Der preussische Konservatismus im Kampf gegen Einheit und Freiheit [1 ed.] 9783428504534, 9783428104536

Gemäß der herkömmlichen Betrachtungsweise wird Konservativismus als Gegenströmung zur okzidentalen Modernisierung darges

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Der preussische Konservatismus im Kampf gegen Einheit und Freiheit [1 ed.]
 9783428504534, 9783428104536

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BERNHARD RUETZ

Der preussische Konservatismus im Kampf gegen Einheit und Freiheit

Studien und Texte zur Erforschung des Konservatismus Herausgegeben im Auftrag der Förderstiftung Konservative Bildung und Forschung von Caspar von Schrenck-Notzing

Band3

Der preussische Konservatismus im Kampf gegen Einheit und Freiheit

Von

Bemhard Ruetz

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme

Ruetz, Bernhard:

Der preussische Konservatismus im Kampf gegen Einheit und Freiheit I Bemhard Ruetz. - Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Studien und Texte zur Erforschung des Konservatismus ; Bd. 3) Zug!.: Zürich, Univ., Diss., 2000 ISBN 3-428-10453-6

Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Sommersemester 2000 auf Antrag von Prof. Dr. Jörg Fisch als Dissertation angenommen. Alle Rechte vorbehalten

© 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Gennany ISSN 1439-3743 ISBN 3-428-10453-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@

Für meine Eltern

Man glaubte, dass das Unvereinbare sich vereinen lasse; die tiefer Blickenden forderten, in Erwartung künftiger Entscheidung, zunächst nur einen Zustand der öffentlichen Ruhe; und so erhielt sich im äusserlichen Frieden eine Gesellschaft, die den Keim des Krieges mehr noch in ihrem Prinzipe als in ihrem Bewusstsein trug. Lorenz von Stein

Vorwort Je schneller sich Arbeits-, Güter- und Kapitalmärkte global vernetzen und sich tradierte Institutionen, Sitten und Werte verändern, um so dringlicher wird das gezielte Nachdenken über die historischen Voraussetzungen und Bedingungen dieser Entwicklung. Die vorliegende Studie will zur Erforschung der neuzeitlich okzidentalen Staats- und Gesellschaftsbildung einen Beitrag leisten und befasst sich mit dem Konservativismus als politisch-weltanschaulicher Bewegung und als politischer Partei. Für die Betreuung meiner Dissertation möchte ich mich bei Herrn Professor Dr. Jörg Fisch sehr herzlich bedanken. Seine scharfsinnige Kritik und seine gründliche, stets der Wissenschaftlichkeit verpflichtete Arbeitsweise habe ich geschätzt und zur Grundlage meiner historischen Forschung gemacht. Mein sehr herzlicher Dank gilt auch Herrn Professor Dr. Hans Fenske von der Universität Freiburg im Breisgau. Er hat meine Studien über den preussisch-deutschen Konservativismus stets zuvorkommend und mit wertvollem Rat begleitet. Für zahlreiche Anregungen zu meiner Arbeit möchte ich Herrn Professor Dr. Josef Mooser von der Universität Basel besonders danken. Herrn Caspar von Schrenck-Notzing und der "Förderstiftung für konservative Bildung und Forschung" danke ich für die freundliche Aufnahme der Dissertation in die Reihe "Studien und Texte zur Erforschung des Konservatismus". Zürich, im März 2001

Bemhard Ruetz

Inhaltsverzeichnis Erster Teil Theorie und Definition des Konservativismus

13

I. Motive und Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

II. Geschichte als Bewegung: Norbert Elias und Lorenz von Stein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

III. Entstehung, Inhalt und Funktion des Konservativismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

Zweiter Teil Der preussische Konservativismus im Kampf gegen Einheit und Freiheit

55

I. Die Formierung des preussischen Konservativismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

I. Gegen Bürokratismus und Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

2. Die publizistische und vereinspolitische Formierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

II. Der preussische Konservativismus und die nationale Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

72

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

72

l. Die dynastische Nationsidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

2. Alt- und Neukonservative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

84

3. Preussens Deutsche Mission . .. . . . . . . .. . . .. . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . .. . . . . .. . . . .. . .

89

4. Die Rezeption der nationalen Parole .. .. .. .. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .. . .. .. .. .. .

96

5. Pläne für eine Umbildung der konservativen Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 6. Das nationale Kaisertum . . . . . . . . . .. .. . . . .. . . . . .. . . . .. . . .. . . . . . . . . .. .. . . . . . .. . . .. 108 7. Die Deutschkonservative Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114

10

Inhaltsverzeichnis

III. Der preussische Konservativismus und die Verfassungsfrage............ . .. .. ...... 124 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 l. Der Verfassungskompromiss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

2. Angriff auf die ständische Lokalverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 3. Kampf um Ehe und Schulaufsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 4. Die Grundsteuerreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 5. Scheitern der Zivilehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 6. Die neue Kreisordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 7. Verstaatlichung von Schulaufsicht und Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180

Dritter Teil Von der Bewegung zur Partei

190

Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

Abkürzungsverzeichnis AKM BpW BR DR

EKZ FAZ

FBPG GG GWU HZ JfGS NAV N.F. NPL NPZ

NZZ

PV Sten. Ber. Erste Kammer Sten. Ber. nordt. RT Sten. Ber. preuss. AH Sten. Ber. preuss. HH Sten. Ber. RT Sten. Ber. Zweite Kammer VfSL ZfG ZHF

Allgemeine Konservative Monatsschrift Berliner politisches Wochenblatt Berliner Revue Deutsche Revue Evangelische Kirchenzeitung Frankfurter Allgerneine Zeitung Forschungen zur Brandenburgischen und Preussischen Geschichte Geschichte und Gesellschaft Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Historische Zeitschrift Jahrbücher für Gesellschafts- und Staatswissenschaften Neues Allgemeines Volksblatt NeueFolge Neue Politische Literatur Neue Preussische (Kreuz-)Zeitung Neue Zürcher Zeitung Preussisches Volksblatt Stenographische Berichte über die Verhandlungen der Ersten Kammer Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes Stenographische Berichte über die Verhandlungen des preussischen Abgeordnetenhauses Stenographische Berichte über die Verhandlungen des preussischen Herrenhauses Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages Stenographische Berichte über die Verhandlungen der Zweiten Kammer Volksblatt für Stadt und Land Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zeitschrift für Historische Forschung

Erster Teil

Theorie und Definition des Konservativismus I. Motive und Ziele "Was ist konservativ?" - so titelte ,Die Zeit' nach der deutschen Bundestagswahl von 1998 in Sorge über den siegreichen Vonnarsch der Neuen Linken und ihrer Parole vom ,Dritten Weg'. 1 Die ,NZZ' sprach 1999 von einer Krise der Konservativen in Europa wie in den USA, nachdem überwiegend linke oder MitteLinks-Regierungen zur Herrschaft gelangt waren. "Die Suche nach dem rechten Weg", nach einem zugkräftigen Programm, welches die Konservativen dereinst wieder an die Macht bringen soll, dreht sich um einen begrenzten Bestand an Ideen und Werten. Konservative, so schreibt die ,NZZ', erscheinen als "Moralisten", "Nationalisten", "Wirtschaftsfreunde" oder "Libertäre", setzen sich mit anderen Worten für Familie, Heimat, Christentum, Nation, individuelle Eigenverantwortung, wenig Staat und tiefe Steuern ein.2 Als typische konservative Politiker werden Reagan, Thatcher und Kohl bezeichnet. Wahrend die Republikaner in den USA neben den üblichen Themen mit einem "compassionate conservatism", einer Neuausrichtung der Sozial- und Fürsorgepolitik auf mehr individuelle Eigenverantworung, versuchen, die Demokraten abzulösen, fonnieren sich die konservativen Parteien Europas wieder verstärkt um die Frage der nationalen Besitzstandwahrung bei der immer dichteren Vemetzung der okzidentalen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften. Dass die Besetzung der ,nationalen Frage' Erfolg verspricht, hat der Sieg der konservativen Parteien bei den Wahlen zum EU-Parlament 1999 gezeigt. Die Bezeichnung ,konservativ' lässt sich weder aus der Alltagssprache, wo sie ein breites Anwendungsspektrum von ,riickständig' bis ,wertebewusst' findet, noch aus der parteipolitischen und publizistischen Diskussion wegdenken. Sie erfüllt in der Politik die Funktion der Polarisierung bei prinzipieller Einigkeit über das säkularisierte, freiheitlich verfasste Staatswesen. So gesehen, gelten diejenigen als ,konservativ', die sich rechts der parteipolitischen Mitte befinden. ,Rechts' und ,konservativ' werden gewöhnlich synonym verwendet, während auf der anderen Seite ,links' und ,progressiv' gleichgesetzt werden. Zur allgemeinen Begriffskonfusion tragen jeweils die Vorwürfe von rechter Seite bei, die Linke sei strukturkonservativ, während die Linke die Rechte als neoliberale Zerstörer der national organisierten sozialen Sicherungssysteme typisiert. Solche ZuordI

2

,Was ist konservativ?', ,Die Zeit', 46, 5. November 1998. ,Die Suche nach dem rechten Weg', NZZ, 94, 24./25. April, 1999.

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1. Teil: Theorie und Definition des Konservativismus

nungen und Zuspitzungen mögen in der tagespolitischen Auseinandersetzung ihren Sinn haben, stiften aber in der Wissenschaft mehr Vetwirrung denn Klarheit. Die Erforschung des Konservativismus steckt noch in den Anfangen, und vor allem fehlt eine grössere definitorische Präzision beim Gebrauch des Konservativismusbegriffs.3 Die funktionale Konservativismusdefinition ist in der Geschichtswissenschaft geläufig. Immer wieder wird betont, dass sich der Konservativismus auf keine eigenständige Weltanschauung zuriickführen lasse. Sein Wesen könne bloss von der Funktion her begriffen werden, das heisst als Reaktion auf unmittelbaren Veränderungsdruck. In diesem Sinne manifestiert sich Konservativismus jeweils dann, wenn progressive Kräfte ein etabliertes politisch-soziales Gefüge grundlegend in Frage stellen. Konservativ sind diejenigen, deren Selbstverständnis mit der alten Ordnung in Einklang steht und die sich in ihrer ideellen und materiellen Existenz bedroht fühlen. Obschon die funktionale Definition des Konservativismus als Legitimationsideologie einer jeweilig bedrohten sozialen Gruppe, Schicht oder Klasse universalhistorischer Natur ist, hat sich in der Forschung eine epochenspezifische Auslegung durchgesetzt. 4 Sie bestimmt Konservativismus als geistige Gegenströmung zum aufklärerischen Rationalismus, die sich in der Folge der Französischen Revolution politisch zu formieren begann. Im Unterschied zu den beiden anderen mächtigen Ideologien, dem Liberalismus und dem Sozialismus, habe der Konservativismus, so wird oft behauptet, keinen spezifischen ideellen Gehalt und keine typische soziale Trägerschaft Seine Eigenart bestehe darin, sich der fortschreitenden politischen, sozialen und ökonomischen ,Modernisierung' stetig anzupassen. Er sei "deswegen ebenso mannigfaltig wie die Verhältnisse, die er verteidigt". 5 Die Konsequenz einer solchen funktionalen Konservativismusdefinition ist ein grosser Interpretationsspielraum, was sich an der vetwirrenden Fülle von Versuchen, den Konservativismus durch Typen- und Stufenlehren genauer zu erfassen, deutlich ablesen lässt. 6 Das Fazit dieser Bemühungen gipfelt gewöhnlich V gl. neulich Gall, Vorwort, S. X, in: Ders., Bürgertum. Von den neueren Publikationen (1990er und 80er Jahre) vgl.: Schildt, Konservatismus, S. 15 f.; Bussche, Konservatismus, S. 1- 20; Meyer, Stand und Klasse, S. 30 f .; Friedeburg, Konservativismus, S. 349 f.; Schrenk-Notzing, Lexikon des Konservatismus (bes. Artikel ,Konservatismus', S. 321); Sieferle, Konservative Revolution, S. 25; Trippe, Verfassungspolitik, S. 13; Ribhegge, Konservative Politik, S. 5; Honderich, Elend des Konservatismus, S. 373; Jones, Between Reform, S. 3; Dittmer, Beamtenkonservativismus, S. 23 f. ; Lenk, Deutscher Konservatismus, S. 15 f. ; Dunk, Problem, S. 10; Schwentker, Konservative Vereine, S. 33 f.; Puhle, Programm, S. 46 f.; Kojler, Konservatismus, S. 74. Von den älteren Publikationen (vor 1980) vgl.: Garber, Theoriemodelle, S. 331 - 35; Huntington, Ideologie, S. 90/96; Greiffenhagen, Dilemma, S. 28, 347 -53; Grebing, Positionen, S. 33; Lübbe, Lebensqualität, S. 609 f.; Hahn, Historiker, S. 107; Epstein, Ursprünge, S. 18; Mannheim, Konservatismus, S. 97. Für die DDR-Geschichtsschreibung typisch ist der Aufsatz von Fricke, Zur Erforschung, und die bis 1989 publizierte Zeitschrift ,Konservatismus-Forschung'. 5 Stellvertretend für diese Auffassung: Epstein, Ursprünge, S. 18. Vgl. auch die Formulierung des Marxisten Kojler, Konservatismus, S. 74: "Das Wesen des Konservatismus ist der stete Verrat an sich selber." Vgl. weiter Mannheim, Konservatismus, S. 97, undjüngst Schildt, Konservatismus, S. 16. 3

4

I. Motive und Ziele

15

in der wissenschaftlich wenig ergiebigen Feststellung, dass sich der Konservativismus einer genauen Definition entziehe. Einigkeit herrscht dafür in den grossen Entwicklungsphasen des Konservativismus. 7 Dieser wird in der ersten, bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts sich erstreckenden Phase als eine vornehmlich aristokratisch-klerikale Reaktion auf den Liberalismus des aufsteigenden Bildungs- und Besitzbürgertums beschrieben. In der zweiten, bis in die 1930er Jahre reichenden Phase habe sich der Konservativismus unter dem politisch-emanzipatorischen Druck der Arbeiterschaft immer stärker ins arrivierte Bürgertum verlagert und zu einer antidemokratischen und antisozialistischen Bewegung entwickelt, die sich letztlich vom Faschismus allein in der geringeren Intensität des Tatwillens abhebe. 8 In der dritten, zeitgenössischen Phase werden dem Konservativismus gewöhnlich diejenigen sozialen Gruppen und Schichten zugewiesen, die sich für eine nationale Besitzstandwahrung im Zeitalter der ,Globalisierung' einsetzen. Gernäss der funktionalen, epochenspezifischen Definition ist der Konservativismus eine kontinuierliche, bis in die Gegenwart reichende Gegenströmung zum aufklärerischen Rationalismus. Diese Kontinuitätsthese erlangt durch die deutsche Geschichte, welche im 20. Jahrhundert zugleich von europäischer und globaler Dimension war, eine zentrale Bedeutung. 9 Sie ist nämlich Teil der sogenannten deutschen Sonderwegsideologie, der bislang wirkungsmächtigsten Interpretation der deutschen Geschichte von Bismarck bis zu Hitler. 10 Die Schöpfer der Sonderwegsideologie waren die Repräsentanten des klassischen Historismus, welcher die deutsche Geschichtswissenschaft vom Kaiserreich bis in die Weimarer Republik dominierte. 11 In der Mehrzahl priesen die deutschen Historiker das nationale Einigungswerk Bismarcks und die konstitutionell-monarchische Reichsverfassung als innenwie aussenpolitisch notwendigen und tragfähigen konservativ-liberalen Herrschaftskompromiss, als einen spezifisch deutschen Weg zwischen westlichem Parlamentarismus und östlicher Autokratie. Nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg 6 Vgl. z. B. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. II, S. 442. Er unterscheidet zwischen "Beamtenkonservativismus, Reforrnkonservativismus, altständisch-patrimonialem, legitimistisch-neuständischem und pragmatischem Staatskonservativismus". Weitere Vorschläge finden sich bei: Epstein, Ursprünge, S. 19-24; Faber, Politisches Denken, S. 265; Garber; Theoriemodelle, S. 331-33; Huber, Verfassungsgeschichte, Bd.II, S. 332-363; Puhle, Programm, S. 51. Auch der jüngste Versuch von Bussche, den Konservativismus nach 1918 als "Politisierung des Unpolitischen" zu definieren, wirkt nicht sehr erhellend. Vgl. ders., Konservatismus, S. 18. 7 Typisch dazu ist die jüngste Überblicksdarstellung von Schildt, Konservatismus. s Die Transformation des adeligen in den bürgerlichen Konservatismus wird besonders von sozialdemokratischer und marxistischer Richtung vertreten. Vgl. Grebing, Sonderweg, S. 85, und Hahn, Historiker, S. 106 f. 9 Nicht zufallig beziehen sich die meisten Konservativismusstudien auf die deutsche Geschichte. IO Vgl. die umfassende Studie von Faulenbach, Ideologie; Grebing, Sonderweg; Geiss, Habermas-Kontroverse und, Wendt, Sonderbewusstsein. II Vgl. die Arbeiten von lggers, Deutsche Geschichtswissenschaft, und Faulenbach, Ideologie.

16

1. Teil: Theorie und Definition des Konservativismus

und den nationalsozialistischen Verbrechen stand die deutsche Historikerschaft unter einem erheblichen Erklärungs- und Rechtfertigungszwang. Seit den frühen 1960er Jahren konkurrierten zwei prinzipiell gegensätzliche Lager von Historikern um die Identitätsbildung der noch jungen Bundesrepublik. Deren Debatte über die angemessene Beurteilung der deutschen Geschichte von Bismarck bis zu Hitler entlud sich in den 1980er Jahren im sogenannten Historikerstreit Auch wenn sich die Wogen inzwischen geglättet haben, bleiben die Gegensätze der beiden Lager bestehen. 12 Das eine Lager steht in der Tradition der Sonderwegsideologie des klassischen Historismus und bewertet die Bimarcksche Reichsgründung positiv. 13 Die Verfechter eines solchen Neohistorismus bewegen sich auf der rechten Seite des sozial-liberalen Politspektrums der Bundesrepublik. Den Nationalsozialismus verstehen sie eher als einen Kontinuitätsbruch in der deutschen Geschichte, als eine Folge der modernen, auf totalitäre Systeme anfälligen ,Massengesellschaft'. Mit der Betonung der bürgerlich-rechtsstaatliehen und kulturellen Elemente, aber auch der aussenpolitischen Lage des Kaiserreiches sollen die Gemeinsamkeiten zwischen der preussisch-deutschen und der Geschichte der Bundesrepublik aufgezeigt und eine engere Verbindung geschaffen werden. Das andere Lager besteht aus Repräsentanten der Historischen Sozialwissenschaft und agiert auf der linken Seite des Politspektrums. 14 In der Absicht, die Bundesrepublik auf ihrem Weg in die westliche Staatengemeinschaft und zum demokratischen Sozialstaat ideologisch zu begleiten, zogen sie eine Linie von Bismarck bis zu Hitler und verkehrten die überkommene deutsche Sonderwegsideologie in ihr Gegenteil. Die deutsche Geschichte wurde nun als verhängnisvoller Sonderweg beschrieben, der vom westlich-parlamentarischen ,Normalweg' abwich und auf den Nationalsozialismus zulief.15 In den 1980er Jahren griff eine Gruppe englischer Historiker die Sonderwegsideologie als Mythos deutscher Geschichtsschreibung entschlossen an. 16 Sie be12 Zum Historikerstreit vgl. Geiss, Habermas-Kontroverse. Die Gegensätze haben sich an der sogenannten Walser-Bubis Debatte wieder entzündet. Vgl. dazu FAZ, 290, 14. Dezember 1998. 13 Vgl. im Detaillggers, Deutsche Geschichtswissenschaft, S. 413 f. (mit entsprechender Literatur). 14 Vgl. ebd., S. 407-413. 15 Vgl. Wehler, Kaiserreich, bes. S. 60-78; Böhme, Deutschlands Weg, S. 579 f.; Stegmann, Neokonservatismus, S. 199 f.; Puhle, Radikalisierung, S. 173, und Programm, S. 55; Wink/er, Vom linken zum rechten Nationalismus, S. 26 - 28; Mayer, Adelsmacht, S. 9 f.; Rosenberg, Pseudodemokratisierung, S. 287. Vgl. auch den Artikel von Bohrer anlässlich der Walser-Bubis Debatte, ,Schuldkultur oder Schamkultur' , in: NZZ, 289, 12./13. Dezember 1998: "Für die linke Intelligenz, aber auch für die noch bildungsbürgerlich geprägten Schichten erwuchs eine Mentalität, die schliesslich überhaupt keine Zeit mehr vor Hitler kannte [ .. . ] Das konsequente Telos dieser nationalen Selbstvergessenheit, der Wunsch, sich als Nation überhaupt aufzulösen, ist sozusagen die linke Phase eines Vergessensprozesses." 16 Vgl. Blackbourn!Eley, Mythen, sowie die Aufsatzsammlung von Eley, Wilhelminismus. Von deutschen Historikern erhielten die englischen Historiker kaum namhafte Zustimmung. Nur Grebing, Sonderweg, S. 126 f., schliesst sich dieser Position an.

I. Motive und Ziele

17

stritt die traditionelle Behauptung, dass die bürgerliche Revolution von 1848 gescheitert sei und den vorindustriellen feudalen Eliten den Machterhalt bis ins 20. Jahrhundert hinein gesichert habe. Ganz im Gegenteil habe das Bürgertum in Deutschland im Laufe des 19. Jahrhunderts, wie in England und Frankreich, den Sieg davongetragen und sich mit dem Rechts- und Verfassungsstaat eine Herrschaftsordnung für die freie Entfaltung des Industriekapitalismus geschaffen. Die bürgerliche Revolution müsse nicht zwangsläufig in eine parlamentarische Demokratie münden. Der Zusammenhang von Bürgertum, Liberalismus, Parlamentarismus und Demokratie, von dem die Sonderwegsideologie ausgehe, entspringe einem irrigen Verständnis von bürgerlicher Revolution. Diese könne auch in einer ,autoritären' Staatsform erfolgreich verlaufen, sofern die institutionellen und rechtlichen Rahmenbedingungen für eine freie Erwerbs- und Eigentümergesellschaft vorhanden seien. 17 Diese heftige Kritik hat im Verbund mit einer gemässigten, zwischen dem Neohistorismus und der Historischen Sozialwissenschaft vermittelnden Position der deutschen Geschichtswissenschaft die Sonderwegsideologie entscheidend geschwächt.18 Wesentlich dazu beigetragen haben auch die deutsche Wiedervereinigung und die führende Rolle Deutschlands im europäischen Einigungsprozess. Obwohl die Sonderwegsthese mittlerweile ausgedient hat und einer ausgewogeneren Betrachtung des deutschen Weges in die ,Modeme' gewichen ist, hat sich die Kontinuitätsthese des Konservativismus in der Forschung unvermindert gehalten. Der Grund liegt darin, dass der (Neo-)Historismus, die marxistische Geschichtswissenschaft und die Historische Sozialwissenschaft dem modernen, vom Vernunfts- und Fortschrittsglauben geprägten Geschichtsdenken entstammen. Es ist deren gemeinsame Überzeugung, dass es ,eine' Geschichte gibt und diese auf die moderne okzidentale Welt zuläuft. Geschichte begreifen sie als gerichteten, sinnhaften und teilweise auch lenkbaren Prozess, der seinen Abschluss in einer spezifischen, ihrer politisch-ideologischen Perspektive gernässen Staats- und Gesellschaftsordnung findet.19 Die zeitgenössisch wieder populäre Formulierung vom ,Ende der Geschichte', die seit 1989 im Sinn der Altemativlosigkeit der westlichen liberalen Demokratie und Marktwirtschaft verwendet wird, zeugt von einem zielgerichteten Geschichtsdenken, welches nicht bloss auf Hege! und Marx, sondern ebenso auf Kant und Mill zurückgeht. 20 Auch der Historismus, der sich anscheinend gegen eine zielorientierte Auffassung von Geschichte wendet und statt dessen in jeder 17 Vgl. dazu Blackboum! Eley, Mythen, S. 23-36, 125. Vgl. auch Grebing, Sonderweg, S. 85, und Wendt, Sonderbewusstsein, S. 139 f. 18 Vg!.lggers, Deutsche Geschichtswissenschaft, S. 415,440 f. Eine vermittelnde Position nehmen besonders die Arbeiten von Wolfgang J. Mommsen ein. Vgl. ders., Nationalstaat. Eine erhebliche Abschwächung der Sonderwegsthese befürwortet inzwischen auch Wehler selbst, Gesellschaftsgeschichte, Bd. III, S. 462-468. 19 Vgl. lggers, Geschichtswissenschaft, S. 97-99; Rüsen, Modeme, S. 18-22, und Niethammer, Herausforderung, S. 31 - 33. 20 Vgl. Fukuyama, Das Ende der Geschichte, München 1992.

2 Ruetz

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1. Teil: Theorie und Definition des Konservativismus

historischen Epoche die Erfüllung der Zeit erkennen will, beabsichtigt in Wirklichkeit, eine für richtig empfundene politisch-gesellschaftliche Ordnung gegen Kritik zu immunisieren.21 Der modernen Geschichtskonzeption zufolge erfüllt der Konservativismus die notwendige Funktion des ideologischen Gegenspielers zum aufgeklärten Rationalismus. Als Konservative bezeichnen sich oder werden diejenigen bezeichnet, welche sich dem aufklärerischen Vernunfts-, Fortschritts- und Gleichheitsprinzip in der einen oder anderen Form widersetzen. Die Linke, also namentlich die Repräsentanten der marxistischen und der sozialhistorischen Richtung, bedient sich des Konservativismusbegriffs, um die feudal-ständische und die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsordnung als ruckständig ZU bewerten. Die Rechte, also besonders die Vertreter des Historismus und des Neohistorismus, benützt den Konservativismusbegriff entweder als negative Fremdtypisierung, um den bürgerlichen Liberalismus vor dem Einfluss aristokratisch-klerikaler Kräfte freizuhalten, oder als positive Eigentypisierung, um den Liberalismus vor demokratischen und sozialdemokratischen Elementen abzuschirmen. 22 Im Gefolge der 1968er ,Revolution' hat sich seit den späten 70er Jahren eine breite kulturkritische Bewegung unter dem Leitbegriff Postmodeme formiert. Der Begriff kam von der Architektur her und wandte sich gegen die moderne Bauhauskultur, deren Funktionalismus durch einen spielerischen Umgang mit teilweise auch historischen Formen überwunden werden sollte. Ob man die Postmodeme als Überwindung der Moderne oder eher als deren eigene, sich selbst kritisierende Fortentwicklung einstuft, so richtet sie sich im weitesten Verständnis gegen den Absolutheitsanspruch des modernen vemunfts- und fortschrittsorientierten Denkens und Handeins in Anbetracht ihres wachsenden Zerstörerischen Potentials. Der kritische Distanzgewinn zur kulturellen Erblast der Modeme hat in den 1980er und 90er Jahren einen geistigen Freiraum geschaffen, der nicht nur Vergangenes neu zu sehen und zu ordnen ermöglicht, sondern auch die Chance zur Suche und Erprobung neuer Formen der Lebensgestaltung bietet. Für die Geschichtswissenschaft hat sich die postmoderne Forderung, die Einseitigkeit des modernen Geschichtsdenkens zu überwinden, als befreiend und fruchtbar zugleich erwiesen. Die Selbstreflexion der Modeme enthüllte alte Denkmuster und führte zu einem gewinnbringenden methodischen und thematischen Pluralismus. Makrohistorische Fragestellungen sind damit nicht hinfallig geworden. Allerdings hat sich mittlerweile der Anspruch durchgesetzt, die Ideologien der ,Weltverbesserung' beiseite zu legen und Geschichte als einen vielschichtigen Prozess zu verstehen, der zwar nach gewissen Gesetzmässigkeiten und Mechanismen abläuft und daher eine bedingte Richtung und Struktur aufweist, insgesamt jedoch ungeplant und nicht vorausseh21 Vgl. lggers, Deutsche Geschichtswissenschaft, S. 367 f. Der klassische Historismus, wie ihn Ranke oder Meinecke vertraten, war die Wissenschaftskonzeption des rechtsliberalen Bildungsbürgertums, das sich ebenso gegen feudale Privilegien wie gegen demokratische Postulate stellte und die konstitutionelle Monarchie für die ideale, in der preussisch-deutschen Geschichte von jeher angelegte Staatsform hielt. 22 Vgl. auch Kondylis, Niedergang, S. 292.

I. Motive und Ziele

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bar ist. 23 Aus postmoderner Geschichtsperspektive sind Fortschritts-, Untergangsund zyklische Theorien nicht mehr haltbar. Wird Geschichte als offener Prozess begriffen, der keinen Anfang, kein Ende und keine Determinanten kennt, so verliert auch die überkommene, der Moderne zugehörige funktionale Konservativismusdefinition ihren Sinn und somit ihre Tauglichkeit. Es bedarf einer neuen Definition, welche Funktion, Ideengehalt und soziale Trägerschaft des Konservativismus gleichermassen berücksichtigt und historisch einordnet. Einen solchen und den bislang einzigen Definitionsvorschlag macht Kondylis in seiner ideengeschichtlichen Studie über den europäischen Konservativismus. 24 Anhand der Auswertung von konservativen Schriften des 18. und 19. Jahrhunderts gelangt Kondylis zu einer epochen- und sozialspezifischen Konservativismusdefinition. Sie bestimmt Konservativismus als "eine fest umrissene, genau identifizierbare und längst abgeschlossene sozial- und geistesgeschichtliche Erscheinung beim Übergang von der societas civilis zum Dualismus von Staat und Gesellschaft".25 Die konservativen Kernideen, so Kondylis, stützen sich auf die klassisch-antike und mittelalterlich-christliche Rechts- und Politikauffassung und sind nicht, wie gewöhnlich formuliert werde, in blosser Reaktion auf das Ideengut der Aufklärung und der Französischen Revolution entstanden. Von funktionaler Seite her betrachtet, ist der Konservativismus die Rechtfertigungsideologie der Herrschaftsträger der mittelalterlich feudal-ständischen Gesellschaftsordnung gegen das neuzeitliche Rechts- und Politikdenken und dessen praktische Auswirkungen. Die Geschichte des Konservativismus reicht für Kondylis vom 16. bis ins 19. Jahrhundert und fallt weitgehend mit derjenigen des Adels zusammen. Dieser kämpfte zunächst gegen das neuzeitliche Souveränitäts- und Territorialstaatsprinzip und schliesslich gegen die revolutionären liberal-demokratischen Kräfte. Die Etablierung des "modernen zentralisierten und einheitlich verwalteten Staats und der vom Bürgertum beherrschten, sich rasch industrialisierenden Gesellschaft" bedeutet den Untergang des Adels als traditionell herrschender Schicht und somit das Aufgehen des Konservativismus im Liberalismus. 26 Die Leistung der Studie von Kondylis besteht darin, den weltanschaulichen Gehalt des Konservativismus aufzudecken und der traditionellen These von dessen Substanzlosigkeit zu widersprechen. Allerdings argumentiert Kondylis rein ideengeschichtlich und gelangt zu Schlüssen, die aus einem grösseren historischen Blickwinkel nicht überzeugen. Es sind dies die Reduzierung des Konservativismus auf eine Adelsideologie, dessen Darstellung als ein gemeineuropäisches Phänomen und dessen Verwendung als Epochenbegriff wie Aufklärung oder Reformation. Vg!.lggers, Geschichtswissenschaft, S. 97-105. Vgl. Kondylis, Konservativismus. Dessen Definition haben sich bisher angeschlossen: Reif, Adel, S. 102; Kraus in seiner Arbeit über Ernst Ludwig von Gerlach, Bd. I, S. 16-18, und Breuer, Anatomie, S. 9-13, und Grundpositionen, S. 31. 25 Kondylis, Konservativismus, S. 29. 26 Ebd., S. 23. 23

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1. Teil: Theorie und Definition des Konservativismus

In der vorliegenden Arbeit beabsichtigen wir, den Konservativismus als theoretisches und historisches Phänomen neu zu bestimmen. In den kommenden zwei Kapiteln dieses ersten, theoretischen Teils stellen sich die Fragen nach der zeitlichen und räumlichen Eingrenzung des Konservativismus, nach seinen Entstehungsbedingungen, Wesenszügen, Repräsentanten, seiner Organisationsform und Funktion. Die Ergebnisse münden in eine Konservativismusdefinition, die als Grundlage für den zweiten, historischen Teil dient. Dieser gliedert sich in drei Kapitel. Kapitel I beschäftigt sich mit der Formierung und Ausbildung des preussischen Konservativismus von 1806 bis 1848/49. Die beiden folgenden Kapitel orientieren sich an zwei zentralen Verfassungsproblemen des 19. Jahrhunderts beim Übergang von der partikularistischen Ständegesellschaft zur nationalen Staatsbürgergesellschaft, nämlich der nationalen und der konstitutionellen Frage. 27 Sie waren für den preussischen Konservativismus, der eine spezifische geistig-moralische und politischsoziale Bauform zum Ziel hatte, von existentieller Bedeutung. Kapitel li befasst sich mit dem Verhältnis zwischen Konservativismus und Nationalismus. Zur Diskussion steht die überkommene, aus der Kontinuitätsthese des Konservativismus resultierende Behauptung von der konservativen ,Okkupation' der Nationsidee in den späten 1870er Jahren. Es wird gefragt, ob die Rezeption der Nationsidee durch den Konservativismus nicht bereits vor 1871 einsetzte, welche Merkmale die konservative Nationsidee aufwies, wie sich die Nationsidee auf die Haltung der Konservativen zur nationale Frage auswirkte und welches die Konsequenzen für ihr Selbstverständnis waren. Kapitel III hat das Verhältnis zwischen Konservativismus und Konstitutionalismus zum Inhalt. Untersucht wird die gängige These, dass die konstitutionell-monarchische Staatsform, wie sie sich in der preussischen und der Reichsverfassung präsentierte, auf einem Herrschaftskompromiss zwischen Konservativismus und Liberalismus beruhe. Es wird gefragt, wie sich der preussische Konservativismus zur Verfassungs- und Rechtsstaatsidee stellte, welchen Kurs die Konservativen in der Verfassungsfrage einschlugen und welches die Folgen für ihre Programmatik und Organisation waren. Da wir uns in erster Linie für das öffentliche Auftreten und Handeln der preussischen Konservativen interessieren und deren private Meinungen und Äusserungen nur illustrativ heranziehen, umfasst die Quellenauswahl vornehmlich Parlamentsprotokolle und Parteiprogramme, konservative Zeitungen und Zeitschriften sowie sonstige Publikationen. Von den Zeitungen und Zeitschriften wurden diejenigen ausgewertet, welche als die Leitorgaue der preussischen Konservativen galten. 28 Es sind dies: Vgl. Böckenförde, Verfassungsprobleme, S. 248. Für das ,Berliner Politische Wochenblatt' vgl. Scheel, Wochenblatt, und Dittmer; Beamtenkonservativismus, S. 131-145; zur ,Kreuzzeitung' vgl. Rohleder; Neue Preussische (Kreuz-)Zeitung; zur ,Kirchenzeitung' vgl. Kriege, Geschichte; zum ,Volksblatt' vgl. Ritter; Die preussischen Konservativen, S. 41-43, und Nathusius, Rückblick, S. 290-299. Zur ,Berliner Revue' vgl. Hahn, Berliner Revue, und zu den ,Jahrbüchern' vgl., Rogge, Fingierte Briefe. 27

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I. Motive und Ziele

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• Das wöchentlich erschienene Berliner Politische Wochenblatt [1831-1841]. Das ,Wochenblatt' war das erste publizistische Organ des preussischen Konservativismus. Es stand in der Tradition Hallers, war interkonfessionell konzipiert und zählte führende Konservative zu seinen Mitarbeitern, wie die Katholiken Haller, Jarcke und Radowitz, die pietistisch gesinnten Brüder Gerlach, Heinrich Leo, Carl von Voss-Buch, Adolf von Kleist u. a. Das ,Wochenblatt' war das Gegenorgan zur ministeriellen, unter der Leitung Rankes stehenden ,Historisch-Politischen Zeitschrift'. Im ,Wochenblatt' fand der weltanschauliche und politische Gehalt des preussischen Konservativismus eine begriffliche Klarheit wie später nie mehr. • Die täglich im Grassformat erschienene Neue Preussische (Kreuz-) Zeitung [1848-1939]. Sie war das eigentliche Parteiorgan der preussischen Konservativen und bietet einen reichen Fundus an Artikeln und Kommentaren zur preussischen Innen- und Aussenpolitik. Die grösste Wirkungsmacht besass die ,Kreuzzeitung' in den Jahren 1848-1854 unter Chefredaktor Hermann Wagener. Der nachfolgende Chefredaktor Thuiskon Beutner führte 1854- 1872 eine eher moderate Linie. Von 1872 bis 1876 wurde die Kreuzzeitung unter Chefredaktor Philipp von Nathusius wieder auf entschiedenen, aber erfolglosen Konfrontationskurs mit Regierung und Liberalen gebracht. • Die zweimal wöchentlich erschienene Evangelische Kirchenzeitung [18271930]. Sie war gleichsam das geistliche Organ der preussischen Konservativen, wurde bis 1870 vom Berliner Theologieprofessor Ernst Wilhelm Hengstenberg herausgegeben und ab 1870 von Pastor Tauscher. Die ,Kirchenzeitung' verfocht eine orthodox-lutheranische Position und bekämpfte den theologischen Rationalismus und dessen kirchenpolitische Auswirkungen. • Das täglich erschienene Neue Allgemeine Volksblatt (seit 1870 Preussisches Volksblatt) [1859-1874]. Es war das Organ des ,Landes-Handwerkertages' und vertrat hauptsächlich kleinbürgerlich konservative Interessen. Mit der Spaltung der Konservativen zu Beginn der 1870er Jahre stieg die Bedeutung des ,Volksblatts' an, indem es zum Sprachrohr der Bismarck-loyalen Neukonservativen und damit zum Gegenspieler der Kreuzzeitung wurde. • Das zweimal wöchentlich erschienene Volksblatt für Stadt und Land [18441878]. Das von Philipp und ab 1871 von Martin von Nathusius herausgegebene ,Volksblatt' vertrat einen ausgeprägt christlich-konservativen Standpunkt und war neben der ,Kreuzzeitung' ein gewichtiges politisches Organ des preussischen Konservativismus. Seit dem Ausscheiden der Mitarbeiter Heinrich Leo und Heinrich Eugen Marcard verlor das ,Volksblatt' ab 1866 an Bedeutung. 1876 ging es in der Allgemeinen Konservativen Monatsschrift auf. • Die wöchentlich erschienene Berliner Revue (Ab 1870 AufWacht an der Mosel) [1855 -1873]. Sie vertrat mit ihrem Eigentümer Hermann Wagenerden kleinen sozialkonservativen Flügel des preussischen Konservativismus.

