1970er Jahren aufgelockert. Man kann allerdings fragen, ob die pauschale Abwertung und Ausgrenzung oder zumindest das demonstrative Desinteresse an diesem Schrifttum auf der Kehrseite nicht einen umso größeren Freiraum für ein ›wildes‹ Lesen, für individuelle Vorlieben und Geschmacksurteile schafft, die ein rein kommerzieller, nur durch den Markt und die Werbemedien vermittelter Zugang zu dieser Art Literatur ohne weitere Umstände und Mittlerinstanzen befriedigen kann. Für meinen Lieblingskrimi (oder Autor) muss ich mich nicht rechtfertigen, er ist einfach mein Favorit! Nun zeigt sich jedoch, wie schon gesagt, seit den 1970er Jahren eine anfangs noch zaghaft zu nennende Verschiebung. Auch jene normativen Instanzen betreiben inzwischen eine vorsichtige Revision der harten Ausgrenzung von Kriminalliteratur. Öffentliche Bibliotheken fänden ohne Spannungsliteratur noch weniger Zuspruch als ohnehin. Im Unterricht der Schulen finden Krimiformate – vom Krimi-Hörspiel für Kinder bis zur Pflichtlektüre der Oberstufe – inzwischen einen Raum; regional akzentuierte Krimis sind besonders beliebt; oder sie werden im Rahmen des kreativen Schreibens auch von einem Literaturkurs selbst verfasst. Ähnlich ist die Situation in den Literaturwissenschaften: einschlägige Lehrveranstaltungen sind möglich und üblich, in der Anglistik und Amerikanistik, oder auch der Romanistik häufiger, in der Germanistik seltener. Krimi12 Fiedler, Leslie: Cross the Border, Close the Gap (1969). In: Fiedler, Leslie: A New Fiedler Reader. Amherst, NY: Prometheus Books 1999, S. 270–294.

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nalliteratur bleibt dort immer noch ein gern belächeltes Steckenpferd einiger Liebhaber; als Forschungsgegenstand dürfte sie nach wie vor karriereschädigend wirken. Zumindest unterliegt sie einer doppelseitigen Ausgrenzung: den Literaturwissenschaftlern ist sie zu soziologisch, den Kulturwissenschaftlern zu literarisch. Auch der vielzitierte und modische cultural turn der Literaturwissenschaft spart – jedenfalls in Deutschland – Massenliteratur und damit den Krimi weithin aus und erprobt den neuen methodischen Zugriff lieber an kanonischen Gegenständen der Hochkultur. Vermutlich ist all dies aber gar nicht so wichtig, weil insgesamt die Steuerung des Medien- und Literaturkonsums durch die klassischen Bildungsinstitutionen gegenüber der Macht der Medien und der Werbung immer mehr ins Hintertreffen gerät. Eine Schlüsselrolle dürfte im Blick auf unser Thema nach wie vor das Fernsehen spielen, wo Krimiformate in verschiedenen Längen (von 30 bis 90 Minuten) und Serien seit den 1980er Jahren zum quantitativ dominierenden fiktionalen Sendungstyp aufgestiegen sind.13 Dies gilt im sog. »dualen System« des deutschen Fernsehens sowohl für die öffentlich-rechtlichen wie für die privaten Sender und umfasst einheimische Produktionen in verschiedenen Formaten, aber auch US-amerikanische Standardserien wie Law and Order oder CSI, sowie Qualitätsserien und Mehrteiler (serials), insbesondere aus Großbritannien und den skandinavischen Ländern. Das durchschnittliche Wochenprogramm auch der ›Öffentlich-Rechtlichen‹ ist heutzutage mit einem dichten Netz von Fernsehkrimis überzogen, vom Vorabendprogramm (gern mit Krimikomödien) über die prime time (klassischer Sendeplatz für Tatort, seine spin-offs und Konkurrenzserien) bis zum späten Abend (bevorzugter Wiederholungstermin für Tatorte in den Regionalprogrammen und für beliebte Importserien). Selbst Festtage wie Weihnachten, Ostern und Pfingsten oder andere kirchliche bzw. gesetzliche Feiertage, die früher durch Gesetzeskraft frei von sex and crime gehalten wurden, sind inzwischen dicht mit Krimis besetzt. Aber auch die Informationsmedien haben der Kriminalliteratur, dem Kriminalfilm und den TV-Programmen zunehmend Platz eingeräumt. Das weitaus auflagenstärkste Massenblatt, die »Bild«-Zeitung greift gern kontroverse TatortFolgen auf und leuchtet das Privatleben der Serienstars aus. Seriöse Regionalzeitungen wie der »Tagesspiegel« aus Berlin, die »Westdeutsche Allgemeine Zeitung« in Essen oder die »Stuttgarter Zeitung« sind zumeist dicht am Interesse und an den Vorlieben breiter Leserschichten orientiert und berichten über Neuerscheinungen, TV-Programme, prominente Autoren und Schauspieler sowie Lesungen und »Krimi-Events« aller Art. Und selbst die deutschlandweit 13 Vgl. Viehoff, Reinhold: Der Krimi im Fernsehen. Überlegungen zur Genre- und Programmgeschichte. In: Vogt, Jochen (Hg.): MedienMorde. Krimis intermedial. München: W. Fink 2005, S. 89–110.

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gelesenen ›nationalen‹ Tageszeitungen, also die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, »Die Welt«, die »Süddeutsche Zeitung«, oder auch Wochenzeitungen wie die große »Zeit« und der kleine, politisch links profilierte »Freitag« haben seit einigen Jahren monatliche Themenseiten oder auch Beilagen, sog. »Specials«, zur Kriminalliteratur eingeführt. »Die Zeit« publiziert überdies monatlich eine »Krimi-Bestenliste«, die von zwanzig kompetenten Kritikern und Kritikerinnen erstellt und vom Moderator Tobias Gohlis leserfreundlich kommentiert wird.14 All dies sind Anzeichen einer allmählichen Aufwertung spannender Literatur oder auch nur der Anpassung an das Kauf- und Leseverhalten breiter Schichten. Im Buchhandel und in den Werbemedien stehen ja seit längerem die dicken Hardcover-Krimis deutscher, vor allem aber auch internationaler Autoren neben den ›hochliterarischen‹ Romanen und dürfen jetzt auch ebensoviel kosten – zumeist zwischen 19 und 29 Euro. Es scheint jedenfalls, dass zumindest im Urteil, im Lesegeschmack und im Kaufverhalten dieses Publikums der gap zwischen ›hoher‹ und ›niederer‹ Literatur, zwischen E (für Ernsthaftigkeit) und U (für Unterhaltung) wenn nicht überbrückt, so doch sehr viel schmaler geworden ist als ehedem. Ungeachtet dieser erfreulichen Veränderungen zeigt sich aber auch, dass der überwiegende Sachverstand in Sachen Krimi nicht institutionell, insbesondere nicht akademisch organisiert ist, was immer schon für das Genre typisch war (man denke nur an die gigantisch-skurrile Sherlock-Holmes-Forschung der Amateurexperten), aber auch für Liebhaberkulturen insgesamt charakteristisch ist. Im Zeitalter der Digitalisierung kann das nur heißen, dass dieses Expertenwissen und eine kritische Meinungsvielfalt überwiegend im Internet zu suchen ist, wo man ohne große Mühe die einschlägigen Portale, Archive und Diskussionsforen finden kann.15

Breite und Vielfalt neuester deutscher Kriminalliteratur Wenn ich nun zum Schluss dieser Bestandsaufnahme – und als Einladung zur Lektüre – einige jener gegenwärtig produktiven Autoren und Autorinnen vorstelle, die Regionalismus und Modernismus auf jeweils individuelle Weise und mit verschiedenen Intentionen verbinden und damit den deutschsprachigen 14 URL: www.zeit.de/krimizeit-bestenliste / letzter Zugriff am 8. Februar 2021. 15 Zum Einstieg: URL: www.bokas.de / letzter Zugriff am 8. Februar 2021 (= Thomas Przybilkas Krimi-Tipp. Sekundärliteratur, bisher 70 Folgen); URL: www.krimi-couch.de / letzter Zugriff am 8. Februar 2021 (= kommerziellorientiert, aber informativ); URL: www.culturmag.de/cri memag / letzter Zugriff am 8. Februar 2021 (= unabhängig, aktuell, kompetent und meinungsfreudig); URL: www.kaliber38.de / letzter Zugriff am 8. Februar 2021 (desgleichen); URL: www.krimilexikon.de / letzter Zugriff am 8. Februar 2021 (= H.P. Karr: Lexikon der deutschen Krimi-Autoren. Online-Version).

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Kriminalroman auf ein höheres, auch international konkurrenzfähiges literarisches Niveau gehoben haben, will ich sehr deutlich den subjektiven Charakter meiner Auswahl betonen, auch wenn sie durch die Literaturkritik und die Vergabe zahlreicher Literaturpreise weithin gestützt wird. Kehren wir auf einer kurzen Rundfahrt, welche die »Eigenlogik« verschiedener Städte oder regionaler Schauplätze und deren Relevanz für regional fundierte und literarisch anspruchsvolle Kriminalliteratur zumindest andeutet, zunächst ins Ruhrgebiet zurück. Die Kernregion des bevölkerungsreichsten Bundeslandes Nordrhein-Westfalen bewältigt seit Mitte der 1960er Jahre mehr oder weniger erfolgreich die Transformation und Integration einer schwerindustriell – von ›Kohle und Stahl‹ – geprägten Region in die postindustrielle Dienstleistungsgesellschaft und ist insofern mit bestimmten Gegenden in Frankreich, Großbritannien oder den USA zu vergleichen. Prägend war im Zuge der Industrialisierung seit den 1870er Jahren eine starke Einwanderung, zunächst von polnischen Arbeiterfamilien, die zu gelebter Multikulturalität, alltäglicher Solidarität und Toleranz beitrug und die Mentalität eines pragmatischen Realismus förderte, der zufolge der »Ruhrmensch sacht wat Sache is«. All diese Züge findet man mühelos in den bislang dreizehn Romanen von Jörg Juretzka (*1965), von Prickel (1998) bis TauchStation (2017), die zumeist an der Ruhr spielen und den Gelegenheitsdetektiv (oder Hausmeister, oder Barkeeper) Kristof Kryszinski (polnischer Familienname!), genannt »Krüschel«, zum Helden haben. Typisch ist freilich, dass Juretzka die eher problematischen Aspekte der regionalen Entwicklung betont, die prekären Existenzen versammelt, die randständigen Orte oder »Nicht-Orte« wie Kneipen, Spielhallen, Autofriedhöfe, Schrott- und Campingplätze übereinander türmt und ineinander schiebt, also verdichtet, und die – realiter weit verbreitete – halbproletarische Spießigkeit oder den neureichen Protz nur als Kontrastfolie verwendet. Ganz ähnlich geht er mit der Sprache um, die er seinem ›Maulhelden‹ und dessen Kumpanen oder Rivalen in den Mund legt: Das »Ruhrdeutsche« – kein alter deutscher Dialekt, sondern neuartiger Typ einer großstädtischen Umgangssprache – forciert und überzeichnet er so sehr, dass es sich quasi selbst dekonstruiert und eine teils handfeste, teils geradezu surrealistische Komik erzeugt. Vergleiche mit amerikanischen Krimi-Autoren wie Kinky Friedmann oder Carl Hiaasen sind durchaus angebracht. Wenn ein Kritiker wie Walter Delabar gesteht, seine Juretzka-Lektüre sei von zahllosen »Lachsalven« begleitet, so ist nur hinzuzufügen, dass die komische Wirkung, weil sie überwiegend auf »Ruhrdeutsch« als Sprach- und Erfahrungsform beruht, ohne eine gewisse Vertrautheit schon bald auf regionale Verstehensgrenzen stößt. Weder solche Probleme noch lautes Gelächter wird es bei den Romanen von Norbert Horst (*1956) geben, die zunächst (seit Leichensache, 2004) im angrenzenden, gern als provinziell verspotteten Ostwestfalen spielen, teils aber

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auch (bis Bitterer Zorn, 2019; die sog. Steiger-Krimis) in Dortmund, der zehntgrößten deutschen Stadt (inzwischen auch mit eigener Tatort-Serie), und die in der Tradition des (amerikanischen) Polizeiromans das realistische Kontrastprogramm zu Juretzka liefern. ›Realismus‹ heißt hier detailgenaue und treffsichere Schilderung der Umwelt, besonders aber der Abläufe und Probleme ›authentischer‹ Ermittlungen, was sich zwanglos aus dem jahrzehntelangen Hauptberuf des Autors als Kriminalkommissar in Bielefeld erklärt. ›Realismus‹ heißt in diesem Fall aber auch eine sehr bewusste Arbeit an der Erzählsprache, die sich teils multiperspektivisch, reportagenah und in einer Art Telegrammstil als »Präsens-Roman«16 darstellt, teils etwas konventioneller, aber psychologisch tiefschürfend an die Erlebnisperspektive der Ermittlerfigur gebunden ist. Die Ermittler an der Ruhr, im Ballungsraum und Netz der Schnellstraßen, sind natürlich meist mit dem Auto unterwegs, bei Horst mit den Dienstwagen der Polizei, Juretzkas »Krüschel« mit allem, was noch vier Räder hat. Hingegen erreicht Hauptkommissar Robert Marthaler von der Mordkommission in Frankfurt am Main seine Einsatzorte zumeist mit dem Fahrrad, was insofern überrascht, als die Stadt nicht besonders radlerfreundlich und teilweise auch hügelig ist wie das Umland. Andererseits kommt er, besonders in der verstopften Innenstadt, damit oft schneller ans Ziel als mit dem Wagen. Bekannt ist aber auch, dass sein Schöpfer Jan Seghers (bürgerlich Matthias Altenburg, *1958) ein geradezu fanatischer Radfahrer ist und seine Erlebnisse auch diaristisch festhält.17 Im erzählerischen Zugriff bewähren sich Marthalers Fahrten, indem sie diese Großstadt und ihr dicht besiedeltes Umland, den »Ballungsraum Rhein-Main«, topographisch sehr genau, ja empirisch überprüfbar erschließen, aber auch – in der Nachfolge von früh verstorbenen Autoren wie Jörg Fauser (†1987) oder Robert Arjouni (†2013) – die starken Kontraste des städtischen Lebens in den Blick rücken. Frankfurt ist als Standort zahlreicher Großbanken (beginnend mit der Europäischen Zentralbank) nicht nur ein internationales Finanzzentrum, sondern mit dem Rhein-Main-Flughafen auch ein Drehkreuz des weltweiten Flugverkehrs, und zumindest unter diesen Aspekten immer noch die einzige global city in Deutschland. Zugleich ist der Anteil hier lebender Ausländer und Immigranten seit Jahrzehnten der höchste in Deutschland, was keinen Gegensatz zu der in vielen Stadtteilen noch spürbaren Bodenständigkeit der Einheimischen bedeuten muss, sondern seit langem zu einer multiethnischen, vielfarbigen und lebendigen Mischung beiträgt. Aber auch die überdurchschnittlich hohe Kri-

16 Avanessian, Armen/Hennig, Anke (Hg.): Der Präsensroman. Berlin: Walter de Gruyter 2013. 17 Altenburg, Matthias: Jan Seghers’ Geisterbahn. Tagebuch mit Toten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006. Ursprünglich ein Blog unter URL: www.janseghers.de / letzter Zugriff am 8. Februar 2021.

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minalitätsrate (zu der wiederum der Flughafen erheblich beiträgt) sollte nicht verschwiegen werden. Seghers zeigt diese Vielschichtigkeit mit ihren Kontrasten oder Konflikten in bislang sechs Romanen (von Ein allzu schönes Mädchen, 2006, bis Menschenfischer, 2017) und versucht auch die unheilvollen Auswirkungen zeithistorischer Ereignisse einzubinden. In Partitur des Todes (2008) spielt die Verfolgung der Frankfurter Juden durch die Nationalsozialisten eine wichtige Rolle, Die Rosenholz-Akte (2009) verweist indirekt auf einen niemals aufgeklärten Prostituiertenmord in der Stadt, der in der frühen Bundesrepublik zum legendären Skandal wurde. Weiter nach Süden, jenseits des sog. »Weißwurst-Äquators«: Friedrich Ani (*1959) wird derzeit von vielen Kritikern als wichtigster deutscher Kriminalschriftsteller angesehen. Eine treue Leserschaft hat er mit seiner einundzwanzigbändigen Serie um den Kriminalkommissar Tabor Süden (von Die Erfindung des Abschieds, 1998, bis Der Narr und seine Maschine, 2018) gewonnen. Der klärt mit seinen Kollegen keine Mordfälle, sondern »Vermissungen« in München auf. Die Abweichung vom üblichen Krimi-Schema reduziert den Stellenwert von Gewaltkriminalität und technisch-medizinischen Ermittlungen und lenkt Südens Blick aufs Psychologische und in die Vergangenheit, wo meist die individuellen, familiären und sozialen Ursachen für das Verschwinden einer Person liegen. In vielen dieser Fälle gibt es kein Verbrechen, oft werden die Vermissten gefunden, auch wenn sie vielleicht nicht zurückkehren. Eigene Beschädigungen haben Südens Intuition geschärft, seine Empathie vertieft.18 Insgesamt stehen diese relativ konventionell erzählten Kurzromane am ehesten in der Tradition eines Georges Simenon oder auch des Schweizers Friedrich Glauser. Wie aber steht es um das Regionale? Selten nur führen die Ermittlungen Süden über die Münchner Stadtgrenzen hinaus. Aber auf seine Weise behandelt er die bayerische Hauptstadt als Region – und zwar in scharfem Kontrast zu dem, was Medien und Politik gern als deren Glanz- und Selbstbild verbreiten. Denn Anis »München leuchtet« eben nicht – seine Serie ist eine einzige Widerlegung des Wortes von Thomas Mann, mit dem sich die reiche und kulturgesättigte Stadt immer noch gern schmückt, dieser bevorzugte Wohnsitz einer fröhlichen leisure class (neudeutsch: ›Schickeria‹, münchnerisch: ›Bussi-Bussi-Gesellschaft‹), zugleich die deutsche Großstadt mit den höchsten Lebenshaltungskosten. Mit Süden ziehen wir, seiner alternativen »Eigenlogik« folgend und oft zu Fuß, durch diejenigen Stadtteile, in denen kleinbürgerliche oder verarmte Menschen leben, 18 Kniesche, Thomas: Der »Kommissar für die, die weg sind«. Friedrich Anis Tabor-Süden-Romane und die Topographie des Traumas. In: »andererseits. Yearbook of Transatlantic German Studies« 3 (2013), S. 125–145. Auch online URL: http://andererseits.library.duke.edu / letzter Zugriff am 8. Februar 2021.

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teils noch in traditionellen Lebensformen, teils bindungs-, halt- und trostlos. Es lohnt sich insofern, diese Romane mit einem Stadtplan zu lesen; und auch hier spielen die transitären »Nicht-Orte«, in erster Linie die Restaurants, Gasthäuser, Bierschwemmen und Eckkneipen, eine wichtige Rolle – als eine Art Sicherheitsnetz für den Vermisstensucher, der in seiner eigenen Stadt auf paradoxe Weise zugleich beheimatet und verloren ist. Wenn Anis Romane einen partiellen Stadtplan ergeben, so geht der Österreicher Wolf Haas (*1960) aufs Ganze: aufs ganze benachbarte Österreich. Seine Serie um den ehemaligen Polizisten, Krankenwagenfahrer, Chauffeur, Privatund Gelegenheitsdetektiv Simon Brenner hat längst Kultcharakter und wird – eine einmalige Ausnahme – vom Lesepublikum, den Krimispezialisten, aber auch der mainstream-Literaturkritik mit Lob überschüttet. Das liegt sicher nicht daran, dass Haas »den Brenner« in acht Romanen (von Auferstehung der Toten, 1996, bis Brennerova, 2014) durch verschiedene Wiener Bezirke, nach Salzburg, Zell am See und Kitzbühel (also zu touristischen hot spots) führt oder auch in den 17. Grazer Bezirk, Brenners Geburtsort Puntigam, »wo das gute Bier gebraut wird«. Es liegt vielmehr ganz eindeutig an der Erzähl- bzw. Kunstsprache, die der promovierte Linguist Wolf Haas für diese Romane oder genauer: für den anonym bleibenden Erzähler erfunden hat, der in einer permanenten Stammtischrunde das Wort zu führen scheint. Es ist eine pseudo-mündliche, zwischen Unsinn und Tiefsinn schwankende, hochgradig performative, intertextuelle und selbstreferenzielle Redeweise, die auch überregional verständlich bleibt, weil sie relativ sparsam mit Austriazismen umgeht, sich zugleich aber auf eine hochliterarische Tradition von Sprachskepsis und Sprachspiel stützen kann, die von Karl Kraus bis zu Thomas Bernhard, Ernst Jandl und Elfriede Jelinek reicht – also auf einen posthabsburgischen Sonderweg des Modernismus. Wo Haas in die Ferne schweift, führt Alfred Komarek (*1945) uns mit bislang sechs Romanen (beginnend 1998 mit Polt muss weinen) und einem Geschichtenband räumlich und geologisch in die Tiefe der »Preßhäuser« im niederösterreichischen »Weinviertel« (das sind die in den fruchtbaren Lößboden gegrabenen Kelter- und Lagerräume der dörflichen Winzer) und psychisch, sozial und moralisch in die menschlichen Abgründe, die sich überall auftun, wo man nur tief genug gräbt. Dies tut der Gendarmerie-Inspektor Simon Polt, bald auch schon im Ruhestand, der im fiktiven Burgheim und dem Wiesbachtal meist per Fahrrad unterwegs ist. Seine Gemütlichkeit darf man allerdings ebenso wenig verkennen wie die ganz und gar nichtmodernistische Erzählweise, die ein wenig altväterlich an Dorfgeschichten des 19. Jahrhunderts erinnert, zuletzt freilich (Alt, aber Polt, 2015) allzu betulich klingt. Konventionell muten auch – wir überqueren eine weitere Staatsgrenze – die bislang zehn Kriminalromane von Hansjörg Schneider (*1938) an – von Silberkiesel, 1993, bis Hunkeler in der Wildnis, 2020 –, in denen der Kommissär

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Hunkeler die Ermittlungen führt, zuletzt ebenfalls im Ruhestand. Er lebt und wirkt in der traditionsreichen, ein wenig selbstgerechten und dank der chemischen Großindustrie weiterhin prosperierenden Grenzstadt Basel, womit wir wieder in der dreistaatlichen »Regio« am Oberrhein angekommen sind. Die staatlichen Grenzen zwischen der Schweiz, Frankreich und Deutschland, regional zwischen dem Doppelkanton Basel, dem Elsass und der badischen Schwarzwaldregion, sind offiziell durchlässig, bürokratisch und mental aber doch wieder nicht. Die Grenze(n) und die Grenzüberschreitung, die historischen Zäsuren und regionalen Kontraste sind Leitmotive in diesen teils elegischen, teils satirischen Geschichten (mit Seitenhieben etwa auf das Schweizer Bankenwesen), die mit feiner Ironie erzählt sind, auch was den alternden Hunkeler selbst angeht, als Kriminalfälle jedoch eher unkompliziert und versöhnlich erscheinen. Mit ihnen reiht sich Schneider umstandslos in die Tradition seiner Landsleute Glauser und Dürrenmatt ein, die schon seit den 1930er bzw. 1950er Jahren auch mit innerschweizerischen Regionalismen gearbeitet haben.19 Und nun in den Schwarzwald, auf den Hunkeler über den Rhein hinweg oftmals schaut, und den umliegenden deutschen Südwesten. Uta-Maria Heim ist dort 1963 geboren, ihre ersten Kriminalromane wurden schon Anfang der 1990er Jahre ausgezeichnet; inzwischen sind es mehr als zwanzig, wobei die Grenzen zu elf ›nicht-K-Romanen‹ fließend bleiben. Von Das Rattenprinzip (1991) bis zu Toskanisches Erbe (2020) bleiben jedenfalls zwei Charakterzüge konstant: eine ›schräg‹-anarchische Grundhaltung der Autorin, die es liebt, politische, gesellschaftliche und literarische Konventionen gegen den Strich zu bürsten, und ein Repertoire an literarischen Kenntnissen und Strategien, mit dem sie die meisten Kollegen überragt. Der Roman Wem sonst als Dir. (2014), mit einem berühmten Hölderlin-Zitat als Titel, macht dies besonders deutlich.20 Heim schreibt vielstimmig, multiperspektivisch, intertextuell, mischt fiktionales Erzählen mit historischen oder fingierten Dokumenten, lässt Monologe oder Bewusstseinsströme einen ganzen Roman tragen. Stärker als andere Autoren, von den Ver19 Vgl. Vogt, Jochen: Krimis, Antikrimis, »Gedanken«-Krimis. Wie Friedrich Dürrenmatt sich in ein gering geschätztes Genre einschrieb. In: Liard, Véronique/George, Marion (Hg.): Dürrenmatt und die Weltliteratur – Dürenmatt in der Weltliteratur. München: Meidenbauer 2011, S. 215–236. Weiterhin die Handbucheinträge über Friedrich Glauser (Matto regiert, Wachtmeister Studer) in: Bönnighausen, Marion/Vogt, Jochen (Hg.): Literatur für die Schule. Paderborn: W. Fink 2014, S. 242–244. 20 »Wem sonst als Dir.« lautete die Widmung, die der unglückliche Dichter seiner Lebens- und Leidensliebe Susette Gontard ins Geschenkexemplar seines Romans Hyperion schrieb. Zur literarischen Komplexität von Heims Roman vgl. Vogt, Jochen: Verriegelte Vergangenheit. Bodenlose Gegenwart. Über Tempusgebrauch, Redeformen, Regionalismus, Intertextualität und Sonstiges in zwei Kriminal(?)-Romanen von Uta-Maria Heim. In: Hoorn, Tanja v. (Hg.): Zeit, Stilstellung und Geschichte im deutschsprachigen Gegenwartsroman. Hannover: Wehrhahn Verlag 2016, S. 75–93. Siehe auch den Beitrag von Thomas Kniesche in diesem Band.

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balartisten Haas und Juretzka oder den Alpenjodlern einmal abgesehen, verwendet sie Dialekteinsprengsel sehr pointiert und nuanciert im linguistisch wie psychologisch sensiblen Sprachdreieck von Schwäbisch, Alemannisch und Badisch. Aber sie pflegt auch eine Tiefendimension des Regionalismus: Von den Höhen der Schwäbischen Alb, wo 1940 in der berüchtigten Anstalt Grafeneck zehntausend psychisch Kranke vom Nazistaat ermordet wurden, geht es in Wem sonst als Dir. hinab nach Hölderlins Tübingen, in die Landeshauptstadt Stuttgart und in die Abgründe deutscher Vergangenheit, durch die Gespenster des Terrorismus der 1970er Jahre ebenso geistern wie Holocaust und Weltkrieg. Und im Krimirahmen wird ein zwanzig Jahre altes Fehlurteil zumindest mental revidiert und der Mordfall findet seine unverhoffte Lösung. Ein letzter Blick geht aber noch einmal eher in die Weite als in die Tiefe. Einige, meist jüngere Autorinnen und Autoren arbeiten in einer Richtung, die man »Entgrenzung des Regionalen« nennen könnte. Damit meine ich nicht so sehr Veit Heinichen, der als deutscher Schriftsteller mit ausgeprägt kultur- und zeithistorischem oder auch pädagogischem Ehrgeiz eine Art Regionalkrimi seiner italienischen Wahlheimat Triest und ihrer historischen Wandlungen entwickelt hat (zehn Bände, von Gib jedem seinen eigenen Tod, 2001, bis Scherbengericht: Commissario Laurenti vergeht der Appetit, 2017), sondern vielmehr ein Erzählmodell, das in Anlehnung an die jüngste deutsche Zeitgeschichte Nähe und Ferne, Gegenwart und Vergangenheit, Regionalität und Globalisierung dialektisch aufeinander bezieht. Ulrich Ritzel (*1940), langjährig erfahrener Polizei- und Gerichtsreporter »in Ulm, um Ulm und um Ulm herum« (ein beliebter deutscher ›Zungenbrecher‹!) hatte seit 1999 zunächst acht Krimis verfasst, die eben dort spielen und als »soziale Enquête« deutscher Gegenwartsgesellschaft21 zu lesen sind, mehr oder weniger tief aber auch in einer deutschen Vergangenheit wurzeln, die sich als ›untot‹ erweist, insofern Nazi-Verbrechen verschiedener Art unheilvoll bis ins Heute wirken und verdrängte Schuld erneut aufbricht. Für den zweiten und den letzten Roman aus dieser Gruppe, Schwemmholz (2000) und Beifang (2009), erhielt Ritzel jeweils den Deutschen Krimipreis des Folgejahres. Zwei Romane, die nach der Übersiedlung des Autors (und seines Ermittlers Berndorf, jetzt Kommissar im Ruhestand) in die neue deutsche Hauptstadt entstanden, wählen verschiedene Perspektiven auf die Metropole; da geht es um den langen Schatten der Balkankriege aus den 1990er Jahren, die auf Berlin als Exil vieler Kroaten fallen (Schlangenkopf, 2011), oder auch um die hausgemachte Korruption von Politik und Big Business (Trotzkis Narr, 2013). In beiden Fällen unterliegt dem aber ein Grundthema, das man literarisch bis zu Alfred Döblin oder Fritz Lang 21 Vgl. Abt, Stefanie: Soziale Enquête im Kriminalroman. Am Beispiel von Henning Mankell, Ulrich Ritzel und Pieke Biermann. Wiesbaden: Springer 2004.

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zurückführen könnte: der Moloch Metropolis und seine Opfer, denen hier das spürbare Mitgefühl des Autors gilt. Ähnlich wie bei Ritzel verlief die bisherige Karriere des deutlich jüngeren Oliver Bottini (*1965), der sich seit 2005 mit seinen Romanen um die Freiburger Kriminalpolizistin Louise Bonì einen Namen gemacht hat (zuletzt Im weissen Kreis, 2015), inzwischen aber in Berlin lebt. In Der kalte Traum (2013) geht es um die schwäbische Provinz (wieder einmal Rottweil!) und um die deutsche Hauptstadt, aber auch um Serbien, wo in diesem Fall das nachwirkende Unheil im Krieg begann. Deutlicher noch als Ritzel ist mit dieser zeithistorisch plausiblen Verknüpfung von Tat- und Handlungsorten ein tendenzieller Genrewechsel vom Polizeiroman zum Agententhriller verbunden, der sich in Bottinis nächstem Buch Ein paar Tage Licht (2014) in der Konstellation Berlin–Algerien und mit dem Thema ›Arabischer Frühling oder islamischer Terror?‹ eindrucksvoll fortsetzt. Auch Merle Kröger (*1967) nutzt, in Anlehnung an authentische Ereignisse, in Grenzfall (2013) einen regionalen Tatort, die deutsch-polnische Staatsgrenze in Mecklenburg-Vorpommern, wo sich dann Probleme entladen, die andernorts – in diesem Fall in Rumänien – ihren Ursprung haben. In ihrem vorletzten Buch Havarie (2015), das thematisch die Flüchtlingsströme des Jahres 2014 von Nordafrika nach Südeuropa aufgreift, geht sie noch weiter und wählt ein luxuriöses Kreuzfahrtschiff auf dem Mittelmeer als Schnittpunkt so vielfach sich überkreuzender Lebensschicksale und Konfliktlinien, wie sie erst die globalisierte Welt hervorbringt. Dem entspricht eine Schnitt-Technik (short cuts), die von der auch als Filmemacherin erfahrenen Autorin themenadäquat und wirkungsvoll in Szene gesetzt wird. Schließlich wäre Zoë Beck (*1975) zu erwähnen, deren drei der letzten vier Kriminalromane Brixton Hill (2014), Schwarzblende (2015) und Die Lieferantin (2017) überhaupt nicht mehr in Deutschland, sondern in London spielen. (Paradise City, 2020, für den Beck mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet wurde, spielt in der Zukunft, in der deutschen Zukunft.) Natürlich ist dies nicht das düster-neblige London, das deutsche Krimis in den 1950er Jahren in später Edgar-Wallace-Nachfolge gern beschworen, auch nicht die Heimat von Sherlock Holmes oder Jack the Ripper, sondern das heutige Epizentrum globaler Vernetzung und Bedrohung, wo globale Finanzströme, unbewältigte ethnische Vielfalt und sonstige innenpolitische Probleme, die virtuelle Welt und der islamische Terrorismus eine gefährliche Mischung abgeben. In Becks Büchern kommt es dann tatsächlich zu kaum noch beherrschbaren Explosionen der Gewalt. Ob die Kriminalliteratur sich grundsätzlich und dauerhaft als fähig erweisen wird, derartige Entwicklungen und Zustände literarisch zu fassen – und wie sie sich dafür inhaltlich und strukturell verändern müsste – wage ich nicht zu entscheiden. Ihren Weg zu einem Universalgenre des 21. Jahrhunderts zu ver-

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folgen, dürfte aber spannend werden, mindestens so sehr wie ein außergewöhnlich guter Krimi.

Nachfrage: Und was ist mit Berlin? Dies ist eine naheliegende Frage, die einem besonders in Amerika gern gestellt wird. Schnippisch könnte man antworten: Berlin ist nicht Deutschland. Oder weniger polemisch: Die größte deutsche Stadt, jetzt auch wieder Hauptstadt eines vereinten Deutschland, ist nicht nur, was den Krimi angeht, sondern in vielfacher Hinsicht: ökonomisch, politisch, sozial und atmosphärisch ein Sonderfall, vielleicht sogar ein Problemfall. Ihr Status als Metropole ist im kollektiven Bewusstsein der Deutschen keineswegs so fraglos verwurzelt wie etwa der von Paris im französischen. Soweit ich sehe – und ohne die Ansätze bei Ulrich Ritzel, Jan Seghers (Der Solist, 2021) und anderen abzuwerten – hat bislang noch kein deutscher Kriminalroman die Komplexität und Widersprüchlichkeit dieser Stadt überzeugend erfasst, die ja allen Kriterien einer Region entspricht, sich selbst aber allzu oft als Metropole (miss)versteht. Außer Frage steht, dass kaum eine Region oder Stadt in Deutschland so sehr von den tiefgreifenden Zäsuren der Zeitgeschichte (1945, 1949, 1961, 1989) geprägt (und teilweise beschädigt) wurde wie die einstige und jetzige Hauptstadt; aber auch, dass sie sich gegenwärtig in einem dynamischen Veränderungsprozess befindet, der sie als boomtown für deutsche und internationale Touristen, für junge Menschen aus aller Welt und für die sog. Kreativindustrie (Kunst, Neue Medien, Mode und Design, Entertainment, Start-ups) attraktiv gemacht hat. Andererseits ist sie ökonomisch nach wie vor nicht aus eigener Kraft lebensfähig, krankt an einer chronisch provinziellen Innenpolitik und erheblichen sozialen Reibungen und Konflikten, nicht zuletzt in Fragen der Integration von Migranten. All dies nun literarisch zu verarbeiten, nicht nur im Krimi, ist eine Aufgabe, die leicht gestellt und schwer zu erfüllen ist – zumal sie unvermeidlich in den Schlagschatten von Döblins Jahrhundertroman Berlin Alexanderplatz aus dem Jahr 1929 gerät. Der populäre Frankfurter Dichter Robert Gernhardt hat Ende der 1990er Jahre, während eines längeren Aufenthalts an der Spree, die von der Literaturkritik oft erhobene Forderung nach einem repräsentativen Berlin-Roman ins Satirische gewendet: »den Hauptstadtroman, den schreib ich euch nicht/ wenn es hoch kommt, dann pack ich das Hauptstadtgedicht«.22 Natürlich gibt es inzwischen auch nicht wenige Berlin-Krimis, aber noch keiner scheint der verzwickten »Eigenlogik« dieser Stadt so recht auf die Schliche 22 Gernhardt, Robert: Couplet vom Hauptstadtroman. In: Gernhardt, Robert: Gesammelte Gedichte 1954–2004. Frankfurt (M.): Fischer 2005, S. 674–675.

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gekommen zu sein.23 Möglicherweise geht dies vorerst am ehesten im Rückgriff auf die historische Dimension, was dann zu interessanten Varianten des Krimischemas bzw. zu hybriden Formen führt. Wo die Gegenwart (noch) nicht recht zu fassen ist, könnte man in die Vergangenheit oder gar in die Zukunft ausweichen. Dies tun jedenfalls zwei Erzählwerke, die ich abschließend empfehlen möchte. Das eine sind die bislang acht Bände (von Der nasse Fisch, 2007, bis Olympia, 2020) des Kölner Autors Volker Kutscher24, der seine Fälle in den historisch genauestens recherchierten Untergang der Weimarer Republik einpasst und nun in den ersten Wochen der Naziherrschaft angekommen ist. Eine lesenswerte Typuskombination von Kriminal-, Großstadt- und Geschichtsroman, deren einzige Schwäche man darin sehen kann, dass der Autor den Drang in die Breite nicht energisch genug zügelt. Das andere ist der Roman Plan D von Simon Urban, der im September 2011 erschien und im Oktober desselben Jahres spielt, und zwar in der Hauptstadt der »wiederbelebten« DDR, also eine Art von kontrafaktischer Geschichtsschreibung oder ein Kriminal-und-Zukunftsroman.25 Das gibt, abgesehen von einer wirklich spannenden Krimi- oder eigentlich Agentenhandlung, Gelegenheit zur ebenso fundamentalen wie witzigen, manchmal ins Groteske überdrehten Abrechnung mit dem alten System, besonders der »Staatssicherheit«, und gleichzeitig, da Urban über erzählerische Phantasie und einen Sprachwitz verfügt wie einst der junge Günter Grass, zu einem ganz eigenwilligen Lesevergnügen.

Literatur Abt, Stefanie: Soziale Enquête im Kriminalroman. Am Beispiel von Henning Mankell, Ulrich Ritzel und Pieke Biermann. Wiesbaden: Springer 2004. Altenburg, Matthias: Jan Seghers’ Geisterbahn. Tagebuch mit Toten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006. Ammann, Wilhelm: »Regionalität« in den Kulturwissenschaften. In: Ammann, Wilhelm/ Mein, Georg/Parr, Rolf (Hg.): Periphere Zentren oder zentrale Peripherien? Kulturen und Regionen Europas zwischen Globalisierung und Regionalität. Heidelberg: Synchron 2008, S. 13–30. Auch online URL: http://andererseits.library.duke.edu / letzter Zugriff am 8. Februar 2021. 23 Das gilt auch für die durchaus lesenswerten und mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichneten Romane von Elisabeth Herrmann. Charakteristisch scheint mir, dass etwa in Das Dorf der Mörder (2013) die Darstellung des unter massiven Nach-Wende-Problemen leidenden brandenburgischen Umlandes im Atmosphärischen wie im Analytischen sehr viel eindrücklicher wird als die der aufblühenden Metropole. 24 Siehe dazu den Beitrag von Nikolas Buck in diesem Band. 25 Siehe Brylla, Wolfgang: Im Osten nichts Neues? Die DDR und der (alternative) Geschichtskrimi. In: »Constellazioni« 3 (2017), Bd.: Ostalgie, S. 131–156.

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Avanessian, Armen/Hennig, Anke (Hg.): Der Präsensroman. Berlin: Walter de Gruyter 2013. Benjamin, Walter: Einbahnstrasse. Berlin: Rowohlt 1928. Bloch, Ernst: Philosophische Ansicht des Detektivromans (1965). In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München: W. Fink 1998, S. 38–51. Bönnighausen, Marion/Vogt, Jochen (Hg.): Literatur für die Schule. Paderborn: W. Fink 2014. Bourdieu, Pierre: Le marché des biens symboliques. In: »L’année sociologique« 22 (1971), S. 49–126. Gekürzte englische Fassung in: »Poetics« 14 (1985), H. 1/2, S. 13–44. Brylla, Wolfgang: Im Osten nichts Neues? Die DDR und der (alternative) Geschichtskrimi. In: »Constellazioni« 3 (2017), Bd.: Ostalgie, S. 131–156. Buhl, Hendrik: Tatort. Gesellschaftspolitische Themen in der Krimireihe. Konstanz/München: UVK 2013. Fiedler, Leslie: Cross the Border, Close the Gap (1969). In: Fiedler, Leslie: A New Fiedler Reader. Amherst, NY: Prometheus Books 1999, S. 270–294. Gernhardt, Robert: Couplet vom Hauptstadtroman. In: Gernhardt, Robert: Gesammelte Gedichte 1954–2004. Frankfurt (M.): Fischer 2005, S. 674–675. Griem, Julika/Scholz, Sebastian: Beweisaufnahme: Zur medialen Topographie des TATORT. In: Griem, Julika/Scholz, Sebastian (Hg.): Tatort Stadt. Mediale Topographien eines Fernsehklassikers. Frankfurt (M.): Campus 2010, S. 10–29. Hißnauer, Christian/Scherer, Stefan/Stockinger, Claudia (Hg.): Föderalismus in Serie. Die Einheit der ARD-Reihe »Tatort« im historischen Verlauf. Paderborn: W. Fink 2014. Hißnauer, Christian/Scherer, Stefan/Stockinger, Claudia (Hg.): Zwischen Serie und Werk. Fernseh- und Gesellschaftsgeschichte im »Tatort«. Bielefeld: transcript 2014. Kniesche, Thomas: Der »Kommissar für die, die weg sind«. Friedrich Anis Tabor-SüdenRomane und die Topographie des Traumas. In: »andererseits. Yearbook of Transatlantic German Studies« 3 (2013), S. 125–145. Kniesche, Thomas: Einführung in den Kriminalroman. Darmstadt: WBG 2015. Matt, Peter v.: Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist. München: Carl Hanser 2006. Thielking, Sigrid/Vogt, Jochen (Hg.): »Beinahekrimis« – Beinahe Krimis? Bielefeld: Aisthesis 2014. Viehoff, Reinhold: Der Krimi im Fernsehen. Überlegungen zur Genre- und Programmgeschichte. In: Vogt, Jochen (Hg.): MedienMorde. Krimis intermedial. München: W. Fink 2005, S. 89–110. Vogt, Jochen: »Tatort« – Der wahre deutsche Gesellschaftsroman. Eine Projektskizze. In: Vogt, Jochen (Hg.): MedienMorde. Krimis intermedial. München: W. Fink 2005, S. 111– 129. Vogt, Jochen: Ist der Deutsche Schäferhund des Inneren Monologs fähig? Nachholende Modernisierung des Erzählens im gegenwärtigen deutschen Kriminalroman. Vortrag beim Deutschen Germanistentag, Kiel 2013 (ungedruckt). Vogt, Jochen: Krimis, Antikrimis, »Gedanken«-Krimis. Wie Friedrich Dürrenmatt sich in ein gering geschätztes Genre einschrieb. In: Liard, Véronique/George, Marion (Hg.): Dürrenmatt und die Weltliteratur – Dürenmatt in der Weltliteratur. München: Meidenbauer 2011, S. 215–236.

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Vogt, Jochen: Modern? Vormodern? Oder Postmodern? Zur Poetik des Kriminalromans und seinem Ort im literarischen Feld. In: Liard, Véronique (Hg.): Verbrechen und Gesellschaft im Spiegel von Literatur und Kunst. München: Meidenbauer 2010, S. 17–29. Vogt, Jochen: Verriegelte Vergangenheit. Bodenlose Gegenwart. Über Tempusgebrauch, Redeformen, Regionalismus, Intertextualität und Sonstiges in zwei Kriminal(?)-Romanen von Uta-Maria Heim. In: Hoorn, Tanja v. (Hg.): Zeit, Stilstellung und Geschichte im deutschsprachigen Gegenwartsroman. Hannover: Wehrhahn Verlag 2016, S. 75–93. Werlen, Benno (Hg.): Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen. 3 Bde. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 1995, 2007. Werlen, Benno: Alltägliche Regionalisierungen unter räumlich-zeitlich entankerten Lebensbedingungen. In: »Informationen zur Raumentwicklung« H. 9/10 (2000), S. 611– 622. Wörtche, Thomas: Das Mörderische neben dem Leben. Lengwil: Libelle 2008.

Weiterführende Literatur Beck, Sandra: Narratologische Ermittlungen. Muster detektorischen Erzählens in der deutschsprachigen Literatur. Heidelberg: Winter 2017. Vogt, Jochen: Schema und Variation. 13 Versuche zum Kriminalroman. Hannover: Wehrhahn 2020.

Internetquellen URL: www.krimi-couch.de / letzter Zugriff am 8. Februar 2021. URL: www.bokas.de / letzter Zugriff am 8. Februar 2021. URL: www.culturmag.de/crimemag / letzter Zugriff am 8. Februar 2021. URL: www.kaliber38.de / letzter Zugriff am 8. Februar 2021. URL: www.krimilexikon.de / letzter Zugriff am 8. Februar 2021. URL: www.tatort-fundus.de / letzter Zugriff am 8. Februar 2021. URL: www.zeit.de/krimizeit-bestenliste / letzter Zugriff am 8. Februar 2021.

Werner Jung (Universität Duisburg-Essen)

Von Essen nach Dortmund und wieder zurück. Ein kleiner Überblick über den Ruhrgebietskrimi1

Rund ein knappes Jahrzehnt bevor der deutsche Krimi als Regionalkrimi seine (Wieder-)Geburt erfährt, erscheint der erste Krimi des Journalisten und Rundfunkredakteurs Jürgen Lodemann unter dem ebenso sperrigen wie denkwürdigen Titel Erinnerungen in der Zornigen Ameise an Geburt, Leben, Ansichten und Ende der Anita Drögemöller und Die Ruhe an der Ruhe – ein Titel, der zu Recht an Barockliteratur denken lässt. 1985 folgt ein zweiter Roman mit derselben Ermittlerfigur Langensiepen, Essen Viehofer Platz, den Lodemann dann 2006 in Nora und die Gewalt- und Liebessache verabschiedet. Verschiedentlich hat Lodemann in Gesprächen und Interviews betont, dass er Romane schreibe – also auf die Genrebezeichnung Krimi verzichtet. Dennoch sind ihm regionale Bezüge dabei sehr wichtig, ist der Großraum Ruhrgebiet sein literarischer Rayon: Jede gute Literatur ist regional – was soll das Wegschweben in Wolkenkuckucksheime? Krimi-Qualitäten versagen oder bewähren sich vor Ort, und da ich im Ruhrgebiet erste Erfahrungen und Anschauungen um die Ohren bekam, musste ich von der Gegend zu erzählen beginnen, wo Literatur bislang (bis heute) ein Fremdwort blieb.2

Der Literaturwissenschaftler und Krimispezialist Jochen Vogt hat im Blick auf Lodemanns Langensiepen-Trilogie davon gesprochen, dass das Ruhrgebiet ein »Modell«, ja »eine komprimierte Bundesrepublik« darstellt.3 Und in der Tat lassen sich in der Trilogie entlang der Zeitachse markante gesellschaftlichstrukturelle Probleme wie politische Konstellationen und Zusammenhänge (Filz und Korruption in der Lokalpolitik, Wirtschaftskriminalität, Gewalt und Prostitution) ausmachen, auf deren Hintergrund die jeweilige kriminelle Handlung 1 Bei diesem Text handelt es sich um die überarbeitete und gekürzte Fassung meines Beitrags über den Ruhrgebietskriminalroman in: Caspers, Britta/Hallenberger, Dirk/Jung, Werner/ Parr, Rolf: Ruhrgebietsliteratur seit 1960. Eine Geschichte nach Knotenpunkten. Stuttgart: J.B. Metzler 2019, S. 183–212. 2 Jürgen Lodemann im Verhör. In: Wittkowski, Joachim (Hg.): Auf Streife im Revier. Der Krimi im Ruhrgebiet. Bottrop: Henselowsky Boschmann 2009, S. 100–101. 3 Vogt, Jochen: »Alles total groovy hier.« Oder: Wie das Ruhrgebiet im Krimi zu sich selbst kam. In: »Der Deutschunterricht« H. 2 (2010), S. 20–28, hier S. 24.

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inszeniert wird. Erzähltechnisch arbeitet sich dabei Lodemann an einem vermeintlich hölzernen Eisen ab, der Verbindung von krimitypischen Elementen mit Formen des Komischen, die er insbesondere über den Sprachwitz und Sprachspiele einbindet. Am Anfang des Romans steht die Beerdigung der Edelprostituierten Anita Drögemöller am 5. Mai 1970, deren gewaltsamer Tod dann von Rudolf Langensiepen, Hauptkommissar in Essen, beginnend mit dem 30. April 1970, dem Tag ihres Kennenlernens, ermittelt und rückblickend erzählt wird. In Anitas Appartement liegt ein Toter, ihr früherer Zuhälter: »Hörn Sie«, ruft sie beim Revier Bredeney an, »komm Sie doch bitte ma fix vorbei, ich habe hier in meine Wohnung einen, der is tot.«4 Und Langensiepen macht sich auf den Weg, d. h. steigt in seinen VW, was Lodemann sogleich dazu einsetzt, um mit akribischer Detailgenauigkeit die Topographie Essens zu beschreiben: die verschiedenen Stadtviertel, das charakteristische Nord-Süd-Gefälle, die Verkehrsproblematik, insgesamt auch städtebauliche Aspekte. Zugleich verbindet er dies immer mit Reflexionen über die Historie und mit kulturgeschichtlichen oder auch soziokulturellen Reminiszenzen: Er bog auf die Nord-Süd-Achse der Stadt, die kilometerlang ohne Krümmung verläuft. Hier ritt, so wußte er es aus einem repräsentativen Bildband, vor hundert Jahren der Herr Alfred Krupp, der ritt von seiner Kanonenfabrik im Norden zu seiner Villa im Süden, weshalb sie nun ›Alfredstraße‹ heißt. Tags eine immer vor dem Infarkt stehende Auto-Aorta, an Wochenenden blockiert mit Familien, die wie einst jener Alfred nun ihrerseits Pferdestärken zu den grünen Hügeln über der Ruhr lenken wollten. […] Und schließlich, im Kunstlicht, die Gärten und Villen. Wer in den letzten hundert Jahren ebensoviel auf sich hielt, wie er für sich behielt, baute sein Haus im Süden, in Bredeney. Vielleicht baute man auch noch im Stadtwald, in Werden oder in Kettwig. Langensiepen selbst wohnte in Rüttenscheid, in der Mittelstadt. (AD, 17)

»Der Roman«, urteilt Erhard Schütz zu Recht, verbindet modische Tendenz des Literaturmarkts – die abebbende Pornowelle, den »Neuen deutschen Krimi« und die gerade entdeckte Heimatliteratur – zu einem eigenständigen Werk, dessen Reiz […] vor allem im exzessiven Gebrauch des stilisierten Ruhrdeutsch von Anita besteht. Lodemann stattet sie mit einer zugleich bodenständigen und urbanen Schlagfertigkeit aus, die ihm erlaubt, alle möglichen Themen – der Sexualität, der Sozial- und Kulturkritik – in witzigen Wendungen und derben Pointen auszureizen.5

4 Lodemann, Jürgen: Anita Drögemöller und Die Ruhe an der Ruhr. Essen: Klartext 2007, S. 15. Alle weiteren Zitate im Fließtext unter der Sigle AD mit Seitenangabe. 5 Schütz, Erhard: Jürgen Lodemann. In: Heinz-Ludwig Arnold (Hg.): Kritisches Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. München: edition text+kritik 1991, S. 3.

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Langensiepen, der mit dem Fall beauftragt worden ist, observiert nicht nur Anitas Etablissement via Abhöranlage, sondern lernt die Prostituierte in etlichen Gesprächen näher kennen, ja, verliebt sich schließlich in sie und kommt dabei diversen Verstrickungen und einem Filz aus Wirtschaft und Politik auf die Spur – nicht zuletzt durch die Entdeckung einer installierten Videoanlage bei Anita, die ursprünglich Erpressungszwecken gedient hat. Gerade die Gespräche zwischen Langensiepen und Anita nutzt Lodemann geschickt dazu, um auf eine schwierige Kindheit und Jugend im Revier in den 1950er und frühen 1960er Jahren hinzuweisen – Anita wird von Nonnen in einem Kupferdreher Heim erzogen: »Binnen ganz ruhigen Ruhr-Typ. Ruhrich, rührich, urich, ruich, wießet ham willz« (AD, 74). Vom behaglich-beschaulichen Süden, dem kleinbürgerlichen Kupferdreh – »Kuh Pferd Reh – wo die sich gute Nacht sagen, da liecht dat. Fromme Nönnekes, mittachs Spinat, Händken packen, beetn, spazziern anne Ruhr, Liedkes singen, Weihnachten Ängelkes spieln« (AD, 81) –, geht es nach Steele, wo sie in den späten 1950er Jahren die Volksschule besucht. Dann die Pubertät, erste frühe sexuelle Kontakte, die Freundin Kimmi, schließlich – im Wunsch nach Unabhängigkeit und Selbständigkeit – das Abrutschen in die Prostitution, immer mit dem Gedanken im Hinterkopf, irgendwann doch wieder aussteigen zu können und ein bürgerliches Leben zu führen. Anitas Wahlspruch, mit dem sie die prominente Kundschaft aus dem angrenzenden Rheinland wie auch dem Münsterland empfängt, lautet: »Wirße öller, brauchße’s döller, brauchß Anita Drögemöller« (AD, 100). Die Drögemöller verkörpert die Hure mit großem Herzen, zugleich den pragmatisch-praktischen Typ einer Frau aus dem Ruhrgebiet, bodenständig, lokalpatriotisch, dabei listig auf den eigenen materiellen Wohlstand bedacht. Lodemann versteht es, die Kriminalgeschichte mit in das Porträt dieser Figur einzubinden, wodurch dann auch die spezifische Mentalität des Ruhrmenschen immer wieder aufscheinen kann. Doch auch poetologisch ist der Roman bemerkenswert. Nicht nur dass Lodemann mit künstlerischen und literarischen Anspielungen (von den Motti bis zu einer Vielzahl intertextueller Referenzen) nicht eben geizt, er präsentiert dem Leser auch noch Ansätze seines eigenen poetologischen Selbstverständnisses, das er irgendwo zwischen Alfred Döblin und Günter Wallraff ansiedelt – also auf mittlerer Strecke zwischen avancierten modernen Erzähltechniken und Mitteln der zeitgenössischen Reportage. Beides steckt in diesem Text. Langensiepen hört bei seiner Observation dem Gespräch zweier Freier Anitas zu, die sich über die Möglichkeiten einer literarischen Beschäftigung mit dem Ruhrgebiet unterhalten: »Da behauptete der kühle Graue aus dem Norden der Stadt, das Epos, der Film und das Drama über die Ruhr seien bis heute nicht geschrieben. Da eiferte der Cand. phil. dagegen und rief ›Wallraff!‹ und sagte ›Adäquat‹ und meinte, auf diesen Ruhrpott passe nur ein Deckel, nämlich die Industriereportage, und rief abermals ›Wallraff!‹« (AD, 244) Und während der eine für Döblins Erzählweise

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votiert – »Die Verhältnisse sind nun mal so grotesk, daß sie nur als Literatur annähernd korrekt erfaßt werden können. Und auch nur so zu ertragen sind« (AD, 244) –, spricht der andere dagegen von Eskapismus und Flucht (AD, 244). Es endet wohl unentschieden. Der Kriminalroman und die Ruhrgebietsreportage gehen ein gelungenes Mischungsverhältnis ein: Jürgen Lodemann schreibt seiner Drögemöller-Geschichte die Problematik des Ruhrgebiets auf dem historischen Stand um 1970 herum ein, wobei der Roman missverstanden wäre, wenn man in ihm lediglich aufklärerische Intentionen erkennen wollte.6 Die Prostituierte Rita Drögemöller bewahrt in ihrem Charakter aufrührerische Momente – und damit etwas vom proletarischen Aufruhr früherer Dezennien, der inzwischen längst vom sozialdemokratischen Nivellement und der Heimholung des Ruhrgebiets ins saturierte Wohlstandsdeutschland-West verdrängt worden ist. So kommt Langensiepen einmal beim Blick aus seiner »Hausmeisterbehausung« ins Sinnieren: Da lag sie, die zum See gestaute Ruhr, dieser Fluß, dessen Name nach Ruß klang und nach Krankheit und doch, so hatte er gelernt, mit »Aufruhr« verwandt war, da leuchtete der Fluß in der Nacht mit bunten Zeichen, mit angestrahlten Wasserburgen und Restaurants und glitzernden Spiegelungen. (AD, 93–94)

Anita ist widerständig und unangepasst, zwar eine Liebesdienerin, aber eine solche, die ihre Freier an der kurzen Leine hält. Sie verkörpert etwas Kleinbürgerlich-Proletarisches – und dies auf ungezwungene Art –, etwas instinktiv Rebellisches, das sich – je länger desto intensiver der Ermittler Langensiepen sich mit ihr beschäftigt – auch auf ihn überträgt. Ganz in diesem Sinne können die letzten Seiten und Sätze des Romans gelesen werden, die Lodemann in eben Joycescher wie Döblinscher Manier mittels einer stream of consciousness-Technik darstellt. Jetzt schaut Langensiepen in die Zukunft des Reviers und Essens, in eine überaus ungewisse, die er ganz in Ritas Worten von den harten Gegensätzen von Großkapital auf der einen, dem Widerstand auf der anderen Seite gezeichnet findet. Ende offen. Ebenso viele Fragen auch: Die Mauern stürzen ein Allmächtiger gehört sowieso alles den Banken Kaum ham sen Schrebergaatn »Haupahnhof« Stadtluft macht »Freiheit« fühln se sich wien Kappetalist der junge verlegene Geistliche heute morgen wie WAZ-Winnes Angst stieß den Spaten an einer Stelle in den Lehm, die ungünstig war Sprachklumpen. Unruhe, hingedrückt übers Becken. – Hätte er doch gefragt. – Rheinisch Westfälischer Rheinstall an der Kruppstraße wo die Siemenschen schlafen vor den Träumerkasernen NRZ, WAZ, WELT. War nun Ruhe? – Parallelaktionäre für Hure an der Emscher Heidschi Weichpeitschi Rührige Unruhe in der Uhr Aufruhr erst am jüngsten Top-Tag von oben ge6 Vgl. Zenke, Thomas: Anita la Douce. In: »Frankfurter Allgemeine Zeitung« Nr. 91 vom 19. April 1975; Jansen, Peter W.: Watten Beschiß dat Leem in Wahheit is. In: »Frankfurter Rundschau« vom 8. November 1975.

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steuert über allen Zipfeln ist Ruhr auf der Flucht warte nur milde spürest auch du deinen Bauch stenze circus Tänze Nabelschnur ewig süße Alfredstraße bis Folkwang Herta werden […]. (AD, 288)

Nach diesem frühen »unvergessenen Geniestreich«7, den Lodemann zehn Jahre später mit Essen Viehofer Platz (1985) fortzusetzen versucht, bleibt es zunächst ruhig im Revier. Bis Anfang der 1980er Jahre im Umfeld des Weltkreis-Verlags die Idee geboren wird, einen neuen Typ von Krimi zu schaffen. Dieser Krimi, erinnert sich Jürgen Pomorin, damals Redakteur beim sozialistischen JugendMagazin »elan«, sollte frei von Polizisten sein, gleichwohl aber »auf Tatsachen« beruhen und »sich so oder so ähnlich wirklich ereignet« haben, wie es als Vorsatz zu den in der Folge publizierten Krimis auch heißen wird. Die ersten Romane von Werner Schmitz, einem zunächst in der Kommunalverwaltung in Bochum tätigen Beamten, »bevor er aus dem öffentlichen Dienst gedrängt wurde«8, um als Verlagsangestellter und freier Journalist zu wirken, und dem ebenfalls in Bochum unterrichtenden Lehrer Reinhard Junge sowie schließlich dem Autorenduo Leo P. Ard und Reinhard Junge gehen auf diese Initiative zurück. Das bestätigt Werner Schmitz, der in der DKP organisiert war und zudem als WerkkreisMitglied Erfahrung gesammelt hat, ausdrücklich, wenn er auch – im Rückblick – skeptisch gegenüber dem Begriff Regionalkrimi ist.9 Dennoch bescheren Schmitz’ erste, in rascher Folge erschienenen Romane Nahtlos braun (1984), Dienst nach Vorschuß (1985) und Auf Teufel komm raus (1987) dem WeltkreisVerlag, dessen Programm nach seiner Auflösung dann kurzzeitig vom PahlRugenstein-Verlag in Köln weitergeführt worden ist, erstaunlich hohe Auflagen und sorgen darüber hinaus für erhebliche Presseresonanz – nicht nur in der Region. Jochen Vogts Urteil fasst zusammen, was seinerzeit den Erfolg ausgemacht hat: Werner Schmitz’ Dienst nach Vorschuß, bis heute ein beliebter Text im Deutschunterricht, ist seinerseits vielleicht etwas überladen mit Sozialengagement […], aber ungewöhnlich flott geschrieben, ohne stilistische Prätention, mit Sinn für das Alltags-Ruhrdeutsch – das bekanntlich »sacht, wat Sache is« […], für Kalauer und knappe Pointen. Hier lässt sich also konstatieren, was ja im Krimi schlechthin das Qualitätsgeheimnis ist: die gelungene Variation des Schemas, das pfiffig umgemodelte Klischee […].10

7 Vogt, Jochen: »Alles total groovy hier«, S. 24. 8 Zum Autor siehe Schmitz, Werner: Einer muss der Erste sein. In: Wölk, Ingrid (Hg.): Hundertsieben Sachen. Bochumer Geschichten in Objekten und Archivalien. Essen: Klartext 2017, S. 94–96, hier S. 94. 9 Werner Schmitz im Verhör. In: Wittkowski, Joachim (Hg.): Auf Streife im Revier. Der Krimi im Ruhrgebiet. Bottrop: Henselowsky Boschmann 2009, S. 123. 10 Vogt, Jochen: »Alles total groovy hier«, S. 23–24.

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In Nahtlos braun versuchen die Enkelin Ulla und ihr Freund Jimmy herauszufinden, was es mit dem Sturz des Großvaters vom Moped wirklich auf sich hat, und sie decken dabei, auch ohne von der Polizei unterstützt zu werden, Zusammenhänge aus der NS-Zeit auf: So sorgen sie für die Entmachtung eines amtierenden Bürgermeisters, der ein hoher SS-Offizier gewesen ist und das Warschauer Ghetto ausradiert hat.11 In Bochum, »diesem großen Nest«12, genauer noch: im Paternoster des Rathauses, geschieht ein Mord, und alles deutet daraufhin, dass der Maurer Karl Altenscheidt den Stadtamtmann Gerd Bäcker umgebracht hat. Davon erzählt der zweite Krimi Dienst nach Vorschuß. Es geht um ein[en] falsche[n] Verdacht, eine[n] brutale[n] Verdächtige[n], der auch nur ein armes Schwein ist, ein Polizist, der Karriere machen will und dem Behördenmenschen aus Schusseligkeit eine Versetzung einbrockt, kleine Schiebereien, Tip für Tips, irgendwann sind’s keine Trinkgelder mehr, sondern nun geht es um Bestechungsgeld: der Fuchs, der Verdacht schöpft, aber mit dem Wolf nicht fertig wird, Profitjäger und ihre Machenschaften, Finanzjongleure, kurz: ein Krimi aus der geflickten Republik […].13

Hier schreibt der ehemalige Verwaltungsbeamte Schmitz genau von den Menschen, die er aus seiner alltäglichen Berufspraxis kennt, von Charakteren, wie es sie möglicherweise nur im Kohlenrevier gibt: Menschen, die andere Sorgen und Hoffnungen haben, die anders schimpfen und feiern als in anderen Regionen, die anders und direkter zur Sache gehen, ob bei der Maloche, beim Bier oder auf Schalke. Sie zu finden, auszudenken und zu beschreiben, bleibt die Aufgabe von Krimi-Autoren, denen es das Revier angetan hat. Die Lösung dieser Aufgabe könnte die halbe Miete für ein ›starkes Stück Deutschland-Krimi‹ sein.14

In Auf Teufel komm raus ermittelt der Reporter Hannes Schreiber vom »Malibu«Magazin in der Satanisten-Szene und kommt nicht zuletzt selbst in Teufels Küche. Bochum Mitte der 1980er Jahre: der Kortländer-Platz mit seinem Lärmpegel15, das Bermuda-Dreieck am Engelbert-Brunnen – »Bermuda, wat da nachts so viele verschüttgehn« (AF, 37) – die Dahlhauser Schwimmbrücke an der Ruhr, wo der Protagonist »die modrige Frische des saubersten Industrieflusses Europas« (AF, S. 38) einatmet – dies sind nur einige Orte der Topographie Bochums, die Schmitz in seinen Romanen genau kartiert und konturiert. Hinzu kommen kleine Bosheiten über den VfL Bochum – »Die Minuten schlichen 11 12 13 14

Schmitz, Werner: Nahtlos braun. Dortmund: Weltkreis 1984, S. 148. Ebd., S. 151. Kellner, Manfred: Leiche im Paternoster. In: »Unsere Zeit – Literaturmagazin« 1985, S. 46. rak: Ruhrgebiets-Leichen sind noch keine feste Größe. In: »Recklinghauser Nachrichten« vom 26. November 1985. 15 Vgl. Schmitz, Werner: Auf Teufel komm raus. Köln: Pahl-Rugenstein 1987, S. 26. Alle weiteren Zitate im Fließtext unter der Sigle AF mit Seitenangabe.

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vorbei wie VfL-Stürmer« (AF, 43) –, Alltagsweisheiten und Wahrheiten – »›Ungerecht ist die Welt‹, pflegte er zum Beispiel zu sagen, ›einer muß drücken, daß ihm der Kopf platzt, und der andere bescheißt sich im Schlaf‹« (AF, 85) –, Kalauer – »Gestatten, Vandale, ich soll hier hausen« (AF, 113) – und eine Menge Lokalkolorit auf jeder Seite. Nicht weniger davon findet sich in den Krimis von Reinhard Junge, dessen Erstling Klassenfahrt 1985 erschienen ist, und von Jürgen Pomorin, der nach überaus erfolgreichen Sachbüchern unter dem Pseudonym Leo P. Ard Kriminalromane schreibt (Roter Libanese, Die Fotofalle), schließlich des Duos Ard/ Junge mit Bonner Roulette (1986) und dem Erfolgstitel Das Ekel von Datteln (1989). Dabei sind diese Krimis in ihrem Tonfall noch deutlich politischer, erheben zuweilen auch – jedenfalls in den ersten Texten – den pädagogischen Zeigefinger. Und viel Zeitgeist weht durch diese Texte; so sind die Gespenster der RAF allgegenwärtig und die damalige Terroristenhysterie ist ubiquitär, nicht zu vergessen die in den 1980er Jahren anwachsenden Neonazi-Organisationen. Das hat ihnen auch die Bezeichnung ›Polit-Thriller‹ eingetragen und Junges Erstling darüber hinaus noch die Übersetzung ins Russische mit einer Startauflage immerhin von 100.000 Exemplaren beschert.16 Für den Regionalkrimi besonders aufschlussreich und ergiebig ist der in Das Ekel von Datteln erzählte Politskandal, der, wiewohl »Handlung und Personen des Romans […] frei erfunden [sind], die Schauplätze willkürlich gewählt«, deutliche Anspielungen auf eine damals stadtbekannte sozialdemokratische Größe enthält. Weit bis in die Nazijahre zurück reicht die Handlung, die im aktuellen Sumpf der Kumpanei aus Politik und Wirtschaft endet, wobei der wirklich Schuldige den Behörden dann entkommt – eine willkommene Vorlage für die beiden Autoren, um noch zwei Fortsetzungen folgen zu lassen: Das Ekel schlägt zurück (1990) und Die Waffen des Ekels (1991). Beim »Ekel« handelt es sich um den Bürgermeister und vermeintlichen Saubermann Roggenkemper, von dem sich herausstellt, dass er in den letzten Tagen der Besatzung der Niederlande durch die NS-Wehrmacht noch Frauen vergewaltigt und umgebracht hat. Auf die Schliche kommen ihm die Mitarbeiter des Pegasus-Film-Teams sowie Kriminalhauptkommissar Horst Lohkamp, die sich zumeist gegenseitig im Weg stehen, zuweilen aber auch passend ergänzen. Im Übrigen ist die Figur Lohkamps bereits Ermittler in Ard/ Junges Bonner Roulette, worauf im Text ausdrücklich hingewiesen wird, wie auch 16 Tailor, Jack: Wattenscheiss ist nicht Pissville… In: »coolibri« H. 10 (1988), S. 30–32, hier S. 31. Der hübsche Titel des Artikels, Wattenscheiss ist nicht Pissville, ist übrigens eine Anspielung auf Werner Schmitz’ Krimierzählung Wattenscheiß (in: Klugmann, Norbert/Mathews, Peter (Hg.): Schwarze Beute. Thriller-Magazin 2. Hamburg: Rowohlt 1987, S. 42–49), eine Erzählung im Stil der hardboiled school, mit der sich der Autor – eigenem Bekunden nach – vom Revierkrimi verabschiedet (vgl. Schüren, Harald: Krimis als genauer Spiegel der gesellschaftlichen Realität. In: »Aachener Nachrichten« vom 14. Dezember 1985).

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an etlichen Stellen, was ein wenig bemüht wirkt, Hinweise auf frühere Texte untergebracht sind.17 Eine eigenständige Entwicklung macht der Essener Friedrich Hitzbleck, der im gleichnamigen Selbstverlag (vorher Pottwa(h)l Press) unter dem Pseudonym Conny Lens seine ersten Kriminalromane veröffentlicht, bis dann – auf Zuraten Gisbert Haefs’ – der Zürcher Haffmans-Verlag auf den Autor aufmerksam wird und von 1990 bis 2000 dessen Romane verlegt. Dabei kapriziert sich Lens zunächst auf Essen-Kettwig, wo die Handlung angesiedelt ist, um mit der anschließenden sechsteiligen Reihe Steeler Straße in die Essener City und eine heruntergekommene Detektei umzuziehen. In einem »Mord & Todschlag« gewidmeten Themenheft der Essener Literaturzeitschrift »jeder art« vom Januar 1991 spricht Lens über seine Anfänge und die Entwicklung als Krimi-Autor: Ich werde alle meine Romane wahrscheinlich in Essen spielen lassen, denn Essen kenne ich. Was ist denn überhaupt ein Regionalkrimi? Warum kann ein Roman nicht in Datteln spielen? In Datteln gibt es auch Verbrechen. Der kann in Kierspe im Sauerland spielen, ohne gleich ein Regionalkrimi zu sein. Der Begriff stammt doch eigentlich aus der Geschäftswelt, aus den Marketingabteilungen der Verlage.18

Wichtig neben diesen regionalen Bezügen sind die gesellschaftskritischen Elemente, wobei ihn Morde eigentlich gar nicht interessieren: »Morde sind die langweiligsten Fälle […]. Damit kann man keine Spannung aufbauen«.19 Und geradezu allergisch reagiert er auf die den hardboiled thriller dominierenden starken Männer: Dieses Knallharte… ich verstehe auch diese einsamen Wölfe nicht – »Männer, die ihren unbeirrbaren Weg durch den Sumpf der Korruption gehen« – zeigt mir doch mal in Castrop-Rauxel, zeigt mir die doch mal! Das ist doch Tinnef! Wo gibt es denn solche Männer? Immer unbeirrbar, den Hut tief im Gesicht – das ist doch albern, so etwas! Ich habe noch nie so einen gesehen. Und diese ganz Gerechten, Harten.20

In Die Sonnenbrillenfrau, dem ersten Band der Steeler-Straße-Krimis – noch im Hitzbleck-Verlag erschienen –, lernen sich Wollie Schröder, der Privatermittler, dessen Observationen häufig genug untreuen Ehemännern gelten, die aus dem Puff in der Stahlstraße kommen21, und seine nachmalige Sekretärin und eigentlich das Mädchen für alles Chris Ullmann kennen: 17 Vgl. Ard, Leo P./Junge, Reinhard: Das Ekel von Datteln. Köln: Pahl-Rugenstein 1989, S. 41, 55– 56, 98. 18 Lens, Conny: »Morde sind die langweiligsten Fälle.« Krimiautor Conny Lens im jederartInterview. In: »jeder art« Nr. 5/6 (1991), S. 6–11, hier S. 10. 19 Ebd., S. 9. 20 Ebd., S. 11. 21 Lens, Conny: Die Sonnenbrillenfrau. Die Steeler-Straße-Krimis. Zürich: Haffmans 2000, S. 14 (darin: Die Sonnenbrillenfrau Ottos Hobby – Casablanca ist weit – Endstation Abendrot – Die Kattowitz-Connexion). Alle weiteren Zitate im Fließtext unter der Sigle SBF mit Seitenangabe.

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Von außen machte das Haus keinen schlechten Eindruck, aber auch keinen guten. Eigentlich machte es gar keinen Eindruck. Die Haustür stand offen, weil das Schloß kaputt war. Ein Firmenschild war nicht zu entdecken. Auf dem Briefkasten stand nur »Schröder«. Sie stieg die Treppe hinauf, ohne den Handlauf zu berühren. Die Wohnung lag im obersten Stockwerk. Auch hier kein Hinweis auf die Tätigkeit des Mieters, nur der Name stand an der Tür. Die Klingel war eine schrille Zumutung. (SBF, 9)

In der Folge der Geschichte – und aller Geschichten von Lens – geht es nicht zuletzt immer um die Parodie eines Detektivs – damit zugleich um eine Entlarvung von Klischees und Stereotypen, die im üblichen Kriminalroman verbreitet werden. Durch die ›Sonnenbrillenfrau‹ kommen Schröder und Ullmann der Lösung eines Falles näher, in dem sich die mit einer übergroßen Sonnenbrille maskierte Frau als die fünfzehnjährige Prostituierte Simone herausstellt, mit der ohne ihr Wissen ein Pornostreifen mit versteckter Kamera gedreht worden ist.22 Die parodistischen Momente in Lens’ Texten entstehen auch dadurch, dass Anspielungen auf damals zeitgenössisch aktuelle Serien deutscher wie USamerikanischer Herkunft (etwa Tatort, Derrick, Die Straßen von San Francisco, Starsky und Hutch) gemacht werden, was den Leser natürlich zu Vergleichen veranlasst. Da wird z. B. auf Verfolgungen folgendermaßen hingewiesen: »Wollie war verfolgt worden. Junge. Junge. Daß es so was in Wirklichkeit gab. Die Straßen von San Francisco in Essen. Mitten im Leben. Puh!« (SBF, 92) Schlösser werden geöffnet, wie man’s immer sieht »in Krimis oder bei Eduard Zimmermann«, nicht zuletzt bei Schimanski, der hierzu »seinen Dienstausweis« benutzt (SBF, 97). Wollies rasante Fahrkünste durch die Essener City werden mit den »ungelenken Versuche[n] von Starsky und Hutch«, deren Fahren sich wie die »zweite Fahrschulstunde« ausnimmt, verglichen (SBF, 124). Und wenn einmal unerwartet Schwierigkeiten auftreten, dann helfen eben keine Zufälle, sondern Verstand und Phantasie weiter: »Ein Fenster stand leider nicht offen. Das gab es doch nur bei Derrick« (SBF, 135). Neben dem Witz, den solche Vergleiche erzielen, hat Lens ein offenkundiges Vergnügen daran, Ungereimtheiten medialer Krimidutzendware aufzuspießen und – im Zeichen einer unterstellten Realität und gemeinsam geteilten Lebenswelt – mit dem gesunden Menschenverstand ad absurdum zu führen. Die Figur Wollie Schröders steht gewiss noch in der Tradition des alten Ermittler-Typs, und diesseits harter Fakten des Großstadt-Lebens wirken das Ruhrgebiet und mittendrin Essen überwiegend beschaulichbehaglich. Von anderem Zuschnitt sind dagegen die vier Gonzo-Romane des mit dem Glauser- (und später auch dem Hasenclever-)Preis ausgezeichneten Autoren22 Vgl. Wittkowski, Joachim (Hg.): Auf Streife im Revier. Der Krimi im Ruhrgebiet. Bottrop: Henselowsky Boschmann 2009, S. 86–87.

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Duos Karr und Wehner. Ermittlerfigur ist der heruntergekommene, ständig auf der Suche nach Miniaufträgen befindliche ehemalige Fernsehjournalist Gonzo Gonschorek, der mit seiner Video-Kamera, liebevoll »Suzie« genannt, im alten Kombi durch die Essener Innenstadt schwirrt. Der mehr oder minder enge Rayon seines Wirkens erstreckt sich zwischen Bahnhof, Universität und dem (seinerzeitigen) Bordellviertel. Dieser Gonzo teilt durchaus, wie Karr im Gespräch einmal formuliert hat, »einige Charakterzüge mit dem ›typischen‹ Ruhrgebietler: Er ist pragmatisch, risikobereit und in Maßen bodenständig«.23 Er ist darüber hinaus aber auch, was ihn mit amerikanischen Typen aus Thrillern verbindet, abgezockt, zynisch, machomäßig – dabei natürlich chronisch abgebrannt. Die Fälle, in die er hineinstolpert oder verwickelt wird, spielen in einem düsteren Essen, das zwar auch von dem gewohnten Nord-Süd-Gefälle geprägt, stärker aber noch von einer Tristesse aus Trinker-, Fixer- und Obdachlosenszene beherrscht wird. Im ersten Teil der vierbändigen Reihe – Geierfrühling (1994) –, die eine Jahresfolge durchläuft, beschäftigt sich Gonzo mit dem Tod eines Wachmanns, der ermordet in einer Toilette auf dem Hauptbahnhof gefunden wird, was schließlich in ein dichtes Gewebe aus Prostitution, Erpressung und Geldwäschegeschäften mündet, wie sie eben nur rund ums Bahnhofsviertel blühen können. Unterstützung erhält Gonzo durch eine Studentin, die unerwartet bei ihm auftaucht mit der Bitte, ein Praktikum in seiner Firma absolvieren zu dürfen, und sich dann als überaus fähig herausstellt. Dem zweiten Teil Rattensommer (1995) kommt eine besondere Bedeutung zu, weil Karr/Wehner dafür 1996 mit dem Friedrich-Glauser-Preis für den besten Krimi des Jahres ausgezeichnet worden sind. Ausgangspunkt ist wiederum der Essener Hauptbahnhof – im Übrigen einem der bereits in den frühen 1990er Jahren offenkundig per Videoanlage bestüberwachten Orte der Stadt –, wo Gonzo die Auseinandersetzung zwischen einem Pärchen mitbekommt, bei dem es um Drogengeschäfte geht. Tatsächlich aber ist der Sumpf noch weit größer bzw. tiefer, denn Gonzo blickt in die Abgründe schmutziger Pornoproduktionen, für die minderjährige Mädchen aus Polen nach Essen verschleppt werden, um dort missbraucht, ja schließlich bestialisch vor laufender Kamera umgebracht zu werden. Auf dem Weg zur Auflösung des Falls kurvt Gonzo durch eine brühendheiße Stadt – zugleich noch auf der Suche nach weiteren kleinen Videoclips von Unfällen, Überfällen und anderen polizeilichen Fällen, von denen er über den Polizeifunk oder gar durch Zurufe aus dem Präsidium erfährt. Karr/Wehner nutzen dies als Gelegenheit, um Momentaufnahmen aus dem Stadtleben und Genrebilder im Text zu platzieren – allerdings selten Behagliches, sondern zumeist (Gonzos interessiertem Kamerablick geschuldet) Hässliches, Abstoßendes 23 H.P. Karr im Verhör. In: Wittkowski, Joachim (Hg.): Auf Streife im Revier. Der Krimi im Ruhrgebiet. Bottrop: Henselowsky Boschmann 2009, S. 70.

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und Widerwärtiges, kurz: dasjenige, was der Frühromantiker Friedrich Schlegel einmal treffend den »ästhetischen Criminalkodex« genannt hat. In rasanter (Fahrt-)Folge spießen die Autoren Gonzos Eindrücke auf: Am Bahnhof bauten Arbeiter die Reibekuchenstände und das Bierzelt ab. Die Katastrophenschützer dekontaminierten sich selbst mit einem Kasten Bier. Auf der anderen Straßenseite warteten die Junkies beim U-Bahn Niedergang darauf, ihr Territorium wieder in Besitz zu nehmen. Weiter hinten, an der Hachestraße standen schon die ersten Frauen an den Betonpollern. Gonzo warf im Vorbeifahren einen Blick auf das Angebot. Die Loddels hatten das Personal gewechselt und die Karibik an die Front geschickt.24

Schrottplätze und Bunker, dunkle Keller und Industriebrachen sind die Orte des Geschehens, die hart von denen abgegrenzt werden, in denen sich die Schönen und Reichen überwiegend aufhalten: »Auf der Amüsiermeile rund um den Rüttenscheider Stern flanierten gebräunte Mädels mit geklonten Nachwuchsverdienern zwischen den Cafés und Kneipen. […] Die Anzahl der Kabrios lag weit über dem städtischen Durchschnitt […]« (RS, 82). Und da, wo es noch teurer wird, werden »die Gärten größer und die Zäune höher« (RS, 82), patroullieren Wachdienste. Jochen Vogt hält 2010 Karr/Wehners Jahreszeiten-Tetralogie um die Gonzo-Figur für »bis heute nicht überboten«: »Elendsgeschichten aus der Großstadt, ein seriöser, wenn nicht gar tieftrauriger Report von der traurigen Peripherie, aus dem ›Abseits‹ (Schütz), versetzt mit schrägen Figuren und klassischem slapstick […]«.25 Ein anderer, dem die Autoren ausdrücklich in ihrer kurzen Nachbemerkung zu Rattensommer danken, ist Leo P. Ard, »der immer an Gonzo geglaubt hat« (RS, 179). Bis 1999 erscheinen noch zwei weitere Bände der Gonzo-Tetralogie, Hühnerherbst (1997) und Bullenwinter (1999), in denen Gonschorek zunächst einem Finanzmakler auf der Spur ist und dann eine Allianz aus organisiertem Verbrechen und korrupten Polizisten aufdeckt. Damit reichen die Texte bis an die Jahrtausendwende heran, dem Jahr, in dem Reinhard Jahn feststellt, dass »das Zentrum des Bösen« durchaus im Ruhrgebiet liegt, wobei er unter anderem auf eigene Texte ebenso wie auf die Krimis von Lodemann, Lens, Gabriella Wollenhaupt oder Jörg Juretzka verweist und noch einmal auf den intimen Zusammenhang von Regionalität und Krimigenre aufmerksam macht. Es sei gar nicht so verwunderlich, dass der deutsche Krimi nach seiner sozialkritischen, vom Gedankengut der Studentenbewegung geprägten Phase seine neue Heimat in der ehemaligen Stahl- und Kohleregion gefunden hat. Denn wo alles im Wandel ist, sind die flott geschriebenen, aktuellen und realistischen Mordgeschichten genau am richtigen Platz. – Der Krimi also 24 Karr, Hanns-Peter/Wehner, Walter: Rattensommer. Essen: Klartext 2015, S. 36. Alle weiteren Zitate im Fließtext unter der Sigle RS. 25 Vogt, Jochen: »Alles total groovy hier«, S. 22.

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als eine neue Art von Heimatroman des Reviers. Nach Bergarbeiterdichtung und Reportageliteratur hat das Ruhrgebiet mit »seinem« Krimi wieder eine literarische Stimme gefunden: frech, und detailfreudig, mit wachem Blick sowohl auf die positiven Seiten des Strukturwandels als auch auf die Grauzonen, die sich bei jeder sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung einer solchen Größenordnung auftun.26

Jahn blickt auf rund fünfzehn Jahre zurück, in denen sich der neue Krimi unter dem Logo Regionalkrimi einerseits emanzipiert, in denen er andererseits ein größeres Publikum gewonnen hat. Ganz weit vorne stehen die Romane aus dem Grafit-Verlag, der inzwischen zum Branchenführer aufgestiegen ist. Entscheidenden Anteil daran nehmen vor allem die Eifel-Krimis von Jacques Berndorf sowie die im Münsterland beheimateten Krimis des Esseners Jürgen Kehrer, dem mit Wilsberg eine Kultfigur des öffentlich-rechtlichen Fernsehens gelungen ist. Aber auch eine weitere Krimiautorin aus dem Ruhrgebiet, die von Jahn erwähnte Wollenhaupt, hat große Auflagenerfolge erzielt. Wollenhaupts Anfänge liegen ebenfalls im Dortmunder Weltkreis-Verlag (Nächstenliebe zahlt sich aus unter dem Pseudonym Pit Murad 1985), bis sie dann in Booß’ Grafit-Verlag ihre Grappa-Reihe startet. Obwohl die Journalistin Wollenhaupt selbst die Bezeichnung Regionalkrimi ablehnt, spielen doch alle Romane um die Journalistin Maria Grappa in Dortmund, das immer nur Bierstadt genannt wird.27 1993 wird die Figur geboren, in Grappas Versuchung, und im Frühjahr 2016 ermittelt sie erfolgreich in Grappa greift durch bereits zum 26. Mal. Allein zwischen 1993 und 1994 legt Wollenhaupt drei Romane vor; dabei klettert die Zahl der verkauften Bücher von 5.000 Exemplaren (Startauflage) bis zu 20.000 Exemplaren innerhalb eines Jahres. Und auch die (lokale) Presse reagiert durchweg positiv auf die Krimis um diese Maria Grappa – rothaarig, vollschlank, kurzsichtig, mit einer Schwäche für Hochprozentiges und oftmals die falschen Männer. Ihr erster Fall thematisiert üble politische Zustände in Bierstadt, denn sie deckt – und das ist ein in den Anfangsjahren des Regionalkrimis verbreitetes Thema – die Verbindung aus Politik und Wirtschaft auf (eine Bürgermeisterin, die ihrem Mann, einem lokalen Bauunternehmer, lukrative städtische Aufträge zuschanzt). Die »Westdeutsche Allgemeine Zeitung« vom 12. März 1993 spricht von einem »flotten Krimi mit einer guten Portion Witz inklusive erfrischender Selbstironie Maria Grappas« und die Rezensentin des »Marabo«-Magazins beurteilt den Erstling so: 26 Jahn, Reinhard: Das Zentrum des Bösen. In: »1000 Feuer« (Herbst/Winter 2000/2001), S. 63– 64, hier S. 63. 27 Über die Namensfindung hat Wollenhaupt einmal bemerkt, dass es ihr »nicht um reale Vorgänge im realen Dortmund« gehe. »Als ich nach einem Ersatznamen suchte, fand ich mich auf dem Flugplatz mit einem großen Werbeplakat konfrontiert. Darauf stand ›Dortmund – Bierstadt Nummer 1‹ – und schon hatte ich den Namen« (Gabriella Wollenhaupt im Verhör. In: Wittkowski, Joachim (Hg.): Auf Streife im Revier. Der Krimi im Ruhrgebiet. Bottrop: Henselowsky Boschmann 2009, S. 156).

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»Grappas Versuchung ist nicht nur journalistisch bestens recherchiert und spiegelt in unnachahmlicher Weise Ruhrgebietskolorit wider, es ist zudem noch ein ausgezeichnet geschriebener, spannender und witziger Krimi«.28 Zwei Fälle später ist bei einem anderen Rezensenten desselben Magazins die Rede von Wollenhaupts »brillanter Bösartigkeit« – »technisch perfekt gemacht, laut, knallig, rasant«.29 Ein besonderes Interesse – und da erkennt man ihre Anfänge bei Weltkreis wieder – legt Wollenhaupt auf die Politik, insbesondere den politischen Filz egal welcher Couleur und mit welchen Arrangements im Einzelnen. Sie ist gleich ungerecht zu allen Seiten hin, weist auf verkrustete Machtstrukturen der regierenden SPD hin, rügt aber auch die Selbstherrlichkeit der Grünen und lästert über die Arroganz und den Zynismus der Christdemokraten. So klinkt sie sich in Grappa und das große Rennen, dem elften Fall der GrappaFolge von 2000, in den Kommunalwahlkampf ein. Dem abgewirtschafteten OB Bierstadts steht eine harte Widersacherin aus der CDU gegenüber, die erfolgreiche IT-Unternehmerin (mit dem sprechenden Namen) Gerry Smart. Unmittelbar vor den Wahlen kommen zwei prominente SPD-Politiker um, die offenbar Stammkunden in einem zwielichtigen Sex-Club mit Sado-Maso-Veranstaltungen gewesen sind. Maria Grappa stößt bei ihren Recherchen stets auf den Namen des Arztes und Psychologen Dr. Armin Lischka, von dem sich herausstellt, dass ihm nicht nur Haus und Club gehören, sondern etliche Frauen, darunter auch prominente, diesem charismatisch wirkenden Arzt (sexuell) hörig sind. Nur – wie hängt dies alles zusammen? Grappas Nachforschungen ergeben, dass der Arzt mit bosnisch-serbischem Hintergrund und einer üblen Vergangenheit als Kriegsverbrecher eigentlich nur der nützliche Idiot des Alt-Oberbürgermeisters und seines designierten Nachfolgers, der am Ende doch noch gewählt wird, gewesen ist und unliebsame Parteifreunde aus dem Weg geräumt hat. Wollenhaupts Roman – eigentlich alle Romane – greifen aktuelle, tagespolitische Themen auf, die allerdings nicht immer zwingend aufs Ruhrgebiet verweisen. So kommt sie dann auch mit spärlichen topographischen Hinweisen aus, und ruhrgebietsspezifische Milieus sind allenfalls angedeutet. Das mag möglicherweise ein Grund dafür sein, dass Wollenhaupts Romane sehr schnell auch außerhalb der Region die entsprechende Verbreitung gefunden haben. Und nach Machart und Anlage passen ihre Krimis bestens zum Tatort-Format, das sich ja ebenfalls an allen gesellschaftspolitischen Problemen abzuarbeiten weiß. Ein eher unproblematisches Arrangement aus Sex & Crime, Politik und Moral, garniert mit flottem Jargon und Sprachwitz, aber auch Kalauern charakterisieren die Texte der Viel- und Schnellschreiberin Wollenhaupt, die – was nicht eben häufig, aber auch pro28 zi: Filz in Bierstadt. In: »Marabo« Nr. 5 (1993), S. 104. 29 Leymann, Klaus: Ausbündig finster. In: »Marabo« Nr. 4 (1994), S. 86.

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blematisch ist – ihre Maria Grappa in der Ich-Form erzählen lässt: »›Vielleicht lag’s an Dir?‹, fragte sie. ›Du weißt, wie du manchmal auf Männer wirkst.‹ – ›Natürlich lag’s an mir. Das ist die Reizüberflutung, die von mir ausgeht. Manche Männer brauchen Jahre, um sich davon zu erholen‹«.30 Noch eine Reihe weiterer Autorinnen und Autoren hat durch den Regionalkrimi eine größere Verbreitung gefunden, wenngleich die Verfasser selbst nicht immer dieses Logo schätzen oder ihre Krimis gar nicht im Revier spielen. Als Ruhrgebietsautoren sind sie dennoch wahrgenommen worden, z. B. Sabine Deitmer, die aus Berufsgründen nach Dortmund gezogen ist und zwischen 1988 und 2007 etliche Krimierzählungen und Romane verfasst hat, denen man vor allem eine feministische Perspektive ansieht, etwa in der fünfteiligen Reihe um die Kommissarin Beate Stein.31 Ähnliches gilt auch für die Autoren Jan Zweyer und Theo Pointner, beide Grafit-Autoren, die seit den frühen (Pointner) bzw. späten (Zweyer) 1990er Jahren regelmäßig Krimis vorgelegt haben. Zweyer hat darüber hinaus in den letzten Jahren das Genre des historischen Krimis für sich entdeckt, das er genauso erfolgreich an die Leser bringt wie die Duisburgerin Silvia Kaffke, die nach Anfängen, die in Düsseldorf und am Niederrhein beheimatet sind, ebenfalls die Historie reklamiert und in zwei Büchern tief in die Geschichte Duisburg-Ruhrorts im 19. Jahrhundert abgetaucht ist.32 Pointner und Zweyer verbindet endlich noch etwas Weiteres, das Interesse am Reviersport, vor allem dem Fußball, dessen Beliebtheit einerseits, Anfälligkeit andererseits für kriminelle Geschäfte geradezu Steilvorlagen für das Genre abgeben. Bei Pointners Romandebüt Tore, Punkte, Doppelmord (1992) ermitteln zwei Kripo-Männer die Fälle zweier Toter im unmittelbaren Umfeld eines (fiktiven) Bundesligaclubs, dessen windiger wie findiger Präsident – der frühere Schalke-Bestechungsskandal lässt grüßen – kein Mittel auslässt, seinen Verein in obere Tabellenregionen zu führen, um selbst schließlich Opfer eines Anschlags zu werden. Und so entwickeln sich, wie es an einer Stelle einmal heißt, »[a]us einer relativ einfachen Mordgeschichte […] mafiaähnliche Verstrickungen«33 mit dubiosen Einnahmen an Vereinskasse und Finanzamt gleichermaßen vorbei. In Zweyers viertem Krimi, Tödliches Abseits (2000), beschäftigt Hauptkommissar 30 Wollenhaupt, Gabriella: Grappa und das große Rennen. Dortmund: Grafit 2000, S. 41. 31 Zu Deitmer vgl. Wittkowski, Joachim (Hg.): Auf Streife im Revier. Der Krimi im Ruhrgebiet. Bottrop: Henselowsky Boschmann 2009, S. 35–36. Außerdem Walther, Klaus-Peter: Reclams Krimi-Lexikon. Stuttgart: Reclam 2002, S. 91–92. 32 Zu den Autoren vgl. auch die Einträge in Wittkowski, Joachim (Hg.): Auf Streife im Revier, S. 58–61, 113–118, 157–162. Vgl. außerdem das Pointner-Porträt in: Pfeiffer, Rolf: Die nächsten Morde sind geplant. In: »Westfälische Rundschau« vom 23. Oktober 1993. Allgemein zur Thematik ›Krimi und Fußball‹ vgl. Hallenberger, Dirk: Revier-Fußball in der Literatur. In: Beckfeld, Hermann/Boschmann, Werner (Hg.): …der Boss spielt im Himmel weiter. FußballGeschichten aus dem Ruhrgebiet. Bottrop: Henselowsky Boschmann 2010, S. 239–250. 33 Pointner, Theo: Tore, Punkte, Doppelmord. Dortmund: Grafit 1992, S. 103.

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Brischinsky der Tod eines BVB-Fans auf dem Gelände der Ruhr-Universität Bochum nach dem Lokalderby zwischen Dortmund und Schalke. Ein Serienmord, weil dies nun bereits der vierte Tote jeweils nach einem Heimspiel von Schalke 04 an Anhängern gegnerischer Mannschaften ist? Der Roman beginnt mit einer dpa-Meldung aus dem Essener Büro, und er endet mit deprimierenden Einblicken in die Psyche eines ›Fans‹, der zu Recht oder Unrecht, was lange in der Schwebe bleibt, beschuldigt worden ist und sich das Leben nimmt. Anfang und Ende bilden so eine Klammer um einen Roman, der in die debilen Abgründe von Fankulturen leuchtet, das Hooligan-Unwesen zeigt und die Lebenswelten prägende Kraft des Fußballs im Revier verdeutlicht. Wo Zweyer die düsteren Seiten von Psychopathen und Gewalttätern zeigt, auf den Realismus setzt und nicht zuletzt gesellschaftsrelevante Probleme anpackt, da bewegt sich Lucie Flebbe (vormals Klassen) in ihren Krimis leichtfüßig und wortgewandt durch Bochums City. Flebbe, deren Erstling mit dem FriedrichGlauser-Preis ausgezeichnet worden ist, lässt ihre junge Hobby-Detektivin Lila Ziegler samt Partner Ben Danner den Tod eines jungen iranischen Fußballspielers in ihrem sechsten Bochumer Fall ermitteln. Es dreht sich nicht zuletzt wieder um schmutzige Geschäfte, diesmal im Zusammenspiel zwischen Prostitution und Fußball, aber auch noch um ein Tabuthema im Fußball, die Homosexualität. Darin eingeschlossen findet sich eine Auseinandersetzung der in Ich-Form erzählenden Lila, die eine widersprüchliche und gebrochene Persönlichkeit darstellt, mit ihrer Herkunft und dem Missbrauch durch ihre Eltern, was in Flashbacks den Subtext dieses Romans – und aller Romane der Reihe – grundiert: Mein Name ist Lila, ich bin zwanzig Jahre alt und ich hätte, wäre es nach meiner Mutter gegangen, Konzertpianistin werden sollen. Oder Primaballerina. Oder wenigstens Dressurreiterin. – Mein Vater wollte eine Staranwältin aus mir machen, doch meine Mutter hatte davon geträumt, dass ich einen musisch-künstlerischen Beruf ergriff. Denn so hätte ich legitimen Zutritt zum Blingbling der Glitzerwelt der Reichen und Berühmten erhalten.34

Stattdessen steht sie nun zu Beginn des Romans mit ihrem Freund im Stadion des VfL Bochum, der – und mit gewollter Boshaftigkeit breitet sie genüsslich diese Fiktion anfangs, aber auch noch einmal im letzten Kapitel ihres Textes aus – als Tabellendritter der 2. Liga gegen den Tabellensechzehnten der 1. Liga, Schalke 04, um die Relegation spielt. Mit treffsicherem Witz, gelungenen Formulierungen – »Privatsphärenvernichtungsmaschinen« Google und Facebook (TK, 72), »Kommunikationslegastheniker« (TK, 179) und Plot-orientiertem Erzählen gelingen Flebbe gute Krimis – aber auch Krimis, die die Region nicht zwingend benötigen und (trotz aktueller Hinweise wie etwa die Pannen bei den Ermittlungen zu den 34 Flebbe, Lucie: Tödlicher Kick. Kriminalroman. Dortmund: Grafit 2014, S. 7. Alle weiteren Zitate im Fließtext unter der Sigle TK mit Seitenangabe.

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NSU-Verbrechen) sich politisch weitgehend abstinent verhalten. Also: Unterhaltungsware pur für die »Lesefutterknechte« (Peter Handke). Ein Außenseiter schließlich in vielerlei Hinsicht ist der erst auf Umwegen zum Schreiben gekommene Mülheimer Jörg Juretzka, der von seiner in bislang zwölf Fällen ermittelnden Figur Kristof Kryszinski einmal gesagt hat, dass sie »eine Ruhrpott-Figur von Anfang an und durch und durch« sei: »Ich kann ihn schicken, wohin ich will, das Ruhrgebiet umgibt ihn überall wie eine Aura.«35 In der Tat spielen vor allem die ersten drei Krimis Juretzkas, Prickel, Sense und Der Willy ist weg (zwischen 1998 und 2002), in den finsteren Stadtteilen des Reviers, hier vor allem Mülheims, für Juretzka der Ruhr-City. Zwar stimmen die topographischen Details haarklein, doch wer in Juretzkas völlig überdrehten Texten mit ihrem von der Lakonie bis zum Absurdismus oszillierenden Stil nach Realismus sucht, hat von vornherein verloren. Die Figuren sind vielmehr grell überzeichnet, die Gewalt(phantasien) im Stil Mickey Spillanes (einschließlich des obligaten Machismus und Sexismus) grotesk und die Plots geradezu aberwitzig. Krimikenner wie etwa Jochen Vogt schätzen daher Jörg Juretzkas Romane besonders. Eine Eigentümlichkeit Juretzkas sei, dass er die eher problematischen Aspekte der regionalen Entwicklung betont, die prekären Existenzen versammelt, die randständigen Orte oder »Nicht-Orte« wie Kneipen, Spielhallen, Autofriedhöfe, Schrott- und Campingplätze übereinander türmt und ineinander schiebt, also »verdichtet«, und die realiter weit verbreitete – halbproletarische Spießigkeit oder den neureichen Protz nur als Kontrastfolie verwendet.36

In Der Willy ist weg stellt sich der ehemalige Junkie und jetzt als Detektiv tätige Kryszinski folgendermaßen vor: Dauernd sei er mit »dieser abgefuckten Szene« der Drogenabhängigen in Berührung: »Ich kannte mich aus, ich sprach die Sprache, ich lebte davon. Ich war seit zwölf Monaten gewerblich angemeldeter Detektiv, und ins Drogenmilieu abgedriftete Kids aufzutreiben war eine meiner Spezialitäten. Dabei in Schwierigkeiten zu geraten eine andere.«37 Dies ist ein Punkt, der als Erinnerungsreminiszenz auch in späteren Büchern immer wieder auftaucht, z. B. in Taxibar (2014), als sich Kryszinski an die »Vielzahl bunter Bilder aus der Zeit, als ich noch lange Haare getragen und Reihen roter Punkte in

35 Jörg Juretzka im Verhör. In: Wittkowski, Joachim (Hg.): Auf Streife im Revier. Der Krimi im Ruhrgebiet. Bottrop: Henselowsky Boschmann 2009, S. 57. 36 Vogt, Jochen: Regionalität und Modernisierung in der neuesten deutschsprachigen Kriminalliteratur (1990–2015). In: »Germanica« H. 58 (2016), S. 13–39, hier S. 30–31. Vgl. außerdem Kniesche, Thomas: Einführung in den Kriminalroman. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2015, S. 104, wo ausdrücklich die »innovative Sprachgestaltung« Juretzkas gewürdigt wird. 37 Juretzka, Jörg: Der Willy ist weg. Berlin: Rotbuch 2009, S. 11. Alle weiteren Zitate im Fließtext unter der Sigle DW mit Seitenangabe.

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beiden Armbeugen gehabt hatte«38, erinnert. Zu seinen Freunden zählen Junkies und Knackis, Rocker und andere Outcasts, in Der Willy ist weg besagter Willy, der sich unsterblich in die damalige Tagesthemensprecherin Dagmar Berghoff verliebt hat und ihr glühende Verehrer-Briefe schreibt, bis er plötzlich verschwunden ist. Entführt? Kristof macht sich auf die Suche, nicht immer in der Spur der Legalität, zuweilen auch auf die schlagkräftige Hilfe seiner ›Jungs‹ vertrauend, darunter Jugendfreund und Spezi Scuzzi, dessen Mutter eine Kellerbar betreibt und so porträtiert wird: Strahlend schloss sie uns in ihre nackten, mütterlichen Arme und drückte uns an ihren grade mal zur Hälfte bedeckten, urmütterlichen Busen. Ihr Parfüm war von der Quantiund Qualität, die einem durch eine ungläubige Nase rein- und als geringelte Rauchwölkchen durch die Ohren wieder rausgeht. »Setzt euch. Macht’s euch gemütlich!« Einladend klopfte sie auf zwei plüschige Barhocker und schob ab, hinter die Theke. Das blaue Paillettenkleid saß an ihr wie die Spiegelscherben an einer Discokugel und reflektierte die einheitlich rote Beleuchtung als einen Funkenregen von Lila. (DW, 193)

Schnell und zupackend geht es zu, wenn sie nicht gerade auf den Straßen von Mülheim unterwegs sind und dabei den Ruhrsound mitbekommen: Laszlo Cinosil – wer ist das? Nicht so einfach auf der Landkarte zu platzieren wie ›Franz-Joseph Amigofilzhuber‹. Oder, wo wir schon mal dabei sind, ›Klärchen Kazmierzak ihrn Jupp‹. Den vonne Kreuzstraße. Wohnt getz aber dräm, hinterde Bahn. Musse kennen. Spricht sonn bissken komisch. Als wärer nich von hier. Weiße getz? (DW, 151)

Er kann aber auch anders – nein, nicht romantisch, sondern triebgesteuert, wenn er in Taxibar eine französische Polizistin anmacht, anhimmelt oder wie soll man es schließlich nennen: Ich musste sie haben, und wenn es mich umbrachte, und so zog ich alle – nein – ich zog das Register: den Blick. Schmelzend wie Vanilleeis, dabei glühend vor Verlangen, durchwebt mit einem unirdischen Sehnen ist er das Augenkontakt-Äquivalent zu Kniefall, Rose, Ring und Antrag, ein einziges wortloses Kompliment und gleichzeitig das sublime Versprechen von unbedingter Treue, ungeteilter Bewunderung […]. (TB, 44)

Vielleicht ist Kristof Kryszinski tatsächlich die typische Ermittlerfigur im Regionalkrimi aus dem Herkunftsgebiet Rhein-Ruhr. Großgeworden in einem kleinbürgerlich-proletarischen Milieu in den 1970er und 1980er Jahren, früh mit Drogen und Alkoholkonsum konfrontiert und in die Abhängigkeit geraten, spielt sich sein Leben ebenso, worauf Vogt unter Bezug auf den französischen Ethnologen und Anthropologen Marc Augé hingewiesen hat, an Orten wie Nicht38 Juretzka, Jörg: Taxibar. Berlin: Rotbuch 2014, S. 26. Alle weiteren Zitate im Fließtext unter der Sigle TB mit Seitenangabe.

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Orten ab, in der Urbanität wie Miserabilität Mülheims, das ebenso noch die Budenkultur kennt wie die Ab- und Nachtseiten – Hinterhöfe und Ghettos, Gentrifizierung und Industriebrache. All dies spielt in Juretzkas Texte hinein, findet Erwähnung und wird zugleich dekonstruiert, denn nichts lässt einen mehr an den pädagogisch aufgesteiften Zeigefinger früherer Soziokrimis denken, von Ratschlägen und Erkenntnissen völlig zu schweigen, auch wenn in seine Geschichten die große politische Geschichte zuweilen hineinscheint – etwa die Flüchtlingsproblematik, zugespitzt auf den Zustand Duisburgs im Blick auf die Situation der Romas aus »Rumbulbanien«, wie es politisch unkorrekt häufiger in Taxibar (TB, 46) heißt.

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Von Essen nach Dortmund und wieder zurück

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Kartierungen des Regionalkrimis: Genretheoretische Überlegungen

Thomas Kniesche (Brown University, Providence/Rhode Island)

Das Grauen auf dem lächelnden Land: Erkundung des Kritischen Regionalkrimis am Beispiel von Uta-Maria Heims Glücklich ist, wer nicht vergißt

Die von Arthur Conan Doyles’ Figur Sherlock Holmes formulierte und mittlerweile schon klassisch gewordene Rechtfertigungsformel für Kriminalliteratur, die jenseits der großen Metropolen spielt, lautet: »It is my belief, Watson, founded upon my experience, that the lowest and vilest alleys in London do not present a more dreadful record of sin than does the smiling and beautiful countryside.«1 Damit hatte Doyle bereits zu Anfang der europäischen KrimiTradition den Blickpunkt verlagert von den Großstadtmetropolen wie London oder Paris, wo seine eigenen wie auch die Kriminalfälle von Edgar Allan Poes C. Auguste Dupin oder Émile Gaboriaus Monsieur Lecoq spielten, auf jene ländlichen Gegenden, wo das Verbrechen laut Holmes noch viel eher im Geheimen gedeihen kann: »Think of the deeds of hellish cruelty, the hidden wickedness which may go on, year in, year out, in such places, and none the wiser.«2 Dieses fiktionale Verbrechen auf dem »lächelnde[n] und wunderschöne[n] Land«, das

1 Doyle, Arthur Conan: The Adventure of the Copper Beeches. In: Doyle, Arthur Conan: The Adventures of Sherlock Holmes. Oxford: Oxford University Press 1998, S. 270–296, hier S. 280. Die deutsche Übersetzung lautet: »Gestützt auf meine Erfahrung, Watson, glaube ich, daß die niedrigsten und übelsten Straßen Londons kein schrecklicheres Sündenregister zu bieten haben als das lächelnde und wunderschöne Land« (Doyle, Arthur Conan: Die Blutbuchen. In: Doyle, Arthur Conan: Die Abenteuer des Sherlock Holmes. Übers. von Gisbert Haefs. Frankfurt (M.)/Leipzig: Insel Verlag 2007, S. 384–421, hier S. 399). Etwa zur gleichen Zeit wie Conan Doyle bemerkt Theodor Fontane dazu: »Natürlich hat jede Gegend ihren Mord, ihren großen Bankrutt, ihren Ehebruch mit im Ofen verbranntem Kind, ihr Duell und ihr verrücktes Original, ganz leer an solchem pikanten Stoff ist keine Gegend, aber im Maß sind sie sehr verschieden« (Fontane, Theodor: Briefe an Georg Friedländer. Mit einem Essay von Thomas Mann. Hg. von Walter Hettche. Frankfurt (M.)/Leipzig: Insel Verlag 1994, S. 224). Den Hinweis auf Fontane verdanke ich Sigrid Thielking und Jochen Vogt. 2 Doyle, Arthur Conan: The Adventures, S. 280. Franco Moretti hat beobachtet, dass die frühen Fälle von Sherlock Holmes, die auf dem Land spielen, sehr viel blutrünstiger sind als diejenigen, die in London angesiedelt sind. Eine topographische Darstellung dazu findet sich in seinem Buch Atlas of the European Novel 1800–1900. London/New York: Verso 1998, S. 138.

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für Holmes mindestens vergleichbar, wenn nicht noch schrecklicher war als in der Großstadt, ist heute vornehmlich Gegenstand des Regionalkrimis.3 Jene »Taten von höllischer Grausamkeit, die verborgene Niedertracht, die jahrein, jahraus an solchen Orten herrschen mag, ohne sich je zu bessern«4, prägen auch die Regionalkrimis von Uta-Maria Heim. Im Vordergrund steht dabei ein Konzept von kritischer Regionalität5 oder des Kritischen Regionalkrimis, das im zweiten Teil dieses Artikels anhand des Romans Glücklich ist, wer nicht vergißt aus dem Jahr 2000 herausgearbeitet werden soll. Zunächst wird gezeigt, wie Heim eine Gesellschaftsanalyse der inhumanen Tendenzen des gegenwärtigen Zeitalters entwickelt und damit eine Re-Konzeptualisierung des Regionalkrimis verbindet, die das Genre vom affirmativ-konservativen Kopf auf die gesellschaftskritischen Füße stellen soll. Als nächstes wird der Inhalt von Glücklich ist, wer nicht vergißt kurz wiedergegeben. Dann kommentiere ich den Titel und die Funktion der zahlreichen intertextuellen Verweise des Romans, um danach auf den Themenbereich Gedächtnis/Erinnerung einzugehen. Die Darstellung der ländlichen Provinz nach Maßgabe dessen, was ich eine ›Kritische Regionalität‹ nennen möchte, wird in den Blick genommen, bevor zum Abschluss dann ein erster Versuch unternommen wird, zu formulieren, was man unter einem ›Kritischen Regionalkrimi‹ verstehen könnte, denn diese Gattungsbezeichnung existiert bisher noch nicht.

Heims Poetik des Kriminalromans und ihre Überlegungen zur Untergattung Regionalkrimi Der Regiokrimi hat ein schlechtes Image. Viele Autoren und Autorinnen wehren sich dagegen, als Verfasser:innen eines solchen Krimis bezeichnet zu werden. Als industriell verbreitete Massenware steht er in dem Ruf, kulturelle und mentalitätsgeschichtliche Stereotypen zu verbreiten und eine Projektionsfläche für globalisierungsfeindliche Ängste und heimatorientierte Wunschphantasien bereit zu stellen. Regionalität dient nur zu oft nicht dazu, das Wesentliche der Handlung, nämlich den Fall und seine Untersuchung vorwärts zu bringen, die besonderen Umständen der Untersuchung hervorzuheben oder dem Fall eine

3 Dies gilt, auch wenn der Begriff der Region sowohl städtische Ballungsgebiete als auch ländliche Gegenden umfasst. Vgl. Kniesche, Thomas: Einführung in den Kriminalroman. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2015, S. 103. 4 Doyle, Arthur Conan: Die Abenteuer, S. 399. 5 Zum Begriff Regionalität vgl. Vogt, Jochen: Regionalität und Modernisierung in der neuesten deutschsprachigen Kriminalliteratur (1990–2015). Nebst einigen Lektüreempfehlungen. In: »Germanica« 58 (2016), S. 12–39, hier S. 14–16.

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bestimmte Eigentümlichkeit zu verleihen6, sie verkommt stattdessen zum bloßen Lokalkolorit, zur identifikationsstiftenden Hintergrundkulisse, zum Requisit. Der Regiokrimi dient nur noch der reinen Bedürfnisbefriedigung, er wird zum Reiseführer und unterstützt das »Tourismusmarketing«7, verbreitet »eine eigenartig geborgene und gemütliche Grundstimmung«8 und gerät zur »Fortsetzung der Heimatliteratur mit anderen Mitteln«.9 Die Krimihandlung und das Element der Spannung verkümmern zur Nebensache. Uta-Maria Heims polemische Kritik am Regiokrimi oder an dem, was sie den »fundamentalistischen Regionalkrimi«10 nennt, schließt sich dieser allgemeinen Einschätzung an, verfährt aber hochdifferenziert und argumentiert modernekritisch, ideologiekritisch und ästhetisch, wobei eines aus dem jeweils anderen entwickelt wird. Ausgangspunkt ihrer Argumentation ist die (Selbst-)Beobachtung, dass das postindustrielle Informationszeitalter dem Phänomen der Entfremdung eine neue Qualität verliehen hat: Wenn meine Mutter dem Ochsen das Geschirr anlegte und ihn zum Pflügen mit aufs Feld nahm, dann wusste sie, was sie tat. Wenn ich heute, siebzig Jahre später, ins Internet eintrete, kapiere ich nichts mehr. Das weltweite Netz ist unendlich komplexer als ein Kartoffelacker, und dass ich mein eigenes Treiben nicht verstehe, stempelt mich zu einer Idiotin. Das geht anderen Leuten genauso. Nahezu nichts von dem, was uns widerfährt und was wir tun, können wir uns erschließen.11 6 Vgl. ebd., S. 23. Etwas ausführlicher formuliert, komme es darauf an, »ob der Fall bzw. seine Lösung von der Kategorie gesteuert wird, die der Ethnologe Clifford Geertz local knowledge nennt. Gemeint ist damit das Wissen um bzw. Einsicht in kultur- oder milieuspezifische, regionale, lokale, institutionelle Zusammenhänge aller Art: Topographien und Räumlichkeiten, Traditionen, Mentalitäten, Praktiken usw., die für einen Fall konstitutiv sein können – sowohl für sein Motiv und den modus operandi, die Art und Weise des Verbrechens, als auch die Wege und Methoden der Ermittlung« (Vogt, Jochen: Krimi – international. Einführung in das Themenheft. In: »Der Deutschunterricht« 2 (2007), S. 2–6, hier S. 5). Mit Bezug auf die Kriminalromane von Ian Rankin und Sara Paretsky wurde das so beschrieben: »entwining place with plot to such a degree that the characters and events of the narrative become inextricable from the place in which they occur« (Newton, P.M.: Crime Fiction and the Politics of Place: The Post-9/11 Sense of Place in Sara Paretski and Ian Rankin. In: Effron, Malcah (ed.): The Millennial Detective. Essays on Trends in Crime Fiction, Film and Television, 1990– 2010. Jefferson, NC/London: McFarland 2011, S. 21–35, hier S. 21). 7 Bonter, Urszula: Stadt-Land-Mord. Einige Bemerkungen zu den aktuellen deutschen Regionalkrimis. In: Parra-Membrives, Eva/Brylla, Wolfgang (Hg.): Facetten des Kriminalromans. Ein Genre zwischen Tradition und Innovation. Tübingen: Narr 2015, S. 91–101, hier S. 93. 8 Ebd., S. 97. 9 Jahn, Reinhard: Was ist ein Regionalkrimi? Eine Autopsie. URL: https://krimiblog.blogspot. com/2009 / letzter Zugriff am 29. Mai 2020. 10 Heim, Uta-Maria: Kopfschuss N° 12. Die Bekräftigung des Bestehenden. In: »CrimeMag« vom 18. Juli 2009. URL: http://culturmag.de/crimemag/kopfschuss-n%c2%b012-von-uta-mariaheim/2165 / letzter Zugriff am 29. Mai 2020. 11 Heim, Uta-Maria: Eine Heimat wie eine Fertigpizza. In: »Stuttgarter Zeitung« vom 18. November 2013. URL: https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.uta-maria-heim-ueber-das-

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Im Vergleich mit der Elterngeneration haben die Zeitgenossen jegliche Verbindung zum Konkret-Dinglichen verloren und treiben orientierungslos und verdummt in den weltumspannenden Netzwerken des informationellen Überangebots. Das mag fatalistisch klingen oder polemisch überspitzt sein, trifft aber im Kern jene Entfremdungserscheinungen, die sich anschaulich-erfahrbar als Zerstörung der ländlichen Infrastruktur und dem daraus resultierenden anonymisierten Lebensstil manifestieren. Heim beobachtet, dass gerade ländliche Gebiete wie der Schwarzwald oder die Schwäbische Alb, also Regionen, in denen die meisten ihrer eigenen Romane spielen, durchzogen [sind] von zersiedelten Ortschaften, deren Kerne tot sind. Verlassene Höfe, Abbruchbuden, Beton-Banken prägen das Gesicht der Hauptstraße, verrammelte Kirchen und aufgelassene Wirtshäuser sind die Gräber auf dem Friedhof der Dorfkultur. […] In den Industriegassen Supermärkte und Wellblechklitschen, im Neubaugebiet Tiefgaragen mit Zugang zum Haus. Kein Mensch ist unterwegs. […] Keiner kennt den Nachbarn. Der Ort, an dem man lebt, bleibt verkehrsgünstig, finanzierbar und anonym.12

Wenn Zersiedelung und Neubauten historische Dorfkerne zerstören und wenn menschliche Interaktion ersetzt wird durch globalen Informationsaustausch, dann resultiert daraus die Auflösung der »Dorfkultur« oder anders gesagt: Was vormals noch unter »Heimat […] im schlichtesten Sinne«13 verstanden werden konnte, existiert nicht mehr. Obwohl oder gerade weil die Orientierungsangebote und die Trostfunktion eines Konzepts von Heimat nicht mehr verfügbar sind, steigt das Bedürfnis danach an. Nach Uta-Marie Heim bietet der Regiokrimi hier einen (falschen) Ersatz für die verlorene Heimat. Heims ideologiekritische Analyse des Regiokrimis führt ihre Modernekritik fort und setzt das Verlangen nach »Heimat« in Beziehung mit den Bedürfnisbefriedigungen, die der Regiokrimi anbietet. Dazu gehört die nostalgische Rückkehr in einen vormodernen Zustand der »Überschaubarkeit«14 und die damit verbundene Gewährung von Geborgenheit und Sinnstiftung. Im Regiokrimi wird die Entfremdung scheinbar aufgehoben und eine Gegenwelt zur Wirklichkeit aufgebaut, die paradoxerweise mit dem Anspruch auf Realismus daherkommt, den der angeblich enge Bezug aufs Bodenständige, auf das vertraute Lokalkolorit garantieren soll. Anders gesagt: Der Regiokrimi ist »eine Fluchtbewegung aus der entfremdeten, entwurzelnden, zerrissenen und leistungsgeilen Alltagsbefindlichkeit.«15 Damit erfüllt er eine ideologische Funktion,

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phaenomen-regionalkrimi-eine-heimat-wie-eine-fertigpizza.acf1c606-5628-47ed-8f3d-9f5f f3ddece6.html / letzter Zugriff am 29. Mai 2020. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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denn er »widmet sich mit Feuereifer der Bekräftigung des Bestehenden; er tradiert die Normen, die in der kollektiven Volksseele verankert sein sollen. Überraschung wird vermieden. Alles Konservative obsiegt«.16 Der Regiokrimi bietet »Erlösung« an und »stellt die ideale Ordnung der Verhältnisse wieder her.«17 In seiner Bestätigung von überkommenen Werten, den Identifikationsangeboten, die er beständig macht, der Gewährung von Aufklärung (des Verbrechens) als angeblicher Erkenntnis (von gesellschaftlichen Zusammenhängen) und dem verlässlich am Schluss gelieferten Happy End als Bekräftigung für das Weiterbestehen der gesellschaftlichen Ordnung löst der Regiokrimi ein, was affirmative Kunst immer schon versprochen hat: eine Heimat im Bestehenden. Dies ist jedoch nur ein »Heimatersatz« und führt für Heim »zu jenem Seelenfrieden, den Georg Friedrich Wilhelm Hegel ›das Reich Gottes‹ nannte«.18 Damit versandet jede utopische Energie in der bloßen Innerlichkeit. Als Gegenentwurf für ein utopisches Konzept von Heimat verweist Heim auf Ernst Blochs »Prinzip Hoffnung«. Dort wird Heimat verstanden als »›etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war‹«, denn »die ›Erschaffung der Welt als einer rechten‹ steht uns […] noch lange bevor«.19 Indem sie Hegel und Bloch zitiert, gibt Heim ihrer Ideologiekritik des Regiokrimis einen geschichtsphilosophischen Rahmen, der Gesellschaftsanalyse und Ästhetik zusammenbringt. Die ideologiekritische Bewertung des Regiokrimis zieht nämlich eine ästhetische nach sich bzw. lässt sich von dieser überhaupt nicht trennen. Nach Heim ist der durchschnittliche Regiokrimi schlechte oder eigentlich gar keine Literatur. Der internationale zeitgenössische Kriminalroman hingegen gehört zu großen Teilen zu dem, was man anspruchsvolle Literatur oder Hochliteratur nennen könnte. Sie beobachtet eine Absonderung des Regiokrimis von der sonstigen Krimiproduktion, die »in den Rang der Romankultur aufgerückt« sei und bescheinigt dieser: »Da wird montiert, irritiert und verstört, Perspektiven, Zeitebenen und Subgenres purzeln wild durcheinander, die Handlung wird verhackstückt, und gen Ende schwelt die Bedrohung gar munter weiter«.20 Der Kriminalroman arbeitet heute also mit allen Merkmalen der literarischen Moderne, vom Montageprinzip über den Wechsel der Erzählperspektive und der Auflösung des linearen Zeitablaufs bis zur Durchbrechung einer chronologischen Handlung und dem offenen Ende.21 Damit kennzeichnet sie aber nicht nur

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Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Damit trifft sich Heims Analyse des zeitgenössischen Krimis mit der von Vogt, Jochen: Modern? Vormodern? Oder Postmodern? Zur Poetik des Kriminalromans und zu seinem Ort

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den gegenwärtigen Krimidiskurs im allgemeinen, sondern auch ihre eigene Schreibweise: »Heim schreibt vielstimmig, multiperspektivisch, intertextuell, mischt fiktionales Erzählen mit historischen oder fingierten Dokumenten, lässt Monologe oder Bewusstseinsströme einen ganzen Roman tragen«.22 Heims Definition des Kriminalromans hebt das Moment der Verunsicherung, der Erkundung des Unbekannten, nur schwer zu Erschließenden, der ästhetischen Verfremdung des Bestehenden hervor: Ein Krimi ist ein Stück Spannungsliteratur, das den Sprung wagt ins Unwägbare, hinein in jene Gefilde, die bis dahin unbetretbar sind. In ein Neuland, das grob ist, komisch, das Angst macht. Aus einer Unruhe und einer Bedrohung heraus wächst ein waghalsiger Entwurf, der diesen fantastischen und grauenhaften Kosmos letztlich doch nicht zu überwinden vermag. Kriminalliteratur baut eine Kunstwelt auf, die unsere wirkliche Welt transzendiert, aber dennoch auf den eigenen Gesetzen beharrt. Das hat sie mit jeder anderen Form von Literatur gemein, bloß dass sie sich dabei noch an ein paar Regeln halten muss, die variieren und sich weiterentwickeln.23

Im Gegensatz zum affirmativen Regiokrimi propagiert der Kriminalroman keinen vorgeblichen Realismus und keine abschließenden Lösungen, sondern besteht auf seinem Kunstcharakter und seiner Funktion, die Wirklichkeit nicht durchschaubar zu machen, sondern ihre Widersprüchlichkeit als etwas zu zeigen, dass nicht aufgelöst werden kann, sondern ausgehalten werden muss. Die Redeweise von »Regeln« des Kriminalromans, die »variieren«, macht deutlich, dass Heim sich der Besonderheit der Poetik des Kriminalromans durchaus bewusst ist, die Bertolt Brecht als Kombination von »Schema« und »Variation« beschrieben hatte.24 Der von Heim so genannte »fundamentalistische Regionalkrimi« dagegen betreibt, wie weiter oben bereits festgestellt, das affirmative Geschäft eines ultrakonservativen Journalismus: Das Bestehende soll wieder erkannt und bekräftigt werden. Der Schritt hin zur ästhetischen Verfremdung wird erst gar nicht versucht, geschweige denn geleistet. Die Katharsis wird nicht (wie im klassischen Kriminalroman) auf dialektischem Wege hergestellt, sondern steht a priori als Behauptung bereit.25

Sich einrichten im Bestehenden, in einer durch Pseudorealismus, Identifikation und Projektion erzeugten Ersatz-»Heimat« ist das ideologische Programm des »fundamentalistischen« Regionalkrimis. Im Gegensatz dazu verwendet der lite-

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im literarischen Feld. In: Liard, Véronique (Hg.): Verbrechen und Gesellschaft im Spiegel von Literatur und Kunst. München: Martin Meidenbauer Verlagsbuchhandlung 2010, S. 17–29. Vogt, Jochen: Regionalität und Modernisierung, S. 35. Heim, Uta Maria: Die Bekräftigung des Bestehenden. Brecht, Bertolt: Über die Popularität des Kriminalromans. In: Brecht, Bertolt: Schriften zur Literatur und Kunst 3: 1934–1956. Frankfurt (M.): Suhrkamp 1967, S. 93–102, hier S. 92. Heim, Uta-Maria: Die Bekräftigung des Bestehenden.

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rarische Kriminalroman das Brecht’sche Verfahren der Verfremdung und eine Dialektik der Katharsis, die keine Erlösung bietet, sondern zur weitergehenden Beschäftigung mit den Widersprüchen der Gesellschaft aufruft. Seine Sprache ist nicht die des gängigen Regiokrimis mit seiner »lückenlose[n] Verständlichkeit bis zum letzten Dachmarkenprädikat«26, sondern fordert die Leser heraus und stellt Anforderungen an die Lektüre, die denen von anspruchsvoller oder ›hoher‹ Literatur gleichen.27 Trotz aller Polemik gegen den massenproduzierten und den Marktbedürfnissen angepassten Regiokrimi bemüht sich Heim um eine differenzierte Sichtweise. Sie räumt ein, dass es nicht ihr »Ziel ist […], die mangelnde Qualität von Regionalkrimis anzuprangern. Sie sind längst nicht alle schlampig geschrieben, keineswegs«.28 Heim stellt fest, dass es durchaus »präzise verortete Krimiliteratur« gibt, »die es hoffentlich in allen Verlagen und Buchhandlungen gibt und die großartig sein kann. Und mit allen Mitteln unter die Leute gebracht werden muss, zur Not unter der Marke Regionalkrimi«.29 Trotzdem bleibt der grundlegende Befund für sie gültig, dass der Regiokrimi »ein verfressenes Antigenre« ist, ein »Schmarotzer, der sich wie eine Mistel auf den Stammbaum der Kriminalliteratur gesetzt hat«.30 Und, von der Parasiten-Metapher auf eine andere, sehr zeitgemäße Metapher wechselnd, erklärt sie mit Bezug auf den Regiokrimi und die Kriminalliteratur, dass eine »Pandemie von ultralokalisiertem Identifikations-Trash […] derzeit das Genre [infiziert]« und dass der »fundamentalistische Regionalkrimi […] nicht die Kinderkrankheit«, sondern »die Autoimmunkrankheit des Corpus Krimi« sei.31 Bei solcher grundlegenden Kritik am Genre ›Regionalkrimi‹, deren polemische Schärfe durch die Metaphern des Parasitentums und der Pandemie noch 26 Ebd. 27 Die Kritiken und Kommentare zu Uta-Maria Heims Werken stellen demgemäß in schöner Regelmäßigkeit fest, dass es sich bei einem Krimi dieser Autorin um »einen hochparodistischen und zugleich reflexiven ›Regionalkrimi‹« handele (Vogt, Jochen: Verriegelte Vergangenheit. Bodenlose Gegenwart: Über Tempusgebrauch, Redeformen, Regionalismus, Intertextualität und Sonstiges in zwei Kriminal(?)-Romanen von Uta-Maria Heim. In: Hoorn, Tanja v. (Hg.): Zeit, Stillstellung und Geschichte im deutschsprachigen Gegenwartsroman. Hannover: Wehrhahn Verlag 2016, S. 75–95, hier S. 76, Fn. 1. über Heimstadt muss sterben), dass die Lektüre eines Romans von ihr ein »Leseerlebnis, eine Herausforderung« sei (Vogt, Jochen: Die Spreu vom Weizen. In: »freitag« Nr. 20 vom 15. Mai 2013, S. IV; über Wem sonst als dir), dass es sich bei einem Text von ihr um »ein ziemlich kantiges Stück Literatur« handele (Rumpel, Frank: Uta-Maria Heim: Feierabend. URL: https://frankrumpel.wordpress.com/ 2011/09/30/uta-maria-heim-feierabend / letzter Zugriff am 2. Juni 2020). Es ließen sich noch weitere Beispiele anführen. 28 Heim, Uta-Maria: Die Bekräftigung des Bestehenden. 29 Ebd. 30 Ebd. 31 Ebd.

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verstärkt wird, ergibt sich natürlich die Frage, welche Art von Texten Heim selber schreibt. Denn ihre Romane werden ja genau unter der Rubrik ›Regionalkrimi‹ verbreitet und gelesen32, die sie einer so verdammenden Kritik unterzieht. Eine mögliche Antwort wäre, dass Uta-Maria Heim gar keine Regionalkrimis schreibt, auch wenn es auf den ersten (und auch den zweiten?) Blick so aussieht. Diesem Kalkül folgt der Kritiker und Krimiexperte Tobias Gohlis, wenn er erklärt: »mit allen Mitteln der Kunst täuscht Uta-Maria Heim Provinz an«.33 Eine andere Möglichkeit besteht darin, das Oeuvre von Uta-Maria Heim »auf der Grenze zwischen dem Kriminalroman […], und dem Nicht-Kriminal-Roman, dem Roman tout court« anzusiedeln34 und damit das Werk der Autorin vom immer noch bestehenden problematischen Ruf des Kriminalromans zu befreien. Beides ist legitim, hier soll jedoch eine andere Strategie verfolgt werden. Am Beispiel des Romans Glücklich ist, wer nicht vergißt soll, wie oben angekündigt, der Begriff des Kritischen Regionalkrimis als Versuch einer Gattungsbestimmung entwickelt werden, mit der die Romane von Uta-Maria Heim beschrieben werden können und die es ermöglicht, auch die Texte anderer Autoren und Autorinnen genauer zu verstehen.

Ermittlungen im Umkreis des Wahns: Die Handlung des Romans Der Inhalt von Glücklich ist, wer nicht vergißt ist schnell erzählt, zumindest was die äußere Handlung angeht. Angelika Haupt, promovierte Psychologin, 38 Jahre alt und gerade von einem Zusammenbruch mit schweren Depressionen genesen35, kommt in der schwäbischen Kleinstadt Schremmen an. Sie hat sich bei dem nahe gelegenen Altenpflegeheim, den Hofer Anstalten, die nach den Prinzipien des fiktiven Humanisten Ludwig August Meyerboom geleitet werden, um eine Stelle beworben. Obwohl ihr zu Anfang noch nicht ganz klar ist, worin ihre Aufgaben in ihrer neuen Beschäftigung bestehen, stellt sich bald heraus, dass sie den Anstaltsleiter Dr. Kerner bei seinem Forschungsprojekt über »Grenzgänger«, d. h. über Patienten, die zwischen pathologischen und mehr oder weniger nor32 Während ihre ersten Romane von Rowohlt verlegt wurden, sind die meisten von Heims Büchern seit 2006 beim Meßkirchener Gmeiner Verlag erschienen, der bekannt ist für sein umfassendes Programm von historischen Kriminalromanen und Regionalkrimis. Dort kann man seine Postleitzahl eingeben (!) und »schon erhalten Sie neue Leseinspiration, die direkt vor Ihrer Haustür spielt« (URL: https://www.gmeiner-verlag.de / letzter Zugriff am 4. Juni 2020). 33 Gohlis, Tobias: Wirrwar im Ländle. In: »Die Zeit« vom 2. April 2009. URL: https://www. zeit.de/2009/15/KA-Krimi / letzter Zugriff am 17. Juni 2020. 34 Vogt, Jochen: Verriegelte Vergangenheit, S. 75. 35 Zuvor war sie in dem preisgekrönten Roman Engelchens Ende (1999) und in Ihr zweites Gesicht (2000) die Hauptfigur gewesen.