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• Die monatlich erschienenen Jahrbücher für Gesellschafts- und Staatswissenschaften [1864-1869]. Die im Selbstverlag vom Staatsrechtsprofessor J. C. Glaser herausgegebenen ,Jahrbücher' bezogen eine ausgesprochen Bismarckkonforme politische Position und standen auch den sozialkonservativen Ideen nahe. Von Bedeutung ist der damals auf grosses öffentliches Interesse stossende Briefwechsel zwischen einem Freikonservativen und einem Neukonservativen, der für eine programmatische Neuausrichtung der Konservativen im Sinn von Bismarcks Politik warb. Was die Literatur betrifft, so hat sich die fehlende definitorische Präzision für die Erforschung des Konservativismus nicht sehr förderlich gezeigt. Die bislang einzig fundierte Konservativismustheorie stammt aus der Feder Karl Mannheims. In seiner 1925 verfassten Studie liefert Mannheim das theoretische Fundament zur funktionalen, epochenspezifischen Konservativismusdefinition. Um den Konservativismusbegriff vor einer Überstrapazierung zu bewahren, führt Mannheim den Traditionalismusbegriff ein. Diesen definiert er im Verständnis Max Webers als allgemein menschliche, formalpsychische Eigenschaft, am Hergebrachten festzuhalten. Konservativismus jedoch ist "ein spezifisch historisches und modernes Phänomen", oder, präziser formuliert, "eine historisch und soziologisch erfassbare Kontinuität, die in einer bestimmten soziologischen und historischen Situation entstanden und in unmittelbarem Konnex mit dem historisch Lebendigen sich entwickelt".Z9 Konservativismus entsteht für Mannheim beim Übergang der kleinräumigen, sozial und ökonomisch relativ statischen Ständegesellschaft in die dynamische, zunächst noch national orientierte Klassengesellschaft. Dieser Prozess wird "immer mehr von solch umfassenden Strömungen und den dazugehörigen Gegenströmungen getragen, [ ... ] unter welchen einige sich ausdrücklich im Zeichen des Fortschreitens, andere im Zeichen des Retardierens konstituieren". 3° Konservativismus formiert sich nur in einer ,,klassenmässig geschichteten Gesellschaft", ist eine geistige Reaktion auf die Aufklärungsideen, verbunden mit einer politisch-sozialen Reaktion auf die moderne Wachstumsproblematik. 31 Im frühen 19. Jahrhundert stünden der Liberalismus und Konservativismus nicht nur für "ein jeweils verschieden geartetes politisches Wollen, sondern auch eine ganz bestimmte Affinität zu ganz verschiedenen Philosophien". 32 Weil sich der politische, soziale und ökonomische Bezugsrahmen stetig ändert, unterliegen auch die Ideen und Repräsentanten des Konservativismus einem kontinuierlichen Wandel, so dass im Laufe des 19. Jahrhunderts der Sozialismus den Liberalismus als ideologischen Gegenspieler des Konservativismus allmählich verdrängt. 33

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Mannheim, Konservatismus, S. 92 f./97. Ebd., S. 106. Ebd., S. 109. Ebd., S. 107. Vgl., gestützt auf Mannheim: Friedeburg, Konservativismus, S. 350.

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Die Annahme von der ideologischen Wandelbarkeit des Konservativismus erschwert eine allgemeine Geschichte des europäischen Konservativismus ungemein. In der funktionalen Konservativismusdefinition verfangen, bemerkt Epstein trefflich und noch immer aktuell: "Die künftigen Historiker des europäischen Konservativismus werden sich aus diesem Grunde mit den spezifischen Bedingungen jedes europäischen Landes beschäftigen müssen, um ein realistisches Bild von den unterschiedlichen Verhältnissen zeichnen zu können, die die verschiedenen Konservativen ,konservieren' wollten." 34 Bis heute fehlen, mit Ausnahme der ideengeschichtlichen Arbeit von Kondylis, vergleichende Studien über den europäischen Konservativismus. Nicht viel besser verhält es sich mit länderspezifischen Arbeiten. Weder der deutsche noch der preussische Konservativismus des 19. Jahrhunderts können als ausreichend erforscht gelten. Seit der verstärkten Kritik an der Sonderwegsthese in den 1980er Jahren sind einige grundlegende politik-, parteigeschichtliche und biographische Arbeiten über den preussischen Konservativismus erschienen, wie diejenige von Wolfgang Schwentker über das konservative Vereinswesen in den Jahren 1848 I 49, von Berdahl über den preussischen Konservativismus bis 1848, von Lothar Dittrner über den Beamtenkonservativismus, von Wilhelm Füssl über Stahl, von Hans-Christof Kraus über Ernst Ludwig von Gerlach sowie von James N. Retallack über die Deutschkonservative Partei. 35 Eine gut lesbare, den aktuellen Forschungsstand umfassende Überblicksdarstellung des preussisch-deutschen Konservativismus bietet Schildt. 36 Noch wenig erforscht ist der Konservativismus "von unten". 37 Es genügt nicht, so konstatiert Mooser, den Konservativismus in "einer Geschichte der Herrschaft ,von oben' oder in platter Reaktion" aufgehen zu lassen. 38 Wie es die Liberalismusforschung vorzeigt, gilt es auch für den Konservativismus, ein noch weites Forschungsgebiet zu erschliessen. 39 Neben den biographischen, politik- und parteigeschichtlichen Arbeiten über den preussischen Konservativismus muss erweitert und vertieft nach der gesellschaftlichen Basis, den politisch-sozialen Leitbildern, den Organisations- und Artikulationsformen des Konservativismus gefragt werden. Erste wichtige Ergebnisse haben namentlich Mooser in seinen Studien über die ländliche Klassengesellschaft und die Erweckungsbewegung in Westfalen sowie Schwentkers Arbeit über das konservative Vereinswesen vorgelegt. Bei ihnen wird sichtbar, dass der Konservativismus eine ,populäre' Grundlage vor allem in der ländlich-kleinstädtischen Gesellschaft besass, deren Auslotung nicht bloss die Definition des Konservativismus als Adelsideologie relativiert, sondern auch eine schärfere Grenzziehung zum ideoEpstein, Ursprünge, S. 18 f. Vgl. Schwentker; Konservative Vereine; Berdahl, Politics; Dittmer; Beamtenkonservatismus; Füssl, Stahl; Kraus, Gerlach, und Retallack, Notables. 34 35

V gl. Schildt, Konservatismus. V gl. auch jüngst Schrenck-Notzing, Stand. Vgl. dazu Mooser, Klassengesellschaft, S. 358 f., und Fischer, Konservatismus, S. 69. 38 Mooser; Konservatismus ,von unten', S. 123. 39 Zum Stand der Liberalismusforschung vgl. die Aufsätze von Langewiesche, Frühliberalismus, und Seier, Liberalismus. 36 37

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1. Teil: Theorie und Definition des Konservativismus

logischen Gegenspieler, dem Liberalismus, ermöglicht. 40 Ein dringendes Postulat für die Erforschung des Konservativismus ist die Untersuchung der politisch-sozialen Rolle von Kirche, Religion und Geistlichkeit. In welchem Ausmass können die Geistlichen dem Konservativismus als Trägerschaft zugeordnet werden, in welcher Form und Intensität wirkte die Kirche auf die Mobilisierung des preussischen Konservativismus, welche Rolle spielen die Pastoren als zentrales Bindeglied zwischen Kirche und ländlicher Gesellschaft, welches Gewicht kommt der neupietistischen Erweckungsbewegung bei der Formierung des preussischen Konservativismus zu? Die Mehrzahl der Protagonisten des preussischen Konservativismus beispielsweise ging aus der Erweckungsbewegung hervor. Wo liegen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem katholischen und dem protestantischen Konservativismus? Auf diesen Gebieten muss eine intensive Forschung einsetzen, analog der umfassenden Bürgertumsforschung auf seiten des Liberalismus. Zuallererst erfordert dies aber, wie Gall schreibt, eine "grössere definitorische Präzision bei der Verwendung des Konservativismus-Begriffs".41 Die gängige Kontinuitätsthese des preussisch-deutschen Konservativismus lässt sich noch immer an den beiden Arbeiten von Ritter und Berdahl am besten aufzeigen. Die 1913 verfasste Arbeit Ritters über die preussischen Konservativen bewegt sich noch ganz in der Tradition der positiv akzentuierten Sonderwegsideologie des klassischen Historismus. Über die Stellung der Konservativen gegenüber der deutschen Politik Bismarcks resümiert Ritter: "Dann aber gewann die konservative Partei erst wieder Leben, als sie Anschluss gewann an die geschichtliche Bewegung, die das Lebensrecht der Nation auf eine ungehemmte Entfaltung ihrer Kräfte im einheitlichen Staate zu verwirklichen suchte."42 Die Arbeit von Berdahl aus dem Jahre 1965 reformuliert im wesentlichen Ritters Aussagen mit dem Unterschied, dass die ,alte' durch die ,neue', negativ besetzte Sonderwegsthese ersetzt wird. Wahrend Ritter den Wandel der preussischen Konservativen zur nationalen Partei positiv bewertet, kommt Berdahl zum gegenteiligen Schluss: "With the reorganization of the entire Party in 1876 Bismarck triumphed: he had achieved the Iasting marriage of nationalism and conservatism."43 Bei den noch wenigen Stimmen, die sich für eine Abschwächung der Kontinuitätsthese des Konservativismus aussprechen, sind zwei Richtungen auszumachen. Beide bestreiten die Kontinuitätsthese nicht substantiell, sondern wollen sie nur differenzierter verstanden wissen. Die eine Richtung begreift Kontinuität eher formal und zieht einen Trennstrich zwischen einer angeblich altkonservativ-prinzipientreuen und einer neukonservativ-opportunisti40 Vgl. Mooser, Klassengesellschaft, und die beiden Aufsätze: Konservatismus ,von unten', und Kirche. Vgl. auch Schwentker, Konservative Vereine. Zu neueren Versuchen, den Konservativismus als Adels- und damit als Klassenideologie zu definieren, vgl. Reif, Adel, S. 102; Kondylis, Konservativismus, S. 27; Berdahl, Politics, S. 7. Zu älteren Versuchen, vgl. Neumann, Stufen, S. 7 f.; Stillich, Die politischen Parteien, S. 1-9. 41 Gall, Vorwort, S. X, in: Ders., Bürgertum. 42 Ritter, Die preussischen Konservativen, S. 378. 43 Berdahl, Transformation, S. 247.

Il. Geschichte als Bewegung: Norbert Elias und Lorenz von Stein

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sehen Haltung.44 Die andere Richtung zielt auf die Frage der Wirkungsmächtigkeit der konservativen Kontinuität ab und kritisiert besonders die herkömmliche Behauptung von der Feudalisierung und Manipulation der reichsdeutschen Gesellschaft durch die alten sozialen Eliten. 45 Neben den genannten Arbeiten über den preussischen Konservativismus haben sich für die vorliegende Arbeit die beiden ,Theoretiker' Elias und Stein als sehr aufschlussreich erwiesen, KoseHeck mit seiner grundlegenden Studie über das vorkonstitutionelle Preussen und seinen begriffsgeschichtlichen Aufsätzen, Böckenförde mit seinen scharfsichtigen staats- und verfassungsrechtlichen Analysen, Fenske mit seinem überzeugenden Vorschlag zur Neuverortung des Frühliberalismus, Gall mit seiner stichhaltigen Definition des klassischen Liberalismus und Breuer mit seiner analytischen Studie über die ,Grundpositionen der deutschen Rechten'. 46

II. Geschichte als Bewegung: Norbert Elias und Lorenz von Stein Im ,Zauberberg' von Thomas Mann führen der Jesuit Naphta und der Freimaurer Settembrini eine Disputation. Auf die Frage Settembrinis, ob Naphta an "die objektive, die wissenschaftliche Wahrheit" glaube, "der nachzustreben oberstes Gesetz aller Sittlichkeit ist" erwidert dieser: "Wahr ist, was dem Menschen frommt." "Sie lehren da einen Pragmatismus", spricht Settembrini, "den sie nur ins Politische zu übertragen brauchen, um seiner ganzen Verderblichkeit ansichtig zu werden. Gut, wahr und gerecht ist, was dem Staate frommt. Sein Heil, seine Würde, seine Macht ist das Kriterium des Sittlichen. Schön! Damit ist jedem Verbrechen Tür und Tor geöffnet." Darauf entgegnet Naphta: "Entweder Ptolemäus und die Scholastik behalten recht, und die Welt ist endlich in Zeit und Raum. Dann ist die Gottheit transzendent, der Gegensatz von Gott und Welt bleibt aufrecht, und auch der Mensch ist eine dualistische Existenz [ ... ] und alles Gesellschaftliche ist mit Abstand zweiten Ranges. Nur diesen Individualismus kann ich als konsequent anerkennen. Oder aber Ihre Renaissance-Astronomen fanden die Wahrheit, und der Kosmos ist unendlich. Dann gibt es keine übersinnliche Welt, keinen Dualismus; das Jenseits ist ins Diesseits aufgenommen [ ... ] und der Zweck des Staates wird, wie es gut heidnisch ist, zum Gesetz des Sittlichen. Eines oder das andere."47

44 Vgl. Schoeps, Preussen, S. 113-15, und Weg ins Kaiserreich, S. 127-132, 187 f., sowie Kraus, Gerlach, Bd. I, S. 19, Anm. 66. 45 Dazu gehören unterschiedliche Historiker wie Nipperdey, Wolfgang J. Mommsen, Grebing und Eley. Vgl. dazu die Einleitung bei Kühne, Dreiklassenwahlrecht, S. 17; Spenkuch, Herrenhaus, S. 15. 46 V gl. die jeweiligen Literaturangaben im Text. 47 Mann, Zauberberg, S. 551 - 553.

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1. Teil: Theorie und Definition des Konservativismus

Was Thomas Mann in literarischer Form trefflich anspricht, ist die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis der mittelalterlich-christlichen und der neuzeitlich-säkularen Weltanschauung und den Auswirkungen auf Politik und Recht. Der Staat gilt heutzutage als selbstverständliche gesellschaftliche Ordnungsform. Die gesamte bewohnte Erde teilt sich in Staaten auf, als deren typische Merkmale eine souveräne Gewalt, ein abgegrenztes Territorium und ein darin lebendes Volk gelten.48 Die Staatsbildung erfolgte aus Voraussetzungen und Bedingungen der europäischen Geschichte und erstreckte sich vom 13. bis ins 19. Jahrhundert. Als eigentümliche Vorgänge der europäischen Staatsbildung zählen die sukzessive Konzentration der politischen Gewalt, der Aufbau eines arbeits- und funktionsteiligen Verwaltungsapparates, eines zentralen Steuer-, Heer- und Erziehungswesens sowie einer rationalen, homogenen und verbindlichen Rechtsordnung. Parallel zu diesen Vorgängen verlief die Säkularisierung von Politik und Recht. 49 Versteht man Geschichte als einen offenen Prozess, der keinen Anfang, kein Ende und keine Detenninanten kennt, so lässt sich die europäische Staatsbildung weder aus planmässigem individuellem Wirken noch aus überindividuellen Gesetzmässigkeiten erklären. "Nichts ist schon dagewesen und alles ist möglich", so formulieren Konrad Lorenz und Karl Popper ihre gemeinsame Erkenntnis über die biologische und kulturelle Evolution und erteilen damit aller Geschichtsdogmatik und Prophetie eine klare Absage. 5° Gleichwohl die Evolution, ob biologischer oder kultureller Natur, unvoraussagbar verläuft, zeigt sie insgesamt eine gewisse Richtungstendenz vom "Einfacheren zum Komplexeren, vom Wahrscheinlicheren zum Unwahrscheinlicheren". 51 Diese evolutionäre ,Höherentwicklung' und vor allem deren Schnelligkeit kann nicht allein mit Zufall und Notwendigkeit begrundet werden. Es muss ein kreatives Element vorhanden sein, welches der Evolution eine gewisse Struktur und Richtung verleiht. Über dieses eigentlich Kreative lässt sich nur spekulieren. Plausibel, weil auch optimistisch, scheint die Hypothese, dass alles Leben ein erkenntnissuchender Vorgang ist, ein stetes "Suchen nach einer besseren Welt". 52 Leben heisst immer auch riskieren, in neue Bereiche vorzustossen, um sich der Umwelt nicht nur passiv besser anzupassen, sondern diese auch aktiv zu verändern. Jeder Organismus versucht, ein möglichst genaues Bild von seiner Umwelt zu gewinnen, und zwar durch aktives Lernen. Je eher ihm das gelingt, um so grösser wird sein SelektionsvorteiL 48

So die geläufige Definition Georg Jellineks, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1921,

s. 180 f./183.

Vgl. auch Böckenförde, Entstehung des Staates, S. 92 f. Vgl. das Gespräch zwischen Popper und Lorenz, Die Zukunft ist offen. Vgl. auch Popper, Die offene Gesellschaft, bes. Bd. II, S. 304- 328, sowie, Selbstbefreiung durch das Wissen, S. 151. 51 Lorenz, Rückseite des Spiegels, S. 289. Vgl. auch Popper/Lorenz, Die Zukunft ist offen, S. 16. 52 Popper/Lorenz, Die Zukunft ist offen, S. 17 f. ; Popper, Erkenntnis und Gestaltung, S. 23-27. 49

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II. Geschichte als Bewegung: Norbert Elias und Lorenz von Stein

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Eine möglichst optimale Angleichung von Lebewesen und Umwelt erklärt die ,Höherentwicklung' nur teilweise. Optimales Angepasstsein kann bei relativ konstanten Umweltbedingungen auch eine Konkurrenzlosigkeit und damit einen Entwicklungsstillstand zur Folge haben. Veränderung bedingt deshalb immer eine kontinuierliche Herausforderung. Je zahlreicher deren Komponenten sind, um so grösser werden die Interaktion und die Wahrscheinlichkeit für die Freisetzung einer schöpferischen Kraft, Vorhandenes durch Versuch und Irrtum zu etwas Neuern und Einmaligem zusammenzufügen. Ohne das Erscheinen von fundamental Neuern aus dem Spiel von vielerlei Komponenten lassen sich die allgemein aufsteigende Richtung und das Tempo der biologischen und kulturellen Evolution nicht einleuchtend begründen.5 3 Was die kulturelle Evolution von der biologischen wesentlich unterscheidet, ist deren unvergleichlich höhere Geschwindigkeit. Der Mensch vermag seine Antriebe zu hemmen, das heisst, zwischen Bedürfnis und Konsumation eine ,triebfreie' Phase einzuschieben. Entlastet vom unmittelbaren Triebdruck gewinnt er Zeit zur Reflexion und Planung seiner Handlungen. In diesem Freiraum gestaltet sich menschliches Zusammenleben, entsteht eine Kultur. Auf der Stufe der menschlichen Existenz nimmt das ,Suchen nach einer besseren Welt' eine neue Dimension an. Kraft der Fähigkeit zur Imagination, Vernunft und Sprache kann der Mensch die Veränderung der Umwelt gedanklich erproben, kritisieren und kommunizieren, womit das Lernen ungemein beschleunigt und die kulturelle Erfahrungs- und Informationsmenge rasch vergrössert wird. Evolution heisst, sich über die Ebene des Angepasst-Seins hinauszubewegen, etwas zu riskieren und bei Erfolg auf eine höhere Entwicklungsstufe zu gelangen. Die jeweilige Veränderung lässt sich nicht voraussagen, weil sie dann nicht schöpferisch, sondern lediglich eine Form des Angepassten wäre. Je grösser und dichter die Interaktion von verschiedenen Kräften auf einer Ebene ist, desto mehr wächst die Bereitschaft zum Risiko. Nicht-Voraussagbarkeil der Evolution muss aber nicht gleichbedeutend mit Strukturlosigkeit sein, wie es aus einer teleologischen oder mechanistischen Weltanschauung scheinen mag. Die Systemtheorie hat deutlich gemacht, dass Systeme aus Elementen zusammengesetzt sind, die miteinander in Wechselwirkung stehen. Diese Interaktion führt zu Eigenschaften, die sich weder aus den einzelnen Elementen noch aus deren Summe, sondern nur aus deren Verflechtung herleiten lassen. Systeme und deren Veränderung müssen deshalb aus dem Wechselspiel der einzelnen Elemente untereinander und mit ihrer Umwelt begriffen werden. Auch die menschlichen Gebilde formieren und wandeln sich nicht durch individuelles Wirken oder kollektive Gesetze, sondern durch das Beziehungs- und Wirkungsgeflecht der jeweiligen Individuen. Nach der sogenannten formalen oder Beziehungssoziologie Georg Simmels und Leopold von Wieses sind Individuum und Gesellschaft keine eigenen Grössen und können daher zur Analyse der sozialen Realität nicht gegenübergestellt werden. 54 Das Individuum ist immer 53 54

Lorenz. Rückseite des Spiegels, S. 47. Vgl. bes. Simmel, Soziologie, und Wiese, System der Allgemeinen Soziologie.

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1. Teil: Theorie und Definition des Konservativismus

schon Teil der Gesellschaft, da es sich in Wechselwirkung mit anderen Individuen befindet und als Rollenträger, nicht als autonomes Subjekt, soziale Prozesse bedingt und beeinflusst. Was die Individualität ausmacht, ist die jeweilige Synthese aus Einzel- und Allgemeinheit. 5 5 Wie es keine individuelle Substantialität gibt, das Individuum sich in der Wechselwirkung mit anderen immer wieder neu definiert, so verfügt auch die Gesellschaft als Summe sozialer Beziehungsformen über keinen beständigen Kern. Gesellschaft ist ein "gradueller Begriff', ein Prozess, der in Richtung auf die Zukunft offen ist und auch gegenwärtig nur relativ erfasst werden kann, weil das soziale Beziehungsgeflecht keinen festen Bezugspunkt erlaubt. 56 Der Soziologe und Kulturphilosoph Norbert Elias ist in vieler Hinsicht der geistige Nachfolger Simmels. Während Simmel die Frage nach der Möglichkeit von Gesellschaft abstrakt behandelt, legt Elias das Gewicht auf die historische Konkretisierung. Nach seiner Auffassung können soziale Prozesse nicht losgelöst von ihrer historischen Dimension gedeutet werden. 57 Von der beziehungssoziologischen Lehre ausgehend, kehrt sich Elias von individualistischen und strukturalistischen Begründungen historischer Vorgänge ab. Er versucht alle sozialen Gebilde und Prozesse aus der Interaktion der einzelnen Menschen zu erklären. Aus seinen Studien zieht er, analog der mittlerweile etablierten naturwissenschaftlichen Interpretation, den Schluss, dass die Evolution zwar ungeplant und nicht einheitlich verläuft, sich insgesamt jedoch strukturiert und gerichtet vollzieht, von einfachen zu komplex organisierten Gebilden durch Differenzierung und Spezialisierung. "Wissenschaftstheoretisch entscheidend ist die Erkenntnis", so Elias, "dass bei voller Kontinuität des Entwicklungsganges der nie vorauszusehende Aufstieg zu einer jeweils höheren, also komplexeren und differenzierteren Integrationsstufe das Auftreten von neuen Strukturen und Funktionsweisen, neuen Eigenschaften und Vermögen ihrer Repräsentanten mit sich bringt. [ .. . ] Im Verhältnis zu den Eigen-schaften der isoliert, also rein analytisch betrachteten Teileinheiten ist die Bedeutung der Organisation, der Integration, der Konfiguration von Teileinheiten als das, was die Eigenschaften von Lebewesen erklären kann, um so grösser, je höher man auf der evolutionären Stufenleiter hinaufsteigt." 58 Jede Staats- und Gesellschaftslehre beruht auf einer bestimmten Auffassung der Eigenart, Bedürfnisse und Lebenszwecke des Menschen. Die klassischen Menschentypen der politischen Philosophie wie das ,animal rationale', ,irrationale' oder ,sociale', der ,homo oeconomicus' oder der ,homo clausus' schiebt Elias beiseite und spricht von den "homines aperti", von Wesen, die in ihrer biologischen und psychologischen Konstitution nicht festgelegt, also gewissermassen unspeziaVgl. Simmel, Soziologie, S. 15-20. Ders., Differenzierung, S. 131. 57 Vgl. Mongardini, ,Wie ist Gesellschaft möglich?' , S. 294. Zum Leben und Werk von Elias vgl. Rehberg, Elias, S. 17 - 39; Korte, Über Norbert Elias, oder die Selbstbiographie von Elias, Norbert Elias über sich selbst. ss Elias, Wissenschaft, S. 273. Vgl. auch ders., Prozess der Zivilisation, Bd. II, S. 312 f., 55

56

und Engagement, S. 200 f.

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lisiert und daher anpassungsfähig sind.59 Die einzige anthropologische Konstante, die Elias anerkennt, ist die Geselligkeit. Weil die Menschen von Natur aus soziale Wesen und aufeinander ausgerichtet und angewiesen sind, entwickeln sich Persönlichkeits- und Gesellschaftsstruktur in gegenseitiger Abhängigkeit. 60 Die Menschen werden zeit ihrer Geburt kulturell normiert, nehmen im Laufe ihrer Sozialisation die Verhaltenskriterien ihrer Kultur an, so dass von einem freien Denkund Handlungsvermögen nur innerhalb der jeweiligen kulturellen Normenordnung die Rede sein kann. 61 Es führt daher in die Irre, die Psychogenese und Soziogenese für sich zu analysieren. "Das gesellschaftliche Gewebe der Menschen bildet das Substrat, aus dem heraus, in das hinein der Einzelne ständig seine individuellen Zwecke spinnt und webt. " 62 Erst die Einsicht in diese Interdependenz ermöglicht ein umfassenderes Verständnis des Wesens von Individualität und Sozietät. So besehen, ist die persönliche Entwicklung Teil einer spezifisch sozialen und diese ein Ausschnitt der allgemeinen, anfangs- und ziellosen Menschheitsentwicklung. Wenn Menschen Beziehungswesen sind, so müssen zur Erklärung sozialer Phänomene weder individuelles Wirken noch überindividuelle Gesetze, sondern stets die jeweiligen Verflechtungen der Menschen im Mittelpunkt stehen. Die Wirkungsgeflechte, welche Menschen von der Familie bis zu Staatswesen bilden, nennt Elias ,Figurationen' und seine Theorie Figurations- und Prozesstheorie. 63 "Diese fundamentale Verflechtung der einzelnen, menschlichen Pläne und Handlungen kann Wandlungen und Gestaltungen herbeiführen, die kein einzelner Mensch geplant oder geschaffen hat. Aus ihr, aus der Interdependenz der Menschen, ergibt sich eine Ordnung von ganz spezifischer Art, eine Ordnung, die zwingender und stärker ist als Wille und Vernunft der einzelnen Menschen, die sie bilden. " 64 Die Figurationen sind nicht statisch, sondern unterliegen einem dauernden Wandel. Aus dem Zusammenspiel von individuellen Plänen und Handlungen resultiert eine kollektive Eigendynamik, die nicht determiniert und voraussehbar, aber dennoch strukturiert und nachvollziehbar ist. Je stärker und je dichter Menschen untereinander agieren, um so mehr entwickelt sich eine kollektive Eigengesetzlichkeit, welcher sich die einzelnen Akteure zu fügen haben. "Es ist diese Verflechtungsordnung, die den Gang des geschichtlichen Wandels bestimmt; sie ist es, die dem Prozess der Zivilisation zugrunde liegt. " 65 Die Figurationstheorie von Elias birgt die Gefahr in sich, die Bedeutung sozialer Verflechtungen zu überschätzen 59 Vgl. ders., Was ist Soziologie?, S. 135 f., und Prozess der Zivilisation, Bd. I, S. 46 - 73. Vgl. auch Käsler; Elias, S. 437. Zur Unspezialisiertheit vgl. Berger, Konstruktion, S. 50, und Bischof, Rätsel, Ödipus, S. 520. 60 Vgl. Elias, Gesellschaft der Individuen, S. 39 f. 61 Über die Kulturbedingtheit menschlicher Erkenntnis vgl. Berger/Luckmann, Konstruktion, bes. S. 139-174. 62 Elias, Prozess der Zivilisation, Bd. Il, S. 477 (Anmerkung 129). 63 Vgl. ders., Was ist Soziologie, S. 139-145, und Die höfische Gesellschaft, S. 47. 64 Ders., Prozess der Zivilisation, Bd. II., S. 314. 65 Ebd.

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1. Teil: Theorie und Definition des Konservativismus

und die einzelnen Menschen gleichsam aus der Geschichte zu verbannen, womit der Unterschied zu ,Organismuslehren' oder ,menschenlosen' Systemtheorien nicht mehr gross wäre. Im Zentrum der Erklärung historischer Phänomene haben stets auch die Menschen als Individuen mit einem eigenen Willen zu stehen, wie kulturell bedingt und durch kollektive Zwänge begrenzt dieser sein mag. Kreativität und Wagnis, Mitmenschlichkeit und Verantwortungsbewusstsein sind letztlich immer an Individuen und nicht an Kollektive gebunden. Die individuelle Tat, die Infragestellung vorherrschender Ideen, Normen und Zwänge sind es, die ,Geschichte' im tiefsten Sinne offenhalten, ihr die Unvoraussagbarkeit verleihen und nicht die Eigengesetzlichkeit sozialer Verflechtungen. Anders als Max Weber vertritt Elias in Anlehnung an Simmel die These, dass sich die Individualisierung, also die Zunahme an Selbstentscheidung, proportional zur Differenzierung und Spezialisierung einer Gesellschaft verhalte. 66 Je enger und organisierter sich menschliches Zusammenleben abspielt, desto mehr löst sich das Individuum aus traditionellen Bindungen, verliert die herkömmliche Orientierungsgewissheit und wird auf sich alleine gestellt. Zivilisierung und Individualisierung stehen für Elias in positiver Wechselwirkung, während Weber eher die negative Seite hervorhebt und das Individuum durch den ,ausufernden' rationalen Beamten-, Verwaltungs- und Versorgungsstaatgefährdet und in der ,Masse' verschwinden sieht.67 ,)ede Struktur", so formuliert es Konrad Lorenz bildhaft, "erwirbt ihre Fähigkeit zu stützen nur um den Preis, dass sie gewisse Freiheitsgrade opfert. Ein Wurm kann sich kriimmen, wohin er will, wir aber können uns nur abwinkeln, wo Gelenke vorgesehen sind; aber wir können stehen, und der Wurm kann es nicht. " 68 Gleich wie das freie menschliche Denken einer Unzahl von mechanisierten Funktionen bedarf, so ermöglicht erst eine komplexe Gesellschaftsstruktur, die ein grosses Mass an individueller Selbstregulierung und Standardisierung erfordert, einen hohen, das meint _gl!~titativen wie qualitativen Grad an Individualisierung. 69 Der Vorteil der Figuralionstheorie von Elias liegt darin, dass sie zur Erklärung von langfristigen sozialen Prozessen auf kausale oder finale Argumente verzichtet und statt dessen ein räumlich-zeitliches Synthesemodell menschlicher Verflechtungen anbietet, welches keines Anfangs und keines Endes bedarf und damit Wertungen wie Fortschritt, Rückschritt oder Zyklus vermeidet. Das Bild der ,homines aperti', der offenen, nicht festgelegten Menschen als Beziehungswesen ermöglicht es, sich von herkömmlicher ideologischer Befangenheit zu lösen und eine freiere Sicht über die kulturelle Evolution im allgemeinen und den okzidentalen Staatsund Zivilisationsprozess im spezifischen zu gewinnen? 0 Den Tatbeweis erbringt 66 Vgl. ders., Gesellschaft der Individuen, S. 39 f., und Simmel, Differenzierung, S. 174. Zum Verhältnis von Zivilisierung und Individualisierung bei Elias vgl. Breuer; Gesellschaft, S. 318 f. Allg. vgl. Berger; Konstruktion, S. 174-184. 67 Vgl. Weber; Wirtschaft, S. 1059 f . 68 Popper/Lorenz, Die Zukunft ist offen, S. 24. 69 Vgl. Elias, Gesellschaft der Individuen, S. 242, und Käsler; Elias, S. 436. 70 Vgl. Elias, Gesellschaft der Individuen, S. 144 f.