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malen Geisteszuständen hin und her wechseln, unterstützen soll. Im Besonderen geht es dabei um die Patientin Fanny Fehrenbacher, die an Alzheimer leiden soll, deren neurologische Testergebnisse jedoch keinerlei Hinweise auf diese Krankheit liefern. Je mehr sich Angelika mit Fanny beschäftigt, desto rätselhafter wird deren Fall. Sie war von ihren Verwandten kurz nach dem Tod ihres Mannes Fritz zunächst in ein Altersheim eingewiesen worden. Dann war aber bald darauf nach einer Gartenfeier, die sie aus Anlass ihres bevorstehenden Umzugs in das Altersheim veranstaltet hatte, ihr Haus abgebrannt, wobei vier Menschen den Tod fanden, wobei zunächst nicht mitgeteilt wird, wer diese vier Opfer waren. Der anscheinend verwirrte Geisteszustand Fannys im Anschluss an dieses Ereignis führte dazu, dass sie in die Hofer Anstalten überführt wurde. Nur wenige Tage nach Angelika Haupts Ankunft wird Dr. Kerner von ihr tot in seinem Büro aufgefunden. Obwohl sie glaubt, dass er ermordet wurde, finden keine Ermittlungen statt und sein Tod wird auf eine Herzkrankheit zurückgeführt. Kurz darauf wird Angelika von einem Auto angefahren und wacht in einem Krankenhaus wieder auf. Nachdem sie das Krankenhaus vorzeitig verlassen hat, befragt sie die Nachbarn, andere Personen aus Fannys Umkreis und auch einige Mitglieder von Fannys Familie nach deren Leben. Erst jetzt erfährt sie, wer beim Brand von Fannys Haus umgekommen ist: der hochbetagte frühere Pfarrer Anton, der ebenfalls schon greise Walter Rasch, Fannys Bruder Viktor und ihre Tochter Gunda. Im Laufe ihrer Ermittlungen stößt Angelika Haupt auf das Schlüsselereignis des Romans. Am Pfingstsonntag 1942 wurde der junge Jude David Glück (mit dem Fanny ein Verhältnis gehabt haben könnte) von Viktor, der ein überzeugter und fanatischer Nazi war, aus dem Keller von Pfarrer Antons Kirche geholt und dann in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, wo er wohl ermordet wurde. Fanny hatte erfolglos versucht, Viktor daran zu hindern, David zum Abtransport zu bringen. Der anwesende Pfarrer Anton tat nichts, außer Fanny aufzufordern, zu vergessen, was gerade geschehen war. Schon kurz vorher hatte Walter Rasch es abgelehnt, mit Fanny Karussell zu fahren und sie als »Luder« und »Judenmensch«36 beschimpft, worauf sie ihn, wie dann auch Viktor, verfluchte. Nach dem Ende des Krieges heirateten Fanny und der aus der Gefangenschaft zurückgekehrte Fritz. Fritz war zwar nur einfacher Arbeiter, las Fanny jedoch oft aus Werken der Weltliteratur vor, wobei er vornehmlich auf die Texte von Hölderlin zurückgriff. Angelika Haupt erfährt den Rest von Fannys Geschichte von Fannys Sohn Erik und kann die Todesfälle deshalb aufklären: Es war Fanny, die nach der Gartenfeier Feuer an ihr eigenes Haus legte, nachdem sie den alten 36 Heim, Uta-Maria: Glücklich ist, wer nicht vergißt. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2000, S. 118. Seitenzahlen im Text unter der Sigle G und ohne weitere Angaben verweisen im Folgenden auf diese Ausgabe.

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Pfarrer, Walter Rasch, ihren Bruder Viktor und ihre Tochter Gunda mit einer Axt erschlagen hatte. Sie hat damit alle vier bestraft: die älteren drei Personen für ihr Verhalten während der Nazizeit und insbesondere für den Abtransport von David Glück, und Gunda, weil sie ihre Mutter aus Profitgier in ein Altenheim abschieben und dann ihr Haus und Grundstück verkaufen wollte. Angelika Haupt hatte nämlich auch herausgefunden, dass Dr. Kerner die Hofer Anstalten erweitern wollte und deshalb plante, das ganze Dorf Kleinbeuren aufzukaufen, wodurch die Grundstückspreise stark gestiegen wären. Fanny hat Dr. Kerner ermordet, weil er ihr auf die Spur gekommen war. Sie wollte verhindern, dass ihr Sohn Erik erfuhr, was sie getan hatte. Am Ende rettet Angelika Haupt Fanny vor der Strafverfolgung, indem sie ihre Befunde fälscht und sie dadurch als geisteskrank gelten lässt. Die Anzahl der Figuren in Glücklich ist, wer nicht vergißt, von denen die Inhaltsübersicht bei weitem nicht alle erwähnt, macht es den Lesern nicht leicht, sich die Zusammenhänge der Handlung präsent zu halten. Dazu kommt, dass der Darstellung der Innenwelt der Figuren viel Raum gewidmet wird und äußere Handlungselemente eher spärlich sind. Das entspricht einer Zielvorstellung von Uta-Maria Heim, die sie schon in einem frühen Essay formuliert hat, als sie »die psychologische Dichte der Romane Patricia Highsmiths« als Vorbild aufstellt.37 Es hat deshalb eine gewisse Folgerichtigkeit, dass Heim mit Angelika Haupt eine promovierte Psychologin als Ermittlerfigur einsetzt. Die Motivation zum Verbrechen und die Ermittlung laufen jeweils auf zwei Ebenen ab. Die Gründe für Fannys Morde resultieren aus schuldhaftem Verhalten in der Vergangenheit (bei Viktor, Walter, dem Pfarrer) und aus böswilligem Verhalten in der Gegenwart (im Fall von Gunda). Die Ermittlungen von Angelika Haupt werden durchgeführt als Entschlüsselung scheinbar wahnhafter Äußerungen der Hauptverdächtigen (Fanny) und parallel dazu durch Beschaffung von Informationen über die Machinationen der Opfer (Dr. Kerner, Gunda), der Mitglieder von Fannys Familie und der anderen Dorfbewohner.

Das Spiel der intertextuellen Verweise Das erste wichtige Element des Kritischen Regionalkrimis ist die auffallende Rolle, die Intertextualitat in ihm spielt.38 Bereits der Titel von Glücklich ist, wer nicht vergißt weist auf die große Dichte der textuellen und intertextuellen Ver37 Heim, Uta-Maria: »Postmodern« – wieso? Fred Breinersdorfers Neuer Deutscher Krimi. In: »Die Horen« 31.4 (1986), S. 82–86, hier S. 84. 38 Zur Intertextualität als »bedeutungsproduzierende Selbständigkeit« im Anschluss an Julia Kristeva und als »begrenztes Verfahren innerliterarischer Sinnbildung«, wie sie in herme-

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weisungszusammenhänge hin, die der Roman eröffnet. Glücklich ist, wer nicht vergißt ist erstens die »Maxime« (G, 10) des fiktiven Humanisten und Begründers der Hofer Anstalten, Ludwig August Meyerboom, dem bei seinem Projekt eine »sanfte Geriatrie« (G, 15) vorschwebte. Ironisch gebrochen kommentiert der Titel die Tatsache, dass der Schauplatz des Romans eine Anstalt für Demenzkranke und Alzheimer-Patienten ist, deren Leiden erleichtert werden soll. Zweitens ist der Titel eine Anspielung auf ein Lied aus der 1874 uraufgeführten Operette Die Fledermaus von Johann Strauss und deutet damit auf die wichtige Rolle hin, die Musik und Musikalität im Roman spielen. Der Komponist lässt den 14. Auftritt des 1. Aktes mit einem als Finale fungierenden »Trinklied« ausklingen, dessen Refrain lautet: »Glücklich ist, wer vergißt,/ Was doch nicht zu ändern ist!« Die Fledermaus ist interpretiert worden als Text, der mit einer heiterbeschwingten und berauschenden Fassade das nackte psychische Elend verdeckt und dessen »Motto« (der oben zitierte Refrain) sich der Philosophie Schopenhauers verdanke.39 Heim übernimmt zwar die Thematik des psychischen (und moralischen) Verfalls einer Gesellschaft, negiert jedoch die bekannte Liedzeile und damit auch das Vergessen als Lösungsstrategie.40 Das ist besonders gravierend, wenn man drittens in Betracht zieht, dass der Titel auch Bezug nimmt auf das Problem der deutschen Vergangenheit. Wie oben festgestellt wurde, spielt der entscheidende Vorfall des Romans, gleichsam seine Urszene, im Jahre 1942, als David Glück abgeholt wurde und alle außer Fanny entweder aktiv an seiner Deportation beteiligt waren oder tatenlos zugesehen bzw. das Geschehen beschönigt haben. Das Gedächtnis und die Erinnerung neutischen und strukturalistischen Ansätzen verstanden wird vgl. Martínez, Matías: Dialogizität, Intertextualität, Gedächtnis. In: Arnold, Heinz Ludwig/Detering, Heinrich (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft. München: dtv 1996, S. 430–445, hier S. 441–443. Der hier verwendete Begriff Intertextualität orientiert sich an der letzteren Auffassung des Phänomens. Eine knappe einführende Übersicht zum Thema Intertextualität, hier differenziert in »texttheoretische« und »textdeskriptive« Ansätze, findet sich bei Komfort-Hein, Susanne: Intertextualität. In: Drügh, Heinz/Komfort-Hein, Susanne/Kraß, Andreas/Meier, Cécile/ Robowski, Gabriele/Seidel, Robert/Weiß, Helmut (Hg.): Germanistik. Sprachwissenschaft – Literaturwissenschaft – Schlüsselkompetenzen. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2012, S. 186– 190. 39 »Dem versierten Operettenmann Johann Strauß ist mit der ›Fledermaus‹ ein Werk gelungen, das hinter seiner perlend heiteren Oberfläche und dem Rausch der musikalischen Einfälle tiefenpsychologische Katastrophen verbirgt. Nicht umsonst ist das Motto der Operette, ›glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist‹, der Philosophie Schopenhauers entliehen« (Brüggemann, Axel: Glücklich ist, wer vergisst. In: »Stern« vom 19. Dezember 2009. URL: https://www.stern.de/kultur/musik/-fledermaus-gluecklich-ist-wer-vergisst-3152238. html / letzter Zugriff am 9. Juni 2020). 40 Zur Auseinandersetzung mit einem notwendigen, für das produktive Weiterleben erforderlichen Vergessen, die von Ralph Waldo Emerson über Nietzsche bis zu Jorge Luis Borges und anderen reicht vgl. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: C.H. Beck 2006, S. 104–108.

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spielen deshalb nicht nur eine Rolle im Roman, weil sein Schauplatz eine Pflegeanstalt für Demenzkranke ist, sondern weil die fehlende Erinnerung an die Mitschuld und das Vergessen der eigenen Verantwortung für den Holocaust das Hauptthema des Romans ist. Hier stellt der Titel auf vollkommen unironische Weise die Diagnose, dass nur der glücklich werden kann, der seine Vergangenheit nicht verdrängt, sondern sich aktiv und offen mit ihr auseinandersetzt.41 Darauf weist natürlich auch der Nachname des Opfers (»Glück«) hin: Nur die Erinnerung an dessen Unglück kann, in Übereinstimmung mit dem Titel, so etwas wie Glück noch ermöglichen. Die komplexe Semantik des Titels wird weitergeführt im Text des Romans und die intertextuellen Bedeutungsfelder, die eröffnet werden, erweisen sich am Ende als handlungsrelevant für das Verbrechen und seine Aufklärung, sie spielen dabei sogar eine entscheidende Rolle. Dem Roman vorangestellt sind zwei Zitate, das zweite aus dem Buch Flüchten oder Standhalten des Psychoanalytikers und Sozialphilosophen Horst-Eberhard Richter (1923–2011), das die Anfälligkeit des Menschen zu »massiven destruktiven Aktivitäten« unter extremen Bedingungen anmahnt und das als Teil der Analyse unmenschlicher Verhaltensweisen etwa im Faschismus, aber auch als Erklärung von Fanny Fehrenbachers Handeln im Roman verstanden werden kann. Das erste Zitat, das dem Text des Romans vorausgeschickt wird, besteht aus den ersten 21 Zeilen des Gedichtfragments Vom Abgrund nämlich… von Friedrich Hölderlin (G, 5).42 An mehreren Stellen im Roman wird Hölderlin entweder diskutiert oder das Gedichtfragment zitiert (G, 121–122, 176, 225–226). Eine der Nebenfiguren in Glücklich ist, wer nicht vergißt, die Germanistik-Studentin Clara Däuber, schreibt eine Magisterarbeit über Hölderlin und versucht nachzuweisen, dass er sich nicht umgebracht hat, obwohl er »zwar schwachsinnig [wurde] und verblödete«, weil er aber »darüber nicht unglücklich« war (G, 143). Als Angelika Haupt von Clara erfährt, dass Fannys verstorbener Mann Fritz ihr und Clara Gedichte von Hölderlin vorgelesen hat, fragt sie sich zum ersten Mal, ob ein Zusammenhang besteht zwischen Fannys rätselhaften Äußerungen, die von allen für Manifestationen des Wahnsinns gehalten werden, und Hölderlin, der die zweite Hälfte seines Lebens in geistiger Umnachtung verbrachte: 41 Man könnte noch eine vierte Konnotation des Titels aufführen, nämlich den Verweis auf Edith Kneifls Krimi Glücklich, wer vergisst, der allerdings erst 2009, also neun Jahre nach Heims Roman erschienen ist. In einer Rezension schrieb Heim über den Roman der Kollegin, er »untersucht manisch das Verdrängte, und dort gibt es keine Zufälle, sondern höchstens Freudsche Versprecher« (Heim, Uta-Maria: Kopfschuss N° 9. Wenn Mieselsüchtige kletzeln. In: »CrimeMag« vom 25. April 2009. URL: http://culturmag.de/crimemag/kopfschuss-n%c2% b0-9-von-uta-maria-heim/2181 / letzter Zugriff am 9. Juni 2020). 42 Dieser Gedichtentwurf aus dem sog. Homburger Folioheft umfasst in seiner Gesamtheit 37 Zeilen. Vgl. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Gedichte. Hg. von Jochen Schmidt. Frankfurt (M.): Deutscher Klassiker Verlag 2005, S. 416–417.

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Sie dachte an Fanny. Fanny kennt Hölderlin, überlegte Angelika. Sie kennt seine Geschichte. Sie weiß, daß er jahrzehntelang allein in einem runden Turm saß. Er sagte fast nichts Verständliches mehr und verweigerte sich dem Diskurs der Umwelt. Ist er Fannys Vorbild? (G, 142)

Damit wird der entscheidende Anhaltspunkt zur Aufklärung der vier Todesfälle beim Brand von Fanny Fehrenbachers Haus präsentiert. Nach ihrer Tat hat Fanny Hölderlin imitiert, um nicht des Mordes verdächtigt zu werden. Zur Gewissheit wird dies, als Fanny Kafkas Roman Das Schloß liest und daraus den Satz zitiert: »Ich habe nämlich gegen Abend die Tür mit der Axt allein geöffnet, es war sehr einfach, die Gehilfen brauchte ich dazu nicht, sie hätten nur gestört« (G, 189). Die Axt war die Mordwaffe und Fannys Reden über eine Axt ist ein Leitmotiv, das ihre scheinbar wirren Reden durchzieht und damit immer wieder Hinweise auf ihre Tat gibt. Und auch ihr Hauptmotiv für die Morde, die Erinnerung daran, was David Glück angetan wurde, wird durch einen intertextuellen Verweis untermauert. Gegen Ende des Romans spricht Fanny noch einmal von David Glück und sagt dabei: »Davongeflogen mit der Asche. Sein blondes Haar« (G, 227). Damit spielt sie auf Paul Celans Gedicht Todesfuge an, wo es heißt: »dein goldenes Haar Margarete/ Dein aschenes Haar Sulamith«.43 Celans Gedicht, das er selber schon zu seinen Lebzeiten als »lesebuchreif gedroschen« bezeichnet hatte44, ist einer der bekanntesten literarischen Texte über den Holocaust und der intertextuelle Verweis darauf kann von den meisten Lesern und Leserinnen von Heims Roman zwar leicht entschlüsselt werden, gleichzeitig wird aber auch auf einen der am schwersten zu verstehenden Lyriker, dessen Werk als »hermetisch« gesehen wird, hingewiesen. Die beiden anderen zitierten Autoren, Kafka und der als poeta obscurus geltende Hölderlin, gehören ebenfalls einer Tradition der oft ans Unverständliche grenzenden Literatur an. Es geht jedoch in Heims Roman weniger darum, was die zitierten Texte bedeuten oder wie man sie interpretieren könnte.45 Zwar lassen sich bestimmte Parallelen zum Geschehen in Glücklich ist, wer nicht vergißt erkennen (der Wahnsinn Hölderlins und die scheinbare Demenz Fannys, die Verwendung einer Axt bei Kafka und bei der Tat von Fanny, der Holocaust bei Celan und der Tod David Glücks im Konzentrationslager), aber entscheidend ist, dass es sich bei Fanny Fehrenbacher um einen Fall von vorgetäuschtem Wahnsinn, inspiriert von der Weltliteratur, handelt. Im Gespräch mit dem Sohn von Fanny, Erik Fehrenbacher, erfährt Angelika Haupt, woraus sich Fannys Diskurs zusammensetzt: »Mein Vater [Fritz] hat uns viele Gedichte 43 Vgl. Celan, Paul: Ausgewählte Gedichte. Nachwort von Beda Allemann. Frankfurt (M.): Suhrkamp 1968, S. 18–19, hier S. 18. 44 Huppert, Hugo: »Spirituell«. Ein Gespräch mit Paul Celan. In: Hamacher, Werner/Menninghaus, Winfried (Hg.): Paul Celan. Frankfurt (M.): Suhrkamp 1988, S. 319–324, hier S. 320. 45 In Romanen von Uta-Maria Heim wird öfter auf Hölderlin, Kafka und Celan Bezug genommen. Vgl. Vogt, Jochen: Verriegelte Vergangenheit, S. 90–91.

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vorgelesen. Moderne, alte. Überhaupt Weltliteratur« (G, 209). Fannys scheinbare Demenz ist also in Wirklichkeit keine Krankheit, sondern ein Fall von fehlender literarischer Bildung (bei ihren Verwandten und bei ihren behandelnden Ärzten). Erst eine Psychologin mit Literaturkenntnissen kann diesen Fall entschlüsseln. Warum Fanny eine Geisteskrankheit simuliert, um nicht als Mörderin entlarvt zu werden, ist jedoch eine Frage, die erst weiter unten beantwortet werden kann. Intertextuelle Verweise erinnern auch an andere Texte, sie rufen diese Texte ins Gedächtnis zurück und schreiben sie gleichzeitig auf die eine oder andere Weise fort. Bedenkt man also, dass »Intertextualität eng mit einem Gedächtniskonzept verschränkt ist«46, dann hat das Spiel der intertextuellen Verweise neben den gerade genannten Bedeutungsebenen auch die Funktion, auf das hinzuweisen, was man als das übergreifende Thema des Romans ausmachen kann, die große Bedeutung von Gedächtnis und Erinnerung und ihrer Verbindung mit dem Leben in der Gegenwart.

Intertextualität, Gedächtnis und Erinnerung Gegen Ende des Romans, als sie über die alltagspraktischen Belange des Falles Fanny Fehrenbacher mit seinen Grundstücksspekulationen und Erbangelegenheiten nachdenkt, wird Angelika Haupt klar, dass »sich der ganze Fall Fehrenbacher nur um das Thema Wohnen drehte. Darin lag der Schlüssel« (G, 185). Diese zentrale Bedeutung des Wohnens47 kontrastiert mit ihrer eigenen Unfähigkeit zu wohnen. Glücklich ist, wer nicht vergißt beginnt mit ihrer Ankunft in der Provinz und zeigt sie, wie sie ihren Koffer tragend zu Fuß auf dem Weg zu ihrer neuen Arbeitsstelle ist. Erst später trifft sie bei ihrem alten Jugendfreund Ulrich ein, der jetzt als Dorfpfarrer arbeitet und in dessen altem Pfarrhaus sie für die Dauer ihres Aufenthaltes ein Zimmer bezieht. Am Schluss des Romans hat sie ihre Stelle verloren und wird wieder weiterziehen. In den beiden vorhergehenden 46 Lachmann, Renate/Schama Schahadat: Intertextualität. In: Brackert, Helmut/Stückrath, Jörn (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2001, S. 678–687, hier S. 679. 47 Man könnte versucht sein, hier eine große Nähe zu den Betrachtungen Martin Heideggers zum »Wohnen« zu sehen, die er in zwei 1951 gehaltenen Vorträgen, Bauen Wohnen Denken und »…dichterisch wohnet der Mensch…«, angestellt hat. Gerade weil Heidegger wie Heim modernekritisch argumentiert, bietet sich eine solche Sichtweise auf den ersten Blick an. Heims Verständnis von »Wohnen« ist dem von Heidegger jedoch diametral entgegengesetzt, denn es besteht, hierin mit Hölderlin übereinstimmend, auf der Verflechtung von Wohnen mit seinen historisch-kulturellen Kontexten. Zu Heideggers verfälschender Lektüre von Hölderlins Gedanken über das Wohnen vgl. Hoffmeyer, John W.: Poetics of History, Logics of Collapse: On Heidegger’s Hölderlin. In: »The German Quarterly« 93.3 (2020), S. 374–389.

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Romanen, in denen Angelika Haupt die Protagonistin war, nahm sie am Ende des ersten (Engelchens Ende, 1999) eine Auszeit von der Betreuung eines Wohnprojektes für Zwangsgestörte an ihrem Wohnort Hamburg und verließ die Stadt, denn im zweiten Roman, Ihr zweites Gesicht (2000), finden wir sie in der Villa Massimo in Rom wieder. Angelika Haupts Unfähigkeit zu wohnen korrespondiert mit Heinrich Bölls Diagnose vom »Nicht-wohnen-Können der Deutschen«.48 In seinen 1964 gehaltenen Frankfurter Vorlesungen wollte Böll eine »Ästhetik des Humanen« entwickeln, die auf den Themen »das Wohnen, die Nachbarschaft und die Heimat, das Geld und die Liebe, Religion und Mahlzeiten« aufgebaut sein sollte.49 In Glücklich ist, wer nicht vergißt stehen genau diese Themen, die Böll zur Zeit der Geburt der Autorin (1963) vorgegeben hatte, wieder (oder immer noch) auf der Tagesordnung. Uta-Maria Heim hat damit gleichsam ein Erbe angetreten, das Böll ihr nicht einfach überlassen, sondern das er gleich am Anfang seiner ersten Vorlesung den Nachfolgenden als erst noch Einzulösendes aufgetragen hat: »Schuld, Reue, Buße, Einsicht sind nicht zu gesellschaftlichen Kategorien geworden, erst recht nicht zu politischen«.50 Dieses Diktum ist nicht nur eine Feststellung, sondern auch ein Sprechakt der Aufforderung: Um eine humane Gesellschaft zu verwirklichen, müssen diese mentalen Einstellungen erst einmal im gesellschaftlichen Leben verankert werden. Für Böll galt noch das utopische Potential des Regionalen: »Es sieht ganz so aus, als wäre Provinzialismus für eine gute Weile unsere einzige Möglichkeit, vertrautes Gelände zu schaffen, Nachbarschaft zu bilden, wohnen zu können.«51 Heims Roman zeigt dagegen, dass diese Kategorien um die letzte Jahrtausendwende und damit auch in unserer Zeit noch als uneingelöste, nicht verwirklichte die Sphären, auf denen Böll seine Ästhetik des Humanen aufbauen wollte, vergiften. Die Themen Wohnen, Nachbarschaft, Heimat, Geld, Liebe, Religion und Mahlzeiten stehen bei Heim alle im Vordergrund. Freilich wird daraus nicht wie bei Böll eine Ästhetik des Humanen, sondern eine Gesellschaftsanalyse des Inhumanen entwickelt. Man könnte durch Glücklich ist, wer nicht vergißt gehen und die von Heinrich Böll vorgegebenen Themen seiner »Ästhetik des Humanen« wie auf einer Liste abhaken. Sie spielen alle eine prominente Rolle in Heims Roman und wie bei Böll sind sie auch alle miteinander verbunden. Wohnen etabliert Nachbarschaft, die wiederum Heimat schafft. Liebe, Religion und gemeinsame Mahlzeiten konstituieren als ritualisierte Verhaltensweisen das Wohnen, das damit über das bloße geographische Anwesend-Sein eine transzendente Bedeutung bekommt als das, 48 Böll, Heinrich: Frankfurter Vorlesungen. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1968, S. 49. 49 Ebd., S. 7. 50 Ebd., S. 8. 51 Ebd., S. 53.

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was eine menschenwürdige Existenz oder das, was Ernst Bloch »Heimat« nannte, erst ermöglicht. Angelika Haupt ist heimatlos, sie »wohnt« nicht im Sinne von Bloch oder Böll, sie ist ständig unterwegs und demonstriert damit auch ihre Verlorenheit in der deutschen Gesellschaft.52 Das Beispiel Böll zeigt, wie Intertextualität in Glücklich ist, wer nicht vergißt an vorangegangene Texte erinnert und sie einer kritischen und aktualisierenden Relektüre unterziehen kann.53 Der Zusammenhang von Vergangenheit und Gegenwart, von Erinnerung und aktuellem Handeln, ist in Glücklich ist, wer nicht vergißt auch konstituierend für die Motivation zum Verbrechen. Fanny Fehrenbacher ist die einzige, die sich noch erinnern will an das »Unrecht« (G, 218), das nicht nur David Glück angetan wurde. Sie »verflucht« (G, 227) die älteren ihrer späteren Opfer, die sich nicht erinnern wollen, und auch ihre Tochter und setzt diesen Fluch dann auch in die Tat um. In der Wahl ihrer Opfer verbindet sie Vergangenheit und Gegenwart. Ihre Altersgenossen müssen sterben, weil sie ihre faschistischen Überzeugungen und Denkweisen nie abgelegt haben, und sie tötet ihre eigene Tochter, weil sie in ihr eine Neuauflage der alten Mentalität in der Gegenwart sieht. Fanny stellt eine Parallele her zwischen der Vereinsamung des modernen Lebens und seiner mangelnden Nachbarschaftshilfe und dem fehlenden Widerstand gegen die Nazis: »Manchmal wär’s damit getan gewesen […], daß mir jemand die Sprudelkiste ins Haus trägt, aber die Gemeinde will sich um nichts kümmern. Die Pschorren Nachbarn und die Base nebendran machen sowieso die Augen zu. Dabei wär’s oft nicht viel. Das Nötige wär nicht zuviel gewesen. Wenn jeder mir ein bißchen geholfen hätte…« […] »Wenn jeder ein bißchen geholfen hätte, dann wäre David…« (G, 225)

So, wie es die kleinen Dinge des Alltags sind, bei denen aus mangelnder Solidarität die Hilfe versagt wird und alle den Blick abwenden, so wurde auch das »Nötige« zur Verhinderung von David Glücks Deportation nicht getan. Wenn jeder ihr oder David Glück »ein bißchen geholfen hätte«, dann wären weder Davids Tod noch Fannys eigene Rachetat geschehen. Das Motiv zum Verbrechen in der Gegenwart entstand aus den Verhaltensweisen der Opfer in der Vergangenheit und der Annahme, dass sich nichts geändert hat, dass die verweigerte

52 Man könnte noch weitergehend hinzufügen: Und ihre »transzendentale Obdachlosigkeit«. Vgl. Lukács, Georg: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Berlin: Cassirer 1920 [erstmals 1916]. 53 Der Bezug auf Heinrich Böll hat noch eine andere Verweisungsfunktion. Er erinnert daran, dass der Regionalkrimi auf dem »stark regionalistischen Grundzug« der westdeutschen Nachkriegsliteratur, von der Böll einer der Hauptrepräsentanten war, aufbauen konnte. Vgl. Vogt, Jochen: »Alles total groovy hier«. Oder: Wie das Ruhrgebiet im Krimi zu sich selbst kam. In: »Der Deutschunterricht« 2 (2010), S. 20–28, hier S. 21.

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Erinnerung an den Faschismus die Verhaltensweisen und zwischenmenschlichen Beziehungen immer noch prägt. Der Grund dafür, warum Fanny nach ihrer Tat verrückt gespielt hat, ist ebenfalls eine Frage des Erinnerns. Sie wollte nicht, dass sie als Täterin entlarvt wird (und hat deshalb auch den Nachfolgemord an Dr. Kerner begangen), damit ihr Sohn Erik sie nicht in schlechter Erinnerung behält. Der letzte Satz des Romans beschwört die Erinnerung, das nicht-vergessen-Werden: »Er würde sie in guter Erinnerung behalten« (G, 239). Nach Theodor W. Adorno gibt es zwar kein richtiges Leben im Falschen54, aber nach Uta-Maria Heim scheint es sehr wohl ein falsches Erinnern im richtigen Leben zu geben. Die Ironie des Romantitels ergibt sich so erst am Ende. Erik wird zwar nur gute Erinnerungen an seine Mutter behalten, aber dieses Glück wird auf einer falschen Voraussetzung bestehen.

Kritische Regionalität, Topographie des Schreckens Der Schauplatz von Glücklich ist, wer nicht vergißt, das ländliche Südwestdeutschland, ist zwar der eines typischen Regiokrimis, diese Region oder dieses Regionale wird aber auf völlig untypische Weise in eine Topographie des Schreckens verwandelt. Die daraus entstehende kritische Regionalität hat vier Hauptmerkmale: 1) die Region ist auf die eine oder andere Weise entlegen, 2) sie ist Gegenstand einer fortschreitenden Zerstörung, 3) sie ist der Ort eines ungezügelten Profitstrebens und 4) ihre scheinbare Idylle ist eine Täuschung.55 Die geographische Entlegenheit des Schauplatzes wird gleich zu Anfang betont, wenn Angelika Haupt konstatiert, dass sie sich in einem »abgelegenen Landstrich« befindet und dass sie »noch nie so weit in die Provinz vorgedrungen« war (G, 9). Der Ort, an dem sich ihr neuer Arbeitsplatz befindet, ist noch nicht einmal auf ihrer Landkarte eingetragen, es ist also geradezu so, als ob sie einen weißen Fleck auf der Karte entdeckt hat, als ob sie ein unerforschtes Land betritt.56 Sie ist eben 54 Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt (M.): Suhrkamp 1951, S. 42. 55 Die Tatsache, dass diese vier Merkmale auch auf Annette von Droste-Hülshoffs Die Judenbuche (1842) zutreffen, ist kein Zufall. Die Judenbuche ist vielleicht nicht nur (unter anderem) der erste Regiokrimi, sondern auch der erste Kritische Regionalkrimi. Zur Judenbuche als Text, den man zu den Vorläufern des Regionalkrimis zählen könnte, vgl. Vogt, Jochen: »Alles total groovy hier«, S. 20. 56 Diese Entlegenheit des Schauplatzes des Kritischen Regionalkrimis muss nicht immer geographisch determiniert sein. Auch Teile einer Metropole könnte man als »entlegen« bezeichnen, wenn sie abseits des modernen Lebens liegen oder von aktuellen Entwicklungen abgehängt sind, wie soziale Brennpunkte oder Orte, deren Bewohner Angehörige des Prekariats sind. Solche Orte finden sich beispielsweise in den Romanen von Friedrich Ani, die man zu den Regionalkrimis zählen kann.

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nicht nur an einem abgelegenen Ort, sondern sogar »am hintersten Winkel der schwäbischen Provinz« (G, 200) angelangt. Das zweite Merkmal von kritischer Regionalität besteht darin, dass die dargestellte Landschaft als zerstört gezeigt wird und dass diese Zerstörung eine Parallele im Geisteszustand ihrer Bewohner hat. Wie Heims oben referierte Kritik am Regionalkrimi und ihre Modernekritik bereits zeigten, hat sie einen scharfen Blick für die Verwüstung von ländlichen Gebieten durch Zersiedelung, Neubaugebiete, Industriebrachen und die Infrastruktur der Kaufparadiese. Angelika Haupt fährt in Glücklich ist, wer nicht vergißt durch ein ländliches Schwaben, das von »galoppierend wuchernde[n] Wüsteneien durchzogen« und dadurch zu einer »katastrophal ruinierte[n] Landschaft« (G, 145) geworden ist. Durch die Wiederholung einer Aufzählung57 wird die Zerstörung der Region mit dem psychischen Zustand der Menschen, die sie verursachen und die in ihr leben, verbunden. Denn die Verwüstung der Landschaft entspricht »einer äußeren Anstalt des Wahnsinns. Hier wütete die zerstörerische Demenz flächengreifend an der frischen Luft. […] Es war ein unsäglich modernes, weltweit übertragbares Bild des globalen Untergangs« (G, 154). Der innere Wahnsinn der Patienten der Hofer Anstalten wird gespiegelt in der Landschaft, der Region, die gleichzeitig Beispiel für einen globalen Prozess ist. Angelika Haupt sieht die Psyche der Bewohner dieser Region als Manifestation ihrer Verwüstung: »Auf dem Land wimmelt es von Psychopaten. Die einen verwirklichen ihre geheimen Lebenswünsche. Die anderen fällen Bäume. Die dritten töten, vielleicht« (G, 224).58 Der Zerstörung der Region entspricht die Pathologisierung ihrer Bewohner. Kritische Regionalität zeichnet sich weiter dadurch aus, dass die Zerstörung der Landschaft nicht zuletzt durch ihre Bewohner selber vorangetrieben wird, und zwar in diesem Fall aus Profitstreben. Die Ermittlungen der Detektivfigur Angelika Haupt werden erschwert durch ein kollektives Schweigen der Dorfbewohner, das der Mafia Ehre machen würde. Die Ursache dafür sind die Bodenspekulationen im Umkreis der Hofer Anstalten und anderer Bauprojekte. Das Dorf Kleinbeuren versteht sich selber nur noch als Bauland, es will sich »prostituieren« und »die geplante Ausweitung des öffentlichen Nahverkehrs« ausnutzen und damit auch »in Verbindung zum Rest der Welt« (G, 47) treten. Am Ende des Romans versteht Angelika Haupt, dass die geschehenen Morde vertuscht werden sollen, denn es geht um »Kleinbeuren, das verschachert werden sollte«. Es darf deshalb »nichts herauskommen«. Alle halten zusammen, ein57 Und weiter »Wellblechklitschen, Baumärkte und Ikea…« (G, 145), »Wellblech-Klitschen, Baumärkte und Ikea verbanden sich mit EU-Normfertighäusern, Autobahnbaustellen und Baumschneisen…« (G, 154). 58 Dass es sich hier um einen intertextuellen Verweis auf Die Judenbuche handelt, wird spätestes durch das »Bäume fällen« klar, denn in der Judenbuche geht es ja um »Holzfrevel«, also das illegale Fällen von Bäumen.

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schließlich der Polizei und der Presse: »Von dort kamen sie alle, und ihre Heimat war ihnen teuer« (G, 238). Dass die Heimat »teuer« ist, muss im wörtlichen Sinne verstanden werden – als Baugrund. Die Ironie zwischen wörtlicher und übertragener Bedeutung, zwischen Heimat als Spekulationsobjekt und als abstraktem Wert, stellt vollends klar, dass sie zerstört ist. Das vierte Merkmal von kritischer Regionalität besteht darin, dass die dargestellte ländliche Idylle eine Täuschung ist. Schon kurz nach ihrer Ankunft kommt Angelika Haupt das Dorf »wie die Kulisse für einen historischen Heimatfilm« (G, 20) vor und die Dorfwirtschaft korrespondiert mit »der touristischen Vorstellung von der weinseligen, schwäbischen Geborgenheit« (G, 21). Das Dorf erscheint als Fassade, genau im Sinn der Redeweise von den Potemkin’schen Dörfern, die Vorgetäuschtes zeigen oder falsche Tatsachen vorspiegeln. Hier wird die Fassade im Sinn eines touristisch werbewirksamen kulturellen Stereotyps verwendet, sie fällt zurück auf den »historischen Heimatfilm« als typisches Beispiel der Kulturindustrie der Nachkriegszeit. Die Landschaft selbst trägt zur Täuschung bei, denn sie »gaukelt einem Weite vor«. Im Gegensatz dazu steht aber, dass jeder jeden kennt, »auch über mehrere Dörfer hinweg und bis hinein in den nächsten Landkreis« (G, 97), wie eine der Figuren erklärt. Das Motiv der vorgetäuschten ländlichen Idylle wird am deutlichsten in den Ermittlungen, die Angelika Haupt nach dem Mord an Dr. Kerner im Umkreis der Hofer Anstalten führt, die eigentlich so human und fortschrittlich erscheinen. Schon nach einer Woche »waren ihr einige Illusionen geraubt worden« und es dauert nur wenig länger »und das Grauen war perfekt« (G, 105). Etwas später verallgemeinert sie diese Einsicht und stellt fest: »Das Eigentliche verweigert sich« (G, 149) in »dieser statischen schwäbischen Scheinwelt« (G, 150). Das, worauf es ankommt in dieser Wirklichkeit, die die Realität strukturierenden und determinierenden Faktoren, werden gerade nicht sichtbar, sondern bleiben unter einer auf Täuschung zielenden Oberfläche verborgen.

Was ist ein Kritischer Regionalkrimi? Wie bei anderen als im Allgemeinen der Trivialliteratur zugeordneten literarischen Gattungen, etwa dem historischen Roman59, dem Heimatroman60 oder dem Kriminalroman61, so kann man auch beim Regionalkrimi eine differenziertere Betrachtungsweise anwenden. Aus einer radikalen Kritik des heute 59 Vgl. dazu Geppert, Hans Vilmar: Der »andere« historische Roman. Theorie und Strukturen einer diskontinuierlichen Gattung. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1976. 60 Vgl. der kritische Heimatroman bei Thomas Bernhard, Gerhart Fritsch oder Hans Lebert. 61 Vgl. der Anti-Kriminalroman, der im Allgemeinen als hochliterarisch angesehen wird, etwa bei Friedrich Dürrenmatt, Paul Auster oder Borges, um nur einige Autoren zu nennen.

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massenhaft verbreiteten Regiokrimis entwickelt Uta-Maria Heim ein Konzept des Kritischen Regionalkrimis, das erstens die wesentlichen Elemente des herkömmlichen Regionalkrimis, wie »die exakte, geographisch nachvollziehbare Verortung der Handlung in einer konkreten Gegend oder Stadt«, ein ausgeprägtes Lokalkolorit, die Verwendung von Dialekten, die Darstellung von regionalspezifischen Mentalitäten und einen starken »regionale[n] Wiedererkennungseffekt«62, übernimmt. Außerdem verwendet Heim zweitens wie der anspruchsvolle zeitgenössische Kriminalroman »ein bemerkenswertes Repertoire modernistischer, zum Teil wohl auch postmoderner Modelle und Techniken«, wie »Fragmentierung der Fabel, Multiperspektivik und Wechsel der Zeitebenen wie der grammatischen Tempora«, sowie verschiedene Arten der Bewusstseinsdarstellung, »das Spiel mit Fiktionalität und (echtem/fingierten) Dokument«63, um nur einige zu nennen.64 Darüber hinaus gehört zur Gattung des Kritischen Regionalkrimis, wie hier gezeigt werden sollte, drittens ein hochkomplexes Feld von intertextuellen Verweisungszusammenhängen. Dadurch wird der Fiktionalitätscharakter des Textes betont. Intertextualität etabliert ein Gespräch von Büchern mit anderen Büchern und der Bezug zur außertextuellen Realität wird abgeschwächt, wodurch ein gewisser Verfremdungseffekt entsteht. Im herkömmlichen Regiokrimi dagegen wird einem vorschnellen Schluss auf den scheinbaren Realismus der Texte Vorschub geleistet. Im Kritischen Regionalkrimi ist viertens ein Element der Gesellschaftskritik vorrangig, das sich im Fall von Glücklich ist, wer nicht vergißt als Mahnung an die Erinnerung an die Verbrechen der Vergangenheit und die wichtige Rolle des Gedächtnisses bei der Gestaltung einer menschenwürdigen Gesellschaft manifestiert. Und last but not least erscheint fünftens die Provinz, die Heimat, die Region im Kritischen Regionalkrimi gemäß den Vorgaben einer kritischen Regionalität als Topographie des Schreckens, die auch und gerade im Regionalen das »Grauen« (G, 105) ausmacht, von dem Glücklich ist, wer nicht vergißt so beredt Auskunft gibt. UtaMaria Heim kann als eine der am genausten beobachtenden und reflektierenden Autorinnen des Kritischen Regionalkrimis betrachtet werden. Andere Autoren und Autorinnen, die ein ähnliches Projekt in ihrem Schreiben verfolgen, sind Max Annas, Andrea Maria Schenkel, Ulrich Ritzel, Friedrich Ani, Oliver Bottini, 62 Vgl. Bartl, Andrea: Kriminalliteratur seit der Mitte des 20. Jahrhunderts. In: Düwell, Susanne/ Bartl, Andrea/Hamann, Christof/Ruf, Oliver (Hg.): Handbuch Kriminalliteratur. Theorien, Geschichte, Medien. Stuttgart: J.B. Metzler 2018, S. 326–349, hier S. 342. 63 Vogt, Jochen: Verriegelte Vergangenheit, S. 82. Vgl. dazu auch Vogt, Jochen: Regionalität und Modernisierung, S. 35. 64 Gute Beispiele dafür in Glücklich ist, wer nicht vergißt sind die zunächst rätselhaft erscheinenden kursiv gedruckten Abschnitte am Anfang jedes Großkapitels und auch das komplexe Geflecht von Motiven und Leitmotiven um die Begriffe »Amsel«, »Apfel«, »Axt«, »Feuer«, auf die hier aus Raumgründen nicht eingegangen werden konnte.

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Robert Hültner, Jörg Juretzka, Bernhard Jaumann und Veit Heinichen. Es könnte sich lohnen, auch bei ihnen die Schreibweisen und Strategien des Kritischen Regionalkrimis zu untersuchen.

Literatur Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt (M.): Suhrkamp 1951. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: C.H. Beck 2006. Bartl, Andrea: Kriminalliteratur seit der Mitte des 20. Jahrhunderts. In: Düwell, Susanne/ Bartl, Andrea/Hamann, Christof/Ruf, Oliver (Hg.): Handbuch Kriminalliteratur. Theorien, Geschichte, Medien. Stuttgart: J.B. Metzler 2018, S. 326–349. Böll, Heinrich: Frankfurter Vorlesungen. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1968. Bonter, Urszula: Stadt-Land-Mord. Einige Bemerkungen zu den aktuellen deutschen Regionalkrimis. In: Parra-Membrives, Eva/Brylla, Wolfgang (Hg.): Facetten des Kriminalromans. Ein Genre zwischen Tradition und Innovation. Tübingen: Narr 2015, S. 91– 101. Brecht, Bertolt: Über die Popularität des Kriminalromans. In: Brecht, Bertolt: Schriften zur Literatur und Kunst 3: 1934–1956. Frankfurt (M.): Suhrkamp 1967, S. 93–102. Celan, Paul: Ausgewählte Gedichte. Nachwort von Beda Allemann. Frankfurt (M.): Suhrkamp 1968. Doyle, Arthur Conan: Die Blutbuchen. In: Doyle, Arthur Conan: Die Abenteuer des Sherlock Holmes. Übers. von Gisbert Haefs. Frankfurt (M.)/Leipzig: Insel Verlag 2007, S. 384–421. Doyle, Arthur Conan: The Adventure of the Copper Beeches. In: Doyle, Arthur Conan: The Adventures of Sherlock Holmes. Oxford: Oxford University Press 1998, S. 270–296. Fontane, Theodor: Briefe an Georg Friedländer. Mit einem Essay von Thomas Mann. Hg. von Walter Hettche. Frankfurt (M.)/Leipzig: Insel Verlag 1994. Geppert, Hans Vilmar: Der »andere« historische Roman. Theorie und Strukturen einer diskontinuierlichen Gattung. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1976. Heim, Uta-Maria: »Postmodern« – wieso? Fred Breinersdorfers Neuer Deutscher Krimi. In: »Die Horen« 31.4 (1986), S. 82–86. Heim, Uta-Maria: Glücklich ist, wer nicht vergißt. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2000. Hoffmeyer, John W.: Poetics of History, Logics of Collapse: On Heidegger’s Hölderlin. In: »The German Quarterly« 93.3 (2020), S. 374–389. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Gedichte. Hg. von Jochen Schmidt. Frankfurt (M.): Deutscher Klassiker Verlag 2005. Huppert, Hugo: »Spirituell«. Ein Gespräch mit Paul Celan. In: Hamacher, Werner/Menninghaus, Winfried (Hg.): Paul Celan. Frankfurt (M.): Suhrkamp 1988, S. 319–324. Kniesche, Thomas: Einführung in den Kriminalroman. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2015. Komfort-Hein, Susanne: Intertextualität. In: Drügh, Heinz/Komfort-Hein, Susanne/Kraß, Andreas/Meier, Cécile/Robowski, Gabriele/Seidel, Robert/Weiß, Helmut (Hg.): Ger-

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manistik. Sprachwissenschaft – Literaturwissenschaft – Schlüsselkompetenzen. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2012, S. 186–190. Lachmann, Renate/Schama Schahadat: Intertextualität. In: Brackert, Helmut/Stückrath, Jörn (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2001, S. 678–687. Lukács, Georg: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Berlin: Cassirer 1920 [erstmals 1916]. Martínez, Matías: Dialogizität, Intertextualität, Gedächtnis. In: Arnold, Heinz Ludwig/ Detering, Heinrich (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft. München: dtv 1996, S. 430–445. Moretti, Franco: Atlas of the European Novel 1800–1900. London/New York: Verso 1998. Newton, P.M.: Crime Fiction and the Politics of Place: The Post-9/11 Sense of Place in Sara Paretski and Ian Rankin. In: Effron, Malcah (ed.): The Millennial Detective. Essays on Trends in Crime Fiction, Film and Television, 1990–2010. Jefferson, NC/London: McFarland 2011, S. 21–35. Vogt, Jochen: »Alles total groovy hier«. Oder: Wie das Ruhrgebiet im Krimi zu sich selbst kam. In: »Der Deutschunterricht« 2 (2010), S. 20–28. Vogt, Jochen: Die Spreu vom Weizen. In: »freitag« Nr. 20 vom 15. Mai 2013. Vogt, Jochen: Krimi – international. Einführung in das Themenheft. In: »Der Deutschunterricht« 2 (2007), S. 2–6. Vogt, Jochen: Modern? Vormodern? Oder Postmodern? Zur Poetik des Kriminalromans und zu seinem Ort im literarischen Feld. In: Liard, Véronique (Hg.): Verbrechen und Gesellschaft im Spiegel von Literatur und Kunst. München: Martin Meidenbauer Verlagsbuchhandlung 2010, S. 17–29. Vogt, Jochen: Regionalität und Modernisierung in der neuesten deutschsprachigen Kriminalliteratur (1990–2015). Nebst einigen Lektüreempfehlungen. In: »Germanica« 58 (2016), S. 12–39. Vogt, Jochen: Verriegelte Vergangenheit. Bodenlose Gegenwart: Über Tempusgebrauch, Redeformen, Regionalismus, Intertextualität und Sonstiges in zwei Kriminal(?)-Romanen von Uta-Maria Heim. In: Hoorn, Tanja v. (Hg.): Zeit, Stillstellung und Geschichte im deutschsprachigen Gegenwartsroman. Hannover: Wehrhahn Verlag, 2016, S. 75–95.

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Andrea Kreuter (Universität Wien)

Überlegungen zu einer Genrepoetologie des Regionalkriminalromans

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit dem seit den 1980er Jahren immer populärer werdenden Genre des Regionalkriminalromans.1 Wie Jochen Vogt ausführt, wächst gerade in einer globalisierten Welt »das Bedürfnis nach lokaler Orientierung, oder gar: nach Sicherheit in überschaubaren topographischen, sozialen oder auch kulturellen Räumen«2 und so lässt sich mittlerweile geradezu von einem Regionalkrimiboom sprechen3, bei dem nach Urszula Bonter die Region nicht lediglich Handlungsort, sondern eigener Akteur ist.4 Nach Maike Schmidt zeichnet sich der Regionalkriminalroman durch die Verbindung von Region und Krimihandlung aus.5 Dieses besondere Lokalkolorit erweist sich für die Verbrechensaufklärung als funktional und wird durch weitere geographische, historische und sprachliche Besonderheiten ergänzt.6 Aufbauend auf diesen Betrachtungen stellt der Beitrag Überlegungen zur Definition des historischen Genres des Regionalkriminalromans anhand des Mehr-Ebenen-Modells von Marion Gymnich und Birgit Neumann an.7 Dafür erfolgen zunächst Überlegungen zu den theoretischen Prämissen der Gattungsforschung und des Mehr1 Vgl. Jahn, Reinhard: Was ist ein Regionalkrimi? URL: http://krimiblog.blogspot.com/2009/09 /was-ist-ein-regionalkrimi-eine-autopsie.html / letzter Zugriff am 18. Juli 2021. 2 Vogt, Jochen: Krimi – international. Einführung in das Themenheft. In: »Der Deutschunterricht« 2 (2007), S. 2–6, hier S. 4. 3 Vgl. Bonter, Urszula: Stadt – Land – Mord. Einige Bemerkungen zu den aktuellen deutschen Regionalkrimis. In: Para-Membrives, Eva/Brylla, Wolfgang (Hg.): Facetten des Kriminalromans. Ein Genre zwischen Tradition und Innovation. Tübingen: Narr 2015, S. 91–117, hier S. 91. 4 Vgl. ebd, S. 92. 5 Vgl. Schmidt, Maike: Der historische Regionalkrimi. In: Friedrich, Hans-Edwin (Hg.): Der historische Roman. Frankfurt (M.): P. Lang 2013, S. 245–256, hier S. 246. 6 Vgl. Schmidt, Maike: Berlin-Krimis seit 2000. Von der Metropole zur Provinz. In: Para-Membrives, Eva/Brylla, Wolfgang (Hg.): Facetten des Kriminalromans. Ein Genre zwischen Tradition und Innovation. Tübingen: Narr 2015, S. 103–117, hier S. 106. 7 Vgl. Gymnich, Marion/Neumann, Birgit: Vorschläge für eine Relationierung verschiedener Aspekte und Dimensionen des Gattungskonzepts. In: Gymnich, Marion/Neumann, Birgit/ Nünning, Ansgar (Hg.): Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Trier: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 2007, S. 31–51.

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Andrea Kreuter

Ebenen-Modells. Es werden sodann die letzten drei Ebenen des Modells genauer betrachtet, um mit der ersten, der textuellen Ebene, und der Analyse der Primärtexte abzuschließen. Das Textkorpus zur Veranschaulichung der aufgestellten Thesen bilden die Romane Hüttengaudi von Nicola Förg8, Verschwörung beim Heurigen von Paul Grote9, Erntedank von Volker Klüpfl und Michael Kobr10, Böser Wolf 11, Die Lebenden und die Toten12 sowie Muttertag13 von Nele Neuhaus, Sonnendeck von Gisa Pauly14 und für eine genauere Betrachtung Steirerquell von Claudia Rossbacher.15 Die Auswahl erfolgte im Hinblick auf eine möglichst große Abdeckung der Regionalkrimilandschaft in Deutschland und Österreich sowie eine prototypische Ausprägung der verschiedenen Erscheinungsformen des Genres: vom heiteren italienisch-deutschen Ermittlerduo im Norden über den starken Fokus auf die professionelle Ermittlerarbeit bei Nele Neuhaus und die beiden gemütlich bayrischen Ermittlerteams zum unfreiwilligen Amateurermittler an den Neusiedlersee und dem Wienerisch-Steirischen Ermittlerduo.

Gattung oder Genre. Wissen schaffen in der Begriffsanarchie Der Fokus dieses Beitrags bildet erste Überlegungen zur Definition des Genres des Regionalkriminalromans, da in Rückgriff auf Harald Fricke Gattungen als »unspezifizierte[r] Oberbegriff für ganz verschiedenartige literarische Gruppenbildungen«16, die zumeist auf vollkommen unterschiedlichen Kriterien beruhen, betrachtet werden.17 Die bereits von Klaus Hempfer postulierte Begriffsanarchie innerhalb der Gattungstheorie18 ist leider keinesfalls überwunden und so werden die Begrifflichkeiten eher mit jeder Publikation neu definiert.19

8 Vgl. Förg, Nicola: Hüttengaudi. Ein Alpen-Krimi. München: Piper 2011. 9 Vgl. Grote, Paul: Verschwörung beim Heurigen. Kriminalroman. München: dtv 2007. 10 Vgl. Klüpfel, Volker/Kobr, Michael: Erntedank. Kluftingers zweiter Fall. München: Piper 2006. 11 Vgl. Neuhaus, Nele: Böser Wolf. Berlin: Ullstein 2012. 12 Vgl. Neuhaus, Nele: Die Lebenden und die Toten. Berlin: Ullstein 2015. 13 Vgl. Neuhaus, Nele: Muttertag. Kriminalroman. Berlin: Ullstein 2018. 14 Vgl. Pauly, Gisa: Sonnendeck. Ein Sylt-Krimi. München: Piper 2015. 15 Vgl. Rossbacher, Claudia: Steirerquell. Sandra Mohrs achter Fall. Messkirch: Gmeiner 2018. 16 Fricke, Harald: Norm und Abweichung, Eine Philosophie der Literatur. München: C.H. Beck 1981, S. 133. 17 Vgl. ebd. 18 Vgl. Hempfer, Klaus: Gattungstheorie. Information und Synthese. München: W. Fink 1973, S. 221.

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Bei der Definition des Genres des Regionalkriminalromans sind die Ziele und Ansprüche von Horst Steinmetz treffend auf den Punkt gebracht: »Wenn ich weiß, warum etwas wann geschieht, habe ich es als Gattung fixiert«.20 Zu bedenken ist hier der Konstruktcharakter von Gattungen21, welcher letztlich, wie Rüdiger Zymner ausführt, deren Dynamik bedingt.22 Die Ausklammerung dieser Dynamik kann, nach Steinmetz, als einer der Gründe für das Scheitern vieler Gattungssystematiken angeführt werden, die zumeist die überzeitliche Geltung ihrer Systeme beanspruchen. Es gilt zu bedenken, dass verschiedene Gattungsmerkmale im Laufe der Geschichte unterschiedliche Bedeutung erlangen und gleichzeitig bestimmte Bedeutungen durch verschiedene Merkmale evoziert werden können.23 Im Gegensatz zu anderen theoretischen Systemen der Literaturwissenschaft mit universalem Geltungsanspruch können Gattungssysteme daher lediglich historische Gültigkeit beanspruchen.24 Unter Rückgriff auf Hempfer unterscheidet der Beitrag zwischen Schreibweisen als ahistorischen Konstanten und der Gattung als deren konkrete historische Realisation.25 Als vorgelagerte Konstanten einer Gattung können sich Schreibweisen in verschiedenen Gattungen manifestieren und sind nicht auf eine reduziert. Demgegenüber können natürlich auch mehrere unterschiedliche Schreibweisen eine Gattung bedingen.26 Somit ermöglicht die Differenzierung zwischen Schreibweisen und historischen Gattungen letztlich auch die Gattungsmischung.27

19 Vgl. Steinmetz, Horst: Gattungen: Verknüpfung zwischen Realität und Literatur. In: Lamping, Dieter/Weber, Dietrich (Hg.): Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Ein Symposion. Wuppertal: Bergische Universität 1990, S. 45–46. 20 Steinmetz, Horst: Gattungen, S. 52. 21 Vgl. Gymnich, Marion/Neumann, Birgit: Vorschläge für eine Relationierung verschiedener Aspekte und Dimensionen des Gattungskonzepts, S. 32; Gymnich, Marion: Gattungshistoriographische Ordnungsmuster. In: Zymner, Rüdiger (Hg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart: J.B. Metzler 2010, S. 140–142, hier S. 140; Zymner, Rüdiger: Gattungstheorie. Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft. Paderborn: Mentis 2003, S. 33; Zymner, Rüdiger: Zur Gattungstheorie des ›Handbuches‹. Zur Theorie der Gattungstheorie und zum »Handbuch Gattungstheorie«. Eine Einfu¨hrung. In: Zymner, Rüdiger (Hg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart: J.B. Metzler 2010, S. 1–5, hier S. 4; Zymner, Rüdiger: Gattungen. In: Zymner, Rüdiger/Hölter, Achim (Hg.): Handbuch Komparatistik. Stuttgart: J.B. Metzler 2013, S. 100– 104, hier S. 100. 22 Vgl. Zymner, Rüdiger: Schwankende Gestalten. Zur Theorie einer transkulturellen Gattungsgeschichte. In: »Colloquium Helveticum« 40 (2009), S. 185–198, hier S. 193. 23 Vgl. Steinmetz, Horst: Gattungen, S. 56–57. 24 Vgl. ebd., S. 59–60. 25 Vgl. Hempfer, Klaus: Gattungstheorie, S. 21. 26 Vgl. ebd., S. 27–28. 27 Vgl. ebd., S. 58; Zymner, Rüdiger: Gattungstheorie, S. 48.

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Dieter Lamping gibt allerdings zu bedenken, dass das Konzept der Gattung als historische Konkretisierung einer Schreibweise insofern problematisch ist, als nicht alle Gattungsbegriffe Strukturbegriffe darstellen, sondern verschiedene Dimensionen zur Gattungsdefinition herangezogen werden können bspw. die Form im Rahmen des Sonetts oder das Thema im Regionalkriminalroman.28 Lamping spricht sich daher für eine dreifache Auffächerung des Gattungsbegriffes aus. Beginnend mit der Schreibweise bspw. der Satire, die Verssatire sodann als systematische Gattung und die französische Verssatire als historische Gattung. Damit wird die Grenze zwischen Historischem und Systematischem nicht zwischen Gattung und Schreibweise, sondern zwischen Gattung und systematischer Gattung gezogen.29 Bezogen auf das Beispiel des Regionalkriminalromans erscheint diese weitere Ausdifferenzierung sinnvoll. Wenn die analytische Erzählung als Schreibweise definiert wird, die unter anderem das systematische Genre des Kriminalromans bedingt, ist es sinnvoll, diesen nicht als historisches Genre zu definieren, sondern vielmehr den klassischen englischen Rätselkrimi, den Sozialkrimi oder eben auch den Regionalkriminalroman als historische Konkretisierungen. Der Beitrag beschäftigt sich somit mit ersten Überlegungen zum historischen Genre des Regionalkriminalromans und den darin wirksamen poetogenen Strukturen. Nach Zymner zeichnen poetogene Strukturen die einzelnen Schreibweisen aus und stellen die Fundamente der Kunst dar. Poetogene Strukturen unterscheiden sich von der alltäglichen Sprachverwendung, z. B. Reimschemata im Gedicht, können aber ebenso von der Nichtkunst inkorporiert werden, und so definieren poetische Strukturen zwar das Poetische, aber nicht alles Poetische kann auch als Kunst eingeordnet werden. Bezogen auf die Gattungstheorie besteht nun allerdings die Möglichkeit, dass sich poetogene Strukturen und Schreibweisen als zentrale Bausteine von Gattungen innerhalb ein und derselben Gattung vereinen.30 Für den Regionalkriminalroman ist somit anzunehmen, dass spezifische poetogene Strukturen sowohl für die Schreibweise der analytischen Erzählung als auch die verschiedenen weiteren Ausdifferenzierungen charakteristisch sind. Die Schreibweise der analytischen Erzählung zeichnet sich bspw. durch die Hysteron-Proteron-Konstruktion aus, was innerhalb des historischen Genres des Regionalkriminalromans durch die Verwendung regionaler sprachlicher Varietäten ergänzt wird.

28 Vgl. Lamping, Dieter: Probleme der neueren Gattungstheorie. In: Lamping, Dieter/Weber, Dietrich (Hg.): Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Ein Symposion. Wuppertal: Bergische Universität 1990, S. 9–43, hier S. 20–22. 29 Vgl. ebd., S. 23. 30 Vgl. Zymner, Rüdiger: Gattungstheorie, S. 150–151, 186–190.

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Komponenten eines gattungsspezifischen Kompaktbegriffes Die Basis für die Überlegungen zum historischen Genre des Regionalkriminalromans bildet das Mehr-Ebenen-Modell von Gymnich und Neumann, welches die heterogenen Ansätze der Gattungstheorie systematisch zueinander in Bezug setzen möchte.31 Das Mehr-Ebenen-Modell umfasst dabei vier Dimensionen: Innerhalb der textuellen Dimension werden inhaltliche und formale Gattungselemente anhand strukturalistischer und semiotischer Ansätze ermittelt. Die kulturell-historische Dimension legt den Fokus auf erinnerungswissenschaftliche Erkenntnisse und die Gattungsgeschichte, während die individuell-kognitive Dimension kognitive Ansätze der Gattungstheorie berücksichtigt. Die funktionale Dimension schließlich beschäftigt sich auf übergeordneter Ebene bspw. mit feministischen, postkolonialen oder auch institutionsgeschichtlichen Ansätzen. Zwischen den verschiedenen Ebenen sind Überschneidungen bzw. Interaktionen möglich, und erst wenn alle vier innerhalb einer Gattungsdefinition und Geschichtsschreibung berücksichtigt werden, lässt sich nach Gymnich und Neumann vom Kompaktbegriff ›Gattung‹ sprechen.32

Die kulturell-historische Dimension Nach Gymnich und Neumann gilt es, innerhalb der Gattungstheorie stets den historischen Entstehungskontext einer Gattung sowie deren Beziehungen sowohl auf der synchronen als auch der diachronen Achse zu berücksichtigen.33 Auf der synchronen Achse können Gattungen nach Wilhelm Voßkamp (im Anschluss an Niklas Luhmann) als literarische Antworten auf gesellschaftliche Bedürfnisse definiert werden. Diese sind je nach Epoche unterschiedlich ausgeprägt und bedingen damit auch die Geltungsdauer und das Verschwinden von Gattungen, wobei es Gattungen nicht lediglich obliegt, Bedürfnisse zu befriedigen, sondern sie selbige ebenso zu kreieren vermögen.34 Im Rahmen der Bedürfnisbefriedigung erfüllen literarische Gattungen Funktionen, sind aber nach Voßkamp nicht

31 Vgl. Gymnich, Marion/Neumann, Birgit: Vorschläge für eine Relationierung verschiedener Aspekte und Dimensionen des Gattungskonzepts, S. 32. 32 Vgl. ebd., S. 34–35. 33 Vgl. ebd., S. 38–39. 34 Vgl. ebd., S. 39–40; Gymnich, Marion: Bedürfnissynthese, -erweiterung und -produktion. In: Zymner, Rüdiger (Hg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart: J.B. Metzler 2010, S. 131–132, hier S. 131.

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auf eine davon beschränkt und zeichnen sich darüber hinaus durch eine diskontinuierliche Funktionsgeschichte aus.35 Bezogen auf das historische Genre des Regionalkriminalromans stellt sich hier die Frage, welche Funktionen im Vergleich zu anderen Ausprägungen des systematischen Genres des Kriminalromans erfüllt werden, oder ob das Genre Funktionen befriedigt, die vormals durch andere Genres bedient wurden, bspw. Identitätsfragen36 und das Thema ›Heimat‹, die ihn als Fortsetzung der Heimatliteratur erscheinen lassen.37 Nach Gymnich und Neumann lassen sich Gattungen als kulturelle Deutungsschablonen bezeichnen, welche internalisierte Schemata bedingen können, denn: Nicht nur individuelle Lebensgeschichten werden nach Maßgabe kulturell etablierter Gattungsmuster konstruiert und vermittelt; vielmehr fungieren bestimmte Gattungsmuster auch als zentrales Verständigungsmuster über die Besonderheiten bzw. Sinnbedürfnisse von Kulturen.38

Daher sind sowohl kulturelle als auch inhaltliche Gattungsmerkmale präformiert, und eine Veränderung dieser kulturellen Merkmale führt zu einer Metaisierung der Gattung39, was häufig mit der »Reflexion zuvor unhinterfragter und kulturell normalisierter Wissensstrukturen und Grundannahmen einhergeht.«40 Einer Gattungsbestimmung obliegt es daher, dieses Wechselverhältnis von Literatur, Kultur und »kulturell normierte[r] Interpretationsschablonen für individuelle Erfahrungen«41 sowie spezifischer Sinnstiftungsmuster entsprechend zu berücksichtigen. Einen weiteren zentralen Punkt der Verortung von Gattungen innerhalb des kulturellen Systems stellt daher deren Interaktion mit anderen koexistenten Gattungen sowie im Medienverbund dar. Wie Gabriela Holzmann in ihren Betrachtungen zu Schaulust und Verbrechen ausführt, zeichnen sich bereits die frühen Kriminalfilme der 1920er und 1930er Jahre durch eine starke Rückwirkung der filmischen auf die literarische Praxis aus. Während die Literatur den Film mit Stoffen versorgt, festigt dieser die Tendenz zur Dynamisierung des Stoffes und wirkt so wiederum auf die literarische Praxis zurück, sodass sich letztlich von einer wechselseitigen Beziehung

35 Vgl. Voßkamp, Wilhelm: Gattungen als literarisch-soziale Institutionen. Zu Problemen sozialund funktionsgeschichtlich orientierter Gattungstheorie und -historie. In: Hinck, Walter (Hg.): Textsortenlehre. Gattungsgeschichte. Heidelberg: Quelle & Meyer 1977, S. 27–42, hier S. 27, 32. 36 Vgl. Schmidt, Maike: Der historische Regionalkrimi, S. 247. 37 Vgl. Jahn, Reinhard: Was ist ein Regionalkrimi? 38 Gymnich, Marion/Neumann, Birgit: Vorschläge für eine Relationierung verschiedener Aspekte und Dimensionen des Gattungskonzepts, S. 40. 39 Vgl. ebd. 40 Ebd. 41 Ebd., S. 41.

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der beiden Medien42 beziehungsweise filmischem Erzählen43 sprechen lässt. Der Regionalkriminalroman ist ebenso durch starke intermediale Bezüge geprägt. So lässt sich neben der großen Präsenz auf dem Buchmarkt mit Formaten wie den »Rosenheim-Cops« oder den Sonderkommissionen in Wismar, Potsdam, Köln, Wien oder Kitzbühel allein im ZDF ein umfassendes Angebot im TV-Programm finden. Dieses ergänzen Literaturverfilmungen bspw. die Kluftinger-Romane von Klüpfel und Kobr sowie der Roman Steirerblut von Rossbacher im Rahmen der ORF-Landkrimi-Reihe. Es ist auch in diesem Fall von einer wechselseitigen Beeinflussung und einer Verstärkung des regionalen Trends in den beiden Medien zu sprechen. Neben dieser synchronen wird im Rahmen der diachronen Achse innerhalb der kulturell-historischen Dimension die literarische Traditionslinie, also die Gattungsgeschichte, näher beleuchtet.44 Werden Gattungen, nach Voßkamp, als Antwort auf gesellschaftliche Bedürfnisse betrachtet, stehen im Rahmen der Gattungsgeschichte Institutionalisierungs- und Entinstitutionalisierungsprozesse im Mittelpunkt. Die Institutionengeschichte betrachtet geschichtliche Bedürfnissynthesen und den Umgang mit historischen Erwartungen45 im Rahmen der Literaturproduktion. Diese Kontinuitätserwartungen sind auf einen Konsens im Literatursystem zurückzuführen, und somit halten Literaturgeschichten eben diese Konsensbildungen fest, während die Entinstitutionalisierung von Gattungen quasi mit dem Vergessen gleichzusetzen ist.46 Bei ihren theoretischen Betrachtungen über das historische Ende von Gattungen sieht Gymnich die größte Überlebenschance und das beste Entwicklungspotenzial, wie sie in Rekurs auf Peter Wenzel ausführt, bei Gattungen, die sich als besonders variabel und anpassungsfähig erweisen, wie der Kriminalroman.47 Der Regionalkriminalroman ist somit als weiteres historisches Genre des systematischen Genres des Kriminalromans zu betrachten, welches durch die Anpassung an die konkrete historische Situation und damit verbundene gesellschaftliche Bedürfnisse, wie jedes andere Krimi-Subgenre, zum Fortbestand und der Weiterentwicklung des Kriminalromans beiträgt. Neben Voßkamps Konzept der Bedürfnissynthesen sieht Hans Robert Jauß die Gattungsgeschichte als kontinuierlichen Prozess der 42 Vgl. Holzmann, Gabriela: Schaulust und Verbrechen. Eine Geschichte des Krimis als Mediengeschichte. Stuttgart: J.B. Metzler 2001, S. 267–269. 43 Vgl. Brössel, Stephan: Filmisches Erzählen. Typologie und Geschichte. Berlin: Walter de Gruyter 2014. 44 Vgl. Gymnich, Marion/Neumann, Birgit: Vorschläge für eine Relationierung verschiedener Aspekte und Dimensionen des Gattungskonzepts, S. 41–43. 45 Vgl. Voßkamp, Wilhelm: Gattungen als literarisch-soziale Institutionen, S. 29–32. 46 Vgl. Gymnich, Marion: Institution/Institutionalisierung. In: Zymner, Rüdiger (Hg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart: J.B. Metzler 2010, S. 148–149. 47 Vgl. Gymnich, Marion: Theorien des historischen Endes von Gattungen. In: Zymner, Rüdiger (Hg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart: J.B. Metzler 2010, S. 154–155, hier S. 154.

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Identitätsstiftung48, was zur nächsten Ebene des Modells, der individuell-kognitiven Dimension, führt.

Die individuell-kognitive Dimension Als Verknüpfung zwischen der textuellen und der kulturell-historischen Dimension ermittelt die individuell-kognitive Dimension den gesellschaftlich spezifischen Rezeptionskontext von Gattungen. Dieser setzt bei der Leserschaft bestimmte Vorkenntnisse und Erwartungen im Sinne eines kulturellen Wissens voraus. In Bezug auf die kognitive Narratologie und die Forschungen von Jonathan Culler führen Gymnich und Neumann aus, dass die Leser:innen versuchen, die textuelle Ebene mit dem eigenen Weltmodell in Einklang zu bringen, also das Fremde im Text zu reduzieren und die Inhalte in bestehende kognitive Strukturen einzugliedern. Diese spezifischen Erwartungen der Leser:innen werden kognitiv in so bezeichneten Schemata verankert.49 Der Erwartungshorizont bei der Interpretation von Texten und Gattungen50 und die Entwicklung von Gattungsschemata – oder nach Roland Barthes der hermeneutische Code einer Gattung51–, die kognitive Verankerung dieser Schemata oder Skripts52 sowie deren Verarbeitung und damit Einflussnahme auf die Leser:innenpräferenz53 werden stark mit der Konstanzer Rezeptionsästhetik und Jauß verknüpft.54 In seinem Aufsatz zur Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters wird die

48 Vgl. Zymner, Rüdiger: Gattungstheorie, S. 197–204. 49 Gymnich, Marion/Neumann, Birgit: Vorschläge für eine Relationierung verschiedener Aspekte und Dimensionen des Gattungskonzepts, S. 45. 50 Baßler, Moritz: Interpretation und Gattung. In: Zymner, Rüdiger (Hg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart: J.B. Metzler 2010, S. 54–56, hier S. 54; Beilein, Matthias: Wertung und Gattung. In: Zymner, Rüdiger (Hg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart: J.B. Metzler 2010, S. 77–79, hier S. 77. 51 Baßler, Moritz: Interpretation und Gattung, S. 54–56. 52 Vgl. Till, Dietmar: Konvention und Gattung. In: Zymner, Rüdiger (Hg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart: J.B. Metzler 2010, S. 73–75, hier S. 73. 53 Vgl. Rautenberg, Ursula: Textrezeption und Gattung. In: Zymner, Rüdiger (Hg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart: J.B. Metzler 2010, S. 99–102, hier S. 100–101. 54 Hempfer weist allerdings darauf hin, dass bereits Hugo Kuhn 1956 anhand der mittelhochdeutschen Dichtung den Entwurf einer soziologischen Gattungstheorie vorstellte und ebenso den Fokus auf rezeptionsästhetische Verfahren legte. Die kommunikative Funktion von Gattungen wurde bereits in hermeneutischen Arbeiten betont, und in vielen linguistisch beeinflussten Arbeiten auf kommunikativ-zeichentheoretischer Basis ist die Idee des Einflusses literarischer Gattungen auf Produktion und Rezeption präsent, welche sodann von Jauß systematisiert wurde (vgl. Hempfer, Klaus: Gattungstheorie. Information und Synthese, S. 87–92).

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soziale Funktion als Basis seiner Gattungstheorie definiert55 und die Erwartungshaltung der Leser:innen56 betont. Jauß weist des Weiteren auf die stete Notwendigkeit hin, bei der Funktionsbestimmung von Gattungen sowohl die synchronen als auch die diachronen Zusammenhänge innerhalb der Gattungsmatrix entsprechend zu berücksichtigen. Denn so können spezifische Funktionen gegebenenfalls durch andere Genres übernommen werden.57 Die Bezüge zur kulturell-historischen Dimension werden an dieser Stelle überdeutlich. Denn auch wenn der Fokus hier auf dem individuellen Rezeptionskontext liegt, ist dieser immer auch kulturell und historisch determiniert. Bestimmte favorisierte Themen oder narrative Phänomene sowie die spezifische Bedeutungszuweisung, also die jeweilige Semantisierung gattungsspezifischer textueller Elemente und Strukturen, variieren daher innerhalb der Gattungsgeschichte. Bei der Erfüllung gesellschaftlicher Bedürfnisse sind, laut Voßkamp, die entsprechenden Erwartungen der Rezipient:innen miteinzubeziehen.58 In Rekurrenz auf Ergebnisse aus der narrativen Psychologie59 führen Gymnich und Neumann aus, dass Gattungsmuster im Zuge der Sinnstiftung und Standardisierung traumatischer Erfahrungen von besonderer Relevanz sind60, und resümieren: Gattungen halten Interpretationsschablonen für Erfahrungen bzw. Entwicklungsverläufe bereit, die Vorannahmen über bestimmte Situationen, Ereignisse oder Gegenstände enthalten und festlegen, welche Verhaltensweisen, welche Werte, Gefühle oder Denkweisen in einer bestimmten Kultur erwünscht und wie diese narrativ vermittelbar sind.61

55 Vgl. Jauss, Hans Robert: Theory of Genres and Medieval Literature. In: Duff, David (Hg.): Modern Genre Theory. Longman Critical Readers. Harlow: Longmann 2000, S. 127–147, hier S. 128. 56 Vgl. ebd., S. 131. 57 Vgl. ebd., S. 140–141. 58 Vgl. Voßkamp, Wilhelm: Gattungen als literarisch-soziale Institutionen, S. 32. 59 Gymnich und Neumann beziehen sich hier auf die Publikationen von Jerome Bruner, welcher den Begriff der narrativen Psychologie hinsichtlich der Realitätskonstruktion charakterisierte (vgl. Bruner, Jerome: The Narrative Construction of Reality. In: »Critical Inquiry« 1 (1991), S. 1–21; Bruner, Jerome: Life as Narrative. In: »social research« 3 (2004), S. 691–710). Siehe David Rumelhart, welcher sich mit der kognitiven Verarbeitung von Geschichten beschäftigte (vgl. Rumelhart, David: On Evaluating Story Grammars. In: »Cognitive Science« 4 (1980), S. 313–316; Rumelhart, David: Schemata: The Building Blocks of Cognition. In: Spiro, Rand J./ Bruce, Bertram C./Brewer, William F. (Hg.): The Psychology of Reading. Theoretical Issues in Reading Comprehension. Hillsdale: Lawrence Erlbaum 1980, S. 33–58), sich mittlerweile aber dem Forschungsfeld der künstlichen Intelligenz zugewandt hat, und Jens Brockmeier, welcher den Begriff der narrativen Psychologie in Bezugnahme auf das autobiografische Erzählen prägte (vgl. Brockmeier, Jens/Carbaugh, Donald (Hg.): Narrative and Identity. Amsterdam: John Benjamins 2001). 60 Vgl. Gymnich, Marion/Neumann, Birgit: Vorschläge für eine Relationierung verschiedener Aspekte und Dimensionen des Gattungskonzepts, S. 46. 61 Vgl. ebd.

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Als so bezeichnete psychological genres, nach Jerome Bruner62, stellen Gattungen einen Teilbereich des impliziten Wissens dar, welcher im Zuge der Sozialisation erworben wird.63 Neben der Kommunikation über Literatur gilt es, sich innerhalb dieser Dimension der Frage anzunähern, welche Beziehungen zwischen Literatur, in diesem Fall dem Regionalkriminalroman, und der menschlichen Erfahrungswelt, insbesondere der Konstruktion und Rekonstruktion von Identität bestehen, oder in den Worten Jerome Bruners »how, in particular instances, narrative organizes the structure of human experience-how, in a word, ›life‹ comes to imitate ›art‹ and vice versa.«64

Die funktionale Dimension Die vierte Dimension des Modells ist auf einer übergeordneten Ebene zu situieren und integriert die drei vorhergehenden Dimensionen. Der Fokus liegt dabei auf der bereits häufiger erwähnten Funktion von Gattungen. Als kulturwissenschaftlicher Aspekt der Gattungsanalyse ist diesbezüglich ein generelles Spannungsverhältnis zwischen dem Begriffspaar Gattung und Funktion zu beobachten, und als Ziel kann die Bestimmung der Bedürfnissynthesen nach Voßkamp formuliert werden.65 Somit ist die Betrachtung des Institutionscharakters ebenfalls in dieser Dimension zu situieren66, wobei gilt: Die Funktionsgeschichte von Gattungen wird damit zur Kulturgeschichte, der es ebenso um die Historizität von symbolischen Formen und Inhalten wie um Normen und Kollektivvorstellungen geht, die durch das heterogene Zusammenspiel von Gattungen, Medien, kulturellen Praktiken und Institutionen generiert werden.67

Es stellt sich in diesem Zusammenhang auch die Frage, wem es obliegt, Gattungen zu definieren, denn wie Gymnich und Neumann ausführen, sind diese als Konzepte und Kategorien des Literaturbetriebs nicht der Literaturwissenschaft vorbehalten, sondern auch Verlage, der Handel und Autor:innen sind hier zu berücksichtigen.68 Beim Regionalkriminalroman treten gerade die Verlage mit einer starken Systematisierung oder nach Marc Reichwein Etikettierung bzw.

62 63 64 65 66

Vgl. ebd. Vgl. ebd. Bruner, Jerome: The Narrative Construction of Reality, S. 21. Vgl. Voßkamp, Wilhelm: Gattungen als literarisch-soziale Institutionen, S. 32. Vgl. Gymnich, Marion/Neumann, Birgit: Vorschläge für eine Relationierung verschiedener Aspekte und Dimensionen des Gattungskonzepts, S. 47. 67 Ebd. 68 Vgl. ebd., S. 32.

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Labeling69 in Erscheinung, so dass Verbraucher:innen zwischen Weihnachtskrimis, Küstenkrimis, Urlaubskrimis, Jagdkrimis, Campingkrimis oder auch Zahnarztkrimis70 wählen können. Gymnich und Neumann führen aus, dass ebenso die Literaturkritik Anhaltspunkte zur Gattungszuordnung bereithalten kann. An dieser Stelle ist anzumerken, dass diese neben der traditionellen Literaturkritik im Feuilleton ebenso in spezialisierten Foren und innerhalb spezifischer Formate ausgeführt wird und auch innerhalb des Werbeapparates von Literatur zu situieren ist.71 Darüber hinaus sind neben professionellen Literaturkritiker:innen zunehmend interessierte Laienkritiker:innen aktiv, welche Bewertungen nicht lediglich in Zeitungen und Zeitschriften, sondern auch innerhalb von Kund:innenbewertungen, bspw. beim Internetgroßhändler Amazon, vornehmen.72 Auf der funktionalen Ebene ist es nun möglich, diesen Diskurs im Sinne einer umfassenderen kulturtheoretischen Perspektive zu berücksichtigen. Kaiser gibt an dieser Stelle zu bedenken, dass Gattungen nie isoliert betrachtet werden können, sondern immer an einer Mehrzahl von Systemen teilnehmen.73 Bonter führt aus, wie ein entsprechendes Marketing bei den Ostfriesenkrimis von Klaus-Peter Wolf umgesetzt wurde und schließlich auch auf die textuelle Gestaltung zurückwirkte. Die Serie ist von Beginn an beim Fischer-Verlag erschienen und als Sinnbild Ostfrieslands stilisiert. Zunächst über Paratexte wie eine Ostfrieslandkarte auf der Coverinnenseite und einem entsprechenden Foto des Autors als ostfriesischer Seewolf erfolgte eine Ergänzung durch regionale Symbole wie Seesterne, Robben und Muscheln als Kapiteltrennern und weiter über eine entsprechende Beilage im »Ostfriesland-Magazin«. Zudem sind mittlerweile T-Shirts, Pullis, Tassen und Regenschirme mit einschlägigen Sätzen aus den Romanen erhältlich. Allerdings wirkt nicht lediglich die Romanserie auf die Lebenswelt der Leser:innen ein, sondern dadurch, dass der Chefredakteur des »Ostfriesland-Magazins« Holger Bloem in die Romanserie inkorporiert wird, kommt es zudem zu einer Vermischung von Realität und Fiktion74, was Schmidt 69 Vgl. Reichwein, Marc: Diesseits und jenseits des Skandals. Literaturvermittlung als zunehmende Inszenierung von Paratexten. In: Neuhaus, Stefan/Holzner, Johann (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, S. 89–99, hier S. 95. 70 Vgl. URL: https://www.emons-verlag.de/programm/krimis / letzter Zugriff am 23. Februar 2021. 71 Vgl. Hagestedt, Lutz: Literaturkritik und Gattung. In: Zymner, Rüdiger (Hg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart: J.B. Metzler 2010, S. 92–94, hier S. 92–93. 72 Vgl. Neuhaus, Stefan: Vom Anfang und Ende der Literaturkritik. Das literarische Feld zwischen Autonomie und Kommerz. In: »literaturkritik.de« 2 (2015). URL: http://literaturkri tik.de/id/20276 / letzter Zugriff am 23. Februar 2021. 73 Vgl. Kaiser, Gerhard: Zur Dynamik literarischer Gattungen, S. 61–62. 74 Vgl. Bonter, Urszula: Stadt – Land – Mord, S. 93.

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als typisches Charakteristikum des Regionalkriminalromans beschreibt75, und in den nun folgenden Betrachtungen der textuellen Dimension näher ausgeführt wird.

Die textuelle Dimension Innerhalb der ersten Ebene des Modells werden Texte aufgrund formaler und inhaltlicher Merkmale intersubjektiv nachvollziehbar differenziert. Mit Blick auf Ludwig Wittgensteins Konzept der Familienähnlichkeit76 unterscheiden Gymnich und Neumann, in Bezugnahme auf Ray Jackendoff zwischen konstitutiven, necessary conditions, sowie typischen Merkmalen, typical conditions77, welche wie folgt zu differenzieren sind: »Konstitutive Merkmale stellen die Voraussetzung für die Zuordnung eines literarischen Textes zu einer bestimmten Gattung dar. Typische Merkmale hingegen sind für die Zuweisung zu einer Gattung zwar nicht zwingend erforderlich, erleichtern aber die Kategorisierung erheblich«.78 Je mehr typische Merkmale in einem Text enthalten sind, desto eher kann dieser als Prototyp einer Gattung bezeichnet werden. Die Entstehung neuer Gattungen oder Subgattungen erfolgt nach Gymnich und Neumann auf Grundlage der Veränderung der konstitutiven Merkmale, während sich die Weiterentwicklung und möglicherweise auch die kritische Auseinandersetzung mit einer Gattung demgegenüber aufgrund der Abweichung von typischen Merkmalen vollziehen.79 Im Sinne der getroffenen Differenzierung zwischen poetogenen Strukturen, Schreibweisen sowie systematischem und historischen Genres ist anzunehmen, dass die Unterscheidung zwischen Letzteren vornehmlich anhand der Veränderung typischer Eigenschaften erfolgt, während bei der Transformation von der Schreibweise zum systematischen Genre die Veränderung einzelner konstitutiver Merkmale nicht ausgeschlossen ist. Als typische Eigenschaft des historischen Genres des Regionalkriminalromans gegenüber dem systematischen Genre des Kriminalromans ist zuvorderst der konstitutive Handlungsort anzuführen, welcher durch weitere typische Merkmale wie den Fokus auf die gärtnerische Tätigkeit, das Kochen und vieles mehr ergänzt werden kann. So plant beispielsweise Kommissär Hunkeler in Hunkeler und die goldene Hand von Hansjörg Schneider die Erweiterung seines Obst- und Ge-

75 Vgl. Schmidt, Maike: Berlin-Krimis seit 2000, S. 107. 76 Vgl. Zymner, Rüdiger: Gattungstheorie, S. 99. 77 Vgl. Gymnich, Marion/Neumann, Birgit: Vorschläge für eine Relationierung verschiedener Aspekte und Dimensionen des Gattungskonzepts, S. 37. 78 Ebd. 79 Vgl. ebd., S. 37–38.

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müsegartens um die Schweinehaltung80, während Kommissar Völxen in Der Tote vom Maschsee von Susanne Mischke von seinem Schafbock auf die Hörner genommen wird.81 Einen Rezeptanhang zum Nachkochen von Omas Spezialitäten finden die Leser:innen in Rita Falks Provinzkrimi Winterkartoffelknödel82, und in Föhnlage von Jörg Maurer wird der Anhang zur Zubereitung des Hoba-Gerichts durch selbigen für alle Freund:innen des bayrischen Liedgutes mit der vollständigen Fassung des Wildschütz Jennerwein abgerundet.83 Nach Dietrich Weber ist analytisches Erzählen in vielen verschiedenen Literaturformen, u. a. der Detektivgeschichte, präsent und kann als Grundmöglichkeit des Erzählens betrachtet werden. Die analytische Erzählung zeichnet sich erstens durch eine analytische Handlungskonstruktion aus, innerhalb derer eine Figur mit einem Rätsel konfrontiert wird und sich dessen Klärung annimmt. Zweitens folgt die Darstellungskonstruktion nicht der natürlichen Chronologie der Ereignisse, sondern diese werden entgegen ihrer Chronologie, also innerhalb einer Hysteron-Proteron-Konstruktion, wiedergegeben, und drittens geht es innerhalb der Mitteilungskonstruktion um ein Rätsel und dessen Lösung, welches natürlich neben den Figuren ebenso die Leser:innen beschäftigt, die das letztlich durch die Autorin oder den Autor gestellte Rätsel zu lösen suchen. Dieses Erzählschema kann nun sowohl in einer Detektivgeschichte als auch innerhalb einer klassischen Tragödie präsent sein, und während sich König Ödipus um die Aufdeckung seiner eigenen Vergangenheit bemüht, beschäftigt sich die Detektivin oder der Detektiv in der Regel mit der Lösung eines Mordes.84 Der Handlungsverlauf gliedert sich nach Weber in drei konstitutive und zwei typische Elemente. Die drei konstitutiven stellen hierbei das Wahrnehmungsund Unbestimmtheitsmoment, im Kriminalroman das Auffinden der Leiche, das analytische Moment, die Ermittlungsarbeit, und das Klärungsmoment, die Auflösung des Mordes, dar85 oder, wie bei Peter Nusser formuliert, Mord, Fahndung sowie Lösung und Täterüberführung. Die Täterüberführung bzw. die Wiederherstellung der heilen Welt als zentrales Element des systematischen Genres des Kriminalromans86 ist als sechstes Handlungselement anzufügen und wird besonders im historischen Genre des Kriminalromans oftmals durch Epiloge weiter verstärkt. In Hüttengaudi von Nicola Förg findet bspw. auch die Katze der Täterin ein neues Zuhause und die Tochter des Opfers tierische Gesellschaft. 80 81 82 83 84

Vgl. Schneider, Hansjörg: Hunkeler und die goldene Hand. Roman. Köln: Bastei Lübbe 2010. Vgl. Mischke, Susanne: Der Tote vom Maschsee. Kriminalroman. München: Piper 2008. Vgl. Falk, Rita: Winterkartoffelknödel. Ein Provinzkrimi. München: dtv 2010. Vgl. Maurer, Jörg: Föhnlage. Alpenkrimi. Frankfurt (M.): Fischer 2009. Vgl. Weber, Dietrich: Theorie der analytischen Erzählung. München: C.H. Beck 1975, S. 10, 12, 43, 81. 85 Vgl. ebd., S. 18–22. 86 Vgl. Nusser, Peter: Der Kriminalroman. Stuttgart: J.B. Metzler 2009, S. 23–31, 38–39.

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Darüber hinaus hat die Kommissarin ganz ohne Diät ihr Wunschgewicht erreicht.87 Dadurch sind nicht lediglich der Kriminalfall, sondern auch alle weiteren Probleme gelöst, und das Leben in der Idylle kann weitergehen. Die zwei typischen Handlungselemente nach Weber umfassen den Reflexmoment, im Kriminalroman das Einsetzen der Ermittlungsarbeit, welches eventuell verzögert erfolgt, und das Widerstandsmoment, also Widerstände bei der Ermittlungsarbeit, meist bedingt durch eine Gegenfigur, in der Regel die Täterin oder den Täter bzw. auch eine Erzfeindin oder einen Erzfeind. Einer der bekanntesten dürfte hier Sherlock Holmes’ Gegenüber und Gegenspieler James Moriarty sein.88 Als poetogene Struktur der analytischen Erzählung wäre unter anderem die bereits erwähnte Hysteron-Proteron-Konstruktion zu nennen, welche die Wiedergabe der Ereignisse nicht an deren wirklichen Ablauf, sondern am Erwartungshorizont der Figuren orientiert. Im Rahmen des Klärungsmomentes erfolgt sodann die Integration der Vorzeit- in die Gegenwartshandlung. Ein weiteres Charakteristikum des analytischen Erzählens ist zudem das vorübergehende mehrdeutige Erzählen, welches die Aufmerksamkeit der Leser:innen zunächst in die falsche Richtung lenkt.89 Gerade für das systematische Genre des Kriminalromans sind diese falschen Fährten oder red herrings prototypisch und werden oftmals zur Spannungssteigerung verwendet. So ist kurz vor der Rätsellösung der Detektivin oder dem Detektiv die Auflösung bereits bekannt, die Leser:innen tappen jedoch noch im Dunkeln. Eine weitere Möglichkeit zur Spannungssteigerung stellen zudem Gefahrensituationen für die Ermittler:innen dar.90 Im Gegensatz zu Nusser, der diese Zukunftsspannung dem historischen Genre des Thrillers in Abgrenzung zum historischen Genre der Detektivgeschichte zuschreibt91, wird hier die Position vertreten, dass sowohl die Rätsel- als auch die Zukunftsspannung Merkmale des systematischen Genres des Kriminalromans darstellen und daher ebenso für den Regionalkriminalroman charakteristisch sind. Dabei ist festzustellen, dass das historische Genre des Regionalkriminalromans diesbezüglich eine große Bandbreite aufweist. In Nele Neuhaus Roman Muttertag überwiegt bei der Erfassung eines Serientäters und der Befreiung zweier Geiseln die Zukunftsspannung. Die letzten 50 Seiten des Romans beschäftigen sich mit der Jagd am Frankfurter Flughafen, bei der die Kommissarin Pia Kirchhoff zudem fast von einer Boeing 747 erfasst wird.92 Demgegenüber steht bei den Ermittlungen von Kommissar Kluftinger im Roman Erntedank von 87 88 89 90 91 92

Vgl. Förg, Nicola: Hüttengaudi, S. 282–285. Vgl. Weber, Dietrich: Theorie der analytischen Erzählung, S. 19, 22, 25. Vgl. ebd., S. 27, 36, 126. Vgl. ebd., S. 100, 126, 133–134; Nusser, Peter: Der Kriminalroman, S. 26–27, 31–34, 54–56. Vgl. Nusser, Peter: Der Kriminalroman, S. 56. Vgl. Neuhaus, Nele: Muttertag, S. 538.

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Volker Klüpf und Michael Kobr die Rätselspannung im Vordergrund: Ein Serientäter wird unter Gefahr für Leib und Leben überführt. Dies gelingt allerdings in knapp zwei Seiten und erhält dadurch, dass das dringendste Anliegen des Kommissars nach Eintreffen der Verstärkung seine volle Blase ist, zudem eine gewisse Komik und Leichtigkeit.93 Bezogen auf das Figureninventar spricht Weber von der Betrachter:innenfigur, welche sich mit der Lösung des Rätsels beschäftigt und im Spezialfall der Detektivgeschichte klarerweise die enträtselnde Detektivin oder der enträtselnden Detektiv94, oder breiter gefasst, die Ermittler:innenfigur darstellt. Ebenso weist hier das historische Genre des Regionalkriminalromans eine gewisse Bandbreite auf, von den Ermittlungen innerhalb eines großen Polizeiapparates in den Romanen um Pia Kirchoff und Oliver von Bodenstein von Neuhaus95, über den etwas kleineren und familiär wirkenden Polizeiapparat um die Kommissarin Irmi Mangold von Förg oder den Sylter Kriminalhauptkommissar Erik Wolf von Gisa Pauly, der gemeinsam mit seiner Schwiegermutter, Mamma Carlotta, Verbrechen aufklärt96, bis hin zu Figuren wie Karl Breitenbach von Paul Grote, der private Ermittlungen aufnimmt, um den Verdacht von sich selbst abzulenken.97 In ihren Betrachtungen zu Krimiorten analysiert Melanie Wigbers die Romane von Jacques Berndorf um den Protagonisten Siggi Baumeister. Dieser ermittelt ausgehend von seinem Heimatdorf Brück in der Eifel und beschreibt dabei sowohl die schöne und idyllische Landschaft als auch deren Bewohnerinnen und Bewohner. Ebenso liegt ein starker Fokus auf dem Privatleben des Protagonisten und seinem geliebten Garten. Laut Wigbers ist das Handlungsumfeld hier nicht einfach austauschbar, und auch die Verbrechen können als eifelspezifisch betrachtet werden. Der Protagonist Siggi Baumeister weist eine starke emotionale Bindung zur Region auf und hat durch die gute Kenntnis und Identifikation mit derselben häufig einen Ermittlungsvorteil.98 Die emotionale Anbindung an die Region sowie der Fokus auf das Privatleben werden auch in aktuelleren Definitionen zum Regionalkriminalroman hervorgehoben. So führt bspw. Bonter aus: »Genauso wie beim Prototyp Berndorf leben alle Regionalkrimis von einem tiefen und persönlichen Verhältnis der ortskundigen Autoren zur eigenen Region.«99 Die emotionale Anbindung wird häufig an der Schönheit 93 94 95 96 97 98

Vgl. Klüpfel, Volker/Kobr, Michael: Erntedank, S. 355–357. Vgl. Weber, Dietrich: Theorie der analytischen Erzählung, S. 17–18, 25. Vgl. Neuhaus, Nele: Muttertag. Vgl. Pauly, Gisa: Sonnendeck. Vgl. Grote, Paul: Verschwörung beim Heurigen. Vgl. Wigbers, Melanie: Krimi-Orte im Wandel. Gestaltung und Funktionen der Handlungsschauplätze in Kriminalerzählungen von der Romantik bis in die Gegenwart. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 205–206, 209, 212. 99 Bonter, Urszula: Stadt – Land – Mord, S. 92.

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der jeweiligen Region verdeutlicht bspw. dem Laber in den Ammergauer Alpen in Nicola Förgs Roman Hüttengaudi: Sie war lange nicht mehr hier gewesen, und der Blick über den Soile-See, der eher eine Sumpfwiese war, und hinüber in die Felszacken war erhebend. Gedanken bergauf! Beim letzten Mal, im Hochsommer, waren in den Felsen Haflinger herumgeturnt als wären es Gämsen. Das alles waren Bilder, die man im Herzen verschließen konnte.100

In den Bergen kann Kommissarin Irmi Kraft für die Lösung des Falles und ihrer privaten Kümmernisse tanken, genauso wie sich Mamma Carlotta in Sonnendeck von Gisa Pauly an der Schönheit von List auf Sylt erfreuen kann: Im Kreisverkehr blitzte das Meer hinter der Mauer der Strandpromenade auf, blau gewellt, unter einem ebenso blauen Himmel, der mit weißen Wolken betupft war. Der Blick war hier ohne Grenzen, er konnte bis zum Horizont fliegen, wo das Meer sich mit dem Himmel verband. Mamma Carlotta begann prompt zu jubeln.101

Bisweilen weisen die Ortsbeschreibungen eine gewisse Reminiszenz an Reiseführer oder Stadtpläne auf 102, wenn es bspw. in Bezug auf das Schloss Esterházy bei Grote mit den Worten beginnt: »In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts war die ehemals gotische Burg unter Paul I. Fürst Esterházy zu einem Barockschloss umgebaut worden und hatte dem Adelsgeschlecht in den folgenden Jahrhunderten als Residenz gedient.«103 Eine persönliche Topographie von Westerland präsentiert Mamma Carlotta auf ihrer Fahrradfahrt zum Supermarkt, wenn es heißt: als sie in der Stadt ankam, umrundete sie den Norderplatz im Eiltempo, zwang sich, nicht vor den Schaufenstern des Einrichtungshauses auf der Norderstraße zu stoppen, deren Auslagen sie sich so gerne ansah, und umfuhr die nächsten Ampeln, indem sie vom Radweg auf den Bürgersteig auswich und damit die Privilegien der Fußgänger zu ihren eigenen machte. Das Hotel Stadt Hamburg ließ sie rechts liegen, die Sparkasse auch, die folgende Ampel, die dafür sorgte, dass die Fußgänger sicher aus der Friedrichstraße herauskamen, überflog sie so schnell, dass die Passanten, die dort warteten, erschrocken zurücksprangen. Dann bog sie am Technikhaus Jensen links ab und fuhr den kopfsteingepflasterten Weg an der Kirche vorbei. Nun konnte sie auf der anderen Straßenseite den Bahnhof erkennen. Sie überquerte die Straße und war im Nu an dem großen Supermarkt angekommen.104

Ist die Wegbeschreibung hier noch mit einer rasanten Fahrradfahrt verbunden, wird dennoch deutlich, wie diese auch zu einer reinen Aufzählung von Straßennamen und Ortsmerkmalen geraten kann und wie damit die obigen Aus100 101 102 103 104

Förg, Nicola: Hüttengaudi, S. 178. Pauly, Gisa: Sonnendeck, S. 10–11. Vgl. Jahn, Reinhard: Was ist ein Regionalkrimi? Grote, Paul: Verschwörung beim Heurigen, S. 16. Pauly, Gisa: Sonnendeck, S. 58–59.

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führungen zum Schloss Esterházy, wenn sie nicht mit dem Erleben des Protagonisten verbunden sind, irgendwann austauschbar und lediglich seitenfüllend werden. Wie Schmidt betont, führt die starke Verwendung von Authentizitäts- und der Verzicht auf entsprechende Fiktionalitätssignale im Regionalkriminalroman zur bewussten Unkenntlichmachung des Unterschiedes zwischen fiktiver und realer Region105 und »dieses Spiel mit Authentizitäts- und Fiktionssignalen regt u. a. eine Beschäftigung mit der Konstruktion von Identitäten an – sowohl inner- als auch außerliterarisch.«106 Für das historische Genre des Regionalkriminalromans lässt sich festhalten, dass die emotionale Anbindung an die, mit mehr oder weniger Fiktionalitätssignalen ausgestattete, Region ein konstitutives Genremerkmal darstellt, die allerdings häufig in Abgrenzung gegenüber anderen ausgedrückt wird. Bei der Region kann es sich sowohl um eine Metropolregion wie bei Neuhaus als auch den ländlichen Raum wie bei Kommissar Kluftinger handeln. Die Abgrenzung wiederum kann im engeren geografischen Umfeld erfolgen wie bei Förg zwischen dem Werdenfels und dem Allgäu, über die Unterschiede zwischen dem Schwäbischen und dem Burgenland bei Grote bis hin zu den verschiedenen Gepflogenheiten auf Sylt und in Umbrien, über die Mamma Carlotta viel zu berichten weiß: Die Weite, die Sonne, der kühle Wind, all das, was Sylt ausmachte und was sie inzwischen lieben gelernt hatte, gab es hier im Übermaß. Mamma Carlotta fragte sich nicht, warum es trotz der vielen Menschen so still war, warum der Akkordeonspieler durch die Reihen ging, ohne das jemand mitsang oder zu seiner Musik tanzte, und Fremde nebeneinander saßen, ohne sich bekannt zu machen und darüber zu debattieren, welche Zutaten der Koch für das Scampi-Risotto verwendet hatte. Sie wusste mittlerweile, dass die Deutschen anders waren als ihre Landsleute, erst recht die Norddeutschen, die wie Erik schmerzhaft das Gesicht verzogen, wenn in ihrer Gegenwart laut gelacht wurde. Aber schön war es hier trotzdem.107

Trotz aller Unterschiede verstehen sich Mamma Carlotta und Erik und lösen erfolgreich eine ganze Reihe von Kriminalfällen. Eine relativ typische Situation innerhalb des Polizeiapparates bildet die Versetzung einer Polizeibeamtin oder eines Polizeibeamten in eine andere Region oder auch zurück in die Heimatregion. Dadurch werden, abgesehen von den individuellen Gedankengängen der Protagonist:innen über die Schönheit ihrer Heimat, die Beschreibungen und Erläuterungen auch durch die Figurenkonstellation angeregt, indem Ortsfremden die Vorzüge oder Besonderheiten erläutert werden müssen. In der Serie von 105 Vgl. Schmidt, Maike: Berlin-Krimis seit 2000, S. 107. 106 Ebd., S. 107. 107 Pauly, Gisa: Sonnendeck, S. 14–15.

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Claudia Rossbacher um die Steirer Kommissarin Sandra Mohr und ihren Wiener Vorgesetzten Sascha Bergmann bieten sich allein durch die Figurenkonstellation Erklärungsansätze für die Besonderheiten der Steiermark, bspw. dem »›B’soffenen Türk‹« in Fürstenfeld108, aber auch Reibungspunkte, denn »was wusste ein zugezogener Wiener schon von Trachtenmode?«109 Für das historische Genre des Regionalkriminalromans gilt es, dass die emotionale Anbindung an eine Region nicht unweigerlich über Orts- und Landschaftsbeschreibungen erfolgt. Diese bilden ein typisches Motiv, welches durch andere typische Motive, wie etwa sprachliche110 oder kulinarische Besonderheiten111 ergänzt werden kann. Wie Schmidt ausführt, werden im Regionalkriminalroman Paratexte, bspw. Karten, Glossare oder auch Kochrezepte, zur leichteren Einordnung der Romanhandlung verwendet.112 Ebenso im Roman von Pauly ist den Leser:innen die italienische Küche von Mamma Carlotta in einem Rezeptanhang zum Nachkochen aufbereitet.113 Bei Rossbacher ist wiederum ein Glossar angefügt, welches den Leser:innen die österreichischen und steirischen Ausdrücke erläutert, unter anderem »Feschak« für gut aussehenden Mann oder »verkutzt« für verschluckt.114 Je nach Interesse können weitere Motive aus dem Privatleben wie Gartengestaltung115 oder auch Weinbau wie bei Grote und natürlich Haustiere wie in den Romanen von Neuhaus oder Förg eingebunden werden. In Hüttengaudi begleiten die Leser:innen die Kommissarin Irmi bei der Einschläferung ihrer geliebten Hündin Wally.116 Diese Motive sind natürlich stark mit den Protagonist:innen selbst und deren Privatleben verbunden, welches, wie Wigbers ausführt, nicht lediglich bei Berndorf im Fokus steht, sondern zunehmend an Bedeutung gewinnt117 oder wie Bonter betont, teils wichtiger erscheint als die Aufklärung des Kriminalfalls.118 Dies ist nur folgerichtig, denn die emotionale Anbindung wäre kaum zu verdeutlichen, wenn die Protagonist: innen lediglich schablonenhaft dargestellt werden würden, und so ist genau das Gegenteil der Fall. Der private Bereich, also familiäre Umstände, Lebenssituation, 108 109 110 111

112 113 114 115 116 117 118

Vgl. Rossbacher, Claudia: Steirerquell, S. 98. Ebd., S. 12. Vgl. Schmidt, Maike: Berlin-Krimis seit 2000, S. 106. Vgl. Strigl, Daniela: Der Hedonismus und der Tod. Warum in Krimis so viel gegessen und getrunken wird. In: Aspetsberger, Friedbert (Hg.): Ich kannte den Mörder – wußte nur nicht wer er war: zum Kriminalroman der Gegenwart. Innsbruck: Studien-Verlag 2004, S. 121–141, hier S. 125–127. Vgl. Schmidt, Maike: Berlin-Krimis seit 2000, S. 108; Schmidt, Maike: Der historische Regionalkrimi, S. 248. Vgl. Pauly, Gisa: Sonnendeck, S. 473–480. Vgl. Rossbacher, Claudia: Steirerquell, S. 276–279. Vgl. Wigbers, Melanie: Krimi-Orte im Wandel, S. 206. Vgl. Förg, Nicola: Hüttengaudi, S. 220–221. Vgl. Wigbers, Melanie: Krimi-Orte im Wandel, S. 239. Vgl. Bonter, Urszula: Stadt – Land – Mord, S. 94.

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Interessen, Probleme, Sorgen und Wünsche, schmückt die Krimihandlung aus, und die Protagonist:innen sind den Leser:innen vertraut; so vertraut, dass die Serialität der Romane oftmals betont wird oder fast in den Vordergrund gerät. Bei den Romanen um Kommissar Kluftinger verfolgen die Leser:innen neben zahlreichen Krimihandlungen, wie der Sohn des Kommissars erwachsen und das erste Enkelkind erwartet wird. Demgegenüber können die Leser:innen bei Neuhaus die Scheidung von Kommissar Oliver von Bodenstein und den Beginn einer neuen Beziehung miterleben. Die Serialität beschränkt sich allerdings nicht lediglich auf das Privatleben der Figuren, und so wird bspw. häufig auf frühere Kriminalfälle verwiesen119, und bei Neuhaus wird sogar der Täter aus dem Roman Böser Wolf 120 erst am Ende des folgenden Romans, Die Lebenden und die Toten121, überführt und damit die heile Welt vollkommen wiederhergestellt. Die Protagonist:innen der verschiedenen Romanserien und ihr Privatleben bieten letztlich eine breite Identifikationsfläche für die Leser:innen, und damit können die Verbrechen in Anlehnung an Wigbers zwar nicht immer als regionenspezifisch, dafür aber häufig als ermittler:innenspezifisch definiert werden. So versucht Pia Kirchoff in Muttertag ihre Schwester aus den Fängen des Serienkillers zu befreien und in Böser Wolf wiederum die Enkelin ihres Lebensgefährten. Irmi Mangold klärt in Hüttengaudi von Förg den Mord an ihrem Exmann auf, während der Übersetzer Carl Breitenbach in Verschwörung beim Heurigen überhaupt erst zu ermitteln beginnt, weil seine Urlaubsliebe ermordet wird und er unter Verdacht gerät. Der Roman Steirerquell von Rossbacher lässt sich als typisches Beispiel für das historische Genre des Regionalkriminalromans definieren und soll daher dazu dienen, die Charakteristika desselben noch einmal zusammenzufassen. Entsprechend der Konvention der Schreibweise der analytischen Erzählung werden die Ermittelnden zu Beginn der Handlung mit einem Rätsel konfrontiert. Sandra erreicht der telefonische Hilferuf ihrer Freundin Andrea.122 Während die Kommissarin noch herauszufinden versucht, was auf ihrer Reise ins steirische Thermenland geschehen ist, wissen die Leser:innen bald mehr als die Betrachter: innenfiguren, da im Wechsel mit den Ermittlungen die Entführte berichtet.123 Mit dem Fund einer Brandleiche124 werden sodann auch ganz offizielle Ermittlungen aufgenommen. Die Rekonstruktion der Tat erfolgt in der Hysteron-ProteronKonstruktion mit Fokus auf die Rätselspannung. Im Gegensatz dazu ist beim zweiten Opfer des Serientäters die Chronologie beibehalten, und es steht die 119 120 121 122 123 124

Vgl. Förg, Nicola: Hüttengaudi, S. 52; Klüpfel, Volker/Kobr, Michael: Erntedank, S. 275. Vgl. Neuhaus, Nele: Böser Wolf, S. 469, 472–473. Vgl. Neuhaus, Nele: Die Lebenden und die Toten, S. 553. Rossbacher, Claudia: Steirerquell, S. 9. Vgl. ebd., S. 25–26, 53, 69–71, 90–91, 121–122, 135–136, 156–157, 218–221, 255–257, 263. Vgl. ebd., S. 55.

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Zukunftsspannung im Vordergrund. Entsprechend der Gattungskonvention werden verschiedene falsche Fährten gelegt.125 Der Täter kreuzt zum ersten Mal im letzten Drittel des Romans die Wege der Ermittelnden, allerdings zunächst als Zeuge126, und ist konventionsgetreu erst kurz vor dem Ende als solcher zu erkennen.127 Entsprechend des historischen Genres des Regionalkriminalromans erfolgt auch hier die vollständige Wiederherstellung der heilen Welt im Rahmen des Epilogs, innerhalb dessen Sandra und ihr Vorgesetzter Sascha Bergmann zu Andreas erstem Geburtstag im neuen Leben eingeladen sind: Eine Psychologin half ihr bei der Heilung der seelischen Wunden. Andreas sonniges Grundnaturell und ihr Humor kamen ihr bei der Bewältigung des Traumas ebenfalls entgegen. Wie ihr Lebensretter, der seit dem Brand nicht mehr von ihrer Seite wich. Aus dem Cobra-Polizisten und ihr war ein Liebespaar geworden. Zum ersten Mal im Leben konnte sich Andrea sogar vorstellen zu heiraten.128

Das Entführungsopfer ist somit glücklicherweise nicht nachhaltig geschädigt und hat zudem vielleicht den Mann fürs Leben gefunden. Auch wenn der Roman primär auf die Ermittlungen fokussiert ist und den Leser:innen auch verschiedene Informationen aus der Ermittlungsarbeit präsentiert, bspw. über die jährlichen Vermisstenfälle in Österreich129 oder auch über die Besonderheiten von Brandleichen130, bleibt genug Raum für das Privatleben der beiden Ermittelnden sowie die emotionale Anbindung an die Region. Letztere wird zumeist gegenüber Wien und damit dem Sehnsuchtsort von Bergmann abgegrenzt, der eher unfreiwillig in der Provinz ist, was, wie bereits erwähnt, Reibungspunkte und Erklärungsmöglichkeiten für die Kommissarin bietet. Die Beschreibungen sind jedoch nicht immer durch ihren Vorgesetzten motiviert, sondern werden auch einfach so in den Text integriert und wecken mitunter Erinnerungen an Reiseliteratur, wenn es bspw. beim ersten Besuch der Therme Loipersdorf, »dem ältesten und größten Thermalbad in der Steiermark«131, heißt: Anfang der 1970er-Jahre war man auf der Suche nach Erdöl zufällig auf die erste hochmineralisierte Thermalquelle mit ihrer besonderen Heilkraft gestoßen, hatte Sandra einmal irgendwo gelesen. In den folgenden Jahren waren weitere Thermalquellen südöstlich von Graz entdeckt und erschlossen worden. Mittlerweile war das ›Thermenland Steiermark‹ weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt und profitierte vom Gesundheits- und Wellnesstourismus. Gäste aus nah und fern schätzten die Region, die sich von der Oststeiermark bis ins südlicher gelegene Vulkanland erstreckte. 125 126 127 128 129 130 131

Vgl. ebd., S. 152, 163, 214–215. Vgl. ebd., S. 175. Vgl. ebd., S. 262. Ebd., S. 272. Vgl. ebd., S. 73. Vgl. ebd., S. 62–63. Ebd., S. 35.

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Nicht zuletzt auch wegen der zahlreichen kulinarischen Genüsse, die sie bot. Vom Wein, der auf fruchtbaren Hügeln gedieh, über das weltbekannte steirische Kürbiskernöl und die gesunden, schmackhaften Käferbohnen bis hin zum Kren, der zu jeder steirischen Brettljausn ebenso dazugehörte wie der feine Schinken, Würste, Speck und andere Spezialitäten – ob vom Hausschwein oder von einer der wiederentdeckten alten, robusten Nutztierrassen wie dem Mangalitza- oder Turopolje-Schwein.132

Während Sandra und ihr Vorgesetzter nur vereinzelt im Glossar enthaltene Ausdrücke verwenden, wird die Steiermark außerhalb von Graz auch durch sprachliche Varietäten gekennzeichnet, wenn eine Zeugin angibt: »Sie ist viel zu weit in der Straßenmitte g’fahrn. Wenn ich nicht aufs Bankett ausg’wichn wär, hätt’s voi ’tuscht.«133 Zu essen gibt es bei den Ermittelnden unter anderem Brot mit frischem warmem Schweinsbraten und einen Energy-Drink134, zu dem Sandra folgende Gedanken hegt: »Wieder hatte sie den gebürtigen Steirer, der ohnehin schon der reichste Österreicher war, ein wenig reicher gemacht.«135 Ebenso ist das Privatleben der Kommissarin und ihres Vorgesetzten die ganzen Ermittlungen über sehr präsent. Bergmann beschäftigt die Tatsache, dass der neue Mann seiner Ex-Frau die gemeinsame Tochter Sarah adoptieren möchte, die zudem ein Kuckuckskind ist.136 Im Epilog wird die heile Welt wiederhergestellt. Bergmann behält das Sorgerecht für seine Tochter und ihm präsentiert sich zudem ein leiblicher Sohn.137 Die Kommissarin ist natürlich vornehmlich mit ihrer entführten Freundin beschäftigt, jedoch bleiben darüber hinaus Hinweise auf ihre Familie138 oder ihre eigene Lebenssituation als Single und ihren unerfüllten Kinderwunsch139 nicht aus. Der Roman Steirerquell folgt damit der Schreibweise der analytischen Erzählung und enthält mit der emotionalen Anbindung an die Region Steiermark, der Abgrenzung von Wien sowie einem Fokus auf das Privatleben der beiden Ermittelnden ebenso die beiden konstitutiven Merkmale des historischen Genres des Regionalkriminalromans. Die emotionale Anbindung wird neben Landschaftsbeschreibungen durch kulinarische und sprachliche Besonderheiten ergänzt. Ein besonderes Hobby, Haustiere oder Gartenaffinität, weisen die beiden Ermittelnden nicht auf. Demgegenüber liegt ein größerer Schwerpunkt auf der Polizeiarbeit, und die Betrachterfiguren beschäftigen sich in diesem Roman als

132 133 134 135 136 137 138 139

Ebd., S. 35. Ebd., S. 176. Vgl. ebd., S. 222. Ebd., S. 224. Vgl. ebd., S. 108–109, 113, 158, 270. Vgl. ebd., S. 271–274. Vgl. ebd., S. 88, 109, 138. Vgl. ebd., S. 140, 215.

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Singles stark mit ihrem Kinderwunsch und somit in Zeiten von social freezing und Co. mit einem aktuellen gesellschaftlichen Thema. Es bleibt festzuhalten, dass, wie Schmidt ausführt, der Mord vor der Haustür nicht zu einem Imageschaden führt, sondern im Gegenteil das Interesse für eine Region weckt140 und die Gemütlichkeit und heile Welt kaum beeinträchtigt.141 Dem Regionalkriminalroman auf der großen Bandbreite vom Kunst- bis zum Marketingprodukt stehen demnach noch viele Möglichkeiten offen, und es bleibt abzuwarten, welche Ergänzungen die Camping- und Zahnarztkrimis alsbald erwarten.

Literatur Baßler, Moritz: Interpretation und Gattung. In: Zymner, Rüdiger (Hg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart: J.B. Metzler 2010, S. 54–56. Beilein, Matthias: Wertung und Gattung. In: Zymner, Rüdiger (Hg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart: J.B. Metzler 2010, S. 77–79. Bonter, Urszula: Stadt – Land – Mord. Einige Bemerkungen zu den aktuellen deutschen Regionalkrimis. In: Para-Membrives, Eva/Brylla, Wolfgang (Hg.): Facetten des Kriminalromans. Ein Genre zwischen Tradition und Innovation. Tübingen: Narr 2015, S. 91– 117. Brockmeier, Jens/Carbaugh, Donald (Hg.): Narrative and Identity. Amsterdam: John Benjamins 2001. Brössel, Stephan: Filmisches Erzählen. Typologie und Geschichte. Berlin: Walter de Gruyter 2014. Bruner, Jerome: The Narrative Construction of Reality. In: »Critical Inquiry« 1 (1991), S. 1– 21. Bruner, Jerome: Life as Narrative. In: »social research« 3 (2004), S. 691–710. Förg, Nicola: Hüttengaudi. Ein Alpen-Krimi. München: Piper 2011. Fricke, Harald: Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur. München: C.H. Beck 1981. Grote, Paul: Verschwörung beim Heurigen. Kriminalroman. München: dtv 2007. Gymnich, Marion/Neumann, Birgit: Vorschläge für eine Relationierung verschiedener Aspekte und Dimensionen des Gattungskonzepts. In: Gymnich, Marion/Neumann, Birgit/ Nünning, Ansgar (Hg.): Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Trier: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 2007, S. 31–51. Gymnich, Marion: Bedürfnissynthese, -erweiterung und -produktion. In: Zymner, Rüdiger (Hg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart: J.B. Metzler 2010, S. 131–132. Gymnich, Marion: Institution/Institutionalisierung. In: Zymner, Rüdiger (Hg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart: J.B. Metzler 2010, S. 148–149.

140 Schmidt, Maike: Berlin-Krimis seit 2000, S. 107. 141 Bonter, Urszula: Stadt – Land – Mord, S. 98–99.

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Gymnich, Marion: Theorien des historischen Endes von Gattungen. In: Zymner, Rüdiger (Hg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart: J.B. Metzler 2010, S. 154–155. Hagestedt, Lutz: Literaturkritik und Gattung. In: Zymner, Rüdiger (Hg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart: J.B. Metzler 2010, S. 92–94. Hempfer, Klaus: Gattungstheorie. Information und Synthese. München: W. Fink 1973. Holzmann, Gabriela: Schaulust und Verbrechen. Eine Geschichte des Krimis als Mediengeschichte. Stuttgart: J.B. Metzler 2001. Jauss, Hans Robert: Theory of Genres and Medieval Literature. In: Duff, David (Hg.): Modern Genre Theory. Longman Critical Readers. Harlow: Longmann 2000, S. 127–147. Kaiser, Gerhard: Zur Dynamik literarischer Gattungen. In: Rüdiger, Horst (Hg.): Die Gattungen in der Vergleichenden Literaturwissenschaft. Berlin: Walter de Gruyter 1974, S. 32–62. Klüpfel, Volker/Kobr, Michael: Erntedank. Kluftingers zweiter Fall. München: Piper 2006. Lamping, Dieter: Probleme der neueren Gattungstheorie. In: Lamping, Dieter/Weber, Dietrich (Hg.): Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Ein Symposion. Wuppertal: Bergische Universität 1990, S. 9–43. Neuhaus, Nele: Böser Wolf. Berlin: Ullstein 2012. Neuhaus, Nele: Die Lebenden und die Toten. Berlin: Ullstein 2015. Neuhaus, Nele: Muttertag. Kriminalroman. Berlin: Ullstein 2018. Nusser, Peter: Der Kriminalroman. Stuttgart: J.B. Metzler 2009. Pauly, Gisa: Sonnendeck. Ein Sylt-Krimi. München: Piper 2015. Rautenberg, Ursula: Textrezeption und Gattung. In: Zymner, Rüdiger (Hg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart: J.B. Metzler 2010, S. 99–102. Reichwein, Marc: Diesseits und jenseits des Skandals. Literaturvermittlung als zunehmende Inszenierung von Paratexten. In: Neuhaus, Stefan/Holzner, Johann (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, S. 89– 99. Rossbacher, Claudia: Steirerquell. Sandra Mohrs achter Fall. Messkirch: Gmeiner 2018. Rumelhart, David: On Evaluating Story Grammars. In: »Cognitive Science« 4 (1980), S. 313– 316. Rumelhart, David: Schemata: The Building Blocks of Cognition. In: Spiro, Rand J./Bruce, Bertram C./Brewer, William F. (Hg.): The Psychology of Reading. Theoretical Issues in Reading Comprehension. Hillsdale: Lawrence Erlbaum 1980, S. 33–58. Schmidt, Maike: Berlin-Krimis seit 2000. Von der Metropole zur Provinz. In: Para-Membrives, Eva/Brylla, Wolfgang (Hg.): Facetten des Kriminalromans. Ein Genre zwischen Tradition und Innovation. Tübingen: Narr 2015, S. 103–117. Schmidt, Maike: Der historische Regionalkrimi. In: Friedrich, Hans-Edwin (Hg.): Der historische Roman. Frankfurt (M.): P. Lang 2013, S. 245–256. Steinmetz, Horst: Gattungen: Verknüpfung zwischen Realität und Literatur. In: Lamping, Dieter/Weber, Dietrich (Hg.): Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Ein Symposion. Wuppertal: Bergische Universität 1990, S. 45–69. Strigl, Daniela: Der Hedonismus und der Tod. Warum in Krimis so viel gegessen und getrunken wird. In: Aspetsberger, Friedbert (Hg.): Ich kannte den Mörder – wußte nur nicht wer er war: zum Kriminalroman der Gegenwart. Innsbruck: Studien-Verlag 2004, S. 121–141.

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Till, Dietmar: Konvention und Gattung. In: Zymner, Rüdiger (Hg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart: J.B. Metzler 2010, S. 73–75. Vogt, Jochen: Krimi – international. Einführung in das Themenheft. In: »Der Deutschunterricht« 2 (2007), S. 2–6. Voßkamp, Wilhelm: Gattungen als literarisch-soziale Institutionen. Zu Problemen sozialund funktionsgeschichtlich orientierter Gattungstheorie und -historie. In: Hinck, Walter (Hg.): Textsortenlehre. Gattungsgeschichte. Heidelberg: Quelle & Meyer 1977, S. 27–42. Weber, Dietrich: Theorie der analytischen Erzählung. München: C.H. Beck 1975. Wigbers, Melanie: Krimi-Orte im Wandel. Gestaltung und Funktionen der Handlungsschauplätze in Kriminalerzählungen von der Romantik bis in die Gegenwart. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006. Zymner, Rüdiger: Gattungstheorie. Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft. Paderborn: Mentis 2003. Zymner, Rüdiger: Schwankende Gestalten. Zur Theorie einer transkulturellen Gattungsgeschichte. In: »Colloquium Helveticum« 40 (2009), S. 185–198. Zymner, Rüdiger: Zur Gattungstheorie des ›Handbuches‹. Zur Theorie der Gattungstheorie und zum »Handbuch Gattungstheorie«. Eine Einfu¨hrung. In: Zymner, Rüdiger (Hg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart: J.B. Metzler 2010, S. 1–5. Zymner, Rüdiger: Gattungen. In: Zymner, Rüdiger/Hölter, Achim (Hg.): Handbuch Komparatistik. Stuttgart: J.B. Metzler 2013, S. 100–104.

Internetquellen Jahn, Reinhard: Was ist ein Regionalkrimi? URL: http://krimiblog.blogspot.com/2009/09/ was-ist-ein-regionalkrimi-eine-autopsie.html / letzter Zugriff am 18. Juli 2021. Neuhaus, Stefan: Vom Anfang und Ende der Literaturkritik. Das literarische Feld zwischen Autonomie und Kommerz. In: »literaturkritik.de« 2 (2015). URL: http://literaturkritik. de/id/20276 / letzter Zugriff am 23. Februar 2021. URL: https://www.emons-verlag.de/programm/krimis / letzter Zugriff am 23. Februar 2021.

Ina Schenker (Universität Bremen)

Spuren der Globalisierung: Ein transkultureller DNA-Abgleich zwischen den Schweinfurter Kriminalromanen von Lothar Reichel und Ulrike Barows Baltrum-Krimis

Die DNA-Analyse stellt ein molekularbiologisches Verfahren dar, das Rückschlüsse auf verschiedene genetische Aspekte des untersuchten Individuums erlaubt. Für kriminalistische Zwecke dient sie dem Aufspüren eines genetischen Fingerabdrucks des Täters oder der Täterin, aber sie hilft auch beispielsweise Verwandtschafts- und Abstammungsfragen im Abgleich aufzuklären. Für die folgende literaturwissenschaftliche Untersuchung soll dieses Vorgehen metaphorisch mit Bezug auf die Spuren der Globalisierung als gemeinsamer transkultureller DNA in zwei deutschsprachigen Regionalkrimireihen angewandt werden. Zum einen liegt der Fokus auf den norddeutschen Inselkrimis aus Baltrum, die vor allem ein touristisches Lesepublikum in Urlaubsstimmung anvisieren und von daher besonders prädestiniert scheinen, Lokalkolorit an regional ferne Leser:innen zu vermitteln. Und zum anderen werden die Kriminalromane rund um den Radioreporter Blacky aus dem unterfränkischen Raum, genauer der provinziellen Industriestadt Schweinfurt, untersucht. Letztere erreichen kaum ein Lesepublikum über die Region hinaus und konzentrieren sich auf lokal ansässige Rezipient:innen.1 Gerade diese unterschiedliche Adressierung zeigt zwei gänzlich verschiedene Spielarten des Globalen im Regionalkrimi auf, anhand derer sich trotz der Differenz eine gemeinsame transkulturelle Verwandtschaft nachweisen lässt. So geht es also zum einen um das Aufzeigen von Unterschieden, Komplementaritäten und Übereinstimmungen zwischen den Regionalkrimiserien, und zum anderen um die nachweisliche Einschreibung des Globalen in die regional verorteten Erzählungen. Globalisierende Prozesse hin1 Die beiden Reihen wurden vor allem aufgrund der verschieden gelagerten Regional- sowie Adressatenbezüge ausgewählt und da sie darüber hinaus in einigen einschlägigen formalen Kriterien gemeinsame Grundlagen aufweisen. Sie wurden jeweils in der Autorschaft einer Person verfasst und der Erscheinungsrhythmus liegt bei einem Buch pro Jahr in einem ähnlichen Zeitraum. So begann Lothar Reichel im Jahr 2011 zu veröffentlichen, während Ulrike Barow zwar bereits 2008 den ersten Band vorlegte, aber die Etablierung der Reihe erst ab 2010 fortsetzte. Die Länge der Erzähltexte schwankt bei beiden zwischen 250 und 300 Seiten, so dass sich damit ein analog gelagertes Bezugskorpus etablieren ließ.

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terlassen gewollt oder ungewollt, bewusst oder unbewusst ihre Spuren sowohl im Produktions- als auch im Rezeptionsprozess. Die These lautet, dass die beiden zeitgenössischen Regionalkrimiserien – so offenkundig regional sie auch scheinen – transkulturellen Vernetzungen nicht mehr entkommen. So stellen sich folgende übergeordnete Fragen: Wie regional kann der Regionalkrimi eigentlich (noch) sein? Oder: Wo endet das Regionale und beginnt das Globale? Oder: Formt der Regionalkrimi ein Rhizom? Der Versuch einer Beantwortung – ohne die im Krimi übliche hundertprozentige Aufklärungsgarantie – geht dabei vom Großen ins Kleine, fokussiert Gattungsfragen, untersucht Diskursstränge mit ihren dazugehörigen Plotstrukturen sowie Figurenkonstellationen, tangiert Topoi und Leitmotive und endet bei der erzählerischen Basis, der Sprache.

Regionalkrimis als transkulturelle Gattung Im Jahr 1984 erscheint Ulrich Suerbaums deutschsprachige Studie Krimi. Eine Analyse der Gattung. Unter anderem anhand der Texte von Edgar Allan Poe, Arthur Conan Doyle, Agatha Christie, Dashiell Hammett, Raymond Chandler, Mickey Spillane und Patricia Highsmith werden Gattungsspezifika und -entwicklungen exemplarisch aufgezeigt und kontextualisiert. Die Konzentration auf den englischsprachigen Kontext, zunächst England und im weiteren Verlauf die USA, wird gegen Ende um einige französische, schwedische und niederländische Abzweigungen bereichert. Auch wenn Suerbaum bereits Wandlungsprozesse der Gattung konstatiert, die das Feld des Krimis immer weiter ausdifferenzieren, bildeten sich, wie für kaum eine andere Gattung, mächtige Intertexte heraus, die zu einem spezifischen transnational und transkulturell verwobenen Gattungswissen führen, das bis heute wirkt. Für Deutschland in den 1980er Jahren stellt Suerbaum fest: Einen deutschen Krimi im Sinne einer Besonderheit der Konstruktion oder Gestaltungsweise oder einer innovativen Abweichung von den im internationalen Umlauf befindlichen Modellen und Konventionen gibt es nicht. Beim deutschen Krimi werden übernommene Muster – und zwar aus der internationalen Tradition, nicht aus der Tradition der älteren deutschen Kriminalliteratur übernommene Muster – mit deutschen Inhalten gefüllt.2

Die Erzählstruktur des Krimis, die sich als ein Wechselspiel aus Fragen und Antworten, Spannung und Entspannung und vor allem als ein antizipierender Umgang mit dem Wissen der Rezipient:innen greifen lässt, schreibt sich transkulturell und transnational in alle Ausformungen der Gattung ein. Dies klingt 2 Suerbaum, Ulrich: Krimi. Eine Analyse der Gattung. Stuttgart: Reclam 1984, S. 200.

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zunächst mehr als selbstverständlich, denn sonst wäre auf formaler Ebene die Gattungszugehörigkeit in Frage zu stellen, eröffnet zugleich aber die Frage nach den regionalen Ausdifferenzierungspotentialen der global wirkenden Erzählmuster. Ähnlich wie bei Darwins Finken, die ausgehend von einem gemeinsamen Erbgut je nach Umwelteinflüssen unterschiedliche Merkmale ausbildeten und verschiedene Nischen besetzten, lässt sich auch bei den Krimis eine Beeinflussbarkeit der Gattungsbildung anhand der Prägungen durch das Umfeld feststellen. Die gemeinsame transkulturelle DNA der Gattung blüht im Regionalkolorit auf. Doch so unterschiedlich die Knospen aussehen mögen, die gemeinsamen Wurzeln sind unverkennbar. So lässt sich in einem nächsten Schritt die Frage aufwerfen, was nach Suerbaum die deutschen Inhalte sind. Was macht den Krimi zu einem deutschen Krimi? Und dann zu einem deutschen Regionalkrimi? Eine Spezifik, die er bereits feststellen konnte, zeigt sich in der Verarbeitung gesellschaftsrelevanter Themen. Die soziale Kausalitätskette von Verbrechen ist eng verknüpft mit einer Einbindung in den kritischen politischen Diskurs.3 Dieser Zugang entdichtet das Erzählgerüst rund um Fragen, Suche und Lösung und bereitet den Platz für Nebenstränge, erzählerische Ausschweifungen und für das Regionale, das sich ab Ende der 1980er Jahre verstärkt einzuschreiben beginnt. Jacques Berndorfs »Eifel-Krimis« stehen am Anfang des deutschen Krimibooms, der somit von Beginn an auch ein Regionalkrimiboom war.4 Die Subgattungsbezeichnung ›Regionalkrimi‹ verweist bereits darauf, dass sich hier zwei Narrative miteinander verbinden. Die Region steigt zu einem handlungsgenerierenden Faktor auf, sie wirkt als eigener Akteur und ist mehr als ein Schauplatz des Geschehens. Regionen erzählen und werden erzählt. Gleichzeitig bleibt weiterhin der Krimi mit seinen transkulturellen Intertexten ein Nährboden für die darin sprießenden regionalen Erzählungen. Diese intertextuelle und erzählstrukturelle Verbundenheit verhindert auch eine einseitige Zuordnung zur Heimatliteratur. Der Regionalkrimi ist und bleibt weiterhin ein Krimi. Das eifrige Verweisen, das beständig bemühte transkulturelle und intertextuelle Rhizom wirkt wie eine Art Rückversicherung, als ein Beweis, dass die Regionalkrimis auch dazu gehören – trotz ihrer meist provinziellen Provenienz sind sie Teil eines trans- und internationalen Netzwerks. Gerade Ulrike Barows Baltrum-Krimis lassen streckenweise das Verbrechen eher in den Hintergrund treten. So findet in den ersten vier Bänden der Reihe der Mord erst nach der Hälfte der Erzählung statt, zuvor stehen die spezifische Atmosphäre und das Inselleben im Fokus. Daher scheint es geradezu gattungsexistentiell, dass sowohl auf dem Cover

3 Vgl. ebd., S. 201–205. 4 Vgl. Egger, Simone: Heimat. Wie wir unseren Sehnsuchtsort immer wieder neu erfinden. München: Riemann 2014, S. 131.

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deutlich »InselKrimi« aufgedruckt ist als auch Gattungswissen explizit im Text aufgerufen wird: Margot lächelte die junge Frau an. Wenn bloß alles so einfach wäre. Immerhin hatte es einen Todesfall gegeben. Und wenn es Mord war, dann musste man immer mit einem weiteren rechnen, solange der Täter nicht gefasst war. Zumindest war das die Essenz aus vielen Krimis, die sie an langen Wintertagen verschlungen hatte.5

Auch die Reihe von Lothar Reichel trägt den coverzierenden Übertitel »Schweinfurter Kriminalroman« und hält sich mit konkreten intertextuellen Bezügen wenig zurück: Sei es, dass die übereifrige Ex-Polizistin und Großmutter von Kriminaloberkommissarin Kerstin Weiß stets als »Miss Marple«6 bezeichnet oder die Hauptfigur Blacky immer wieder von Oberkriminalkommissar Bayer ärgerlich mit »Das gibt’s doch nicht, oder? Sherlock Holmes?«7 begrüßt wird, obwohl Blacky sich selbst eher vorkommt wie »Humphrey Bogart als Sam Spade oder Philip Marlow in einem düsteren Hollywood-Krimi«8, oder mal eben den Mantelkragen wie »einst Kommissar Maigret« hochschlägt.9 Neben diesen figurenbezogenen Konnotationen schieben sich Hinweise ein wie: »Na klar, wir haben es mit einem Affen zu tun. Wie in der berühmten Erzählung Der Mord in der Rue Morgue von Edgar Allan Poe. Eine der ersten Kriminalgeschichten übrigens«.10 Es schwingt jedoch stets eine Note von Ironie und Selbstreflexivität mit, wenn diese Gattungsbezüge aufgemacht werden. So vor allem, wenn Oberkriminalkommissar Bayer wettert: »Wir sind hier doch nicht in einem dieser komischen Lokalkrimis, wo dilettantische Ermittler Tatabläufe zusammenzimmern, dass sich die Balken biegen. Ich will Fakten und Beweise.«11 Gerade letzteres Zitat zeigt, dass die Gattungszugehörigkeit zum Krimi über das Regionale und Lokale hinaus angestrebt wird und die Verwurzelung in ein breites transkulturell angelegtes Erzählrhizom essentiell für das Selbstverständnis ist. Regionalkrimis sind heute keine deutsche Besonderheit mehr und ihre Entstehungsgeschichte ist in einem europäischen Kontext mit besonderem Bezug zum Erfolg schwedischer Krimis zu sehen. Auch die Abgrenzung zu amerikanischen und französischen Marktführern spielt eine gewichtige Rolle, ergo das Finden des Eigenen im Gemeinsamen der Gattung. Damit wird die Idee des 5 Barow, Ulrike: Baltrumer Bitter. Inselkrimi. Leer: Leda 2012, S. 200. 6 Reichel, Lothar: Herbstzeitlosen. Blacky blickt durch. Würzburg: Peter Hellmund 2015, S. 14. 7 Reichel, Lothar: Karfreitagszauber. Blacky macht weiter. Würzburg: Peter Hellmund 2012, S. 204. 8 Reichel, Lothar: Kindertotenlieder. Blacky tritt auf. Würzburg: Peter Hellmund 2011, S. 153. 9 Reichel, Lothar: Schlachtschüsselblut. Blacky wird verfolgt. Würzburg: Peter Hellmund 2016, S. 85. 10 Reichel, Lothar: Sommernachtstraum. Blacky spielt mit. Würzburg: Peter Hellmund 2013, S. 176. 11 Reichel, Lothar: Herbstzeitlosen, S. 197.