II. Geschichte als Bewegung: Norbert Elias und Lorenz von Stein

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Elias mit seinem Hauptwerk ,Über den Prozess der Zivilisation', in welchem er die okzidentale Staats- und Gesellschaftsbildung als einen strukturierten, gerichteten, aber insgesamt ungeplanten Prozess vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit beschreibt und diesen an konkurrierenden Selbstbehauptungsinteressen sozialer Eliten festmacht. Die Umwandlung der mittelalterlich feudal-ständischen zur neuzeitlich staatsbürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung, die "Soziogenese des Staates", verlief nach Elias in zwei Phasen. In der ersten entwickelten sich aus dem feudalistisch bedingten Konkurrenzkampf von Adelsgeschlechtern Bodenmonopole, welche es gegen innere wie äussere Feinde zu behaupten galt. Die jeweiligen Territorialfürsten versuchten zuerst über die Aneignung spezifischer Hoheitsrechte und deren Verwaltungskompetenzen und danach mittels Aufbau eines Beamtenapparates und stehenden Heeres das Gewalt- und Steuermonopol zu erringen.71 Der Ausscheidungskampf um die Monopolisierung von Boden und Herrschaft war im 17. Jahrhundert in Gestalt des souveränen Territorialstaates abgeschlossen, worauf nun die zweite, bis ins 19. Jahrhundert reichende Phase der Staatsbildung einsetzte. Diese stand im Innern unter dem Zeichen des ständischen Konkurrenzkampfes um die Verteilung des staatlichen Gewaltmonopols.72 Schematisch dargestellt, rangen Adel, Klerus und Bürgertum um die Machtverteilung, wobei die Fürsten, in der Mitte stehend, das Kräftemessen zur Sicherung ihrer politischen Vorherrschaft möglichst ausbalancieren mussten. Aus dieser spezifischen Figuration entwickelte sich im kontinentaleuropäischen Raum die absolute Monarchie, welche die Stände zwar nicht mediatisierte, sie jedoch der monarchischen Zentralgewalt unterstellte. Der Druck der namentlich über die Verwaltung aufsteigenden bürgerlichen Schichten auf Adel und Klerus verlieh dem Königtum eine bislang unbekannte Machtfülle.73 Mit Vergabe von Ämtern, Titeln und Privilegien vermochten sich die Könige als integrierende und steuernde Instanz im sozialen Kräftespiel zu etablieren. Diese ständisch-monarchische Herrschaftsordnung brach erst auseinander, als Teile des Bürgertums infolge der wissenschaftlichen und technisch-industriellen Dynamik nicht mehr auf ständische Privilegien und korporative Bindungen angewiesen waren und sie als unzeitgernäss und für ihren sozialen Aufstieg als hemmend empfanden. 74 Im 19. Jahrhundert schuf sich das ,neue' Bürgertum eine Ordnung auf der Basis der Rechtsgleichheit, der Freiheit von Person und Eigentum sowie der Bindung aller staatlichen Macht an das Recht. Damit wurde die gesamte Ständegesellschaft, also Adel, Geistlichkeit und privilegiertes Bürgertum, aus den Angeln gehoben und durch die staatsbürgerliche, auf dem freien, selbstbestimmten und erwerbsorientierten Individuum aufbauende Gesellschaft ersetzt. 71

Vgl. ders. , Prozess der Zivilisation, Bd. II, S. 123 - 129, 142-159,279-311.

n Vgl. ebd., S. 157. 73

74

Vgl. ebd., S. 236, 243, 250. Vgl. ebd., S. 246 - 48.

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1. Teil: Theorie und Definition des Konservativismus

Obschon die Staats- und Zivilisationstheorie von Elias aus Sicht der jüngeren Forschung in manchen Punkten ergänzungs-und erweiterungsbedürftig ist75 , bietet sie dem Historiker eine langfristige, systematische Analyse der okzidentalen Staats- und Gesellschaftsbildung und damit eine erfrischende Alternative zu überkommenen individualistischen oder strukturalistischen Deutungsversuchen. Seit der postmodernen Dekonstruktion der Modeme und der damit einhergehenden Pluralisierung der Geschichtswissenschaft ermöglicht es die Figurahanstheorie von Elias, sich in der neuen historischen ,Unübersichtlichkeit' zumindest ein wenig zurechtzufinden und wieder Mut für makrohistorische Fragestellungen zu schöpfen. Sucht man nach einer ähnlich gelagerten Staats- und Gesellschaftstheorie für das 19. Jahrhundert, dem sich Elias kaum zuwendet, so ist vornehmlich Lorenz von Stein und sein grundlegendes Werk über die ,Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich' anzuführen. Steins Theorie der staatlichen und sozialen Bewegung steht noch immer im Schatten von Hegel, Marx und Weber. ,,Stein gehört zu den wenigen Forschern des vergangenen Jahrhunderts, die vor der Beschleunigung in der Geschichte nicht kapitulierten" und ihre Gesetzmässigkeiten und Mechanismen von einer Warte aus zu erfassen suchten, die einseitig idealististischer oder materialistischer Orientierung abhold ist. 76 Mit prägnanten Formulierungen gelingt es Stein, am paradigmatischen Beispiel Frankreichs die staatliche und gesellschaftliche Entwicklung Europas von 1789 bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts als einen strukturierten, gerichteten, aber in sich vielfach differenzierten und in keiner Weise determinierten Prozess darzustellen. Stein begriff sich als Prognostiker der modernen europäischen Geschichte, aber nicht als deren Prophet. 77 Die Prognose unterscheidet sich von der Prophetie, indem sie Geschichte als Bewegung, als einen in gewisser Hinsicht nachvollziehbaren, aber insgesamt ungeplanten Prozess versteht, dessen Struktur, Entwicklungslinien und Abschnitte durch kritische Distanzierung, da~heisst durch räumlich-zeitliche Synthesemodelle annähernd zu erfassen sind. Auch wenn sich Elias nicht auf Stein beruft, sind methodische und inhaltliche Parallelen nicht zu übersehen. Beide suchen nach Bewegungsgesetzen der okzidentalen Geschichte und beschäftigen sich dabei vorzugsweise mit der Geschichte des französischen Königtums. Während sich Elias dem Zeitalter des Absolutismus zuwendet, behandelt Stein die Epoche von der Französischen bis zur 1848er Revolution. Dreh- und Angelpunkt beider Untersuchungen ist der von Elias so genannte "Königsmechanismus". 78 Er besteht darin, dass der König über die Verteilung monopolisierter Chancen das soziale Kräftemessen möglichst im Ausgleich zu halten versucht, um seine Position als zentrale Kontroll- und Regelungsinstanz abzusichern. Je besser es ihm gelingt, die konkurrierenden Interessen der wichtigsten Funktionsgruppen gegeneinander auszuspielen, um so grösser wird seine Macht im 75

76

Vgl. den, im Fazit allerdings verfehlten, Aufsatz von Schwerhoff, Zivilisationsprozess. Koselleck, Geschichtliche Prognose, S. 91. Vgl. auch Böckenförde, Lorenz von Stein,

S.170-77. 77 V gl. Koselleck, Geschichtliche Prognose, S. 87 - 92. 78 Elias, Die höfische Gesellschaft, S. 41, und Prozess der Zivilisation, Bd. II, S. 250.

II. Geschichte als Bewegung: Norbert Elias und Lorenz von Stein

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sozialen Kräftespiel. Da Macht ein Beziehungsbegriff ist, "eine Struktureigentümlichkeit menschlicher Beziehungen", besitzt der König nur so lange Macht, wie er das soziale Kräfte- und Spannungsverhältnis auszubalancieren vermag.79 Auch Steins Intention geht dahin, die Funktion und Macht des Königtums als Teil eines sozialen Verflechtungszusammenhanges zu bestimmen. "Niemals wird man das Königtum verstehen, wenn man es nicht aus dem Standpunkte der Gesellschaft betrachtet."80 Für Stein war das Königtum bis ins Hochmittelalter eine im wesentlichen feudale Institution, die aus dem Lehensadel des Landes hervorging und diesem auch weitgehend unterworfen war. "Es beginnt alsdann den Kampf gegen die Herrschaft dieser Klasse, indem es sich selber einerseits mit einem mächtigen, von ihm allein abhängigen und von der Idee seiner Majestät und seines Rechts innigst durchdrungenen Beamtenstande umgibt, andererseits die bisher durchaus beherrschte Klasse der Gewerbetreibenden zu sich heranzieht" und sich dadurch den Feudaladel allmählich dienstbar machte. 81 Die feudale verwandelte sich im Spätmittelalter in die ständisch verfasste Monarchie, in der König und Stände um die politische Vorherrschaft rangen, aber auch die Stände unter sich in Konkurrenz standen. Dem Königtum verlieh dieses Spannungsgefüge eine bislang einzigartige, beinahe absolute Machtfülle. Der Adel blieb trotz Verlust seiner politischen Selbständigkeit vorerst die führende Klasse im Staat, verlor aber "die Bedingungen seiner Herrschaft, den Besitz und die Bildung, mehr und mehr an die beherrschte Klasse der Gewerbetreibenden oder des dritten Standes". 82 Das Kräfte- und Spannungsverhältnis zwischen monarchisch-bürokratischem Staatsapparat und Ständeturn zeitigte in den europäischen Staaten unterschiedliche Formen und Folgen. Stein konzipiert eine Verfassungstypologie, welche sich von West nach Ost zieht. Im Westen obsiegte die staatsbürgerliche, der Rechtsgleichheit und (Erwerbs-)Freiheit verpflichtete Gesellschaft über die ständisch-monarchische, während im Osten das Königtum scheinbar absolut dastand, in Wirklichkeit jedoch Adel und Bürokratie herrschten. In England wurde der Monarch bereits 1689 parlamentarisch eingebunden, während er in Frankreich in der Restaurationszeit versuchte, im Bündnis mit dem Adel seine ehemals starke Position zurückzugewinnen. Die Julirevolution setzte diesem Bestreben ein Ende und etablierte die allgemeine staatsbürgerliche Verfassung. Deutschland und besonders Preussen bildeten gleichsam den Schnittpunkt zwischen westlichem und östlichem Königtum. Der preussische Monarch vermochte die landständische Macht des Adels zu brechen, ohne "eine herrschende Klasse der Gewerbetreibenden zu erzeugen" und wurde "dadurch souverän in Verbindung mit seiner Beamtenweit". 83 Dieser Zustand konnte aber kaum von langer Dauer sein, zumal sich die Klasse der Besitz- und Bildungsbürger sukzessive

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80 81

82 83

Ders., Was ist Soziologie?, S. 77. Stein, Geschichte der sozialen Bewegung, Bd. III, S. 35. Ebd., S. 42 f. Ebd., S. 43. Ebd.

3 Ruetz

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1. Teil: Theorie und Definition des Konservativismus

emporarbeiten würde "und der Zeitpunkt naht, wo sie mit dem noch immer herrschenden Adel den Kampf ernstlich beginnen will". 84 Die zwei grossen Phasen der europäischen Staatsbildung, die Konsolidierung und die Verteilung des Gewaltmonopols, lassen sich nur vor dem Hintergrund der Säkularisierung von Politik und Recht in ihrer historischen Einmaligkeit begreifen.85 Diesen zentralen Aspekt heben sowohl Elias wie auch Stein nicht ausreichend hervor. Es genügt nicht, die Soziogenese des Staates aus dem im Feudalismus angelegten wechselseitigen Kampf um Boden und Gebietshoheit zu erklären. Der ,Monopolmechanismus', der sich grundsätzlich aus jeder Konkurrenzfiguration ergibt, liefert keine zwingenden Argumente für die Einzigartigkeit und die Schnelligkeit der okzidentalen Staats- und Gesellschaftsbildung. Elias bemerkt dazu: "Was den Zivilisationsprozess des Abendlandes zu einer besonderen und einzigartigen Erscheinung macht, ist die Tatsache, dass sich hier eine Funktionsteilung so hohen Ausmasses, Gewalt- und Steuermonopole von solcher Stabilität, Interdependenzen und Konkurrenzen über so weite Räume und so grosse Menschenmassen hin hergestellt haben, wie noch nie in der Erdgeschichte. " 86 Die von Elias genannten Vorgänge wie die Konzentration der politischen Gewalt, der Aufbau eines arbeits- und funktionsteiligen Verwaltungsapparates, eines einheitlichen Steuer-, Heer-, und Rechtswesens, aber auch der Konkurrenzkampf von Adel und ständischem Bürgertum um die Verteilung der ,monopolisierten Chancen' lassen sich in ähnlicher Form bei der Verrechtlichung und Institutionalisierung des römischen Prinzipats feststellen. 87 Insofern würde der Spruch von Ben Akiba ,Alles schon dagewesen' zutreffen und die Theorie von der ungeplanten, aber gleichwohl strukturierten und gerichteten Staats- und Zivilisationsentwicklung hinfallig werden. _--~eil ~pezifischen Konkurrenzkampf zwischen Papsttum und weltlichen Fürsten im Mittelalter streift Elias nur kurz. "Dieser Kampf', so schreibt er, "endet überall damit, dass der Papst auf seine geistliche Vormachtstellung zurückgeworfen wird, dass der weltliche Charakter der Kaiser und Könige wieder reiner hervortritt". 88 Es ist gerade diese Konkurrenzfiguration zwischen Papsttum und weltlichen Fürsten, welche in der abendländischen Geschichte schöpferische Kräfte von letztlich weltumspannendem Ausmass freisetzte. Die mittelalterlich feudal-ständische Gesellschaftsordnung war eine religiös-politische Einheit. 89 Die christliche Religion bildete nicht nur das Fundament, sondern auch das Ziel aller Politik. Nach der christlichen Offenbarungs- und Heilsgeschichte verstanden sich die frühmittelalterlichen Herrscher als Kämpfer für eine christliche Weltordnung, als Beschützer der Kirche 84

85 86 87

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Ebd. S. 44. Zum Begriff Säkularisierung vgl. Lübbe, Säkularisierung, S. 9-33. Elias, Prozess der Zivilisation, Bd. II, S. 336. Vgl. Kar! Christ, Geschichte der römischen Kaiserzeit, München 1995, S. 86-120. Elias, Prozess der Zivilisation, Bd. II, S. 252. Vgl. den aussagekräftigen Aufsatz von Böckenförde, Entstehung des Staates.

II. Geschichte als Bewegung: Norbert Elias und Lorenz von Stein

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und des christlichen Glaubens. 90 Das Bündnis zwischen Thron und Altar verkörperte den gemeinsamen Willen, das Seelenheil der Menschen zu sichern und selbstredend die weltliche und kirchliche Machtstellung auszubauen. Die erste, schwere Erschütterung erfuhr die religiös-politische Einheit mit dem Investiturstreit. Er entzündete sich an der machtpolitischen Frage nach der Suprematie von König- oder Papsttum über die abendländische Christenheit. Den Machtkampf entschied ein Kompromiss mit weitreichenden Folgen für die okzidentale Geschichte. Das selbstverständliche Sakralkönigtum wurde aufgehoben und die königlich-weltliche von der päpstlich-geistlichen Gewalt geschieden, was in der ,Zweischwerterlehre' seine gedankliche Ausformulierung fand. Die weltliche Herrschaft gewann durch ihre Entsakralisierung einen ungeahnten schöpferischen Freiraum, in welchem sich die fundamentale Abkehr vom klassisch-antiken und mittelalterlichchristlichen Rechts- und Politikverständnis vollziehen sollte. Politik und Recht wurden auf sich selbst zuriickgeworfen und begannen sich als eigener, von der Letztbegrundung in einer vernünftigen oder göttlichen Seinsordnung befreiter Bereich zu etablieren. 91 Sie erlangten dadurch eine historisch noch nie dagewesene Aufwertung als Instrumente zur Schaffung irdischen Wohlergehens. Für die antiken und mittelalterlichen Regenten war eine solche Auffassung nicht denkbar. Sie hielten die Organisation der Gesellschaft für einen Teil der vorgegebenen, vernünftigen oder göttlichen Weltordnung und daher nur insofern für verfügbar, als es das Alte, durch die Tradition oder den Glauben Legitimierte zu bewahren oder zu restituieren galt. 92 Politik und Recht blieben deshalb weitgehend reaktiv und individuell-konkret, das heisst frei von vorausschauender Planung, von begrifflicher Systematik und Theorie. Die Grundsteine zur neuzeitlich-säkularen Politik- und Rechtslehre wurden im 14. Jahrhundert mit der Auflösung des Thomistischen Weltbildes gelegt. Zu den wegbereitenden Denkern gehört Marsilius von Padua.93 Sein Werk ,Defensor Pacis' ist eine kirchenpolitische Streitschrift mit der Absicht, den noch immer schwelenden Herrschaftskonflikt zwischen Kaiser und Papst zugunsten des Kaisers auszulegen. Was Thomas von Aquin mit seiner Aristoteles-Rezeption begonnen hat, nämlich zwischen Glauben und Wissen, zwischen Theologie und Philosophie zu unterscheiden, führt Marsilius in dem Sinne konsequent zu Ende, als er philosophische Vernunft und religiösen Glauben strikte trennt und die erstere für das diesseitige Gutleben, den letzteren für das jenseitige Heil beansprucht. Politik und 90 Zum linearen jüdisch-christlichen Zeit- und Geschichtsbegriff und zum grundsätzlichen Unterschied zwischen dem jüdisch-messianischen und dem christlichen Offenbarungsglauben vgl. Cullmann, Christus, S. 60 - 90. Vgl. auch Brunner, Geschichtsdenken, S. 33. 91 Vgl. Böckenförde, Entstehung des Staates, S. 94-97. Vgl. auch ders., ,Macht der Entzweiung', NZZ, 139, 19./20. Juni 1999. 92 Für die Antike vgl. z. B. Jochen Bleicken, athenische Demokratie, München 1991, S. 275-77, 396, oder ders., Regierungsstil des römischen Kaisers, Wiesbaden 1982. Zum Mittetaler vgl. Kern, Gottesgnadentum, S. 142-152. 93 Vgl. Marsilius von Padua, Defensor Pacis, Teil I.

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1. Teil: Theorie und Definition des Konservativismus

Recht bestimmt Marsilius rein innerweltlich als Garanten irdischen Wohlergehens. Das ewige Heil zu erlangen gehört in den Bereich des Unpolitischen und ist Sache von Kirche und Klerus. Das meint noch keine Trennung von Kirche und Staat, aber eine Aufgabenteilung, freilich nach Vorschrift der weltlichen Gewalt. Der Staat ist keine natürliche, göttlich gewollte, sondern eine vernunftgernäss konstruierte menschliche Gemeinschaft zum Zwecke der optimalen Bedürfnisbefriedigung. Indem Marsilius das politische Denken des Aristoteles von metaphysischen und christlich-theologischen Implikationen entbindet, den Menschen als ein Wesen definiert, dessen primäres Bedürfnis es ist, im Diesseits gut zu leben, begründet und rechtfertigt er die Autonomie von Politik und Recht. Das positive Recht hat keinen transzendenten Ursprung mehr, wird vom Menschen nicht gefunden, sondern nach rationaler Planung geschaffen und durchgesetzt. Weil keine andere Quelle des positiven Rechts als der menschliche Gesetzgeber anerkannt wird, verlagert sich folgerichtig das Gewicht auf die politischen Institutionen und auf korrekte und effiziente Verfahren zur Entscheidungsfindung.94 Nach Marsilius gelang es Machiavelli, die neuzeitliche Politiklehre nachhaltig zu beeinflussen. Er ist der eigentliche Begründer des Gedankens der Staatsraison, also der zweckdienlichen, den grösstmöglichen Erfolg versprechenden Anwendung politischer Gewalt um der Selbsterhaltung der staatlichen Gemeinschaft willen. Der Machiavellismus ist keine Lehre, sondern eine Maxime des Handelns. Diese lässt sich auf den Nenner bringen, dass Politik die Kunst des Möglichen ist. Machiavellis Gedanken in ,Il Principe' über die ,Gesetze' der Politik brechen radikal mit dem klassisch-antiken und mittelalterlich-christlichen Tugendideal, der Harmonie von Politik und Ethik, wie sie noch Baldassare Castiglione, ein Landsund Zeitgenosse von Machiavelli, in seinem berühmten Buch ,Il Cortegiano' lehrte. Was in der Politik für Machiavelli zählt, ist allein der Erfolg in der Form einer nach innen wie nach aussen gesicherten politisch-sozialen Ordnung. Diese säkularisierte, sittlich normfreie Legitimationserteilung für politische Machtausübung zum Zwecke einer festen staatlichen Ordnung hat seit je heftigen Anstoss erregt und eine Fülle antithetischer Machiavelli-Interpretationen hervorgebracht. Obwohl der Investiturstreit die Spaltung der mittelalterlich politisch-religiösen Einheitswelt und den autonomen Status von Politik und Recht beförderte, blieb die christliche Religion bis Ende des 15. Jahrhunderts als die politische und soziale Einheit verbürgende Kraft bestehen. Die Unterordnung von Religion und Kirche unter die Belange von Politik und Recht und damit die zweite Phase der Säkularisierung setzte erst im Zuge der Reformation und der anschliessenden Konfessionskriege im 16. und 17. Jahrhundert ein. Mit der Konsolidierung der landesherrlichen Gebietsherrschaft hatten Könige, Fürsten und auch Stadtregimente die Kontrolle über die Kirche erlangt und wurden in den protestantischen Territorien selbst zur obersten kirchlichen Autorität. Weil der Konfessionsstreit die erreichte Territorialherrschaft ernsthaft bedrohte, sahen sich die jeweiligen weltlichen Obrigkeiten ge94

Vgl. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 29 f.

II. Geschichte als Bewegung: Norbert Elias und Lorenz von Stein

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zwungen, Partei für die eine oder andere Konfession zu ergreifen. Die obrigkeitliche Forderung nach konfessioneller Homogenität und folglich konfessioneller Intoleranz entsprang in erster Linie politischen Motiven. 95 Sie bezweckte Rechtsfrieden und innen- wie aussenpolitische Stabilität für die territorial und institutionell organisierte ,Untertanengesellschaft' .96 Politik, Religion und Kirche fanden sich erneut zu einer Einheit zusammen, aber diesmal unter weltlichem Vorzeichen. Die faktische Garantierung der Religion durch die Politik und die Herstellung konfessioneller Geschlossenheit durch das Eingreifen der staatlichen Obrigkeiten bewirkte die Synthese von säkularer Herrschaft und theologischer Herrschaftsbegriindung. 97 Aber gleichzeitig schuf die Konfessionalisierung auch die Grundlage für konfessionelle Toleranz und die rechtliche Trennung von Politik und Religion, von Staat und Kirche; denn die Entscheidung für die Staatsreligion war keine Wahrheitsfrage mehr, sondern eine politische. Im 19. Jahrhundert schliesslich diente das Christentum unter den Begriffen wie ,Heilige Allianz', ,christlicher Staat' und ,Gottesgnadentum' nur mehr als "Dekor für höchst weltliche Geschäfte, eingesetzt zur Stabilisierung von Machtlagen und zur Sanktion zeitbedingter politisch-sozialer Verhältnisse, um sie gegenüber einem verändernden Zugriff zu konservieren".98 Ideengeschichtlich lässt sich der Übergang von einer theologischen Rechtfertigung souveräner Herrschaft zu einer rein säkularen an den Staatslehren von Bodin und Hobbes am sichtbarsten aufzeigen. Unter dem Eindruck der Hugenottenkriege sowie der Emanzipation des französischen Königtums von päpstlichen, kaiserlichen und ständischen Macht- und Mitwirkungsanspriichen erklärt Bodin die absolute Souveränität des Königs, der selbst nur von Gott Gesetze annehme, zum bestimmenden Wesensmerkmal des Staates.99 In Anknüpfung an die Souveränitätsidee von Bodin legte Hobbes das vollständige Fundament zur neuzeitlich-säkularsierten Staats- und Politiklehre. 100 Hobbes ist der erste politische Denker, welcher die staatliche Souveränität durch vertragliche Übereinkunft autonomer Individuen legitimiert. Die konfessionellen Bürgerkriege seines Zeitalters und besonders auch der Machtkampf zwischen der englischen Krone und dem Ständeparlament brachten Hobbes zur Einsicht, dass ein dauerhaft friedliches und sicheres Zusammenleben der Menschen nur durch eine homogene und wirksame rechtliche Verhaltensordnung gewährleistet werden kann. Diese zu errichten und ihre Befolgung nötigenfalls mit Gewalt zu erzwingen, ist die Aufgabe des mit absoluter Zwangsmacht ausgestatteten Souveräns. Es ist das grundlegend Neue und typisch Aufklärerische an der Hobhesseben Anthropologie, auf die spezifisch menschliche Fähigkeit zur Vgl. Böckenförde, Entstehung des Staats, S. 100-104. Vgl. Schilling, Konfessionalisierung, S. 6. 97 Vgl. Reinhard, Zwang zur Konfessionalisierung, S. 268. 98 Böckenjörde, Entstehung des Staats, S. 109. 99 Vgl. Bodin, Six livres de Ia republique (1576). wo Vgl. Hobbes, Leviathan, Teil I und II (1651). 95

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l. Teil: Theorie und Definition des Konservativismus

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vorausschauenden Planung hinzuweisen. 101 Indem sich die Menschen künftige Bedürfnislagen vergegenwärtigen können, werden sie unaufhörlich gezwungen, sich um die Sicherung ihrer Zukunft zu sorgen, womit sich eine neue Dimension im Konkurrenzkampf um knappe Güter eröffnet. Auf der Stufe der menschlichen Existenz bricht für Hobbes im fiktiv rechtlosen, sogenannten Naturzustand der Krieg eines jeden gegen jeden um die Akkumulierung von Macht zur Befriedigung gegenwärtiger und künftiger Bedürfnisse aus. Durch die Fähigkeit zur vorausschauenden Planung verliert die Glückseligkeit ihren statischen Charakter und wird zum Progress, zu einem endlosen Fortschreiten des Verlangens von einem Gegenstand zum nächsten. Erst mit der vertraglichen Einsetzung einer souveränen Staatsgewalt lässt sich für Hobbes das stetige Streben der Menschen nach Machtakkumulation disziplinieren und zum Vorteil eines jeden in rechtlich geregelte Bahnen lenken. Der Souverän verfügt dazu über die Schlüsselkompetenzen im Staat, seine Gewalt ist absolut und unteilbar. Indem Hobbes den Souverän mit der Monarchie gleichsetzt, liefert er eine vertragstheoretische, rein säkulare Legitimation des Absolutismus, während spätere führende Vertragstheoretiker wie Locke, Rousseau, Kant oder jüngst Rawls das rechtsstaatliche, demokratische und sozialstaatliche Prinzip ins Zentrum rücken. Hobbes ist der Begründer der aufklärerisch politischen Philosophie. Er kehrt sich vollumfanglieh von der aristotelischen Polislehre und ihrer scholastischen Auslegung ab, entpolitisiert alle Metaphysik und Theologie, damit der Staat seine alleinige Aufgabe als Stifter ,irdischer Glückseligkeit' wahrnehmen kann. Das Denken der Aufklärung ist die radikale Erwiderung auf die klassisch-antike und mittelalterlich-christliche Idee einer unabänderlichen vernünftigen oder göttlichen Seinsordnung, in der alle Menschen den ihnen zukommenden Platz einnehmen. "Weltentfremdung und nicht Selbstentfremdung, wie Marx meinte, ist das Kenn~~i~b.t:n der Neuzeit." 102 An Stelle der Gewissheit einer natürlichen Seinsordnung tritt der aufklärerische universale Zweifel, wie ihn Descartes in der berühmten Formulierung "De omnibus dubitandum est" auf den Punkt bringt. 103 Das Wesen des aufklärerischen Zweifels liegt darin, alle substantiellen Überzeugungen von der Welt in Frage zu stellen und sich damit sowohl gegen die klassisch-antike Vorstellung einer natürlichen Ordnung des Seins aufzulehnen als auch gegen den jüdischchristlichen Glauben an eine göttliche Heilsgeschichte. Die Aufklärung ist keine säkularisierte, irdische Heilserwartung, sondern stete Skepsis und daher in ihrer Entwicklung offen. Sie bietet den Nährboden für das universale Fortschrittsprinzip, welches wiederum die treibende Kraft für den kontinuierlichen Aufstieg von Wissenschaft, Technik und der kapitalistischen Produktionsweise ist. 104 Das neuzeitlich-aufklärerische Politik- und Rechtsdenken differiert vom klassisch-antiken und 101 102 103

104

Vgl. Bischof, Rätsel Ödipus, S. 540. Arendt, Vita activa, S. 325. Vgl. ebd., S. 348. Vgl. ebd., bes. Kapitel III.

III. Entstehung, Inhalt und Funktion des Konservativismus

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mittelalterlich-christlichen grundsätzlich darin, dass es den Menschen nicht mehr als Teil einer unabänderlichen metaphysischen oder theologischen Seinsordnung begreift, auf welche hin er seine Anlagen und Fähigkeiten zu entfalten hat. 105 Quelle und Mass der sozialen und politischen Ordnung ist in der neuzeitlichen Staatslehre der Mensch. Mit diesem Wechsel der Perspektive geht die Auflösung der überkommenen aristotelisch-scholastischen Sozialtheorie einher. Diese führt das politische Gemeinwesen auf die Familie als kleinste soziale Einheit zuriick. 106 In der Familie herrscht der Hausherr über Frau, Kinder, Gesinde und Sklaven. Die jeweiligen Hausherren bilden als Gleiche unter Gleichen nach dem Polis-Modell des Aristoteles das politische Gemeinwesen oder unterwerfen sich nach dem scholastischen Modell dem nächst grösseren Hauswesen bis hinauf zum König als Spitze der sozialen Pyramide. In Umkehr dazu geht das neuzeitliche Staatsverständnis vom Individuum als kleinste soziale Einheit aus. An die Stelle der mittelalterlich sozialen Pyramide, welche sich durch eine abgestufte Rechtsprivilegierung auszeichnet, tritt nun die formelle Gleichheit aller Individuen vor der souveränen Staatsgewalt. Die Individuen werden staatsunmittelbar in dem Sinne, als der Souverän als höchste Rechtsautorität prinzipiell den gleichen Zugriff auf alle ,Untertanen' besitzt. Mit der Auflösung der Familie in autonome Individuen nimmt auch die neuzeitliche Vertragslehre ihren Anfang. Nach der scholastischen Auslegung steht das ständisch gegliederte Volk im körperschaftsrechtlichen Sinne dem Herrscher gegenüber und erteilt ihm mittels Vertrag die Regentschaftsbefugnis. Die neuzeitliche Vertragstheorie konstituiert den Staat durch die gegenseitige vertragliche Bindung autonomer Individuen, welche dann den Souverän durch einen Herrschaftsvertrag einsetzen.

111. Entstehung, Inhalt und Funktion des Konservativismus Der Konservativismus und der Liberalismus sind ideologische Gegenspieler. 107 Sie haben ihren Ursprung in der spezifisch kontinentaleuropäischen Konkurrenzfiguration zwischen dem allmählich absteigenden Adel und Klerus auf der einen und dem aufstrebenden Bürgertum auf der anderen Seite. Beide kämpften um die Verteilung der monopolisierten ,Chancen' innerhalb der friihneuzeitlichen absolutmonarchischen Staatsordnung. Die Fürsten und ihr Verwaltungsapparat versuchten als "lnteressenzentrum eigener Art" den zentrifugalen ständischen Machtanspmehen entgegenzuwirken und das Kräftemessen möglichst ausgeglichen zu halten, 105 Vgl. Aristoteles, Politik, 1252b f., Nikomachische Ethik, 1097a f., 1169b, Cicero, De legibus, I, 18, Aurel, Selbstbetrachtungen, IV 40, V 3, Thoi1Uls von Aquin, Summa theologica, I, 103, 1, I II 93, I , I 48, 1, I II 18, 1 ff., I II 93, 6. 106 Vgl. Arendt, Vita activa, S. 38-43; Kose/leck, Auflösung des Hauses, S. 113 f., und Brunner; Das ganze Haus, S. 112. 107 Zum Ideologiebegriff vgl. Brunner; Zeitalter, S. 49 f.

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1. Teil: Theorie und Definition des Konservativismus

das heisst, die jeweiligen ständischen Interessen und Ansprüche durch Vergabe von Ämtern und Privilegien gegeneinander auszuspielen, um sich als integrierende und lenkende Instanz im sozialen Kräftespiel zu etablieren. 108 Diesen ständischen Verflechtungszusammenhang nennt Elias "Königsmechanismus". 109 "Die Stunde der starken Zentralgewalt innerhalb einer reich differenzierten Gesellschaft rückt heran, wenn die Interessenambivalenz der wichtigsten Funktionsgruppen so gross wird und die Gewichte sich zwischen ihnen so gleichmässig verteilen, dass es weder zu einem entschiedenen Kompromiss noch zu einem entschiedenen Kampf und Sieg zwischen ihnen kommt." 110 Die Fürsten, die es vermochten, ihre übergeordnete Herrschaftsposition durch die Verfügungsgewalt über die Schlüsselkompetenzen wie Finanzen, Justiz und Militär abzusichern, erlangten eine in der europäischen Geschichte einzigartige Machtfülle, die man als Absolutismus oder neuerdings zutreffender als absolute Monarchie zu bezeichnen pflegt. 111 Die innere ständische Konkurrenzfiguration, aber auch die äussere machtstaatliche Verflechtung zwangen die Fürsten zu einer Intensivierung und Differenzierung ihres Verwaltungsapparates und zur Schaffung eines stehenden Heeres, was wiederum steigenden Geldbedarf und geregelte Einnahmen zur Konsequenz hatte. 112 Dies zu organisieren und zu erzwingen, erforderte seinerseits einen Verwaltungsapparat, dessen Personal die Fürsten aus den aufstiegswilligen, juristisch geschulten bürgerlichen Schichten rekrutierten, welchen sie für eine Verwaltungslaufbahn Privilegien und soziales Prestige, besonders durch Verleihung von Adelstiteln, in Aussicht stellten. 113 Die ,Entfunktionalisierung' des alten feudalen Adels kompensierten die Fürsten durch dessen soziale Aufwertung in Form der höfischen Gesellschaft und Kultur, womit sie gleichzeitig ihre eigene Person zu erhöhen trachteten. 114 Ausser durch Einbindung in die Hofgesellschaft sollte der Bestand des Adels durch privilegierten Zugang zu leitenden Stellen in Verwaltung, Armee und Kirche, durch gutsherrliche Privilegien und Steuerbefreiung gesichert werden. Ebenso trugen die Pnviieglen desKlerus, dessen höhere Vertreter vorwiegend adeliger Herkunft waren, zum Existenzerhalt des Adels und gesamthaft zum ständischen Gleichgewicht innerhalb des absolut-monarchischen Herrschaftssystems bei. Der Königsmechanismus band die Stände in einer Weise, dass keiner von ihnen aus der Verflechtung zu entrinnen vermochte, ohne an Macht zugunsten des Konkurrenten einzubüssen. Was sie einigte, war das "Interesse an der Aufrechterhaltung ihrer verschiedenen Privilegien. Denn durch Sonderrechte, durch Privilegien ist nicht nur die soziale Existenz des Adeligen oder des Amtsinhabers ausgezeichnet; auf Privilegien ruht Elias, Prozess der Zivilisation, Bd. II, S. 239, und Die höfische Gesellschaft, S. 254 f. Ders., Prozess der Zivilisation, Bd. II, S. 236. Zur Idee des Königsmechanismus vgl. auch Stein, Geschichte der sozialen Bewegung, Bd. Ill, S. 15-45. 110 Elias, Prozess der Zivilisation, Bd. li, S. 236. 111 Vgl. Hinrichs, Abschied vom Absolutismus, S. 371. 112 Zum machtstaatlichen Aspekt vgl. Reinhard, Kriegsstaat. 113 Vgl. Elias, Prozess der Zivilisation, Bd. II, S. 239, 244 f. 114 Zur ,Verhöflichung' des Adels vgl. ders., Die höfische Gesellschaft, bes. S. 270 f. 108 109

III. Entstehung, Inhalt und Funktion des Konservativismus

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auch die Existenz des Kaufmanns in dieser Zeit; von Privilegien hängt der Bestand des Zunfthandwerks ab." 115 Alle Privilegienträger waren in ihrer Absicht gehindert, sich auf Kosten der anderen auszubreiten, zumal eine gravierende Störung des Kräftegleichgewichts dem ständischen Privilegiensystem das Ende bereitet hätte. 116 Aus dem Lot kam die ständisch verfasste absolute Monarchie mit dem raschen und unkontrollierbaren Anwachsen besitz- und bildungsbürgerlicher Schichten als Produkt der industriellen und technisch-wissenschaftlichen Dynamik. Sie waren auf die Ordnungsmittel der Feudalgesellschaft, das besondere Recht und Privileg, nicht mehr angewiesen und bekämpften den monarchisch garantierten ständischen Herrschaftskonsens als überholt. Das Fanal zum bürgerlichen Aufstand gegen die absolut-monarchische Staats- und ständische Gesellschaftsform gab die Französische Revolution. Sie war in der Tat "nicht einfach ein Kampf des Bürgertums gegen den Adel. Durch sie wird die soziale Existenz des ständischen Bürgertums, voran die der Robe, der privilegierten Amtsinhaber des dritten Standes und auch die des alten, ständischen Zunfthandwerks ganz ebenso vernichtet, wie die des Adelsstandes. Und dieses gemeinsame Ende beleuchtet mit einem Schlage die ganze, soziale Verwicklung, die spezifische Kräftekonstellation der vorangehenden Phase." 117 Mit der ,Declaration du droit de l'homme et du citoyen' von 1789 und der Verfassungsschöpfung von 1791 vollzog sich der revolutionäre Übergang von der ständisch-monarchischen zur staatsbürgerlichen, konstitutionell-monarchischen Gesellschaftsordnung. Die feudalen Stände, Rechte und Eigentumsverhältnisse wurden aufgehoben, wobei sich die beiden ersten Stände, der Adel und Klerus, durch eine offizielle Verzichtserklärung auf alle Privilegien gleich selbst entmachteten. 118 Von Frankreich aus gingen die wesentlichen Impulse für die Entstehung des Konservativismus und Liberalismus im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Das "missionarisch"-hegemoniale Streben des republikanischen und dann bonapartistischen Frankreich brachte weite Teile Europas in direkte oder indirekte Abhängigkeit und wirkte sich in einer teilweise tiefgreifenden territorialen und politisch-sozialen Umgestaltung nach französischem Muster aus. Der Zusammenbruch der Herrschaft Napoleons und die ansebliessende Restaurationsphase mit dem Wiener Kongress von 1815 als Ausgangspunkt verhalfen den monarchischen und feudal-ständischen Staats- und Gesellschaftsstrukturen zu einem verlängerten Dasein. In den 1820er Jahren und vor allem seit der Julirevolution von 1830 erhob sich das Bildungs- und Besitzbürgertum jedoch entschlossen gegen die alte Ordnung, wobei die revolutio115

Ders., Prozess der Zivilisation, Bd. II, S. 246. Vgl. a. ders., Die höfische Gesellschaft,

s. 257.

Vgl. ders., Die höfische Gesellschaft, S. 402. Ders., Prozess der Zivilisation, Bd. II, S. 247. Vgl. a. ders., Die höfische Gesellschaft, S. 399. 118 Vgl. Stein, Geschichte der sozialen Bewegung, Bd. I, S. 205 - 219. 116

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1. Teil: Theorie und Definition des Konservativismus

nären Umtriebe durch Kleinbürger, Studenten und Arbeiter ihren politischen Zielen zum Vorteil gereichten. Das kontinentale Europanach 1815 zeichnete sich mit Ausnahme von Frankreich durch das konkurrierende Nebeneinander zweier gesellschaftlicher Ordnungssysteme aus. Die feudale Ständegesellschaft, welche sich im Spätmittelalter herausgebildet hatte, beruhte auf dem Geburtsprinzip und fest umrissenen Rechten und Pflichten der Standesangehörigen. Die Stände waren herrschaftlich-politische Gebilde und gegeneinander abgeschlossene Rechtsklassen, die auf dem festen und einheitsverbürgenden Boden der christlichen Religion standen. Das Recht- persönliches, Berufs-, Gewerbe- und Eigentumsrecht- war Privilegienrecht, und die Stände waren sogenannte Privilegskorporationen. Das Privileg fusste auf dem Prinzip der Rechtsungleichheit und war insofern kein Vorrecht, wie von der liberalen Gegnerschaft dargestellt, sondern "einfach Ordnungsmittel einer übergreifenden (landesherrlichen oder königlichen) Herrschaftsgewalt", welche einen bestimmten Bereich ständischer oder korporativer Freiheit gewährte. 119 Die Quelle der Privilegien von Adel und Geistlichkeit war das feudale Patrimonialprinzip, nach welchem sich obrigkeitliche Rechte aus dem Eigentum von Grund und Boden ergaben. 120 Die staatsbürgerliche Gesellschaft verhielt sich gegenüber Herkunft und Farnilie gleichgültig und riickte das freie, erwerbsorientierte Individuum als gesellschaftlich ordnendes Element in den Mittelpunkt. 121 Die notwendige Grundlage der Staatsbürgergesellschaft waren die individuelle Freiheit und Rechtsgleichheit, die Erwerbsfreiheit und Eigentumsgarantie, auf denen der säkularisierte, bürgerliche Rechts- und Verfassungsstaat aufbaute. Die Begriffe Konservativismus und Liberalismus haben diesen Gegensatz der alten, feudalen, auf der Geburt und dem Privileg grundenden Ständegesellschaft und der neuen, freien, durch den Erwerb sich bildenden Staatsbürgergesellschaft zum Inhalt. "Es ist vollkommen klar", schrieb Stein 1849, "dass ein solches Nebeneinander stehenzweierdurchaus entgegengesetzter Elemente kein dauerndes sein konnte. Ueber kurz oder lang musste Ünveimeidlich der Kampf beider Systeme um die Herrschaft und damit um ihre gegenseitige Existenz ausbrechen. [ . . . ] Man glaubte, dass das Unvereinbare sich vereinen lasse; die tiefer Blickenden forderten, in Erwartung künftiger Entscheidung, zunächst nur einen Zustand der öffentlichen Ruhe; und so erhielt sich im äusserlichen Frieden eine Gesellschaft, die den Keim des Krieges mehr noch in ihrem Prinzipe als in ihrem Bewusstsein trug." 122 Liberalismus und Konservativismus waren keine blassen Vorstufen der organisierten liberalen und konservativen Parteien, sondern eigenständige politische Bewegungen, die sich im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts im kontinentaleuropäischen Raum formierten und für miteinander unvereinbare politisch-soziale und Böckenförde, Lorenz von Stein, S. 180. Vgl. Stein, Geschichte der sozialen Bewegung, Bd. I, S. 207 f., und Marx, Judenfrage, s. 196. 121 Vgl. Stein, Geschichte der sozialen Bewegung, Bd. I, S. 238 f., 463- 480; Marx, Judenfrage, S. 197 f., und Arendt, Vita activa, S. 50-52. 122 Stein, Geschichte der sozialen Bewegung, Bd. I, S. 484. 119

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III. Entstehung, Inhalt und Funktion des Konservativismus

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geistig-moralische Verfassungen kämpften. 123 Bewegung und Partei meinen zwei grundsätzlich verschiedene Formen von politischer Willensbildung, Organisation und Zielsetzung. 124 Die politische Bewegung hat einen umfassenden Anspruch. Sie enthält eine zeitliche Dimension, zielt auf eine politisch-soziale Totalität ab, verlangt Aktivität aller Beteiligten und verfügt gewöhnlich über einen niederen Organisationsgrad. Die politische Partei hat einen begrenzten Anspruch. Sie setzt den repräsentativen Verfassungsstaat als institutionellen Rahmen voraus, ist eine privatrechtliche Vereinigung Gleichgesinnter, die sich mit einem politischen Programm zur Wahl stellen, um Einfluss auf die staatliche Willensbildung zu nehmen. Der Begriff ,Bewegung' ist zwar durch die Nationalsozialisten, die sich gleichfalls als Bewegung typisierten, negativ besetzt, sollte aber deswegen nicht gemieden werden. Der Nationalsozialismus war in der Tat eine politische Bewegung, deren Ziel die Überwindung der Weimarer Republik und die Schaffung einer neuen, wie auch immer konfusen und verbrecherischen politisch-sozialen Ordnung war. 125 Formal unterschied er sich von anderen politischen Bewegungen, wie der Arbeiterbewegung, nicht. ,Bewegung' wurde seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert elementar erfahren und als politischer Begriff verwendet. 126 Das ,Staats-Lexikon' der badischen Liberalen Rotteck und Welcker vermerkt unter dem Stichwort "Bewegungs-Partei": "Mit dem Namen Bewegungspartei bezeichnet man in der grossen Spaltung, welche heut zu Tage durch alle europäischen, d. h. der europäischen Civilisation angehörigen Völker geht, diejenigen, die nach Fortschritten - zumal nach andauernden Fortschritten- im Staats- (oder auch im kirchlichen) Leben begehren und daher diejenigen Verbesserungen oder Entwickelungen deren sie die gesellschaftlichen Einrichtungen für bedürftig oder empfänglich achten, ohne Zeitverlust verwirklicht wissen wollen. [ . . . ] Die Partei der Bewegung hat sich zur Aufgabe gesetzt, ihre Rechtsüberzeugung so laut als möglich zu verkünden, gegen alles Unrecht den rastlosen Krieg zu führen und zur Begriindung eines besseren Zustandes (in Staat und Kirche) alle Wohlgesinnten zu einem eines jeden Stellung in der Gesellschaft angemessenen - d. h. ihm rechtlich zustehenden oder pflichtgernäss obliegenden - Thun und Wirken im Dienst der guten Sache aufzufordern." 127 Im Brockhaus steht, dass die "schöpferische Conception" des Liberalismus, "der begeisterte Schwung" und "die freudige Aufopferungsfähigkeit" verlorengehe, falls er zum "Parteiliberalismus" absinken würde. 128 Der Liberalismus war eine politische Bewegung für den konstitutionellen Rechtsstaat und formierte sich in den westlichen und mittleren Teilen Kontinental123 Vgl. ebd., S. 483 f., 489-503. Zur Unvereinbarkeit vgl. auch Mannheim, Konservatismus, S. 107, und Böckenförde, Lorenz von Stein, S. 206. 124 Zur grundsätzlichen Unterscheidung von Bewegung und Partei vgl. Hein, Partei, bes.

s. 70-76. 12s 126 127 128

Vgl. ebd., S. 87-96. Vgl. Koselleck, Neuzeit, S. 328 f., 339-348. ,Bewegungs-Partei', in: Rotteck, Staats-Lexikon, Bd. II, 1835, S. 558 - 560. ,Liberalismus', in: Brockhaus, Bd. VIII, Leipzig 1845, S. 736.

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1. Teil: Theorie und Definition des Konservativismus

europas im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. 129 Sein Kampf gegen monarchischbürokratische Staats- und ständische Gesellschaftsstrukturen kann je nach politischer Konstellation als Opposition oder Revolution bezeichnet werden. 130 Der Liberalismus griindete in der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft, wurde vom Bildungs- und Besitzbürgertum getragen und setzte sich eine entprivilegierte, säkularisierte, durch den freien Erwerb und Besitz sich organisierende Staatsbürgergesellschaft zum Ziel. Die liberalen Forderungen nach verfassungsmässiger Garantierung des Legalitäts- und Gewaltenteilungsprinzips, der Rechtsgleichheit sowie der Freiheits- und politischen Rechte richteten sich gegen die noch existierenden absolut-monarchischen und ständischen Gesellschaftsstrukturen. Dariiber hinaus war im Rechtsstaatsbegriff die Ablehnung von Theokratie, direkter Demokratie und jeglicher Art von Despotie enthalten. 131 Der Liberalismus umfasste verschiedene Strömungen wie eine konstitutionell-monarchische, eine parlamentarisch-monarchische und eine, für die Schweiz typische, parlamentarisch-demokratische. 132 Vom Liberalismus formal zu trennen ist die radikal-demokratische Richtung, deren Bestreben auf eine ,rein • demokratische und unitarische Staats- und Gesellschaftsordnung hinauslief. 133 Liberalismus und Nationalismus gehören hi129 Die Definition des Liberalismus als politische Verfassungsbewegung entspricht im wesentlichen derjenigen von Gall, welche noch immer den besten Zugriff auf das Phänomen ,Liberalismus'ermöglicht. Gall, Liberalismus, S. 162 f., definiert Liberalismus als eine auf den westlichen und mittleren Teil Kontinentaleuropas bezogene, bürgerliche, noch vorindustriell geprägte Bewegung für den repräsentativen Verfassungsstaat, die er losgelöst von "Liberalisierungstendenzen in Teilbereichen" verstanden wissen will, wie zum Beispiel "im wirtschaftlichen Leben, in den sozialen Beziehungen, in den kulturellen und kirchlichen Verhältnissen etc.". Diese Definition hat den Vorzug, dass sie den Liberalismus vom staatlichen Bürokratismus deutlich abhebt als auch die nötige Abgrenzung zum Konservativismus schafft, der, wie Gall jüngst schreibt, noch immer auf eine präzisere Definition wartet. Vgl. Gall, Vorwort, S. X, in: Ders., Bürgertum. Gleich wie Gall definieren: Koselleck, Geschichts·ctenken, S. 36; Fenske, Der deutsche Liberalismus, S. 3. 130 Vgl. Stein, Geschichte der sozialen Bewegung, Bd. I, S. 493. Er verwendet mit Blick auf Frankreich, wo Adel und Klerus bereits entprivilegiert waren, den Begriff ,Opposition' als Gegensatz zur ,Reaktion'. "Denn wie die Reaktion das ständische Prinzip, so vertritt die Opposition das staatsbürgerliche." Rotteck hingegen spricht aus deutscher Perspektive, wo die Ständegesellschaft noch vielfach intakt war, von Revolution als Gegensatz zur Reaktion. "Revolution und Reaction sind uns hiernach blos die gewissermassen conventionelle Benennung der beiden Hauptrichtungen der Neuzeit, jene nämlich die der Bestrebung nach der Herrschaft des Vernunftrechts, diese die der Vergötterung des historischen." ,Historisches Recht', in: Rotteck, Staats-Lexikon, Bd. VIII, 1839, S. 9. 131 Vgl. Böckenförde, Entstehung des Rechtsstaatsbegriffs, S. 144-150. 132 Vgl. Huber; Verfassungsgeschichte, Bd. II, S. 390-402. 133 Vgl. ebd., S. 402-414. Der substantielle Unterschied, den Huber zwischen Liberalismus und demokratischem Radikalismus sieht, ist übertrieben. Vgl. Fenske, Parteiengeschichte, S. 45. Liberalismus und Radikalismus wurden im damaligen Gebrauch nicht als inhaltliche Gegensätze, sondern als unterschiedliche Vorgehensweisen verstanden. Vgl. z.B. die Schrift von Wilhelm Traugott Krug, Geschichtliche Darstellung des Liberalismus, Leipzig 1823, zit. bei Vierhaus, Liberalismus, S. 761. Vgl. auch Rotteck, der Liberalismus und Radikalismus gar synonym verwendet. ,Historisches Recht', in: Rotteck, Staats-Lexikon, Bd. VIII, 1839, s. 12.

III. Entstehung, Inhalt und Funktion des Konservativismus

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storisch in der Weise zusammen, dass sich der Ruf nach dem konstitutionellen Rechtsstaat immer auf einen nationalen Rahmen bezog, wobei die Parole nach nationaler ,Einheit' und ,Freiheit' kein Selbstzweck, sondern ein wirkungsvolles Druck- und Rechtfertigungsmittel im Kampf gegen die Herrschaft der überkommenen sozialen Eliten war. 134 Wo sich der nationale Rechts- und Verfassungsstaat durchgesetzt hatte, war die Funktion des Liberalismus als oppositionelle oder revolutionäre Verfassungsbewegung erfüllt, so dass er rasch an Überzeugungs- und Integrationskraft verlor und sich parteilich innerhalb des nationalen Verfassungsstaates organisieren musste und sich in freier Konkurrenz mit anderen Parteien und sonstigen intermediären Kräften der bürgerlichen Gesellschaft, wie Verbänden, Gewerkschaften, Aktionskomitees und Medien, zu messen hatte. 135 Liberalismus als politische Bewegung und liberal als allgemein menschliche Gesinnung oder politisch-parteiliche Bezeichnung dürfen nicht vermengt werden. Der Liberalismus ist eine historische Verfassungsbewegung, die sich aus einer spezifischen politisch-sozialen Konstellation der neuzeitlich kontinentaleuropäischen Geschichte entwickelte und von einer bestimmten sozialen Schicht, dem ständisch entwachsenen Besitz- und Bildungsbürgertum, getragen wurde. Auf diese Weise lässt sich vom Liberalismus nur im Präteritum sprechen. 136 Der klassische Liberalismus als politische Verfassungsbewegung erstreckte sich in Deutschland von den 1790er bis zur 1848er Revolution. Ihm voraus ging der Friihliberalismus, das heisst die gedankliche Ausformulierung des bürgerlichen Rechts- und Verfassungsstaats im 18. Jahrhundert. 137 Auf dieses politisch aufklärerische Ideengut griff die liberale Bewegung in ihrem Kampf gegen die alten Mächte zuriick und machte die drei Hauptprinzipien der Aufklärung, die Vernunft, die Individualität und den Fortschritt zu den Stützen ihres Programms. Der Liberalismus bekämpfte sowohl den 134 Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. I, S. 4 f. und Bd. II, S. 380 f.; Langewiesche, Reich, S. 194; Dann, Nation, S. 15 f.; Koselleck, ,Der grosse Ereigniszusamrnenhang: Wie europäisch war die Revolution von 1848/49?, in: NZZ, 303, 31. Dezember 1998, und ders. , Geschichtsdenken, S. 37. 135 Vgl. Koselleck, Geschichtsdenken, S. 37: "Die Geschichte des Liberalismus lässt sich als eine Geschichte des Verzehrers beschreiben. Es ist der Preis, ohne den seine Erfolge nicht zu haben waren. Im Mass als die liberalen Forderungen durchgesetzt wurden, verlor der Liberalismus als politische Bewegung an Stosskraft, Durchsetzungsvermögen und Einfluss." Für Frankreich vgl. Sauvigny, Liberalism, S. 147 - 166. 136 Vgl. Breuer, Grundpositionen, S. 32. 137 Zu dieser Einteilung vgl. Fenske, Der deutsche Liberalismus, S. 1-3, und Parteiengeschichte, S. 20 - 24. Fenske wendet sich überzeugend gegen die überkommene Verortung des Frühliberalismus in die Jahrzehnte vor 1848. ,,Nach demjetzigen Kenntnisstand ist es am sinnvollsten, den Frühliberalismus im 18. Jahrhundert zu verorten und um 1790 die Phase des klassischen Liberalismus beginnen zu sehen, klassisch deshalb, weil das Konzept der Konstitutionellen Monarchie inzwischen nicht nur voll ausgebaut war, sondern es sich jetzt grosser Resonanz erfreute, weil sich mehr und mehr die Ansicht durchsetzte, nur dieser Verfassungstypsei legitim." Fenske, Der deutsche Liberalismus, S. 3. Zur herkömmlichen Einteilung vgl. namentlich Langewiesche, Liberalismus, S. 12-15, und vor allem, Frühliberalismus, S. 93 - 129.

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1. Teil: Theorie und Definition des Konservativismus

absolut-monarchischen Obrigkeitsstaat als auch das ständische Privilegiensystem mit der Forderung nach dem nationalen, säkularisierten Rechts- und Verfassungsstaat, wobei eine ,klassenlose', durch die industrielle Marktwirtschaft noch ungeformte, mittelständisch-patriarchalische Gesellschaft von Staatsbürgern Modell stand. 138 Während der Liberalismus in seinem Siegeszug durch das Europa des 19. Jahrhunderts als politischer Leit- und Integrationsbegriff verblasste, blieb ,liberal' als Bezeichnung für ein in der Tradition des Liberalismus stehendes parteipolitisches Wollen und Handeln weiter im Gebrauch. 139 Die liberalen Parteien mussten aber gegen andere staatstragende Parteien antreten, die sich ebenso zum Verfassungsstaat bekannten und gewissermassen Erben des Liberalismus waren, im einzelnen aber divergierende Ziele unter verschiedenen Namen verfolgten. Wie der Liberalismus so gehört auch der Konservativismus der Geschichte an. Er war eine politische Bewegung für die ständisch verfasste Monarchie. Sein doppelter Kampf gegen den monarchisch-bürokratischen Zentralismus und den staatsbürgerlichen Liberalismus hatte je nach dem, wie weit die feudale Ständegesellschaft noch vorhanden war, einen mehr erhaltenden oder einen reaktionären Charakter. 140 Als ideologischer Gegenspieler des Liberalismus kam der Konservativismus in der vorindustriellen Epoche Kontinentaleuropas empor und unterteilte sich in eine protestantische und katholische Richtung. Die letztere figuriert in der Forschung gemeinhin als ,politischer Katholizismus', ist jedoch sachlich dem Konservativismus zuzuordnen. Die Trägerschaft des Konservativismus waren die privilegierten Stände der Ständegesellschaft, das heisst Adel, Geistlichkeit und privilegiertes Bürgertum. Sie traten an zur Verteidigung von christlich-religiös gedeuteter ns Vgl. Gall, Liberalismus, S. 177. Wird Liberalismus, so argumentiert Gall, als vorindustrielle Verfassungsbewegung mit dem sozialen Erwartungsmodell einer klassenlosen Bürgergesellst:haft definiert, so stellt sich die Frage, "ob es angesichts dessen überhaupt sinnvoll ist, von einer Tradition des Liberalismus über das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts hinaus zu sprechen, oder ob man hier nicht auch terminologisch versuchen sollte, schärfere Grenzen zu ziehen". 139 Vgl. Breuer, Grundpositionen, S. 32. Es ist nicht zufällig, dass der Liberalismusbegriff in den 1840er Jahren "zu einem der meistgebrauchten politischen Schlagwörter wurde", während er nach 1850 aus der politischen Diskussion allmählich verschwand. Vgl. Vierhaus, Liberalismus, S. 743 f./772. 140 Zum Reaktionsbegriff vgl. Stein, Geschichte der sozialen Bewegung, Bd. I, S. 492. Er definiert auf Frankreich bezogen, wo die Ständegesellschaft bereits 1789 faktisch besiegt war, den Kampf der Konservativen bis 1830 als ,Reaktion'. "Die Reaktion ist das, mit dem Königtume, seiner Notwendigkeit, seinem Rechte und seiner Macht ausgeriistete Prinzip der feudalen Gesellschaft, das mit der staatsbürgerlichen Gesellschaft den Kampf beginnt." Vgl. dazu auch Kondylis, Reaktion, S. 213 f. Rotteck beispielsweise unterteilt für das Deutschland der 1830er Jahre, wo der Machtkampf zwischen ständischer und bürgerlichen Gesellschaft noch unentschieden war, die Konservativen in die "Stillstandspartei" und die "wüthende Reaction". Vgl. ,Bewegungs-Partei', in: Ders., Staats-Lexikon, Bd. II, 1835, S. 561. In der Schrift, ,Kritik aller Parteien', aus dem Jahr 1862 bestimmte der politische Schriftsteller Konstantin Frantz den Konservativismus als Reaktion, weil er per definitionem erhalten wolle, das zu Bewahrende aber verlorengehe, so dass er gewaltsam zum Alten zurliekkehren müsse. Zit. bei Kondylis, Reaktion, S. 216.

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Monarchie und Ständeturn gegen den monarchisch-bürokratischen Absolutismus wie den bürgerlichen Liberalismus und seine Forderung nach dem nationalen, säkularisierten Rechts- und Verfassungsstaat In der Ständegesellschaft ideell und materiell verwurzelt, wehrten sich die Privilegieninhaber ebenso gegen die bürokratische Zentralisierung wie die heraufziehende Staatsbürgergesellschaft und versuchten ihren Besitzstand zu wahren, indem sie sich auf die mittelalterlich-christliche Weltanschauung und deren Politik- und Rechtsverständnis beriefen. 141 Wo es keine monarchische Ständegesellschaft gab, wie in der Schweiz, existierten auch patrizisch-aristokratische, zünftisch- und bäurisch-demokratische Spielarten des Konservativismus. Wie vom Liberalismus gilt es vom Konservativismus eine radikale Strömung formal abzutrennen, nämlich eine restaurative, die sich nicht mit der Verteidigung der noch vorhandenen ständisch-monarchischen Strukturen begnügte, sondern eine Restauration mittelalterlich feudal-ständischer Zustände erstrebte oder wenigstens erhoffte. 142 Dem Konservativismus als politische Bewegung für den monarchischen Ständestaat auf christlicher Grundlage ist der Frühkonservativismus als Phase der geistigen Sammlung gegen Aufklärung und Revolution im späten 18. Jahrhundert vorzuordnen. 143 Der Kampf der Konservativen für die Erhaltung von Monarchie und Ständeturn befand sich im Widerspruch zur Nationsidee. 144 Konservativismus und Nationalismus schlossen sich deshalb aus. Die Realisierung der nationalen, säkularisierten Staatsbürgergesellschaft bedeutete die Niederlage des Konservativismus, die Gegenstandslosigkeit und Entleerung seines Ideengehalts sowie die Entprivilegierung, das heisst die politisch-rechtliche Entmachtung seiner Repräsentanten. Dieser tiefgreifende Vorgang spielte sich in allen kontinentaleuropäischen Ländern ab, jedoch zeitverschoben und mit unterschiedlichen Konsequenzen. 145 Seit der Verabschiedung des Konservativismus aus der Geschichte blieb ,konservativ' als Typisierung einer allgemein menschlichen Einstellung oder als parteipolitischer Namen innerhalb der säkularisierten, freiheitlich verfassten Staatsbürgergesellschaft weiter im Gebrauch. Definiert man Konservativismus und Liberalismus als ständische respektive staatsbürgerliche Bewegungen, die auf eine gegensätzliche geistig-moralische und politisch-soziale Bauform abzielten, dann führen Begriffe wie ,Beamtenkonservativismus' und ,Beamtenliberalismus' in die Irre. 146 Solche Begriffsbildungen ent141 Hier liegt der prinzipielle Unterschied zur funktionalen Definition des Konservativismus, wie siez. B. Mannheim, Konservatismus, S. 96 f., vorschlägt. Er sieht im Konservativismus zwar das gezielte Nachdenken über das bislang Selbstverständliche in Staat und Gesellschaft, betont aber die Variabilität des entstandenen Bildes infolge des stetig ändernden Bezugsrahmens. 142 Vgl. auch die Einteilung bei Fenske, Parteiengeschichte, S. 52, gegenüber deijenigen von Huber. Verfassungsgeschichte, Bd. II, S. 331. 143 Vgl. Fenske, Parteiengeschichte, S. 24-26. Im Detail vgl. die Arbeit von Epstein, Ursprünge, und aus aktueller Forschungsperspektive vgl. Kraus, Gegenaufklärung. 144 Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. II, S. 337 f.; Lemberg, Nationalismus, S. 165 f. 145 Vgl. Kondylis, Konservativismus, S. 23; Breuer. Anatomie, S. 12, und Grundpositionen, S. 31 f.

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1. Teil: Theorie und Definition des Konservativismus

springen einer historischen Momentaufnahme, passen jedoch nicht in das Figuratiansmodell zur Erklärung langfristiger politisch-sozialer Prozesse. Konservativismus und Liberalismus setzen die Trennung von Staat und Gesellschaft voraus. Diese Trennung ist keine "allgemeine, für beliebige geschichtliche Epochen gültige Gegebenheit, sondern eine verfassungsgeschichtlich entstandene und bedingte".147 Sie entstand in der Epoche des Absolutismus, als die sukzessive Monopolisierung der politischen Herrschaftsgewalt beim monarchisch-bürokratischen Zentralapparat die mittelalterlichen politisch-herrschaftlichen Stände durch Abbau der Privilegien allmählich in staatsunmittelbar soziale umgeformt hatte, was die Vorstellung nahelegte, dass der Staat, verkörpert durch Monarchie und Bürokratie, der bürgerlichen Gesellschaft als Ort der individuellen Bedürfnisse und Sonderinteressen gegenübertrete. 148 Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft lässt sich historisch da vertreten, wo der Staat als einheitliche, aus der feudalen Ständegesellschaft herauswachsende Herrschaftsorganisation eine Stärke erreichte, mit welcher er die im Niedergang begriffene Stände- und die aufstrebende Staatsbürgergesellschaft für eine gewisse Zeit im Ausgleich halten konnte. 149 Nach der Staatsbildungstheorie von Elias müssen Regierung und Verwaltung innerhalb der Gesellschaft als ein Macht- und Interessenzentrum eigener Art begriffen werden, dessen primäres Bestreben es ist, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu sichem. 150 "Der Zentralherr und die Menschen seines Stabes mögen als Exponenten einer bestimmten, sozialen Formation an die Spitze der Zentralverwaltung gelangt sein; oder sie mögen sich vorwiegend aus einer bestimmten Schicht der Gesamtgesellschaft rekrutieren - wenn jemand einmal in eine Position des Zentralapparats gelangt ist, [ ... ] so zwingt sie ihm ihre eigene Gesetzmässigkeit auf. Sie distanziert ihn mehr oder weniger stark von allen, übrigen Gruppen und Schichten der Gesamtgesellschaft, auch von der Gruppe, die ihn hochgetragen hat, vornter Schicht, aus der er stammt." 151 Das spezifische Wollen des monarchischbürokratischen Zentralapparates, für politisch-soziale Stabilität durch einen optimalen Interessenausgleich der anderen Funktionsgruppen zu sorgen, macht ihn ebenfalls zur Partei innerhalb des politisch-gesellschaftlichen Kräftespiels. 152 146 Zum bürokratischen Liberalismus vgl. den Aufsatz von Vogel, Beamtenliberalismus. Kritisch dazu äussert sich besonders Gall, Liberalismus, S. 163, und auch Langewiesche, Liberalismus, S. 15 f., und Deutscher Liberalismus, S. 18. Zum aktuellen Diskussionsstand vgl. Fehrenbach, Bürgertum, S. 44-50. Zur Verbindung von Konservativismus und Bürokratie vgl. den Aufsatz von Vogel, Beamtenkonservatismus, und die Studie von Dittmer, Beamtenkonservativismus. 147 Böckenförde, Bedeutung, S. 211. 148 Vgl. Marx, Kritik, S. 96 f.; Brunner, Freiheitsrechte, S. 187 f.; Böckenförde, Bedeutung, S. 211, und Die verfassungstheoretische Unterscheidung, S. 11 f. 149 Vgl. Koselleck, Preussen, Vorwort (zur Zweiten Auflage). Vgl. auch Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. II. S. 322. 150 Vgl. Elias, Prozess der Zivilisation, Bd. II, S. 236-239; Böckenförde, Bedeutung, S. 219 f. 151 Elias, Prozess der Zivilisation, Bd. II, S. 237.