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Lokalen, Regionalen und Nationalen selbst ein transnationaler und transkultureller Impulsgeber. So zeigen sie erzählerisch die Komplementarität von Globalisierung und Regionalisierung und die osmotische Durchlässigkeit beider Konzepte. Und dabei geht es nicht nur, wie häufig konstatiert, um einen Rückzug ins Überschaubare, in die Entschleunigung und den Eskapismus als eine Art metaphorischer »Wärmflasche«12, sondern zugleich auch um die »Brüchigkeit des Idyllischen unter dem Druck der globalisierten Gegenwart«13, wie im Folgenden gezeigt wird.

Mehrdimensionale Diskursstränge und Plotstrukturen Fiktionale Erzähltexte wissen etwas – und zwar nicht wenig. So ist das Verhältnis von Wissen und Fiktion stets »mehrfach dimensioniert«.14 Die fiktionalen Welten und ihre Bewohner:innen sind doppelt befähigt, Lebenswelten auszuloten. Sie kennen zum einen konventionalisierte Verknüpfungen und können zum anderen in ein freies Spiel mit eben jenen treten. Damit gewinnen sie Handlungskompetenzen, die zugleich Resultat und Bedingung von Wissen sind, was die diskursive Funktion von fiktionalen Narrativen verdeutlicht. Bezüglich der Regionalkrimis ist vor allem die Verknüpfung von Gesellschaftsdiskursen mit Plotstrukturen von Interesse für eine transkulturelle DNA-Analyse. Anhand der beiden Serien lassen sich zwei unterschiedliche, aus der Rezipient:innenadressierung resultierende Erzählstrategien festmachen, wie sich das Transkulturelle in den Regionalismen verankert. So fokussieren sich die Baltrum-Krimis auf ein touristisches Publikum, um diesem die traditionellen Gepflogenheiten des Insellebens und die Landschaft auf ihre Weise nahe zu bringen. Tourismus zielt auf das Einzigartige und Besondere der Region und ignoriert zu diesem Zweck nicht selten die transkulturelle Verfasstheit aktueller Kulturen. Als Beispiel sollen hier die Plotstruktur und die Diskursbeiträge aus Baltrumer Kaninchenkrieg angeführt werden. Die Handlung wird dadurch in Gang gebracht, dass die Umweltaktivistin Edith Oligs, Vorsitzende der Baltrumer Tierschutzgruppierung »Proniggels«, tot in den Dünen aufgefunden wird. Edith war eine streitbare Persönlichkeit und so ermittelt die Polizei in diverse Richtungen. Vor allem ihr Einsatz für die allge12 Löffler, Katharina: Allgäu reloaded. Wie Regionalkrimis Räume neu erfinden. Bielefeld: transcript 2017, S. 10. 13 Neubauer-Petzoldt, Ruth: Gefährdete oder trivialisierte Idyllen. Ambivalente Aktualisierungen des Idyllischen im Regionalkrimi. In: Gerstner, Jan/Riedel, Christian (Hg.): Idyllen in Literatur und Medien der Gegenwart. Bielefeld: Aisthesis 2018, S. 109–124, hier S. 124. 14 Klausnitzer, Ralf: Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen. Berlin: Walter de Gruyter 2008, S. 7.

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genwärtigen Kaninchen ging vielen Insulaner:innen gegen den Strich. Tierrechte treffen auf liebevoll gepflegte Gärten und zerwühlte Dünen. Dieser Plot scheint den erzählten Raum von einem ausschmückenden Schauplatz zum plotgenerierenden Akteur aufzuwerten, er ist auf die Region zugeschnitten und kann nur in dieser Region funktionieren. Die literarische Raumkonstruktion partizipiert am Wissen einer Gesellschaft und macht als bedeutende Ressource Sinnangebote, die sich in gesellschaftliche Diskurse einspeisen.15 Auch wenn der Baltrumer Kaninchenkrieg über die Maße spezifisch lokal anmutet, zeigt sich, dass Fiktionen besonders befähigt sind, mit Raumüberschreibungen zu spielen und Diskurse zu importieren. So eröffnet eine Recherche der Hintergründe, dass auf Baltrum zwar auch Kaninchen ihr Unwesen treiben, aber von einer Plage ist vor allem die benachbarte Insel Norderney betroffen: Die Kaninchen haben die Insel fest im Griff. Selbst auf dem Inselfriedhof wird scharf geschossen, da die Fressschäden dort an den liebevollen und oft auch teuren Grabbepflanzungen von den Hinterbliebenen nicht mehr hingenommen werden. Der harte Winter wird vielleicht dazu führen, dass nicht ganz so viele Nachkommen die Insel kahlfressen. Auf Baltrum gibt es übrigens keine Kaninchenplage.16

Anleihen von Themen der Nachbarinsel mögen noch nicht besonders stichfest als transkultureller Import gelten, doch es zeigt in einem ersten Schritt die Durchlässigkeit und Adaptierfähigkeit von Diskursen und stellt deren Authentizität in Frage. Daneben kommt aber auch der Baltrumer Kaninchenkrieg nicht ohne internationale Unterstützung aus. Melissa Harms ist aktives PETA-Mitglied, verklebt die Fenster ihres Hauses mit Postern der Organisation und gründet die lokale Gruppierung genannt »Proniggels«, die sich für den Schutz der Kaninchen stark macht. Damit zeigt sich, dass auch dieses regionalisierte Erzählmuster in ein Netz transkultureller Tierschutzdebatten eingebunden ist und nicht völlig von diesen isoliert agiert. Einen ganz eigenen transkulturellen Diskurs stellt vor allem der Tourismus dar und dieser wirkt in den Baltrum-Krimis in mehreren Bänden plotgenerierend. Sei es im Zusammenhang mit Großinvestoren vom Festland, die Immobilien und Grundstücke erstehen wollen, um darauf Hotelanlagen zu bauen (Baltrumer Bitter), oder im Zusammenhang mit Hochzeitsreisen, die die Insel als besonders idyllisierten Ort beschreiben (Baltrumer Maskerade) oder über die Verwicklung ins internationale Drogengeschäft (Baltrumer Bärlauch). Der Tourismus auf Baltrum ist saisonabhängig und von den Insulaner:innen allein überhaupt nicht zu bewältigen. So kommen vor allem aus Polen und Russland Arbeitskräfte, um den Betrieb im Sommer am Laufen zu halten. Sie bilden damit 15 Vgl. Löffler, Katharina: Allgäu reloaded, S. 42. 16 »Norderney Nordsee-Magazin«. URL: https://magazin.norderney-zs.de/news/natur/kanin chenplage / letzter Zugriff am 10. Februar 2021.

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einen nicht unerheblichen Teil des geschöpften Kapitals auf Baltrum. Dieser Aspekt wird jedoch nur in zwei Bänden am Rande gestreift. So einmal in Form eines intern fokalisierten Gedankengangs der Figur Ingeborg Opitz: Das war typisch Petri. Was hatte der nur gegen die ausländischen Mitarbeiter? Ohne die sähe es mit dem Service auf der Insel schlecht aus. Sie hatte sich schon häufig mit den Leuten aus Polen und Russland unterhalten, wenn die im Sommer an ihrem Garten stehen blieben und dessen Schönheit bewunderten. Eine junge Frau hatte im letzten Jahr in gebrochenem Deutsch vom Garten ihrer Großmutter in Gdansk erzählt. Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis Ingeborg begriffen hatte, dass sie Danzig gemeint hatte. Die Frau war noch ein paarmal vorbeigekommen. Manchmal mit Tränen in den Augen. Das Heimweh, hatte sie erklärt, das verdammte Heimweh.17

Und im Band Baltrumer Glockenschlag spielen die polnischen Schwestern und Zimmermädchen Paulina und Ewelina kleinere Nebenrollen als Zeuginnen. Auf die Frage, ob sie wissen könnten, wer das Kreuz aus der Kirche gestohlen hat, reagieren sie aufgrund beständig aktualisierter Vorurteile angegriffen: »Was soll heißen?« In Paulinas Gesicht zeigten sich plötzlich rote Flecken. »Wollen Sie damit sagen, dass wir, nur weil wir Polen alles klauen« .[…] »Aber manche Leute sprechen so. Wenn etwas fehlt in Ferienwohnung – wir waren es! Meistens. Dabei haben die Menschen meist aus Versehen woanders hingelegt.«18

Hier zeigt sich, dass das Transkulturelle existiert, sich einschreibt, bestimmte Lebensweisen auf der Insel sogar erst ermöglicht und dennoch die meiste Zeit kein Thema ist, da es den touristischen Leser:innen womöglich die unterhaltsame Urlaubszeit verstimmen würde. Damit mutet die transkulturelle Lesart der regionalen Inselkrimis wie Edward William Saids Studien zu Jane Austens Mansfield Park an, die er unter anderem in Kultur und Imperialismus vornimmt.19 Auch hier beschäftigt sich die stimmmächtige Gesellschaft vor allem mit sich selbst und schiebt die Probleme auf den Plantagen und die Lage der Sklav:innen an den Rand. Ebenso werden die Saisonkräfte auf Baltrum in den Krimis nicht zu echten Figuren, sie sprechen wenig und wenn dann nur in kurzen gebrochenen Sätzen, und über sie wird auch kaum gesprochen. Aber aus dem Hinterkopf lassen sie sich doch nicht vollständig verdrängen, denn sie ermöglichen erst den regionalen Tourismus, der eine globale Perspektive in sich trägt, wenn auch nur als kontrapunktische Lücke erzählt. Hier offenbart die Analyse vor allem, dass sich das Transkulturelle finden lässt, wird es denn gesucht. Die Erzählstrategie der Schweinfurt-Krimis verhält sich demgegenüber konträr. Schweinfurt ist eine untouristische, unterfränkische Provinzstadt und das 17 Barow, Ulrike: Baltrumer Kaninchenkrieg. Inselkrimi. Leer: Leda 2015, S. 130. 18 Barow, Ulrike: Baltrumer Glockenschlag. Inselkrimi. Leer: Leda 2019, S. 33. 19 Vgl. Said, Edward William: Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht. Übers. von Hans-Horst Hennschen. Frankfurt (M.): Fischer 1994.

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explizite Einbauen des Transkulturellen in der Fiktion beschreibt sich beständig als ein Verfahren der Aufwertung. So steht vor allem im Fokus, dass Schweinfurt nicht so unscheinbar wirken soll, wie vielleicht angenommen werden kann, sondern »spannend«, »voller Facetten und unterschiedlicher Menschen«, ja sogar »irgendwie irre«.20 Plotgenerierend sind hier explizit Diskursstränge, die sich mit dem organisierten internationalen Verbrechen oder internationalen Geheimgesellschaften verbinden lassen. Auch wenn die Motivation für den Mord in jedem Band auf ein privates Trauma oder Verhängnis zurückgeführt werden kann, wird stets die Option des Politischen und damit der global orientierten Gesellschaftskritik bis zur Auflösung mitgeführt. Im Fokus stehen vor allem die sog. Parallelgesellschaften, die Schweinfurt transkulturell durchziehen und sowohl eigenen Regeln folgen als auch eine neue Form des Dazwischen eröffnen. So beginnt es mit dem türkischstämmigen Umfeld in Kindertotenlieder, in dem Polizistin Marion Werner konstatiert: »In dieser Geschichte läuft im Hintergrund ein ganz anderer Film. Wahrscheinlich in türkischer Sprache ohne deutsche Untertitel«.21 Im zweiten Band tritt die sog. internationale »Kundry-Gesellschaft« in Erscheinung, benannt nach der geheimnisumwitterten Helferin der Gralsritter aus Parsifal, die von einem isländischen Professor geleitet wird und jährlich auf Schloss Mainberg in der Nähe von Schweinfurt tagt. Eine ähnliche Struktur greift im dritten Band, in dem eine walisische Hexengemeinschaft ihr Zentrum im Steigerwald, in der Umgebung Schweinfurts, etabliert. Darauf folgt Sommernachtstraum, in dem das balkanische Jahrmarktvolk in das Verbrechen verwickelt ist, Totengräberspuk verknüpft die Handlung mit irischem Druidentum, Herbstzeitlosen führt einen Mörder aus der Fremdenlegion Kourous in Französisch-Guayana ein und im siebten Band spielen die vietnamesische und italienische Mafia eine entscheidende Rolle. Im achten Band geht es um das Volk der Jenischen und im bisher letzten Band Rauhnachtgrauen ist das russische Milieu treibender Faktor der Handlung. Darüber hinaus finden aserbaidschanische und ukrainische Mafiastrukturen Einzug in die Geschichten. Blacky wird regelmäßig aufgeklärt über diese hinter der Oberfläche wirkenden Strukturen, die ein dichtes, aber nicht für jeden sichtbares Netz ziehen. Auch als Journalist gelingt es ihm nur bedingt, hinter die transkulturell verwobenen Kulissen seiner Stadt zu schauen: »Siehst du… ihr wisst nichts. Schweinfurt ist zum Teil eine russische Stadt«22, erläutert ihm bspw. die Radiopraktikantin und Russlanddeutsche Veronika. Des Weiteren spielt im Hintergrund der Reihe ein serienübergreifender bis dato unaufgeklärter Mordfall eine zentrale Rolle. Dieser 20 Reichel, Lothar: Walpurgisnacht. Blacky klärt auf. Würzburg: Peter Hellmund 2012, S. 58. 21 Reichel, Lothar: Kindertotenlieder, S. 170. 22 Reichel, Lothar: Rauhnachtgrauen. Blacky in der Unterwelt. Würzburg: Peter Hellmund 2019, S. 118.

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verbindet Schweinfurt mit dem Irak und Iran und die Fäden scheinen letzten Endes in Dubai zusammenzulaufen. Dieser Fall wird als »orientalische Nuss«23 beschrieben, die Kerstin Weiß und Wolfram Bayer zu ihrem Verdruss nicht knacken können. Das Emirat Dubai gilt als das »Übermorgenland«24 und verbindet Schweinfurt mit einem internationalen Diskurs, in dem Kapital und globale Machtstrukturen ihre Spuren hinterlassen und zusammenfließen. Schweinfurts Regionalkrimis formen als eine soziale Raumpraktik einen epochen- und kulturspezifischen Metakommentar zum Weltgeschehen. Damit beeinflussen sie den Repräsentationsraum Schweinfurt, partizipieren literarisch an der Raumkreation und arbeiten es über einen transkulturellen Plot in einen globalen Diskurs ein. Dass die Krimis diesbezüglich Position beziehen, wird auch deutlich, indem die Schweinfurter AfD-Fraktion, Islamphobie nach dem Sommer der Migration und Pegida-Stimmen im Zusammenhang mit einem Menschenauflauf an einem Tatort aufgegriffen und in ihrer Reibungsfläche explizit thematisiert werden: Als einer schließlich für den Mörder lauthals die Todesstrafe forderte – »an die Wand g’stellt g’hört der wie damals beim Adolf« – wurde es Sören zu bunt. »Ich habe keine Lust mehr, mir solchen Blödsinn anzuhören«, sagte er, seine Stimme klang dabei sehr norddeutsch. Gejohle und Gelächter folgten, jemand schrie »Scheißpreußn«, ein anderer begann »Lügenpresse!« zu skandieren. Sören entschied sich für einen demonstrativen Rückzug und drängte sich durch die Menge zu seinem Fahrrad.25

In beiden Serien bringen die globalen Verstrickungen, Verschiebungen, Umbrüche und Bewegungen Herausforderungen mit sich. Vor allem die negativen Seiten scheinen durch, werden jedoch unterschiedlich in die Plotstrukturen eingearbeitet und wirken damit verschieden im Diskurs um das transkulturelle Zusammenleben. In den Schweinfurt-Krimis entsteht daraus die gesamte Handlung und damit ein weitläufiges Aushandeln des Globalen im Regionalen. Die Baltrum-Krimis versuchen, die Tatsache, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, zu verschleiern. Dem steht jedoch die Wirklichkeit im Weg; diese ist anders gelagert, was auch für die Medien immer relevanter wird. Um aus einem von mir geführten Interview mit Jan Plamper zu zitieren: Der Mediendiskus ist wie ein Kleinkind: seine Aufmerksamkeitsspanne ist kurz. Die Deutschen sind in der historischen Langzeitperspektive klassische Auswanderer – seit der Massenauswanderung im 19. Jahrhundert stellen sie heute zum Beispiel die größte ethnische Gruppe der USA (ca. 50 Mio. Amerikaner*innen sind deutscher Herkunft). Aus historischer Sicht ist es sehr wahrscheinlich, dass Deutsche auch in der Zukunft 23 Reichel, Lothar: Glühweingift. Blacky und die Vergangenheit. Würzburg: Peter Hellmund 2018, S. 38. 24 Reichel, Lothar: Schlachtschüsselblut, S. 170. 25 Reichel, Lothar: Glühweingift, S. 113.

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noch einmal werden wandern müssen, dass der deutsche Pass vom Privileg zur Last wird. Wenn man sich alleine das vor Augen führt, verhält man sich vielleicht etwas anständiger gegenüber denen, die heute gezwungen sind, zu migrieren.26

Da beide Krimireihen als Serien aufgelegt werden, liegt hier genügend Potential, um in kommenden Bänden mögliche Akzente oder Verschiebungen zu perspektivieren.

Bewegungsfiguren und bewegte Figuren Der Aspekt, dass beide Regionalkrimireihen als Episodenserien mit Fortsetzungselementen angelegt sind, bringt auch mit sich, dass bestimmte Erzählstrategien greifen, die ein Spannungsverhältnis von Wiederholung und Variation, Redundanz und Einzigartigkeit schaffen. Die Einordnung in das Feld der populären Serialität ruft einen Erzähltypus [auf], dessen Frühformen sich zwar historisch weit zurückverfolgen lassen, der aber erst seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zu einem auffälligen, in bestimmten Zusammenhängen sogar vorherrschenden Merkmal kultureller Praxis wird. Es geht um Fortsetzungsgeschichten mit Figurenkonstanz, die produktionsökonomisch standardisiert, d. h. in der Regel arbeitsteilig und mit industriellen Mitteln, sowie narrativ hochgradig schematisiert für ein Massenpublikum hergestellt werden.27

Im Folgenden soll vor allem der Aspekt der Figurenkonstanz aus transkultureller Perspektive beispielhaft untersucht werden. Das konstante Figurenpersonal findet sich in beiden Serien überwiegend auf der Ebene der Ermittelnden, darüber hinaus begleiten einige konstant bleibende Figuren als Nebencharaktere die Fälle. Hier seien bspw. die beiden Hotelbesitzer Birgit und Henning Ahlers erwähnt, deren Clubraum regelmäßig zur Baltrumer Ermittlungszentrale umfunktioniert wird, oder Kommissarin Kerstin Weiß’ Affäre mit Murat Demir, dessen Bekanntschaft sie im ersten Schweinfurt-Krimi macht. Variation in den Figuren zeigt sich vor allem auf der Täter- bzw. Opferebene. Aus transkultureller Perspektive ist festzustellen, dass sich in beiden Regionalkrimiserien vor allem das konstante Figurenpersonal spezifisch regional präsentiert. Wenig Bewegung geht von diesen Figuren aus, sondern sie werden, wenn überhaupt, durch die Fälle bewegt. So stellt es eine überraschende Variation in der Schweinfurt-Serie dar, als einmal nicht Blacky von seinem in Irland le26 Plamper, Jan: Für ein neues Wir. Interview von Ina Schenker. Begleitheft Theater Bremen zum Stück MUTTER VATER LAND, 2020. 27 Kelleter, Frank: Populäre Serialität. Eine Einführung. In: Kelleter, Frank (Hg.): Populäre Serialität: Narration – Evolution – Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert. Bielefeld: transcript 2012, S. 11–48, hier S. 18.

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benden Freund, Lothar Reichel, Besuch erhält, sondern sich aufgrund dessen, dass dieser als vermisst gemeldet ist, selbst nach Irland aufmacht: »Er war in seinem Leben nicht viel gereist, aber eines war klar: Wenn du in fernen Ländern bist, fährst du am besten damit, die Sitten und Gebräuche der einheimischen Bevölkerung nicht zu kritisieren.«28 Die Reise verdeutlicht mit welchem mentalen Gepäck Blacky reist, so führt seine erste Begegnung mit den Menschen vor Ort zu der Erkenntnis: »Blacky hatte sich eine Irin anders vorgestellt.«29 Der Polizeiapparat rund um Hauptkommissar Wolfram Bayer, d. h. Kerstin Weiß, Marion Werner, Martha Grimm, Lucius Römer und Kilian Urban, stammen entweder aus der Region Schweinfurt oder sind aus nicht allzu weiter Ferne zugezogen (z. B. Kerstin Weiß aus Aschaffenburg oder Martha Grimm aus Frankfurt am Main). Auf der Repräsentationsebene lässt sich konstatieren, dass sowohl die Namen als auch die Beschreibungen der Figuren nicht auf eine bewegte Familiengeschichte zurückblicken lassen. Kerstin Weiß’ beständig betonter flachsblonder Zopf oder Wolfram Bayers Abneigung gegen alles Nicht-Fränkische, und das fängt schon bei Bayern an, ist ein wiederkehrendes Thema. Einzig Sören Eckenstade, Volontär bei »Main Radio Schweinfurt« und damit Blackys Kollege, hat es von Wilhelmshaven nach Schweinfurt verschlagen. Ein Umstand, der immer wieder aufgegriffen wird, um die kulturellen Unterschiede zwischen Nord- und Süddeutschland zu verfestigen, obwohl Sören selbst längst Mentalitäten und Gepflogenheit für sich mischt. So etabliert er trotz allem immer wieder das Stereotyp der ostfriesischen Mundfaulheit, wenn Blacky ihn darauf hinweist, dass er doch viel zu viel reden würde: Ja, aber nur in Schweinfurt. Weil ihr so redselig seid. Im Norden sprechen wir aufs Jahr gesehen keine zehn Sätze miteinander. Mit meinem Vater habe ich manchmal drei Monate kein Wort gewechselt. Verstanden haben wir uns trotzdem prächtig. Jetzt ist er tot, und wir verstehen uns deshalb immer noch.30

Blacky gibt sich mit den Einblicken in die ostfriesische Alltagskultur zumeist zufrieden und es findet kein weiterer Austausch statt. Physische Bewegung und mentale Beweglichkeit gehen nicht immer Hand in Hand. Physisch bewegt werden die ermittelnden Figuren vor allem durch ihre Fälle, die Wolfram Bayer und Kerstin Weiß immer wieder nach Dubai oder auch Gran Canaria verschlagen. Jedoch bleibt die sog. »orientalische Nuss« ungeknackt, u. a. aufgrund der Nicht-Durchlässigkeit der mentalen Blockaden. In den Schweinfurt-Krimis finden sich aufgrund der variantenreichen plotstrukturgenerierenden Parallelgesellschaften viele Bewegungsfiguren auf der 28 Reichel, Lothar: Totengräberspuk. Blacky sieht Gespenster. Würzburg: Peter Hellmund 2014, S. 55. 29 Ebd., S. 57. 30 Reichel, Lothar: Sommernachtstraum, S. 172.

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Täter- und Opferebene. Dies zeigt zum einen, dass ein transkulturelles Geflecht das Regionale durchzieht, auf der Repräsentationsebene wird jedoch ein machtvolles Ungleichgewicht geschaffen, das migrierende oder migrierte Figuren nicht im Establishment ankommen lässt. Sie bekommen jedoch die Möglichkeit, ihre eigene Positionierung zu thematisieren, indem sie bspw. öffentlich in den Medien deutlich machen, dass anders ermittelt wird, nur weil es sich bei einem verschwundenen Mädchen um eine Türkin handelt. »Und wissen Sie, warum? Weil es wieder um Vorurteile geht. Die Türken und ihre seltsame Welt. Der Islam und die Frauen. Das Kopftuch und die Zwangsehe. Ehrenmorde und die ganze Scheiße«31, so der Rechtsanwalt Murat Demir. Die transkulturelle DNA-Analyse eröffnet einen Blick auf fiktionalen Rassismus, der sich in der Bewegungsfähigkeit und Statik von Figuren sowohl auf geografischer als auch sozialer Ebene manifestiert. Regionalkrimis scheinen besonders auf dergleichen Strategien zu basieren, denn in den Baltrum-Krimis findet dieses Erzählmuster noch eine Steigerung. Das Insulare macht dabei ein doppeltes Spannungsfeld auf. Zum einen leben besonders viele alteingesessene Insulaner:innen mit langer Familientradition auf Baltrum, innerhalb derer wenig Bewegung stattfand und bereits das Festland eine andere Welt bedeutet, und zum anderen öffnet sich der Raum für viele touristische Figuren, die kommen und gehen und das Inselleben auf ganz eigene Art bewegen. Das Ermittlungsteam besteht in den meisten Fällen aus Michael Röder, dem Inselpolizisten, Arndt Kleemann, seiner Verstärkung aus Aurich, den weiteren Kolleg:innen Gero Schonebeck, Marvin Lingenberg, Klaus Kockwitz und Marlene Jelden sowie den Saisonpolizisten Berend Luiken, Broer Voss und Gerd Ulferts. Auf der Repräsentationsebene sticht schon an den Namen hervor, dass diese Figuren eine ganz spezifische Kontextualisierung als Friesisch erfahren. Hinzu kommt, dass sich die Figuren weder aufgrund ihrer beruflichen Fälle, die nur im Inselraum spielen, noch privat bewegen. Arndt Kleemann fährt bspw., wann immer er nur kann, in den Urlaub von Aurich nach Baltrum. Ähnliches trifft zu mit Blick auf die Täter- und Opferebene sowie auf die Tourist:innen. Die meisten Gäste kommen schon seit vielen Jahren, was bspw. Gasthausbetreiber Hinnerk dazu veranlasst, jegliche Bewegung, die Veränderung bedeuten würde, abzulehnen: »Bisher hat sich keiner beschwert. Unsere Stammgäste kennen und lieben es so.«32 Auch die Gäste repräsentieren namentlich und nach ihrer Beschreibung ein Deutschland ohne Migrationshintergrund: Inga Tarmstedt, Jens Pottbarg, Hannes Danner, Jörg Pommer, Petra und Hedda Bramlage, Frank Visser, Klara Ufken und Stefan Mendel. Unter all diesen Tourist:innen tritt in den Regionalkrimis nur eine einzige Person als Nebenfigur in Erscheinung, die ex31 Reichel, Lothar: Kindertotenlieder, S. 164. 32 Barow, Ulrike: Baltrumer Bärlauch. Inselkrimi. Leer: Leda 2010, S. 13.

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plizit eine türkische Familienzugehörigkeit aufweist: Mohamed Durmaz. Dieser muss sich allerdings direkt mit dem Rassismus im Ermittlungsteam auseinandersetzen: »Warum?« fragte jetzt Durmaz. »Was hat unser Tagesablauf mit dem Mörder zu tun? Finden Sie ihn, dann haben Sie seinen Ablauf.« »Sie können darauf vertrauen, dass wir wissen, was wir tun«, warf Kockwitz ein. »Das ist in den Breiten, aus denen Sie kommen vielleicht nicht so…« Mohamed Durmaz schaute Kockwitz eine Weile an. Dann sagte er: »Schade, dass aus der Zeit vor 1945 noch immer einige Überlebende im Geiste da sind. Es könnte alles so viel einfacher sein.«33

Kockwitz’ Haltung wird im Ermittlungsteam nicht unbedingt gutgeheißen, doch wirkliche Konsequenzen erfolgen keine. Die Reibungen, die das Transkulturelle verursachen kann, werden an den Rand gedrängt. Gleiches gilt für die einzige Erwähnung der Menschenbewegungen im Sommer 2015, die auch auf Baltrum ihre Spuren hinterließen. Dass es sich dabei aber nicht wirklich um ein Aufeinander-Zubewegen und damit eine Gemeinschaft handelt, zeigt folgender Textausschnitt: »Erinnerst du dich an Manon?«, fragte Werner Trinkmann den Kommissar. »Der mit seiner Familie im Personalwohnhaus der Gemeinde untergekommen ist?« Röder überlegte. »Nein«. »Jedenfalls – das sagt man nicht nur, da weiß ich definitiv, dass der Petri da seine Finger im Spiel hatte, als die abgeschoben worden sind. […] Ich habe noch nie ein zufriedeneres Gesicht gesehen. Er hat gelacht.«34

Bewegungsfiguren in ihrer Transkulturalität werden auf Baltrum im Abseits belassen. Dies macht sie zu Erzählspuren. Der Kulturwissenschaftler und Historiker Carlo Ginzburg betrachtet das Spurenlesen vor allem aus wissenschaftsphilosophischer Sicht als ein Paradigma der Humanwissenschaften, das er »je nach seinem Kontext als Jäger-, Wahrsage-, Indizien- oder semiotisches Paradigma« bezeichnet.35 Er verwendet diese Begriffe dabei keineswegs synonym, doch auf Basis einer gemeinsamen Erkenntnisgrundlage. Er stellt drei Beispiele vor, um diese zu unterstreichen: den Kunsthistoriker Morelli, der anhand winziger, unbeachteter Details wie Ohrläppchen oder Fingernägel Kopien von Originalen unterscheiden kann, den Detektiv Sherlock Holmes, der aus Ascheresten und Fußabdrücken komplexe Tathergänge rekonstruiert, und Sigmund Freud, der sich von Morellis Methode bei der Entwicklung der Psychoanalyse inspirieren ließ und aus unbewussten Details in den Erzählungen seiner Patient:innen Diagnosen stellte. Die Analogie liegt darin, dass »in allen drei Fällen […] unendlich feine Spuren [es erlauben], eine tiefere, sonst nicht erreichbare Realität 33 Barow, Ulrike: Baltrumer Maskerade. Inselkrimi. Leer: Leda 2014, S. 89. 34 Barow, Ulrike: Baltrumer Kaninchenkrieg, S. 201. 35 Ginzburg, Carlo: Spurensicherungen: Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis. Übers. von Karl Friedrich Hauber. Berlin: Wagenbach 1983, S. 84.

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einzufangen«.36 In diesem Fall zeigt die Spurensuche, dass die transkulturelle Perspektive Bewegungen einfangen kann, auch wenn sie noch so klein sind, und dass diese Bewegungsfiguren andere bewegen, und damit gewünscht oder nicht, Teil der regionalen DNA sind.

Topos Reiseführer: Von Wegbeschreibungen, Mentalitäten und Kulinarik als leitmotivische Authentizitätssignale Regionalkrimis liegt eine »besondere Betonung der regionalen Geschichte, Kultur und Mentalität sowie Verweise auf die Literatur aus der Region«37 zugrunde. Sie schreiben Authentizitätssignale und Fiktionalitätsmarker ineinander, doch gerade die Verweise auf die außerliterarische Wirklichkeit, die als Wirklichkeitsimporte umschrieben werden können, dienen den Leser:innen als Referenz- und Orientierungspunkte und sind damit zugleich »Träger von Wissen und Bildung«.38 Damit reihen sie sich in die Tradition eines literarischen Tourismus ein und lassen sich als eine spezifisch literarische Form der Gattung »Reiseführer«39 erfassen. Reiseliteratur kommt per se eine transkulturelle Funktion zu, da sie den Austausch, den Kontakt und die Vermittlung zwischen verschiedenen kulturellen Kontexten versucht. Zugleich ist die Gattung von jeher dichotomisch geprägt und spaltet Eigenes und Fremdes, was einem Ineinanderschreiben zuwiderläuft. Anhand dreier Aspekte wie der Wegbeschreibungen, der Mentalitätszuordnungen und der Kulinarik soll nun im Folgenden auf dieses Spannungsfeld eingegangen und versucht werden, sie über die Perspektive einer transkulturellen DNA-Analyse auszuleuchten. Wegbeschreibungen erfahren im Regionalkrimi eine Aufwertung. Während Wege, die nicht explizit mit einer inneren Reise der Protagonist:innen einhergehen im klassischen Roman dem zeitraffenden Erzählen zum Opfer fallen, stellen Regionalkrimis sie aus und formen damit ihr eigenes spezifisches Mapping der Region. In den Schweinfurt-Krimis erfolgt dies dadurch, dass in jedem der Bände eine andere dörfliche Umgebung des Schweinfurter Landkreises in die Fiktion eingebunden wird (dazu gehören u. a. Handthal, Schonungen und Würzburg, der Ellertshäuser See, Maßbach, Schwanfeld, Werneck und Dittelbrunn) und sich somit eine umfassende Ortskenntnis über die Texte etabliert. In 36 Ebd., S. 64. 37 Schmidt, Maike: Der historische Regionalkrimi. In: Friedrich, Hans-Edwin (Hg.): Der historische Roman. Erkundung einer populären Gattung. Frankfurt (M.): P. Lang 2013, S. 245–256, hier S. 246. 38 Ebd., S. 247. 39 Piatti, Barbara: Die Geographie der Literatur. Schauplätze, Handlungsräume, Raumphantasien. Göttingen: Wallstein 2008, S. 280.

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der Baltrum-Serie erfolgen entweder detailgenaue Beschreibungen der Fahrradtouren der Polizist:innen während der Ermittlungsarbeit oder touristische Spaziergänge werden ausführlich beschrieben. Aber auch wenn Insulaner:innen nur mal eben Richtung Schwimmbad aufbrechen, lässt sich der Weg erzählen: »Er strampelte an der Inselglocke vorbei, überquerte den Marktplatz, sah Licht im Sturmeck und hörte Fetzen von Musik. Dann fuhr er weiter Richtung Rathaus und Inselmarkt. Gleich dahinter tauchte die Silhouette des Schwimmbades auf«.40 Diese Ortskenntnis wirkt auf der Rezeptionsebene vor allem als »Beglaubigungsstrategie«.41 Das »Regional-« in der Subgattungsbezeichnung ›Regionalkrimi‹ bekommt über die Verortung der Erzählung an wirklichkeitsadäquaten Institutionen, Gebäuden, Straßen und Plätzen überhaupt erst seine Existenzberechtigung. Aus einer transkulturellen Perspektive lässt sich die Überlegung anstellen, dass die Wegbeschreibungen als greifbare Authentizitätssignale die Grundlage dafür bilden, dass auch den weniger konkreten Beschreibungen wie der lokalen Kultur, der Mentalität und den traditionellen Essgewohnheiten ein ähnliches Echtheitssigel zugesprochen wird. Für die Schweinfurt-Krimis lässt sich der zugeschriebenen Mentalität durchaus Selbstkritik attestieren: Die Philosophie des Lebens wird in Schweinfurt mit zwei kurzen Wörtern zusammengefasst: »Passt scho«. Darin drückt sich aus: Eine Grundzufriedenheit mit der eigenen Existenz, die Einsicht in die Unabänderlichkeit des Schicksals, eine gewisse Friedfertigkeit, einiges an Wurstigkeit – und eine notorische Lässigkeit, die man als Savoir-vivre vom Main beschreiben könnte. Das bedeutet umgekehrt allerdings, dass der Schweinfurter sich gern begnügt, bescheidet, zufriedengibt. Er fällt nicht gerne auf, Widerspruchsgeist und Aufsässigkeit sind nicht seine Sache. Zum lauten Protest ist er eigentlich unfähig. Er begehrt höchstens kurz gegen etwas auf, macht seinem Ärger Luft und sagt dann in einer Mischung aus Resignation und Bequemlichkeit »Passt scho!« Das machte es den Mächtigen der Stadt von jeher leicht, mit dem Schweinfurter zu machen, was sie wollten.42

Die Lebensweise und Mentalität der regionalen Bevölkerung wird in den Baltrum-Krimis nicht auf die gleiche Weise ausgestellt, doch es finden sich immer wieder kleinere Einschübe, die ebenfalls »den Insulaner an sich« erklären. Wie etwa: »Ein Insulaner zu Fuß war bei Wegen mit einer Länge von mehr als fünf Metern schlichtweg undenkbar«43, denn auf Baltrum ist das Fahrrad das bewährte Fortbewegungsmittel. Oder die Nachbarin Grete wird als Insulanerin

40 Barow, Ulrike: Baltrumer Eiszeit. Inselkrimi. Leer: Leda 2016, S. 48. Hervorhebungen im Original. 41 Löffler, Katharina: Allgäu reloaded, S. 115. 42 Reichel, Lothar: Totengräberspuk, S. 45. 43 Barow, Ulrike: Endstation Baltrum. Inselkrimi. Leer: Leda 2008, S. 30.

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»vom alten Schlag« beschrieben, »pingelig und rechthaberisch«44, und die Insulaner:innen als ein eher tratschfreudiges Völkchen, da sich sowohl Neuigkeiten auf der Insel in Windeseile verbreiten als auch eine allgemeine Plauschmentalität vorherrscht. So kommt Henning Ahlers bspw. kaum dazu, seinen Zaun zu reparieren, da jeder vorbeifahrende Insulaner mindestens einen guten Ratschlag hatte, wie das Holz am besten an den Pfählen zu befestigen wäre. Da mit jedem Hinweis eine Unterhaltung über das Leben an sich und auf der Insel im Besonderen einherging, dauerte es eine erhebliche Weile, bis die beiden Latten wieder in die Waagrechte gefunden hatten.45

Das Spiel mit den Stereotypen im generischen Maskulin nimmt eine entscheidende Rolle für den Faktor Wiedererkennung und Unterhaltsamkeit in der Rezeption ein. Diese überzeichnete Persiflage, die sich in ihrer Übertreibung als solche zu erkennen gibt, kann auch als ein Korrektiv einer essentialistischen Regionsidee wirken. So ist das Festhalten an spezifischen regionalen Denkmustern kein reiner erzählter Bestandsschutz, sondern eine Form der Archivierung, die sich in die transkulturellen Spannungen einer Region einschreiben. Die vorgeführten Mentalitäten werden über das Stilmittel der Ironie und Satire zwar auf einen authentischen Grundkern überprüft, aber zugleich nicht als pathologische Grundlage eines statischen und versiegelten Containers mit der Aufschrift ›Region‹ festgeschrieben. Dass es sich um ein fiktionalisiertes Konstrukt handelt, das sich transkulturellen Veränderungen, die sich auch in der DNA der beiden Regionen finden, nicht entziehen kann, wird konkret am Beispiel der Kulinarik verdeutlicht. Regionale Küche boomt derzeit ebenso wie der Regionalkrimi, so treffen sie einen gemeinsamen, zeitgenössischen Nerv und folgen einem im postmodernen Alltag populären »Versprechen, dass sich die kulturelle Vielfalt und Differenz der Räume und Regionen besonders unvermittelt in der Begegnung mit ihren kulinarischen Systemen erfahren lässt«.46 Dass es sich dabei aber um ein performativ reaktiviertes Archiv handelt, das längst nicht mehr den Alltag und die Alltagsküche bestimmt, zeigen die beiden Regionalkrimiserien deutlich auf. So ist auch das traditionelle Gericht Updrögt Bohnen auf Baltrum keine Selbstverständlichkeit mehr, sondern wird aus dem spezifischen Grund der Reaktualisierung vor allem für den touristischen Gebrauch gekocht, sonst geriete es vollends in Vergessenheit:

44 Ebd., S. 5. 45 Ebd., S. 83. 46 Tschofen, Bernhard: Vom Geschmack der Regionen. Kulinarische Praxis, europäische Politik und räumliche Kultur – eine Forschungsskizze. In: »Zeitschrift für Volkskunde« 103 (2007), S. 169–196, hier S. 172.

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Früher waren Gerichte wie dieses Gang und Gäbe auch auf Baltrum gewesen. Aber seit so viele Nichtostfriesen auf die Insel gezogen waren, um sich hier eine Existenz aufzubauen, gingen genau wie so viele jahrhundertealte Sitten und Gebräuche auch die alten Rezepte verloren.47

Diese kulturpessimistische Perspektive zeigt, dass die Überbetonung des Regionalen durch Stereotype und Mentalitätsbeschreibung auch auf einem performativen Dagegenschreiben beruhen. Die Küche ist hierfür eines der greifbarsten Beispiele und zeigt die doppelte Lesart des Raumes auf. Auch Baltrum ist ein transkultureller Raum, der über verschiedene Strategien daran arbeitet, die Rolle des Regionalen in diesen Vernetzungen und Verschiebungen auszuloten. Die Archiv- und Reaktivierungsfunktion zeigt sich besonders im Roman Baltrumer Bärlauch, der den Regionalkrimi mit dem historischen Roman mischt, indem streckenweise Episoden aus dem 19. Jahrhundert rund um den Worpsweder Maler Walter Bertelsmann eingeflochten werden. Dieser wird ebenfalls mit der ihm unbekannten und nicht unbedingt mundenden Regionalküche konfrontiert, als ihm der Insulaner Cassen Eilts erklärt: Wir fangen in der wärmeren Jahreszeit Schollen hier im Watt, und um sie für die kalte Jahreszeit haltbar zu machen, werden sie an der Wäscheleine getrocknet, dann in eine Tonne gepackt und mit Stroh bedeckt. Wenn uns dann nach einer guten Fischmahlzeit ist, legt meine Frau ein paar von den Schollen in einen Topf, der halb mit Kartoffeln gefüllt ist. Das Ganze muss lange und gut durchziehen. Wie es allerdings schmeckt, das müssen sie schon selber herausfinden.48

In den Schweinfurt-Krimis wird die »Original Schweinfurter Schlachtschlüssel«49 sogar zum titelgebenden Tatort und wie folgt erklärt: Eine Schlachtschüssel ist eine feierliche Angelegenheit. Des darf man net unterschätzen. Jede Kultur hat ihre ureigene Tradition, und die heiligste Tradition in Schweinfurt ist nun mal dieses Gelage… vor allem die Martinsschlachtschüssel am heutigen Tag.50

Gegessen werden frisch geschlachtete Schweine, direkt vom Holztisch nur mit Salz und Pfeffer und etwas Brot als Beilage, dazu gibt es Weißweinschorle. In diesem Kontext wird auch die Rangordnung der städtischen Bevölkerung sortiert und markiert. So haben die Politiker:innen einen eigenen Tisch, ebenso die Gastwirt:innen, Künstler:innen und Literat:innen. Dass es sich dabei um eine Klischeekumulation handelt, die performativ vollzogene Traditionsspuren ausstellt, gleichzeitig jedoch eine permeable Dynamik erlaubt, die das Transkulturelle einbinden kann, zeigt sich darin, dass Blacky Schweinfurter ist, bis dato aber 47 48 49 50

Barow, Ulrike: Endstation Baltrum, S. 125. Barow, Ulrike: Baltrumer Bärlauch, S. 120. Reichel, Lothar: Schlachtschüsselblut, S. 221. Ebd.

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noch nie etwas von der Schlachtschüssel gehört, geschweige denn an einer teilgenommen hat und in der Regel am liebsten bei McDonald’s einkehrt51 – dem Symbol für eine gleichschaltende, kapitalistisch orientierte Globalisierung schlechthin. So wird anhand dieser konkreten Leitmotive deutlich, dass Regionalkrimis als literarische Reiseführer nicht eine einzige lineare Region erzählen (können), sondern sich institutionalisierte Regionskonzepte neben subjektive Verwirklichungen dieser reihen, sich durchdringen und somit das Transkulturelle mit dem Regionalen in der DNA der Texte verweben.

»Da nich für« und »Ä weng« – Sprache und Sein Der letzte Aspekt, der hier beleuchtet werden soll, ist die Sprache – neben der Kulinarik vielleicht eines der konkretesten Zeichensysteme für Regionalismus, aber die Sprache greift tiefer; sie ist die existentielle Basis des menschlichen Seins: Sprache in all ihren Facetten – ihr Lexikon, ihre Wortarten, ihre Zeitformen – ist für Menschen wie Wasser für Fische. Der Stoff unseres Denkens und Lebens, der uns formt und prägt, ohne dass wir uns seiner in Gänze bewusst wären. Erst in dem Moment, in dem Sprache für mich nicht mehr funktionierte, begann ich sie in ihrer Struktur wahrzunehmen. Ich erkannte, was mich in die Enge trieb und in mir das Gefühl des Erstickens erzeugte. Sprache ist genauso reich und arm, begrenzt und weit, offen und vorurteilsbeladen, wie die Menschen, die sie nutzen.52

Frei nach Ludwig Wittgensteins bekanntem Grundsatz: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt«, lässt sich also fragen, welche Sprache(n) die Regionalkrimis nutzen, um Region, Grenzen, aber vielleicht doch auch Transkulturalität zu erzählen. Wen schließen sie ein und wen aus? Und wie schaffen sie ein Bewusstsein für die Essenz der Sprache? Zunächst einmal ist zu sagen, dass beide Serien zu allergrößtem Teil in hochdeutscher Sprache geschrieben sind, damit verbinden sie sich Regionen übergreifend für eine größere Sprecher:innengemeinschaft und eröffnen eine breite Zugänglichkeit. Regionale Mundart oder Dialekt wird eher in homöopathischen Dosen eingesetzt und schließt auch Personen, die des Unterfränkischen oder Plattdeutschen nicht mächtig sind, nicht von der Gesamtlektüre der Texte aus. Diese Strategie ist besonders typisch für Regionalkrimis und die beiden Serien verbinden sich in diesem Vorgehen mit ihren genreprägenden Intertexten. Regionalsprachlichkeit findet sich in keinem der Bände auf der Ebene der Erzählinstanz, sondern wird auf spezifische Figuren übertragen. Dabei gilt es zu sagen, dass es sich immer nur um Nebenfiguren handelt und niemals um die 51 Ebd., S. 227. 52 Gümüs¸ay, Kübra: Sprache und Sein. Berlin: Hanser 2020, S. 24. Hervorhebung im Original.

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Hauptcharaktere. So spricht auch bspw. keine der ermittelnden Figuren Mundart. Ob sie es könnten oder nicht, wird nicht thematisiert. Werden sie in einer Regionalsprache angesprochen, antworten Sie in mündlich literarisiertem Hochdeutsch. In beiden Serien wird jedoch eine unterschiedliche Bezugnahme auf die Dialekte vorgenommen. So sind es in den Baltrum-Krimis vorwiegend sehr alte Figuren, denen das Plattdeutsche in den Mund gelegt wird, auch dies ist genretypisch und bedient zugleich das Klischee der vom Aussterben bedrohten Dialekte. Damit wirken die Figuren wie lebendige museale Ausstellungsstücke. Sie sind wandelnde Archive, die einen regionalen Raum mit sich tragen, der aber in den nachfolgenden Generationen kaum noch aktualisiert wird. In Baltrumer Bescherung wird bspw. Johann Seebald ins Krankenhaus eingeliefert und in einem Zimmer mit Fokko Tammenga untergebracht. Dieser wird als besonders redselig geschildert und rückt sich durch Zwischenfragen ins Bewusstsein seines Bettnachbarn: »Bruken Se de Stohl? Wenn nich, kann mien Tant’ daarup sitten. Se hett dat in’t Krüz«53 oder »Johann, wor bliffst du denn? Middageten steiht up d’Tafel! Johann, to, Mann. Dat word kold.«54 Die Funktion dieser Figur ist dabei die Sprache selbst. Für die Handlung spielt sie keine weitere Rolle, sie repräsentiert jedoch die Regionalität als eigenen Akteur und wird von allen anderen Figuren verstanden, auch wenn die Antworten nicht gleichsprachlich ausfallen. Das Regionale fügt sich ganz selbstverständlich ein in das weite Netz der deutschen Sprache(n) und dient der spezifischen Gestaltung des Raumes, ohne ihn für andere durch Unübersetzbarkeit oder Unverständlichkeit zu schließen. Analog dazu funktionieren auch bspw. die Figuren Tante Grete, die als alte Insulanerin immer wieder betont: »Niemand kriegt mich ut min Hus herut, es sei denn mit de Pooten toerst«55, und die alte Olga Jammen, ebenfalls als besonders gesprächsfreudig beschrieben, die auf die Frage, ob ihr Mann da sei, direkt mit einer Erklärungssalve antwortet: Nein, der is jümmers unnerwegens. Aber er mut glieks na Hus kommen, dann gifft dat wat to eten. Ich segg hum, dat he anropen sall. Ach nee, wat is dat allens eine Tragik. Wenn ik noch wat für Sie maken kann, dann müssen Sie mir dat seggen…56

In abgeschwächter Form greift das Regionale auch bei anderen Figuren ein, wenn z. B. regelmäßig »mal« durch »man« ersetzt, oder »Da nich für« als Entgegnung für einen Dank zum Einsatz kommt. In den Schweinfurt-Krimis ist die Rollenverteilung leicht anders gelagert. Dort wird das Unterfränkische nicht nur besonders alten Figuren in den Mund gelegt, 53 54 55 56

Barow, Ulrike: Baltrumer Bescherung. Inselkrimi. Leer: Leda 2013, S. 130. Ebd., S. 164. Barow, Ulrike: Endstation Baltrum, S. 21. Barow, Ulrike: Baltrumer Bärlauch, S. 171.

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es wird auch von den immer wieder auftretenden Nebenfiguren gesprochen, ja sogar zelebriert. Dazu zählen Figuren quer durch alle sozialen Schichten und Berufssparten. Besonders prominent platziert wird das Unterfränkische aber bei den beiden alteingesessenen Schweinfurtern Joe, eigentlich Johannes, dem tätowierten Barista mit internationalem Flair des beliebtesten Schweinfurter Cafés, der gern viele der Stadtgerüchte weitergibt, mit dem Kommentar »Dürfn Sie net zu ernst nehm’. Sie wissen doch, ich bin ä großer Schwätzer«57, und Michel Hilfreich, Journalist bei der ältesten Schweinfurter Tageszeitung. Bei einer Pressekonferenz mit Kolleg:innen aus ganz Bayern ist die regionalsprachliche Markierung scheinbar unumgänglich: »Musst halt ä wenig schneller schreiben«, sagte die Radioreporterin des Bayerischen Rundfunks, die sich bemühte hochdeutsch zu sprechen, aber immer wieder mit dem Fränkischen in Konflikt kam. […] »Träum weiter«, meinte Michel Hilfreich. »Die Zeiten, wo’s nach ’ner PK ein Buffet gegeben hat, sind lang vorbei. Kannst froh sein, wenn sie dir ä Hörnchen oder ä Salzbrezel rüberschieben.«58

Hin und wieder werden auch Nebenfiguren aufgeführt, die ebenso wie Fokko Tammenga ausschließlich dazu dienen, die »Schweinfurter Mitteilungsfreude zu verkörpern«59 und das Regionalsprachliche in einem literarischen Museum vorzuführen. So stellt die nachfolgende Zeugenaussage keinerlei Mehrwert für den Plot dar und keine relevanten Informationen für die Handlung bereit: Ich bin ja direkt neben ihm g’standen. Er hat Glühwein getrunk’n, und plötzlich ist er zusammeng’sackt. Einfach so. Wahrscheinlich hat er zu viel von dem G’söff gekippt. Der Fusel taugt ja auch nix. Ich krieg jedes Mal Sodbrennen davon. Eigentlich sollt man des Zeug gar net trink. Aber es g’hört halt zum Weihnachtsmarkt mit dazu. Mein Mann beispielsweise lässt ganz die Finger davon. Der sagt immer: Ä Bier, des is ä klare Sach, da weiß man, was man hat. Aber bei dem Glühwein…60

Der gängige narrative Kniff in Regionalkrimis, Regionalsprachlichkeit in reduzierten Dosen zu verabreichen, basiert auf dem Denkmuster, wonach »Sprache im Allgemeinen in hohem Maße dazu beitragen kann, den Menschen, die sie sprechen, ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, zu einer Gemeinschaft, ein Wir-Gefühl zu vermitteln«.61 In dichotomischen Strukturen steht diesem WirGefühl in der Regel ein abgrenzendes Die-Gefühl gegenüber. Dieses Die-Gefühl in den beiden analysierten Regionalkrimi-Serien wird nicht explizit über die 57 58 59 60 61

Reichel, Lothar: Glühweingift, S. 161. Reichel, Lothar: Herbstzeitlosen, S. 22. Reichel, Lothar: Glühweingift, S. 73. Ebd. Renn, Manfred: Die Dialekte im Allgäu. Bedeutung, Stand und Zukunftsaussichten. In: Kettemann, Otto (Hg.): »Droben im Allgäu, wo das Brot ein End’ hat«. Zur Kulturgeschichte einer Region. Kronburg-Illerbeuren: Druckerzeugnis des Schwäbischen Bauernhofmuseums 2000, S. 289–295, hier S. 289.

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Sprache mit Bezug zur Rezeptionsebene erzeugt. Auch wenn bspw. in Baltrumer Eiszeit eine Gruppe Kölner Karnevalist:innen Baltrum heimsucht und hier ebenfalls auf figuraler Ebene Kölsch eingebaut und in diesem Zusammenhang sogar von »Kölner Genen«62 gesprochen wird, bleibt es ein intradiegetisches Spiel. Mentalitäten und Sprache werden miteinander verknüpft, dynamische Reibungen ausgestellt und sich zugleich auf übergeordneter Ebene auf eine transkulturelle Verbindung im Hochdeutschen eingelassen. Die DNA-Analyse des kleinsten Bausteins der Erzählungen, der Sprache, zeigt, dass sich Regionalismen und Transkulturalität komplementär ergänzen lassen. Transkulturalität gilt eben nicht nur zwischen Nationen, denn Phänomene wie »›Synkretismus‹, ›Konglomerat‹, ›kulturelle Adaption‹ und ›Verschmelzung‹, ›Neukombination‹, ›hybride Form‹«63 finden sich dort, wo kulturelle Differenzen und Gemeinsamkeiten herauskristallisiert werden können. Deutschland war und ist transkulturell und deshalb schon die Idee eines nationalen Containers ein brüchiges Konstrukt. Diese Struktur wiederum verbindet sich mit der umfassenderen Idee eines regionalen Globalismus und verknüpft regionales Erzählen mit/in der Transkulturalität.

Fazit Die eingangs gestellten Fragen – 1) wie regional kann der Regionalkrimi eigentlich (noch) sein?, 2) wo endet das Regionale und beginnt das Globale?, 3) formt der Regionalkrimi ein Rhizom? – wurden auf verschiedenen Ebenen durch eine transkulturelle Brille beleuchtet. Es ließ sich feststellen, dass transkulturelle Aspekte tief in der DNA der beiden Regionalkrimireihen verankert sind. Von der Gattungsebene angefangen, die der Annahme folgt, dass sich diese aus Bedürfnissen von Produzent:innen- und Rezipient:innenseite entwickeln und wechselseitig beeinflussen, zeigen sich vielseitige Wirkungsweisen, die nicht nur regionalisieren, sondern in ihrer intertextuellen Verweiskraft stets transkulturalisieren. Darüber hinaus wurden sowohl auf der Diskurs- und Plotebene als auch im Rahmen der Figurenkonstellation entweder transkulturelle Erzählspuren entdeckt, die sich nicht von Regionalismus in Reinform überschreiben lassen und diesen somit widerlegen, als auch Transkulturalität als Impulsgeber für einen performativ vielschichtigen regionalen Raum aufgezeigt. Regionalkrimis speichern in diesem Kontext nicht mehr nur individuelle bzw. kollektive 62 Barow, Ulrike: Baltrumer Eiszeit, S. 40. 63 Kimmich, Dorothee/Schahadat, Schamma: Einleitung. In: Kimmich, Dorothee/Schahadat, Schamma (Hg.): Kulturen in Bewegung. Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalita¨t. Bielefeld: transcript 2012, S. 7–22, hier S. 13.

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Erfahrungen, sondern avancieren zu Versuchsanordnungen eines symbolischen Probehandelns. Entlastet vom Alltagsdruck und seinen Forderungen nach pragmatischer Verständigung setzen sie das spezifisch menschliche Potential der Einbildungskraft frei und erlauben ein Ausloten von Regionalität und Transkulturalität. In diesem Verständnis oszillieren Regionalkrimis zwischen den Polen der Diktion und Fiktion. Es handelt sich um einen »wie hätten sich die Dinge ereignen können«-Bezug auf den ausgestellten Raum. Das Lokalkolorit in Form von über die Maße spezifischen Ortsbeschreibungen, das Erfassen von Mentalitäten und kulinarischen Besonderheiten wurde unter dem Aspekt des Topos ›Reiseführer‹ gefasst. In diesem Zusammenhang reiht sich der Regionalkrimi in die lange Tradition eines literarischen Tourismus ein und belebt diese populäre Praxis neu. Wiedererkennbarkeit und Kennenlernen sind dabei elastische und relationale Größen, die per se einen transkulturellen Austausch ermöglichen. Eine Form von Mehr-Wissen wird transportiert und steht damit in einem kulturellen Vermittlungsprozess, der je nach Rezipient:in unterschiedlich transkulturalisiert verarbeitbar ist. Zu guter Letzt zeigt sich die Sprache als literarisches Grundmittel in ihrer Vielfalt. Sprachraumvorstellungen sind pluralisiert und verschmelzen Dialekt und Hochsprachen, dabei bleibt eine über die regionale Verständlichkeit hinaus gesicherte Zugänglichkeit, was wiederum den Kreis zur intertextuellen Gattungsfrage schließt. Denn schließlich – wollen sich Regionalkrimis rhizomatisch im Gattungsnetz verorten – müssen sie gelesen werden können: Auf einem Biedermeiersessel lag Sommernachtstraum, der neue Schweinfurt-Krimi. »Wie ist er?« fragte Sandra Gall und deutete auf das Buch. »Nicht schlecht. Gar nicht schlecht. Auch wenn die Kollegin vom Roßmarkt schon wieder nichts davon hält. Aber die gute Friederike Vogler lässt sowieso nur Skandinavienkrimis gelten. Voll im Trend der Zeit. Die Wallanderisierung eines ganzen Genres. Verblendung und Verödung … oder wie das Zeug so heißt.«64

Literatur Barow, Ulrike: Endstation Baltrum. Inselkrimi. Leer: Leda 2008. Barow, Ulrike: Baltrumer Bärlauch. Inselkrimi. Leer: Leda 2010. Barow, Ulrike: Baltrumer Bitter. Inselkrimi. Leer: Leda 2012. Barow, Ulrike: Baltrumer Bescherung. Inselkrimi. Leer: Leda 2013. Barow, Ulrike: Baltrumer Kaninchenkrieg. Inselkrimi. Leer: Leda 2015. Barow, Ulrike: Baltrumer Eiszeit. Inselkrimi. Leer: Leda 2016. Barow, Ulrike: Baltrumer Glockenschlag. Inselkrimi. Leer: Leda 2019.

64 Reichel, Lothar: Totengräberspuk, S. 36.

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Egger, Simone: Heimat. Wie wir unseren Sehnsuchtsort immer wieder neu erfinden. München: Riemann 2014. Ginzburg, Carlo: Spurensicherungen: Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis. Übers. von Karl Friedrich Hauber. Berlin: Wagenbach 1983. Gümüs¸ay, Kübra: Sprache und Sein. Berlin: Hanser 2020. Kelleter, Frank: Populäre Serialität. Eine Einführung. In: Kelleter, Frank (Hg.): Populäre Serialität: Narration – Evolution – Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert. Bielefeld: transcript 2012, S. 11–48. Kimmich, Dorothee/Schahadat, Schamma: Einleitung. In: Kimmich, Dorothee/Schahadat, Schamma (Hg.): Kulturen in Bewegung. Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalita¨t. Bielefeld: transcript 2012, S. 7–22. Klausnitzer, Ralf: Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen. Berlin: Walter de Gruyter 2008. Löffler, Katharina: Allgäu reloaded. Wie Regionalkrimis Räume neu erfinden. Bielefeld: transcript 2017. Neubauer-Petzoldt, Ruth: Gefährdete oder trivialisierte Idyllen. Ambivalente Aktualisierungen des Idyllischen im Regionalkrimi. In: Gerstner, Jan/Riedel, Christian (Hg.): Idyllen in Literatur und Medien der Gegenwart. Bielefeld: Aisthesis 2018, S. 109–124. Piatti, Barbara: Die Geographie der Literatur. Schauplätze, Handlungsräume, Raumphantasien. Göttingen: Wallstein 2008. Plamper, Jan: Für ein neues Wir. Interview von Ina Schenker. Begleitheft Theater Bremen zum Stück MUTTER VATER LAND, 2020. Reichel, Lothar: Kindertotenlieder. Blacky tritt auf. Würzburg: Peter Hellmund 2011. Reichel, Lothar: Karfreitagszauber. Blacky macht weiter. Würzburg: Peter Hellmund 2012. Reichel, Lothar: Sommernachtstraum. Blacky spielt mit. Würzburg: Peter Hellmund 2013. Reichel, Lothar: Totengräberspuk. Blacky sieht Gespenster. Würzburg: Peter Hellmund 2014. Reichel, Lothar: Herbstzeitlosen. Blacky blickt durch. Würzburg: Peter Hellmund 2015. Reichel, Lothar: Schlachtschüsselblut. Blacky wird verfolgt. Würzburg: Peter Hellmund 2016. Reichel, Lothar: Glühweingift. Blacky und die Vergangenheit. Würzburg: Peter Hellmund 2018. Reichel, Lothar: Rauhnachtgrauen. Blacky in der Unterwelt. Würzburg: Peter Hellmund 2019. Renn, Manfred: Die Dialekte im Allgäu. Bedeutung, Stand und Zukunftsaussichten. In: Kettemann, Otto (Hg.): »Droben im Allgäu, wo das Brot ein End’ hat«. Zur Kulturgeschichte einer Region. Kronburg-Illerbeuren: Druckerzeugnis des Schwäbischen Bauernhofmuseums 2000, S. 289–295. Said, Edward William: Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht. Übers. von Hans-Horst Hennschen. Frankfurt (M.): Fischer 1994. Schmidt, Maike: Der historische Regionalkrimi. In: Friedrich, Hans-Edwin (Hg.): Der historische Roman. Erkundung einer populären Gattung. Frankfurt (M.): P. Lang 2013, S. 245–256. Suerbaum, Ulrich: Krimi. Eine Analyse der Gattung. Stuttgart: Reclam 1984.

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Tschofen, Bernhard: Vom Geschmack der Regionen. Kulinarische Praxis, europäische Politik und räumliche Kultur – eine Forschungsskizze. In: »Zeitschrift für Volkskunde« 103 (2007), S. 169–196.

Internetquelle »Norderney Nordsee-Magazin«. URL: https://magazin.norderney-zs.de/news/natur/kanin chenplage / letzter Zugriff am 10. Februar 2021.

Wolfgang Brylla (Universität Zielona Góra)

Morde im Grenzland. Gattungstheoretische Überlegungen zum deutsch-polnischen »Grenzkrimi«

In Masuren spricht man Deutsch… Mit Blick auf das Phänomen Abendkrimi scheint der Einfallsreichtum der ARDVerantwortlichen keine Grenzen zu kennen. Im coronageprägten Frühsommer 2021 strahlte das Erste einen Donnerstagszweiteiler aus, der im offiziellen Pressetext von den Filmemachern bzw. der Presseabteilung vor allem wegen seines Settings über den grünen Klee gelobt wurde: »Dichte Wälder, ursprüngliche Moore und tausend Seen – eine einzigartige Naturlandschaft«.1 Die kleine TV-Krimi-Reihe »Masuren-Krimi« (Regie: Anno Saul) wisse eben durch die Räumlichkeiten, in denen sie spielt, zu überzeugen. In der deutschen Fernsehlandschaft genießt sie allerdings keinesfalls ein Alleinstellungsmerkmal. Der Masuren-Exkurs reiht sich in das kaum überschaubare Spektrum von anderen lokalbedingten Bindestrich-(Fernseh-)Krimis. Bei der ARD liefen so schon etwaige Lissabon-, Tel Aviv- oder Prag-Krimis (stadtbezogen), Dänemark- und Kroatien-Krimis (nationenbezogen) wie Bozen-Krimis (regionalbezogen), um nur ein paar von dieser Sorte zu nennen2, mit denen die Zuschauer zu einer Sightseeingtour häufig durch fremde, ja fast exotische Städte und Länder jenseits der Mainstream-Wahrnehmung eingeladen werden. Einerseits hilft der schon im Titel bzw. Untertitel vorkommende Lokalverweis bei der topographischen Verortung der verbrecherischen Handlung. Andererseits wird man jedoch den Eindruck nicht los, dass solche Krimiformate dem Marketingprimat und der Profitmaximierung untergeordnet sind. Von den Regionalisierungsmaßnahmen im Hinblick auf das Sujet, die man auch als Ver-»Tatortisierung« bezeichnen 1 URL: https://www.degeto.de/film/masuren-krimi-fryderyks-erbe/ / letzter Zugriff am 1. Oktober 2021. 2 Mit der Resonanz, Rezeptionen und Fernsehgeschichte des deutschen TV-Krimis beschäftigten sich in ihrer aufschlussreichen Monographie, die allerdings auf der analytischen Zeitachse nur bis ins erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts reicht: Brück, Ingrid/Guder, Andrea/ Viehoff, Reinhold/Wehn, Karin: Der deutsche Fernsehkrimi. Eine Programm- und Produktionsgeschichte von den Anfängen bis heute. Stuttgart: J.B. Metzler 2003.

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könnte3, versprechen sich sowohl die einzelnen Autoren und Verlage als auch Fernsehanstalten große Verkaufseinnahmen und Einschaltquoten, denn alles, was auf welche Weise auch immer, mit dem Regional-Signum versehen wird, verkauft sich blendend.4 Mit solcher und ähnlicher PR-orientierter auf Bespaßung hinauslaufender Politik marginalisiert man jedoch die Subgattung Regionalkrimi und vergibt (un)bewusst die Chance, sie zu einem relevanten literarischen Medium zu erklären, das sich nicht scheut, sozial wie politisch brisante Themen für resp. in der entsprechenden Region aufzuarbeiten. Der inflationäre Gebrauch von allen möglichen Raumhinweisen bereits auf den Buchcovern kann auf Dauer nur lächerliche und ironisch-ausdriftende Ausmaße annehmen. Somit zitiert auch Christine Lehmann, selbst Krimiautorin, aus ihrer literarästhetischen Warte indirekt einige Pressekommentare, in denen der Regiokrimi in Wirklichkeit nicht als Buch, stattdessen als Lokalereignis schlechtgemacht werde.5 Zugespitzt gesagt: der Krimi als Rummel. Dabei lässt sich das Genre selbst nur schwer definieren.6 Außer durch die geographische Referenzialität unterscheide sich der Regiokriminalroman von anderen Raum-Krimis7 des Weiteren durch sprachliche, dialektische Spezifika der Region, wodurch ein adäquates Lokalkolorit entsteht und gewährleistet wird, in dem sich die Leser zurechtfinden 3 Die Erfolgsfernsehreihe »Tatort« bezeichnet Jochen Vogt u. a. als »Landkarte« und »Atlas der Bundesrepublik (der alten wie der neuen)«, da »jede Episode bzw. Teilserie lokale und regionale Charakteristika für ihre narrative Strategie nutzt« (Vogt, Jochen: »Tatort« – der wahre deutsche Gesellschaftsroman. Eine Projektskizze. In: Vogt, Jochen (Hg.): MedienMorde. Krimis international. München: W. Fink 2005, S. 111–129, hier S. 115). Zur Entwicklungsgeschichte des »Tatort« und seiner Gesellschaftsrolle in der Bundesrepublik siehe die zwei Standardwerke: Hißnauer, Christian/Scherer, Stefan/Stockinger, Claudia (Hg.): Föderalismus in Serie. Die Einheit der ARD-Serie »Tatort« im historischen Verlauf. Paderborn: W. Fink 2014 und Scherer, Stefan/Stockinger, Claudia/Hißnauer, Christian (Hg.): Zwischen Serie und Werk. Fernseh- und Gesellschaftsgeschichte im »Tatort«. Bielefeld: transcript 2014. Wolfgang Brylla spricht mit Blick auf die Gattungsentwicklung von »Parzellierungs- und Regionalisierungstendenzen« (Brylla, Wolfgang: (Post-)Moderner Mord oder Wiederholung des Schemas? Erzähltendenzen, Erzählstrukturen und Erzählmotive im zeitgenössischen Krimi. In: »Linguae Mundi« 6 (2011/ 2012), S. 103–126, hier S. 117). 4 Siehe Gehringer, Thomas: Mord in jedem Winkel. URL: https://www.stuttgarter-zeitung.de/in halt.regionalkrimis-im-fernsehen-mord-in-jedem-winkel.e7aeb916-47ec-42f1-a0d0-871f434 9ec61.html / letzter Zugriff am 1. Oktober 2021. Gehringer echauffierte sich 2013 über den im Fernsehen boomenden Regionalkrimi und warnte vor der »Überdrussgrenze«, die immer näher rücke. 5 Vgl. Lehmann, Christine: Doch die Idylle trügt. Über Regionalkrimis. In: »Das Argument« 278 (2008), S. 517–531, hier S. 518. 6 Vgl. Wörtche, Thomas: Crime Fiction and the Literary Field in Germany: An Overview. In: Kniesche, Thomas (ed.): Contemporary German Crime Fiction. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2019, S. 207–227, hier S. 221. 7 Zum Konnex von Raum und crime fiction siehe die Studie von Wigbers, Melanie: Krimi-Orte im Wandel. Gestaltung und Funktionen der Handlungsschauplätze in Kriminalerzählungen von der Romantik bis in die Gegenwart. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006 (vor allem das Kapitel »Neue Varianten der Ortsgestaltung«, S. 171–183).

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können.8 Durch die Nachvollziehbarkeit der Plotplatzierung in mehr oder weniger bekannten, authentischen Räumen entsteht ein gewisser »regionaler Wiedererkennungseffekt«9, der die Kluft zwischen den Text- und Leserwelten reduziert, da sich die Rezipienten mit dem Örtlichen zu identifizieren in der Lage sind.10 Für Urszula Bonter ist eben das Identifikationsprinzip eines der grundsätzlichsten Konstituierungselemente des Regionalkrimis. In ihrer rasterhaften Klassifikation zählt sie auch andere gattungsaufbauende discourse- wie histoireBausteine auf, anhand derer man versuchen könnte, einzelne Regiokrimis zu beleuchten und infolgedessen die ganze Gattungspraxis auf den Prüfstand zu stellen. Nach Bonter zeichne sich der Provinzkrimi – dieser Begriff etablierte sich in den 1980er Jahren und wurde erst später durch die Etikettierung Regiokrimi ersetzt11 – außerdem durch eine »bildungsbürgerliche Komponente« aus12, er sei stets in Verbindung mit dem Tourismus zu denken13 und könne seinen (internen) Zug ins Humoristische kaum verheimlichen.14 Die Mordtat sei meistens nur eine Ausnahmeerscheinung15, dadurch wird auch der Täterüberführung keine große Rolle beigemessen.16 Vor diesem Hintergrund sei es deswegen erlaubt, unter Verweis auf den Regionalkrimi von diversen »Verniedlichungstendenzen«17 zu sprechen, auf denen das Erfolgsrezept der Regiogattung beruht. Und dieses heißt: Durchschnittlichkeit.18 8 Vgl. Bartl, Andrea: Kriminalliteratur seit der Mitte des 20. Jahrhunderts. In: Düwell, Susanne/ Bartl, Andrea/Hamann, Christof/Ruf, Oliver (Hg.): Handbuch Kriminalliteratur. Theorien – Geschichte – Medien. Stuttgart: J.B. Metzler 2018, S. 326–349, hier S. 342. 9 Ebd. 10 Vgl. Bonter, Urszula: Stadt – Land – Mord. Einige Bemerkungen zu den aktuellen deutschen Regionalkrimis. In: Parra-Membrives, Eva/Brylla, Wolfgang (Hg.): Facetten des Kriminalromans. Ein Genre zwischen Tradition und Innovation. Tübingen: Narr Francke Attempto 2015, S. 91–101, hier S. 92. 11 Die deutsche Krimiautorin Irene Rodrian beklagt sich in einem kurzen Beitrag über den Provinzionalisierungstrend in der deutschen Kriminalliteratur, dem sie eine irgendwo-undnirgends-Charakteristik vorwirft. Der Kriminalroman profiliere sich durch die von und in ihm dargestellte Provinz (Rodrian, Irene: Profil des deutschen Krimis: Provinz. In: Ermert, Karl/Gast, Wolfgang (Hg.): Der neue deutsche Kriminalroman. Beiträge zur Darstellung, Interpretation und Kritik eines populären Genres. Rehburg-Loccum: Evangelische Akademie Loccum 1985, S. 99–100). Auf die Bezeichnung ›Provinz‹ im Zusammenhang mit der KrimiGattung verweisen dreißig Jahre später auch Bartosch, Julie: Affirmation oder Dekonstruktion von Provinz. Zwei Grundtypen des Provinzkrimis. In: »Germanica« 58 (2016), S. 149–159 und Heizmann, Jürgen: Vom Brennerpass bis Napoli. Heimat, Fremde, Interkulturalität in Kurt Lanthalers »Tschonnie-Tschenett«-Romanen. In: »Germanica« 58 (2016), S. 161–174; dem Regiokrimi attestiert Heizmann z. B. eine fehlende Identität (ebd., S. 163). 12 Bonter, Urszula: Stadt – Land – Mord, S. 92. 13 Vgl. ebd., S. 93. 14 Vgl. ebd., S. 94. 15 Vgl. ebd., S. 99. 16 Vgl. ebd., S. 96. 17 Ebd., S. 99.

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Möchte man den Masuren-TV-Krimi mithilfe des Kriterienapparates von Bonter untersuchen und auseinandernehmen, würden sich durchaus viele Überlappungspunkte und Schnittstellen offenbaren. Auch die beiden Folgen »Fryderyks Erbe« und »Fangschuss«, in denen die eigenbrötlerische Berliner Kriminaltechnikerin, Frau Dr. Viktoria Wax (Claudia Eisinger), sich unbefugt in Ermittlungen der polnischen Polizeibehörde einmischt, sind nur Durchschnitt – sowohl im Sinne der Erzählung und Handlungsführung als auch im Sinne deren fernsehtauglicher Umsetzung. Obwohl die Seenlandschaft Masuren, ehemals Ostpreußen, zum Handlungsort gekürt wurde, was sich für die Auseinandersetzung mit der komplizierten deutsch-polnischen Geschichte des Grenzlandes – diese Thematik wurde beispielsweise von Volker Kutscher in Die Akte Vaterland aufgegriffen19 – sowie der aktuellen deutsch-polnischen Konfliktlage eignen würde, fehlt davon im TV-Krimi jede Spur. Stattdessen werden polnische Klischeebilder bedient. Der Ortspolizist, teilweise angelehnt an einen klassischen depperten Dorfhilfspolizisten, muss natürlich das polnische Nationalgericht Bigos kochen, beim Pierogen-Schmaus wird am Esstisch laut geschlemmert und vor dem wunderschönen Domizil des vermisst-verstorbenen Onkels von Wax steht ein alter, gut restaurierter und sozusagen ebenfalls vermisst-verstorbener Fiat 125p, den man heutzutage in solchem einwandfreien technischen Zustand nur auf Oldtimer-Events oder im Automobilmuseum bewundern kann. Den Deutschen begegnet man weitegehend mit Skepsis, als hätte man immer noch Angst vor dem Wiederaufkauf der ehemaligen deutschen Gebiete. Den ersten Ansprechpartner Wax’ hält allerdings dieses frostig-rohe Klima nicht davon ab, hervorragendes Deutsch ohne polnischen Singsang zu sprechen, was wohl dem Umstand geschuldet ist, dass der Polizist Leon Pawlak von Sebastian Hülk gespielt wird. Im Endeffekt wirkt das den Figuren verständlichkeitshalber aufgezwungene deutsche Sprachkorsett jedoch befremdlich. Ohne es zu wollen, wird die Illusion erweckt, Masuren sei teilgermanisiert und bilde ein Bestandteil der Bundesrepublik. Und überhaupt wird die karge Schönheit der Seenlandschaften nur als Kulisse und zum Zwecke der Schauplatzkonturierung missbraucht. Die Morde, die sich in Masuren ereignen, können sich überall und nirgends ereignen; sie sind weder ›typisch‹ masurisch noch auf diesem Wege von der Seeregion und dem spezifischen Raum beeinflusst. Den Masuren-Krimi hätte man auch in Mecklenburg-Vorpommern drehen können, am Spannungsaufbau und sogar an den Naturlokalitäten hätte sich nicht viel geändert. Nur Bigos hätte man gegen Labskaus und die Fiat-Limousine gegen einen grünen Wartburg-Zweitakter 18 Vgl. ebd., S. 94. 19 Siehe Hamann, Christof: Ein Indianer in Ostpreußen. Zur Topologie des Raums in Volker Kutschers historischem Kriminalroman »Die Akte Vaterland«. In: »Zeitschrift des Verbandes Polnischer Germanisten« 1 (2014), S. 33–41.

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tauschen müssen, wenn man unbedingt ein bisschen DDR-Retro-Feeling hätte transportieren wollen.

Regionalität der (Kriminal)Literatur An den Masuren-Krimis lässt sich eben das größte Problem sowohl der Regionalkriminalromane wie -filme ablesen, und zwar die beliebige Austauschbarkeit des Tatorts. Statt viele von ihrer Grundstimmung und Grundkonstruktion her verschiedene Verbrechensräume mit Regio-Touch zu veranschaulichen, mutieren sie zu einem einzigen 08/15-Verbrechensraum, in dem er selbst nur als Tusch Verwendung findet, ohne einen Beitrag sowohl zur Bluttat als auch zur Lösung zu leisten, geschweige denn von der Funktionalisierung des Raumes. »Regionalkrimis, die in deutschen Landen spielen, sind Legion«, schlussfolgert Andrea Bartl20 und stellt somit zwischen den Zeilen die Frage nach deren literarischer Qualität sowie narrativem Grundwesen. Der Qualitätsmangel und die kaum zu bändigende Bandbreite an Fließband-Regiokriminalromanen führen zur voreingenommenen Gattungsverfemung und zu einer Vorab-Verurteilung des Subgenres als Schund, Schrott oder »literarische[r] Reiseführer«.21 Thomas Wörtche machte zu Recht darauf aufmerksam, dass der Regio-»Grimmi« implodiert und sich als Folge der Selbstfragmentierung und des Epigonentums demontiert; er leitete quasi seinen eigenen rigor mortis ein.22 Allerdings, und darauf wies ebenfalls Wörtche mehrmals hin, habe jeder ›Schubladisierungsversuch‹ des Kriminalromans negative Auswirkungen auf die ganze Kriminalliteratur23 und solle deswegen vermieden werden. Es gibt gelungene wie triviale Regionalkrimis, ebenso wie es gelungene wie triviale Romane im Allgemeinen gibt. Einige glauben im Regiokrimi die Wiedergeburt der deutschen Heimatliteratur zu erblicken24, die die regionale Dimension mit klassischen Erzählansätzen 20 Bartl, Andrea: Kriminalliteratur seit der Mitte des 20. Jahrhunderts, S. 342. 21 Kniesche, Thomas: Einführung in den Kriminalroman. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2015, S. 103. Vgl. auch den Verriss von Jahn, Reinhard: Was ist ein Regionalkrimi? Eine Autopsie. URL: http://krimiblog.blogspot.com/2009/09/was-ist-ein-regionalkrimi-eine -autopsie.html / letzter Zugriff am 1. Oktober 2021. 22 Wörtche, Thomas: Zwischen Dessous und Jägerzaun. Die Dialektik des Marketing. URL: http://www.kaliber38.de/woertche/einzelteile/jaegerzaun.htm / letzter Zugriff am 1. Oktober 2021. 23 Vgl. Wörtche, Thomas: Das Mörderische neben dem Leben. Lengwil: Libelle 2008, S. 140. 24 Vgl. Jahn, Reinhard: Was ist ein Regionalkrimi?; Frackman, Kyle: Vor Ort: The Functions and Early Roots of German Regional Crime Fiction. In: Kutch, Lynn M./Herzog, Todd (ed.): Tatort Germany. The Curious Case of German-Language Crime Fiction. Rochester, NY: Camden House 2014, S. 23–40, hier S. 24.

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verknüpft und sich auf das Pokerspiel zwischen Normalität und Abnormalität, Realität und Phantastik einlässt.25 Der verengte Heimatliteratur-Blickwinkel verdeckt jedoch eine im Stillen vonstattengehende Fortentwicklung und einen Wendeprozess in Hinsicht auf die Region/das Regionale auch unter Inbezugnahme der Kriminalliteratur. Katharina Loeffler bemerkt in ihrer Studie zu den Allgäu-Krimis, dass Regionalkrimis als Surrogat der Aufklärung von bestimmten Traditionen begriffen werden können, wodurch es zu einer Konvertierung der Begriffssemantik ›Region‹ gekommen sei.26 Denn Regionen sind nicht a priori gegeben, sie werden erst produziert und generiert.27 Man kann den Regionen auflauern, sie im Werden beobachten. Ähnlich argumentiert im Krimi-Diskurs auch Jochen Vogt, der für die Entgrenzung des Regionalen plädiert28 und sich für den »transnationalen Regionalismus« einsetzt.29 Regionen sind nämlich nicht an Landesgrenzen gebunden, sondern als Transiträume weiterzudenken, in denen kulturelle, konfesionell-religiöse, weltanschauliche oder ethnische Verschmelzungen an der Tagesordnung stehen. Im Kontext der Herausbildung und Eckdatenerfassung der Regionalliteratur spricht Jürgen Joachimsthaler von den Regionen als eine Art »Kulturraumverdichtung«30, die als identifikationsstiftende Bausäulen fungieren. So ist auch Joachimsthaler imstande, zwischen drei Typen der Regionalliteratur zu differenzieren: bei der 1) Literatur in einer Region handelt es sich um Texte, die in der jeweiligen Provinz verfasst wurden, 2) regionale Literatur behandelt die Region selbst, und 3) der Regionalen Literatur wohne immer eine »identifizierende Wirkung« inne.31 Joachimsthalers Regionalliteratur-Typologie lässt sich auch auf die sogenannte deutsch-polnische Grenzlandliteratur übertragen, obwohl aktuell, auch als Resultat der bewussten Distanzierung von der national-feindlichen Grenzlandliteratur der Zwischenkriegszeit32, meistens solche Begriffe wie »Grenzliteratur« oder »Poetik der

25 Frackman, Kyle: Vor Ort, S. 32–33. 26 Vgl. Löffler, Katharina: Allgäu reloaded. Wie Regionalkrimis Räume neu erfinden. Bielefeld: transcript 2017, S. 9. 27 Ebd., S. 12. 28 Vogt, Jochen: Regionalität und Modernisierung in der neuesten deutschsprachigen Kriminalliteratur (1990–2015). Nebst einigen Lektüreempfehlungen. In: »Germanica« 58 (2016), S. 13–39, hier S. 35. 29 Ebd., S. 23. 30 Joachimsthaler, Jürgen: Die Literarisierung einer Region und die Regionalisierung ihrer Literatur. In: »Antares« 2 (2009), S. 27–59, hier S. 39. 31 Ebd., S. 33. 32 Zum Thema Grenz(land)literatur(en) siehe Chołuj, Boz˙ena: Grenzliteraturen und ihre subversiven Effekte. Fallbeispiele aus den deutsch-polnischen Grenzgebieten (Wirbitzky, Skowronnek, Bienek, Iwasiów). In: »Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur« Bd. 28, 1 (2003), S. 57–87; Orłowski, Hubert: Grenzlandliteratur. Zur Karriere eines Begriffs und Phänomens. In: Orłowski, Hubert (Hg.): Heimat und Heimatliteratur in Ver-

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Grenze« ins Feld geführt werden33, mit denen man weniger binationale Diskrepanzen unterstreicht, sondern vielmehr sich auf die Exposition von mannigfaltigen Verflechtungen und deutsch-polnischen bilateral relations besinnt. Allerdings gehört die Grenzproblematik nicht zu den Lieblingsthemen des deutschen Kriminalromans der Gegenwart, obwohl Deutschland am westlichen Oder/Neiße-Ufer mit Sachsen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern gleich drei Grenzbundesländer stellt und man eigentlich davon ausgehen müsste, dass zumindest ein rudimentäres Grundinteresse für den Nachbarn vorhanden sein sollte. Im Folgenden werden die Krimitexte von Oliver G. Wachlin Grenzwärts (u. a. Zittau/Bolesławiec), die Słubfurt-Reihe Sören Bollmanns (Frankfurt (O.)/ Słubice) und der Kriminalroman von André Meier Letzte Losung (u. a. Tantow/ Szczecin) aus der Sicht der bikulturellen deutsch-polnischen Beziehungen besprochen. Zu fragen ist nach den stereotypisierten Denkweisen und deren Überwindung, dem Brechen von oktroyierten Staatsgrenzen und letztendlich nach der Eigenart des (deutsch-polnischen) »Grenzkrimis« und dessen politischer wie gesellschaftlicher Funktion in der Grenzregion. Der »Grenzkrimi« kann – zumindest in der Theorie – die Möglichkeit ergreifen, Eigenes und Fremdes miteinander zu vereinbaren und aus dem Fremden Bekanntes zu stanzen, festeingefahrene Geschichtsnarrative, die die Leser mit stets wiederholenden Vorurteilen abspeisen, zu revidieren und auf diesem Wege eine übernationale sowie grenz- und sprachenübergreifende, allerdings eine regional begrenzte, auf die Region(en) geeichte Identität(spolitik) zu stiften. »Grenzkrimis« lassen einen Blick in ein fiktionales Biotop erhaschen, das aber die regionale Wirklichkeit abbildet bzw. abbilden sollte.34

gangenheit und Gegenwart. Poznan´: New Ton 1993, S. 9–18; Lamping, Dieter: Über Grenzen – Eine literarische Topographie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001. 33 May-Chu, Karolina: Von Grenzlandliteratur zur Poetik der Grenze. Deutsch-polnische Transiträume und die kosmopolitische Imagination. In: »Zeitschrift für interkulturelle Germanistik« 7 (2016), H. 2, S. 87–101. 34 Vgl. Keunen, Bart: Der Großstadtkrimi und die Diagnose der Modernität. Emotionaler und moralischer Raum in einer ›Welt der Lügen und des Überlebens‹. In: Colombi, Matteo (Hg.): Stadt – Mord – Ordnung. Urbane Topographien des Verbrechens in der Kriminalliteratur aus Ost- und Mitteleuropa. Bielefeld: transcript 2012, S. 29–53, hier S. 36.

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Nazis an der Neiße: Oliver G. Wachlins Grenzwärts Oliver G. Wachlins Grenzwärts (2011) beschäftigt sich – aus einem zeitlichen Abstand – mit den Vorkommnissen an der deutsch-polnischen Grenze Görlitz/ Zgorzelec in den Nach-Wende-Jahren. Im abgehängten Ostdeutschland sorgen die Neonazis für Unruhen, den Slawen wird das Siegel »Gesocks«35 verpasst: Glücksritter aus Osteuropa, tschechische Schmuggler, rumänische Zigeuner, ukrainische Nutten. Autodiebe und ganze Busladungen mit Kleinkriminellen, die nach ihren Raubzügen durch grenznahe deutsche Städte und Gemeinden gleich wieder verschwinden. (GW, 5)

Ob das Siegel »Ein Krimi der Extraklasse«, mit dem der Emons-Verlag für seinen Autor Wachlin die Werbetrommel rührt36, seine Richtigkeit hat, sei dahingestellt. Als Kriminalroman ist Grenzwärts schlicht überfordert. Es geht um Mädchenhandel, Grenzschmuggel, die DDR und Nazi-Schläger – konfliktgeladene Themenbereiche, die aber im Falle von Wachlin in dailysoapähnliche Dialogsätze verpackt sind. Wachlins Erzählkonzept einer minutiösen und detaillierten Handlungsbeschreibung schlägt letztendlich in verbale Monotonie um. Trotz der filmartig aufgebauschten Gesprächssequenzen charakterisieren sich die Protagonisten nicht selbst (telling), sondern müssen von der Erzählstimme erst porträtiert werden (showing). In solcher Verlangsamung der Story gehen das Verbrechen und die Ermittlung unter, sie sind zweitrangig im Vergleich zum gesellschaftlich-thematischen Sprengstoff, den der Roman behandeln möchte. Wachlins Erzählern – zu registrieren ist ein nicht reguläres narratives Umschalten zwischen einer Ich- und Er-Perspektive (der Nazi Kudella vs. Polizei) – liegt vielmehr daran, die brodelnde Stimmung der 1990er Jahre nachzuskizzieren, die Zeit des Nicht-Mehr (DDR) und Noch-Nicht (deutsche Vereinigung), der scheinbar abgeschlossenen Vergangenheit und der ungewissen Zukunft, als sich mit den Gesetzeswidrigkeiten am Grenzschlagbaum zu befassen. Wachlin fängt die Zweifel der ehemaligen DDR-Bürger ein, navigiert die Leserschaft durch eine postindustrielle Ost-Ödnis, in der die Arbeitslosenzahlen steigen, die VEBs geschlossen, die LPGs privatisiert werden und die Treuhand das letzte DDR-Vermögen verhökert. In diesem undurchsichtigen perspektivlosen Kuddelmuddel erstarken nationalkonservative ausländerfeindliche Kräfte, die zu Hause unter einer Reichskriegsflagge schlafen (GW, 178), und die Osteuropäer, die auf illegalem Wege über die überwachte Grenze in die vermeintliche Freiheit flohen, die für viele im Bordell endet, werden von den Einheimischen statt mit »Herzlich Willkommen« mit einer ordentlichen Tracht Prügel, Hetze und Argwohn be35 Wachlin, Oliver G.: Grenzwärts. Köln: Emons Verlag 2011, S. 6. Alle weiteren Zitate mit Seitenangabe im Fließtext unter der Sigle GW. 36 Siehe die Rückseite des Buchumschlags.

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grüßt. Sehe man von dem mühsamen Krimihandlungsstrang ab, der in Wirklichkeit keiner ist, so ließe sich Grenzwärts als teilweise überzeugendes Zeitdokument und als Gesellschaftsstudie (mit vielen kompositorischen Hängern) in Anschlag bringen. Die Ossis sind feindlich nicht nur gegenüber den Osteuropäern (»Gesindel«; GW, 5), sondern auch den Wessis eingestellt (GW, 16). Wachlin gelingt es, die schwierigen ersten sozialen Transformationsjahre wie in einem Brennglas zu explizieren und in Ostsachsen das Regierungsgeschwafel von »blühenden Landschaften« als fake-Realität bloßzustellen, die mit der vermeintlichen Jubel-Trubel-Heiterkeits- und Aufbruchstimmung der 1990er Jahre nichts gemeinsam hat. Vielmehr hat es den Anschein, dass Ostdeutschland sich sowohl vom Westen als auch von Polen und Osteuropa abkapseln möchte. Diese Abschottungsbewegungen münden letztendlich in einer gesetzlichen Abschottung. Görlitz und Zittau werden zu rechtsfreien Räumen erklärt, in denen die Grenze nicht vor Gangsterbanden (Polen-Mafia etc.) und Verbrechen schützt, sondern sie ankurbelt und zu Gesetzverstößen animiert. Görlitz wird zur »Drehscheibe« des Menschenhandels (GW, 192), Zittau und Bogatynia als »Bogatyniadreck« (GW, 109) verunglimpft zu einem »Schleppertreff« (GW, 109). Die Ostdeutschen betrachten die Neiße als Schutzwall, der die erste von der dritten Welt trennt (GW, 18), was andernteils deren angebliche wirtschaftliche wie ideologische Überlegenheit sowie historische Deutungshoheit hervorhebt, die beispielsweise in solchen Sätzen zum Ausdruck kommt wie: »«Bogatynia, […] wo dieses Kraftwerk ist, du weißt schon!« »Reichenau«, präzisiere ich, denn das ist der richtige, der korrekte deutsche Name für diesen urschlesischen Ort« (GW, 221). Die armen kleinen Polen wollen nur etwas von »unserem Wohlstand« (GW, 78), die polnischen Kleinkriminellen montieren alles ab (GW, 62) und schmuggeln das Diebesgut über die Grenze, die zwar geöffnet wurde, aber in den Köpfen immer noch geschlossen ist. Wenn der schwarzhäutige Polizeikommissar Schwartz, der im Großen und Ganzen sehr unglücklich und stümperhaft agiert, die Görlitzer Grenzbrücke passiert, kommt es ihm so vor, als würde er »gleich einen ganzen Kontinent« wechseln: Überall Straßennamen in einer unaussprechlichen Sprache, die er nicht verstand: ulica Marszalka Pielsudskiego etwa, oder ulica Tadeusza Kosciuszki. Überall warnten Schilder Uwaga, warben für eine msza mit dem papiez und bielizna von Calvin Klein. […] Die Polen waren eben nicht sonderlich beliebt, was einerseits damit zusammenhing, dass sie seit dem Krieg in Häusern lebten, die einst Deutschen gehörten, und andererseits mit der Propaganda der Sozialistischen Einheitspartei, die nach dem Aufkommen der Solidarnosc in der Volksrepublik ganz eifrig die üblichen Vorurteile bediente und das Lied vom faulen Polacken sang […]. (GW, 93–94; Hervorhebungen im Original)

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Den Click- und Aha-Moment erlebt Schwartz in Zgorzelec, als ihm junge Polen helfen, sich in der Stadttopografie zurechtzufinden, obwohl er anfangs immer noch gegen Ressentiments zu kämpfen hat: Die Polen schienen verstanden zu haben. Oder auch nicht, denn sie setzten sich plötzlich alle in die Deese. Schwartz fiel das Herz in die Hosentasche, denn galten die Polen nicht als ein Volk von Autodieben? Wurde sein Wagen nun gehijackt? […] Hilfe sei in Polen selbstverständlich. […] Polnisch, dachte Schwartz. Wenn ich mit diesem Fall durch bin, werde ich Polnisch lernen. Es ist eine Schande, wenn man den nächsten Nachbarn nicht versteht. (GW, 95)

Der Polizeibeamte, der von Dresden nach Görlitz beordert wurde, um sich eines Selbstmordfalls anzunehmen, und der auf diese Weise über einen peripheren Blick von außen auf das Grenzland verfügt, wird von Wachlin als völliger Gegensatz zum Neonazi Kudella konturiert, der die Zollbeamten als »Scheiß polnische Grenzbullen« beschimpft, die gängige klischeehafte Meinung von der »Polackenwirtschaft« kolportiert (GW, 227) und Polen als »Schrott«-Land ansieht (GW, 228). Dabei verkennt er, dass ohne die »Goldgräberstimmung« (GW, 104) und die westdeutschen Fördermittel für den Aufbau Ost die großangelegten Sanierungs- und Renovierungsarbeiten für die ostdeutschen Städte die Ex-DDR weiterhin ein verschrottetes heruntergewirtschaftetes Gesamtbild abgeben würde. Kudella misst mit zweierlei Maß (gute Deutsche, böse Polen), Schwartz dahingegen observiert und zieht seine Rückschlüsse aus dem sich im Affentempo veränderten Grenzgebiet, das nach dem Zusammenfall des kommunistischen Regimes und des Eisernen Vorhangs in Bälde zu einem europäischen kulturellen Begegnungszentrum emporwachsen sollte. Bei einer multinationalen, polnischtschechisch-deutschen Antifa-Versammlung wird dieses Thema angesprochen: Hier ging es immerhin um das große Ganze. Europäische Luftschlösser, die zur Realität werden sollten. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus lagen Städte wie Zittau, Liberec und Jelenia Góra in der Mitte des Kontinents, nicht mehr Bonn, Köln oder Brüssel. Hier wurde die Zukunft aufgebaut, hier war der Kern eines politisch-gesellschaftlichen Experiments, das Menschen aus unterschiedlichsten Kulturen und Sprachräumen zu einer neuen innereuropäischen Identität zusammenführen wollte. (GW, 134–135)

Görlitz bildet Anfang der 1990er Jahre noch die Außengrenze der EU, soll aber in den nächsten Jahren zu einer ›grenzenlosen Grenze‹ werden, sich zusammen mit Zgorzelec zu einer einheitlichen europäischen Region zusammenschließen. Bevor jedoch dieser proeuropäische Gedanke in die Tat umgesetzt wird, bevor Polen der Europäischen Union und dem Schengen-Raum beitritt, braucht es eben die Katastrophenstimmung des Mauerfalls, der rassistischen Anfeindungen und nachbarschaftlichen Zurückhaltung, um sich dadurch besser kennenzulernen und Vorurteile wie nationale Aversionen abzubauen, um durch Ferne

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letztendlich Nähe zu erzeugen. Grenzwärts ist bestrebt, in einem missglückten Krimigewand die erste Vorstufe dieser deutsch-polnischen Annäherung anzudeuten. Deswegen kann er trotz einiger struktureller Vorbehalte als »Grenzkrimi« ausgelegt werden, in dem die Präsenz und der Tatbestand der (kontrollierten) Grenze dazu benutzt wird, sich auf Polen einzulassen und zu guter Letzt einen fruchtbaren Nährboden für die zukünftige Zusammenarbeit zu schaffen. Wachlin gelang ein schwerer historischer Ritt im Gegenteil bspw. zu der Krimifernsehserie »Wolfsland« mit Yvonne Catterfeld und Götz Schubert, die seit 2016 in der ARD läuft und ebenfalls die Oberlausitzer Neiße-Grenzregion zum Schauplatz hat. Im Kontrast zu Grenzwärts, der stark lokalorientiert ist und das deutsch-polnische historische Verhältnis anvisiert, kapriziert sich »Wolfsland« mit einigen Ausnahmen – z. B. ein (natürlicherweise) polnisches Freudenhaus – auf die filmische Bebilderung der restaurierten Görlitzer Kopfsteinpflaster-Altstadt mit ihren spätgotischen und barocken Bauten wie engen Gassen. Die Morde dienen nur als Vorwand, durch Görlitz und Umgebung herumzustreifen und die Attraktivität des paradiesischen, in Vergessenheit geratenen Landstrichs zu inszenieren.

FFO + Słubice oder Eine Stadt wächst zusammen: Sören Bollmann Nachdem 2015 Olga Lenski vom Wachtmeister Horst Krause Abschied genommen hat und ins deutsch-polnische Polizeikommissariat S´wiecko versetzt worden ist, gehört der »Polizeiruf 110« aus Frankfurt (Oder) [FFO] und Słubice zum festen Bestandteil der sonntäglichen Krimiabendunterhaltung in der ARD. Der Titel der ersten Folge mit dem neuen Polizistenduo Lenski (Maria Simon) und Adam Raczek (Lucas Gregorowicz) »Grenzgänger« steht symbolisch für die allgemeine Ausrichtung der »Polizeiruf«-Grenzregion-Auskopplung. Zu Grenzgängern mausern sich nicht nur die im Zuge des Mordes an einem polnischen Viadrina-Studenten ermittelnden Kommissare, die auf beiden Oderseiten ihre Fühler ausstrecken, Augenzeugen und Familienangehörige befragen, nach Indizien suchen und durch die real-sozialistische Bausubstanz Frankfurts wie den Plattenbau von Słubice tingeln müssen. Zum Grenzgänger wird das Verbrechen selbst, das vor der Stadtbrücke nicht Halt macht. Bis 2021 waren Lenski/Raczek gemeinsam insgesamt an zehn Fällen beteiligt, in denen außer der Aufklärung von Tötungsdelikten auch gesellschaftlich signifikante und aktuelle Themen angerissen wurden wie Flüchtlingspolitik, Rechtsruck, Bürgerwehren, nationale Abneigungen, aber auch die deutsch-polnischen Alltagsrelationen. Von solchen Regisseuren wie Jakob Ziemnicki oder Eoin Moore und Christian Bach wurde das gängige Polenbild in Deutschland hinterfragt. Einzelne Polenstereotype werden ausgeräumt, andere verballhornt und verifiziert, noch andere allerdings gefestigt

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(die konservative Frauen- und Mutterrolle, die Machtansprüche der katholischen Kirche etc.). Die Oder-Grenzregion wird im »Polizeiruf 110« weitgehend als zu einer Einheit komprimierte Region über die geographischen Grenzen hinweg präsentiert, bei der einerseits wirtschaftlich-ökonomische Faktoren und Handelsabhängigkeiten, andererseits ein reger kulturell-studentischer Austausch als Bindemittel fungieren. Die Missetaten sind nur die logische Konsequenz solch engen Zusammenwachsens und können die bilaterale Kooperation keineswegs stören. Auch der Sprachbarriere scheint bei Lenski/Raczek keine große Bedeutung zugeschrieben zu werden: von Raczek, dem Polen aus dem Ruhrgebiet, wird vorzügliches Deutsch gesprochen, in der deutsch-polnischen Polizei-Schaltzentrale, geleitet von einem polnischen OB-Mann, wird auch Deutsch bevorzugt, sogar unter den polnischen Polizeibeamten (!), was allerdings bei den Zuschauern für Schmunzeln oder Staunen sorgen und an den Masuren-Dorfpolizisten erinnern kann. Im Unterschied zu den letzten »Polizeiruf«-Folgen schaltete man anfangs häufiger auf Polnisch um, Lenski kam nach sechs Jahren über ein einfaches »Dzien´ dobry« und »Dzie˛kuje˛« nicht hinaus. Nach dem Abgang von Lenski bekam Raczek einen neuen Partner, der von André Kaczmarczyk gespielt wird, mit dem sich die paritätische und narrativ gut funktionierende, denn ausgleichende Frau-Mann-Konstellation in eine reine maskuline, aber gleichzeitig auch queere, Duo-Konfiguration verwandelte. Zumindest die Balance zwischen den im Dienste der deutschen wie der polnischen Polizei stehenden Spürhunden blieb erhalten. Überraschenderweise konnte sich die Doppelstadt Frankfurt (Oder) und Słubice schon vor der Erstausstrahlung der lokalen »Polizeiruf«-Reihe mit einem eigenen deutsch-polnischen fiktiven Polizeitandem brüsten. 2014 erschien nämlich Sören Bollmanns Krimidebüt Mord in der Halben Stadt, in dem sich zum ersten Mal der deutsche Kommissar Matuszek, aus Frankfurt (Oder) stammend, ein paar Brocken Polnisch sprechend, und sein polnisches Pendant Miłosz, in Słubice daheim, Ex-Schüler des Frankfurter Gymnasiums und daher des Deutschen mächtig, während der Untersuchungen in einem Mordfall an einem Bauinvestor mit Stasi-Vergangenheit, dessen Leichnam auf dem Oderdamm in Słubice gefunden wurde, die Klinke in die Hand gaben. Dieser geheimnisvolle Exitus, der im Laufe der Ermittlungen einiges an seiner Mysteriosität einbüßt, führt die Zweiercombo in den polnischen Underground der Prostitution, des Menschenhandels und von anderen illegalen Machenschaften, um wenig später retourkutschenmäßig wieder nach Frankfurt (Oder) umzuschlagen. Als Leser wird man mit einem ständigen Hin-und-her-Pendeln des Verbrechens und des Ermittlungsverlaufs konfrontiert, wodurch der internationale Charakter der Kriminalität als solche verdeutlicht wird, was wiederum auf eine skurrile Weise die deutsch-polnische Verkettung an den Tag legt. Das Verbrechensnetz erstreckt sich sowohl über Frankfurt (Oder) als auch Słubice, beide ›Halbstädte‹

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werden durch die Schandtaten sozusagen miteinander verkoppelt und wachsen enger zusammen. In gattungstheoretischer Hinsicht zeigt Mord in der Halben Stadt einige Mängel auf 37, der größte Vorwurf, welcher Bollmann gemacht werden kann, ist der des in Erscheinung tretenden Zufalls.38 Das Mordrätsel wird nur zufällig gelöst, zufällig meldet sich bei Miłosz eine Schlüsselzeugin aus dem Rotlichtmilieu, die wenig später auf der Oderbrücke Selbstmord begeht. Lasse man jedoch solche und ähnliche narrativen Strukturmatrixfehler außen vor, kann man Mord in der Halben Stadt als durchaus gelungenes Projekt einer literarischen Kulturamalgamierung in einer Krimikostümierung einstufen.39 Bollmann beschreibt einen transregionalen Begegnungsraum, dem solche Kategorien wie Nation oder Volk nahezu völlig fremd sind. Es geht nicht um die Tilgung und Wegradierung nationaler Charakterzüge oder Wertsysteme – Matuszek versinnbildlicht die deutsche, Miłosz die polnische Kultur –, es geht nicht um das Auseinanderspielen des einen (eigenen) Kulturraums gegen den anderen, sondern um die gegenseitige An-/Verzapfung und im Idealfall um ein harmonisches Miteinanderleben – schlicht und ergreifend um den Kulturtransfer. Auf die Frage, warum er sich entschied, einen deutsch-polnischen Kriminalroman zu Papier zu bringen, antwortet Bollmann mit dem Hinweis auf die Sonderbarkeit des Grenzgebietes, die ihn, als ›Migranten‹ aus dem Westen der Bundesrepublik, interessierte: »Am Anfang stand die Idee, Geschichten aus und über die Grenzregion zu erzählen, mit Charakteren, die von beiden Seiten der Oder kommen und solchen, die auf beiden Seiten zu Hause sind, Grenzgängern eben. Die Entscheidung für das Genre Krimi kam erst an zweiter Stelle«.40 An der Grenzregion reizt Bollmann vor allem die Möglichkeit, die Grenzen zu überschreiten, »das Uneindeutige, das Unfertige und die Tatsache, dass wir hier als deutsch-polnische Familie in beiden Sprachen und Kulturen zugleich leben können«.41 Auch in seinen zwei darauffolgenden Kriminalromanen, Einbruch in die Halbe Stadt (2015) und Angst in der Halben Stadt (2016), verfolgt er das Ziel der regionalen deutsch-polnischen Assimilation, obwohl beide Mordgeschichten nicht unbedingt auf einer ausgeklügelten, deduktiven Handlungsführung basieren. Mehr als ein brillantes Verbrechen und ein raffiniertes Erzählen über die Wahrheitsfindung fällt bei Bollmann die Backgroundbeschreibung ins Gewicht. 37 Vgl. Brylla, Wolfgang/Schmidt, Maike: Kulturelle Verflechtungen einer Grenzregion am Beispiel des deutsch-polnischen Regionalkrimis »Mord in der Halben Stadt« (2014) von Sören Bollmann. In: Düring, Michael/Junkiert, Maciej/Trybus´, Krzysztof/Wilpert, Rebekka (Hg.): Polen und Deutsche in Europa. Berlin: P. Lang 2020, S. 147–167, hier S. 165. 38 Vgl. ebd. 39 Vgl. ebd., S. 166. 40 Elektronischer Brief- bzw. Mailwechsel zwischen Sören Bollmann und W.B. vom 16. Februar 2021. 41 Ebd.

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Der Mehrwert von Angst in der Halben Stadt, in dem drei brutale Morde an einem deutschen, polnischen und chinesischen Viadrina-Studenten in den Fokus rücken, als auch von Einbruch in die Halbe Stadt, wo eine Einbruchs- und Diebstahlserie in Edelwohnungen von Frankfurt (Oder) – mit einer Leiche obendrauf – aufgeklärt werden, liegt in der Darstellung des Verbrechensarrangements. In Einbruch in die Halbe Stadt wird außerdem die Problematik der deutsch-polnischen Nachbarschaft direkt behandelt, die immer noch, 30 Jahre nach der Abwicklung der DDR und 20 Jahre nach der Öffnung des Grenzzauns, in Extremfällen wie der steigenden Kriminalitätsrate, hinter der selbstverständlich das polnische organisierte Verbrechen vermutet wird, gegen geschürte Vorurteile, Antipathie und Animositäten anzukämpfen hat. Auf verschiedenen Erzählebenen, darunter die Ober-, Unter-, Neben- und Nachtwelt, wird von Bollmann ein urbanes deutsch-polnisches Gemeinschaftsbild projiziert, das trotz vieler nachhallender Gegensätze, Andersartigkeiten und Kopfblockaden eine Ganzheit bildet. Auf die Vorbehalte, die Abschaffung der Grenzkontrollen würde doch die Verbrechensrate nur in die Höhe schießen lassen, reagiert der von einem bayerischen Touristen darauf angesprochene Matuszek mit einem Augenzwinkern und behutsamer Gelassenheit: »Genau, richtig, wo sind die Grenzanlagen?« »Die haben wir abgerissen«, sagte Matuszek. »Abgerissen? […] Man kann doch nicht einfach Grenzanlagen abreißen. […]« »Wir im Osten können das«, sagte Matuszek. […] »Dann dürfen Sie sich doch nicht wundern, wenn die Grenzkriminalität ständig weiter steigt. […]« »Ganz im Gegenteil«, entgegnete Matuszek. »Wir haben die Grenzkontrollen ja deswegen abgeschafft, um die Kriminalität zu fördern. Wollen Sie wissen, warum? […] Damit steigern wir das Wirtschaftswachstum.«42

In solchen Situationen kommt unterschwellig das Ost-West-Gefälle inkl. des angeblichen Besserwissertums der Nicht-Grenzanwohner zum Ausdruck. Für die Einheimischen sei die Grenzregion keine ausgrenzende, sondern eine zusammenschweißende Region, eben Słubfurt oder »Frankubice«, wie der ehemalige Grenzkomplex noch mit dem Vermerk Rathaus von den Frankfurtern liebkosend genannt wurde (EHS, 108). Dieses Gefühl des städtischen Zueinandergehörens wird bei Bollmann weniger durch erzähltechnische Finessen und Raumkontrastierungen wie in Mord in der Halben Stadt evoziert, wo polnische und deutsche Tatorte, Fahndungsorte sowie politisch angehauchte Gegenwarts- und Geschichtsräume gegenübergestellt werden, als vielmehr durch eine reziproke Korrelation und ein Ineinand42 Bollmann, Sören: Einbruch in die Halbe Stadt. Berlin: Klak 2015, S. 44–45. Alle weiteren Zitate mit Seitenangabe im Fließtext unter der Sigle EHS.

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ergreifen von Handlungszonen, in denen die Protagonisten mit ihren Denk- und Lebensweisen agieren. Vorkommnisse in Słubice haben Einfluss auf die Lebensqualität in Frankfurt (Oder) und umgekehrt. Beispiel: Als in der lokalen Zeitung ein gewisser Prof. Dr. Ferdinand Wachshuber, Kriminalexperte des Landes Brandenburg, gebeten wird, die Plündereien auf der deutschen Seite zu kommentieren, lehnt er grenzübergreifende Ermittlungen strickt ab, weil »unseren polnischen Freunden das Knowhow und die entsprechende Ausstattung« (EHS, 59) für die Durchführung solcher Diebstähle fehle; Polen hätten sich doch nur auf »Auto- und Fahrraddiebstähle sowie auf Gelegenheitseinbrüche in schlecht gesicherten Gebäuden« (EHS, 59) spezialisiert, erläutert Wachshuber und verspottet die polnischen Verbrecher, Diebe, Klein- oder Großkriminelle als inkompetentes Idiotenpack. Diese Meinung wird in der deutschen Jugendclique, zu der auch einer der Protagonisten, der polnische Schüler Tomek zählt, missbilligend diskutiert: »Für den alten Quacksalber sind praktisch alle Diebe Polen. Aber das reicht ihm noch nicht. Die Polen sind auch noch zu blöd dazu, einen intelligenten Einbruch zu verüben. Weil es eben Polen sind.« »Ich wusste ja nicht«, warf Christoph ein, »dass ihr Polen eine eigene Rasse seid.« (EHS, 60)

Zu derselben Zeit entschließt sich Julia, die eine polnische Jugendbande anführt und bald mit Tomek flirtet, es den Deutschen gerecht zu machen und sie schlicht zu bestehlen, wenn sie von Polen beklaut zu werden glauben: »Wisst ihr was?, rief Julia. Wenn die Arschlöcher so erpicht darauf sind, von Polen beklaut zu werden, tun wir ihnen doch den Gefallen« (EHS, 262). Julias durch Wut und Ungerechtigkeitsgefühl verursachte Trotzreaktion führt letztendlich dazu, dass in den Kleingartenanlagen Frankfurts, in denen die polnischen Jungdiebe zum Angriff übergehen, Bürgerwehren eingerichtet werden, die mit Hassparolen gegen die Polen hetzen. In ihrem politischen Manifest wird sogar das Postulat verlautet, jede Zusammenarbeit mit Słubice in den Bereichen Kultur, Bildung, Tourismus und Marketing auf Eis zu legen bzw. auf ein Minimum zu reduzieren: »Dafür soll aus dem Frankfurter Haushalt ab sofort kein Geld mehr ausgegeben werden« (EHS, 337). Durch die Große Scharrnstraße und Sieben Raben ziehen Demos mit verunsicherten deutschen Bürgern – quasi ein literarisches Gegenstück zu Pegida –, die mit solchen Leitsprüchen wie »Polen, aufgepasst!« und »Wir sind das Volk« die antipolnische Grundstimmung anheizen (EHS, 331). Am Schluss zeigt sich allerdings, dass für den ursprünglichen Raubzug durch die Stadtmitte nicht die polnischen Möchtegern-Verbrecher verantwortlich waren, stattdessen ein Deutscher, der dazu von einem Frankfurter Industriellen angestiftet wurde. Bollmanns Słubfurt-Krimis lassen sich als »Grenzkrimis« in Betracht ziehen, nicht nur wegen der geographischen Handlungslokalisierung im deutsch-pol-

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nischen Grenzland; nicht nur wegen des zusammenarbeitenden deutsch-polnischen Polizeiteams (EHS, 242), für das die Oderbrücke keine Grenzbrücke, sondern eine Stadtbrücke darstellt, die keine zwei Länder, stattdessen zwei Stadtteile miteinander verbindet. Vor allem lassen sie sich als »Grenzkrimis« paradoxerweise wegen ihres Hangs zur Nichtbeachtung der Grenzlinien bezeichnen. Mit anderen Worten: Bollmanns Anliegen besteht in der verallgemeinernden Hochstilisierung der Grenze zu einem senkrechten kartographischen schwarzen Strich auf der Europalandkarte, der durchlässig und kaum wahrnehmbar ist. Die erzählten Mordfälle dienen ihm dazu, die vorhandene regionale, gleichzeitig allerdings übernationale Bindung von Frankfurt (Oder) und Słubice in den Mittelpunkt zu stellen. Dass der Erzähler dabei immer noch auf deutsche stereotypisierte Denkautomatismen gegenüber den Polen zurückgreift, ist nicht als billiger Griff in die literarische Trickkiste anzusehen, mit dem das polnisch-deutsche Verhältnis gespalten werden sollte, sondern als Möglichkeit der Gegenwartsbewältigung, die auf die Richtigstellung der kursierenden Vorurteile aus ist. Die in den Romantiteln geführte Formel ›Halbe Stadt‹ spielt nicht auf die scheinbar halbierte und voneinander getrennte Grenzstadt an, sondern verankert die Haupthandlung im Frankfurter Stadtviertel Halbe Stadt nahe einer der wichtigsten städtischen Straßenadern Karl-Marx-Straße und des Lennéparks, denn Słubfurt begegnet man in der Krimitrilogie eher als ›Ganzstadt‹.

Deutsche Selbstläuterung am Grenzpfahl: André Meier Anders als in den stark regional angehauchten Kriminalromanen von Wachlin und Bollmann, die im grenznahen (klein)städtischen Milieu spielen, wird in André Meiers Letzte Losung (2011) ein ländliches Panoramabild aufgetischt. Der heterodiegetische Erzähler Meiers, der auf der Handlungsachse auch tief in die Vergangenheit aus der Sicht seiner Hauptfiguren zurückblicken kann, nimmt die Leserschaft mit auf eine Reise in den östlichen Norden Brandenburgs, unweit von Mecklenburg-Vorpommern, in das kleine Grenzkaff Tantow, das von den Einheimischen selbst boshaft als »kurz vor Sibirien«43 bezeichnet wird. Man befindet sich irgendwo in der Pampa, vergessen durch die Regierung und Geschichte, abseits vom Weltgeschehen, obwohl die politischen Ereignisse aus der Gegenwart wie nahen Vergangenheit tiefe Risse und Spuren im Grenzland hinterließen. Zum einen wird der EU-Beitritt Polens angerissen, mit dem sich das Zusammenleben im Grenzgebiet enorm verändert hat, zum anderen geistert noch die DDR und 43 Meier, André: Letzte Losung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2011, S. 148. Alle weiteren Zitate mit Seitenangabe im Fließtext unter der Sigle LL.

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der Zweite Weltkrieg in den Hinterzimmern der Erzählung herum, die (un)gewollt auf das Jetzt Auswirkungen haben. Mit der Versetzung der story-Ebene aufs Land bedient Meier die häufig im Regionalkrimi zu registrierende Polarisierung von Urbanität und Ruralität.44 Allerdings wird das (Groß)Städtische nicht durch das Dörfliche konterkariert, sondern vielmehr als Ergänzung des urbanen Raumes begriffen, quasi als dessen verlängerter Arm. Sinnbildlich dafür stehen beispielsweise die ›Dienstausflüge‹ von Kantor, der jungen Frauen aus Osteuropa bruchstückhaftes Deutsch beibringt, um sie später nach Berlin zu chauffieren, wo sie in den verschiedenen Nachtclubs und Etablissements als Prostituierte missbraucht werden. Über die nicht mehr bestehende deutsch-polnische Grenze schmuggelt sie Bogdan, ein polnischer Tunichtgut, Rotlicht-Geschäftsmann und Zuhälter. Vom »Arsch der Welt« (LL, 66) werden die (angehenden) Liebesdienerin in die große weite Welt im wahrsten Sinne des Wortes weiter verkauft. Die Tantower Grenze zu Polen gilt als Umschlagplatz von polnischen Gangstern mit ihrer kriminellen Geheimniskrämerei, für die sie nur selten zur Verantwortung gezogen werden. Dabei bilden die stereotypische deutsche Sichtweise und der Umgang mit dem polnischen Nachbarn nur die Grundlage für eine komische Polemik wie Absage an die deutsche Überheblichkeit einerseits, und andererseits für die von den Vorurteilen geprägte Ermittlung im Falle von drei Morden; die Leichen fand man im Grenzland bzw. man fesselte sie an den Grenzpfahl, wodurch sie zu einem (Klein)Politikum wurden. Der Plot von Meiers Letzte Losung lässt sich in einigen wenigen Sätzen zusammenfassen: die Verbrechen sollen von der Lokalpolizei unter der Leitung der aus Bochum delegierten Kommissarin Claudia Schmidt aufgeklärt werden. Um die Mordrätsel zu knacken, muss man allerdings auch die dunkle Vergangenheit durchforsten. Am Schluss zeigt sich, dass nicht die Polen-Mafia Schuld an der Mordserie hat, der Mörder versteckt sich auf der deutschen Seite und kann den Gesetzeshütern entkommen, indem er sich als Opfer inszeniert und eine vollkommen unschuldige Person – den Pfarrer der Kirchengemeinde a.D. –, die er im finalen Akt erschießt, zum Sündenbock macht. Auf diese Weise widerspricht der Kriminalroman Meiers den Gattungsregeln, nach denen die Täter geschnappt und bestraft werden sollten45, damit die aus den Fugen geratene Welt repariert werden kann oder zumindest der Anschein des Intaktseins bewahrt wird. Meier entscheidet sich für eine ganz andere Vorgehensweise und lässt seinen Roman mit einem knallharten Gattungsbruch 44 Obwohl Thomas Kniesche mit dem Verweis auf die Globalisierung unterstreicht, dass diese Polarisierung im Grunde eine Entpolarisierung ist, da es keinen Gegensatz zwischen Stadt und Dorf im Regionalkrimi gebe (Kniesche, Thomas: Einführung in den Kriminalroman, S. 103). 45 Dazu die Basisstudien von Nusser, Peter: Der Kriminalroman. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2003, S. 22 oder Suerbaum, Ulrich: Krimi. Eine Analyse der Gattung. Stuttgart: Reclam jun. 1984, S. 14.

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enden, der sich jedoch von der Krimihandlung selbst und Meiers Absicht, ein Grenzregionenkonterfei zu malen, das in Wahrheit einer Karikatur gleicht, ableitet. Die Stereotypen gegenüber den Polen werden von Meier als Blaupause genommen, um seine deutschen Mitbürger der Lächerlichkeit preiszugeben und deren Eingeschränktheit und programmatische Abneigung durchzudeklinieren und zu brüskieren. Letzte Losung fängt in-media-res mit einer topographischen Einordnung aus dem Blickwinkel des Pfarrers Eickstedt an, der in einen uralten Wald hineinschaut, der zur Grenze wurde zwischen den Nationen, zwischen den Geschichtsnarrativen, aber vor allem zwischen der Heimat und der Fremde: »Durch diesen dunklen Wald zog sich seit über einem halben Jahrhundert eine Grenze, die ihn daran gemahnte, wie schnell aus der Heimat Fremde werden konnte und wie langsam aus der Fremde eine Heimat« (LL, 7). Die Waldkulisse wird zum Schauplatz für die Tötungsdelikte sowie für die Thematisierung von für die Grenzregion im 21. Jahrhundert signifikanten Fragenkomplexen. In Wirklichkeit versetzen die Morde die lokale Bevölkerung nicht in Aufruhr, indem sie chaotische Angstzustände auslösen, denn den Opfern schenkt man vonseiten der Grenzeigenbrötler wenig Aufmerksamkeit. Als viel interessanter erweist sich die Frage nach den Tätern, nach den polnischen Tätern, denn sofort werden die Polen der Verbrechen bezichtigt. Eine der Figuren, Erdmann, steht pars pro toto für viele andere Grenzbewohner, die gegenüber den Polen nur Misstrauen übrig haben: Erdmann wunderte das nicht. Für ihn war der Fall klar. Den Mörder auf der deutschen Seite zu suchen, hielt er, wie die meisten Tantower, für reine Zeitverschwendung. Es konnten nur Polen dahinterstecken. Vielleicht auch die Mafia, von der es hieß, sie hätte schon in den neunziger Jahren Flohmarkthändler in die Wälder gezerrt und exekutiert, wenn sie keine Schutzgelder zahlen wollten. Nun waren die Grenzen offen, wieso sollten die ihre Leichen nicht hier ablegen? (LL, 40)

Über Polen äußern sich die Einwohner von Tantow und dem Umland nur abwertend, da ist die Rede von »Polacken« (LL, 60) und ähnlich wie bei Wachlin vom »Gesocks« (LL, 69). In Meiers »Grenzkrimi« wird die Grenze als das beschrieben, was sie immer noch in der Perzeption und Empfindung vieler (Ewiggestriger) ist, obwohl sie theoretisch abgebaut wurde: die nicht existierende Grenze grenzt weiterhin ab, aber nicht die Polen von den Deutschen, sondern die Deutschen von den Polen. Auf der deutschen Oderseite lassen sich polnische Familien nieder, es werden polnische Friseursalons eröffnet, polnische Handwerker bieten preiswerte Dienstleistungen an, polnische Städter kaufen alte, verlassene Dorfhäuser auf und lassen sie renovieren. Kurzum: die Polen werden in Ostdeutschland heimisch, was unter den Alteingesessenen für Unverständnis sorgt, weil es sozusagen zu einem Rollenwechsel kommt. Früher als D-MarkHerren durch die (Ost)Welt stolzierend müssen jetzt die Deutschen, die mit dem

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»Privileg des vermeintlich besseren Blutes und des wertvolleren Passes« ausgestattet waren (LL, 170), den Aufschwung der Polen, die ihnen den Rang ablaufen, zähneknirschend erdulden. Und dies wollen die Kneipenossis nicht ertragen; in einer längeren Erzählpassage werden vom Erzähler die deutsch-polnischen Beziehungen auf eine humorvoll-kritische Weise wie folgt dargestellt: Der Alte fühlte sich ertappt und winkte ab. Es lohnte sich nicht, hier und jetzt einen Streit anzufangen. Die Männer an den anderen Tischen spitzten schon die Ohren. Und wenn es um die Polen ging, konnten sich die Gemüter schnell erhitzen. Gleich nach dem Mauerfall durften sie sich wie die Könige fühlen, sind mit ihrem schönen Westgeld über die Grenze gefahren, um sich von liebedienernden Händlern bauchpinseln zu lassen: »Bietee schööön, der Herr, und junge Frau, was wüünschen?« Riesige Flohmärkte schossen wie Pilze aus dem Boden und boten zum Schnäppchenspreis alles an, was das Herz der Deutschen schneller schlagen ließ: Wandteppiche mit Schäferhundmotiven, gedrechselte Telefontische, grellbunte Pantoffeln, Jogginghosen mit Tarnmuster oder schwarz-rot-gelben Seitenstreifen. Je billiger, desto besser. Und selbst wer diesseits der Grenze noch nie einen Nagel gerade in die Wand geschlagen hatte, glaubte dort plötzlich zu wissen, wo der Hammer hängt. Solange sie auf die Polen herabschauen konnten, konnten die Dörfler ihre eigene Deklassierung ertragen. […] Aus den D-Mark-Deutschen waren wieder Hinterwäldler geworden, Bauernpack. (LL, 168–169)

Das missbilligende Herabschauen auf die Polen wird von Meier zeitpolitisch erklärt als Versuch des Wegschauens von der eigenen sozialen Demütigung. Indem man andere (die Polen) zuerst mit materiell-finanziellen Mitteln mit Füßen tritt und sie in die Schranken verwies, kann man sie heutzutage nur verbal zertreten. Denn handgreiflich werden die Ostdeutschen gegenüber den polnischen Bürgern nicht, die Aggressivität beschränkt sich nur auf die Sprache. »Die Polen natürlich, was glauben Sie, was hier los ist, seit die Grenze offen ist!« (LL, 278), brüllt ein Kneipenbesucher in die Kamera eines Fernsehteams, das von den Morden im Grenzland berichten möchte. Die zur Schau gestellte Minderschätzung dient als Schutzschirm vor der eigenen Zurkenntnisnahme, dass die (nationalen) Hierarchien im abstrusen deutschen Weltbild auf den Kopf gestellt worden sind. Mit dem ständigen Verweis auf die verbrecherischen Polen wird einerseits erneut der deutsche Hochmut markiert, andererseits jedoch die Verkennung der Tatsachen vorgespielt, was im Nachhinein den wiedererstarkten populistischen Rechten Tür und Tor öffnet. Auf komplizierte Fragestellungen liefert man einfache Antworten (es waren die Polen!), das eigene Mitverschulden wird verklärt. Meier gelingt es, mithilfe der Polen-Stereotype quasi ohne polnische Figuren – mit Ausnahme von Bogdan, der mit seinem horizontalen Gewerbe in Stettin im Grunde nur den Wünschen von Deutschen nach Liebe und billigem Abendtechtelmechtel nachkommt – ein Selbstporträt vom abgeschüttelten Ostdeutschland zu umreißen. Die Grenzregion tritt als Mikro-Ort zum Vorschein, an dem sich weniger die Problematik der deutsch-polnischen border relations als

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vielmehr das deutsch-deutsche Machtverhältnis widerspiegelt. Polen wird von Meier sozusagen als Tarnkappe fürs Ausfechten von innerdeutschen Themendiskursen genutzt. Dass am Ende das wahre Motiv für die verübten Morde ans Licht gelangt, nämlich ein Klima-Naturschutz-Motiv, verstärkt nur die Annahme von der Irrelevanz des Tathergangs und lässt Letzte Losung als Kriminalroman verstehen, in dem den Verbrechen eine Alibi-Funktion zukommt, um vor diesem Hintergrund, auch im Hinblick auf die Grenzthematik, das deutsche Weltbild – salopp ausgedrückt – durch den Kakao zu ziehen. Trotzdem, oder auch deswegen, kann man Meiers Krimitext als »Grenzkrimi« einstufen, in dem das Verbrechen und dessen Lösung mehr oder weniger als Ausrede dient, andere Themenfelder auszudiskutieren. Einen ganz ähnlichen, aber weniger auf Verzerrung getrimmten Anspruch erhebt der von der ARD mitproduzierte »Usedom-Krimi« mit Katrin Sass, der auf der Ostseeinsel spielt, aber immer wieder Tagesexkursionen auf die polnische Seite unternimmt, allen voran nach Swinemünde und Stettin, das hier als Bindeglied und Anknüpfungspunkt zu Meier fungieren soll. Der Produktionsleitung des »Usedom-Krimis« ist das schwere Unterfangen geglückt, die Grenzregion nicht als zwanghaft zusammengelötete Einzelregionen, sondern als einen einzigen Verbrechenskosmos zu präsentieren, in dem die deutsch-polnische Grenze nicht ausgrenzt, sondern das Grenzland eingrenzt. Dargestellt werden grenzübergreifende Kardinalsdelikte und Schwerstverbrechen, die einer grenzübergreifenden Polizeiarbeit bedürfen, damit sie gelöst werden können. Die nationalen Übergänge verlaufen reibungslos und zementieren das Verwachsen eines Grenzgebiets – zumindest auf krimineller Basis.

Vom Grenzkrimi zur no border-Literatur Zu den Sonderformen des deutsch-polnischen Grenzkriminalromans zählen Elisabeth Herrmanns Versunkene Gräber (2014) und Merle Krögers Grenzfall (2010), denen man mit dem Prädikat Überregionalismus bzw. Interregionalismus beikommen könnte. Wenn Herrmann die kriminelle Handlung ihres Romans im weitgefassten Grenzgebiet rund um die Weinstadt Zielona Góra (ehem. Grünberg in Schlesien) verortet, schwenkt Kröger auf den Grenzbezirk im Norden von Mecklenburg-Vorpommern um, den sie weniger wegen der polnischdeutschen Nachbarschaftsbeziehungen im Blick hat als wegen der Nachbarschafts-Nichtbeziehungen, die von Flüchtlingswelle und illegalen Grenzdurchbrüchen an der Oder geprägt sind. Bei Kröger entwickelt sich die ostdeutsche Grenze zum Aushandlungspunkt über das Problemfeld der Migration, Flucht,

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Vertreibung und Asylanten, die die Grenzländer liebkosend »unsere Zigeuner«46 nennen, die sie allerdings als Fremdlinge ansehen. Mit einer literarischen Tour de Europa und mit Zeitsprüngen in das Jahr 1992 aus der Erzählgegenwart 2012 konturiert Kröger mit filmisch anmutenden Sätzen und unzähligen Szenenwechseln eine besorgniserregende, denn nur subkutan greifbare Atmosphäre der Angst und Feindseligkeit, in der die Asylbewerber von den Grenzbewohnern als »Krankheit« (GF, 18) und per se als Verbrecher (GF, 121) verunglimpft werden. Die Ausländerhetzkampagne und Handgreiflichkeiten gegenüber den NichtDeutschen in Rostock-Lichtenhagen oder Hoyerswerda, die Krögers Krimi auch unterschwellig zum Gegenstand hat, endeten nicht in den 1990er Jahren. Dieses Exklusionsmuster wiederholt sich, zwar mit anderen Mitteln, aber ähnlichen Schlussergebnissen, auch zwanzig Jahre später, wohlgemerkt noch vor der Flüchtlingskrise 2015/2016 und Merkels »Wir schaffen das«-Maxime. Krögers Meisterleistung besteht im Versuch, die tradierte Denkweise in nationalen auswie abgrenzenden Kategorien zu korrigieren und Europa – die Europäische Union – nicht als Bündel von Einzelstaaten, sondern als eine schrankenlose Region ins Visier zu nehmen, in denen die Flüsse – in Grenzfall wird die Oder noch zum »Todesfluss« (GF, 35) – Leben statt Sterben bedeuten. Mit anderen Worten: die Ent- bzw. Resemantisierung des Grenzbereichs als grenzenloser Ort. Auch Herrmann verfolgt ein ähnliches Revisionsprinzip, allerdings eher mit einer klassischen Erzählpragmatik, in der sie die gegenwärtige Ich-Handlungsebene mit historischen Einschüben vermischt, hier in Form von Tagebucheinträgen vom Ende des Zweiten Weltkrieges, wodurch das erzählte Geheimnis zur deutsch-polnischen Geschichtsaufarbeitung wird. Herrmann verlagert die histoire von Versunkene Gräber in die ehemalige Weinstadt des Ostens, Zielona Góra, ca. 60 Kilometer von der heutigen Grenze entfernt: in eine Stadt, die nach 1945 im Zuge der Westerweiterung Polen zugesprochen wurde; in eine schlesische Stadt, der infolge der Massenzuwanderung aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten (sog. kresy) nicht nur ihr Deutschtum, sondern vor allem ihr Schlesientum abhandenkam; in eine Stadt, die zwangspolonisiert und wo die über achthundertjährige Weinbautradition verpönt wurde. Das größte Weinbaugebiet des deutschen Ostens stempelte man in der polnischen Volksrepublik zum weinfremden Niemandsland ab. Zielona Góra wird bei Herrmann nicht nur eine historische Funktion zugeschrieben, sondern auch eine story telling-Funktion. Der Protagonist und gleichzeitig der Ich-Erzähler, der Berliner Junganwalt Joachim Vernau, sucht seine verschollene Ex-Freundin, die auf einem polnischen Dorf in der Nähe von Zielona Góra, dem fiktiven Janekpolana, für das wahrscheinlich Górzykowo Pate stand, gesehen worden war, als ihr gemeinsamer 46 Kröger, Merle: Grenzfall. Hamburg: Argument Verlag 2012, S. 166. Alle weiteren Zitate mit Seitenangabe im Fließtext unter der Sigle GF.

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Bekannter, der in Deutschland als Kfz-Mechaniker arbeitende Jacek, seinen Vater getötet haben soll und deswegen verhaftet wird. Vernau, der Marie-Louise finden und Jacek vom Verdacht des begangenen Mordes entlasten möchte, arbeitet mit einer aus Zielona Góra stammenden polnischen Staatsanwältin zusammen. Die Weinstadt wird auf diesem Wege zum Zentrum der narrativen sowie historischen Ermittlungen. Herrmann malt Zielona Góra mit seiner »hübschen Altstadt, […] klassizistischen Bürgerhäusern und einem Museum, das mich irritierte, weil es seine Ausstellung über den Weinanbau gemeinsam mit einem Besuch des mittelalterlichen Folterkellers bewarb«47 aus und kommt aus der Sicht Vernaus zum Schluss: »Ich mochte die Stadt. Sie wirkte klein und zufrieden mit sich, hatte viel getan, um Altes zu bewahren, und dem Neuen außerhalb der Stadtmauern seine Chancen gegeben« (VG, 71). Dieser in den Weg geleitete verschönernde Kittungsprozess des Stadtimages täuscht allerdings nicht darüber hinweg, dass Zielona Góra, die »Toskana von Preußen« (VG, 288), zuerst seine urbane ID als Weinkönigreich leugnete, um sie nach jahrzehntelanger Suche wiederzuentdecken und jetzt – nach Anlaufschwierigkeiten – zu pflegen.48 Zielona Góra und Umgebung werden bei Herrmann zum Symbol eines SuperGAUs im Hinblick auf die chronologische Geschichtsschreibung und den historischen Umbruch einerseits, andererseits zum Fundament einer völlig neuen Geschichtsschreibung, die vom Vernau-Erzähler nicht bewertet, sondern nur auf der Oberfläche beäugt wird. Denn hinter den schönen Häuserfassaden aus der Gründerzeit verbergen sich menschliche Schicksale der ausgesiedelten deutschen Bevölkerung und der polnischen Neubevölkerung aus dem Osten. Jacek weiß dies wie folgt auf den Punkt zu bringen: »Alle in Janekpolana kamen von irgendwoher. Aus der Ukraine, aus dem Baltikum, aus Wolhynien, aus allen Himmelsrichtungen, in die man sie vertrieben oder deportiert hatte. Sie kamen in stumme Dörfer. Es gab keine Geschichte, keine Vergangenheit. Niemand war mehr da, der sie erzählen konnte. Also haben die Leute ihre eigenen Legenden mitgebracht […].« (VG, 126)

Im Hintergrund schwirrt die Vertriebenen-Debatte mit der spuckenden Erika Steinbach und die umhergehende Angst, die Deutschen würden die verlorenen Wohngebiete für sich beanspruchen und auf finanzielle Entschädigungen klagen (VG, 183). Nach 1945 dachten viele der Osteinwanderer, quasi bis zu den Grenzverträgen mit der DDR in Zgorzelec/Görlitz 1950, die Zwangsumsiedlun-

47 Herrmann, Elisabeth: Versunkene Gräber. München: Goldmann 2014, S. 71. Alle weiteren Zitate mit Seitenangabe im Fließtext unter der Sigle VG. 48 Vgl. Brylla, Wolfgang: Kulturelle Identitätstopographie(n). Die Stadt Zielona Góra zwischen »Entschlesierung« und rekonstruierter Kontinuität. In: »Studia Germanica Gedanensia« 42 (2020), S. 77–88.

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gen wären nur eine Übergangslösung und Schlesien würde man an Deutschland abgeben. »Das ist der Grund, weshalb unsere Eltern und Großeltern dem Boden nicht getraut haben, auf dem die gegangen sind«, sagt Jacek und fügt hinzu: »Warum dieses Thema nie angeschnitten wurde. Weil wir uns von den Deutschen nicht vorhalten lassen müssen, wir hätten ihnen dieses Land gestohlen! […]« (VG, 293–294; Hervorhebung im Original)

Jacek verkörpert den modernen Europäer-Typus, der nach langem (politischen) Verschweigen sich der Geschichtszusammenhänge bewusst wird, der nicht sein ganzes derzeitiges Leben hinterfragt, sondern das Heute mit dem Gestern symbiotisch verquickt, Lehren daraus zieht und dem, was nicht ist, nicht nachweint. »Das ist mein Land. Und es hat eine Geschichte, die nicht erst neunzehnhundertfünfundvierzig begonnen hat. Meine Großeltern, meine Eltern, für die war das hier der absolute Neuanfang. Bloß nicht daran rühren, was früher war. Die hatten alle das Schlimmste mitgemacht. Aus dem Haus getrieben, deportiert, von den Sowjets verschleppt. Die Hälfte von uns ist draufgegangen in dieser Zeit. Die andere Hälfte kam hierher und wollte nichts als neu anfangen. Da hat keiner gefragt, wem was vorher gehört hat. Die haben das Land verlassen.« »Sie mussten das Land verlassen.« »Glaub mir, es war besser so. Sonst hätte keiner überlebt. Mein Großvater hat mir als Kind ab und zu was erzählt. Sie haben im Freien unter der Bahnbrücke geschlafen, die Polen und die Deutschen. Sie sind erfroren, verhungert oder haben sich Typhus eingefangen. Alle sind sie hier gestrandet, am Ufer der Odra. Kein Vor, kein Zurück. Das war wie eine riesige Welle, die gegen eine Mauer kracht. Monate vor Kriegsende war hier, hinter der Front, die Hölle. Wie hätte man das regeln sollen?« (VG, 286–287; Hervorhebung im Original)

Krögers Grenzfall und Herrmanns Versunkene Gräber heben sich von den besprochenen »Grenzkrimis« Wachlins, Bollmanns und Meiers einerseits ab – weniger durch die konkrete Handlungsverortung im deutsch-polnischen Grenzbereich, als eher durch die Fokussierung auf die Problematik der Grenzregion –, andererseits peilen sie jedoch dasselbe Ziel an, und zwar die Überbrückung der einengenden (nationalen) Regionen-Perspektive, die Hand in Hand geht mit der Aufarbeitung der (deutsch-)deutsch-polnischen Vergangenheit und dem Abbau von Klischees – auf beiden Seiten der Grenzflüsse. Greife man auf Joachimsthalers Regionalliteratur-Konzeption zurück, so wären die Kriminalromane von Wachlin, Bollmann und Meier sowohl als Literatur(en) in der Region als auch regionale Literatur(en) aufzufassen, denen es zwar vorschwebt, Grenzzäune zu beseitigen, die aber nicht den Schritt zur grenzübergreifenden regionalen Identitätsstiftung (Regionale Literatur) wagen. Die deutsch-polnischen Grenzkrimis zeichnen sich durch folgende Erzählfaktoren aus: 1) Handlungslokalisierung im Grenzland, 2) Überwindung sozialer,

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politischer und nationaler Grenzlinien, 3) Darstellung der Grenzregion als Ganzregion, 4) (ironische) Korrektur von nationalen Stereotypen, 5) Überordnung der gesellschaftlichen Problematik dem eigentlichen Verbrechen gegenüber. Der Mord und die Ermittlungen, ohne die, wie es Marc Aaron Stein einmal sarkastisch feststellte, das Genre einem »Tennisspiel ohne Netz und Tennisplatz« gleiche49, werden zu Nebensächlichkeiten und dadurch die Kriminalromane weniger zu Grenz-KRIMIS, als vielmehr zu überregionaler no border-Literatur, mit der man schon Kröger und Herrmann labeln könnte. Aus der Grenzregion wird eine Region, aus der Region die Welt, aus der Welt ein Akteur und keine gleichgültig ausgewählte Handlungsdekoration, wie es beispielsweise in der französisch-deutschen ARD-Krimiserie »Über die Grenze« (Regie: Michael Rowitz) der Fall ist. In diesem Punkt ist die Literatur dem Fernsehen einmalmehr um einiges voraus.

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Tatort: Dorf

Bettina Wild (Johannes-Gutenberg-Universität Mainz) / Melanie Wigbers (Pädagogische Hochschule Heidelberg)

»Du erfährst nichts, gar nichts.« Das Schweigen in Dorfgeschichte und Dorfkriminalroman

Einleitung Eine Kriminalerzählung lebt, obgleich sie oftmals hohe Rede-Anteile der Figuren enthält, wesentlich vom (Ver-)Schweigen. Soll ein detektivliterarischer Plot funktionieren, so ist es unverzichtbar, dass ein Teil der Handlung, das Verbrechen und der Täter, weder dem Leser noch den an der Aufklärungshandlung beteiligten Akteuren zu früh offenbart wird. Hinzu kommen sekundäre Geheimnisse, die einzelne Figuren gern wahren möchten1, sowie das zeitweise Geheimhalten von Teilen der Aufklärungshandlung vor dem Leser und eventuellen Helferfiguren durch den Detektiv.2 All dies gilt für das Genre der Kriminalliteratur generell, unabhängig vom jeweiligen Schauplatz. Dennoch scheint in Kriminalerzählungen, die auf dem Lande spielen, dem Motiv des Schweigens eine besondere Rolle zuzukommen. Das schweigsame Dorf, das der Ermittlerfigur keine Auskünfte gibt, die Kooperation verweigert und sie damit vor eine spezifische Herausforderung stellt, taucht in alten und neuen Kriminalerzählungen immer wieder auf. Zu einem Gegenstand genauerer Untersuchung ist dieser kriminalliterarische Topos indes bis heute nicht geworden. Der vorliegende Beitrag verfolgt das Anliegen, in diese Forschungslücke zu stoßen und in diesem Zusammenhang eine historische Perspektive zu entwickeln. Er untersucht auf der einen Seite ausgewählte Dorfkriminalromane auf die in den Texten realisierte Gestaltung und Funktionalisierung des Schweigens. Den Korpus der Untersuchung bilden diesbezüglich fünf Texte, von denen vier einen besonders hohen Bekanntheitswert erreicht haben und bei denen davon auszugehen ist, dass sie die nachfolgende Entwicklung des Genres beeinflusst haben: 1 Vgl. Alewyn, Richard: Anatomie des Detektivromans. In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München: W. Fink 1998, S. 52–72, hier S. 63–67. 2 Vgl. Schulze-Witzenrath, Elisabeth: Die Geschichten des Detektivromans. Zur Struktur und Rezeptionsweise seiner klassischen Form. In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München: W. Fink 1998, S. 216–238, hier S. 220–224.

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Friedrich Glausers Schlumpf Erwin Mord (1936), Friedrich Dürrenmatts Das Versprechen (1958), Doris Gerckes Weinschröter, du mußt hängen (1988) und Andrea Maria Schenkels Tannöd (2006). Der letzte im Folgenden analysierte Text, Britta u. Christian Habekosts Rebenopfer (2020), fungiert als Beispiel für einen unmittelbaren Gegenwartskrimi. Auf der anderen Seite wird in dem Beitrag der Frage nachgegangen, inwiefern das Motiv der schweigenden Dorfgemeinschaft schon in den Dorfgeschichten des 19. Jahrhunderts zu finden ist. Zu diesem Zweck werden ausgewählte Erzählungen aus Berthold Auerbachs Sammlung der Schwarzwälder Dorfgeschichten, die motivgeschichtlich als konstituierend für die Gattung gelten können3, in den Blick genommen. Außerdem wird Gottfried Kellers Seldwyler Geschichte Romeo und Julia auf dem Dorfe, die sich als ›Musterdorfgeschichte‹ bezeichnen lässt, untersucht.4

Das Schweigen im Dorfkriminalroman Wenn das Schweigen in Dorfkrimis eine größere Rolle spielt als in Kriminalromanen mit anderem Schauplatz, so ist naheliegend, dass es in den Dorfkrimis ausgeprägter praktiziert wird und/oder mehr Funktionen erfüllt als die in der Einleitung genannten. Tatsächlich lässt sich dies an den untersuchten Krimis belegen. Zum einen besteht insbesondere in zwei Kriminalromanen (Versprechen und Rebenopfer) eine deutliche Abgrenzung der Dörfer nach außen, die sich nicht auf die Abwehr der Verbrechensaufklärung beschränkt. Die Dorfgemeinschaft wehrt sich vielmehr generell gegen Einmischung, sie ist bemüht, Souveränität zu wahren oder dorfeigene Geheimnisse zu hüten. Zum anderen wird Schweigen auch im alltäglichen Leben innerhalb der Dorfbevölkerung praktiziert. So dient Schweigen als Mittel, um Außenseiter oder unbeliebte Dorfbewohner:innen zu sanktionieren, umgekehrt aber auch als Mittel eben dieser Figuren, um sich gegen die sie feindselig behandelnde Dorfgemeinschaft abzuschirmen. Oftmals stehen in den Kriminalromanen auch spezifische Themen gleichsam unter einem dorfinternen Schweigegebot. Dies sind Gegenstandsbereiche, von denen es zwar heißt, dass jeder im Dorf von ihnen wisse, die aber dennoch 3 Vgl. Wild, Bettina: Topologie des ländlichen Raums. Berthold Auerbachs »Schwarzwälder Dorfgeschichten« und ihre Bedeutung für die Literatur des Realismus. Mit Exkursen zur englischen Literatur. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011. 4 Vgl. ebd., S. 306–321. Zur Gattung Dorfgeschichte vgl. das Standardwerk von Hein, Jürgen: Dorfgeschichte. Stuttgart: J.B. Metzler 1976 sowie die aktuelleren Auseinandersetzung in Nell, Werner/Weiland, Marc (Hg.): Imaginäre Dörfer. Zur Wiederkehr des Dörflichen in Literatur, Film und Lebenswelt. Bielefeld: transcript 2014.

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keinem offenen und reflektierenden Gespräch zugänglich sind. Ein solchermaßen tabuisiertes Thema ist in drei der untersuchten Kriminalromane (Weinschröter, Tannöd, andeutungsweise in Schlumpf) der sexuelle Missbrauch oder die Vergewaltigung von Frauen oder Mädchen. In allen drei Texten besteht dabei ein Zusammenhang zwischen diesem Thema und dem aufzuklärenden Verbrechen. Die Verschwiegenheit der Dörfer wird in den Kriminalromanen nicht nur im Rahmen der Handlung präsentiert, sondern zuweilen auch in expliziten Charakterisierungen dörflicher Gegenden oder eines speziellen Dorfes ausgedrückt. So erinnert sich Wachtmeister Studer in Schlumpf Erwin Mord, der im Dorf Gerzenstein um die Aufklärung eines Mordes bemüht ist, an die frühere Aussage eines Kollegen: Studer […], glaub mir, lieber zehn Mordfälle in der Stadt als einer auf dem Land. Auf dem Land, in einem Dorf, da hängen die Leute wie die Kletten aneinander, jeder hat etwas zu verbergen… Du erfährst nichts, gar nichts. Während in der Stadt… Mein Gott, ja, es ist gefährlicher, aber du kennst die Burschen gleich, sie schwatzen, sie verschwatzen sich. Aber auf dem Land!… Gott behüte uns vor Mordfällen auf dem Land…5

Die Hürde, die der Detektiv zu bewältigen hat, wird auf diese Weise besonders herausgestellt und die Figur damit aufgewertet. Eine scheinbar gegensätzliche Darstellung findet sich in einer der analysierten Dorfgeschichten des 19. Jahrhunderts. Man irrt sich gar gewaltig, wenn man glaubt, auf dem Lande da könne man ganz ungestört allein für sich leben. […] Auf dem Lande, in einem Dorfe […], wo die kleine Anzahl der Einwohner sich kennt, muß man gewissermaßen von seinem Thun und Treiben einem jeden Rechenschaft geben, man kann sich nicht selbstgenügsam abschließen –6

so charakterisiert Berthold Auerbach in Des Schloßbauern Vefele das Zusammenleben in seinem real-fiktiven Nordstetten. Schweigen, so sollte man meinen, kann in der so charakterisierten Dorfgemeinschaft nicht stattfinden. Und dennoch wird gerade in dieser frühen Schwarzwälder Dorfgeschichte das Schweigen zum zentralen Handlungsmotor: Indem sich der Schloßbauer aus falsch verstandenem Standesdünkel von der Dorfgemeinschaft löst, worauf sich diese ihm gegenüber buchstäblich in Schweigen hüllt, stürzt er seine gesamte Familie und insbesondere seine Tochter Vefele ins Unglück. Der Schutz dorfinterner Geheimnisse, der sich in den Kriminalromanen finden lässt, taucht ebenfalls bereits in den frühen Dorfgeschichten auf. So teilt 5 Glauser: Friedrich: Schlumpf Erwin Mord. Zürich: Union 1998 [erstmals 1936], S. 89. 6 Auerbach, Berthold: Sämtliche Schwarzwälder Dorfgeschichten. Volksausgabe in zehn Bänden. 5 Bde. 2. Aufl. der Gesamtreihe (18. Aufl. der Einzelbände). Stuttgart: Cotta 1884, S. 51.

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die Dorfgemeinschaft in Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe das kollektive, tabuisierte Wissen über das ›Verbrechen‹ am »schwarzen Geiger«, der um sein Erbe gebracht wurde. Dieses ›Verbrechen‹ wiederum ist der Ausgangspunkt der Tragödie von Sali und Vreni.

Der Detektiv und das Dorf In den kriminalliterarischen Texten ist die Haltung der Dorfbevölkerung gegenüber dem von außen kommenden Detektiv typischerweise ambivalent. In zwei der untersuchten Texte ist es eine Figur aus dem Kontext des Dorfes bzw. des im Dorf begangenen Verbrechens selbst, welche die Detektivfigur erstmals benachrichtigt und herbittet (Versprechen und Weinschröter). In allen fünf Kriminalromanen stehen die Dorfgemeinschaften oder bestimmte Bewohner:innen durch die im Dorf bestehenden Geheimnisse und/oder ihre eigene Verstrickung in das Verbrechen unter einem Leidensdruck. Sie erhoffen sich, dass eine von außen kommende Figur sie aus dieser Situation befreien kann, was ihre Gesprächsbereitschaft grundsätzlich steigert. Auf der anderen Seite steht das Bedürfnis der Dorfbewohner:innen, den Detektiv nicht zu viel wissen zu lassen, sich selbst und das Wissen um Dorf-Interna zu schützen. Zu diesem Zweck wird versucht, die ermittelnde Figur vom Dorf fernzuhalten oder zur Abreise zu bewegen7 und/oder sie in wichtige Tatbestände nicht einzuweihen. Letzteres kann geschehen, indem die Dorfbewohner:innen buchstäblich schweigen. Möglich ist jedoch auch, dass sie den Detektiv ausdrücklich auffordern, sich in ihre Angelegenheiten nicht einzumischen8, oder dass sie sehr viel reden, im Bemühen, die Ermittlerfigur mit Oberflächlichkeiten abzuspeisen.9 Das buchstäbliche Schweigen ist insofern interessant, als es die Ambivalenz der Dorfbewohner:innen in besonderer Weise widerspiegelt. Indem die betreffende Figur gar nichts sagt, hütet sie ein Geheimnis, macht aber zugleich deutlich, dass ein solches überhaupt besteht. So schweigt in Schlumpf Erwin Mord etwa der inhaftierte Schlumpf, ebenso das Mädchen Sonja, die beide Sorge haben, den Wachtmeister einzuweihen, beide aber auf seine Hilfe hoffen. In diesem Fall impliziert das Schweigen nahezu die Bitte, der Wachtmeister möge weiter fragen

7 Dürrenmatt, Friedrich: Das Versprechen. Requiem auf den Kriminalroman. Zürich: Diogenes 1985 [erstmals 1958], S. 76. 8 Habekost, Britta/Habekost, Christian: Rebenopfer. Ein Elwenfels-Krimi. München: Piper 2020, S. 142. 9 Ebd., S. 24; Glauser, Friedrich: Schlumpf, S. 12; Gercke, Doris: Weinschöter, du mußt hängen. Ohne Ortsangabe: btb 2000 [erstmals 1988], S. 55.

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und nachforschen und die Sache nicht auf sich beruhen lassen.10 In Rebenopfer, einem Roman, in dem das Vielsprechen als Strategie des Geheimniswahrens dominiert, signalisiert die explizite Ankündigung des Schweigens dagegen eher die Macht gegenüber dem Ermittler: »›[…] Charlotte, wenn du irgendwas weißt, dann musst du es mir sagen. Bitte!‹ […] ›Ich muss? Weiß du, was ich muss? Ich muss gar nix. […]‹«.11 Wenn die Figuren schließlich doch mit dem Detektiv sprechen, so verdankt sich dies seiner besonderen Begabung, die Widerstände aufzulösen. Dies gelingt ihm etwa, indem er Nähe zu den Dorfbewohner:innen herstellt, mit den zunächst erzählten Oberflächlichkeiten geschickt umzugehen weiß, Beharrlichkeit zeigt und/oder die richtige Situation abwartet, um eine Figur zum Sprechen zu bewegen. Betrachtet man nun die frühen Dorfgeschichten des 19. Jahrhunderts, so ist eine Detektivfigur im Sinne des Unterhaltungskrimis in ihnen natürlich noch nicht vorhanden. Gleichwohl lässt sich sagen, dass sich in den Dorfgeschichten Figuren finden, die Teilaspekte eines Detektivs repräsentieren. Der Detektiv entspricht einer für die Schwarzwälder Dorfgeschichten bedeutsamen topischen Figur: der des Fremden.12 Wie in Kriminalgeschichten wird auch in Dorfgeschichten die Handlung oftmals durch die Ankunft eines Fremden im Dorf angestoßen (bspw. Der Lauterbacher oder Die Frau Professorin). Freilich hat das Fremde – in Form des Verbrechens – in den Kriminalerzählungen und auch in einigen Dorfgeschichten eigentlich schon vor Beginn der erzählten Handlung Einzug in die Dorfgemeinschaft gehalten. Die Aufgabe des Detektivs – oder des Fremden – besteht nun in der Aufdeckung des Verbrechens. Die Konstellation der Bedrohung der Dorfgemeinschaft und/oder einzelner Mitglieder durch ein in der Vergangenheit liegendes Verbrechen, das zwar nicht explizit verschwiegen, aber doch geleugnet wird, bestimmt auch die Haupthandlungsachse von Romeo und Julia auf dem Dorfe. Während jedoch in Kriminalerzählungen durch die Aufklärung des Verbrechens und das Brechen des Schweigens oft eine gewisse Erleichterung erreicht wird, führt das Aufrühren und Fortführen des Verbrechens in Kellers Dorfgeschichte letztlich zum Tod der beiden Liebenden. Auf einer manifest juristischen Ebene liegt das Verbrechen in Romeo und Julia auf dem Dorfe in der Aneignung des ›herrenlosen‹ Ackers durch die beiden Väter (dieses Verbrechen hat seinen Ursprung im Verbrechen der Dorfgemeinschaft an dem »schwarzen Geiger«, die diesem sein Erbe verwehrt). Auf einer höheren philosophischen Ebene liegt das Verbrechen in der Habgier 10 Glauser, Friedrich: Schlumpf, S. 62, 65, 72. 11 Habekost, Britta/Habekost, Christian: Rebenopfer, S. 315. 12 Vgl. zur Figur des Fremden in der Dorfgeschichte Wild, Bettina: Topologie des ländlichen Raums, S. 239–246.

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der Väter, der Dorfgemeinschaft und der Seldwyler und damit letztendlich in der Schuld des Menschen an der ausgebeuteten Natur. Die Verknüpfung des Motivs des Schweigens mit der Figur des Fremden resp. das Motiv der Aufhebung des Schweigens durch einen Fremden findet sich auch in Auerbachs Die feindlichen Brüder: Die Dorfgeschichte erzählt, wie das langjährige feindselige gegenseitige Anschweigen zweier Brüder durch das geschickt taktierende Eingreifen des neu ins Dorf gezogenen Pfarrers glücklich beendet wird. Auch die beiden Brüder werden von ihrem Leidensdruck befreit, der aus ihrer ›sündigen‹ – und damit ›verbrecherischen‹ – Feindschaft bestanden hatte. Die Darstellung schweigsamer Abgrenzung gegenüber der Außenwelt, die in den Dorfgeschichten immer dann inszeniert wird, wenn Fremde ins Dorf kommen, ist sicher nicht zuletzt einem Bemühen um Realitätsnähe geschuldet. Es geht darum, das Dorf so darzustellen, wie es in der Realität ist – oder zumindest doch so, wie es dem Betrachter von außen erscheint.

Schweigsame Räume Dorfkriminalromane spielen oftmals nicht nur im Dorf. Ein interessantes Merkmal der Raumgestaltung, das auch in dreien der untersuchten Krimis zu finden ist (Schlumpf, Versprechen und Rebenopfer), bildet vielmehr die Kombination der Räumlichkeiten ›Dorf‹ und ›Wald‹, wobei dem Wald jeweils eine wichtige Rolle zugeschrieben wird. In Schlumpf Erwin Mord und Das Versprechen ereignet sich der Mord im Wald oder in dessen unmittelbarer Nähe; in Rebenopfer birgt er das zentrale dorfinterne Geheimnis. In einigen Szenen wird der Wald explizit als still bezeichnet.13 Doch auch dann, wenn Geräusche und Gespräche in ihm vorkommen, scheint der Wald der Ort zu sein, der Geheimnisse und Verbrechen gleichsam verwahrt. Die Detektivfigur kommt um eine ›Befragung‹ des Waldes also nicht herum, will sie erfolgreich sein. Diese kann aus einer Betrachtung der Einzelheiten am Tatort bestehen (Schlumpf), aus Erkundungsgängen (Rebenopfer) oder aus Gesprächsversuchen mit sich dort aufhaltenden, Geheimisse verwahrenden Figuren (Versprechen, Rebenopfer). Der mysteriöse und schwer durchdringliche Charakter des Waldes wird in zwei kriminalliterarischen Texten (Versprechen und Rebenopfer) dadurch noch verstärkt, dass er mit Märchenmotiven oder übernatürlichen Vorgängen in Verbindung gebracht wird. Während der Wald im Dorfkrimi tendenziell als räumliches Zentrum der Verbrechen oder Geheimnisse fungiert, die er verdeckt und schützt, dient das

13 Habekost, Britta/Habekost, Christian: Rebenopfer, S. 9, 179.

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Dorf selbst als Ort des täglichen Lebens, der scheinbaren Normalität und der Gespräche der Bewohner:innen. Betrachtet man die Binnenstruktur der Dörfer selbst, so kommt in drei untersuchten Kriminalromanen (Schlumpf, Weinschröter und Rebenopfer) für den verbalen Austausch zwischen den Dörfler:innen dem Gasthaus eine besondere Bedeutung zu. In den Gasthäusern wird viel gesprochen, gleichzeitig ist jedoch deutlich zu erkennen, dass die Detektivfigur aus den Gesprächen ausgeschlossen bleibt oder zumindest nur zögernd akzeptiert wird. Die sich unterhaltende Gruppe grenzt den Detektiv aus oder er hält von sich aus bewusst Abstand. So sitzt in Schlumpf Erwin Mord der Wachtmeister in einem Nebenzimmer.14 In Weinschröter, du mußt hängen ist die Reaktion der Gaststubenbesucher auf die Detektivfigur nahezu feindselig.15 In Rebenopfer wird der Detektiv zwar scheinbar ausgelassen in die feiernde und zusammen trinkende Gesellschaft integriert; gleichzeitig ist er jedoch hilflos dem für ihn fast unverständlichen Dialekt und den fremden Ritualen und Gewohnheiten ausgesetzt, was ihm seinen Status als Außenstehender vorführt.16 Der Detektiv in den Romanen bewährt sich in den Gaststuben primär als Zuhörender und Beobachtender, während tatsächliche Befragungen bevorzugt an anderen Orten, etwa in den privaten Wohnungen der Dorfbewohner:innen, stattfinden.17 Das als wichtige Räumlichkeit markierte Wirtshaus kennt schon die Dorfgeschichte des 19. Jahrhunderts, wobei es in diesen auch die Rolle eines Grenzortes spielen kann, an dem die gesellschaftlich gültigen Definitionen von Recht und Unrecht zu verschwimmen scheinen.18 Eine topische Zuweisung des Gast- oder Wirtshauses als Grenzort nur mehr oberflächlich gezügelter Leidenschaften findet sich beispielhaft in Romeo und Julia auf dem Dorfe oder auch in der Schwarzwälder Dorfgeschichte mit dem Titel Florian und Kreszenz. Das für den Kriminalroman besprochene Wald-Dorf-Verhältnis findet sich in den älteren Dorfgeschichten in verschiedenen Konstellationen. Der Wald ist ein bedeutsamer Topos in der deutschen Literatur, der allerdings in den Schwarzwälder Dorfgeschichten als Handlungsraum weitgehend ausgespart wird; kann doch der Wald als Ort reinster Natur gewertet werden, der im Auerbach’schen poetischen Entwurf bürgerlichen Lebens kaum eine Rolle spielt. Dennoch ist die 14 Glauser, Friedrich: Schlumpf, S. 84–85. Vgl. auch Wigbers, Melanie: Krimi-Orte im Wandel. Gestaltung und Funktionen der Handlungsschauplätze in Kriminalerzählungen von der Romantik bis in die Gegenwart. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 109–110. 15 Gercke, Doris: Weinschröter, S. 41–44. Vgl. auch Wigbers, Melanie: Krimi-Orte im Wandel, S. 177–178. 16 Habekost, Britta/Habekost, Christian: Rebenopfer, S. 35–52. 17 Zu diesem Aspekt in Bezug auf die Glauser-Kriminalromane vgl. auch Wigbers, Melanie: Krimi-Orte im Wandel, S. 106–109. 18 Zu Grenzorten und ihrer symbolischen Aufladung in der Dorfgeschichte vgl. Wild, Bettina: Topologie des ländlichen Raums, S. 174–184.

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beschriebene topische Abgrenzung zwischen dem Dorf als Ort der Zivilisation und dem Wald als Ort ungezügelter Leidenschaft, die in ihrer negativen Ausprägung zum Verbrechen führt, in den Dorfgeschichten angelegt. Die Zuweisung des Waldes als ›Ort der Gesetzlosen‹ und der Wildnis als ›Ort des Verbrechens‹ findet sich dagegen beispielhaft in Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe. Zumindest scheint die Novelle dieser Zuweisung, die dem Denken der Seldwyler: innen entspricht, zu folgen; tatsächlich ruft die Novelle den Leser dazu auf, diese Klischees zu hinterfragen und zu erkennen, dass das wahre Verbrechen im Kultur- und nicht im Naturraum geschieht.

Gesellschaftliche und historische Aspekte Das Schweigen in den Krimi-Dörfern verdeckt nicht immer nur einen separaten Mord oder private Geheimnisse der Bewohner:innen. Vielmehr kommt ihm in einigen Texten auch die Funktion zu, gleichsam den Mantel des Schweigens über größere gesellschaftliche oder historische Zusammenhänge zu decken. In allen kriminalliterarischen Texten mit Ausnahme des humorvollen Romans Rebenopfer stößt die Detektivfigur bei ihren Recherchen im Dorf auf ein bedrückendes dorfinternes Machtsystem. Finanziell schlechter gestellte Bewohner:innen oder Figuren, die mit einem Stigma versehen sind (Vorbestrafte in Schlumpf, Hausierer in Versprechen), werden ausgegrenzt, unter Druck gesetzt oder sind als Sündenböcke für das Verbrechen vorgesehen. Frauen und Mädchen stellen in diesen vier Texten eine besonders unterdrückte und ausgenutzte Gruppe dar, die zudem gefährdet ist durch die von Männern ausgehenden Übergriffe. Die Texte integrieren gesellschaftskritische Aspekte in den KrimiPlot, indem sie in einem begrenzten Raum und Sozialsystem vorführen, wie sich problematische Machtstrukturen und Rollenzuweisungen auswirken können. In dem Roman Tannöd wird zudem im Zusammenhang mit dem begangenen Mehrfach-Mord das Thema des Umgangs mit bzw. der Verbrechen an Zwangsarbeiter:innen im Zweiten Weltkrieg aufgeworfen. Der Bürgermeister des Ortes weigert sich nicht nur, über dieses zu sprechen, sondern lässt in seiner Ausdrucksweise auch eine eigene antisemitische Einstellung erkennen: »Ach, fangen sie doch jetzt nicht auch noch an mit der Geschichte über die Fremdarbeiterin. Darüber kann ich Ihnen gar nichts sagen. Die Unterlagen über diesen Vorfall gingen leider ’45 verloren.«19 Und später: »Hören Sie mir doch auf. Da werden ehrbare Mitbürger angeschwärzt und eine ganze Dorfgemeinschaft in Mitleidenschaft gezogen. Nur weil eine polnische Halbjüdin sich aufgehängt hat.«20 19 Schenkel, Andrea Maria: Tannöd. München: btb 2008 [erstmals 2006], S. 115. 20 Ebd., S. 118.

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Das Schweigen in den Krimi-Dörfern verdeckt tabuisierte Missstände. Vor diesem Hintergrund hat es eine über das separate Verbrechen und dessen Verschleierung hinausgehende Funktion: Das Schweigen stabilisiert problematische Strukturen und macht sie der kritischen Reflexion, damit auch der Veränderung oder Verarbeitung, unzugänglich. Auf diese Weise unterstützt das Motiv des Schweigens gesellschaftskritische Aussageabsichten der betreffenden Texte. Diese explizite Gesellschaftskritik, die der Sensibilisierung des Lesers dienen soll, teilt der Dorfkrimi des 20. und 21. Jahrhunderts mit der Dorfgeschichte des Vormärz. Freilich verbinden die Autoren des Vormärz mit ihren Geschichten auch den Appell an ihre Leser, sich in der Realität gegen die verkommenen Zustände aufzulehnen.21 Auerbachs Schwarzwälder Dorfgeschichten etwa stehen gleichermaßen für das literarästhetische Programm des realistischen Abbilds dörflich-bäuerlichen Lebens wie für das politische Bestreben, die Durchsetzung bürgerlicher Ideale gegenüber aristokratischer (Willkür)Herrschaft literarisch zu inszenieren. Wie andere politische Dorfgeschichten des Vormärz werden Auerbachs frühe Dorfgeschichten damit zu einem Aufruf, das Schweigen real zu brechen und die Stimme zu erheben. Dass manchmal indes Schweigen auch Widerstand bedeuten kann, zeigt sich in der Schwarzwälder Dorfgeschichte Befehlerles. Das Verbrechen liegt hier im Aufstellen eines Maibaums, den der Protagonist Mattes trotz des ausdrücklichen herrschaftlichen Verbots heimlich in der Mainacht vor dem Haus seiner Auserwählten Aivle errichtet hat. Indem Mattes als Beschuldigter in den nachfolgenden wiederholten Verhören von seinem Recht der Aussageverweigerung Gebrauch macht, wird Schweigen zum Symbol des Aufbegehrens gegen staatliche Willkür. Die hinterhältigen Verhörmethoden, die Mattes’ Verlobte Aivle sodann dazu bringen, ihr Schweigen unfreiwillig zu brechen und damit ihren Verlobten zu verraten, werden dagegen zum Sinnbild dieser Willkür.

Leiden unter dem Schweigen In den behandelten Kriminalromanen wird das Schweigen auch als ein Phänomen dargestellt, das auf die Schweigenden einen Leidensdruck ausübt. Das Wahren von Geheimnissen hat im Dorfkriminalroman zwar manchmal auch etwas Spielerisches, Komisches und Lustvolles (Rebenopfer). Oftmals aber ist das Gegenteil der Fall. Die Figuren, die über ihre Taten, über ihre Geheimnisse oder Erfahrungen nicht sprechen, bleiben einsam und erleben Hilflosigkeit.

21 Vgl. Baur, Uwe: Dorfgeschichte. Zur Entstehung und gesellschaftlichen Funktion einer literarischen Gattung im Vormärz. München: W. Fink 1978.

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Dies trifft etwa auf den Verdächtigen Schlumpf und das Mädchen Sonja in Schlumpf Erwin Mord zu, ebenso auf die Dorfbewohner:innen in Weinschröter, du musst hängen und nach den begangenen Morden auf die Dorfbevölkerung in Tannöd. Das Leiden unter dem Schweigen hat unterschiedliche Gründe. Es kann verbunden sein mit der Angst, selbst von einem Verbrechen bedroht zu sein, mit schlechtem Gewissen, das nicht besprechbar ist, oder mit einer eigenen Opferrolle, die nicht zu thematisieren gewagt wird. In drei kriminalliterarischen Texten führt das Schweigen über vorher bestehende Probleme überhaupt erst zum Verbrechen, weil die Betroffenen sich nicht anders zu helfen wissen (Schlumpf, Weinschröter und Tannöd). In allen untersuchten Kriminalromanen außer Das Versprechen wird von einigen Figuren die Möglichkeit zu reden schließlich als Erleichterung erlebt. Bemerkenswert ist, dass auch die Detektivfiguren dazu neigen, gleichsam in das Schweigen einzustimmen. In drei der fünf kriminalliterarischen Texte (Schlumpf, Weinschröter und Rebenopfer) deckt die detektivische Instanz am Ende die von ihr ermittelte Wahrheit nicht auf. Grund dafür ist in allen Fällen das Bedürfnis, Dorfbewohner:innen (einzelne oder das Dorf als Gemeinschaft) zu schützen, denen mit einer öffentlichen Aufklärung der Tatumstände aus Sicht der Detektivfigur mehr geschadet als geholfen wäre. In Weinschröter, du mußt hängen ist das Schweigen der Detektivin mit einem hohen Maß an Resignation verbunden, das sogar ihre Kündigung als Polizeikommissarin nach sich zieht: An einem Ort wie Roosbach, so erkennt Bella im Laufe der Romanhandlung, ist durch Interventionen einer außen stehenden Figur nichts zu ändern, und eine Vertreterin der Polizei könnte in ihm lediglich die Opfer festnehmen. Da das Verbrechen nicht das Problem des Ortes bildet, sondern nur als eine Art Auswuchs allgemein unerträglicher Lebensumstände erscheint, ist dem eigentlichen Dilemma Roosbachs durch ›Detektion‹ nicht beizukommen.22

Das Leiden unter einem begangenen Verbrechen und die damit verbundene Notwendigkeit der Geheimhaltung und des Schweigens ist auch in den frühen Dorfgeschichten bereits zu finden. So inszeniert Auerbach dieses in seiner Schwarzwälder Dorfgeschichte – Diethelm von Buchenberg –, die gleichermaßen als frühe poetische psychologische Studie wie als frühe Kriminalgeschichte bezeichnet werden kann.

22 Wigbers, Melanie: Krimi-Orte im Wandel, S. 180.

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Resümee Was die Rolle des Schweigens im Dorfkrimi betrifft, so hat die Untersuchung der fünf ausgewählten Romane zunächst zu einigen auf das Krimi-Genre bezogenen Anhaltspunkten geführt. Geschwiegen wird natürlich, wie im Kriminalroman üblich, von Tätern über ihre Tat(en). Darüber hinaus tritt das Phänomen des Schweigens aber auch an anderen Stellen und mit anderen Funktionen auf. So wird auch innerhalb der Dorfgemeinschaften zwischen den Bewohner: innen geschwiegen, etwa (gemeinsam) über tabuisierte Themen, von einem Opfer über seine Gewalterfahrung oder von einem Täter über seine Angst vor der Rache des Opfers. Das Schweigen innerhalb der Dörfer besteht oftmals schon vor dem Verbrechen und kann als dessen Auslöser oder zumindest Nährboden fungieren. Die Figuren, die über ihre Problemlagen nicht sprechen, sich keine Hilfe holen und keine Lösungen finden können, helfen sich mit einer Straftat. Das Schweigen in den Dörfern, das in den Texten häufig stark hervorgehoben wird (bei genauerem Hinsehen sind die Dörfler:innen oftmals gar nicht so schweigsam, wie der Erzähler oder einzelne Figuren es ihnen zuschreiben), erhöht die Leistung der Detektivfigur. Der Dorf-Ermittler ist in der Regel kein Scharfsinnheld in der Tradition des Sherlock Holmes, aber er ist begabt darin, Zugang zu den verschlossenen Menschen auf dem Lande zu finden und ihr Sozialsystem zu durchschauen. Schließlich umfasst das Schweigen im Dorfkrimi auch Bereiche, die von historischer oder gesellschaftspolitischer Relevanz sind und auf das Verdecken und Verdrängen dieser Umstände gleichsam exemplarisch hinweisen. Dieser Aspekt und auch das Schweigen von Detektivfiguren über die von ihnen ermittelte Lösung des jeweiligen Falls geben den Texten eine gesellschaftskritische Dimension; gelingt es doch offenbar nicht, mit den Mitteln des Rechtsstaates die wirklich schuldig Gewordenen zu bestrafen und am Ende in dem aus dem Gleichgewicht geratenen Dorf eine Ordnung wiederherzustellen. Der Dorfkriminalroman ist ein Kriminalroman und die Funktionalisierung des Schweigens folgt partiell den genretypischen Regeln und Mustern. Gleichzeitig ist er aber auch eine Geschichte, die über das Leben und das Geschehen in einem Dorf erzählt. Aus diesem Grund war es ein Anliegen des Beitrags, das Motiv des Schweigens historisch weiterzuverfolgen und nach seinen Ursprüngen in der Dorfgeschichte zu suchen.23 Es lässt sich feststellen, dass auch in den Dorfgeschichten häufig Verbrechen thematisiert werden. Doch steht nicht, wie im späteren Kriminalroman, die 23 Zu weiteren Parallelen zwischen Dorfgeschichte und Regionalkrimi vgl. Wild, Bettina: Popkulturelle Dörfer. In: Nell, Werner/Weiland, Marc (Hg.): Dorf. Ein interdisziplinäres Handbuch. Berlin: J.B. Metzler 2019, S. 286–295, hier S. 293–294.

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Aufklärung des Verbrechens im Vordergrund (insofern sucht man auch die Figur des Detektivs in den Dorfgeschichten vergeblich). Vielmehr werden die Auswirkungen des Verbrechens auf Individuum und Gesellschaft inszeniert. Dabei ist das Schweigen, das Begleitumstand des Verbrechens sein kann, oftmals zentrales Motiv und Handlungsmotor. Die politische Dorfgeschichte des Vormärz hat es sich zudem zum Ziel gesetzt, gegen das Schweigen über die verbrecherische Willkür der Staatsmacht anzuschreiben und dem Volk eine Stimme zu geben. Diese appellative Funktion ist für die späteren Kriminalromane, obgleich diese nicht selten auch einen gesellschaftskritischen Anstrich haben, nicht mehr in gleicher Weise festzustellen. Literarisch gestaltetes Schweigen, so vielleicht ein Resultat des Beitrags, ist bemerkenswert multifunktional. Von einer Anklage gegen unrechtmäßige Machtverhältnisse über die Inszenierung individuellen Leidens, die Charakterisierung einzelner oder die Skizzierung von Beziehungen zwischen mehreren Figuren bis hin zu detektivliterarischer Spannungsförderung kann es alles leisten. Dies ist möglicherweise eine Erklärung dafür, dass sich das dörfliche Schweigen als Motiv durch die Literaturgeschichte zieht und ihm eine so wichtige Rolle zukommt – in den frühen Dorfgeschichten ebenso wie im Gegenwartskriminalroman.

Literatur Alewyn, Richard: Anatomie des Detektivromans. In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München: W. Fink 1998, S. 52–72. Auerbach, Berthold: Sämtliche Schwarzwälder Dorfgeschichten. Volksausgabe in zehn Bänden. 5 Bde. 2. Aufl. der Gesamtreihe (18. Aufl. der Einzelbände). Stuttgart: Cotta 1884. Baur, Uwe: Dorfgeschichte. Zur Entstehung und gesellschaftlichen Funktion einer literarischen Gattung im Vormärz. München: W. Fink 1978. Dürrenmatt, Friedrich: Das Versprechen. Requiem auf den Kriminalroman. Zürich: Diogenes 1985 [erstmals 1958]. Gercke, Doris: Weinschröter, du mußt hängen. Ohne Ortsangabe: btb 2000 [erstmals 1988]. Glauser, Friedrich: Schlumpf Erwin Mord. Zürich: Union 1998 [erstmals 1936]. Habekost, Britta/Habekost, Christian: Rebenopfer. Ein Elwenfels-Krimi. München: Piper 2020. Hein, Jürgen: Dorfgeschichte. Stuttgart: J.B. Metzler 1976. Keller, Gottfried: Romeo und Julia auf dem Dorfe. In: Keller, Gottfried: Sämtliche Werke in sieben Bänden. Hg. von Thomas Böning. Bd. 4: Die Leute von Seldwyla. Frankfurt (M.): Suhrkamp 1989, S. 69–144 (Apparat: S. 690–711). Nell, Werner/Weiland, Marc (Hg.): Imaginäre Dörfer. Zur Wiederkehr des Dörflichen in Literatur, Film und Lebenswelt. Bielefeld: transcript 2014. Schenkel, Andrea Maria: Tannöd. München: btb 2008 [erstmals 2006].

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Schulze-Witzenrath, Elisabeth: Die Geschichten des Detektivromans. Zur Struktur und Rezeptionsweise seiner klassischen Form. In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München: W. Fink 1998, S. 216–238. Wigbers, Melanie: Krimi-Orte im Wandel. Gestaltung und Funktionen der Handlungsschauplätze in Kriminalerzählungen von der Romantik bis in die Gegenwart. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006. Wild, Bettina: Popkulturelle Dörfer. In: Nell, Werner/Weiland, Marc (Hg.): Dorf. Ein interdisziplinäres Handbuch. Berlin: J.B. Metzler 2019, S. 286–295. Wild, Bettina: Topologie des ländlichen Raums. Berthold Auerbachs »Schwarzwälder Dorfgeschichten« und ihre Bedeutung für die Literatur des Realismus. Mit Exkursen zur englischen Literatur. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011.

Cezary Lipin´ski (Universität Zielona Góra)

Frühe deutsche Kriminalgeschichten mit fingiertem Regiotouch am Beispiel von Karl von Holteis Schwarzwaldau (1856)

Zur Wiederentdeckung von Schwarzwaldau Angesichts des seit Jahren vielerorts heraufbeschworenen Todes des Buches – oder zumindest dessen Verdrängung durch elektronische Medien – erbringt die neuere Rezeption Karl von Holteis Erzählung Schwarzwaldau den Nachweis für die Effektivität des Internets im Prozess der Popularisierung vergessener Werke der Literatur. 2005 wurde in der Arno-Schmidt-Referenzbibliothek, einer Weblog-Rubrik der von der Gesellschaft der Arno-Schmidt-Leser betriebenen Website, eine pdf-Version der eingescannten Schwarzwaldau-Ausgabe von 1856 aus Schmidts Bibliothek zur Verfügung gestellt. Dem Eintrag gab man eine sinngemäße Äußerung des Schriftstellers bei, die schnell die Runde machte und seitdem ein Must-have aller Veröffentlichungen über dieses Werk ist: »Wer mich nach unserm besten deutschen Krimi fragt, dem entgegne ich immer: ›HOLTEI, Schwarzwaldau.‹ – und dann sitzen wir einander halt gegenüber, ich & die Herren vom Colt; (Prag 1855, 2 Bände übrigens: 1 Gratis=tip für Taschenbuchverleger).« (Arno Schmidt, Enter Conte Fosco! BA III/4, S. 428)1

Bereits am 28. Juli 2005 veröffentlichte Dieter Paul Rudolph, der 2017 verstorbene Krimiblogger (in der deutschen Krimiszene unter dem Monogramm dpr bekannt), Popularisator der Kriminalliteratur, Herausgeber vergessener Krimis, später selbst Kriminalschriftsteller, auf der Homepage seines Krimiblogs »Watching the Detectives« einen Eintrag, der zur Geburtsstunde der neueren Rezeption von Schwarzwaldau wurde.2 Er ließ sich dort darüber aus, wie er nach der Lektüre Holteis Werks mit »Zorn und Unverständnis« feststellen musste, dass das ihm früher unbekannte Buch, »ein Kleinod der deutschen Kriminalliteratur«, seit seinem Erscheinen 1856 nicht mehr der Öffentlichkeit zugänglich gemacht 1 URL: http://www.gasl.org/wordpress/?page_id=70 / letzter Zugriff am 15. April 2021. 2 R[udolph], D[ieter] P[aul]: Carl von Holtei: Schwarzwaldau. In: »Watching the Detectives« vom 28. Juli 2005. URL: http://www.hinternet.de/weblog/2005/07/carl-von-holtei-schwarzwaldau. php / letzter Zugriff am 15. April 2021.

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wurde. Dabei wäre eine Neuauflage wegen der hohen Qualität des Werks längst überfällig.3 Es wird keine Zeit vergeudet und schon am 27. September 2005 erscheint in demselben Blog eine anonyme, aber zweifellos ebenfalls von Rudolph stammende Einladung zur Subskription. Dort heißt es, dass im Januar 2006 »Carl von Holteis Kriminalroman Schwarzwaldau zum ersten Mal nach fast 150 Jahren wieder für den deutschen Leser verfügbar sein« soll.4 Die Tabuisierung dieses in der deutschen Kriminalliteratur des 19. Jahrhunderts »beispiellosen« Werks, das »in Thematik und Ausführung seiner Zeit um einiges voraus« war, wäre ein Manko der Literaturwissenschaft.5 Die Gründe für diese Nichtbeachtung lägen auf der Hand. Daran sei einerseits die Stellung Holteis als Unterhaltungsschriftsteller in der zeitgenössischen Literaturwelt schuld; andererseits habe sich das Buch selbst »wegen seiner verstörenden Handlung nicht in den Kanon einer bildungsbürgerlichen Literatur«6 pressen lassen: »Es geht um sexuelle Toleranz, geistige Abgründe, den endgültigen Zerfall einer degenerierten Adelskaste«.7 Dank der Veröffentlichung der Neuauflage, die mit einer kleinen Verzögerung, dafür mit Erläuterungen und einem Nachwort im Februar 2006 im Selbstverlag erschien, sollte auch Rudolphs Traum, die Serie »Criminal-Bibliothek des 19. Jahrhunderts«, konkrete Gestalt annehmen. Ihr Ziel sollte sein, entgegen der eingebürgerten Meinung, der deutsche Krimi sei »nach den zumeist britischen Vorbildern geformt, also irgendwie epigonal, Aufguss, minderwertig eh wie die meisten ›Krimis‹«8, den Nachweis zu liefern, dass der deutsche Kriminalroman sehr wohl eine Tradition habe. Damit zog Rudolph das Interesse eines anderen arrivierten Krimifachmanns, Thomas Wörtche, auf sich. Wörtche, der in der deutschen Krimiszene wohl bekannt ist – »Die Welt« hat ihn einst sogar zum deutschen »Krimi-Papst«9 gekürt –, trat als Literaturkritiker10 und Krimi-Kolumnist hervor. Er wirkt in 3 Ebd. 4 Einladung zur Subskription. In: »Watching the Detectives« vom 27. September 2005. URL: http://www.hinternet.de/weblog/2005/09/einladung-zur-subskription.php / letzter Zugriff am 15. April 2021. 5 Ebd. 6 Ebd. 7 Ebd. 8 Criminalbibliothek des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. URL: https://www.viennawriter.net /blog/criminalbibliothek-des-19-und-fruhen-20-jahrhunderts / letzter Zugriff am 15. April 2021. 9 Krekeler, Elmar: »Wir brauchen keine Frauenquote bei Kriminalromanen«. In: »Die Welt« vom 22. Juli 2019. URL: https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article197212527/Der-Kri mi-Papst-Thomas-Woertche-ueber-Gewalt-gegen-Frauen-und-die-Zukunft-der-Thrillers. html / letzter Zugriff am 15. April 2021. 10 Vgl. seinen Wörterbuchartikel Kriminalroman. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2: H–O. Hg. von Harald Fricke. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2007, S. 342–345.

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diversen Jurys im Bereich der Krimiliteratur mit und ist zurzeit Herausgeber einer umfangreichen Thriller-Serie bei Suhrkamp. Am 30. Juli 2006 veröffentlichte er in »Der Freitag. Die Wochenzeitung« einen Beitrag, in dem er an der deutschen Bücherbranche Kritik übte, da die Einzelbände der von Rudolph edierten »Criminalbibliothek« nur als Book-on-Demand oder als Download zu haben sind. Dabei lobte er ausdrücklich die Neuausgabe von Schwarzwaldau, das er der »merkwürdig unklaren Textsorte ›Verbrechensdichtung‹«11 zuordnete, unter der üblicherweise »alles Einschlägige, Curricularnotorische und meist Sterbenslangweilige von Schiller, Fontane, Droste-Hülshoff [&] Co.« subsummiert werde. Selbstverständlich erinnerte Wörtche auch an das wohlwollende Urteil Schmidts über Schwarzwaldau und erklärte das Werk kurzum zu Holteis »opus magnum«. Hinter dessen Nichtbeachtung vermutet er – wie früher Rudolph – ein vorsätzliches Handeln der Literaturhistoriker. Sie seien dafür verantwortlich, dass es »ein zu Unrecht vergessenes, auch nachweisbar intentional vom Kanon der Zeit und der nachfolgenden Literaturgeschichte verdrängtes, exzentrisches Stück Literatur« geworden sei.12 Der erste wissenschaftliche Beitrag, der auf diese frühen Anzeichen einer neuen Rezeption von Schwarzwaldau folgte13, stammt von Henk J. Koning, dem um die Erforschung vergessener schlesischer Schriftsteller und Literaturwerke verdienten niederländischen Gelehrten. In seinem Aufsatz geht er dem bereits im 19. Jahrhundert begründeten Rezeptionsstrang nach und untersucht homosexuelle Bezüge in Holteis Werk. Sein zweiter Aufsatz, gedacht als Nachwort zu einer meines Wissens nie zustande gekommenen Ausgabe von Schwarzwaldau im Dresdner Neisse Verlag, erschien 2014 in der Zeitschrift »Silesia Nova«.14 In allen oben angeführten Beiträgen wurde Holtei für unterschiedliche Vorzüge seines Werks komplimentiert. Die Spannweite erstreckt sich von einem »Psychokrimi im besten Sinn« (Rudolph)15 zum besten deutschen Krimi (Schmidt). Die Tatsache, dass anerkannte Krimi-Spezialisten für Schwarzwaldau als einen Klassiker des Genres schlechthin eine Lanze brechen, darf aber heute den einen oder anderen Krimiliebhaber verwundern. Gewisse Einwände, die gegen eine solche Einschätzung vorgebracht werden können, bilden den Untersuchungsgegenstand des vorliegenden Beitrags, für den zwei Fragestellungen 11 Wörtche, Thomas: Crime Watch No. 110. In: »Der Freitag. Die Wochenzeitung«, vom 30. Juli 2006. URL: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/crime-watch-no-110 / letzter Zugriff am 15. April 2021. 12 Ebd. 13 Koning, Henk J.: Die Freundesliebe in Holteis Kriminalroman Schwarzwaldau. In: Dziemanko, Leszek/Hałub, Marek (Hg.): Karl von Holtei (1798–1880). Leben und Werk. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2011, S. 100–121. 14 Koning, Henk J.: »Das Buch ist eine entschiedene Verirrung«. Karl von Holteis Kriminalroman »Schwarzwaldau«. In: »Silesia Nova« 3 (2014), S. 66–72. 15 R[udolph], D[ieter] P[aul]: Carl von Holtei: Schwarzwaldau.

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von Interesse sind: zum einen, inwieweit Holteis Werk den gegenwärtig an einen Kriminalroman gestellten Anforderungen gerecht wird und in welchem Maße es eher unzähligen »›[l]iterarische[n]‹ Geschichten von Mord und Totschlag«16 zuzurechnen ist; zum anderen, ob es sich, wie der Titel des Werks seine Leser glauben machen will, in die Untergattung des Regionalkrimis einreihen lässt.

Holteis Schwarzwaldau Schwarzwaldau erschien zuerst 1856 in der von Ignaz Leopold Kober, einem aus Prag stammenden Verleger mit schlesischen Wurzeln, herausgegebenen Serie »Album deutscher Original-Romane«.17 Eine zweite Veröffentlichung erfolgte im Rahmen der vierbändigen Abteilung Kriminalgeschichten der sich auf 37 Bände belaufenden Ausgabe Holteis Erzählender Schriften.18 Die Handlung des ersten des auf zwei Bände ausgewalzten Werkes spielt in der Herrschaft Schwarzwaldau, wo ein junger Adliger, Emil von Schwarzwaldau, mit seiner Frau Agnes wohnt. Die seit zwei Jahren bestehende Ehe ist nicht glücklich, wobei die Dorfbewohner »den größten Theil aller Schuld […] auf Agnesen zu schieben [pflegen], weil sie in Emil das Muster eines guten Herrn, eines redlichen Mannes verehren«19. Im Schloss wohnt auch Franz Sara, Büchsenspanner und Leibjäger des Schlossherrn, den die Dörfler für Emils Günstling halten und über den sie sich wegen seiner Schneidigkeit und äußeren Attraktivität (»Baron Franz«) heimlich lustig machen. Dieser verhindert einmal einen halbherzigen Selbstmordversuch seines Herrn, weswegen ihn jener vorerst für seinen Vertrauten hält. Franz selbst schätzt jedoch seinen Herrn gering: »Er sah in Emil einen verweichlichten Menschen, ohne festen Charakter, ohne energischen Willen, ohne ausdauernde Consequenz« (I, 26). Im Stillen ist er in Agnes verliebt, hält sich aber wegen seiner kriminellen Vergangenheit und des verlorenen Adelstitels auf Distanz zu ihr. Nachdem zu den genannten dreien Caroline, eine Freundin von Agnes aus einem Dresdner Mädchenpensionat, und Gustav, ein verarmter Adliger aus dem be16 Düwell, Susanne/Bartl, Andrea/Hamann, Christof/Ruf, Oliver: Vorwort. In: Düwell, Susanne/ Bartl, Andrea/Hamann, Christof/Ruf, Oliver (Hg.): Handbuch Kriminalliteratur. Theorien – Geschichte – Medien. Stuttgart: J.B. Metzler 2018, S. VII–VIII, hier S. VII. Zur Unterscheidung zwischen dem Kriminalroman und der Verbrechensliteratur vgl. Kniesche, Thomas: Einführung in den Kriminalroman. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2015, S. 8–11. 17 Holtei, Karl v.: Schwarzwaldau. Prag: Expedition des Romans; Leipzig: Heinrich Hübner 1856 (Album deutscher Original-Romane, Jg. 11, Bd. 1 u. 2.). 18 Holtei, Karl v.: Schwarzwaldau. In: Holtei, Karl v.: Erzählende Schriften. Bd. 2 u. 3. Breslau: Eduard Trewendt 1861. 19 Holtei, Karl v.: Schwarzwaldau, 1856, Bd. I, S. 3. Im Folgenden beziehen sich die Zahlen in runden Klammern im Haupttext und den Anmerkungen auf diese Ausgabe. Dabei bezeichnet die römische Zahl den Band, die arabische die Seite.

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nachbarten Gut Thalwiese, gestoßen sind, eskalieren die Konflikte. Auf einmal finden sich alle in seltsame Liebesbeziehungen verwickelt. Emil verehrt platonisch seine Gattin, fühlt sich aber homoerotisch zum attraktiven Gustav hingezogen, der wiederum gern seine Freundschaft erwidert, solange sie ihm gestattet, bequem auf Kosten seines Gastgebers zu leben, ist aber bis über beide Ohren in dessen Ehefrau verliebt. Die kühle Agnes verfällt – zu ihrer eigenen Verwunderung – immer stärker ihrer Leidenschaft zu Gustav, was zum Bruch mit Caroline führt, sobald die Schlossherrin in ihr eine Rivalin um Gustavs Zuneigung entdeckt. Während Agnes versucht, ihren Ehemann dazu zu überreden, Gustav um ihret- und seinetwillen fortzuschicken20, erklärt sich dieser bereit, ein außereheliches Verhältnis zwischen ihr und Gustav zuzulassen, nur um den »Freund« im Schloss zu behalten: »Trennen! Mich von ihm trennen! […] Was ist er mir denn? [… D]er Freund, den ich suche, von dem ich träume seit meiner Knabenzeit… er wurd’ es nicht! Er hält nur noch an mir, um Deinetwillen« (I, 222– 223). Die sichtbaren und latenten Konflikte kulminieren im tödlichen Unfall von Agnes. Der Schuss des eifersüchtigen Franz, der eigentlich Gustav galt, treibt die Pferde in die Flucht. Emil und Gustav kommen knapp mit dem Leben davon, Agnes stürzt im Wagen den Abhang hinunter. Aus Angst vor einem Skandal schließt Emil einen Pakt mit Gustav. Großzügig überlässt er ihm das Vermögen der Verstorbenen für den Schwur auf sein Leben, niemandem irgendetwas von seinen Erlebnissen im Schloss zu verraten: »Ich verlange nichts von Dir, als Achtung für die Todte und ihren Namen. [… S]chone mich und meine Ehre! – schone die Ihrige! Bewahre das Geheimniß!« (I, 246–247) Als die Beteiligung Franzens am Agnes’ Tod herauskommt, entschließt sich der um seine Ehre übermäßig besorgte Emil, eine lange Auslandsreise allein in Begleitung seines Büchsenspanners zu unternehmen. Die Handlung des zweiten Bandes spielt zwei Jahre später. Es wird zuerst über den finanziellen Abstieg Gustavs berichtet. Seine zügellose Natur und Verschwendungssucht sind daran schuld, dass er innerhalb einer kurzen Zeit das ganze Vermögen Agnes’ sinnlos verprasst hat. Durch die Umstände genötigt, wendet er sich jetzt der reichen Caroline zu. Schon in Schwarzwaldau für ihn nur als potentielle Geldquelle interessant, ist sie in ihn immer noch verliebt, was er schamlos zu seinen Gunsten auszunutzen beschließt. Bevor er aber die Sache unter Dach und Fach hat bringen können, bricht er seinen Eid und plaudert einigen kriminellen Kumpanen die Geheimnisse Schwarzwaldaus und seine nächsten Pläne aus: »[D]ieselbe Caroline, die ich um Agnesens Willen aufgab, wird jetzt meine Gattin; dieselbe Agnes, die sich anstellte, als wären ihr alle 20 »Höre meine Warnung: ich bin nicht, die ich scheine. Du kennst mich nicht. Nur Gott… und der will nicht, daß man ihn versuche! – Noch ist Zeit. Gustav scheide von uns… und der Friede bleibe uns… der Friede des Grabes, mein’ ich!« (I, 226).

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Männer so gleichgültig wie ihr eigener, ward meine Geliebte; und derselbe Emil, der mich Carolinen nicht gönnte, machte mich zu seiner Gemahlin Erben; – aus Dankbarkeit« (II, 85). Durch eine sonderbare Fügung des Schicksals von Emil und Franz belauscht, wird er von ihnen kurz danach ermordet. Franz, der seinen Herrn nicht achtet, und Emil, dem der freche Diener immer lästiger wird, wollen sich trennen. Emil gibt Franz, der sein Glück in Amerika suchen will, eine großzügige Abfindung. Er selbst steckt bis zum Hals in finanziellen Sorgen. Die lange Auslandsreise, das Geld für Franz und die schlechte Bewirtschaftung Schwarzwaldaus während seiner Abwesenheit brachten ihn an den Rand des Ruins. In dieser Lage sieht er für sich keine andere Wahl, als ebenfalls um die Gunst Carolines, die sich inzwischen zusammen mit ihren Eltern in Thalwiese niedergelassen hat, zu werben. Ihr Vater hat das Gut des ermordeten Gustav gekauft und soll im folgenden Jahr mit dem Bau eines Schlosses beginnen. Nicht lange danach heiraten Emil und Caroline. Das Glück des jungen Ehepaars wird schnell durch den heimlich in Schwarzwaldau erscheinenden Franz getrübt. Jener, von einem Hochstapler in Hamburg um sein ganzes Geld gebracht, will von seinem früheren Herrn durch Drohungen, ihn der Gerechtigkeit auszuliefern, noch mehr Geld erpressen. In die Enge getrieben, ermordet Emil den untreuen Diener. Caroline, die jetzt einen Zusammenhang zwischen den beiden Mordfällen und die Mitwirkung ihres Ehemannes zu ahnen beginnt, wendet sich hinter dessen Rücken an den Kriminalrichter, der schon in Neuland Ermittlungen im Fall des ermordeten Gustav durchführte. Als dieser nach Schwarzwaldau kommt, liefert ihm Emils Dolch den unwiderlegbaren Beweis für dessen Schuld. Emil wird des Mordes überführt. Er legt ein ausführliches Bekenntnis ab und wird auf seine eigene Bitte hin in den von ihm selbst errichteten Gefängnisturm »Storchschnabel« gebracht. Bevor er beim höheren Gericht abgeliefert wird, begeht er mit dem besagten Dolch (den ihm seine Ehefrau ins Gefängnis geschmuggelt hat) Selbstmord.

Schwarzwaldau als ein Kriminalroman Es ist nicht verwunderlich, dass gerade Rudolph, nachdem er auf der Website der Gesellschaft der Arno-Schmidt-Leser das wohlwollende Urteil Schmidts über Schwarzwaldau gelesen hatte, zum eigentlichen Urheber der neuen Rezeption des Werks wurde. Seine Zusammenarbeit mit dem Zirkel bestand mindestens seit 1987, als er seine Beiträge in »Zettelkasten«, einem – mit dem Band 31 eingestellten – Jahrbuch dieser Vereinigung, veröffentlichte.21 Gleichwohl darf man mit einiger Zurückhaltung dem Vertrauen entgegentreten, mit dem sich ein 21 http://www.gasl.org/wordpress/?page_id=53 / letzter Zugriff am 15. April 2021.

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verdienstvoller Mitherausgeber des »Krimijahrbuchs«, und späterer Krimi-Autor22, auf die positive Meinung Schmidts, eines erklärten Krimigegners, berief. In einem solchen Fall wäre eher ratsam, sich auf das Gegenteil des Gesagten gefasst zu machen, was hier darauf hinausliefe, in Schwarzwaldau ein mäßig gelungenes bis gar kein richtiges Projekt der Kriminalliteratur – zumindest aus heutiger Sicht – zu erwarten; eine Annahme, für die der Text übrigens, wie ich glaube, nicht wenige Argumente liefert. Das Problem der »notorischen Krimiverachtung« Schmidts durchleuchtete, ebenfalls 2005, Jan Süselbeck: »Der Krimi ist für Schmidt zunächst einmal nichts anderes als eine weitere Plage in der langen Trivial-Genre-Kette der Literaturgeschichte.«23 »In seiner bisher gängigen Gestalt jedenfalls«, so Schmidt, »ist […] der ›Kriminalroman‹ eine lächerlich einseitige, und ergo zur Drittrangigkeit verurteilte Literaturform.«24 Die Fairness gebietet zuzugeben, dass obwohl Schmidt für Rudolph in der Diskussion über die – fehlende – Tradition des deutschen Kriminalromans ein wichtiger Referenzpunkt blieb, sein kategorisches Urteil, »dies sei ›der beste deutsche Kriminalroman‹«, dem Blogger schon »immer verdächtig vorgekommen« ist. Zu gut kenne er dessen Einstellung zum Krimi und »gebe auf seine Verdikte hinsichtlich dieses Sujets nicht viel«.25 Trotzdem konnte Rudolph am Ende nicht umhin, Schmidt in allem Recht zu geben: »Aber hier hat er (fast vollständig) Recht.«26 Was in der neueren Rezeption von Schwarzwaldau zu denken gibt, ist der etwas unbekümmerte Umgang mit der Gattungsbezeichnung Roman, der in diesem Fall nicht wenige Angriffsflächen bietet. Dies fällt auch Wörtche auf, der Schwarzwaldau eher als eine ausgedehnte Novelle ansieht: »Kalt strukturell gesehen, hat Holtei die gute, alte ›unerhörte Begebenheit‹ aus der Novellentheorie multipliziert und zum Roman-Sujet erhoben.«27 Ähnlich haben das auch zeitgenössische Kritiker gesehen, wie zum Beispiel der Rezensent der »Wiener Zeitung«, der zwar Holteis »ästhetisierenden Schwächling« mit seinem »falschen Pathos« entschieden ablehnt, aber gleichzeitig gesteht, dass »auch diese Erzählung manche liebenswürdige Seite des Holteischen Geistes« zeige.28 Die engere Perspektivierung, Beschränkung des Personals und Limitierung der Hand22 2007 hat er mit dem gut aufgenommenen Werk Menschfreunde seinen ersten Kriminalroman vorgelegt. 23 Süselbeck, Jan: Arno Schmidts: Gedankenspiele von Lust & Mord. Ein kurzes Profiling zur notorischen Krimiverachtung. URL: https://literaturkritik.de/id/8510 / letzter Zugriff am 15. April 2021. 24 Arno Schmidt, zit. nach ebd. 25 R[udolph], D[ieter] P[aul]: Carl von Holtei: Schwarzwaldau. 26 Ebd. 27 Wörtche, Thomas: Crime Watch No. 110. 28 »Schwarzwaldau«, von C. v. Holtei. In: »Abendblatt der Wiener Zeitung«, Nr. 107, Freitag, den 9. Mai 1856, S. 425f.

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lungsstränge – wie bei diesem Schriftsteller üblich – sind Indizien für die relative Stringenz des Textes, die ausdrücklich auch Koning lobt.29 All das ändert nichts daran, dass dem Werk Kapazitäten für einen Roman, die Länge ausgenommen, abgehen. Für einen psychologischen Roman, wie ihn hier Rudolph sehen will, fehlt ihm die Tiefe der Perspektivierung, für einen Gesellschaftsroman ist er zu eng gedacht und ausgeführt; die bei Holtei gewöhnlichen Abschweifungen und Digressionen können das nicht kompensieren. Die Zeitgenossen betrachteten das Werk als eine Erzählung und zählten es zu Holteis »kleineren novellistischen Arbeiten«.30 Der Schriftsteller selbst sah das offenbar auch so, deshalb wies er den Text als eine Kriminalgeschichte aus; da wirkten eher die Serientitel bei Kober und letztlich auch bei Rudolph nach. Und was ist mit der Krimitauglichkeit von Schwarzwaldau? Hier leitet der Text selbst eine Diskussion ein, die zu dem Interessantesten gehört, was er zu bieten hat. Sie gilt der Produktivität, Rezeption und dem Wesen von Kriminalgeschichten. Die Beobachtungen über »die räthselhafte Neigung des Menschen […], die so begierig ist nach jeglicher Schilderung von Verbrechen und nach Erzählungen über diejenigen, welche dergleichen verübten« (I, 134), legt Holtei seinem Protagonisten Emil in den Mund. Diese spannende, modern anmutende Selbstreflexivität des Textes führt zu zwei Überlegungen. Zum einen wohne dem Genre »der Romanen=Litteratur durch Criminal=Geschichten« (I, 134) immer noch ein Potenzial inne, sodass auf dem Gebiet »noch viel zu leisten« (I, 134) sei. Damit schreibt sich Holtei übrigens selbst in ein frühes Entwicklungsstadium der Kriminalliteratur ein. Zum anderen lassen sich im Bereich derselben grob gesehen zwei gegenläufige Schreibprozesse (Holtei spricht hier von »Gattungen)« unterscheiden. Man kann, wie es häufig geschieht, wirklich verübte, zur öffentlichen Kenntniß gekommene Unthaten zum Gegenstande der Darstellung machen und sich bestreben, aus vorliegenden vom Gericht beurtheilten und bestraften Facten, das Wesen der Übelthäter psychologisch zu entwickeln. Diese Versuche werden gewiß den schauerlichen Reiz der Realität für sich haben und schon deßhalb viele Leser finden. Aber, künstlerisch betrachtet, müssen sie viel zu wünschen übrig lassen […]. Diesen Vorzug jedoch kann er [der Schriftsteller] gewinnen, wenn er Charactere producirt, aus denen er, naturgetreu und dichterischwahr, Thaten herleitet, deren innerstem Wesen entsprechend. Menschen und Begebenheiten gehören dann ihm und darum ist er durch nichts eingeengt als poetischer Schöpfer. (I, 134–135)

29 Koning, Henk J.: Die Freundesliebe in Holteis Kriminalroman »Schwarzwaldau«, S. 101: »Praktizierte Holtei in seinen sonstigen Romanen eine fast uferlose Fabulierfreude, bei der er sich mitunter nur schwerlich zum Haupterzählstrang zurückfindet, in Schwarzwaldau werden vom Autor kaum Seitenwege eingeschlagen und er verliert den Faden der Handlung nicht aus dem Auge […].« 30 Carl von Holtei. Eine Biographie. Prag & Leipzig: Expedition des Albums 1856, S. 94.

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In der ersten, unkünstlerischen, weil Elemente der außertextuellen Wirklichkeit in den Vordergrund stellenden, Verfahrensweise schreitet der Schriftsteller induktiv von der Tat zur Figur und versucht wesentliche Umstände des Verbrechens, soweit es geht, als Grundlage einer Charakterzeichnung auszuschlachten. In der anderen, ästhetisch ausgefeilteren, verfährt er deduktiv und, ohne ungewollte Kompromisse einzugehen oder Abstriche an literarischer Qualität und psychologischer Tiefe zu machen, entwirft er Charaktere, aus denen er, einer inneren Logik folgend, Taten ableitet. Im ersten Fall bleibt er als literarischer Chronist, der sich dem Diktat der von ihm unabhängigen Fakten beugen muss, Handwerker. Im zweiten, in dem er sowohl die gesamte Figurenkonstellation als auch alle Handlungsstränge beherrscht, kann er Künstler sein. Sein Einfluss auf das literarische Ganze gestattet ihm, einen viel besser begründeten Konnex zwischen dem Täter und seiner Tat herzustellen. Was also in diesem Bereich tatsächlich »zu tun« sei, läuft hier auf eine Hebung der Gattung, ihre literarische Verfeinerung hinaus. Und diese müsste notwendigerweise mit Einbußen an Kriminalstoff und Spannung einhergehen. So steht der Holteische »Reformeinsatz« des Genres in der Tat unter dem Motto »weg von der Kriminalliteratur«. Der Schriftsteller bleibt blind für die einfache Grundwahrheit: »Wer den Kriminalroman ›verbessern‹ will, macht ›Literatur‹, keinen Krimi mehr. Der herausragende Kriminalroman ist nicht der, der die Gattungsgrenzen überschreitet, sondern der, der sich ihnen fügt.«31 Die Rolle einer kalten Dusche kommt in dieser Diskussionsrunde dem Statement der Caroline zu. Sie weist darauf hin, dass aus der Perspektive des künstlerischen Ehrgeizes und der Anerkennung durch die Rezipienten die obige Differenzierung nicht wirklich einen Unterschied mache. Denn auch im zweiten Fall »wird es ihm [dem Schriftsteller] niemals gelingen, ein Kunstwerk zu schaffen, wofür er Dank erntet« (I, 135) und der Leser wird das Buch »[u]nbefriedigt durch den unvermeidlichen Ausgang solches Romanes, verletzt durch die davon unzertrennlichen Enthüllungen innerster menschlicher Schlechtigkeit« (I, 135) aus der Hand legen. Von hier an gibt eine literaturanthropologische Perspektive den Ton an: Die Hypokrisie der Kritik wird bloßgelegt, der Nervenkitzel als der den Menschen gemeinsame emotionale Nenner – über alle Bildungsunterschiede und Stufen der Kultiviertheit hinweg – deutlich gemacht: Während kein gebildeter Mensch an Geisterspuk, noch Gespenster glauben mag, hört jeder Mensch von Phantasie für sein Leben gern Gespenster-Geschichten erzählen. Während Kritik und feiner Geschmack Criminal-Tragödien verabscheuen, CriminalRomane achselzuckend verdammen, greifen wir Alle verstohlen nach jedem Bericht, auch nach dem trockensten Auszug von gerichtlichen Verhandlungen über große 31 Todorov, Tzvetan: Typologie des Kriminalromans. In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München: W. Fink 1998, S. 208–215, hier S. 209.

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Verbrechen; – der Recensent nicht minder als wir. […] Kein Mensch von warmem Blute darf die Sympathie verläugnen, die der Verbrecher, (vorausgesetzt, daß dieser nicht in seiner Rohheit ein halbes Thier sei), bei ihm hervorruft. (I, 135–136)

Auch wenn – wegen der Komplexität und Reflexionstiefe – interessant, neu waren diese Gedanken auch damals nicht mehr. Weder der besonders in der Romantik aufgebauschte Zusammenhang zwischen der literarischen Verarbeitung von Verbrechen und der Mechanik der psychischen Zustände noch das bei den meisten Menschen zu beobachtende Faible für Verbrechensgeschichten als ein ziemlich konformistischer Impuls für die Entwicklung der Kriminalliteratur kann man auf Holteis Konto verbuchen. Paradigmatisch sei hier nur auf Kriminalgeschichten (1828) von Karl Müchler verwiesen, der aus aufklärerischen Positionen argumentierend feststellt, dass jede Erzählung einer merkwürdigen Thatsache […] bei dem Hörer und Leser ein höheres Interesse [gewinnt], wenn solcher überzeugt ist, daß sie nicht das Erzeugniß der Einbildungskraft war, sondern ihr Wahrheit zum Grunde liegt./ Daher haben Kriminalgeschichten einen besondern Reiz für das Publikum, selbst dann, wenn sie nur eines verwegenen oder schauervollen Verbrechens erwähnen; dieser Reiz und dieß Interesse wird aber erhöht, wenn der Verbrecher entweder durch ein Zusammentreffen von kleinen Umständen fast unwiderstehlich zu einer Frevelthat hingerissen worden ist, wenn seine Handlungsweise uns tiefe Blicke in das Hertz thun läßt […].32

Müchler reklamiert für sein Buch eine Nützlichkeit in drei Bereichen. Die Sammlung soll einerseits einfach der Unterhaltung dienen, leistet gleichzeitig eine quasi volkspädagogische Arbeit, indem sie dazu beiträgt, »manchen Verbrecher nachsichtiger zu beurtheilen und nicht über Jeden, der Schein wider sich hat, den Stab voreilig zu brechen«.33 Schließlich liefere das Buch auch fachliches Material, sodass, selbst wenn es eigentlich »für ein größeres Publikum«34 bestimmt ist, auch Gelehrte wie Rechtswissenschaftler oder Psychologen darin »einen nicht ganz unbrauchbaren Beitrag zur Erfahrungsseelenkunde finden« werden.35 Damit werde die Kriminalgeschichte über die ihr von Anfang an zugedachte Erkenntnisfunktion, die Enthüllung der »geheimen Falten des menschlichen Herzens«36, veredelt. Bei allen Einwänden, die man gegen diese frühe, dem heutigen Krimi über weite Strecken fremde Sicht des Genres vorbringen könnte: die beiden hauptsächlichen Distinktionen kann man ihr nicht nehmen. Die Befriedigung eines Bedürfnisses der Leser und das breite, quer durch alle Schichten und Bildungs32 33 34 35 36

Müchler, Karl: Kriminalgeschichten. Berlin: W. Natorff und Comp. 1828. Bd. 1, S. III–IV. Ebd., S. IV–V. Müchler, Karl: Kriminalgeschichten. Berlin: W. Natorff und Comp. 1829. Bd. 2, S. III. Ebd., Bd. 1, S. V. Ebd., Bd. 2, S. III.

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stufen der Gesellschaft verlaufende Interesse an der Kriminalliteratur bleiben bis heute wichtige Distinktionsmerkmale des Kriminalromans.37 Probleme bereitet ein drittes – die Nemesis. Dass wir ihr bei Müchler im Gefüge der Kriminalliteratur als die absolute und endgültige Instanz, die alle Unvollkommenheiten des menschlichen Rechtssystems und Limitationen der Ermittlungsverfahren am Ende kompensiert und Gerechtigkeit in ihr Recht setzt, begegnen, mag in den 1820er Jahren noch legitim gewesen sein.38 Sie kann allerdings als eine Dissonanz im postaufklärerischen Denksystem des Autors empfunden werden, mehr nicht. Daraus aber, dass sie auch im neueren Fachschrifttum zur Kriminalliteratur eine Rolle spielt, ergeben sich konkrete Schwierigkeiten. Im noch heute interessanten Aufsatz Verbrechensdichtung und Kriminalroman bringt sie Richard Gerber sogar als eine Art anthropologische Voraussetzung des Genres ins Spiel: »Der menschliche Geist ist so beschaffen – wir wollen hier nicht fragen warum –, daß er das Verbrechen allein zur Darstellung nicht konzipieren kann, sondern immer die Nemesis einbezieht.«39 Da tut sich aber eine Aporie auf. Die ultimative metaphysische Gerechtigkeit steuert dem modernen Technik-Fetischismus mit seiner Vorliebe für allerlei Gadgets auf der einen Seite und den bestens ausgebildeten, strikt rational denkenden und handelnden Detektiven auf der anderen entgegen. Mit der mysteriösen höheren Ordnung wird ein Element der Unberechenbarkeit und Übernatürlichkeit eingeführt, das im Wesen des genrekonformen Krimis ein Fremdkörper ist. Nach den Regeln von S. S. van Dine (in Todorovs Fassung) wird im Kriminalroman überhaupt kein Platz für Eingriffe übernatürlicher Mächte vorgesehen: »Alles muß sich auf rationale Weise erklären lassen; das Phantastische ist nicht zugelassen.«40 In der Auseinandersetzung über die genrerelevanten Unterschiede zwischen der alten Verbrechens- und der modernen Kriminalgeschichte liegt der Clou in der Substitution der anonymen schicksalsträchtigen Instanzen durch hochqualifizierte menschliche Fachkräfte mit ihren hohen IQ-Werten und dem Zugang zum Hightech-Arsenal. Moderne Krimis eifern oft den marktwirksamen Thriller-Verfilmungen nach. Sie vermitteln plakativ eine Botschaft vom Erfolg der menschlichen, auf Vernunft und Gehirnkapazität aufgebauten Ordnung.41 In diesem Sinne stellen sie eine Hommage an die aufgeklärte Zivilisation und ihren Sieg über das dunkle Fatum dar. 37 Vgl. Gerber, Richard: Verbrechensdichtung und Kriminalroman. In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München: W. Fink 1998, S. 73–83, hier S. 73. 38 Müchler, Karl: Kriminalgeschichten, Bd. 2, S. IV: »[…] weil man sich leicht überzeugen kann, daß es eine allwaltende Nemesis gibt, die diese scheinbaren Mißklänge wieder früher oder später in Einklang bringt«. 39 Gerber, Richard: Verbrechensdichtung und Kriminalroman, S. 76–77. 40 Todorov, Tzvetan: Typologie des Kriminalromans, S. 213. 41 Vgl. Genç, Metin: Gattungsreflexion/Schemaliteratur. In: Düwell, Susanne/Bartl, Andrea/ Hamann, Christof/Ruf, Oliver: Handbuch Kriminalliteratur: Theorien – Geschichte – Medien. Stuttgart: J.B. Metzler 2018, S. 3–13, hier S. 6.

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Holtei wagt in Schwarzwaldau einen Spagat. Er versucht die beiden Parteien – die Liebhaber des Waltens einer höheren Ordnung und die Optimisten, Anhänger der peniblen mühseligen Ermittlungsarbeit der Strafverfolgungsorgane – wenn nicht gleich zufriedenzustellen, so zumindest eine versöhnliche Geste in Richtung der einen und der anderen zu tun. Auf die Dauer fehlt ihm aber die Konsequenz. Die Auflösung der Handlung, d. h. die Verhaftung des Mörders, wird dank der Hartnäckigkeit und Fachkompetenz des Justizrates R. möglich. Nach dem Mord an Gustav in Neuland stellte er, ohne damals den Täter aufdecken zu können, eine naturgetreue Nachbildung der tödlichen Wunde auf Papier her und bewahrte einen kleinen Stahlsplitter aus der Mordwaffe auf. Der Vergleich mit dem ihm durch Caroline überreichten Dolch Emils ermöglichte dessen Überführung als Mörder. Holtei verdirbt aber diesen Ausgang, indem er Herrn R. die komplette Aufklärung der beiden Morde (plus Beweisstück) von der nicht gerade scharfsinnigen Caroline auf silbernem Tablett serviert bekommen lässt. So fungiert der Justizrat am Ende eigentlich nur als Repräsentant der strafenden Hand des Staates, über die sich die schuldangemessene rechtmäßige Bestrafung des Täters vollziehen soll. Die andere Hälfte des Endes gilt der Metaphysik einer »höheren« Gerechtigkeit. Ihr Werkzeug ist der Dolch, der, ohne dass es dafür einen logischen Grund gäbe, die Handlung vom Anfang bis zum Ende – zuerst beim gescheiterten Selbstmordversuch Emils, am Schluss als dessen tatsächliche Selbstmordwaffe, begleitet. Zwischen diesen Extremen liegen die Morde an Gustav und Franz, die ebenfalls mit demselben Dolch begangen worden sind. Seine ausnahmslose Präsenz in allen diesen Situationen macht ihn zu einem nicht loszuwerdenden Stigma, zum Signum der Nemesis, die die absolute Gerechtigkeit walten lässt. Ihre Einführung muss eine Relativierung der menschlichen/staatlichen, immer von partikularen Interessen geprägten nach sich ziehen. Emil muss untergehen, weil er Mörder ist. Dass er in beiden Mordfällen der Angegriffene und Erpresste war, dass seine Widersacher durch ihr Tun seine Reaktion herausforderten, tut nichts zur Sache. Den fundamentalen Unterschied zwischen der unvollkommenen menschlichen und der absoluten Gerechtigkeit lässt die Position des untersuchenden Arztes erkennen. Dieser rät dem Kriminalrichter, die Ermittlungen im Fall Franz Saras aus gerichtsmedizinischen, noch mehr aber aus moralischen Gründen fallen zu lassen: »Der Kerl hat sich selbst umgebracht und es ist kein Schade um ihn« (II, 206). All das spielt hier keine Rolle. Auch deswegen ist Schwarzwaldau immer noch eine Verbrechensund nur bedingt eine Kriminalgeschichte. »Die Verbrechensdichtung forscht nach dem Ursprung, der Wirkung und dem Sinn des Verbrechens und damit nach der Tragik der menschlichen Existenz. Der Kriminalroman aber lebt vom Motiv der Jagd.«42 42 Gerber, Richard: Verbrechensdichtung und Kriminalroman, S. 79.

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Es ist nicht einfach, Holteis Erzählung in einen funktionalen Typ zu pressen. Jörg Schönert charakterisiert das Genre der Kriminalgeschichte im Zeitraum 1850–1880 als »überwiegend täterorientiert«43, was im Allgemeinen auch auf Schwarzwaldau zutrifft: Diese personenbezogene Perspektive verhindert die Darstellung und Analyse institutioneller und machtgestützter Zusammenhänge. Wo die Instanzen des gesetzten Rechts nicht in Erscheinung treten, sorgt das Gewissen der Protagonisten, der ›innere Gerichtshof‹, für die Durchsetzung des Ausgleichs von ›Schuld und Sühne‹.44

Holtei entwickelt in Schwarzwaldau ein (unnötig?) redundantes Verfahren. Der Mörder wird durch die dafür bestimmte Institution überführt und soll demnächst rechtmäßig bestraft werden. Hier schaltet sich das Unkalkulierbare ein: Emil greift dem Rechtsverfahren vor. Von Gewissensbissen (und Scham?) verfolgt, von gekränktem Ehrgefühl geleitet, durch seine Frau ausdrücklich dazu ermuntert, wählt er den Freitod. Scheinbar kommen damit Anhänger aller Lösungen auf ihre Kosten. Ob das nach einem »Ausgleich« aussieht, sei dahingestellt, der höhere Rang der metaphysischen Gerechtigkeit ist jedoch unverkennbar. Der Versuch Holteis, Feuer und Wasser zu vereinen, ist die Folge der Mischnatur seiner Erzählung. Schwarzwaldau ist eine Chimäre. Es stellt ein Konglomerat dar, das aus Komponenten verschiedener literarischer Gattungen besteht. Neben der alten mit Elementen des psychologischen, Sitten- und Unterhaltungsromans gespickten Verbrechensgeschichte scheinen hier besonders Varietäten der Schicksalsliteratur eine wichtige Rolle zu spielen. Die Liste der Ingredienzien, die mehr als bloß Staffage der Handlung bilden, ist bemerkenswert lang. Der Dolch, dessen Präsenz sich leitmotivisch durch die ganze Handlung bis zum finalen Selbstmord zieht, wurde schon erwähnt. Hinzu kommt die frappierende Ähnlichkeit zwischen den erbitterten Widersachern, Franz und Gustav, die hier nicht ohne eine Prise Ironie gedacht ist. Dieser blasse Abklatsch des romantischen Doppelgängermotivs schweißt schicksalhaft zusammen, was emotional nicht unterschiedlicher sein konnte. Selbst Schwarzwaldau, der wichtigste Ort der Handlung, ist – nomen est omen – als sprechender Name anzusehen. Die wichtigsten Schauplätze sind sowieso von einer Aura des Verfalls umgeben. Im ersten Band überragt noch das Schloss Schwarzwaldau alle anderen, während das nahe Gut Thalwiese nur eine »morsche und zerfallende Herrenhütte« (I, 151) ist. Im zweiten kehren sich die Verhältnisse um: Schwarzwaldau verfällt, während der alte Herr Reichenborn in Thalwiese ein neues Schloss errichten will. Damit wird symbolisch der Verfall des Geschlechts von Schwarz43 Schönert, Jörg: Kriminalität erzählen. Studien zu Kriminalität in der deutschsprachigen Literatur (1570–1920). Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2015, S. 34. 44 Ebd.

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waldau und der Aufstieg der Familie Reichenborn (deren Oberhaupt, Carolines Vater, lustigerweise alles Mögliche tut, um in den Adelsstand aufzusteigen) sichtbar gemacht. Ferner kommt der obligatorische dunkle Konnex zwischen dem Schicksal und dem menschlichen Unbewussten genrekonform durch Vorahnungen zum Ausdruck. Agnes, Gustav und Emil haben zum Beispiel eine solche unmittelbar vor dem tragischen Tod der Frau (I, 239–240). Biedermeierlich ironisch gebrochen sind Gespenstermotive. So schlüpft Franz nach seiner heimlichen Rückkehr nach Schwarzwaldau in die Rolle des Spukgeistes Gustavs. Er gleicht sich dem Ermordeten in allen äußeren Einzelheiten an, um sich »die Leute möglichst weit vom Leibe zu halten und das wird niemandem leichter, als dem Gespenst eines Verstorbenen« (II, 161–162). Das fade Schauspiel Franzens gilt dem »dummen Volke«. Die Camouflage gestattet aber dem sie erneut nicht ohne Ironie treibenden Holtei, zur mit Gothic novels und Schauerromanen großgewordenen Leserschaft auf Distanz zu gehen. In die Mottenkiste der Schicksalsliteratur gehört auch ein übermäßiges Vorkommen der lateinischen Maxime »Vulnerant omnes, ultima necat« (»Alle verwunden, die letzte [Stunde] tötet«) im Text. Diese üblicherweise auf die Sonnenuhren geschriebene Sentenz wird von Emil und Agnes mehrmals aufdringlich ins Spiel gebracht. Ihr kommen zwei Aufgaben zu: Sie fungiert als pathetischer Kommentar zum vor den Augen der Welt versteckten, bedrückenden Dasein, das die Eheleute von Schwarzwaldau in ihrem Schloss fristen. Und sie zwängt fatalistische Deutungen allen Handlungsumbrüchen auf (die letzten Worte der sterbenden Agnes [I, 243]; die letzte Botschaft, die Emil vor seinem Selbstmord mit eigenem Blut an die Wand seiner Gefängniszelle schreibt). Auf eine Einwirkung des Schicksals lassen ferner andere kreisförmige Handlungsverläufe und erzählrahmenartig ausgewalzte Motive schließen. Ein gutes Beispiel dafür stellt die Errichtung des Gefängnisturms durch Emil dar. Nach seinem ersten Insassen, einem Wilddieb, wird er auf den Namen Storchschnabel getauft; die darin befindliche Zelle bekommt dessen Vornamen – wieder nomen est omen – Emil. Der anfänglich deswegen etwas missgestimmte Herr von Schwarzwaldau findet es »um so wunderlicher, da dieser Taufname unter Leuten seiner [des Wilddiebs] Gattung sehr selten vorkommt« (I, 131). Auch Agnes fürchtet eine Verstimmung des Gatten wegen dieser »ominöse[n] Namens-Bruderschaft« (I, 132), aber die schlechte Laune, wie sich »zum gefängniserbauenden Emil ein das Gefängnis einweihender Emil« (I, 132) verhielt, verliert sich bald. Der Kreis schließt sich am Ende, als das Leben Emils von Schwarzwaldau in der seinen Namen tragenden Zelle ein jähes Ende findet. Es bedarf keiner eingehenderen Analyse, um zu erkennen, dass das stark ausgebaute, eher lästige Repertoire an schon damals recht antiquierten Tricks und Techniken der Schicksals- und Schauerdichtung, das Holtei in Schwarzwaldau vorlegt, die Erzählung der Kriminalliteratur noch mehr entfremdet. Sein Wert kann in der Gegenwart historischer Natur sein: Es belegt, dass die Ent-

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wicklung zum modernen Kriminalroman hin auch über die Schiene der Schicksalsliteratur erfolgen konnte. Betrachtet man das Werk aus der Perspektive heutiger Lesererwartungen an einen Krimi, die auf die Grundformel der »›Spannung‹ zwischen Fall und Aufklärung«45 gebracht werden können, so kommt hier der Rezipient nicht auf seine Kosten. Die Zusammenstellung aller Todes- bzw. Mordfälle ergibt ihre sehr genreuntypische Behandlung des Kriminalstoffes. Der gescheiterte Mordversuch an Gustav, der mit dem ungewollten tragischen Tod Agnes’ endet, wird im Schnelldurchlauf auf zwei Seiten mittels eines knappen Billetts aufgeklärt. Der Täter (Franz) bekennt seine Schuld sofort. Als später im Neulander Gasthaus nachts zwei Männer, Kaufleute Müller und Schwarz aus dem Elsass, eintreffen und das Zimmer neben dem Herrn von Thalwiese beziehen, vermutet der Leser (zu Recht) sofort, dass es sich um Emil und Franz handelt. Als am Ende der Erzählung die Leiche von Franz aus dem Teich im Schlosspark von Schwarzwaldau geborgen wird, hat der Rezipient ebenfalls Gewissheit, dass Emil dahintersteckt. In allen diesen Fällen wird der Nachdruck nicht auf das Kriminelle (Planung, Durchführung, Täuschung, Spurenverwischung, Irreführung der Ermittler, Aufklärungsarbeit, Verfolgung usw.), sondern auf die »psychologischen« Ursachen des Mordes gelegt. Dabei ist aus der Sicht der Genrespezifik die Frage, »[w]arum der Verbrecher Verbrecher ist, […] uninteressant«.46 Und man sieht bei Holtei genau, weshalb das so ist. Die ganze Spannung, die die Erzählung entwickelt, gilt nur einer Unbekannten: wann der bereits bekannte Mörder gefunden und überführt wird. Ein »Ob« erledigt sich von selbst infolge der angenommenen Philosophie des Mordes, die Eingriffe der Nemesis voraussetzt. Demgegenüber ist ein Kriminalroman »nicht einfach ein Roman, der ein Verbrechen schildert, sondern ein Roman, der das Verbrechen auf eine ganz bestimmte Art behandelt, beschränkt behandelt. Die Beschränkung der Dimension ist das entscheidende.«47 Im Vergleich dazu ist der erste Band von Schwarzwaldau ein Hybrid aus Elementen des Sitten- und Gesellschaftsromans mit einem komplizierten, pentagonalen Liebesbeziehungsgeflecht. Ihre Kraft schöpft sie aus der Dynamik des gesellschaftlichen Status (ökonomischer Aufund Abstieg der Akteure führt zu Veränderungen ihres sozialen Prestiges) und den Spannungen im sexuellen Bereich (homosexuelle Latenz bei Emil, Unklarheit des Eheverhältnisses Emils und Agnes’, verbotene sexuelle Regungen bei Agnes, Gustav, Emil und Franz). Der zweite ähnelt im zunehmenden Maße einem Psychodrama, in dem Emils Einsamkeit mit dessen Gewissensbissen (II, 139) und 45 Vogt, Jochen: Regionalität und Modernisierung in der neuesten deutschsprachigen Kriminalliteratur (1990–2015). Nebst einigen Lektüreempfehlungen. In: »Germanica« 58 (2016), S. 13–39, hier S. 27. 46 Gerber, Richard: Verbrechensdichtung und Kriminalroman, S. 79. 47 Ebd., S. 74.

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der Furcht vor der Entdeckung wechseln. Einerseits drückt ihn die schwere Schuld dermaßen, dass er auf seine Überführung mit sichtbarer Erleichterung (II, 215–216) reagiert; andererseits ist sein Wille zu leben unverkennbar.48 Die innere Perspektive, zunächst Emils, dann zunehmend auch Carolines, deren Ahnungen allmählich der Gewissheit Platz machen, dass im Hintergrund ein dunkles Spiel getrieben wird, dominiert die zweite Hälfte der Erzählung. Als der ethische Zwiespalt in den Vordergrund tritt49, wird das Fiasko von Schwarzwaldau als Kriminalgeschichte evident.

Regionalität Die Vortäuschung einer regionalen Bindung erscheint als eine der seltsamsten Strategien Holteis in Schwarzwaldau. Den Gedanken der Regionalität gibt der Text mit seinem Titel selbst ein, und er ist damit recht erfolgreich. Denn obwohl dazu in der Erzählung – ich greife hier den Schlussfolgerungen vor – wenig bis gar nichts gefunden werden kann, schreibt der früher erwähnte Rezensent der »Wiener Zeitung« über eine vorteilhafte »Lokalschilderung«.50 Auch Koning fühlt sich verpflichtet, die Erzählung in einen Zusammenhang mit Schlesien zu bringen, bevor er zugibt, dass der Titel den einzigen Schlesienbezug darstellt. Liegt doch das Dorf Schwarzwaldau (heute Czarny Bór) in unmittelbarer Nähe des niederschlesischen Waldenburg (heute Wałbrzych), ca. 70 km von Breslau entfernt. Und dieses Wissen müssen wir natürlich bei dem in schlesischen Angelegenheiten gut bewanderten Holtei stillschweigend voraussetzen. Sollte sich aber ein Leser über den realen Ort kundig machen und die erworbenen Informationen mit den Angaben aus der Erzählung vergleichen wol48 Vgl. (II, 136): »[U]nd er gestand es sich, wenn auch zagend, ein, – daß er noch nie in seinem Leben so peinvoll am Leben gehangen, daß er den Tod, den er in besseren Stunden oft herbeigewünscht, niemals so gefürchtet habe, als eben jetzt, wo er mehr wie je Ursache fand, das Dasein zu verfluchen.«; (II, 144): »Ja, ich muß es bekennen, wie unglaublich es mir selbst klingt: noch nie war mir das Leben so werth, so wichtig, als seitdem ich es einem – Andern geraubt. O ich will, ich muß leben! –« 49 (II, 146): »[E]r liebte Gustav jetzt, nachdem dieser seinen Verrath im Tode gebüßt, eben so innig, als er ihn in der blühendsten Zeit ihrer jungen Freundschaft geliebt hatte«; (II, 194): »Bin ich verpflichtet, mich dessen anzunehmen, dessen Namen ich führe, der meines Kindes Vater sein wird? Oder hab’ ich den zu rächen, der mich auch die Seinige nannte, dem ich gehörte?«; vgl. (II, 146): »Anders stand es um Carolinen. Für sie war Gustav wirklich todt. Sie verschwieg sich’s nicht: ihr hatte nur der Lebendige gelebt. Was ihre Sinne an ihn gefesselt, was ihr seinen Besitz zum höchsten Ziele zweijähriger schmachtender Sehnsucht gemacht; es moderte mit dem verstümmelten Leibe im Grabe. Ihre Liebe war mit dem Geliebten gestorben, sein Bild mit ihm eingesargt. Was ihr übrig blieb, lief zuletzt auf ein stilles Bekenntniß hinaus: er ist schön gewesen, unwiderstehlich, – sonst nichts!« 50 »Schwarzwaldau«, von C. v. Holtei, S. 426.

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len, würde er schnell auf Unstimmigkeiten stoßen, die die eingangs angenommene These von einer regionalen Prägung des Werkes in Frage stellen. Die »tiefen, weitverbreiteten, herrlich bestandenen Nadelholz-Waldungen« (I, 1), die das Dorf und das Wirtshaus umgeben, in dem eine der ersten Szenen des Textes spielt, mögen noch zutreffen. Das aus dem 18. Jahrhundert stammende Gasthaus ist noch heute in Betrieb. Als problematisch erscheint allerdings schon die Kirche, die sich zwar, wie der Text es vorschreibt, in der Mitte des Dorfes befindet, aber aus den 1920er Jahren stammt. Richtig fragwürdig wird es aber bei der Betrachtung des wichtigsten Schauplatzes der Handlung, Emils Schlosses, »dessen Größe und gediegene, fast mittelalterliche Bauart« (I, 2) in keinem Verhältnis zum klassizistischen, Ende des 18. Jahrhunderts erbauten, realen Schloss steht. Zwar gab es im niederschlesischen Schwarzwaldau auch eine mittelalterliche Wasserburg, um die konnte es sich aber nicht handeln, da von ihr seit ihrer Zerstörung Mitte des 18. Jahrhunderts nur kümmerliche Reste erhalten bleiben. Bereits durch die Eingangssentenz – »Schwarzwaldau liegt in einer flachen Sandgegend, seitab von der alten Straße zwischen Dresden und Berlin« (I, 1) – wird die Referenzialität des Raums zerstört. Der Text unterwandert die Möglichkeit einer regionalen Verortung in Schlesien; übrigens ebenso im Dresdner und Berliner Raum. Denn alle weiteren handlungsrelevanten Orte, die regionalen Charakter vortäuschen, das an die Herrschaft Schwarzwaldau angrenzende Gut Thalwiese oder die wegen des Mordes an Gustav bedeutende Siedlung Neuland, existieren nur im Textuniversum.51 Trotzdem vermutet Koning, ohne für diese Hypothese Gewähr zu übernehmen, in Schwarzwaldau doch einen Schlesienbezug. Dieser soll durch Karl Abraham Freiherr von Zedlitz (1731–1793), den ehemaligen Chef des preußischen Kriminaldepartements, der dort zur Welt kam, hergestellt werden.52 Da sich aber das literarische Schwarzwaldau mit dem realen in keinen faktischen Zusammenhang bringen lässt, liegt es nahe, eine einfachere Lösung, und zwar das Fehlen einer Wirklichkeitsreferenz, anzunehmen. Wie es scheint, instrumentalisierte Holtei das ihm bekannte Toponym wegen dessen düsteren Klangs für die Verwendung im Rahmen seiner zum Teil aus der Ästhetik der Gothic novel gespeisten literarischen Arbeit. Mit anderen Ortsangaben ver51 Koning, Henk J.: »Das Buch ist eine entschiedene Verirrung«, S. 69: »Abgesehen von der Assoziation, die der Titel des Werkes mit der gleichnnamigen [sic!] niederschlesichen [sic!] Ortschaft hervorruft, weist Schwarzwaldau keinen Bezug zu Schlesien auf. Von regionaler Verbundenheit kaum eine Spur; dies wird namentlich im zweiten Band erkennbar, dessen Handlung sich an geographisch weit voneinander entfernten Orten, wie Dresden, Prag, Hamburg und Schwarzwaldau, abspielt./ Die Bindung an die eigene Provinz, wie sie sich in Holteis mehrbändigen Romanen oft darstellt, ist hier nicht vorhanden, und das vorliegende Werk ist denn auch nicht als schlesisch zu bezeichnen«. 52 Koning, Henk J.: Die Freundesliebe in Holteis Kriminalroman Schwarzwaldau, S. 101.

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fährt der Schriftsteller gleich frei. Manchmal entpuppen sich die scheinbaren Wirklichkeitsreferenzen als leere Hüllen, die nichts vom Lokalkolorit vermitteln und stattdessen Klischees bedienen. So ist zum Beispiel über Teplitz zu entnehmen, dass es ein in einer reizenden Umgebung gelegener Kurort (II, 56, 60) sei. Nicht anders ist es im Fall Dresdens, das immerhin ein wichtiger Schauplatz der Handlung im zweiten Band ist. Demgegenüber baut die Prager und Hamburger Referenzialität auf einige wenige historisch verbürgte Orte auf. Im ersten Fall ist es der Pulverturm (II, 38) und das Gasthaus »Zum schwarzen Roß« (II, 38), im zweiten Valentinskamp (II, 123–124), Gänsemarkt (II, 123) und »Hôtel de Saxe« (II, 124). Sie bleiben aber bloße Aushängeschilder; zum Geschehen tragen sie nicht im Mindesten bei, da Holtei nicht über deren einmalige Nennung hinausgeht, ohne sie wirklich in die Handlung integrieren zu wollen. Zuweilen relativiert der Text selbst die Wahrhaftigkeit der Ortschaften. So heißt es beispielsweise über Neuland: »Es schien eigentlich mehr eine vor kurzen Jahren entstandene Colonie, weßhalb es auch den vielverbreiteten und häufig vorkommenden Namen ›Neuland‹ führte.« (II, 99) Damit wird Neuland in der Menge anderer Neulands aufgelöst. Es ist etwas Neues, weder Stadt noch Dorf, eine Siedlung ohne einen konkreten urbanen Status, eine unter vielen zum Verwechseln ähnlichen, eine ohne eigene Identität und somit ohne Bedeutung. Insofern erübrigt es sich, Nachforschungen über etwas anzustellen, das es nicht einmal auf die Landkarte geschafft hat. Dies ist als eine Lesestrategie zu werten, eventuelle Einwände der Leser gegen die Konstruktion und Wahrhaftigkeit des literarischen Raums im Vorfeld zu entschärfen und so der Entwicklung einer negativen Haltung gegenüber dem Text zuvorzukommen. Die Simulierung der referentiellen Verankerung kommt dem Bedürfnis des modernen Lesepublikums nach Realität entgegen. Gleichwohl sind Holtei – nach der früher besprochenen Philosophie des Kriminalromans – vor allem Charaktere wichtig. Die Ortsangaben stellen zwar eine notwendige Ausstattung der Handlung dar – schließlich müssen sich die Begebenheiten irgendwo zutragen –, sollen aber möglichst niedrig gehalten werden. Deshalb begnügt sich der Schriftsteller auch in den Fällen, wo er die Ereignisse an geographisch lokalisierbaren Orten stattfinden lässt, mit wenigen Allgemeinheiten. Die breite Streuung der Schauplätze (zwischen Schwarzwaldau, Dresden, Neuland, Prag, Teplitz und Hamburg), die ohne registrierbaren Einfluss auf die Figuren und ihr Verhalten bleibt und am Textgeschehen nicht wirklich etwas ändert, dient lediglich zum quasi touristischen Aufpeppen der Handlung mit etwas High-Society-Glanz. Das modernere kriminalgeographische Denken, das »durch die Angabe von geographisch lokalisierbaren Orten […] ein mapping des Verbrechens«53 auslöst, oder die Vorstellung von der Großstadt als einem 53 Schuchmann, Kathrin: Raumkonzepte. In: Düwell, Susanne/Bartl, Andrea/Hamann, Christof/

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überzeugenden Ort eines (literarischen) Verbrechens, ist hier Holtei fremd. Stattdessen lässt er die Morde – »konservativ« – an kleinen, dunklen, abgelegenen Orten (Schwarzwaldau, Neuland) vollbringen. Die Oberflächlichkeit im Umgang mit den imaginären und realen Handlungsorten veranlasst den Schriftsteller dazu, den zuweilen mangelnden Eindruck der Wahrhaftigkeit mit anderen Elementen wie dem Pirnaischen Lohnkutscher, dessen ausschließlicher Obhut Reichenborn seine Tochter anvertraut und den er ausnahmslos auch immer für sich bestellt, zu kompensieren. Das mangelnde Interesse Holteis am Regionalen muss im Zeitkontext gesehen werden. Es ist kein Zufall, dass die Anfänge der Regionalliteratur in deutscher Sprache in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehr mit der Schweiz (Hebel, Gotthelf) als mit Deutschland zu tun haben. Nach der Jahrhundertmitte überwiegt in der Heimatliteratur wiederum die Neigung zur Idealisierung à la Ganghofer. Mit der Schilderung des Niedergangs zweier adliger Familien, der Verdorbenheit, Verschwendungs- und Geldsucht deren Vertreter, Kritik des falschen Ehrgefühls, von der verpönten Homosexualität zu schweigen, passte die Erzählung Holteis nicht in diese Strömung hinein. Die Kehrseite der Medaille hängt mit den innenpolitischen Verhältnissen in Deutschland der Vor-BismarckÄra zusammen. Konnte sich die Anhänglichkeit an die Heimat in anderen Ländern früh entwickeln und entsprechend schnell ihren Niederschlag im dortigen künstlerischen Schrifttum finden – in England beispielsweise war sie ein Echo der Popularität der historischen Werke von Walter Scott54 – war das in der politischen Realität des Deutschen Bundes nicht möglich. So sehr die Idee des Regionalen seit dem späten 20. Jahrhundert ihre Hochkonjunktur erlebt55, war sie um die Mitte des neunzehnten für viele Deutsche eine in mancher Hinsicht lästige Alltagswirklichkeit. Wenn also Jochen Vogt den Begriff des Regionalen (für das 20. Jahrhundert) zu Recht als »den Protest oder Widerstand gegen zentralistische Planungen, gegen die Metropolen«56 definiert, darf man nicht vergessen, dass die Prozesse hundert Jahre früher in die entgegengesetzte Richtung verliefen, als das in den Staaten mit klar definierten Zentralgewalten der Fall war. In der Zeit der Einigungsbestrebungen in Deutschland, der Bemühungen um die Etablierung überregionaler Institutionen, der Gründung einer konstitutionellen Monarchie und der Entwicklung einer nationalen Identität wäre die Umsetzung der Idee des Regionalismus im Fall einer auf breitere Rezeption spekulierenden Erzählung nicht gerade von Vorteil. Ruf, Oliver (Hg.): Handbuch Kriminalliteratur. Theorien – Geschichte – Medien. Stuttgart: J.B. Metzler 2018, S. 36–48, hier S. 43. 54 Draper, R[onald] P.: Introduction. In: Draper, R.P. (ed.): The Literature of Region and Nation. Basingstoke: Macmillan – now Palgrave 1989, S. 1–9, hier S. 3. 55 Vogt, Jochen: Regionalität und Modernisierung, S. 15. 56 Ebd.

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Zusammenfassung Holteis Schwarzwaldau ist ein Werk der Unterhaltungsliteratur. Seine Lektüre kann noch heute Vergnügen bereiten, wenn man es wegen der Elemente des psychologischen oder Gesellschaftsromans liest. In diesem Sinne treffen Konings Worte zu, dass diese Erzählung das etwas antiquierte Bild Holteis als »eines Schriftstellers, der im behaglichen Plauderton eine Gesellschaft glorifiziert, die als heile, aber leider untergegangene Welt präsentiert wird«57, Lügen straft. Dies sind aber Aspekte, die außerhalb des Interesses des vorliegenden Beitrags liegen und deswegen hier nicht zur Sprache gekommen sind. Die Betrachtung der von Holtei selbst als Kriminalgeschichte ausgewiesenen Erzählung aus der Perspektive der modernen Kriminalliteratur ergibt ein recht uneinheitliches Bild. Da sind in erster Linie die frühen Reflexionen über das Wesen und die Möglichkeiten der Kriminalliteratur interessant. Das Ergebnis dieser Theorie ist aber dem Wesen des heutigen Krimis weitgehend fremd und lässt sich nur bedingt in den Dienst der von Rudolph proklamierten deutschen Traditionsgewinnung stellen. Dies soll nicht bedeuten, dass man in Schwarzwaldau nicht mit Elementen (Detektivarbeit, Spurensuche und -deutung u. a.) und narrativen Strategien (Verrätselung) zu tun hat, die dem heutigen Leser aus der modernen Kriminalliteratur geläufig sind58, allerdings fehlen auch ihre bestimmenden Merkmale wie das ›klassische‹ whodunit. Der Clou liegt in den Proportionen. Die für eine moderne Kriminalgeschichte konstitutiven Elemente, wie die Auflösung des Mordrätsels, die Frage nach dem Täter, dessen Fahndung u. dgl., kommen hier zu kurz. Gleichzeitig liegt das für andere Genres wie das Schicksalsdrama (Schicksalsgebundenheit der Personen, verfluchte Gegenstände [Dolch], Vorausdeutung der Ereignisse), den Schauerroman bzw. die Gothic novel (fingierte Geistererscheinungen, Doppelgängermotiv, düstere Handlungsorte) und die alte Verbrechensgeschichte (u. a. Nemesis) charakteristische Instrumentarium breit entfaltet vor. Aus seinen Vorbehalten gegen die Kriminalliteratur lässt sich schließen, dass Holtei sie als künstlerisch einschränkend und ästhetisch untergeordnet empfand. Demgegenüber bot die schauerliterarische Konvention in seinen Augen mehr Freiheit und Tiefe.59 Der Wert von Schwarzwaldau im Gefüge der Krimi57 Koning, Henk J.: Die Freundesliebe in Holteis Kriminalroman Schwarzwaldau, S. 121. 58 Vgl. Bemerkungen über Holteis Kriminalgeschichte Mord in Riga. In: Biesdorf, Markus: Geheimnis und Aufklärung. Die Darstellung von Verbrechen in deutschsprachigen Texten 1782–1855. Tübingen: Narr 2016, S. 479. 59 Vgl. Hogle, Jerrold E. (ed.): The Cambridge Companion To Gothic Fiction. Cambridge: Cambridge University Press 2002, S. 6: »The Gothic has lasted as it has because its symbolic mechanisms, particularly its haunting and frightening specters, have permitted us to cast many anomalies in our modern conditions, even as these change, over onto antiquated or at

Frühe deutsche Kriminalgeschichten mit fingiertem Regiotouch

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nalliteratur ergibt sich somit vor allem aus seiner Rolle als eine Übergangslösung auf dem Weg von der alten Verbrechensgeschichte zum modernen Kriminalroman. Gegen die Anspielung im Titel entbehrt der Text einer regionalen Prägung. Unter Nennung realer Ortsnamen wird eine fiktive Topographie entwickelt.

Literatur Biesdorf, Markus: Geheimnis und Aufklärung. Die Darstellung von Verbrechen in deutschsprachigen Texten 1782–1855. Tübingen: Narr 2016. Carl von Holtei. Eine Biographie. Prag & Leipzig: Expedition des Albums 1856. Draper, R[onald] P.: Introduction. In: Draper, R.P. (ed.): The Literature of Region and Nation. Basingstoke: Macmillan – now Palgrave 1989, S. 1–9. Düwell, Susanne/Bartl, Andrea/Hamann, Christof/Ruf, Oliver: Vorwort. In: Düwell, Susanne/Bartl, Andrea/Hamann, Christof/Ruf, Oliver (Hg.): Handbuch Kriminalliteratur. Theorien – Geschichte – Medien. Stuttgart: J.B. Metzler 2018, S. VII–VIII. Genç, Metin: Gattungsreflexion/Schemaliteratur. In: Düwell, Susanne/Bartl, Andrea/Hamann, Christof/Ruf, Oliver (Hg.): Handbuch Kriminalliteratur. Theorien – Geschichte – Medien. Stuttgart: J.B. Metzler 2018, S. 3–13. Gerber, Richard: Verbrechensdichtung und Kriminalroman. In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München: W. Fink 1998, S. 73–83. Hogle, Jerrold E. (ed.): The Cambridge Companion To Gothic Fiction. Cambridge: Cambridge University Press 2002. Holtei, Karl v.: Schwarzwaldau. In: Holtei, Karl. v.: Erzählende Schriften. Bd. 2 u. 3. Breslau: Eduard Trewendt 1861. Holtei, Karl v.: Schwarzwaldau. Prag: Expedition des Romans; Leipzig: Heinrich Hübner 1856 (Album deutscher Original-Romane, Jg. 11, Bd. 1 u. 2.). Kniesche, Thomas: Einführung in den Kriminalroman. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2015. Koning, Henk J.: »Das Buch ist eine entschiedene Verirrung«. Karl von Holteis Kriminalroman »Schwarzwaldau«. In: »Silesia Nova« 3 (2014), S. 66–72. Koning, Henk J.: Die Freundesliebe in Holteis Kriminalroman Schwarzwaldau. In: Dziemanko, Leszek/Hałub, Marek (Hg.): Karl von Holtei (1798–1880). Leben und Werk. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2011, S. 100–121. Müchler, Karl: Kriminalgeschichten. Berlin: W. Natorff und Comp. 1828f., Bd.1–2. Schönert, Jörg: Kriminalität erzählen. Studien zu Kriminalität in der deutschsprachigen Literatur (1570–1920). Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2015.

least haunted spaces and highly anomalous creatures. This way our contradictions can be confronted by, yet removed from us into, the seemingly unreal, the alien, the ancient, and the grotesque.« Zum Schauerroman als einem Vorläufer des Kriminalromans vgl.: [P]lummer, [P]atricia: Gothic novel, in: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Hg. von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender und Burkhard Moennighoff. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2007, S. 292.

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Globalisierung im Regionalkrimi

Sandra Beck (Universität Mannheim)

Ermitteln, was der Fall ist: Rassismus. Noah Sows Die Schwarze Madonna. Afrodeutscher Heimatkrimi (2019)

Ein Cover in der Genregeschichte Crime fiction […] gives itself away with ominous, iconic images of guns, silhouettes, bodies, and settings, as well as a predictable color palette. These jackets, emblazoned with the typically aphoristic title, eye-catching font, and gruesome images, deploy the aesthetic not only to establish the novel as crime fiction, but also to create a mood of suspense.1

Folgt man Louise Nilsson, so gibt sich Kriminalliteratur als Genre bereits in der paratextuellen Gestaltung unmissverständlich als distinkte, zusammengehörige Gruppe von Texten zu erkennen. Das skizzierte Zusammenspiel aus standardisierter Farbgebung und gängigen Topoi, das als intendierte Aufrufung des Genres sichtbar wird, steckt visuell einen generischen Vorstellungsraum ab, der formierte Leseerwartungen an kriminalliterarisches Erzählen ebenso aktiviert und aktualisiert wie die anvisierte Lektürehaltung gegenüber dem Einzeltext. Auf der Rückseite hingegen – so ließe sich die Argumentation Nilssons fortsetzen – steht dann nicht die Evokation eines makrostrukturellen Standardmodells im Zentrum. Vielmehr zeigen sich die Klappentexte programmatisch einer Rhetorik der Innovation und der Originalität verpflichtet, die die einzigartige Besonderheit des Einzeltextes herausstreicht: »Doch in diesem Fall ist nichts, wie es scheint, und hinter jeder Wahrheit verbirgt sich eine weitere…«2 In der summarischen plot-Präsentation, die das zu lösende Rätsel in den beliebten drei Auslassungspunkten konserviert, wird das Spezifische des vorliegenden Textes – freilich wiederum formelhaft – hervorgehoben, das ihm in der Masse der immer neuen Erzählungen von ausgefeilten Detektionsmethoden und unvorstellbaren gesellschaftlichen und psychologischen Abgründen zu eigen ist – sei es die Ermittlung 1 Nilsson, Louise: Covering Crime Fiction: Merging the Local into Cosmopolitan Mediascapes. In: Nilsson, Louise/Damrosch, David/D’haen, Theo (ed.): Crime Fiction as World Literature. New York: Bloomsbury Academic 2017, S. 109–130, hier S. 109. 2 Geschke, Linus: Finsterthal. München: dtv 2020.

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einer erblindeten Detektivfigur3, sei es die Akzentsetzung auf der bisher unbeachteten Geschichte nationalsozialistischer Verbrechen auf regionaler Ebene4, sei es die Ankündigung eines neu formierten Subgenres, das nunmehr die touristischen Erzählpotentiale des Schemas erschließt.5 Aus dieser paratextuellen Spannung zwischen der für das Genre konventionalisierten Ikonographie und hyperbolischen Formulierungen, zwischen nachahmender Bildvorstellung im Genrezitat und textueller Zusammenfassung des so für sich gestellten literarischen Textes ließe sich idealtypisch ein Verständnis von Kriminalliteratur als Schemaliteratur der mittleren Lage skizzieren.6 Das Genre gewinnt sein ästhetisches Vermögen gerade aus der Variation eines bekannten und als bekannt vorausgesetzten Standardmodells und verbindet so die Nachahmung eines Erzählmodells mit den ästhetischen Konzepten von Innovation, Bruch und Originalität. Allerdings wäre die Feststellung einer einheitlichen Bildlichkeit der Kriminalliteratur historisch und kulturell zu präzisieren. Denn vertraut man etwa den Erinnerungen Natalia Ginzburgs, so markieren die Romane Georges Simenons in der Tradition kriminalliterarischen Erzählens auch in der Covergestaltung eine Zäsur.7 Neben der Auseinandersetzung mit der (genre-)historischen und kulturellen Varianz der paratextuellen Gestaltung sowie der gegenwärtig augenfälligen visuellen Überbrückung der einst als bodenlos ausgewiesenen Kluft zwischen Roman und Kriminalroman8 ist im Blick auf den gegenwärtigen Krimi-Markt zudem zu beachten, dass sich abseits der

3 Vgl. Pflüger, Andreas: Endgültig. Berlin: Suhrkamp 2016. 4 Vgl. Gross, Rainer: Grafeneck. Bielefeld: Pendragon 2007 sowie Gross, Rainer: Kettenacker. Bielefeld: Pendragon 2011. 5 So wird etwa ein »Mord à la Provençale« angekündigt (Martin, Pierre: Madame le Commissaire und der verschwundene Engländer. München: Knaur 2014). 6 Vgl. Vogt, Jochen: High or Low? Modern oder vormodern? Der Kriminalroman als »mittlere Literatur« und einige Musterstücke aus den Dreißiger Jahren. In: Vogt, Jochen: Schema und Variation. 13 Versuche zum Kriminalroman. Hannover: Wehrhahn 2020, S. 105–135. Vogt bezieht sich in dieser Einordnung auf Dubois, Jacques: Le roman policier et la modernité. Paris: Nathan 1992. 7 »Später, als die Romane von Simenon zu erscheinen begannen, wurde mein Vater ein eifriger Leser dieses Autors. […] Damals aber […] gab es noch keine Romane von Simenon, und die Bücher, die mein Vater von seinen Reisen mitbrachte, waren glänzende kleine Bändchen mit den Körpern von erstochenen Frauen auf dem Umschlag« (Ginzburg, Natalia: Mein FamilienLexikon. Frankfurt (M.): Suhrkamp 1989 [erstmals 1963], S. 70). 8 So verzichtet beispielsweise das Cover von Paulus Hochgatterers Fliege fort, fliege fort (2020) auf visuelle Genresignale und dies in Übereinstimmung mit dem Selbstverständnis des Autors, der betont, dass seine Texte um die Ermittlungen des Psychiaters Horn und des Kommissars Kovacs »nicht ausschließlich als Krimis zu lesen sind.« Gerk, Andrea: Mehr als nur ein Krimi. Gespräch mit Paulus Hochgatterer. Deutschlandfunk Kultur vom 9. Januar 2020. URL: https:// www.deutschlandfunkkultur.de/paulus-hochgatterer-fliege-fort-fliege-fort-mehr-als-nur.127 0.de.html?dram:article_id=467452 / letzter Zugriff am 7. April 2021.

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benannten Gleichförmigkeit in der visuellen Genremarkierung eine markante subgenre-spezifische Bildlichkeit entwickelt hat. So stellen etwa die populären Regionalkrimi-Reihen von Jörg Maurer, Rita Falk und Nicola Förg, die im Untertitel als ›Alpenkrimi‹ oder ›Provinzkrimi‹ kategorisiert werden, ihre seriellen kriminalliterarischen Vertextungen der Region in überzeichneten Klischee-Bildern vor: Föhnlage (2009) hebt den Hirschkopf als mit Edelweiß geschmückte Trophäe an der von Einschusslöchern versehrten Wand mit Blümchentapete aufs Cover; Guglhupfgeschwader (2019) arrangiert Kuchen, Kuckucksuhr, Wunderkerzen, brennende Geldbündel, Bombe samt Zündschnur und Sektflasche zu einem Stillleben von explosiver Gemütlichkeit; Platzhirsch (2013) dagegen wählt einen treuherzig blickenden Dackel auf rot-weiß-karierter Picknickdecke, flankiert von Blasinstrument und Jägerhut.9 Kombiniert werden Bildelemente aus dem Imaginationsrepertoire ›Heimat‹10 – Hirsch, Guglhupf, Dackel – mit stereotypen visuellen Genremarkern. Die ikonischen Zeichen kriminalliterarischen Erzählens werden somit gemäß der Prämisse: »A crime novel’s cover visually carries the narrative it encloses«11 in eine je eigene Bildkomposition überführt, die den inhaltlichen Fokus auf den – durchaus zum (National-)Klischee verdichteten – regional präzisierten Raum als Tatort ausstellt und das Subgenre des Regionalkrimis paratextuell formiert.12

9 Förg selbst bezeichnete das Cover in einem Gespräch mit Löffler jedoch als »Mogelpackung. Weil da sitzt natürlich auf der wie immer unvermeidlichen karierten Decke dieser reizend blickende Dackel drauf, und irgendwie is’ des alles furchtbar putzig. Des Buch is’ aber nich’ putzig. Und eigentlich korrespondiert der Inhalt nich’ mit dem, was drauf is’. Aber die Verlage machen das eben, weil des ’n Verkaufsargument is’. Weil in den Buchhandlungen is’ des ’n Eyecatcher.« Zit. nach: Löffler, Katharina: Allgäu reloaded. Wie Regionalkrimis Räume neu erfinden. Bielefeld: transcript 2017, S. 60. 10 Die gewählten Beispiele skizzieren einen Kontext für Sows ›Heimatkrimi‹ und stellen aufgrund der regionalen Bezogenheit des jeweils erzählten Raumes ›Bayern‹ bzw. die Alpenregion als ›Heimat‹ vor. Die in diesen Fällen textuell, aber auch audiovisuell ausgestellte Deckungsgleichheit zwischen ›Bayern‹ und ›Heimat‹ bedeutet jedoch nicht, dass ›Heimat‹ ausschließlich im Rückgriff auf diesen Bildfundus hergestellt wird. Für die Vertextung anderer Regionen – etwa das Morden im Norden (seit 2012, aktuell 7 Staffeln) – arbeiten RegioKrimis mit anderen Bildbeständen – Möwen, Strandkorb, windgepeitschte See, Leuchtturm –, die allerdings auch das vorgängige Bildrepertoire aus Hirsch, Guglhupf, Dackel aufgreifen können. Gisa Paulys Inselzirkus (2011) aus der Mamma Carlotta-Reihe hebt so etwa zwei Möwenköpfe aufs Cover, die als Trophäen eine blauweiß tapezierte Wand zieren. 11 Nilsson, Louise: Covering Crime Fiction, S. 109. 12 Bemerkenswerterweise distanzieren sich denn auch Klüpfel und Korb von diesem Image im Verweis auf die paratextuelle Gestaltung ihrer Kluftinger-Texte: »Nicht einmal ein Hirschgeweih oder eine karierte Tischdecke [findet sich] auf unseren Buchumschlägen« (Klüpfel, Volker/Korb, Michael: Zwei Einzelzimmer, bitte! Mit Kluftinger durch Deutschland. München: Piper 2011, S. 200, zit. nach: Löffler, Katharina: Allgäu reloaded, S. 140).

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Das Cover von Noah Sows Krimidebüt Die Schwarze Madonna (2019)13 signalisiert vor diesem Hintergrund eine generische Neuprägung, die die längst eingespielten Mechanismen interkulturellen und regionalen Erzählens im Modell des Kriminalromans herausfordert. So markiert die Herabtönung der genretypisch schwarz-roten Farbpalette auf Lila- und Brauntöne eine Distanzierung von dem im Genre virulenten Überbietungsgestus, der sich namentlich in Serienmörder-Fiktionen in immer grausameren und so drastisch wie minutiös erzählten Tötungsarten ausschreibt und auch der gegenwärtigen true crime-Faszination die Feder führt. Die Platzierung einer Zeitung lesenden Schwarzen14 Frau vor dem Schattenriss einer alpinen Bergregion und mit Halbmonden verzierter Kirchturmspitzen bildet nicht nur die Besetzung der Ermittlerin ab, sondern deutet zudem die Eckpfeiler der Krimi-Handlung an. Verdoppelt wird die Figuration auf der Umschlagseite der Zeitung, die die Schlagzeile »Fatou Falls erster Fall« kombiniert mit dem Scherenschnitt der Schwarzen Madonna mit Kind vor einer Textur aus weiß-blauen Rauten – dem Symbol Bayerns – und einem Stoff im wax print.15 Auf den Begriff gebracht wird dieses zweifache Zusammenspiel von Bild und Text in der Genresetzung ›Afrodeutscher Heimatkrimi‹. Die paratextuelle Gestaltung zeigt somit einen Roman an, der eingespielte Traditionen kriminalliterarischen Erzählens um ›Heimat‹ als (ambivalentem) Sehnsuchtsort in seiner unreflektierten whiteness hinterfragt und dabei erzählt, wie Zugehörigkeit zum Ort der Herkunft entwickelt werden kann. Diese Umschreibung erfasst das gesamte Repertoire der Invariablen kriminalliterarischen Erzählens – von der Figur der Ermittlerin und der aufzuklärenden Tat über die Spurenlektüre bis hin zur Zeugenbefragung.

13 Sow, Noah: Die Schwarze Madonna. Afrodeutscher Heimatkrimi. Fatou Falls erster Fall. Norderstedt: bod 2019. Im Folgenden nach dieser Ausgabe mit der Sigle DSM unter Angabe der Seitenzahl nachgewiesen. 14 Die gewählten Schreibweisen ›Schwarz‹ und ›weiß‹ sollen verdeutlichen, dass es sich nicht um reelle Hautfarben oder biologische Eigenschaften, sondern um politisch und sozial konstruierte Kategorisierungen handelt. In diesem Sinne markiert die Verwendung weiß eine »Analysekategorie für unterdrückende Machtverhältnisse«, ›Schwarz‹, dass »Rassismus zur Herausbildung der Kategorie geführt hat« (Kelly, Natasha A.: Weil wir weitaus mehr als nur ›Frauen‹ sind! Eine Einleitung. In: Kelly, Natasha A. (Hg.): Schwarzer Feminismus. Grundlagentexte. Münster: UNRAST 2019, S. 9–17, hier S. 14). 15 Diesen Hinweis verdanke ich Andrea Diener. Vgl. hierzu einführend Nielsen, Ruth: The History and Development of Wax-Printed Textiles Intended for West Africa and Zaire. In: Cordwell, Justine M./Schwarz, Ronald A. (ed.): The Fabrics of Culture. The Anthropology of Clothing and Adornment. The Hague: Mouton 1979, S. 467–498.

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Afrodeutscher Heimatkrimi Nachdrücklich verabschiedet sich der Text sowohl vom »Ermitteln in Hüttengaudi-Ambiente«16 wie vom hyperbolischen Spiel mit der Gewalt. Anstatt die erzählerische Kreativität auf eine möglichst bestialische Zerstückelung von Körpern zu konzentrieren, die den Opfern von Rassismus und Sexismus in der erzählten Welt die Stimme entzieht, ermittelt der Roman gleichsam exemplarisch, wie die Vortäuschung eines islamistischen Anschlags durch blackfacing für lokale weiße ökonomische und politische Interessen funktionalisiert wird: Im Urlaub bei Fatou Falls Pflegetante Hortensia Fideltaler werden ihre Tochter Yesim und sie Zeuginnen, als zwei dunkelbraun geschminkte Männer die Fürbittenbilder der Altöttinger Gnadenkapelle mit dem Schriftzug »ALLAH WAKBA« (DSM, 44) besprayen. Während die ermittelnden Beamten nicht erkennen, dass die an die Wand geschriebenen Zeichen falsch sind, ist für Fatou und Yesim offensichtlich, dass ein islamistischer Anschlag lediglich vorgespielt wurde, denn: »Muslime können ihre eigenen Gebete ohne Rechtschreibfehler sprühen« (DSM, 69). Die Tat erweist sich als Teil eines »rassistischen Komplott[s]« (DSM, 390), das »der örtliche Pfarrer mit der örtlichen Burschenschaft und dem örtlichen Bürgermeisterkandidaten, der hochrangiger Polizeibeamter war« (DSM, 375), geschmiedet hatte, um an Stelle eines mit EU-Geldern finanzierten »Islamische[n] Kulturzentrum[s]« (DSM, 122) eine Jugendsportstätte zu bauen. Als einen der Täter Zweifel und Gewissensbisse befallen, droht man ihm, seiner Schwester etwas anzutun. Zu ihrem Schutz wird sie daraufhin scheinbar entführt. Den vorgetäuschten terroristischen Akt motiviert eine manipulative Kommunikationsstrategie, denn so sollen die demokratisch legitimierten Entscheidungsprozesse im Stadtrat hintertrieben werden (DSM, 377–378). Die rekonstruierte Verbrechensgeschichte führt vor, wie der enttarnte »Altöttinger Monster-Klüngel« (DSM, 352) aus der Inszenierung einer extremistischen »Vandalismus-Aktion in Blackface« (DSM, 88), die als Folgetat die Entführung eines Kindes nach sich zieht, diskursiv Kapital zu schlagen versucht, um über das Vehikel der Jugendarbeit die gesellschaftliche Zukunft weiterhin gemäß seiner Werte und Normen zu prägen. Im Vergleich mit thematisch ähnlich ausgerichteten kriminalliterarischen Fiktionen ist die vermeintliche Geringfügigkeit der Tat auffällig, um die die Aufklärungsgeschichte kreist. Während etwa Matthias Giberts Zirkusluft (2009) oder Horst Eckerts Sprengkraft (2009) beobachten, wie rechtsextreme Akteure in ihrer menschenverachtenden binären Logik durch Bombenanschläge gezielt eine eskalierende innenpolitische Konfrontation zwischen ›Uns‹ und ›Denen‹ in Gang setzen, um die Gesellschaft gemäß politischer und ökonomischer Interessen in 16 Löffler, Katharina: Allgäu reloaded, S. 9.