III. Entstehung, Inhalt und Funktion des Konservativismus

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Kraft seiner organisatorisch-technischen Überlegenheit und seines zweckrationalen Denkens und Handeins versucht er mittels Reform, Repression und öffentlicher Meinungslenkung das soziale Kräftemessen im Gleichgewicht zu halten, um seine Stellung zu festigen und wenn immer möglich auszubauen. Seine Interessen können niemals identisch mit einer einzelnen sozialen Gruppe oder Schicht sein. Es gilt daher, zwischen monarchisch-bürokratischem Zentralapparat und politischen Bewegungen, trotz mancher Überschneidung, eine Trennlinie zu ziehen und die Begriffe Konservativismus und Liberalismus nicht auf die staatliche Bürokratie zu übertragen. Die liberale und die konservative Bewegung formierten sich um das Macht- und Interessenzentrum von monarchischer Regierung und Verwaltungsapparat. Wahrend dieses bezweckte, den ständischen Konservativismus und den staatsbürgerlichen Liberalismus zu paralysieren, indem man je nach Umständen dem einen oder anderen mittels Reform und Repression entgegenkam, lag es in der Absicht der Konservativen und der Liberalen, die Regierung und Verwaltung, wenn nicht zu stürzen, so doch als Bündnispartner zu gewinnen, um sie dann zu infiltrieren und nach ihren politisch-gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen zu formen. 153 Mit dieser Strategie gerieten sie aber gewissennassen in einen Zielkonflikt, zumal sie das monarchisch-bürokratische Machtzentrum gleichzeitig stärken und schwächen mussten, um einerseits den ideologischen Gegner unter ,staatlicher' Kontrolle zu halten und andererseits der Gefahr eines monarchisch-bürokratischen Absolutismus vorzubeugen. Liberalismus und Konservativismus werden geläufig als Ideologien der neuzeitlich-okzidentalen Geschichte definiert, wobei die Unterscheidung zwischen geistesgeschichtlichen Grundlagen, politischer Bewegung und politischer Partei oft unscharf bleibt. Es ist wissenschaftlich ertragreicher, Liberalismus und Konservativismus enger zu fassen und als spezifisch kontinentaleuropäische Verfassungsbewegungen des 19. Jahrhunderts zu bestimmen, die sich in Reaktion auf die Französische Revolution formierten, gegenseitig bekämpften und sich mit der Etablierung des nationalen Verfassungsstaates als politische Parteien konstituierten. Ihren Ideengehalt bezogen die liberale und die konservative Bewegung aus dem aufklärerischen respektive dem voraufklärerischen politischen Denken. Am stärksten ausgebildet waren Liberalismus und Konservativismus in Mittel-, Ost- und Südeuropa. In diesem Raum hielten sich nach 1815 die aufsteigende egalitäre Staatsbürgergesellschaft und die absteigende feudale Ständegesellschaft noch ungefahr die Waage und konkurrenzierten sich in der Lösung der beiden zentralen Verfassungsprobleme des 19. Jahrhunderts, nämlich der nationalen und der konstitutionellen Frage. "Die Gesellschaft des germanischen Europas bot daher ein eigentümliches Bild dar", so schreibt Lorenz von Stein, "um den ganzen Entwickelungsgang des europäischen Staatsrechts zu verstehen. Diese Gesellschaft nämlich bestand aus zwei wesentlich verschiedenen Systemen zugleich. Sie enthielt in mannigfachster 152

V gl. ebd., S. 238.

153

Vgl. auch Stein, Geschichte der sozialen Bewegung, Bd. III, S. 23, 25 f. und 31.

4 Ruetz

I. Teil: Theorie und Definition des Konservativismus

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Verschmelzung sowohl die feudale Gesellschaft mit ihrem Lehnsrecht, Eigentumsrecht an staatlichen Rechten, Abhängigkeit des Bodens, Vorrecht der adeligen, ständischen, zum Teil sehr stark hervortretenden Unterschiede, als die staatsbürgerliche Gesellschaft mit der aufkeimenden freien Industrie, dem lebendig gewordenen Besitz, der Gleichheit des Privatrechts, dem Anspruch auf eine Volksvertretung. Diese Mischung ist es, welche den Zustand des übrigen Europa seit 1815 charakterisiert." 154 In Deutschland, im Habsburgerreich und in Italien, wo sich die Fragen nach nationaler Einheit und bürgerlicher Freiheit gleichzeitig stellten, waren Liberalismus und Konservativismus als politische Verfassungsbewegungen kräftig entwickelt. Je weiter es nach Westen und nach Osten Europas ging, um so geringer waren Liberalismus und Konservativismus ausgeformt In England und Russland gab es keinen Liberalismus und Konservativismus. In Russland waren im 19. Jahrhundert die vorindustriellen, absolut-monarchischen und ständisch-feudalen Strukturen noch intakt. In England erfolgte der entscheidende Schritt zur staatsbürgerlichen Gesellschaft bereits im 17. Jahrhundert. Die frühe und konsequente Zentralisierung Englands durch die Krone, die Trennung von der römischen Kirche, die relative Offenheit der ständischen Schranken sowie die fehlenden persönlichen Privilegien des Adels waren gewichtige Gründe für den im europäischen Vergleich singulären Herrschaftsvertrag zwischen Königtum und Ständeparlament in der Form der ,Bill of Rights' von 1689. Diese sanktionierte eine konstitutionelle Monarchie, womit die Gefahr eines Absolutismus kontinentaler Ausprägung gebannt war. Das repräsentative Ständeparlament, in welchem der Adel und das ökonomisch erstarkende Bürgertum ihre Interessen effektiv vertreten konnten, entwickelte sich zu einem äusserst wirkungsmächtigen Organ. Es unterband eine königliche Willkürpolitik durch seine Beteiligung an der Gesetzgebung, durch Bewilligung des Heeresaufgebets, von Steuern und durch Kontrolle der Finanzen. Dieses Bündel an Kompetenzen verschaffte dem Parlament die faktische Suprematie über das Königshaus und bahnte den Weg zur parlamentarischen Kabinettsregierung und zum Parteiensystem. Die relative Offenheit der englischen Ständegesellschaft und die parlamentarische Kanalisierung von deren Interessen war der massgebliche Faktor für das Fehlen von politischen Bewegungen wie dem Liberalismus und dem Konservativismus. Solche Bewegungen formierten sich auf dem europäischen Festland in Auseinandersetzung mit dem monarchisch-bürokratischen Machtzentrum um die Schaffung eines nationalen, säkularisierten Rechts- und Verfassungsstaates. In England war der nationale und parlamentarische Rahmen für die Austragung politisch-sozialer Konflikte seit der ,Glorious Revolution' von 1689 gesetzt. Innerhalb dessen formierten sich die beiden grossen ständeparlamentarischen Richtungen, die Tories und die Whigs, die sich im 18. Jahrhundert parteilich verfestigten und sich im 19. Jahrhundert schliesslich in ,Conservatives' und ,Liberals' umbenannten. Für England lässt sich durchaus von konservativen und liberalen Parteien spre154

Ebd., Bd. I, S. 483 f.

Jll. Entstehung, Inhalt und Funktion des Konservativismus

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eben, aber nicht von Konservativismus und Liberalismus im Verständnis politischer Verfassungsbewegungen. Weil sich in England keine absolute Monarchie herausbilden konnte, fand hier das typisch kontinentaleuropäische Verständnis des Rechts- und Verfassungsstaates keinen Anklang. England kennt weder eine Verfassungsurkunde noch Verfassungsrecht von erhöhter Geltungskraft Das Parlament, welches sich formalrechtlich aus König, Ober- und Unterhaus zusammensetzt, ist seit 1689 im Besitz der obersten, unbegrenzten Souveränität. Es gibt kein dem Parlament übergeordnetes materiales Rechtsstaatsprinzip wie beispielsweise die Menschen- und Bürgerrechte. Was ,Recht' und ,Rechtsstaatlichkeit' ist, liegt in der alleinigen Kompetenz des Parlaments. Der englische Rechtsstaatsbegriff, die sogenannte Rule of Law, ist infolge der historisch eingespielten parlamentarischen Regeln mehr auf das Verfahren denn auf den Inhalt bezogen. 155 In der Realität hat sich diese Position seit dem Verlust der Weltmachtstellung Englands, der Einbindung in Buropa und der Ausbildung des regelungsintensiven Sozial- und Wohlfahrtsstaats überlebt. In Frankreich gab es nur einen geringfügig ausgebildeten Liberalismus und Konservativismus. Es hiesse den Liberalismusbegriff überdehnen, wenn die Französische Revolution als Inbegriff liberaler Werte interpretiert würde. Die Französische Revolution, zu deren Ideen sich gegenwärtig alle staatstragenden Parteien Europas bekennen, erfüllte die Postulate des aufgeklärten Bürgertums, wie die individuelle Freiheit und Gleichheit, die Rechts-, Vertrags-, Erwerbsfreiheit und Eigentumsgarantie. Diese Forderungen sind nicht an sich liberal, sondern aufklärerisch. Liberal wurden sie in dem Sinn, dass sie von der liberalen Verfassungsbewegung im Kampf gegen die alten Gewalten erhoben und durchgesetzt wurden. Nachdem in Frankreich der entprivilegierte Adel und Klerus im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts im Verbund mit der Monarchie noch einige Rückzugsgefechte geliefert hatte, trugen die Verfechter der staatsbürgerlichen Gesellschaftsordnung mit der Julirevolution von 1830 den vollständigen Sieg davon. 156 Wahrend sich in Frankreich allenfalls für die Jahre von 1815 bis 1830 von einer liberalen und einer konservativen Bewegung sprechen lässt, so lösten sich diese nach der Julirevolution endgültig auf. Das Gemeinsamkeit stiftende Bekenntnis der Liberalen zur Französischen 155 Es ist in Anbetracht der englischen Verfassungsgeschichte nicht zutreffend, Edmund Burkes berühmte Schrift ,Reflections on the Revolution in France' gleichsam als Grundlagewerk des Konservativismus zu bezeichnen. Burke, selber Whig, stand durchaus in der Vertragstheorie von Locke und verteidigte die staatsbürgerliche, durch den Erwerb und Besitz sich konstituierende Gesellschaft. Was Burke aber vehement bekämpfte und wozu er von kontinentaleuropäischen konservativen Autoren passend angeführt werden konnte, war das ,zerstörerische', jeglicher Tradition und ,organischer' Kontinuität entbehrende Wesen der Revolution, insbesondere, wenn sie sich, wie in Frankreich, demokratisch gebärdete. Vgl. auch Dunk, Problem, S. 13. "Es ist daher kein Zufall, dass auch der Liberalismus den ,Vater' des politischen Konservatismus gelegentlich als Wegbereiter und Vorgänger anführt." 156 Die noch immer beste Darstellung der französischen Verfassungsentwicklung von 1789 bis 1830 findet sich im dreibändigen Werk von Stein, Geschichte der sozialen Bewegung. Vgl. besonders die gelungene Beschreibung der Jahre von 1815 bis 1830 im Bd. III, s. 480-503.

4*

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l. Teil: Theorie und Definition des Konservativismus

Revolution und zu ihren Prinzipien wurde mit der Charta von 1830 gegenstandslos, und der Liberalismus wurde seiner "realite politique" entzogen. 157 Konservativismus und Liberalismus sind politische Bewegungsbegriffe. Ihr Entstehen liegt in der Säkularisierung der linearen, biblisch-heilsgeschichtlichen Zeitauffassung begründet, die Vergangenheit und Zukunft ihrer zeitlichen Begrenztheit durch Schöpfung und Jüngstes Gericht enthob. 158 Erst das neuzeitlich-aufklärerische Verständnis einer linearen, anfangs- und endlosen Zeit schuf die Voraussetzung und den Antrieb für die historisch einmalige Entfaltung von Wissenschaft, Technik und Industrie. Die Auftrennung von Vergangenheit und Zukunft liess den Abstand zwischen Erfahrung und Erwartung immer grösser werden. 159 Diese Differenz widerspiegelt sich im typisch neuzeitlichen Begriff des Fortschritts als kontinuierliche Infragestellung aller Erfahrung zur Bewältigung der offenen Zukunft sehr anschaulich. Das klassische politische Begriffsinstrumentarium des Aristoteles, welches dem zyklischen Zeitverständnis der Antike entstammte, vermochte der neuzeitlichen, politisch-sozialen und ökonomischen Dynamik nicht mehr zu genügen, so dass neue, sogenannte Bewegungsbegriffe, mit dem ,- ismus'-Suffix versehen, zur Anwendung kamen. Zwei davon sind die Neologismen ,Liberalismus' und ,Konservativismus'. Beide erfüllten die Funktion, die "ständisch entgliederten Massen unter neuen Parolen zu ordnen", waren ideell befrachtet und mit einer Erwartungshaltung aufgeladen. 160 Der Unterschied zwischen Liberalismus und Konservativismus bestand darin, dass bei der liberalen Bewegung die Erwartung die Erfahrung überstieg, weil es den nationalen, säkularisierten Rechts- und Verfassungsstaat erst noch zu errichten galt, während die konservative Bewegung einen weiten Erfahrungs-, aber einen geringen Erwartungshorizont besass, weil es darum ging, das ständisch-monarchische Verfassungsgehäuse auf christlicher Grundlage zu erhalten. Die Definition von Konservativismus und Liberalismus als kontinentaleuropäischen Verfassungsbewegungen des 19. Jahrhunderts wird durch die Begriffsgeschichte von ,Konservativismus' und ,Liberalismus' gestützt. Die begriffsgeschichtliche Forschung hat gezeigt, dass ein Wandel oder eine Neubildung zentraler Begriffe im politisch-sozialen Bereich zum einen präzise Indikatoren für eine Veränderung in Politik und Gesellschaft sind und zum anderen diese auch in beträchtlichem Mass beeinflussen. Eine solche Zeit des Wandels überkommener Begriffe und der Bildung neuer findet sich im Jahrhundert zwischen 1750 und 157 Sauvigny, Liberalism, S. 155. Hudemann, Politische Reform, S. 335, stimmt an sich der ,Verflüchtigungsthese' des Liberalismus zu, wenn er betont, dass es keine allgemeine Definition des französischen Liberalismus im 19. Jahrhundert gebe. 158 Zur christlichen Zeitauffassung vgl. Cullmann, Christus, bes. S. 55-60. Vgl. auch Koselleck, Neuzeit, S. 315. Zum neuzeitlich linearen Zeitbegriff vgl. Burckhardt, Metamorphosen, S. 62 f. 159 Vgl. Kose/leck, Erfahrungsraum, S. 361 - 69. 160 Ebd. S. 374. Zu den Bewegungsbegriffen vgl. auch ders. Neuzeit, S. 339-341.

lll. Entstehung, Inhalt und Funktion des Konservativismus

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1850. 161 Die Neologismen ,Liberalismus/liberal' und ,Konservativismus/konservativ' tauchten im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in Buropa auf. In England bürgerten sich seit den 1830er Jahren die Wortschöpfungen ,Liberals' und ,Conservatives' als Parteinamen für die bislang üblichen Whigs und Tories ein. 162 In Frankreich, wo das Parteiensystem noch weniger ausgebaut war, kennzeichnete, liberal' die politisch-parteiliche Richtung, die sich für die Revolutionspostulate einsetzte, während ,conservateur' die Partei derer genannt wurde, die sich "für Legitimität und Autorität [ ... ] im Sinne eines monarchisch betonten Konstitutionalismus" einsetzte. 163 Auffallend für England wie für Frankreich ist die weitgehend fehlende ,-ismus-Bildung' von ,liberal' und ,konservativ', was die mangelhafte Verselbständigung zur politischen Bewegung oder Ideologie anzeigt. 164 Anders verhielt es sich in Deutschland. Hier entwickelte sich der Liberalismusbegriff in den 1840er Jahren zu einem der "meist gebrauchten politischen Schlagwörter".165 Die Bezeichnung ,konservativ' machte sich um die 1830er Jahre bemerkbar und setzte sich in den folgenden Jahrzehnten als Typisierung einer politisch-parteilichen Einstellung durch, wenn auch sehr zögerlich, mit vagem Inhalt und mehr von Gegnern denn von Anhängern benutzt. 166 Das Substantiv ,Konservativismus' tauchte aber kaum auf. Es erschien in den 1820er und 30er Jahren für kurze Zeit in Synonymen wie ,Legitimismus', ,Illiberalismus', ,Servilismus' ,Autokratismus ', ,Obskurantismus' oder ,lmperfektibilismus', die vorwiegend von Liberalen eingebracht wurden. 167 Der Konservativismusbegriff findet sich in voller Bedeutung erstmals im liberalen ,Staats-Lexikon' von Rotteck. Im Jahr 1839 schrieb dieses: "Wir bekennen uns noch weiter zum Radicalismus, d. h. zu dem die völlige Erreichung des Zieles, also die vollkommene Herrschaft des Vernunftrechtes sich zur Aufgabe setzenden Systeme, und treten hiernach dem Conservatismus, d. h. dem schlechthin die Erhaltung alles Bestehenden, ohne Unterschied, ob es gut oder schlecht sei, bezweckenden System diametralisch entgegen.'" 68 Der Brockhaus führt ab der 8. Auflage von 1835 bis zur 15. und letzten Auflage vor dem Zweiten Weltkrieg nur das Stichwort ,konservativ', während der Begriff ,Liberalismus' als Eintrag vorhanden ist. Auf konservativer Seite tauchte der Konservativismusbegriff in den 1840er Jahren kurz auf, fand jedoch kein Gehör und verschwand in den folgenden Jahrzehnten praktisch vollständig aus der politischen Diskussion. Auch im konservativen ,Neuen Conservations-Lexikon' von Hermann Wagener wie im ,Konservativen Handbuch', welches gegen Ende des 19. Jahrhunderts im 161 Vgl. Koselleck, Neuzeit, S. 344. 162 Vierhaus, Liberalismus, S. 751 f. 163 Ebd., Konservativ, S. 538, und Liberalismus, S. 751. 164

Vgl. ebd., Konservativ, S. 541.

166

Vgl. ebd., Konservativ, S. 554/565.

165 Ebd., Liberalismus, S. 572.

167 Vgl. ebd., Konservativ, S. 536-541,565, und Liberalismus, S. 761. 168 ,Historisches Recht', in: Rotteck, Staats-Lexikon, Bd. VIII, 1839, S. 12.

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1. Teil: Theorie und Definition des Konservativismus

Auftrag der Deutsch- und der Freikonservativen Partei publiziert wurde, ist der Konservativismusbegriff nicht als eigenes Stichwort angeführt. 169 Es bedarf einer Erklärung des begriffsgeschichtlichen Befunds, weshalb in England und Frankreich die Begriffe ,Liberalismus' und ,Konservativismus' wenig Resonanz fanden, während in Deutschland dies nur für den Konservativismus-, nicht aber für den Liberalismusbegriff zutrifft. Diese Tatsache legt die gängige Begriindung nahe, das Scheitern der liberalen Bewegung in Deutschland habe den Konservativen den Rücken gestärkt, so "dass die Festlegung auf einen Begriff, einen abstrakten ,-ismus', als Reduzierung auf den Status einer Ideologie und Partei unter anderen abgelehnt wurde" oder mit anderen Worten, dass sich der jeweils ,Machthabende' nicht zu definieren braucht. 170 Allerdings kann auch der gegenteilige Schluss gezogen werden. Die Nicht-Durchsetzung des Konservativismusbegriffs würde sich demzufolge aus der raschen Erosion der feudal-ständischen Gesellschaft, in welcher der Konservativismus wurzelte, erklären. Es wäre somit auch möglich, dass die begriffsgeschichtlich feststellbare Etablierung des Liberalismusbegriffs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Existenz einer kräftigen politischen Bewegung belegt und umgekehrt die fehlende Resonanz des Konservativismusbegriffs die Schwäche und letztlich das Verschwinden der konservativen Bewegung samt ihren Ideen und Postulaten indiziert. Wo sich die abstraktere Variante einer ,ismus-Bildung' von ,konservativ' und ,liberal' kaum manifestierte, wie in England und Frankreich, gab es keinen oder nur einen marginal ausgeprägten Liberalismus und Konservativismus. Dort figurierten ,liberal' und ,konservativ' als parteiliche Positionen innerhalb der bereits bestehenden verfassungstaatlichen Ordnung, jedoch nicht als politische Bewegungsbegriffe, die auf eine zu schaffende oder zu erhaltende politisch-soziale und geistig-moralische Verfassung abzielten. Begriffsgeschichtlich gilt es deshalb zwischen den Parteibezeichnungen ,liberal I kenservativ' und den voll ausgebildeten politischen Bewegungsbegriffen ,Liberalismus I Konservativismus' deutlich zu unterscheiden. In Deutschland und spezifisch in Preussen verlief die Rezeption der Parteibezeichnungen ,liberal' und ,konservativ' parallel zum Verschwinden des Liberalismus und des Konservativismus als politische Bewegungsbegriffe. Im deutschen politischen Diskurs der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren der Liberalismus- und der ohnehin wenig benutzte Konservativismusbegriff inhaltlich verblasst und kaum noch in Verwendung. Dafür etablierten sich mit der Schaffung eines, vom Liberalismus vorgegebenen nationalen verfassungsstaatlichen Rahmens ,liberal' und ,konservativ' als gewöhnliche politisch-parteiliche Typisierungen und als Parteinamen wie ,Nationalliberale Partei' und ,Deutschkonservative Partei' .

169 Vgl. Wagener, Staats- und Gesellschafts-Lexikon, Bd. XVI, 1864, Artikel ,Reaction', S. 714; Konservatives Handbuch, S. 315. 170 Vierhaus, Konservativ, S. 565.

Zweiter Teil

Der preussische Konservativismus im Kampf gegen Einheit und Freiheit I. Die Formierung des preussischen Konservativismus 1. Gegen Bürokratismus und Liberalismus

Zwischen Frankreich und Preussen gab es einen erheblichen Entwicklungsunterschied in der ständisch-monarchischen Konkurrenzfiguration. In Preussen bricht das Königtum im 17. Jahrhundert "die ständische Herrschaft und unterwirft den Adel der Monarchie, ohne darum eine herrschende Klasse der Gewerbetreibenden zu erzeugen, und wird dadurch souverän in Verbindung mit seiner Beamtenwelt". 1 Das Fehlen eines ausgeprägten städtischen Bürgertums verlieh der Spannungsbalance der preussischen Gesellschaft einen anderen Charakter? Weil zudem im protestantischen Preussen die Kirche als materielle Machtstütze der Adelsherrschaft weggefallen war, wurde ein Teil der Adels für den Aufbau der staatlichen Verwaltung und des stehenden Heeres herangezogen, so dass ein realpolitisches und geistiges, auf Amtsethos und Pflichterfüllung und nicht wie in Frankreich auf höfischer Gesittung und Kultur beruhendes Bündnis zwischen Krone und Adel entstand. Der vielfach universitär ausgebildete Amtsadel geriet in ein gewisses Spannungsverhältnis mit dem Landadel, der nach dem Verlust der landständischen Herrschaft zur Selbstbewirtschaftung seiner Güter und damit zur lokalen, staatlich privilegierten Gutsherrschaft überging. Dieses ständische Beziehungsgeflecht mit dem Monarchen und seinem Verwaltungsapparat als regulierender und reglementierender Instanz blieb bis zur vernichtenden Niederlage gegen Napoleon weitgehend intakt. Weil das aufgeklärte Wirtschafts- und Bildungsbürgertum Preussens für eine effektive politische Druckausübung zu schwach war, nahm der königliche Verwaltungsapparat das drängende Reformwerk zur Schaffung einer stabilen, möglichst zentral regierten und verwalteten Staatsbürgergesellschaft selbst an die Hand. Die bürokratische ,Revolution von oben' erschütterte den unter Friedrich dem Grossen gefestigten Herrschaftskompromiss zwischen absolutem Königtum und Adel. Dieser hatte darin bestanden, dass der Adel für den Verlust seiner landständischen Selbständigkeit einen umfassenden, staatlich garantierten Privilegienschutz erhielt. Von Bedeutung waren der privilegierte Zugang zu hohen Beamten- und Offiziersstellen, I 2

Stein, Geschichte der sozialen Bewegung, Bd. III, S. 43. Vgl. Elias, Die höfische Gesellschaft, S. 283 f.

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2. Teil: Der preussische Konservativismus

die soziale und finanzielle Absicherung der Rittergutsbesitzer und die nahezu unbeschränkte Verfügungsgewalt über die lokale Ebene. 3 Die Reformpolitik von SteinHardenberg verschob die Gewichte zulasten der altständisch-privilegierten Schichten in einem Masse, dass sich eine ständisch-konservative Bewegung gegen den monarchisch-bürokratischen Zentralismus entwickelte. "Das revolutionäre Element der französischen Ereignisse", formuliert Mannheim, "verlebendigt die Intentionen des Adels, der den Aufbau von ,unten' will, d. h. den ständischen Aufbau zu verlebendigen sucht und auf ein organisches Werden ausgerichtet ist, wogegen das mechanistische, zentralistische, rationalistische Element der Revolution beim Beamtentum Eingang findet und gegen die Wollungen des Adels ausgespielt wird. "4 Dieser feudal-ständische Widerstand von ,unten' gegen Königtum und Bürokratie ist die charakteristische Auswirkung der Französischen Revolution auf Preussen und kennzeichnet die erste Phase des preussischen Konservativismus, welche sich bis zur Julirevolution von 1830 erstreckte. Um die Fahne des Konservativismus scharten sich alle diejenigen, die zu den Gegnern des bürokratischen Reformwerks von Stein-Hardenberg gehörten.5 Es waren dies zuallererst der grundbesitzende Adel, der seine feudalen Privilegien verteidigte, aber auch hohe Beamte und Offiziere, die im Geiste der friderizianischen Staats- und Heeresverfassung gross geworden waren, privilegierte Kaufleute und Zunfthandwerker, Bauern und unterbäuerliche Schichten sowie ,sozial freischwebende', zumeist von materiellen Nöten bedrängte Intellektuelle. Die heterogene soziale Zusammensetzung widerspiegelte die Motive, die für den konservativen Kampf gegen den ministeriell-bürokratischen Zentralismus den Ausschlag gaben. Der Verlust weltanschaulicher Orientierungsgewissheit spielte ebenso eine Rolle wie materielle Einbussen bei der Auflösung der noch stark feudalständischen und partikularen Regierungs- und Verwaltungsstrukturen, bei den tief einschneidenden Agrar-, Gewerbe- und Finanzreformen sowie der Neuordnung des Heerwesens. Der frühe Konservativismus war als politische und publizistische Bewegung erst in Ansätzen organisiert und verharrte noch in regionaler Begrenzung.6 Die alten Landstände waren bis zur Schaffung von einheitlichen Provinzialständen im Jahre 1823 noch teilweise in Kraft und artikulierten ihren Protest vor allem mit Eingaben und Denkschriften an König und Behörden oder über direkte Interventionen in Berlin. 7 Den heftigsten Widerstand leisteten die brandenburgisch-kurmärkischen 3 Vgl. Carsten, Geschichte, S. 36; Schiss/er, Agrargesellschaft, S. 50-53; Heffter, Selbstverwaltung, S. 30; Mannheim, Konservatismus, S. 138 f. ; Jordan, Entstehung, S. 28-38. 4 Mannheim, Konservatismus, S. 140. Vgl. daran ansebliessend Berdahl, Politics, S. 8. s Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. I, S. 135 -145; Schiss/er, Agrargesellschaft, S. 123-130; Mooser, Klassengesellschaft, S. 354; Vogel, Gewerbefreiheit, S. 198-206, 211-223, 228; Koselleck, Preussen, S. 305, 319-23; Mannheim, Konservatismus, S. 144 f. 6 Vgl. Schiss/er, Agrargesellschaft, S. 124. 7 Vgl. Carsten, Geschichte, S. 88-90; Kose/leck, Preussen, S. 197 f.; Botzenhart, Verfassungsproblematik, S. 433 f. I 446 f. ; Schiss/er, Agrargesellschaft, S. 123 f., und Heffter, Selbstverwaltung, S. 110 f.

I. Die Formierung des preussischen Konservativismus

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Stände unter ihren Führern Marwitz und Finckenstein. Sie beriefen sich zur Rechtfertigung ihres Kampfes gegen Hardenbergs Reformen auf den kurmärkischen Landtagsrezess von 1653, nach welchem die Regierung nur mit Zustimmung des kurmärkischen Landtages wichtige staatspolitische Massnahmen ergreifen durfte. Gegenüber dem König beschuldigten sie Hardenbergs Politik des Rechtsbruchs, der den überlieferten Staat auflöse und von den Ständen nur unter Zwang hingenommen werde. 8 Diese Drohung, nötigenfalls vom vorabsolutistischen, im dualistischen Ständestaat begrundeten ständischen Widerstandsrecht Gebrauch zu machen, ging Hardenberg zu weit. Für ihn kam die Einberufung der alten provinzialständischen Körperschaften zur Bewilligung der staatlichen Reformmassnahmen nicht in Frage. Er stützte sich auf das staatliche Notstandsrecht und setzte beim König die vorobergehende Inhaftierung von Marwitz und Finckenstein durch. Diese königlich-bürokratische Machtdemonstration reichte aus, die reaktionären, das heisst restaurativen Strömungen im preussischen Konservativismus einzudämmen. Die Eingaben und Proteste von ehemals privilegierten Stadtbürgern mit dem Zweck, die eingeführte Gewerbefreiheit aufzuheben, die Zunftverfassung und somit den Zustand vor 1807 zu restaurieren, übergingen die Behörden ohnehin konsequent; nicht bloss, weil sich Hardenberg dem Freihandelsprinzip verschrieben hatte, sondern auch, weil die Beschwerden von Zunftbürgern, Gewerbetreibenden und Fabrikanten zu moderat, zu wenig organisiert und auch zu konzeptlos ausfielen.9 Ein wichtiger Sammelpunkt der mittlerweile etatistisch gezähmten ständischen Opposition war der 1817 geschaffene Staatsrat. In diesem brachte die sogenannte ,Kronprinzenpartei' entscheidende Vorlagen Hardenbergs über eine Reform des feudalistischen Kreis- und Landgemeinderechts der östlichen Provinzen sowie die Bildung eines Allgemeinen Landtags zu Fall. 10 Hardenbergs Intention, einen zentral geführten, hierarchisch gestuften Staatsaufbau mit Kreistagen, Provinzialund Reichsständen aus Grundadel, Bürgern und Bauern zu errichten, war somit gescheitert. Als Gegenleistung votierte die altständisch-konservative Bewegung für eine einheitliche provinzialständische Verfassung. Diese beseitigte zwar die alten Stände und schuf eine gernäss den bereits erfolgten Agrar- und Gesellschaftsreformen neuständische Provinzialvertretung aus ritterlichem, städtischem und bäuerlichem Grundbesitz. Weil die Rittergutsbesitzer jedoch die Hälfte der Sitze zugewiesen bekamen, so erhofften sich die altständisch Oppositionellen eine Stärkung des provinziellen Partikularismus auf Kosten des bürokratischen Zentralismus. 11 s Vgl. z. B. die ständische Beschwerdeschrift vom 9. Mai 1811 an den König, abgedruckt in: Meusel, Marwitz, Bd. II, Teil II, S. 3-23. Zu Macwitz und der Adelsopposition vgl. auch die ältere Arbeit von Ramlow, Marwitz, sowie die neueren Studien von Vetter, Kurmärkischer Adel, und Buttlar, Die politischen Vorstellungen. 9 Vgl. Koselleck, Preussen, S. 320 - 22, 591; Kaujhold, Gewerbepolitik, S. 149. 10 V gl. Koselleck, Preussen, S. 319; Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. I, S. 169 f. II Vgl. Heffier, Selbstverwaltung, S. 128, und Croon, Provinziallandtage.

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2. Teil: Der preussische Konservativismus

Die Nutzniesser der anfangliehen Konkurrenzsituation zwischen staatlichem Bürokratismus und ständischem Konservativismus waren die neubürgerlichen Schichten. Deren soziale und ökonomische Emanzipation trieb der preussische Staatsapparat durch gezielte Reformen in Richtung auf eine staatsbürgerliche, der Rechtsgleichheit, Erwerbsfreiheit und Eigentumsgarantie verpflichtete Gesellschaft voran und verhalf damit dem Liberalismus ungewollt zum Aufstieg. Der heftige Widerstand der altständisch-konservativen Bewegung gegen Hardenbergs bürokratische Reformpolitik zeitigte vorerst Erfolg, zumal sich der König in massgeblichen Fragen als Bündnispartner gewinnen liess. Dieser nämlich hatte selbst ein eminentes Interesse, seinen Entscheidungsspielraum und daher seine herrschaftliche Stellung nicht vollends an den ministerial-bürokratischen Apparat abzutreten, dessen Eigengewicht und Eigenverständnis immer grösser wurden. Eine Stärkung des ständischen Elements auf Stufe Kommune und Provinz konnte dem König deshalb als Machtstütze nur dienlich sein. 12 Marwitz formulierte es zutreffend, dass ohne einen bevorrechteten Adel "wohl eine reine Demokratie, nicht aber eine Monarchie" bestehen könne. "Wer ihn also vernichten, oder, was dasselbe ist, ohne wesentliche Vorrechte lassen will, der arbeitet an dem Sturz der Monarchie, selbst wenn er zum privilegierten Stande gehört." 13 Das zeitweilige Bündnis von Monarch und ständischem Konservativismus liess den für Preussen typischen Doppelweg einer fortschrittlichen, bürgerlich-liberalen Wirtschafts- und Zollpolitik und einer restaurativen Standespolitik hervorgehen. 14 Auch die Ministerialbürokratie, welche es sich zum Ziel gesetzt hatte, die feudalen und korporativen Bindungen der altständischen Gesellschaft aufzulösen, war in ihrem Handeln interessenmässig befangen, weil es die Gefahr einer unkoutrollierten politischen Emanzipation der besitz- und bildungsbürgerlichen Schichten auf jeden Fall zu vermeiden galt. 15 Das Ergebnis des Kräfteringens zwischen König, Ministerialbürokratie und ständischem Konservativismus war eine konstitutionslose Regierungs- und Verwaltungsorganisation, welche das altständische System durch ein neuständisches ersetzte. 16 Die Qualifikation zur politischen Einflussnahme auf Kommunal- und Provinzialebene war fortan der frei zu erwerbende Grundbesitz, wobei die noch mehrheitlich adeligen Rittergutsbesitzer in den Kreis- und Provinzialständen eine dominierende Stellung zugewiesen bekamen und auf der untersten Stufe der Gutsbezirke und Landgemeinden der Ostprovinzen weiterhin die altständischen Herrenrechte, wie die Patrimonialgerichtsbarkeit, die Polizeigewalt, die Ernennung der dörflichen Schulzen und Schöffen, die Schulaufsicht, das Kirchenpatronat und die Grundsteuerfreiheit, besassen. Seit den Agrarreformen wider12 Vgl. Koselleck, Preussen, S. 278, 288, 319; Stamm-Kuhlmann, Rolle, S. 276-78. Vgl. auch Stein, Geschichte der sozialen Bewegung, Bd. I, S. 492. 13 Marwitz, ,Ueber die Notwendigkeit eines Mittelstandes in einer Monarchie', Aufsatz vom Dezember 1810, in: Meusel, Marwitz, Bd. II, Teil I, S. 199 f. 14 Vgl. Koselleck, Preussen, S. 346. 15 Vgl. Stamm-Kuhlmann, Rolle, S. 277 f.; Schiss/er, Agrargesellschaft, S. 131 f. 16 Vgl. Schiss/er; Agrargesellschaft, S. 143 f.