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den Ausnahmezustand zu treiben17, demonstriert die in der erzählten Welt für Altötting durchgespielte Verschwörung, mit wie wenigen Zeichen sich »der Rassismus im Kleinen« zum »Rassismus im Großen« entgrenzen lässt.18 Die Schwarze Madonna hintertreibt die Fixierung der Krimi-Fiktionen auf möglichst monströse und spektakuläre Taten der Zerstückelung und Zerfleischung wie sie – vertraut man Gerhard Henschels Parodie Soko Heidefieber (2020) – gegenwärtig nicht zuletzt den Regio-Krimi auszeichnen.19 Arbeiten diese kriminalliterarischen Fiktionen mit der Vorstellung einer im Moment der Tat auftretenden radikalen Spaltung und tödlichen Konfrontation, die auf latente, erst zu entschlüsselnde gesellschaftliche Konfliktfelder verweist, ersetzt Sows Afrodeutscher Heimatkrimi die eine böse Tat programmatisch durch die Vielzahl der im Alltag erlebten rassistischen Übergriffe, Übergriffigkeiten und Verletzungen sowie die politische Auseinandersetzung um die Gestaltung der Zukunft, denn »racism is a structure, not an event.«20 Fatou Fall verbindet mit »ihre[r] alte[n] Heimat« (DSM, 16) aufgrund rassistisch motivierter Ausschließung und »Vereinzelung« (DSM, 81) gerade kein Gefühl der Aufgehobenheit, wie es Peter Blickle als konstitutiv für ein Heimatgefühl beschreibt: »securing one’s sense of Heimat is a way for the ego to have a sense of self without needing to be aware of it, and so the solitude of the individual in the world is nullified.«21 Ungeachtet ihres »ständigen Gefühl[s], fremd in der eigenen Heimat zu sein« (DSM, 190), will Fatou Fall ihrer Tochter mit den Sommerferien in Altötting »starke Roots […] vermitteln«22, denn »Yesim sollte 17 Zu diesen angstbesetzten Imagination einer in den Ausnahmezustand versetzten Gesellschaft, in der sich die ›Parallelgesellschaften‹ als Kriegsparteien gegenüberstehen und ein sich totalitär gebärdender Staat in bisher geschützte Rechtsräume vordringt, vgl. Beck, Sandra: Zwei Welten, im Verbrechen überbrückt? Interkulturelles Erzählen in der deutschsprachigen Kriminalliteratur der Gegenwart. In: Beck, Sandra/Schneider-Özbek, Katrin (Hg.): Gewissheit und Zweifel. Interkulturelle Studien zum kriminalliterarischen Erzählen. Bielefeld: Aisthesis 2015, S. 7–40. 18 Hasters, Alice: Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten. München: hanserblau 2019, S. 8. 19 Vgl. Henschel, Gerhard: Soko Heidefieber. Ein Überregionalkrimi. Hamburg: Hoffmann und Campe 2020. 20 DiAngelo, Robin: White Fragility. Why It’s So Hard for White People to Talk About Racism. Boston: Beacon Press 1992, S. 28. 21 Blickle, Peter: Heimat. A Critical Theory of the German Idea of Homeland. Rochester, NY: Camden House 2004, S. 69. 22 Die Verwendung von »Roots« – anstelle des deutschen Begriffes »Wurzeln« – ist semantisch vielfach aufgeladen. Denn die im deutschen Sprachraum an den Begriff der Wurzel geknüpfte Vorstellung eines Stammbaumes mit einer eindeutigen Genealogie im Sinne des Abstammungsprinzips wird in diesem Kontext nachdrücklich überschrieben. An ihre Stelle tritt vielmehr »the idea of rootedness«, die nach Glissant das von Gilles Deleuze und Félix Guattari entworfene Rhizom ebenso auszeichnet wie die Zurückweisung der Idee »of a totalitarian root« (Glissant, Édouard: Poetics of Relation. Ann Arbor: University of Michigan Press 1997, S. 11). Verhandelt wird dies auch in der deutlichen intermedialen Anspielung auf die Mini-

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nie so in der Luft hängen, voller Zweifel und voller Fragen ohne Antworten, wie es Fatou als Kind ergangen war« (DSM, 12). Zu beweisen hat sich in dieser Konstellation die deutsche Heimat. So stellt bereits der disclaimer unmissverständlich klar: Die Geschichte spielt in der Fiktion eines realen Ortes. So wie die Schnulzenfilme im ZDF, die in Nairobi spielen. Oder wie Karl May (nicht) unterwegs war. Jede Ähnlichkeit mit lebenden und realen Bürgermeistern, Brauereien, Landwirtschaftserzeugnissen, Gaststätten, Geistlichen, Arbeiterparteien, kulturellen Eigenheiten, Wahlkampfslogans, Kapellen, Studentenverbindungen, ALDIs oder Internetcafés ist unbeabsichtigt und besteht höchstens rein zufällig. (DSM, unpag.)

In dieser pointierten Offenlegung des white gaze mit der aus der Fremde kommenden Retterfigur und seiner Zurückwendung auf die deutsche Heimat wiederholt sich eine Strategie der Verfremdung, die Noah Sow bereits in Deutschland Schwarz Weiß. Der alltägliche Rassismus einsetzt. Entgegen der Leseerwartungen an die Herkunftsgeschichte einer Schwarzen Frau mit einem weißen Elternteil erzählt Sow in Vorspann: Meine eigene Herkunft von Deutschland und seiner Geschichte im typisch ethnozentrischen Vokabular.23 Im Verweis auf einen einst niedrigen Zivilisationsgrad und die Bewertung des aktuellen technologischen Entwicklungsstandes über die historische Erinnerung an Stammeskonflikte und die Betonung der Dialektvielfalt bis hin zur Erklärung exotisch-gruseliger Totenund Trauerrituale wird eine Redeweise ironisch gespiegelt, die im Schwanken zwischen Herablassung und Faszination koloniale und imperialistische Diskurse durchzieht.24 Die Position Fatou Falls in der erzählten Welt greift die Reflexivität dieses Blickpunktes auf. Einerseits fungiert sie als Vermittlerin zwischen ihrer Heimat und der Heimat ihrer Tochter, konkret zwischen dem multikulturellen Hamburg und der »katholischste[n] Stadt im katholischsten Bundesland« (DSM, 88). Entsprechend sind ihr punktuell Übersetzungsleistungen aufgetragen:

serie Roots (1977). Der so aufgerufene historische Hintergrund verweist auf die – in Folge von Verschleppung, Sklaverei und gewaltsamen Entzug von Identität entstandenen – Leerstellen in kollektiven Herkunftsgeschichten. 23 »Ich stamme ursprünglich aus einem Land, dessen Zivilisationsgrad vor noch nicht allzu langer Zeit von vielen Staaten der westlichen Welt belächelt und interessiert, aber von oben herab zur Kenntnis genommen wurde. Kein Wunder: Ganz in der Nähe gab es beispielsweise noch Stämme, die die Schädel ihrer verstorbenen Kinder bemalten (!) und sammelten. […] Meine Oma, die Eingeborene, stammt aus Bayern« (Sow, Noah: Deutschland Schwarz Weiß. Der alltägliche Rassismus. München: Goldmann 2009, S. 13, 15). 24 Vgl. hierzu im Detail Dubiel, Jochen: Dialektik der postkolonialen Hybridität. Die intrakulturelle Überwindung des kolonialen Blicks in der Literatur. Bielefeld: Aisthesis 2007.

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»Die [Kommode] ist auch neu«, sagte sie [Tante Hortensia] zu Fatou. »Das schiache alte Ding hab ich auf den Sperrmüll.« »Schiech?«, flüsterte Yesim. »Schiach«, sagte Fatou. »Das heißt in deiner Muttersprache: hässlich.« (DSM, 19)

Andererseits wird Fatou Falls Zugehörigkeit wieder und wieder in Abrede gestellt. So verbindet Pater Simone seine Vision eines von internationalen Tourist: innen besuchten Altötting, das Lob auf seine multikulturelle Fußballgruppe und den Verweis auf die globale Bildungsarbeit der Kirche mit der beiläufigen Erklärung Fatous zur Fremden: »Wir brauchen mehr verschiedene Kulturen hier. Altötting ist nicht überall so konservativ wie sein Ruf. Wir sind nicht hinter dem Mond, wir sind auch international! Ich möchte gern Ihren ersten schlechten Eindruck ändern.« Welcher erste Eindruck, dachte Fatou, ich bin hier aufgewachsen. Pater Simone steigerte sich in Schwärmerei hinein und betrieb umfängliche Überzeugungsarbeit. Er erinnerte an die vielen Touristen, die Wichtigkeit der katholischen Kirche in Südamerika und Afrika, beschrieb, wie toll zwei »junge ungarische Roma« in seiner Jugendgruppe Fußball spielen konnten, und schloss damit ab, dass sie gerade schließlich auch in einem ausländischen Café saßen. (DSM, 62; Hervorhebungen im Original)

In dieser informellen Gesprächssituation wird exemplarisch vorgeführt, wie sich demonstrative Weltoffenheit, Betonung des eigenen »Migrationshintergrund[s]« (DSM, 59) und Zuspruch für eine multikulturelle Gesellschaft unter der Leitperspektive gelingender »Integration« (DSM, 58) mit der reflexhaften Kategorisierung einer Schwarzen Frau als ›fremd‹ verbindet. Die kursiv gesetzten Gedanken Fatou Falls, die das Gehörte, Gesagte, Gemeinte aus intersektionaler Perspektive für die Leser:innen deuten, kritisch kommentieren und einordnen, werden so als Gegenrede präsent gehalten, auch wenn in der erzählten Welt, insbesondere aus Rücksicht auf die anwesende Tochter, eine direkte Konfrontation oftmals vermieden wird (DSM, 253). Damit wählt der Roman auf narrativer Ebene eine didaktisch, intern fokalisiert erklärende Variante, um rassistische Fremdperspektiven bloßzulegen, die zugleich als Ergebnis einer unlösbaren double-bind-Konstellation vorgestellt wird: Fatou regte es am meisten auf, wenn Yesim solche Situationen miterlebte. Sie fühlte dann den Druck, angemessen zu reagieren, gleichzeitig empfand sie aber auch die Verantwortung, ihrer Tochter wegen einen kühlen Kopf zu behalten und sich nicht in Gefahr zu bringen. Diese beiden Optionen passten nicht zusammen. Egal, wie sie reagierte, sie konnte der Situation nicht gerecht werden. (DSM, 51)

Das Handeln Fatou Falls steht so im scharfen Kontrast zur Erzählstrategie derjenigen Texte, die in der einschlägigen Sekundärliteratur zur Inter-, Multi- und Transkulturalität im Genre aus der deutschsprachigen Krimilandschaft stets

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ausgewählt werden: die Kemal Kayankaya-Romane Jakob Arjounis.25 Denn diese Texte verfolgen – gemäß dem Genreregister der hardboiled-Tradition – ein Ermittlungsprogramm, in dem körperliche Schlagkraft und sprachliche Schlagfertigkeit gezielt zur Eskalation eingesetzt werden.26 An die Stelle einer sarkastischen Überspitzung des Repertoires ethnisierender Zuschreibungen, mit denen Arjounis Texte die Banalität des Alltagsrassismus als Wahrnehmungsproblem der Anderen ironisch ausleuchten und in offener Konfrontation ausstellen, rückt in Die Schwarze Madonna die kräftezehrende Behauptung der eigenen Zugehörigkeit gegen alle Diskriminierungserfahrungen. Mit der nach innen gewandten Auseinandersetzung mit erfahrener rassistischer Ausschließung – Erinnerungen an »unangenehme« (DSM, 39), »bösartige Blicke« (DSM, 41), an »Passanten, die ihr auf die Füße spuckten« (DSM, 190), an den Schulhof, auf dem »sie die ganze Zeit ihre Anwesenheit verteidigen [musste]« (DSM, 210), an die »erste Begegnung mit […] Hass und […] Angst« (DSM, 241) als Sechsjährige – und dem Gefühl, »nirgendwo hinein zu passen« (DSM, 177), erzählt der Roman von Fatou Falls Sehnsucht nach Verwurzelung »wie ein Baum« (DSM, 108). Verarbeitet wird eine zweifache traumatische Verlusterfahrung. Während die auf Herkunft und Sozialisation beruhende Selbstbestimmung auf permanente Ablehnung trifft – »Ich bin nur deutsch. Aber nicht für Deutsche« (DSM, 177) –, bleibt »die afrikanische Seite ihrer Herkunft« (DSM, 177) eine schmerzhafte Leerstelle.27 25 Vgl. u. a. Kutzbach, Konstanze: The Hard-Boiled Pattern as Discursive Practice of Ethnic Subalternity in Jakob Arjouni’s »Happy Birthday, Turk!« and Irene Dische’s »Ein Job«. In: Fischer-Hornung, Dorothea/Mueller, Monika (ed.): Sleuthing Ethnicity. The Detective in Multiethnic Crime Fiction. Madison: Fairleigh Dickinson University Press 2003, S. 240–259; Teraoka, Arlene A.: Detecting Ethnicity. Jakob Arjouni and the Case of the Missing German Detective Novel. In: Krajenbrink, Marieke/Quinn, Kate M. (ed.): Investigating Identities. Questions of Identity in Contemporary International Crime Fiction. Amsterdam/New York: Rodopi 2009, S. 113–129; Ruffing, Jeanne: Identität ermitteln. Ethnische und postkoloniale Kriminalromane zwischen Popularität und Subversion. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 251–301; Zeller, Regine: ›Türkischer‹ Detektiv mit doppeltem Bewusstsein. »Happy birthday, Türke!« und die stereotypen Bilder des Fremden. In: Beck, Sandra/ Schneider-Özbek, Katrin (Hg.): Gewissheit und Zweifel. Interkulturelle Studien zum kriminalliterarischen Erzählen. Bielefeld: Aisthesis 2015, S. 41–57; Brylla, Wolfgang: »Chandlerisierung« des deutschen Kriminalromans. Zu Jakob Arjounis literarischem Krimikonzept. In: »Estudios Filológicos Alemanes« 26 (2013), S. 551–566. 26 Zur »Entlarvungsfunktion« der provokanten wisecracks vgl. Ruffing, Jeanne: Identität ermitteln, insbesondere S. 261–262. 27 Der Roman kreist so um zwei Konfliktlinien: verweigerte Heimat und Heimat als Leerstelle. Als Kind eines Schwarzen Vaters und einer weißen deutschen Mutter, die Fatou zu Pflegetanten gab, wird eine gesellschaftlich erzeugte Spaltung beschrieben, die auch Hasters benennt: »Ich teilte mich immer wieder in die Bestandteile meiner Eltern auf. Als ob meine Herkünfte wie Öl und Wasser wären, nicht zusammengingen. Als ob daraus nichts Neues entstehen könnte, das es wert wäre, einen eigenen Namen, einen eigenen Platz in der Gesellschaft zu bekommen« (Hasters, Alice: Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören

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Ebenso wie Kayankaya wird Fall nach dem Maßstab »Haut, Haare, Hämoglobin«28 als Detektivin am Ort ihrer Kindheit zum ethnic detective gemacht.29 Die Schwarze Madonna nutzt dabei die am Beispiel der Detektivfigur reflektierte »Normsetzung von weißer Haut«30, um im bekannten Modell des Krimis und seiner Subgenres neue Erzählräume für zentrale Anliegen anti-rassistischer Bildungs- und Aufklärungsarbeit zu erschließen. Ein Ansatzpunkt ist dabei, dass der Text die »Aufarbeitung des Hier und Heute«31 mit der Aufarbeitung der eigenen Lebensgeschichte verfugt. Vor dem Hintergrund von Stephen F. Soitos’ »tropes of black detection«32 lässt sich diese thematische Schwerpunktverlagerung in der Aneignung eines Genres präziser fassen, das einerseits von einem »nonchalant racism«33 geprägt scheint und Bilder des kriminellen ›Anderen‹34 produziert, andererseits in seiner Genrereflexivität und qua seiner analytischen Makrostruktur beständig die vorgängigen eurozentrischen Erzählungen quert, etwa mit der Figur des ethnic bzw. postcolonial detective.

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wollen, S. 26). Den Roman beschließt denn auch sowohl eine selbstbewusst formulierte Positionierung in der bayerischen Heimat – »Ich war zuerst hier, dachte Fatou. Vor jedem Kind, das hier in den letzten dreißig Jahren geboren ist, vor jeder schnippischen jungen Verkäuferin, vor allen Burschenschaftlern, die denken, sie wüssten, was ›Heimat‹ ist.« (DSM, 257; Hervorhebungen im Original) – als auch die sich in der neuen Frisur symbolisch verdichtende Verknüpfung mit den roots. Sanyal, Mithu: Zuhause. In: Aydemir, Fatma/Yaghoobifarah, Hengameh (Hg.): Eure Heimat ist unser Albtraum. Berlin: Ullstein fünf 2019, S. 101–121, hier S. 101. Freese, Peter: The Ethnic Detective. Chester Himes, Harry Kemelman, Tony Hillerman. Essen: Die Blaue Eule 1992 sowie Christian, Ed (ed.): The Post-Colonial Detective. Houndmills: Palgrave Macmillan 2001. Otoo, Sharon Dodua: Liebe. In: Aydemir, Fatma/Yaghoobifarah, Hengameh (Hg.): Eure Heimat ist unser Albtraum. Berlin: Ullstein fünf 2019, S. 56–68, hier S. 59. -ky [d.i. Horst Bosetzky]: Der Krimi aus der Autorenperspektive. In: Ermert, Karl/Gast, Wolfgang (Hg.): Der neue deutsche Kriminalroman. Beiträge zur Darstellung, Interpretation und Kritik eines populären Genres. Rehburg-Loccum: Evangelische Akademie Loccum 1985, S. 74–80, hier S. 80. Soitos, Stephen F.: The Blues Detective. A Study of African American Detective Fiction. Amherst: University of Massachusetts Press 1996. Matzke, Christine/Mühleisen, Susanne: Postcolonial Postmortems: Issues and Perspectives. In: Matzke, Christine/Mühleisen, Susanne (ed.): Postcolonial Postmortems. Crime Fiction from a Transcultural Perspective. Amsterdam, New York: Rodopi 2006, S. 1–16, hier S. 4. Matzke und Mühleisen beziehen sich hier ausdrücklich auf Agatha Christies Murder on the Orient Express (1934), Murder in Mesopotamia (1936) und Death on the Nile (1937). Diese Herrschaftsstrategie einer Identifikation des fremden Anderen als Verbrecher pointiert u. a. Teraoka: »[T]he detective became one means by which foreignness was criminalized and the safety of the body politic and England’s identity as ruler of an empire were secured« (Teraoka, Arlene A.: Detecting Ethnicity, S. 121). Teraoka bezieht sich hier auf Thomas, Ronald R.: The Fingerprint of the Foreigner: Colonizing the Criminal Body in 1890s Detective Fiction and Criminal Anthropology. In: »English Literary History« 61 (1994), S. 655–683.

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Haare, nicht Spuren Die den Ausgangspunkt der Krimi-Handlung markierende Tat – der »Anschlag auf die Gnadenkapelle«, ein »weltweit bekanntes Kulturdenkmal« (DSM, 69) – ist in ihrer Zeichenpraxis auf ein weißes Publikum berechnet, seine stereotypisierenden Ängste und rassistischen Imaginationen. Denn aufgerufen wird mit der Vortäuschung einer terroristischen Tat im blackface eine diskriminierende Repräsentationspraxis von Schwarzsein, die nicht nur in Amerika eine lange Geschichte hat.35 Als »gewaltvoller Akt symbolischer Machtausübung«36 verweist die Tat in ihrer Inszenierung auf eine weiße Normalität als einzig gültigen Referenzrahmen der Wahrnehmung von Wirklichkeit. Denn einerseits fügt sich die für Realität genommene Maskerade als punktuelles Ereignis bruchlos in präexistierende Weltdeutungen. So kann ihr unmittelbar mit parteipolitischen Handlungsimpulsen begegnet werden, die sich zwischen der Aufrufung des Integrationsparadigmas und dem Plädoyer für eine rigide Abschottungs- und Abschiebungspolitik bewegen (DSM, 71). Die vermeintliche Evidenz der Tat lässt andererseits die Aussagen der Schwarzen Zeuginnen als nichtig erscheinen: »Die Männer«, fuhr Fatou fort, holte Luft und dachte daran, dass sie sich nicht provozieren lassen und das Gespräch schnell beenden wollte. »Sie hatten einen deutschen Akzent. Und sie waren im Gesicht dunkelbraun angemalt.« Der junge Polizist sah sie ausdruckslos an. […] »Aha«, sagte er. »Na dann.« »Wollen Sie das nicht aufschreiben?«, fragte Yesim. Der Polizist beugte sich zu ihr herab. »Danke, meine Kleine. Dass die braun waren, haben ja wohl alle Zeugen gesehen.« Er lachte. »Aber nicht richtig braun«, sagte Fatou. »Schwarz«, korrigierte Yesim. »Die waren nicht in echt Schwarze.« Der Polizist schaute in den Himmel. »Was Kinder so alles erzählen. Wenn wir das alles aufschreiben würden. Nichts für ungut.« (DSM, 53–54)

Angesichts der theatral ausgestellten Sichtbarkeit dessen, was der weiße Blick in seiner Interpretationshoheit schon immer wusste, wird den Schwarzen Augenzeuginnen keine Beachtung geschenkt. Gegen diese Norm und Normalität definierende Perspektive, die sich von der Idee einer oberflächlich eindeutigen Visualität täuschen lässt und ausdrückliche, nicht-weiße Gegenrede als bedeutungslos exkludiert, setzt der Text eine Aufklärungsgeschichte, die sich in der Aufarbeitung von ›Heimat‹ und ›Herkunft‹ zwischen den tropes of black detection und intersektionalen Kulturanalysen der Gegenwart aufspannt.

35 Vgl. für die deutschsprachige Geschichte Gerstner, Frederike: Inszenierte Inbesitznahme: Blackface und Minstrelsy in Berlin um 1900. Stuttgart: J.B. Metzler 2017. 36 Ebd., S. 2.

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Nach Soitos präsentieren kriminalliterarische Texte aus der Genretradition der african american detective fiction nicht nur Schwarze Ermittler:innen, sondern knüpfen den Erfolg der erzählten Aufklärungsarbeit maßgeblich an blackness. Charakteristisch für diese spezifische »detective persona« ist für Soitos eine Identitätskonfiguration, die direkt an die »community« zurückgebunden ist.37 Die Schwarze Madonna hingegen erzählt – in den Episoden aus Kindheit und Adoleszenz ebenso präsent wie in der Erzählgegenwart38 – von der Herausforderung, eine identitätskonstituierende Bezogenheit in und zur bayerischen Heimat ebenso herzustellen wie zur »afrikanische[n] Seite ihrer Herkunft« (DSM, 177). Dabei setzt der Roman eine multikulturelle Weltsicht mit Schwarzen Vorbildern als Normalität, von der sich etwa bayerische Essgewohnheiten (DSM, 33) oder die Dorf-Disco als »extrem exotisch« (DSM, 24) abheben. In diesem Blick auf die Welt wird nicht nur die binäre Dichotomie zwischen Eigenem und Fremdem ineinander gefaltet, sondern überdies anderes erzählwürdig. Dies gilt für das breit ausgestaltete Thema Haare und Haarpflege, das programmatisch von der Aufklärungsgeschichte entkoppelt wird.39 Stattdessen funktionalisiert der Roman die konstante Auseinandersetzung mit Haaren und Frisur als konstitutiven Faktor des blackground, der nach der Analyse von Soitos anhand der diegetischen Einarbeitung von black vernaculars aufgespannt wird. Während Soitos im Blick auf sein Textkorpus auf »music/dance, black language, and black cuisine«40 eingeht, erzählt Die Schwarze Madonna von der Bedeutung des »collective consciousness about hair«.41 Dabei verschieben sich die Parameter nachdrücklich. Steht zu Beginn das Versagen des Haarpflegemittels in der bayerischen Hitze (DSM, 10–11), die chemische Behandlung als Anpassungsleistung an den Job als Kaufhausdetektivin (DSM, 92), die finanzielle Belastung für die Pflege (DSM, 101) und das Unbehagen angesichts der »kaum gebändigten 37 »First, they made the detectives – both male and female – black, and their blackness is an integral ingredient for the success of the investigation. Second, the blues detective’s identity is directly connected to community« (Soitos, Stephen F.: The Blues Detective, S. 29). 38 So etwa in der Erinnerung an jene Phase, in der Fatou »[a]uf der experimentellen Suche nach ihren Wurzeln, in ihren Zwanzigern, […] angefangen [hatte], westafrikanische Gerichte kochen zu lernen« (DSM, 33). 39 Dass Haare hier nicht exemplarisch die Funktionsstelle des Spurenmaterials vertreten und nachdrücklich von der erzählten Aufklärungsgeschichte gelöst werden, verdeutlicht der Text über die ausdrücklich kommentierte zeitliche Ordnung: »Es war bedauerlich, dass sie den Termin mit dem Bürgermeister nicht mit neuer Frisur bestreiten konnte. Mit perfekten Haaren hätte sie sich besser gefühlt in ihrer Rolle als amerikanische Tourismusbeauftragte, doch es war nun nicht zu ändern« (DSM, 268). Anstatt als integraler Bestandteil des Rollenspiels zu firmieren, erzählt der Text von der Frisurwahl als selbstbewusster und selbstbestimmter Handlung. 40 Soitos, Stephen F.: The Blues Detective, S. 37. 41 Banks, Ingrid: Hair Matters. Beauty, Power, and Black Women’s Consciousness. New York/ London: New York University Press 2000, S. 21.

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verschiedenen Haartexturen, […] während Grace so gepflegt aussah« (DSM, 120), im Vordergrund, kulminiert dieser Erzählstrang in der Entscheidung für einen »ganz kurzen akkuraten Afro« (DSM, 324), mit dem sich Fatou einen Kindheitstraum erfüllt: »In einer alten Hörzu […] hatte sie in der Rubrik ›Show und Weltstars – das war heute vor 30 Jahren‹ Miriam Makebas Bild entdeckt und heimlich ausgeschnitten. Sie hatte sich daran erinnert, wie stolz es sie als kleines Mädchen gemacht hatte, diese elegante Frau im Fernsehen zu sehen« (DSM, 324). Mit diesem selbstbestimmen Akt des empowerment kommuniziert der Text eine Lösung der Identitätsfrage, die sich auch gegen weiße Schönheitsstandards richtet. An die Stelle des Ungenügens, des Wunsches nach Unsichtbarkeit und der Belastung tritt die Auseinandersetzung mit »hairstyling practices that reflect how black women exercise power and choice«.42 Denn Grace Bâ als Figuration von African Pride (DSM, 176) setzt in einer gemeinschaftskonstituierenden Verabredung nicht nur die gewählten Haarschnitte um, sondern informiert über die kulturelle Bedeutung spezifischer Frisuren und ihrer Geschichte (DSM, 320– 321). Folgerichtig beschließt eine haptische Selbstvergewisserung als markantes Zeichen den Roman: Fatou Fall »fuhr die Fensterscheibe hoch und schaltete die Lüftung ein. Seit sie den kurzen Afro trug, gab es keine Strähne mehr, die sie sich aus der Stirn pusten konnte. Sie kämmte sich stattdessen mit großer Geste über die Schläfe. Es fühlte sich gut an.« (DSM, 393) Nachdrücklich verschoben wird in dieser Bestimmung als Afro-Deutsche, die symbolisch Sichtbarkeit einfordert, der übliche Ort von Haaren im Universum kriminalliterarischen Erzählens. Denn im Genre figurieren Haare prototypisch als potenzielles Spurenmaterial.43 Ihre symbolische Verweiskraft ist eine reine identifizierende und erschöpft sich folgerichtig darin, als zurückbleibendes Zeichen am Tatort die Identität der Täter:innen anzuzeigen. In Überspitzung des von Uta Schürmann untersuchten rein spuren- und beweiszentrierten Ermittlungsdesigns etwa in den CSI-Narrationen, in denen die Tat aufgeklärt wird »dank einer Hautschuppe des Täters, die der gewiefte CSI-Agent aus dem Flokati-Teppich fischt«44, ist die Auseinandersetzung mit dem Indiz streng funktionalisiert für die Lösung des intradiegetischen whodunit-Rätsels. So wird etwa in Hülya Özkans Kriminalroman Mord am Bosporus das gefundene Haar als Indikator von Geschlecht befragt: 42 Ebd., S. 69. 43 So bereits in Poe, Edgar Allan: The Murders in the Rue Morgue [1841]. Collected Works of Edgar Allan Poe. Vol. II: Tales and Sketches 1831–1842. Ed. by Thomas Ollive Mabbott. Cambridge, Mass.: Belknap Print of Harvard University Press 1978, S. 527–568. Hier ist allerdings die Erkenntnis, dass am Tatort nicht menschliches Haar, sondern tierisches Fell gefunden wurde, die zentrale Spur. 44 Schürmann, Uta: Hysterie und Mathematik. Die zwei Modelle der Kriminalerzählung: E.A. Poe und E.T.A. Hoffmann. In: »Weimarer Beiträge« 56 (2010), H. 2, S. 284–296, hier S. 285.

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Die Spurensicherung hatte lange blonde Haare im Hotelbett entdeckt – künstliche Haare. Hatte der Mörder eine Perücke getragen? Bisher ging Özakın von einem männlichen Täter aus. Aber konnte es nicht genauso gut eine Frau gewesen sein? So einfach wird die Lösung nicht sein, sagte er sich. Auch ein Mann könnte sich eine Perücke auf den Kopf setzen und so tun, als wäre er eine Frau.45

Während in diesem Fall die identifizierende Verweiskraft des gefundenen Indizes aufgrund der Künstlichkeit des Haares nach weiterer Auslegung verlangt, zielt die semantische Aufladung von Schwarzem Haar in Die Schwarze Madonna gerade nicht darauf, der Täter habhaft zu werden. Vielmehr werden die damit verknüpften politischen, sozialen und ästhetischen Konnotationen für das kommunikative Selbstverhältnis Fatou Falls erkundet und in ihrer historischen Dimension aufgeschlüsselt. Dies verdichtet sich in der Selbstpräsentation nach dem ikonischen Vorbild Miriam Makebas. Die Entscheidung für eine Haartextur ist in dieser Hinsicht eine sichtbar für die Außenwelt kommunizierte (Teil-) Antwort auf die Identitätsfrage samt ihren roots.46 In dieser entlang der markanten Eckpunkte unterschiedlicher Frisuren entwickelten kontinuierlichen und kohärenten Lebensgeschichte in einem »third space des in-between«,47 die den ausgestellten biographischen Wendepunkt des Afro integriert, ist das performative Rollenspiel im Dienste der Ermittlung ein weiterer Bestandteil der von Soitos diskutierten »double-consciousness detection«.48 Zur Erläuterung dieser Trope greift Soitos auf W.E.B. Du Bois zurück: »It is a peculiar sensation, this sense of always looking at one’s self through the eyes of others, of measuring one’s soul by the tape of a world that looks on in amused contempt and pity.«49 Das damit verbundene Wissen um die stereotypisierenden Zuschreibungen im Blick der Anderen und die für das eigene Ich konstituierten Bilder in der Fremdwahrnehmung lässt sich gerade in kriminalliterarischen Fiktionen reflexiv nutzen, um durch performative Maskerade und eine kalkulierte Re-Inszenierung vorgängiger Bilder gezielt ein Spektakel der Andersheit aufzuführen. Konkret lässt sich dies in der Ermittlungsarbeit für eine Erweiterung der eigenen Handlungsspielräume nutzen. Die Schwarze Madonna erzählt von »double consciousness detection« als schmerzhafter und lustvoller Erfahrung. Denn einerseits bedeutet Fatou Falls performance als Reinigungskraft bei der örtlichen Burschenschaft (DSM, 222– 239) die abwertende Zuschreibung und die darin symbolisch verdichtete Aus45 Özkan, Hülya: Mord am Bosporus. München: Diana Verlag 2006, S. 37. 46 Vgl. hierzu Prince, Althea: The Politics of Black Women’s Hair. London, Ontario: Insomniac Press 2009, S. 129–133. 47 So mit Blick auf Kayankaya Ruffing, Jeanne: Identität ermitteln, S. 295, in Anlehnung an das Konzept von Homi K. Bhabha. 48 Soitos, Stephen F.: The Blues Detective, S. 33–37. 49 Zit. nach: ebd., S. 33.

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beutungspraxis für die Dauer des Rollenspieles anzunehmen und damit eine gesellschaftliche Platzanweisung zu bekräftigen, der sie sich realiter verweigert (DSM, 179). Andererseits gelingt dieser Auftritt in »Tante Rosas blaugeblümten Hauskittel« (DSM, 219), weil Fatou – mit dem Vorbild ihrer Tante Awa im Kopf – »ihre imaginäre Matrone channelte« (DSM, 236). Strukturell ähnlich ist Fatou Falls Gespräch mit dem örtlichen Bürgermeister aufgebaut, bei dem sie unter dem Namen Charlene Johnson als Vertreterin des »Tourist Board […] of International American Diversity Office« (DSM, 181) vorstellig wird. Die Vorbereitung auf das Treffen steht im Zeichen einer reflexiven Aneignung des fremden Blicks getreu der Prämisse: »Ich muss nicht aussehen wie eine echte Amerikanerin, sondern wie jemand, den die Bayern sich unter einer Amerikanerin vorstellen« (DSM, 269). Bezeichnenderweise rekurriert Fatou Fall in der Verkörperung der gewählten Rolle jedoch nicht ausschließlich auf die Bilder der Anderen, sondern richtet sich in ihrer mimischen und gestischen Körperpraxis sowie der Wahl des sprachlichen Registers an selbstgewählten medialen Idealbildern Schwarzer Frauen aus: Fatou sah ihn schweigend an. Yesim hatte ihr vor ein paar Wochen ein »blank face meme« von Michelle Obama gezeigt. Auf dem Foto saß die First Lady bei einem offiziellen Bankett am Tisch neben jemandem, der offensichtlich gerade Unsinn redete. Es stand ihr ins Gesicht geschrieben. Es zeigte nämlich gar keinen Ausdruck. Das war eine deutliche Reaktion, aber zugleich nicht greifbar unhöflich. Das Foto hatte einen dicken Rand und die Unterschrift »FLOTUS blank face like a champ forever reblog«. […] Der jetzige Moment war eine hervorragende Gelegenheit, diesen Gesichtsausdruck erstmals selbst auszuprobieren, fand Fatou. FLOTUS blank face like a champ, dachte sie. Ohne Regung im Gesicht sah sie Piekow an und dachte sich dabei in Großbuchstaben »HORST«. (DSM, 280)

In dieser Kombination aus Mimikry und Subversion reproduziert der Roman nicht die gewaltvolle Repräsentation subalterner Gruppen, sondern entdeckt in der maskierten Aneignung ein Schlüsselmoment, um die Norm setzende Kraft des weißen Blickes zu erzählen und gleichzeitig zu durchkreuzen. Diese Maskerade im Modus eines selbstreflexiven und kalkulierten Vorspielens schreibt mithin den tradierten Setzungen die persönlichen Idealbilder ein.

»White Women’s Tears«50 und die Schwester, die zählt Neben die Behauptung des eigenen Blickes, der in der bayerischen Heimat auch das exotisch ›Fremde‹ erkennt, und die selbstreflexive Aneignung der Fremdwahrnehmung in der double-consciousness detection, die das eigene, »für alle 50 DiAngelo, Robin: White Fragility, S. 131.

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sichtbar[e]« und eingeschätzte »›Anderssein‹« (DSM, 159) gemäß individueller und globaler Vorbilder selbst gestaltet, tritt die Auseinandersetzung mit den strategisch eingesetzten Tränen weißer Frauen als konstitutiver Bestandteil des blackground. Eine Episode aus Yesims Schulzeit verdichtet dieses toxische Verhalten im Dienste einer Täter-Opfer-Umkehr exemplarisch: Es hatte Fatou das Herz gebrochen, als Yesim ihr unter Tränen der Wut und Trauer berichtet hatte, wie ein Mädchen sie in der Schule rassistisch beschimpft hatte. Als sie sich gewehrt und das Mädchen »Rassistin« genannt hatte, hatte diese geweint und war daraufhin von allen aus der Klasse getröstet worden. Die Lehrerin hatte Fatou angerufen und sie ermahnt, »den Bogen nicht zu überspannen«. Wenn Yesim die Atmosphäre in der Klasse »vergiften« würde, müsse sie die Schule verlassen, hatte die Lehrerin gedroht. (DSM, 202)51

Mit Anita Stefan, die Fatou »zuletzt vor über dreißig Jahren im Kindergarten gesehen hatte« und mit der sie eine »Spinnenphobie« (DSM, 67) verbindet, wird eine Figur eingeführt, die als narrative Gelenkstelle zwischen Fatous Kindheitserinnerungen und den in der Erzählgegenwart aufzuklärenden bzw. aufzuhaltenden Verbrechen fungiert. Ihr Sohn Martin ist »einer der beiden Sprayer der Kapelle« (DSM, 135). Um Druck auf ihn auszuüben, droht man, seiner Schwester etwas anzutun. Daraufhin bringt er mit Hilfe von Pater Simone Sophie »in Sicherheit« (DSM, 363). Zudem holt der Roman mit der Figur Diskussionszusammenhänge um die Grenzen einer als universell gedachten weiblichen Solidarität sowie die von Robin DiAngelo oder Ruby Hamad als Machtinstrument analysierten Tränen weißer Frauen ein. Figurativ verdichtet wird der Befund, »that white women are not only aware of their privileged status in society but use it to surreptitiously manipulate and dominate people of color, only to resort to the damsel in distress archetype of white female innocence and victimhood when challenged«.52 Angelegt im deutlichen Kontrast zu Grace Bâ wie zu Tante Hortensia, die mit afrodiasporischen Erfahrungen oder nicht-heteronormativen Partnerschaften die gültigen kulturellen Vorschriften von Normalität verletzen, wird Anita als Verkörperung einer weinerlichen Weiblichkeit hinter dem »roten massiven Gartentor« (DSM, 75) vorgestellt, die sich der Verantwortung als Mutter im Selbstmitleid entzieht. Integraler Bestandteil dieser Vorstellung performativer Hilfslosigkeit ist parallel dazu die Aktivierung bildgewaltiger Deutungsmuster 51 Symptomatisch zeigt sich an dieser Stelle ein von Hasters benanntes Grundproblem: »Weiße Menschen haben so wenig Übung darin, mit ihrem eigenen Rassismus konfrontiert zu werden, dass sie meist wütend darauf reagieren, anfangen zu weinen oder einfach gehen« (Hasters, Alice: Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, S. 26, Hervorhebung im Original). 52 Hamad, Ruby: White Tears / Brown Scars. How White Feminism Betrays Women of Color. New York: Catapult 2020, S. 96.

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einer Errettungsmission anderer Frauen aus den patriarchalen Strukturen und kulturellen Unterdrückungszusammenhängen der ›Anderen‹. So betont Anita im Blick auf ihre Adoptivtochter: »Die Isabel haben wir kurz nach ihrer Geburt aus Bangladesch adoptiert. Hier fällt sie natürlich auf. Überall ist sie die einzige mit brauner Haut. […] In Isas Klasse sind noch zwei türkische Mädchen, aber das ist ja wieder was anderes. Da will ich auch unbedingt aufpassen. Die tragen schon Kopftuch, obwohl sie erst elf sind. […] In Bangladesch sind Frauen nicht viel wert. Deswegen haben wir sie ja extra von da weg adoptiert. Ich hab schon eine Verantwortung, dass sie emanzipiert wird und unsere Werte lernt. Wenn sie jetzt lauter türkische Mädchen als Freundinnen hätte…« (DSM, 79–80)

Das in Stichpunkten entwickelte Sozialisationsprogramm für die Adoptivtochter skizziert eine Handlungsanleitung, die gemäß eines eurozentrischen white saviour-Komplexes die projektierte Erziehung zur Emanzipation gegen das Stereotyp der ›geschundenen Suleika‹ entwickelt.53 Die Möglichkeit selbstbestimmten weiblichen Lebens bemisst sich in dieser Perspektive schlicht an der maximalen Distanzierung von der kulturellen Ordnung des Geburtsorts. Entsprechend werden im Namen des Feminismus identifikatorische Beziehungen zu den ›Anderen‹ programmatisch unterbunden. Angesichts dieser Verschränkung von »[r]assistischen Ausgrenzungen […] mit frauenemanzipatorischen Argumenten«54 wird für Fatou Fall eine Kindheit der Vereinzelung und Isolation in einer »interkulturell inkompetente[n] Familie« (DSM, 253) sichtbar, die das Selbstbewusstsein Isabels nachhaltig zu verletzen droht. Wie wenig Isabel als Person wahrgenommen wird, zeigt sich in der scheinbaren Entführung Sophies, die Pater Simone und Martin als Schutzmaßnahme ins Werk setzen: Wortfetzen dröhnten in ihrem Kopf wie eine Aufnahme, die zurückgespult und immer wieder abgespielt wurde. Sie hörte sich in ihrer eigenen Stimme sprechen. Martins kleine Schwester … Martins kleine Schwester … Martin wird erpresst … Sie drohen ihm … dass sie seiner kleinen Schwester etwas antun … Martins kleine Schwester muss in Sicherheit gebracht werden … […] Isabel war auch Martins kleine Schwester! Vielleicht hatte Brandl sie gemeint! Martin und [Pater] Simone hatten es nicht wissen können. Sie hatten nur Sophie aus der Schusslinie gebracht und Isabel mehr oder minder im Stich gelassen. (DSM, 382)

Der Text lässt offen, ob Isabel nicht angegriffen wurde, da sie während des Krankenhausaufenthaltes ihrer Adoptivmutter von Fatou Fall, Yesim und Tante 53 Zu diesem Begriff siehe Yes¸ilada, Karin E.: Die geschundene Suleika. Das Eigenbild der Türkin in der deutschsprachigen Literatur türkischer Autorinnen. In: Howard, Mary (Hg.): Interkulturelle Konfigurationen. Zur deutschsprachigen Erzählliteratur von Autoren nichtdeutscher Herkunft. München: Iudicium 1997, S. 95–114. 54 Räthzel, Nora: Rassismustheorien: Geschlechterverhältnisse und Feminismus. In: Becker, Ruth; Kortendiek, Beate (Hg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2010, S. 283–291, hier S. 288.

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Hortensia beschützt wurde, ob sie im Wahrnehmungshorizont gewaltbereiter Burschenschaftler nicht als ›echte‹ Schwester Martins erschienen ist oder ob diese schlicht auf die Durchschlagskraft ihrer bloßen Drohung vertraut haben. Im Zentrum steht hier einmal mehr die Frage, wer in der gegebenen gesellschaftlichen Ordnung als Subjekt zählt, wessen Lebensrecht bedacht und wer übersehen wird.

Kein Ende Noah Sows ›Afrodeutscher Heimatkrimi‹ Die Schwarze Madonna entwickelt in einem hybriden Erzählmodell, das detektivisches Erzählen mit Genremustern des Thrillers verbindet, eine frauenbündisch zentrierte Herkunftsgeschichte, die ›Heimat‹ nicht als konfliktfreie Zeit und konfliktfreien Raum der Aufgehobenheit erinnert, sondern als Erfahrung von Vereinzelung, rassistischen Anfeindungen und Exklusion in einer weißen Mehrheitsgesellschaft. Der Roman kontrastiert dem das im Laufe der Handlung geknüpfte Netz gewählter Zugehörigkeiten. Die Aneignung des kriminalliterarischen Makromodells, das auch als Regio-Krimi rätselhafte Angstlustspiele für ein weißes Publikum inszeniert, verdichtet sich programmatisch in der Aufdeckung der beiden verbrecherischen Taten als Täuschungshandlungen gemäß vorgegebenen rassistischen Skripten und Weltdeutungen – die Aufführung einer terroristischen Tat im blackface und die vermeintliche Entführung als Schutzmaßnahme. Die Behauptung eines Schwarzen Blickes zeigt sich nicht nur in der thematischen Ausgestaltung und literarischen Verarbeitung aktueller intersektionaler Kulturanalysen, sondern in der reflexiven Neuausrichtung der Invariablen kriminalliterarischen Erzählens, die sich zum Teil als tropes of black detection aufschlüsseln lassen. Am nachdrücklichsten zeigt sich dies in der Abkehr von der monströsen Tat und der Hinwendung zu den rassistischen Verletzungen des Alltags wie in der Verschiebung des spurenorientierten Erzählverfahrens zu einer identitätstheoretischen Auseinandersetzung mit black hair. In dieser Aneignung erlaubt das Genremodell somit – wie das Cover bereits ausstellt – eine reflexive Verarbeitung von Heimat, Herkunft und Zugehörigkeit, indem der Roman den weißen normsetzenden Blick, der über Zugehörigkeit entscheidet und die Relation von ›Eigenem‹ und ›Fremdem‹ setzt, selbst zum Beobachtungsobjekt erhebt. Erschlossen wird mit den geschilderten Freundschaften, Bündnissen und Allianzen zwischen Tante Hortensia, Grace Bâ und der örtlichen Refugee-Gruppe, Isabel Stefan, Fatou und Yesim Fall ein solidarisches Netzwerk, das für ein nachgerade familiäres Zusammengehörigkeitsgefühl nicht auf biologisch fundierte Genealogien angewiesen ist, die auf dem Abstammungsprinzip basieren. Die paratextuell im Untertitel ausgegebene Zukunftsperspektive – ›Fatou Falls

Ermitteln, was der Fall ist: Rassismus

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erster Fall‹ – ist nicht nur spielerischer Verweis auf das Genre als Schema seriellen Erzählens, sondern pointiert einmal mehr die kritische Leitperspektive in der Aneignung des Krimi-Genres: die Aushebelung der weißen »Parallelgesellschaften« (DSM, 288) für die Gestaltung der Zukunft.

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Bruno Arich-Gerz (RWTH Aachen University)

Der andere Tatort, oder: Von Leipzig und Namibia. (Neo-)Koloniale Afrika-Topoi in deutschen TV-Krimiserien1

Die Tatort-Serie der ARD ist nach wie vor das wichtigste, beliebteste und einflussreichste, allerdings nicht das einzige derzeit (oder in der jüngeren Vergangenheit) florierende audiovisuelle Krimiformat2 mit einer der Zirkulation bestimmter Stadtimages3 als Ort verbrecherischen Handelns und seiner kriminalistischen Aufklärung dienenden Grundierung. Daneben existieren der nach wie 1 Überarbeitete und aktualisierte Version des Beitrags in: Zappen-Thomson, Marianne/Tesmer, Gertrud (Hg.): Von Schelmen und Tatorten. Festschrift für Hans-Volker Gretschel. Windhoek: UNAM Press 2014, S. 17–28. 2 Die Popularität der seit nunmehr fünfzig Jahre produzierten Tatort-Serie ist nicht nur ungebrochen – sie hat inzwischen auch zu Internetauftritten geführt, als deren Urheber offenbar eingefleischte Fans figurieren. Mit geradezu wissenschaftlichem Eifer werden u. a. bibliografische Auflistungen zum Thema erstellt, vgl. URL: http://www.tatort-fundus.de/web/service/li teratur.html / letzter Zugriff am 21. Dezember 2020. Daneben gibt es Qualifikationsarbeiten und Herausgeberschaften im Wissenschaftssystem, die sich mit dem Tatort befassen. Zu nennen wären: Bollhöfer, Björn: Geographien des Fernsehens. Der Kölner Tatort als mediale Verortung kultureller Praktiken. Bielefeld: transcript 2007; Hißnauer, Christian/Scherer, Stefan/Stockinger, Claudia (Hg.): Föderalismus in Serie. Die Einheit der ARD-Serie »Tatort« im historischen Verlauf. Paderborn: W. Fink 2014; Scherer, Stefan/Stockinger, Claudia/Hißnauer, Christian (Hg.): Zwischen Serie und Werk. Fernseh- und Gesellschaftsgeschichte im »Tatort«. Bielefeld: transcript 2014. Audiovisuell aufbereitete Kriminalnarrative florieren in Deutschland ansonsten sehr wohl im Distributionsmedium Fernsehen – dort als Fernsehfilm –, nicht aber im Kino. Vgl. Tatort-Erfinder Gunther Witte erinnert sich. URL: http://www.digitalfern sehen.de/news/news_313629.html / letzter Zugriff am 21. Mai 2008. Der Vollständigkeit halber erwähnt sei die Radio Tatort-Serie der ARD, ein Spin-Off der erfolgreichen Sonntagabendkrimis im Fernsehen und Nur-Audio-Format, das ohne Bilder – insbesondere auch solchen des städtischen Settings dieser Kriminalhandlungen für das Ohr – auskommt. 3 Zum Nexus von Tatort-Folgen und Stadt(wissenschaft) vgl. Griem, Julika/Scholz, Sebastian (Hg.): Tatort Stadt. Mediale Topographien eines Fernsehklassikers. Bielefeld: transcript 2010. Grundsätzlich gilt mit Blick auf die resonanzträchtigen Folgen um die Ermittler Schimanski, Thiel und Boerne sowie Faber und Boenisch: »Die ARD-Krimireihe Tatort kann ein großer Werbefaktor sein: Duisburg war zuerst verärgert, Münster jubelt seit Jahren und Dortmund bleibt erstmal gelassen« (Böhme, Andreas: Düsterer Dortmund-Krimi. Was macht der Tatort aus der Stadt? In: »Der Westen« vom 21. Oktober 2015. URL: https://www.derwesten.de/kul tur/fernsehen/duesterer-dortmund-krimi-was-macht-der-tatort-aus-der-stadt-id11207624. html / letzter Zugriff am 21. Dezember 2020).

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vor eminent beliebte Polizeiruf 110 und die SOKOs aus Köln, Leipzig, Kitzbühel, Wien, Wismar, Hamburg, Potsdam und (seit 2021) Linz vom öffentlich-rechtlichen Konkurrenzsender ZDF. Diese regelmäßig produzierten und ausgestrahlten Fernsehserien eignen sich bei genauerer Betrachtung genauso gut für eine Untersuchung wie die Folgende, die sich zum Ziel setzt, neokoloniale Stereotypen in der Zeichnung von afrikanischen Schauplätzen und den in entsprechenden Narrativen auftretenden handelnden Personen bzw. Figuren nachzuweisen: obwohl oder gerade wenn die Orte der Handlung (und die Heimatstädte der beteiligten Kommissariate) eigentlich Köln, Wien, Wismar, Kitzbühel, Hamburg, Potsdam oder Leipzig lauten.

Telefonnummern und Regionalproporz: Deutsche TV-Städtekrimis im Aufriss Interessanterweise ist das, was der genannte Polizeiruf 110 zu DDR-Zeiten schon im Titel trug und nunmehr gesamtdeutsch immer noch trägt, eine fernmeldeamtlich vergebene Nummer, die auch der originalen TV-Serie und damit dem Urmodell für all die stadtspezifisch ausdifferenzierten SOKOs in Köln, Leipzig und anderswo zuallererst ihren Namen verliehen hatte. Denn die am 2. Januar 1978 erstmals im Vorabendprogramm des ZDF ausgestrahlte und eher zufällig in München angesiedelte Krimireihe SOKO 5113 wies nicht nur Kriminalobermeister wie Diether Herle (gespielt von Diether Krebs) auf, sondern besaß als halb- und später dreiviertelstündige TV-Serie wie der heute weitaus geläufigere Polizeiruf 110 gleichsam eine Telefonnummer im Titel: 5113 war die Durchwahl des Chefs der Sonderkommission Karl Göttmann (Werner Kreindl). Das städtedarstellungsspezifische Muster bei den Tatort-Folgen war, wie deren Erfinder Gunther Witte bestätigt, durch den bundesrepublikanischen Föderalismusproporz der Sendeanstalten und ihren jeweiligen Ausstrahlungsreichweiten geschuldet, die 1970 (und wenig hat sich seither geändert) immer auch regionale Demarkationslinien innerhalb der alten Bundesrepublik waren.4 Auf eine ähnlich lange, wenngleich gewundene und oft gebrochene Vorge4 »Mein Haupteinfall war ja die Regionalität. Ich wusste, wenn ich das Konzept so vorschlage, weiß jeder Sender, dass ihm kein anderer reinreden kann« (Tatort-Erfinder Gunther Witte erinnert sich). Regionalität ist nicht unbedingt gleichzusetzen mit Urbanität, so François Werner, Gründer der Internetseite tatort-fundus.de. Vielmehr durchlief die Reihe zuletzt einen Prozess der Provinzialisierung: »TATORT drängt mit jeder Folge immer mehr in das Land Deutschland ein: Anfangs nur auf Großstädte bezogen, hat er die Provinz, das Regionale längst erkundet, entdeckt und kriminaltechnisch aufbereitet« (Werner, François: Tatort als Zeitreise. Der Zuschauer sieht, wie sich sein Land verändert. URL: http://www.tatort-fundus.de/web/fol gen/tatort-als-zeitreise.html / letzter Zugriff am 21. Dezember 2020).

Der andere Tatort, oder: Von Leipzig und Namibia

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schichte können auch die ZDF-Reihen verweisen. Die heutigen SOKO-Folgen mit den Städtenamen reichen krimiserien-genealogisch je nach dem zurück bis ins Jahr 1971 (die erste Folge des DDR-TV-Krimis Polizeiruf 110); auf jeden Fall aber zu der vor mehr als dreißig Jahren aufgelegten und seither ausreichend im wiedervereinigten deutschen TV-Kollektivgedächtnis aufgegangenen Fernsehserie SOKO 5113.

Migration an die Tatorte Einer mittlerweile gängigen Definition von Großstadt zufolge handelt es sich bei urbanen Gebilden wie Köln, Hamburg, Wien oder Leipzig um Agglomerationen von Menschen, Stadttechniken wie Stromversorgung oder Abwassersystemen, dazu individuellen oder kollektiven Selbstverständnissen und ›Images‹, die wesentlich über Verdichtungs- und Differenzierungsprozesse gegenüber anderen, konkurrierenden Städten funktionieren. TV-Krimiserien sind ein immer wichtiger werdender Teil dieses Mechanismus, wobei hier der Blick auf deutsche Städte und solche im benachbarten europäischen Ausland fällt. Diese Städte sind zugleich Handlungsräume (Soziotope) und Aushandlungszonen, in denen einzelne Akteure mal vernehmlicher und mal weniger deutlich sichtbar ihre Abgrenzungsrituale vollziehen, und in denen es eine hohe Durchlässigkeit zwischen den jeweiligen Milieus gibt. Ein besonders virulenter Bereich dieser gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse ist seit Beginn der Krimi-Reihen überschrieben mit dem Begriff Migration bzw. Immigration. In den Tatort- und SOKO-Folgen wiederfinden lässt sich dieser Teilbereich nicht zuletzt – und gerade doch erst zuletzt, weil in den 1970er Jahren und der ersten Hälfte der 1980er Jahre noch überhaupt nicht – in der Zusammensetzung der Ermittler-Teams. Im Tatort gab es nach Kriminalhauptkommissar Ivo Batic vom BR (seit 1991), der kosovarische Wurzeln aufweist5, mit Mehmet Kurtulus als Cenk Batu (NDR, Schauplatz Hamburg) erst 2008 den zweiten nennenswert fernsehschirmpräsenten migrationshintergründigen Ermittler (von »Hänschen« aus den Niederlanden in den SchimanskiFolgen des WDR einmal abgesehen). Weniger sporadisch ist demgegenüber seit der 1975 ausgestrahlten 57. Folge Tod im U-Bahnschacht (Sender Freies Berlin) die Thematisierung von Ein- und Zuwanderung. Christina Ortner hat hierzu »566 Tatort-Filme, die bis 2003 produziert wurden«, untersucht und herausgefunden,

5 Genauer beleuchtet und belangreich für die Krimihandlung wurde Ivo Batics Migrationshintergrund in Der Prügelknabe (Folge 530, Erstausstrahlung am 21. April 2003).

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dass »in zumindest 92 – also in 16,3 % aller Folgen – Einwanderung thematisiert [wird], in 32 davon steht das Migrationsthema im Kern des Films«.6 Bei der SOKO sieht es bei der Thematisierung von Ein- und Zuwanderung ähnlich aus. In puncto ›Migrationshintergrund der zentralperspektivischen Figuren und Ermittler als ein soziale Wirklichkeit in die fiktiven Kriminalhandlungen spiegelndes Element‹ schneidet die SOKO-Reihe sogar besser ab, wie überhaupt das ZDF schon sehr viel früher die Zusammensetzung ihrer fiktiven Ermittler-Teams an die gesellschaftlichen Realitäten angepasst hatte.7 So wies etwa Kriminalkommissar Patrick Diego Grimm, der Legende des Senders zufolge 1975 geboren und damit auch per definitionem vollwertig migrationshintergründig8, neben seiner Mutter aus Ostdeutschland einen Vater aus dem südlichen Afrika auf. Grimm, gespielt von Tyron Ricketts, gehörte von 2006 bis 2009 zum Stamm der SOKO Leipzig. Der mosambikanische Vater von Patrick Diego Grimm reicht als Angabe vermutlich aus, um eine nicht nur kriminalistisch-stadtspezifische Besonderheit heutiger Krimireihen im Fernsehen zu markieren: dass es nämlich sehr lebensnah und realistisch nicht nur die Kinder von denjenigen Subjekten in eine urbane und dort angesehene Berufsschicht schaffen, die wie der Vater von Cenk Batu noch als sog. ›Gastarbeiter‹ (mit in diesem Terminus mitschwingender limitierter Aufenthaltsdauer) nach Deutschland kamen, sondern auch solche, die selber noch die mittlerweile vergangene koloniale Wirklichkeit kennengelernt haben. Patrick Grimms Vater hatte, vom Lebensalter her gerechnet, mutmaßlich einiges mitbekommen an portugiesischer Kolonialherrschaft im südostafrikanischen Mosambik, ehe er in Ostdeutschland eine ›Frau Grimm‹ kennenlernte.

Metropole: SOKO und ›PoCo‹ Mit der kolonialen Vergangenheit und der Gestaltung nachkolonialer Gegenwart ist ein anderer theorieintensiver (und fernsehwissenschaftlich eher unterbeleuchteter) Bereich aufgerufen. Dennoch erscheint er erkenntnisträchtig, denn 6 Ortner, Christina: Tatort: Migration. Das Thema Einwanderung in der Krimireihe »Tatort«. In: Hans-Bredow-Institut (Hg.): Medien & Kommunikationswissenschaft. Baden-Baden: Nomos 2007, S. 5–23, hier S. 11. Vgl. auch Ortner, Christina: Migranten im »Tatort«. Das Thema Einwanderung im beliebtesten deutschen TV-Krimi. Marburg: Tectum 2007. 7 Zurückverfolgen lässt sich das bis in die 1980er Jahre. Der Schauspieler Charles M. Huber hat einen deutsch-senegalesischen Hintergrund. Als Henry Johnson wurde er von Hauptkommissar Leo Kress, dem Nachfolger von Erwin Köster (Siegfried Lowitz) als Der Alte, in den ZDF-Krimireihen-Freitagabend eingeführt. Als Henry agierte Huber von 1986 bis 1997 in über einhundert Folgen. 8 Vgl. URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Migrationshintergrund / letzter Zugriff am 27. Dezember 2020.

Der andere Tatort, oder: Von Leipzig und Namibia

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mit Annahmen aus der post-colonial theory (›PoCo‹) lässt sich die besondere Dimension begreifen, die mit dem Auftauchen der Batus, Batics und Grimms im Figurenarsenal der Kriminalerzählungen Tatort und SOKO Leipzig angedeutet wird. »Die westliche Metropole,« fordert Homi K. Bhabha, »muß ihrer postkolonialen Geschichte, die von den in sie hineinströmenden Nachkriegsmigranten und Flüchtlingen erzählt wird, als einer einheimischen Narrative begegnen, die ihrer nationalen Identität inhärent ist«.9 Genau dem wird wohl entsprochen, wenn sich ausgerechnet Krimifolgen aus deutschen Metropolen, die als wesentlicher Teil des medialen Gedächtnisses der Bundesrepublik deren nationale Identität mitstiften helfen, dezidiert ›metropolitan‹ geben – und sich offen und durchlässig zeigen für die Biographien, ethnisch-kulturellen Hintergründe und Alltagspraxen von (Nach-)Kriegsmigrant:innen, Flüchtlingen oder Gast- und Vertragsarbeiter:innen, wie es der Vater von Patrick Diego Grimm einer gewesen ist, als er in die den damaligen Unabhängigkeitskampf der mosambikanischen Freiheitsbewegung unterstützenden DDR gelangte. Dann allerdings, in der am 9. Januar 2009 ausgestrahlten und ausnahmsweise auf anderthalb Stunden ausgedehnten Folge der SOKO Leipzig, kommt es rund um den Kriminalkommissar Grimm zu einer erneuten Migrationsbewegung. Im Unterschied zu den meist (tat)ortsfesten Erzählhandlungen der Tatort-Reihe erfolgt die Auflösung des Falls hier nicht durch Handlungen und Ermittlungen, die sich innerhalb (und bisweilen auch schon mal außerhalb) der Leipziger Stadtmauern abspielen (und im zweiten Fall per Teichoskopie in das Stadtinnere hinein berichtet werden, um die nicht nur für antike Dramen, sondern auch für stadtbesondere TV-Krimiserien nicht unwesentliche Einheit des Ortes aufrechtzuerhalten). Mit diesem quasi-aristotelischen Darstellungsprinzip – das schon in den frühen 1940er Jahren der russische Regisseur, Filmtheoretiker und frühe Städtekrimiserien-Kritiker im Geiste, Wsewolod I. Pudowkin, mit dem Aufkommen des Films für im Grunde aufgehoben, weil inszenierungstechnisch endgültig überkommen hielt10 – bricht diese SOKO-Folge. Für sie werden Dreharbeiten außerhalb Leipzigs erforderlich, wozu eine Crew von Schauspielern, Regie, Kamera und Ton auf Wanderschaft geht.11 Im vorliegenden Fall spielt

9 Bhabha, Homi K.: Einleitung. In: Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Übers. von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl. Tübingen: Stauffenburg 2000, S. 1–28, hier S. 9. Hervorhebungen im Original. 10 Pudowkin, Wsewolod I: Über die Montage. In: Albersmeier, Franz-Josef (Hg.): Texte zur Theorie des Films. Stuttgart: Reclam 2003, S. 74–96, hier S. 89–90. 11 Ein solcher ins Bild gesetzter Außeneinsatz geschieht in der SOKO Leipzig-Reihe nicht zum ersten Mal. Schauplätze in vorangegangenen Folgen waren Moskau, Istanbul und Santo Domingo.

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die Handlung zu großen Teilen im heutigen Namibia. Die Folge trug den Titel Verloren in Afrika.12

Ein panafrikanisiertes Namibia als anderer Tatort Ein wesentlicher Bestandteil des Plots dieser Folge ist das Wiedersehen von Patrick Grimm mit seinem Vater, auf das der SOKO-Ermittler dreißig Jahre hat warten müssen. Der Figurenlegende zufolge war der Vater nach rassistischen Übergriffen von der DDR-Bildfläche zurück nach Afrika verschwunden, als der spätere Kripobeamte sieben Jahre alt war. Nun treffen sich Vater und Sohn in Namibia wieder, weil Patrick Grimm auf eine – wie sich herausstellt, fingierte – Nachricht hin spontan nach Windhoek fliegt, um seinem vermeintlich todkranken Vater in dessen letzten Tagen beizustehen. Der Vater erweist sich nicht nur als quicklebendig, auch die sonstigen Umstände der Anreise und des Wiedersehens von Vater und Sohn erscheinen merkwürdig: Just zum Zeitpunkt von Grimms Abreise vom Leipziger Flughafen wird dort ein Toter aufgefunden, der in umgekehrter Reiserichtung aus Namibia kommend frisch gemeuchelt wurde, was dem Rest der SOKO Leipzig ermöglicht, die Bühne zu betreten und in Leipzig Vor-Ort-Ermittlungen anzustellen. Kurz nach seiner Ankunft in Windhoek dämmert Grimm, dass er von dem sinistren Utoni Carneba als einem vermeintlich guten Freund seines Vaters nach Namibia gelockt wurde, um ihm, Utoni, bei dessen erpresserischem Duell mit seinem Vater Antonio als Faustpfand zu dienen. Patrick und Antonio Grimm steht für den Rest des Krimis eine Doppelbelastung bevor: erstens das Durcharbeiten eines früh gekappten und nicht nur aus diesem Grund schwierigen Vater-Sohn-Verhältnisses, zweitens die Flucht vor den Nachstellungen der Häscher Utonis, der vor Ort in Namibia ebenfalls (wie bereits am Leipziger Flughafen) über eine überaus effektive Meuchellogistik verfügt. Es kommt zum Showdown in der Küstenstadt Walvis Bay, der auch deswegen den üblichen guten Ausgang nimmt, weil die SOKOKollegen aus Leipzig nach Namibia zu Hilfe eilen, die die Ergebnisse ihrer Parallelermittlungen in der sächsischen Metropole längst in Alarmstimmung versetzt hatten. Die Familienzusammenführung von Grimm junior mit seinem Vater Antonio hätte wegen des südostafrikanischen Hintergrunds des Vaters den Gesetzen der verisimiltude gemäß wohl ebenso gut in der mosambikanischen Hauptstadt 12 Regie: Axel Barth, Drehbuch: Eva und Volker A. Zahn, Kamera: Christian Paschmann, Produktion: UFA Fernsehproduktion GmbH Leipzig. Die Dreharbeiten fanden im September und Oktober 2008 statt. Vgl. URL: https://www.imdb.com/title/tt1328890 / Zugriff am 27. Dezember 2020.

Der andere Tatort, oder: Von Leipzig und Namibia

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Maputo ihren Ort haben können. Stattdessen heißt der andere Tatort Namibia, der als Schauplatz bei informierten Zuschauern unweigerlich mit der dreißigjährigen deutschen Kolonialherrschaft von 1884 bis 1915, dem Schutzgebiet Südwestafrika, assoziiert werden dürfte. Die Episode nimmt auf die kaiserdeutsche Vergangenheit jedoch keinerlei (expliziten) Bezug: Eine vorschnelle Spurensuche nach kolonialen Residuen in den Fernsehbildern erweist sich als nicht ergiebig. Vernehmlich wird darin allerdings das Klischeebild von Afrika als radikal fremdem und andersartigem Kontinent gezeichnet, das hier als artifizielles TV-Namibia pars pro toto Vermittlung erfährt. Die Folge heißt Verloren in Afrika und nicht Verloren in Namibia: Vollzogen wird hier die Verallgemeinerung südwestafrikanischer Landschaften, Fauna und Menschen als oder zumindest im Sinne einer »pan-Africanised ›Namibness‹«.13 Verloren in Afrika bedient sich der namibischen Kulisse zwar nicht, um latente Topoi kolonialherrschaftlicher Art aufzurufen, zu vergegenwärtigen und sodann zu vergangenheitsbewältigen oder neokoloniale Claims abzustecken. Sehr wohl reiht sich die Krimifolge aber ein in einen seit einigen Jahren zu beobachtenden Boom des Schauplatzes Namibia, dem ein doppelt afrika-reduktionistisches Element innewohnt. Der Kontinent wird erstens klischeehaft reduziert auf seinen Exotismus und figuriert als exemplarischer Ort des Anderen. In Afrika lassen sich nicht nur Ehe- und Lebenskrisen mit garantierter Stärkung des Selbstbewusstseins durchleben: dies der Tania-Blixen-Topos, der in den jüngeren Heimatfilmen eine zentrale Rolle spielt.14 Afrika ist zudem auch der Ort, wo man 13 Annuß, Evelyn: Visual Afterlives of Colonialism. Images of Namibia on contemporary German television. In: »Journal of Namibian Studies« Nr. 9 (2011), S. 7–16, hier S. 12. Annuß entwickelt den Begriff einer »pan-Africanised Namibness« anhand des in puncto Zuschauerresonanz und Titelgebung mit der SOKO-Folge (und hinsichtlich Sendeplatz mit den sonntagabendlichen Tatort-Ausstrahlungen) vergleichbaren neuen deutschen Heimatfilms, der häufig im Namibia der Gegenwart angesiedelt ist. Für immer Afrika, Afrika, mon amour, Johanna und der Buschpilot und eine Reihe weiterer Produktionen der letzten Zeit erscheinen auf den ersten Blick als der Verloren in Afrika-Folge vollentsprechende Fernsehfilme, in denen sich Christine Neubauer, Iris Berben, Kai Schumann und andere Primetime-TV-Gesichter quotenträchtig durch namibische Landschaften und Tierwelten heimatfilmen. 14 Annuß bringt es zwar nicht explizit mit Tania Blixen in Verbindung, der Topos eines für Däninnen von einst wie Deutschen von heute gleichsam attraktiven Kontinents gewinnt aber auch bei ihr Kontur: »the […] recontextualization of the story grants the emancipation of the female protagonist from the very beginning. Her femininity is no longer marked in the sense of a category that excludes her from the culture of dominance. In other words, the Africanized remake of the country doctor’s story is less about the integration of the female character into a sexist society as about the integration of two communities: white German protagonists and black Africans in the background« (Annuß, Evelyn: Visual Afterlives, S. 10). Auch Wolfgang Bittner spießt, ohne Blixen beim Namen zu nennen, das zentrale Thema in deren Erzählung Out of Africa auf: »Ein weiterer Trend ist zu verzeichnen. Hat ein Drehbuchautor oder Produzent gerade ein Land wie Süd-, Deutsch-Ost- oder Deutsch-Südwestafrika erspäht, spielen dort gleich zwei Dutzend Filme. Dort ist es so schön exotisch. Die klimatischen

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Vater-Sohn-Annäherungen inszenieren, existentialistische Wüstenerfahrungen machen oder Raubtierbegegnungen der riskanten Art erleben kann, und wo sich eher am Rande außerdem Kapitalverbrechen ansiedeln und auflösen lassen. Zweitens wird Afrika reduziert auf (besser: komprimiert in) Namibia. Davon profitieren nicht zuletzt namibische Filmproduktionsfirmen, die damit (auch) einen erheblichen Anteil besitzen am in Deutschland vorherrschenden Image vom Fernsehnamibia als Afrika ›in a nutshell‹.15

›DDR-Bashing‹ Auch wenn Verloren in Afrika so gut wie keine latenten (und erst recht keine manifesten) An- und Aufrufungen der deutschen Kolonialvergangenheit aufweist: eine andere (und sehr wohl nennenswerte) Verbindung zwischen einem deutschen Staat und dem multiethnischen südlichen Afrika spielt in der Folge eine wesentliche Rolle. In den 1970er Jahren und damit in Zeiten der bewaffneten Befreiungskämpfe der Unabhängigkeitsbewegungen in der Subsahara-Region begann die DDR ihr ideelles und ideologisches, logistisches, humanitäres und militärisches (zumindest Militär-beratendes) Engagement auf Seiten der afrikanischen Freiheitskämpfer:innen. Vor diesem Hintergrund ist die Biographie bzw. Legende der Figur Antonio Grimm zu verstehen, der aus Mosambik als Vertragsarbeiter in die DDR gelangt war und sie bald wieder »nach rassistischen Anfeindungen verlassen hatte«, wie es die Produktionsfirma (UFA) im Exposé

Verhältnisse! Diese Landschaft! Die günstigen Drehbedingungen! Die Handlung der KitschLove-Stories ist mehr oder weniger dieselbe: Hübsche, vom Leben ein wenig enttäuschte Frau kommt (zurück) nach Afrika und verliebt sich (mit Hindernissen und Verzögerungen) in attraktiven Farmer oder sonstwie naturtümelnden Macho. Gern wird dabei die erhabene deutsche Kolonialvergangenheit ins Bild geholt« (Bittner, Wolfgang: Entführte Pathologentöchter in Namibia. In: »Ossietzky« Nr. 6 (2007). URL: https://www.sopos.org/aufsaetze/460 839c55b583/1.phtml.html / letzter Zugriff am 27. Dezember 2020). 15 Namib Film und Power and Glory Films sowie die namibische Botschaft in Berlin warben um die Zeit der Dreharbeiten aktiv um deutsche Produktionsfirmen. Sie boten in der Regel einen Rundumservice mit geschulter oder zumindest angelernter namibischer Crew, Equipment, Erledigung von ›Schriftkram‹ wie Visa oder Drehgenehmigungen. Auch die Rückversetzung der Drehorte in ihren Vorzustand nach Drehschluss (›Location rehabilitation‹) wurde garantiert. (URL: http://www.namibia-botschaft.de/564_779.htm, http://www.powerandglory films.de/ / letzter Zugriff am 11. Oktober 2011; URL: http://www.namibfilms.com / letzter Zugriff am 27. Dezember 2020). Reihen wie Tatort oder SOKO bzw. TV-Serien im namibischen Fernsehen und aus namibischer Produktion hat es dagegen (etwas überraschend) bis Ende der 2000er Jahre nicht gegeben. Am 13. Februar 2009 lief die erste Folge der 13-teiligen Familienserie The Ties that Bind auf NBC, dem damals einzigen namibischen Fernsehsender (URL: http://www.az.com.na/gesellschaft/erste-tv-familienserie-luft-an.81045.php / letzter Zugriff am 11. Oktober 2011).

Der andere Tatort, oder: Von Leipzig und Namibia

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formuliert.16 Die Andeutung von Übergriffen auf den dunkelhäutigen Grimm im Ostdeutschland der 1970er Jahre ist nicht die einzige Begebenheit, bei der eine Kritik an den Verhältnissen und insbesondere den Eliten der ehemaligen DDR durchscheint.17 Die raffinierten Betrugsgeschäfte, mit denen der Erzschuft dieser Folge, Utoni Carneba, wohlhabende Deutsche ausnimmt, und auch der Mord am Leipziger Flughafen gehen letztlich auf das Konto alter ostdeutsch-namibischer Seilschaften und damit auf Verbindungen zurück, die in der die Krimihandlung plausibilisierenden, faktischen Zeitgeschichte geknüpft werden konnten. Auch zwischen realen namibischen Freiheitskämpfern um den späteren Staatspräsidenten des unabhängigen Landes, Sam Nujoma, und den Vertretern des Politbüros in Ost-Berlin sowie zwischen den politischen Parteien, die sie in Afrika und Ostdeutschland repräsentierten, hatte es Vereinbarungen und Kooperationen auf zahlreichen Ebenen gegeben. Die mutmaßlich bekannteste, weil aus dem Nachhinein betrachtet spektakulärste Zusammenarbeit war dabei die Verbringung von Kindern aus Flüchtlingslagern in Sambia und Angola in die DDR, die nach einem verheerenden Luftangriff auf eines der Lager zwischen Nujoma und Erich Honeckers Apparat vereinbart worden war.18 Bis 1990 erfuhren junge Namibier:innen eine sprachliche, gesellschaftliche und kulturelle Sozialisation an Schulen in Bellin und Staßfurt. Auch in Verloren in Afrika wird auf die sogenannten ›DDR-Kinder‹ von Namibia19 Bezug genommen. Genauer werden in der TV-filmischen Darstellung die jungen Namibier:innen nicht nur zu Begünstigten, sondern ebenso sehr zu Benachteiligten in einem sozialistischen Staat, der Kinder aus anderen Kulturen aufnimmt, erzieht und behütet, um sie zu 16 URL: http://www.ufa.de/index.php/Produktionen/Detail/id/1015001/back/1 / letzter Zugriff am 5. März 2009. 17 Vgl. Pfeifer, Matthias: Verloren und gefunden in Afrika. Hintergrundinformationen zum Serien-Special. URL: http://sokoleipzig.zdf.de/ZDFde/inhalt/6/0,1872,7496902,00.html / letzter Zugriff am 5. März 2009. »Als Patrick sieben Jahre alt war, musste sein Vater die DDR wieder verlassen, weil er rassistische Anfeindungen öffentlich machen wollte. Aber solche Ausfälle durfte es offiziell im sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat nicht geben«. Im Bereich der (erzählenden) Literatur aufgegriffen wurde diese Problematik von: Dijk, Lutz v.: Von Skinheads keine Spur. München: Bertelsmann Jugendbuch Verlag 2002. 18 Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang nicht zuletzt die »autobiografischen« Ausführungen des ersten Präsidenten im unabhängigen Namibia selbst: Nujoma, Sam: Where Others Wavered. The Autobiography of Sam Nujoma. London: PANAF 2001, S. 326 (»Today there are hundreds of Namibian graduates from the former GDR universities, and other institutions of higher learning and technical colleges who are today [sic] contributing to the re-construction of the Namibian economy«). Zur namibisch-ostdeutschen Kooperation, die vor allem eine auf der Ebene politischer Parteien war (SWAPO: South-West African People’s Organisation; SED: Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) vgl. Timm, Susanne: Parteiliche Bildungszusammenarbeit. Das Kinderheim Bellin für namibische Flüchtlingskinder in der DDR. Münster: Waxmann 2007. 19 Kenna, Constance (Hg.): Die »DDR-Kinder« von Namibia. Heimkehrer in ein fremdes Land. Göttingen/Windhoek: Klaus Hess 1999.

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zukünftigen Soldaten und – in einem dann befreiten Namibia – zur Elite des dann unabhängigen Landes zu machen.20 Dieses Vorhaben ist bis in die faktische deutsch-namibische Gegenwart nicht aufgegangen.21 Und auch die Figurenzeichnung der vormals nach Ostdeutschland verbrachten Kinder in der SOKO-Fiktion zeigt eine einseitige Auslegung der Schicksale und Biographien der tatsächlichen Grenzgänger zwischen Ostdeutschland und Namibia zum Zweck eines implizit oder explizit artikulierten ›DDRBashings‹. Ganz offensichtlich wird darauf verzichtet, die Selbstbeschreibungen und -äußerungen von mehr als nur einer Betroffenen (offenbar handelt es sich um Lucia Engombe) genauer ins Auge zu fassen.22 Hätten die SOKO-Drehbuchschreiber:innen sich mehr Muße gegönnt, dann wären auch die feinsinnigen, manchmal tatsächlich nostalgischen, häufig ironisch die DDR-Zustände veräppelnden Elemente sowie der souveräne Gestus beim Erinnern der eigenen Kindheit im sozialistischen Deutschland in den Blick geraten.23

Schluss Auch sonst scheinen die Drehbuchautor:innen, das Regieteam und die Produktionsfirma neben dem weiten Umweg über Namibia mit und in dem eigentlich unpolitischen Format ›Krimi‹ das rechte deutsche Geschichtsbild transportieren zu wollen. Sicher war das sozialistische Deutschland Schauplatz von Unrecht und Staatsverbrechen: Es war nochmal ein ›anderer Tatort‹. Das gilt 20 Vgl. nochmal das Editorial zur Sendung auf der Homepage des ZDF: »Salome, eine junge Afrikanerin aus Namibia, der Patrick auf seiner Reise begegnet, verbrachte ihre Kindheit in einem Kinderheim in der DDR, wo sie behütet und vor dem Krieg geschützt aufwachsen konnte, aber auch für den Befreiungskampf der SWAPO ausgebildet wurde. Nach dem Zusammenbruch der DDR wurde Salome in ein ihr fremdes Land zurückgeschickt« (Pfeifer, Matthias: Verloren und gefunden). 21 Arich-Gerz, Bruno: Muffling the Fimbifimbi. Namibian GDR Exile Children in Narratives and Discourses Past and Present. In: »MATATU« Nr. 50.2 (2018), S. 430–443. 22 Vgl. deren Autobiographie: Engombe, Lucia: Kind Nr. 95. Meine deutsch-afrikanische Odyssee. Berlin: Ullstein 2004. Daneben gibt es auf dem bundesdeutschen Buchmarkt eine weitere prominente, weil im Rowohlt-Verlag veröffentlichte, vermeintlich autobiografische Schilderung: Aukongo, Stefanie-Lahya: Kalungas Kind. Wie die DDR mein Leben rettete. Reinbek: Rowohlt 2009. Beide »Autobiografien« entstammen einer Memoiren- (und AfrikaErzählungen-Produktions-)Linie von Peter und Ilona Maria Hilliges: Peter Hilliges fungierte als Ghost Writer der beiden Lebenserinnerungen; Ilona Hilliges trat in Erscheinung mit Erzähltexten, die inhaltlich und von der Titelgebung wohl als Äquivalent zu den von Annuß kritisierten neuen, alten Heimatfilmen anzusehen sind (Sterne über Afrika, Ein Kind Afrikas etc.). 23 Vgl. den Dokumentarfilm über die ehemaligen namibischen »DDR-Kinder« Omulaule heißt schwarz (2004) von Beatrice Möller, Nicola Hens und Susanne Radelhof (Weimar: OmU Filmverleih).

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es festzuhalten, wenn ansonsten trotz der sächsischen Metropole im Reihennamen hier weniger ein Stadtbild oder Stadtimage hergestellt oder wiedergegeben, visualisiert und kommuniziert wird bzw. wurde. Diese Aufgabe blieb offenbar anderen SOKO Leipzig-Ausgaben sowie den Tatort-Folgen vorbehalten, wo anders als im Zweiten Programm der Tod nicht »in Afrika« seinen Ort hatte, sondern bestenfalls als ›Tod aus Afrika‹ (so der Titel der 635. Folge, Erstausstrahlung am 2. Juli 2006) nach Mitteleuropa – hier nach Österreich – kam. Was danach passiert ist und zu neuen Tatorten und SOKOEinsätzen geführt hat: zu denen auf der Insel Lesbos und den ›Refugee Camps‹, zu Frontex-Einsätzen im Mittelmeer und Brennpunkten an den Außengrenzen der Europäischen Union? Gute Frage. Sachdienliche Hinweise? Tatort-Folge Nr. 957 (NDR, Schauplatz Hannover, Erstausstrahlung am 11. Oktober 2016), Titel: Verbrannt; Tatort-Folge Nr. 976 (SWR, Schauplatz Stuttgart, Erstausstrahlung am 21. Februar 2016), Titel: Im gelobten Land; Tatort-Folge Nr. 1006 (HR, Schauplatz Frankfurt, Erstausstrahlung am 8. Januar 2017), Titel: Land in dieser Zeit; SOKO München (35. Staffel, Folge 11, Erstausstrahlung am 30. November 2020), Titel: Das dritte Auge.

Literatur Annuß, Evelyn: Visual Afterlives of Colonialism. Images of Namibia on contemporary German television. In: »Journal of Namibian Studies« Nr. 9 (2011), S. 7–16. Arich-Gerz, Bruno: Muffling the Fimbifimbi. Namibian GDR Exile Children in Narratives and Discourses Past and Present. In: »MATATU« Nr. 50.2 (2018), S. 430–443. Aukongo, Stefanie-Lahya: Kalungas Kind. Wie die DDR mein Leben rettete. Reinbek: Rowohlt 2009. Bhabha, Homi K.: Einleitung. In: Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Übers. von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl. Tübingen: Stauffenburg 2000, S. 1–28. Bollhöfer, Björn: Geographien des Fernsehens. Der Kölner Tatort als mediale Verortung kultureller Praktiken. Bielefeld: transcript 2007. Engombe, Lucia: Kind Nr. 95. Meine deutsch-afrikanische Odyssee. Berlin: Ullstein 2004. Griem, Julika/Scholz, Sebastian (Hg.): Tatort Stadt. Mediale Topographien eines Fernsehklassikers. Bielefeld: transcript 2010. Hißnauer, Christian/Scherer, Stefan/Stockinger, Claudia (Hg.): Föderalismus in Serie. Die Einheit der ARD-Serie Tatort im historischen Verlauf. Paderborn: W. Fink 2014. Kenna, Constance (Hg.): Die »DDR-Kinder« von Namibia. Heimkehrer in ein fremdes Land. Göttingen/Windhoek: Klaus Hess 1999. Lutz, Dijk v.: Von Skinheads keine Spur. München: Bertelsmann Jugendbuch Verlag 2002. Möller, Beatrice/Hens, Nicola/Radelhof, Susanne: Omulaule heißt schwarz. Weimar: OmU Filmverleih 2004. Nujoma, Sam: Where Others Wavered. The Autobiography of Sam Nujoma. London: PANAF 2001.

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Ortner, Christina: Migranten im »Tatort«. Das Thema Einwanderung im beliebtesten deutschen TV-Krimi. Marburg: Tectum 2007. Ortner, Christina: Tatort: Migration. Das Thema Einwanderung in der Krimireihe »Tatort«. In: Hans-Bredow-Institut (Hg.): Medien & Kommunikationswissenschaft. Baden-Baden: Nomos 2007, S. 5–23. Pudowkin, Wsewolod I.: Über die Montage. In: Albersmeier, Franz-Josef (Hg.): Texte zur Theorie des Films. Stuttgart: Reclam 2003, S. 74–96. Scherer, Stefan/Stockinger, Claudia/Hißnauer, Christian (Hg.): Zwischen Serie und Werk. Fernseh- und Gesellschaftsgeschichte im »Tatort«. Bielefeld: transcript 2014. Timm, Susanne: Parteiliche Bildungszusammenarbeit. Das Kinderheim Bellin für namibische Flüchtlingskinder in der DDR. Münster: Waxmann 2007.

Internetquellen Bittner, Wolfgang: Entführte Pathologentöchter in Namibia. In: »Ossietzky« Nr. 6 (2007). https://www.sopos.org/aufsaetze/460839c55b583/1.phtml.html / letzter Zugriff am 27. Dezember 2020. Böhme, Andreas: Düsterer Dortmund-Krimi. Was macht der Tatort aus der Stadt? URL: https://www.derwesten.de/kultur/fernsehen/duesterer-dortmund-krimi-was-machtder-tatort-aus-der-stadt-id11207624.html / letzter Zugriff am 21. Dezember 2020. Pfeifer, Matthias: Verloren und gefunden in Afrika. Hintergrundinformationen zum SerienSpecial. URL: http://sokoleipzig.zdf.de/ZDFde/inhalt/6/0,1872,7496902,00.html / letzter Zugriff am 5. März 2009. Werner, François: Tatort als Zeitreise. Der Zuschauer sieht, wie sich sein Land verändert. URL: http://www.tatort-fundus.de/web/folgen/tatort-als-zeitreise.html / letzter Zugriff am 21. Dezember 2020. Migrationshintergrund. URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Migrationshintergrund / letzter Zugriff am 27. Dezember 2020. Namib Film. URL: http://www.namibfilms.com/ / letzter Zugriff am 27. Dezember 2020. Namibische Botschaft Berlin. URL: http://www.namibia-botschaft.de/564_779.htm / letzter Zugriff am 11. Oktober 2011. Power and Glory Films: URL: http://www.powerandgloryfilms.de/ / letzter Zugriff am 11. Oktober 2011. Tatort Fundus. URL: http://www.tatort-fundus.de/web/service/literatur.html / letzter Zugriff am 21. Dezember 2020. Tatort-Erfinder Gunther Witte erinnert sich. URL: http://www.digitalfernsehen.de/news/ news_313629.html / letzter Zugriff am 21. Mai 2008. The Ties that Bind. URL: http://www.az.com.na/gesellschaft/erste-tv-familienserie-luft-an. 81045.php / letzter Zugriff am 11. Oktober 2011. Verloren in Afrika (Exposé). URL: http://www.ufa.de/index.php/Produktionen/Detail/id /1015001/back/1 / letzter Zugriff am 5. März 2009.

Melanie Stralla (Bergische Universität Wuppertal)

Von Nostradamus bis Mistral: Provence-Krimis zwischen Stereotypisierung und Kulturtransfer

I »Es stirbt sich schöner in der Provence« – mit diesem Slogan bewarb der AufbauVerlag den im Jahr 2012 erstmalig in deutscher Sprache erschienenen Roman Tod auf Schloss Bremont, der den Auftakt zu einer inzwischen neun Bände umfassenden Krimireihe um den Untersuchungsrichter Antoine Verlaque und die Juraprofessorin Marine Bonnet bildet. Das provenzalische Lebens- bzw. Sterbensgefühl, welches die kanadische Schriftstellerin Mary L. Longworth in immer neuen Mordfällen, die sich in und um Aix-en-Provence ereignen, beschreibt, fand offenbar auch in Deutschland Anklang, denn seit 2014 werden hier in stetig wachsender Anzahl Kriminalromane veröffentlicht, in denen die Provence Schauplatz des Verbrechens ist. Wir zählen mit den Krimireihen von Sophie Bonnet (u. a. Provenzalische Verwicklungen, 2014), Christine Cazon (u. a. Mörderische Côte d’Azur, 2014), Pierre Martin (u. a. Madame le Commissaire und der verschwundene Engländer, 2014), Cay Rademacher (u. a. Mörderischer Mistral, 2014), Remy Eyssen (u. a. Tödlicher Lavendel, 2015), Pierre Lagrange (u. a. Tod in der Provence, 2016), Sandra Åslund (u. a. Mord in der Provence, 2017), Julie Lescault (u. a. Rosalie und der Duft der Provence, 2017), Carine Bernard (u. a. Lavendel Gift, 2019) und Alexander Oetker (u. a. Zara & Zoë – Rache in Marseille, 2019) aktuell zehn Reihen, die in der Provence situiert sind.1 Der Markt scheint

1 Exemplarisch aufgeführt ist hier jeweils der erste Band jeder Reihe mit Erscheinungsjahr. Es werden nur ›aktive‹ Reihen berücksichtigt, bei denen das Veröffentlichungsdatum des jeweils aktuellsten Bandes im Jahr 2019 oder 2020 liegt. Es handelt sich um eine Stichprobe, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Jochen Vogt stellt hinsichtlich des Kriminalromans zurecht fest, dass »exakte Zahlen über die quantitative Verbreitung kaum zu haben sind«, und sieht das als »ein massives Defizit der literaturwissenschaftlichen und pädagogischen Leseforschung« (Vogt, Jochen: Schema und Variation. Dreizehn Versuche zum Kriminalroman. Hannover: Wehrhahn Verlag 2020, S. 20).

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dabei noch lange nicht gesättigt zu sein; so plant der Krimiautor Robert de Paca derzeit eine neue Serie, die ebenfalls in der Provence spielen soll.2 Was macht aber den Reiz der Provence als Schauplatz deutschsprachiger Regiokrimis aus? Um das Subgenre ›Provence-Krimi‹ näher zu beschreiben, soll in diesem Beitrag zunächst auf generelle Aspekte der Reihengestaltung eingegangen werden. Anschließend werden die Erzählstruktur sowie spezifische Motive der Provence-Krimis betrachtet: Welche zentralen Motive kehren aus welchem Grund reihenübergreifend immer wieder und wie wird mit diesen erzählerisch umgegangen? Bei der folgenden Betrachtung stehen die Prophezeiungen des Nostradamus sowie die provenzalische Sprache exemplarisch im Fokus. Abschließend soll außerdem auf die Frage eingegangen werden, welche Binnendifferenzierung sich u. U. innerhalb des Subgenres vornehmen lässt.

II Bereits beim Betreten einer Buchhandlung gelingt es geübten Leser:innen, Provence-Krimis aus der Ferne auszumachen, da die Umschlaggestaltung selbst verlagsübergreifend einem festen Schema zu folgen scheint. Auf den Covers und Buchrücken dominieren Blau- und Violetttöne. Während die oberen zwei Drittel des Covers meist aus blauem Himmel bestehen, findet sich im unteren Drittel nahezu immer die Abbildung eines oder mehrerer, typisch provenzalisch aussehender Gebäude oder Stadt- bzw. Dorfansichten, oft in Kombination mit der Ansicht eines Lavendelfelds. Ein weiteres Merkmal der Provence-Krimis sind den Ausgaben beigegebene Karten der (Mikro-)Region (bspw. bei Cay Rademacher und Pierre Lagrange, in einigen Ausgaben auch bei Remy Eyssen), in welcher der jeweilige Roman spielt. Sie sind ein Beispiel für die dem Regionalkrimi inhärente Verschränkung mit »bestimmten Sektoren der Alltagskultur, besonders mit dem Tourismus und der Gastronomie«3 und ermöglichen den Leser:innen hinsichtlich der Handlungsorte eine bessere Orientierung (wie in der Reihe Sophie Bonnets, in deren Ausgaben meist eine Karte des imaginären Ortes SainteValérie auf dem Innendeckel abgedruckt ist).4

2 Vgl. Vogler, Martin: Frankreich-Krimis. Mörderische Provinz. URL: https://dokdoc.eu/fr/cul ture/6803/moerderische-provinz / letzter Zugriff am 29. September 2020. 3 Vogt, Jochen: Schema, S. 21–22. 4 Die Kartierung ist für Regiokrimis nicht unüblich, vgl. Bonter, Urszula: Stadt – Land – Mord. Einige Bemerkungen zu den aktuellen deutschen Regionalkrimis. In: Parra-Membrives, Eva/ Brylla, Wolfgang (Hg.): Facetten des Kriminalromans. Ein Genre zwischen Tradition und Innovation. Tübingen: Narr 2015, S. 91–101, hier S. 93 in Bezug auf die Ostfriesland-Krimis Klaus-Peter Wolfs.

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Die eingangs aufgeführten Reihen werden zwar in deutscher Sprache geschrieben, jedoch häufig unter französischen Pseudonymen veröffentlicht. So wird die Illusion kreiert, dass der Stoff von ›Einheimischen‹, also ausgewiesenen Kenner:innen der Provence, dargeboten wird. Unter den oben genannten Autor: innen finden sich mit Pierre Martin, Sophie Bonnet, Pierre Lagrange, Robert de Paca und Julie Lescault gleich fünf deutschsprachige Schriftsteller:innen, die unter einem französischen Namen publizieren. Blickt man von außen auf die Fülle an Provence-Krimis, kann sich fast der Eindruck einstellen, dass Pseudonymität unter den Autor:innen von Provence-Krimis mittlerweile zum guten Ton gehört, also ein gewisser Konformitätsdruck entstanden ist. Dass »ein tatsächlicher Autor sein Werk mit einem Namen ›signiert‹, der nicht, nicht genau oder nicht vollständig sein gesetzlicher Name ist«5, ist für die Provence-Krimis sowohl kulturtransfertheoretisch als auch durch die Gesetze des literarischen Marktes zu erklären. Betrachtet man den Vermittlungsakt, so können ausländische Mittler: innen, in vorliegendem Fall die Autor:innen der Provence-Krimis, auf Widerstand stoßen, wenn ihre ›Nichtzugehörigkeit‹ zum Aufnahmekontext zu offensichtlich ist: Übernehmen Dritte transkulturelle Funktionen, du¨ rften ihre Aussichten auf Erfolg steigen, wenn sie der Gruppe, der Kultur angehören, die Ziel der Übertragung ist. Dasjenige, das u¨ bertragen wird, wird als weniger fremd empfunden, wenn es von einem zugehörigen Akteur angeboten ist. Der zugeordnete transkulturelle Akteur verbu¨ rgt sich in gewisser Weise fu¨ r das Übertragene, gibt ihm Kredit, sodass das Publikum Vertrauen fasst. Ist er hingegen ein »Auswärtiger«, der fremde Gegenstände oder fremdes Wissen einfu¨ hrt, reagieren die Einheimischen schnell mit Argwohn, dass es sich bei der Übertragung um Überwältigung, beim Übertragenen um Mogelware handeln könnte.6

Dieser einprägsamen Feststellung mag der Fall der Provence-Krimis zunächst diametral gegenüberstehen, ist es doch gerade die Verfremdung des eigentlichen Autor:innennamens und die Vortäuschung der französischen Identität, welche die Autor:innen als in besonderem Maße dazu befähigt erscheinen lässt, Erzählungen zu verfassen, die in der Provence spielen und von den Besonderheiten der Region und ihrer Einwohner:innen berichten. Das französische Pseudonym kennzeichnet sie als Expert:innen für die fremde Sprache und Kultur. Tatsächlich aber sind viele dieser Pseudonyme durchsichtig: Der echte Name der Autor: innen wird oft schon im Klappentext genannt oder ist nach kurzer Recherche herauszufinden. In jedem Fall besteht aber Klarheit über das Pseudonym, kein paratextueller Apparat wird bemüht, um die falsche Identität über das Buch 5 Genette, Gérard: Paratexte. Frankfurt (M.)/New York: Campus 1989, S. 51. 6 Keller, Thomas: Verkörperungen des Dritten im Deutsch-Französischen Verhältnis. Paderborn: W. Fink 2018, S. 19.

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hinaus zu konstruieren.7 Das bedeutet auch, dass die Leser:innen jederzeit wissen, dass sie es mit Autor:innen zu tun haben, die originär zum Aufnahmekontext gehören, ergo, um es mit den Worten Thomas Kellers zu sagen, ihr Vertrauen genießen. Es handelt sich bei diesen Autor:innen also gewissermaßen um vermittelnde ›Doppelagent:innen‹, die in den Augen ihrer Leser:innen sowohl als Expert:innen für das Fremde als auch als Teil des Aufnahmekontexts gelten. Zusätzlich tritt durch die Transparenz über das Faktum ›Pseudonym‹ der von Gérard Genette beschriebene ›Pseudonymeffekt‹ ein, der besagt, dass die Leser:innen zwischen »der Figur eines Autors und der Figur einer Privatperson«8 unterscheiden, sich mit den Gründen der Pseudonymwahl auseinandersetzen, den oder die Schriftsteller:in aber in ihrer Dy- bzw. Polyonymität, d. h. in diesem »Nebeneinander von Familiennamen und Pseudonym«9 bzw. Pseudonymen wahrnehmen.10 Ein weiteres Merkmal der Provence-Krimis ist jenes der Serialität: Selten tritt ein/e Ermittler/in nur in einem einzigen Fall in Erscheinung.11 Dies kann selbstverständlich mit dem literarischen Markt im Zusammenhang stehen, so konstatiert Julia Menzel: Nicht zuletzt wird Kriminalliteratur zunehmend als eine auf das lukrative Prinzip der Reihung von Gleichartigem fixierte Literatur wahrgenommen, deren Verkaufsargument und Beliebtheit zu einem großen Teil auf ihre seriellen Verfahren zurückzuführen ist.12

Das Erzählen in Serie hat in Bezug auf Kriminalgeschichten eine lange Tradition, so führt Menzel einige Beispiele aus dem frühen 19. Jahrhundert an, die »als Vorstufen des Detektivromans« gelten können.13 Vom Wechselspiel aus Schema und Variation bei Bertolt Brecht bis hin zur Wahrnehmung des Krimis als Rhi7 Genette zieht eben diesen paratextuellen Apparat zur Unterscheidung zwischen einer bloßen Pseudonymverwendung und einer sog. ›Autorenunterschiebung‹ heran, bei der »die Existenz des unterschobenen Autors (wie ernsthaft auch immer) als glaubwürdig« hingestellt wird (Genette, Gérard: Paratexte, S. 51). 8 Ebd., S. 53. 9 Ebd., S. 54. 10 Mehrere Pseudonyme benutzt bspw. der Autor Sven Koch, der unter seinem Familiennamen Kriminalromane um die Kriminalpsychologin Alexandra von Stietencron, eine weitere, ostfriesische Serie um Tjark Wolf und Femke Folkmer und außerdem verschiedene Dänemark-Thriller veröffentlicht. Unter dem Pseudonym Pierre Lagrange schreibt er die bereits erwähnten Provence-Krimis um Albin Leclerc, unter dem Namen Tom Voss eine Krimireihe, die in der Nähe von Hamburg spielt und sich um Ermittler Nick Beck dreht. 11 Eine solche Ausnahme ist (bisher) Kommissar Stefan Eltjen in Robert de Pacas Die MirabeauMorde (2019). 12 Menzel, Julia: Serie. In: Düwell, Susanne/Bartl, Andrea/Hamann, Christof/Ruf, Oliver (Hg.): Handbuch Kriminalliteratur. Theorien – Geschichte – Medien. Stuttgart: J.B. Metzler 2018, S. 197–200, hier S. 197. 13 Ebd.

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zom bei Umberto Eco14 wird Serialität von den Theoretikern als konstitutives Merkmal des Kriminalromans wahrgenommen. Deutschsprachige Autor:innen, die häufig unter französischem Pseudonym veröffentlichen, lassen in der Provence zumeist strafversetzte oder zugezogene Ermittler:innen in Serie Verbrechen aufklären. Oft handelt es sich bei ihnen um klassische Underdogs: Als Pensionär, Friseurin, Polizistin im Praktikum, ja selbst als Gerichtsmediziner werden sie von den offiziell für die Lösung der Fälle zuständigen Beamt:innen nicht ernstgenommen und sehen sich ständig dazu gezwungen, die Strukturen des Polizeiapparates zu unterwandern und dabei selbst Grenzüberschreitungen und Regelverstöße zu begehen, um das eigentliche Verbrechen aufzuklären. Handelt es sich bei den ermittelnden Protagonist:innen doch einmal um ›waschechte‹ Polizist:innen, so sind sie i. d. R. hochqualifizierte ›gefallene Engel‹, wie bspw. der in die Provinz strafversetzte Roger Blanc, einst capitaine einer Pariser Spezialeinheit, nunmehr der Gendarmerie in Gadet zugeteilt, oder Isabelle Bonnet, früher ebenfalls Leiterin einer Spezialeinheit in Paris, die, nachdem sie dort ein Attentat überlebt hat, ein Polizeibüro im beschaulichen Fragolin leitet. Auch Pierre Durand hat seinen Posten als Kommissar in Paris aufgegeben, um in der Provence »jegliche berufliche Konfrontation hinter sich zu lassen.«15 Zusätzlich haben die Ermittler:innen – zumindest zu Beginn der jeweiligen Reihe – kein Glück in der Liebe. Sie leben entweder bereits seit längerer Zeit allein, haben einen tragischen Verlust erlitten, oder aber sie machen eine unschöne Trennung durch, wie z. B. Roger Blanc, Pierre Durand, Rosalie LaRoux und Lilou Braque. Die Gründe für den meist in allen Lebensbereichen holprigen Neustart in der Provence sind struktureller Natur: Das Privatleben und die persönliche Entwicklung der Neuankömmlinge sind im Laufe der Romane einer Reihe ebenso bedeutsam wie der eigentliche Gegenstand des Krimis, der Mord und seine Aufklärung. Die für das Individuum schwierige Ausgangslage zum Auftakt einer Reihe ermöglicht es, über die folgenden Bände hinweg parallel zu den in jedem Band neu auftretenden Verbrechen eine stetige Weiterentwicklung im privat-amourösen Bereich zu erzählen. Dieses Vorgehen beschreibt Urszula Bonter in Bezug auf in Deutschland spielende Regionalkrimis als sehr ausgeprägt: Neben der sorgfältig und kenntnisreich ausgearbeiteten lokalen Kulisse zeichnen sich praktisch alle Regionalkrimis durch eine vertiefte Figurendarstellung und zugleich einen Zug ins Humoristische aus. Das Privatleben der Helden erscheint in vielen Fällen

14 Vgl. ebd., S. 198. 15 Bonnet, Isabelle: Provenzalische Verwicklungen. Ein Fall für Pierre Durand. München: Blanvalet 2015, S. 49.

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wichtiger als die Aufklärung des Falles, was einen klaren Gegenentwurf zum klassischen Detektivroman bedeutet.16

Dies muss für den Provence-Krimi in zwei Punkten revidiert werden; weder lässt sich verbreitet ein Hang zum Humoristischen ausmachen17, noch erscheint das Privatleben der Ermittler:innen wichtiger als die Aufklärung des Falles. Zwar kommt dem persönlichen Lebensbereich mehr Aufmerksamkeit zu als in herkömmlichen Kriminalromanen, dennoch liegt der Fokus stets auf der jeweiligen Ermittlung. So hetzt Roger Blanc mehr als einmal atemlos durch die Untersuchung und kommt ausschließlich zum Essen oder Schlafen nach Hause: »Er zog die Tür seiner alten Ölmühle auf. Drinnen war es kühl wie in einer Gruft. Aber als Blanc sich auf das harte Bett warf, schlief er sofort ein und spürte die Kälte nicht mehr.«18 Aufgrund seiner Affäre mit der Untersuchungsrichterin Aveline Vialaron-Allègre tritt dann auch meist die Polizeiarbeit an die Stelle von Liebesgeflüster: Worüber würde er mit Aveline reden, wenn nicht über ihre Affäre oder über ihre gemeinsame Arbeit? […] »Ich glaube nicht, dass Bourniquel schuldig ist«, sagte er unvermittelt. Der Fall, selbstverständlich. Über was sollten sie sonst reden?19

Die Erzeugung einer humorigen Atmosphäre durch die Kombination mehrerer skurriler Elemente, wie sie sich z. B. in Susanne Hanikas Bayernkrimi Der Tod braucht keinen Brötchendienst in Bezug auf die Auffindesituation der Leiche sowie die Figurendarstellung findet, ist für den Provence-Krimi nicht nachzuweisen.20 Während stereotype Darstellungen im deutschen Regiokrimi bisweilen

16 Bonter, Urszula: Stadt – Land – Mord, S. 94. 17 Allenfalls bieten die Dialoge von Pensionär Albin Leclerc und seinem Begleiter, Mops Tyson, Grund zum Schmunzeln, denn die beiden unterhalten sich nicht nur, als wäre Tyson ein vollwertiger menschlicher Gesprächspartner, sondern der Mops zeichnet sich auch durch seine (wohl kulturhistorisch begründbare) altkluge Art aus. Die Rolle von Hunden als Begleiter der Ermittler:innen im Kriminalroman gilt es an anderer Stelle genauer auszudifferenzieren. 18 Rademacher, Cay: Verhängnisvolles Calès. Ein Provence-Krimi mit Capitaine Roger Blanc. Köln: DuMont 2019, S. 96. Die Art und Weise, wie Blanc bisweilen durch seine Fälle jagt, erinnert an die Rastlosigkeit Georges Dupins, der in der Bretagne so sehr von seinen Ermittlungen in Beschlag genommen wird, dass er »jedes Bewusstsein für Dauer und Uhrzeiten« verliert (Bannalec, Jean-Luc: Bretonisches Vermächtnis. Kommissar Dupins achter Fall. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2019, S. 116). 19 Rademacher, Cay: Calès, S. 114. 20 Ein Leichenfund in einem sogenannten »Erlebnisklo« (Hanika, Susanne: Der Tod braucht keinen Brötchendienst, Köln: Lübbe 2020, S. 33), dem im Stil eines Piratenschiffs renovierten Toilettenhäuschen eines Campingplatzes, wo aus Lautsprechern Countrymusik tönt, während der Sidekick der Hauptfigur den Toten am liebsten ignorieren und sich vom Tatort entfernen würde, wird zu einer völlig exaltierten Szenerie gesteigert, die eben dadurch ihre Komik entfaltet.

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auch als humoristisches Element eingesetzt werden21, beleuchtet der ProvenceKrimi die Lebensumstände eingewanderter Personen eher sozialkritisch.22 Auch wenn Regionalkrimis sich im Zusammenspiel von Struktur und Inhalt dadurch charakterisieren, dass sie »einen Serienermittler mit einem festen Ort« verknüpfen23, wäre eine bloße Reduzierung auf den Ort bzw. die Region der Handlung zur Unterscheidung (also ›Provence-Krimis‹ als Subgenre von Regionalkrimis neben ›Eifel-Krimis‹, ›Bayern-Krimis‹, ›Bretagne-Krimis‹ etc.) zu kurz gegriffen. Stattdessen sollte auf Struktur- und Inhaltsebene nach Unterscheidungsmerkmalen gesucht werden.24 In ihrer Struktur folgen ProvenceKrimis i. d. R. dem den Kriminalroman dominierenden Schema (1) Tat – (2) Ermittlungsphase – (3) Überführung.25 Mit dem Hinweis auf die häufige Verwendung von Pseudonymen wurde bereits deutlich, dass die Autor:innen von Provence-Krimis sich ihrer Mittlerrolle bewusst sind; auch auf der Inhaltsebene leisten diese Romane einen Beitrag zum Kulturtransfer. Für die literarische Italienrezeption in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stellt Anne-Rose Meyer fest, dass Interkulturalität sowohl in der Wahl der Gattung als auch in der Plotgestaltung ihren Ausdruck findet.26 Sie führt für Ersteres exemplarisch den Reisebericht und den Bildungsroman an, für Zweiteres eine deutsch-italienische Liebesgeschichte. Nun handelt es sich bei Regiokrimis ge21 Vgl. ebd., S. 20–22 bspw. die stark überzeichnete Darstellung der Osteuropäerin ›Sissy Campingmaus‹. 22 Vgl. die Schilderung der prekären Lage der abschiebegefährdeten, aus Guinea geflohenen Aminata und ihrer Tochter in: Bonnet, Sophie: Provenzalischer Rosenkrieg. Ein Fall für Pierre Durand. München: Blanvalet 2019, S. 301. Aus welchen Gründen Marginalisierungen in einem Subgenre reproduziert und als humoristisches Element eingesetzt werden, im anderen jedoch nicht, wäre in einer weiterführenden Untersuchung zu beleuchten. 23 Menzel, Julia: Serie, S. 199. 24 In vorliegendem Fall stellt sich tatsächlich die Frage, welche Reihen allein aufgrund ihrer Schauplätze überhaupt zu der Gruppe der Provence-Krimis zu rechnen wären. Folgt man einer ›modernen‹ Definition und begreift die heutigen Grenzen der Region Provence-AlpesCôte d’Azur als ausschlaggebend? Die anders gelagerten, historischen Grenzen der Region haben allerdings bis heute Implikationen, was soziokulturelle Besonderheiten bzw. sprachliche Unterschiede angeht. So hat sich in der Grafschaft Nizza, die 1388 von der Provence abgespalten und 1860 wieder an Frankreich angeschlossen wurde, eine eigene sprachliche Identität herausgebildet, die sich von den Varianten des in den anderen Teilen der Provence gesprochenen Provenzalisch stark unterscheidet und deren Sprecher:innen sich mehrheitlich nicht als Provenzal:innen fühlen. Vgl. Blanchet, Philippe: Parlons provençal. Langue et culture. Paris: L’Harmattan 1999, S. 19. 25 Zusammengefasst nach Brylla, Wolfgang: Statt eines Vorwortes. Krimis sind eben nicht nur Krimis. In: Parra-Membrives, Eva/Brylla, Wolfgang (Hg): Facetten des Kriminalromans. Ein Genre zwischen Tradition und Innovation. Tübingen: Narr 2015, S. 7–24, hier S. 10. 26 Vgl. Meyer, Anne-Rose: Interkulturalität und Intertextualität in diachroner Perspektive: Methodische und theoretische Überlegungen am Beispiel von deutschsprachiger Literatur über Italien und die Türkei. In: Wiegmann, Eva (Hg.): Diachrone Interkulturalität. Heidelberg: Winter 2018, S. 113–135, hier S. 118.

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meinhin nicht um ein Genre, dem man automatisch ein ähnlich hohes Maß an interkulturellen Bezügen unterstellen kann wie dem Reisebericht oder dem Bildungsroman. Das Subgenre der Provence-Krimis ist jedoch immer interkulturell vermittelnd, da deutsche Autor:innen für ein deutsches Publikum über Frankreich schreiben: Auf der Agenda steht, analog zu anderen Regionalkrimis, die Entdeckung der Provence kombiniert mit einem gewissen Bildungsanspruch hinsichtlich der Besonderheiten und der Geschichte eben dieser Region. Das ›Dazwischen‹ im Titel des vorliegenden Beitrags meint in diesem Zusammenhang keinesfalls, dass sich Stereotype und Transfer etwa diametral gegenüberstünden. Vielmehr können Stereotype, betrachtet man sie nicht grundsätzlich als abwertend, beim Transfer durchaus hilfreich sein, denn »sie vermögen das Irritationspotenzial, das jeder Kulturtransfer für die Zielkultur birgt, zu reduzieren.«27 So macht Florack deutlich, dass Stereotype im Unterschied zu Vorurteilen nicht automatisch mit Wertungen einhergehen. Das Stereotyp ist daher als ein neutraler Begriff für verallgemeinernde, auf soziale Gruppen bezogene Zuschreibungen zu gebrauchen.28

Ein eingängiges Beispiel dafür sind die französischen Nord/Süd-Oppositionen, welche in den Provence-Krimis immer wieder auftreten. So auch als Roger Blanc, gerade aus Paris eingetroffen, auf der Polizeistation von Gadet seine neuen Kollegen kennenlernt. »Hier in der Provence sind alle korrupt. […] Sie lassen sich allerdings nicht erwischen«29, begrüßt ihn sein commandant und evoziert damit das Klischee vom ›schlitzohrigen Südländer‹. Unmittelbar nach diesem Gespräch stellt Blancs neuer Kollege Marius fest: »Ein Kollege aus dem Norden wird uns hier guttun«30, worauf Blanc konstatiert: »Als Pariser wird man eher selten zum Nordländer erklärt«.31 An dieser Stelle wird deutlich, dass die wohlgemerkt aus dem Norden stammenden, deutschen Leser:innen sich mit Blanc identifizieren und gemeinsam mit ihm die ihnen fremde Provence entdecken können. Die Außenperspektive, welche die neu angekommenen Ermittler:innen in der Provence einnehmen, hat somit eine wichtige deiktische Funktion. Provence-Krimis bewegen sich auf der Schwelle zwischen einer stereotypen Schilderung der Region und ihrer Bewohner:innen und der Vermittlung von kultu-

27 Florack, Ruth: Stereotypenforschung als Beitrag zur Erforschung von Kulturvergleich und -transfer. In: Solte-Gresser, Christiane/Lüsebrink, Hans-Jürgen/Schmeling, Manfred (Hg.): Zwischen Transfer und Vergleich: Theorien und Methoden der Literatur- und Kulturbeziehungen aus deutsch-französischer Perspektive. Stuttgart: Steiner 2013, S. 165–175, hier S. 171. 28 Ebd., S. 170. 29 Rademacher, Cay: Mörderischer Mistral. Ein Provence-Krimi mit Capitaine Roger Blanc. Köln: Dumont 2017, S. 22. 30 Ebd., S. 23. 31 Ebd., S. 24.

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rellen Spezifika; sie sind in diesem Sinne ein »Drittes«32, auf das es, um den Vorgang der Übertragung genauer zu verstehen, den Blick zu richten gilt.33 Jochen Vogt unterstreicht die Bedeutung regionalspezifischen, kulturellen Wissens für den Kriminalroman und macht deutlich: »Wichtig, zumindest für die literarische Qualität, ist vielmehr, ob und wie der Fall und seine Lösung mit dem verwoben sind, was der Ethnologe Clifford Geertz local knowledge nennt«34, und führt dazu weiter aus: Es geht also um die Kenntnis und Nutzung der kultur- oder milieuspezifischen, regionalen, lokalen, institutionellen Kontexte aller Art: von Topographien und Räumlichkeiten, sozialen Milieus, Traditionen, Mentalitäten, Praktiken, Gewohnheiten, die einen Fall in mehrfacher Hinsicht prägen können: das Setting, den Konflikt, das Motiv, den modus operandi, aber auch die Ermittlung und Auflösung. Damit erlaubt gerade der neuere und neueste Kriminalroman in seiner Vielfalt eine ethnographische Lektüre und müsste auch die Kulturwissenschaft interessieren.35

Man kann die hier von Vogt aufgeführten Kontexte also als ›Local-KnowledgeElemente‹ bezeichnen, die sich maßgeblich auf die Handlung auswirken können und die mehr sind, als bloße Kulisse oder ›Lokalkolorit‹.36 Für die ProvenceKrimis sind dabei maßgeblich auszumachen: die Kulinaristik (verstanden in den Ausprägungen der Nutrition, d. h. dem Bedürfnis, zu essen und zu trinken, der Kulturen und der Gastlichkeit)37, die in einigen Reihen ein immer wiederkehrendes Motiv darstellt38, Düfte (Seife, Parfum), die Jagd, die gens du voyage, die Einwanderung aus den Maghreb-Staaten, bestimmte Tiere (Stier, Wolf), mit der Nähe zu Marseille assoziierte Bandenkriminalität und mafiöse Strukturen, die Zeit der deutschen Besatzung sowie die Lokalpolitik. Im Folgenden soll ein weiteres regionalspezifisches Element genauer betrachtet werden: die linguistische Exklusion. Ungeachtet der Tatsache, ob die Autor:innen der Provence-Krimis das Provenzalische in ihren Romanen als ›Dialekt‹ oder ›Sprache‹ bezeichnen, beschreiben sie eine Varietät der langue d’oc, die in den Grenzen der heutigen Region Provence-Alpes-Côte d’Azur gesprochen wird, jedoch zunehmend an Sprecher:innen verliert und im Atlas der bedrohten Sprachen der UNESCO als 32 33 34 35 36 37

Keller, Thomas: Verkörperungen des Dritten, S. 16. Vgl. ebd. Vogt, Jochen: Schema, S. 23. Hervorhebung im Original. Ebd., S. 23–24. Hervorhebung im Original. Vgl. ebd., S. 23. Vgl. Wierlacher, Alois/Bendix, Regina (Hg.): Kulinaristik. Forschung – Lehre – Praxis. Berlin: LIT Verlag 2008. 38 In Sophie Bonnets Krimireihe finden sich die in den Romanen erwähnten Rezepte stets im Anhang. Außerdem haben sie in einem eigenen Kochbuch ihren Niederschlag gefunden, vgl. Bonnet, Sophie: Provenzalischer Genuss. Die Lieblingsrezepte des Ermittlers Pierre Durand. München: Südwest Verlag 2018.

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›ernstlich bedroht‹ gelistet ist. Im Provence-Krimi tritt sie als ›Local-KnowledgeElement‹ immer wieder in Erscheinung. Oft scheint das Auftreten der Sprache lediglich eine ›Dekorfunktion‹ zu haben – doch selbst an diesen Stellen ist zu erkennen, dass entweder das Nichtverstehen der Sprache motivisch die Außenseiterposition der Ermittler:innen unterstreicht, oder aber im Umkehrschluss die Teilhabe an einer sprachlichen Handlung die Verbundenheit der Ermittler:innen zum Ort der Handlung ausdrückt. Beide Funktionen können in ein- und derselben Reihe zu finden sein, so auch in Pierre Martins Serie Madame le Commissaire um die Ermittlerin Isabelle Bonnet. Zu Beginn des ersten Bandes der Serie, Madame le Commissaire und der verschwundene Engländer, kehrt Bonnet an ihren Geburtsort Fragolin in der Provence zurück. Im Bistro werden sie und ihre Kindheitsfreundin Clodine in ihrem Gespräch unterbrochen, weil ein großgewachsener Mann mit grauen Schläfen an ihren Tisch trat, um Clodine zu begrüßen. Er gab ihr drei Wangenküsse, gab Isabelle die Hand, machte einen Scherz im provenzalischen Dialekt, den Isabelle nicht verstand, aber dennoch stimmte sie in Clodines Lachen ein. Dann eilte er davon.39

Es handelt sich hier um eine für den weiteren Verlauf der Reihe folgenschwere Episode, wird Isabelle doch mit eben diesem Mann, Bürgermeister Thierry Blès, eine Beziehung eingehen. Davon abgesehen unterstreicht der Moment, in dem Isabelle sich von einem Scherz zwischen zwei Einheimischen ausgeschlossen sieht, aber die Tatsache, dass sie eine Auswärtige ist, die ungeachtet des Umstands, dass sie ursprünglich aus Fragolin stammt, nicht dazu in der Lage ist, Konversationen auf Provenzalisch zu verstehen. Die genau gegensätzliche Wirkung wird im fünften Band der Reihe, Madame le Commissaire und die tote Nonne, hervorgerufen, als Isabelle, abermals zu Beginn des Romans, bei einem Empfang im Rathaus mit anderen Bürger:innen Fragolins ein provenzalisches Volkslied singt: Dann stimmten alle gemeinsam ein altes Volkslied an, in dem die Schönheiten Fragolins gepriesen wurden und das friedliche Leben im arrière-pays des Massif des Maures. Auch Isabelle sang mit. Den Text im provenzalischen Dialekt der Region kannte sie noch aus ihrer Kindheit.40

Hier dient die Mitwirkung an einer gemeinsamen sprachlichen Handlung der Unterstreichung der Zugehörigkeit Isabelles, deren Rückkehr in die Provence nun schon länger her ist.

39 Martin, Pierre: Madame le Commissaire und der verschwundene Engländer. München: Knaur 2014, S. 15. 40 Martin, Pierre: Madame le Commissaire und die tote Nonne. München: Knaur 2018, S. 31. Hervorhebungen im Original.

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In anderen Provence-Krimis bekommt das Provenzalische eine zentralere Bedeutung für den Fall, indem es eng mit der Tat verknüpft wird. So kommt Ermittler Pierre Durand in seinem vierten Fall, Provenzalisches Feuer, mit militanten Sprachaktivisten in Kontakt, als ein Journalist während eines provenzalischen Festes ermordet wird.41 Der Roman ist mit zahlreichen soziokulturellen und -linguistischen Hintergrundinformationen von der mittelalterlichen Troubadourdichtung über den im 19. Jahrhundert gegründeten Dichterzirkel Félibrige bis hin zum heutigen Aktivismus zum Erhalt der provenzalischen Sprache und einigen intertextuellen Verweisen angereichert. So zitiert Durands Assistent Luc den Beginn des provenzalischen Epos Mirèio, das 1859 vom späteren Literaturnobelpreisträger Frédéric Mistral veröffentlicht wurde, aus dem Gedächtnis und begründet dies damit, Mistrals »Geschichte mit der Muttermilch aufgesogen« zu haben.42 Hierin scheint eine Feststellung Meyers ihren Ausdruck zu finden: Die literarische Inszenierung von Interkulturaliät – so die These – ist untrennbar verbunden auch mit Intertextualität, die eine Vorgängigkeit von Vorstellungen, Länderimages bzw. Prätexten voraussetzt und damit eine historische Dimension notwendig impliziert.43

Anhand der im Roman auftretenden alten, in provenzalischer Sprache verfassten Dichtungen lässt sich erneut das Motiv der Sprachexklusion ablesen. Zunächst muss der Pariser Durand sich mühsam die Geschichte der provenzalischen Sprachentwicklung vom Mittelalter bis in die Gegenwart erschließen und mit mehreren Expert:innen und Einheimischen reden, bis ihm schließlich aufgeht, dass ein schon länger zurückliegender Mord an einem Schriftsteller mit dessen Plan, über die Troubadourdichtung zu schreiben, zusammenhängen könnte. Auch, als er sich bereits auf dem Weg zur Lösung des Falles befindet, wird ihm 41 Mit Blick auf den oben beschriebenen Pseudonymeffekt ist im Übrigen anzumerken, dass in Provenzalisches Feuer der Entstehungsprozess von Provence-Romanen im Allgemeinen reflektiert wird. Über einen toten Schriftsteller, der geplant hatte, ein Buch über den Ort SainteValérie, in dem Pierre Durand lebt und arbeitet, zu schreiben, sagt der ehemalige Polizeichef Gilbert Fortin: »Er wollte unser Leben und unser Sein an die Öffentlichkeit zerren, es vor aller Augen ausbreiten – so, wie es dieser Engländer [Peter Mayle] getan hatte – und dabei seinen eigenen Namen geheim halten.« »Er wollte unter Pseudonym schreiben?« »Ja, ebenfalls ein englisches, zumindest wurde das behauptet. Das Erfolgskonzept sollte kopiert werden, mit Fokus auf den amerikanischen Markt. Offenbar hat es schon Absprachen mit einer Filmproduktion gegeben, alles war genau wie bei seinem Vorbild. Die Leute sind Sturm gelaufen.« (Bonnet, Sophie: Provenzalisches Feuer. Ein Fall für Pierre Durand. München: Blanvalet 2017, S. 93). Die Selbstreferenzialität ist an dieser Stelle augenfällig. Auch die Autorin veröffentlicht unter Pseudonym, der Ort Sainte-Valérie ist von ihr jedoch, wie im Nachwort betont, frei erfunden. Ähnlich verfahren Cay Rademacher mit Gadet, Pierre Martin mit Fragolin und Julie Lescault mit Brillon-de-Vassols. 42 Ebd., S. 139. 43 Meyer, Anne-Rose: Interkulturalität und Intertextualität, S. 118.

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seine Pariser Herkunft noch vom Bandleader der Band Viva Occitània! vorgeworfen: »Sie stammen aus Paris, nicht wahr?« »Hört man das?« »Das werden Sie nicht los, egal wie sehr Sie es versuchen, man wird es Ihnen immer anhören. Das klebt an Ihnen wie Pech!« […] »Sie haben keine Ahnung von diesen Dingen, Sie werden das nie verstehen.«44

Ein Autor, der sich mit einem bislang unentdeckten, provenzalischen Epos aus dem 14. Jahrhundert einigen Erfolg ergaunert hatte (mit Genette: ein klassisches Plagiat)45, brachte den Journalisten sowie den Schriftsteller um, weil sie ihm aufgrund ihrer Kenntnisse über das Provenzalische und die damit verknüpften kulturellen Besonderheiten auf die Schliche gekommen waren. Der Erfolg mit provenzalischer Literatur avanciert hier also zum Mordmotiv. Anders verhält es sich in Robert de Pacas Die Mirabeau-Morde. Zwar handelt es sich hier nicht um eine Provence-Krimi-Reihe, sondern um einen stand-aloneRoman, doch fügt er sich thematisch und strukturell in die Untergattung der Provence-Krimis ein. Der Münchener Kommissar Stefan Eltjen reist nach Aixen-Provence, um die Ermittlungen zum Mord an einer deutschen Studentin zu unterstützen. Schnell wird klar, dass es sich bei dem Mörder um einen Serientäter handelt, der seine Opfer auf bizarre Weise inszeniert und am Tatort Botschaften auf Provenzalisch hinterlässt. Nicht nur Eltjen, sondern auch seine französischen Kollegen sind sprachlich aufgeschmissen und brauchen die Hilfe einer Provenzalisch sprechenden Kollegin, ihres Großvaters, der ihr als Kind die Sprache beigebracht hatte, sowie eines Historikers, um die Botschaften zu entschlüsseln.46 Das Motiv der Sprachexklusion wird in Cay Rademachers Roman Verlorenes Vernègues auf die Spitze getrieben. Hier taucht in einem Fall von Vandalismus in einem Nebenstrang der Handlung eine Nachricht auf, die an die Prophezeiungen des Nostradamus erinnert. Jemand hat einen seiner berühmten Vierzeiler als Inspiration genutzt und daran angelehnt eine eigene, verstörende Botschaft verfasst. Für die Region um Salon-de-Provence, in der die Krimireihe um Ermittler Roger Blanc spielt, darf der in Salon-de-Provence gestorbene Wahrsager Nostradamus mit Fug und Recht als ›Local-Knowledge-Element‹ gelten. Um die am Tatort hinterlassene Nachricht verstehen zu können, sucht der Ermittler Hilfe beim Nostradamus-Experten Guy Gassonet, der, wie sich später herausstellt, ein 44 Bonnet, Sophie: Provenzalisches Feuer, S. 248. 45 Genette, Gérard: Paratexte, S. 50. 46 Es handelt sich hier um eine realistische Abbildung der tatsächlichen linguistischen Situation in der Provence; häufig sprechen nur noch die Großeltern die Regionalsprache und geben sie an Kinder und Enkelkinder weiter. Vgl. Blanchet, Philippe: Le provençal pour les nuls. Paris: Éditions First-Gründ 2011, S. 58–59.

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Mörder ist. Doch nicht nur der verklausulierte Stil der Nachricht erschwert Blanc des Rätsels Lösung, auch an dieser Stelle wird das Provenzalische erneut eingesetzt, um Fremdheit zu markieren, denn die Nachricht ist in Teilen auf Provenzalisch verfasst. Gassonet macht deutlich, dass »[ j]eder, der sich mit der Geschichte unserer Region auskennt«47, diesen Text verfasst haben (und verstehen) könnte. Aber eben nicht der aus Paris stammende Roger Blanc. Transfer vollzieht sich in den Provence-Krimis also immer auf zwei Ebenen: auf der Ebene der Erzählung, in die Elemente der provenzalischen Sprache, Literatur und Kultur eingebunden werden, sowie auf der Ebene der Reihengestaltung, die verlagsübergreifend mit denselben Mitteln wie Pseudonymen, Umschlaggestaltung und beigegebenen Karten agiert.

III Abschließend sei angemerkt, dass sich innerhalb der Untergattung der ProvenceKrimis Veränderungen abzuzeichnen beginnen. Mit Friseurin Rosalie LaRoux, Polizeischülerin Lilou Braque und Kommissarin Hannah Richter treten drei neue Ermittlerinnen zu ›Madame le Commissaire‹ Isabelle Bonnet hinzu und beginnen, den Überhang an männlichen Ermittlern (in den Reihen von Lagrange, Bonnet, Rademacher, Eyssen und Cazon vertreten) auszugleichen. In Lavendel Gift von Carine Bernard finden sich zudem wiederholt Reflexionen über Sexismus: »Das hat etwas mit Höflichkeit zu tun«, gab er zurück. »Sie als junges Mädchen…« – »Ich bin eine künftige Commissaire«, unterbrach ihn Lilou. »Ich darf doch wohl mit Kollegen auf Augenhöhe sprechen?«48

Alexander Oetker rückt zwei Protagonistinnen ins Zentrum seiner neuen Reihe: Zara und Zoë, zwei ungleiche Zwillingsschwestern, von denen die eine Berliner Profilerin, die andere korsische Mafiosa ist. Vom Verlag als ›Thriller‹ gelabelt, ist die Reihe auf den ersten Blick nicht zu den Provence-Krimis im eigentlichen Sinne zu rechnen. Und tatsächlich stellt sie auch erzählerisch einen Bruch innerhalb des Subgenres dar. Statt im pittoresken Hinterland der Provence ist die Handlung vor allem im Umfeld der Mafia in Marseille zu verorten, die Erzählung ist in ihren Schilderungen deutlich brutaler und rückt die Themen Drogen, Terrorismus und Armut in den Vordergrund. Analog steigert sich das Erzähltempo durch einen beständigen Wechsel der internen Fokalisierung auf nahezu 47 Rademacher, Cay: Verlorenes Vernègues. Ein Provence-Krimi mit Capitaine Roger Blanc. Köln: DuMont 2020, S. 144. 48 Bernard, Carine. Lavendel Gift. Ein Provence-Krimi. München: Knaur 2019, S. 19–20.

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alle im Roman auftretenden Figuren, der die Loslösung von der klassischen Erzählstruktur und der Fokalisierung auf eine/n Ermittler/in und ggf. sein/ihr Team bedeutet. Gleichzeitig möchte der Autor seine Geschichten aber »auch als Reiseempfehlungen«49 verstanden wissen und bezeichnet Zara & Zoë als den »Urlaubskrimi der übernächsten Generation«50 – man darf also gespannt sein, wie sich das Subgenre der Provence-Krimis in den nächsten Jahren weiterentwickeln wird.

Literatur Åslund, Sandra: Mord in der Provence. Berlin: Midnight 2017. Bannalec, Jean-Luc: Bretonisches Vermächtnis. Kommissar Dupins achter Fall. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2019. Bernard, Carine: Lavendel Gift. Ein Provence-Krimi. München: Knaur 2019. Blanchet, Philippe: Parlons provençal. Langue et culture. Paris: L’Harmattan 1999. Blanchet, Philippe: Le provençal pour les nuls. Paris: Éditions First-Gründ 2011. Bonnet, Sophie: Provenzalische Verwicklungen. Ein Fall für Pierre Durand. München: Blanvalet 2015. Bonnet, Sophie: Provenzalisches Feuer. Ein Fall für Pierre Durand. München: Blanvalet 2017. Bonnet, Sophie: Provenzalischer Genuss. Die Lieblingsrezepte des Ermittlers Pierre Durand. München: Südwest Verlag 2018. Bonnet, Sophie: Provenzalischer Rosenkrieg. Ein Fall für Pierre Durand. München: Blanvalet 2019. Bonter, Urszula: Stadt – Land – Mord. Einige Bemerkungen zu den aktuellen deutschen Regionalkrimis. In: Parra-Membrives, Eva/Brylla, Wolfgang (Hg.): Facetten des Kriminalromans. Ein Genre zwischen Tradition und Innovation. Tübingen: Narr 2015, S. 91– 101. Brylla, Wolfgang: Statt eines Vorwortes. Krimis sind eben nicht nur Krimis. In: ParraMembrives, Eva/Brylla, Wolfgang. (Hg): Facetten des Kriminalromans. Ein Genre zwischen Tradition und Innovation. Tübingen: Narr 2015, S. 7–24. Cazon, Christine: Mörderische Côte d’Azur. Köln: KiWi Taschenbuch 2014. Eyssen, Remy: Tödlicher Lavendel. Leon Ritters erster Fall. Berlin: Ullstein 2015. Florack, Ruth: Stereotypenforschung als Beitrag zur Erforschung von Kulturvergleich und -transfer. In: Solte-Gresser, Christiane/Lüsebrink, Hans-Jürgen/Schmeling, Manfred (Hg.): Zwischen Transfer und Vergleich: Theorien und Methoden der Literatur- und Kulturbeziehungen aus deutsch-französischer Perspektive. Stuttgart: Steiner 2013, S. 165–175. 49 Interview mit Alexander Oetker: Krimis der harten Gangart. URL: https://www.haller-kreis blatt.de/lokal/steinhagen/22588240_Interview-mit-Alexander-Oetker-Krimis-der-hartenGangart.html / letzter Zugriff am 25. Januar 2021. 50 Drei Fragen an Alexander Oetker. URL: https://www.amazon.de/Zara-Zoë-Marseille-Thriller -Profilerin/dp/3426307154 / letzter Zugriff am 25. Januar 2021.

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Genette, Gérard: Paratexte. Frankfurt (M.)/New York: Campus 1989. Hanika, Susanne: Der Tod braucht keinen Brötchendienst. Köln: Lübbe 2020. Keller, Thomas: Verkörperungen des Dritten im Deutsch-Französischen Verhältnis. Paderborn: W. Fink 2018. Lagrange, Pierre: Tod in der Provence. Ein Fall für Commissaire Leclerc. Bd. 1. Frankfurt (M.): Scherz 2016. Lescault, Julie: Rosalie und der Duft der Provence. München: Goldmann 2017. Longworth, Mary L.: Tod auf Schloss Bremont. Ein Provence-Krimi. Berlin: Aufbau 2012. Martin, Pierre: Madame le Commissaire und der verschwundene Engländer. München: Knaur 2014. Martin, Pierre: Madame le Commissaire und die tote Nonne. München: Knaur 2018. Menzel, Julia: Serie. In: Düwell, Susanne/Bartl, Andrea/Hamann, Christof/Ruf, Oliver (Hg.): Handbuch Kriminalliteratur. Theorien – Geschichte – Medien. Stuttgart: J.B. Metzler 2018, S. 197–200. Meyer, Anne-Rose: Interkulturalität und Intertextualität in diachroner Perspektive: Methodische und theoretische Überlegungen am Beispiel von deutschsprachiger Literatur über Italien und die Türkei. In: Wiegmann, Eva (Hg.): Diachrone Interkulturalität. Heidelberg: Winter 2018, S. 113–135. Oetker, Alexander: Zara & Zoë – Rache in Marseille. München: Droemer 2019. Paca, Robert de: Die Mirabeau-Morde. Provence-Krimi. Köln: Bastei Lübbe 2019. Rademacher, Cay: Mörderischer Mistral. Ein Provence-Krimi mit Capitaine Roger Blanc. Köln: DuMont 2017. Rademacher, Cay: Verhängnisvolles Calès. Ein Provence-Krimi mit Capitaine Roger Blanc. Köln: DuMont 2019. Rademacher, Cay: Verlorenes Vernègues. Ein Provence-Krimi mit Capitaine Roger Blanc. Köln: DuMont 2020. Vogt, Jochen: Schema und Variation. Dreizehn Versuche zum Kriminalroman. Hannover: Wehrhahn Verlag 2020. Wierlacher, Alois/Bendix, Regina (Hg.): Kulinaristik. Forschung – Lehre – Praxis. Berlin: LIT Verlag 2008.

Internetquellen Vogler, Martin: Frankreich-Krimis. Mörderische Provinz. URL: https://dokdoc.eu/fr/cul ture/6803/moerderische-provinz / letzter Zugriff am 29. September 2020. Drei Fragen an Alexander Oetker. URL: https://www.amazon.de/Zara-Zoë-Marseille-Thril ler-Profilerin/dp/3426307154 / letzter Zugriff am 25. Januar 2021. Interview mit Alexander Oetker: Krimis der harten Gangart. URL: https://www.haller-kreis blatt.de/lokal/steinhagen/22588240_Interview-mit-Alexander-Oetker-Krimis-der-hart en-Gangart.html / letzter Zugriff am 25. Januar 2021.

Jennifer Grünewald (Universität Freiburg) / Hanna Rinderle (Universität Freiburg)

Wodka, Wein und Antiquitäten. Zur unterschiedlichen Darstellung fremder und vertrauter Regionen bei Jan Mårtenson

Realitätseffekte als konstitutives Element im Regionalkrimi Das Genre der Kriminalliteratur definiert sich selbst als realistische Literatur1 und wird auch vom Publikum nicht nur als reine Unterhaltungsliteratur, sondern darüber hinaus als wirklichkeitsgetreue Darstellung der Umwelt rezipiert. In diesem Rahmen tritt der skandinavische Kriminalroman – besonders durch seine Vermarktung außerhalb Skandinaviens – als eine Form der Literatur auf, die aktuelle Gesellschaftsprobleme verhandelt.2 Der Realismus der Kriminalliteratur wird neben der Genredefinition durch verschiedene Aspekte des Textes und durch die den Büchern beigefügten Peritexte evoziert: So betonen die Autor:innen oftmals in auktorialen Vor- bzw. Nachworten ihre Orientierung an wahren Begebenheiten, ihre Recherchebemühungen und ihren Bezug zu gesellschaftspolitischen Fragestellungen. Indem sie dem eigentlich fiktionalen Text diese faktualen Hinweise zur Seite stellen, greifen die Peritexte interpretierend ins Werk ein und stärken den Realismusanspruch der jeweils vorliegenden Geschichte.3 In den hier untersuchten Romanen Juvelskrinet und Den engelske kusinen von Jan Mårtenson übernehmen jedoch andere peritextuelle Elemente diese Funktion: Mit auf den Buchumschlägen 1 Dass die Selbstdefinition als realistisches Genre nicht zwangsläufig mit dem Genre verknüpft ist bzw. nicht immer vom Publikum so wahrgenommen wurde, macht ein Blick in die Gattungsgeschichte deutlich. So wurden insbesondere bei den britischen Rätseldetektiven zu Beginn des 20. Jahrhunderts die unrealistischen Figuren und Handlungen kritisiert (vgl. u. a. Ritter, Karin: Spielarten des postmodernen skandinavischen Kriminalromans: »Auf-Lösung« im Fadenkreuz literarischer und kultureller Paradigmen. Hamburg: Kovacˇ 2011, S. 56). 2 Vgl. Gohlis, Tobias: Nord ist Mord – Ein Streifzug durch die nordische Kriminalliteratur. In: Hindersmann, Jost (Hg): Fjorde, Elche, Mörder. Der skandinavische Kriminalroman. Wuppertal: Nordpark 2006, S. 11–21, hier S. 15; Hagenguth, Alexandra: Der Mord, der aus der Kälte kommt: Was macht skandinavische Krimis so erfolgreich? In: Hindersmann, Jost (Hg): Fjorde, Elche, Mörder. Der skandinavische Kriminalroman. Wuppertal: Nordpark 2006, S. 22–49, hier S. 25; Bergman, Kerstin: Swedish Crime Fiction: The Making of Nordic Noir. Mailand: Mimesis edizioni 2014, S. 173. 3 Vgl. Genette, Gérard: Paratexte. Frankfurt (M.)/New York: Campus 1992, S. 191.

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platzierten Abbildungen von Gebäuden in St. Petersburg und Kapstadt sowie mit beigefügten regionalen Rezepten4 wird eine Vermischung von fiktionalen und faktualen Elementen vorgenommen und die Erzählung von bloßer Imagination abgegrenzt. Während Gérard Genette insbesondere dem auktorialen Vor- und Nachwort zuschreibt, durch die Offenlegung der Entstehungsgeschichte eine Form von Aufrichtigkeit5 unter Beweis zu stellen, kann das an ähnlicher Stelle platzierte Rezept in dieselbe Richtung interpretiert werden. Schließlich handelt es sich bei dem Genre um einen Text mit Anleitungsfunktion und sich daraus ergebenden Auswirkungen auf die Realität der Leser:innen. Mit dieser Aufforderung zum performativen Handeln werden sie zu einer kulinarischen Teilhabe an der eigentlichen Fiktion befähigt. Auch mit den Fotos, die sich noch präsenter als die Rezepte auf der Außenseite der Bücher befinden und so Teil des Erstkontakts mit Leser:innen bzw. potentiellen Käufer:innen sind, wendet sich der Autor außerhalb der Fiktion direkt an sein Lesepublikum. Die fotografische Abbildung realer Orte bezeugt die Faktualität geographischer Aspekte der dort angesiedelten Geschichte und unterstreicht die Expertise des Autors. Sowohl die textuelle als auch die peritextuelle Ebene ergänzen sich demnach in ihrer Funktion, imaginierte und faktuale Elemente zu vermischen. Zwar geht das Genre des Kriminalromans einen fiktiven Vertrag mit den Leser:innen ein, dieser wird aber mit narratologischen Elementen angereichert, die im Folgenden noch thematisiert werden. Außerhalb der eigentlichen Erzählung führen das faktuale Genre des Rezepts sowie die multimodale Außenseite des Buches dazu, dass neben dem eigentlichen fiktionalen Vertrag noch ein faktualer geschlossen wird. Dies beeinflusst den Erwartungshorizont bzw. den abschließenden Interpretationsrahmen der Leser:innen und damit auch deren Deutung der Erzählung. Anhand ihrer narratologischen Strukturen und der darin eingesetzten beschreibenden Elemente bemühen sich die Kriminalromane darum, ein realistisches Abbild der Lebenswirklichkeit der Leser:innen zu schaffen. Für eine Analyse dieser Elemente kann der Wirklichkeitseffekt (effet de réel) nach Roland Barthes herangezogen werden.6 Laut Barthes sind zwei Faktoren für die Erzeugung von Wirklichkeitseffekten verantwortlich: einerseits die narratologische 4 Die Rezepte sind mit dem Inhalt der Romane verknüpft, indem Homan ihr Kochergebnis im Handlungsverlauf selbst verzehrt; gleichzeitig stehen sie auch stellvertretend für die in den Geschichten zentralen Topologien. In Den engelske kusinen repräsentiert Catarinas Wildschweineintopf Stockholm, während in Juvelskrinet ein Bœuf Stroganoff auf Russland verweist. 5 Genette, Gérard: Paratexte, S. 200. 6 Vgl. auch Schuchmann, Kathrin: Raumkonzepte. In: Düwell, Susanne/Bartl, Andrea/Hamann, Christof/Ruf, Oliver (Hg.): Handbuch Kriminalliteratur. Stuttgart: J.B. Metzler 2018, S. 36–42, hier S. 36.

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Struktur und andererseits die sog. unnützen Details (détails inutiles). Barthes stellt zunächst fest, dass die Fülle an konkreten Details ein zentrales Strukturelement faktualer Texte ist und durch das Einbetten dieser Elemente in die argumentative Struktur eine Form von Glaubwürdigkeit produziert wird.7 Unnütze Details finden sich hingegen in fiktionalen Texten und erfüllen dort eine identische Funktion: Indem sie augenscheinliche Kontakte zu außerliterarischen Elementen herstellen, verbinden sie das Erzählte mit dem Erlebten und suggerieren ein Abbild der Realität. Sie imitieren damit die Struktur faktualer Erzählungen. Neben progressiven und spannungsbeladenen Abschnitten beinhaltet die Kriminalgeschichte auch Elemente, die die Auflösung des Falls nicht voranbringen oder sogar von dieser ablenken. Das können Handlungsstränge sein, die das Privatleben der Ermittler:innen beleuchten, aber auch die ausschmückende Beschreibung von Orten und Personen oder kulturhistorische Erklärungen als Hintergrundwissen zum Fall. Unnütze Details, denen bis dahin im Rahmen der Erzählung keine sichtbare Funktion8 zugeschrieben wurde, erhalten damit eine narratologische Bedeutung: Sie ermöglichen den Leser:innen, ihre eigene Umwelt abgebildet in der Erzählung zu erkennen.9 Unnütze Details beschreiben dabei keinesfalls ein bestimmtes Objekt, das außerliterarisch so existiert. Die Beschreibung orientiert sich aber an der bekannten Realität, sodass das Objekt genau so existieren könnte. Dadurch verweisen sie auf einen Referenten ohne die Zwischenschaltung eines Signifikats.10 Der direkte Kontakt zwischen Signifikant und Referent bezeichnet Barthes als Durchsichtigkeit, als ein Zurücktreten der Sprache, das »Realitätsgewißheit«11 erzeugt. Stereotype12 spielen für das Erzeugen von Wirklichkeitseffekten insofern eine Rolle, da sie durch ihre umfangreiche Distribution einen hohen Bekanntheits7 Vgl. Barthes, Roland: Der Diskurs der Geschichte. In: Barthes, Roland: Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV. Frankfurt (M.): Suhrkamp 2015, S. 149–163; Costazza, Alessandro: »Effet de réel« und die Überwindung der Postmoderne. In: Krumrey, Birgitta/Vogler, Ingo/Derlin, Katharina (Hg.): Realitätseffekte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Schreibweisen nach der Postmoderne? Heidelberg: Winter 2014, S. 63–89, hier S. 75–85. 8 Darüber hinaus haben diese Elemente in der Kriminalliteratur auch eine degressive Funktion zur Erzeugung einer lustbeladenen Spannung (vgl. Porter, Dennis: The Pursuit of Crime. Art and Ideology in Detective Fiction. New Haven/London: Yale University Press 1981, S. 57). 9 Vgl. Barthes, Roland: Sitzung vom 17. Februar 1979. In: Barthes, Roland: Die Vorbereitung des Romans. Frankfurt (M.): Suhrkamp 2008, S. 126–137, hier S. 131. 10 Barthes, Roland: Der Wirklichkeitseffekt. In: Barthes, Roland: Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV. Frankfurt (M.): Suhrkamp 2015, S. 164–172, hier S. 171. 11 Vgl. Barthes, Roland: Sitzung vom 17. Februar 1979, S. 126. 12 Der Begriff des Stereotyps entzieht sich immer wieder Definitionen und ist daher am besten mit einer Beschreibung zu fassen: Bei Stereotypen handelt es sich um Bilder vom Eigenen und Fremden, die sich nur langsam verändern und sich daher besonders durch ihre Kontinuität auszeichnen. Sie reduzieren komplexe Zusammenhänge und schaffen so Vorhersehbarkeiten

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grad aufweisen und unsere Wahrnehmung der Umwelt beeinflussen. Sie sind oftmals mit unseren durchschnittlichen Erfahrungswerten verknüpft und spiegeln so eine empfundene Realität wider.13 Die Nutzung von Stereotypen unterliegt somit einer zirkulären Bewegung, die sich durch den Realismusanspruch des Genres erzeugt: Weil das Genre als realistisch gelten will, werden Stereotype zur Erzeugung von Wirklichkeitseffekten herangezogen; dabei reproduziert und distribuiert es Stereotype und trägt so zu ihrer Macht bei. Während Barthes die fehlende Entsprechung in der Realität für die durch die unnützen Details abgebildeten Objekte betont, adaptiert Malcah Effron seine theoretische Grundlage und zeigt, dass im Kriminalgenre die unnützen Details über einen Verweis auf reale Objekte funktionieren. Den Darstellungen wohnt in der Regel ein nachprüfbarer Referenzcharakter inne und die Erzählungen gehen über einen bloßen Effekt hinaus: Durch ihre Verifizierbarkeit kreieren sie nicht so sehr ein realistisches Setting, sondern produzieren ein reales Setting und streben damit eine größere Verschmelzung mit der Realität an.14 Insbesondere topologische Elemente stechen als zentrales Element der Beschreibungen in modernen Kriminalgeschichten hervor. Durch ihren nachprüfbaren Charakter ist die Nennung von Straßen, Städten und Landschaften ein effektives Mittel zur Erzeugung einer realistischen Abbildung und einer darauf fußenden Glaubwürdigkeit des Textes. Die realistische Darstellung von Raum ist in der Lage, eine Wirkkraft als Legitimationsgrundlage zu entfalten, sodass der Text auch weiterführende Beschreibungen vornehmen kann und diese dann ebenfalls als realistisch rezipiert werden. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, Aussagen über nicht verifizierbare Bereiche wie kulturelle Aspekte und stereotype Darstellungen von Menschen und Nationalitäten zu treffen, deren Wirklichkeitsentsprechungen weniger hinterfragt werden.15 Die große Bedeutung von Raum zur Erzeugung von Wirklichkeitseffekten spiegelt sich insbesondere in den Regionalkrimis wider. Dabei ist die Unterscheidung zwischen Kriminalgeschichten und Regionalkrimis als ein gradueller zu betrachten, der sich über die Funktion der Handlungsorte erschließt. Jede Kriminalerzählung beinhaltet einen oder mehrere Handlungsorte, aber erst wenn dieser sinnstiftend und so zu einem Handlungsträger an sich wird, be(vgl. u. a. Beller, Manfred: Die Technik des Vergleichs in der Imagologie. In: Dukic´, Davor (Hg.): Imagologie heute: Achievements, Challenges, Perspectives; Ergebnisse, Herausforderungen, Perspektiven. Bonn: Bouvier 2012, S. 39–52, hier S. 49). 13 Vgl. Fludernik, Monika: Towards a ›Natural Narratology‹. London/New York: Routledge 1996, S. 160–162; Fludernik, Monika: Erzähltheorie. Eine Einführung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008, S. 67. 14 Vgl. Effron, Malcah: Fictional Murders in Real »Mean Streets«: Detective Narratives and Authentic Urban Geographies. In: »Journal of Narrative Theory« 39/3 (2009), S. 330–346, hier S. 332–333. 15 Vgl. ebd., S. 336–338.

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inhaltet der Text Elemente eines Regionalkrimis. Das bedeutet, Elemente, die zur Konstruktion der Region herangezogen werden, fungieren »handlungsgenerierend. Der Krimiplot kann sich so nur in diesem Raum ereignen.«16 Der Ort ist nicht austauschbar und erzeugt in der Erzählung eine weitere Bedeutungsebene. Die zur Erzeugung von Regionen17 genutzten unnützen Details enthalten für die Leser:innen bekannte Elemente, um ein realistisches Abbild einer Region zu evozieren. Insbesondere sprachliche Besonderheiten wie Dialekte oder Landschaftsbeschreibungen sind dabei relevant.18 Die geographischen Besonderheiten wie Städte, Straßen, markante Gebäude, Sehenswürdigkeiten und landschaftliche Merkmale werden darüber hinaus von kulturellen Aspekten ergänzt. Zu letzterem gehören auch Speisen und Getränke.19 Aus diesen Vorüberlegungen zur Erzeugung von Regionalität in der Kriminalliteratur ergibt sich folgende These: Bei der literarischen Produktion einer Region sind die Zielgruppe und ihr Wissen über die zu erzeugende Region ausschlaggebend. Je unvertrauter die Region für das ideale Lesepublikum ist, desto mehr müssen gröbere Beschreibungen entwickelt und auf bekannte Fremdbilder zurückgegriffen werden. Demgegenüber sind vertraute Regionen anschlussfähiger, da auch Details als zugehörig zu dieser Region erkennbar sind. Für die Darstellung unbekannter Regionen muss mitunter erst eine Vermittlung von Wissensbeständen stattfinden.20 Dies geschieht einerseits, damit die Leser:innen dem kriminalistischen Plot folgen und die Hinweise zur Auflösung des Enigmas deuten können. Andererseits führen die Darlegung kulturhistorischer Zusammenhänge und damit das Einbetten verifizierbarer Details zu einer Vermischung von faktualen und fiktionalen Elementen. Erneut wird durch die Referenzstruktur der Realismusanspruch der Erzählung gestärkt. Für die in den Kriminalromanen stattfindende Wissensvermittlung bietet sich der Begriff des ›kulturellen Wissens‹ an. Hierunter versteht man die Gesamtmenge von Propositionen, welche die Mehrheit einer Gesellschaft bzw. die Mehrheit der zirkulierenden Texte und Diskurse als wahr annimmt. Damit schließt kulturelles

16 Löffler, Katharina: Allgäu Reloaded. Wie Regionalkrimis Räume neu erfinden. Bielefeld: transcript 2017, S. 52. Hervorhebung im Original. 17 Region wird demnach in Kriminalromanen produziert und gibt damit einen sozialkonstruktivistischen Raumbegriff wieder (vgl. ebd., S. 12). 18 Vgl. ebd., S. 50. 19 Vgl. zur gruppenkonstituierenden Identität durch Nahrungsmittel Grünewald, Jennifer/ Trittelvitz, Anja: Einleitung: Ich esse, also bin ich. In: Grünewald, Jennifer/Trittelvitz, Anja (Hg.): Ernährung und Identität. Stuttgart: Ibidem 2020, S. 9–21, hier S. 13–15. 20 Vgl. dazu auch Hohnsträter, Dirk: Dienstreisen. Budapest in den Kriminalromanen von Sjöwall/Wahlöö und Viktor Iro. In: Colombi, Matteo (Hg): Stadt – Mord – Ordnung. Urbane Topographien des Verbrechens in der Kriminalliteratur aus Ost- und Mitteleuropa. Bielefeld: transcript 2012, S. 233–240, hier S. 236.

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Wissen auch nicht faktenorientierte Aspekte wie Aberglauben und Stereotype ein, solange sie im kulturellen Wissen als ›wahr‹ verankert sind.21 Um die Unterschiede in der Produktion von Regionen offenzulegen, werden im Folgenden zwei Kriminalromane des schwedischen Autors Jan Mårtenson untersucht und seine unterschiedliche Darstellungsweise von St. Petersburg (Russland), der Kapregion (Südafrika) sowie Gamla Stan (Stockholm) auf kontrastive Weise offengelegt.

Der Antiquitätenhändler »Johan Homan från Gamla Stan«22 Seit 1972 hat Jan Mårtenson 49 Kriminalromane veröffentlicht23, in denen der in der Stockholmer Altstadt ansässige Antiquitätenhändler Johan Homan immer wieder in verschiedenste Verbrechen hineingezogen wird und diese mit Hilfe einer Mischung aus guten Kontakten zu unterschiedlichen Polizeistellen, Kombinationsfähigkeit und einer ›männlichen Intuition‹, wie die Figuren immer wieder ironisch anmerken, aufdeckt. Auch wenn ihn sein Weg in vielen der Krimis in fremde Länder und Gegenden führt24, sind seine Wohnung und sein Geschäft in Gamla Stan, wie die Stockholmer Altstadt genannt wird, ein geographischer und erzählerischer Anker der Buchreihe. Von hier aus organisiert Homan nicht nur sein Leben, die Köpmangatan ist auch der Ausgangspunkt seiner Ermittlungen, die ihn durch die Stadt führen. Stockholm fungiert daher nicht als bloße Schablone, vor der die Handlung abläuft, sondern ist ein nicht austauschbarer Akteur der Kriminalhandlung. Auffällig ist, dass der Erzähler zahlreiche der Wege, die Homan zurücklegt, im Sinne eines Realitätseffekts ausführlich beschreibt, wie das folgende Beispiel aus dem 2014 erschienenen Roman Juvelskrinet zeigt: 21 Vgl. Titzmann, Michael: Kulturelles Wissen – Diskurs – Denksystem. In: »Zeitschrift für Französische Sprache und Literatur« 99/1 (1989), S. 47–60; Neumann Birgit/Nünning, Ansgar: Kulturelles Wissen und Intertextualität: Grundbegriffe und Forschungsansätze zur Kontextualisierung von Literatur. In: Gymnich, Marion/Neumann, Birgit/Nünning, Ansgar (Hg.): Kulturelles Wissen und Intertextualität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien zur Kontextualisierung von Literatur. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2006, S. 3–28; Neumann, Birgit: Kulturelles Wissen und Literatur. In: Gymnich, Marion/Neumann, Birgit/Nünning, Ansgar (Hg.): Kulturelles Wissen und Intertextualität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien zur Kontextualisierung von Literatur. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2006, S. 29–51. 22 Mårtenson, Jan: Juvelskrinet. Stockholm: Wahlström & Widstrand 2014, S. 263 (alle Zitate ins Deutsche übersetzt von J.G./H.R.: »Johan Homan aus Gamla Stan«). Alle weiteren Zitate unter der Sigle JS und den entsprechenden Seitenangaben befinden sich im Fließtext. 23 Obwohl nur vereinzelte Übersetzungen ins Deutsche vorliegen, ist Mårtenson aus der schwedischen Krimilandschaft nicht wegzudenken. 24 So reist er beispielsweise in Mord i Havanna (2010) nach Kuba, in Safari med döden (2011) nach Tansania und in I skuggan av Etna (2020) nach Sizilien.

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Jag gick Narvavägen ner under alléträdens tunga bladkronor som gav skugga och svalka mot sommarsolen. Fortsatte längs Strandvägen. Jag gick inte fort, som man borde om man ville bränna kalorier, jag snarare promenerade eller rättare sagt flanerade, som jag brukar säga. Att i lugn och ro, utan stress, gå och fundera på allt mellan himmel och jord, iaktta mötande människor och tänka på vilka de var och vad de gjorde (JS, 85).25

In diesem Zitat zeigen sich zwei Beobachtungen, die konstitutiv für Mårtensons Krimis sind: Zum einen entsteht durch die genaue Beschreibung der Wege, die Homan zurücklegt und die sich allesamt im heutigen Stockholm nachvollziehen lassen, eine Kartographierung der Stadt. Zum anderen werden die Figuren, wie im Folgenden gezeigt wird, durch ihre Wege innerhalb der Stadt und durch die Orte, an denen sie wohnen, näher charakterisiert. Inhalt und Form sind also, so die These, eng an die Topographie Stockholms gebunden. Das Stockholmer Stadtbild spielt insofern eine zentrale Rolle in Mårtensons Krimis, als dass die Wohnorte aller Hauptfiguren mindestens mit Straßennamen angegeben werden, in zahlreichen Fällen sogar mit Hausnummern.26 So wohnt Homan selbst im Stadtteil Gamla Stan am Köpmantorget 10 (JS, 66, 77)27, sein Antiquitätenladen befindet sich in der Köpmangatan 11, wo auch seine Bekannte Ellen Andersson lebt.28 Direkt gegenüber liegen der Laden und die Wohnung seines Freundes Eric Gustafson. Die Ansiedlung dieser zentralen Figuren ausgerechnet in der Köpmangatan ist mit Sicherheit kein Zufall, handelt es sich hierbei doch um eine historisch gewichtige Stockholmer Straße: Sie ist die erste bezeugte Straße der schwedischen Hauptstadt, die vor allem im Mittelalter die wichtigste Handelsstraße der Stadt war.29 Diese Historizität des Handlungsortes wird allerdings im Text nicht explizit genannt, da Mårtenson offensichtlich davon ausgeht, dass sein Publikum um die Bedeutung der Straße weiß. Die detaillierte Kartierung Stockholms reicht zudem über die Altstadt hinaus, so befindet sich bspw. die Wohnung von Homans Freundin Francine in der Lützengatan im Stadtteil Östermalm (DEK, 154). Andere wichtige Orte sind die 25 »Ich ging den Narvavägen hinunter unter den schweren Blattkronen der Alleenbäume, die Schatten und Kühle vor der Sommersonne schenkten. Weiter entlang den Strandvägen. Ich ging nicht schnell, wie man sollte, wenn man Kalorien verbrennen möchte, ich spazierte eher, oder genauer flanierte, wie ich zu sagen pflege. Um in Ruhe und Frieden ohne Stress über alles zwischen Himmel und Erde nachzudenken, Menschen zu beobachten, die sich treffen, und darüber nachzudenken, wer sie waren und was sie getan haben.« 26 Auch diese mit Hausnummern angegeben Adressen existieren alle im realen Stockholm. 27 Diese genaue Adresse wird sowohl in jedem Homan-Krimi erwähnt als auch mehrmals innerhalb desselben Krimis wiederholt, wodurch sich der Wohnort und die Verortung innerhalb der Stadt manifestiert. 28 Vgl. Mårtenson, Jan: Den engelske kusinen. Stockholm: Wahlström & Widstrand 2018, S. 43. Alle weiteren Zitate unter der Sigle DEK und den entsprechenden Seitenangaben befinden sich im Fließtext. 29 Vgl. Stahre, Nils-Gustav/Fogelström, Per Anders: Stockholms gatunamn. Innerstaden. Stockholm: Allmänna förlag 1986, S. 43.

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Wohnungen verschiedener Zeug:innen, die sich im »Larsbergsvägen på Lidingö« (DEK, 154)30 oder in der Hornsgatan 78 (JS, 88) befinden. Neben diesen konkreten Adressen werden zusätzlich immer wieder markante Landschaftsmerkmale wie Denkmäler im Text erwähnt, z. B. »den ädle Sankt Görans bronsgröna kamp mot danske kungen i form av ondskans drake« (DEK, 203).31 Die Beschreibung dieses bekannten Denkmals in der Stockholmer Altstadt nimmt als unnützes Detail keinerlei Einfluss auf die Handlung, sie stellt deswegen, wie die exzessive Nennung faktualer Straßennamen, eine Art literarische Orientierung in der Stadt und eine Anknüpfung an das Wissen der Leser:innen dar. Eine weitere Funktion übernimmt die literarische Kartographierung der Stadt Stockholm auf der Ebene der Figurencharakterisierung, so findet eine indirekte Beschreibung Homans und seines sozialen Umfelds durch ihre Aufenthaltsorte und ihre Wege durch die Stadt statt. Die Historizität der Köpmangatan und des Köpmantorget spiegeln sich bspw. in den Beschreibungen der dort gelegenen Wohnungen. Homan bewohnt mit seiner Katze Cléo ein »gammalt stenhus med väggar och golv från 1600-talet« (DEK, 76).32 Zwar behauptet er von sich selbst, nicht »lastgammal« (JS, 23)33 zu sein, er kann aber zumindest in Einklang mit seiner Wohnung als altmodisch bezeichnet werden: Er hat kein Interesse daran, »att bli ›urbanit‹ och byta Köpmantorget mot Bromma Boardwalk« (DEK, 79)34, er betrachtet Änderungen im Bildungswesen (JS, 13) oder im Fernsehprogramm (JS, 133) mit einer gewissen Skepsis und dementsprechend mutet folgende Einschätzung äußerst ironisch an: »Om jag varit gammal och konservativ hade jag sagt att det var bättre förr […]. Mycket bättre förr« (JS, 60).35 Die exquisite Lage von Homans Wohnung geht zudem Hand in Hand mit seiner Darstellung als Bonvivant. Nicht nur handelt es sich bei seiner Katze um eine Siamkatze (JS, 43), auch seine bevorzugten Einkaufsmöglichkeiten sind mit der Östermalmshallen (DEK, 58) und der Munkbrohallen (JS, 92) gehobene und bekannte Lebensmittelgeschäfte Stockholms, was auch für die zahlreichen Restaurants gilt, die er im Laufe der Erzählungen besucht.36 Doch nicht nur Homan, auch die anderen Figuren werden durch ihre Platzierungen in der Stadt genauer beschrieben. Indem Mårtenson Homans Freundin Francine in der Lützengatan am Karlaplan im Nobelviertel Östermalm 30 »Larsbergsvägen auf Lidingö«. 31 »[D]er grün-bronzene Kampf des edlen St. Göran gegen den dänischen König in Form des Drachen der Bösartigkeit.« 32 »[A]ltes Steinhaus mit Wänden und Böden aus dem 17. Jahrhundert.« 33 »[S]teinalt«. 34 »›Urbanit‹ zu werden und den Köpmantorget gegen den Bromma Boardwalk zu tauschen.« 35 »Wäre ich alt und konservativ, hätte ich gesagt, dass es früher besser war […]. Viel besser.« 36 So besucht er beispielsweise das Restaurant Stortorgskällaren in der Altstadt (DEK, 62), die Bar des Grand Hotel (DEK, 201) sowie das Restaurant des Hotels Diplomat (JS, 44), die beide zu den teuersten Hotels der Stadt zählen.

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wohnen lässt, vermittelt er den Leser:innen indirekt, dass es sich bei Francine um eine wohlhabende Frau handeln muss. Und tatsächlich betont er auch in der direkten Charakterisierung, dass sie einer reichen Familie entstammt (JS, 29, 31). Das Ehepaar Bjarnefjell wiederum, das in Den engelske kusinen des Mordes verdächtigt wird, bewohnt sogar eine Wohnung im Stadtteil »öfvre Östermalm« (DEK, 313)37 – eine Gegend, die als besonders teuer und snobistisch gilt. Dementsprechend bemühen sich die beiden stets darum, ihren Platz in der gehobenen Gesellschaft zu verteidigen. Dass sie allerdings, im Gegensatz zu Francinces Familie, die von einem alten Adelsgeschlecht abstammt, ›neureich‹ sind, zeigt sich beispielsweise am Slang des Ehemanns Kenneth, der sich, wenn er einen Charakter aus der schwedischen Fernsehserie Solsidan zitiert (DEK, 117), nicht dem anvisierten Stand entsprechend ausdrückt. Viele dieser Charakterisierungen funktionieren implizit, da sich Mårtenson auf vorhandenes Wissen seines Publikums in Bezug auf Stockholm stützen kann. Besonders die kleinteilige Beschreibung der Topologie Stockholms, das wiederholte Referieren auf Straßennamen und Wahrzeichen der Stadt, verdeutlichen die Regionalität der Kriminalromane um Homan. Darüber hinaus erweitert der Erzähler das weitgehend bekannte topographische Detailwissen an zahlreichen Stellen um kulturhistorisches Wissen. Dabei unterbricht die Erzählstimme immer wieder die Handlung, und sie bietet Wissen aus unterschiedlichsten Themenbereichen dar, wie folgendes Beispiel zeigt: Fahlcrantz var ju ett av de stora namnen i svenskt artonhundratals landskapsmåleri. Han var mycket uppskattad på sin tid och i kungliga slottet finns många av hans verk, bland annat storslagna vyer över Pau, Karl XIV Johans födelsestad. Hade monarken gripits av nostalgi, ville ha ett handfast minne från sin barn- och ungdom? Ryska tsaren hade också funnits bland köparna av Fahlcrantz verk (DEK, 160).38

Auf der einen Seite wird hier kulturelles Wissen über einen schwedischen Maler vermittelt, was sich zunächst als ein weiterer Realitätseffekt manifestiert. Indem die Handlung nach dieser Beschreibung mit einem nonchalanten »Hur som 37 »[O]beres Östermalm« – so bezeichnet der Autor Per Wästberg die Gegend als »snobbigt, pretentiöst, rikedomsvulgärt och en numera urmodig kliché av adel, grosshandlare och högre ämbetsmän« (»snobistisch, prätentiös, reichtumsvulgär und [als] ein heutzutage altmodisches Klischee von Adel, Großhändlern und höheren Beamten«). Zit. nach: Nordenswan, Natalie: Vad är egentligen Öfvre Östermalm? URL: https://www.mitti.se/nyheter/ vad-ar-egentligen-ofvre-ostermalm/aRKocx!ImpIpmwxUuHygB92wfbfA/ / letzter Zugriff am 28. Januar 2021. 38 »Fahlcrantz war einer der großen Namen der schwedischen Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts. Er wurde zu seiner Zeit sehr geschätzt und im Königspalast befinden sich viele seiner Werke, darunter eine herrliche Aussicht auf Pau, den Geburtsort von Karl XIV. Johann. War der Monarch von Nostalgie ergriffen worden und wollte eine greifbare Erinnerung an seine Kindheit und Jugend? Der russische Zar war auch unter den Käufern von Fahlcrantz’ Werken gewesen.«

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helst« (DEK, 160)39 wieder einsetzt, hebt die Erzählstimme die Nichtigkeit der kulturhistorischen Ausführung für den Handlungsverlauf hervor. Auf der anderen Seite wird aber auch deutlich, dass sich der Erzähler bei der Beschreibung des vermeintlich unbekannten Malers auf bereits vorhandenes Wissen stützen kann, wie bei der Lokalisierung der Gemälde im Königlichen Schloss, einem weiteren Gebäude in Gamla Stan, oder der historischen Einordnung in die Zeit von Karl XIV. Johann. Die literarische Kartierung Stockholms, die damit verbundene Charakterisierung der verschiedenen Figuren sowie der Bezug auf das kulturelle Wissen der Leser:innen und dessen Ergänzungen lassen darauf schließen, dass sich Mårtenson bei der literarischen Konstruktion der schwedischen Hauptstadt auf ein detailliertes Wissen seiner Leser:innen stützen kann. Daher ist es ihm möglich, die Region Stockholm durch ein äußerst detailreiches und konkretes Beschreiben zu inszenieren.

St. Petersburg: Bekannte Bedrohung und bewundernswerte Kultur In Juvelskrinet muss Johan Homan die Machenschaften des kriminellen, russischen Oligarchen Sytenko aufdecken und begibt sich dabei auf eine Reise nach St. Petersburg. Schon vor der eigentlichen Reise werden durch Wissensvermittlung kulturhistorischer Aspekte und durch (russische) Figuren die nationale Kategorie des Russischen sowie die Stadt St. Petersburg eingeführt. Dabei ist zu beobachten, dass das Russische schon hier – wie auch später auf der Reise – gleichzeitig als bedrohlich und kulturell faszinierend auftritt. Während die Gefahr jedoch ortsunabhängig als russisch gesehen wird, sind die kulturellen Elemente spezifisch auf St. Petersburg bezogen. Die erste Begegnung mit Russland läuft über Homans ehemaligen Klassenkameraden Leif Carlson. Sein negativer Charakter – protzig, unordentlich, dominant – wird in Verbindung gebracht mit seiner Karriere in Russland, sodass sich hier bereits ein pejorativ besetztes Bild des Landes konstruiert: »Så de talanger för jävelskap som han visade i skolan har han säkert haft nytta av« (JS, 8).40 Neben den attraktiven Karrieremöglichkeiten in der Öl- und Gasindustrie wird Russland darüber hinaus auch mit Gefahr verknüpft, denn Carlson bittet Homan um Personenschutz, den er auch bitter benötigt – denn kurz darauf wird er ermordet aufgefunden. Später stellt sich heraus, dass Carlson kein erfolgreicher Geschäftsmann war, sondern für den kriminellen Oligarchen Syntenko arbeitete 39 »Wie auch immer«. 40 »Dann war ihm sein Talent zur Gemeinheit, das er in der Schule gezeigt hat, sicherlich von Nutzen.«

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– ein weiterer deutlicher Hinweis auf die Gefahr und die fehlenden moralischen Werte, die mit Russland verknüpft sind. Zu diesem kriminalistischen Auftakt tritt ein zweiter Erzählstrang, der sich zunächst auf das Privatleben Homans konzentriert. Seine Lebensgefährtin Francine erhält eine alte Erbbrosche, die vom Haus Bolin in St. Petersburg hergestellt worden ist. Zudem besitzt die Familie noch in St. Petersburg versteckte Schmuckstücke, da ihre Vorfahren finnisch-russischer Abstammung vor der Russischen Revolution nach Schweden geflohen sind. Bei Bolin handelt es sich, wie auch beim deutlich bekannteren Fabergé41, um Hofjuweliere der Zarenfamilie. Dies wird dem Protagonisten und den Leser: innen in aller Ausführlichkeit durch einen Kunstwissenschaftler vermittelt, der ein Verständnis für den Wert der Gegenstände, aber auch für die russische Geschichte und die Russische Revolution erzeugt.42 Der generelle Raum Russland bzw. spezifischer St. Petersburg wirkt hier also bereits in zweifacher Hinsicht handlungsgenerierend: zum einen als Gefahr, zum anderen als faszinierende Kunstgeschichte. Sowohl das Öl- und Gasgeschäft, die Macht von Oligarchen als auch die Russische Revolution und die Juweliere Fabergé und Bolin sind dabei mit genau diesem Raum verknüpft. Die Nennung dieser Elemente greift vorhandenes Weltwissen auf und trägt zu einer realistischen Abbildung bei. Die Gefahr Russlands wird sowohl auf politischer, wirtschaftlicher als auch militärischer Ebene lokalisiert und geht dezidiert von russischen Figuren aus.43 Dabei zeigen sich oft Verbindungen zum Kalten Krieg und der Sowjetunion, womit die Gefahren stets in eine historische Perspektive eingebettet sind: So steht bspw. Sytenkos Reichtum und Macht mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion in Verbindung (JS, 138); und Russland selbst manifestiert sich mit Verweis auf seine historisch dominante Position in der Weltpolitik als schlafender oder sogar bereits erwachter Bär: »Vi måste ju ha goda förbindelser med ryssarna och inte väcka den björn som sover. / – Jag tycker att den verkar ganska vaken. Övar flyganfall och signalspanar utanför Gotland och ställer till det i Ukraina« (JS, 261).44 In dieser Szene wird Homan von seinem Cousin Jonas gebeten, nicht nach dem Schatz in St. Petersburg zu suchen, da er sonst im russischen Gefängnis 41 Für die Wiedergabe russischer Namen und Begriffe wurde auf die wissenschaftliche Transliteration verzichtet und stattdessen die im deutschen Sprachgebrauch übliche Schreibweise verwendet. 42 Nach der Wissensvermittlung des Kunstwissenschaftlers schließen sich auch Mitarbeiter: innen des Geheimdienstes und des Außenministeriums an, die ebenfalls kulturhistorische Aspekte des Zarenreichs und des heutigen Russlands darlegen (vgl. u. a. JS, 23–42). 43 Zwar gibt es auch schwedische Figuren, die mit dem kriminellen Sytenko zusammenarbeiten, diese werden jedoch im Laufe des Romans von ihm liquidiert. 44 »Wir müssen ja gute Verbindungen mit den Russen haben und nicht den schlafenden Bären wecken. – Ich finde, dass er ziemlich wach wirkt. Übt Flugangriffe und spioniert vor Gotland und verursacht das in der Ukraine.«

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landen könnte. Für die Verdeutlichung der von der Region ausgehenden Gefahr werden außerliterarische Ereignisse – die russische Krimannexion sowie militärische Übungen und Spionage vor der Insel Gotland – herangezogen und so erneut verifizierbare Fakten für die Produktion einer glaubwürdigen Bedrohung verwendet. Dass St. Petersburg eine dem schwedischen Publikum nur mäßig vertraute Region darstellt, macht der Protagonist Homan deutlich. Zwar kennt er kulturelle Größen wie Fabergé und auch die Eremitage, darüber hinaus erlangt er viel Wissen durch andere Expert:innen oder die Lektüre von Büchern. Dadurch findet gleichzeitig mit der Weiterbildung des Protagonisten auch eine Aufklärung der Leser:innen statt. Das vermittelte Wissen stellt sich dabei als detailreich und ausführlich dar: Jag insåg när jag började läsa att för att förstå ryska revolutionen och kommunismen måste man börja långt tidigare än oktoberrevolutionen 1917. Tsarerna styrde det väldiga riket enväldigt, något parlament fanns inte, inte heller politiska partier och en feodal, jordägande adel ägde större delen av landet och bönderna var livegna. Men riket började krackelera, missnöjet växte, inte minst bidrog förlusterna i Krimkriget vid mitten av 1850-talet (JS, 297).45

Die seitenlangen Ausführungen über kulturhistorische Aspekte zeigen nicht nur, welche umfangreichen Wissensbestände dem Publikum näher gebracht und zum Evozieren des Regionalen herangezogen werden; sie können auch als typisch für Mårtensons Homan-Reihe gelten und zeigen, dass der Autor mit seinen Kriminalromanen ein kulturinteressiertes Publikum anspricht. Im Gegensatz zu den Beschreibungen Stockholms beziehen sich die Darstellungen jedoch weniger auf Detailwissen. Stattdessen werden Zusammenhänge, Ereignisse und Erklärungen geliefert, die auf nationale und regionale Aspekte rekurrieren. Kleinteilige Darstellungen von Stadtteilen oder gar verschiedener Straßennamen bleiben ungenutzt und zeigen so, dass diese für die Zielgruppe des Romans nicht relevant sind. Nachdem Russland über russische Figuren und kulturhistorische Erzählungen umfangreich eingeführt wurde, steht gegen Ende des Romans die eigentliche Reise nach St. Petersburg bevor. Homan wird von seinem Cousin Jonas als Tourist eingeladen und die Reaktionen auf das Reiseziel sind durchweg positiv. So kann Francine aus eigener Erfahrung berichten: »Jag har faktiskt varit i Sankt Petersburg några gånger. Det är en fantastisk stad. Historia, kultur. Arkitektur.

45 »Als ich anfing zu lesen, wurde mir klar, dass man, um die Russische Revolution und den Kommunismus zu verstehen, viel früher beginnen muss als mit der Oktoberrevolution von 1917. Die Zaren regierten das riesige Reich einseitig, es gab kein Parlament, keine politischen Parteien und ein feudaler, landbesitzender Adel besaß den größten Teil des Reiches und die Bauern waren Leibeigene. Doch das Reich begann zu zerfallen, die Unzufriedenheit wuchs, nicht zuletzt die Verluste im Krimkrieg Mitte der 1850er Jahre trugen dazu bei«.

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Och vacker« (JS, 274).46 Und auch Homans eigene Vorstellung von St. Petersburg ist von den bereits behandelten russischen Gefahren ungetrübt: »Jag har aldrig varit där och stan lär vara fantastisk. Arkitektur, konst, historia« (JS, 281).47 Als Homan dann seine Reise antritt, stellt sich die fremde Region St. Petersburg insbesondere durch bekannte Orte dar: Er besucht die Eremitage, flaniert auf dem Newski-Prospekt, geht ins Theater, macht einen Ausflug zur ehemaligen Zarenresidenz Zarskoje Selo. Darüber hinaus dienen auch stereotype Gegenstände dazu, eine realistische Abbildung der Stadt zu erzeugen. So findet Homan in einem Souvenirshop Matrjoschkas, Bernsteinschmuck, Ikonen und Imitate von Fabergé-Eiern (JS, 327–328). Stets betont der Erzähler, wie viele attraktive Sehenswürdigkeiten die Stadt und ihre Umgebung bieten und Homan bedauert nur, dass er sie nicht alle wird sehen können. Insbesondere die Eremitage und ihre Schätze bezeichnet er als Allgemeinbildung und hebt damit die Bedeutung der Stadt für die westliche Kultur hervor. Die topologischen Schilderungen werden auch dazu verwendet, kulturhistorische Aspekte darzulegen, wie die folgende Szene des Newski-Prospekts verdeutlicht: Trafiken forsade fram i höga farter, långt från Gogols, Dostojevskiijs och Pusjkins stad. Mercedes trängdes med BMW och Audi. Skyltfönstren visade upp de stora modemärkena och juvelerarna låg tätt. Trängseln på trottoaren var stor. De mötande var oftast välklädda. Av kommunismens långa köer för toalettpapper, gurka och bröd fanns inte några spår kvar. Glasnost och perestrojka, öppenhet och förändring, Jeltsin och Gorbatsjov hade nyskapat den ryska världen. Kapitalismens intåg i Sovjetunionen märktes tydligt på Nevskij Prospekt. Fast medaljen hade naturligtvis en baksida, tänkte jag där jag gick. Fortfarande var fattigdomen stor i vida kretsar och inte många hade den levnadsstandard som publiken på Sankt Petersburgs huvudgata visade upp (JS, 326).48

Die Beschreibung einer Straße und ihrer Passant:innen wird zum Anlass genommen, anhand ihrer die aktuelle gesellschaftliche Situation zu erklären und 46 »Ich war tatsächlich schon ein paar Mal in St. Petersburg. Das ist ein fantastischer Ort. Geschichte, Kultur, Architektur. Und schön.« 47 »Ich war noch nie dort und die Stadt soll fantastisch sein. Architektur, Kunst, Geschichte.« 48 »Der Verkehr strömte in hoher Geschwindigkeit vorbei, weit entfernt von der Stadt Gogols, Dostojewskis und Puschkins. Mercedes dicht gedrängt mit BMW und Audi. Die Schaufenster zeigten bekannte Modemarken und Juwelen lagen dicht an dicht. Das Gedränge auf dem Gehweg war groß. Die Entgegenkommenden waren oftmals gut gekleidet. Von den langen Schlangen des Kommunismus für Toilettenpapier, Gurken und Brot war keine Spur mehr zu sehen. Glasnost und Perestroika, Offenheit und Veränderung, Jelzin und Gorbatschow hatten die russische Welt neu erschaffen. / Der Einzug des Kapitalismus auf den sowjetischen Markt war auf dem Newski-Prospekt deutlich spürbar. Trotzdem hatte die Medaille natürlich auch eine Kehrseite, dachte ich. Immer noch war die Armut weit verbreitetet und nur Wenige hatten den Lebensstandard, den das Publikum auf der Hauptstraße St. Petersburgs präsentierte.«

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gleichzeitig Rückschlüsse auf die Vergangenheit zu ziehen. Dabei werden bekannte Persönlichkeiten und Termini wie Dichter, Politiker, Glasnost und Perestroika erwähnt und durch sie verifizierbare Elemente geliefert. Die Abrufbarkeit historischer Elemente über topologische Szenen demonstriert die assoziative Aufladung von Topologien und ihren Nutzen im Charakterisieren von Regionalität. Insbesondere der Detailreichtum der Beschreibung – spezifische Namen, Marken, zahlreiche Adjektive – zeichnet ein plastisches Bild und bemüht sich um eine realistische Darstellung. Die kommunistische Vergangenheit und die Bezüge zum Kalten Krieg sind aber auch in anderen Szenen stets präsent. So überlegt Homan bereits im Flugzeug, nach dem Familienschatz zu suchen, hat aber Angst in einem Gulag zu enden (JS, 321); und er zeigt Verständnis dafür, dass seine Lebensgefährtin, die beim schwedischen Geheimdienst arbeitet, ihn trotz Ende des Kalten Kriegs nicht nach St. Petersburg begleiten kann (JS, 263). Die Ausschnitte zeigen, dass Darstellungen von Orten verwendet werden, die dem Zielpublikum des Romans vertraut sein dürften und die dadurch ein realistisches Abbild der Stadt evozieren. Neben den rein topographischen Elementen spielen aber auch Speisen und Getränke eine maßgebliche Rolle in der Produktion des Regionalen. Nicht nur im bereits erwähnten Souvenirshop werden Wodkaproben angeboten, sondern auch das Abendessen mit Cousin Jonas ist von typisch russischen Elementen durchsetzt: So gibt es unter anderem Wodka, Borschtsch und Bœuf Stroganoff. Nebenbei vermittelt Jonas wertvolles historisches Wissen über St. Petersburg (JS, 329–333). Und wie sehr Wodka zu Russland und St. Petersburg gehört, wird auch deutlich, wenn Jonas seinem Cousin einen wertvollen Tipp für die Reise gibt: »When in Rome do like the Romans. / – Vad skulle det vara i Sankt Petersburg? / – Vodka! Mycket vodka. Glöm din blaskiga dry martini« (JS, 323–324).49 Die Darstellung des Russischen und auch der Stadt St. Petersburg lässt sich mühelos in den westlichen Russlanddiskurs einordnen. Neben dem Anschluss an das beim Lesepublikum vorhandene Wissen über Skandinavien findet also auch ein Anschluss an bekannte, da seit Jahrhunderten zirkulierende Heterostereotype statt: Dies ist zum einen natürlich die Bedrohlichkeit der fremden Region, aber auch die Einordnung der Kultur als fremd.50 Jonas und Homan vergleichen 49 »When in Rome do like the Romans. / – Was soll das in St. Petersburg sein? / – Wodka! Viel Wodka. Vergiss deinen wässrigen Dry Martini.« 50 Vgl. dazu Wolff, Larry: Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment. Stanford: Stanford University Press 1994, u. a. S. 17–49; Neumann, Iver B.: Russia as Europe’s other. In: »Journal of Area Studies« 6/12 (1998), S. 26–73, hier u. a. S. 67; Naarden, Bruno/Leersen, Joep: Russians. In: Beller, Manfred/Leerssen, Joep (ed.): Imagology. The Cultural Construction and Literary Representation of National Characters. A Critical Survey. Amsterdam/New York: Rodopi 2007, S. 226–229; Eismann, Wolfgang: Der barbarische

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dementsprechend die Russische Revolution und den in St. Petersburg versteckten Familienschatz mit einem Abenteuerroman und einem US-amerikanischen Actionfilm, also mit fiktionalen und nicht unbedingt realistischen Erzählungen (JS, 29, 39). Der Fremdheitscharakter verstärkt sich noch durch das unverständliche Alphabet, das Homan als »helt oförståeliga symboler utan innehåll och mening« (JS, 46)51 bezeichnet. Die Einbeziehung der Sprache kreiert darüber hinaus einen Wirklichkeitseffekt und trägt zu einer für die Leser:innen realistischen Abbildung des Russischen bei. Hierfür erlernt Homan ein grundlegendes Vokabular, von dem das eine oder andere Wort bekannt sein könnte: »spasiba«, »da«, »njet«, »chorosho« (JS, 321–322).52 Obwohl St. Petersburg als durchweg kulturell faszinierende und sehenswerte Stadt dargestellt wird, verschwindet das Bedrohungspotenzial nicht vollständig. »Så du måste vara försiktig. Mycket försiktig« (JS, 332–333)53, schärft Jonas seinem Cousin Homan ein und stattet ihn mit einem GPS-Peilsender aus. Jonas’ Sorge ist, wie sich kurze Zeit später zeigt, nicht unbegründet: Homan trifft auf einen Handlanger des russischen Oligarchen Sytenko, der den Familienschatz von Homans Lebensgefährtin geborgen hat. Dank des Peilsenders gelingt die Rettung Homans und die russischen Kriminellen werden zumindest kurzzeitig festgenommen. Denn auch hier bedient sich die Erzählung wieder des für Kriminalromane typischen Narrativs von Russland als extralegalem Raum und Rückzugspunkt für Kriminelle.54 Keine der Beschreibungen von Speisen, Sprache, topologischen Aspekten und Gegenständen bringen die Ermittlungen des Kriminalfalls voran. Es handelt sich also um unnütze Details, deren narratologische Funktion in der Erzeugung von Wirklichkeitseffekten und dem Aufbau von Spannung durch degressive Momente besteht. Höchstens die kulturhistorischen Aspekte sind notwendig, um die Strukturen Russlands und die daraus resultierende Macht des Oligarchen verständlich zu machen – wenn auch hier eingewendet werden kann, dass sie in weit geringerem Umfang für diesen Zweck ebenfalls ausgereicht hätten. Damit sind auch diese Elemente zumindest zum Teil der Strategie einer realistischen Darstellung einer bestimmten Region zuzurechnen.

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wilde Moskowit. Kontinuität und Wandel eines Stereotyps. In: Stanzel, Franz K. (Hg.): Europäischer Völkerspiegel. Imagologisch-ethnographische Studien zu den Völkertafeln des frühen 18. Jahrhunderts. Heidelberg: Winter 1999, S. 283–298. »[V]ollkommen unverständliche Symbole ohne Inhalt und Bedeutung«. »Danke«, »ja«, »nein«, »gut«. »Du musst also vorsichtig sein. Sehr vorsichtig.« Vgl. Grünewald, Jennifer: Das Russlandbild im skandinavischen Kriminalroman. Produktion in Skandinavien und Rezeption im deutschsprachigen Raum. Paderborn: W. Fink 2021, S. 24, 101–102.

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Während bei den Abschnitten der Wissensvermittlung eine sehr detaillierte Darlegung kulturhistorischer Einzelheiten stattfindet, besucht Homan in St. Petersburg nur Orte, die als bekannte Sehenswürdigkeiten gelten und so dem Lesepublikum vertraut sein können. Auch beim Verzehr von Speisen und Getränken sowie bei der Verwendung russischer Wörter zieht der Autor vertraute Stereotype des Russischen heran. Damit entspricht die dargestellte Region dem tradierten Bild St. Petersburgs. Zwar könnte man einwenden, dass zumindest einige der dargelegten Elemente nichts Spezifisches für St. Petersburg beinhalten, sondern stattdessen auf Russland als Land verweisen. Jedoch gilt es, zu betonen, dass gerade durch den Zusammenhang des Kriminalfalls mit zaristischen Schmuckstücken ein Setting in einer anderen Region Russlands unmöglich ist. St. Petersburg wird so von einem bloßen bespielten Raum zu einem Handlungsträger. Es zeigt sich die narratologische Strategie zur Produktion von Regionen: Da dem Zielpublikum über St. Petersburg selbst zu wenig Details bekannt sind, nimmt der Erzähler immer wieder auf Russland als nationale Kategorie Bezug, um eine verständliche und realistische Darstellung der Stadt zu erzeugen.

Kapregion: Korrupte Machenschaften und paradiesische Natur Im Gegensatz zu Juvelskrivet ist in Den engelske Kusinen (2018) die Fremde nicht das Ziel der Ermittlungen und der Ort, an dem der Kriminalfall gelöst wird, sondern hier tritt die südafrikanische Kapregion als Ausgangspunkt einer Mordserie in Erscheinung. Dorthin begleitet Homan seine Freundin Francine auf einer Geschäftsreise, wo sie im altehrwürdigen Hotel Mount Nelson ein schwedisches Ehepaar, den ›Goldgräber‹, wie er im Text bezeichnet wird, Kenneth Bjarnefjell und seine Frau Marianne sowie den schwedisch-britischen Weinhändler John Silver treffen, denen Homan seine Visitenkarte überreicht. Kaum zurück in Stockholm kontaktiert ihn die Polizei, da Silver ermordet aufgefunden wurde – der einzige an der Leiche entdeckte Hinweis auf den Mörder ist Homans Visitenkarte. Schnell enthüllt dieser verschiedene Machenschaften und Verstrickungen seiner neuen Bekannten: Silver war nicht nur Weinhändler, sondern arbeitete auch gemeinsam mit dem »ung[a] och energisk[a]« (DEK, 37)55 Diktator eines nicht näher benannten, kleinen afrikanischen Landes, Winston Muteso, mit dem er gemeinsam den afrikanischen Kontinent flächendeckend mit Fernsehen und Internet ausstatten wollte. Das Ehepaar Bjarnefjell wiederum inszeniert sich neben dem lukrativen Handel mit südafrikanischem Wein erfolgreich als Bekämpfer der Armut in Afrika, nicht zuletzt um so die eigene Stellung in der gehobenen Gesellschaft Stockholms zu manifestieren. Kurz nach 55 »[J]ungen und energischen«.

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Silvers Tod taucht außerhalb Stockholms zudem eine zweite Leiche auf, die des vermeintlichen britischen Schriftstellers Rawlinson, der mit derselben Waffe wie Silver ermordet wurde. Der einzige Hinweis auf Verbrecher und Motiv ist ein in Rawlinsons Unterkunft gefundenes russisches Formular. Homan selbst wird zwar nie der Tat beschuldigt, dennoch begibt er sich eigenhändig auf die Suche nach dem Mörder. Die Liste der Tatverdächtigen wächst rasch, neben seinem von der Polizei verdächtigten Freund Eric Gustafson umfasst sie unter anderem Kenneth Bjarnefjell, den Diktator Muteso, afrikanische Geflüchtete, den mysteriösen ›Russen‹ Oleg Petrovskij56, und auch der britische Geheimdienst scheint seine Finger im Spiel zu haben. Schlussendlich enthüllt Homan, dass Bjarnefjell nicht nur eine wohltätige Ader besitzt, sondern dass durch seine Goldminen zahlreiche Afrikaner:innen verunglückt sind. Dem ist Silver auf die Spur gekommen, woraufhin Marianne ihn, um einen Skandal zu verhindern, erschossen hat. Das russischsprachige Dokument enthielt, wie sich herausstellt, eine zweite, inzwischen vernichtete Seite, die über die Gefahren von Bjarnefjells Goldminen aufklärte. Deswegen musste auch Rawlinson sterben, der in Wahrheit Mitarbeiter des britischen Geheimdienstes war und die Informationen übergeben sollte. Zu Beginn des Romans halten sich Homan und seine Freundin Francine in den beiden südafrikanischen Städten Kapstadt und Stellenbosch sowie in der die beiden Städte umgebenden Kapregion auf, wo sie zunächst im Mount Nelson absteigen. Obwohl es sich hierbei sicherlich nicht um eine den Leser:innen vollkommen unbekannte Region handelt, kommuniziert Mårtenson durch verschiedene textimmanente und peritextuelle Mittel die faktuale Existenz des »anrika hotellet i Kapstaden« (DEK, 5).57 So belegt bereits eine Fotografie des Gebäudes auf dem Buchrücken des Romans die Echtheit des Mount Nelson. Bei der Beschreibung der geographischen Lage orientiert sich Mårtenson wiederum an bekannten Details der Kapstädter Landschaft, indem der Erzähler das Hotel »nära foten av det överväldigande Taffelbergets skrovligt grå elefantsida« (DEK, 6)58 platziert. Mårtenson sucht sich mit dem Tafelberg die bekannteste geographische Entität Kapstadts heraus, um die Lage des Hotels zu beschreiben und damit den Leser:innen eine topographische Vorstellung des Stadtbildes zu vermitteln. Betrachtet man die tatsächliche geographische Lage des Mount Nelson, 56 Dieser stellt sich zwar im Laufe des Romans als Ukrainer heraus (vgl. DEK, 330), im Sinne der Homogenisierung der ehemaligen Sowjetunion wird er aber fast durchgängig als Russe gelesen (vgl. Grünewald, Jennifer: Das Russlandbild im skandinavischen Kriminalroman, S. 295–298). Dementsprechend werden auch auf ihn die bereits genannten Stereotype angewandt, die russische Figuren als potenzielle Verbrecher:innen kennzeichnen, wie »ett kallt leende« und »dåliga vibbar« (DEK, 218: »ein kaltes Lächeln«, »schlechte Vibes«) sowie ein »tjock, rysk brytning« (DEK, 243: »starker russischer Akzent«), gleichzeitig beschreibt der Erzähler ihn als wortkarg (vgl. DEK, 243). 57 »[T]raditionsreichen Hotels in Kapstadt«. 58 »[I]n der Nähe des Fußes der überwältigenden grauen Elefantenseite des Tafelbergs«.

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wäre eine Beschreibung, die es zwischen Tafelberg und Signal Hill verortet, sicherlich adäquater. An der selektiven Angabe Mårtensons zeigt sich, wie er die faktische Kartographie der Stadt in ihrer literarischen Repräsentation dahingehend verändert, dass er mit dem Fokus auf den Tafelberg an das Wissen seiner Leser:innen anknüpft und so ein für sie möglichst nachvollziehbares und realistisches Setting kreiert. Dabei nimmt er eine geographische Ungenauigkeit in Kauf, um im Gegenzug eine imaginierte Karte Kapstadts aufleben zu lassen.59 Darüber hinaus trägt das Hotel zusätzlich zur Charakterisierung der Figuren bei, wie dies auch die Aufenthalts- und Wohnorte der Figuren in Stockholm tun. Während die Leser:innen dort allerdings Orte wie Gamla Stan und Östermalm automatisch mit einer gehobenen und wohlhabenden Gesellschaftsschicht assoziieren, muss der Erzähler im Fall des Mount Nelson explizit auf die luxuriöse Ausstattung, die Altehrwürdigkeit und den gehobenen Service des Hotels aufmerksam machen.60 Um Homan auch in Südafrika als luxusaffinen Bonvivant und Francine als Tochter einer wohlhabenden Familie zu charakterisieren, reicht es hier nicht aus, durch die bloße Nennung eines Ortes das kulturelle Wissen der Leser:innen zu aktivieren und Assoziationen hervorzurufen, sondern durch eine genauere Beschreibung des Hotels werden die Figuren und ihr Aufenthaltsort in Einklang gebracht. Die weiteren Orte, an denen sich Homan in Südafrika aufhält, tragen ebenso dazu bei, das realistische Setting zu verstärken. So besucht er neben dem eigentlichen Kap der Guten Hoffnung außerhalb der Stadt (DEK, 13) auch die frühere Gefängnisinsel Robben Island. Hier knüpft der Erzähler immer wieder sowohl an die südafrikanische Geschichte als auch die historischen Verwicklungen Schwedens in Südafrika an. Es ist sicherlich kein Zufall, dass dieses Kapitel der südafrikanischen Geschichte immer wieder in den Mittelpunkt der historischen Ausführungen des Erzählers tritt. Durch das Engagement des frü-

59 Interessant ist an dieser Stelle, wie das Hotel in den Krimis des populären südafrikanischen Autors Deon Meyer als geographischer Bezugspunkt fungiert. Meyers Krimis um den Kapstädter Polizeiinspektor Benny Griessel werden gemeinhin als hoch authentische Regionalkrimis aus Kapstadt aufgefasst, Meyer selbst gilt als »king of local crime fiction« (Roux, Beth le/Buitendach, Samantha: The production and reception of Deon Meyer’s works. An evaluation of the factors contributing to bestseller status. In: »scutiny2« 19/1 (2014), S. 18–34, hier S. 18). In seinem dritten Griessel-Roman, Sieben Tage, wird das Mount Nelson ebenfalls erwähnt. Im Gegensatz zu Mårtenson, der seinen Leser:innen die Lage des Hotels mit möglichst groben geographischen Entitäten nahebringen muss, reicht bei Meyer eine kurze Erwähnung ohne weitere Erläuterung offensichtlich aus, damit sich seine Leser:innenschaft in Kapstadt verorten kann (vgl. Meyer, Deon: Sieben Tage. Berlin: Aufbau 2012, S. 59). Hier zeigen sich also immense Unterschiede, wie die beiden Autoren auf das antizipierte Wissen ihres Publikums reagieren und dahingehend Kapstadt als literarische Region gestalten. 60 Vgl. z. B. DEK, 10, 20.

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heren Staatsministers Olof Palme gegen die Apartheid61 ist diese Zeitspanne der südafrikanischen Geschichte in Schweden weitestgehend bekannt. Dementsprechend greifen die Figuren auch die schwedische Rolle im Befreiungskampf auf: »Systemet med segregation blev lag 1948 och omfattade allt från bosättningar till parkbänkar. Fruktansvärt. Men systemet upphävdes 1994. En stark och internationell växande allmän opinion, där inte minst Sverige bidrog« (DEK, 10).62 Diese Einordnung der schwedischen Rolle greift ein für die Leser:innen bekanntes historisches Kapitel auf, gleichzeitig wird darüber hinaus auch das tradierte schwedische Selbstbild des swedish exceptionalism reproduziert; dieses zeichnet sich durch eine (angebliche) Sonderrolle Schwedens im (post-)kolonialen Weltgefüge aus, die sich primär durch das – vermeintliche – Fehlen eigener Kolonien und der sehr frühen und intensiven Entwicklungshilfe konstituiert.63 Als Realitätseffekt verstärkt sich diese historisch-politische Anspielung bei einer Zeitungslektüre Homans noch: Ein Artikel hinterfragt die europäische Rolle in Afrika kritisch, indem er die vorkoloniale Geschichte Afrikas aufzeigt. Die Lektüre nimmt keinen Einfluss auf den weiteren Handlungsverlauf, sie bestärkt allerdings das bereits bekannte Wissen um den swedish exceptionalism;64 denn obwohl die europäischen Kolonialmächte in dem Artikel verurteilt werden, weist Homan seine Leser:innen darauf hin, dass »det fanns ju ljusglimtar i mörkret, om man skulle vara ärlig. Och jag tänkte på missionen och missionärerna. Sjukhus, skolor och utbildning hade följt i deras spår även om en grundpelare i verksamheten var att befria afrikanska medmänniskor ›ur djevulens klur‹« (DEK, 29).65 Hier verweist Homan auf die extensive schwedische Mission, die als Vorläufer der späteren Entwicklungshilfe verstanden wird und somit eine wichtige Rolle bei der Konstitution des ›unschuldigen‹ schwedischen Selbstbildes spielt. Die Zei61 Siehe einführend: Sellström, Tor: Sweden and National Liberation in Southern Africa. Bd. 1. Uppsala: Nordiska Afrikainstitutet 1999. 62 »Das System der Segregation wurde 1948 zum Gesetz und umfasste alles von Siedlungen bis zu Parkbänken. Furchtbar. Das System wurde jedoch 1994 abgeschafft. Eine starke und international wachsende öffentliche Meinung, zu der nicht zuletzt Schweden beitrug.« 63 Vgl. McEachrane, Michale/Faye, Louis: Inledning. In: McEachrane, Michale/Faye, Louis (red.): Sverige och de andra. Postkoloniala Perspekiv. Stockholm: Natur och Kultur 2001, S. 7– 16; Körber, Lill-Ann/Löbel, Katarina: ›Afrika‹ und ›der Norden‹. Konzeptualisierungen und Verschränkungen zweier Regionen. In: »Acta Germanica« 37 (2009), S. 17–32; Volquardsen, Ebbe: Skandinavien. In: Göttsche, Dirk/Dunker, Axel/Dürbeck, Gabriele (Hg.): Handbuch Postkolonialismus und Literatur. Stuttgart: J.B. Metzler 2017, S. 425–428. 64 Die Bedeutung dieser Episode kann bspw. auch daran abgelesen werden, dass sie, trotz ihrer Nichtigkeit für die Handlung, einen relativ großen Rahmen innerhalb der Erzählzeit einnimmt (vgl. DEK, 27–29). 65 »[E]s auch Lichtblicke in der Dunkelheit gab, wenn man ehrlich sein wollte. Und ich dachte an die Mission und die Missionare. Krankenhäuser, Schulen und Ausbildung folgten in ihren Fußspuren, auch wenn ein Grundpfeiler des Unterfangens darin lag, die afrikanischen Mitmenschen ›aus den Klauen des Teufels‹ zu befreien.«

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tungslektüre und die historischen Ausführungen stellen im Bezug zum Handlungsverlauf Realitätseffekte dar, die sich sehr selektiv auf das Wissen der Leser: innen beziehen und dieses im selben Atemzug bestätigen. Nach dem Aufenthalt in Kapstadt führt ihre Reise die Protagonist:innen nach Stellenbosch, eine kleinere Stadt in der Nähe Kapstadts. Diese scheint nach Annahme Mårtensons den Leser:innen nochmals fremder und unbekannter zu sein als Kapstadt, zumindest legt dies die literarische Beschreibung der Stadt nahe. Das Stadtbild wird nicht mehr anhand von bekannten geographischen Entitäten charakterisiert, wie das noch in der größeren Metropole der Fall war, sondern ausschließlich anhand architektonischer Vagheiten: »Låg, villobetonad bebyggelse. Gröna trädgårdar, skuggande träd. […] Vita låga hus med den ursprungliga holländska barockarkitekturen bevarad smälte in i det omgivande landskapets intensivt gröna vegetation med de duvgrå, höga bergsmassiven som fond« (DEK, 30).66 Hier knüpft Mårtenson an ein sehr vages Wissen seines Lesepublikums an, das daraus besteht, dass die Kapregion Heimat einer großen burischen Bevölkerungsgruppe ist. Vielmehr vermittelt er einen schemenhaften geographischen Eindruck. Den Beschreibungen der beiden Städte, wie im Übrigen dem gesamten Roman, gemein ist allerdings, dass (süd-)afrikanische Figuren nur am Rand auftauchen und ausschließlich in der Funktion als Bedienstete.67 Dabei gestaltet sich die Literarisierung der Kommunikation zwischen den schwedischen und den südafrikanischen Figuren in Bezug auf Realitätseffekte sehr interessant: Diese wird häufig auf Englisch, also einer der elf offiziellen Landessprachen Südafrikas, die in der Regel als Tourismussprache genutzt wird, wiedergegeben, wenn beispielsweise Getränke bestellt werden: »Another G[in] and T[onic] please« (DEK, 8).68 Geht die Kommunikation jedoch über solch elementares Vokabular hinaus, wechselt die Erzählstimme ins Schwedische: »›Vi måste bara bestämma vad vi ska äta. Vad rekommenderar ni?‹ ›Fisk. Dagsfärsk fisk är en av våra specialiteter. Och idag har vi havsabborre som verkligen är utsökt‹« (DEK, 26).69 Die beiden Beispiele zeigen prototypisch, dass sich die literarische Wiedergabe der Kommu66 »Niedrige Wohngebäude. Grüne Gärten, schattige Bäume. […] Weiße niedrige Häuser mit der ursprünglichen niederländischen Barockarchitektur verschmolzen mit der intensiven grünen Vegetation der umgebenden Landschaft vor dem Hintergrund der taubengrauen Hochgebirgsmassive.« 67 Dieses Erzählmuster wird auch weitergeführt, als Homan und Francince wieder in Schweden sind; hier sind die einzigen afrikanischen Figuren Geflüchtete, die zwischenzeitlich des Mordes beschuldigt werden (vgl. DEK, 255) und eine Haushälterin aus Nigeria (vgl. DEK, 154). 68 Vgl. auch DEK, 17. 69 »›Wir müssen entscheiden, was wir essen wollen. Was empfehlen Sie?‹ ›Fisch. Tagesfrischer Fisch ist eine unserer Spezialitäten. Und heute haben wir Seebarsch, der wirklich köstlich ist.‹«

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nikation in einem steten Ausloten zwischen realistischer und verständlicher Darstellung befindet. Die angedeutete Kommunikation auf Englisch stellt einen Realitätseffekt dar, sobald das Vokabular aber über grundlegende Begriffe hinaus geht, wechselt Mårtenson ins Schwedische, um so die Verständlichkeit zu gewährleisten. Er wägt hier also ständig Realitätseffekt und Verständlichkeit miteinander ab. Neben den konkreten Orten wie dem Kap, Robben Island, Mount Nelson oder Stellenbosch erhalten die Leser:innen auch einen allgemeineren Eindruck von der südafrikanischen Landschaft bzw. der Kapregion. Indem beispielsweise die Landschaft in der Nähe des Kaps als ein Strand »av en långsträkt lagun med kristallklart vatten, gnistrande vita sandstränder och segelbåtar som red som svanar ute på den solblänkande vattenytan« (DEK, 14) 70 gekennzeichnet wird, evoziert Mårtenson einen erzählerischen Topos, der seit den ›Entdeckungsfahrten‹ im 17. Jahrhundert vorherrscht. Hierbei wird das Afrika südlich der Sahara immer wieder als eine malerische Landschaft beschrieben71, deren idyllischer Charakter in starkem Kontrast zu den Geschehnissen steht, die sich laut dem Stereotyp des ›Krisenkontinents Afrika‹ auf diesem paradiesischen Boden ereignen. Silver greift dieses Stereotyp in seinen Ausführungen über die Zukunft und das Potential des afrikanischen Kontinents auf: »Underutvecklat, präglat av klichéer och fördomar. Krig och motsättningar, politiska och religiösa. Många som går tillbaka till kolonialtiden när stormakterna styckade kontinenten mellan sig« (DEK, 37).72 Diese Reproduktion tradierter Afrikastereotype auf der Ebene der Figurenrede spiegelt sich auch auf der Erzählebene wider. So wird Afrika im Text immer wieder mit Terror73, politischer Korruption und Machtmissbrauch (DEK, 39), Chaos und flächendeckender Obdachlosigkeit (DEK, 27) sowie der Versklavung und dem Verkauf von Frauen (DEK, 18) in Verbindung gebracht. Im Gegensatz zu den topographischen Beschreibungen, die sich im Roman stets auf die Kapregion beziehen, erweckt der Erzähler diese negativen Assoziationen für den gesamten afrikanischen Kontinent. Diesem nahezu barbarischen Afrika wird ein zivilisiertes Schweden gegenübergestellt, wie sich anhand der unterschiedlichen Religionen zeigen lässt. Während die – stark homogenisierte – ›afrikanische‹ Religion als eine »avart« (DEK, 18) 74 bezeichnet wird, betont Homan, dass 70 »[V]on einer langgestreckten Lagune mit kristallklarem Wasser, funkelnden weißen Sandstränden und Segelbooten, die wie Schwäne auf der sonnenblinkenden Wasseroberfläche reiten«. 71 Vgl. Catomeris, Christian: Det ohyggliga arvet. Sverige och främlingen genom tiderna. Stockholm: Ordfront 2017, S. 31–32. 72 »Unterentwickelt, geprägt von Klischees und Vorurteilen. Krieg und Konflikte, politische und religiöse. Viele davon reichen zurück in die Kolonialzeit, als die Großmächte den Kontinent zwischen sich zerstückelten.« 73 In Form der terroristischen Gruppe Boko Haram (vgl. DEK, 18). 74 »Abart«.

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diese nichts mit »pappas variant som han predikade i kykran hemma i Viby« (DEK, 18) 75 gemeinsam habe. Auf der einen Seite können diese zahlreichen Stereotype von Afrika, die sich im Text finden, als ein weiteres Anknüpfen an das Wissen der Leser:innen verstanden werden. Indem Mårtenson das vermeintliche Vorwissen seines Publikums reproduziert, bestätigt er dessen vorgefertigte Erwartungen. Als Folge erscheinen das Setting und damit der Text realistischer. Auf der anderen Seite übernehmen diese Stereotype aber auch eine Funktion im Hinblick auf das Genre des Regionalkrimis: Das Aufzeigen dieser durchweg negativen Stereotype dient dazu, Südafrika als einen möglichen Platz des Verbrechens zu etablieren. An einem Ort, an dem Korruption und Terror vorherrschen, scheint eine Zusammenarbeit mit einem Diktator und die Herkunft potenzieller Mörder durchaus glaubwürdig.

Fazit Auf die Frage, warum sich eine solch große Leserschaft seiner Homan-Krimis erfreue, antwortete Mårtenson in einem Interview, es liege möglicherweise daran, dass die Leser:innen »lever med i [Homans] vardag, följer med i hans funderingar över livet och döden. Identifierar sig med den stillsamma antikhandlaren. Många säger också att de lär sig en hel del av böckerna.«76 Tatsächlich handelt es sich hierbei um einige der herausstechenden Merkmale von Mårtensons Krimis, die, wie wir gezeigt haben, nicht nur dazu dienen, die Lektüre interessant zu gestalten, sondern auch eine literarische Funktion übernehmen. Mårtensons Krimis sind stark an Stockholm als Handlungsraum gebunden, wodurch die Stadt eine handlungstragende Funktion erhält. Aber auch die unterschiedlichen Regionen, die Homan in den verschiedenen Krimis bereist, manifestieren sich in ihrer spezifischen Regionalität als handlungstragend. Wie an den Beispielen von Juvelskrinet und Den engeleske kusinen gezeigt, kann auch eine dem Lesepublikum vermeintlich fremde Region als Schauplatz eines Regionalkrimis fungieren, allerdings müssen diese fremden Regionen, im Unterschied zu bekannten Regionen, auf eine andere Weise gestaltet werden. Besonders zentral ist hierbei der Einsatz von Realitätseffekten, die sich bei Mårtenson zuhauf finden und bei deren Verwendung er auf das kulturelle Wissen seiner Leser:innen rekurriert. Während er bei der Gestaltung Stockholms an ein sehr 75 »Papas Variante, die er zuhause in der Kirche in Viby predigte«. 76 O. A.: Hela email-intervjun med Författaren Jan Mårtenson. URL: https://www.deckarhuse t.se/hela-email-intervju-med-forfattaren-jan-martenson/ / letzter Zugriff am 28. Januar 2021 (»Homans Alltag erleben, seinen Gedanken über Leben und Tod folgen. Identifizieren sich mit dem ruhigen Antiquitätenhändler. Viele sagen auch, dass sie viel aus den Büchern lernen.«).

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detailliertes Wissen anknüpft und durch Straßennamen, Wahrzeichen der Stadt und Assoziationen über die einzelnen Stadtteile sehr engmaschige Topologien kreiert, die dann auf die Charakterisierung der Figuren abfärben, ruft er bei der Gestaltung fremder Regionen ein viel gröberes und selektiveres Wissen auf. Die Topologien, Geschichten und Eigenheiten fremder Regionen werden insofern holzschnittartiger beschrieben, als dass Mårtenson an bekannte große Entitäten anknüpft. Dabei orientiert er sich bspw. an besonders berühmten landschaftlichen und architektonischen Merkmalen wie dem Tafelberg in Kapstadt oder der Eremitage in St. Petersburg sowie an herausstechenden historischen Epochen, die zusätzlich einen Bezug zu Schweden haben, wie der Apartheid oder dem Kalten Krieg. Er ruft also größere Narrative auf als bei der Beschreibung Stockholms, bei denen er aber davon ausgehen kann, dass sie seinem Lesepublikum bekannt sind. Diese baut er dann weiter aus, u. a. durch die Platzierung des Mount Nelson in Kapstadt oder den Besuch des Zarendorfs in St. Petersburg. Dabei kommt auch der Reproduktion tradierter Stereotype und Erzählformen eine zentrale Funktion zu, da sie das kulturelle Wissen der Leser:innen gleichermaßen aktivieren wie bestätigen und so das reale Setting verstärken. Es fällt auf, dass Mårtenson sich nicht ausschließlich auf regionale Stereotype bezieht, sondern dass er immer wieder auf größere nationale Stereotype referiert, die auf die Regionen um St. Petersburg und das Kap projiziert werden. Durch die Verknüpfung von bekanntem Wissen und – vermeintlich – neuen Informationen schafft er ein realistisches Setting für seine Krimis, auch in weitestgehend unbekannten Regionen. Dieses Ausschmücken mit bekannten Attributen lässt sich nicht nur bei der Gestaltung inhaltlicher Elemente beobachten, sondern auch bei der Reproduktion diskursiver Narrative: Sowohl die Beschreibung Südafrikas als auch Russlands greifen tradierte Erzählformen auf, indem Mårtenson Russland als einen bösartigen Gegensatz zu Schweden konstruiert, von dem Gefahr ausgeht; Südafrika – und mit dem Land der afrikanische Kontinent – wird als landschaftlich paradiesisch, aber gesellschaftlich rückständig und unzivilisiert beschrieben. Anhand von Mårtensons Homan-Krimis kann also konkludiert werden, dass Regionalkrimis auch entstehen können, wenn die literarisierte Region dem Lesepublikum eher unbekannt ist, es müssen aber andere Erzählmechanismen greifen als bei bekannten Regionen; die Zielgruppe ist daher ausschlaggebend für die Konzeption von Region im Regionalkrimi.

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Stadt als Akteur

Hanspeter Affolter (Universität Bern)

Kein Mitleid für das Opfer. Felix Mettlers Der Keiler (1990) als Zürcher Regionalkrimi

I 1990 sorgte in der Schweiz und über die Landesgrenzen hinaus ein Kriminalroman für Furore, der zwar nicht in der Provinz spielt, aber doch etliche Merkmale eines Regionalkrimis aufweist – Der Keiler. Der Debütroman des in Adliswil bei Zürich geborenen Autors Felix Mettler stand Ende des Jahres auf Platz drei der Schweizer »Jahrestrendsellerliste«1 und wurde zum allergrößten Teil sehr wohlwollend besprochen.2 Für das Buch erhielt Mettler 1990 eine Ehrengabe der Stadt Zürich3, und es war für den Aspekte-Literaturpreis nominiert. Insgesamt erlebte der Roman sechs Neuauflagen, zuletzt 2006, zudem wurde er als Lizenzausgabe im Fischer Taschenbuchverlag publiziert. Seinen durchschlagenden Erfolg verdankte der Roman wohl vor allem seinem originellen Plot, denn vereinzelt vor-

1 Jahrestrendsellerliste. In: »Der Schweizer Buchhandel« 49.1 (1991), S. 16. 2 Vgl. z. B. Eichmann-Leutenegger, Beatrice: David und Goliath in der Klinik St. Stephan. Ein aussergewöhnlicher Kriminalroman von Felix Mettler. In: »Neue Zürcher Zeitung« vom 1. März 1990, S. 27; Rüb, Matthias: Mit Blasrohr und Giftpfeil. Ein ehrgeiziger Kettenraucher kämpft für den medizinischen Fortschritt. In: »Frankfurter Allgemeine Zeitung« vom 28. April 1990; Hug, Heinz: Spannend, packend, beachtenswert: Ein Krimi mit philosophischem Gehalt. Fünfeinhalb Gründe, Felix Mettlers Roman »Der Keiler« zur guten Kriminalliteratur zu zählen. In: »Zürichsee-Zeitung« vom 28. April 1990; Albrecht, Günther: In Zürich flackert das Unbehagen auf. Felix Mettler debütiert mit dem punktgenauen Kriminalroman »Der Keiler«. In: »Stuttgarter Nachrichten« vom 27. Juli 1990; Omlin, Sybille: Mord und Moral: ungewohnt betrachtet. In: »Zuger Nachrichten« vom 5. Oktober 1990; Mohr, Peter: Ist Gottfried Sonder Täter oder Opfer? F. Mettlers bravouröser Roman-Erstling. In: »Die Presse« vom 3./4. November 1990; Martens, Alexander U.: Ein Himmel wie aus Stein. Krimi der Extra-Klasse: Felix Mettlers »Der Keiler«. In: »Die Welt« vom 13. Juli 1991. Vgl. dagegen z. B.: Howald, Stefan: Nicht ganz ernst zu nehmen. In: »Zürcher Tages-Anzeiger« vom 16. März 1990, S. 85; Amberg, Arsène: Wie schubladisieren? In: »Die Wochenzeitung« vom 29. Juni 1990; Becker, Peter v.: Mord und Tränen. Felix Mettlers ambitiös verunglückter Kriminalroman. In: »Süddeutsche Zeitung« vom 19. September 1990. 3 Vgl. z. B. Anonymus: Kanton Zürich zeichnet 17 Kulturschaffende aus. In: »Neue Zürcher Nachrichten« vom 3. Dezember 1990, [S. 3].

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gebrachte Monita wie »sprachliche Unbeholfenheit«4 oder die Verwendung von »wenig durchdachten Metaphern«5 und »Klischee[s]«6 sind nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Die Anziehungskraft des Plots zeigt sich etwa auch daran, dass der Verlag die Filmrechte schon verkaufen konnte, bevor das Buch in den Handel kam; die Verfilmung wurde jedoch erst 2005 realisiert, in Form einer Koproduktion zwischen dem Schweizer Fernsehen und dem ZDF, die mit dem Österreichischen Film- und Fernsehpreis in der Kategorie ›Beste Regie‹ ausgezeichnet wurde.7 Als Regionalkrimi lässt sich Der Keiler schon ganz oberflächlich beschreiben. Das beginnt bereits bei der Sprache: Obwohl das in der Schweiz eigentlich nicht gebräuchliche Eszett verwendet wird, lassen die zahlreichen Helvetismen überdeutlich erkennen, woher der Text stammt. Beispielsweise nimmt die Hauptperson, ein »kleiner alter Mann mit grauem Schnauz«8, einmal »das Tram, um nach Hause zu fahren« (DK, 46; Hervorhebung – H.A.), und ein Arzt, der unter Tatverdacht gerät, soll sich davor fürchten, dass ihn die Presse »[a]usbeineln« (DK, 84), also wie ein geschlachtetes Tier zerlegen könnte. Neben der verwendeten Sprache ist der regionale Bezug auch topographisch deutlich sichtbar. Zwar gibt es mit der »Klinik St. Stephan« auch einen fiktiven Handlungsort (DK, 7), ansonsten werden aber etliche reale Orte in und um Zürich erwähnt, die der Erzähler größtenteils ganz selbstverständlich als bekannt voraussetzt. Zum Beispiel kommt der Mörder auf dem Weg zu seiner Tat am »Hauptbahnhof« vorbei, wo sich »[k]leine Gruppen von Fußballbegeisterten […] nicht in den Untergrund des ›Shopville‹ drängen« lassen (DK, 55). Dass dies die unterirdische Einkaufsmeile unter dem Bahnhof ist, muss man einem Schweizer Publikum nicht eigens erläutern. Oder wenn der Protagonist zu Fuß »bis zum Bellevue« (DK, 46) geht, ist einer mit Zürich vertrauten Leserschaft klar, dass damit der Bellevue-Platz in der Nähe der Seepromenade gemeint ist. Topographisches Vorwissen wie dieses wird auch für die Figurenzeichnung fruchtbar gemacht. So wohnt etwa die sympathische Hauptfigur im »Kreis 4« (DK, 46), dem wohl bekanntesten Arbeiter- und Milieuquartier der Schweiz, während einer seiner unsympathischen Antipoden im großbürgerlichen Villenviertel am Zürichberg residiert (vgl. DK, 69).

4 Becker, Peter v.: Mord und Tränen; vgl. Stefani, Guido: »Der Keiler«, Felix Mettlers erster Auftritt auf der Literaturszene. Sympathischer Mörder, meditierender Kommissar. In: »Luzerner Neueste Nachrichten« vom 23. Februar 1990. 5 Stefani, Guido: »Der Keiler«, Felix Mettlers erster Auftritt auf der Literaturszene. 6 Becker, Peter v.: Mord und Tränen; vgl. Amberg, Arsène: Wie schubladisieren? 7 Tod eines Keilers. Urs Egger. CH/D, 2005. 8 Mettler, Felix: Der Keiler. Roman. Zürich: Ammann 1990, S. 60; Hervorhebung – H.A. Zitate aus Mettlers Der Keiler werden im Folgenden mit der Sigle DK im Fließtext nachgewiesen.

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Nicht nur die Verortung des Romans in einer Umgebung, die der Leserschaft vertraut ist, macht den Keiler zu einem Regionalkrimi, sondern auch die Bedeutung, die das Eigene und das Fremde darin haben; ein Faktor, den die Forschung zu Mettler bisher übersehen hat.9 Im Folgenden soll gezeigt werden, dass nationale oder kulturelle Alterität in zweifacher Hinsicht eine wichtige Rolle in Mettlers Kriminalroman spielt. Zum einen ist sie bedeutsam für die ungewöhnliche Art, wie sich der Protagonist seine Krebserkrankung erklärbar macht und – in einem sehr wörtlichen Sinn – dagegen ankämpft. Zum anderen sind Abwehrreflexe gegen das Fremde auch relevant für das charakteristische und nach Ausweis der Rezeptionsgeschichte besonders interessante Spiel, das im Keiler mit den Konventionen des Kriminalromans getrieben wird.

II Der Keiler verstößt gleich mehrfach gegen Genrekonventionen des Kriminalromans – soweit sich diese überhaupt pauschalisieren lassen. In Mettlers Roman fehlt schon die übliche Frage nach dem whodunit. Es passiert zwar ein Mord, aber dessen Vorbereitung und Ausführung werden von Anfang an ausführlich miterzählt, sodass kein Zweifel über die Identität des Mörders besteht.10 Diese Erzähltechnik ist für Kriminalromane nicht gänzlich ungewöhnlich11 und durch ihre massenmediale Adaption in der Fernsehserie Columbo (1968–1978; 1989– 2003) ist sie auch einem sehr breiten Publikum bekannt. Die dadurch umso stärker betonte Frage nach dem howcatchem, dem »Wie [d]es Findens«,12 wird in Mettlers Roman aber nicht in erwartbarer Weise beantwortet – jedenfalls anders als etwa bei Columbo, wo das Fernsehpublikum mitfiebern und gewissermaßen 9 Vgl. Wirth, Uwe: »Verbrechen auf engstem Raum«. Die Kriminalromane von Dürrenmatt, Glauser und Mettler als kulturgeschichtliche Kronzeugen. In: »KODIKAS / CODE. Ars Semeiotica« 25.1/2 (2002), S. 121–128, hier S. 124–126; Moraldo, Sandro M.: »Von der Natur darf man keine Gerechtigkeit fordern«. Felix Mettlers Kriminalroman »Der Keiler«. In: Moraldo, Sandro M. (Hg.): Mord als kreativer Prozess. Zum Kriminalroman der Gegenwart in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Heidelberg: Winter 2005, S. 169–180; Marsch, Edgar: Die Revolte gegen das Schema. Stationen auf dem Weg zur modernen Schweizer Kriminalerzählung seit Carl Albert Loosli. In: »Quarto« 21/22 (2006), S. 9–27, hier S. 25–26; Rusterholz, Peter: Der Ausbruch aus dem Gefängnis. Wandlungen des Schweizer Kriminalromans. In: »Quarto« 21/22 (2006), S. 29–39, hier S. 37–38. 10 Vgl. Marsch, Edgar: Die Revolte gegen das Schema, S. 25. 11 Als erstes Beispiel hierfür wird Richard A. Freemans The Singing Bone von 1912 genannt (vgl. Leonhardt, Ulrike: Mord ist ihr Beruf. Eine Geschichte des Kriminalromans. München: C.H. Beck 1990, S. 64, 205–215). Je nachdem, wie man das Genre Kriminalroman definiert, ließen sich aber auch ältere Beispiele anführen, etwa Theodor Fontanes Unterm Birnbaum von 1885. 12 Bloch, Ernst: Philosophische Ansicht des Detektivromans. In: Bloch, Ernst: Literarische Aufsätze. Bd. 9. Frankfurt (M.): Suhrkamp 1965, S. 242–263, hier S. 248.

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auch miträtseln darf, welchen Fehler der Mörder oder die Mörderin bei der Ausführung seines oder ihres scheinbar perfekten Verbrechens begangen hat. Denn während Inspektor resp. lieutenant Columbo seine Fälle mit Menschenkenntnis und vor allem mit bestechendem Scharfsinn löst, spielen Hinweise und Spuren bei der Klärung des Falls im Keiler nur eine untergeordnete Rolle. Die beiden Ermittler stellen zwar ihre Beobachtungsgabe unter Beweis und gehen geschickt verschiedenen Indizien nach, diese weisen aber alle in eine falsche Richtung. Dass einer der Ermittler dem Täter letztlich dennoch auf die Spur kommt, ist deswegen nicht den »konventionellen Methoden« (DK, 225) der Polizeiarbeit zu verdanken, sondern einer »Eingebung« während einer Tatort-Meditation;13 ein Vorgehen, das entfernt an Georges Simenons Kommissar Maigret erinnert. Und unabhängig von dem Ermittler mit seinen speziellen Methoden findet auch eine angehende junge Ärztin heraus, wer den Mord begangen hat und weshalb. Ungeachtet dessen und obschon es am Schluss zu einer Versammlung fast aller wichtigen Figuren des Romans kommt, wie sie seit Seeley Regesters The Dead Letter (1867) für Kriminalromane topisch ist14, lässt man den Mörder am Ende unbehelligt nach »Dar-el-Salaam« [sic!] abreisen (DK, 239). Ein Mörder, der ungestraft davonkommt, ist ein Motiv, das zwar gegen die üblichen Erwartungen an einen Kriminalroman verstößt, das sich aber auch in ›klassischen‹ Detektivromanen wie etwa Agatha Christies Murder on the Orient Express (1934) findet. Und für sogenannte hardboiled detectives, die bisweilen als Ermittler und Richter in Personalunion das Gesetz in die eigenen Hände nehmen, ist es gar typisch, dass sie eine Mörderin oder einen Mörder auch einmal laufen lassen, wenn dafür triftige Gründe vorliegen. Ein Beispiel aus dem deutschen Sprachraum wäre Kemal Kayankaya, die Hauptfigur aus Jakob Arjounis Kayankaya-Krimis. Mettlers Roman ist nun aber auch hierin etwas ungewöhnlich. Zum einen lassen gleich mehrere Figuren unabhängig voneinander den Mörder entkommen, und zum anderen sind es keine Figuren, die sich wie ein Privatdetektiv sowieso schon in einer gesetzlichen Grauzone bewegen, sondern eben ein langjähriger Polizist von tadellosem Ruf und eine angehende junge Ärztin. 13 Vgl. Wirth, Uwe: »Verbrechen auf engstem Raum«, S. 126. Die Art der Verbrechungsaufklärung gehört denn auch zu den Kritikpunkten, die ein Rezensent gegen den Roman vorbrachte: »Der [Kommissar] versucht sich meditativ in den möglichen Täter zu versetzen und entdeckt im Wirbel der Assoziationen den wirklichen Tathergang; New Age lässt grüssen« (Howald, Stefan: Nicht ganz ernst zu nehmen). Und für die Verfilmung wurde die Szene dahingehend geändert, dass der Polizist am Tatort keine Eingebung mehr hat, sondern auf eine Zeugin trifft, die ihm einen entscheidenden Hinweis gibt. 14 Vgl. Leonhardt, Ulrike: Mord ist ihr Beruf, S. 44; Alewyn, Richard: Anatomie des Detektivromans. In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München: W. Fink 1998, S. 52–72, hier S. 60.

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Das eigentlich Spannende an Mettlers Keiler sind nun aber nicht diese Genreabweichungen, die sich größtenteils ja auch in anderen Werken finden lassen; wirklich außergewöhnlich ist das bizarre Motiv des Täters. Dieser begeht seinen Mord nicht etwa, um ein entführtes und ermordetes Mädchen zu rächen, wie die Tätergemeinschaft im Orientexpress. Vielmehr soll seine Tat eine Reaktion auf seine Krebserkrankung, eine Art Coping-Strategie sein. Und trotz dieses abstrusen Motivs lässt man ihn nicht etwa davonkommen, weil er – wie beispielshalber der Mörder in Arjounis Happy birthday, Türke! – auf diese Weise mit seiner »sinnlos[en]« Tat »ein Leben lang zu kämpfen haben« wird.15 Er kommt davon, weil diejenigen, die ihm auf die Schliche kommen, sein Motiv anscheinend zumindest ansatzweise nachvollziehen können – jedenfalls so weit, dass sie keine Veranlassung sehen, ihn einer gesetzlichen Strafe zuzuführen.

III Der Protagonist von Mettlers Roman, Gottlieb Sonder, hat Lungenkrebs und musste sich bereits einen Teil des befallenen Organs entfernen lassen. Seine gesundheitlichen Zukunftsaussichten schätzt er pessimistisch ein. Da er als »Autopsiepfleger« (DK, 9) in derselben Klinik arbeitet, wo auch sein entnommener Tumor untersucht wurde, wendet er sich an die junge Doktorandin Pat Wyss, um Genaueres zu erfahren. Und Wyss, jene angehende Ärztin, die ihm später auf die Schliche kommen wird, verschafft ihm Zugang zu seinem klinischen »Bericht […], wo Befund und Prognose festgehalten« sind (DK, 38). Die Überlebensprognose dieses Berichts fällt zwar unter die Leerstellen des Texts, aber sie muss deutlich schlechter sein als die von Wyss ad hoc abgegebene Zweitmeinung: »etwa ….. fünfzig Prozent für die nächsten ….. fünf Jahre« (DK, 42). Sonder hat schwer an seiner gesundheitlichen Situation zu tragen; dabei scheint aber weniger die Angst vor dem Tod eine Rolle zu spielen als die Krankheit an sich: »Ein Knochenbruch, eine Lungenentzündung, ein Herzinfarkt, das ist alles begreifbar, auch Gallensteine oder Diabetes oder Syphilis. Krebs aber hatte für ihn seit jeher etwas Unnatürliches an sich, etwas Dunkles, Perverses.« (DK, 36) Dieses »Dunkle[], Perverse[]« der Krankheit, wie Sonder sie wahrnimmt, lässt sich auf zwei Faktoren herunterbrechen: Unheimlich ist zum einen, dass der Krebs nicht von außen kommt, sondern »ein Teil von« ihm selber ist, »der sich selbständig gemacht« hat (DK, 36). Während sich eine Infektionskrankheit als Kampf gegen einen Eindringling in den eigenen Körper verstehen 15 Arjouni, Jakob: Happy birthday, Türke! In: Arjouni, Jakob: Die Karankaya-Romane. Zürich: Diogenes 2014, S. 7–188, hier S. 188.

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lässt, entzieht sich der Krebs einer solcher Interpretation: »[D]ieses Wissen, daß es eigenes Gewebe war, das sich gegen ihn gewandt hatte, hinderte ihn daran, mit dieser Krankheit gedanklich zurechtzukommen.« (DK, 36) Als ihn ein befreundeter Arzt auffordert, er müsse die »Herausforderung annehmen«, »sich wehren« und »den Kampf nicht vorzeitig verloren geben« (DK, 18), kann sich Sonder deswegen gar nicht vorstellen, wie dieser Kampf aussehen soll: »Dann sagen Sie mir, wie man gegen seinen Körper ankämpft, gegen den eigenen Körper, der einen verrät?« (DK, 21) Zum anderen besteht das »Unnatürliche« seiner Krankheit für Sonder auch darin, dass es ihm zunächst nicht gelingt, den Krebs in eine Art Kausalität einzubetten: »Es muß doch einen Grund geben, daß sich dieser Tumor ausgerechnet bei mir gebildet hat.« (DK, 43) Anscheinend wäre für ihn also genau das wichtig, wogegen Susan Sontag 1977 in ihrem berühmten Aufsatz anschrieb: die »Krankheit als Metapher« zu verstehen, ihr einen Sinn abzugewinnen.16 Das für Krankheiten wohl älteste Narrativ, Krankheit als Strafe (für den eigenen Lebensstil)17, meint Sonder ausschließen zu können: »Ich habe nie Zigaretten geraucht. Früher mal Pfeife, aber Zigaretten nie!« (DK, 44) Offensichtlich hängt er also dem damals und noch heute weitverbreiteten Irrglauben an, Pfeifenrauchen stehe in keinem Verhältnis zu Lungenkrebs, da der Rauch dabei nicht direkt inhaliert werde.18 Neuere Studien zeigen jedoch, dass das Lungenkrebsrisiko bei Pfeifen- und Zigarrenrauchern zwar tatsächlich niedriger ist als bei Zigarettenrauchern, die sich einem zwanzigfach erhöhten Risiko aussetzen, trotzdem aber noch immer fünf bis sechs Mal höher als bei Nichtrauchern.19 Und obwohl Tabakkonsum wirklich für einen sehr hohen Anteil der Lungenkrebserkrankungen ursächlich ist – für ungefähr achtzig bis fünfundachtzig

16 Vgl. Sontag, Susan: Krankheit als Metapher. In: Sontag, Susan: Krankheit als Metapher; Aids und seine Metaphern. München/Wien: Carl Hanser 2003, S. 5–74. 17 Vgl. z. B. ebd., S. 36–39. 18 Dafür war damals schon länger bekannt, dass Pfeifenraucher für andere Krebsformen anfälliger sind, z. B. im Mundraum oder für Nierenkrebs (vgl. Bennington, James L./Laubscher, Frederick A.: Epidemiologic Studies on Carcinoma of the Kidney. I. Association of Renal Adenocarcinoma with Smoking. In: »Cancer« 21.6 (1968), S. 1069–1071; Bennington, James L./ Ferguson, Ben R./Campbell, P. Bruce: Epidemiologic Studies on Carcinoma of the Kidney. II. Association of Renal Adenoma with Smoking. In: »Cancer« 22.4 (1968), S. 821–823). 19 Vgl. z. B. Boffetta, Paolo/Pershagen, Göran/Jöckel, Karl-Heinz/Forastiere, Francesco/Gaborieau, Valerie/Heinrich, Joachim/Jahn, Inge/Kreuzer, Michaela/Merletti, Franco/Nyberg, Fredrik/Rösch, Franz/Simonato, Lorenzo: Cigar and Pipe Smoking and Lung Cancer Risk: A Multicenter Study from Europe. In: »Journal of the National Cancer Institute« 91.8 (1998), S. 697–701; Henley, S. Jane/Thun, Michael J./Chao, Ann/Calle, Eugenia E.: Association Between Exclusive Pipe Smoking and Mortality From Cancer and Other Diseases. In: »Journal of the National Cancer Institute« 96.11 (2004), S. 853–861.

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Prozent –, stellt er natürlich nicht den einzigen Faktor dar.20 Den Einwand, es gebe »noch andere Ursachen«, »[m]an kenn[e] sie nur nicht so genau«, ignoriert Sonder jedoch (DK, 44). Dabei könnte man in seinem Fall tatsächlich noch andere Risikofaktoren finden – sogar solche, die auch schon in den 1990er Jahren bekannt waren –, etwa dass er mit Zürich in einer für Schweizer Verhältnisse sehr großen Stadt lebt und arbeitet, wo er einer erhöhten Luftverschmutzung ausgesetzt ist.21 So oder so, Sonder empfindet seine Erkrankung als »unlogisch« und »ungerecht« (DK, 44), ganz ähnlich wie Sontag es als typisch für Krebskranke beschreibt.22 Diese Ungerechtigkeit belastet ihn schwer, und es fehlt ihm zunächst an einer Bewältigungsstrategie. Eine solche entwickelt er erst im Gespräch mit Wyss, als es ihm schließlich doch noch gelingt, die Krankheit als etwas zu begreifen, wogegen er kämpfen und sich verteidigen kann. Zuerst darf er den Knoten, den man ihm entfernt hat, unter dem Mikroskop betrachten, um sich »ein Bild« zu »machen von dem, was ihn bedroht« (DK, 35). Dabei kann er feststellen, dass der Krebs zwar »[f]remd«, »aber nicht erschreckend« aussieht, »[e]igentlich sogar exotisch schön« (DK, 37). Über die visuelle Beschäftigung mit seiner Krankheit gewinnt er Distanz und betrachtet seinen Tumor »nicht mehr als etwas von ihm Stammendes, vielmehr als etwas Eingepflanztes, dessen Ursprung außerhalb seines Körpers liegen mußte« (DK, 38). Er schafft es aber nicht nur, den Krebs imaginatorisch vom eigenen Körper zu sondern; im weiteren Verlauf des Gesprächs kann er ihn auch in eine Art Narrativ integrieren und ihn so für sich verständlich machen. Der Auslöser dafür ist die etwas verworrene Erklärung von Wyss, dass man »Gerechtigkeit […] von der Natur ohnehin nicht fordern« dürfe und dass »die Krankheit […] etwas Normales« sei, da sie »einen Zustand des Gleichgewichtes« herstelle (DK, 44). Sonder zieht daraus seine eigenen Schlüsse und versteht das »Gleichgewicht« vor allem in einem statistischen Sinn: »Das heißt demnach, ich bin stellvertretend krank für einen starken Raucher«, »für einen starken Raucher, der trotz drei Päckchen am Tag gesund bleibt?« (DK, 45) Um wen es sich bei diesem statistischen Ausreißer handelt, für den er nun den Kopf oder eben die Lunge hinhalten muss, ist ihm sofort klar: »Die tödliche Krankheit« muss eigentlich für seinen verhassten Vorgesetzten, den Oberarzt Horst Götze, »bestimmt gewesen« sein (DK, 47).

20 Vgl. Brettschneider, Grit/Gaisser, Andrea/Harms, Gisela/Hiller, Birgit/Humbert, Klaus-Dieter/Kautzmann, Gabriele/Mertens, Verena/Preszly, Monika/Rolf, Michael/Schüssler, Helga/ Wilcke, Sabine: Thema Krebs. Fragen und Antworten. Hg. von Hilke Stamatiadis-Smidt und Almuth Sellschopp. Berlin: Springer 1993, S. 205; Vereinigung Schweizerischer Krebsregister: Krebs in der Schweiz. Fakten, Kommentare. Biel: Hurtig & Co 1998, S. 30–31. 21 Vgl. z. B. Brettschneider, Grit: Thema Krebs, S. 56–59, 205. 22 Vgl. Sontag, Susan: Krankheit als Metapher, S. 36.

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Darüber hinaus steht für Sonder außer Frage, dass er die Krankheit seines Vorgesetzten nicht aufgrund einer Ungerechtigkeit der Natur bekommen hat; vielmehr sieht er sich als Leidtragenden eines »hinterlistigen Plan[s]«: Fünf Jahre lang hatte Götze ihn schikaniert, ihm Dinge aufgetragen, die er unmöglich termingerecht erledigen konnte, hatte gegebene Aufträge plötzlich bestritten und ihn beim Widerspruch der mangelnden Subordination bezichtigt. Und dann hatte Götze geraucht, unablässig geraucht, Zigarette um Zigarette inhaliert, hatte ihm manchmal den Rauch ins Gesicht geblasen. Mit voller Absicht, legte sich Sonder zurecht. Auf diese Weise mußte Götze den Krankheitskeim auf ihn übertragen haben, nachdem er ihm zuvor schon die Widerstandskraft geraubt hatte. (DK, 47)

Sonder wäre folglich nicht einfach nur ein Opfer des im Roman nie so bezeichneten Passivrauchens23, dessen Gefährlichkeit spätestens seit den 1970er Jahren in der breiten Öffentlichkeit diskutiert wird.24 In seiner Vorstellung hat ihn sein Vorgesetzter bewusst mit einer eigentlich für diesen selber bestimmten Krankheit angesteckt, um ihr zu entgehen. Tatsächlich zeigt sich aber bei Götzes Obduktion, dass dessen Lunge »präkanzerös« ist (DK, 137); ein Umstand, der nur insofern mit Sonders Theorie kompatibel wäre, als Götze ja den »Krankheitskeim« nur auf Sonder übertragen konnte, wenn er ihn selber auch in sich trug. Die krude Mischung aus verschiedenen Erklärungsansätzen wie Passivrauchen, Ansteckungsnarrativ und absichtlich herbeigeführter psychosomatischer Krebsanfälligkeit à la Georg Groddeck25 oder Wilhelm Reich26, die Sonder aufbietet, um sich seine Erkrankung verständlich zu machen, wird zu allem Überfluss noch durch schriftmagische Elemente ergänzt. Denn auch dass Götze Sonders Krankenbericht verfasst und dabei jene Prognose gestellt hat, die Wyss zufolge »eine Fehlbeurteilung« ist, baut Sonder in seine wahnhafte Idee ein: »Und später […] war es Götze, der die Diagnose gestellt, gleichsam das Urteil gesprochen hatte, bewußt ein hartes Urteil. Ein Todesurteil.« (DK, 47) Der zentrale Punkt bleibt aber, dass Sonder den Krebs in die Logik einer Infektionskrankheit überführt: »Der Tumor […] war nun definitiv nicht als eigene Ausgeburt zu betrachten, sondern eben als etwas Fremdes, das auf ihn 23 Dafür geht der Autor einmal in einem Kommentar zu seinem Roman auf das Thema ein (vgl. Mettler, Felix: Die Psychologie im Kriminalroman. In: Marsch, Edgar (Hg.): Im Fadenkreuz. Der Neue Schweizer Kriminalroman. Zürich: Chronos 2007, S. 89–98, hier S. 93). 24 Vgl. z. B. Die verqualmte Atemluft und das Passivrauchen. In: »Die Tat« vom 10. März 1971; Fischer, Toni: Passivrauchen und Gesundheit. In: »Die Tat« vom 3. Dezember 1976. Zuvor waren die Gefahren des Passivrauchens schon ein Thema in der Gesundheitsfürsorge unter dem Nationalsozialismus (vgl. Lickint, Fritz: Tabak und Organismus. Handbuch der gesamten Tabakkunde. Stuttgart: Hippokrates 1939, S. 260–265). 25 Vgl. Groddeck, Georg: Das Buch vom Es. Psychoanalytische Briefe an eine Freundin. Leipzig/ Wien/Zürich: Internationaler Psychoanalytischer Verlag 1923, S. 110–116. 26 Vgl. Reich, Wilhelm: Der Krebs. Bd. 2: Die Entdeckung des Orgons. Köln: Kiepenheuer und Witsch 1974.

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übertragen worden war.« (DK, 48) Durch diese Umdeutung hat Sonder einen »Feind«, gegen den er den »Kampf auf[]nehmen« kann (DK, 48). Anders als in einem der berühmtesten Schweizer Beiträge zur Literaturgeschichte des Krebses, Mars (1977) von Fritz Angst alias Fritz Zorn27, wo die Schuld für die Erkrankung an einem malignen Lymphom dem gesamten großbürgerlichen Zürcher Herkunftsmilieu angelastet wird, gibt es hier also nur einen Schuldigen. Anstatt sich gegen eine nicht fassbare Erkrankung zur Wehr zu setzen oder sich an den gesellschaftlichen Verhältnissen abzuarbeiten, nimmt Sonder den »Verteidigungskampf« gegen die Person auf (DK, 53), die seiner Meinung nach die Krankheit hinterhältigerweise auf ihn übertragen hat, »um aus seinem Körper eigenes Leben zu schöpfen« (DK, 47). Er beschließt, diesen »Parasiten« (DK, 119) »unschädlich [zu] machen« (DK, 64), den er zudem als widerliches Tier, als »bösartige Spinne« imaginiert (DK, 48) – wohl als Versuch, die innerartliche Tötungshemmung zu unterlaufen.28 Um aus seinem Akt der »Notwehr« (DK, 119) zusätzlich einen, in seiner Wahrnehmung, »gerechte[n] Kampf« zu machen, verwendet er eine pfeilartige »Injektionsspritze« und ein Blasrohr als Tatwaffe, sodass er buchstäblich seine letzten Lungenkräfte mobilisieren muss (DK, 51–52). Er lauert dem verhassten Vorgesetzten in einem Wald auf und bringt ihn hinterrücks um. Da er jedoch am Tatort gesehen wird, weicht er etwas von seinem ursprünglichen Plan ab: Er deponiert die Leiche kurzerhand im Kofferraum des leitenden Professors Bäni, vor dessen Haus er denn auch gleich noch den Wagen seines Opfers abstellt; zwei Schachzüge, die in der Folge so viel Verwirrung stiften, dass die Polizei eben die längste Zeit falschen Fährten folgt.

IV Obwohl der Mörder also ein reichlich wirres Motiv hat und bei seiner Tat nicht gerade zimperlich vorgeht, baut der ganze Roman und sein Happy End darauf auf, dass die Lesenden mit dem Täter sympathisieren und mehr oder weniger hoffen, dass er nicht gefasst wird. Um dem Lesepublikum eine solche Identifikation mit einem Täter zu ermöglichen, der sein Opfer aus einem völlig abstrusen Grund umbringt, fährt der Text eine gehörige Portion Sympathielenkung auf, die nach Ausweis der Rezeptionsgeschichte ihren Zweck nicht verfehlt.29 27 Zorn, Fritz: Mars. »Ich bin jung und reich und gebildet; und ich bin unglücklich, neurotisch und allein…« München: Kindler 1977. 28 Vgl. z. B. Fromm, Erich: Anatomie der menschlichen Destruktivität. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1974, S. 109–110. 29 Vgl. z. B. Eichmann-Leutenegger, Beatrice: David und Goliath in der Klinik St. Stephan; Haffner, Peter: Ein gerechter Mörder. In: »Basler Zeitung« vom 16. März 1990; mst.: Sympa-

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Die positive Besetzung fängt schon bei Gottlieb Sonders Namen an, aus dem man leicht den liebenswerten Sonderling heraushört. Der imperativischen Bedeutung seines Vornamens wird er zwar nicht gerecht, der Grund für seine fehlende Liebe zu Gott zielt aber auf das Mitgefühl der Lesenden: Ähnlich geprüft wie Hiob, aber nicht ganz so standhaft wie dieser, ist er vom Glauben an Gott abgefallen, weil der ihm – mit der etwas seltsamen Formulierung des Romans – »in seiner Allmacht das Kind« »und dann auch noch die Frau« genommen hat (DK, 157). Dafür ist der zweite Teil von Sonders religiös befrachtetem Vornamen umso passender. Obwohl er früher gerne auf die Jagd ging, ist er beispielsweise ausgesprochen tierlieb. So hat er seinen ehemaligen Beruf als Metzger aufgegeben, da man den Tieren in den großen Schlachthöfen »ihre Würde« nicht lässt (DK, 20); außerdem wird sehr ausführlich erzählt, dass er zwei fremde Katzen aus seiner Nachbarschaft füttert (vgl. DK, 53–54). Seine Tierliebe wird denn auch erwidert. Wyss’ Hund »Hercule« – der seinen Namen vielleicht nicht zufällig mit einer der berühmtesten Spürnasen der Kriminalliteratur teilt, mit Agatha Christies Hercule Poirot – möchte sofort mit Sonder Ball spielen (DK, 107). Und für die, die es noch nicht begriffen haben, hat seine Besitzerin eigens zu erklären, der Hund habe »ein unfehlbares Gespür für Menschen« und wähle sich »zum Spielen nur sympathische Leute« aus (DK, 107). »[B]escheiden« (DK, 224), wie Sonder selbstverständlich zu sein hat, macht ihn dieses »Kompliment« »verlegen« (DK, 107). Des Weiteren ist er ein fast schon aufdringlich guter Gast. Als er bei Wyss eingeladen ist, räumt er »das Geschirr in die Küche« und will auch »gleich mit dem Abwasch beginnen« (DK, 111). Dass »es dafür ja Maschinen« gibt (DK, 111), daran denkt er gar nicht, schließlich ist er so genügsam, dass er nicht einmal angesichts seines nahenden Endes auf die Idee kommt, sich »teure Dinge zu kaufen« (DK, 46). Dafür hat es ihm seine »Genügsamkeit« erlaubt, größere Reisen zu unternehmen, und auch hier wird wieder seine sympathische Bescheidenheit unterstrichen: »Er reist[], um zu erleben, um zu erfahren, um zu vergessen, und nicht, um mit beeindruckenden Berichten aufwarten zu können.« (DK, 51) Trotzdem sind im Roman alle, die mit Sonder ein längeres Gespräch führen, von seinen »eindrucksmächtige[n]« (DK, 116) und »eindrucksstarke[n] Schilderungen« (DK, 226), seinen »[b]emerkenswerte[n] Gedanken« »verblüfft« (DK, 23), »beeindruckt« (DK, 114, 215, 224), »ergriffen« (DK, 114). Wyss glaubt, aus seinen Reden spreche »Erkenntnis, Weisheit« (DK, 116); und dem Polizisten, der ihm letztlich auf die Schliche kommt, scheint es bei einem Gespräch mit Sonder, »als thien für den Mörder und dessen absurde Untat. In: »Appenzeller Zeitung« vom 29. März 1990; Anonymus: Die Rache des Keilers. In: »Der Spiegel« vom 2. April 1990, S. 289; Müller, Wenzel: Chefarzt in Bedrängnis. In: »Ärzte Woche« vom 30. Mai 1990, S. 38; Omlin, Sybille: Mord und Moral: ungewohnt betrachtet; Moraldo, Sandro M.: »Von der Natur darf man keine Gerechtigkeit fordern«, S. 169; Rusterholz, Peter: Der Ausbruch aus dem Gefängnis, S. 38.

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würde er den Mann seit vielen Jahren schon kennen« (DK, 224). Alles in allem also ein Mörder, den man mögen muss. Sonders Opfer dagegen wird als durch und durch unsympathisch dargestellt. Von den ermittelnden Polizisten nach ihm befragt, äußert sich niemand »besonders positiv über Götze« (DK, 128). »Hinterlistig, ekelhaft« (DK, 231), »egoistisch, undifferenziert« (DK, 39), laut (vgl. DK, 221) und »aggressiv« (DK, 226, 231) soll er gewesen sein, ein »rücksichtslose[r] Egoist« (DK, 161), gegenüber seinem Vorgesetzten jedoch von einer »penetranten Unterwürfigkeit« (DK, 99) – kurz: ein autoritärer Charakter par excellence.30 Getrieben von »krankhafte[m] Ehrgeiz« (DK, 110; vgl. 133–134, 163) sei er gewesen und »besessen von der Arbeit«, ein »›workaholic‹« (DK, 124), der »kein anderes Interesse als seine Karriere« hatte (DK, 71). Pat Wyss stört sich außerdem daran, dass es für ihn als Arzt »nur interessante Fälle« gab, »nie jedoch Patienten« (DK, 161) – was einen aber, wenn man ehrlich ist, bei einem Pathologen, der sich vornehmlich mit Toten und mit Gewebeproben beschäftigt, wenig verwundern muss. Privat scheint Götze ebenfalls kein sehr umgänglicher Mensch gewesen zu sein. Mit seiner geschiedenen Frau, die es bei der Begräbnisfeier denn auch etwas an Pietät fehlen lässt (vgl. DK, 156, 165), war er »zerstritten« (DK, 75). Seit über zwei Jahren hatte er weder Kontakt zu ihr noch zu ihrem Kind, das nicht von Götze ist – wie sich bei einem von ihm »mehr aus Bosheit« angestrengten Vaterschaftstest herausgestellt hat (DK, 123). Auch sonst gibt es keine Hinterbliebenen, mit denen die Lesenden besonderes Mitgefühl haben müssten. Zum Begräbnis erscheinen nur »wenige[] Leute« (DK, 155). Neben einem Mann, der »ein Bruder des Verstorbenen sein könn[te]« und nur nebenher erwähnt wird (DK, 156), offenbar nur Arbeitskollegen und -kolleginnen, wovon die meisten eher widerwillig dort sind. Eine Laborantin hat sich gar geweigert zu kommen (vgl. DK, 156), und von den Anwesenden »kicher[n]« zwei während der Totenrede (DK, 162). Auch die Art des einzigen privaten zwischenmenschlichen Kontakts von Götze, der im Buch zum Thema wird, ist nicht dazu angetan, Sympathie aufzubauen. Im Lauf der Ermittlungen stellt sich nämlich heraus, dass er alle zwei Wochen eine Prostituierte besuchte (vgl. DK, 180). Diese »zierliche Asiatin« soll »eher ein[em] Kind« gleichen und dadurch den »Beschützerinstinkt« wecken (DK, 179–180). Der so in die Nähe von Pädophilie gerückte Götze wird des Weiteren äußerlich als ziemlich grotesk beschrieben: Er ist »kleingewachsen« (DK, 15) und »großköpfig«, »ein embryonenhaftes Ungeheuer«, das »Abscheu« erweckt (DK, 39). Er hat »weiche, feuchte« Hände (DK, 16), und bei der Untersuchung seiner Leiche zeigt sich, dass er »an Rücken und Hintern« »unreine[] 30 Vgl. z. B. Fahrenberg, Jochen: Autoritärer Charakter. In: Wirtz, Markus Antonius (Hg.): Dorsch. Lexikon der Psychologie. Bern: Hogrefe 2017, S. 231.

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Haut« hat (DK, 122) – eine unappetitliche Information, die allem Anschein nach erklären soll, weshalb niemand an der Leiche die Einstichstelle des vergifteten Projektils bemerkt. Auch die eigentliche Tat, die Mettler selber in einem Artikel zur Psychologie im Kriminalroman als »unblutigen Mord«31 hervorgehoben hat, wird so erzählt, dass es für die Lesenden desto einfacher ist, mit dem Täter zu sympathisieren. So soll Sonder bei seiner Tat von »heilige[m] Zorn« getrieben sein (DK, 61; Hervorhebung – H.A.), also von einem Zorn, der göttlich legitimiert ist oder von Gott selber kommt. Und um dem trotz allem feigen und hinterlistigen Akt etwas seine Abscheulichkeit zu nehmen, werden im Roman verschiedene Vergleiche angestellt, welche die Tat nachträglich in ein positives Licht rücken. Wyss erinnert Götzes Begräbnis an einen »Wildwest-Film«: Der »Bösewicht wird zu Grabe getragen«, während der »Mörder, ein harmloser Bürger, dem viele gerne Beifall zollen würden, […] unerkannt in der Menge« steht (DK, 164). Und der ältere der beiden Ermittler, Häberli, zieht einmal eine Parallele zu einem Fall, den er in einer kriminologischen Zeitschrift gelesen hat: Bei dem Fall wurde der Direktor einer Waffenfabrik von einem Arbeiter getötet, weil dieser herausgefunden hatte, dass die Firma Waffenbestandteile an ein »diktatorische[s] Regime in Mittelamerika« geliefert hatte (DK, 175). Häberli schließt seine Schilderung mit einem Kommentar ab, dessen Clou anscheinend darin bestehen soll, dass der Ermittler damit unwissentlich der Lösung seines eigenen Falls sehr nahe kommt:32 »Wie hätte man da auf den kleinen Freiheitskämpfer stoßen sollen, der fernab vom Geschehen gehandelt hatte, um seine Ehre wiederherzustellen?« (DK, 175) Mit ›Freiheitskampf‹ ist Sonders Tat zudem dadurch assoziiert, dass er das verwendete Pfeilgift am Orinoco-Fluss von einem »ehemalige[n] Guerillakämpfer« erhielt (DK, 52), von einem »einsamen Kämpfer gegen das Böse« (DK, 64). »Freiheitskämpfer«; »einsame[r] Kämpfer gegen das Böse«; »harmloser Bürger«; Auflauern im Wald; tödliches Geschoß – zusammen mit den ganzen Motiven, die ihm erzählerisch angelagert werden, erinnert Sonders Mord an das wahrscheinlich berühmteste Schweizer Tötungsdelikt, und damit an eine Tat, deren positive Deutung oder Idealisierung ihre Hinterhältigkeit fast gänzlich überlagert. Gemeint ist natürlich Wilhelm Tells Tyrannenmord.33 Kaum zufällig soll Sonder gar eine »Armbrust« als Tatwaffe ins Auge fassen – wenn auch die Armbrust, die er besitzt, zugegebenermaßen nicht besonders schweizerisch ist, »eine Armbrust aus Thailand« (DK, 50–51).

31 Mettler, Felix: Die Psychologie im Kriminalroman, S. 94. 32 Vgl. ebd. 33 Der Bezug wurde denn auch in einer Rezension hergestellt (vgl. Opitz, Hellmuth: Tell’s Geschoss, in: »TIPS« 5 (1990), S. 56).

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Passend dazu, dass Tell einem landesfremden Menschenschinder auflauert und diesen tötet, ist auch Götze relativ deutlich als Nicht-Schweizer erkennbar. Allein schon sein Name bzw. seine Namen sind mit nationaler Alterität markiert. Der Nachname – dessen im Roman einmal zum Thema gemachte negative appellativische Bedeutung34 in einem antagonistischen Verhältnis zum ersten Teil von Sonders Vornamen steht, Gottlieb, – hat eine für Schweizer Verhältnisse ungewöhnliche Lautung: ohne oberdeutsche Apokope. Nicht umsonst lässt denn auch Max Frisch in Homo faber einen ›typischen‹ Deutschen mit dem Nachnamen »Hencke« auftreten.35 Besonders markant tritt die lautliche Besonderheit von Götzes Nachnamen zutage, wenn man ihn neben die dialektale Kurzform von Sonders Vornamen hält: »Göpf« (DK, 56). Die Ähnlichkeit der beiden Namen ist kein Zufall. Der Familienname Götze geht auf ›Götz‹ als Kurzform von Gottfried zurück.36 Während der Familienname ›Götz‹ denn auch in einigen Schweizer Gemeinden zu den ›alteingesessenen Geschlechtern‹ gehört37, verzeichnet das Familiennamenbuch der Schweiz (1989), das sich auf Zahlen von 1962 stützt, nur gerade fünf Gemeinden, in denen Familien mit dem Namen ›Götze‹ über das Bürgerrecht verfügen, und diese erhielten es allesamt erst im Lauf des 20. Jahrhunderts.38 Der Name ›Götze‹ hebt sich damit sowohl lautlich wie auch hinsichtlich seiner Verbreitung deutlich von den zahlreichen typischen Schweizer Namen in Mettlers Keiler ab: Wyss (mit Ypsilon als Schriftzeichen für das geschlossene lange [i:]39); Bäni, Leubi, Häberli und Zimmerli ( je mit hochalemannischem Diminutivsuffix40); Zurbuchen (mit agglutinierter Präposition41);

34 Professor Bäni gibt einmal unfreiwillig einen zweideutigen Trinkspruch zum Besten: »Alle Götter sollen leben, […] [n]ieder aber mit allen heidnischen Götzen!« (DK, 202). 35 Frisch, Max: Homo faber. Ein Bericht. In: Frisch, Max: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge. Bd. 4. Hg. von Hans Mayer. Frankfurt (M.): Suhrkamp 1986, S. 5–203, hier S. 22. Hervorhebung – H.A. Vgl. Elsaghe, Yahya: Max Frisch und das zweite Gebot. Relektüren von »Andorra« und »Homo faber«. Bielefeld: Aisthesis 2014, S. 172–173. 36 Vgl. z. B. Kohlheim, Rosa/Kohlheim, Volker: Duden Familiennamen. Herkunft und Bedeutung. Mannheim: Dudenverlag 2005, S. 285, s.v. ›Götz(e)‹. 37 Meier, Emil/Meier, Clothilde/Hänni, Fred D./Mohr, Stephan/Mohr, Claudia: Familiennamenbuch der Schweiz. Bd. 1. Zürich: Schulthess 1989, S. 685–686, s.v. ›Götz‹. Als ›alteingesessene Geschlechter‹ gelten im Familiennamenbuch der Schweiz Familien, die schon vor 1800 das jeweilige Bürgerrecht hatten. 38 Ebd., S. 686, s.v. ›Götze‹. 39 Vgl. Kully, Rolf Max: Form und Inhalt der Deutschschweizer Familiennamen. In: Hengst, Karlheinz/Krüger, Dietlind (Hg.): Familiennamen im Deutschen. Erforschung und Nachschlagewerke. [Halbband 1:] Deutsche Familiennamen im deutschen Sprachraum. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2009, S. 365–392, hier S. 368. 40 Vgl. ebd., S. 373–374. 41 Vgl. ebd., S. 376.

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Rusterholz (im Raum Zürich seit dem Beginn des 15. Jahrhunderts belegt42), Thalmann (zählt in einigen Zürcher Gemeinden zu den häufigsten Namen43), Arpagaus (ein rätoromanischer beziehungsweise surselvischer Name, der auf den stereotyp-schweizerischen Beruf des Alphirten zurückgeht44), Sonder (eine rätoromanische Variante des Namens Alexander45) oder auch Bernasconi (der häufigste Name im Kanton Tessin und immerhin so typisch schweizerisch, dass ihn die Musterkundin der PostFinance trägt, Maria Bernasconi, das firmeneigene Pendant zu Max Mustermann). Für die Verfilmung des Romans als schweizerisch-deutsche Koproduktion wurden denn auch die Namen vieler Figuren angepasst, weil die »deutschen Partner dann doch zu viele -lis und -is nicht so mochten«46, obwohl auch der Film in Zürich spielt; so wurde aus Bäni Bernbeck und aus Häberli Horak sowie, für die hochdeutsche Variante des Films, aus Zimmerli Zimmer und aus Wyss Weiß. Dass man für die Verfilmung auch Sonder umbenannte, nämlich in Binder, hat dagegen nichts mit der regionalen Herkunft des Namens zu tun; man wollte bei dieser »sonderbar[en]« Figur einfach nicht zu stark »mit dem Zaunpfahl« winken.47 Neben seinem Nachnamen ist auch Götzes Vorname mehr oder weniger direkt mit Deutschland assoziiert.48 So teilt er ihn nicht nur mit dem wohl bekanntesten aller deutschen Tatort-Kommissare, Horst Schimanski, der ja ausgerechnet von einem Götz (George) verkörpert wurde, sondern auch mit Horst Wessel. Als eine zentrale ideologische Figur des Nationalsozialismus war dieser Horst dafür verantwortlich, dass der Vorname im Dritten Reich deutlich an Beliebtheit zulegte; gegenüber 1929 verdreifachte sich der prozentuale Anteil bis 1940 auf 2,7 Prozent der männlichen Neugeborenen, danach ging die Beliebtheit wieder markant zurück.49 42 Vgl. Schobinger, Viktor/Egli, Alfred/Kläui, Hans: Zürcher Familiennamen. Entstehung, Verbreitung und Bedeutung der Namen alteingesessener Zürcher Familien. Zürich: Zürcher Kantonalbank 1994, S. 139, s.v. ›Rusterholz‹. 43 Vgl. Die Post: Nachnamen pro PLZ. URL: https://swisspost.opendatasoft.com/explore/datase t/nachnamen_proplz/table/?disjunctive.plz&disjunctive.sexcode&disjunctive.nachname&di sjunctive.rang&disjunctive.ortbez18&sort=stichdatum&q=Thalmann / letzter Zugriff am 7. Januar 2020. 44 Planta, Robert v./Schorta, Andrea: Rätisches Namenbuch. Bd. 3: Die Personennamen Graubündens. Mit Ausblicken auf Nachbargebiete. Hg. von Konrad Huber. Teil 1: Von Rufnamen abgeleitete Familiennamen. Bern: Francke 1986, S. 684, s.v. ›Arpagaus‹. 45 Ebd., S. 62, s.v. ›Alexander‹. 46 Egger, Urs: Audiokommentar, in: Tod eines Keilers. Ein Film von Urs Egger. DVD. Kinowelt 2008, Min. 44:20. 47 Ebd., Min. 4:08. 48 Vgl. Ziauddin, Bruno: Grüezi Gummihälse. Warum uns die Deutschen manchmal auf die Nerven gehen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch 2008, S. 19. 49 Vgl. Wolffsohn, Michael/Brechenmacher, Thomas: Die Deutschen und ihre Vornamen. 200 Jahre Politik und öffentliche Meinung. München/Zürich: Diana 1999, S. 208, 228–233.

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Götzes Vor- und Nachname sind nicht die einzigen Hinweise auf seine Herkunft aus Deutschland. Um zu illustrieren, dass der verschwundene Arzt genussunfähig und sicher kein »Feinschmecker« ist (beziehungsweise zu dem Zeitpunkt bereits: war), gibt sein Vorgesetzter einmal zu Protokoll: »Er ist mit Knödeln, Wurst und Bier restlos zufrieden« (DK, 80). Erstens sind Knödel ein für die Schweizer Küche vergleichsweise ausgefallenes Gericht, wird die Schweiz doch gar als »knödelfreie Zone« bezeichnet.50 So findet sich beispielshalber im »interkantonalen Lehrmittel für den Hauswirtschaftsunterricht« Tiptopf kein entsprechendes Rezept – sowohl damals wie heute (während internationale Klassiker wie Spaghetti alla carbonara, Paella oder Chili con Carne vertreten sind51). Zweitens gelten Knödel in der Schweiz als typisch (süd-)deutsch oder österreichisch. Als etwa der Großverteiler Migros 2018 über hundert »deutsche Lieblingsprodukte« neu ins Sortiment aufnahm, darunter auch eine KnödelFertigmischung, wählte die Boulevardzeitung »Blick« kaum zufällig genau dieses Produkt für einen Artikeltitel: Wegen vielen Deutschen. Migros bringt Knödel und Kohlrouladen.52 Und die Assoziation mit Deutschland ist natürlich umso enger in der Kombination mit »Wurst und Bier«, die ihrerseits klischeehaft für Deutschland stehen können53, wie Nahrungs- und Genussmittel ja überhaupt für die Aushandlung von (nationaler) Identität und Alterität eine besondere Rolle spielen.54 Dass mit »Wurst, […] Käse, […] Bier, Milch und Äpfel[n]« eine sehr ähnliche Kombination bei Sonder ganz anders bewertet wird – nicht als Beweis für dessen Genussunfähigkeit, sondern als Teil und Ausdruck seiner besonderen »Genügsamkeit« (DK, 46) –, ist zudem ein sehr schönes Beispiel für das, was Freud den »Narzissmus der kleinen Differenzen« nannte.55 50 Graber, Hans: Sag mir, wo die Knödel sind. In: »Berner Zeitung« vom 18. November 2011. 51 Vgl. Affolter, Ursula/Felder, Rosmarie/Jaun, Monika/Keller, Marianne/Schmid, Ursula: Tiptopf. Interkantonales Lehrmittel für den Hauswirtschaftsunterricht. Bern: Interkantonale Lehrmittelzentrale und Staatlicher Lehrmittelverlag 1986, S. 107–108, 211. 52 Anonymus: Wegen vielen Deutschen. Migros bringt Knödel und Kohlrouladen. URL: https:// www.blick.ch/news/wirtschaft/wegen-vielen-deutschen-migros-bringt-knoedel-und-kohl rouladen-id1911955.html / letzter Zugriff am 15. Dezember 2019. 53 Vgl. z. B. Zeidenitz, Stefan/Barkow, Ben: Die Deutschen pauschal. Frankfurt (M.): Fischer 1997, S. 67–69; Pöhlmann, Wolfger: Es geht um die Wurst. Eine deutsche Kulturgeschichte. München: Knaus 2017, S. 21–23; Heinzelmann, Ursula: Beyond Bratwurst. A History of Food in Germany. London: Reaktion Books 2014. 54 Vgl. z. B. Garine, Igor de: Views about Food Prejudice and Stereotypes. In: »Social Science Information« 40.3 (2001), S. 487–507; Bizeul, Yves: Gustatorische Symbole in der Politik. In: Lutz-Auras, Ludmila/Gottschlich, Pierre (Hg.): Aus dem politischen Küchenkabinett. Eine kurze Kulturgeschichte der Kulinarik. Baden-Baden: Nomos 2013, S. 23–49, hier S. 41–44; Barlösius, Eva: Soziologie des Essens. Eine sozial- und kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2016, S. 158–178. 55 Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur. In: Freud, Sigmund: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Bd. 14: Werke aus den Jahren 1925–1931. Hg. von Anna Freud, Edward, Bibring und Ernst Kris. London: Imago und Frankfurt (M.): Fischer 1948 (Nach-

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Zu den Hinweisen auf Götzes Herkunft gehört es möglicherweise auch, dass seine geschiedene Frau »deutsch mit slawischem Akzent« spricht (DK, 123; Hervorhebung – H.A.), allem Anschein nach also nicht »[s]chweizerdeutsch« (DK, 12; Hervorhebung – H.A.). Auf jeden Fall dürfte die osteuropäische Herkunft von Götzes Ex-Frau überdies wiederum Teil der Sympathielenkung sein; nicht zuletzt in Kombination mit Götzes Bordellbesuchen wird hier das Stereotyp einer sogenannten Katalogehe aufgerufen.56 Die also verschiedentlich angedeutete Herkunft aus Deutschland passt sehr genau zu Götzes beruflichen Tätigkeiten. Als Arzt und Universitätsdozent ist er in gleich zwei Berufsfeldern tätig, in denen in der Deutschschweiz überproportional viele Deutsche arbeiten; so wird denn auch in einer humoristischen Publikation zur Schweizer Abneigung gegen Deutsche behauptet, »der deutschschweizerische Kulturkampf tobe nirgends heftiger als an unseren [den Schweizer] Krankenhäusern und Universitäten«.57 Bereits bei den Gründungen der Universitäten Zürich (1833) und Bern (1834) wurden fast nur deutsche Professoren berufen.58 Und kurz vor dem Ersten Weltkrieg stammten von den Professoren in der Schweiz – zu denen damals mit der Berner Philosophin Anna Tumarkin auch eine Professorin gehörte – vierzehn Prozent aus Deutschland.59 1990 war der Anteil zwischenzeitlich zwar nicht mehr ganz so groß, aber immerhin hatten damals sieben Prozent des wissenschaftlichen Personals der Schweizer Universitäten die deutsche Staatsangehörigkeit.60 Unter der Schweizer Ärzteschaft war der Anteil deutscher Ärzte und Ärztinnen seinerzeit zwar nur etwa halb so groß;61 da sich die Zahlen aber auf die gesamte Schweiz beziehen, muss der Anteil in der Deutschschweiz und insbesondere im Raum Zürich un-

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druck Frankfurt (M.): Fischer 1999), S. 419–506, hier S. 474. Zur Rolle eines unterschwelligen Selbsthasses für die Schweizer Antipathie gegenüber Deutschland vgl. z. B. Kreis, Georg: Von der Anlehnung zur Abgrenzung. Schweizerische Beziehungen zu Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. In: Kreis, Georg: Vorgeschichten zur Gegenwart. Ausgewählte Aufsätze. Bd. 3. Basel: Schwabe 2005, S. 452–470, hier S. 470. Vgl. z. B. Niesner, Elvira: Mythos und Wirklichkeit auf einem bikulturellen Heiratsmarkt. In: Frieben-Blum, Ellen/Jacobs, Klaudia/Wießmeier, Brigitte (Hg.): Wer ist fremd? Ethnische Herkunft, Familie und Gesellschaft. Opladen: Leske + Budrich 2000, S. 163–181. Ziauddin, Bruno: Grüezi Gummihälse, S. 84. Vgl. z. B. Vuilleumier, Marc: Ausländer. In: Stiftung Historisches Lexikon der Schweiz (Hg.): Historisches Lexikon der Schweiz. Bd. 1. Basel: Schwabe 2002, S. 582–589, hier S. 583. D’Amato, Gianni: Erwünscht, aber nicht immer willkommen. Die Geschichte der Einwanderungspolitik. In: Müller-Jentsch, Daniel (Hg.): Die neue Zuwanderung. Die Schweiz zwischen Brain-gain und Überfremdungsangst. Zürich: Neue Zürcher Zeitung 2008, S. 27–44, hier S. 31. Vgl. Bundesamt für Statistik (Hg.): Internationalität der Schweizer Hochschulen. Studierende und Personal: eine Bestandesaufnahme. Neuenburg: Bundesamt für Statistik 2005, S. 63, 65. URL: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/kataloge-datenbanken/publikation en.assetdetail.342033.html / letzter Zugriff am 17. Januar 2020. Freundliche Auskunft von Michael Moser, Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement, Staatssekretariat für Migration, vom 7. Februar 2020.