I. Die Formierung des preussischen Konservativismus

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sprach diese Verbindung von obrigkeitlichen Funktionen mit privaten Eigentumsrechten dem geltenden Recht, nach welchem die Grundherren nur mehr private Grundeigentümer waren. 17 Die staatlich-bürokratische Freisetzung der bürgerlichen Erwerbs- und Eigentümergesellschaft durch Niederreissung der altständischen Schranken liess das Problem relativ rasch zutage treten, dass sich ein zunehmender Teil der bürgerlichen Gesellschaft in den neuständischen, an den Grundbesitz gebundenen und nur provinziell agierenden politischen Vertretungsorganen nicht mehr oder überhaupt nicht repräsentiert sah und die Forderung nach politischer Partizipation und Freiheit erhob. 18 "Innerhalb der Stände, zwischen ihnen und ausserhalb ihrer hatten sich Interessen- und Gesinnungsgemeinschaften gebildet, die sich mit Macht der Vormundschaft des Verwaltungsstaates entziehen wollten." 19 Der preussische Liberalismus, welcher sich spätestens seit der Julirevolution von 1830 zur wirkungsmächtigen Bewegung gegen den monarchisch-bürokratischen Machtapparat und die ständisch-partikularistisch geprägten Regierungs- und Verwaltungsstrukturen entfaltet hatte, entsprang dem innenpolitischen Spannungs- und Konkurrenzverhältnis zwischen Königtum, Ministerialbürokratie und ständischem Konservativismus in der Zeit Stein-Hardenbergs ebenso wie der machtpolitischen, zur Unterdriickung nationaler Bestrebungen konzipierten Konstellation, die aus dem Wiener Kongress hervorgegangen war. Eine ziemlich genaue Abbildung und Rechtfertigung der preussischen vorkonstitutionellen Regierungs- und Verwaltungsorganisation und des politisch-sozialen Kräfte- und Spannungsverhältnisses vermittelt die Staatslehre Hegels.Z0 In den ,Grundlinien der Philosophie des Rechts' hat Regel die verfassungsgeschichtlich entstandene und bedingte Trennung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft theoretisch erfasst und populär gemacht. Regel differenziert zwischen den Extremen, der fürstlichen Gewalt und der "massenhaften Gewalt" in Form der bürgerlichen Erwerbs- und Eigentümergesellschaft 21 Zwischen diesen treten nun auf seiten des Fürsten die Ministerialbürokratie - sie machen zusammen den Staat aus - und auf seiten der bürgerlichen Gesellschaft die sozial vorgegebenen und politisch neu aufgewerteten Stände. Die Ministerialbürokratie und die Stände haben die Funktion, zwischen Monarchie und bürgerlicher Gesellschaft einen Ausgleich zu schaffen, damit weder die eine noch die andere ein Übergewicht erhält und in eine Willkürherrschaft verfallt. Damit nun die Stände ihrerseits nicht übermächtig werden und dem Staat ihren Willen aufzwingen können, weist ihnen Regel eine nur beratende Aufgabe zu, bestimmt sie als eine ,Beigabe', aber keinen selbständigen Entscheidungskörper.22 Die Gesetzgebungskompetenz liegt beim Monarchen und der Mini17 Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. I, S. 179; Heffter, Selbstverwaltung, S. 132. 18 Vgl. Koselleck, Preussen, S. 366 f.; Böckenförde, Bedeutung, S. 217. 19 Koselleck, Preussen, S. 369.

zo Vgl. ebd., S. 388.

21 Hege/, Grundlinien, § 302.

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sterialbürokratie, deren "Bestimmung das Allgemeine zum Zwecke seiner Wesentlichen Tätigkeit" hat. 23 Aus Sicht der Bürokratie, "die sich selbst als der letzte Endzweck des Staats" betrachtet, sind die Stände überflüssig. 24 Sie werden dennoch benötigt, um die bürgerliche Gesellschaft ökonomisch befreit, politisch aber entmündigt zu halten. Das Hegeische Verfassungssystem der wechselseitigen Vermittlung hat der junge Marx heftig kritisiert und als logisch nicht haltbar bezeichnet. "Der Fürst muss also in der gesetzgebenden Gewalt die Mitte zwischen der Regierungsgewalt und dem ständischen Element bilden, allein die Regierungsgewalt ist ja die Mitte zwischen ihm und der ständischen und die ständische zwischen ihm und der bürgerlichen Gesellschaft? Wie sollte er das untereinander vermitteln, dessen er zu seiner Mitte nötig hat, um kein einseitiges Extrem zu sein? Hier tritt das ganze Ungereimte dieser Extreme, die abwechselnd bald die Rolle des Extrems, bald die Mitte spielen, hervor. Es sind Janusköpfe."25 Weil Extreme nicht vermittelbar sind und auch keiner Vermittlung bedürfen, ergreift der noch demokratisch gesinnte Marx das Wort für die ,bürgerliche Gesellschaft' und fordert deren Emanzipation von staatlicher, monarchisch-bürokratischer Bevormundung. Die Trennung zwischen staatlichem Zentralapparat und politisch-gesellschaftlichen Bewegungen macht die Diskussion müssig, ob die Stein-Hardenbergsche Reformpolitik ,liberal' oder ,konservativ' war oder welche Fraktion innerhalb der Beamtenschaft dem Liberalismus und welche dem Konservativismus zuzurechnen ist. 26 Die Ministerialbürokratie kam je nach Situation der ständisch-konservativen oder der staatsbürgerlich-liberalen Bewegung entgegen, verfolgte aber letztlich das Eigeninteresse, ihre Machtposition zu wahren und wenn immer möglich zu verstärken. Dies belegen sowohl die zahlreichen Repressions- und Zensunnassnahmen des preussischen Zentralapparates, die sich gegen liberale und nationale wie gegen ständisch-restaurative Regungen wandten, als auch die gleichzeitigen Anstrengungen, eine eigene, amtlich gebändigte Öffentlichkeit vor allem mittels aktiver Presseförderung zu schaffen. 27 Eine solche für Preussen eigentümliche bürokratischetatistische Öffentlichkeitspolitik über ein begünstigtes Netz von Verlegern, Redaktoren und Journalisten war in England und Frankreich, wo die öffentliche Meinungsbildung friih in den Händen des aufstrebenden dritten Standes lag, nicht praktizierbar?8 Die preussisch-bürokratische Öffentlichkeitspolitik richtete ihr Augenmerk vornehmlich auf die Professoren- und Dozentenschaft, mit welchen die Minister und höheren Beamten durch denselben gymnasial-universitären Ausbildungsweg verbunden waren. Die Ministerialbürokratie ermunterte Professoren und Vgl. Heget, Grundlinien,§ 314. Ebd., § 303. 24 Marx, Kritik, S. 60. 2s Ebd., S. 105. 26 Vgl. dazu Fehrenbach, Bürgertum, S. 44-50 (mit weiterführenden Literaturangaben). 27 Vgl. Dittmer; Bearntenkonservativismus, bes. S. 238-44, und Kasel/eck, Preussen, s. 414-433. 28 Vgl. Habermas, Strukturwandel, S. 122- 141. 22

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Dozenten zu amtsgernässen politischen Stellungnahmen und publizistischen Unternehmungen, während sie oppositionelle Aktivitäten mit Sanktionen bis hin zu Entlassungen zu unterdrücken versuchte. Wer aktiv zusammenarbeitete, wurde entsprechend belohnt, wie Leopold von Ranke, welchen das Aussenministerium für die Herausgabe der ,Historisch-Politischen Zeitschrift' in den Jahren 1832-1835 nicht nur finanziell, sondern auch mit der Ernennung zum ordentlichen Professor der Berliner Universität entschädigte.Z9 Mit der Formierung der ständisch-konservativen Bewegung gegen den zentralistischen Bürokratismus lief deren ideelle Ausformung einher oder in den Worten Kar! Mannheims: "Die ideologische Reaktion auf die Aufklärung verbindet sich mit der sozialen Reaktion des Adels. ,.Jo Damit sich der preussische Konservativismus als Ideologie herausbilden konnte, mussten seine Grundintentionen realsoziologisch, das heisst ständisch fundiert sein, aber zunehmend durch die aufsteigende, staatsbürgerliche Gesellschaft überlagert werden. Zuerst waren es Romantiker wie Kleist, Müller, Amim und Brentano, die sich als "sozial freischwebende Intellektuelle" und daher "typische Rechtfertigungsdenker" und Sinnstifter stellenweise in den Dienst der ständischen Opposition begaben? 1 Der politische und geistige Treffpunkt von ständisch Oppositionellen und Romantikem war die ,Christlichdeutsche Tischgesellschaft' und deren Sprachrohr die ,Berliner Abendblätter'. 32 Es dauerte nicht lange, bis die romantisch-schwärmerische Verklärung des Mittelalters, von Christentum, Adel und Monarchie nicht mehr genügen konnte, da sich am politischen Horizont eine neuer, weitaus gefährlicherer Gegner als die zentralisierende Bürokratie abzeichnete, nämlich der bürgerliche Liberalismus mit seiner Forderung nach dem nationalen, säkularisierten und repräsentativen Verfassungsstaat. Es war deshalb eine Steigerung der Reflexion und Methode unabweisbar, um das alte, im Einsturz begriffene ständisch-monarchische Verfassungsgebäude ideell neu abzustützen. In seinem voluminösen Werk über die ,Restauration der Staatswissenschaften' lieferte der Bemer Staatsrechtslehrer Carl Ludwig von Haller das nötige Material dazu. 33 Er bot eine Rechtfertigung des ständischen Patrimonialstaats, der Ableitung aller Herrschaftsgewalt aus dem Eigentum an Grund und Boden mit dem Zweck, sowohl staatlich-bürokratische als auch liberal-parlamentarische Machtansprüche abzuweisen. Hallers Gegentheorie zur aufklärerischen Vertrags- und Volkssouveränitätslehre beeinflusste nicht nur den Kronprinzenkreis in seinem Kampf gegen Hardenberg, sondern auch den vormärzliehen preussischen Konservativismus um die Brüder Gerlach. Sie vertieften in den 1830er Jahren Hallers Lehre aus pietistischer Perspektive? 4 Als publizistische Plattformen dienten 29

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Vgl. Dittmer, Beamtenkonservativismus, S. 247,275-89. Mannheim, Konservatismus, S. 141. Ebd., S. 144-46, 157. Vgl. Steig, Kleists Berliner Kämpfe, bes. S. 21-40. Vgl. Haller, Restauration der Staatswissenschaften, Bde. I-VI, Winterthur 1820-34. Vgl. Kraus, Gerlach, Bd. I, S. 120- 26.

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das ,Berliner Politische Wochenblatt' als interkonfessionell konzipiertes Organ unter der Leitung des Katholiken Carl Ernst Jarcke sowie die orthodox-lutheranische ,Evangelische Kirchenzeitung', welche der Berliner Theologieprofessor Ernst WBhelm Hengstenberg herausgab? 5 Während sich die ,Kirchenzeitung' auf den Kampf gegen den erstarkenden theologischen Rationalismus und dessen kirchenpolitische Auswirkungen konzentrierte, stellte es sich das ,Wochenblatt' zur Aufgabe, den staatlichen Bürokratismus ebenso zu bekämpfen wie den Liberalismus. In beiden sahen die Konservativen das Erbe des friderizianischen Absolutismus, welcher den spätmittelalterlichen, dualistischen Ständestaat im Kern zerstört und somit die Auftrennung von Staat und Gesellschaft, von Öffentlichkeit und Privatheil, von Politik und Religion ermöglicht habe. Bürokratismus und Liberalismus unterschieden sich für die Konservativen nur graduell. Beide waren bestrebt, die Einheit von Staat, Religion und Kirche aufzugeben zugunsten des staatlichen Vorrangs bis hin zur Trennung, die Stände- in eine Staatsbürgergesellschaft zu überführen, die Monarchie von ,Gottes Gnaden' zu entsakralisieren und gleichzeitig bürokratisch oder konstitutionell-repräsentativ zu entmachten, die föderalistische Staatsgliederung Preussens zu zentralisieren und letztlich in einem deutschen Nationalstaat aufgehen zu lassen?6 Den doppelten Kampf der preussischen Konservativen gegen Ministerialbürokratie und Liberalismus brachte ein Artikel im ,Wochenblatt' sehr anschaulich zum Ausdruck. Der Verfasser beabsichtigte, die "politischen Parteien" in einer zeitgemässen, systematischen Form darzustellen. 37 Friihere solche Versuche seien wenig überzeugend, weil sie sich zu sehr an Persönlichkeiten, individuellen Interessen und inhaltlichen Details orientieren und eine Übersicht des Kampfes verunmöglichen würden. Man müsse vielmehr "von den Hauptprinzipien ausgehen, ihre Wesentlichkeit, ihre philosophische Begriindung scharf ins Auge fassen, um zu erkennen, welche kleinere Fractionen, welche Unterabtheilung zu derselben HauptPartei gehören, dann ist die Uebersicht leicht und einfach". Es Iiessen sich prinzipiell drei politische Hauptrichtungen unterscheiden: "Die sogenannt liberale Partei, die legitimistische, und die ministerielle oder büreaukratische.". An anderer Stelle spricht der Verfasser von "Liberalismus", "Legitimismus" und "Ministerialismus". Während die beiden ersteren eine weltanschauliche Grundlage und bestimmte poli35 Zum ,Wochenblatt' vgl. Scheel, Berliner politisches Wochenblatt; Dittmer, Beamtenkonservativismus, S. 131 - 145; Kraus, Gerlach, Bd. I, S. 151-164; Meinecke, Weltbürgertum, S. 205 - 222. Zur ,Kirchenzeitung' vgl. Kriege, Geschichte. 36 Vgl. z. B. ,Der Absolutismus', BpW, 27, 28, 30, 7. Juli, 14. Juli und 28. Juli 1832, S. 172 - 74, 177-79 und 190-92. ,Revolution und Absolutismus', BpW, 7, 16. Februar 1833, S. 39-40, sowie 12-14,23. März-6. April1833, S. 71-73,77-79,83-85. Vgl. auchdie Artikelreihe:'Die ständische Verfassung und die deutschen Constitutionen', BpW, 46-51, 16. November- 28. Dezember 1833, S. 289-326, sowie 1-3, 4. Januar- 18. Januar 1834, s. 2-18. 37 Die folgenden Zitate in: Adolf von Kleist, ,Versuch einer systematischen Darstellung der politischen Parteien', BpW, 43/44, 26. Oktober/2. November 1833, S. 269-71 und 276-79.

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tische Ausrichtung hätten, betrachte der Ministerialismus "das System als theoretische Spitzfindigkeit" und erstrebe lediglich "aus den momentan gegebenen Verhältnissen, seyen sie nun liberaler oder legitimistischer Natur, die grösstmögliche Entwickelung" seiner Herrschaftsgewalt Er bezwecke bloss "die Centralisation, die Vervollständigung der Maschine, des Räderwerks in derselben, die Einheit, die Konsequenz, die Unfehlbarkeit und Allmacht des Organismus im Staate". Jedes politische System, das ihm dazu Hand biete, halte er für legitim. In der Bekämpfung einer monarchisch-bürokratischen Willkürherrschaft würden der Liberalismus und Legitimismus das gleiche Schwert führen. Der Liberalismus sei dem Ministerialismus jedoch in etlichen Punkten auch zugetan, zumal er ebenfalls eine Beseitigung ständisch-partikularer Strukturen anstrebe und das historische Recht geringschätze. Freilich mit dem Unterschied, dass er eine staatliche Despotie durch das Prinzip der Volkssouveränität zu verhindem trachte. In der Ablehnung der Volkssouveränität seien sich Legitimismus und Ministerialismus einig. Der Legitimismus stehe aber für die Ständeverfassung als klarer Gegensatz zum liberalen Repräsentativsystem und zu bürokratischem Zentralismus, für ein ständisch gebundenes Recht und ständische Freiheit auf christlicher Grundlage. "Darum kämpft er gegen die Centralisation, gegen die Büreaukratie, gegen die Vernichtung der Individualität, besonders der Corporationen, weil in den grossen Corporationen die Interessen, die Individualitäten die wahre Verkörperung finden, die der Centralisation den festesten Damm entgegensetzen." Der Legitimismus wende sich gegen alle Revolutionen und verstehe darunter nicht nur die Volkssouveränität und "papiemen Constitutionen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts", sondern auch die ,,Staatsverfassungen, wie sie sich seit der Mitte des siebenzehnten Jahrhunderts in Europa ausgebildet haben". Fasse man die genannten Hauptpunkte zusammen, ergebe sich eine Kräftekonstellation, bei der in allen wichtigen politischen Fragen jeweils zwei Parteien der Dritten gegenüberstünden. Obschon der Tenor in der preussisch-konservativen Presse der 1830er Jahre einheitlich schien, in der Frage einer Verfassung und Repräsentation keine Konzessionen zu machen und das Modell der ständisch-verfassten Monarchie, wie es sich im Vormärz als noch stückweise existent präsentierte, zu verteidigen, so waren erste Dissonanzen nicht zu überhören. Einer, wenn nicht der entscheidende Verursacher war Friedrich Julius Stahl. 38 Der gebürtige Bayer und zum Protestantismus konvertierte Jude war nach Müller und Haller der letzte grosse Ideengeber des preussischen Konservativismus. Sowenig Stahl mit dem Kreis der pommerschen Pietisten um die Briider Gerlach eng verbunden war, so unterschiedlich fiel seine Meinung über die preussische Verfassungs- und die nationale Frage aus. Die privatrechtliche Patrimonialstaatslehre Hallers, welche des politische Denken der Gerlachs und ihrer Mitstreiter tief prägte, verwarf Stahl als eine Verzeichnung des Mittelalters. An der politisch-sozialen Wirklichkeit gemessen, hatte sich für Stahl die ständisch38 Zum Denken und politischen Wirken Stahl vgl. Schmidt, Stahl; Meinecke, Weltbürgertum, S. 224 - 229; Schoeps, Preussen, S. 97- 100, und besonders die neuere Studie von Füssl, Stahl.

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monarchische Verfassungsidee überlebt, so dass sich deren ,Konservierung' lediglich für den Liberalismus auszahlen würde. Mit dieser Auffassung zog Stahl nicht nur den Argwohn und die Kritik des Gerlach-Kreises auf sich, sondern auch die Gunst des Königs und der Ministerialbürokratie. 39 Stahl, der seit 1832 ordentlicher Professor für Staatsrecht an der Universität Würzburg war, erhielt im Jahre 1840 den Ruf an die Universität Berlin und stieg, in der Beziehung durchaus mit Hegel vergleichbar, rasch zum führenden ,Ideologen' der preussischen Monarchie auf. In seiner 1845 verfassten programmatischen Schrift mit dem Titel ,Das monarchische Prinzip' entwarf Stahl die Lehre vom monarchischen Konstitutionalismus als eigenständiger Staatsform zwischen der ständisch und parlamentarisch verfassten Monarchie. Damit der preussische König nicht wie in den westlichen Verfassungsstaaten zur faktischen Machtlosigkeit absinke, müsse seine Souveränität sowohl gegen altständische als auch gegen parlamentarische Begrenzungsversuche abgesichert werden. Dazu schlug Stahl folgende Massnahmen vor: Die Oktroyierung einer Verfassung mit negativ fixierten Grundrechten, eine ständisch gewählte, jedoch repräsentative Volksvertretung mit der Petitions- und Zustimmungskompetenz zu königlichen Gesetzen und Steuern, die alleinige Verfügungsgewalt des Königs über Regierung, Verwaltung, Justiz und Armee sowie das ausschliessliche Recht der Verfassungsrevision. 40 Die Einberufung des Ersten Vereinigten Landtages im Jahre 1847 sollte die Lehre Stahls vom monarchischen Konstitutionalismus auf die Probe stellen. Das Experiment war nur von kurzer Dauer, weil die 1848er Revolution eine neue, von den Liberalen diktierte Ausgangslage schuf. Stahl erwies sich als geistig wendig und passte seine Lehre den neuen Gegebenheiten an. In einem richtungsweisenden Kreuzzeitungsartikel mit der Überschrift ,Das Banner der Conservativen' plädierte Stahl für die Anerkennung des königlichen Vorgehens in den Märztagen. 41 Der ·König habe in keiner Weise vor den Revolutionären kapituliert und auf Zwang eine Nationalversammlung nach gleichem Wahlrecht einberufen, sondern über die Zwischenschaltung des Zweiten Vereinigten Landtages die Legalität und Rechtskontinuität gewahrt und folglich das Eigenrecht der Revolution gebrochen. Weil der König aus eigener Machtvollkommenheit Preussens Übergang in eine konstitutionelle Monarchie vollzogen habe, gelte es nun für die preussischen Konservativen, dem König in diesem Willen zu folgen, sich geschlossen auf den konstitutionellen Boden zu stellen und für die Sache des Königs zu fechten. Das Ziel müsse sein, die Macht des Königtums zu verteidigen, damit es nicht im parlamentarischen System untergehe, wie dies in England geschehen sei. Auf der theoretischen Ebene war der preussische Konservativismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgebildet. 42 In dieser Zeit hatten Adam Müller, Carl 39 40

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Vgl. Füssl, Stahl, S. 49, 108 f. Vgl. Stahl, Das monarchische Prinzip, S. 14 f., 25, 32. NPZ, 17, 20. Juli 1848. Vgl. auch Berdahl, Politics, S. 348 f.

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Ludwig von Haller und Friedrich Julius Stahl ihre Hauptwerke verfasst. Müller, Haller und Stahl waren die grossen Ideengeber des preussischen Konservativismus in seinem politischen Kampf gegen den bürokratischen Zentralismus und den Liberalismus. Sie hielten an Monarchie, Ständeturn sowie Einheit von Religion und Politik im wesentlichen fest und trafen sich, trotz unterschiedlicher Auffassung über die ideale politisch-soziale Ordnung, in der Ablehnung des aufklärerisch rationalen und säkularisierten Politik- und Rechtsdenkensund damit der Vertrags-, Menschenrechts- und der Volkssouveränitätslehre. Ihre Kernideen und Argumente bezogen sie aus der vorabsolutistischen politisch-religiösen Einheitswelt, übersetzten sie, wo nötig, in eine zeitgernässere Form und versuchten, das einstürzende, ständisch-monarchische Verfassungsgebäude und dessen tragenden Pfeiler, die christliche Religion, neu zu fundieren.

2. Die publizistische und vereinspolitische Fonnierung Der monarchisch-bürokratische Zentralapparat Preussens sah sich im Vorfeld der 1848er Revolution zwei konkurrierenden, auf gegensätzliche politisch-soziale Verfassungen hinstrebenden Bewegungen gegenüber. Der Liberalismus kämpfte für Einheit und Freiheit, für den konstitutionellen Rechtsstaat im nationalen Rahmen als Stufe zum aufklärerischen Ideal der bürgerlichen Weltrepublik im Zeichen der Vernunft, des Rechts und der Wissenschaft. Der Konservativismus verteidigte die ständisch verfasste Monarchie als Erbe der mittelalterlichen christlich-universalen Weltordnung. Das Spannungsverhältnis zwischen staatlichem Bürokratismus, Liberalismus und Konservativismus erreichte im Vormärz eine solche Intensität, dass eine gewaltsame Lösung immer näher riickte. Die zweite Phase des preussischen Konservativismus begann mit dessen publizistischer und vereinspolitischer Formierung, nachdem die europäische Revolutionswelle im März 1848 über Preussen hereingebrochen war.43 Liberal-demokratischer Umsturzwille ging mit dem Bekenntnis zur Nation eine aus konservativer Sicht äusserst gefährliche Allianz mit dem Ziel ein, Preussen in einen souveränen, säkularisierten und repräsentativen Rechts- und Verfassungsstaat zu überführen und diesen gleichzeitig in einem deutschen Nationalstaat aufgehen zu lassen. Nachdem Preussens König Friedrich Wilhelrn IV. noch ein Jahr zuvor feierlich erklärt hatte, "dass es keiner Macht der Erde je gelingen soll, Mich zu bewegen, das natürliche, gerade bei uns durch seine innere Wahrheit so mächtig machende Verhältnis zwischen Fürst und Ständen in ein conventionelles, constitutionelles zu wandeln", kapitulierte er in den Märztagen vor den Revolutionären, berief ein liberales Ministerium und kündigte Preussens Überleitung in eine konstitutionelle Monarchie an.44 43 Zum europäischen Charakter der Revolution von 1848/49 vgl. Koselleck, Ereigniszusarnrnenhang, NZZ, 303, 31. Dezember 1998, sowie Gailus, Bürgerliche Revolution, S. 634 f. 44 Thronrede vorn 11. April 1847, in: Bleich, Vereinigte Landtag, Bd. 1, S. 22, zit. bei Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. II, S. 495. Zur Biographie von Friedrich Wilhelrn IV. vgl. Bussmann, Zwischen Preussen, und Barclay, Anarchie.

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Der Sieg der liberalen Bewegung über den monarchisch-bürokratischen Zentralapparat und den Konservativismus schien im Frühsommer 1848 vollständig zu sein. Das preussische Ministerium unter den Liberalen Camphausen und Hansemann verkündete nach der bereits eingeführten Pressefreiheit die Versammlungs- und Vereinsfreiheit als Voraussetzungen für eine bürgerliche Öffentlichkeit. Der Vereinigte Landtag, welcher als gesamtständisches Repräsentationsorgan im April 1848 zum zweiten Mal einberufen worden war, beschloss beinahe einstimmig seine Aufhebung und damit den Übergang Preussens in eine verfassungsmässige Monarchie. Im Mai begannen die Nationalversammlungen in Berlin und Frankfurt als erste wirklich repräsentative Organe der preussisch-deutschen Geschichte zu tagen und über liberale Verfassungen zu beraten. In beiden Parlamenten sassen weder Vertreter des preussischen Konservativismus, noch stiessen deren Ideen und Forderungen bei den rechten, durchwegs konstitutionell orientierten Fraktionen auf Widerhall. Nachdem der König in einer Rede vor den Offizieren des Gardekorps im März klargestellt hatte, dass er "niemals freier und sicherer gewesen, als unter dem Schutze Meiner Bürger" und folglich keine konterrevolutionären Absichten zu dulden gewillt sei, nahm er den Konservativen noch die letzte Hoffnung auf eine militärische Zerschlagung der Revolution. 45 Unter den führenden Kräften des vormärzliehen Konservativismus herrschte im Frühjahr 1848 eine lähmende Furcht vor revolutionären Repressionen. Etliche zogen es vor, die Hauptstadt vorübergehend zu verlassen oder zumindest in keiner Weise den Verdacht ,reaktionärer' Bestrebungen auf sich zu ziehen. 46 "Diese Herren ,von'", schrieb Ernst Ludwig von Gerlach, "sind nicht bloss konfuse, was so viel nicht schaden würde, sondern feige im Extrem. Die Front immer nach dem Mist. "47 Derart in die Defensive gedrängt, ergriff eine kleine Gruppe von pietistisch gesinnten, pommerseben Konservativen die Initiative und setzte die Bildung einer preussisch-konservativen Gegenöffentlichkeit in Gang. Die Organisation und Agitation der konservativen Bewegung leisteten zu einem massgeblichen Teil die Brüder Ernst Ludwig und Leopold von Gerlach. 48 Ernst Ludwig amtete als Oberlandes- und Appelationsgerichtspräsident von Magdeburg und war bereits seit den 1830er Jahren als scharfzüngiger politischer Publizist für die konservative Sache aktiv. Leopold von Gerlach durchlief eine militärische Laufbahn und krönte diese 1849 als Generaladjutant des Königs. Auch Leopold war publizistisch tätig und gehörte mit seinen Brüdern Ernst Ludwig und Otto von Gerlach zum persönlichen Ratgeberkreis des Königs. Ernst Ludwig und Leopold von Gerlach zeichneten sich im Vormärz durch Tatkraft und Entschlossenheit aus, die 45 Ansprache König Friedrich Wilhelms IV. an das Offizier-Corps zu Potsdam, 25. März 1848, in: Huber; Dokumente, Bd. I, Nr. 154, S. 450. 46 Vgl. Füssl, Stahl, S. 121 f. Zum Berlin des Revolutionsjahres 1848 vgl. Hachtmann, Berlin. 47 Brief an Leopold von Gerlach vom 9. Juli 1848, in: Petersdorff, Briefe, S. 1007 f. 48 Zu Leben und Werk Ernst Ludwig von Gerlachs vgl. die ausführliche, zweibändige Biographie von Kraus, Gerlach. Zu Leopold von Gerlach vgl. Nobbe, Einfluss.

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noch existierenden ständischen Strukturen Preussens, den Deutschen Bund sowie das Bündnis der drei Ostmächte Preussen, Österreich und Russland als Kernstück der ,Heiligen Allianz' zu verteidigen. Ihre Gegnerschaft sahen sie zum einen im zentralisierenden und reglementierenden staatlichen Bürokratismus und zum anderen in der vorrückenden liberaldemokratischen und nationalen Bewegung. Im Frühjahr 1848 waren die Brüder Gerlach gleichsam die Schöpfer der konservativen Doppelstrategie: einerseits im Kampf um die öffentliche Meinung mittels Presse und Vereinen, um den sich namentlich Ernst Ludwig kümmerte, und andererseits in der Einflussnahme auf den König mittels eines informellen Beratergremiums, worum sich Leopold bemühte. Neben den Gerlachs sind als bestimmende Konservative der Revolutionszeit die pommerscheu Gutsherren Otto von Bismarck, Hans von Kleist-Retzow und Moritz von Blanckenburg zu nennen, der Chefredaktor der ,Kreuzzeitung' Hermann Wagener, die Herausgeber der ,Evangelischen Kirchenzeitung' und des ,Volksblatts für Stadt und Land', Ernst Wilhelm Hengstenberg und Philipp von Nathusius, sowie der Hallische Geschichtsprofessor Heinrich Leo und der Berliner Staatsrechtsprofessor Friedrich Julius Stahl. Die ältere, um 1790 geborene Generation der preussischen Konservativen, zu welcher auch die Brüder Gerlach zählten, traf sich in den Jahren 1816-19 allwöchentlich zu einer Abendgesellschaft, der sogenannten ,Maikäferei'. Diese führte gleichsam die ,Christlich-deutsche Tischgesellschaft' fort, welche um 1810 der geistige und politische Hort der altständisch konservativen Opposition gegen die Reformpolitik der Ministerialbürokratie war. In der ,Maikäferei' wurden beim abendlichen Mahle gemeinsame Erinnerungen an die Befreiungskriege ausgetauscht sowie poetisch und politisch romantisches Gedankengut in Form von Liedern, Gedichten und Diskussionen gepflegt. 49 1819 löste sich die ,Maikäferei' auf. An ihrer Stelle bildete sich ein neuer Kreis, in welchem das christlich-pietistische Element in den Vordergrund trat, sich lutherische Orthodoxie mit pietistischer Gefühlswelt verband und sich vor allem politisch zu artikulieren begann. Der Neupietismus fand in der ,Bewegung der Erweckten' nach den Befreiungskriegen von 1813 I 14 in ganz Deutschland und in Preussen namentlich in der Provinz Pommern grössere Verbreitung. Viele Mitglieder des ehemaligen ,Maikäferkreises' hatten sich in Pommern als Gutsherren niedergelassen und besuchten oder hielten auf ihren Gütern ,Erweckungskonventikel' ab. Ernst Ludwig von Gerlach lernte als stellvertretender Oberlandesgerichtsrat in Naumburg die thüringschen Erweckungskonventikel kennen. Er und sein Freund und Berufskollege August Wilhelm von Goetze wurden alsbald zu deren Führergestalten. Noch wichtiger war Gerlach der pommersehe Pietistenkreis, mit dem er von seinem Gute Rohrbeck aus in engem Kontakt stand.50 Durch die Heirat mit Auguste von Oertzen trat er zudem in ver49 Die Bezeichnung ,Maikäferei' stammt vom Namen des Wirtes der Berliner Schlossfreiheit, der Mai hiess. Vgl. Gerlach, Aufzeichnungen, Neujahrsnacht 1815/16, Bd. I, S. 94 f. ; Wiegand, Kreis der Maikäfer; Jordan, Entstehung, S. 135 f. ; Meinecke, Weltbürgertum, S. 203; Witte, Die pommerschen Konservativen, S. 7 - 14; Kraus, Gerlach, Bd. I, S. 74 f.

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2. Teil: Der preussische Konservativismus

wandtschaftliche Beziehung mit den Gutsbesitzern Adolf von Thadden und Ernst von Senfft-Pilsach, die beide ebenfalls mit einer Oertzen vermählt waren. Mit der älteren Generation der preussischen Konservativen war die jüngere, um 1815 geborene in manchen Punkten verbunden. Bismarck, Kleist und Wagener beispielsweise wurden von den Brüdern Gerlach protegiert, während Blanckenburg gleichermassen mit Thadden und Gerlach verwandt war. Bismarck vermählte sich nach erfolglosem Werben um die Gattin des Moritz von Blanckenburg mit der Pietistin Johanna von Puttkamer, der Tochter des pommerseben Gutsbesitzers Heinrich von Puttkamer. Versippt, verschwägert und befreundet waren auch Bismarck, Blanckenburg, Kleist und der spätere Kriegsminister Albrecht von Roon.51 Als im März 1848 die Revolution in Preussen ausgebrochen war, erwies sich das enge freundschaftliche, verwandtschaftliche und glaubensmässige Beziehungsnetz der pommerseben Konservativen als beträchtliches Kapital für den Aufbau einer konservativen Oppositionsbewegung. Nahezu alle Protagonisten des preussischen Konservativismus und vor allem auch Bismarck gingen aus dem Kreis der pommerseben Pietisten hervor. Durch die liberal-demokratischen und nationalen Revolutionspostulate herausgefordert, formierten sich die preussischen Konservativen in Schrift und Tat als politische Willensgemeinschaft Unter dem preussischen Banner und mit dem Schlachtruf ,Vorwärts mit Gott für König und Vaterland' setzten sie zum Kampf gegen die liberal-demokratischen Regierungen und Parlamente in Berlin und Frankfurt an. Diesen hatten sie an zwei Fronten zu führen. Zum einen gegen den säkularisierten, repräsentativen Rechts- und Verfassungsstaat und zum anderen gegen den Nationalstaat. Am Aufbau einer konservativen Oppositionsbewegung war Ernst Ludwig von Gerlach in massgebender Weise beteiligt. Er war der eigentliche Initiator und Koordinator einer konservativen Sarnmlungspolitik, welche mit der ,Kreuzzeitung' ein schlagkräftiges publizistisches Organ erhielt. 52 6erlach hatte im Frühjahr 1848 den Entschluss gefasst, die liberale Pressefreiheit auszunützen und, endlich befreit von bürokratischen Zensurdrohungen, eine konservative Zeitung ins Leben zu rufen. Im Rückblick auf die Revolutionsjahre schrieb Gerlach 1853: "Preussen hat - und zwar unter allen Staaten seit 1789 nur Preussen - in seinem Innern eine wahre Reaction echten Rechts und echter Freiheit gegen die Revolution mit Erfolg begonnen, wenn auch lange noch nicht vollendet, und zwar begonnen mitteist der eroberten und umgewendeten Geschütze der Revolution selbst, mitteist der Tribüne, mitteist der freien Presse und mitteist des Partheiwesens."53 Als Chefredaktor der ,Kreuzzeitung' wurde der junge, von Gerlach 50 Vgl. Witte, Die pommerseben Konservativen, S. 18-25; Schoeps, Preussen, S. 15; Berdahl, Politics, S. 247 f.; Kraus, Gerlach, Bd. I, S. 112 f .; Engelberg, Bismarck, Bd. I, s. 186-206. 51 Zum Beziehungsnetz des Gerlach-Kreises vgl. Diwald, Revolution, Bd. I, S. 12-14; Schult, Partei, S. 60 f., und Witte, Die pommerseben Konservativen, S. 69 f . 52 'Kreuzzeitung' war der Übername wegen des ,Eisernen Kreuzes' als Titelsignet Der eigentliche Name war ,Neue Preussische Zeitung'. 53 'Rundschau im Juli 1853', NPZ, 176,31. Juli 1853.