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gleich größer gewesen sein. Heute stammen übrigens neunzehn Prozent der Ärztinnen und Ärzte in der Schweiz aus Deutschland.62

V Für die schweizerische Mentalität ist es nicht untypisch, dass Götze als Teil der Sympathielenkung allem Anschein nach aus jenem Nachbarland zu kommen hat, das in der Schweiz auf der Beliebtheitsskala konstant zuunterst rangiert.63 So wird es denn auch kein Zufall sein, dass Götzes negative Figurenzeichnung genau mit dem stereotypen Bild ›des hässlichen Deutschen‹ übereinstimmt64, wie es in der Schweiz seit den 1930er Jahren immer wieder aufgerufen wird, zuletzt besonders intensiv zwischen 2007 und 2010, als die starke Zuwanderung aus Deutschland auf ein fremdenfeindliches Echo in den Schweizer Medien stieß.65 Insbesondere Götzes als verbissen wahrgenommener beruflicher Ehrgeiz, seine Rücksichtslosigkeit, seine Arroganz und seine Autoritätshörigkeit sind Eigenschaften, die in der Schweiz als ›typisch deutsch‹ gelten und gerne zur Legitimierung von Antipathie gegen deutsche Immigranten und Immigrantinnen ins Feld geführt werden.66 Für die negative Bewertung des beruflichen Ehrgeizes 62 Vgl. Hostettler, Stefanie/Kraft, Esther: Wenig Frauen in Kaderpositionen. FMH-Ärztestatistik 2018. In: »Schweizerische Ärztezeitung« 100.12 (2019), S. 411–416, hier S. 414. 63 Vgl. Frei, Daniel/Meier, Werner/Saxer, Ulrich: Die Schweiz und ihre Nachbarn. Bericht über die im Rahmen der Pädagogischen Rekrutenprüfungen 1981 durchgeführte Befragung. Aarau/ Frankfurt (M.)/Salzburg: Sauerländer 1983, S. 46–47; Kreis, Georg: Pauschal über andere reden – Die schweizerischen Medien und die »Deutschenfrage« in den Jahren 2007–2010. In: Brunner, José/Nachum, Iris (Hg.): »Die Deutschen« als die Anderen. Deutschland in der Imagination seiner Nachbarn. Göttingen: Wallstein 2012, S. 188–212, hier S. 188–189. 64 Zum Stereotyp des ›hässlichen Deutschen‹ vgl. z. B. Stiepel, Anna: Der »hässliche Deutsche«. Kontinuität und Wandel im medialen Außendiskurs über die Deutschen seit dem Zweiten Weltkrieg. Frankfurt (M.): P. Lang 2011, S. 17–65. 65 Vgl. Eidg. Kommission gegen Rassismus: Medienmitteilung vom 27. März 2009: Fremdenfeindlichkeit gegen Deutsche. URL: https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medi enmitteilungen.msg-id-26130.html / letzter Zugriff am 4. Januar 2020; Kreis, Georg: Pauschal über andere reden – Die schweizerischen Medien und die »Deutschenfrage« in den Jahren 2007–2010; Imhof, Kurt: »Die Schweiz wird deutsch«. Eine Medienanalyse. In: Müller-Jentsch, Daniel (Hg.): Die neue Zuwanderung. Die Schweiz zwischen Brain-gain und Überfremdungsangst. Zürich: Neue Zürcher Zeitung 2008, S. 165–181. 66 Vgl. z. B. Zeidenitz, Stefan/Barkow, Ben: Die Deutschen pauschal, S. 22, 26, 90; Gamper, Michael: Immer wieder Schwabenkrieg! Warum die Schweizer beim Sport den Deutschen nicht die Daumen drücken. In: Altwegg, Jürg/Weck, Roger de (Hg.): Kuhschweizer und Sauschwaben. Schweizer, Deutsche und ihre Hassliebe. München: Nagel & Kimche 2003, S. 106– 119, hier S. 114, 117; Imhof, Kurt: »Die Schweiz wird deutsch«, S. 172; Ziauddin, Bruno: Grüezi Gummihälse, S. 20–22, 60–83; Eser Davolio, Miryam/Tov, Eva: Was passiert, wenn Deutsche in der Schweiz arbeiten? In: Eser Davolio, Miryam/Tov, Eva/Meyer, Pascale: Deutsche in der Schweiz – Ähnlich und doch verschieden. Wien: Lit Verlag 2012, S. 14–73, hier S. 20, 36–45.

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dürfte es dabei nicht unwichtig sein, dass die oftmals gut ausgebildeten Einwanderer und Einwanderinnen aus Deutschland verstärkt als Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt wahrgenommen werden, während sich die Schweizer Immigrationspolitik seit 1945 sonst vor allem auf wenig qualifizierte Arbeitskräfte konzentrierte, denen gegenüber ein Superioritätsgefühl vorherrschte.67 Neben der fast schon mörderisch unheimlichen Art und Weise, auf die hier die schweizerischen Aversionen gegen die nördlichen Nachbarn für die Lenkung der Lesersympathie fruchtbar gemacht werden, ist Götzes angedeutete nationale Alterität auch anderweitig bezeichnend. Wenn Sonder nämlich seinen nicht umsonst »[f]remd« und »exotisch schön« (Hervorhebung – H.A.) aussehenden Krebs für sich begreifbar macht, indem er ihn ins Narrativ einer Infektionskrankheit überführt und dabei ausgerechnet in einem mutmaßlich Landesfremden den Überträger oder Ansteckungsherd seiner Erkrankung erkennen will, so ist das ein Paradebeispiel für die Verschränkung von Infektionsangst und Xenophobie.68 Diese Verschränkung, die sich zuletzt auch während der CoronaPandemie beobachten ließ, gehört typischerweise zur Imagination von Infektionskrankheiten und findet ihren vielleicht deutlichsten Ausdruck in deren häufigen Benennungen nach ihrem (vermeintlichen) Ursprungsort: Russische Grippe, Spanische Grippe, Cholera asiatica oder eben China virus, wie nicht nur Donald Trump das Covid-19-Virus nannte. Die Imagination von Infektionskrankheiten folgt also einem Schema, das die britische Sozialanthropologin Mary Douglas 1966 in ihrer Untersuchung über Purity and Danger beschrieben hat und das für Repräsentationspraktiken von Identität und Alterität eine wichtige Rolle spielt:69 Während das eigene symbolische System für Reinheit steht, wird alles außerhalb dieser Ordnung als schmutzig und bedrohlich empfunden. Besonders wichtig hierfür ist, dass der menschliche Körper ein Modell liefert, »das für jedes abgegrenzte System herangezogen werden kann«, dass also Grenzüberschreitungen in der symbolischen Repräsentation bevorzugt als Verletzungen von Körpergrenzen imaginiert wer-

67 Vgl. z. B. Freiburghaus, Dieter/Guggisberg, Brigitte: Die schweizerische Ausländerpolitik seit 1850. Eine Analyse auf dem Hintergrund politisch-ökonomischer Paradigmen. In: Geiser, Thomas/Schmid, Hans/Walter-Busch, Emil (Hg.): Arbeit in der Schweiz des 20. Jahrhunderts. Wirtschaftliche, rechtliche uns [sic!] soziale Perspektiven. Bern/Stuttgart/Wien: Haupt 1998, S. 137–185, hier S. 175; Eser Davolio, Miryam/Tov, Eva: Was passiert, wenn Deutsche in der Schweiz arbeiten?, S. 15, 19. 68 Vgl. z. B. Gilman, Sander L.: Rasse, Sexualität und Seuche. Stereotype aus der Innenwelt der westlichen Kultur. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch 1992, S. 281–305. 69 Vgl. z. B. Hall, Stuart: Das Spektakel des ›Anderen‹. In: Hall, Stuart: Ausgewählte Schriften. Bd. 4: Ideologie, Identität, Repräsentation. Hg. von Juha Koivisto, Andreas Merkens. Hamburg: Argument 2004, S. 108–166, hier S. 119–120, 144.

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den, insbesondere als Ansteckung.70 Eine solche Gleichsetzung von Grenzüberschreitungen und Ansteckungen mag beispielsweise erklären, weshalb die Menschen im Mittelalter bei Pestepidemien »unvermeidlich nach einem Sündenbock Ausschau« hielten, »der außerhalb der geplagten Gemeinschaft stand«.71 Und nicht sehr viel anderes macht eben auch Sonder, wenn er die militante Metapher72 vom Kampf gegen den Krebs in die mörderische Tat umsetzt und jene Figur umbringt, die innerhalb der nationalstaatlichen Ordnung als fremd markiert ist.

VI Das von Douglas beschriebene Konzept von Purity and Danger lässt sich in Mettlers Keiler nicht nur anhand der Verschränkung von Alterität und Ansteckungsbedrohung beobachten, sondern auch an einer virtuellen Exklusion all dessen, was nicht zum positiven Selbstbild der eigenen Ordnung gehört. Das soll hier zum Abschluss an einer Art Nebenhandlung des Romans gezeigt werden, am Handlungsstrang um Professor Bäni, den die Polizei die längste Zeit als Hauptverdächtigen verfolgt, weil Sonder den Verdacht auf ihn lenkt, um Verwirrung zu stiften. Skrupel scheint er dabei keine zu haben, denn Bäni ist ihm nicht sonderlich sympathisch, da er sich »seine gesellschaftliche Stellung zu stark anmerken« lässt, »auch im privaten Gespräch«: »Immer mußte er recht haben« (DK, 69). Der etwas arg strapazierte Zufall will es nun, dass der Professor seit einiger Zeit längere »Amnesien« hat (DK, 85); als er den toten Götze in seinem Kofferraum findet, ist er sich deswegen seiner Unschuld nicht sicher und beseitigt die Leiche in der Sihl (seltsamerweise also im kleineren der beiden Stadtzürcher Flüsse und mit dem Sihltal bei Hirzel noch dazu an einer Stelle, wo der Fluss relativ wenig Wasser führt). Allein schon Bänis kaltblütiger Umgang mit Götzes Leiche verdeutlicht, dass es Sonders Sympathie keinen Abbruch tut, wenn er den Professor in die Sache hineinzieht. Dieser ist darüber hinaus aber auch sonst eine sehr fragwürdige Figur, gegen die man moralisch und sogar strafrechtlich viel mehr vorbringen könnte als gegen den allseits gehassten Götze: Bäni ist ein notorischer Fremdgeher, der seine Doktorandinnen mit »lüsternen Streicheleien« bedrängt (DK, 28); als schlechter akademischer Lehrer kennt er sich nicht »mit den Erkenntnissen der neueren Forschung« aus, da er unliebsame Vorlesungen jeweils von 70 Douglas, Mary: Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu den Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu. Frankfurt (M.): Suhrkamp 1988, S. 152. Vgl. Sontag, Susan: Krankheit als Metapher, S. 65–66. 71 Sontag, Susan: Krankheit als Metapher, S. 62. 72 Vgl. ebd., S. 56–58.

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Götze halten lässt, dessen Strebsamkeit er auch sonst auszunützen weiß (DK, 71; vgl. 99). Während einer seiner Amnesien hat er offenbar bereits einmal Fahrerflucht begangen (vgl. DK, 88). Und für den befreundeten Arzt Eugen Rusterholz hat er vor kurzem ein Gefälligkeitsgutachten in einem Kunstfehlerfall gestellt, für das er zwölf Flaschen »Château Latour vom Jahrgang 59« erhalten hat (DK, 80; vgl. 82, 150), ein nach Angaben des Weinguts exzellenter Jahrgang73, der damals um die 700 Franken pro Flasche gekostet hat.74 An den Studienkollegen und »Verbindungsbruder« (DK, 97) Rusterholz wendet sich Bäni schließlich, nachdem er die Leiche losgeworden ist, und verschafft sich so ein falsches Alibi. Diese beiden korrumpierten Vertreter des Zürcher Establishments, die eine Rezensentin als »Nahtstelle« der »scheinbar helvetisch wohlgeordneten Romanwelt« beschreibt75, sind nun gewissermaßen von der Schweiz dissoziiert. Einerseits werden sie sowohl von der Erzählinstanz wie auch von vielen Romanfiguren regelmäßig mit ihren »Vulg[i]« (Verbindungsnamen) bezeichnet (DK, 15), die beide mit unschweizerisch steilen Hierarchien und nationaler Fremdheit assoziiert sind, einer davon sogar mit Germanentum: Caesar und Wothan. Andererseits sollen sie sich »wie zwei russische[] Brüder« begrüßen (DK, 193; Hervorhebung – H.A.), und Rusterholz singt einmal in einer Art, »die einem russisch-orthodoxen Metropoliten« gut anstehen würde (DK, 205; Hervorhebung – H.A.). Damit werden sie mit jener Nation verbunden, die für die Schweiz jahrzehntelang das wichtigste militärische Feindbild verkörperte.76 Während Sonder seiner Strafe für den Mord an Götze entgeht, kommen Bäni und Rusterholz alias Caesar und Wothan nicht so glimpflich davon. Das Gerechtigkeitsverlangen der Lesenden wird an ihnen überkompensiert, denn sie werden, so Mettler im bereits erwähnten Artikel zur Psychologie im Kriminalroman, »genussvoll in die Pfanne gehauen«77 und finden am Schluss den Tod. Rusterholz wird in seinem Weinkeller von einem Regal erschlagen, als er dort nach einem besonders exzessiven Sauf- und Fressgelage »[herum]wütet« und »Flaschen an den Wänden zerschellen« lässt (DK, 234). Bäni stirbt »wahrscheinlich infolge einer Hirnblutung« (DK, 225), die zusammen mit seinen Amnesien auf eine Gefäßerkrankung schließen lässt – ein Fall von poetischer Gerechtigkeit, denn der Professor hatte sich in seiner Vorlesung jeweils über die 73 Vgl. Château Latour: Jahrgangsübersicht. URL: https://www.chateau-latour.com/en/a-time -for-sharing/vintages / letzter Zugriff am 4. Januar 2020. 74 Vgl. Shanken, Marvin R. (ed.): The Wine Spectator Magazine’s Ultimate Guide to Buying Wine. New York: Wine Spectator 1995, S. D-138. 75 Eichmann-Leutenegger, Beatrice: David und Goliath in der Klinik St. Stephan. 76 Vgl. z. B. Fuhrer, Hans Rudolf/Wild, Matthias: Alle roten Pfeile kamen aus Osten – zu Recht? Das Bild und die Bedrohung der Schweiz 1945–1966 im Licht östlicher Archive. Baden: hier + jetzt 2010, S. 308–339; Frei, Daniel/Meier, Werner/Saxer, Ulrich: Die Schweiz und ihre Nachbarn, S. 47. 77 Mettler, Felix: Die Psychologie im Kriminalroman, S. 95.

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Arteriosklerose seines ehemaligen Lateinlehrers und dessen daraus resultierenden geistigen Zerfall lustig gemacht (vgl. DK, 143–144). Nach dem Ableben der beiden kommt auch das falsche Alibi ans Licht, das Rusterholz Bäni gegeben hat, und mit dem Tod des Hauptverdächtigen kann man den Fall abschließen. Für den etwas unglaubwürdigen Umstand, dass die beiden nahezu gleichzeitig sterben, offeriert der Text eine Erklärung, bei der das Bedrohliche wiederum ausgelagert wird.78 Anscheinend soll Rusterholz’ italienische Köchin, Maria, den Tod der beiden durch ein magisches Ritual heraufbeschwören, als Reaktion auf das blasphemische Verhalten der beiden Verbindungsbrüder bei jenem ausgelassenen Bacchanal. Denn die euphorisierten Professoren sprechen die Köchin dabei »endgültig heilig« und setzen zu einer sakrilegischen Litanei an, in der sie sie unter anderem als »Sancta Maria, du gebenedeite Köchin unter den Köchinnen« anrufen (DK, 205). Darauf wirft ihnen die dergestalt Gepriesene ein Silbertablett mit dem »Kopf eines Hahnes in seinem Blut« sowie einem darum gezogenen »grüne[n] Kreis« aus »Galle« auf den Tisch und ruft: »Il mio ultimo pranzo per voi, divorate e andate all’inferno!« (DK, 206) Zwar ›fressen‹ sie diese ›letzte Mahlzeit‹ nicht, trotzdem ›fahren sie‹, wenn man denn so will, kurz darauf ›zur Hölle‹. Das Bedrohliche, Übernatürlich-Gefährliche ist hier nicht nur, wie bei Götze, mit nationaler, sondern – bezogen auf die zwinglianische Zürcher Mehrheitsreligion – auch mit konfessioneller Alterität verbunden. Nicht umsonst gehört die Verbindung, die hier zwischen dem Katholizismus und voodooähnlichen79 oder abergläubisch-magischen Praktiken hergestellt wird, zu den antikatholischen Topoi.80 Zu dieser Stoßrichtung würde es nebenbei bemerkt auch passen, dass die fiktive Zürcher Klinik, die als Hauptschauplatz des Romans einen sehr fragwürdigen Eindruck hinterlässt, ja ausgerechnet einen für das zwinglianische Zürich sehr untypischen Namen zu tragen hat: »St. Stephan« (Hervorhebung – H.A.). Das also bis ins Regionale verfolgbare ›Verfremden‹ des Bedrohlichen und die Identifizierung des auch sehr nahen Fremden mit Bedrohlichkeit zeigen, dass Der Keiler bei aller vordergründigen Kritik der sympathischen Hauptfigur am schweizerisch-mitteleuropäischen Lebensstil (vgl. DK, 115–116) doch auch an einer imaginatorischen Abschottung gegen außen partizipiert, wie sie gerade in 78 Interessanterweise wurde dieser Handlungsteil für die Verfilmung gänzlich umgeschrieben: Berneck, wie Bäni im Film heißt, und Rusterholz bringen sich hier gegenseitig um. 79 Zur Bedeutung von katholischen Litaneien und Tierblut in Voodoo-Ritualen vgl. z. B. Reuter, Astrid: Voodoo und andere afroamerikanische Religionen. München: C.H. Beck 2003, S. 49. 80 Vgl. z. B. Hase, Karl v.: Handbuch der Protestantischen Polemik gegen die Römisch-Katholische Kirche. Leipzig: Breitkopf und Härtel 1900, S. 23, 338, 408, 472, 482; Skrbensky, LeoHeinrich: Katholizismus und Magie. In: »Der Freidenker« 17.23 (1934), S. 181–182; Freie Christen für den Christus der Bergpredigt: Voodoo auf Katholisch. Marktheidenfeld: o. V. 2003. URL: https://www.freie-christen.com/wp-content/uploads/voodoo_auf_katholisch.pdf / letzter Zugriff am 28. Januar 2020.

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der Entstehungszeit des Romans das politische Klima in der Schweiz wieder zunehmend zu prägen begann. So hatte sich das Schweizer Stimmvolk 1986 gegen einen Beitritt zur UNO ausgesprochen. Und zwei Jahre nach der Veröffentlichung von Mettlers Roman scheiterte auch der Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) und damit längerfristig auch eine Eingliederung in die Europäische Union überraschend an einer Volksabstimmung.

Literatur Affolter, Ursula/Felder, Rosmarie/Jaun, Monika/Keller, Marianne/Schmid, Ursula: Tiptopf. Interkantonales Lehrmittel für den Hauswirtschaftsunterricht. Bern: Interkantonale Lehrmittelzentrale und Staatlicher Lehrmittelverlag 1986. Albrecht, Günther: In Zürich flackert das Unbehagen auf. Felix Mettler debütiert mit dem punktgenauen Kriminalroman »Der Keiler«. In: »Stuttgarter Nachrichten« vom 27. Juli 1990. Alewyn, Richard: Anatomie des Detektivromans. In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München: W. Fink 1998, S. 52–72. Amberg, Arsène: Wie schubladisieren? In: »Die Wochenzeitung« vom 29. Juni 1990. Anonymus: Die Rache des Keilers. In: »Der Spiegel« vom 2. April 1990, S. 289. Anonymus: Kanton Zürich zeichnet 17 Kulturschaffende aus. In: »Neue Zürcher Nachrichten« vom 3. Dezember 1990, [S. 3]. Arjouni, Jakob: Happy birthday, Türke! In: Arjouni, Jakob: Die Karankaya-Romane. Zürich: Diogenes 2014, S. 7–188. Barlösius, Eva: Soziologie des Essens. Eine sozial- und kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung. Weinheim und Basel: Beltz Juventa 2016. Becker, Peter v.: Mord und Tränen. Felix Mettlers ambitiös verunglückter Kriminalroman. In: »Süddeutsche Zeitung« vom 19. September 1990. Bennington, James L./Laubscher, Frederick A.: Epidemiologic Studies on Carcinoma of the Kidney. I. Association of Renal Adenocarcinoma with Smoking. In: »Cancer« 21.6 (1968), S. 1069–1071. Bennington, James L./Ferguson, Ben R./Campbell, P. Bruce: Epidemiologic Studies on Carcinoma of the Kidney. II. Association of Renal Adenoma with Smoking. In: »Cancer« 22.4 (1968), S. 821–823. Bizeul, Yves: Gustatorische Symbole in der Politik. In: Lutz-Auras, Ludmila/Gottschlich, Pierre (Hg.): Aus dem politischen Küchenkabinett. Eine kurze Kulturgeschichte der Kulinarik. Baden-Baden: Nomos 2013, S. 23–49. Bloch, Ernst: Philosophische Ansicht des Detektivromans. In: Bloch, Ernst: Literarische Aufsätze. Bd. 9. Frankfurt (M.): Suhrkamp 1965, S. 242–263. Boffetta, Paolo/Pershagen, Göran/Jöckel, Karl-Heinz/Forastiere, Francesco/Gaborieau, Valerie/Heinrich, Joachim/Jahn, Inge/Kreuzer, Michaela/Merletti, Franco/Nyberg, Fredrik/Rösch, Franz/Simonato, Lorenzo: Cigar and Pipe Smoking and Lung Cancer Risk: A Multicenter Study from Europe. In: »Journal of the National Cancer Institute« 91.8 (1998), S. 697–701.

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Kein Mitleid für das Opfer

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Nikolas Buck (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel)

Im Dschungel von Spree-Chicago. Zur handlungskonstitutiven Bedeutung des Raums in Volker Kutschers historischem Berlin-Krimi Der nasse Fisch

Einleitung Als Ende des Jahres 2017 die Serien-Adaption von Volker Kutschers historischem Kriminalroman Der nasse Fisch (2007) im Pay-TV-Sender Sky erstausgestrahlt wird, erscheint dem Kritiker Andreas Kilb in seiner »FAZ«-Rezension der veränderte Titel Babylon Berlin nur konsequent: Es ist die verschwundene Weltstadt der zwanziger Jahre, das Berlin, in dem Döblin seinen Franz Biberkopf untergehen ließ, in dem Marlene Dietrich ihr Lola-Lied sang und Billy Wilder »Menschen am Sonntag« drehte. Ihnen allen begegnet man in der Serie, teils als Filmzitat, teils, wie bei Döblin, als ständigem Bezugspunkt. Denn der Alexanderplatz, an dem Döblins Roman spielt und das Polizeipräsidium, die »Rote Burg«, residiert, ist bei Tykwer, Handloegten und von Borries kein Schauplatz unter vielen, sondern das Zentrum der filmischen Topographie. Das unterscheidet »Babylon Berlin« von anderen Polizeiserien, in denen alle Fäden im Kommissariat zusammenlaufen. Hier finden die Ermittler keine Ruhe an ihren Schreibtischen, es zieht sie manisch hinaus ins grelle Dunkel der Stadt, und dabei kreuzen sie immer wieder den »Alex«, der 1929 eine riesige Baustelle ist, ein Ort im Transit, wie ganz Berlin.1

Dabei kann – wie die folgenden Ausführungen zeigen werden – bei allen Unterschieden zur Romanvorlage, auf die Kilb im Anschluss zu Recht hinweist, gerade die für die Handlung konstitutive Bedeutung des großstädtischen Raums Berlin, der in seiner relativen Heterogenität und Weitläufigkeit gewissermaßen zugleich Metropole und Region ist2, als einigende Klammer zwischen dem literarischen und audiovisuellen Text gelten.

1 Kilb, Andreas: Krieg war gestern, heute ist Varieté. In: »Frankfurter Allgemeine Zeitung« vom 13. Oktober 2017. URL: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/serien/tom-tykwersneue-serie-babylon-berlin-15241866.html?printPagedArticle=true#pageIndex_3 / letzter Zugriff am 22. April 2021. 2 Vgl. hierzu Vogt, Jochen: Regionalität und Modernisierung in der neuesten deutschsprachigen Kriminalliteratur (1990–2015). In: »Germanica« 58 (2016), S. 13–39, hier S. 14–16, 37–39.

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Kutschers Der nasse Fisch ist der erste einer Reihe von mittlerweile acht Romanen um den jungen, ursprünglich aus Köln stammenden Kommissar Gereon Rath, der sich im Berlin der späten Weimarer Republik mit kriminellen Ringvereinen, politischen Überzeugungstätern aus dem völkisch-nationalen Lager, dem master criminal Dr. M. und korrupten Kollegen aus dem Polizeikorps herumschlagen muss.3 Der Autor selbst äußert sich zum genuinen Schreibanlass seiner Krimireihe folgendermaßen: »diese beiden Welten miteinander zu verbinden, die amerikanische Gangster-Welt, also die Welt von Chandler und Hammett, mit der von Döblin und Kästner, um einfach einmal ein paar Schlagworte in den Raum zu werfen, das war so der erste Antrieb«.4 Als Motto für seinen ersten Berlin-Krimi wählt Kutscher konsequenterweise den folgenden Ausspruch Walther Rathenaus: »Spreeathen ist tot und Spreechicago wächst heran.«5 Mit diesem bezog sich Rathenau zwar ursprünglich auf die sich im Berlin der Jahrhundertwende abzeichnende Modernisierung des baulichen Stadtbilds; im Kontext der raumzeitlichen Verortung der Romanhandlung rückt mit dem Verweis auf Chicago jedoch zugleich der in den Metropolen der 1920er Jahre erfolgende Aufstieg des organisierten Verbrechens in den Blick, für den bis heute wohl keiner so sinnbildlich steht wie Al Capone. Tatsächlich offenbart sich in Kutschers Berlin-Krimis eine spezifische Verknüpfung von Elementen zweier Gattungstraditionen, und zwar erstens derjenigen des modernen Großstadtromans, zweitens derjenigen der amerikanischen hardboiled fiction.6 Einerseits liegt eine solche Verknüpfung nahe – spielt der 3 Zur Gereon-Rath-Krimireihe gehören folgende Romanveröffentlichungen: Kutscher, Volker: Der nasse Fisch. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2007 (Zitate werden im Folgenden nach der Taschenbuchausgabe von 2012 und direkt im Fließtext unter der Sigle NF nachgewiesen); Der stumme Tod. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2009; Goldstein. Gereon Raths dritter Fall. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2010; Die Akte Vaterland. Gereon Raths vierter Fall. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2012; Märzgefallene. Gereon Raths fünfter Fall. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2014; Lunapark. Gereon Raths sechster Fall. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2016; Marlow. Gereon Raths siebter Fall. München: Piper 2018; Olympia. Gereon Raths achter Fall. München: Piper 2020. Ein Nebenprodukt der Reihe ist die von einer Bild-Text-Kombination geprägte Erzählung Moabit. Illustriert von Kat Menschik. Berlin: Galiani 2017. 4 HR2 Doppelkopf: Am Tisch mit Volker Kutscher, »Kriminal-Historiker«. In: »Hessischer Rundfunk« am 11. April 2017, 10:00–10:12 min. 5 Rathenau, Walther: Die schönste Stadt der Welt. In: »Die Zukunft« 26 (1899), S. 36–48, hier S. 39. 6 Auf die Präsenz entsprechender Merkmale weist auch Thomas Kniesche hin. Vgl. Kniesche, Thomas: Der historische Kriminalroman als Verführung zur Beschäftigung mit der Geschichte des deutschen Faschismus: Volker Kutschers Gereon Rath-Romane. In: Genç, Martin/Hamann, Christof (Hg.): Kriminographien. Formenspiele und Medialität kriminalliterarischer Schreibweisen. Würzburg: Königshausen & Neumann 2018, S. 45–65, hier S. 54, 60–63. Ansatzpunkte zu einer Verknüpfung der genannten Traditionsstränge bietet auch Beck, Sandra: Krise in Serie. Der Fall der Weimarer Republik in den Kriminalromanen Volker Kutschers. In: »Germanica« 58 (2016), S. 111–120.

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großstädtische Raum in der hardboiled school doch eine entscheidende Rolle – und fand im Rahmen des historischen Kriminalromans, z. B. im historischen Rom-Krimi7, bereits vielfältig Anwendung. Andererseits ist es durchaus überraschend, wie konsequent der Autor vor allem im Auftaktband seiner Krimireihe Elemente beider Traditionen auf verschiedenen Ebenen aktualisiert und funktional aufeinander bezieht, weshalb Hardy Reich in seiner »FAZ«-Rezension von Der nasse Fisch zu Recht darauf hinweisen kann, dass es Kutscher gelinge, für sein Porträt Berlins in der Weimarer Republik das Genre des Kriminalromans zu nutzen, ohne es zu missbrauchen.8 Dieser These einer spezifischen funktionalen Verknüpfung der genannten Bereiche in Kutschers Der nasse Fisch soll sich im Folgenden in zwei Schritten angenähert werden: Zunächst wird unter Bezugnahme auf Merkmale des modernen Großstadtromans die Darstellung des Handlungsraums analysiert. Dabei soll neben der Identifizierung von den Raum charakterisierenden Kontrasteffekten zwischen Großstadt und Provinz und der handlungstragenden Bedeutung von überwiegend funktional definierten »Nicht-Orten« ein besonderer Fokus auf dem die Figuren prägenden Habitus der Sachlichkeit sowie auf der fortdauernden Präsenz der »Urkatastrophe« des 20. Jahrhunderts, des Ersten Weltkriegs, und den nicht nur, aber auch damit zusammenhängenden tiefgreifenden gesellschaftlichen Transitions- und Auflösungsprozessen liegen. In einem zweiten Schritt wird sodann dargestellt, wie die sich hierin manifestierenden Rückgriffe auf den modernen Großstadtroman mit gattungstypischen Elementen des Kriminalromans, insbesondere der hardboiled school, funktional verwoben werden. Das Hauptaugenmerk richtet sich dabei insbesondere auf Konvergenzen zwischen dem zeitgenössisch-neusachlichen Habitus der Kälte und der Figurenzeichnung des ›hartgesottenen‹ Ermittlers sowie auf die für das Genre ebenfalls konstitutiven Grenzaufhebungen von Gut und Böse bzw. Ober- und Unterwelt, welche strukturell auf einer Analogisierung oberflächlich parzellierter Teilräume beruhen.

7 Vgl. Dappert, Dagmar: Der historische Kriminalroman als hybrides Genre. In: Brodersen, Kai (Hg.): Crimina. Die Antike im modernen Kriminalroman. Frankfurt (M.): Verlag Antike 2004, S. 127–142, hier S. 131–134. 8 Vgl. Reich, Hardy: Die Machenschaften des Dr. Schmincke. In: »Frankfurter Allgemeine Zeitung« vom 1. Februar 2008. URL: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen /belletristik/die-machenschaften-des-dr-schmincke-1516914.html?printPagedArticle=true# pageIndex_3 / letzter Zugriff am 22. April 2021.

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Kontrasteffekte: Großstadt/Provinz Um den Handlungsraum ›moderne Großstadt‹ zu profilieren, kommt es in Kutschers Der nasse Fisch zur ausgiebigen Nutzung von Kontrasteffekten.9 Da die Handlung ausschließlich in der Großstadt Berlin angesiedelt ist und personales Erzählen in Form einer variablen internen Fokalisierung vorliegt, handelt es sich freilich im Wesentlichen um Kontrasterfahrungen, die über die Figurenwahrnehmung insbesondere der Hauptfigur vermittelt sind. Kommissar Gereon Rath stammt ursprünglich aus der »Provinzstadt« (NF, 104) Köln. Unfreiwillig musste er diese nach einem missglückten Einsatz, bei dem ein Verdächtiger durch einen Schuss aus seiner Waffe starb, und einer anschließenden Medienkampagne gegen ihn verlassen und eine Stelle bei der mit Sittendelikten befassten Abteilung der Berliner Kriminalpolizei antreten. Wenngleich die für die Hauptfigur ereignishafte Grenzüberschreitung von der Peripherie ins Zentrum also bereits vor dem Einsetzen der Handlung stattgefunden hat, ist der Roman insgesamt durch die immer wieder von Rückschlägen begleiteten Versuche der Integration in den großstädtischen Raum geprägt.10 So wird Rath gleich bei seinem ersten Einsatz für die Berliner Kriminalpolizei vom brutalen und regelwidrigen Vorgehen seines Vorgesetzten Bruno Wolter überrascht: »Rath war klar, dass die Nummer auf dem Gerüst auch eine Lektion hatte sein sollen, eine Lektion für den Neuen aus der Rheinprovinz« (NF, 31). Dass Berlin ihn nicht nur mit »offenen Armen«, sondern auch »mit geballter Faust« (NF, 336) empfängt, veranlasst ihn schon frühzeitig zu folgender Selbstmahnung: »Vielleicht war es ja wirklich so: In dieser kalten, großen Stadt herrschte eine 9 Vgl. zur Großstadtdarstellung in Kutschers Krimireihe auch Beck, Sandra: Krise in Serie, S. 113–114; Kniesche, Thomas: Der historische Kriminalroman als Verführung, S. 47–48, 50– 52; Lörke, Tim: Geschichtsbildung im Kriminalroman. Zu Volker Kutschers Berlin-Serie. In: »Zagreber Germanistische Beiträge« 20 (2011), S. 133–138, hier S. 134. Dass es sich bei der im Folgenden betrachteten Kontrastierung von Provinz und Großstadt auch im Allgemeinen um eine der wichtigsten strukturellen Bausäulen der Gattung des historischen Kriminalromans handelt, hat zuletzt Wolfgang Brylla aufgezeigt. Vgl. ders.: Am Tatort der Geschichte. Zu Erzählfunktionen der Verbrechensräume im historischen Kriminalroman. In: Frenzel, Marlene/Geist, Kathrin/Oberrauch, Claudia (Hg.): Ein Ort, viel Raum(theorie)? Imaginationen gleicher Räume und Orte in Literatur und Film. Bamberg: University of Bamberg Press 2019, S. 311–343, hier S. 319–326. 10 Vgl. zur raumstrukturellen Differenz von Peripherie und Zentrum auch Krah, Hans: Raum und Grenze. Eine semiotische Bestandsaufnahme – Mit dem Beispiel des Bunkers im ästhetischen Diskurs globaler Katastrophenszenarien. In: »Schriften zur Kultur- und Mediensemiotik Online« 4 (2018), S. 74–110, hier S. 76. URL: https://ojs3.uni-passau.de/index.php/skm s/article/view/184/177 / letzter Zugriff am 22. April 2021; zur Anpassung einer Figur an die Normen eines Raums vgl. auch ebd., S. 84–86 und Renner, Karl N.: Grenze und Ereignis. Weiterführende Überlegungen zum Ereigniskonzept von J. M. Lotman. In: Frank, Gustav/ Lukas, Wolfgang (Hg.): Norm – Grenze – Abweichung. Kultursemiotische Studien zu Literatur, Medien und Wirtschaft. Passau: Verlag Karl Stutz 2004, S. 357–381, hier S. 366–375.

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andere, härtere Gangart als in Köln. Daran sollte er sich besser gewöhnen« (NF, 33). Die Krise, die mit der Notwendigkeit des Einfügens in den neuen Raum einsetzt, hat für den Protagonisten eine durchaus existentielle Dimension; der zunächst nur sprichwörtliche Verweis auf einen Überlebenskampf (vgl. NF, 104) wird nämlich bald Realität, als er nicht nur seine berufliche Laufbahn als Polizist, sondern auch sein Leben bedroht sieht. Bezeichnenderweise wird in einer der wenigen Textstellen im Roman, die über eine ausgeprägte Metaphorik verfügt, diese dafür genutzt, die Lebensfeindlichkeit der Stadt durch die Präsenz anorganischen Materials und künstlichen elektrischen Lichts herauszustellen: Düster ragte die Silhouette der Gedächtniskirche aus dem hell erleuchteten Häusermeer. Die monströse Kirche war das einzige Bauwerk in dieser Gegend, das nicht im Neonlicht ertrank. Sie schien die Nachtschwärmer allein durch ihre Anwesenheit ermahnen zu wollen. Dunkel schweigende Steinberge inmitten all des nächtlichen Lärms. (NF, 95)

Der emotionalen Kälte, die die Hauptfigur (zunächst) umgibt und die sich äußerlich auch in dem sich bis ins Frühjahr fortziehenden Winterwetter widerspiegelt (vgl. NF, 50, 53, 138), entsprechen im Roman für die Darstellung der modernen Großstadt mittlerweile fast topisch gewordene Merkmalszuschreibungen wie die Anonymität und das Aufgehen des Individuums in der Menschenmasse. Als die Kriminalpolizei an der Identifizierung eines Mordopfers zu scheitern droht, kommentiert Rath beispielsweise: »Kaum zu glauben. Da wird mitten in einer Viermillionenstadt ein Toter gefunden, und von sämtlichen vier Millionen Einwohnern scheint ihn kein einziger jemals gesehen zu haben« (NF, 188). Immer wieder ist zudem vom »Menschengewimmel« (NF, 25) und »Menschenmengen« (NF, 91) auf den Straßen die Rede – zum Teil sogar in Form entmenschlichender Metonymien: »Regenschirme strömten in den Bahnhof« (NF, 359). Hiermit korrespondiert die ebenfalls typische Darstellung großstädtischer Rastlosigkeit und Dynamik, die auch von anderen Figuren des Romans als solche wahrgenommen wird. Durchaus repräsentativ ist in diesem Zusammenhang etwa die folgende Beobachtung, die ein weiterer Kollege Raths, Kriminalassistent Reinhold Gräf, während einer Observation macht: Es achtete ohnehin niemand auf ihn. Obwohl eine ganze Menge los war auf der Straße. Vom nahenden Wochenende war in den Gesichtern der vorüberhastenden Passanten noch nichts zu sehen, nur werktägliche Hektik. Autofahrer hupten nervös, wenn es ihnen nicht schnell genug voranging. (NF, 477)

Rath selbst kommentiert die für ihn neuartigen Erfahrungen in dieser »hektischen Stadt« (NF, 144) folgendermaßen: »Das regelmäßige Rauschen und Rumpeln der Bahnen, die an seinem Fenster vorbeirollten, trommelte ihm Tag für Tag den Rhythmus« (NF, 35). Diesem »Rhythmus« passen sich die Figuren des

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Romans in gewisser Weise an: Sie befinden sich in ununterbrochener Bewegung, fahren U-Bahn oder Auto11, wobei stets – und dem dokumentarisch-realistischen Anspruch des historischen Romans12 folgend – mit detaillierten Ortsangaben gearbeitet wird: »In Schöneberg bog er von der Hauptstraße ab in die Kolonnenstraße. Vor dem Zentralflughafen Tempelhof staute sich auch um diese Zeit der Verkehr. Rath schlängelte sich an dem Gewimmel vorbei und fuhr weiter nach Neukölln« (NF, 509). Das in diesem Zusammenhang häufig erwähnte »Verkehrschaos« (NF, 35, 50, 440) ist dabei nicht selten Folge der Existenz von Großbaustellen. Dies ist kein Zufall, denn die Dynamik der Großstadt spiegelt sich in Kutschers Roman nicht zuletzt auch in einer regen Bautätigkeit wider. Schon der erste Einsatz endet für den Protagonisten auf dem »gigantischen Koloss des Karstadt-Rohbaus« (NF, 24), während er sich auf der vorgeschalteten Verfolgungsjagd bereits im Durcheinander der Baumaterialien für den »U-Bahn-Bau unter der Hermannstraße« (NF, 23–24) orientieren musste. Als wiederkehrendes Hindernis erweist sich darüber hinaus das »Baustellenchaos auf dem Alexanderplatz« (NF, 55, vgl. auch 17, 146, 321), da dieses sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu Raths Arbeitsplatz, dem Polizeipräsidium, ausbreitet. Der mit der Bautätigkeit verknüpfte technisch-gesellschaftliche Fortschritt (Einführung moderner Verkehrsmittel, Hochhausbau) ist indes teuer erkauft, wie der Gerichtsmediziner Schwartz dem Protagonisten in seinem figurentypischen Zynismus unterbreitet: »›In Berlin wird viel gebaut. Und so manchem Toten gönnt man kein ordentliches Grab.‹ Er zwinkerte Rath zu. ›Möchte nicht wissen, wie viele Neubauten in dieser Stadt auf Knochen errichtet sind‹« (NF, 296). Dieses Bild verweist auf die ›Schattenseiten‹ des rasanten Fortschritts: die durch die zunehmende Industrialisierung und Konzentration von Kapital hervorgerufenen sozialen Verwerfungen, den moralischen ›Sittenverfall‹ und die Polarisierung des politischen Systems. Dabei ist es angesichts der Zugehörigkeit des Romans zur Gattung der Kriminalliteratur wenig überraschend, dass alle drei 11 Vgl. hierzu auch die Hinweise bei Kniesche, Thomas: Der historische Kriminalroman als Verführung, S. 60. 12 Vgl. die folgende Aussage in Korte, Barbara/Paletschek, Sylvia: Geschichte und Kriminalgeschichte(n): Texte, Kontexte, Zugänge. In: Korte, Barbara/Paletschek, Sylvia (Hg.): Geschichte im Krimi. Beiträge aus den Kulturwissenschaften. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2009, S. 7–27, hier S. 12: »Der besondere Reiz der historischen Krimis besteht darin, dass sie ihre Leser mit Verbrechen in Szenarien der Geschichte konfrontieren, deren Details in der Regel ebenso genau – wenn nicht noch genauer – recherchiert sind wie bei Texten, die in der Gegenwart spielen. Die Schilderung historischer Ereignisse und Personen bis zu Einzelheiten des Alltagslebens suggeriert historische ›Authentizität‹ und ›Faktentreue‹ und erweckt den Eindruck, dass man durch die Lektüre nicht nur spannend unterhalten, sondern auch um historisches Wissen bereichert wird«. Zum »dokumentarischen Anspruch Kutschers« vgl. auch Lörke, Tim: Geschichtsbildung im Kriminalroman, S. 135.

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Entwicklungen ausgiebig thematisiert werden, bieten diese doch reichlich Potential für Verbrechen jedweder Art. Mit den schlechten Lebensbedingungen des Proletariats kommt Rath vor allem während der von der Polizei blutig niedergeschlagenen kommunistischen Mai-Unruhen in Berührung. Als er bei einem Einsatz im ›roten‹ Neukölln mit Dr. Völcker, einem dort praktizierenden und sich für die Belange der armen Bevölkerung einsetzenden Arzt, zusammentrifft, bietet dies die Gelegenheit zu einem ausführlichen, wenngleich reichlich naiven Räsonnement über die soziale Frage: Natürlich kannte er die Mietskasernen in den Arbeitervierteln der Stadt, im Norden, im Osten, im Süden. Wahre Elendsquartiere, eine Schande, gar keine Frage. Aber was war damit bewiesen? Das war ein Grund, neue, helle Siedlungen für die Arbeiterschaft zu bauen, was ja auch geschah, aber doch kein Grund, Kommunist zu werden! Er kannte die schlimmen Seiten des Fortschritts, die Kehrseite der Zivilisation, er kannte sie nur zu gut, er war Polizist. (NF, 80)

Immerhin stellt er kurz zuvor durchaus reflektiert fest: »Wer in diesen Milieus aufwuchs, hatte kaum eine Chance; er wurde entweder Verbrecher oder Kommunist. Oder beides. Verbrecher, Kommunist – für viele Polizisten war das ohnehin ein und dasselbe« (NF, 80). Doch es ist nicht nur die miserable ökonomische Lage großer Teile der Bevölkerung, die die grassierende Kriminalität in der Großstadt bedingt. Auch eine von verschiedener Seite beklagte Auflösung der sittlichen Ordnung im »Sündenpfuhl« (NF, 43) Berlin trägt hierzu bei. Der Protagonist selbst erhält, nicht zuletzt bedingt durch seine anfängliche Arbeit für die Sittenpolizei, rasch umfänglichen Einblick in das florierende Rotlichtmilieu der Stadt, das sich – so zumindest der erste Eindruck – insbesondere auf die Verbrecherviertel im ›wilden Osten‹ der Stadt konzentriert (vgl. NF, 140). Hier herrscht nicht nur eine hohe Dichte an »illegalen, zwielichtigen Nachtclubs« (NF, 248); auch wird ein reger Handel mit pornographischem Bild- und Filmmaterial (vgl. NF, 33) betrieben, dessen versuchte Eindämmung bezeichnenderweise den Ausgangspunkt für die Krimihandlung bildet. Besonders eindrücklich ist diesbezüglich die Schilderung von Raths erstem Besuch im Venuskeller, im Zuge dessen er nicht nur mit Kokain, sondern auch mit auf der Bühne offen zur Schau gestelltem Geschlechtsverkehr in Berührung kommt (vgl. NF, 201–205). Zumindest zu diesem Zeitpunkt zeigt sich der Protagonist hiervon noch überfordert: »Für das wilde Leben war er offensichtlich nicht geschaffen« (NF, 204). Wie im Roman deutlich wird, geht die größte Gefahr für die öffentliche Sicherheit freilich von der in der Endphase der Weimarer Republik zunehmend aufgeheizten politischen Stimmung aus. Diese kulminiert in der Hauptstadt, wie etwa Raths Kollegin und Geliebte Charly pointiert herausstellt, in einer regel-

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rechten Wild-West-Mentalität: »In diesem Land glauben zu viele Leute, ihre Angelegenheiten am besten mit Schusswaffen regeln zu können« (NF, 340). Zunächst ist es das brutale Aufeinandertreffen von Polizei und Kommunisten am 1. Mai 1929, das bei den Beteiligten eine »Bürgerkriegsstimmung« (NF, 53) hervorruft. Bei fortschreitender Handlung rückt dagegen zunehmend eine rechtsradikale Verschwörung in den Fokus, die darauf abzielt, mithilfe einer Allianz aus völkisch gesinnten Eliten und nationalsozialistischen Parteigängern die demokratische Regierung zu stürzen (vgl. NF, 169–176, 483–489). Im scharfen Gegensatz zu dieser von Extremen jeglicher Couleur geprägten Darstellung der Metropole Berlin steht Raths ehemalige Kölner Heimat, die als absenter Kontrastraum im Wesentlichen als ein wohlgeordneter, wenngleich von Repression geprägter Raum erscheint.13 Die Stadt am Rhein kann auf eine jahrtausendealte Geschichte zurückblicken und für das sie prägende Bildungsbürgertum, dem auch der Protagonist entstammt, ist gerade Kontinuität und Stabilität identitätsstiftend. Dies wird z. B. deutlich, als Rath während einer Verabredung mit Charlotte Ritter, die als Stenotypistin in der Mordkommission arbeitet und mit der Rath im Laufe des Romans eine Liebesbeziehung eingeht, auf den Kronos-Mythos anspielt und sich daraufhin folgender Wortwechsel entspinnt: »Sie zog anerkennend die Augenbrauen hoch. ›Hui! Humanistisch gebildet!‹ ›Kölner kennen sich aus in der antiken Götterwelt. Wir sind alles alte Römer‹« (NF, 274–275). Ein fast heimeliges Gefühl überkommt ihn daher auch 13 Hinsichtlich dieser Gegenüberstellung von Großstadt und Provinz können weitere Abstufungen identifiziert werden. So wird einerseits das Bemühen der Berliner, sich als Bewohner einer Weltstadt zu präsentieren und sich mit den in der Entwicklung schon vorangeschrittenen amerikanischen Metropolen New York und Chicago zu vergleichen, vom Protagonisten belächelt (vgl. NF, 24, 309, 539) – durch den Briefkontakt mit seinem Bruder verfügt er ja über Informationen zum Leben in New York aus erster Hand; andererseits ist Köln Berlin noch näher als manch andere abgelegenere Gegend des Reichs, wie die Charakterisierung des frisch von der Polizeischule kommenden Kriminalassistenten Stephan Jänicke beweist: »Rath musste ein Lächeln unterdrücken. Jänicke gab sich die größte Mühe, wie ein abgebrühter Großstadtbulle auszusehen, doch die ewig roten Wangen verrieten den Jungen vom Lande« (NF, S. 19). Bezeichnenderweise lässt sich ebendieser »blonde, wortkarge Ostpreuße« (NF, S. 18) von der politischen Abteilung der Polizei zur Bespitzelung von Kollegen einspannen und wird schließlich von seinem korrupten Chef Bruno Wolter ermordet. Eine besondere Ausprägung erhält dieser Gegensatz im Übrigen im vierten Roman der Reihe Die Akte Vaterland, in dem der Protagonist gezwungen ist, nach Masuren zu reisen, um dort die in der Vergangenheit liegenden Hintergründe zu einer Mordserie zu ermitteln. Wie Christof Hamann herausgearbeitet hat, kommt es hier mit Blick auf die Parallelhandlung, die sich um einen im Wald lebenden ›Indianer‹ namens Tokala dreht, zu einer Gegenüberstellung »von zwei disjunkten semantischen Räumen, einem Raum der Wildnis und einem der Zivilisation […], die durch eine strikte Grenze getrennt sind« (Hamann, Christof: Ein Indianer in Ostpreußen. Zur Topologie des Raums in Volker Kutschers historischem Kriminalroman »Die Akte Vaterland«. In: »Zeitschrift des Verbandes polnischer Germanisten« 3 (2014), H. 1, S. 33– 41, hier S. 35). Zugleich werde diese Grenze von einer »nationale[n] topologische[n] Ordnung« (ebd.) überlagert.

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auf dem Weg zu einer Einladung bei seinem Kollegen Bruno Wolter in BerlinFriedenau: »Die Fregestraße, eine ruhige Straße, von Bäumen gesäumt, die Hausfassaden strahlten solide Bürgerlichkeit aus. Rath fühlte sich an Klettenberg erinnert« (NF, 167). Weitere Elemente dieser auf Beständigkeit ausgelegten provinziellen Mentalität stellen der traditionell stark ausgeprägte Katholizismus und die dominierende preußisch-nationalkonservative Gesinnung dar. So erklärt Gereon Rath, von besagter Charly auf seinen Namen angesprochen: »Ein Kölner Heiliger. Meine Eltern sind sehr katholisch. Und sehr rheinisch« (NF, 195). Auf einer Autofahrt durch Berlin stellt er sich wiederum vor, wie er seinem Vater die repräsentativen Bauten der Stadt zeigt, »[e]ine geballte Ladung Preußen für den preußischen Musterbeamten« (NF, 150). Dass solche Orte wie das Rathaus, Schloss und Brandenburger Tor an dieser Stelle wie Touristenattraktionen behandelt werden, offenbart freilich, dass das ›alte‹ Preußen zumindest in der Reichshauptstadt bereits im Untergang begriffen ist.14 Zwar zeigt sich die Hauptfigur in gewissen mentalen Dispositionen eindeutig von seiner Herkunft geprägt, z. B. hinsichtlich seiner diffus konservativen politischen Haltung15, die sich insbesondere in obrigkeitsstaatlichem Denken und einer Abneigung gegenüber kommunistischen Aktivisten manifestiert: »Seit er in Berlin war, hatte er sich über die Dreistigkeit der Kommunisten geärgert. Wie sie ihre Parteizentrale mit den Porträts von Staatsfeinden und ihren Parolen schmückten. […] Eine einzige Provokation« (NF, 56). Insgesamt verfügt er jedoch über eine äußerst ambivalente Einstellung gegenüber seiner alten Heimat, was sich nicht zuletzt im angespannten Verhältnis zu seinem Vater widerspiegelt. Beruflich profitiert er zwar von den bis ins Berliner Polizeipräsidium reichenden Seilschaften Engelbert Raths, der in Köln selbst hochrangiger Kriminalbeamter ist. Im Grunde verachtet er aber den Provinzklüngel (vgl. NF, 105) ebenso wie die reaktionären Wertvorstellungen seiner Eltern, die ihren im Ersten Weltkrieg gefallenen ältesten Sohn Anno wie einen ›Heiligen‹ (vgl. NF, 371) verehren, während sie seinen vor Kriegsausbruch nach New York emigrierten Bruder Severin aus der Familie ausgeschlossen haben (vgl. NF, 197–198).16 Mit derlei Bigotterie kann die Hauptfigur – selbst durchaus hedonistisch veranlagt – nichts anfangen. Entsprechend gering ausgeprägt ist auch Raths Motivation für die Arbeit bei der Sittenpolizei. Nach einer erfolgreichen Razzia in einem Nachtclub heißt es etwa: »Den Sinn einer solchen 14 Ein sicheres Zeichen dieses Untergangs ist auch die Tatsache, dass die Darsteller des zu Beginn des Romans ausgehobenen Pornorings in der Gestalt ›historischer‹ Größen des Kaiserreichs, u. a. als Wilhelm II. und Hindenburg, auftreten (vgl. NF, 17, 21). Vgl. hierzu Beck, Sandra: Krise in Serie, S. 114. 15 Vgl. hierzu auch Kniesche, Thomas: Der historische Kriminalroman als Verführung, S. 55. 16 Vgl. auch Beck, Sandra: Krise in Serie, S. 118.

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Aktion sah Rath allerdings immer noch nicht ein. Verbrecherkaschemmen ausheben, Drogenverstecke, Waffenlager, das alles machte Sinn. Aber Nachtlokale? Wenn die Leute sich vergnügen wollten, sollten sie sich vergnügen« (NF, 250, vgl. hierzu auch 23). Jedenfalls versteht die Hauptfigur den Neuanfang in Berlin durchaus auch als »Chance […], endlich ohne den Schatten seines Vaters arbeiten zu können« (NF, 240) und die Vorzüge des kosmopolitischen großstädtischen Nachtlebens auszukosten (vgl. u. a. den Besuch der Kakadu-Bar NF, 96–97). Zunächst steht der möglichen Selbstverwirklichung des Protagonisten jedoch ein ausgeprägtes Gefühl von Heimatlosigkeit gegenüber, das einerseits aus der oben bereits erwähnten allgemeinen ›Härte‹ des Überlebenskampfes in der Großstadt, andererseits aus der mangelnden Einbindung in soziale Strukturen – »Er brauchte Freunde in dieser Stadt« (NF, 165) – resultiert. Rath fühlt sich als Fremder und wird auch als solcher wahrgenommen: »›Sie sind aber nicht von hier!‹ Misstrauen klang aus dem Türspalt« (NF, 108). Diese Heimatlosigkeit der Hauptfigur korrespondiert strukturell zum einen mit der dynamischen Figurenbewegung im Raum, zum anderen – und vor allem – jedoch mit der handlungstragenden Bedeutung, die im Roman den rein funktional definierten Orten, das heißt solchen »Nicht-Orten« wie Bahnhöfen, Plätzen, Hotels, Cafés, Bars und Nachtclubs, zukommt. Mit diesem Begriff bezeichnet der Ethnologe Marc Augé »zwei verschiedene, jedoch einander ergänzende Realitäten: Räume, die in Bezug auf bestimmte Zwecke (Verkehr, Transit, Handel, Freizeit) konstituiert sind, und die Beziehung, die das Individuum zu diesen Räumen unterhält«.17 Als wesentliche Eigenschaften eines Nicht-Ortes identifiziert Augé, dass dieser keine Identität besitze und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen lasse.18 Die Beziehung, die das Individuum zu derartigen Räumen unterhalte, sei wiederum vor allem eine vertragliche.19 In der Tat findet in Kutschers Der nasse Fisch nicht nur ein großer Teil der Ermittlungsarbeit – in Form von Razzien, Observierungen, Zeugenbefragungen und Treffen mit Informanten – an solchen Nicht-Orten statt, auch das private Leben des Protagonisten ist wesentlich von diesen geprägt. Zwar nimmt Augé mit seinem Konzept vor allem die von ihm so bezeichnete ›Übermoderne‹ in den Blick20, das heißt, es bezieht sich eigentlich auf Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, nicht auf Charakteristika der Großstadt in den 1920er Jahren. Dass es 17 Augé, Marc: Nicht-Orte. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. München: C.H. Beck 2019, S. 96. Vgl. zu den Anwendungsmöglichkeiten des Konzepts in der Literaturwissenschaft Chihaia, Matei: Nicht-Orte. In: Dünne, Jörg/Mahler, Andreas (Hg.): Handbuch Literatur & Raum. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2015, S. 188–204. 18 Vgl. Augé, Marc: Nicht-Orte, S. 83. 19 Vgl. ebd., S. 96, 102. 20 Vgl. ebd., S. 38–47.

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dennoch auch auf die Raumdarstellung in Kutschers Roman, insbesondere auf die von der Hauptfigur im Zuge seiner beruflichen Tätigkeit, aber auch aus privatem Anlass frequentierten Etablissements, Anwendung finden kann21, wird u. a. deutlich, als Rath bei Tage ein vorübergehend geschlossenes Tanzlokal, den Delphi-Palast, aufsucht: »[…] das Delphi wirkte wie ausgestorben. Die Pflanzen, die den Weg zum Hauptportal flankierten, machten einen jämmerlichen Eindruck. Ein paar exotisch anmutende Korbstühle, lieblos aufeinandergestapelt und vom Wetter gezeichnet, standen in der Gartenecke und schimmelten vor sich hin« (NF, 135). Ohne Publikum hat der (Nicht-)Ort jeglichen Reiz verloren, ihm fehlt die ›Geschichte‹, weswegen er, wie man aus einer Aussage des Verwalters des Gebäudes schließen kann, je nach dargebotenem Programm auch seinen Charakter wechseln kann (vgl. NF, 136). Besonders augenfällig wird die Bedeutung von Nicht-Orten freilich in der prekären Wohnsituation des Protagonisten: Aus unterschiedlichen Gründen muss er nämlich immer wieder im Hotel unterkommen, wo er bald als Stammgast begrüßt wird (vgl. NF, 394). Schon die ersten Nächte nach seiner Ankunft in Berlin hat er im Excelsior verbracht (vgl. 355); später nutzt er das Hotel mangels Alternativen für ein amouröses Treffen mit Charly; und nachdem er von seiner Wirtin endgültig vor die Tür gesetzt worden ist, zieht er schließlich sogar ganz im Excelsior ein und bewohnt dort einen »kleinen, aber zweckmäßig eingerichteten Raum« (NF, 400). Der Eindruck, dass es sich bei dem Hotel – ähnlich wie beim von den Figuren immer wieder überquerten Alexanderplatz – um einen bloßen Transitraum handelt, der der kurzfristigen Aufnahme von Reisenden dient, wird noch dadurch unterstützt, dass Raths Zimmer zumindest in einem Fall über einen direkten Blick auf »den nächtlich erleuchteten Anhalter Bahnhof« (NF, 355) verfügt. So lässt sich der Ausspruch des Protagonisten: »Er hatte kein Zuhause« (NF, 338) durchaus als Ausdruck jener existentiellen Einsamkeit deuten, die auch Augé dem sich vermehrt an Nicht-Orten aufhaltenden Individuum zuschreibt.22 Nichtsdestotrotz ist festzustellen, dass eine zunehmende Integration in den neuen Raum der Großstadt stattfindet. Dazu tragen vordergründig insbesondere die Aussicht auf eine eigene Wohnung (vgl. NF, 512–513), die von ihm von Beginn an angestrebte Versetzung in die Mordkommission sowie die sich anbahnende 21 Es handelt sich nicht unbedingt um einen Anachronismus: Zum einen sieht Augé die Übermoderne als Fortsetzung von in der Moderne einsetzenden Entwicklungen; zum anderen gibt es hinsichtlich der Existenz von »Transiträumen« durchaus auch Entsprechungen im modernen Großstadtroman der 1920er Jahre. Vgl. zu letzteren Borsò, Vittoria: Transitorische Räume. In: Dünne, Jörg/Mahler, Andreas (Hg.): Handbuch Literatur & Raum. Berlin/ Boston: Walter de Gruyter 2015, S. 259–271, hier S. 268. 22 Vgl. Augé, Marc: Nicht-Orte, S. 83, 95. Im bislang letzten Teil der Krimireihe mit dem Titel Olympia kommt diese Heimatlosigkeit wieder zum Vorschein: Ohne festen Büro- und Schlafplatz irrlichtert der Protagonist durch die Stadt – mit dem vorrangigen Ziel, sein eigenes Leben und das seiner Angehörigen zu retten.

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Beziehung zu seiner Kollegin Charly bei: »endlich eine berufliche Perspektive in dieser Stadt. Und eine private« (NF, 358). So endet der Roman für den Protagonisten denn auch einigermaßen versöhnlich: Raths Blick wanderte über das Dächermeer. Er wusste immer noch nicht, was er von dieser Stadt halten sollte. Aber im Sommer hatte Berlin zweifellos seinen Reiz. Eine ganz andere Stadt als im Winter. Vielleicht war es hier ja gar nicht so schlecht. Nun musste er nur noch Charly überreden, morgen mit ihm ins Grüne zu fahren. Das war das Schwierigste. Aber das würde er auch noch hinkriegen. (NF, 543)

Die Versachlichung des Chaos – Der nasse Fisch als Großstadtroman? Paradoxerweise ist das hervorstechendste Merkmal dieser Integration in die Großstadt Berlin jedoch gerade nicht der Aufbau dauerhafter sozialer Beziehungen – der Erfolg dieser Bemühungen bleibt auch am Ende des Romans relativ offen –, sondern eine Anpassung an einen hier vorherrschenden »Habitus der Sachlichkeit«. Mit diesem Begriff bezeichnet Helmut Lethen eine in der Kultur der Weimarer Republik dominante »Haltung«23, welche sich als Kompensation zu den »Überwältigungsängste[n]« entwickelt habe, die der »in Deutschland überstürzter als in anderen Industrienationen« erfolgende »Prozeß der Modernisierung« hervorgerufen habe.24 Zentrale Komponenten dieses »historische[n] Ernüchterungsmodell[s]«25 sind Lethen zufolge die ostentative Leidenschaftslosigkeit bzw. emotionale Kälte26 mit einer Tendenz zum Zynismus, die es dem Individuum ermöglicht, »bei schmerzlichen Wertzersetzungen eine stoische Gelassenheit an den Tag zu legen«27 und damit handlungsfähig zu bleiben, die Orientierung am Faktischen bzw. an den Tatsachen28 und einer damit zusammenhängenden »neusachlichen Wahrnehmung der Wirklichkeit als Maschinenkomplex«29 sowie nicht zuletzt die Tendenz zur Entideologisierung und »Wertfreiheit«30: 23 Lethen, Helmut: Der Habitus der Sachlichkeit in der Weimarer Republik. In: Weyergard, Bernhard (Hg.): Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. 8: Literatur der Weimarer Republik 1918–1933. München/Wien: Hanser 1995, S. 371–445, hier S. 393. Vgl. zum Folgenden insgesamt auch Lethen, Helmut: Verhaltenslehre der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt (M.): Suhrkamp 1994. 24 Lethen, Helmut: Der Habitus der Sachlichkeit, S. 379. 25 Ebd., S. 391. 26 Vgl. ebd., S. 393. 27 Ebd., S. 402. 28 Vgl. ebd., S. 391–394. 29 Ebd., S. 374. 30 Ebd., S. 394.

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Ein Charakterzug des Typus ›Held der Sachlichkeit‹ ist, daß er die Analyse des gesellschaftlichen ›Kraftfeldes‹ […] vornimmt, ohne sich von moralischen Kategorien beeinflussen zu lassen, und Probleme der Machtausübung als einen Fall für Ingenieure auffaßt. Sein Denken und Handeln beruht auf moralindifferenten Diagnosen […].31

Auffallend viele Elemente dieses neusachlichen ›Habitus der Kälte‹ lassen sich nun zunehmend im Verhalten und Denken des Protagonisten Gereon Rath (aber auch in dem anderer Figuren des Romans) wiederfinden. Dies betrifft erstens die nüchtern-fatalistische Orientierung an ›Fakten‹, an dem, was Lethen den »›Fluß des Lebens‹ als nicht hintergehbare Tatsache«32 nennt. Als die Hauptfigur beispielsweise überlegt, wie sie damit umgehen soll, dass sie ihren Vorgesetzten, auf einen späteren Vorteil hoffend, Informationen vorenthalten hat, heißt es: »Dann hatte er […] das Gewissen mit ein paar Bieren betäubt. Und sich alles noch einmal durch den Kopf gehen lassen, versucht, die Dinge möglichst sachlich zu sehen, so, wie sie nun einmal geschehen waren. Und erkannt, dass es ein Wink mit dem Schicksal war« (NF, 93). Diese Fähigkeit, unwillkommene Gefühle zu rationalisieren, wird für Rath im Laufe des Romans immer bedeutender, denn die Schuld, die er auf sich lädt, wächst unaufhörlich, umfasst bald nicht mehr nur ermittlungsbezogene Alleingänge, sondern auch die Vertuschung eines unter Drogeneinfluss begangenen Tötungsdelikts. Doch auch hierauf weiß er ausnehmend ›sachlich‹ und effektiv zu reagieren: Viel zu viele wirre Gedanken rasten durch seinen Kopf. Er musste Ordnung in dieses Chaos bringen, sich vergegenwärtigen, was geschehen war. Was er getan hatte und was noch alles zu tun war. Das Fahrrad hatte er am Lützowufer in den Landwehrkanal geworfen und den Rest des Weges zu Fuß zurückgelegt. […] Immer noch hatte er gehandelt, als habe ihn jemand aufgezogen, mechanisch, ohne genau darüber nachzudenken, was er tat. Weil er wusste, was zu tun war. (NF, 231)

Auffallend schnell kann sich der Protagonist der ihn aus der »verhängnisvollen Nacht« (NF, 289) verfolgenden »Gespenster« (NF, 263) entledigen: »Als er sich aus dem kühler werdenden Badewasser erhob, fühlte er sich schon besser. Langsam kehrte der alte Tatendrang zurück« (NF, 233, zur Verdrängung von Schuld vgl. auch 301, 331). Behilflich ist ihm hierbei ohne Frage zweitens seine ›moralische Indifferenz‹, die bereits unmittelbar nach dem tödlichen Schuss durchscheint: »Wer würde ihm diese Geschichte glauben? Da lag eine Leiche. Und Herr Kriminalkommissar Gereon Rath, vollgepumpt mit Kokain und Alkohol, behauptet, es sei alles ein Versehen? Ihm wurde klar, dass er das niemandem würde verkaufen können«

31 Ebd., S. 393. 32 Ebd., S. 394.

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(NF, 217). Eine Orientierung an Werten wie Wahrheit oder Gerechtigkeit, wie sie für die Ermittlerinstanz im Kriminalroman üblicherweise bindend ist, lässt er zumindest bezüglich seines eigenen Verhaltens nicht erkennen. Vielmehr sorgt er mit weitreichenden Vertuschungsaktionen (vgl. NF, 287, 292, 300–302, 313) dafür, dass sein eigener Fall in den Schrank der nicht mehr bearbeiteten ungelösten Verbrechen, zu den titelgebenden ›nassen Fischen‹, gelegt wird. Mögliche Korrekturinstanzen deuten sich im ersten Roman der Krimireihe mit dem Auftreten von Charly erst zaghaft an33, während Raths Vater als solche, wie oben bereits beschrieben, ausfällt. Gerade hierin, und zwar in der »Bejahung der ›Vaterlosigkeit‹«34, sieht Lethen im Übrigen eine allgemeine psychische Disposition der jüngeren Generation in den 1920er Jahren. Die »Wertfreiheit« des Protagonisten macht sich auch in anderen Bereichen bemerkbar. Dies betrifft zum einen sein ausnehmend strategisches Handeln hinsichtlich seines beruflichen Fortkommens: »Der Chef der Berliner Polizei hatte ein Problem. Und genau das könnte zum Karrieresprungbrett für den jungen, hoffnungsvollen Kriminalkommissar Gereon Rath werden« (NF, 312, vgl. auch 367). Zum anderen prägt sie auch sein pragmatisches Politikverständnis, das – positiv gewendet – jegliche ideologische Extreme ablehnt, in seinem unpolitischen Opportunismus aber zugleich auf eine in der Endzeit der Weimarer Republik weit verbreitete Haltung verweist, die eine Mitverantwortung trägt für den Aufstieg des Nationalsozialismus.35 Ein dritter Aspekt kommt hinzu, den man unter dem Stichwort der Versachlichung bzw. Ökonomisierung emotionaler Beziehungen fassen kann. Die Bewertung von Beziehungen nach einem rationalen Nutzenkalkül offenbart sich u. a. im Verhalten gegenüber seinen Kollegen: »Konnte nicht schaden, wenn 33 Vgl. den Hinweis auf die »im Laufe der Zeit immer wichtiger« werdenden Funktion Charlys als »Kontrastfigur zu Gereon Rath« bei Kniesche, Thomas: Der historische Kriminalroman als Verführung, S. 55. 34 Lethen, Helmut: Der Habitus der Sachlichkeit, S. 390. 35 Vgl. hierzu die folgende Aussage Volker Kutschers in einem Interview anlässlich der Veröffentlichung des siebten Bandes seiner Reihe mit dem Titel Marlow: »[E]r [Gereon Rath] ist die Hauptfigur dieser[,] ich sag mal[,] Versuchskaninchen, mit denen ich aus der Weimarer Republik ins Dritte Reich gehe. Und da jemand[en] zu haben, der sofort weiß, die Nazis sind böse, ich muss in den Widerstand gehen, ich muss irgendwie hier was machen, das wäre relativ langweilig gewesen tatsächlich. Und es wäre auch, glaube ich, eher unrealistisch gewesen, weil die meisten Menschen eben keine Helden sind und auch nicht immer genau wissen, was richtig ist, und zweifeln und versuchen sich durchzuwurschteln.« Lieske, Tanya: »Moralische Helden kann ich nicht ausstehen«. Krimi-Autor Volker Kutscher im Gespräch. In: »Deutschlandfunk« am 30. Oktober 2018. URL: https://www.deutschlandfunk.de/krimi-autor -volker-kutscher-im-gespraech-moralische-helden.700.de.html?dram:article_id=431857 / letzter Zugriff am 22. April 2021. Siehe auch die diesbezüglichen Hinweise bei Beck, Sandra: Krise in Serie, S. 115, 117–118 sowie Kniesche, Thomas: Der historische Kriminalroman als Verführung, S. 49, 55.

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Jänicke sich zu der einen oder anderen Gefälligkeit verpflichtet fühlte« (NF, 145). Auf dessen spätere Ermordung reagiert er schließlich betont unsentimental (vgl. NF, 344). Am offensichtlichsten folgt Rath dem Ideal der emotionalen Kälte und Männlichkeit36 allerdings im Umgang mit seiner Geliebten Charly: »Es wurde Zeit, dass er diese Frau aus dem Kopf bekam! Wenigstens für ein paar Stunden. Er hatte zu arbeiten« (NF, 198). Als es aufgrund seines rücksichtslosen Handelns frühzeitig zu Problemen zwischen den beiden kommt, reagiert Rath entsprechend mit emotionalen Abwehrreaktionen: »Jedenfalls war er keiner der Typen, die wegen einer Frau in die Fremdenlegion gingen« (NF, 373, vgl. auch 417). Freilich spiegeln diese Aussagen nur bedingt seine wahre Gemütsverfassung wider, die ›Kälte‹ entpuppt sich letztendlich zumindest in der Liebe als nicht erreichbares Ideal: »Nur das mit Charly, das traf ihn tief. Tiefer noch, als er sich das eingestehen mochte. Sie schien ihn wirklich zu verachten für das, was er getan hatte […]« (NF, 370). Wie deutlich geworden sein sollte, sucht Kutscher mit dem Nassen Fisch Anschluss an die »Deskriptionsweisen des ›kalten Blicks‹«37, den die neusachliche Literatur der Weimarer Republik kultiviert hat. Mit der Tatsache, dass ein wichtiger Bezugspunkt für die Neue Sachlichkeit die »Metropolenkultur« darstellt38, rückt zugleich eine besondere Ausprägung der Literatur in den 1920er Jahre in den Fokus: der moderne Großstadtroman, für den in der deutschsprachigen Literatur insbesondere Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz steht.39 Als Charakteristikum der Gattung des modernen Großstadtromans kann im Allgemeinen das Bemühen gelten, den Besonderheiten des neuartigen Sujets, die sich – wie gezeigt – in geschichtlicher Distanz auch bei Kutscher finden, mit spezifischen innovativen erzählerischen Mitteln zu begegnen und damit die Stadt selbst zum Handlungsträger werden zu lassen.40 Ganz ähnlich hat zuletzt auch Clemens Meyer in seinem Nachwort zur Neuübersetzung von John Dos Passos’ 36 Vgl. zur Darstellung von »Männlichkeit in der Krise« bei Kutscher auch Beck, Sandra: Krise in Serie, S. 118. 37 Lethen, Helmut: Der Habitus der Sachlichkeit, S. 374. 38 Vgl. Pankau, Johannes G.: Einführung in die Literatur der Neuen Sachlichkeit. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2010, S. 22–24; vgl. hierzu auch Becker, Sabina: Neue Sachlichkeit. Bd. 1: Die Ästhetik der Neuen Sachlichkeit (1920–1933). Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2000, S. 348–357, 359–365; Delabar, Walter: Klassische Moderne. Deutschsprachige Literatur 1918–1933. Berlin: Akademie Verlag 2010, S. 161–175. 39 Dabei ist die Zuordnung von Döblins Roman zur Neuen Sachlichkeit durchaus umstritten. Vgl. hierzu zuletzt Baßler, Moritz: Regression in den Realismus. Zur Einheit des literarischen Feldes der 1920er und 30er Jahre. In: Grüttemeier, Ralf/Stiemer, Haimo (Hg.): Neue Sachlichkeit im Kontrast – Deutschland und die Niederlande. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2021, S. 17–28, hier S. 23–25. 40 Vgl. u. a. die Definition von Wende, Waltraud: Großstadtroman. In: Burdorf, Dieter/Fasbender, Christoph/Moennighoff, Burkard (Hg.): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2007, S. 296.

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Manhattan Transfer argumentiert. Meyer, dessen Romanveröffentlichung Im Stein (2013) selbst wohl zu den profiliertesten Versuchen der letzten Jahrzehnte gezählt werden darf, die Gattung des Großstadtromans in eine gegenwartsadäquate Form zu überführen41, sieht einen wesentlichen Ausgangspunkt der Texte in den auch in den 1920er Jahren noch spürbaren Folgen des Ersten Weltkriegs, der als Katalysator umfassender Transitionsprozesse fungierte: »Alles resultierte aus dem Großen Knall, dem BIG BANG, dem großen Krieg der weißen Männer, wie das der heute fast vergessene Arnold Zweig […] nannte.«42 Die hieraus entstehenden biographischen, gesellschaftlichen und kulturellen Brüche, die in Städten wie Berlin oder New York besonders augenfällig waren, erforderten Meyer zufolge schließlich eine besondere Form der ästhetischen Bearbeitung: »Die Großstadt zur Sprache machen, den Moloch versprachlichen, die Stimmen komponieren und wieder zerreißen, die Zerrissenheit der Welt formen, die FORM dekonstruieren, das war mir neu […].«43 Eine solche Radikalität in der Form ist in Volker Kutschers Berlin-Krimis nicht nachweisbar. Es liegt bei ihm vielmehr, wie von Thomas Kniesche korrekt beschrieben, eine Art »›moderate[r]‹ Modernismus«44 vor. Zwar verwende Kutscher, so Kniesche, spezifisch moderne Erzählverfahren wie verschiedene Formen des personalen Erzählens, Multiperspektivität und Metafiktionalität, überfordere damit aber nicht die Leser seiner Romane.45 Und in der Tat ist zu konstatieren, dass die wohl tiefgreifendste erzählstrukturelle Neuerung des modernen Großstadtromans, das die Simultanität heterogener Eindrücke widerspiegelnde Montageverfahren, in Der nasse Fisch im Vergleich zu Meyers Im Stein nur sehr rudimentär, in Form einiger eingefügter Zeitungsschlagzeilen und politischer ›Graffitis‹ (vgl. NF, 25, 35, 53–56)46, Anwendung findet. 41 Zur ›Aktualisierung‹ der Gattung des Großstadtromans in Clemens Meyers Im Stein vgl. Buck, Nikolas: Der neue deutsche Großstadtroman – Clemens Meyers »Im Stein«. In: Hansen, Simon/Thielsen, Jill (Hg.): Tendenzen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Frankfurt (M.): P. Lang 2019, S. 37–59. 42 Meyer, Clemens: Dos Passos und die Wild Bunch oder Die Erfindung der Moderne. In: Dos Passos, John: Manhattan Transfer. Roman. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2016, S. 523–531, hier S. 524. Vgl. hierzu auch die obigen Ausführungen zum ›Habitus der Sachlichkeit‹. 43 Ebd., S. 526. 44 Kniesche, Thomas: Der historische Kriminalroman als Verführung, S. 63. 45 Vgl. ebd., S. 54–55, 63. 46 Die entsprechenden Stellen sind in auffälliger Weise durch Kursivsetzung vom Rest des Textes abgesetzt, wobei nicht immer eindeutig zu klären ist, ob es sich um dokumentarische oder fiktive Textelemente handelt. Daneben fehlen bei Kutscher auch Allegorisierungen der Stadt wie bei Döblin (vgl. die »Hure Babylon« in Döblin, Alfred: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf. Roman. Mit einem Nachwort von Moritz Baßler und Melanie Horn. In: Döblin, Alfred: Gesammelte Werke. Bd. 10. Hg. v. Christina Althen. Frankfurt (M.): Fischer Taschenbuch 2015, S. 497–499) und Organismus-Metaphern wie bei Meyer (vgl.

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Anders sieht es dagegen mit dem prägenden Einfluss des von Meyer so titulierten ›Big Bang‹ aus. Der Erste Weltkrieg, der bei Einsetzen der Handlung von Kutschers Roman immerhin bereits über zehn Jahre zurückliegt, ist in Der nasse Fisch omnipräsent. Dies betrifft natürlich zuallererst die Figurenebene: Der Protagonist selbst hat die Grauen des Ersten Weltkrieges zwar nur noch in der Etappe erlebt (vgl. NF, 48–49), durch den Tod und die Emigration seiner Brüder ist das familiäre Band aber nachhaltig zerrissen. Immer wieder trifft Rath im Verlauf der Handlung auf Personen, für die der Krieg ebenfalls noch sehr präsent oder noch gar nicht beendet ist. Recht harmlos äußert sich dies noch in dem privaten Gedenkschrein, den seine Wirtin für ihren im Krieg gefallenen Mann errichtet hat (vgl. NF, 448–449); äußerst problematisch sind dagegen die heimgekehrten Soldaten, die »das Kriegspielen fortgesetzt« (NF, 49) haben und danach trachten, das fragile politische System der Weimarer Republik zum Einsturz zu bringen. Repräsentiert wird dieses Phänomen im Roman u. a. durch die alten Kriegsseilschaften des Polizeikollegen Bruno Wolter, für die sich nach der Waffenstillstandserklärung 1918 »plötzlich alles auf[löste]: Das Land, für das sie gekämpft hatten, gab es nicht mehr. Es nannte sich immer noch Deutschland, doch es war nicht mehr ihr Land« (NF, 227). Handlungsrelevant wird diese revisionistische Einstellung durch die bereits erwähnten Pläne der Vereinigung von Polizei und Reichswehr zum Sturz der gewählten Regierung – Pläne im Übrigen, die zuvorderst auf der Bezugnahme auf einen in der Vergangenheit liegenden ›Erinnerungsraum‹47 und auf der Konstruktion eines die realen landesweiten Unterschiede nivellierenden idealen nationalen Raums – »Deutschland hat viele Feinde« (NF, 173) – beruhen. Auch dieser letztlich scheiternde Putschversuch ist jedoch – so suggeriert es der Text – nur ein weiteres Symptom der umfassenden gesellschaftlichen Transitions- und Auflösungsprozesse, die in Folge des Ersten Weltkrieges in Deutschland eingesetzt haben. Rath kommentiert dies folgendermaßen: »So war die Welt nun einmal, seit sie aus den Fugen geraten war. 1919 hatte die Revolution alle moralischen Werte auf den Kopf gestellt, 1923 die Inflation alle materiellen« (NF, 22, vgl. auch 326). Folgerichtig hat Sandra Beck Kutschers Der nasse Fisch denn auch in summa als »ein bedenkenswertes Spiel mit ›Krise‹ als historiographischem Metanarrativ, als zeitgenössische Diagnose und als Funktionsformel kriminalliterarischen Erzählens«48 gelesen. Der Roman greife die im Diskurs verfestigten Deutungen der Weimarer Republik als »einer orientierungslosen und radikalisierten GeMeyer: Clemens: Im Stein. Roman. Frankfurt (M.): Fischer 2014, S. 142, 147, 153), die die Tendenz unterstützen, die Stadt zum autonomen Handlungsträger zu machen. 47 Vgl. zum Begriff des ›Erinnerungsraums‹ Krah, Hans: Raum und Grenze, S. 76–77. 48 Beck, Sandra: Krise in Serie, S. 112.

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sellschaft, die ihre einstigen Ordnungsmodelle verloren hat«, auf und verarbeite diese zu einer Reihe von Krisenszenarien.49 Diese »Denormalisierungserfahrungen«50, die mit einem Eindruck des gesellschaftlichen und persönlichen Ausnahmezustands einhergehen, sind in Der nasse Fisch angesichts des vom Protagonisten gerade erst vollzogenen Übergangs in den Raum der Großstadt besonders stark ausgeprägt: »Unter normalen Umständen hätte er sich gefreut, doch normal schien nichts mehr zu sein« (NF, 379). Ein in Hinblick auf die Verknüpfung von gattungs- und raumstrukturellen Merkmalen entscheidender Punkt ist nun, dass sich dieser vom Protagonisten geäußerte Eindruck passgenau in die von Beck ebenfalls genannte, in ihrem Beitrag aber schließlich nur rudimentär verhandelte Krise als »Funktionsformel kriminalliterarischen Erzählens« fügt, kann der universale Verlust von Ordnung im modernen Großstadtdschungel doch als ein prägendes Element der sogenannten hardboiled school gelten, wie sie sich seit den 1920er Jahren in den USA als dezidierte Gegenströmung zum englischen Rätselkrimi entwickelt hat.51 Die spezielle Ausprägung, die diese Funktionsformel in Der nasse Fisch erhält, soll nun abschließend auf ihre raumstrukturellen Implikationen hin befragt werden.

Hartgesottene Ermittler und die Allgegenwart des Verbrechens Dass Kutschers Romanreihe über wesentliche Merkmale der amerikanischen hardboiled fiction verfügt, wurde in Feuilleton und Forschung schon vielfach bemerkt.52 »Anklänge […] ergeben sich«, so u. a. Kniesche, »besonders aus dem

49 Ebd., S. 113–114. Vgl. hierzu auch die Hinweise bei Lörke, Tim: Geschichtsbildung im Kriminalroman, S. 136. 50 Beck, Sandra: Krise in Serie, S. 119. Becks Pointe, im Schatten dieser Denormalisierung lasse sich insbesondere beim Protagonisten Gereon Rath eine »fortgesetzte Neukalibrierung von Normalität« (ebd., S. 115) feststellen, welche ihm u. a. ermöglicht, trotz zunehmender nationalsozialistischer Vereinnahmung im Polizeikorps zu verbleiben, ist als Diagnose für die Gesamtreihe ohne Frage zutreffend, kann jedoch für den hier fokussierten ersten Teil nur eingeschränkt Gültigkeit beanspruchen. 51 Vgl. u. a. Scaggs, John: Crime Fiction. London/New York: Routledge 2005, S. 55–84; Nusser, Peter: Der Kriminalroman. Stuttgart: J.B. Metzler 2003, S. 118–128; Heißenbüttel, Helmut: Spielregeln des Kriminalromans. In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München: W. Fink 1998, S. 111–120. 52 Vgl. Beck, Sandra: Krise in Serie, S. 118; Kniesche, Thomas: Der historische Kriminalroman als Verführung, S. 55, 60–61; Lörke, Tim: Geschichtsbildung im Kriminalroman, S. 134, 136. Dass eine Tendenz zur Adaption von Elementen der hardboiled school aktuell auch in nichthistorischen Berlin-Krimis nachweisbar ist, hat zuletzt Maike Schmidt herausgearbeitet. Vgl. Schmidt, Maike: Berlin-Krimis seit 2000. Von der Metropole zur Provinz. In: Parra-Membrives, Eva/Brylla, Wolfgang (Hg.): Facetten des Kriminalromans. Ein Genre zwischen Tradition und Innovation. Tübingen: Narr 2015, S. 103–117, hier S. 108.

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Schauplatz der Romane und der Anlage der Hauptfigur Gereon Rath«53. Dabei sind die sich hieraus ergebenden kriminalliterarischen Gattungsmerkmale auf funktionaler Ebene anschlussfähig an die bisher betrachteten Elemente moderner Großstadtdarstellung. Mit Blick auf die Ermittlerfigur ergeben sich beispielsweise weitreichende Überschneidungen zwischen dem oben herausgearbeiteten Habitus der Sachlichkeit und der Figurenkonzeption des hardboiled detective. Dies betrifft zuallererst die ostentative Zurschaustellung emotionaler Kälte und Männlichkeit, die für beide Konzepte zentral ist und nicht nur Auswirkungen auf die verkümmerten sozialen Beziehungen der Hauptfigur, sondern insbesondere auch auf deren Ermittlungsmethoden hat. »[H]ier logisches Denken, dort rauhe Gewalt«, wie Helmut Heißenbüttel den Unterschied zwischen ›klassischer‹ Detektivliteratur und hardboiled school pointiert zusammenfasst.54 Zwar wird Rath nur selten ›handgreiflich‹, umso wirksamer arbeitet er jedoch mit Strategien der Bedrohung und Beeinflussung von Zeugen und Verdächtigen: »Rath hatte eine Aggression in seine Stimme gelegt, die wirkte, als halte er sie nur mit Mühe zurück. Die Worte kamen leise, aber effektvoll. Tretschkow wich unwillkürlich ein Stück zurück« (NF, 316). Auch hinsichtlich seines Lebenswandels, der u. a. von exzessivem Alkohol- und Drogenkonsum geprägt ist (vgl. NF, 370, 373, 465– 466), und auf sprachlicher Ebene präsentiert sich der Protagonist als tough guy. Letzteres beweist z. B. sein zynischer Kommentar auf den Arbeitsbeginn als Mordermittler: »Sein erster amtlicher Mordfall in dieser Stadt, der Fall, auf den er gewartet hatte – und eine Leiche, die Kriminalkommissar Gereon Rath selbst verbuddelt hat. Na, herzlichen Glückwunsch« (NF, 291). Unstimmigkeiten ergeben sich dagegen bei der moralischen Integrität der Ermittlerfigur, die für die hardboiled school zentral ist, gerade dem Protagonisten von Der nasse Fisch jedoch weitgehend fehlt. Dies gilt, wie oben festgestellt, zumindest für seinen fragwürdigen Umgang mit eigener Schuld. Hinsichtlich der Lösung des übergeordneten Kriminalfalls zeigt er sich zumindest gegen Ende des Romans jedoch durchaus als jemand, der sich berufen fühlt, die Wahrheit ans Licht zu bringen und Gerechtigkeit herzustellen: »Warum also nicht die ganze Sache mit Wolter vergessen und nach dem verkorksten Start endlich in den normalen Alltag der Inspektion A einsteigen, auf seine Chance warten und Karriere machen? Warum nicht? Weil er nicht konnte« (NF, 503; vgl. auch das vorherige Gespräch mit Wolter NF, 489). Gegen die Kennzeichnung des Protagonisten als Ermittler in der Tradition der hardboiled school, der in der Regel als Privatdetektiv auftritt, spricht zudem auf 53 Kniesche, Thomas: Der historische Kriminalroman als Verführung, S. 60. 54 Heißenbüttel, Helmut: Spielregeln des Kriminalromans, S. 112. Vgl. hierzu auch Nusser, Peter: Der Kriminalroman, S. 118–122.

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den ersten Blick dessen Eingliederung in den Polizeiapparat.55 Doch spätestens mit seinem Wechsel in die Mordkommission agiert Rath im Wesentlichen als »Einzelkämpfer[]« (NF, 330). Er »igelt[] sich in seinem Büro ein« (NF, 515), das wiederholt als »Einsiedelei« (NF, 385, 422) bezeichnet wird. Dies entspricht einerseits seinem Wesen; andererseits ist seine Arbeitssituation auch durch die besonderen Umstände bedingt, die ihn in die paradoxe Situation gebracht haben, das von ihm selbst verübte Tötungsdelikt aufklären zu müssen (vgl. NF, 292). Rath ist demnach zwar eingebunden in einen Polizeiapparat, isoliert sich jedoch frühzeitig selbst und agiert so im Grunde durchgängig als eine Art Privatermittler in eigenen Diensten: »Es behagte ihm nicht, einen anderen in einem Fall herumschnuppern zu lassen, den er sozusagen als seine Privatsache betrachtete […]« (NF, 327). Neben der charakteristischen Figurendarstellung zeichnet sich die hardboiled school vor allem durch die besondere Ausgestaltung ihrer Handlungsschauplätze aus. Diese »grenzen sich vom englischen Rätselkrimi«, so Melanie Wigbers zusammenfassend, »durch zwei wesentliche Kriterien ab: zum einen durch ihre Weite und Unüberschaubarkeit und zum anderen durch die Alltäglichkeit und Komplexität ihres Verbrechens«.56 Dem Kriterium der »Weite und Unüberschaubarkeit« entspricht in Der nasse Fisch der Umstand, dass die Großstadt Berlin hier keineswegs als homogener Raum, sondern als eine Welt im Kleinen mit allen damit zusammenhängenden kulturellen und sozialen Unterschieden erscheint. Dem Eindruck des Chaotischen steht dabei auf den ersten Blick allerdings ein bislang noch nicht genanntes Charakteristikum der Raumkonzeption von Kutschers Der nasse Fisch entgegen, das man als Tendenz zur fortwährenden (und immer kleinteiligeren) Parzellierung bezeichnen könnte. In topographischer Hinsicht bestehen zunächst sichtbare Grenzen zwischen den einzelnen Stadtteilen, was den Protagonisten nach Verlassen des Einsatzortes während der Mai-Unruhen zu folgender Reflexion veranlasst: Er sah den Verkehr auf dem Kottbusser Damm, er sah die freitägliche Geschäftigkeit in der Oranienstraße, doch das kam ihm vor wie ein Traum und nicht wie die Wirklichkeit. Seit sie endlich aus Neukölln raus waren, hatte die Stadt ihr Gesicht verändert. Alles wirkte wieder normal. Und die Normalität gleichzeitig unwirklich. Kaum zu glauben,

55 Kniesche setzt aus diesem Grund auch eine andere Gattungstradition zentral: die der police novel. Vgl. Kniesche, Thomas: Der historische Kriminalroman als Verführung, S. 61. Auch diesbezüglich offenbart sich jedoch die graduelle Sonderstellung des Erstlings Der nasse Fisch innerhalb der sich in der Tat in Richtung des Polizeiromans entwickelnden Gesamtreihe. 56 Wigbers, Melanie: Krimi-Orte im Wandel. Gestaltung und Funktionen der Handlungsschauplätze in Kriminalerzählungen von der Romantik bis in die Gegenwart. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 96. Vgl. zuletzt auch Schuchmann, Kathrin: Raumkonzepte. In: Düwell, Susanne/Bartl, Andrea/Hamann, Christof/Ruf, Oliver (Hg.): Handbuch Kriminalliteratur. Theorien – Geschichte – Medien. Stuttgart: J.B. Metzler 2018, S. 36–42, hier S. 38–40.

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dass nur wenige Kilometer weiter der Ausnahmezustand herrschte, dass geschossen wurde, dass Menschen starben. (NF, 79)57

Die von den Behörden vernachlässigten »kommunistischen Hochburgen« (NF, 60) der Stadt stellen für die Polizei ›No-Go-Areas‹ dar (vgl. NF, 321–324); letztere verschanzt sich dagegen in der baulich an einen abweisenden »Bergfried« erinnernden »Rote[n] Burg« (NF, 35). Nicht nur politisch ist die Stadt geteilt, auch die für die Romanhandlung wichtige ethnische Gruppe russischer Immigranten hat ihre eigene Kolonie: Charlottenburg war immer noch das Zentrum der Russen in Berlin. Hier hatten sie ihre eigene Welt aufgebaut, eine Welt mit russischen Buchläden, Friseuren und Kneipen, eine Welt, in der man kein Wort Deutsch sprechen musste, um sich zurechtzufinden. Charlottengrad nannten die Berliner dieses Paralleluniversum. (NF, 96)

Eine letzte wichtige Form der Parzellierung des Handlungsraums ergibt sich schließlich über die kriminellen Ringvereine, die in der Stadt jeweils über ihr eigenes Revier verfügen und in deren »Selbstorganisation« (NF, 117) die Polizei nur selten eingreift. Eine von allen Seiten akzeptierte Sonderrolle kommt dabei dem »Verbrecherkönig« (NF, 452) Marlow zu. Auf den ersten Blick funktionieren diese parzellierten Räume alle nach ihren eigenen Regeln; zumindest empfinden und artikulieren die Figuren dies so. Grenzüberschreitungen von einem Raum in den anderen werden entsprechend misstrauisch beäugt. Während seiner Ermittlungen im Milieu russischer Ausgewanderter wird Rath etwa bestimmt darauf hingewiesen, dass eine Einmischung in ihre Angelegenheiten nicht erwünscht sei (vgl. NF, 99); auch Marlow ermahnt ihn scharf: »›Ich glaube nicht, dass dies ein Ort ist, an dem Sie Bedingungen stellen‹« (NF, 453, vgl. auch 140). Schließlich erscheint auch das Polizeipräsidium als ein eigener Kosmos, an dessen System man sich nach Eintritt erst gewöhnen muss (vgl. NF, 254–255, 513). Bei näherem Hinsehen fallen jedoch drei sich ergänzende Aspekte ins Auge, die die erwähnten Grenzziehungen und damit offerierten Ordnungsvorstellungen im Laufe des Romans zunehmend fragwürdig erscheinen lassen. Zunächst einmal ist mit Blick auf die Parzellierungen eine Tendenz zur immer kleinteiligeren Untergliederung zu beobachten. Dies betrifft nicht nur die bereits erwähnte Revieraufteilung in der Unterwelt, sondern z. B. auch die russische community, die sich noch einmal in kommunistische Aktivisten (die »Rote Festung«) und zaristische Gruppen (»Schwarzhunderter«) aufgliedert (vgl. NF, 57 Der plausible, sich auf diese Textstelle beziehende Hinweis von Sandra Beck, der die Endphase der Weimarer Republik prägende Ausnahmezustand lasse sich allenfalls noch in topographischer Einhegung verbergen (vgl. Beck, Sandra: Krise in Serie, S. 116), kann demnach raumstrukturell auch als Merkmal eines übergeordneten Phänomens, eben der Parzellierung der Stadt, gedeutet werden.

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458–460). Ähnliches lässt sich für den in der »Burg« konzentrierten Polizeiapparat feststellen, dessen Abteilungen über ein gehöriges Maß an Eigenleben verfügen, weshalb der von der Hauptfigur angestrebte Wechsel von der Sitte zur prestigeträchtigen Mordkommission, ein Wechsel »auf die andere Seite der Glastür« (NF, 163), entsprechend eindeutig als Grenzübertritt markiert wird. Zu dieser erneuten Aufspaltung der genannten Bereiche in wiederum gegensätzliche Sphären tritt eine Art Fassadenhaftigkeit, die bewirkt, dass sich die wahre Gestalt vieler Orte erst auf den zweiten Blick enthüllt. Dass illegale Nachtclubs versteckte Hinterräume haben (vgl. NF, 244–246) und von Verbrechern angemietete Schuppen über Keller verfügen, die für Folterungen genutzt werden (vgl. NF, 492), mag noch durch das in den Blick genommene Milieu erklärt werden können. Die Tatsache, dass die Zentrale des ›Superverbrechers‹ Marlow hinter einer Lagerhalle am Ostbahnhof verborgen liegt und im extravaganten Stil eines »englischen Landhaus[es]« (NF, 208) gestaltet ist, scheint wiederum gewissen Genrekonventionen geschuldet zu sein.58 Dass hinter der bürgerlichen Fassade des Wohnhauses von Raths Polizeikollegen Wolter allerdings ein Staatsstreich geplant wird, verweist auf eine grundsätzliche topologische Trennung zwischen einer Sphäre des Inoffiziellen bzw. Privaten und der sichtbaren Öffentlichkeit, die nicht nur für die Unterwelt konstitutiv ist, sondern sich auch auf bürgerliche Haushalte und sogar auf die ›Hüter des Rechts‹, den Polizeiapparat, erstreckt. Letzteres wird besonders augenfällig, als der Protagonist den Polizeipräsidenten Zörgiebel über die Umstände der politischen Verschwörung informiert. Schon der Einstieg ins Gespräch ist bezeichnend, denn auf die Ankündigung Raths, dass es sich um eine dienstliche Angelegenheit handle, antwortet Zörgiebel: »›Ach was! Wir kennen uns gut genug, dass dies als Privatgespräch gelten kann‹« (NF, 506). Nachdem Rath seinen Bericht beendet hat, zeigt sich dessen Vorgesetzter weder besonders irritiert über den Grad der Korruption in seiner Behörde noch möchte er weitere Schritte gegen die Beteiligten einleiten. Stattdessen fordert er Rath zum Stillschweigen auf: »›Von den Dingen, die Sie mir gerade erzählt haben, darf natürlich niemals etwas an die Öffentlichkeit geraten, das ist Ihnen doch klar? Weder Ihre eigenen Verfehlungen, noch die Waffenschiebereien in unserer Behörde und die politischen Verirrungen einzelner Beamter‹« (NF, 507). Dieser Grad der Vertuschung weist auf ein ausgeprägtes Analogieverhältnis zwischen der Unterwelt einerseits sowie den Ermittlungsinstanzen andererseits hin, wodurch es – trotz der von den Figuren thematisierten Grenzziehungen – zu einer Engführung gerade der Sphären kommt, die in der Kriminalliteratur über 58 Vgl. die Exzentrik der Figur des nicht nur namensähnlichen master criminal Dr. Mabuse in Jacques, Norbert: Medium des Bösen. Hg. von Michael Farin und Günter Scholdt. Bd. 1: Dr. Mabuse, der Spieler. Roman. Hamburg: Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins 1994.

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eine Gut/Böse-Dichotomie traditionellerweise klar voneinander abgegrenzt sind. So werden z. B. die Einsatzbereiche der verschiedenen Abteilungen innerhalb der Polizei in gleicher Weise als »Revier[e]« (NF, 116) bezeichnet, in die ›fremde‹ Kollegen möglichst nicht eindringen sollten; der sich anbahnenden Auseinandersetzung zwischen den verfeindeten kriminellen Ringvereinen der Berolina und Nordpiraten (vgl. NF, 416) entspricht der »Krieg« (NF, 361) in der »Burg«, den Rath gegen Oberkommissar Böhm anzettelt; und während die Unterwelt über einen »Ehrenkodex« (NF, 117) verfügt, grassiert im Polizeikorps umgekehrt das von Korruption bis Mord reichende Verbrechen (vgl. u. a. NF, 507). Diese zunehmende Ununterscheidbarkeit zwischen Kriminellen und Ordnungshütern findet gegen Ende des Romans ihre ironische Zuspitzung in einer Aussage des Polizeipräsidenten, als ein zu seiner Bewachung abgestellter Schutzpolizist auf den ankommenden Rath anlegt: »›Nehmen Sie doch Ihre Waffe runter, Wachtmeister! Können Sie keinen Kommissar von einem Attentäter unterscheiden?‹« (NF, 505) Dieser analogen Semantisierung von Polizeiapparat und Unterwelt entspricht ein auf der ökonomischen Logik von Angebot und Nachfrage beruhendes Komplementärverhältnis von Unterwelt und behördlichen Ermittlungsinstanzen. Als Rath zum ersten Mal auf Marlow trifft, bietet dieser ihm sogleich eine bezahlte Informantentätigkeit an: »›Vielleicht kann ich Ihnen auf andere Weise helfen. […] Sie wären nicht der erste Bulle, der die Seiten gewechselt hat‹« (NF, 208–209). Auch wenn es an dieser Stelle noch nicht dazu kommt, unterstützen sich Rath und Marlow im weiteren Verlauf des Romans gegenseitig bei der Durchsetzung ihrer jeweiligen Interessen (vgl. insbesondere den Schlussteil NF, 508–531). Das Komplementärverhältnis betrifft freilich nicht nur die problematische Nähe von Verbrechern und Polizisten. Eine gegenseitige Abhängigkeit besteht auch zwischen der Unterwelt im ›Wilden Osten‹ und der Welt der Reichen und Mächtigen im mondänen Westen der Stadt (vgl. NF, 117, 154–155, 308–309)59, wie schon im Zusammenhang mit der anfänglichen Aufdeckung des Pornorings deutlich wird: In Hinterzimmern und illegalen Nachtclubs wurden sie [die pornographischen ›Aufklärungsfilme‹] den Eingeweihten gezeigt. Meist in den besseren Gegenden im Westen der Stadt, denn der Eintrittspreis lag weit über dem einer normalen Kinovorführung. Oft nahmen sich die reichen Herren gleich einige Gespielinnen mit in die Vorstellung, um das auf der Leinwand Gezeigte sogleich in die Praxis umsetzen zu können. So etwas konnte einer wie König niemals alleine stemmen, dazu brauchte es Hintermänner. In

59 In diesem Punkt wird auch eine Tag/Nacht-Dichotomie wirksam, da die Verstrickung der Milieus bevorzugt in den Nachtstunden zum Vorschein kommt (vgl. u. a. NF, 155).

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der Filmindustrie, im organisierten Verbrechen der Stadt und auch in den besseren Kreisen im Westen. (NF, 33)

Während einer Razzia in einem illegalen Nachtclub versucht sich ein illustrer Gast wiederum mit dem Hinweis auf die Bekanntschaft mit dem Innenminister aus der misslichen Lage zu befreien (vgl. NF, 247), während der Journalist Weinert Rath halb aus Scherz, halb im Ernst fragt: »›Verbrechen oder Politik, wo ist da der Unterschied?«‹ (NF, 312, vgl. auch 58) Es kommt also nicht nur zu einer Aufhebung der für den Kriminalroman so elementaren Dichotomie von Gut und Böse, sondern auch zur Auflösung der Grenze zwischen Verbrechermilieus und der politischen und wirtschaftlichen Elite der Gesellschaft. Insbesondere hierin, in der sich nicht zuletzt in der Raumstruktur widerspiegelnden Allgegenwart des Verbrechens, die eine vollständige Wiederherstellung der gesellschaftlichen Ordnung tendenziell unmöglich macht, ist die wohl bedeutendste Übereinstimmung zur hardboiled school zu sehen. So muss sich auch der Protagonist am Ende mit einem Teilerfolg begnügen: »In den vergangenen Wochen hatte er sich immer wieder eingeredet, Bruno Wolter habe seine gerechte Strafe gefunden. Doch eigentlich hatte er nie daran geglaubt. Der Polizeipräsident hatte aus Wolter einen Helden gemacht, die Presse hatte die Geschichte geschluckt« (NF, 541–542).

Fazit Abschließend seien noch einmal drei Aspekte der Raumkonzeption von Volker Kutschers aus dem Jahr 2007 stammendem historischen Kriminalroman Der nasse Fisch besonders hervorgehoben. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass der Roman als erster Teil einer mittlerweile acht Bände umfassenden Krimireihe um den Berliner Kommissar Gereon Rath noch wesentlich von der Grenzüberschreitung des aus der Provinz stammenden Protagonisten in den großstädtischen Raum und von dessen Versuchen der Integration geprägt ist. Dabei ergibt sich eine handlungskonstitutive Verknüpfung von raumstrukturellen Merkmalen zweier Gattungstraditionen, und zwar einerseits des modernen Großstadtromans und andererseits der hardboiled fiction. Die Analyse hat damit zusammenhängend zweitens aufzeigen können, dass die Charakterisierung der Romanfiguren, insbesondere des Protagonisten Gereon Rath, deren Denken und Handeln entscheidend von einem Habitus der Sachlichkeit und Merkmalen des hardboiled detective beeinflusst wird, eng mit der Raumdarstellung verwoben ist – sei es durch die dynamische Figurenbewegung im Raum, sei es durch die Konkretisierung existentieller Einsamkeit mithilfe häufiger Aufenthalte an sogenannten Nicht-Orten oder sei es durch die

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Auflösung der sowohl figuren- als auch raumkonzeptionellen Grenze von Gut und Böse. Bezüglich letzterem ergibt sich drittens die Besonderheit, dass sich unterhalb der von den Figuren oberflächlich wahrgenommenen räumlichen Parzellierungen eine Tiefenstruktur abzeichnet, in der sich die vermeintlich gegensätzlichen Sphären von Polizei und Unterwelt sowie der gesellschaftlichen Elite und kriminellen Milieus als einander analog und voneinander abhängig erweisen. Hierin äußert sich die für die hardboiled school typische Allgegenwart des Verbrechens, die eine Wiederherstellung der Ordnung tendenziell unmöglich erscheinen lässt. Unter Berücksichtigung der genannten zum Teil auf die Adaption zeitgenössischer Diskurse zurückgehenden strukturellen Auffälligkeiten in der Darstellung der Großstadt Berlin in den 1920er Jahren und ihrer Funktionalisierung im Rahmen einer hardboiled-Kriminalhandlung ist letztlich zu konstatieren, dass die »historische Einbindung« von Kutschers Roman in der Tat »keine bloße Kulisse« ist60, sondern die einzelnen aus unterschiedlichen Gattungstraditionen stammenden Textelemente auf durchaus komplexe Weise ineinandergreifen. Wie konsequent sich Volker Kutscher in seinem Roman Der nasse Fisch um eine funktionale Verflechtung von Elementen der Großstadtdarstellung und des Kriminalromans bemüht, offenbart im Übrigen nicht zuletzt eine textstrukturelle Rahmung, die bedeutende Mikroelemente kriminalliterarischen Erzählens mit Ansichten auf die Großstadt Berlin verknüpft. Die erste wirklich aktive Handlung des Protagonisten besteht nämlich in der Verfolgung eines Verdächtigen (vgl. NF, 23–31), die ihn die Hermannstraße entlang bis zur Großbaustelle des Karstadt-Gebäudes am Hermannplatz führt und die in kondensierter Form bereits viele der sich im Laufe des Romans entfaltenden Merkmale der Raumdarstellung enthält. Diese Klammer wird schließlich am Ende des Romans geschlossen, indem die krimitypische Auflösung letzter den Fall betreffender Rätsel ausgerechnet auf der Dachterrasse des mittlerweile fertiggestellten Warenhauses stattfindet (vgl. NF, 539–543). Im Kontrast zur existentiell bedrohlichen Anfangsszene deutet sich hier abschließend noch einmal die gelungene Integration des Protagonisten in den großstädtischen Raum an: In der Ferne die acht Schornsteine des Kraftwerks Klingenberg, die große Halle des Görlitzer Bahnhofs mitten im Kreuzberger Häusermeer. Rath genoss die Aussicht. Diesmal konnte er sie genießen. Derselbe Ausblick wie damals. Nur diesmal ungetrübt von Schwindelgefühlen, eine ausreichend hohe Balustrade sicherte die Besucher des

60 Kniesche, Thomas: Der historische Kriminalroman als Verführung, S. 48. Zu einem gegenteiligen Schluss gelangt die Rezension von Pfohlmann, Oliver: Berlin vertraulich. In: »die tageszeitung« vom 26. Januar 2008. URL: https://taz.de/Zwanziger-Jahre–-Krimi/!5187806 / letzter Zugriff am 22. April 2021.

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Karstadt-Dachrestaurants vor dem Absturz auf den Hermannplatz. Heute hatte das neue Kaufhaus eröffnet, und es herrschte ein unbeschreiblicher Rummel. (NF, 539)

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Nikolas Buck

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Elisa Garrett (Universität Bayreuth)

Harzkrimi – Lokalität und Lokalpolitik unter dem Deckmantel der Narration

Mick Schulz’ Regionalkrimi Pfefferbeißer (2012) spielt in der Goslarer Altstadt. Es ist der zweite Fall der Mordkommission Jens Niebuhr und Sina Kramer und bildet den Abschluss einer zweibändigen Reihe aus der Rubrik »Harz Krimi«.1 Obschon die Kategorie eine norddeutsche Großregion öffnet, beschränkt sich die Handlung auf das Stadtgebiet Goslar und den umgebenden Landkreis. Entgegen dem regionalen Motiv verwandter Rubriken, beispielsweise dem Schwarz- oder Odenwaldkrimi, wird der Harz bei Mick Schulz nicht flächendeckend erschlossen.2 Dasselbe gilt für den ersten Fall des Ermittlerteams – Sauerfleisch (2011) erklärt aber keinen städtischen Landkreis zum Ort des Verbrechens, sondern die Region Oberharz.3 Beide Bände fokussieren ein bestimmtes Gebiet, sei es den nordwestlichen Part des Mittelgebirges oder den Verwaltungssitz Goslar. Als besondere Struktur der Krimis geht demnach die regionale Verwaltung hervor.4 Dieser Aspekt soll im Folgenden untersucht werden. Um eine gründliche Analyse zu gewährleisten, wird der Hauptgegenstand Pfefferbeißer um den ersten Teil der Reihe ergänzt, sofern die Verknüpfung zielführend ist. Abgesehen von der familiären Entwicklung der Kommissarin und Protagonistin funktionieren die beiden Fälle grundsätzlich autonom – etwa so, wie die unabhängigen Folgen der Fernsehserie Tatort sporadisch das Privatleben der Ermittlerteams in den Blick nehmen.5 1 Vgl. Schulz, Mick: Pfefferbeißer. Harz Krimi. Köln: Emons 2012. Im Folgenden wird für den Verweis auf das Werk die Sigle PF mit der entsprechenden Seitenzahl verwendet. 2 Vgl. Löffler, Katharina: Allgäu reloaded. Wie Regionalkrimis Räume neu erfinden. Bielefeld: transcript 2017, S. 53. 3 Vgl. Schulz, Mick: Sauerfleisch. Harz Krimi. Köln: Emons 2011, S. 2. 4 Zur näheren Einsicht in das Verwaltungssystem in Niedersachsen und Goslar siehe Lange, Linda: Leben an mehreren Orten: Multilokalität und bürgerschaftliches Engagement in ländlich geprägten Räumen Niedersachsens. Berlin: Lit Verlag 2018, S. 59–62. 5 Vgl. Heinze, Carsten: Alltagskonstruktionen und soziale Rolle. Eine soziologische Perspektive auf den »Tatort«. In: Hißnauer, Christian/Scherer, Stefan/Stockinger, Claudia (Hg.): Zwischen Serie und Werk. Fernseh- und Gesellschaftsgeschichte im »Tatort«. Bielefeld: transcript 2014, S. 41–66, hier S. 59.

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Die regionale Verwaltung impliziert diverse Faktoren, die der Harzkrimi für sich beansprucht. Dazu zählen mitunter die kulturell geprägte Identität, politisch-administrative Rechte, innerstädtische Machtstrukturen sowie die kulturbasierte Infrastrukturpolitik.6 Infrastruktur und Wirtschaft erheben sich zum zentralen Motiv der Handlung; so sorgt die Planung der fiktiven Hokenpassage in der Goslarer Fußgängerzone – ein »lukratives Investment« – für Aufruhr im Stadtrat und bedingt letztlich den doppelten Mord (PF, 150). Diese Basis weist bereits darauf hin, dass speziell die Lokalpolitik eine wichtige Rolle für das Geschehen einnimmt. Darüber hinaus basiert der Romantitel auf einer Anekdote zweier Figuren und Stadtratsmitglieder: »Wir in der Politik sind Pfefferbeißer, Helmut, das weißt du doch« (PF, 65). Was zunächst auf eine Rohwurstspezialität anspielt, wird als Metapher für Politik verwendet. Sauerfleisch, der Titel des ersten Falls, bleibt hingegen als regionales Gericht annotiert. Beide Gerichte sind Spezialitäten der Harzer Küche, die Pfefferbeißer erfahren jedoch eine neue Kontur. Diese Tendenz ist nicht unüblich für das Genre; auch die bayerischen Provinzkrimis von Rita Falk (und deren Verfilmungen) lassen eine auffällige Häufung an kulinarischen Titeln erkennen: Winterkartoffelknödel, Leberkäsjunkie, Schweinskopf al dente und Zwetschgendatschikomplott sind nur einige Beispiele. Martin Hennig bezeichnet diese Strategie der Regionalkrimiliteratur als sogenanntes Food Design.7 Schulz versieht die gewählte Speise innerhalb des Geschehens mit einer klaren Funktion, die den Werktitel rückwirkend neu erschließt. Als politisch Befugte für die Zukunft der städtischen Entwicklung stellt die Geschichte fiktive Charaktere bereit: den Oberbürgermeister, dessen Stellvertretung, den gesamten Stadtrat und einen Ratsherrn für Bauwesen. Mit dem Roman wird nicht nur ein regionaler Mordfall geboten, sondern auch ein lokalpolitischer Konflikt inszeniert. Protagonist und ›Opfer‹ der Handlung scheint zunehmend Goslar selbst zu sein. Ferner arrangiert der Text mit Erwähnung des Bergbaumuseums Rammelsberg und der detaillierten Beschreibung der örtlichen Altstadt ein Ensemble von historischen Bauwerken, die zu den Weltkulturerbestätten der UNESCO zählen.8 Neben dem narrativ-literarischen Faktor verfolgt der Roman einen kulturpoetischen Ansatz, der über das bloße Setting hinausgeht. Diesbezüglich betont der Autor, dass ein guter Krimi weniger als 6 Vertiefend hierzu siehe Kramer, Dieter: Metropolen und Umland: Kulturanalyse und Kulturpolitik. Von der »kulturellen Mitversorgung« der Region zur »kulturbasierten Infrastrukturpolitik«. In: »Jahrbuch für Kulturpolitik« Nr. 6 vom 21. Juni 2006, S. 255–264. 7 Vgl. Hennig, Martin: Von Düsterbruch nach Finsterau. Heimat im Regionalkrimi. In: Nies, Martin (Hg.): Deutsche Selbstbilder in den Medien. Gesellschaftsentwürfe in Literatur und Film der Gegenwart. Marburg: Schüren 2018, S. 45–70, hier S. 47. 8 Vgl. Roseneck, Reinhard: Auf den Spuren des neuen UNESCO-Welterbes Oberharzer Wasserwirtschaft. In: »Berichte zur Denkmalpflege in Niedersachsen« 4 (2010), S. 138–151.

Harzkrimi

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Spannungsroman, sondern vielmehr als »Spiegel der Gesellschaft« zu lesen sei.9 Das Subgenre behandelt die »Authentifizierung« und Erfahrung des Fremden innerhalb einer vertrauten Umgebung.10 Rund um den Mordfall werden historische Hintergründe und Besonderheiten der Schauplätze präsentiert, die sich bereits im Titel manifestieren.11 Dieser Beitrag soll die Korrelation von Lokalität und Lokalpolitik am Beispiel des Harzkrimis aufspüren.

Topographie als Wegweiser für den Krimi Relevant ist zunächst die Lokalität des Verbrechens. Sie verortet den Fall in einer bestimmten Region und lässt das Werk zu einem Regionalkrimi werden. Der Einbruch des Fremden umfasst nicht nur das tragische Tötungsdelikt, sondern kennzeichnet auch die Herkunft des Toten. So stammt das erste der beiden Opfer aus einer fremden Region, deren Ursprung erst identifiziert werden muss. Als Indiz dient ein Ring mit einem speziellen Stadtwappen: »Das Wappen zeigte zwei Löwen auf Hinterbeinen, die einen Schild in ihren Pranken hielten, darauf abgebildet eine zweitürmige Burg oder Festung, über der sich zwei Schlüssel kreuzten« (PF, 27). Insofern nimmt die Leserschaft an der Ermittlung teil, sie kann selbst eruieren, welcher Stadt (Riga) in welchem Land (Lettland) das beschriebene Wappen angehört. Darüber hinaus kommt der Identität der Gemeinde enorme Tragweite zu. Das Opfer legitimiert sich – wie der Regionalkrimi selbst – über das Merkmal der Lokalität. Nach einem kurzen Prolog setzt die Spurensicherung ein. Im Zentrum steht ausdrücklich der Fundort der Leiche, dessen Ausführung einen topographischen Blick eröffnet: Der Fundort der Leiche befand sich etwa zwanzig Schritte von einem Waldpfad entfernt, der unmittelbar hinter der Stadtausfahrt über die Hänge oberhalb der B 241 führt, der Ausfallstraße von Goslar in den Oberharz. Daran schließen sich auf derselben Seite Pferdewiesen an, gefolgt vom Campingplatz »Sennhütte«, der an dem friedlich wirkenden Flüsschen Gose liegt, von dem die Stadt ihren Namen hat. In lang anhaltenden Regenperioden und während der Schneeschmelze verliert die idyllische Gose allerdings ihre Harmlosigkeit und ist imstande, das ganze Tal zu überfluten. (PF, 11)

Die Topographie, ein Teilgebiet der Kartographie, konzentriert sich bekanntlich auf die Vermessung, Beschreibung und detaillierte Darstellung von Gebieten. Sie erfasst die Erdoberfläche sowie alle natürlichen und künstlichen Elemente, die 9 Schulz, Mick: Sauerfleisch, S. 2. 10 Caspers, Britta/Hallenberger, Dirk/Jung, Werner/Parr, Rolf: Ruhrgebietsliteratur seit 1960. Eine Geschichte nach Knotenpunkten. Berlin: J.B. Metzler 2019, S. 189. 11 Vgl. Schmidt, Maike: Berlin-Krimis seit 2000. Von der Metropole zur Provinz. In: ParraMembrives, Eva/Brylla, Wolfgang (Hg.): Facetten des Kriminalromans. Ein Genre zwischen Tradition und Innovation. Tübingen: Narr 2015, S. 103–118, hier S. 106.

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mit ihr in Verbindung stehen. Im obigen Zitat sind alle relevanten Faktoren der topographischen Kartierung vertreten: Das Gelände und sein Relief (»Oberharz« nebst »über die Hänge«), vorhandenes Gewässer (»Flüsschen Gose«), Bodennutzung plus Vegetation (»Pferdewiesen«, »Waldpfad«), Unterkunft (»Campingplatz«) und Verkehrswege (»Stadtausfahrt« nahe der »Ausfallstraße« B 241).12 Später werden nochmals »die schwarz-weißen Fachwerkhäuser am Ufer der Gose« konkretisiert und führen den Aspekt der Bebauung fort (PF, 141). Daraufhin schließt die Passage mit dem symbolischen Bild einer Überschwemmung ab, das die Kehrseite der idyllischen Lage betont. Das Bild illustriert eine wetterbedingte Störung innerhalb der vertrauten Region und fungiert zugleich als Signal für das Kriminalitätsrisiko des Harzer Terrains.13 Ferner betont der Campingplatz das Tourismuswesen der Gegend. Der Einstieg in die Geschichte liefert klare Indizien für die Lokalität der Handlung, obschon sie für die Ermittlung des Mordfalls – dem eigentlichen Gegenstand eines Krimis – irrelevant sind. Dies betrifft insbesondere die Bundesstraße 241, die auch im ersten Band der Reihe mehrfach Erwähnung findet.14 Sie wird zum Dreh- und Angelpunkt der Geschichte: Die Kommissare »kehrten zum Parkplatz an der B 241 zurück, wo ihr Dienstwagen stand« (PF, 13); der Fall trägt anfangs den Titel »Skelettfund an der B 241« (PF, 14). Selbst der Auftakt zum zweiten Verbrechen nimmt die Straße erneut ins Visier und auch abseits der Tötung taucht die Kennzeichnung auf. Kurz: Die 156 km lange Bundesstraße 241 von Hohenwepel nach Vienenburg erfährt eine enorme Präsenz im Text und wird von allen Seiten beleuchtet. Sie dient als Konstante und Koordinate im Straßenbild rund um Goslar. Obwohl sich die Handlung mit der Aufklärung eines Verbrechens beschäftigt, unterliegt das Verkehrswesen einer Klassifizierung in Straßentypen und -nummern. Exakte Angaben der regionalen Infrastruktur konkurrieren mit der Fiktion und steigern den Realitätsgehalt. Der Text bewirkt eine Art ›Mapping‹ – oder topographische Kartierung – der Region, die um einen bestimmten Radius abgesteckt wird. Die Bundesstraße strukturiert wiederum das Geschehen, indem sie die Navigation übernimmt: Sie regelt die lokale Verknüpfung zwischen einzelnen Handlungsorten und versieht den Schauplatz mit einer Kulisse – in räumlicher, optischer und akustischer Perspektive. Betrachtet man zusätzlich den ersten Fall der Reihe, 12 Vgl. Kohlstock, Peter: Topographie. Methoden und Modelle der Landesaufnahme. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2011, S. 145. 13 Da der besagte Fluss – vor allem im Zeitraum der Werkentstehung – nur selten über die Ufer tritt, vermittelt die Überschwemmung ein Katastrophenbild. Zu nennen wäre beispielsweise das Hochwasser im Juli 2017, welches laut Oberbürgermeister Dr. Oliver Junk das stärkste seit achtzig Jahren gewesen sei. Siehe: Deutsche Presse-Agentur: Dauerregen und Katastrophenalarm: Braune Fluten im Harz. URL: https://www.morgenpost.de/vermischtes/article 211357687/Vielerorts-heftige-Regenfaelle.html / letzter Zugriff am 26. Februar 2020. 14 Vgl. Schulz, Mick: Sauerfleisch, S. 10, 88.

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schlägt sie eine Brücke zwischen beiden erschienenen Titeln. Die B 241 vernetzt Pfefferbeißer und Sauerfleisch über die regionale Identität hinaus. Der Routeneffekt liefert eine erzähltheoretische Basis und festigt die Infrastruktur des Krimis.

Objektive und subjektive Erschließung Der Roman thematisiert vornehmlich das Goslarer Stadtgebiet und den zugehörigen Landkreis. Um der Rubrik Harz-Krimi dennoch gerecht zu werden, sind vereinzelte Marker zu finden, die auf weitere Gebiete in der Region verweisen. Beispielsweise absolvierte der aktuelle Lebensgefährte der Kommissarin ein Studium in Clausthal und betrieb ein (fiktives) Teegeschäft im nicht näher definierten Raum Oberharz (vgl. PF, 29). Im ersten Band des Ermittlungsteams ist diese Entwicklung nachzulesen; jener Fall umreißt das höhergelegene nordwestliche Gebirge verhältnismäßig stärker. Der Harz gliedert sich grob in Ober-, Mittel- und Unterharz, wobei Goslar zwischen den nordwestlichen Ausläufern und dem südlichen Ende des Salzgitter-Höhenzugs liegt.15 Kommissar Niebuhr wurde zudem »aus dem Oberharz nach Goslar« versetzt (PF, 21); das momentane Präsidium befindet sich am »Harzrand« (PF, 117). Der relevante Schauplatz ist somit explizit nicht als Zentrum des Mittelgebirges markiert, sondern kennzeichnet dessen Limitation. Sauerfleisch verlässt zwar das Goslarer Stadtgebiet, stuft den Ortswechsel jedoch gleich zu Beginn eher negativ ein: »Fast ein Jahr war Kriminaloberkommissarin Sina Kramer nicht mehr oben gewesen. Beruflich hatte es sich nicht ergeben, und ansonsten gab es kaum etwas, das sie in den Oberharz zog« – abgesehen vom titelgebenden Sauerfleisch.16 In diesem Fall trifft der prägnante Heimat- und Identifikationsgedanke des Regionalkrimis nur geringfügig zu, deutlicher wird er im zweiten Band formuliert.17 Zusätzlich vermittelt einer der mordverdächtigen Figuren – Fred de Groot, Inhaber der fiktiven Firma De Groot Pharma GmbH – ein Gedankenspiel, das ebenfalls in den Oberharz führt und dem Routenverlauf der Verkehrswege folgt. Der innere Teil des Harzes scheint nur über bestimmte Straßen erreichbar und wird nicht, etwa per Luftlinie, als repräsentatives Gebiet für die behandelte Region genutzt: Sein Blick blieb an einem Reisebus haften, der sich die Okerstraße entlang Richtung Oberharz bewegte, und er malte sich die Strecke aus, die der Bus nehmen würde, vorbei 15 Zur näheren (geologischen) Gliederung des Harzes siehe Meschede, Martin: Geologie Deutschlands. Ein prozessorientierter Ansatz. Berlin/Heidelberg: Springer 2015, S. 83–89. 16 Schulz, Mick: Sauerfleisch, S. 10. 17 Vgl. Hennig, Martin: Von Düsterbruch nach Finsterau, S. 46.

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an der schäumenden Oker bis zu ihrem Stausee, der mehrere Täler füllte, und darüber hinaus, nach Altenau oder bis Torfhaus oder Braunlage oder weiter in den Osten. (PF, 129)

Das Zitat beginnt mit einer realen Situation, die in eine imaginäre Vorstellung übergeht. Dieser Transfer ist im metaphorischen ›Ausmalen‹ begründet und liefert dennoch eine geographisch-stimmige Schilderung der oberen Harzgegend. Erneut erhalten Fremdenverkehr und regionales Tourismuswesen Einzug in die Beschreibung: Der Reisebus (also kein personaler Nahverkehr) erstellt eine Route durch das Gebiet, welche die Fahrt mit diversen Stationen und Zielpunkten ausstattet. Dabei verbinden sich die Faktoren ›Reise‹ und ›Bild‹ zu einem markanten Komplex aus geographischen Koordinaten, Navigation und poetischer Überformung. Die inflationäre Verwendung der Konjunktion ›oder‹ unterstreicht die Vielfältigkeit der beliebten Region. Von den umliegenden Gewässern geprägt, zeichnet die imaginierte Tour einen idyllischen Blick auf das Harzer Mittelgebirge – Ausgangspunkt bleibt nach wie vor Goslar. Parallel dazu dient die Stadt schon im vorherigen Band der Reihe als Pforte zum Oberharz: Kurz hinter dem mittelalterlichen Bilderbuchstädtchen Goslar tauchte man ein und nach etwas mehr als zwanzig Kilometern schwarzgrüner Tannendüsternis am anderen Ende, meist im Nebel, wieder auf, vier bis fünf Grad kälter, graue Häuser, graue Menschen. Die Welt wurde enger, je tiefer man in den Oberharz vordrang.18

Abermals erlangt die Region eine negative und visuelle Kontur; dieses Mal dominiert statt der poetischen Perspektive (»vorbei an der schäumenden Oker«) der ubiquitäre Grauton. Durch die düsteren Farbnuancen wird die räumliche Dynamik – im Gegensatz zur oberen Äußerung – verringert. Zudem bildet der Oberharz hier einen realen Zielpunkt, obschon sein Gebiet nicht näher erschlossen wird. Die Strecke zwischen Goslar und lokalisiertem Tatort scheint gänzlich verschwommen und behält diesen Eindruck konsequent bei. Das Bildnis entwirft, ähnlich der Überschwemmung der Gose, eine passende Kulisse für den drohenden Mord. Ferner ist Goslar als ›Bilderbuchstädtchen‹ beschrieben, wodurch ihr ein erheblicher Bildgehalt zukommt. Der Bilderbuch-Begriff erinnert zunächst an die sogenannte Ekphrasis: eine literarische Form der Rede, mit der ein Gegenstand oder eine Situation bildlich beschrieben und dargestellt wird.19 Sie erfährt vorrangig bei der literarischen Beschreibung von Kunstwerken Verwendung, in die sich auch das Bilderbuch einreihen ließe.20 Im engeren Verständnis ist die Funktion der Ekphrasis wie folgt definiert: Ein ursprünglich autonomes Bild wird in ein literarisches Abbild transferiert (ekphrastischer 18 Ebd., S. 10. 19 Vgl. Löhr, Wolf-Dietrich: Ekphrasis. In: Pfisterer, Ulrich (Hg.): Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe. Stuttgart: J.B. Metzler 2011, S. 99–104, hier S. 99. 20 Vgl. ebd.

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Transfer) und erhält dabei Einzug in den verbalen Raum.21 Es steigert den visuellen Effekt. Im weiteren Verständnis gilt die Ekphrasis als eine besondere Form der Rede mit einer hohen Bildkraft und Anschaulichkeit, wie sie auch im Regionalkrimi vorliegt.22 Die Anschaulichkeit der Gegend erhöht den Faktor der Glaubwürdigkeit: Wenn sich die Handlung speziellen Gebieten zuordnen lässt, fließt sie in die vertraute Umgebung ein. Sie wird in ein bekanntes ›Bild‹ integriert, welches der Realität entstammt. Maßgebend ist nicht nur der Heimatgedanke, sondern die subjektive Erfahrung: imaginär, als Rückstand aus vergangenen Zeiten oder aufgrund eines Ausflugs. Das direkt betonte Tourismuswesen des Harzes trägt zum überregionalen Verständnis der Lokalitäten bei. Obwohl der (Ober-)Harz nur selten Erwähnung findet, bildet er einen Rahmen für das Geschehen und positioniert sich als Reiseziel. Dieser Eindruck bleibt durchweg präsent und unterstützt die Atmosphäre des Krimis.