I. Die Fonnierung des preussischen Konservativismus

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protegierte Jurist Hermann Wagener angestellt. 54 Er steuerte von Beginn weg, also seit dem 4. Juli 1848, als die ,Kreuzzeitung' als tägliche Ausgabe im Grassformat erschien, einen angriffigen Kurs. Während anfanglieh Zeitungsinserate als geradezu unsittlich und der konservativen Sache schädlich abgelehnt wurden, änderte sich alsbald die Haltung zugunsten der liberalen Marktlogik, nicht zuletzt auf Anraten Bismarcks. Diesmal waren es nicht die staatlichen Zensurbehörden, welche die Herausgabe der Zeitung erschwerten, sondern aufgebrachte Revolutionäre. Sie überfielen die Zeitungsboten und bedrohten den Chefredaktor an Leib und Leben. Dem Unternehmen tat dies aber keinen Abbruch. Im Gegenteil begann sich, wie Wagener in seinen Memoiren festhielt, "eine eigentlich selbstbewusste Partei erst mit der Entwicklung der Kreuzzeitung zu bilden". 5 5 Dass mit der Griindung einer Zeitung noch keine ernstzunehmende Front gegen die revolutionären Kräfte zu machen war, hatten die Konservativen rasch gelernt. Die bittere Erkenntnis, dass man sich den bürgerlich-liberalen Spielregeln des öffentlichen Diskurses zur politischen Machtgewinnung unterwerfen musste, schlug alsbald in Zweckoptimismus um. 56 In kämpferischem Tone bemühte sich das ,Volksblatt für Stadt und Land' seinen Lesern die Vorteile des politischen Vereinswesens herauszustreichen. "Eine einzige Kompagnie disciplinirter und wohl geführter Soldaten schlägt bekanntlich einen zehnfach stärkeren ungeregelten Haufen in die Flucht [ ... ] So auch auf dem Felde der Politik. Eine politische Partei, die sich nicht in Vereine geordnet hat, ist noch gar keine Partei."57 Im seihen Stil argumentierte die ,Kreuzzeitung': "Man mag über politische Klubs denken, wie man will, soviel ist gewiss, dass man auch hier den Gegner auf seinem eigenen Felde schlagen muss, wenn man nicht zu Grunde gehen will. "58 Die Verteidigungsstrategie des Gerlach-Kreiseswar eine doppelte. Zum einen versuchte Ernst Ludwig von Gerlach mit dem Aufbau einer ausserparlamentarischen konservativen Gegenöffentlichkeit die Parlamente in Berlin und in Frankfurt in ihrem Rechtsgültigkeitsanspruch zu desavouieren, während Leopold von Gerlach zum anderen darum bemüht war, den König über ein informelles Beratergremium zu stützen, zu beraten und gegen den Druck der Öffentlichkeit, der Parlamente und seiner Minister möglichst abzuschirmen. Der Gerlach-Kreis war aber nur die Spitze einer breiten konservativen Vereinsbewegung. Das revolutionäre Nationalstaatspostulat wirkte im Friihsonuner 1848 gleichsam vereinsbildend und artikulierte sich als betont preussisch-patriotistische Oppositionshaltung sowohl in der Namengebung der Vereine als auch in deren Statuten. 59 Zwei konservative Vereine traten an Grösse und Einfluss hervor, nämlich 54

Vgl. die Memoiren von Wagener, Erlebtes, S. 4-16, sowie Kraus, Gerlach, Bd. I,

s. 410-15. 55

56 57

58

Wagener, Erlebtes, S. 24. Zur ,bürgerlicher Öffentlichkeit' vgl. Habermas, Strukturwandel, bes. S. 148-60. 'Die Wirksamkeit der politischen Vereine', VfSL, 69, 26. August 1848, S. 1049. NPZ, 55, 2. September 1848 (Beilage).

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2. Teil: Der preussische Konservativismus

der ,Preussenverein' und der ,Patriotische Verein', die mit der Aufteilung in Zentral- und Zweigvereine sowie genau festgelegten Statuten ein dichtes Organisationsnetz in den preussischen Ostprovinzen geschaffen hatten. Die Mitgliedschaft der Vereine setzte sich aus Repräsentanten des Mittelstandes zusammen, aus HandwerksmeisteiD und kleineren Kaufleuten, Verwaltungs-, Justiz- und Polizeibeamten, Militärangehörigen und Geistlichen. 60 Adelige waren in diesen Vereinen nur schwach vertreten. Ihre politische Plattform bildete vornehmlich der Berliner ,Verein für König und Vaterland' sowie ein rein agrarischer Interessenverein, der sogenannte ,Verein zum Schutze des Eigentums und der Förderung des Wohlstandes aller Volksklassen', welcher, in zahlreiche Zweigvereine aufgeteilt, wirksamen Protest gegen die liberalen Agrarreformen erhob.61 Obschon die politisch konservative Vereinsbewegung und der Gerlach-Kreis gemeinsam und geschlossen gegen Frankfurt Front machten und für die Wahrung der preussischen Selbständigkeit fochten, verfolgten sie damit differierende Zwecke. Der Führungszirkel um die Brüder Gerlach erstrebte nach dem erhofften Scheitern der nationalen Revolution die zumindest teilweise Restauration des vormärzliehen preussischen Staats- und Gesellschaftszustandes. Die ,Vereinsbasis' hingegen wollte einen innenpolitisch gemässigten Kurs einschlagen, das heisst, sie hielt an der Verfassung, wie sie der König im Dezember 1848 oktroyiert hatte, als einer ,Märzerrungenschaft' prinzipiell fest und stellte sich nur gegen eine Radikalisierung, gegen ein Abgleiten des Konstitutionalismus in den Parlamentarismus und die Demokratie.62 Dieser Interessenunterschied war ein wesentlicher Grund für das vorläufige Misslingen der Bildung einer einheitlichen, zentral organisierten konservativen Partei. Die konservativen Vereine fanden sich nicht bereit, ihre regionale Autonomie aufzugeben und sich in das Schlepptau der restaurativen Politik der Gerlach-Gruppe nehmen zu lassen. Der Graben zwischen dem konservativen Fu'lmlrtgszirkel und der mittelständischen Vereinsbasis weitete sich mit dem Fortgang der preussischen Gegenrevolution immer mehr aus. Am deutlichsten zeigte sich dies an den Reaktionen auf die Erfurter Unionspolitik von Radowitz. Dem Willen der ,Kreuzzeitung' und den dahinterstehenden Interessen des Gerlach-Kreises, die Erfurter Union zu Fall zu bringen und den Deutschen Bund zu reaktivieren, beugten sich die Vereine nicht. Sie folgten dem königlichen und ministeriellen Unionskurs und sicherten ihm in Dankadressen die volle Unterstützung zu. Die konservative Vereinsbewegung hatte zu diesem Zeitpunkt jedoch ihre Stosskraft 59 Vgl. zum konservativen Vereinswesen die ältere Arbeit von Jordan, Entstehung, S. 207 - 73, und die neuere Arbeit von Schwentker; Konservative Vereine, S. 72- 111. Vgl. auch Hachtmann, Berlin, S. 605- 17. Zum militärischen Vereinswesen der Jahre 1848 I 49, welches ebenfalls gut und breit organisiert war und in etwa dieselben Inhalte wie die konservativen Vereine vertrat, vgl. Trox, Militärischer Konservatismus. 60 Vgl. Schwentker, Konservative Vereine, S. 167 - 174. 61 Vgl. Klatte, Anfänge; Schwentker; Konservative Vereine, S. 100- llO, und Hecker; Beschlüsse. 62 Vgl. Schwentker; Konservative Vereine, bes. S. 97, 242 f., 329 f.

I. Die Formierung des preussischen Konservativismus

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praktisch verloren. Mit der Zerschlagung der nationalen Bewegung und der Schaffung einer konstitutionell-monarchischen Staatsform hatte die preussische Regierung die zentralen Postulate der Vereine erfüllt und ihre Existenz überflüssig gemacht. Dem preussischen Konservativismus gelang es 1848 I 49 erstaunlich rasch, sich vom ständisch-monarchischen Verfassungsmodell zu lösen und sich dem liberalen Konstitutions- und Repräsentationsprinzip anzupassen. Die Konstituierung des Konservativismus zur ,Partei' hiess in gleicher Weise, sein überkommenes Selbstverständnis und seine Prinzipien abzulegen und nach den Regeln und mit den Waffen des ideologischen Gegenspielers, des Liberalismus, zu kämpfen. 63 Das Beziehungsgeflecht zwischen dem staatlich-monarchisch-bürokratischen Zentralapparat, der traditionellen Ständegesellschaft und der aufsteigenden Staatsbürgergesellschaft als Erbe des Absolutismus veränderte sich dadurch grundlegend. Die Ständegesellschaft war mittlerweile nahezu vollständig von der staatsbürgerlichen überlagert worden, so dass der Konservativismus sukzessive in die lokale, noch vielfach ständisch intakte Ebene abgedrängt wurde und von dort aus die "letzten grossen Gefechte für das alte, ständestaatliche und ständegesellschaftliche Ordnungsmodell" führte. 64 Auf gesamtstaatlicher Ebene hatte der Konservativismus 1848 I 49 seinen Grund weitläufig verloren und ging in der allgemeinen Staatsbürgergesellschaft auf, wurde zur Partei innerhalb des vom Liberalismus erkämpften verfassungsrechtlichen Rahmens.65 Indem sich der Konservativismus "des wesensadäquaten Mittels der bürgerlichen Gesellschaft, der ,Partei', für seinen Widerstand bediente, wurde er selbst ein Stück der bürgerlichen Gesellschaft. Der Konservativismus unterwarf sich damit selbst dem Prozess der Verbürgerlichung und Vergesellschaftung, gegen den er den Staat zu verteidigen bestrebt war". 66 Ernst Ludwig von Gerlach brachte es in seiner monatlichen ,Kreuzzeitungs-Rundschau' auf den Punkt, als er den Konservativismus von 1848 I 49 als die Partei derer hinstellte, "die das, was sie haben, möglichst langsam zu verlieren wünschen". 67 Mit dem Übertritt der ständisch-konservativen Bewegung in den bürgerlich-liberalen Rechts- und Verfassungsstaat und der einsetzenden Konstituierung zur konservativen ,Partei' standen sich in Preussen auf staatlicher Ebene nur mehr der monarchisch-bürokratische Zentralapparat und die bürgerliche, in Vereine und Parteien sich organisierende Gesellschaft gegenüber. Die Parteien erfüllten gleichsam eine Mittlerfunktion zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft, indem sie spezifische Forderungen sozialer Gruppen bündelten und gegenüber der staatlichen Entscheidungsgewalt durchzusetzen versuchten.68 Was den Gegensatz zwischen Liberalismus und Kon63

64 65 66 67

Vgl. Huber; Verfassungsgeschichte, Bd. II, S. 323. Nolte, Die kreisständische Verfassung, S. 92. Vgl. auch Breuer; Grundpositionen, S. 31 f. Huber; Verfassungsgeschichte, Bd. II, S. 323. Gerlach, Monats-Rundschauen, Rundschau zu Anfang März 1849, S. 130.

2. Teil: Der preussische Konservativismus

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servativismus nach 1848 I 49 noch im wesentlichen bestehen liess, war die ungelöste nationale Frage. An ihr sollte sich erweisen, ob der Konservativismus eine Zukunft besitzen oder aus der Geschichte verschwinden würde.

II. Der preussische Konservativismus und die nationale Frage Vorbemerkung

Was dem Liberalismus die entscheidende Durchsetzungskraft gegenüber dem Konservativismus verlieh, war die Forderung nach dem Nationalstaat, welche das europäische Revolutionsgeschehen von 1848 I 49 in der Hauptsache bestimmte. Das weltanschauliche Orientierungsdefizit, welches der Liberalismus mit seinem Kampf zur Überwindung der christlich legitimierten, ständisch verfassten Monarchie erzeugte, sollte die Nationsidee als Vorstufe zum Weltbürgertum und zur Weltrepublik beheben. Mit anderen Worten erfüllte die Nationsidee eine eminent säkulare Kompensations- und Integrationsfunktion für den fortschrittsbedingten Verlust weltanschaulicher Orientierungsgewissheit beim Übergang von der agrarisch-partikularistisch dominierten Ständegesellschaft zur dynamischeren, wachstumsorientierten Industriegesellschaft. 69 Die ständisch entgliederten Massen sollten unter der nationalen Fahne gesammelt und nach den politischen und ökonomischen Vorgaben des Bürgertums neu ausgerichtet werden. Der Ruf nach nationaler Einheit hiess, den obrigkeits- und ständestaatliehen Verhältnissen, dem grenzübergreifenden ,Wir-Gefühl' der europäischen Aristokratie und dem universalen Machtanspruch der katholischen Kirche das nationale Selbstbestimmungsrecht entgegenzustellen, das im Geiste der Aufklärung aus dem Prinzip der Volkssouvet'änität hergeleitet wurde. Die Volkssouveränität ihrerseits setzte das individuelle Recht der Selbstbestimmung bei der Volks- und Staatszugehörigkeit sowie das Mitbestimmungsrecht an der politischen Willensbildung voraus. 70 Der Wille zur Nation "ist geboren aus dem Geiste von 1789, aus dem Gedanken der Selbstbestimmung und Souveränität der Nation". 71 In Frankreich erklärte sich 1789 der ,Dritte Stand' als die Nation und nahm die Parole des nationalen Selbstbestimmungsrechts dann auch zum Anlass für seine aggressiv-expansionistische Aussenpolitik. Da Frankreich um die Wende zum 19. Jahrhundert ein souveräner Territorialstaat war und über eine, seit Jahrhunderten gewachsene politische und kulturelle Homogenität verfügte, betrachtete man die Gleichsetzung von Staat, Volk und Nation als selbstverständlich, was die Verknüpfung von Demokratie und Nation beVgl. Huber; Verfassungsgeschichte, Bd. II, S. 322 f. Vgl. Lemberg, Nationalismus, S. 165 -168; Gellner; Nationalismus. Zum Stand der Nationalismusforschung vgl. Langewiesche, Nation; Stauber, Nationalismus, S. 153-65. 70 Zum nationalen Selbstbestimmungsrecht vgl. Fisch, Selbstbestimmungsrecht - Opium für die Völker?, NZZ, 209, 9. September 1995. 71 Meinecke, Weltbürgertum, S. 12. 68

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II. Der preussische Konservativismus und die nationale Frage

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günstigte, wie sie bei Rousseau zum Ausdruck kommt oder von Abbe Sieyes in seiner einflussreichen Kampfschrift ,Qu'est ce que le tiers etat?' von 1789 gefordert wurde. Anstelle der monarchischen Souveräntität erhoben die Revolutionäre die ,republique une et indivisible' zum politisch-sozialen Ideal. Ein vorwiegend subjektives Zusammengehörigkeitsgefühl der westlichen ,Staatsnationen' Frankreich, Spanien und England vermochte im politisch, wirtschaftlich, kulturell und konfessionell zerklüfteten mittel- und osteuropäischen Raum keine rechten Wurzeln zu schlagen. 72 Hier galt es, die im westlichen Teil Europas historisch gewachsene Einheit von Staat, Volk und Nation, aber auch den technisch-industriellen Aufschwung erst noch zu schaffen, wodurch objektive Merkmale des Volksbegriffs zwangsläufig in den Vordergrund traten. 73 Sie reichten von der Abstammungsgemeinschaft über die Kultur- und Sprachengemeinschaft bis zur Schicksalsgemeinschaft. Wie auch immer der Volksbegriff ,konstruiert' wurde, dienten die Nationalbewegungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im mittel-, süd-und osteuropäischen Raum dazu, Völker unter der Parole des nationalen Selbstbestimmungsrechts in Staaten zu fassen? 4 Dies geschah entweder durch Integrationsbestrebungen von bislang lose verbundenen Staaten, oder durch Sezessionsversuche von bestehenden Staaten und dynastischen Staatsgebilden. 75 Die Nationalbewegungen waren vom Bildungs- und Besitzbürgertum und im weitläufig agrarischen Osteuropa auch vom reformwilligen Adel getragen. Sie beabsichtigten mit der Forderung nach nationaler Einheit und Freiheit der bürgerlichen Kultur, dem bürgerlichen Erwerbs- und Besitzdenken zum Durchbruch zu verhelfen. 76 Das Zusammengehen von Verfassungs- und Nationalbewegung bedeutete für die Konservativen eine äusserst gefährliche Allianz, weil sie ihren Kampf an zwei Fronten zu führen hatten, also zum einen gegen den konstitutionellen Rechtsstaat und zum anderen gegen den Nationalstaat. Dem konservativen Kampf gereichte es aber zum Vorteil, dass sich die liberale Verfassungsbewegung teilweise selbst um ihren Schwung brachte, nicht bloss durch innere Spannungen zwischen gemässigten und radikalen Kräften, sondern auch durch die zu lösende nationale Frage, welche mit der Verfassungsfrage zwar nicht prinzipiell, aber in der Praxis vielfach im Widerspruch stand.77 Wo sich die Verfassungs- und die nationale Frage gleichzeitig stellten, wie im zentraleuropäischen Raum, waren Liberalismus und Konservativismus am stärksten ausgebildet. Die preussischen Konservativen begannen sich in Reaktion auf die 1848er Revolution als breite politische und pu72 Vgl. die noch immer brauchbare Unterscheidung von Meinecke, Staatsbürgertum, S. 10, in ,Staatsnation' und ,Kultumation' und daran ansebliessend die Studie von Kohn, Idee des Nationalismus, S. 22. Vgl. auch Lernberg, Nationalismus, S. 175. 73 Zum Verhältnis von Staat, Volk und Nation vgl. Dann, Nation, S. 13 f. 74 Zum konstruktiven Element von Nation vgl. Gellner. Nationalismus, S. 77; Hobsbawm, Nationen, S. 20 f., und besonders zugespitzt die Arbeit von Anderson, Erfindung der Nation. 75 Vgl. die klassische Einteilung bei Schieder, Typologie, S. 63 - 65. 76 Vgl. auch Hobsbawm, Nationen, S. 25-58. 77 Vgl. Fisch, Der Völkerfrühling als Verfassungsgrab, NZZ, 146, 27. Juni 1998.

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2. Teil: Der preussische Konservativismus

blizistische Bewegung zu formieren. Ihr übergeordnetes Ziel war die Bewahrung der Selbständigkeit Preussens gegenüber den deutschen nationalstaatliehen Einigungsbestrebungen. In der historischen Nationalismusforschung figuriert die These, dass sich der Nationalismus in den meisten europäischen Ländern und besonders ausgeprägt in Deutschland im Laufe des 19. Jahrhunderts von einer ,linken' zu einer ,rechten' Integrationsideologie entwickelt hat. Auf Deutschland bezogen, wird der Nationalismus in einem ,Zwei-Phasen-Modell' dargestellt, nämlich zunächst als eine vom Vormärz bis in die Reichsgründungszeit dauernde emanzipatorisch-,linke' Integrationsidelologie, welche dann mit dem innenpolitischen Kurswechsel Bismarcks von 1878179 in eine konservativ-,rechte', nach innen monarchisch-autoritäre und nach aussen aggressiv-imperialistische und chauvinistische Integrationsideologie umschlug. 78 In der jüngeren Forschung sind einige Vorbehalte gegen die These vom Funktionswandel des Nationalismus angebracht worden. Zum einen stellt sich die Frage, ob es nicht angemessener ist, den ambivalenten Charakter des Nationalismus zu betonen, das heisst, von der Gleichzeitigkeit anstatt der Ungleichzeitigkeit ,linker' und·,rechter' Züge zu sprechen; zum anderen, ob es nicht zu vereinfachend ist, den ,linken' Nationalismus mit friedfertig-demokratischer Entwicklung zu verbinden und dabei, mit Blick auf Frankreich, das aussenpolitische Aggressionspotential auszuklammern und den ,rechten' Nationalismus als schlichtes Manipulationsinstrument der traditionellen sozialen Eliten zu deuten. 79 Die Einseitigkeit der These vom Funktionswandel des Nationalismus ist mittlerweile durch die stärkere Berücksichtigung des inhaltlichen Wandels des Nationalismus korrigiert worden. Nach jüngster Auffassung gilt der Nationalismus bis 1871 als "liberale Oppositions- und Emanzipationsideologie", deren Ziel der verfa~s~ll~smässige Nationalstaat war.80 Bismarcks Reichsgründung habe die Wünsche der liberalen Nationalbewegung zwar erfüllt, deren Verfassungspostulate jedoch nur teilweise, kurzum die nationale und die Verfassungsfrage gegeneinander ausgespielt. Die militärisch erzwungene Revolution ,von oben' habe nicht nur der Monarchie und ihren Institutionen eine starke Stellung in der Reichspolitik verschafft, sondern auch dem Reich eine nationale, auf Monarchie, Bürokratie, Armee und namentlich der charismatischen Führerfigur Bismarcks beruhende Legitimationsbasis verliehen, die sich von der gescheiterten nationalen Selbstkonstitutionsidee des Liberalismus deutlich unterschied. Unter diesen Voraussetzungen sei im Zusammenhang mit der Wirtschafts- und sozialpolitischen Wende von 1878 I 79 ein neuartiger, sogenannter Reichsnationalismus entstanden, der sich nach innen integrierend und ausgrenzend zugleich und nach aussen grossmachtpolitisch aggressiv gebärdete und gegen Ende des 19. Jahrhunderts zusehends radikale Züge annahm. 78 Eine weithin anerkannte Darstellung über den Funktionswandel des deutschen Nationalismus bietet Winkler, Vom linken zum rechten Nationalismus, bes. S. 1 f. Er stützt sich auf die zeitgenössische"Schrift des linksliberalen Ludwig Bamberger, National, Berlin 1888. 79 Vgl. Vogel, Nationalismus, und Langewiesche, Nation, bes. S. 195 f. und 208. 80 Vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. III, S. 945-955; Dann, Nation, S. 198.

II. Der preussische Konservativismus und die nationale Frage

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Trotz der überzeugenden Kritik an der einseitig funktionalen These durch Anführung inhaltlicher Elemente beim Wandel des Nationalismus, bleibt die These bestehen, dass der Reichsnationalismus ein manipulatives Instrument der Konservativen gewesen sei, um die politisch-soziale Modernisierung einzugrenzen. 81 Die These von der Okkupation des Nationalismus durch den Konservativismus im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ist weit verbreitet, besonders durch den Einfluss der Sonderwegsthese-Vertreter. 82 Normativer Bezugspunkt der Gleichsetzung von Konservativismus und Nationalismus ist die Behauptung von der ,Feudalisierung des Bürgertums' durch die traditionellen sozialen Eliten, die Junker, Militärs und Bürokratie. Unter der Dominanz dieses politisch-sozialen Machtkartells habe sich der einst emanzipatorisch-,linke' Nationalismus in eine ilach innen und aussen aggressive, konservativ-,rechte' Integrationsideologie verändert. Mit der "Usurpation der nationalen Parole durch die konservativen Kräfte" sei der Nationalismus als Integrationsideologie für eine "antiliberale und antisozialdemokratische Sammlungsbewegung" benutzt worden. 83 Die Kontinuitätsthese des Konservativismus, wie sie aus einer funktionalen Konservativismusdefinition resultiert, nimmt in der deutschen Geschichtsschreibung eine dominierende Position ein. Kritische Gegenstimmen zur Feudalisierungsthese haben sich bislang wenige, dafür wirkungsvolle geäussert. Sie wollen das Kaiserreich verstärkt unter dem Aspekt der ,Verbürgerlichung' in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur untersuchen, worin ihnen die Bürgertumsforschung mittlerweile gefolgt ist, und die ,Feudalisierungsthese' als überholt ansieht. 84 Die These vom Funktionswandel des Nationalismus nimmt daVgl. Weh/er, Gesellschaftsgeschichte, Bd. III, S. 955. Zu den Sonderwegsthese-Vertretern vgl. Grebing, Sonderweg, S. 103-107, 121-26. Namentlich Puhle, Radikalisierung, S. 173, und Progranun, S. 55, vertritt prononciert die Gleichsetzung von Konservativismus und Nationalismus. Vgl. aber auch Schieder, Kaiserreich, S. 20 f., der von einer "1871 noch undenkbaren Gleichsetzung von national und konservativ" spricht. "Der Konservativismus in Preussen hat sich nach den Entscheidungen von 1866/67 gespalten, aber seine Mehrheit verschloss sich doch der nationalen Zeitbewegung. Erst 1876 fand er mit der Griindung der Deutsch-Konservativen Partei zu einer bedingten Anerkennung der neuen nationalstaatliehen Ordnung." Langewiesche, Reich, S. 372, konstatiert u. a.: ,,Erst in den siebziger Jahren lösten sich die konservativen Nationalisten vom Einzelstaat und akzeptierten den deutschen Nationalstaat, dessen Schöpfung sie zuvor als einen verwerflichen revolutionären Akt empfunden hatten. Sie okkupierten, was sie nicht geschaffen und nicht gewollt hatten. Diese konservative Inbesitznahme der ,Nation' schritt nun rasch voran und erreichte in der wilhelrninischen Ära einen Höhepunkt." Über die ,Rechtswendung' des Nationalismus nach 1871 bemerkt Nipperdey, Deutsche Geschichte, Bd. II, S. 258: ,,Der ehedem linke Nationalismus ist 1871 nicht etwa einfach und vollständig rechts geworden, die Konservativen wurden nicht zu seinen eigentlichen Bannerträgern. [ ... ] Wovon wir gesprochen haben, das sind Tendenzen, [ ... ] die - langsame - Verschiebung der Akzente ins Konservative oder die langsam möglich werdende Abkoppelung der liberalen Freiheitsideale von den nationalen Einheits- und Machtidealen." 83 Wink/er, Vom linken zum rechten Nationalismus, S. 26/28. 84 Vgl. Mommsen, Staatsbewusstsein, bes. S. 694 f./698; Blackboum, Mythen, S. 89; Eley, Wilhelrninismus, S. 23 f. Zur ,Verbürgerlichungsthese' vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. III, S. 468 f.; Grebing, Sonderweg, S. 126 f.; Wendt, Sonderbewusstsein, S. 13; Hardtwig, Bürgertum, S. 285-289. Zur Diskussion über die ,Modernität' des Kaiserreiches 81

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2. Teil: Der preussische Konservativismus

mit neue Gestalt an. Zugespitzt formuliert, war der Reichsnationalismus kein manipulatives Instrument der traditionellen sozialen Eliten, sondern eine, durch die konstitutionell-monarchische und föderative Reichsverfassung verformte, durch den politisch-sozialen Druck der sich organsierenden Arbeiterschaft angetriebene Emanzipationsbewegung und Ideologie der anwachsenden bürgerlichen Schichten im Zuge der raschen technologisch-industriellen Entwicklung. So besehen waren die altpreussischen Eliten und die staatstragenden, noch vielfach auf Honorationen basierenden Parteien mehr die Manipulierten denn die Manipulanten des Reichsnationalismus. 85 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob es noch zutreffend ist, den Nationalismus mit Konservativismus zu verbinden und von einer ,Okkupation' des Nationalismus durch den Konservativismus seit dem politischen Kurswechsel von 1878 I 79 zu sprechen. Der Liberalismus war ebenso eine Verfassungs- wie eine Nationalbewegung mit dem Ziel, den monarchisch-bürokratischen Obrigkeitsstaat und das Ständewesen aus den Angeln zu heben. Der Konservativismus bekämpfte die liberale Verfassungs- und Nationalbewegung und hielt am ständischen Partikularismus fest, der sich in der Zeit Hardenbergs noch als Provinzialpartikularismus und danach als einzelstaatlicher Partikularismus manifestierte. Im folgenden soll aufgezeigt werden, dass die Rezeption und Umdeutung der Nationsidee durch die Konservativen in der Zeit des Vormärz einsetzte und spätestens 1876 mit der Gründung der Deutschkonservativen Partei ihren Abschluss fand und nicht erst, wie oft behauptet wird, ihren Anfang nahm. Die Rezeption der Nationsidee verlief jedoch parallel zum Verschwinden des Konservativismus als politische Bewegung für den monarchischen Ständestaat und endete mit dessen Konstituierung zur Partei innerhalb der zwischen Liberalismus und Ministerialbürokratie errungenen konstitutionell-monarchischen und föderativen Reichsverfassung. Die Nationsidee, wie sie sich vor 1871 im preussischen Konservativismus herausgebildet und durchgesetzt hatte, darf in ihrer Wirkung nicht unterschätzt werden. Sie war die legitimatorische Grundlage für Bismarcks deutsche Einigungspolitik und drängte die liberale, dem Prinzip der Volkssouveränität entstammende Selbstkonstitutionsidee in den Hintergrund. Das konservative Nationsverständnis schlug sich im Reichsverfassungskompromiss zwischen monarchischer und parlamentarischer Gewalt sowie zwischen Reichs- und einzelstaatlicher Gewalt unter formaler Betonung der dynastischen Verfassungsgebung und informeller Festschreibung der preussischen Hegemonie konkret nieder. Das Verschwinden des Konservativismus und des Liberalismus respektive deren Konstituierung zu politischen Parteien der bürgerlichen Gesellschaft erzeugte innerhalb der föderativen und konstitutionell-monarchischen Staatsform des Kaiserreiches neue geistige Strömungen und politische Bewegungen, in welche auch gewisse Erbteile der alten konservativen und liberalen vgl. Kühne, Dreiklassenwahlrecht, S. 17 - 21. Zur Bürgertumsforschung vgl. Pohl, Liberalismus, S. 242 f. 85 Vgl. Mommsen, Staatsbewusstsein, S. 695, und die beiden Aufsätze von Eley, Urnformierung und Antisemitismus.

II. Der preussische Konservativismus und die nationale Frage

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Verfassungsbewegungen diffundiert waren. Das entfesselte wissenschaftliche und ökonomische Wachstum der modernen Industriegesellschaft und der machtpolitische Positionierungszwang in einer sich entfaltenden Weltwirtschaft führte zu tiefgreifenden sozialen Spannungen und verstärkter Suche nach sozialer Identität und weltanschaulicher Orientierung. Auf ,linker' Seite setzten sich Sozialismus und Kommunismus unter dem Fortschrittsbanner gegen die nationale, staatsbürgerlichkapitalistische Gesellschaftsordnung in Bewegung.86 Auf ,rechter' Seite formierten sich verschiedene geistige und politische Strömungen, welche sich unter dem Leitbegriff des Reichsnationalismus eingrenzen lassen.87 Dieser war eine obrigkeitsstaatlich und föderativ verformte Emanzipations- und zugleich Oppositionsbewegung bürgerlicher Schichten sowohl gegen die Aristokratie als auch die sich organisierende Arbeiterschaft.

1. Die dynastische Nationsidee Die Nationsidee bedeutete für die preussischen Konservativen eine doppelte Gefahr, weil sie einerseits den einzelstaatlichen Partikularismus und das staatenbündische System von 1815 und andererseits Monarchie und Ständewesen zu beseitigen trachtete. Die Konservativen sahen sich daher gezwungen, entweder die Nationsidee als solche zu verwerfen und damit an den Prinzipien von 1815 festzuhalten oder aber sich der Nationsidee durch eine offensive Strategie, freilich unter Aufgabe überkommener Prinzipien, zu bemächtigen. Dieser Grundsatzkonflikt spielte sich im preussischen Konservativismus seit 1830 ab und dauerte bis in die 1860er Jahre. Die eine Richtung der preussischen Konservativen wollte die Nationsidee am liebsten aus der Welt schaffen. Um sie wenigstens politisch unschädlich zu machen, wurde sie in ihrer Bedeutung herabgernindert. Die ,Nation' wurde für ein Produkt des Staates erklärt und enthielt keine staats- und rechtsbildende Qualität. Jeder bestehende Staat und auch Staatenbund konnte prinzipiell als Nation gelten. Die andere Richtung der Konservativen versuchte sich die Nationsidee dienstbar zu machen, indem sie die ,Nation' als ein staats-und rechtsbildendes Prinzip anerkannte.88 Diejenige Richtung, welche die ,Nation' für ein Produkt des Staates erklärte, repräsentierten die Briider Ernst Ludwig und Leopold von Gerlach. Christlicher Staat, ständisch-monarchische Herrschaftsform und Heilige Allianz waren die Kernpunkte ihres politischen Denkens, welches von der Patrimonialstaatslehre Hallers massgeblich geprägt war.89 Das politische Denken der Gerlachs orientierte Vgl. auch Koselleck, Geschichtsdenk.en, S. 40 f. Vgl. Dann, Nation, S. 195 f. /200. Zu den einzelnen Strömungen der ,Rechten', welche sich nach dem Zerfall des Konservativismus herausgebildet hatten, vgl. die jüngst veröffentlichte Typologie von Breuer, Grundpositionen, S. 30. 88 Vgl. Meinecke, Weltbürgertum, S. 214 - 16. 89 Vgl. Kraus, Gerlach, Bd. I, S. 120-26. 86 87

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2. Teil: Der preussische Konservativismus

sich am mittelalterlich-christlichen Weltbild, nach welchem ,Staat', Obrigkeit und Recht unmittelbar aus Gott entsprangen und damit göttlich gewollte Ordnung waren. Jeder Versuch, diese Ordnung zu ändern, war ein Verstoss gegen den göttlichen Willen, gegen das göttliche Gesetz. 90 In Ablehnung jedes ,partikularistischen' Nationalismus beriefen sich die Gerlachs auf die mittelalterlich universale Reichsidee, auf das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, "diese Mutter aller germanischen Nationalitäten". 91 "Wie heuchlerisch", schrieb Leopold von Gerlach unter dem Eindruck der 1848er Revolution, "ist überhaupt diese Germanomanie und was für Wunden hat sie nicht schon Deutschland geschlagen."92 Statt eine ,wirkliche' deutsche "National-Politik" zu betreiben, welche das Erbe des Reiches als ständisch-monarchischer Herrschaftsverband in Mitteleuropa zu verteidigen oder gar den alten Zustand teilweise wieder herzustellen hätte, begäben sich die Deutschen "unter die Vormundschaft der Französischen Revolutionaire" und ihrer Parole von der nationalen Selbstbestimmung.93 Nach dem Scheitern der 1848er Revolution und der Erfurter Union forderte Ernst Ludwig von Gerlach 1850: "Recht, gutes deutsches Recht oder Revolution, Freiheit, echte deutsche Freiheit oder Märzerrungenschaften-Königtum von Gottes Gnaden oder Souveränität der Menge [ ... ] Ohne deutsches Recht, ohne deutsche Freiheit kein einiges Deutschland, ja! ohne Sieg über die Revolution, keine deutsche Nation!"94 Deutsche Einheit und Freiheit hiess für Gerlach die Summe der historisch gewachsenen deutschen Einzelstaaten, wie sie nach dem Zusammenbruch des Reiches in Gestalt des Deutschen Bundes von 1815 neu geordnet worden waren. Gegenüber der Meinung von Radowitz und Stahl, dass ein engerer nationaler Zusammenschluss der deutschen Staaten notwendig sei, vertrat Gerlach die Auffassung, es sei ein gefährlicher Irrtum und Kniefall vor der Revolution, der Nationalität eine staats-und rechtsbildende Qualität zuzuschreiben. Stahl gehe, so kritisiel:te Gerlach, "statt vom Königtum Gottes und der Menschen in der Konstruktion des Staates von der irgendwie entstandenen Gemeinschaft (Nationalität) unter den Menschen aus. [ ... ] Aus dem Gesamtwillen [ . . . ] entsteht ihm dann der Staat als eine Anstalt, der er allerdings göttliche Sanktion zuschreibt, deren Entstehung und Wesen er aber verfehlt. So fiel er dem constitutionalismus vulgaris grösstenteils anheim und suchte ihn nur konservativ zu temperieren durch christlich-sittliche Gefühle."95 Nach Hallers Patriarchaltheorie folgerte Gerlach, dass eine Nation 90

Zum politischen Denken Gerlachs vgl. ebd., S. 185-290, und Schoeps, Preussen,

s. 13-l15.