Funktionale Stadtgliederung Neben der Routenbildung im Oberharz nimmt der Text eine präzise Kartierung des Goslarer Stadtraums vor; so besitzt Kramer ein »Reihenhaus im Goslarer Siemensviertel« und gebraucht ihren Wohnsitz zugleich als Kennzeichen für die Stadtgliederung (PF, 14). Zusätzlich erfolgen ein Abstecher in den »neueren Stadtteil Jürgenohl« (PF, 52) und die Nennung des Ortsteils Oker (vgl. PF, 54). Neu ist Jürgenohl insofern, als es im Gegensatz zu den übrigen Vierteln erst nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurde und als Neusiedlung für Ostvertriebene gedacht war – und schließlich als Stadtteil vorhanden blieb.23 Demgemäß liefert der jüngere Ursprung ein Indiz auf die historisch-kulturelle Entwicklung des Stadtkerns, die über die bloße Handlung des Krimis hinausgeht. Weiterhin wird Immenrode gelistet und direkt »vor den Toren der Stadt« platziert – und zwar nicht im Rahmen des Mordfalls, sondern als einfacher Wohnort (PF, 110). Obwohl der Ortschaft keine Relevanz für die Ermittlung zukommt, findet sie Einzug in die topographische Ordnung. Erklärend muss jedoch ergänzt werden, dass

21 Vgl. Yacobi, Tamar: Ekphrastic Double Exposure and the Museum Book of Poetry. In: »Poetics Today« Nr. 34,1–2 vom 1. Juni 2013, S. 1–52, hier S. 2–3. 22 Vgl. Boehm, Gottfried/Pfotenhauer, Helmut: Einleitung: Wege der Beschreibung. In: Boehm, Gottfried/Pfotenhauer, Helmut (Hg.): Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. München: W. Fink 1995, S. 9–19, hier S. 11. 23 Vgl. Schramm, Johannes: Der Stadtteil Jürgenohl für 10.000 Menschen geplant. In: »Goslarer Bergkalender« Nr. 75 (1996), S. 75–80.

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ihre Einbürgerung in die Stadt Goslar erst zwei Jahre nach Erscheinen des Krimis erfolgte; bis Ende 2013 galt Immenrode als Ortsteil von Vienenburg.24 Darüber hinaus wird ein Casino im Kurort Bad Harzburg zitiert, der zweitgrößten Stadt im Landkreis mit einer hohen Bevölkerungsdichte (vgl. PF, 106, 108). Ähnliches trifft auf die beiden Nachbarstädte Wernigerode und Braunschweig zu, die primär in wirtschaftlicher Funktion auftreten (vgl. PF, 148). Besucht werden diese Regionen nicht, sie dienen als erweiterter Kontext und fördern die Einordnung im Raum Niedersachsen – Goslar wird einerseits als separates Gebiet erschlossen, andererseits auf Bundesebene lokalisiert. Der Blick auf die urbane Kulisse folgt einer perspektivischen Rundschau, wie es der Ausdruck »Panorama der Stadt« belegt (PF, 24). Ferner liefert der Text eine subjektive Betrachtung der Landschaft, so wird mitunter der Kahnteich am Zwinger als »eine der schönsten Idyllen der Stadt« tituliert (PF, 79). Derartige Statements – typisch für den Regionalkrimi – stellen das Genre als ›getarnte Heimatliteratur‹ heraus, die den Kriminalfall als Deckmantel nutzt.25 Zudem lässt die subjektive Bewertung der Gegend »konservativ-restaurative Tendenzen« vermuten, die den Heimat- und Identifikationsgedanken bestärkt.26 Weiterhin werden die Wohnorte abseits der Kommissarin beschrieben und gegebenenfalls kommentiert: »Die Villa Klawitter stand auf einem gemauerten Sockel aus quadratischen Basaltsteinen, der sie mindestens drei Meter über das Niveau des Claustorwalls27 hob, einer schmalen Wohnstraße am Fuß des begehrten Steintorviertels« (PF, 24). Das Viertel wirkt hochwertig und gefragt; es scheint der ›schmalen Wohnstraße‹ gegenüberzustehen. Der Kontrast gibt einen Hinweis auf die finanziellen Situationen der Figuren: Rechtsanwalt Klawitter gehört dem wohlhabenden Bürgertum an. Mit dieser Information wird das soziale Milieu an die topographische Kartierung gebunden: »Zwischen dem alten Rathaus am Marktplatz und dem Sitz der Rechtsanwaltskanzlei Klawitter im Claustorwall lagen etwa zehn Minuten Fußweg« (PF, 138). Die Standorte liegen nah beieinander, der Fußmarsch ist schnell bewältigt und daher für die Leserschaft nachvollziehbar. Sie 24 Niedersächsische Staatskanzlei: Gesetz über die Vereinigung der Städte Vienenburg und Goslar, Landkreis Goslar. In: »Niedersächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt« Nr. 10 vom 19. Juni 2013, S. 163. 25 Vgl. Hennig, Martin: Von Düsterbruch nach Finsterau, S. 46. 26 Ebd. 27 Der Straßenname leitet sich vom ehemaligen (südlichen) Stadttor namens Klaustor ab, das 1825 abgerissen wurde. Die Straße liegt hinter der damaligen Stadtmauer oberhalb der Altstadt auf den früheren Wall- und Befestigungsanlagen. Ein anderer Harz-Krimi, der historische Titel Die Bestie im Turm von Tom Wolf aus der Buchreihe Hansekrimis, bildet das Klaustor sogar grafisch ab: Antiquarische Stadtkarten rekonstruieren das historische Stadtbild, jedoch ohne das heutige zu erwähnen. Vergleicht man verschiedene Harz-Krimis miteinander, ergänzen sich die verschiedenen Stadien. Vgl. Wolf, Tom: Die Bestie im Turm. Ein Hansekrimi. Hamburg: Die Hanse 2012, S. 80.

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bilden Fixpunkte im System der Stadtgliederung und vermitteln Autorität – das Rathaus als Hauptsitz der Stadtverwaltung, die Kanzlei als juristische Behörde. Die Villa tritt »wie eine Trutzburg« hervor und bezeugt einen hohen Widerstandswert; sie bildet eine Opposition zum System (PF, 138). Überdies ist ihr Inhaber als Stellvertretung des Oberbürgermeisters bekannt. Das Rathaus nimmt ebenfalls eine prädestinierte Rolle ein, wie sich der Kopfzeile über dem Klappentext (»Filz und Intrigen im Goslarer Rathaus«) entnehmen lässt. Indem das Straßennetzwerk zunehmend enger wird, verringert sich die räumliche und symbolische Distanz der Figuren – die Handlung konzentriert sich auf einen bestimmten Fleck. Neben privaten Wohnhäusern und fiktiven Betrieben werden vertraute Unternehmen benannt, die stets an ihren Standort gebunden sind. Die »Goslarer Hauptpost in der Clubgartenstraße« ist beispielsweise kein direkter Bestandteil der Handlung, sie dient lediglich als Ortsmarker für Figuren (PF, 100).28 Darüber hinaus wird mehrfach die Okerstraße betont, um die Aufenthaltsorte zu koordinieren: »Von der Okerstraße aus gesehen lag das Büro von Fred de Groot direkt über den fetten Leuchtlettern des Firmenlogos De Groot Pharma GmbH in der obersten Etage eines achtstöckigen Gebäudes aus den Siebzigern« (PF, 127). Startpunkt und Zielpunkt sind gleichermaßen bestimmt. Obwohl das Firmengebäude ohne die Straße auskäme, wird sie als Referenz für den Goslarer Stadtraum gewählt. Ein weiterer Schauplatz ist das fiktive »Hotel Silberberg« in der Breiten Straße (PF, 33). Vermutlich geht dieses auf die ansässige Hotelkette »Goldene Krone« zurück. Im Krimi befindet sich dort ein Lokal, das sich illegal über Schwarzarbeit finanziert. Dies ist offenbar ein Grund dafür, weshalb einige Unternehmen fiktive Namen führen: Sie bewahren den realen Ort vor vermeintlicher Schuld. Dennoch erhöhen Alltagsfaktoren (Marktplatz, Rathaus, Post, Hotels) die Plausibilität des Geschehens und steigern die Identifikationsmöglichkeit.29

Stadtraum und Park als Ekphrasis In der ausführlichen Darstellung von Villa, Kanzlei und Stadtgliederung wird deutlich, dass der Text grundsätzlich detailliert vorgeht. Das heißt: Orte werden präzise beschrieben und sind visuell gut vorstellbar. Räumliche Aspekte korrespondieren mit dem Lokalkolorit der Stadt und liefern eine Vielzahl an geo-

28 In der besagten Umgebung (eigentlich »Klubgartenstraße«) befindet sich ein öffentliches Telefon, welches der Täter benutzt. Nur um dessen Standort bestimmen zu können, findet die Post Erwähnung. 29 Vgl. Schmidt, Maike: Berlin-Krimis seit 2000, S. 107.

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graphischen Markern. Diese sind für den Regionalkrimi üblich.30 Zusätzlich wird die lokale Beschreibung um diverse Wahrnehmungsmuster ergänzt: Am frühen Abend bummelten Sina und Chao Hand in Hand durch die Goslarer Altstadt. Entlang der Gose, vorbei an der Lohmühle, deren hölzernes Mühlrad gemütlich vor sich hinratterte. Wie jedes Jahr um diese Zeit hingen Blumenkästen an den Geländern der Brücken, besetzt mit orangeroten Geranien, die wie kleine Lichter den Weg des Wassers beschienen. Es war immer noch warm. Im Herzen Goslars wimmelte es von Menschen. Plappernde Stimmen, das Klicken von Fotoapparaten erfüllten wie ein Summen die Luft. Die Pferde, die vor den Kutschen an der Marktkirche von St. Cosmas und Damian standen, schlugen ungeduldig mit den Hufen auf das Pflaster. Sommerliches Touristentreiben. (PF, 28)

Die Textstelle vereint verschiedene Lokalitäten und greift die Routenstruktur des Harzes auf. Relevante Faktoren positionieren sich neu, so navigiert die eingangs geschilderte Gose den Weg in die Goslarer Altstadt. Die Syntax spiegelt die Bewegung sowie das Passieren historischer Bauwerke (»vorbei an der Lohmühle«) in ihrer Hypotaxe. Sie fügt die komplexen Wege und Punkte zusammen, bis eine Art Radar entsteht. Ferner wird der Zeitfaktor (»Wie jedes Jahr«) integriert; der Ausdruck ist nicht auf den Harzkrimi abgestimmt, sondern folgt dem typischen Muster der Gegend. Ihr Kriterium – orangene Geranien – greifen die wegweisende Funktion des Wassers auf und leiten den Blick zurück in das Flussbett. So entsteht ein dynamisches Bild der Beobachtung. Mit dieser Rückführung schließt die Naturszene ab und geht in das kulturelle Stadtwesen über. Die ›noch immer warme‹ Temperatur deutet auf einen lauen Sommertag hin, der den Stadtkern mit Bevölkerung füllt: Neben den Anwohnern sind zahlreiche Touristen zugegen und untermalen die Szene akustisch. Die herrschende Geräuschkulisse aus Fotoapparaten und Stimmen vollenden die Wahrnehmung der besuchten Altstadt. Zudem wird die Marktkirche St. Cosmas und Damian beim Namen genannt und bestärkt das spezielle Lokalkolorit – beschrieben wird kein beliebiger Marktplatz, sondern jener in Goslar. Daraufhin schließt das Bildnis mit einer fundierten Beobachtung ab, die nicht minder als Titel daherkommt: »Sommerliches Touristentreiben« fasst das Porträt geschickt zusammen. Insofern gleicht die visuelle Inszenierung der Altstadt dem literarischen Bild der Ekphrasis. Zuvor als »Bilderbuchstädtchen« bezeichnet, bestätigt sich dieser Eindruck im Text.31 Erinnern wir uns an die Definition der Ekphrasis: Ein ursprünglich autonomes Bild (Goslarer Marktplatz) wird in ein literarisches Format transferiert und erhält Einzug in den verbalen Raum – hier sogar mitsamt eines übergeordneten Titels.32 Der Fokus liegt klar auf der Altstadt und deren touristischem Wert. Im Übrigen 30 Vgl. ebd., S. 106. 31 Schulz, Mick: Sauerfleisch, S. 10. 32 Vgl. Yacobi, Tamar: Ekphrastic Double Exposure and the Museum Book of Poetry, S. 2–3.

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publiziert der Verlag des Romans – neben der Spezialisierung auf Regionalkrimis – »regionale Bildbände« und Kalender sowie herkömmliche Reiseführer und Reiselektüren.33 Diese Tendenz zeichnet sich auch in den literarischen Werken ab. Weiter gestaltet sich das beschriebene Stadtbild wie folgt: Vorbei am Brunnen aus Bronze mit dem vergoldeten Adler schlenderten Sina und Chao über die Mitte des Platzes und setzten sich in das Café unter dem Glockenspiel in der alten Kämmerei. Vor ihnen lag die Kulisse von gotischem Rathaus und dem historischen Hotel Kaiserworth mit der schönsten Fassade der ganzen Stadt. Im Hintergrund die aufschießenden Kirchtürme. Sina liebte dieses uralte Goslar. So schief und krumm, wie die Altstadt war – kein einziges rechtwinkliges Haus, keine geraden Bordsteine –, wirkte sie kindlich unvollkommen und war doch höchste Kunst. (PF, 28–29)

Der zeitliche und räumliche Faktor ›vorbei‹ wird erneut eingesetzt, um das Bild in Sequenzen zu gliedern. Überdies liefert das Zitat mehrere Indikatoren, die den Bildcharakter bestärken; so erhält der Anblick ein Zentrum (»Mitte des Platzes«) mit passendem Vorder- und Hintergrund. Goslar fungiert als sogenannte ›Kulisse‹ und dient als Bühnenbild für die Handlung. Spätestens mit der Einkehr in das Café – topologisch auf dem Marktplatz verortet – zeichnet sich das Bild neu. Es verliert seine anfängliche Dynamik und manifestiert sich zu einem Konstrukt. Dies wird erneut durch die syntaktische Form unterstützt, die mit dem Inhalt korrespondiert: Insbesondere die Parenthese zur fehlenden Geometrie der Gebäude spiegelt deren chaotische Wirkung in der Struktur des Satzes. Stadt und Text verschmelzen miteinander. Wohlbemerkt ist die Darstellung der ›Kulisse‹ auf dem Klappentext vorzufinden. Daher ließe sich vermuten, der Regionalkrimi böte weitere Stadtbilder dieser Art, sie bleiben jedoch gering. Obschon die ekphrastische Inszenierung einen entscheidenden Anteil für sich bestimmt, überwiegt die Funktion der Topographie. Demnach ist das Zitat auf der Buchklappe vorrangig als MarketingStrategie zu verstehen. Ergänzend erklärt Katharina Löffler die »kontinuierlich geschönten regionalen Bildwelten, wie sie touristische Vermarktungsstrategien und Reklameliteratur per Definition veräußern« als optionale und euphemistische Stilmittel.34 Ihr Potenzial hängt stets mit den Ansprüchen des Verlags zusammen: Wenn der Regionalkrimi auf den Absatz der Story zielt und der Verleger nicht ausschließlich den Tourismus-Aspekt verfolgt, kann sich der Autor »einer durchgängigen Idealisierung von Raum verwehren« und einen eigenen Blick auf die Region entfalten.35 Dies scheint im vorliegenden Fall gegeben: Gleichwohl die Altstadt positiv scheint, wird der Rest der Region negativ kon33 Völker, Daniela: Das Buch für die Massen. Taschenbücher und ihre Verlage. Marburg: Tectum 2014, S. 316. 34 Löffler, Katharina: Allgäu reloaded, S. 77. 35 Ebd.

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turiert – jene Passagen sind aber nicht auf dem Buchrücken abgedruckt. Sauerfleisch greift zudem die problematische Lage im Oberharz auf, so wird geschildert, dass der Tourismus »nicht mehr so richtig klappte« und das »Hotelsterben« keine Neuigkeit sei.36 Statt dieser (bewussten) Entwicklung entgegenzusteuern, orientiert sich der Krimi an Orten, in denen die Branche noch boomt. Man könnte durchaus ein strategisches Vorgehen dahinter vermuten. Während die Kommissarin ihre Liebe zur Altstadt euphorisch bekundet, hat der Ausflug auf ihren Partner »keine Wirkung« (PF, 29). Weder der laue Sommerabend noch der Goslarsche Charme können ihn überzeugen und trüben die idealisierte Kulisse. Ähnlich ergeht es dem Täter der Morde, sein Empfinden schlägt jedoch nach der Festnahme um: »Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie sehr er es liebte, das Leben in diesem kleinen verträumten Goslar mit seinen alten Gassen und diesem Glockenspiel auf dem Marktplatz« (PF, 203). Beide Figuren, Kommissarin und Täter, stilisieren die Stadt zu ihrer Heimat, in der sie sich sicher und wohl fühlen – bis die Idylle gebrochen wird. Dennoch funktioniert das Genre insgeheim als eine Art »zeitgenössischer Heimatroman« mit dem besonderen Aspekt der Verfremdung.37 Sogar die anfangs geschönten Szenen durchlaufen diesen Prozess: Die lebensgroßen, in strahlenden Farben bemalten Steinfiguren an der Fassade des Hotels Kaiserworth, dem ehemaligen Gildehaus der Tuchmacher, wirkten auf einmal stumpf und charakterlos. Unter einem der verlassenen Tische, die vor dem Eingang standen, stritt sich eine Handvoll Spatzen um ein halbes Brötchen. Es war wenig los auf dem Marktplatz von Goslar, als Sina und Niebuhr über die vor Nässe glänzenden Pflastersteine dem kleinen Cityparkplatz in der Nähe der Stadtverwaltung zustrebten. (PF, 155)

Im Vergleich zum vorherigen Part öffnet die Textstelle einen Kontrast. Plötzlich ist ›im Herzen Goslars‹ nur wenig Betrieb und selbst die Fassaden der historischen Bauten wirken nicht schön, sondern trist. Die Tische des Hotels sind ›verlassen‹ und unterstreichen somit die Gegend, die nur durch vereinzelte Spatzen belebt ist. Der Marktplatz scheint seinen Charme zu verlieren. Stattdessen liefert der Text historische Fakten und verleiht dem Krimi informativen Gehalt. Damit offenbart der Roman ein weiteres Merkmal des Genres, der Regionalkrimi fällt nämlich häufig in die Kategorie der lehrreichen Krimis.38 Die Betonung der ehemaligen Gilde beginnt den Schauplatz zu historisieren und schafft somit eine Distanz zum hochstilisierten Goslar. Die Verfremdung der 36 Schulz, Mick: Sauerfleisch, S. 13. 37 Drafz, Helge: »Jenseits von Uedem …« oder: Deutschlands wilder Westen. Der Niederrhein im Kriminalroman. In: Kortländer, Bernd/Grimm, Gunter (Hg.): »Rheinisch« – Zum Selbstverständnis einer Region. Stuttgart: J.B. Metzler 2001, S. 193–212, hier S. 203. 38 Vgl. Schmidt, Maike: Berlin-Krimis seit 2000, S. 107.

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Perspektive lässt darauf schließen, dass die Stadt selbst ein relevanter Akteur für die Geschichte ist – wenn sich die Lage verändert, verändert sich auch ihr Bildnis.39 Ganz im Duktus des lokalpolitischen Krimis wird die städtische Verwaltung als Ziel markiert. Dort liegt der Fokus auch weiterhin, Marktplatz und Altstadt werden fortan ohne Konkretisierung benannt. Mit dem zweiten Mord setzt ein neuer Blick auf das Stadtgebiet ein. Er erinnert an den Leichenfund zu Beginn und bezieht sich vornehmlich auf die Natur: Der erste dünne Ruf eines Rotkehlchens traute sich schon aus dem Gebüsch, während die Umrisse der uralten Eichen im Park an der mittelalterlichen Stadtbefestigung von Goslar kaum aus der diffusen Düsternis heraustraten. Der einsame Schwan auf dem Kahnteich, dem kleineren der beiden Teiche, hatte den Kopf unter die Flügel gesteckt und mutete wie eine große weiße Wasserblume an. Aus den umliegenden Häusern drang kein Laut, die Straßenlaternen verbreiteten nur fahles Licht. (PF, 79)

Der Kahnteich markiert ein topographisches Motiv der Stadt. Er wird vom angrenzenden Teich getrennt und etabliert sich zum dominanten Schauplatz. Auf ihm befindet sich ein ›einsamer‹ Schwan, der die fremde Situation unterstreicht: schön, doch unnahbar und allein. Ruhe und Dunkelheit beherrschen die Szene, obwohl der Tagesbeginn bereits einsetzt. Jene Technik der »detail- und wirklichkeitsgetreuen Plakatierung der Umwelt« wird vom Regionalkrimi eingesetzt, um ein »Gefühl der nahen Angst« zu erzeugen.40 Motor und Beleuchtung gingen aus, hintereinander klappten zwei Wagentüren auf. Vier Minuten vergingen, dann schlugen die Türen wieder zu, der Motor startete, die Scheinwerfer wischten über den ehernen Soldaten des Gefallenendenkmals der Weltkriege, und der Wagen verschwand in Richtung Kaiserpfalz und Altstadt. Gegen halb sechs prägte sich der neue Junitag aus. Vogelgezwitscher erfüllte die noch frische Luft. Die entschlossene Sonne legte eine neue Kulisse auf, und der Schwan drehte erste Runden in seinem knapp bemessenen Revier, um sie sich anzusehen. Eine alte Frau hinkte den Fußweg entlang, der am inneren Wall und an den Teichen vorbeiführt, und sammelte links und rechts Flaschen und leere Zigarettenschachteln auf. (PF, 79)

Diese Kulisse schildert kein Stadtbild, sie illustriert einen Tatort in Goslar. Der Fokus hat sich entsprechend verschoben und so auch die Stimmung der Szene. Die Altstadt liegt etwas entfernt und bedingt einen Eindruck von Isolation. Mit dem Sonnenlicht scheint eine neue Sequenz zu beginnen, doch das Bild bleibt 39 Vgl. Bonter, Urszula: Stadt – Land – Mord. Einige Bemerkungen zu den aktuellen deutschen Regionalkrimis. In: Parra-Membrives, Eva/Brylla, Wolfgang (Hg.): Facetten des Kriminalromans. Ein Genre zwischen Tradition und Innovation. Tübingen: Narr 2015, S. 91–102, hier S. 92. 40 Brylla, Wolfgang: Am Tatort der Geschichte. Zu Erzählfunktionen der Verbrechensräume im historischen Kriminalroman. In: Frenzel, Marlene/Geist, Kathrin/Oberrauch, Claudia (Hg.): Ein Ort, viel Raum(theorie)? Imaginationen gleicher Räume und Orte in Literatur und Film. Bamberg: University of Bamberg Press 2019, S. 311–344, hier S. 325.

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fortwährend trüb. Unrat ziert Wiese und Fußweg, die einzige Person ist alt und gebrechlich, der Schwan wirkt in seinem knappen Revier gefangen. Alles konzentriert sich auf den besagten Park, in welchem der Mord geschah. Insofern ist der lokale Bezug verändert; der Kriminalfaktor überwiegt dem regionalen Gehalt. Wie in klassischen Detektivgeschichten wird die verübte Tat als Ausnahmezustand kommuniziert und bricht in das »Bild einer heilen Welt« ein – hier in das idyllische Grün um den Kahnteich.41 Zunächst ist die Leiche nicht als solche beschrieben, so hält ihn die Dame für schlafendes »Gesindel« nach einer durchzechten Nacht (PF, 80). Erst mit dem Eintreffen der Mordkommission wird sie deutlich: »Vor ihnen auf der Parkbank lag eine männliche Leiche« (PF, 82). Zwischen Fund und Erkenntnis schiebt der Roman einen familiären Konflikt ein, um die Spannung zu steigern. Dadurch verstärkt sich auch der Effekt der Verfremdung. Die Inszenierung der Altstadt und die Beschreibung des Tatorts fungieren als eine Art Bühne und zeichnen ein Bild der Region. Sie operieren mit visuellen Begriffen und arrangieren den Raum mit üblichen Mitteln der Bildanalyse: Strukturen aus Vorder-, Mittel und Hintergrund, räumliche Dynamik und verschiedene Perspektiven für den Betrachter, variierende Farben und Formen sowie die Wirkung von Licht und Schatten – wie für das Kriminalgenre üblich.42 Dieses Mal wird die Mordsituation näher beschrieben, wobei das Täterfahrzeug den Ablauf vorgibt. Topographische Marker bilden die Rahmung der Szene (Kahnteich, Kriegerdenkmal) und verorten die Handlung im Goslarer Stadtraum, doch abseits der historischen Altstadt. Die Stadtgliederung setzt sich fort und wird zunehmend mit dem Fall in Verbindung gestellt. Erst wenn der Einbruch des Fremden akut ist, bleibt die regionale Vermarktung aus, ja wird sogar förmlich verneint – die Idylle ist jedenfalls nicht mehr präsent.

Realität vs. Fiktion im Verwaltungssystem Während die realgetreue Region (zum Teil) um fiktive Lokalitäten ergänzt wird, werden ihre Bewohner vollständig neu entworfen. Dies gilt zum einen für die in Goslar sesshaften Bürger, zum anderen für die Gemeindevertretung. Der Roman erstellt eine alternative Version der sozialen Verwaltungsstruktur innerhalb der betreffenden Stadt. Dr. Oliver Junk, Politiker und seit 2011 bis dato Oberbürgermeister von Goslar, findet sein literarisches Äquivalent in der fiktiven Figur 41 Bonter, Urszula: Stadt – Land – Mord, S. 98. 42 Vgl. Blödorn, Andreas: Narratologie. Literaturwissenschaftliche Konzepte der Kriminalliteratur. In: Düwell, Susanne/Bartl, Andrea/Hamann, Christof/Ruf, Oliver (Hg.): Handbuch Kriminalliteratur. Theorien – Geschichte – Medien. Stuttgart: J.B. Metzler 2018, S. 14–23, hier S. 22.

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Geert Sandrock, ebenfalls »Oberbürgermeister von Goslar« (PF, 22). Dieser ist in illegale Konflikte verwickelt und erlangt daher ein negatives Profil. Inbegriffen ist die Sekretärin, namentlich Maren Brandstätter, die offenbar über die internen Kontroversen und Schwarzgeldaffären Bescheid weiß (vgl. PF, 128). Darüber hinaus sind noch weitere Mitglieder das Stadtrats vertreten; insbesondere »Ratsherr Helmut Hauke, zuständig für das Bauwesen der Stadt« (PF, 65). Er ist das zweite Opfer der Mordserie und seine regionale Funktion (»immerhin der zuständige Ratsherr für das städtische Bauwesen«) wird auffällig oft betont (PF, 165). Das topographische Netzwerk der Stadt wird mit der verwaltungsbedingten ›Infrastruktur‹ der Figuren verknüpft. Sie führen die lokale Vernetzung auf kommunalpolitischer Ebene fort. Zudem trägt der Ratsherr die Order, das Verwaltungsgeschehen zu überwachen; er steht im direkten Kontakt zum Bürgermeister, was ihm zum Verhängnis wurde.43 Zunächst steigert der Umgang mit ortsbezogenen Charakteren den Realitätsgehalt. Im Regionalkrimi ist dieser Effekt stärker vertreten als in anderen Subgenres der Kriminalliteratur.44 Zusätzlich weist das Harz-Exemplar eine spezielle Methode auf: Indem die Charaktere keine Parteizugehörigkeit vermitteln, erfährt die politische Gesinnung Verlust. Nicht Politik an sich steht im Zentrum, sondern der politische Apparat der Gemeinde. Überdies wird das fiktive Journal des »Goslarschen Boten« entworfen, der vermutlich auf die »Goslarsche Zeitung« zurückgeht (PF, 72). Die Zeitung berichtet aber nicht über das begangene Tötungsdelikt, sie informiert über die politische Lage der Stadt: OB will durchstarten – Es sei Zeit, die Hemmschuhe, wo auch immer sie im Wege lägen, fortzuräumen. So meldete sich gestern Geert Sandrock, der amtierende OB der Kreisstadt, auf seiner Pressekonferenz im Haus des Goslarschen Boten nach einer Zeit von Krankheit und Stillstand zurück. Er sei bereit, anzupacken, aber nur zusammen könne man die angestrebten Ziele erreichen. Er würde damit insbesondere diejenigen ansprechen, die seine Arbeit konsequent blockierten. »Ich werde mich als kampfbereit erweisen, wenn es gilt, Verhinderer in die Schranken zu weisen!«, kündigte er vollmundig an. Danach kam er auf die einzelnen Projekte zu sprechen … (PF, 72; Hervorhebungen im Original)

Selbst die Zeitung hält sich an die lokale Verwaltung und ist nicht direkt an den Kriminalfall gebunden. Während sie über die Stimmung im Stadtrat aufklärt, hilft sie gleichwohl der Ermittlung, indem sie ein Motiv unterbreitet. Ihr fiktiver Zustand verhindert eine Assoziation mit dem realen Goslarer Stadtrat. Nicht fiktiv ist hingegen der Sitz der Verwaltung, ebenso wenig wie die umgebenden 43 Vgl. Hoffmann, Peter: Kommunalpolitik in Niedersachsen. In: Kost, Andreas/Wehling, HansGeorg (Hg.): Kommunalpolitik in den deutschen Ländern. Eine Einführung. Wiesbaden: Springer 2010, S. 205–230, hier S. 214. 44 Vgl. Schmidt, Maike: Berlin-Krimis seit 2000, S. 107.

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Bauten. Die Kaiserworth wurde vorab beschrieben, weiterhin speisen die Kommissare im Restaurant »Butterhanne« – dem »ehemaligen Gildehaus der Filzhutmacher, das schon seit Ewigkeiten ein Gasthof war« (PF, 93). Jene Gebäude haben zwar nichts mit dem Mordfall zu tun, bilden jedoch die lokale Kulisse rund um das örtliche Rathaus. Sie betten den Brandherd und Indikator der Tötung in das natürliche Stadtbild ein und belegen den historisierenden Anspruch des Krimis. Nicht alle Lokalitäten folgen diesem Prinzip, so weicht die (fiktive) Pizzeria des Täters von der Struktur ab: Das »Antonio’s« liegt ziemlich zentral »in der Nähe der beiden massiven Stadttürme am nördlichen Eingang von Goslar« und bildet vereint mit dem Breiten Tor den zweiten Fixpunkt der Handlung (PF, 91). In der Kombination aus fiktiven und realen Faktoren lotet der Krimi die Grenze zwischen Literatur und Sachtext aus: Er gibt Einblick in die reale Welt, doch bleibt stets eine literarische Konstruktion.45

Kritik am politischen Apparat Die fiktive Version von Stadtrat, Oberbürgermeister und Co. begrenzt das politische Spektrum auf die kommunale Ebene. Abseits der realen Besetzung ermöglicht der Text eine kritische Haltung gegenüber dem (lokal-)politischen Apparat, ohne dem wirklichen Goslar zu schaden. Kritisiert wird insofern nicht die Bekleidung des Amtes, sondern die Strukturpolitik allgemein. Neben dem Goslarer Rathaus tritt das »Goslarer Amtsgericht« auf und erweitert die Gegenwart der realen Verwaltungsgebäude (PF, 37). Das Rathaus etabliert sich zum Schauplatz geschäftlicher und politischer Differenzen. Hier äußern die Figuren selbst ihren Missmut und formulieren die Schwächen der Bürokratie: »So war Politik, wenn einer abtritt, muss der Nächste folgen, sonst kommt der Apparat ins Stocken« (PF, 38). Prinzipiell ist das Konkurrenzdenken hoch: »Wenn er sich [Klawitter] gegen Sandrock aufbaute, gab es keinen Weg zurück. Dann ging es nur noch um alles oder nichts, denn im Fall der Niederlage gegen seinen alten Freund wäre für ihn im Goslarer Rathaus kein Platz mehr« (PF, 39). Diese Gefahr liefert ein Bekenntnis zur prekären Situation – Beziehungskonflikte münden in Rivalität. Statt einer Volksvertretung, die im Interesse der Bürger entscheidet, wird eine Inhärenz von Macht und Verlustangst vermittelt. Der Krimi übt in doppelter Hinsicht Kritik an diesem System: Zum einen äußern sich die Akteure skeptisch, zum anderen deckt die Handlung deren Intrigen und Absichten auf. Der Stadtrat wird als gescheiterter Apparat entlarvt. Während die Lokalpolitik profitorientiert vorgeht und schließlich zum Träger krimineller Handlungen wird, widmet sich das übrige Personal (Mordkommis45 Ebd.

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sion, Goslarer Bevölkerung) vornehmlich dem Charakter der Stadt. Die Fraktionen vertreten unterschiedliche Interessen und stehen sich gegenüber – auch ohne die entscheidende Mordtat. Mit der Tötung des Ratsherrn wird die vertraute Region (speziell der Kahnteich) verfremdet, mit ihrem Motiv wiederum die Idee einer funktionierenden Politik für den Landkreis. Wird die Kritik an eine konkrete Region geknüpft und mit lokalen Beispielen erklärt, steigert sich das Gewicht des Problems: Das politische Missverhältnis wird für den Fall relevant und somit auch für das Volk. Weitere Relevanz attestiert der Werktitel des Romans, denn dieser beleuchtet die Situation von einer anderen Seite: »Wir in der Politik sind Pfefferbeißer, Helmut, das weißt du doch« (PF, 65). Diese Metapher birgt eine deutlich kritische Haltung: »Wir beißen jeden Tag auf Pfeffer, bis uns die Tränen in die Augen schießen, und dürfen uns nichts anmerken lassen. Wir können nur weitermachen« (PF, 65). Zufriedenheit strahlen die Ratsherren nicht wirklich aus, eher wirken sie resigniert – Helmut konnte zudem nicht ›weitermachen‹ und stirbt als Mordopfer auf der Parkbank. Erst nach bzw. bei der Lektüre stellt sich heraus, dass mit Pfefferbeißer nicht die luftgetrocknete Wurst gemeint ist, sondern der Beruf des Stadtbeamten. Dieser bleibt negativ konnotiert und steht für ein (bewusst) manipulatives Vorgehen im Sinne seiner beruflichen Tätigkeit. Der Roman definiert Politik als stupides Konstrukt, das keine Verantwortung zulässt und nur die eigenen Interessen verfolgt. Gelegentlich sind die Figuren auch abseits des Stadtrats aktiv, so sei das Ehepaar Hauke Mitglied im »Lions Club«. Auf der (realen) Webseite der Organisation steht für den Raum Harz folgender Kodex geschrieben: »Wir als Goslarer Lions sind einsatzfreudige Bürger unserer Stadt, die durch Tatkraft, berufliches und persönliches Engagement für idealistische Ziele eintreten« – die Mitglieder vertreten das Volk, während der Stadtrat eigenen Absichten nachgeht.46 Der Harzkrimi verbindet realistische Züge mit fiktiven Elementen, die das regionale Verwaltungssystem aus verschiedenen Perspektiven beleuchten und soziale Risiken aufzeigen.

Wirtschaftskriminalität und Finanzsystem Während die Rivalität unter den amtierenden Politikern steigt, vergrößert sich deren Distanz zum Gemeinwohl. Prägnant stehen die illegalen Konflikte des Oberbürgermeisters, die zunächst nur der Leserschaft zugänglich sind: Erkaufte 46 Lions Clubs International: Distrikt 11 – Niedersachsen–Hannover, Goslar-Rammelsberg. Begrüßung. URL: https://www.lions.de/web/lc-goslar-rammelsberg / letzter Zugriff am 20. Februar 2020.

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Stimmen und Schwarzgeldgeschäfte decken ein Defizit im Finanzwesen auf. Im Übrigen zählt Goslar zu den 17 exklusiven Städten in Niedersachsen, deren Finanz- und Verwaltungskraft für alle obliegenden Aufgaben ausreicht; Goslar trägt somit die Verantwortung für den Landkreis.47 Diese Befugnis birgt ein nicht unerhebliches Missbrauchsrisiko, wodurch die Kritik am System bestätigt wird: Als er [Sandrock] vor sechs Jahren die Finanzen dieser Stadt in die Hand genommen hatte, hatte er noch Hoffnung gehabt, die Schieflage wieder ins Lot zu bringen. Niemand konnte ihm etwas vormachen. Er hatte jahrelange Erfahrungen in verantwortungsvollen Positionen der Verwaltung mitgebracht. Dann hatte er hilflos mit ansehen müssen, wie die Gelder zwischen den einzelnen Posten zerrieben wurden. Überall wurde mehr gebraucht als geplant. Schließlich brachen auch noch die Steuereinnahmen in einem Ausmaß ein, wie es sich vorher niemand hatte vorstellen können. (PF, 22–23)

Die Finanzkrise entwickelt sich schleichend, bis sie nicht mehr vermeidbar ist. Sie durchdringt das Verwaltungssystem in Gänze und richtet den Stadtrat entsprechend aus. Sandrock ist derjenige, der »die Geschicke der Stadt an entscheidender Stelle« beeinflusst (PF, 152). Er ist das Hauptglied der regionalen Verwaltung und markiert zugleich die Person, die die Landesfinanzen manipuliert, Wirtschafts- und Finanzkriminalität sind demnach eng miteinander verbunden. Optisch wird die Figur erst zum Ende beschrieben: »Er war nicht besonders groß, vielleicht eins fünfundsiebzig, seine gedrungene Gestalt steckte in einem Anzug aus feinem kamelbraunem Tuch, darunter ein opalblaues Hemd mit gestreifter Seidenkrawatte, perfekt geknotet« (PF, 152). Dieses Bild steht im Kontrast zur Vorstellung eines älteren Mannes, der zusätzlich unter einem Herzfehler leidet. Der Schein, den die Mordkommission bei der Befragung vernimmt, widerspricht der gebrochenen Existenz. Der Eindruck von Perfektion und Autorität obliegt dem Habitus der Figur, speziell der Farbgestaltung der Kleidung, sie spiegelt einen gewissen Wohlstand und verbirgt das finanzielle Problem. Darüber hinaus sprechen Muster und Material der Krawatte für eine tadellose Struktur der Behörde, die ebenso wenig zutrifft – perfekt ist lediglich die Wirkung nach außen. Ohne Sandrock wäre der Schauplatz ein anderer, ein abermals neuer Entwurf der Stadt. Infolgedessen markiert der Regionalkrimi deutlich, dass die fiktive Version des ›historischen Bilderbuchstädtchens‹ strikt mit ihrer politischen Leitung einhergeht: Goslar »war schließlich er« (PF, 154; Hervorhebung im Original). Die Figur dient der Einverleibung der Stadt, sie inkorporiert dessen Amt in ihrer Gestalt. Überdies besteht das Figurennetzwerk »maßgeblich aus Einwohnern des Verbrecherschauplatzes« und folgt der typischen Lokalstrategie des Regionalkrimis.48 Einwohner fördern die regionale Identifikation. Indem fiktive Figuren 47 Vgl. Hoffmann, Peter: Kommunalpolitik in Niedersachsen, S. 206. 48 Hennig, Martin: Von Düsterbruch nach Finsterau, S. 46.

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erstellt werden, die im direkten Verhältnis zur Stadt stehen, wird die Methode vollständig ausgereizt. Weiterhin rückt die finanzielle Lage der Stadt in den Fokus, die nicht der Realität entspricht: Anfangs ging es bloß um Kleinigkeiten. Für soziale Projekte wurden Sponsoren gesucht: Ausbau von Kinderspielplätzen, Renovierung einer maroden Grundschule und so weiter. Am Ende rechnete Sandrock fest mit seiner Unterstützung bei den meisten Projekten, die er anvisierte, mit dem Ziel, OB der Stadt zu werden. Auch als ihm vor der Wahl finanziell das Wasser bis zum Hals stand, hatte ihn de Groot nicht hängen lassen, hatte mit Schwarzgeld seine Wahlkasse aufgebessert. Und er wusste, was er tat. Sandrock war eine gute Bank. Irgendwann würde der Tag kommen, an dem er seine Schulden plus Zinsen zurückzahlte. (PF, 127–128)

Im Regionalkrimi kommt dieser Tag jedenfalls nicht. Stattdessen resultieren Komplikationen, die mit dem Mordfall assoziiert sind: Da der Finanzpartner eine Enthüllung der illegalen Gelder befürchtet, entscheidet er sich gegen die weitere Unterstützung, konkret gegen die Finanzierung der Hokenpassage (vgl. PF, 177). Ansonsten beschreibt das Statement die klassischen Fragen der Lokalpolitik: Die Projekte beschränken sich auf die betreffende Stadt und gehen kaum über ihre Grenzen hinaus. Insofern ist der Harz nicht direkt davon betroffen, obschon die Kategorie Harz-Krimi ein größeres Gebiet suggeriert. Beschränkt sich der Fall auf den lokalen Stadtraum, wird dieser nur selten verlassen. Im Roman erwähnte Verwaltungsressorts sind die Verkehrs- und Sozialpolitik, Maßnahmen für Kinder/Jugendliche im Bildungsbereich sowie Wirtschaftsfaktoren und Kulturförderung. Andere relevante Kriterien, etwa Versorgung und Umweltschutz, werden nicht aufgeführt. Demnach wird der reale Umfang der Lokalpolitik nicht vollständig ausgeschöpft, sondern auf den finanziellen Verlust limitiert.

Lokalpolitik als »lukratives Investment« Finanzielle Engpässe scheinen den Krimi – speziell den politischen Apparat – zu bestimmen. Auch die übrigen Mitarbeiter im Rathaus, insbesondere der Ratsherr für Bauwesen, leiden unter der monetären Situation: »Helmut Hauke war Inhaber eines Sanitär- und Heizungsbaubetriebs gewesen, denn von der Politik allein konnte in dieser Stadt nur einer leben: der Oberbürgermeister« (PF, 93). Doch selbst dieser bestätigt finanzielle Probleme und erweitert die Kritik am Wirtschaftssystem. Letztendlich leiden alle Figuren unter dem wirtschaftlichen Defizit, ausgenommen Klawitter. Die Kanzlei des stellvertretenden Oberbürgermeisters schildert das soziale Gefälle zwischen den Figuren eindeutig; so übertritt die Kommissarin im zweiten Stock der Villa »die Schwelle zur Welt der dunklen Wandvertäfelungen, der echten Perser, der polierten alten Sekretäre

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und Kommoden« (PF, 169). Das Interieur vermittelt Reichtum und Macht, Autorität und Stil – das Vermögen geht jedoch nicht auf die Tätigkeit im Stadtrat zurück, sondern auf den Erfolg der Kanzlei. Zudem folgt das Bild einem klassischen Muster der Fantasy-Literatur: Die Metaphorik der ›Schwelle zur Welt‹ ähnelt dem sogenannten Zwei-Welten-Modell, das den Übergang zwischen der gewöhnlichen und der irrationalen Welt oft anhand einer Schwelle darstellt.49 Die strategische Nähe zum phantastischen Narrativ bestärkt die Distanz zwischen Kleinbürgertum und den »sogenannten höheren Kreisen« (PF, 169). Zu den höheren Kreisen ließe sich auch der Stadtrat zählen, sofern die politische Stellung bedacht wird: In Niedersachsen gilt der Stadtrat als Hauptorgan der Gemeinde, ferner obliegt ihm das Initiativrecht zur Abwahl des Bürgermeisters.50 Missverhältnisse prägen die figurale Konstellation und betreffen vorrangig die finanzielle Situation. Als Chance, das Defizit der Stadtkassen zu verringern, wird indessen die Hokenpassage betrachtet: Immer noch kämpfte Hauke mit allen Mitteln. Doch bisher war das Projekt nicht aus der Anfangsphase herausgekommen, waren De Groot Pharma als Investor aus Goslar, auf die Sandrock nicht verzichten wollte, und die von Hauke favorisierte IIT damit beschäftigt, Pläne für eine zweite große Passage von der Hoken- in die Fischemäkerstraße in der Goslarer Fußgängerzone mit Geschäften, Cafés und Boutiquen zu entwickeln. Doch bis heute fanden nur endlose Grabenkämpfe statt. Das lag auch daran, dass die von Hauke ins Rennen gebrachte Firma nie vor Ort war, wenn etwas zügig geplant werden musste. (PF, 66)

Der Oberbürgermeister stellt sich Hauke entgegen und verfolgt das Projekt mit eigenen Mitteln; er diskreditiert den International Investment Transfer (IIT). Die Hokenpassage ist »das Goslarer Großbauprojekt« und soll die Wirtschaftslage verbessern (PF, 165; Hervorhebung im Original). Goslar würde mit dem (fiktiven) Bau einen immensen Gewinn erzielen, so kommuniziert es jedenfalls der Roman. In der Theorie ist das Konzept auf jede Stadt übertragbar, die topographische Verortung bewirkt jedoch etwas anderes: Sie lädt die ortskundige Gemeinde zur Reflexion ein, sie bringt die Idee der Passage in Umlauf und lässt Gedanken über mögliche (reale) Auswirkungen zu. Würde sich das Projekt auf eine fremde oder gar fiktive Stadt beziehen, bliebe dieser Effekt gering. Kyle Frackman betont diesen Aspekt des Regionalkrimis als dessen spezifische Intention: »to envoke vividly the place in which the story occurs.«51 Der Ort der Ermittlung soll möglichst lebensecht wirken. Es ist demnach essenziell, die 49 Vertiefend siehe Rüster, Johannes: Fantasy. In: Brittnacher, Hans Richard/May, Markus (Hg.): Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: J.B. Metzler 2013, S. 284–292. 50 Vgl. Hoffmann, Peter: Kommunalpolitik in Niedersachsen, S. 214. 51 Frackman, Kyle: Vor Ort: The Functions and Early Roots of German Regional Crime Fiction. In: Kutch, Lynn/Herzog, Todd (ed.): Tatort Germany. The Curious Case of German-Language Crime Fiction. New York: Camden House 2014, S. 23–40, hier S. 25.

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lokale Umgebung genau zu bestimmen und anschaulich zu gestalten. Goslar wird nacherzählt (narrativ modelliert) und anschließend neu geordnet (subjektiv modifiziert). In der Story wird die Hokenpassage relativ spät erwähnt, die Interessen der Kommissarin beschränken sich auf den historischen Reiz: »Was Lokalpolitik betraf, klaffte bei Sina eine Wissenslücke, die sie bisher nie gestört hatte, jetzt aber wurmte« (PF, 134). Dieses Desiderat teilt den Krimi in seine zwei Bereiche – den regionalen Faktor der Lokalität und die regionale Verwaltung. Kommissar Niebuhr erklärt das Dilemma um das angestrebte Projekt gezielt: Es geht um eine Passage von der Hokenstraße in die Fischemäkerstraße mit Geschäften und Boutiquen, sozusagen das Gegenstück zur Kaiserpassage. Dann könnte man vom Schuhhof überdacht bis in die Breite Straße bummeln. […] Aber soweit ich weiß, gibt es Dauerstreit, was Planung und Finanzierung betrifft. Jedenfalls ist die Stadt, der zwei Grundstücke gehören, die einbezogen werden sollen, noch keinen Schritt weitergekommen. (PF, 134)

In diesem Bericht vereinen sich Topographie und Wirtschaftssystem. Die Route zwischen den Lokalitäten (Schuhhof – Breite Straße) lässt zwar eine neue Einkommensquelle erhoffen, doch birgt sie – wie jedes Bauprojekt – Risiken. Dies gilt für den Umbau an sich, die Entscheidungsträger seitens der Kommunalpolitik und die externen Investoren, sollte das Vorhaben scheitern. Obwohl die Grundstücke ›der Stadt‹ gehören und über sie verfügt werden könnte, offenbart sich im Finanz- und Verwaltungssystem ein Konflikt. Goslar wird zu einem ›überindividuellen Akteur‹ erhoben: Dort sammelt sich eine politische Systematik, eine Konstellation aus diversen Akteuren, die eine gemeinsame Zielsetzung verfolgen – die städtische Wirtschaft lukrativ zu gestalten.52 Die Umsetzung wird durch interne Querelen behindert; die Ermordung des Ratsherrn für Bauwesen erschwert die Situation zusätzlich. Das Verbrechen ist aus verschiedenen Perspektiven fassbar: Die stadtkundige (aktiv-involvierte) Bevölkerung wird das Ereignis differenzierter betrachten als das ortsfremde (passiv-unbeteiligte) Publikum. Mit diesem Aspekt verschiebt sich der Blick auf das Mordmotiv und die Stimmung im Stadtrat. Kramer resümiert passend: »Also ein Projekt, an dem sich die Geister scheiden. Bei dem es um Geld, Macht und Einfluss geht…« (PF, 134). Ferner beschreibt der Roman die Passage als »lukratives Investment« (PF, 150). Nicht ihr Bau oder Goslar bilden das Zentrum der Handlung, sondern was man aus dem Passagen-Projekt herausholen kann. Ein finanzielles Interesse, um die lokale Wirtschaft zu steigern. Folgende Dokumente finden sich im Dossier: Beim ersten Durchblättern stellte sie fest, dass es einige Ausschreibungen in puncto Architektur und Finanzierung gegeben hatte. Daneben fanden sich diverse Gutachten,

52 Vertiefend siehe Schimank, Uwe: Handeln und Strukturen. Einführung in die akteurtheoretische Soziologie. Weinheim: Juventa 2016, S. 327–341.

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Protokolle, von Ausschuss- und Ratssitzungen. Die Vergrößerung der Gewerbeflächen durch eine weitere Passage in der Innenstadt sollte Goslars Reize als Einkaufszentrum im Vergleich zu Nachbarstädten wie Wernigerode und Braunschweig weiter erhöhen. (PF, 148)

In diesem Punkt werden die Stadtgrenzen übertreten – doch nur, um sich mit einem ›besseren‹ Goslar in der Region zu behaupten. Die Nachbarstädte dienen als Konkurrenzmaß, den Erfolg der Hokenpassage zu sichern. Insofern wird Goslar als Metropole imaginiert, die selbst mit der Großstadt Braunschweig mithalten kann. Faktisch ist dieser Vergleich undenkbar.53 Der Roman offenbart seine Fiktivität und hält parallel an realen Eckpunkten fest, denn grundsätzlich bleibt das Interesse politisch: »Die Unterlagen enthalten wie erwartet Berichte über den Fortlauf der Planungsschritte und den Versuch, sie politisch umzusetzen« (PF, 150). Dieses Stadium wird nicht verlassen, eine Umsetzung schildert der Regionalkrimi nicht. Stattdessen sorgt die Ermordung des Ratsherrn für Aufsehen, der Oberbürgermeister wirkt aber wenig befangen: »Das ist unser aller Projekt, das Projekt unserer Stadt, auf das wir sehr stolz sind und für das wir unser Bestes geben. Helmut Hauke war nur einer der vielen, die daran mitarbeiten« (PF, 154). Dieses Statement mildert das Tötungsdelikt und richtet den Fokus stur auf die ›lukrative‹ Passage. Im Gegensatz zum Oberbürgermeister hängt sein Investor nicht von dem Bauwerk ab, geschweige denn vom Erfolg der Stadt Goslar. Frank de Groot überspannt den regionalen Bezug und erweitert ihn bis nach Sachsen, denn die Figur pflegt Geschäfte in Leipzig. Auch hier werden regionale Faktoren besprochen, unter anderem die Leipziger Lerche, das »Mürbegebäck mit der delikaten Marzipan-Marmeladen-Füllung« (PF, 67). Während Pfefferbeißer und Sauerfleisch als bekannt vorausgesetzt werden, scheint für das Food Design anderer Gebiete eine Erklärung nötig. Der Harzkrimi ist zwar für Harzkundige konzeptioniert, hält sich jedoch für andere Regionen und Vorlieben offen. Dies unterstreicht ebenso die Lage des fiktiven PharmaUnternehmens der Investoren »in Goslar mit guter Anbindung an die Achse Hannover-Berlin« (PF, 68). Bezeichnend ist, dass der Regionalkrimi diese Informationen teilt. Ein Gewinn scheint nur außerhalb Goslars gegeben. Zudem wird die »Mädler-Passage« in Leipzig genannt, die dem Konzept der Hokenpassage ähnelt (PF, 67). Das angestrebte Pendant in Goslar unterstreicht den Wunsch nach finanziellem Erfolg und offeriert ein Indiz für die mangelnde Wirtschaft, die sich mit dem Verlust des Investments weiter verschlechtert und

53 Braunschweig verfügt über eine deutlich höhere Bevölkerungsdichte als Goslar, daher wird die Großstadt zu den vier großen »Verdichtungsräumen« in Niedersachsen gezählt. Weiterhin betroffen sind Hannover und die niedersächsischen Teile von Hamburg und Bremen. Siehe Lange, Linda: Leben an mehreren Orten, S. 61.

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im Mord ihren Höhepunkt findet. Neben dem lokalpolitischen Apparat wird ein größeres Segment kritisiert: die regionale Ökonomie. In der Kriminalliteratur sind »Lokalpolitik und Profitgier« keine seltenen Themengebiete, sie fallen unter den Begriff des Öko-Krimis.54 Der Regionalkrimi komplettiert dieses Muster mit weiteren Kategorien, wie beispielsweise dem Lokalkolorit. Typische Merkmale der Region betten die Handlung ein und ermöglichen damit eine spezielle Form der Kritik. Eine Kritik, die zwar der fiktiven Geschichte entspringt, doch zugleich einen Blick auf die Realität zulässt. Die Fußgängerzone hat noch weitere Qualitäten zu bieten und nimmt deutlich mehr Raum ein, als das Projekt beansprucht: Das Areal beginnt nahe dem Bahnhof und führt »bis zum sattgrünen Rasenplateau, auf dem das Gemäuer der alten Kaiserpfalz thront« (PF, 208). So wird die Goslarer Innenstadt, trotz Bemängelung der profitorientierten Lokalpolitik, anerkennend mit ihrem historischen Stadtbild geschlossen.

Kulturpoetik im Harz: Regionalkrimis als Teil der Gesamtkultur Der Regionalkrimi öffnet eine soziologische Perspektive, die über die bloße Geschichte hinausgeht. Eingefügt werden zum Beispiel historische Aspekte des Schauplatzes, strukturelle Faktoren auf Ebene der Kommunalpolitik und gesellschaftliche Konflikte der Anwohnerschaft. Der Fall Sauerfleisch bindet seine Figuren sehr stark an ihre Region, sie sollen die oberharzer Mentalität einfangen. Schon der Klappentext (»Er war ein echter Oberharzer…«) greift diese Intention auf.55 Pfefferbeißer widmet sich dem Konfliktpotenzial der Lokalpolitik. Er ist nicht zwingend an die Harzer Ideologie gebunden, sondern offenbart ein allgemeines Problem: Profitgier in der Ökonomie. Die Handlung bietet verschiedene Lesarten an; sie funktioniert als Regionalkrimi, Stadtkrimi und politischer ÖkoKrimi. Neben dem prädestinierten Verbrechen bilden kulturelle Aspekte den Rahmen der Story. Der Roman liefert Fakten über Goslars historische Altstadt, das Tourismuswesen der Gegend, Informationen über die bestehende Infrastruktur bis hin zur expliziten Kartierung von Straßen, Flüssen, Parks und gastronomischen Lokalitäten. Diese sind entweder dem realen Stadtbild entnommen oder als fiktive Kategorien ergänzt. Wann die Fiktion die Realität bezwingt, ist jedoch nicht klar markiert – die Leserschaft muss die Zuordnung selbst übernehmen und das Stadtbild neu arrangieren. 54 Gross, Sabine: Ökologische Ideologie und kriminelle Energie: das Genre »Öko-Krimi«. In: Adler, Hans/Klocke, Sonja (Hg.): Protest und Verweigerung. Neue Tendenzen in der deutschen Literatur seit 1989. München: W. Fink 2019, S. 225–250, hier S. 231. 55 Weiterhin heißt es innerhalb der Geschichte: »Er war Oberharzer, wenn Sie das meinen […] Man konnte also gut mit ihm streiten?« Siehe Schulz, Mick: Sauerfleisch, S. 25.

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Pro forma ließe sich feststellen, dass die Lokalitäten meist dann fiktional überformt sind, wenn sie eine direkte Verbindung zum Mordfall bieten. Der Harzkrimi unterscheidet zwischen Tathergang und Kulisse, wobei beide Rubriken authentische Orte zeigen. Sofern das Stadtbild lediglich den erzählten Raum illustriert, orientiert es sich an der Realität. Daraus entspringt ein ekphrastischer Eindruck, der den visuellen Effekt bestärkt. Die Region wird fassbar gestaltet und unterstützt zugleich die Ermittlung – selbst die lokale Distanz zwischen den Schauplätzen wird definiert und versieht das Geschehen mit Authentizität. Weiterhin werden fiktive Akteure entworfen, um die regionale Verwaltung zu sichern. Obzwar der politische Apparat authentisch wirkt, bildet er die größte Abweichung zum realen System. Nicht nur dessen Vertreter, sondern vornehmlich deren Projekte bewirken ein neues Modell der Region. Schulz’ Harzkrimi spiegelt (zum Teil) die Gesellschaft. Sein Hauptanliegen besteht darin, realistische Faktoren zu einer Storyworld zu vernetzen und diese anschließend kritisch zu diskutieren. Der Text nutzt den Deckmantel der Narration, um sich kulturpoetisch zu äußern.

Literatur Blödorn, Andreas: Narratologie. Literaturwissenschaftliche Konzepte der Kriminalliteratur. In: Düwell, Susanne/Bartl, Andrea/Hamann, Christof/Ruf, Oliver (Hg.): Handbuch Kriminalliteratur. Theorien – Geschichte – Medien. Stuttgart: J.B. Metzler 2018, S. 14–23. Boehm, Gottfried/Pfotenhauer, Helmut: Einleitung: Wege der Beschreibung. In: Boehm, Gottfried/Pfotenhauer, Helmut (Hg.): Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. München: W. Fink 1995, S. 9–19. Bonter, Urszula: Stadt – Land – Mord. Einige Bemerkungen zu den aktuellen deutschen Regionalkrimis. In: Parra-Membrives, Eva/Brylla, Wolfgang (Hg.): Facetten des Kriminalromans. Ein Genre zwischen Tradition und Innovation. Tübingen: Narr 2015, S. 91– 102. Brylla, Wolfgang: Am Tatort der Geschichte. Zu Erzählfunktionen der Verbrechensräume im historischen Kriminalroman. In: Frenzel, Marlene/Geist, Kathrin/Oberrauch, Claudia (Hg.): Ein Ort, viel Raum(theorie)? Imaginationen gleicher Räume und Orte in Literatur und Film. Bamberg: University of Bamberg Press 2019, S. 311–344. Caspers, Britta/Hallenberger, Dirk/Jung, Werner/Parr, Rolf: Ruhrgebietsliteratur seit 1960. Eine Geschichte nach Knotenpunkten. Berlin: J.B. Metzler 2019. Drafz, Helge: »Jenseits von Uedem …« oder: Deutschlands wilder Westen. Der Niederrhein im Kriminalroman. In: Kortländer, Bernd/Grimm, Gunter (Hg.): »Rheinisch« – Zum Selbstverständnis einer Region. Stuttgart: J.B. Metzler 2001, S. 193–212. Frackman, Kyle: Vor Ort: The Functions and Early Roots of German Regional Crime Fiction. In: Kutch, Lynn/Herzog, Todd (ed.): Tatort Germany. The Curious Case of GermanLanguage Crime Fiction. New York: Camden House 2014, S. 23–40.

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Gross, Sabine: Ökologische Ideologie und kriminelle Energie: das Genre »Öko-Krimi«. In: Adler, Hans/Klocke, Sonja (Hg.): Protest und Verweigerung. Neue Tendenzen in der deutschen Literatur seit 1989. München: W. Fink 2019, S. 225–250. Hennig, Martin: Von Düsterbruch nach Finsterau. Heimat im Regionalkrimi. In: Nies, Martin (Hg.): Deutsche Selbstbilder in den Medien. Gesellschaftsentwürfe in Literatur und Film der Gegenwart. Marburg: Schüren 2018, S. 45–70. Heinze, Carsten: Alltagskonstruktionen und soziale Rolle. Eine soziologische Perspektive auf den »Tatort«. In: Hißnauer, Christian/Scherer, Stefan/Stockinger, Claudia (Hg.): Zwischen Serie und Werk. Fernseh- und Gesellschaftsgeschichte im »Tatort«. Bielefeld: transcript 2014, S. 41–66. Hoffmann, Peter: Kommunalpolitik in Niedersachsen. In: Kost, Andreas/Wehling, HansGeorg (Hg.): Kommunalpolitik in den deutschen Ländern. Eine Einführung. Wiesbaden: Springer 2010, S. 205–230. Kohlstock, Peter: Topographie. Methoden und Modelle der Landesaufnahme. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2011. Kramer, Dieter: Metropolen und Umland: Kulturanalyse und Kulturpolitik. Von der »kulturellen Mitversorgung« der Region zur »kulturbasierten Infrastrukturpolitik«. In: »Jahrbuch für Kulturpolitik« Nr. 6 vom 21. Juni 2006, S. 255–264. Lange, Linda: Leben an mehreren Orten: Multilokalität und bürgerschaftliches Engagement in ländlich geprägten Räumen Niedersachsens. Berlin: Lit Verlag 2018. Löffler, Katharina: Allgäu reloaded. Wie Regionalkrimis Räume neu erfinden. Bielefeld: transcript 2017. Löhr, Wolf-Dietrich: Ekphrasis. In: Pfisterer, Ulrich (Hg.): Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe. Stuttgart: J.B. Metzler 2011, S. 99–104. Meschede, Martin: Geologie Deutschlands. Ein prozessorientierter Ansatz. Berlin/Heidelberg: Springer 2015. Niedersächsische Staatskanzlei: Gesetz über die Vereinigung der Städte Vienenburg und Goslar, Landkreis Goslar. In: »Niedersächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt« Nr. 10 vom 19. Juni 2013. Roseneck, Reinhard: Auf den Spuren des neuen UNESCO-Welterbes Oberharzer Wasserwirtschaft. In: »Berichte zur Denkmalpflege in Niedersachsen« 4 (2010), S. 138–151. Rüster, Johannes: Fantasy. In: Brittnacher, Hans Richard/May, Markus (Hg.): Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: J.B. Metzler 2013, S. 284–292. Schimank, Uwe: Handeln und Strukturen. Einführung in die akteurtheoretische Soziologie. Weinheim: Juventa 2016. Schmidt, Maike: Berlin-Krimis seit 2000. Von der Metropole zur Provinz. In: Parra-Membrives, Eva/Brylla, Wolfgang (Hg.): Facetten des Kriminalromans. Ein Genre zwischen Tradition und Innovation. Tübingen: Narr 2015, S. 103–118. Schramm, Johannes: Der Stadtteil Jürgenohl für 10.000 Menschen geplant. In: »Goslarer Bergkalender« Nr. 75 (1996), S. 75–80. Schulz, Mick: Pfefferbeißer. Harz Krimi. Köln: Emons 2012. Schulz, Mick: Sauerfleisch. Harz Krimi. Köln: Emons 2011. Völker, Daniela: Das Buch für die Massen. Taschenbücher und ihre Verlage. Marburg: Tectum 2014. Wolf, Tom: Die Bestie im Turm. Ein Hansekrimi. Hamburg: Die Hanse 2012.

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Leopoldo Domínguez (Universidad de Sevilla) / Eva Parra-Membrives (Universidad de Sevilla)

Jenseits von Stierkampf und Flamenco: Sevilla, Traditionssubjekte und Räume der Erinnerung in Julio Muñoz Gijóns El asesino de la regañá

In der ausländischen, nicht-spanischen (Trivial)Literatur wird die südspanische Stadt Sevilla gerne mit Stierkampf, Flamenco und Orangen assoziiert1 und nicht selten als zufälliges Szenarium einer kulturellen Handlung fehlgedeutet. James Mangolds Knight and Day2 z. B., mit den amerikanischen Stars Tom Cruise und Cameron Díaz in Sevilla gedreht, zeigt, wie Teilnehmer der San Fermines-Feier, die nur in Pamplona, einer etwa 900 Kilometer entfernten Stadt in Nordspanien stattfindet, von Stieren verfolgt durch eine der wichtigsten Straßen Sevillas stürmen, was zur Zeit der Dreharbeiten für große Aufregung in der Stadt sorgte.3 Und in Sevilla wird immer noch schmunzelnd der Digital Fortress (1998) von Dan Brown gedacht, welcher derartige Unstimmigkeiten in seinen in Sevilla handelnden Roman eingebaut hatte4, dass er vom derzeitigen Bürgermeister dazu eingeladen wurde, sich die Stadt erst einmal genauer anzusehen.5 Brown, der 1 Siehe hier u. a. Objartel, Sonja: Carmen Reloaded. Leeds/London/New York: TWENTYSIX 2017; Dahmer, Sigrun: Liebe, Mia, Sevilla. Stuttgart: dp Digital Publishers 2016; Jäckle, Nina: Sevilla. Berlin: Berlin Verlag 2010. 2 Mangold, James: Knight and Day. Los Angeles: 20th Century 2010. 3 Teilweise auch in der andalusischen Hafenstadt Cádiz: Valera, Jon: Tom Cruise, Sevilla y los San Fermines. URL: https://jonvalera.wordpress.com/2012/07/09/tom-cruise-sevilla-y-los-sanfer mines/ / letzter Zugriff am 25. Januar 2021; Munárriz, Ángel: ¡Olé San Fermín! URL: https:// www.publico.es/culturas/ole-san-fermin.html / letzter Zugriff am 25. Januar 2021; Kommentare von empörten Einwohnern der Stadt: Noche y día. URL: https://www.filmaffinity.com /es/reviews2/1/317038.html / letzter Zugriff am 25. Januar 2021. 4 Lirola, Vita: Dan Brown retrata Sevilla como una ciudad muy poco recomendable en su primera novela. URL: https://www.20minutos.es/noticia/43145/0/fortaleza/digital/sevilla/ / letzter Zugriff am 25. Januar 2021; Constenla, Tereixa, Dan Brown retrata una Sevilla corrupta y atrasada en ›La fortaleza digital‹. URL: https://elpais.com/diario/2006/02/19/cultura/1140303606_8502 15.html / letzter Zugriff am 25. Januar 2021; Dan Brown retrata a Sevilla como una ciudad tercermundista en su novela ›Fortaleza digital‹. URL: https://www.sevillapress.com/noticia /1745.html / letzter Zugriff am 25. Januar 2021. 5 Bedell, Gary: Invitar a Dan Brown a Sevilla es querer hacerse la foto y no solucionar el problema de la limpieza. URL: https://sevilla.abc.es/sevilla/sevi-gary-bedell-invitar-brown-sevilla-quer er-hacerse-foto-y-no-solucionar-problema-limpieza-200602130300-132242091186_noticia. html / letzter Zugriff am 25. Januar 2021; El Ayuntamiento de Sevilla, indignado, invita al autor

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nach eigenen Angaben schon als Student für eine kurze Zeit die Universität Sevilla besucht hat – obwohl in der Universität selbst keinerlei Register davon vorhanden sind6 –, nahm die Einladung dankend an, und es ist wohl anzunehmen, dass er seine oberflächliche Meinung über die Stadt ändern konnte. Der Roman blieb, wie er war. Auch für den Kriminalroman ist Sevilla als Handlungsort nicht unbekannt. Die Zeiten, in denen man behauptete, »[e]l detective no puede llamarse Ferna´ndez«7 (dt. »der Detektiv kann nicht Fernández heißen«), sind längst vorbei. Das konnte u. a. der in Portugal lebende Brite Robert Wilson mit seiner Serie um Inspektor Javier Falcón beweisen8, in der ebenfalls viele kulturelle Ungenauigkeiten zu finden sind: So tragen Frauen z. B. im Roman den Nachnamen ihrer Ehemänner, was in Spanien nicht der Fall ist, und bestimmte offizielle Figuren werden falsch interpretiert. »Secretario« z. B. ist in Spanien nicht immer mit dem deutschen Sekretär gleichzusetzen, sondern eher als Stellvertreter für einen höherstehenden Beamten aufzufassen. Insgesamt kann man auch hier von einer nur oberflächlichen Sicht der Stadt sprechen, was vermutlich damit zusammenhängt, dass der Autor Sevilla nur kurz besucht hat. In diesem Kontext ist Julio Muñoz Gijóns Versuch besonders zu schätzen, mit seiner 2013 begonnenen Krimiserie9 das wirkliche Sevilla zu porträtieren, um so der Stadt einen eigenen literarischen Raum zu gewähren. »Crime fiction can incorporate spatial relationships and real-life regional characteristics«10, meint Lisa Kadonaga. Muñoz Gijón scheint genau dies anzustreben, denn es wird immer wieder im ersten Roman der Serie behauptet, dass es sich um einen echten

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del ›Código da Vinci‹ a conocer la ciudad. URL: https://www.20minutos.es/noticia/43224/0/ dan/brown/sevilla/ / letzter Zugriff am 25. Januar 2021; El Ayuntamiento de Sevilla invitará a Dan Brown a conocer la ciudad. URL: https://www.elmundo.es/elmundo/2005/08/23/cultura /1124816630.html / letzter Zugriff am 25. Januar 2021. In Dan Browns offizieller Biographie wird erzählt, dass er 1995 Kunstgeschichte an der Universität Sevilla studierte. Jedoch steht sein Name weder 1994/95 noch 1995/96 im Studentenregister der Universität (Dan Brown retrata a Sevilla como una ciudad tercermundista en su novela ›Fortaleza digital‹. URL: https://www.sevillapress.com/noticia/1745.html / letzter Zugriff am 25. Januar 2021). Colmeiro, José F.: De Pepe Carvalho al Subcomandante Marcos: la novela policíaca hispánica y la globalización. In: »Revista iberoamericana« 76 (2010), S. 477–492, hier S. 478. El ciego de Sevilla (2003), Condenados al silencio (2005), Los asesinos ocultos (2006) und La ignorancia de la sangre (2009) heißen die Romane der Serie. Erschienen sind bis jetzt sechs Romane innerhalb der Serie: El asesino de la regañá (2013), El crimen del palodú (2013), El prisionero de Sevilla este (2014), El misterio del perro, la mermelada y el cantante (2014), Un hombre lobo en el Rocío (2016) und El enigma del evangelio ›Triana‹ (2018). Kadonaga, Lisa: Strange countries and secret worlds in Ruth Rendell’s crime novels. In: »Geographical Review« 88 (1998), S. 413–428, hier S. 413.

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sevillanischen Mörder, »de sevillanas maneras« handelt.11 Diese Absicht des Autors, in der lokalen Presse mit Begeisterung gefeiert12 und von den Lesern bestens aufgenommen, ist oft gelobt und mit weiteren lokalen Besonderheiten in Verbindung gebracht worden, so z. B. mit dem in Spanien bekannten Lied Sevilla tiene un color especial13 (dt. Sevilla hat eine besondere Farbe, 1991) des aus Dos Hermanas stammenden Sänger-Duos »Los del Río«, das durch seinen Hit Macarena (1993) international bekannt wurde. Anders als die für den spanischen Krimi allgemein typischen Charakteristika wie »die politische, soziale und kulturelle Analyse der heutigen Welt, die Besorgnis über die Ungleichgewichte in den Machtbeziehungen zwischen dem Norden und dem Süden«14, die bereits u. a. bei dem renommierten Vázquez Montalbán präsent waren, stellt Muñoz Gijóns Werk einen absolut stichfesten Regionalkrimi15 dar. Schon die Titelwahl zeigt standortspezifische Merkmale auf: Der Mörder des El asesino de la regañá benutzt bei seinem verzweifelten Versuch, die Modernisierung seines geliebten, traditionsreichen Sevilla gewaltsam zu bremsen, ein äußerst ausgefallenes Mordinstrument, eine »Regañá«, nichts anderes als eine aus Mehl angefertigte, harte, brotähnliche Torte, die ursprünglich aus Alcalá de Guadaíra stammt, einer Kleinstadt in der Nähe von Sevilla. Dieses scharfkantige Gebäck ist zwar in ganz Andalusien sehr beliebt, aber im übrigen Spanien weniger bekannt. 11 Muñoz Gijón, Julio: El asesino de la regañá. Córdoba: Almuzara 2013, S. 96 (»mit sevillanischen Manieren«). Alle ins Deutsche übersetzten Zitate von L.D. und E.M.P. Die weiteren Zitate werden unter der Sigle EAR mit der entsprechenden Seitenangabe im Fließtext angeführt, die Übersetzungen befinden sich im Fußnotenapparat. 12 Murcia, Fran: Crímenes en serie por no actuar de sevillanas maneras. URL: https://www.diari odealmeria.es/vivir/Crimenes-serie-actuar-sevillanas-maneras_0_1357664649.html / letzter Zugriff am 25. Januar 2021; Bulnes, Amalia: ›El asesino de la regañá‹ llega al teatro: fuerzas locales versus globalización »de sevillanas maneras«. URL: https://www.eldiario.es/andalucia /lacajanegra/teatro/universo-escenario-estreno-teatral-asesino_1_2176736.html / letzter Zugriff am 25. Januar 2021. 13 Moraga, José M.: De sevillas maneras. URL: http://www.criticoestado.es/de-sevillanas-man eras/ / letzter Zugriff am 25. Januar 2021. 14 »El ana´lisis poli´tico social y cultural del mundo contempora´neo, la preocupacio´n por los desequilibrios en las relaciones de poder Norte-Sur« (Colmeiro, José F.: De Pepe Carvalho al Subcomandante Marcos: la novela policíaca hispánica y la globalización, S. 484). 15 Verstanden werden soll dies als »specificities such as the depiction of local customs and the use of recognizable rural settings and regional dialects« (Gerhards, Sasha: Krimi Quo Vadis: Literary and Televised Trends in the German Crime Genre. In: Kutch, Lynn M./Herzog, Todd (Hg.): Tatort Germany: The Curious Case of German-language Crime Fiction. Suffolk: Boydell & Brewer 2014, S. 41–60, hier S. 42). Obwohl im Text der sevillanische Dialekt nicht benutzt wird, zeigt der Roman einen Raum, wo die »Kriminalfa¨lle […] sich aus den sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Verha¨ ltnissen der Region [ergeben], die dabei kritisch durchleuchtet werden« (Virant, Sˇpela: »Auch die Länder in Osteuropa haben klare Namen«: Das Bild Südosteuropas in den sozialkritischen Kriminalromanen Veit Heinichens. In: »Jahrbuch für Internationale Germanistik« 50 (2018), S. 259–273, hier S. 260).

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Sevilla, im Roman in jedem Sinne als locked room konzipiert, müsste so von Anfang an für den nicht Einheimischen durch seinen »use of ›insider‹ regional knowledge«16 oftmals unverständlich bleiben, würde der Autor nicht einen ›fremden‹ Ermittler zu Hilfe kommen lassen, Inspektor Villanueva aus Madrid, der als Alter ego des Lesers fungieren soll. Wie der Leser muss auch der fremde Inspektor über vieles aufgeklärt werden, z. B. über die Beschaffenheit der Regañá17, der Mordwaffe Nr. eins. Auch für den zweiten Mord wird ein Produkt der lokalen Gastronomie benutzt: Das Opfer erstickt an einer gewaltsam eingeführten Menge kleiner Tintenfische (EAR, 23), in Sevilla – und eigentlich nur im andalusischen Süden18 – als »Puntillitas«19 bekannt. »Puntillitas« bedeutet eigentlich »kleine Nägel«. Da der Bezug des Terminus auf Fisch in Restspanien nicht problemlos zu verstehen ist, wird im Roman zur Illustration des Mordes ein Bild hinzugefügt, das für den Sevillaner, der »Puntillitas« problemlos mit dieser Art von Fischen identifizieren kann, befremdlich erscheinen muss.

Abb. »Puntillitas« (EAR, 22).

Die Verwendung von Begriffen und Besonderheiten der lokalen Gastronomie – der Andalusier isst gut und gerne – durchzieht den gesamten Text. So beharren z. B. einige der von der Polizei vernommenen Verdächtigen sowie Villanuevas 16 Kadonaga, Lisa: Strange countries, S. 415. 17 »La regañá es, para que usted se haga una idea, una especie de torta dura de pan. La masa es parecida a la de los picos, bueno, ustedes por ahí, en Madrid y eso, les dicen colines. Está muy buena […]« (»die regañá ist, damit Sie sich ein Bild davon machen können, eine Art harter Brottorte. Der Teig ähnelt dem der picos, gut, die Leute dort in Madrid und so nennen sie colines. Sie schmeckt sehr gut […]«) (EAR, 14). 18 Chopitos, chipirones o puntillas: el debate definitivo en Twitter. URL: https://www.diariodena varra.es/noticias/vivir/gastronomia/2020/06/16/chopitos-chipirones-puntillas-debate-defini tivo-twitter-693148-3192.html / letzter Zugriff am 25. Januar 2021. 19 Die nicht-lokale Benennung ist »chopitos«.

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sevillanischer Begleiter selbst auf ihrer Traditionsgebundenheit, indem sie sich rühmen, dass sie beim Essen immer Lokales bevorzugen. Im Vergleich zum moderneren Spanien, wie Barcelona oder Madrid, halten sie an Essgewohnheiten fest, wie z. B. an »chicharrones« (EAR, 65; zu stark geröstetes Fleisch), »solomillo al whisky«20 (Lendenstück mit Whiskysoße), eine anscheinend in der Stadt erfundene und die typischste tapa in Sevilla überhaupt, oder an »papas fritas de perol«, d. h., »[i]n einem Topf mit zwei Henkeln und in Öl gebratenen Kartoffeln« (EAR, 31). »Perol« ist weiterhin ein regionaler Begriff für ein bestimmtes Kochinstrument und soll unterstreichen, dass man moderne Utensilien wie Fritteusen ablehnt. Diese inexistente Sophistikation in der andalusischen Küche steht im Text für ein weiteres Beispiel eines angestaubten, sich fast verzweifelt an die Vergangenheit klammernden Sevilla, welches vom Autor schmunzelnd und gleichzeitig kritisch veranschaulicht wird.21 Dieses Widerstehen von Modernitäten, damit die Eigentümlichkeiten der Stadt in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts bewahrt werden können, ist das eigentliche Thema eines Kriminalromans, bei dem als whodunit immer deutlicher Sevilla selbst enthüllt wird. Das Verzichten auf das Nicht-Eigene ist, so der Autor, vor allem einer konservativen und sehr einflussreichen Elite der Stadt zuzuschreiben, die anstrebt, Sevilla vom Rest der Welt abzuschirmen. Dass in dieser stadtzentrierten Krimiserie, »even when city solutions are offered, this seems often enough to be a neverending, sisyphean task, whose ultimate worth is thoroughly in doubt«22, wie Philip Howell behauptet, ist hier besonders zutreffend. Muñoz Gijón beschreibt die Morde als unabwendbares Produkt einer Stadt, die nicht an eine globale Integration glaubt und niemals daran glauben wird. Der Mörder an sich bleibt uninteressant, ist er doch leicht durch jede andere beliebige Figur zu ersetzen. Außerdem sind in der Gestaltung der Einwohner der Stadt viele klischeehafte Charaktere hervorzuheben, so z. B. der Polizist Jiménez, der gegenüber seinem Kollegen aus Madrid äußert, dass in Sevilla »mientras menos se trabaje, mejor« (EAR, 17).23 Dies soll die in Spanien übliche Ansicht

20 Gutiérrez García, Ana M.: Cómo hacer Solomillo al whisky, receta de la típica tapa de Sevilla. URL: https://cocinandoentreolivos.com/2019/08/como-hacer-solomillo-al-whisky-receta-se villa.html / letzter Zugriff am 25. Januar 2021. 21 Laut Phillips benutzt Muñoz Gijón eine Art Humor, der mit der Identität und dem besonderen Charakter des Andalusiers verbunden ist (»guasa«). Dieser ermöglicht es ihm, sich von den dargestellten Meinungen seines Textes zu distanzieren (Philipps, Nick: Investigating a Local Response to a Global Crisis in Julio Muñoz Gijón’s ›El asesino de la regañá‹. In: »Arizona Journal of Spanic Cultural Studies« 21 (2017), S. 9–25). 22 Howell, Philip: Crime and the city solution: crime fiction, urban knowledge, and radical geography. In: »Antipode« 30 (1998), S. 357–378, hier S. 364. 23 »Je weniger man arbeitet, desto besser«.

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bestätigen, dass der Andalusier nur ungern irgendeiner Tätigkeit nachgeht.24 Der träge Polizist Jiménez fungiert zudem als Repräsentant des bäuerlichen, ungebildeten Spaniers der sozialen Unterschicht, der laut dem übrigen Spanien bestens von dem Andalusier verkörpert wird.25 Als eifriger Leser der Zeitung »Deportivo«, einer lokalen Fußballzeitung – während der Kollege aus Madrid sein modernes iPad benutzt, um sich zu informieren (EAR, 17, 75) – interessiert sich Jiménez für nichts Weiteres als die sportlichen Neuigkeiten aus seiner Stadt. Dass ihm die kulturellen Ereignisse völlig unbekannt und unwichtig sind, verdeutlicht seine Äußerung »Sevilla es una ciudad tranquila. Tiene sus cosas. Avanza, sí, que se hacen muchas cosas de teatro y todo eso« (EAR, 14).26 Ebenso kann man den typischen Chauvinismus für Sevilla gegenüber anderen Teilen des Landes in den Worten erkennen: »Lo que quiero decir es que esto no es Alicante, Valencia o Murcia, donde siempre hay decapitaciones y cosas tela de desagradables, aquí no, aquí no pasa casi nunca nada« (EAR, 14).27 Interessant ist hierbei auch, dass Jiménez die Städte Alicante und Murcia, mit kaum etwas über 300.000 und 450.000 Einwohnern, als gefährliche Großstädte identifiziert, obwohl beide eigentlich weniger dicht bewohnt sind als Sevilla und nicht gerade wegen ihrer hohen Kriminalitätsrate – und schon gar nicht für Enthauptungen – bekannt sind. Alles, was außerhalb der Stadt geschieht, wird als gefährlich und schlecht dargestellt. Es ist anzunehmen, dass an diesen oben geschilderten Orten die alten Traditionen vernachlässigt wurden. Die Unkenntnis dessen, was außerhalb der Stadt geschieht, wird so als ein weiteres Merkmal seiner Einwohner dargestellt. Dagegen weiß Jiménez immer sehr genau zu berichten, wann welche religiösen Prozessionen durch welche Straßen der Stadt ziehen. Die starke Religiosität der andalusischen Region und vor allem der große Einfluss der Karwoche, die ein besonderes Kennzeichen der Stadt Sevilla ist, kommt sehr treffend in der Figur des Polizeichefs zur Geltung. In einer äußerst 24 Ocho mitos sobre Andalucía y su gente. URL: https://www.andaluciatipica.com/blog/8-mitos -sobre-andalucia-y-su-gente / letzter Zugriff am 25. Januar 2021. 25 Ein Topos, der in den letzten Jahren in der Presse stark kritisiert wurde: La imagen de gracioso, vago o inculto son tópicos que lastran el futuro de los andaluces. URL: https://www.ca nalsur.es/television/la-imagen-de-gracioso-vago-o-inculto-son-topicos-que-lastran-el-futur o-de-los-andaluces/1402547.html / letzter Zugriff am 25. Januar 2021; Arriaza, Helena: Andaluces en series: graciosos, incultos y en la precariedad. URL: https://www.lavozdelsur.es/an daluces-en-series-graciosos-incultos-y-en-la-precariedad_103379_102.html / letzter Zugriff am 25. Januar 2021; Morán Breña, Carmen: Los tópicos siempre miran al sur. URL: https://elpais.com/sociedad/2012/04/06/actualidad/1333727531_508785.html / letzter Zugriff am 25. Januar 2021. 26 »Sevilla ist eine ruhige Stadt. Mit ihren Besonderheiten. Sie kommt voran, ja, man macht vieles, auch viele Theaterdinge und so«. 27 »Was ich sagen möchte, ist, dass hier nicht Alicante, Valencia oder Murcia ist, wo immer geköpft wird und andere unangenehme Sachen passieren, hier nicht, hier passiert fast nie was«.

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einfallsreichen Parodie, die für die Leser aus vielen Szenen amerikanischer Krimiserien bekannt sind28, in denen das Polizeioberhaupt daran erinnert, dass er selbst von höheren Instanzen zur Rechenschaft gezogen wird, sollte er den Fall nicht befriedigend lösen, ersetzt Muñoz Gijón in seinem Roman den Bürgermeister durch das Oberhaupt der religiösen Zünfte sowie andere lokale vermutlich einflussreiche Personen wie die Hotelführer und Taxifahrer Sevillas, die in der sehr besuchten Karwoche besonders aktiv in der Stadt sind. - -Estamos acojonados. Queda menos de un mes para la Semana Santa de Sevilla […] he estado hablando con el presidente de la Asociación de Hoteleros Sevillanos. Me ha pedido explicaciones […]. Y aún tengo que hablar con los hermanos mayores de todas las hermandades para tranquilizarles y con los taxistas que, honestamente, son los que más miedo me dan (EAR, 16–17).29

Tradition ist so in Sevilla gleich Unkultur, Religiosität und nostalgischer Blick in die Vergangenheit – auch wenn diese anscheinend wenig zu bieten hat. So bleibt im Roman deutlich, dass in der Stadt, trotz jahrzehntelanger Wahlsiege der Linkspartei PSOE, die rechtsorientierte Gemeinschaft immer noch vorrangig die Mentalität der Stadt prägt, so dass man z. B. Sprüche über Franco nicht unzensiert verwendet: »Inspector Villanueva, seré franco« sagt der Polizeichef, indem er die Ambiguität zwischen dem Adjektiv »franco«, »ehrlich, aufrichtig«, und dem Namen des ehemaligen spanischen Diktators benutzt. Da seine Äußerung auch als »ich werde Franco sein« verstanden werden kann, erwidert Villanueva als moderner Madrider sarkastisch mit den Worten »Espero que no me hable de una reencarnación«, worauf der sevillanische Polizeichef aber auf keinen Fall eingehen will: »El comisario no se para ni de puntillas en el juego de palabras de su colega madrileño« (EAR, 17).30 Die humorvolle Kritik an den rechtsgerichteten bzw. traditionsverteidigenden Bürgern der Stadt äußert sich im Roman auch durch die Presseherrschaft der Zeitung »ABC«. »ABC«, deren Sevilla-Edition oft durch tendenziöse Schlagzeilen bestimmt ist, ist im Roman als offizielles Informationsorgan der Stadt präsentiert

28 Siehe hier z. B. Criminal Minds und Aaron Hotchners Versuche seiner Chefin Erin Strauss ständig schnelle Resultate zu bringen, oder in Dexter Batistas und Debra Dexters Berichte an Lieutenant Lagherta. 29 »- -Wir fühlen uns an den Eiern gepackt. Es fehlt weniger als eine Woche zur sevillanischen Karwoche […]. Ich habe mit dem Präsidenten des sevillanischen Hotelverbandes gesprochen, der mich um eine Erklärung gebeten hat […]. Und ich muss noch mit dem Oberhaupt von jeder religiösen Zunft sprechen, um sie alle zu beruhigen, und dann noch die Taxifahrer, die, wie ich zugeben muss, mir die meiste Angst bereiten«. 30 »Inspektor Villanueva, ich werde ehrlich sein«; »ich hoffe, Sie sprechen nicht von einer Reinkarnation«; »der Kommissar beachtet das Wortspiel seines Kollegen aus Madrid nicht einmal andeutungsweise«.

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und sogar von den Mordverdächtigen mit Vorliebe ›konsumiert‹. Dabei ist es so, dass das, was nicht in der Zeitung steht, nicht existiert. Unterstrichen bleibt alles durch die spotthafte Darstellung einiger wichtiger Persönlichkeiten der Stadt, die, wie bekannt, rechtsorientiert sind. Einer der zentralen Mordverdächtigen, Vertreter der Traditionsgebundenheit und all dem, was in der Stadt als Anti-Modernität gelten soll, ist der Präsident eines – nicht näher identifizierten – Fußballclubs. Nun gibt es in der Stadt gleich zwei wichtige Mannschaften, Sevilla und Betis, deren Anhänger sowohl der einen als auch der anderen Mannschaft aus allen sozialen Schichten stammen. Jedoch wird es in der Stadt oftmals hervorgehoben, dass die Mannschaft von Sevilla der Club der Elite ist, während Betis die Arbeiterklasse repräsentiert.31 Don Manuel Ver de Faruso, der fiktive Romanname des sevillanischen Prominenten, bezieht sich auf Manuel Ruiz de Lopera y Ávalos (Sevilla, 1944), Präsident des Real Betis Balompié von 1996 bis 2006. Einerseits ähnelt das Wort Faruso dem Namen seiner Firma (»Farusa«), durch die Ruiz de Lopera im Jahr 1992 angeblich 31,88 % der Aktien (36.869) kaufte und sich damit die Kontrolle über die Fußballmannschaft sicherte. 2017 erklärte ein Urteil des Handelsgerichtes Nr. 1 die Ungültigkeit des Ankaufes, welches 2019 von der Audiencia Provincial Sevilla bestätigt wurde. Andererseits gibt es im Roman einige Anspielungen auf die Figur des Unternehmers. So steht z. B. im Text, dass er in der Stadt vermisst wird, seitdem er die Mannschaft verließ (EAR, 70). 2006 wurde Ruiz de Lopera durch José León Gómez im Vorsitz des Clubs ersetzt und anschließend wegen Veruntreuung in der Zeit seiner Präsidentschaft verurteilt. Noch wird die Figur in der Stadt kontrovers diskutiert, wo sie ebenso Verfechter als auch Gegner besitzt. Darüber hinaus besteht der fiktive Manuel Ver de Faruso auf seine alkoholfreien Gewohnheiten, welche mit der realen Person übereinstimmen:32 »Miren, este es el auditorio que tenemos aquí para nuestras fiestas, 31 Eine Idee, die heute oft als überholt angesehen wird, aber bis vor Kurzem in der Stadt als gute Unterscheidung beider Mannschaften akzeptiert wurde: Sevilla de clase alta. Betis de trabajadores. URL: http://altanorte.blogspot.com/2018/06/sevilla-clase-alta-betis-trabajadores. html / letzter Zugriff am 25. Januar 2021; El Betis, el equipo de los obreros. URL: http://cole cciondeminiaturasymaquetas.blogspot.com/2010/09/el-betis-el-equipo-de-los-obreros.html / letzter Zugriff am 25. Januar 2021; Medina Delgado, Rafael: Retrospectiva obrera del Real Betis Balompié. URL: http://sevillaperdida.blogspot.com/2017/10/retrospectiva-obrera-delreal-betis.html / letzter Zugriff am 25. Januar 2021. 32 Beispielsweise sagte Ruiz de Lopera in einem Interview: »No he fumado en mi vida, no he bebido en mi vida, no me gusta el alcohol, tomo zumo de naranja […]« (»Ich habe in meinem Leben weder geraucht noch Alkohol getrunken, ich mag Alkohol nicht, ich trinke Orangensaft […]« (Espina, José A.: Lopera apareció: »Si entro en el Betis es para hacerlo grande«. URL: https://as.com/futbol/2017/02/27/primera/1488198888_860586.html / letzter Zugriff am 25. Januar 2021). Darüber hinaus hat er, wie im Roman, seinen Wohnsitz im Stadtviertel El Plantinar. Bei der Richterin, auf die sich die fiktive Figur im Text bezieht (EAR, 31–32), handelt es sich um Mercedes Alaya, die 2008 die Untersuchung des Falls Betis-Club über-

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nada de alcohol, eso sí, porque yo solo tomo zumo de naranja, tomen buena nota, solo zumo de naranja, bueno, y agua« (EAR, 31).33 Ebenfalls der Tradition verhaftet ist der zweite Verdächtige des Romans, der folkloristische Sänger José Manuel Poto34, der sich selbstverständlich auf José Manuel Soto bezieht. Muñoz Gijón gibt sich keine große Mühe in der Änderung des Nachnamens, vielleicht erschien »poto«, die populäre Nennungsweise der Epipremmum aureum, einer gewöhnlichen Schlingpflanze, doch allzu attraktiv. Soto ist in den letzten Jahren oft zur Unterstützung der rechtsradikalen Partei VOX in der Presse aufgetreten35 und mittlerweile »offizieller Sänger der Partei« geworden.36 Obwohl der Aufstieg von VOX nach der Veröffentlichung des Romans geschah, wird Potos/Sotos Ideologie schon im Text burlesk inszeniert. Nachdem er vom Inspektor Villanueva in einer typisch andalusischen Wohnung mit Jasmingeruch besucht und nach seiner Meinung über Modernitäten gefragt wurde, zeigt er seinen Hass auf alles Nichtspanische, indem er die neue, ausländische Musik abwertend kritisiert: Hay que ser agresivo con lo que es un pedazo de mierda. Por supuesto que tengo muchos fans que se enfadan con la porquería musical que se hace hoy, pero como todos deberíamos hacer. ¿Sabe usted quién es la Lady Faja esa o como se llame? Valiente mamarracha (EAR, 50).37

Die Figur Potos verwechselt absichtlich Lady Gagas Namen mit dem spanischen herabwürdigenden Terminus für Miederhose (»faja«) und lehnt somit nicht nur alles Ausländische ab, sondern beweist auch eine starke Misogynie in einem

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nahm. Später wurde sie noch bekannter, als sie an der Aufklärung eines großen Korruptionsskandals in Andalusien (dem sogenannten Fall ERE) mitwirkte. »Schauen Sie, das ist das Auditorium für unsere Feste. Es gibt keinen Alkohol, das schon, weil ich selbst nur Orangensaft trinke, merken Sie sich dies, nur Orangensaft, ja, und Wasser natürlich«. Cerdeño, Mario: José Manuel Soto lanza ›Soy español‹ dedicándosela a los »desgraciados que odian España«. URL: https://www.losreplicantes.com/articulos/jose-manuel-soto-cancionyo-espanol-dedicada-desgraciados-odian-espana / letzter Zugriff am 25. Januar 2021; José Manuel Soto quiere ser Manolo Escobar con su nueva canción ›Soy español‹. URL: https:// www.elespanol.com/cultura/musica/20180523/jose-manuel-soto-manolo-escobar-cancion-e spanol/309469914_0.html / letzter Zugriff am 25. Januar 2021. Abascal y José Manuel Soto, juntos contra Casado. URL: https://www.elplural.com/fuera-de -foco/abascal-jose-manuel-soto-pablo-casado_213209102 / letzter Zugriff am 25. Januar 2021. Bueza, Joakin: Cachondeo por el lamento de José Manuel Soto. URL: https://www.elnacio nal.cat/enblau/es/television/jose-manuel-soto-cantante-oficial-vox-lamento_442353_102. html / letzter Zugriff am 25. Januar 2021. »Man muss mit dem aggressiv sein, was ein Stück Scheiße ist. Selbstverständlich habe ich viele Fans, die sich über die musikalischen Sauereien, die heute gemacht werden, ärgern. Wir alle sollten dies. Wissen Sie, wer diese Lady Mieder, oder egal wie sie heißt, ist? Was für eine Vogelscheuche«.

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Roman, in dem Frauen nur, wenn überhaupt, eine zweitrangige Rolle spielen, wie es natürlich in einem traditionsreichen Sevilla nicht anders sein könnte. Des Weiteren erscheinen in Muñoz Gijons Werk andere Persönlichkeiten der Farandula, u. a. die fiktiven Charaktere José Luis, wahrscheinlich Rafa Almarcha, künstlerischer Leiter der lokalen Musikgruppe »Siempre así«38 (»Siempre igual« im Roman) sowie Musikproduzent von sevillanischen Sängern, z. B. José Manuel Soto selbst; Susy Marin Mayoral (Vicky Martín Berrocal), Tochter des Stierkampfunternehmers José Luis Martín Berrocal, die zur spanischen socialite vor allem seit ihrer misslungenen Heirat mit dem bekannten Stierkämpfer Manuel Díaz González »El Cordobés« gehört; José und Carlos (eigentlich Jorge und César Cadaval), die das in Spanien sehr berühmte Komiker-Duo »Los Morancos (im Roman »Los Gachones«) von Triana« bilden. Wie im Text pflegt Jorge seinen Körper im Fitnessstudio und ist mit einem amerikanischen Mann verheiratet, während César, anders als sein Bruder, ein begeisterter Anhänger von FC Sevilla ist. Die Figur Carlos ist, ähnlich der realen Person, rechtsorientiert und gehört im Roman zur »masonería de rancios« (EAR, 97)39 der Stadt, die die verschiedenen Morde plant, von der er allerdings wegen versuchtem Verrat entführt wird. Als Foltermethode wird Carlos auf skurrile Art in einem Versteck mehrmals ein Video eines lokalen Derbys gezeigt, in dem seine geliebte Fußballmannschaft vom Stadtrivalen geschlagen wurde: El hombre le vuelve a colocar la mordaza con desprecio. Lo levanta de la silla y lo vuelve a colocar frente a la tele. Aún más cerca, Oliveira vuelve a pegarle [al balón] desde la frontal. Otra vez no llega Palop. Detrás de la mordaza el humorista ríe histérico con los ojos inyectados en sangre y comienza a cantar el gol entre risas y lágrimas (EAR, 133).40

Neben Carlos/César Cadaval lassen sich in der Opfergruppe weitere bekannte Figuren erkennen, wie Susana Abalde und Jürgen Mayer, die u. a. für die zwei größten und umstrittensten Architekturprojekte der Stadt in den letzten Jahren verantwortlich sind. Im Vergleich zu den vorherigen Charakteren werden die beiden ohne Pseudonym in den Roman eingeführt. Dies ist ebenso der Fall bei der Benennung anderer berühmter Persönlichkeiten Sevillas wie des »ABC«Journalisten Álvaro Burguillos, der auch in anderen Teilen der Krimiserie auftritt, des Stierkämpfers Franciso Rivera Ordóñez oder seiner Ex-Schwieger-

38 Siempre así. URL: https://www.siempreasi.es / letzter Zugriff am 25. Januar 2021. 39 »Altadelige Maurerei«. 40 »Mit Verachtung legt der Mann ihm wieder den Knebel in den Mund. Er hebt ihn vom Stuhl hoch und setzt ihn vor den Fernseher. Noch besser sieht er wie Oliveira vom oberen Ende des Spielfelds [den Ball] schlägt. Noch einmal kommt Palop nicht hin. Hinter dem Mundknebel lacht der Komiker hysterisch mit blutunterlaufenen Augen und beginnt unter Gelächter und Tränen das Tor zu besingen«.

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mutter, der 2014 verstorbenen María del Rosario Cayetana Fitz-James Stuart y Silva, bekannt als Herzogin von Alba. Fiktion und Realität überschneiden sich ständig in einem Werk, in dem, wie bereits erwähnt, der Raum zugleich eine zentrale Rolle spielt. Der Hinweis auf Sehenswürdigkeiten und symbolträchtige Orte sowie die Beschreibung der neuen architektonischen Bauten und Veränderungen führen dazu, dass der literarische Text nicht nur dem Leser einen umfassenden Überblick über die topographische Karte Sevillas ermöglicht, sondern auch ein wertvolles historisches Dokument darstellt. Während sich die Einheimischen mit den zahlreichen Anspielungen auf die Stadt vergnügen und anhand der Figuren diese wieder erkunden können, gelingt es dem Autor, einem allgemeineren Publikum die andalusische Hauptstadt, wenn auch übertrieben und humoristisch dargestellt, in ihrer Essenz und mit ihren Besonderheiten zu beschreiben. Darüber hinaus wird der städtische Raum in Muñoz Gijons Werk in einen Kriegsschauplatz verwandelt. Jenseits eines Kampfes zwischen den Gegenkräften, den sogenannten »modernitos«41 (Modernisten) und »rancios«42 (Altadeligen), bei dem die Selbstdarstellung der Stadt auf dem Spiel steht, wird Sevilla, wie in der Tradition der Flaneur-Literatur, mit einer weiblichen Figur verglichen43, die (wieder) erobert werden möchte: Sevilla, nuestra enamorada, lleva siendo mucho tiempo atacada. Unas veces gritándolo en nuestra cara como con ese absurdo proyecto de las Setas, y otras más en silencio. ¿Por qué no había de comenzar a defenderse ya? Y, sobre todo, ¿por qué temer a quien viene a salvaguardar lo que queremos que perdure? (EAR, 77)44

In einem Verweis auf die tartessische Vergangenheit der Stadt wird Sevilla als »reina de Tarssis« (EAR, 75)45 bezeichnet sowie mit einer »bella doncella« (EAR, 41 Als Inspektor Villanueva seinem Polizeiassistenten Jiménez erklärt, dass »todas las víctimas podrían catalogarse dentro de un mismo grupo, gente joven, innovadora en cualquier ámbito que, de alguna manera, amenazaron a la parte más rancia de la ciudad« (»alle Opfer innerhalb derselben Gruppe eingestuft werden [könnten], junge und in allen Bereichen innovative Leute, die gewissermaßen den konservativsten Teil der Stadt bedrohten«) (EAR, 63). 42 Julio Muñoz Gijón: Con mis historias los modernitos se ríen y la gente rancia lo ve como homenaje. URL: https://www.cope.es/programas/herrera-en-cope/noticias/julio-munoz -gijon-con-mis-historias-los-modernitos-rien-gente-rancia-como-homanaje-20190423_399 675 / letzter Zugriff am 25. Januar 2021. 43 Laut Parkhurst Ferguson verbindet Balzac das Flanieren mit (männlichem) fleischlichem Wissen. Der Flaneur bei Balzac betrachtet die Stadt Paris als »weibliches Geschöpf«, »Königin«, »Freundin« oder »Ehefrau« (Parkhurst Ferguson, Priscilla: Paris as Revolution: Writing the Nineteenth-Century City. Berkeley: University of California Press 1994, S. 92). 44 »Sevilla, unsere Geliebte, wird seit langem attackiert. Manchmal wird es vor unseren Augen gebrüllt, wie mit diesem absurden Projekt der Pilze, und manchmal stiller. Warum musste man nicht beginnen, um sich einmal zu verteidigen? Und vor allem, warum musste man den befürchten, der gekommen ist, um das zu bewahren, was wir wollen, das bleibt«. 45 »Königin aus Tarssis«.

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76)46 verglichen. Der geschilderte Blick auf die Stadt geht im Text über die gegenwärtige Perspektive hinaus. In diesem stellt man fest, dass es neben der Vorstellung der letzten Transformationsprozesse und Modernisierungsversuche der Stadt47 gleichzeitig – und vielleicht als Folge davon – eine Suche nach den Spuren der Stadtgeschichte gibt. Zusammen mit dem Erbe von den Tartessern48 sowie den Römern49 und den Mauren50 ist der Raum Sevillas, wie anderer Städte Andalusiens auch, von dem 46 »Hübsche junge Frau«. 47 Die bedeutendsten Veränderungen des Stadtraums Sevillas im letzten Jahrhundert stehen im Zusammenhang mit der Ibero-Amerikanischen Ausstellung von 1929, welche der Stadt vor allem den neu gestalteten Parque María Luisa mit der von Aníbal González Osorio entworfenen Plaza de España und der Plaza de América bescherte, und der sog. Expo 92. Neben den neuen über den Guadalquivir errichteten Brücken, wie u. a. die Centenario-Brücke, die Barqueta-Brücke oder die Alamillo-Brücke des kontrovers diskutierten spanischen Architekten Santiago Calatrava, wurden anlässlich der zweiten Weltausstellung der Flughafen und der Hauptbahnhof Santa Justa zusammen mit der Express-Fahrstrecke Madrid-Sevilla gebaut. Nach der sevillanischen Märtyrerin Justa benannt, die gemeinsam mit ihrer Schwester Rufina auch Schutzpatronin von Sevillas Kathedrale ist, wurde der Bahnhof in der neuen Gestaltung der Stadt als Eingangstor Sevillas konzipiert. Es ist kein Zufall, dass eine der ersten Episoden in Muñoz Gijos Roman genau an diesem Platz stattfindet. In dieser Szene wird Inspektor Villanueva, der mit einem Hochgeschwindigkeitszug (AVE) nach Sevilla gekommen ist, von Jiménez abgeholt. Der Bahnhof kann als Symbol des modernen Sevillas interpretiert werden, der sowohl den Zugang zum übrigen Spanien und der Welt ermöglicht und junge Leute sowie Investoren aus anderen Teilen anlockt, als auch zu einer umfassenderen Öffnung der städtischen Grenzen und somit der Gefahr des Verlustes des Lokalen in allen Arten und Erscheinungsformen führte. Diese Zweideutigkeit in Bezug auf die Transformationsimpulse der Stadt wird im Roman deutlich thematisiert. Darüber hinaus wurden bereits im 21. Jahrhundert weitere und nicht weniger umstrittene Bauarbeiten ausgeführt wie die Straßenbahn Metrocentro (2007), das Stadtbahnnetz Metro Sevilla (2009), der Metrosol Parasol (2011) und der erste Wolkenkratzer Sevillas (2015), der auch Torre Sevilla, Cajasol Tower oder Pelli Tower genannt wird. Diese entweder abgeschlossenen Strukturen oder Bauprojekte werden im literarischen Text aufgelistet. 48 Laut den Griechen waren die Tartesser die älteste Kultur des Abendlandes. Sie siedelten sich in den heutigen Gebieten von Sevilla, Huelva, Badajoz und der portugiesischen Algarve an. Die Bezeichnung Tartesser bezieht sich auf den Fluss »Tharsis«, später von den Römern »Betis« (Baetis) genannt und anschließend von den Mauren in »Gualdalquivir« (al-wa¯d alkabir) umbenannt (Martínez, Pepe: Los Tartessos en Sevilla. URL: https://www.visitarsevil la.com/que-ver/rutas-tematicas/tartessos / letzter Zugriff am 25. Januar 2021). 49 So wird z. B. unter den topographischen Referenzen auf den »acueducto« (EAR, 32) Caños de Carmona hingewiesen, der zu den Überresten des Römischen Reiches in Spanien gehört, und die römische Bezeichnung der Stadt, »Hispalis« (EAR, 12) wird in der ersten Mitteilung des Mörders an die Polizei benutzt. 50 Die Mauren eroberten die Stadt 712, machten sie zur Hauptstadt einer Provinz und änderten den Namen von Hispalis zu Isˇbı¯liya, woraus sich der heutige Name Sevilla ableitet. Unter der Herrschaft der Almohaden wurde sie zur bedeutendsten Stadt in al-Andalus – der arabische Name für die bis 1492 muslimisch beherrschten Teile der Iberischen Halbinsel. Das prestigeträchtigste Bauwerk der islamischen Periode in Sevilla war die große Moschee, deren Minarett, 1196 mit einer Höhe von 82 Meter erbaut, im unteren Teil der »Giralda« noch erhalten ist. Auch der »Torre del Oro« (Gold-Turm), der Teil einer Sperranlage gegen

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starken Einfluss der katholischen Kirche, den Traditionen und der populären Kultur des Landes, wie den Stierkämpfen oder der Aprilmesse, besonders geprägt. Der Einfluss der christlichen Religion auf die Stadt zeigt sich nicht nur an den Orten, an denen einige der Morde durchgeführt werden als Gegenreaktion auf die Impulse eines modernen bzw. säkularisierten Teils Sevillas, sondern auch in der Art und Weise sowie den Utensilien, die vom Täter benutzt werden. Der Roman beginnt in der Basilika der María Santísima de la Esperanza Macarena, die paradigmatisch für die tiefe Verehrung der Karwoche und die religiösen Bilder in Sevilla steht. Jedes Jahr wird die Prozession mit der Skulptur der Jungfrau am Morgen des Karfreitags an diesem Ort im Fernsehen übertragen. Nach einem mehrstündigen Umzug durch die Straßen der Stadt und von Tausenden von Gläubigen verfolgt, wird sie in die heilige Stätte zurückgeführt. Das Gebäude ist Sitz der Brüdergemeinde der Esperanza Macarena.51 Vor den Bildern der Nuestra Señora del Santo Rosario und des Nuestro Padre Jesús de la Sentencia, die zusammen mit dem der Esperanza Macarena in dieser Bußstation stehen, bekreuzigt sich in Muñoz Gijons Werk die Zeugin, Elisenda Trastamara, wie gewohnt, bevor sie den Toten entdeckt. Sie fällt in Ohnmacht und findet sich in den Armen des »consiliario primero« (EAR, 7), des Stellvertreters des Bischofs der Stadt in der Brüdergemeinde, wieder, nachdem sie zu sich kommt. Darüber hinaus ist das Opfer mit einem Zingulum52 an einem Balken aufgehängt, während der Mörder in einem Versteck mit einem Rosenkranz auf seinem Oberschenkel im Schein einer roten Osterkerze und im Dunst vom Weihrauch sitzt. Der Text ist feindliche Schiffe war, stammt in seinen Grundmauern noch aus dieser Zeit (13. Jh.). Ein weiteres Zeugnis der Präsenz der Mauren in der Stadt ist der »Arco del Postigo del Aceite«, der Teil der antiken arabischen Mauer war. Im Jahr 1107 gebaut und im 16. Jahrhundert restauriert, verlief die Mauer durch den heutigen Plaza del Cabildo im Arenal-Viertel, wo man auch noch einen kleinen Mauerabschnitt finden kann (Arco del Postigo del Aceite. URL: https://www.andalucia.org/de/sevilla-kultureller-tourismus-arco-del-postigo-del-aceite / letzter Zugriff am 25. Januar 2021). Diese drei aus arabischer Zeit stammenden Bauwerke werden neben Sevillas Stierkampfarena »La Maestranza« (in demselben Arenal-Viertel gelegen und im 19. Jahrhundert beendet) in Muñoz Gijóns Roman paradoxerweise vom rechtsgerichteten und ausländerfeindlichen Mörder aufgezählt und als Relikte der Stadt, im Gegensatz zu den neuen Bauten, wahrgenommen, als er die erwähnte Figur Susana Abalde zu töten versuchte: »- -›La giralda es chocolate. Turrón la Torre del Oro. El Postigo es un piñonate y un flan la plaza de toros‹. A ver si pega ahí la Torre Pelli, so puta« (»- -›Der Giralda-Turm ist Schokolade. Der Gold-Turm Turron. Die Postigo ist wie kandierte Pinienkerne und die Stierkampfarena ein Karamelpudding‹. Denkst du, der Pelli Tower passt zu diesen, du Nutte!«) (EAR, 88). 51 Im andalusischen Barockstil gebaut, wurde die Basilika im März 1949 vom Kardinal Sevillas, Pedro Segura y Sáenz, gesegnet. Die Ursprünge der Brüdergemeinde gehen bis auf das Ende des 16. Jahrhunderts zurück (La Basílica. URL: https://www.hermandaddelamacarena.es/la -basilica / letzter Zugriff am 25. Januar 2021). 52 Das Zingulum ist der Gürtel, mit dem die katholischen Kleriker ihr liturgisches Untergewand während des Gottesdienstes verknoten. Dieser wird ebenso von der Brüdergemeinde während der Prozessionen getragen.

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reich an religiösen Orten, Elementen sowie Figuren, die der Stadt eine spezifische Eigentümlichkeit verleihen.53 Auch bestimmte Vorfälle in Bezug auf die Karwoche Sevillas, die sogar verfilmt wurden (z. B. in Alejandro Amenábars Nadie conoce a nadie, 1999) und jetzt zur urbanen Kultur und zahlreichen Stadtlegenden gehören, werden thematisiert: De una pequeña televisión de tubo, que lleva horas encendida, salen gritos de pánico. Se ve lo mismo una y otra vez: aquella madrugada en la que el terror recorrió la espina dorsal de la Semana Santa de Sevilla. Es una retransmisión de Onda Giralda en VHS (EAR, 11).54

Neben den Bemühungen des Täters, dieses in der Stadt verwurzelte religiöse und folkloristische Erbe hervorzuheben und zu bewahren, versucht er, lokale Erfindungen55 sowie fast spurlos verschwundene Überreste anderer Epochen zurückzugewinnen.56 In diesem Sinne definiert Priscilla Parkhurst Ferguson57 den Flaneur als eine in der Stadt zwischen zwei Zeitpunkten gefangene Figur, nämlich zwischen der Gegenwartsebene, die sich ständig verändert, und der Vergangenheit, die in Form von materiellen Überresten bestehen bleibt. So wirken die letzten Transformationsprozesse der Stadt wie die Errichtung der Straßenbahn Metrocentro, des Metrosol Parasol oder der Pelli Tower als Katalysatoren, welche das Auftauchen dieses im Text fiktiven Charakters sowie dessen Verbrechen vorantreiben und rechtfertigen. Sevilla ist zwar weit entfernt von der Bedrohung, »immerfort zu werden und niemals zu sein«, wie es Karl Scheffler58 im Hinblick auf eine Großstadt wie Berlin formulierte, aber es ist genauso der Identitätsverlust bei der Umgestaltung der andalusischen Hauptstadt, der die Auseinandersetzung der Figur mit dem urbanen Raum auslöst. In einer Art »Heimat-

53 Die Bedeutung der Religiosität und der Einfluss der Karwoche lassen sich sogar in der Gastronomie der Stadt entdecken. So werden z. B. Läden und Kneipen, die zumeist in der Wirklichkeit existieren, sowie Getränke entweder mit kirchlichen Ornamenten verziert (»Garlochí«; EAR, 69) oder mit religiösen Namen (»sangre de cristo« [Christusblut]; EAR, 66) versehen. 54 »Aus einem kleinen Röhrenfernseher, der seit Stunden eingeschaltet ist, werden von Angst ergriffene Schreie ausgestrahlt. Es wird das gleiche immer und immer wieder gezeigt: Jenes Morgengrauen, in dem der Terror die Wirbelsäule der Karwoche Sevillas durchquerte. Es ist eine Onda Giraldas VHS-Übertragung«. 55 Z. B. »agerul« (EAR, 122), ein Fettentferner, oder »zotal« (EAR, 141), ein Desinfektionsmittel, welche in umliegenden Städten Sevillas hergestellt werden. 56 Z. B. ist das Papier »Galgo« Parchemín (EAR, 11) ein qualitativ hochwertiges Büropapier, das von der Papierfabrik Tolosana hergestellt wurde. Das Unternehmen ging pleite und wurde verkauft. Deshalb ist dieses heute sehr schwer zu finden. In einigen Läden wird es als Sammlerartikel verkauft. 57 Vgl. Parkhurst Ferguson, Priscilla: Paris as Revolution, S. 80. 58 Scheffler, Karl: Berlin, ein Stadtschicksal. Berlin: Erich Reiss 1910, S. 267.

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kunde«59 strebt der Mörder danach, nicht nur seine Erinnerungen festzuhalten, sondern auch gegenüber den Veränderungen seiner Selbstbetrachtung des Raumes gewalttätig zu agieren. Dieser Begriff der Heimatkunde, durch den Muñoz Gijón mit weiteren Vorläufern des Flanierens, wie Arthur Eloesser oder Franz Hessel, in Beziehung gebracht werden kann, deutet zugleich an, wie wichtig historische Bezüge sowie Beschreibungen der Orte im literarischen Werk für den sevillanischen Autor sind: Es por la tarde en los relojes pero ya se ha hecho de noche en el cielo. […] Camina pensativo por la calle Tetuán. No deja de mirar las caras de la gente. No sabe adónde ir. […] Hay un callejón que sale a la izquierda. Ve gente en la puerta. A un lado del callejón está una tienda Zara, enfrente un pequeño bar, ›Blanco Cerrillo‹ (EAR, 115).60

Anders als Hessel, der mit einem kindlichen, absichtslosen Blick auf die Stadt sah, ist in El asesino de la reganá die kritische Beurteilung des Autors zu erkennen. Seine Meinung ist vor allem durch die Figur Jiménez erfassbar, der tatsächlich der gleichen Ansicht ist wie der Mörder, seinen Methoden jedoch nicht zustimmt. Bspw. widerlegt er die Behauptung des Inspektors Villanueva, als er den konservativsten Teil der Stadt mit dem Wort »rancia« (»altadelig«) bezeichnet, während sein Begleiter diesen für »clásica, decente, normal, vamos« (EAR, 65) hält.61 Des Weiteren ist Jiménez mit dem gewöhnlichen Flaneur, so Honoré de Balzac, zu verbinden. In Physiologie du mariage (1826) setzt Balzac dem gewöhnlichen Flaneur den Künstler-Flaneur entgegen. Im Gegensatz zu

59 Laut Keidel bemerkt Arthur Eloesser in seinem Sammelband Die Straße meiner Jugend (1919), dass »ihn Berlin erst in dem Moment als Heimat zu interessieren beginnt, als diese ihn durch die massiven Veränderungen des Stadtbildes zu entgleiten droht« (Keidel, Matthias: Die Wiederkehr der Flaneure. Literarische Flanerie und flanierendes Denken zwischen Wahrnehmung und Reflexion. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 28). Auch in Franz Hessels Spazieren in Berlin (1929) findet der Autor ein ähnliches Konzept des literarischen Erzählens. 60 »Es ist Abend in den Uhren, aber im Himmel ist es bereits dunkel geworden. […] Nachdenklich läuft er auf der Tetuán-Straße. Er hört nicht auf, in die Gesichter der Leute zu starren. Er weiß nicht, wohin er gehen soll. […] Es gibt eine Gasse, die nach links abbiegt. Er sieht Leute in der Tür. An einer Seite der Gasse befindet sich ein Zara-Laden und gegenüber eine kleine Kneipe, ›Blanco Cerrillo‹«. 61 »Klassisch, anständig, ganz normal«. Auch bezüglich der Modernisierungsversuche Sevillas kommentiert er: »A mí tampoco me vuelven loco muchas de las chifladuras que se hacen, pero, hombre, no es para ponerse así […]« (»Auch mich machen viele der Spinnereien, die stattfinden, nicht verrückt, aber, na ja, es ist nicht so, dass man sich so verhält […]«) (EAR, 26). Muñoz Gijón erklärte selbst, sein Roman sei als Kritik am klassischsten Teil der Stadt und ihren Traditionen, aber gleichzeitig als Aufwertung Sevillas sowie Andalusiens Gewohnheiten zu verstehen (Julio Muñoz Gijón: Con mis historias los modernitos se ríen y la gente rancia lo ve como homenaje. URL: https://www.cope.es/programas/herrera-en-cope/noticias/julio-mu noz-gijon-con-mis-historias-los-modernitos-rien-gente-rancia-como-homanaje-20190423_ 399675 / letzter Zugriff am 25. Januar 2021).

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dieser ersten Figur, die sich lediglich den Genüssen62 ( jouissances) der Stadt hingibt – »Sí, sí, perdona«, sagt Jiménez dem Inspektor, »que ha pasado una tía por ahí y me he despistado« (EAR, 60)63 – ist der andere in der Lage, die Sehnsucht mit dem Wissen zu ergänzen. Dieses ermöglicht ihm, sowohl die Selbstkontrolle als auch die Dominanz im urbanen Raum zu behalten: »Deben ser siete máculas. Y después, debe ser lo de la madrugá. Quedan trece días y cuatro operaciones por cerrar, no puedes dormirte« (EAR, 61).64 Zuletzt schöpfen diese beiden Formen des Flanierens andere mögliche Praktiken in der Stadt nicht aus. Wie der Journalist dem Inspektor am Ende des Romans erzählt, ist Sevilla nicht nur »una ciudad compleja« (EAR, 117)65, sondern auch »una ciudad con muchos hijos« (EAR, 117).66 Die südspanische Stadt wird hier nicht nur als Bühne gezeigt, auf der ein heftiger Kampf um die Orientierung des Ortes tobt, sondern gleichzeitig auch als verschlüsselter Raum dargestellt. Erneut wird die Stadt Sevilla mit einer weiblichen Figur und die Entzifferung bzw. die Eroberung dieser mit einem sexuellen Verlangen oder Liebesverhältnis verglichen. Obgleich Villanueva den Fall zur Aufklärung bringt, 62 Parkhurst Ferguson, Priscilla: Paris as Revolution, S. 92. 63 »Ja, ja, Entschuldigung, ein Weib kam gerade an mir vorbei und ich bin durcheinander«. Außerdem gibt es im Text mehrere Beispiele, in denen Jiménez als »echter« Sevillaner die Arbeit unterbrechen will, um in einer der vielen Kneipen der Stadt die lokale Küche zu genießen. 64 »Es müssen sieben Makel sein. Und danach das von der madrugá. Es bleiben nur noch dreizehn Tage und vier Operationen abzuschließen. Sei wachsam!« Mit »madrugá« (aus dem spanischen madrugada, Morgengrauen) wird die Nacht von Gründonnerstag auf Karfreitag bezeichnet. Bei den traditionellen Feierlichkeiten zur Karwoche in Spanien und besonders in Andalusien finden in dieser Nacht die berühmtesten und bei den Gläubigen beliebtesten Prozessionen statt. Ferner ist neben der Verwendung religiöser Begriffe, vor allem in Bezug auf die Karwoche in Sevilla, in Muñoz Gijons Roman außerdem die Anwendung von Fachbegriffen des Stierkampfs bemerkenswert, der ebenso in der Kultur Andalusiens und Sevillas verwurzelt ist, wie bspw. »a portagayola« – wenn der Stierkämpfer, normalerweise kniend, in der Arena den Stier empfängt – (EAR, 16) oder »Parecen [die regañás sehen aus wie] banderillas« – welche auf die beim Stierkampf verwendeten Lanzen hindeuten – (EAR, 56). Es sind insgesamt sieben geplante Morde in der Vorzeit der sevillanischen Karwoche: »SERÁN 7 REVUELTAS, 7 LATIGAZOS« (ES WERDEN 7 REVOLTEN, 7 PEITSCHENHIEBE SEIN; EAR, S. 19). Im schon erwähnten Interview erklärte Muñoz Gijón (2019), er hätte sich vom USamerikanischen Thriller Sieben (1995) inspirieren lassen. Außerdem spielt er mit dieser Zahl als kabbalistisches Symbol für den Raum: »[…] el siete es un número clave en la ciudad. Una de las calles más bonitas es la de las Siete Revueltas, […] la Expo, fue en el 92, 9 menos 2 da también 7. Una de las hermandades con más tradición de la ciudad es […] la hermandad de las Siete Palabras. Ya para los precristianos era un número mítico […]« (»die sieben ist eine Schlüsselzahl in der Stadt. Eine der schönsten Straßen Sevillas ist die der Sieben Revolten, […] die Expo, sie fand 92 statt, aus 9 minus 2 ergibt sich 7. Eine der traditionellsten Brüdergemeinde der Stadt ist die der Sieben Wörter. Bereits für die Christen in frühester Zeit war sie eine mystische Zahl […]« (EAR, 71). 65 »Eine komplexe Stadt«. 66 »Eine Stadt mit vielen Kindern«.

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gelingt es ihm nicht, in den Ort einzudringen. In Sevilla wird er nach wie vor ein Fremder bleiben. So stellt er fest, »[m]e parece una buena amante, pero no podría casarme con ella« (EAR, 117).67 Diese Worte, mit denen er über seinen Aufenthalt urteilt, betonen die Besonderheit und den Partikularismus einer Stadt, welche Muñoz Gijón in seinem ersten Kriminalroman sehr anschaulich und erfolgreich umgesetzt hat.

Literatur Amenábar, Alejandro: Nadie conoce a nadie. Sevilla: Maestranza Film 1999. Balzac, Honoré de: Physiologie du mariage. Paris: Levavasseur et Urbain Canel 1829. Brown, Dan: Digital Fortress. New York: St. Martin’s Press 1998. Colmeiro, José F.: De Pepe Carvalho al Subcomandante Marcos: la novela policíaca hispánica y la globalización. In: »Revista iberoamericana« 76 (2010), S. 477–492. Dahmer, Sigrun: Liebe, Mia, Sevilla. Stuttgart: dp Digital Publishers 2016. Eloesser, Arthur: Die Straße meiner Jugend. Berlin: Egon Fleischel 1919. Gerhards, Sasha: Krimi Quo Vadis: Literary and Televised Trends in the German Crime Genre. In: Kutch, Lynn M./Herzog, Todd (Hg.): Tatort Germany: The Curious Case of German-language Crime Fiction. Suffolk: Boydell & Brewer 2014, S. 41–60. Hessel, Franz: Spazieren in Berlin. Leipzig/Wien: Hans Epstein 1929. Howell, Philip: Crime and the city solution: crime fiction, urban knowledge, and radical geography. In: »Antipode« 30 (1998), S. 357–378. Jäckle, Nina: Sevilla. Berlin: Berlin Verlag 2010. Kadonaga, Lisa: Strange countries and secret worlds in Ruth Rendell’s crime novels. In: »Geographical Review« 88 (1998), S. 413–428. Keidel, Matthias: Die Wiederkehr der Flaneure. Literarische Flanerie und flanierendes Denken zwischen Wahrnehmung und Reflexion. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006. Mangold, James: Knight and Day. Los Angeles: 20th Century 2010. Muñoz Gijón, Julio: El asesino de la regañá. Córdoba: Almuzara 2013. Muñoz Gijón, Julio: El crimen del palodú. Córdoba: Almuzara 2013. Muñoz Gijón, Julio: El enigma del evangelio »Triana«. Sevilla: El paseo editorial 2018. Muñoz Gijón, Julio: El misterio del perro, la mermelada y el cantante. Córdoba: Almuzara 2014. Muñoz Gijón, Julio: El prisionero de Sevilla este. Córdoba: Almuzara 2014. Muñoz Gijón, Julio: Un hombre lobo en el Rocío. Sevilla: El Paseo editorial 2016. Objartel, Sonja: Carmen Reloaded. Leeds/London/New York: TWENTYSIX 2017. Parkhurst Ferguson, Priscilla: Paris as Revolution: Writing the Nineteenth-Century City. Berkeley: University of California Press 1994.

67 »Ich finde sie ist eine gute Liebhaberin, jedoch konnte ich sie nicht heiraten«.

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Hanspeter Affolter, Dr. phil., Studium der Germanistik und Theaterwissenschaft an der Universität Bern. Promotion 2015. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Bern. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind die Literatur der Klassischen Moderne, kultur- und dinggeschichtliche Fragestellungen sowie Alterität/Identität in der Literatur. Kontakt: [email protected] Bruno Arich-Gerz, Dr. phil., Studium der Anglistik, Romanischen Philologie und Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften an der Universität zu Köln. Promotion 2000 in Konstanz zu Lesetheorie und Thomas Pynchon. Juniorprofessor 2002–2009 an der TU Darmstadt, derzeit am Institut für Sprach- und Kommunikationswissenschaft der RWTH Aachen University. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Literatur(en) des südlichen Afrika, Deutschdidaktik, Postcolonial Language and Literary Studies, Erinnerungskultur im Kontext NS. Kontakt: [email protected] Sandra Beck, Dr. phil., Studium der Germanistik und Geschichte an der Universität Mannheim. Promotion 2012. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft der Universität Mannheim. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind die deutschsprachigen Literaturen des 18. bis 21. Jahrhunderts, insbesondere Genregeschichte und -theorie, Literaturgeschichtsschreibung sowie kulturwissenschaftliche Arbeiten, u. a. zu Literaturadaptionen, Kanonisierungs- und Rezeptionsprozessen, Literatur und Terrorismus sowie zur Nachkriegskultur. Kontakt: [email protected]

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Wolfgang Brylla, Dr. phil., Studium der Germanistik und Geschichte an der Universität Zielona Góra (Polen) und Justus-Liebig-Universität Gießen. Promotion 2013. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Zielona Góra. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Hans Fallada, Stadtliteratur, Kriminalliteratur. Kontakt: [email protected] Nikolas Buck, Dr. phil., Studium der Fächer Deutsch, Geschichte und Wirtschaft/Politik für das Lehramt an Gymnasien in Kiel. Promotion 2020. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Neuere Deutsche Literatur und Medien an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte in den Bereichen der Avantgarde- und Gegenwartsliteratur sowie Literaturtheorie. Kontakt: [email protected] Leopoldo Domínguez, Dr. phil., Studium der Germanistik an der Universität Sevilla und der Universität zu Köln. Promotion 2015. Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung für Deutsche Philologie an der Universität Sevilla. Forschungsschwerpunkte sind die Literatur des 21. Jahrhunderts, Literatur, Raum und Erinnerung sowie interkulturelle Literatur. Kontakt: [email protected] Elisa Garrett, M.A., Studium der Germanistik und Soziologie an der Universität Bayreuth. Von 2018 bis 2021 Lehrbeauftragte am Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Bayreuth, seit 2018 freiberufliche Lektorin für akademische Schriften und Buchmanuskripte. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Raumsemantik, Kulturpoetik, Literatur ab 1800 sowie die Literatur im Austausch mit anderen Medien. Kontakt: [email protected] Jennifer Grünewald, Dr. phil., Studium der Skandinavistik, Philosophie und Deutsch als Zweit- und Fremdsprache an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Georg-August-Universität Göttingen und der Universität Bergen (Norwegen). Promotion 2020. Referentin für Akkreditierungen bei der Akkreditierungsagentur im Bereich Gesundheit und Soziales (AHPGS). Forschungsschwerpunkte sind Populärliteratur, zeitgenössische norwegische Literatur und Food Studies. Kontakt: [email protected]

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Werner Jung, Prof. i. R. Dr., lehrte und forscht immer noch an der Universität Duisburg-Essen im Bereich der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Literatur des 17.–21. Jahrhunderts, insbesondere Aufklärung und die Literatur des 20./21. Jahrhunderts, Ästhetik, Poetik, Literaturtheorie und Editionsphilologie; Herausgeber u. a. der Werke von Heinrich Böll, Ludwig Harig, Georg Lukács und Dieter Wellershoff. Letzte Bücher u. a.: Orwells Enkel. Überwachungsnarrative (Bielefeld: Aisthesis 2019, gemeinsam mit Liane Schüller); Ruhrgebietsliteratur seit 1960. Eine Geschichte nach Knotenpunkten (Berlin: J.B. Metzler 2019, zusammen mit Britta Caspers, Dirk Hallenberger und Rolf Parr). Kontakt: [email protected] Thomas Kniesche, Associate Professor of German Studies an der Brown University in Providence, Rhode Island (USA), studierte in Köln, St. Louis und Santa Barbara (Kalifornien). Publikationen zur deutschen Gegenwartsliteratur, zur deutsch-jüdischen Literatur und zum Kriminalroman. Er hat die beiden Bücher Einführung in den Kriminalroman (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2015) und Büchermorde – Mordsbücher (Heidelberg: Lambert Schneider 2016) verfasst und den Band Contemporary German Crime Fiction. A Companion (Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2019) herausgegeben. Kontakt: [email protected] Andrea Kreuter, Mag., Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft und Psychologie an der Universität Wien. Diplomarbeit 2013. DOC-Alumna der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Promotion an der Abteilung für Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Wien. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind der Regionalkriminalroman, Literatur und Ballett sowie die Repräsentation und Semantisierung der Stadt Paris bei Marcel Proust. Kontakt: [email protected] ´ ski, Prof. für Literaturwissenschaft und deutsche LiteraturgeCezary Lipin schichte im Institut für Germanistik an der Universität Zielona Góra (Polen). Forschungsschwerpunkte sind Probleme literaturwissenschaftlicher Textanalyse, ältere deutsche Literatur, Literatur Schlesiens und deutsche Mystik. Monographien über Carl Wilhelm Salice-Contessa und Angelus Silesius; (Mit)Herausgeber der Sammelbände u. a. über Angelus Silesius, die Reformation, das Verhältnis zwischen Kunst und Religion. Kontakt: [email protected]

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Eva Parra Membrives, Dr. phil., Studium der Germanistik an der Universität Sevilla. Promotion 1990. 1990–91 Lektorin für spanische angewandte Sprachwissenschaft an der Universität Leipzig. Seit 1992 Professorin für deutsche Literatur und Übersetzung an der Universität Sevilla. Herausgeberin der Zeitschrift Futhark (seit 2006). Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Deutsche Literatur des Mittelalters, Gender Studies, Trivialliteratur, insbesondere Frauenkrimis. Kontakt: [email protected] Hanna Rinderle, M.A., Studium der Germanistik, Geschichte und Schwedisch an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Seit 2018 Promotionsstudentin der Allgemeinen und Vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft. Akademische Mitarbeiterin am Skandinavischen Seminar und am Deutschen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind die Literatur des 21. Jahrhunderts, Migrationsliteratur und (post-)koloniale Literatur. Kontakt: [email protected] Ina Schenker, Dr. phil., Deutsch-Französische Studien in Bonn und Paris sowie Studium transnationaler Literaturen, Theater und Kinos in Bremen. Promotion 2020. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am FB 10 der Universität Bremen mit den Forschungsschwerpunkten Forschendes Lernen und Auditives Erzählen. Wissenschaftliche Assistenz am Übersee Museum Bremen im Bereich Globalgeschichte der Baumwolle. Kontakt: [email protected] Maike Schmidt, Dr. phil., Studium der Germanistik und Geschichte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Promotion 2010. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Neuere Deutsche Literatur und Medien an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind die Literatur des 21. Jahrhunderts, Regionalliteratur und Narrative des Nordens. Kontakt: [email protected]

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Melanie Stralla, Dr. phil., Studium der Romanischen Philologie an der Philipps-Universität Marburg sowie der Interkulturellen Deutsch-Französischen Studien an den Universitäten Aix-Marseille und Tübingen. Promotion 2019. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am GRK 2196 Dokument – Text – Edition der Bergischen Universität Wuppertal. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind der deutsch-französische Kulturtransfer, provenzalische Literatur und Editionswissenschaft. Kontakt: [email protected] Jochen Vogt, Prof. em. Dr., Promotion 1968 an der Ruhr-Universität Bochum. Journalist in Göttingen, ord. Professor für Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik an der Universität Duisburg-Essen seit 1972, Gastprofessuren in Europa und den USA. Arbeitsgebiete: Erzähltheorie, Deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart, internationale Spannungsliteratur. Herausgeber von Der Kriminalroman (1971, Neuausgabe 1998), Schema und Variation – 13 Versuche zum Kriminalroman (2020). Emeritiert seit 2008, Literaturkritik für Rundfunk und Presse. Kontakt: [email protected] Melanie Wigbers, Dr. phil., Studium der Sonderpädagogik an der Universität Hannover, Erstes und Zweites Staatsexamen für das Lehramt an Sonderschulen, Aufbaustudium zur Promotion an der Universität Hannover. Literaturwissenschaftliche Promotion 2006. Akademische Rätin an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte u. a. Kriminalliteratur, Orte in literarischen Texten. Kontakt: [email protected] Bettina Wild, Dr. phil., Magisterstudium der Germanistik und Anglistik an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. 2010 Promotion zu Berthold Auerbachs Schwarzwälder Dorfgeschichten. Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt DigitalManufaktur der Universität Mainz. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind u. a. literarische und mediale Inszenierung von Heimat, Kinder- und Jugendmedien und ihre Didaktik. Kontakt: [email protected]