91 Rundschau E. L. von Gerlachs vom September 1849, in: NPZ, 225, 28. September 1849. 92 Leopold von Ger/ach, Denkwürdigkeiten, 24. April 1848, Bd. I, S. 155.

93 Ebd., 24. April 1848, Bd. I, S. 155. Zur "National-Politik" vgl. Ernst Ludwig von Gerlach, Aufzeichnungen, 4. April 1848, Bd. II, S. 47. 94 ,Die Erfurter Wahlen', in: Diwald, Revolution, Bd. II, Nr. 144, S. 647. 95 Brief an H. Leo vom 26. Dezember 1867, in: Otto Kraus, Heinrich Leo, AKM 1894, s. 1132.

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nur aus einer Obrigkeit, sei dies ein "Stammesfürst, oder Grundherr oder Heerführer" entstehen könne und nicht aus abstrakten Merkmalen wie Sprache, Hautfarbe, Sitte oder Herkunft. 96 Wie der Vater der Stifter der Familie, so sei die Obrigkeit respektive der Staat Ursprung der Nation. "Es ist daher widersinnig, unmöglich und dem Begriffe und Wesen der Nationalität selbst entgegen, die Staaten in Nationalitäten aufzulösen und diese zur Basis neuer Staaten zu machen.'497 Dies führe in die Absurdität, dass jede Nation wieder in verschiedene Stämme, also Teilnationen, gespalten werden könne. Die Schweiz zum Beispiel würde "ganz in die Brüche und in Deutschland, Frankreich und Italien aufgehen".98 Um die Gefahr der völligen Zerrüttung der Staatenordnung von 1815 zu bannen, gab es für Gerlach nur eine Devise in der nationalen Frage: "Kein Opfer auf dem Altar der Revolution!"99 Seine Forderung, am einzelstaatlichen Partikularismus festzuhalten, war nur eine an die politischen Verhältnisse der Jahrhundertmitte angepasste Weiterführung des Provinzialpartikularismus, wie er noch vom preussischen Konservativismus zur Zeit Hardenbergs verfochten wurde. Ludwig von der Marwitz zum Beispiel äusserte sich 1811 zur Nationsidee: "Die preussische ist keine von alters her, so wie sie jetzt ist, schon bestehende, durch Sprache, Sitten und Gesetze rund herum abgeschlossene Nation, sondern sie ist ein Zusammengebrachtes aus vielen an Gesetzen und Gewohnheiten höchst verschiedenen Provinzen; sie kann auch niemals eine Nation werden [ ... ] weil eine jede Provinz neben sich andre, ihrem Staat fremde Provinzen hat, denen sie sich im Grunde näher verwandt fühlt, als den entfernten und ihr unbekannten andren Provinzen des preussischen Staats, so z. B. der Märker dem Sachsen, der Schlesier dem Deutsch-Böhmen und Mähren, der Preusse dem Kurländer und Littauer. Sie nun in eins schmelzen wollen, heisst, ihnen ihre Eigentümlichkeit rauben, und aus einem lebendigen Körper eine tote Masse machen wollen." 100 Ein weiteres Beispiel für den provinzialständischen Partikularismus ist das Schreiben des Grafen Dohna und anderer Rittergutsbesitzer an den König, in dem sie festhielten, "dass teutsche Völkerstämme keines Musters aus dem Auslande bedürfen, um ihre Verfassungen zu begründen [ ... ] und dass die alte von unseren Vorfahren auf uns vererbte ProvinzialStände-Verfassung unter dem Schirm der Monarchie nur allein dem teutschen National-Geiste angemessen ist". 101 Diejenige Richtung im preussischen Konservativismus, welche das nationale als das staats- und rechtsbildendes Prinzip anerkannte, wurde von Radowitz und Stahl 96 Ger/ach, Rundschau zu Anfang Juli 1848, S. 5, in: Ders. , Monats-Rundschauen. Vgl. auch Kraus, Gerlach, Bd. I. S. 233-241; Fleischer, Antibismarckbroschüren, S. 325 - 29; Schoeps, Preussen, S. 75-84; Meinecke, Weltbürgertum, S. 215 f. 97 Ger/ach, Rundschau zu Anfang Juli 1848, S. 6, in: Ders. , Monats-Rundscbauen. 98 Ebd. 99 ,Die Erfurter Wahlen', in: Diwald, Revolution, Bd. II, Nr. 144, S. 647. wo ,Ueber Hardenbergs erste Rede an die Konvozierten vom 23. Februar 1811', in: Meusel, Marwitz, Bd. II., Teil I, S. 323. 101 Schreiben vom 4. September 1816, zit. bei: Kose/leck, Preussen, S. 312.

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vertreten. In den 1840er Jahren hatten sich beide von der, von Haller beeinflussten politischen Ideenwelt des Kronprinzenkreises distanziert und anerkannten, in der Tradition von Savigny und der Romantik stehend, die ,Nation' als ein staats- und rechtsbildendes Prinzip. Damit entwickelten sie die preussisch-konservative Nationalstaatsidee des Vormärz, welche den Nationalstaat in dem der deutschen Kulturnation entsprossenen Einzelstaate sah, weiter. 102 Die einzelstaatliche Souveränität und das staatenbündische System von 1815 Iiessen sich ihrer Auffassung gernäss nicht mehr konservieren, ohne den liberal-demokratischen nationalen Kräften in die Hände zu arbeiten. Es galt daher, der revolutionär instrumentalisierten Nationsidee die Spitze zu brechen und sie als reformistische Kraft in die Schranken der bestehenden deutschen Staats- und Rechtsordnung zu weisen. Als informeller, vom König favorisierter preussischer Aussenminister trat Radowitz 1849 vor die Zweite Kammer des Preussischen Landtags, um die Abgeordneten über die Pläne der Regierung in der deutschen Frage zu informieren: "Wer, meine Herren, die grosse politische Bewegung, die im vorigen Jahre alle deutschen Länder erschütterte [ ... ] verfolgt hat, der wird zu der Erkenntnis gelangt sein, dass das Element, das ich hier kurz das nationale nennen will, eine der mächtigsten Triebfedern dabei gewesen ist." 103 Während in Vielvölkerstaaten wie der Österreichischen Monarchie die verschiedenen Volksstämme "den Staat in seine nationalen Bestandteil zu sprengen" gewillt seien, könne dort, wo sich ein Volk in verschiedene Staaten aufteile, der umgekehrte Vorgang festgestellt werden. "Deutschland, unser gemeinsames Vaterland ist es, wo nach langem Verstummen der Ruf nach Einigung, nach Herstellung eines nationalen Gemeinwesens am lautesten erschallt ist." Der berechtigte Ruf nach der Bildung eines nationalen Gemeinwesens dürfe jedoch nicht dazu verleiten, einen zentralistischen, auf dem Prinzip der Volkssouveränität beruhenden Nationalstaat zu schaffen. Ebenso irrig sei es, die staatliche Begrenzung nu~_!!~ch den Kriterien von Abstammung und Sprache vorzunehmen. "Die fremden Nationalitäten auszuscheiden oder die eigenen Stammesgenossen in auswärtigen Staaten zu beanspruchen, ist weder möglich noch gerechtfertigt." Für Radowitz war es die einzig vertret- und realisierbare Lösung der nationalen Frage, einen deutschen Staat innerhalb der "möglichen und berechtigten Bedingungen" oder mit anderen Worten, unter grösstmöglicher Wahrung der tradierten legitimen Rechts- und Verfassungsordnung in und zwischen den deutschen Einzelstaaten zu bilden. Obgleich Radowitz 1847 noch eine grossdeutsche Lösung favorisiert hatte, entschied er sich nun für einen engeren, konstitutionell-monarchisch und föderativ verfassten Staat, welcher mit Österreich für eine gemeinsame Aussen- und Wirtschaftspolitik vertraglich verbunden sein sollte. 104

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Zur konservativen Nationalstaatsidee im Vormärz vgl. Meinecke, Weltbürgertum,

s. 215-35.

103 Zu den folgenden Zitaten: Fenske, Vormärz, Nr. 93, S. 427 - 436. Zu Radowitz vgl. Meinecke, Radowitz, bes. S. 138 - 151. 104 Vgl. die Denkschrift vom 20. November 1847, in: Radowitz, Deutschland, S. 39-56.

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Wahrend Radowitz die Idee einer nationalstaatliehen Reform des Deutschen Bundes pragmatisch begründete, lieferte der Berliner Staatsrechtsprofessor Stahl das theoretische Fundament. Als führender Burschenschaftier und von SeheHing wie der Historischen Rechtsschule Savignys geistig geprägt, bemühte er sich, die Nationsidee für die konservative Staatsauffassung dienstbar zu machen. Von der Hallersehen Lehre kehrte sich Stahl entschieden ab und erklärte, dass der Staat das zur Persönlichkeit konstituierte Volk oder umgekehrt das Volk die naturgernässe Grundlage des Staates sei. 105 Den Volksbegriff verstand Stahl im politisch-rechtlichen Sinne als Gesamtheit von Menschen unter einer Staatsgewalt und im soziologischen Sinn als die organisch gegliederte und nicht egalitär konstruierte "Einheit des Blutes [ ... ] und in Folge desselben die Einheit der Anlage, des Naturells, des Geistes, der Sitte, der Sprache", in einem Wort als Nation. 106 Indem Stahl dem Staat die Nation als eine eigenständige historische Grösse gegenüberstellte und beide durch die göttliche Autorität gestiftet sah, sprach er sich für die Berücksichtigung des nationalen Prinzips bei der Bildung neuer Staaten oder bei Länderverteilungen unter der Bedingung aus, dass dabei nicht gegen die legitime Obrigkeit und die geschichtlich gewachsene Verfassung verstossen werde. Eine staatliche Zusammenfassung der Nation befürwortete Stahl dort, wo sie, wie in Deutschland, in mehrere Stammstaaten zerfalle. 107 Vor diesem theoretischen Hintergrund zu verstehen ist auch seine Meinung über die Reichsverfassung von 1849: "Wir sind nicht der deutschen Sache, sondern nur der revolutionären Sache gram." 108 Diese Position bezog Stahl auch in der Beurteilung der Erfurter Unionsverfassung. Für ihn lautete die wesentliche Frage nicht Staatenbund oder Bundesstaat, sondern Monarchie oder Parlamentarismus. Obwohl er die Unionsverfassung in wesentlichen Punkten abgeändert wissen wollte, begrüsste er sie gleichwohl als einen ersten Schritt in Richtung auf einen kleindeutschen, konstitutionell-monarchischen Bundesstaat, der mit Österreich zur Gewährung des inneren und äusseren Friedens völkerrechtlich vereint sein sollte.109 Zwischen den beiden gegensätzlichen Richtungen, welche den Staat als nationsbildendes Prinzip oder die Nation als staatsbildendes Prinzip anerkannten, schlug Bismarck 1849 I 50 einen eigenen Weg in der nationalen Frage ein. Die Idee einer deutschen Kulturnation war ihm zwar vertraut, doch bestritt er deren Recht auf eine staatliche Zusammenfassung. Auf der anderen Seite wollte er den National105 Vgl. Stahl, Philosophie, Bd. II, S. 164. Vgl. auch Schmidt, Stahl, bes. S. 12- 18; Meinecke, Weltbürgertum, S. 224 - 29; Schoeps, Preussen, S. 94-100. 106 Stahl, Philosophie, Bd. II, S. 164 f. 101 Vgl. ebd., S. 166. 108 Ebd., Die deutsche Reichsverfassung, 1849 S. 49, zit. bei Meinecke, Weltbürgertum S. 227. 109 Vgl. Füssl, Stahl, S. 215. In seinen Schriften und Reden legte sich Stahl auf keinen detaillierten Entwurf einer deutschen Staatsverfassung fest. Besonders in der Frage nach dem Verhältnis Preussens zu Deutschland und beider zu Österreich vermochte sich Stahl nicht eindeutig festzulegen. Vgl. dazu Meinecke, Weltbürgertum, S. 228 f.

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Staatsgedanken nicht prinzipiell verwerfen. Sein Vorschlag war die dynastische Nationsidee. Er sprach der ,Nation' eine von Staat und Obrigkeit unabhängige Existenz ab und erklärte sie für ein ausschliessliches Produkt der angestammten Dynastien. Die ,deutsche Nation' begriff Bismarck als die Summe von dynastisch gebildeten Nationalitäten. In den ,Gedanken und Erinnerungen' äusserte er sich zur dynastischen Nationsidee: "Die deutsche Vaterlandsliebe bedarf eines Fürsten, auf den sich ihre Anhänglichkeit concentrirt. Wenn man den Zustand fingirte, dass sämmtliche deutsche Dynastien plötzlich beseitigt wären, so wäre nicht wahrscheinlich, dass das deutsche Nationalgefühl alle Deutschen in den Frictionen europäischer Politik völkerrechtlich zusammenhalten würde. [ ... ] Die Deutschen würden fester geschmiedeten Nationen zur Beute fallen, wenn ihnen das Bindemittel verloren ginge, welches in dem gemeinsamen Standesgefühl der Fürsten liegt." 110 Unter den deutschen, dynastischen "Nationalitäten" nahm für Bismarck die preussische an Grösse und Macht eine führende Rolle ein. "Die preussische Dynastie konnte voraussehen, dass ihr die Hegemonie mit einer Vermehrung von Ansehen und Macht im künftigen Deutschen Reiche schliesslich zufallen würde." "Es kam darauf an, den König von Preussen, bewusst oder unbewusst, und damit das preussische Heer für den Dienst der nationalen Sache zu gewinnen, mochte man vom borussischen Standpunkte die Führung Preussens oder auf dem nationalen die Einigung Deutschlands als die Hauptsache betrachten; beide Ziele deckten einander." 111 Die Einigung der dynastisch gebildeten Nationalitäten zur deutschen Nation unter preussisch-monarchischer Führung sollte Preussen vor einer Mediatisierung in Deutschland bewahren und auch den Spielraum der parlamentarischen und demokratischen Kräfte begrenzen. Nach den Worten Meineckes war Bismarck für die Nationalstaatsidee insoweit zu haben, als "deutsche Volkskraft und preussisches Staatsinteresse sich finden konnten". 112 Mit dem Wahlspruch "Preussen sind wir .und Preussen wollen wir bleiben" kämpfte Bismarck 1849 I 50 ftir eine pragmatische, an Machtgewinn orientierte "nationale preussische Politik", welche entweder die kleindeutsche Einigung mit einem Krieg gegen Österrreich auf machtpolitisch-expansivem Wege herbeiführen oder gemeinsam mit Österreich in einem erneuerten Deutschen Bund die revolutionären Kräfte im Inneren vernichten sollte. 113 Die Erfurter Unionspolitik von Radowitz hingegen war für Bismarck nichts weiter als ein "zwitterhaftes Produkt furchtsamer Herrschaft und zahmer Revolution". 114 In seinen Reden zur nationalen Frage zeigte sich Bismarck 1850 als konsequenten Vertreter des Gedankens der Staatsraison, also der zweckdienlichen, den grösstBisi'TUlrck, Gedanken, Bd. I, S. 332 f. Vgl. auch Hanisch, Nationalisierung, S. 77 f . Bisi'TUlrck, Gedanken, Bd. I, S. 329, 331. 112 Meinecke, Weltbürgertum, S. 270. 113 Rede in der Zweiten Kammer, 12. Sitzung, 6. September 1849, in: Bisi'TUlrck, Gesammelte Werke, Bd. X, S. 39. 114 Rede in der Zweiten Kammer, 8. Sitzung, 3. Dezember 1850, in: Ebd., S. 108. Vgl. auch Meinecke, Weltbürgertum, S. 269-274, und Kolb, Grosspreussen, S. 16 f. 110

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möglichen Erfolg versprechenden Anwendung politischer Macht und der Stabilität um des preussisch-rnonarchischen Staates willen. Dies nannte er einen legitimen "staatlichen Egoismus". 115 Sein Politik- und Rechtsdenken hernass Bisrnarck an keinen doktringebundenen Prinzipien und er machte den Fortbestand der bisherigen deutschen Rechts- und Verfassungsverhältnisse zuallererst von Effizienzüberlegungen abhängig. Mit dieser säkularisierten Legitimation politischer Machtausübung zugunsten der Festigung und Ausweitung der preussisch-rnonarchischen Macht innerhalb und ausserhalb Deutschlands löste sich Bisrnarck von der konservativen Idee des christlichen Staates, auf die sich trotz inhaltlich differenter Auslegung die Briider Gerlach, Radowitz und Stahl noch beriefen. Von der Autonomie von Staat und Politik ausgehend, sprach Bisrnarck Verfassung und Recht eine göttliche Legitimität ab und begriff sie als menschlich-willkürliche Schöpfung, resultierend aus den jeweiligen politisch-sozialen Kräfteverhältnissen. Gegenüber der Auffassung der Briider Gerlach, die, arn christlichen Universalismus festhaltend, die Idee der Heiligen Allianz und des Deutschen Bundes als Bollwerk gegen nationalstaatliche Isolierung und Revolution verteidigten und im bonapartistischen Frankreich den Ursprung allen ,Übels' sahen, bezog Bisrnarck in der Frage der preussisch-deutschen und europäischen Politik eine flexible, nicht mehr streng auf 1815 ausgerichtete Position. Im beriihrnten Briefwechsel mit seinem einstigen Mentor Leopold von Gerlach erwiderte Bisrnarck auf das Argument, dass sich von 1815 bis 1848 immerhin "keine fremde Macht in die deutschen Angelegenheiten" gemischt habe: "Eine passive Planlosigkeit, die froh ist, wenn sie in Ruhe gelassen wird, können wir in der Mitte von Europa nicht durchführen; sie kann uns heute ebenso gefährlich werden, wie sie 1805 war, und wir werden Amboss, wenn wir nichts thun, um Hammer zu werden." 116 Mit dieser Einschätzung zog Bisrnarck die Konsequenzen aus der grundsätzlich veränderten macht- und bündnispolitischen Lage in Europa nach dem Krirnkrieg und beschritt einen Weg in der nationalen Frage, der für Preussen zunächst jede Wendung offenliess. Bisrnarck war aussenpolitisch in dem Sinn prinzipienlos, als er sich nicht mehr an der Wiener Ordnung von 1815 orientierte. Dem gängigen, in Bisrnarckbiographien und vor allem auch journalistisch popularisierten Bild vorn skrupellosen und forschen Machtpolitiker entsprach Bisrnarck keineswegs. Ganz im Gegenteillässt sich aus einer differenzierten Durchsicht der Quellen aufzeigen, dass Bisrnarck in der Aussen- wie der Innenpolitik zwar machtbewusst und in der Wahl seiner Mittel oft unkonventionell dachte und handelte, sich aber stets von einem hohen Verantwortungsbewusstsein, einer strengen Amts- und Pflichtauffassung leiten liess und seine politischen Entscheidungen umsichtig und oft nach langem Abwägen traf. 117 115 Rede in der Zweiten Kammer, 8. Sitzung, 3. Dezember 1850, in: Bismarck, Gesammelte Werke, Bd. X, S. 103. 116 Brief von Gerlach an Bismarck vom 6. Mai 1857, in: Bismarck, Gedanken, Bd. I, S. 192/211 und Briefvon Bismarck an Gerlach vom 30. Mai 1857, in: Bismarck, Gesammelte Werke, Bd. XIV /1, Nr. 649, S. 474. Vgl. dazu auch Meinecke, Weltbürgertum, S. 271 - 274. 117 Vgl. dazu den ausführlichen Aufsatz von Fenske, Otto von Bismarck: Leitlinien und Ziele seiner Politik, in: FBPG, N.F. 10, Jg. 2000, Heft 1 und 2.

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2. Teil: Der preussische Konservativismus

2. Alt- und Neukonservative

Es hatte sich 1849 herausgestellt, dass die konservativen Vereine dem entschlossenen Vorgehen der preussischen Regierung gegen die revolutionären Wirren mit dem Verfassungsoktroi im Innem und dem Erfurter Unionsplan im Äussem vorbehaltlos Folge leisteten und die regierungsoppositionelle Haltung der Konservativen um die Brüder Gerlach nicht zu unterstützen gewillt waren. 118 Die nationale Frage hatte die preussisch-konservative Bewegung in zwei Richtungen getrieben, die, je mehr sich die politische Lage stabilisierte, immer gegensätzlicher wurden. Es trat schliesslich die Situation ein, die eine Flugschrift von 1852 mit dem Begriffspaar "alter und neuer Konservatismus" bezeichnete. 119 Der "alte Konservatismus", vertreten vom Gerlach-Kreis und der ,Kreuzzeitung', stand für Ständetum, christlichen Staat und Deutschen Bund. Der "neue Konservatismus" hingegen, verkörpert durch die konservative Vereinsbewegung und in den 1850er Jahren die ,Wochenblattpartei ', stand für konstitutionelle Monarchie und preussische Hegemonie in Deutschland unter Ausschluss von Österreich. Die Diversifikation der Interessenstandpunkte vor allem auch in der nationalen Frage war einer der wesentlichen Gründe, weshalb eine dauerhafte konservative Parteibildung in den Revolutionsjahren nicht gelang. Ebenso muss auch bedacht werden, dass die Auf- respektive Selbstauflösung der konservativen Vereinsbewegung, obschon sie nach einigen Anläufen eine zentrale Vereinsorganisation mit beinahe 300 Vereinen geschaffen hatte, mit dem Einsetzen der preussischen Gegenrevolution eine blosse Frage der Zeit war; denn ihr politisches Hauptpostulat nach Bewahrung der inneren wie der äusseren Souveränität des preussischen Königs gegenüber den revolutionären Kräften hatte die Regierung mit dem Verfassungsoktroi und spätestens mit der Ablehnung der Frankfurter Kaiserkrone und der Reichsverfassung erfüllt und somit den. Vereinen ihre identitätsstiftende Grundlage entzogen. Die restriktive Vereinsgesetzgebung der Regierung tat das ihre noch dazu, den Auflösungsprozess zu beschleunigen. Übrig blieb nur der kleine Kreis der politisch aktiven Konservativen um die Brüder Gerlach, welcher 1850 in scharfe Opposition zur Erfurter Unionspolitik ging. Mit dem Scheitern der Unionspolitik von Radowitz und der Restauration des Deutschen Bundes hatte sich im preussischen Konservativismus die Nationsauffassung der Briider Gerlach durchgesetzt. Das Jahr 1851 feierten sie als ,endgültigen' Sieg über die Revolution. Ernst Ludwig von Gerlach entwarf ein konservatives Fraktionsprogramm, in welchem er seine politischen Prinzipien erneut, nun aber aus der Warte des Siegers mit Nachdruck formulierte: "Unsere alten von König Friedrich III. empfohlenen Allianzen und nachdem Preussen die drei Farben abgestreift hat, kein bloss negativer Konservativismus sondern positive Reorganisation von Preussen und, durch das reorganisierte Preussen, von Deutschland, zu wahrem deutschen Rechte und wahrer deutscher Freiheit, also vorwärts - mit Gott für König und Va118 119

Vgl. Schwentker; Konservative Vereine, S. 312-334. Merckel, Alter und neuer Konservatismus, bes. S. 14-22.

II. Der preussische Konservativismus und die nationale Frage

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terland." 120 Bismarck, der sich nach anfänglicher Begeisterung für den Krieg gegen Österreich wieder auf die Seite der Gerlachs geschlagen hatte, setzte sich in einer ausgedehnten Verteidigungsrede für das Scheitern der Unionspolitik von Radowitz und damit den Vertrag von Olmütz ein. Seine rhetorische Begabung und Fähigkeit, einen komplexen Sachverhalt wie die damalige preussische Aussenpolitik in einer für alle Konservativen plausiblen Form darzulegen, machte Bismarck für die preussische Regierung wie für den Gerlach-Kreis zum Mann der Stunde. 121 Bismarcks Argumente bestachen durch seinen politischen Pragmatismus, der in die Kardinalfrage mündete, ob Preussen "Sieg und Ruhm erwirbt oder nicht". 122 Gernäss dieser politischen Maxime zog Bismarck aus seinen Ausführungen den Schluss, dass ein Krieg gegen Österreich nur durch eine Allianz mit dem liberaldemokratischen Nationalismus im Jnnern oder durch ein Bündnissystem im Äussern erfolgversprechend sei. Im einen Falle musste dies die Fortsetzung und Durchsetzung der Revolution heissen, im anderen Falle den Verlust an aussenpolitischer Handlungsfreiheit. Der Vertrag von Olmütz hingegen barg für Bismarck keinen der Nachteile in sich, sondern liess für Preussen alle politischen Optionen offen, womit eine Grundlage geschaffen war, die Bismarck als ,Staatsegoismus' im positiven Sinne begriff. 123 Wenngleich die Rede Bismarcks auch den materiellen Zweck verfolgte, sich beim König und der Regierung für ein öffentliches Amt zu empfehlen, war sie dennoch nicht opportunistisch angelegt, sondern entsprach seiner Denkweise, welche er in den 1860er Jahren zum Fundament seiner deutschen Einigungspolitik machen sollte. In die Siegesparolen des Gerlach-Kreisesnach dem Scheitern der preussischen Unionspolitik wollte Moritz August von Bethmann-Hollweg nicht einstimmen. Der Bonner Rechtsprofessor und 1840 geadelte rheinische Grossgrundbesitzer war der Erweckungsbewegung in den 1820er Jahren nahegestanden und pflegte zu Ernst Ludwig von Gerlach ein freundschaftliches Verhältnis. Gleichwohl teilte er die dogmatisch fixierte Prinzipienpolitik des Gerlach-Kreises nicht kritiklos und veröffentlichte bereits 1848 eine Schrift, in welcher er sich für einen Konservativismus frei von allen Standesvorteilen und jeder Doktrin aussprach. In klarer Andeutung auf Gerlach, Thadden, Senfft u. a. meinte er, dass nach den Jahren der Freiheitskämpfe von 1813 I 14 ein Teil der jüngeren Generation besonders durch Haller zu einem System veranlasst worden sei, "dessen wahre Stärke in der glücklichen Bekämpfung der Revolution liegt, das aber in seinem positiven Teile eben jene mittelalterlichen Formen des Patrimonialstaates idealisiert". 124 Einem ehemaligen Gesinnungsgenossen schrieb Hollweg: "Was ihr Fortschritt zum Besseren 12o ,Projektiertes Fraktionsprogramm vom Anfang Januar 1851 ',in: Diwald, Revolution, Bd. II, Nr. 175, S. 725 f. 121 Vgl. Gall, Bismarck, S. 113. 122 Rede in der Zweiten Kammer, 8. Sitzung, 3. Dezember 1850, in: Bismarck, Gesammelte Werke, Bd. X, S. 103 f. 123 Vgl. ebd. 124

Bethmann-Hollweg, Reaction, S. 58.

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2. Teil: Der preussische Konservativismus

nennt, erscheint mir als Frucht um sich greifender sittlicher Fäulnis, die bei dem nächsten Sturme das morsche Gebäude abermals zusammenbrechen lassen wird." 125 Hallweg beliess es nicht beim verbalen Protest, sondern gründete 1851 eine Oppositionspartei zur ,kleinen, aber mächtigen Partei' der Gerlachs. Die Partei hiess ,Wochenblattpartei ', benannt nach dem ,Preussischen Wochenblatt', das ab 1851 als Konkurrenz zur ,Kreuzzeitung' erschien. 126 Neben den innenpolitischen Verfassungsfragen schieden sich die Vorstellungen der Wochenblattpartei von denen der ,Gerlach-Partei' besonders in der Frage nach Preussens Stellung in Deutschland und Europa. Das Gründungsprogramm der Wochenblattpartei äusserte sich dazu noch verhalten und vertrat lediglich die Meinung, dass es Preussens Aufgabe sei, innerhalb der restaurierten Bundesverfassung von 1815 den ihm gebührenden Einfluss in Deutschland zu behaupten. 127 Im Wochenblatt selbst wurde jedoch alsbald eine klare Haltung eingenommen. Man gab dem Deutschen Bund keine lange Dauer und sah die Auseinandersetzung zwischen Preussen und Österreich um die Vorherrschaft in Deutschland als unabwendbar an. Nur die politische Doktrin könne sagen, dass Preussen und Deutschland zusammengehen müssten.128 Deutschland sollte nach der Wochenblattpartei ein föderalistischer, jedoch preussisch-hegemonialer Bundesstaat sein, der mit Österreich in einem weiteren Bündnis stehen sollte. Ganz im Einklang mit der Denkweise Bismarcks zum Verhältnis zwischen Preussen und Europa hielt das Gründungsprogramm fest: "Preussen, als die kleinste der europäischen Grossmächte, hat vor allem seine Unabhängigkeit und Ehre zu bewahren, und auf dieser einzig sicheren Basis Allianzen nicht nach traditionellen oder abstrakten Prinzipien, z. B. dem Prinzip der Legitimität oder des Konservatismus im Gegensatz der Revolution, sondern lediglich nach dem Massstabe seiner bleibenden Weltstellung und seiner wechselnden Interessen zu knüpfen." 129 Die preussische Aussenpolitik sollte sich mitaaderen Worten nicht nach starren Prinzipien ausrichten, sondern pragmatischflexibel und ausschliesslich zum Vorteil Preussens betrieben werden, was unverschlüsselt preussische Machtentfaltung in Deutschland hiess. Das ausserpreussische Deutschland gab den Rahmen ab, in dem Preussen seinem ,deutschen Beruf' nachgehen und Deutschland in einen kleindeutschen, preussisch-hegemonialen Bundesstaat mit einer konstitutionell-monarchischen Verfassung umgestalten sollte. Die massgebliche Bedeutung der Wochenblattpartei in den rund zehn Jahren ihrer Existenz lag darin, dass sie Prinz Wilhelm, den späteren preussischen König Wilhelm 1., für ihre Sache gewinnen konnte. Dessen Sympathie machte sich nach seinem Regentschaftsantritt bezahlt, als er bei der Neubildung seines Ministeriums 125

Brief an Kar! von Rappard vorn 6. März 1852, in: Diwald, Revolution, Bd. II, Nr. 228,

s. 787 f.

Vgl. Behnen, Wochenblatt, bes. S. 60-70. Vgl. Programm vorn 26. November 1851, in: Mommsen, Parteiprograrnme, S. 43 f. 128 Vgl. zu den einzelnen Artikeln: Schmidt, Partei, S. 174-178; Behnen, Wochenblatt, s. 201-226. 129 Vgl. Anrn. 127. 126 127

II. Der preussische Konservativismus und die nationale Frage

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auf die Mitglieder der Wochenblattpartei zurückgriff und nicht weniger als fünf von ihnen zu Ministern ernannte und mit ihnen die sogenannte ,Neue Ära' in der Geschichte Preussens einleitete. "Die Partei wird immer dünner und dünner", beklagte sich 1861 Blanckenburg, der Fraktionsführer der Konservativen im preussischen Abgeordnetenhaus. 130 ,Die kleine aber mächtige Partei', welche auf die politischen Geschicke der 1850er Jahre einen gewichtigen Einfluss ausüben konnte, bestand nicht mehr; nicht zuletzt wegen Wilhelm 1., der sich 1858 von ihr deutlich distanziert hatte. Zwei ihrer Leitfiguren, Leopold von Gerlach und Friedrich Julius Stahl, verstarben 1861, und Ernst Ludwig von Gerlach, mittlerweile 66 Jahre alt, zog sich aus dem aktiven politischen Leben zurück, auch wenn er publizistisch weiter tätig und gehört blieb. Der Ton der ,Kreuzzeitung ', welche das bestimmende publizistische Organ der preussischen Konservativen war, fiel im Vergleich zu den Anfangsjahren moderat aus. Die Führung des preussischen Konservativismus übernahm 1861 die zweite, um 1815 geborene Generation des ehemaligen Gerlach-Kreises. Deren Protagonisten waren Bismarck, Hermann Wagener, Moritz von Blanckenburg und Hans von Kleist Retzow. 1861 wurde der Preussische Volksverein, als erste wirkliche Partei im parlamentarischen Verständnis, unter Leitung von Wagener, Blanckenburg und Eberhard zu Stolberg-Wernigerode gegründet. 131 Die Konstituierung des preussischen Konservativismus zur Partei war damit weit vorangeschritten, aber nicht abgeschlossen, weil sich die nationale Frage noch immer stellte. Der Preussische Volksverein war als Gegengründung zum liberalen Nationalverein und zur Fortschrittspartei gedacht. Das 1861 veröffentlichte Parteiprogramm äusserte sich zur nationalen Frage noch ganz im Einklang mit der Position Gerlachs: "Einigkeit unseres deutschen Vaterlandes, doch nicht auf den Wegen des ,Königreichs Italien' durch Blut und Brand, sondern in der Einigung seiner Fürsten und Völker und in Festhaltung an Obrigkeit und Recht. Keine Verleugnung unseres preussischen Vaterlandes und seiner ruhmreichen Geschichte; kein Untergehen in dem Schmutz einer deutschen Republik; kein Kronenraub und Nationalitätenschwindel." 132 Diese negierende Position in der nationalen Frage war mit eine Ursache für das überaus schlechte Abschneiden der preussischen Konservativen bei den Abgeordnetenhauswahlen der Jahre 1861-63. Bismarck, der 1862 zum preussischen Ministerpräsidenten ernannt werden sollte, kritisierte das Programm des Volksvereins mit scharfen Worten. "Von der Solidarität der konservativen Interessen aller Länder" zu sprechen, sei eine "gef